Livius und der Leser: Narrative Strukturen in ab urbe condita 9783406621888, 9783406621895, 3406621880

Das Ziel dieser Arbeit ist ein besseres Verständnis der Kommunikation zwischen Livius und seinen Lesern über Geschichte

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German Pages 321 Year 2011

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I. EINLEITUNG
1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung
2. Livius und der Erzähler: Narratologische Perspektiven auf die antike Historiographie
3. Die Kommunikation zwischen Historiker und Leser als Interpretationsmodell
4. Struktur und Ziele der Arbeit
II. KONTEXTE UND TRANSFORMATIONEN: LESER UND HISTORIKER IM 1. JAHRHUNDERT V. CHR.
1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft
a) Die heterogene und multimediale Erinnerungskultur der Republik
b) Von der republikanischen zur augusteischen Geschichtskultur
c) Zwischen Lektüre und Theater: Die Erweiterung des Publikums
d) Zwischenfazit: Der zeitgenössische Leser im historischen Kontext
2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom
a) Von der Chronik zur Monographie? Die Problematik evolutionärer Modelle
b) Nutzen oder Unterhaltung? Historiographische Theorie in der Späten Republik
c) Für die Wissenschaft oder den Buchmarkt? Wandel im 1. Jh. v. Chr.
d) Zwischenfazit: Der historische Autor im zeitgenössischen Kontext
3. Livius’ Reflexion über die Bedürfnisse seiner Rezipienten
III. DIE STRUKTUR DER GESCHICHTE: ZEIT UND ERZÄHLUNG IM ANNALISTISCHEN SCHEMA
1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm
a) Das römische Konsulatsjahr und die Ordnung der Erzählung
b) Das Problem der gleichzeitigen Ereignisse und seine Lösungen
c) Abweichungen von der Linearität: Rückblicke und Vorverweise
d) Zwischenfazit: Die Erzählzeit zwischen Fixierung und Flexibilität
2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel
a) Polybios und die variatio als Vorteil des annalistischen Schemas
b) Zwischen Chronik und Novelle: Modulationen im Rhythmus
c) Vom Jahr zum Buch: Annalistische vs. thematische Struktur
d) Jenseits der Chronologie: Selektive Lektüre als Option?
3. Das annalistische Schema und die Erzählung: Zwischen Normierung und variatio
IV. POLYPHONE GESCHICHTSSCHREIBUNG: FOKALISIERUNG UND MULTIPERSPEKTIVITÄT
1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall
a) Der patriotische Blick als Postulat und Problem in der Antike
b) Die narrative Etablierung der römischen Perspektive bei Livius
c) Elemente der polyphonen Präsentation von Vergangenheit
2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie
a) Die Fokalisierung bei der Analyse antiker Geschichtsschreibung
b) Mit Hannibal in den Alpen: Inszenierung und Interpretation
c) Zwischenfazit: Funktionen der Fokalisierung in ab urbe condita
3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte
a) Die Reden in der historiographischen Diskussion der Antike
b) ‚Barbarenreden‘: Kritische Stimmen zu den Erfolgen Roms
c) Zwischenfazit: Reden und die Partizipation an der Urteilsbildung
4. Die polyphone Präsentation und ihre Folgen für den Leser
V. DER INVOLVIERTE LESER: SPANNUNG ALS HISTORIOGRAPHISCHE STRATEGIE
1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung
a) Die exspectatio als Rezeptionsphänomen in der Späten Republik
b) Hannibal ad portas? Spannung und das Vorwissen des Lesers
2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation
a) Ni M. Porcius ...: Irreale Konditionalsätze als ‚Beinahe-Episoden‘
b) Der Schauplatzwechsel im annalistischen Schema als ‚Schnitt‘
c) Die Einteilung in Bücher und die Option zum cliffhanger
d) Zwischenfazit: Geschichtsschreibung als ‚Fortsetzungsroman‘
3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie
a) Die detaillierte Schilderung und die Identifikation mit den Figuren
b) de Bacchanalibus: ένάργεια und die Erzeugung von Spannung
c) Zwischenfazit: ‚Dramatische‘ Geschichtsschreibung und der Leser
4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation
a) Die wiederholte Ankündigung des Krieges mit Perseus
b) Die Reden Hannibals zwischen Plan und possible world
c) Déjà-vu? Typische Szenen und die Erwartung des Lesers
d) Zwischenfazit: ‚Virtuelle‘ Geschichtsschreibung und der Leser
5. Spannung als Teil der Leserbindung und der Geschichtsdarstellung
VI. FAZIT
VII. APPENDIX
Zu den Kapiteleinteilungen in ab urbe condita
VIII. LITERATURVERZEICHNIS
IX. REGISTER
ÜBER DAS BUCH
ZUM AUTOR
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Livius und der Leser: Narrative Strukturen in ab urbe condita
 9783406621888, 9783406621895, 3406621880

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Livius und der Leser Narrative Strukturen in ab urbe condita

von Dennis Pausch

Verlag C. H. Beck München

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage. 2011 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2011 ISSN 1610-4188 ISBN Buch 978 3 406 62188 8 ISBN eBook 978 3 406 62189 5

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

FÜR BIANCA

INHALTSVERZEICHNIS I. EINLEITUNG........................................................................................... 1 1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung...... 3 2. Livius und der Erzähler: Narratologische Perspektiven auf die antike Historiographie ................. 9 3. Die Kommunikation zwischen Historiker und Leser als Interpretationsmodell....................................................................... 13 4. Struktur und Ziele der Arbeit ................................................................ 14 II. KONTEXTE UND TRANSFORMATIONEN: LESER UND HISTORIKER IM 1. JAHRHUNDERT V. CHR. ................ 17 1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft........ 18 a) Die heterogene und multimediale Erinnerungskultur der Republik . 18 b) Von der republikanischen zur augusteischen Geschichtskultur ........ 24 c) Zwischen Lektüre und Theater: Die Erweiterung des Publikums .... 38 d) Zwischenfazit: Der zeitgenössische Leser im historischen Kontext ... 45 2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom ....... 46 a) Von der Chronik zur Monographie? Die Problematik evolutionärer Modelle .......................................... 47 b) Nutzen oder Unterhaltung? Historiographische Theorie in der Späten Republik......................... 53 c) Für die Wissenschaft oder den Buchmarkt? Wandel im 1. Jh. v. Chr.. 65 d) Zwischenfazit: Der historische Autor im zeitgenössischen Kontext.. 70 3. Livius’ Reflexion über die Bedürfnisse seiner Rezipienten ................... 71 III. DIE STRUKTUR DER GESCHICHTE: ZEIT UND ERZÄHLUNG IM ANNALISTISCHEN SCHEMA .............. 75 1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm ...... 77 a) Das römische Konsulatsjahr und die Ordnung der Erzählung.......... 77 b) Das Problem der gleichzeitigen Ereignisse und seine Lösungen ..... 86 c) Abweichungen von der Linearität: Rückblicke und Vorverweise .... 89 d) Zwischenfazit: Die Erzählzeit zwischen Fixierung und Flexibilität . 101 2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel...... 102 a) Polybios und die variatio als Vorteil des annalistischen Schemas.. 102 b) Zwischen Chronik und Novelle: Modulationen im Rhythmus ....... 105 c) Vom Jahr zum Buch: Annalistische vs. thematische Struktur......... 109 d) Jenseits der Chronologie: Selektive Lektüre als Option? ............... 118 3. Das annalistische Schema und die Erzählung: Zwischen Normierung und variatio .................................................... 122

viii

Inhaltsverzeichnis

IV. POLYPHONE GESCHICHTSSCHREIBUNG: FOKALISIERUNG UND MULTIPERSPEKTIVITÄT .......................... 125 1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall ................ 125 a) Der patriotische Blick als Postulat und Problem in der Antike ...... 125 b) Die narrative Etablierung der römischen Perspektive bei Livius ... 129 c) Elemente der polyphonen Präsentation von Vergangenheit............ 136 2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie.. 140 a) Die Fokalisierung bei der Analyse antiker Geschichtsschreibung.. 140 b) Mit Hannibal in den Alpen: Inszenierung und Interpretation ......... 142 c) Zwischenfazit: Funktionen der Fokalisierung in ab urbe condita .. 156 3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte157 a) Die Reden in der historiographischen Diskussion der Antike ........ 157 b) ‚Barbarenreden‘: Kritische Stimmen zu den Erfolgen Roms ......... 170 c) Zwischenfazit: Reden und die Partizipation an der Urteilsbildung . 187 4. Die polyphone Präsentation und ihre Folgen für den Leser................ 189 V. DER INVOLVIERTE LESER: SPANNUNG ALS HISTORIOGRAPHISCHE STRATEGIE .................. 191 1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung .. 193 a) Die exspectatio als Rezeptionsphänomen in der Späten Republik . 193 b) Hannibal ad portas? Spannung und das Vorwissen des Lesers...... 195 2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation .............................. 200 a) Ni M. Porcius ...: Irreale Konditionalsätze als ‚Beinahe-Episoden‘..200 b) Der Schauplatzwechsel im annalistischen Schema als ‚Schnitt‘ .... 202 c) Die Einteilung in Bücher und die Option zum cliffhanger............. 205 d) Zwischenfazit: Geschichtsschreibung als ‚Fortsetzungsroman‘..... 208 3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie .................................. 209 a) Die detaillierte Schilderung und die Identifikation mit den Figuren. 209 b) de Bacchanalibus: ἐνάργεια und die Erzeugung von Spannung ... 213 c) Zwischenfazit: ‚Dramatische‘ Geschichtsschreibung und der Leser.. 222 4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation.............................. 223 a) Die wiederholte Ankündigung des Krieges mit Perseus................. 225 b) Die Reden Hannibals zwischen Plan und possible world............... 237 c) Déjà-vu? Typische Szenen und die Erwartung des Lesers ............. 242 d) Zwischenfazit: ‚Virtuelle‘ Geschichtsschreibung und der Leser .... 246 5. Spannung als Teil der Leserbindung und der Geschichtsdarstellung .. 248 VI. FAZIT................................................................................................ 251 VII. APPENDIX: Zu den Kapiteleinteilungen in ab urbe condita ........... 255 VIII. LITERATURVERZEICHNIS ......................................................... 257 IX. REGISTER......................................................................................... 302

VORWORT Die Entstehung dieses Buches verdankt sich einer Reihe glücklicher Umstände. Soweit sich diese mit einzelnen Personen oder Institutionen verbinden lassen, ist es mir eine Herzensangelegenheit, mich an dieser Stelle bei ihnen zu bedanken. Dies gilt in erster Linie für meine Kollegen und alle Angehörigen des Instituts für Altertumswissenschaften in Gießen, vor allem Helmut Krasser und Peter von Möllendorff, die in den vergangenen fünf Jahren auf alle nur erdenkliche Weise, nicht zuletzt durch die außerorderntlich kollegiale und stets gesprächsbereite Atmosphäre, zum Gelingen dieses Projektes – von Anfang an bis zur Einreichung des Manuskriptes als Habilitationsschrift im Sommer 2010 – beigetragen haben. Entscheidend gefördert wurde die Arbeit ferner durch die Maria und Dr. Ernst Rink-Stiftung, die eine großzügige Unterstützung zum Erwerb der erforderlichen Literatur gewährte, und durch das Präsidium der Justus-Liebig-Universität Gießen, das mir im Zuge seiner Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern 2008 die Organisation einer Tagung zur Funkion von Reden in der antiken Historiographie sowie die Publikation ihrer Ergebnisse ermöglichte.1 Darüber hinaus gilt mein Dank allen Zuhörern und Diskutanten bei dieser wie bei den anderen Gelegenheiten, an denen ich meine Überlegungen in den letzten Jahren in Potsdam, Berlin, Exeter, Göttingen, München, St Andrews, Edinburgh und Durham vorstellen durfte, sowie Ulrich Eigler für die Übernahme des auswärtigen Gutachtens im Habilitationsverfahren. In der Endphase wurde die Überarbeitung des Manuskriptes und das Erstellen der Druckvorlage durch ein Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung wesentlich erleichtert und zugleich beschleunigt. Ich bin daher der Humboldt-Stiftung, meinem wunderbaren Gastgeber Douglas Cairns sowie allen anderen, die während dieser sechs Monate in Edinburgh dazu beigetragen haben, daß ich meine Gedanken zu Livius und seinem Leser besser auf den Punkt bringen konnte, sehr verbunden. An letzter Stelle mit Blick auf die Entstehungsgeschichte, nicht aber hinsichtlich der Wichtigkeit ihres Beitrages möchte ich mich bei Eckard Lefèvre und Gustav Adolf Seeck für die Aufnahme in die Zetemata sowie bei Christa Frateantonio und Anna Oeste für ihr ausdauerndes Korrekturlesen bedanken. Schließlich gilt mein Dank der Mommsen-Gesellschaft, die die Arbeit mit dem Bruno Snell-Preis 2011 ausgezeichnet hat. Gewidmet ist dieses Buch aber meiner Frau Bianca, als eine sehr kleine Wiedergutmachung für ihre vielfältige Unterstützung, noch mehr aber für ihre Geduld und ihr Verständnis. Gießen / Edinburgh, im Frühjahr 2011 ___________________________

1 Vgl. PAUSCH 2010.

DENNIS PAUSCH

I. EINLEITUNG Als Plinius der Jüngere um das Jahr 100 n. Chr. einen Freund dazu überreden will, nach Rom zu kommen, um einem Auftritt des berühmten Rhetors Isaios beizuwohnen, greift er in seiner Argumentation unter anderem auf dieses historische Beispiel zurück: numquamne legisti Gaditanum quendam Titi Livi nomine gloriaque commotum ad visendum eum ab ultimo terrarum orbe venisse statimque, ut viderat, abisse? Hast Du denn noch nie davon gelesen, daß ein Mann aus Gades, in dem der große Name und Ruhm des Titus Livius den Wunsch geweckt hatten, diesen mit eigenen Augen zu sehen, deswegen vom äußersten Ende der Welt gekommen und sofort, nachdem er ihn gesehen hatte, wieder gegangen ist?1

Während Petrarca der verpaßten Gelegenheit nachtrauerte,2 erweist sich die Entscheidung des namenlosen Mannes aus Gades heute als eine geradezu prophetische Vorwegnahme einer wesentlichen Erkenntnis der modernen Literaturwissenschaft, daß es die Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Text ist, die den entscheidenden Faktor bei seiner Interpretation bildet, und daß dem Autor als Person daher keine besondere Deutungshoheit über sein Werk zukommt. Vor diesem Hintergrund ist es um so bedauerlicher, daß nicht nur Livius, sondern auch der Mann aus Gades und mit ihm alle übrigen zeitgenössischen Leser für eine Befragung zur Wirkung des Werkes unter seinen primären Adressaten nicht mehr zur Verfügung stehen. Daß dennoch beide im Titel dieser Arbeit genannt werden, hängt einerseits mit dem heuristischen Wert zusammen, der sich aus ihrer Verwendung als Interpretationskonzept ergibt. Zwar sind wir bei einer Untersuchung von ab urbe condita – wie bei den meisten Werken der antiken Literatur – weitgehend auf den Text selbst angewiesen, doch lassen sich narrative Strukturen und literarische Techniken besser beschreiben und präziser erfassen, wenn man den Text als Teil einer Kommunikationssituation zwischen dem Autor und seinen Rezipienten über den tatsächlichen – oder in vielen Punkten auch möglichen – Verlauf der Geschichte versteht. ___________________________

1 Vgl. Plin. epist. 2,3,8. Die gleiche Begebenheit wird auch von Hieronymus geschildert (vgl. Hier. epist. 53,1,3). 2 Vgl. Petrarca, epist. fam. 24,8,1: optarem, si ex alto datum esset, vel me in tuam vel te in nostram etatem incidisse, ut vel etas ipsa vel ego per te melior fierem et visitatorum unus ex numero tuorum, profecto non Romam modo te videndi gratia, sed Indiam ex Galliis aut Hispania petiturus („Wenn der Himmel es erlaubte, wünschte ich mir, daß entweder ich in Deine oder Du in meine Zeit hineingeraten wärest, damit entweder die Zeit selbst oder ich durch Dich zu einem besseren geworden wäre und ich als einer aus der Zahl Deiner Besucher wahrhaftig nicht nur von Gallien oder Spanien nach Rom, sondern um Dich zu sehen sogar nach Indien hätte reisen können.“ mit SCHMIDT 1983).

2

I. Einleitung

Andererseits soll die gleichberechtigte Erwähnung des Lesers aber auch signalisieren, daß er in dem der Untersuchung zugrundeliegendem Rezeptionsmodell eine deutlich aktivere Rolle übernimmt, als es für die antike Historiographie üblicherweise angenommen wird. Dies gilt für seine Mitarbeit bei der Rekonstruktion und Bewertung der Vergangenheit ebenso wie für seine Haltung zu den dargestellten Ereignissen, die sich idealerweise nicht in der bloßen Zurkenntnisnahme historischer Fakten erschöpft, sondern in einer Art der Rezeption besteht, die auf die stärkere emotionale Involvierung des Lesers in den Text abzielt. Gerade in diesem letzten Punkt berührt sich die aktivere Rolle des Rezipienten aber auch mit einem wichtigen Anliegen des Autors, der nicht zuletzt daran interessiert ist, die Kommunikation mit den Lesern aufrechtzuerhalten, und zwar – im besten Fall – bis an das Ende des letzten der 142 Bücher seines Werkes. Im Gegensatz zur heute vorherrschenden Rezeption von ab urbe condita, die sowohl in der Wissenschaft wie wohl auch in der breiteren Öffentlichkeit vor allem punktuell und in der Form des von konkreten Erkenntnisinteressen geleiteten Nachschlagens erfolgt3 soll hier im weitern daher von einer kontinuierlichen Lektüre des Werkes als Normalfall ausgegangen werden. Es lassen sich zwar auch Elemente benennen, die eine selektive Rezeption als Option wahrscheinlich machen,4 angesichts unserer abweichenden Lesegewohnheiten ist aber gerade die Betonung der intratextuellen Bezüge und ihrer Wirkung auf den Rezipienten, der sich eine kontinuierlichen Lektüre von Livius’ Werk unterzieht, ein zentrales Anliegen dieser Untersuchung.5 Denn erst dann können die verschiedenen Strategien, die in ab urbe condita auf eine zeitliche und räumliche Orientierung des Leser und auf seine stärkere Aktivierung abzielen, ihre volle Wirkung entfalten. Wenn auf den nächsten Seiten daher häufig von ‚dem zeitgenössischen Leser‘ die Rede ist, handelt es sich dabei weder um eine empirisch faßbare Größe, noch aber auch um eine bloße Extrapolation der Vorstellungen des Interpreten auf der Grundlage des Textes.6 Vielmehr soll er einerseits als das imaginäre Gegenüber des Autors in einem Gespräch über römische Geschichte in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. dienen, der seine historischen Kenntnisse und literarischen Er___________________________

3 Eine stark selektive Rezeption ist heute im übrigen für alle antiken Historiker die Regel (vgl. z.B. PITCHER 2009, 146: „This is the practice of, as it were, ‘cherry-picking’.“). 4 Hier spielt vor allem die Kombination der annalistischen Gliederung mit thematisch abgeschlossenen Büchern und Buchgruppen eine zentrale Rolle; s. unten S. 109-122. 5 Eine solche Fragestellung ist auf die Texte der antiken Historiker in den letzten Jahren bereits gewinnbringend angewandt worden, vgl. z.B. PELLING 1999, v.a. 335-343. 6 Zu diesem Problem vgl. GADAMER 1986 [1960], 398f.: „Der Begriff der zeitgenössischen Adresse kann selber nur eine beschränkte kritische Geltung beanspruchen. Denn was ist Zeitgenossenschaft? Zuhörer von vorgestern und übermorgen gehören immer zu denen, zu denen man als Zeitgenosse spricht. … Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens füllt.“ u. ferner z.B. ISER 1984 [1976], 52.

1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung

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wartungen – soweit sich diese rekonstruieren lassen7 – in diese Kommunikation einbringt. Andererseits soll er aber zugleich als impliziter Leser im Sinne WOLFGANG ISERs8 und als Modell-Leser fungieren, dessen aktive Mitarbeit für UMBERTO ECO eine zentrale Voraussetzung jeder gelingenden Lektüre ist – und als solche vom Autor bereits bei der Produktion des Werkes berücksichtigt wurde.9 Ehe wir uns dem Modell einer Kommunikation zwischen Historiker und zeitgenössischem Leser noch einmal ausführlicher zuwenden, soll hier zunächst eine forschungsgeschichtliche Einordnung des in dieser Untersuchung verfolgten Ansatzes vorgenommen werden. Zu diesem Zweck werden wir zuerst die ambivalente Position zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft betrachten, die von der antiken Historiographie im allgemeinen und von Livius’ Werk im besonderen eingenommen wird. Im Anschluß daran sollen die ersten Ansätze zu einer spezifischen Narratologie der antiken Geschichtsschreibung kurz rekapituliert werden, um daraus mögliche Folgerungen für die eigene Analyse abzuleiten.

1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung Bei der Beschäftigung mit Livius’ ab urbe condita die Nähe zur Literatur zu betonen, scheint auf den ersten Blick wenig originell und kaum geeignet, zu einem besseren Verständnis seines Werkes beizutragen. Hat doch gerade der Vorwurf, Livius sei zu sehr Literat und zu wenig Historiker, in der Forschung lange Zeit den Ton angegeben und zu einem eher negativen Bild des Autors wesentlich beigetragen. Da die diesem Verdikt zugrundeliegende Prämisse, daß eine klare Trennung zwischen einer wissenschaftlichen und einer belletristischen Form der Geschichtsschreibung möglich ist und von den antiken Historikern auch angestrebt wurde, in den letzten Jahrzehnten jedoch erheblich in Zweifel gezogen wurde, ergibt sich heute eine neue Situation, in der nicht zuletzt früher als Vorwürfe formulierte Beobachtungen zum besseren Verständnis des Textes beitragen können. Dieser veränderte Blick auf die antike Historiographie steht in einem engen Zusammenhang mit der gewandelten Wahrnehmung der generellen Bedeutung der sprachlichen Form bei der Vermittlung historischen Wissens im Zuge des sogenannten linguistic turn. Die durch die Arbeiten vor allem von ARTHUR DANTO und HAYDEN WHITE ausgelöste ebenso langjährige wie intensive Diskussion kann ___________________________

7 Zu den Erwartungen eines römischen Lesers an einen historiographischen Text vgl. z.B. MARINCOLA 2009, 16-22. 8 Vgl. ISER 1972 u. Iser 1984 [1976], v.a. 60-67. 9 Vgl. ECO 1987 [1979], v.a. 65f.: „Wir haben gesagt, daß der Text die Mitarbeit des Lesers als wesentliche Bedingung seiner Aktualisierung postuliert. Wir könnten genauer sagen, daß ein Text ein Produkt ist, dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß: Einen Text hervorbringen, bedeutet, eine Strategie zu verfolgen, in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen miteinbezogen werden – wie ohnehin in jeder Strategie.“

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I. Einleitung

hier nicht nachgezeichnet werden.10 Stattdessen sollen die Auswirkungen dieser Debatte auf das Verständnis der antiken Geschichtsschreibung im allgemeinen und auf Livius’ Werk im besonderen kurz vorgestellt werden. Doch auch bei einer in dieser Weise fokussierten Skizze ist als Besonderheit dieser Auseinandersetzung ihre selbstreflexive Dimension zu berücksichtigen: Jede Äußerung eines Altertumswissenschaftlers zur Bedeutung der Sprache für die Wiedergabe von Vergangenheit in der antiken Historiographie enthält immer zugleich auch eine Aussage über seine Wahrnehmung der eigenen Tätigkeit bei der Rekonstruktion eines bestimmten Bildes der Antike. Darüber hinaus hat auch umgekehrt das jeweilige Selbstverständnis des modernen Forschers häufig Folgen für seine Wahrnehmung der antiken Geschichtsschreibung, wie sich insbesondere bei den kontroversen Antworten auf die Frage zeigt, ob die antiken Geschichtsschreiber ihre Werke mit dem Ziel verfaßt haben, eine objektive historische Wahrheit zu vermitteln. Es ist daher wohl auch kein Zufall, daß diejenigen Wissenschaftler die neue Sichtweise besonders strikt ablehnen, die die Parallelen zwischen der antiken und modernen Geschichtsschreibung stark betonen und sich selbst in gewisser Weise in der Tradition der antiken Historiker sehen, wie exemplarisch die Reaktion von ARNALDO MOMIGLIANO verdeutlichen kann.11 Genau an dieser Stelle, an der Frage einer Kontinuität zwischen antiker und moderner Historiographie, setzen die Arbeiten von PETER WISEMAN und TONY WOODMAN an,12 doch mit dem gegenteiligen Ziel einer stärkeren Betonung der Unterschiede zwischen beiden Formen. In ihrer Argumentation kommt vor allem der Rhetorik als einem für die Antike grundlegenden Denkmodell eine zentrale Rolle zu: Die antiken Historiker hätten sich nicht nur der üblichen rhetorischen Stilmittel zur nachträglichen Ausschmückung der Darstellung der Vergangenheit bedient, sondern aus der rhetorischen Theorie und Praxis auch die Kriterien für ihre Rekonstruktion der Geschichte und ihr Verständnis von historischer Wahrheit übernommen, so daß in der antiken Historiographie wie in der Rhetorik diejenige Version einer Geschichte als ‚wahr‘ gelte, deren Präsentation die überzeugendste ist, und zwar unabhängig von ihrer historischen Authentizität.13 ___________________________

10 Vgl. DANTO 1965 u. WHITE 1973 sowie ferner WHITE 1978 u. WHITE 1987; für eine Zusammenfassung der Debatte vgl. z.B. ROBERTS 2001 u. ECKEL 2007. 11 Vgl. MOMIGLIANO 1984 [1981], 50f.: „Historians are supposed to be discoverers of truths. No doubt they must turn their research into some sort of story before being called historians. But their stories must be true stories.“ 12 Vgl. WISEMAN 1979; WOODMAN 1988; WISEMAN 1994 u. KRAUS / WOODMAN 1997a. 13 Vgl. WISEMAN 1979, 40: „At every level, ... in the hellenized Rome of the first century B.C. history and rhetoric were inseparable. The prudentes, men like Cicero and Atticus, flattered themselves that they could distinguish historical standards of truth from rhetorical ones; but the very nature of the art of persuasion made it inevitable that distortions, exaggeration and downright fictions would come to be widely accepted as historical facts, and that the reading public – and even the historians themselves – would lack the capacity to separate what deserved to be believed from what did not.“

1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung

5

Angesichts der vielfältigen Aussagen, die im Laufe der Antike zur Funktion und zum Wahrheitsanspruch der Geschichtsschreibung getroffen wurden, läßt sich die weitreichende These eines Transfers des rhetorischen Wahrheitskonzepts auf die Historiographie mit antiken Zeugnissen ebenso belegen wie bestreiten, so daß auch scharfe Kritik nicht ausgeblieben ist.14 Dabei kommt unter den Argumenten, die zur Widerlegung herangezogen werden, den methodischen Bemerkungen des Thukydides und Polybios’ Konzept einer pragmatischen Geschichtsschreibung die größte Bedeutung zu. Diese Stellen werden daher von denjenigen, die den Unterschied zwischen antiker und moderner Historiographie betonen, im antiken Kontext als Ausnahmen verstanden, die nur wegen ihrer großen Nachwirkung in der Neuzeit überproportionale Aufmerksamkeit gefunden haben.15 Aus dieser – intensiv geführten und keineswegs abgeschlossenen – Diskussion ist einerseits ein geschärftes Bewußtsein dafür hervorgegangen, daß Geschichtsschreibung in der Antike nicht nur in einem Kontext stattfindet, der sich von dem der akademischen Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jh. grundlegend unterscheidet, sondern daß diese politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ihrer Produktion und Rezeption sich zudem im Laufe der Jahrhunderte mehrfach und gravierend geändert haben, so daß bei aller Kontinuität der literarischen Gattung dennoch auch von zahlreichen Unterschieden von Werk zu Werk auszugehen ist. Andererseits lassen sich je nach ihrer Positionierung zu dieser Debatte zwei ‚Schulen‘ in der Beschäftigung mit antiker Geschichtsschreibung unterscheiden, von denen die erste eine historisch-kritische Herangehensweise, die auf eine Rekonstruktion der dargestellten Vergangenheit abzielt, bevorzugt und mit Blick auf die Intention der antiken Autoren für angemessen hält, während die zweite einen literarisch-postmodernen Ansatz, der den Akzent vom Inhalt auf die Art der Darstellung verschiebt, verfolgt und zugleich davon ausgeht, daß dieser linguistic turn auch bereits von zumindest einigen der antiken Historikern vollzogen wurde.16 ___________________________

14 Vgl. z.B. CORNELL 1986; VIELBERG 1992; RHODES 1994; ZIMMERMANN 1999, 10-12; POROD 2007 u. DAMON 2007 sowie die so scharfe wie lesenwerte Fundamentalkritik durch LENDON 2009. 15 Vgl. v.a. WISEMAN 1979, 41-53, u. WOODMAN 1988, 1-69. 16 Vgl. MARINCOLA 2001, 1-8, v.a. 4f.: „To speak in broad terms, one group believes that ancient historiography is more or less similiar to its modern counterpart, and the other sees the writing of history in antiquity as fundamentally different from the way history is practised today. Those scholars who believe in its similarity emphasize that ancient historians make much in their methodological statements of inquiry, effort, and the search for truth, a truth that can be interpreted as fidelity to actual events. Those who emphasize its dissimilarities point to the historians’ rhetoric of exaggeration, their free invention of speeches and historical detail, and their interest in a pleasing narrative rather than in examination and analysis. In this interpretation, the truth that ancient historians were after was the truth of poetry and fiction.“ sowie ferner PITCHER 2009, vii-viii, u. FELDHERR 2009a, 6-9.

6

I. Einleitung

Diese für die Deutung antiker Historiographie allgemein kennzeichnende Dichotomie wiederholt sich bei der Interpretation von Livius’ ab urbe condita und hat hier zudem eine besonders intensive Ausprägung erfahren.17 Dazu hat sicherlich der Umstand beigetragen, daß die Betonung literarischer Aspekte bei der Interpretation des livianischen Werkes bereits auf eine wesentlich längere Tradition zurückblicken kann. Die Voraussetzungen für diese Art der Rezeption wurden bereits in der frühen Kaiserzeit geschaffen und haben dann nicht zuletzt durch das von Quintilian vermittelte Bild18 ihre Wirkung bis in die Neuzeit entfaltet.19 Dieser so wichtige wie interessante Prozeß kann und muß hier nicht nachgezeichnet werden,20 da die seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandenen Arbeiten ERICH BURCKs zu Recht als die ‚Gründungsurkunden‘ einer stärker literarisch orientierten, vor allem den thematischen Aufbau des Werkes in Blick nehmenden Beschäftigung mit Livius gelten können.21 Dieser von BURCK verfolgte und von P.G. WALSH und JAMES T. LUCE aufgegriffene22 Ansatz blieb insgesamt gesehen aber lange Zeit die Ausnahme. Vorherrschend war vielmehr – spätestens seit der Auseinandersetzung mit Livius’ Darstellung in der zu Beginn des 19. Jh. entstandenen Rekonstruktion der römischen Frühgeschichte durch BARTHOLD GEORG NIEBUHR23 – eine von den Fragestellungen der Quellenkritik geprägte Herangehensweise.24 Die literarische Form gerät dabei nur insoweit in den Blick, als sich von stilistischen Unterschieden in Livius’ Text, die als ‚Brüche‘ beim Übergang von einer Quelle zur nächsten verstanden werden, Rückschlüsse auf die verlorenen Werke seiner Vorgänger ziehen lassen.25 Quellenkritik in ihrer reinen Form, in der die Rekonstruktion der Vorlagen zum Selbstzweck geworden ist, wird heute kaum mehr praktiziert. Dennoch ___________________________

17 Für einen Überblick vgl. z.B. FORSYTHE 1999, 7f.: „Consequently, these two approaches have spawned two rather distinct types of Livian historiography, which for the sake of convenience can be termed ‘the historical school’ and ‘the literary school’.“ 18 Vgl. v.a. Quint. inst. 10,1,101 sowie ferner AX 1990 u. SCHMIDT 1993, v.a. 190f. 19 Vgl. exemplarisch TAINE 1856. 20 Vgl. die einzelnen Beiträge in LEFÈVRE / OLSHAUSEN 1983, 295-447, u. CHEVALLIER / POIGNAULT 1994, 89-221, sowie VON ALBRECHT 1992, I 682-684. 21 Vgl. v.a. BURCK 1964 [1934] u. BURCK 1962 [1950] sowie ferner BURCK 1992. Ein wichtiger Vorläufer war WITTE 1910, der die ‚Einzelerzählung‘ als zentrales Element von Livius’ Darstellungstechnik herausgearbeitet hat. Zum wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kontext der Neubewertung vgl. THRAEDE 1988. 22 Vgl. v.a. WALSH 1961 u. LUCE 1977 sowie zur zweiten Dekade LIPOVSKY 1981. 23 Vgl. NIEBUHR 1811-32. 24 Vgl. v.a. NISSEN 1863; SOLTAU 1897 u. KLOTZ 1940/41. 25 Zu den methodischen Problemen vgl. LUCE 1977, 185: „The chief aim of Quellenforschung has been to identify sources: that is, to put a name to them. A text is analyzed closely and its parts compared in order to mark the divisions between sources; at the end lists are drawn up in which the disiecta membra, sorted and tagged are laid out for final viewing. The proceeding is not unlike an autopsy. The text is the corpse, its genesis and growth having ceased when giving by its author to the world.“ u. PITCHER 2009, 72-84.

1. Livius als Historiker, Livius als Literat: Sichtweisen der Forschung

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bleiben ihre inhaltlichen und methodischen Resultate von großer Bedeutung für die Verwendung des livianischen Werkes bei der historischen Rekonstruktion der Geschichte zumal des frühen Roms, wie vor allem die – gerade in diesem Punkt zu unterschiedlichen Antworten kommenden – Arbeiten von TIM CORNELL und GARY FORSYTHE verdeutlichen können.26 Demgegenüber läßt sich seit der Mitte der 90er Jahre eine intensivere Beschäftigung mit den literarischen Aspekten von Livius’ Werk beobachten, in der einerseits ältere Ansätze aufgegriffen werden, die andererseits aber auch stark von der neuen Sichtweise auf die antike Historiographie, wie sie von den Befürwortern einer Anwendung des lingustic turn vertreten wird, beeinflußt ist.27 Daraus ergibt sich in den Arbeiten unter anderem von DAVID LEVENE, CHRISTINA KRAUS, GARY MILES, MARY JAEGER und ANDREW FELDHERR ein neues Bild von Livius,28 der aus zwei Gründen als geradezu postmoderner Autor verstanden wird: Zum einen fordere er den Leser mit der offenen Form seines Werkes zur Auseinandersetzung und Ergänzung auf.29 Zum anderen erhebe er als Historiker nicht den Anspruch, objektive Wahrheiten zu vermitteln, sondern wolle vielmehr das Bewußtsein seiner Leser dafür schärfen, daß jedes Bild der Vergangenheit nur eine von mehreren möglichen Rekonstruktion darstellt und zudem von den Erinnerungsinteressen der jeweiligen Gegenwart bestimmt wird.30 Gerade der zweite Punkt kann zeigen, daß die stärkere Betonung literarischer Aspekte nicht zwangsläufig zur Vorstellung eines reinen Unterhaltungsschriftstellers führen muß. Vielmehr verschiebt sich die Intention des Historikers von ___________________________

26 Vgl. CORNELL 1986; CORNELL 1995; FORSYTHE 1999 u. FORSYTHE 2005. 27 Für eine in methodischer Hinsicht analoge, jedoch stärker von PAUL RICOEUR als von HAYDEN WHITE beeinflußte Interpretation vgl. FEICHTINGER 1992. 28 Vgl. v.a. LEVENE 1993; KRAUS 1994a; KRAUS 1994b; MILES 1995; JAEGER 1997; KRAUS 1997; FELDHERR 1998; KRAUS 1998; VASALY 1999; JAEGER 1999; ROSSI 2000; CHAPLIN 2000; JAEGER 2003; CHAPLIN 2003; EIGLER 2003b; ROSSI 2004; MARINCOLA 2005b; JAEGER 2006; LEVENE 2006; JAEGER 2007; FELDHERR 2009 u. LEVENE 2010. 29 Vgl. z.B. JAEGER 1997, 178: „Livy presents episodes of Roman history in such a way that two things happen: first, the dynamic narrative produces a new perspective on events and on their sometimes familiar but usually abstracted setting; then, each reader’s act of reading makes the meaning of the story complete.“ u. KRAUS 1998, 264: „Beyond perhaps all other genres, history needs its readers. … Only the consensus of readers, following the historian’s clues, can identify a given character or event as good or bad exemplum, a subject of imitation or avoidance; the sum total of such identifications establishes the narrative as an authoritative version of the past.“ 30 Vgl. MILES 1995, 74: „History in this version remains useful not because it represents accurate reconstructions of past events that can serve as analogies in the present but rather because it perpetuates and interprets the collective memory on which the identity and character of the Roman people depend.“; KRAUS 1997, 54-56.73f., u. JAEGER 1997, 11f., sowie dag. z.B. LIEBESCHUETZ 1995, 315: „In any case it is misleading to suggest that Livy invited his readers to a joint enterprise of critical research. The play left to the judgement and imagination of the reader is surely much less than that.“

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I. Einleitung

der Vermittlung der Fakten hin zu einem stärker ‚geschichtsdidaktischen‘ Impuls, der den Leser zu einer allgemeineren Reflexion über historische Entwicklungen und die Möglichkeit ihrer Rekonstruktion anhalten soll. Damit geht auch die Abwendung von der diachronen Perspektive der Quellenkritik zu einer stärker synchronen Lektüre einher, die die Bezüge innerhalb des Werkes und den zeitgenössischen Kontext betont.31 Das Verhältnis zu den Vorgängern bleibt dabei relevant, wird aber weniger mit Blick auf die stoffliche Übernahme als auf die intertextuelle Beziehungen hin analysiert.32 Dennoch ist vor allem der weitgehende Verzicht auf den inhaltlichen Vergleich mit der Parallelüberlieferung den Arbeiten der literarischen ‚Schule‘ von Seiten der stärker historisch arbeitenden Forscher zum Vorwurf gemacht worden.33 Die kritischen Stimmen sind aber in der Minderheit geblieben, so daß man mit Blick auf den sich hieraus ergebenden Perspektivenwechsel geradezu von einer ‚kopernikanischen Wende‘ in der Livius-Forschung sprechen kann.34 Diesem Neuansatz weiß sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet, so daß die Fragestellungen der Quellenkritik im besonderen, aber auch der Rekonstruktion historischer Ereignisse im allgemeinen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen werden. Zugleich wird aber auch nicht davon ausgegangen, daß es sich bei der antiken Historiographie um ein rein literarisches und von der historischen Realität autonomes System handelt.35 Vielmehr soll gemäß dem allgemein zugrundegelegten Kommunikationsmodell gerade auch die Interaktion von Livius’ Geschichtswerk sowohl mit der dargestellten Vergangenheit, die der Text rekonstruieren und vermitteln will, als auch mit der Gegenwart, auf die der Text mit diesem Bild der Vergangenheit einwirken will, analysiert werden. Insofern versucht diese Arbeit auch bewußt, eine Brücke zwischen den beiden ‚Schulen‘ in der Beschäftigung mit Livius und seinem Werk zu schlagen. ___________________________

31 Vgl. FELDHERR 1998, x: „For my purposes, even if the ‘content’ of Livy’s narrative of an episode, even some of the language itself, derives from an earlier source, the task of interpreting its significance in Livy’s text still remains. If this effort to view Livy’s text synchronically, rather than as but one stage in the development of the story of Rome’s past, risks isolating his narrative from its historical context, my focus on the themes of vision and spectacle will locate the historian’s work squarely within the political and cultural discourses of his own place and time.“ u. KRAUS 1998, v.a. 265f. 32 Vgl. hierzu jetzt LEVENE 2010, v.a. 82-126, u. die Beiträge in POLLEICHTNER 2010. 33 Vgl. FORSYTHE 1999, 7f.: „Although this work has enhanced our appreciation of Livy as a literary craftsman, it has done nothing to advance our understanding of early Roman history, the annalistic tradition, or Livy’s relationship to either of these subjects.“ 34 Für eine forschungsgeschichtliche Einordnung vgl. GOTTER / LURAGHI / WALTER 2003, 15-20; CHAPLIN / KRAUS 2009a, u. MARINCOLA 2007a, 3: „The belief that Livy would have been more like us, if only he had known, pays far fewer dividends than the more worthwhile approach that looks at what Livy (and, by implication, to his audience) did consider important, and how Livy managed to construct a history of Rome that his contemporaries and later generations considered authoritative and permanent.“ 35 Vgl. z.B. MARINCOLA 2007a, 4.

2. Livius und der Erzähler: Narratologische Perspektiven

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2. Livius und der Erzähler: Narratologische Perspektiven auf die antike Historiographie Betont man auf diese Weise den besonderen Status der antiken Geschichtsschreibung, die weder der rein fiktionalen Literatur noch der ausschließlich faktualen Wissensvermittlung angehört, so wird die Auswahl eines geeigneten Analysemodells allerdings erheblich erschwert. Denn weder die anhand des modernen Romans entwickelte Narratologie noch die Beobachtungen zu den Darstellungstechniken der akademischen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jh. können ohne weiteres auf die Werke der antiken Historiker übertragen werden. Bestand der revolutionäre Ansatz HAYDEN WHITEs doch gerade darin, Elemente einer literarischen Darstellung in solchen Texten nachzuweisen, die mit den Anspruch objektiver Wissensvermittlung verfaßt waren. Legt man jedoch das heute gängige Bild einer antiken Geschichtsschreibung zugrunde, die bereits von sich aus die Nähe zur Literatur sucht und mit dieser Kombination auch offen umgeht, dann trägt die postmoderne Erkenntnis der Untrennbarkeit von sprachlicher Form und geschichtlichem Inhalt – sit venia verbo – Eulen nach Athen.36 Auf der anderen Seite ist es aber ebenso offensichtlich, daß sich die zur Analyse rein fiktionaler Texte entwickelten Beschreibungskategorien der Narratologie nicht ohne weiteres auf die Historiographie anwenden lassen. Dieses Problem ist zudem nicht auf die Antike beschränkt, sondern gilt in gleicher Weise für jede sprachliche Äußerung mit einem faktualen, also außerliterarischen Bezug. Obwohl dieses Desiderat in der Diskussion der letzten Jahre verschiedentlich benannt wurde, liegen bislang nur Ansätze zu einer spezifischen Narratologie der Geschichtsschreibung vor. So wurde vor allem von GÉRARD GENETTE und DORRIT COHN auf einige wichtige Unterschiede bei der narratologischen Beschreibung nichtfiktionaler Texte unter besonderer Berücksichtigung von Biographien und Geschichtswerken hingewiesen.37 Dabei hat zum einen die Identität des Autors mit dem Erzähler als ein wesentliches Merkmal des historiographischen Diskurses die Aufmerksamkeit der Interpreten gefunden.38 Der besondere Status des Erzählers in einem Geschichtswerk läßt sich unter anderem an den Schwierigkeiten aufzeigen, die sich bei seiner ___________________________

36 Bereits daß die Geschichtsschreibung als einzige Prosagattung mit einer Muse verbunden wurde, zeigt, wie eng die antike Wahrnehmung literarische Form und historischen Inhalt verbunden hat (vgl. STRASBURGER 1966, 12f., u. MARINCOLA 1997, 13); zum postmodernen Charakter der antiken Historiographie vgl. jetzt auch BATSTONE 2009. 37 Vgl. GENETTE 1992, 54-94 [zuerst als GENETTE 1990], u. COHN 1999, v.a. 109-131; für eine kritische Diskussion vgl. NÜNNING 1999; JAEGER 2002 u. RÜTH 2005, 16-22. 38 Vgl. GENETTE 1992, 80: „Bleibt noch die Beziehung zwischen Autor und Erzähler. Mir scheint, daß ihre strenge Identität (A = N), soweit man sie feststellen kann, die faktuale Erzählung definiert – diejenige, in der ... der Autor die volle Verantwortung für die Behauptungen seiner Erzählung übernimmt und infolgedessen keinem Erzähler irgendeine Autonomie zubilligt.“ u. ferner JAEGER 2002, 246.

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I. Einleitung

Einordnung als homo- oder heterodiegetisch ergeben: Zwar nimmt der Historiker in der Regel nicht an der von ihm erzählten Handlung teil, könnte dies aber, insbesondere in der Zeitgeschichtsschreibung, prinzipiell tun, ohne daß damit eine generelle Veränderung der Erzählhaltung verbunden wäre.39 Zum anderen ist als Besonderheit der faktualen Erzählung die eingeschränkte Möglichkeit zur Fokalisierung näher beschrieben worden: Ein moderner Historiker kann sowohl das Innenleben als auch die Äußerungen von Figuren nur soweit wiedergeben, wie er sich auf externe Zeugnisse (Briefe, Protokolle, Tagebücher etc.) stützen kann.40 Bereits an diesen beiden Punkten wird deutlich, daß sich bei einer Übertragung dieser Überlegungen auf die antike Historiographie eine Reihe zusätzlicher Probleme ergeben. Da sie viele ihrer Darstellungstechniken aus dem Epos übernommen hat,41 ist weder per se von der Identität des Autors mit dem Erzähler auszugehen noch muß jede Fokalisierung durch Quellen belegt sein.42 Mit dem komplizierten Verhältnis der Erzählinstanz in ab urbe condita zur realen Person des Titus Livius aus Patavium werden wir uns gleich noch eingehender beschäftigen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, daß sich für alle antiken Historiker eine analoge Lösung anbietet. Hingegen kann der zweite Punkt, die Freiheit einer Schilderung von Reden, Gedanken oder Emotionen historischer Personen ohne die Angabe von Quellen, als eine für die antike Geschichtsschreibung generell charakteristische Technik gelten, die sie von ihrem modernen Gegenstück abhebt und in die Nähe des historischen Romans rückt.43 Nach den von GENETTE und COHN verwendeten Kriterien handelt es sich bei der antiken Historiographie letztlich um fiktionale Literatur. Dieser Kategorisierung widersprechen jedoch andere Elemente, vor allem der Rekurs vieler antiker Historiker auf selbst Erlebtes und die Auseinandersetzung mit der Darstellung der gleichen Ereignisse in den Werken ihrer Vorgänger.44 Es ist daher notwendig, die für die narrative Beschreibung nichtfiktionaler Texte allgemein – und bislang nur in Ansätzen – entwickelten Kriterien für ihre Anwendung auf die antike Geschichtsschreibung noch weiter zu spezifizieren. Dieses ehrgeizige Projekt kann ___________________________

39 Vgl. v.a. COHN 1999, 122f., u. ferner RÜTH 2005, 40f. 40 Vgl. GENETTE 1992, 77-79; COHN 1999, 119; NÜNNING 1999 u. RÜTH 2005, 39f.: „Die ganze Problematik verweist auf ein seltsames Paradox, das die Historiographie zu kennzeichnen scheint: Der Historiker weiß zugleich mehr als seine Figuren, da er retrospektiv erzählt und Entwicklungszusammenhänge kennt, von denen die Menschen der Vergangenheit noch nichts wissen konnten. Gleichzeitig weiß er aber auch weniger als die Figuren, denn diese haben ihm Erfahrungen voraus, denen er sich nur annähern kann.“ 41 Vgl. die klassische Studie von STRASBURGER 1972 sowie ferner FORNARA 1983, 62f. 76f.; MARINCOLA 1997, 6f.; FOUCHER 2000; RENGAKOS 2004 u. LEIGH 2007. 42 Vgl. FUHRMANN 1983, 19-22; MARINCOLA 1997, 5-12, u. DE JONG 2004a, v.a. 8f. 43 Vgl. PITCHER 2009, 5-14, der das in der Antike übliche ‚Verbergen des Belegapparates‘ mit einem Schwan vergleicht, der über das Wasser gleitet, ohne daß man die dafür erforderliche Bewegung sieht. 44 Vgl. FORNARA 1983, 47-61; MARINCOLA 1997, 63-127.217-257, u. SCHEPENS 2007.

2. Livius und der Erzähler: Narratologische Perspektiven

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hier nicht systematisch verfolgt werden, zumal angesichts der großen Unterschiede zwischen den einzelnen – über ein ganzes Jahrtausend hinweg entstandenen – Werken der Gattung nicht davon auszugehen ist, daß ein für alle Texte in gleicher Weise geeignetes Instrumentarium zu ermitteln sein wird.45 An dieser Stelle können daher nur einige Überlegungen zum Verhältnis von Autor und Erzähler in ab urbe condita skizziert werden. Dabei wird von der Beobachtung JOHN MARINCOLAs ausgegangen, daß ein antiker Historiker einerseits – wie jeder Schriftsteller – eine sich vom realen Autor unterscheidende persona konstruiert,46 die Glaubwürdigkeit eines Geschichtswerkes andererseits aber davon abhängt, daß diese persona mit dem realen Autor als demjenigen, der die berichteten Ereignisse entweder selbst erlebt hat oder mit seiner Autorität für die Plausibilität der geschilderten Version bürgt, identifizierbar bleibt.47 Als Folge dieses für die antike Geschichtsschreibung generell gültigen Dilemmas können auch in Livius’ Text zwei ‚Stimmen‘ unterschieden werden, von denen sich die erste als diejenige des Erzähler verstehen läßt. Dieser wurde als narratives Verfahren bereits von Herodot aus dem Epos in die Geschichtsschreibung übernommen und mit mehr oder weniger der gleichen Allgegenwart und Allwissenheit ausgestattet, über die bereits sein homerischer Vorgänger verfügt und die es ihm erlaubt, dem Leser die vergangenen Ereignisse in all ihren Details, mitsamt der Reden und Gedanken der historischen Personen, vor Augen zu stellen.48 Demgegenüber läßt sich die zweite ‚Stimme‘ vereinfacht als diejenige des Autors verstehen,49 der sich außer in den praefationes immer dann – zumeist in der ersten Person Singular50 – zu Wort meldet, wenn unterschiedliche Überlieferungsvarianten diskutiert werden.51 ___________________________

45 Elaboriertere narratologische Untersuchungen liegen für einige griechische Historiker vor (vgl. für Herodot z.B. DE JONG 2004b; MARINCOLA 2006 u. BARAGWANATH 2008; für Thukydides HORNBLOWER 1994b; ROOD 1998; ROOD 2004a; DEWALD 2005; GREENWOOD 2006; MORRISON 2006a u. RENGAKOS 2006b sowie für andere Autoren die Beiträge in DE JONG / NÜNLIST / BOWIE 2004). 46 Gegen die Übertragbarkeit des persona-Konzepts ist allerdings geltend gemacht worden, daß antike Leser den Erzähler in der Regel direkt mit dem Autor identifizieren: vgl. CLAY 1998; MAYER 2003 u. KORENJAK 2003. 47 Vgl. MARINCOLA 1997, v.a. 128-174. 48 Zur umstrittenen Frage, ob der historiographische Erzähler über die gleiche Form der Allwissenheit verfügt, vgl. dafür DE JONG 2004b, 101f., sowie dag. MARINCOLA 2006, 15, u. BARAGWANATH 2008, 35-54, v.a. 50f. 49 Strenggenommen handelt es sich – je nach bevorzugtem Modell – entweder um einen weiteren Erzähler auf der nächsthöheren diegetischen Ebene (vgl. GENETTE 1994, v.a. 162-165), oder um eine Manifestation des ‚implied author‘ (vgl. BOOTH 1983, 71-76). 50 Zur Vermeidung aller ‚Zeichen des Ich‘ in der modernen Geschichtsschreibung als Erzeugung einer ‚illusion référentielle‘ vgl. BARTHES 1967 u. ferner ECKEL 2007, 203f. 51 Vgl. JAEGER 1997, 26: „The Ab Urbe Condita unites two extended narratives: a story of Rome’s history told by an omniscient narrator and an account of writing Rome’s history told from a first-person point of view that appears intermittently in asides, dis-

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I. Einleitung

Durch den Eingriff dieser zweiten ‚Stimme‘ wird zwar einerseits die Illusion einer unproblematischen historischen Rekonstruktion durchbrochen, andererseits aber die Autorität des Autors gegenüber konkurrierenden Darstellungen der Vergangenheit gestärkt. Die aus den beiden ‚Stimmen‘ resultierende Dualität ist für die antike Historiographie wohl auch generell charakteristisch,52 spielt aber immer dann eine besondere Rolle, wenn der Historiker eine von ihm selbst nicht erlebte Zeit darstellt und daher auf eine aus der Beherrschung der Tradition gewonnene Autorität angewiesen ist, um den Leser von seiner Schilderung zu überzeugen.53 Es kann daher nicht verwundern, daß sich in den erhaltenen Teilen von ab urbe condita die auktoriale Stimme vergleichsweise häufig zu Wort meldet.54 Das hier skizzierte Modell zur Präsentation der Erzählung im livianischen Geschichtwerk geht also von einer Kombination der Stimme eines Erzählers, der letztlich aus der epischen Dichtung stammt und die historischen Ereignisse daher in all ihren Details wiederzugeben vermag, und einer stärker auktorialen Stimme aus, die sich an bestimmten Stellen in diese Präsentation einschaltet und die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese Weise erhöht. Dabei handelt es sich um den Versuch einer Adaptation der von GENETTE und COHN entwickelten Kategorien zur Beschreibung nichtfiktionaler Texte an die besonderen Bedingungen der antiken Historiographie im allgemeinen und die konkrete Situation in Livius’ ab urbe condita im besonderen. Dieses Modell liegt der Untersuchung zugrunde, wird durch einzelne Beobachtungen aber auch noch weiterentwickelt, wobei vor allem dem Verhältnis von Zeit und Erzählung in seinen verschiedenen Dimensionen sowie der Frage nach der Perspektive, aus der die Ereignisse jeweils geschildert werden, eigene Kapitel gewidmet sind.55

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cussions of sources, and references to the present (…).“ u. KRAUS 1997, 72f. Für eine Übersicht über die betreffenden Stellen vgl. z.B. STEELE 1904; MILES 1995, 8-74, u. KRAFFT 1998, 120-122. Vgl. MARINCOLA 1997, v.a. 6f. Vgl. MARINCOLA 1997, 5-12 u. 262f.: „As opposed to the assured narrative of the contemporary historian, the non-contemporary historian, following in the tradition of Herodotus, portrays himself within the narrative as organiser and sifter, if not solver, of the tradition. He is far more likely to intrude into the narrative, and to place before his audience the difficulties of his own knowledge and character.“ Vgl. MARINCOLA 1997, 11f.: „Livy ... presents himself in a Herodotean manner, shifting through the tradition, comparing accounts and sources, marvelling, or addressing the reader. His use of the first person is more pronounced than in any of the other Roman historians.“ u. dag. FELDHERR 1998, 31f.: „The preface begins with a flurry of self-reference. But as the text proceeds, the author himself progressively retreats from it, rarely intruding his own persona into the narrative.“ S. unten S. 75-123 (Zeit und Erzählung) u. S. 125-190 (Perspektive).

3. Die Kommunikation zwischen Historiker und Leser

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3. Die Kommunikation zwischen Historiker und Leser als Interpretationsmodell Wie eingangs schon angedeutet, wird bei der hier vorgelegten Interpretation des livianischen Werkes der ‚Denkfigur‘ eines zeitgenössischen Modell-Lesers eine zentrale Rolle zukommen. Dieser fungiert in gewisser Weise als imaginärer Gesprächspartner, mit dem sich der Autor in einer Kommunikation über die römische Geschichte befindet. Der Historiker versucht dabei zwar sein Gegenüber – mit Hilfe des in der antiken Historiographie entwickelten Repertoires an Darstellungsformen – von seiner Version der Vergangenheit zu überzeugen und kalkuliert zu diesem Zweck auch seine möglichen Reaktionen auf den Text ein. Dem Leser kommt aber – nicht zuletzt dank seiner eigenen historischen Vorkenntnisse und literarischen Erwartungen – ebenfalls eine aktive Rolle in diesem Prozeß zu, so daß der Autor weder die Rezeption des Textes noch das daraus entstehende Bild der römischen Geschichte vollständig kontrollieren kann. Mit der folgenden Interpretation soll nicht zuletzt plausibel gemacht werden, daß Livius sich dieser Tatsache nicht nur bewußt war, sondern seine Rezipienten auch immer wieder an ihre aktive Rolle in der Kommunikationssituation erinnert.56 Wenn bei der Vermittlung von Wissen über Vergangenheit die Kommunikation und die Rolle des Rezipienten stärker betont werden, kann das nicht ohne Folgen bleiben sowohl für die historischen Inhalte selbst, als auch und insbesondere für die Wahrnehmung vergangener Ereignisse in Form von Geschichtsbildern.57 Dies gilt vor allem für diejenigen Elemente der Darstellung, die den Leser auf Widersprüche in der Bewertung historischer Ereignisse durch verschiedene Personen hinweisen oder zur Imagination von alternativen Handlungsverläufen und ihre Folgen für die Akteure animieren. Dieser relativierende Blick, der den Rezipienten dazu auffordert, die Präsentation allzu geschlossener Geschichtsbilder zu hinterfragen, erweist sich auch über das livianischen Werk hinaus als ein charakteristischer Zug des Umgangs mit der eigenen Geschichte in seiner Entstehungszeit, wie wir im ersten Teil des nächsten Kapitels näher sehen werden. Zugleich ist mit der größeren Aktivierung des Rezipienten aber auch eine Steigerung der Attraktivität der Lektüre verbunden, die wiederum zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Fortsetzung der Kommunikation führt. Auch solche Formen der ‚Leserbindung‘ stellen für Livius, wie im zweiten Teil des folgenden Kapitels gezeigt werden soll, generell ein wichtiges Anliegen dar. Ein möglichst intensiver Einbezug des Adressaten oder – um es mit einem anderen Bild auszu___________________________

56 Für einen verwandten methodischen Ansatz bei der Interpretation von Thukydides vgl. MORISSON 2006a, 13-21, und von Herodot vgl. BARAGWANATH 2008, v.a. 2f. 57 Vgl. hierzu allg. ISER 1984 [1976], v.a. 7: „Der literarische Text wird folglich unter der Vorentscheidung betrachtet, Kommunikation zu sein. Durch ihn erfolgen Eingriffe in die Welt, in herrschende Sozialstrukturen und in vorangegangene Literatur. Solche Eingriffe manifestieren sich als Umorganisation derjenigen Bezugssysteme, die der Text durch sein Repertoire abruft.“

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drücken – die möglichst starke Involvierung des Lesers in den Text und in die in ihm erzählte Geschichte kann als ein zentrales und durchgängiges Merkmal der Darstellung von Vergangenheit in Livius’ ab urbe condita gelten. Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. wird daher im folgenden weder als reine Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit noch als eine ausschließlich literarische Beschäftigung mit einem historischen Stoff verstanden werden. Vielmehr ist sie beides zugleich: Ein Dialog zwischen Autor und Leser darüber, wie Geschichte verlaufen ist oder sein könnte, der sich nicht nur der in allen Zeiten unvermeidlichen sprachlichen Mittel bedient, sondern zudem eines umfangreichen Repertoires elaborierterer Darstellungsformen, und somit in einem explizit literarischen Kontext stattfindet. In einer näheren Beschreibung, wie unter den spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Zeit Kommunikation über die Vergangenheit im literarischen Medium der Geschichtsschreibung funktioniert, liegt ein über die Beschäftigung mit Livius hinausgehendes Erkenntnisinteresse dieser Arbeit.

4. Struktur und Ziele der Arbeit Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel, von denen sich das erste mit den politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Produktion und der Rezeption von Historiographie zur Entstehungszeit von Livius Werk’ beschäftigt und daher einen stärker literaturgeschichtlichen Charakter aufweist. Die übrigen drei Kapitel greifen hingegen jeweils eine narrative Technik heraus, die für die spezifische Art der Kommunikation mit dem Leser über Geschichte in ab urbe condita eine zentrale Rolle spielt, und stellen sie näher vor. Dabei wird es sich zunächst um die unterschiedlichen Auswirkungen der annalistischen Gliederung auf die Wahrnehmung des dargestellten Geschehens handeln. Danach wird uns dann die Frage der in der Erzählung zum geschilderten Geschehen jeweils eingenommenen Perspektive und die dabei auftretenden Variationen beschäftigen. Abschließend werden wir die Erzeugung von Spannung als einer besonders prominenten Strategie zur Involvierung des Lesers in den Blick nehmen. Im einzelnen werden dabei die folgenden Punkte näher behandelt werden: Um das der Analyse zugrundegelegte Denkmodell einer Kommunikationssituation so authentisch wie möglich auszugestalten, werden im Kapitel II ‚Kontexte und Transformationen: Leser und Historiker im 1. Jh. v. Chr.‘ zunächst alle verfügbaren Informationen zum historischen Autor, seinen vermutlichen zeitgenössischen Lesern sowie den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der Produktion und Rezeption von Historiographie in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. vorgestellt und diskutiert. Ein Schwerpunkt liegt dabei nicht zuletzt auf dem mit dem Wechsel des politischen Systems einhergehenden Übergang von der heterogenen Erinnerungskultur der Späten Republik zu dem spezifischen Umgang mit der eigenen Geschichte in der augusteischen Zeit. Zugleich

4. Struktur und Ziele der Arbeit

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sollen aber auch die sich gerade in dieser Zeit verändernden Formen der Rezeption von historischem Wissen beleuchtet werden. Hier spielt unter anderem die signifikante Erweiterung des potentiellen Lesepublikums eine wichtige Rolle. In einem zweiten Schritt soll die Entwicklung der Geschichtsschreibung in Rom knapp nachgezeichnet und die intensive Debatte um eine angemessene sprachliche Form der Historiographie und ihre Wirkung auf den Leser, die sich in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. rekonstruieren läßt, vorgestellt werden. Wenn auf diese Weise der historische Autor, der zeitgenössische Leser und ihr jeweiliges Verhältnis zum livianischen Text behandelt wurden, werden im weiteren Verlauf der Untersuchung die folgenden Schwerpunkte aus den vor diesem Hintergrund zu beobachtenden narrativen Strukturen und literarischen Techniken herausgegriffen. In Kapitel III ‚Die Struktur der Geschichte: Zeit und Erzählung im annalistischen Schema‘ wird die zeitliche Anordnung der historischen Ereignisse innerhalb des Werkes im Mittelpunkt stehen. Dabei wird insbesondere der Einfluß des annalistischen Schemas auf die Präsentation der Vergangenheit und die damit verbundene Wirkung auf den Leser näher untersucht werden. Es wird sich dabei zeigen, daß diese Form der Anordnung neben ihrem Beitrag zur linearen Strukturierung der Erzählung in zeitlicher Hinsicht auch vielfältige Optionen zur Abweichung von dieser Norm beinhaltet. Die sich hieraus ergebenden Variationsmöglichkeiten – vor allem in Hinsicht auf die Reihenfolge der Ereignisse oder das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit – leisten sowohl einen wichtigen Beitrag zur inhaltlichen Deutung des dargestellten Geschehens als auch zur Unterhaltung des Rezipienten und damit zur Intensivierung der Leserbindung. Kapitel IV ‚Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität‘ unterzieht die vom Erzähler zum berichteten Geschehen eingenommene Perspektive einer näheren Analyse. Während Livius in der älteren Forschung dafür kritisiert wurde, eine unreflektiert patriotische Haltung zu seinen Gegenständen an den Tag zu legen, kann eine genauere Untersuchung der literarischen Technik verdeutlichen, daß der Erzähler in ab urbe condita im Ganzen zwar eine primär prorömische Perspektive einnimmt, diese aber zugleich an vielen Stellen durch Elemente multiperspektivischer Darstellung ergänzt wird. In diesem Zusammenhang spielt neben der gelegentlichen Fokalisierung der Erzählung durch die Augen der anderen Seite die Verwendung von Reden als ein besonders geeignetes Verfahren für eine polyphone Präsentation der Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Auch hier läßt sich zeigen, daß diese narrativen Techniken auf der Ebene der historiographischen Interpretation und der literarischen Präsentation wichtige Funktionen übernehmen. Im letzten Kapitel V ‚Der involvierte Leser: Spannung als historiographische Strategie‘ soll dann eine literarische Strategie vorgestellt werden, die in besonderer Weise zur stärkeren Aktivierung des Lesers geeignet ist. Doch auch die Erzeugung von Spannung, die sich in ab urbe condita auf unterschiedlichen narrativen Ebenen nachweisen läßt und anhand der grundlegenden Techniken der Retardation, der Erzeugung von Empathie und der Aufforderung zur Antizipation

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I. Einleitung

vorgestellt wird, dient nicht nur der stärkeren Unterhaltung und damit zugleich der Bindung des Lesers. Vielmehr sind auch hier vielfache Auswirkungen sowohl auf die inhaltliche Darstellung historischer Ereignisse als auch auf die Vermittlung eines allgemeinen Geschichtsbildes zu beobachten, wie sich vor allem an den Elementen virtueller Historiographie zeigt, die den Rezipienten zu einer besonders intensiven Form der Partizipation an der Lektüre auffordern. Die in den einzelnen Kapiteln zur Illustrierung der Thesen herangezogenen Beispiele sind dabei bewußt aus möglichst allen erhaltenen Büchern von ab urbe condita ausgewählt. Auch wenn es eine so alte wie zutreffende Beobachtung ist, daß die verschiedenen Teile von Livius’ Werk sich auf den zweiten Blick stärker unterscheiden als man zunächst anzunehmen geneigt ist,58 so stellt eine gleichmäßigere Behandlung des Textes in der Forschung doch nach wie vor ein Desiderat dar. Denn nicht nur die Wahrnehmung der breiteren Öffentlichkeit wird vor allem von der Darstellung des frühen Roms in der ersten Pentade und der Auseinandersetzung mit Hannibal in der dritten Dekade geprägt, sondern auch in der Wissenschaft finden diese Teile zumeist deutlich mehr Aufmerksamkeit als die zweite Pentade und die Bücher 31-45, die bislang vor allem unter quellenkritischen Fragestellungen behandelt wurden.59 Die Abkürzungen der antiken Autoren und Werke sowie der bibliographischen Angaben zur modernen Forschungsliteratur richten sich nach der Praxis im Neuen Pauly. Bei Zitaten aus Livius’ ab urbe condita orientiert sich der lateinische Text an der jeweils maßgeblichen Edition aus der Bibliotheca Teubneriana oder den Oxford Classical Texts; die deutschen Fassungen sind der von HANS JÜRGEN HILLEN und JOSEF FEIX herausgegebenen zweisprachigen Gesamtausgabe in der Sammlung Tusculum entnommen. Die Übersetzungen der übrigen antiken Texte stammen, soweit nicht anders kenntlich gemacht, vom Verfasser. Die seit Mitte 2010 erschienene Forschungsliteratur konnte leider nur noch in Ausnahmefällen die ihr eigentlich gebührende Berücksichtigung erfahren.

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58 Vgl. NIEBUHR 1846, 46: „Wenn wir das Werk des Livius aufmerksam betrachten, so finden wir es erstaunlich ungleich gearbeitet.“ u. ferner z.B. LEVENE 2007, 283: „The surviving portions of his history are astonishingly varied, something which has been unfortunately obscured by the fact that most of his surviving work is little read except by specialists: …“ 59 Für eine Behandlung dieser Bücher mit stärkerem Blick auf die literarische Form der Darstellung vgl. z.B. KRAUS 1994a (Kommentar zum 6. Buch); JAEGER 1997, 132-176 (zu den Scipionenprozesssen im 38. Buch); EIGLER 2003b (zu Aemilius Paullus im 45. Buch); EGELHAAF-GAISER 2006 (zur Triumphthematik im 45. Buch); MAHÉ-SIMON 2006 (zum 8. und 9. Buch); LEVENE 2006 (zum 45. Buch) u. JAEGER 2007 (zur Besteigung des Haimosgebirges im 40. Buch).

II. KONTEXTE UND TRANSFORMATIONEN: II. KONTEXTE UND TRANSFORMATIONEN LESER UND HISTORIKER IM 1. JAHRHUNDERT V. CHR. Bei dem Versuch, eine genauere Vorstellung von Livius und seinen Lesern zu gewinnen, sind wir auf die Informationen angewiesen, die sich einerseits – bei aller gebührenden Vorsicht hinsichtlich der Unterschiede zwischen Erzähler und realem Autor1 – aus dem Text selbst, andererseits aus externen Zeugnissen gewinnen lassen. Daß sich die Entstehung von ab urbe condita in die Jahre ungefähr zwischen 27 v. Chr. und 17 n. Chr. datieren läßt,2 kann dabei insofern als Glücksfall gelten, als die Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption von Wissen über die Vergangenheit gerade für das Rom der augusteischen Zeit vergleichsweise gut dokumentiert sind. Es läßt sich daher ein – zumindest für vormoderne Verhältnisse – recht differenziertes Bild des zeitgenössischen Kontextes rekonstruieren, indem die Kommunikation zwischen dem Historiker und seinen Lesern über ihre Geschichte stattfindet. Bei der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. handelt es sich um eine Epoche des vielfältigen politischen, sozialen und kulturellen Wandels, der nicht zuletzt Veränderungen auf dem Feld der Erinnerung an die Vergangenheit und der Art ihrer Vermittlung zur Folge hat. Hier spielt vor allem der Übergang von der heterogenen Geschichtskultur, wie sie während der Republik von den miteinander konkurrierenden gentes der Nobilität gepflegt wurde, zu einer von ihrem Anspruch her die gesamte römische Gesellschaft umfassenden Repräsentation der eigenen Vergangenheit in augusteischer Zeit eine entscheiden Rolle. Mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert sich aber auch die Rezeption von Literatur allgemein und von Geschichtsschreibung im besonderen. Dies gilt bereits für die Zusammensetzung des potentiellen Publikums, betrifft ferner die sich wandelnden Interessen der Zeitgenossen bei der Beschäftigung mit Geschichte und erstreckt sich schließlich auch auf die Form der Rezeption selbst. Dazu tritt als weiterer Bereich des Wandels die Entwicklung der Geschichtsschreibung als literarischer Gattung, die sich in Rom seit dem 2. Jh. beobachten läßt und die insbesondere in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. von einer intensiven Debatte unter den Zeitgenossen begleitet wird, die sich ebenfalls noch in Grundzügen nachzeichnen läßt. Mit diesen Aspekten wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen, wobei wir mit den Veränderungen der Geschichtskultur beginnen, uns dann den gewandelten Formen der Rezeption zuwenden und schließlich die innerliterarische Entwicklung in den Blick nehmen. Abschließend sollen diese Überlegungen mit Livius’ Reflexionen über die Bedürfnisse seiner Leser verglichen und auf diese Weise zugleich zusammengefaßt werden. ___________________________

1 S. oben S. 13f. 2 Zu den Lebensdaten und der Datierung der einzelnen Teile s. unten S. 30-37 u. 75.

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II. Kontexte und Transformationen

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft a) Die heterogene und multimediale Erinnerungskultur der Republik Die Besonderheiten des Umgangs mit der eigenen Geschichte in der römischen Republik sind in der Forschung der letzten Jahre – im Zuge eines allgemein gestiegenen Interesses an verschiedenen Formen von Erinnerungskultur in unterschiedlichen Epochen3 – mehrfach und mit großem Gewinn behandelt worden.4 Dabei wurde zu Recht vor allem die enge Interaktion mit dem politischen und gesellschaftlichen System der Republik betont, so daß sich das verbesserte Verständnis beider Seiten gegenseitig bedingen konnte. Die zahlreichen neuen Erkenntnisse, die sich aus diesem Ansatz ergeben haben, lassen sich zum größten Teil den folgenden drei veränderten Sichtweisen auf die Erinnerungskultur der römischen Republik zuordnen: 1) Die partikularen Erinnerungsinteressen der einzelnen gentes haben als ‚memoriae privatae‘ eine größere Rolle gespielt als eine in gesamtgesellschaftlichen Institutionen verankerte memoria publica. 2) Die Interaktion mit dem politischen System hat zu einer hoch kompetitiven Form der Erinnerungskultur geführt, in der diejenigen Aspekte der Vergangenheit bevorzugt tradiert wurden, die den größten Vorteil für die Gegenwart versprachen, und die daher ein notwendigerweise partikulares Bild der gemeinsamen Geschichte hervorgebracht hat. 3) Die besonderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben zur Ausbildung eines vielfältigen Repertoires an Erinnerungsmedien geführt, das den Akteuren zur Verfügung stand und seine volle Wirkung gerade im Zusammenspiel der einzelnen Komponenten entfalten konnte. Den Ausgangspunkt für dieses veränderte Verständnis bildet die Frage danach, welche Personen oder Institutionen die Träger der Erinnerung gewesen sind und aus welchem Interesse sie die vergangenen Ereignisse in der Gegenwart präsent zu halten wünschten. Da die Gesellschaft der römischen Republik entscheidend von der Nobilität, die in der ersten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. an die Stelle des Pa___________________________

3 Vgl. grundlegend ASSMANN 1992 sowie für aktuelle Überblicke ERLL 2005; ASSMANN 2006, v.a. 21-116, u. ERLL / NÜNNING 2008. 4 In der deutschsprachigen Forschung haben sich vor allem die altertumswissenschaftlichen Projekte des Dresdener SFB ‚Institutionalität und Geschichtlichkeit‘ (vgl. BRAUN et al. 2000; LINKE / STEMMLER 2000; MELVILLE 2001 u. HALTENHOFF et al. 2003) und des Kölner Graduiertenkollegs ‚Vormoderne Konzepte von Zeit und Vergangenheit‘ (vgl. HÖLKESKAMP 1996; WALTER 2001; HÖLKESKAMP et al. 2003; HÖLKESKAMP 2004a; HÖLKESKAMP 2004b; WALTER 2004a; BECK 2005a; BÜCHER 2006 u. HÖLKESKAMP 2006b) intensiv mit dieser Thematik beschäftigt. Aber auch außerhalb beider Institutionen hat das Thema Aufmerksamkeit gefunden (vgl. FLAIG 1993; FLAIG 1995; FLOWER 1996; BLÖSEL 2003; FLAIG 2003a u. POLO 2004).

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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triziats getreten war5 und sich ganz wesentlich über ihre politische Tätigkeit definierte,6 geprägt wurde, liegt es vor allem nahe, nach den Interessen ihrer Mitglieder beim Umgang mit der Vergangenheit zu fragen. Hierbei kommt dem Umstand eine entscheidende Rolle zu, daß das politische System der Republik zwar keinen Erbadel im rechtlichen Sinne kannte, da die Aufnahme in den Senat in jeder Generation neu durch die Absolvierung des cursus honorum erworben werden mußte. Es hielt aber dennoch große Vorteile für diejenigen bereit, die sich bei ihrer Karriere auf Erfolge älterer Vertreter ihrer gens berufen konnten.7 Cicero spricht in diesem Zusammenhang sowohl von der commendatio maiorum, der häufig wahlentscheidenden Empfehlung eines Kandidaten durch seine Ahnen,8 als auch von der hereditas gloriae, der Erbschaft in Form von Renommee9 oder – in der Terminologie PIERRE BOURDIEUs – in Form von symbolischem Kapital.10 Die Erinnerung an die eigenen Vorfahren leistete also nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur vergleichsweise hohen sozialen Exklusivität der Führungsschicht der Republik,11 sondern diente zudem – vor allem über die Etablierung von exempla und des mos maiorum als für die Nobilität in ihrer Gesamtheit verpflichtendes Handlungsmodell12 – zu ihrer Legitimation, so daß die von OTTO GERHARD OEXLE mit Blick auf das europäische Mittelalter formulierte These, daß die memoria den Adel konstituiere, auch hier ihre Berechtigung hat.13 Gegenüber den Anreizen, die sich aus diesen Rahmenbedingungen für die einzelnen gentes zur Beschäftigung mit Geschichte ergaben, blieb die Motivation zur Speicherung oder gar zur ständigen Aktualisierung von historischen Informationen durch gesamtgesellschaftliche Institutionen schwach ausgeprägt. Da sich die im jährlichen Wechsel vergebenen Magistraturen dazu wenig eigneten, wurde diese Funktion vor allem von sakralen Einrichtungen übernommen.14 Insbesondere den Aufzeichnungen, die der pontifex maximus jedes Jahr auf einer öffentlich sichtbaren Tafel angefertigt haben soll, kamen dabei eine zentrale Rolle zu.15 ___________________________

5 Vgl. HÖLKESKAMP 1987. 6 Vgl. MEIER 1992, 9: „Wer Politik trieb, gehörte praktisch immer zum Adel (...) und vor allem auch umgekehrt: wer zum Adel gehörte, trieb Politik.“ sowie HÖLKESKAMP 1987, 204-240; FLAIG 1993 u. WALTER 2004a, v.a. 84-89. 7 Vgl. FLAIG 1993, 203-207; FLOWER 1996, 60-90, u. BECK 2005a, 114-154. 8 Vgl. Cic. Catil. 1,28; Planc. 67 u. Brut. 96. 9 Vgl. Cic. off. 1,78. 10 Vgl. BOURDIEU 1992, 49-79, u. zur Adaption auf Rom HÖLKESKAMP 2006a, 385-396. 11 Damit soll die Bedeutung anderer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren keineswegs geleugnet werden (vgl. allg. BLEICKEN 1981 u. HÖLKESKAMP 1987). 12 Vgl. die klassische Studie von DREXLER 1959a sowie v.a. HÖLKESKAMP 1996; BETTINI 2000; MUTSCHLER 2000b; STEMMLER 2000; COUDRY / SPÄTH 2001; STEMMLER 2001; ROLLER 2004; BÜCHER 2006 u. ROLLER 2009. 13 Vgl. OEXLE 1995a; für die römische Republik BLÖSEL 2003 u. WALTER 2004a, 84-130. 14 Vgl. allg. RÜPKE 1995, v.a. 593-628; WALTER 2004a, 196-207, u. WALTER 2006. 15 Vgl. Cato FRH 3 F 4,1 (= Gell. 2,28,4); Cic. de or. 2,51-54 u. Serv. Aen. 1,373.

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II. Kontexte und Transformationen

Seit wann diese später als annales maximi bezeichnete Chronik geführt wurde, welche Informationen Eingang gefunden haben, wie umfangreich die Einträge zu den einzelnen Jahren waren und in welcher Form diese Daten nach ihrer Aufstellung archiviert wurden, wird in der Forschung ebenso kontrovers diskutiert wie ihr inhaltlicher und formaler Einfluß auf die literarische Geschichtsschreibung.16 Die intensive Debatte hat dazu geführt, daß die wenigen zeitgenössischen Hinweise zu dieser Institution sehr viel Aufmerksamkeit gefunden haben. Gerade ihre geringe Zahl kann jedoch nicht zuletzt als Hinweis verstanden werden, daß es sich auch bei dieser Form einer memoria publica letztlich um eine Ausnahme gegenüber den diversen memoriae der einzelnen gentes gehandelt hat. Außerdem birgt die Konzentration auf dieses eine Beispiel einer schriftlichen Tradierung die Gefahr, die vielen anderen Medien, die in dieser Zeit zur Vermittlung von Wissen über die Geschichte verwendet werden, aus dem Blick zu verlieren. Im Unterschied zur idealiter gesamtgesellschaftlichen Perspektive des pontifex maximus wird Vergangenheit dort natürlich aus dem Blickwinkel der Familien erinnert und präsentiert. Die sich daraus zwangsläufig ergebenden Divergenzen werden durch die politische Wettbewerbssituation noch verstärkt. Die Folgen der agonalen Rahmenbedingungen für die Selektion, Gewichtung und Rekonstruktion historischen Wissens sind so vielfältig wie gravierend. Wenn offenkundigen Fälschungen durch die gegenseitige Kontrolle der Akteure und der übrigen Rezipienten auch Grenzen gesetzt waren,17 kann es dennoch nicht überraschen, daß vor allem die prestigeträchtigen Erfolge der eigenen Vorfahren auf militärischem und politischem Gebiet erinnert wurden. Andere Aspekte der Vergangenheit waren demgegenüber in ihren Überlieferungsaussichten deutlich benachteiligt. Auf das Ganze gesehen hat die ernorme Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart aber dazu geführt, daß sich eine erstaunliche Fülle an Informationen aus der Zeit der Republik erhalten hat. Die ständige Aktualisierung der jeweils relevanten Daten hat zudem dazu geführt, daß sich der für das historische Wissen in traditionalen Gesellschaften charakteristische floating gap – zwischen dem die Entstehung der eigenen Kultur gleichsam zeitlos aufbewahrenden kulturellen Gedächtnis auf der einen Seite und dem jeweils nur ungefähr drei Generationen zurückreichenden Bewußtsein der jüngeren Vergangenheit auf der anderen Seite – in Rom nur in sehr eingeschränkter Form gebildet hat.18 ___________________________

16 Hierbei spielt die von P. Mucius Scaevola im 2. Jh. v. Chr. veröffentlichte Fassung eine zentrale Rolle: Man geht heute allerdings davon aus, daß es sich weniger um Archivmaterial als bereits um eine Rekonstruktion solcher Angaben gehandelt hat (vgl. v.a. FRIER 1999 [1979]; RÜPKE 1993; FLACH 1998, 56-60; MEHL 2001, 38-41; GOTTER et al. 2003, 26-31; BECK / WALTER 2004, 32-37, u. BECK 2007). 17 Vgl. RIDLEY 1983; FLAIG 2003a, 69-94; BLÖSEL 2003, 62-66, u. WALTER 2004a, 105108. Zur Wahrnehmung dieses Problems durch die Zeitgenossen s. unten S. 29. 18 Das auf den Ethnologen JAN VANSINA zurückgehende Konzept des floating gap (vgl. VANSINA 1985, v.a. 23f.168f., u. für eine Weiterentwicklung ASSMANN 1992, 48-56).

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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Relevanter für den Umgang mit Geschichte in Rom ist aber eine andere Folge dieser Rahmenbedingungen: Die von den einzelnen Akteuren präsentierten Versionen der Vergangenheit lassen sich keineswegs immer zur Deckung bringen. Vielmehr ist auf diese Weise ein heterogenes und partiell auch widersprüchliches Bild der gemeinsamen Geschichte entstanden, das bereits von den Zeitgenossen nur dann richtig gedeutet werden konnte, wenn sie bei ihrer Interpretation die Interessen der einzelnen Erinnerungsträger in Rechnung gestellt haben. Die Vermutung liegt daher nahe, daß sowohl die Bereitschaft wie auch die Fertigkeit zur reflektierten Auseinandersetzung mit divergierenden Darstellungen historischer Ereignisse in der römischen Gesellschaft verbreiteter gewesen sind als ihr von der modernen Geschichtswissenschaft lange Zeit zugebilligt wurde. Die verschiedenen konkurrierenden Darstellungen der Vergangenheit sind zudem – und das ist die dritte entscheidende Neubewertung in Hinsicht auf den Umgang mit Geschichte in der römischen Republik – in sehr unterschiedlichen Formen und Medien präsentiert worden.19 Denn auch hier hat die intensive Wettbewerbssituation bereits früh zur Ausbildung eines umfangreichen Repertoires an Erinnerungsstrategien geführt, in das neben etruskischen und italischen Traditionen auch viele aus der griechisch-hellenistischen Kultur übernommene Praktiken Eingang gefunden haben.20 In diesem Zusammenhang spielt in Rom – wie in anderen Kulturen – das Totengedenken eine zentrale Rolle.21 So wurde wohl schon an der Wende zum 3. Jh. v. Chr. das traditionelle Begräbnisritual der Aristokratie zur pompa funebris ausgebaut,22 in deren Verlauf die eigenen Vorfahren und die von ihnen für die res publica erbrachten Leistungen der stadtrömischen Öffentlichkeit sowohl verbal im Rahmen der laudatio funebris23 als auch bildlich über von Schauspielern getragene imagines maiorum präsentiert werden konnten.24 Daß diese Wachsmasken mit den Gesichtszügen der erfolgreichen Ahnen25 im Atrium aufbewahrt wurden,26 zeigt bereits, daß über die punktuelle Inszenierung hinaus stets auch eine dauerhafte Präsenz angestrebt wurde. Hierfür wurde neben dem Haus,27 das im sozialen Leben der römischen Nobilität wichtige Funktionen übernahm und bei dem es sich daher zumindest um einen halböffentlichen Raum ___________________________

19 Zum gleichen Phänomen im Athen des 5. Jh. v. Chr. vgl. GRETHLEIN 2010, v.a. 1-5, u. in Griechenland allg. GEHRKE 2010. 20 Vgl. HÖLSCHER 1990, u. GRUEN 1992, 131-182. 21 Vgl. ASSMANN 1992, v.a. 33f.60-63, u. ferner BLÖSEL 2003, 53f. 22 Vgl. HÖLKESKAMP 1987, 224, u. FLOWER 1996, 46f.59. 23 Vgl. KIERDORF 1980; FLOWER 1996, 128-158, u. WALTER 2004a, 97-99. 24 Die Zeremonie, die schon Polybios als charakteristisch für die Kultur Roms empfand (6,53,1-54,3), ist zuletzt mehrfach behandelt worden: vgl. FLAIG 1995; FLOWER 1996, 91-127; BLÖSEL 2003, 54-62; WALTER 2004a, 89-108; BECK 2005b u. FLOWER 2006. 25 Zur Frage, wer berechtigt war, imagines zu besitzen, vgl. GOLDMANN 2002, 48-65. 26 Die Schreine blieben zwar in der Regel geschlossen, doch waren die tituli sichtbar (vgl. Plin. nat. 35,4-35,14 mit BETTINI 1992, 137-145, u. FLOWER 1996, 211-217). 27 Vgl. RAWSON 1990; FLOWER 1996, 185-222, u. STEIN-HÖLKESKAMP 2006.

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II. Kontexte und Transformationen

handelte,28 vor allem die Familiengrablege verwendet.29 Beide boten zahlreiche Optionen, die von der Abfassung von Inschriften über das Aufstellen von Statuen oder Porträts bis hin zum Anbringen von erbeuteten Waffen und Gemälden mit historischen Szenen reichten.30 Aber auch in vollem Sinne öffentliche Räume, vor allem das Forum und das Kapitol, wurden trotz bestehender Restriktionen zunehmend durch die Aufstellungen von Statuen und anderer Ehrenmonumente medial okkupiert,31 so daß die Topographie Roms in eine von den einzelnen gentes vielfach und kontrovers beanspruchte Gedächtnislandschaft verwandelt wurde.32 Dies gilt in gleicher Weise für die Münzbilder, die ab der Mitte des 2. Jh. v. Chr. verstärkt genutzt wurden, um die Erfolge der Vorfahren im Dienste der res publica einer breiteren Öffentlichkeit in Erinnerung zu rufen.33 Zu diesen rituellen und visuellen Memorierungsstrategien, in denen Schrift nur eine untergeordnete Rolle spielt,34 treten seit dem späten 3. Jh. v. Chr. verstärkt literarische Medien.35 Vor allem bei der Etablierung des historischen Epos und der Geschichtsschreibung, möglicherweise auch bei der des Dramas,36 spielte in Rom neben anderen Gründen37 ihre kommemorative Eignung eine zentrale Rolle, die erst in jüngerer Zeit adäquat berücksichtigt wurde.38 Hierzu passen auch die Informationen, die wir über die soziale Verortung der Produzenten dieser Literaturformen haben. Allerdings zeigt sich eine komplementäre Verteilung: Während die Verfasser epischer und dramatischer Dichtung in der Regel auf die Patronage der führenden Familien angewiesen waren,39 waren die ersten Historiker von Fabius Pictor40 an zumeist selbst Mitglieder der politischen Elite. ___________________________

28 29 30 31

32 33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. z.B. Vitr. 6,5,1-2 u. ferner WALLACE-HADRILL 2008, 190-196. Vgl. Z.B. ECK 1987; FLOWER 1996, 159-184, u. KOLB / FUGMANN 2008, v.a. 16-21. Zur Historienmalerei vgl. HOLLIDAY 2002 u. WALTER 2004a, 148-154. Hier kommt den zur dauerhaften Memorierung des Triumphes entwickelten Strategien zentrale Bedeutung zu (vgl. v.a. FLAIG 2003b; WALTER 2004a, 139-143; ITGENSHORST 2005, 89-147; HÖLKESKAMP 2006c; BEARD 2007, 42-53; MARTINI 2008; SCHIPPOREIT 2008 u. PITTENGER 2008, 281-285). Vgl. SEHLMEYER 1999; HÖLSCHER 2001; HÖLKESKAMP 2001; WALTER 2004a, 131-154, u. WALLACE-HADRILL 2008, v.a. 223: „‘Nobility’ is an illusion generated by the aggressive appropriation of the public sphere by private families and their domestic rituals.“ Vgl. CHANTRAINE 1983; HOLLSTEIN 1993 u. FLOWER 1996, 79-86. Zur Archivierung der laudationes vgl. Cic. Brut. 61-62 u. Plin. nat. 35,7; zur möglichen Veröffentlichung vgl. Cic. Cato 12 u. Liv. 27,27,13 mit FLOWER 1996, 145-150. Zur Anwendung der oral tradition-Forschung auf diesen Übergang vgl. TIMPE 1988; CORNELL 1995; TIMPE 1996; TIMPE 2003, 287-293, u. WISEMAN 2007. Ob der Anteil historischer Stoffe so hoch war, wie T.P. WISEMAN annimmt, ist fraglich (s. unten S. 38), doch ist der politische Kontext unstrittig (vgl. LEIGH 2004, 1-23). Zur Außenwirkung vgl. z.B. GENTILI / CERRI 1988, 35-60; MOMIGLIANO 1990; GABBA 2000, v.a. 66; KIERDORF 2002, 410f.; POLO 2004, 147, u. DILLERY 2009, 78-90. Vgl. z.B. GOLDBERG 1995, 111-134; MEHL 2001, 36-38; RÜPKE 2001b u. BECK 2003. Zur Patronage in dieser Zeit vgl. GOLD 1987, 39-70; WALLACE-HADRILL 1989; GRUEN 1990, 79-123; HABINEK 1998, 34-68, u. GILDENHARD 2003. Vgl. TIMPE 1972; BECK / WALTER 2001, 55-61; BECK 2003 u. WALTER 2004a, 229-255.

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Dieser Umstand unterstreicht die der Geschichtsschreibung von der Nobilität beigelegte Bedeutung, zumal die aktive literarische Beschäftigung in Rom sonst – im Gegensatz zur griechischen Aristokratie – bis in die Späte Republik hinein als nicht standesgemäß galt.41 In welchem Maße gerade diese Gattung im Kraftfeld der gentilizischen Erinnerungskultur stand, wird noch deutlicher, wenn im 2. Jh. v. Chr. mit Cato dem Älteren erstmals ein homo novus historiographisch tätig wird: Er verzichtet – zumindest in weiten Teilen – seiner Origines ganz bewußt darauf, die Namen der Protagonisten zu nennen, und nennt stattdessen nur ihre jeweilige Funktion, offenbar um auf diese Weise anstelle der Repräsentanten der einzelnen gentes den populus Romanus zum Handlungsträger der Geschichte zu machen.42 Zwar kann sich diese „Idiosynkrasie“ letztlich nicht durchsetzen, ihr Auftreten muß aber als erstes Krisensymptom für eine Störung der traditionellen Erinnerungskultur der römischen Republik gewertet werden.43 Auch wenn sowohl im Falle des Epos44 wie der Geschichtsschreibung45 neben der Lektüre auch von mündlichen Formen der Präsentation auszugehen ist, so ist doch mit einem gewissen Recht die Frage aufgeworfen worden, welche Breitenwirkung diese primär auf Schriftlichkeit basierenden Medien in der Gesellschaft der römischen Republik entfaltet haben können. Die zugespitzte Formulierung TONIO HÖLSCHERs, daß die Geschichtsschreibung nur „einen späten, komplexen Seitenzweig des geschichtlichen Gedächtnisses von geringerer Öffentlichkeit, Monumentalität und Verbindlichkeit“ dargestellt habe,46 ist zwar in der Folge relativiert worden.47 Dennoch kann die Debatte verdeutlichen, wie sehr sich das Bild der Geschichtskultur von der Fixierung auf literarische Formen gelöst hat.48 Mit dieser Neubewertung gehen zwei wichtige Erkenntnisse einher. Einerseits hat den Akteuren ein vielfältiges Spektrum unterschiedlicher Medien zur Verfügung gestanden. Dieses wurde zwar im Laufe der Zeit sowohl ausgeweitet als auch verfeinert, doch sollte die Entwicklung nicht einseitig als Übergang von primitiven zu modernen Formen aufgefaßt werden. Vielmehr konnten die einzelnen ___________________________

41 Vgl. RAWSON 1985, 38-53; HÖLKESKAMP 1987, 204-240, u. FLAIG 1993, v.a. 214-217. 42 Vgl. Nep. Cato 3,3; Plin. nat. 8,11 u. als Beispiel FRH 3 F 4,7a (= Gell. 3,7) sowie BECK / WALTER 2001, 148-154; GOTTER 2003 u. WALTER 2004a, 279-296. 43 Vgl. MUTSCHLER 2000b, 105f. (Zitat) sowie zu Catos spezifischem Ansatz allg. JEHNE 1999; GEHRKE 2000; DILLERY 2009, 90-102, u. GOTTER 2009. 44 Dabei spielt das convivium als gesellschaftlicher Kontext eine zentrale Rolle, zumal es hier in Form der carmina convivalia eine ältere Tradition kommemorativer Dichtung gab (vgl. Cato FRH 3 F 7,13 mit v.a. ZORZETTI 1990; PERUZZI 1993; RÜPKE 2001b, 49f.; WALTER 2004a, 71-75, u. EGELHAAF-GAISER 2005). 45 Zur Rezitation von Geschichtsschreibung s. unten S. 38-41. 46 Vgl. HÖLSCHER 2001, 188, u. ferner z.B. FLOWER 2009. Für die begrenzte Breitenwirkung literarischer Kommemoration liefert Cicero ein illustratives Zeugnis, wenn er – allerdings in klarer polemischer Absicht – den geringen politischen Wert einer nur aus Geschichtswerken bekannten Genealogie beschreibt (vgl. Cic. Mur. 16). 47 Vgl. MUTSCHLER 2000a, 99-105; WALTER 2001 u. BECK / WALTER 2001, 47-50. 48 Zur Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung s. unten S. 46-71.

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Komponenten je nach Inhalt, Anlaß und intendierten Adressaten variiert werden. Der besondere Reiz dieses Systems bestand ferner darin, daß es seine volle Wirkung erst im Zusammenspiel mehrerer Register entfaltete. 49 Die Existenz und regelmäßige Verwendung eines so reichhaltigen Repertoires von Memorierungsstrategien dürfte andererseits aber auch dazu geführt haben, daß die Rezipienten ein erhebliches Maß an Erfahrung im Umgang mit den unterschiedlichen Formen erworben haben. Es ist daher davon auszugehen, daß weite Teile der stadtrömischen Bevölkerung über eine erhebliche ‚Medienkompetenz‘ in Hinsicht auf die verschiedenen Spielarten der Präsentation von Geschichte verfügt haben. b) Von der republikanischen zur augusteischen Geschichtskultur Ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Genese und Entfaltung dieser spezifischen Erinnerungskultur im Laufe der Zeit hat in der Forschung ihre ‚Implosion‘ in den wenigen Jahrzehnten der Späten Republik gefunden. Dabei läßt sich erneut ein enger Konnex mit den politischen Entwicklungen beobachten. Hatte doch deren Krise50 entscheidenden Anteil daran, daß die agonalen Züge dieses bereits per se auf Konkurrenz angelegten Systems nun vollends die Oberhand gewonnen haben und die lange Zeit gültigen ungeschriebenen Regeln beim Umgang mit der Vergangenheit mehr und mehr außer Kraft gesetzt wurden. Diese kumulierende Tendenz läßt sich in der ersten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. an allen Medien der historischen Erinnerung ablesen. Besonders augenfällig wird sie neben der Münzprägung51 an den Ehrenstatuen, deren an sich strikt geregelte Aufstellungspraxis im Laufe der Zeit mehr und mehr unterwandert wurde, so daß in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. die Zensoren die Entfernung aller Statuen verfügten, praeter eas, quae populi aut senatus sententia statutae essent („außer denen, die auf Beschluß des Volkes oder des Senates hin aufgestellt wurden.“).52 Doch blieb diese Aktion letztlich folgenlos, so daß spätestens seit sullanischer Zeit das Stadtbild durch die Denkmäler der gentes nachhaltig geprägt und zur polyphonen Inszenierung ihrer divergierenden Erinnerungsinteressen genutzt wurde.53 Analog zur Steigerung der medialen Intensität läßt sich auch eine Erweiterung des inhaltlichen Spektrums beobachten: Von einigen Akteuren werden nun auch verstärkt Götter, mythologische Figuren und ‚prähistorische‘ Personen, vor allem aus dem trojanischen Sagenkreis, als Vorfahren reklamiert. Bemühungen in dieser Richtung hat es zwar vielleicht schon seit der Übernahme der Aeneaslegende als Gründungsmythos im 4. Jh. v. Chr. gegeben, greifbar werden sie allerdings erst ab dem 2. Jh. v. Chr. und bleiben auch dann zunächst auf die Münzprägung beschränkt. Erst in der Späten Republik häufen sich Zeugnisse für eine Auswei___________________________

49 50 51 52 53

Vgl. hierzu z.B. PAUSCH 2008b, v.a. 64. Vgl. z.B. CHRIST 1979; MEIER 1980; BRUNT 1988 u. BLEICKEN 1999, 74-92. Vgl. HOLLSTEIN 1993; BÜCHER 2006, 123-126, u. WALLACE-HADRILL 2008, 223f. Vgl. Plin. nat. 34,30-31 mit SEHLEMYER 1999, 152-159, u. BÜCHER 2006, 126f. Vgl. HÖLSCHER 1980b; SEHLMEYER 1999, 178-225, u. HÖLSCHER 2001, v.a. 208f.

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tung der eigenen Ahnenreihe über die Zeit der Republik hinaus,54 so daß laut Dionysios von Halikarnassos am Ende des 1. Jh. v. Chr. mehr als fünfzig Familien in Rom eine trojanische Abstammung für sich beanspruchten.55 Auch wenn damit keine Ablösung der ‚harten Währung‘ historisch nachweisbarer Vorfahren intendiert war,56 sondern die Präsentation mythologischer Ahnen in Kunst und Literatur eher auf die Zurschaustellung kultureller Kompetenz gezielt haben dürfte und daher als komplementäres Phänomen begriffen werden kann,57 so handelt es sich dennoch um einen illustrativen Beleg für die Intensivierung der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in der Späten Republik. Dieser zeigt sich in gleicher Weise auf der literarischen Seite der Erinnerungskultur: Einerseits kam es erst an der Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. zu einer nennenswerten Rezeption der im griechischen Kontext längst etablierten Gattungen der Biographie und der Autobiographie. Ihre Verwendung im Ringen um die Präsentation der Vergangenheit war bislang durch einen stillschweigenden Konsens der Akteure offenbar nicht statthaft gewesen. Beide Gattungen werden aber nun im Zuge der verschärften Konkurrenz als zur Fokussierung auf eine Person besonders geeignete Formen aufgegriffen,58 wie die einzigen erhaltenen Beispiele aus republikanischer Zeit, die commentarii Caesars, verdeutlichen können.59 Andererseits läßt sich in der Historiographie das Phänomen der jüngeren Annalistik beobachten.60 Die in der modernen Forschung unter dieser Bezeichnung zusammengefaßten Autoren greifen ganz bewußt auf die zu ihrer Zeit bereits altmodische Darstellung der Gesamtgeschichte Roms61 zurück und verbinden diese Art der Vermittlung mit dem intensiven Versuch, die gemeinsame Vergangenheit aus ihrer jeweiligen Perspektive zu präsentieren und umzudeuten. Damit haben gerade diese Historiker entscheidend zu dem von ERNST BADIAN so treffend als ‚expansion of the past‘ bezeichneten Vorgang beigetragen, der zur deutlichen Erweiterung des historischen Wissens geführt hat, auch wenn es sich dabei oft nur um plausible Ergänzungen bislang fehlender Informationen handelte.62 ___________________________

54 Ein gutes Beispiel bietet ein Fragment aus der laudatio funebris, die Caesar 69 v. Chr. für seine Tante hielt und in der er ihre Abstammung von Aeneas und Venus einerseits sowie dem römischen König Ancus Marcius andererseits betont (vgl. Suet. Iul. 6,1). 55 Vgl. Dion. Hal. ant. 1,85,3. Zur genealogischen Übersicht als Reaktion s. unten S. 28f. 56 Vgl. HÖLKESKAMP 1999, dag. aber auch WISEMAN 1974, v.a. 164: „With a god in the family tree, who needed consuls?“ 57 Vgl. PAUSCH 2008b, 65f. 58 Vgl. SONNABEND 2002, 85-98; CHASSIGNET 2003; WALTER 2003c; PAUSCH 2004b; BAIER 2005 u. RIGGSBY 2007, aber auch SCHOLZ 2003, der von einer größeren Zahl nicht erhaltener älterer Autobiographien ausgeht. 59 Zu Caesars Schriften und ihren (vermutlichen) Besonderheiten im Vergleich zur Tradition vgl. RIGGSBY 2006, 133-155; BATSTONE / DAMON 2006 u. WALTER 2010. 60 Zur Problematik des Begriffs vgl. BECK / WALTER 2001, 45f., u. TIMPE 2003, 293f. 61 Zu den literarischen Entwicklungen s. unten S. 46-71. 62 Vgl. BADIAN 1966, 11-13, sowie ferner TIMPE 1979; PETZOLD 1993; WALT 1997, 3475; OAKLEY 1997, 72-79; WALTER 2003b, 143-155, u. LEVENE 2007, 277-280.

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II. Kontexte und Transformationen

Die fragmentarische Überlieferung enthält nur wenig Angaben zu den Lebensumständen der einzelnen Autoren, so daß etwa wir über das Verhältnis von Claudius Quadrigarius63 und Valerius Antias64 zu den aristokratischen Familien, deren Namen sie tragen, wenig sagen können. Von Quadrigarius ist immerhin die Widmung an eine nicht genannte, aber sicherlich sozial höher stehende Person erhalten, so daß der Gedanke an ein Patronageverhältnis naheliegt.65 Dagegen waren Licinius Macer66 und Aelius Tubero67 – wenn auch nur in begrenztem Umfang – politisch tätig. Dennoch unterscheidet sich diese Gruppe aufs Ganze gesehen von ihren Vorgängern deutlich durch ihren geringeren sozialen Status.68 Damit geht die Sonderstellung der Historiographie, die in Rom lange Zeit als einzige literarische Tätigkeit auch von Angehörigen der Führungsschicht ausgeübt wurde, verloren.69 Ob es sich bei diesen Geschichtsdarstellungen vorwiegend um Auftragswerke für die nicht mehr selbst zur Feder greifenden Familien handelt oder ob bereits hier auch mit der Abfassung für ein breiteres Lesepublikum zu rechnen ist,70 läßt sich anhand der wenigen Fragmente nicht mehr beurteilen. Entscheidender für unsere Belange ist eine andere Folge dieser Entwicklung: Daß nun verstärkt Historiker in Erscheinung treten, die selbst auf keine erfolgreiche politische und militärische Karriere zurückblicken können, trägt erheblich zur weiteren Erodierung des für die römische Geschichtsschreibung ursprünglich bestimmenden Modells der Glaubwürdigkeit der Erzählung durch die auctoritas des Autors bei.71 Zwar läßt sich schon seit dem für die historiographische Entwicklung in vielerlei Hinsicht folgenreichen Aufenthalt des Polybios in Rom in der Mitte des 2. Jh. v. Chr.72 beobachten, daß etwa in den Werken des Coelius Antipater73 oder Sempronius Asellio74 die literarische Kompetenz einen größeren ___________________________

63 Vgl. KIERDORF 2003, 48-51, u. BECK / WALTER 2004, 109-111. 64 Vgl. WISEMAN 1998a, 75-89; KIERDORF 2003, 54-56, u. BECK / WALTER 2004, 168-171. 65 Vgl. FRH 14 F 80. Widmungen sind wegen des Verdachtes einer voreingenommenen Darstellung sonst selten (vgl. HERKOMMER 1968, 22-34, u. MARINCOLA 1997, 55f.). 66 Licinius Macer war 73 Volkstribun und wahrscheinlich 68 Prätor; vgl. WALT 1997, v.a. 1-33; KIERDORF 2003, 52-54, u. BECK / WALTER 2004, 314-317. 67 Für Aelius Tubero sind keine Magistraturen belegt, er war aber auf Seiten Caesars am Bürgerkrieg beteiligt; vgl. KIERDORF 2003, 56f., u. BECK / WALTER 2004, 346-348. 68 Vgl. für die communis opinio TIMPE 1979, 107-109, aber auch KLOTZ 1940/41, 24f.28. 69 S. oben S 22f. 70 Vgl. z.B. BADIAN 1966, 19f., mit der Charkatersierung als „mere entertainers“ u. dag. TIMPE 1979, 108.: „Denn es scheint für die sullanische Zeit ausgeschlossen, in einem bloß subjektiv-literarischen Interesse den Antrieb zu annalistischer Geschichtsschreibung zu suchen …“; zur Berücksichtung der Leserinteressen ausführlicher s. unten S. 58. 71 Vgl. MARINCOLA 1997, v.a. 136f. 72 Vgl. hierzu jetzt DAVIDSON 2009; zu den literarischen Entwicklungen s. unten S. 46-71. 73 Er gehörte zwar der Nobilität an, war aber selbst offenbar nicht politisch aktiv; vgl. MUTSCHLER 2000a, 118-122; KIERDORF 2003, 35-38, u. BECK / WALTER 2004, 35-39. 74 Er war Mitglied einer im frühen 1. Jh. v. Chr. erfolgreichen Familie und vielleicht Prätor; vgl. FLACH 1998, 82-87; KIERDORF 2003, 39-42, u. BECK / WALTER 2004, 84-86.

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Beitrag zur Autorität der Verfasser leistet. Doch bleibt die Veränderung zunächst auf die Monographie und die Darstellung eines selbst erlebten Zeitabschnitts beschränkt, wie es noch für Cornelius Sisenna75 und Sallust76 kennzeichnend ist. Erst mit der jüngeren Annalistik hält der Wandel der sozialen Verortung der ‚Sprecherrolle‘ Einzug in den Bereich der Gesamtdarstellung der römischen Geschichte, so daß dieser Gruppe eine wichtige Vorreiterrolle für Livius zukommt. Eine solche Pluralisierung des sozialen Hintergrunds der Autoren läßt sich in der Späten Republik aber nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch – und in noch stärkerem Maße – in der verwandten Gattung der antiquarischen Literatur beobachten.77 Kaum eine dieser sich unter anderem mit kultischen, juristischen und sprachlichen ‚Altertümern‘ beschäftigenden Schriften ist erhalten, anhand der Testimonien läßt sich aber nachvollziehen, daß in dieser Zeit ein fundamentaler Wandel in der gesellschaftlichen Verortung historischen Wissens stattgefunden hat.78 Diese Entwicklung, in deren Verlauf die gentes der Nobilität als Träger der Erinnerung zunehmend von finanziell saturierten, politisch aber nicht aktiven ‚professionals‘ abgelöst werden, ist von ANDREW WALLACE-HADRILL als ‚cultural revolution‘79 beschrieben worden: „Antiquarianism, far from enhancing the reassuring sense of continuity provided by traditionalism, subverted it. First, we should consider its impact on the traditional authority of the nobility. … Antiquarianism presented a frontal challenge to that authority. The claim that traditional rites had fallen into disuse by the negligence of the very priests obliged to preserve them struck at the heart of their authority, and raised up an alternative structure of authority. It was now the antiquarian, by his laborious study of obscurely worded documents, and displaying the credentials of Greek academic learning, who ‘knew’ what the ‘real’ Roman tradition was. The ‘memory of good men’, as Varro puts it, now started from books, not oral tradition.“80 ___________________________

75 Allerdings erreichte Sisenna 78 v. Chr. die Prätur; vgl. RAWSON 1979; KIERDORF 2003, 68-70, u. BECK / WALTER 2004, 241-145. 76 Auch Sallust erreichte im Verlauf seiner turbulenten Karriere 46 v. Chr. die Prätur; zur politischen Laufbahn vgl. v.a. MALITZ 1975 u. SCHMAL 2001, 9-23; zu den Schriften v.a. KRAUS / WOODMAN 1997b; MUTSCHLER 2003 u. LEVENE 2007, 280-283. 77 Vgl. die klassische Studie von MOMIGLIANO 1955 [1950] sowie v.a. RAWSON 1985, 233-249; FUHRMANN 1987; SEHLMEYER 2003 u. BINDER 2011. 78 Daß diese Veränderung bereits von Zeitgenossen bemerkt wurde, zeigt eindrucksvoll Ciceros Kommentar zum Erscheinen von Varros antiquitates rerum humanarum et divinarum (46 v. Chr.): vgl. Cic. ac. 1,9: nam nos in nostra urbe peregrinantis errantisque tamquam hospites tui libri quasi domum deduxerunt, ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere („Denn Deine Schriften haben uns, die wir in unserer Stadt in der Art von Fremden umherirrten, gleichsam nach Hause geführt, damit wir endlich erkennen konnten, wer wir sind und wo wir uns befinden.“). 79 Zum Begriff und seiner Anwendung auf Rom vgl. WALLACE-HADRILL 2008, 441-454. 80 Vgl. WALLACE-HADRILL 2008, 235f., u. WALLACE-HADRILL 1997 sowie mit ähnlichem Ansatz, aber teilweise anderen Bewertungen MOATTI 1997.

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II. Kontexte und Transformationen

In diesem Zusammenhang haben sich nicht zuletzt die Formen, die dem Leser einen raschen Überblick über historisches Wissen ermöglichen, großer Beliebtheit erfreut.81 Dies gilt für die in Anlehnung an hellenistische Vorbilder aufkommenden chronographischen Übersichtswerke wie die chronica des Nepos aus den frühen 50er Jahren82 oder den nur wenig später entstandenen liber annalis des Atticus83 ebenso wie für die umfangreichere, aber von einem analogen Konzept geleitete Universalgeschichtsschreibung. Auch hier bieten die – in der Nachfolge des Ephoros von Kyme entstandenen84 – griechischen Werke den Ausgangspunkt für die Entwicklung in Rom, die in lateinischer Sprache mit den in augusteischer Zeit entstandenen historiae Philippicae des Pompeius Trogus beginnt.85 In den gleichen Kontext gehört aber auch die Rezeption biographischer Sammelwerke, die eine in der Regel nach Tätigkeitsfeldern sortierte Übersicht über bedeutende Personen der Vergangenheit boten und als deren prominenteste Vertreter Nepos’ de viris illustribus86 und Varros de imaginibus87 gelten können. Keine griechische Vorbilder hingegen gibt es für die um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. in gleicher Weise blühende Subgattung der genealogischen Schriften, wie sie etwa ebenfalls von Varro verfaßt wurden, der in seinen de familiis Troianis libri eine Übersicht über diejenigen Familien präsentierte, die aus seiner Sicht zu Recht trojanische Vorfahren für sich reklamieren konnten.88 Vor dem Hintergrund der Bedeutung der eigenen Ahnen im immer schärfer werdenden Wettbewerb um politischen Einfluß stieß gerade diese Gattung in Rom auf besonders großes Interesse, so daß sich hier auch die mit dem Transformationsprozeß verbundenen Konfliktlinien beobachten lassen. Auch wenn wir über die Motivation zur Abfassung einer solchen Schrift im Einzelfall wenig wissen und vor allem bei Atticus der Gedanke an eine Auftragsarbeit für befreundete Aristokraten naheliegt,89 so wird doch deutlich, daß sich die Legitimation zur Präsentation eines Geschichtsbildes von der Zugehörigkeit zu den nobilitären gentes und deren im Laufe der Jahrhunderte akkumulierten Erinnerungen hin zu einem auf ‚wissenschaftlicher‘ Recherche und literarische Kompetenz beruhendem Expertentum verschiebt.90 ___________________________

81 Vgl. hierzu allg. KRASSER 2005. 82 Zu dieser Schrift und der Pionierleistung vgl. Cat. 1,5-8 mit WISEMAN 1979, 154-174. 83 Vgl. Cic. Brut. 13-15 u. Nep. Att. 18,1-18,2; zur Datierung 47/46 v. Chr. MÜNZER 1905, 50; KIERDORF 2003, 61f., u. BECK / WALTER 2004, 358-361. Etwa zur gleichen Zeit hat auch Scribonius Libo ein Werk mit diesem Titel verfaßt (vgl. Cic. Att. 13,30,2). 84 Vgl. ALONSO-NUÑEZ 1990; ALONSO-NUÑEZ 2002 u. MARINCOLA 2007c. 85 Vgl. SEEL 1972; ALONSO-NÚÑEZ 1987 u. LEVENE 2007, 287-289. 86 Vgl. SONNABEND 2002, 108-113; MUTSCHLER 2003 u. ANSELM 2004. 87 Vgl. Plin. nat. 35,11 mit der Rekonstruktion des Aufbaus durch RITSCHL 1877, 508-592, sowie ferner CARDAUNS 2001, 79-81, u. SONNABEND 2002, 104-106. 88 Vgl. Serv. Aen. 5,704 sowie ferner WALLACE-HADRILL 2008, 232-235. 89 Vgl. Nep. Att. 18,2-18,4 mit MÜNZER 1905, 94-100; RAWSON 1985, 231, u. MARSHALL 1993, die diese Schriften mit Ciceros anticaesarianischer Politik in Verbindung bringt. 90 Die Zurückweisung von zu Unrecht reklamierten Vorfahren scheint für Messalla Rufus’ de familiis kennzeichnend gewesen zu sein; vgl. Plin. nat. 35,8 mit RAWSON 1985, 232.

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Besonders deutlich wird die hier verlaufende Frontlinie, die sich einerseits als Tendenz zur Professionalisierung im Umgang mit historischen Wissen, andererseits als eine Art der Entprivatisierung der bislang von den Erinnerungsinteressen der einzelnen gentes dominierten gemeinsamen Geschichte beschrieben werden kann,91 am Beispiel der offenbar beliebten Rückführung der eigenen Familie auf Numa Pompilius. Denn Plutarch überliefert am Beginn seiner Vita des zweiten römischen Königs die aufschlußreiche Nachricht, daß ein Κλώδιος, über den wir sonst nichts wissen,92 sich in einem chronographischen Spezialwerk gegen die weitverbreitete Praxis ausgesprochen hat. Er habe in diesem Zusammenhang mit dem Verlust aller zuverlässigen historischen Daten im Zuge der Zerstörung Roms durch die Gallier im 4. Jh. v. Chr. argumentiert und – wie im übrigen auch Varro93 – den Schluß gezogen, daß es sich bei den zeitlich weiter zurückgehenden Reklamierungen von Vorfahren nur um bewußte Fälschungen handeln kann.94 In die gleiche Richtung weist die Kritik Ciceros an der Verfälschung der historischen Überlieferung durch laudationes funebres, die sicherlich pars pro toto für das ganze Spektrum der gentilizischen Erinnerungstechniken zu verstehen sind: his laudationibus historia rerum nostrarum est facta mendosior. multa enim scripta sunt in eis, quae facta non sunt: falsi triumphi, plures consulatus, genera etiam falsa. Durch diese Leichenreden ist unsere geschichtliche Überlieferung verfälscht worden. Denn in ihnen steht viel geschrieben, was sich nicht ereignet hat: erfundene Triumphe, zu viele Konsulate, ja sogar falsche Genealogien.95

Hinweise auf die Konflikte zwischen den neuen Experten und den alten Eliten als Trägern der Erinnerung enthalten darüber hinaus auch Ciceros Äußerungen zur Geschichtsschreibung96 sowie seine Briefen: In einem Schreiben an Atticus mokiert sich der homo novus über die mangelnden Kenntnisse des Caecilius Metellus Scipio, eines Nachkommen des großen Scipio Africanus, von der eigenen Familiengeschichte97 und belehrt in einem anderen seinen Briefpartner Papirius Paetus, einen Angehörigen der patrizischen gens Papiria, über das Alter dieser Familie und die von seinen Vorfahren bekleideten Ämter.98 ___________________________

91 Vgl. WALLACE-HADRILL 2008, 223: „Such antiquarian studies acquired a new authority in identifying the ancestors for whom the reference point was supposed to be the wax masks stored in the noble atria. But take knowledge of his ancestors away from him, and what authority is left to the noble?“ 92 Zur möglichen Identität mit dem Historiker Claudius Quadrigarius vgl. BECK / WALTER 2004, 110 mit Anm. 7, u. FORSYTHE 2007, 391f., sowie dag. ZIMMERER 1937, 8-16. 93 Vgl. Varro Ant. Div. Frg. 2a Cardauns (= Aug. Civ. 6,2). 94 Vgl. Plut. Numa 1,2 mit WISEMAN 2008, 14f. 95 Vgl. Cic. Brut. 62 mit v.a. RIDLEY 1983; FLAIG 2003a, 69-94; BLÖSEL 2003, 62-66, u. WALTER 2004a, 105-108 sowie für ein illustratives Beispiel: FLOWER 2003a. 96 Vgl. v.a. FELDHERR 2003; s. ausführlicher unten S. 47f. 97 Vgl. Cic. Att. 6,1,17 mit WALLACE-HADRILL 2008, 220. 98 Vgl. Cic. fam. 9,21,2-21,3 mit v.a. FLOWER 1996, 290f.; FLAIG 2003a, 66f.; BLÖSEL 2003, 65f., u. WALLACE-HADRILL 2008, 236f.

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II. Kontexte und Transformationen

Auch in den Geschichtswerken Sallusts, eines weiteren politisch zunächst erfolgreichen homo novus aus der italischen Munizipialaristokratie, findet sich Kritik an der als überholt empfundenen gentilizischen Erinnerungskultur. Allerdings richten sich diese vom Autor einzelnen historischen Figuren – vor allem Marius99 – in den Mund gelegten Aussagen in erster Linie gegen die aus dieser Memorialpraxis resultierenden Wettbewerbsvorteile der Angehörigen der nobilitären gentes gegenüber ihren Konkurrenten um politische Ämter. Diese Veränderungen der sozialen Verortung der Historiographie in Rom bilden eine wichtige Voraussetzung auch für das Verständnis von ab urbe condita, auch wenn Livius wohl erst einige Jahre später, 59 v. Chr.,100 geboren wird. Doch bereits seine Herkunft aus Patavium, dem heutigen Padua, das zwar seit dem 2. Jh. v. Chr. zum römischen Einflußbereich gehörte, aber erst unter Caesar das volle Bürgerrecht erhielt,101 stellt einen wichtigen Unterschied zu den Historikern aus den Reihen der Nobilität dar, von denen er sich in seiner praefatio explizit distanziert. 102 Hierauf – nicht auf die von Quintilian vermuteten sprachlichen Eigenheiten103 – bezieht sich daher wahrscheinlich auch der auf Asinius Pollio zurückgehende Vorwurf der patavinitas.104 Denn Livius ersetzt in der gleichen Weise wie die Antiquare die traditionelle auctoritas, die sich vor allem aus den eigenen politischen Erfolgen oder der Zugehörigkeit zur etablierten Aristokratie ergab, durch die Kompetenz des Experten.105 Dies zeigt sich immer dann besonders deutlich, wenn er Kritik an der durch die verschiedenen memoriae privatae verzerrten historischen Überlieferung übt: ___________________________

99 100

101 102

103 104

105

Vgl. Sall. Iug. 85 mit z.B. MELLOR 1999, 30f.44f.; SCHMAL 2001, 116; GRETHLEIN 2006b, v.a. 104-143, u. EGELHAAF-GAISER 2010. Hieronymus nennt 59 v. Chr. als Geburtsjahr für Livius und Messalla Corvinus (vgl. Hier. chron. p. 154, 18f.); da diese Angabe bei Messalla jedoch auf einer Verwechslung mit dem Jahr 64 v. Chr. beruht, wird von einigen auch für Livius das frühere Datum angenommen (vgl. v.a. SYME 1959, 40-42; OGILVIE 1965, 1, u. LUCE 1965, 231, sowie dag. METTE 1961, 274; MENSCHING 1986, 573, u. BADIAN 1993, 10f.). Vgl. z.B. MILES 1995, 47f. Zur besonderen Bedeutung von Patavium bei Livius vgl. FELDHERR 1997, 139f.; FELDHERR 1998, 112-114, u. GASSER 1999, 116-120. Vgl. Liv. praef. 3: et si in tanta scriptorum turba mea in fama in obscuro sit, nobilitate ac magnitudine eorum qui nomini officient meo consoler („Und wenn in der so großen Schar der Schriftsteller mein Ruf im Dunkeln bleibt, kann ich mich mit dem Rang und der Größe derer trösten, die meinen Namen in den Schatten stellen.“). Über seine soziale Stellung ist nichts bekannt, aufgrund der fundierten Ausbildung ist aber die Zugehörigkeit zur lokalen Oberschicht plausibel (vgl. z.B. OGILVIE 1965, 1). Vgl. Quint. inst. 1,5,56 u. 8,1,3. Vgl. WALSH 1961, 1f.; VON ALBRECHT 1992, I 659, u. MILES 1995, 51: „It is not clear precisely what this charge referred to. But wether it meant writing like a Patavian or thinking like one, it marked him as an outsider.“ sowie zuletzt ADAMIK 2008 u. MUÑIZ COELLO 2009. Vgl. MARINCOLA 1997, 12.140f., sowie ferner FELDHERR 1998, v.a. 26-37, nach dem Livius mit seinem Werk in Konkurrenz zu den res gestae von Politikern tritt, u. LEVENE 2010, v.a. 382-392, der Parallelen zum Autoritätsanspruch der Auguren sieht.

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vitiatam memoriam funebribus laudibus reor falsisque imaginum titulis, dum familia ad se quaeque famam rerum gestarum honorumque fallenti mendacio trahunt; inde certe et singulorum gesta et publica monumenta rerum confusa. nec quisquam aequalis temporibus illis scriptor exstat, quo satis certo auctore stetur. Ich glaube, die Überlieferung ist verfälscht durch die Lobreden auf die Verstorbenen und durch die unrichtigen Inschriften unter den Ahnenbildern, womit eine jede Familie den Ruhm von Taten und Ämtern mit täuschender Lüge für sich beansprucht. Gewiß ist dies die Ursache der Verwirrung sowohl bei den Taten als auch bei den offiziellen Denkmälern der Ereignisse. Und es gibt für diese Epoche keinen einzigen zeitgenössischen Schriftsteller, dem man als einer hinreichend sicheren Quelle folgen könnte.106

Aber auch mit seinen allgemeinen Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion von Wissen über die Vergangenheit107 und der damit verbundenen Kritik an seinen unmittelbaren Vorgängern aus den letzten Jahrzehnten108 bewegt sich Livius in großer Nähe zu den im Zuge der Professionalisierung entwickelten Positionen. So stellt auch für ihn – wie für Varro und den von Plutarch angeführten Κλώδιος – die angebliche Zerstörung der Stadt durch die Gallier im späten 4. Jh. v. Chr. – gerade mit Blick auf die Zuverlässigkeit der Quellen – die entscheidende Zäsur dar, wie im Binnenproöm zum 6. Buch deutlich wird: quae ab condita urbe Roma ad captam eandem Romani … gessere …, quinque libris exposui, res cum vetustate nimia obscuras velut quae magno ex intervallo loci vix cernuntur, tum quid rarae per eadem tempora litterae fuere, una custodia fidelis memoriae rerum gestarum, et quod, etiam si quae in commentariis pontificum aliisque publicis privatisque erant monumentis, incensa urbe pleraeque interiere. clariora deinceps certioraque ab secunda origine velut ab stirpibus laetius feraciusque renatae urbis gesta domi militiaeque exponentur. Ich habe die Geschichte der Römer von der Gründung der Stadt bis zur ihrer Einnahme … in fünf Büchern dargestellt. Diese Dinge sind schon durch ihr hohes Alter in Dunkel gehüllt wie Gegenstände, die man aus großer räumlicher Entfernung kaum erkennen kann, vor allem aber, weil man in diesen Zeiten nur ganz kurz und selten etwas aufgeschrieben hat, was doch die einzig zuverlässige Art ist, die Erinnerung an das historische Geschehen zu bewahren, und weil dies, selbst wenn es etwas derartiges in den Aufzeichnungen der Pontifices und anderen öffentlichen und privaten Dokumenten gegeben hat, beim Brand der Stadt zum großen Teil untergegangen ist. Deutlicher und sicherer wird sich daher im folgenden die Geschichte daheim und im Felde von der zweiten Gründung der Stadt an darstellen lassen, nachdem diese gleichsam aus den Wurzeln üppiger und fruchtbarer wieder emporgewachsen war.109

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106 Vgl. Liv. 8,40,4-40,5 u. ferner z.B. 7,9,5. 107 Zu Livius’ Arbeitsweise als Historiker vgl. v.a. WALSH 1961, 110-172; OGILVIE 1965, 5-17; BRISCOE 1973, 1-12; LUCE 1977, 139-184; BURCK 1992, 18-34; OAKLEY 1997, 13-108; FORSYTHE 1999; NORTHWOOD 2000 u. OAKLEY 2009. 108 Vgl. die Stellensammlung bei FORSYTHE 1999, 12-39, sowie LUCE 1977, v.a. 184, u. MARINCOLA 1997, 248f.: „Livy wants his readers to know that he is fully aware of the exaggerations and inventions of his predecessors, and so he seeks to distance himself from them by relying on the older authors who were eyewitnesses, and by showing himself aware of the way that actions become exaggerated over time.“ 109 Vgl. Liv. 6,1,1-1,3 mit KRAUS 1994a, 25f.; TIMPE 1996, 285f., u. FEENEY 2007, 101f.

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II. Kontexte und Transformationen

Mit den hier skizzierten Entwicklungen, die sich einerseits mit Blick auf die Gattung als erhebliche Diversifizierung eines bislang relativ einheitlichen Feldes der historiographischen Literatur110 und andererseits mit Blick auf den gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Träger als Professionalisierung und Emanzipation von der Tradition gentilizischer memoria beschreiben lassen, sind in den letzten Jahren der Republik bereits wesentliche Grundlagen der spezifischen Geschichtskultur der augusteischen Zeit gelegt worden. Allerdings kommen diese erst voll zum Tragen, als mit dem Ende der Bürgerkriege und der Etablierung des nur als res publica restituta bezeichneten Prinzipates111 dem Konkurrenzkampf der Nobilität um politische Ämter der Großteil seiner Motivation entzogen wird.112 Nun wird das heterogene und partikulare Geschichtsbild der Republik innerhalb weniger Jahre in unterschiedlichen Medien und von verschiedenen Akteuren zu einer römischen ‚Nationalgeschichte‘ umgedeutet. Daß diese neue Konzeption vielfach teleologische Züge aufweist und in der eigenen Zeit das Ziel der römischen Geschichte erblickt,113 läßt sich einerseits mit einer von Augustus sicherlich geförderten ‚Propaganda‘ für seine Person und die neue Regierungsform erklären.114 Sie ist andererseits aber auch vor dem Hintergrund der Bürgerkriegserfahrung zu sehen, die sich nicht zuletzt in einem sehr negativen Bild der – mehr und mehr als gemeinsame Geschichte empfundenen – Vergangenheit und der aus ihr resultierenden Zukunft niedergeschlagen hat, das sich vor allem in den Proömien Sallusts115 oder in den Epoden des Horaz ablesen läßt.116 Deutliche Reflexe dieses pessimistischen Verständnisses der eigenen Vergangenheit finden sich auch in Livius’ praefatio, die wahrscheinlich zwischen 27 und 25 v. Chr. gemeinsam mit den ersten fünf Büchern abgefaßt wurde,117 vielleicht aber ursprünglich schon für eine frühere Auflage – entweder der ganzen ___________________________

110 Vgl. allg. RAWSON 1985, v.a. 218, u. WALTER 2003b, v.a. 135-137. 111 Vgl. z.B. BLEICKEN 1998, 7-390; EDER 2005; GRUEN 2005 u. LANGE 2009. 112 Die Erinnerung an die eigenen Vorfahren behielt aber ihre große gesellschaftliche Bedeutung weitgehend bei (vgl. FLOWER 1996, 223-269). 113 Zur Denkfigur einer ‚goldenen Zeit‘ in der zeitgenössischen Dichtung vgl. ZANKER 1987, 171-196, u. GALINSKY 1996, 90-121. 114 Der von RONALD SYME angestrengte Vergleich mit der ‚organisation of opinion‘ in den Diktaturen des 20. Jh. (vgl. SYME 1939, v.a. 459-475) hat eine Debatte augelöst, inwieweit Augustus Einfluß auf die Literatur genommen hat; dabei zeichnet sich eine communis opinio ab, die den Zusammenhang nicht leugnet, den Autoren aber einen relativ großen Handlungsspielraum zugesteht (vgl. z.B. LEFÈVRE 1984; WHITE 1993; SCHMIDT 2003, 113-116; WHITE 2005 u. GALL 2006, 21-23). Zu den Problemen der Anwendung des Begriffs Propaganda auf die Antike vgl. WEBER / ZIMMERMANN 2003. 115 Vgl. z.B. KRAUS 2000, 329-332, u. SCHMAL 2001, 110-127. Zur Wahrnehmung einer Krise bereits in der Geschichtsschreibung des 2. und 1. Jh. v. Chr. vgl. die klassische Studie von BRINGMANN 1977 u. ferner z.B. ENGELS 2009. 116 Vgl. Hor. epod. 7 u. 16 mit MÄCKEL 2002; SCHMIDT 2003, 91-108 u. OSGOOD 2006. Zur Position von Vergils Eklogen in diesem Kontext vgl. jetzt SCHMITZER 2008. 117 Vgl. z.B. SYME 1959, 42-50; VON HAEHLING 1989, 213-215, u. MOLES 1993, 151f.

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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Pentade118 oder des ersten Buch alleine119 – um 30 v. Chr. geschrieben wurde120 und in der einige problematische Aspekte vor allem der jüngeren Zeitgeschichte wiederholt thematisiert werden.121 Dieser in den letzten Jahren mehrfach beschriebene Transformationsprozeß122 wird am Beispiel des zwar schon auf dem Schlachtfeld von Philippi gelobten, aber erst im Jahre 2 v. Chr. fertiggestellten Augustus-Forums und seines Statuenprogramms besonders augenfällig.123 Denn während in der Republik jede Familie die Bildnisse ihrer erfolgreichen Vorfahren an möglichst prominenten Plätzen im Stadtgebiet aufgestellt hatte und auf diese Weise ein konkurrierendes und sich zum Teil widersprechendes Gesamtbild zustande gekommen war, wurde nun eine Auswahl derselben Personen als summi viri der gesamten Bürgerschaft in den Portiken des Forums in fortlaufender Reihung und einheitlicher Aufmachung präsentiert. Zu diesem Zweck wurden nicht nur neue Statuen angefertigt,124 sondern diese auch jeweils mit einem ihre Taten und Leistungen für die res publica aufzählenden elogium versehen.125 Durch den Kontext der Anlage, die auf eine Verherrlichung der julischen Dynastie zielt, wurden diese Galerien und mit ihnen die memoriae privatae der alten Nobilität im Sinne eines neuen Verständnisses der römischen Geschichte vereinnahmt und zugleich kanonisiert.126 Der analoge Prozeß der Überführung der pluralistischen Erinnerungen an die großen Persönlichkeiten der Republik in eine vereinheitlichte und abgeschlossene Übersicht im Sinne eines Kanons läßt sich auch in der zeitgenössischen Literatur beobachten. Das gilt für kleinere Formen wie die Heldenschau im sechsten Buch von Vergils Aeneis127 ebenso wie für Großprojekte wie das Geschichtswerk des Livius,128 das in der praefatio programmatisch die Geschichte der res populi ___________________________

118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Vgl. v.a. BAYET 1940, xvi-xxii. Vgl. v.a. LUCE 1965, 210 Anm. 2, u. BADIAN 1993, 17-19. Vgl. WOODMAN 1988, 132-138; KRAUS 1996b, 5f., u. BURTON 2000. Vgl. Liv. praef. 4-5;9 u. 11-12 mit WOODMAN 1989, 128-134; BURCK 1992, 130f.; MOLES 1993, 150-157, u. FELDHERR 1998, 39-41, sowie dag. CIZEK 1992, 361-364, der diese Stellen als ironische Distanzierung von Sallust versteht. Vgl. GALINSKY 1996, 363-370; WALTER 2004a, 408-426; WALLACE-HADRILL 2005 u. KRASSER 2005; zur weiteren Transformation in der Kaiserzeit GOWING 2005. Vgl. R. Gest. div. Aug. 2; Suet. Aug. 29,2 u. 31,5; Ov. fast. 5,550-566; Dio. 54,5,3 u. SHA Alex. 28,6 mit ZANKER 1968; ZANKER 1987, 196-217; SPANNAGEL 1999; SEHLMEYER 1999, 262-270, u. GEIGER 2008. Die republikanischen Statuen hatte Augustus aus dem Stadtgebiet entfernen und auf dem Marsfeld deponieren lassen (vgl. Suet. Cal. 34,1 mit GEIGER 2008, 74f.). Vgl. CIL VI,8,3 40931-41021a mit CHAPLIN 2000, 178-192, u. GEIGER 2008, 130-162. Vgl. WALTER 2004a, 419: „Hier war alles getan, die Geschichte zu vereinnahmen und neu auszurichten, mit anderen Worten: zu kanonisieren.“ Vgl. Verg. Aen. 6,756-892 sowie zum Vergleich mit dem Augustus-Forum DEGRASSI 1945, der die Unterschiede, u. HARRISON 2006, 178-183, der die Parallelen betont. Bei einer durchgängigen Arbeit am Forum wären die ersten etwa 80 Bücher parallel entstanden; für einen inhaltlichen Vergleich vgl. LUCE 1990, 137f., u. ROLLER 2010.

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Romani in seiner Gesamtheit und eben nicht nur die res gestae der Vertreter der einzelnen gentes als Thema benennt.129 Auch wenn die von den Autoren jeweils getroffene Auswahl in ihren Details weder untereinander noch mit derjenigen des forum Augustum übereinstimmt, stellt die Vereinheitlichung des konkurrierenden Geschichtsbildes der Republik doch ein wichtiges verbindendes Element dar. Eine weitere Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Erinnerungsmedien in der augusteischen Zeit läßt sich als Entpolitisierung und damit zugleich Privatisierung von Geschichte beschreiben.130 Dabei spielen sowohl die reduzierten Möglichkeiten der alten Führungsschicht zu politischer Betätigung als auch die Verbreiterung der an historischen Wissen interessierten Schichten eine wichtige Rolle. Eine Folge beider Entwicklungen besteht in der inhaltlichen Erweiterung, die nun über die Schwerpunkte der älteren Historiographie in Politik und Kriegsführung deutlich hinausgeht. Die sich hieraus ergebende neue Gewichtung läßt sich für Livius ebenfalls schon in der praefatio ablesen: Denn in der Aufzählung von Aspekten, die bei der Betrachtung von Geschichte relevant sind, wird dort das politisch-militärische Erkenntnisinteresse erst an dritter Stelle genannt: ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit. Darauf vielmehr soll mir jeder scharf sein Augenmerk richten, wie das Leben, wie die Sitten gewesen sind, durch was für Männer und durch welche Eigenschaften zu Hause und im Krieg die Herrschaft gewonnen und vergrößert wurde.131

Eine weitere Folge besteht in der Verwendung historischer Figuren als nun für den Leser in ganz unterschiedlichen Lebenslagen verbindlichen exempla.132 Auch diese Veränderung gegenüber der traditionellen Vermittlung vor allem politischer und militärischer Verhaltensmuster133 wird von Livius in der praefatio deutlich akzentuiert, da er einerseits die Bandbreite der Beispiele betont und andererseits ihre Bedeutung für das Individuum von der für die Gemeinschaft unterscheidet: ___________________________

129 Vgl. Liv. praef. 1: facturusne operae pretium sim, si a primordio urbis res populi Romani perscripserim, nec satis scio („Ob ich etwas tue, was die Mühe lohnt, wenn ich die Angelegenheiten des römischen Volkes von Anbeginn der Stadt an ausführlich aufzeichne, weiß ich nicht recht.“). 130 Daß aber vor allem die Geschichte der Bürgerkriege nach wie vor politisch brisant war, verdeutlicht einerseits die Reaktion auf das Werk des Asinius Pollio (vgl. Hor. c. 2,1,6: periculosae plenum opus aleae mit GRIMAL 1990) und andererseits die Nachricht in den periochae, daß Livius die Bücher 121 bis 142 mit der Behandlung der Zeitgeschichte erst nach Augustus’ Tod publizierte (vgl. Liv. per. 121: qui editus post excessum Augusti dicitur mit SYME 1959, 38-40, u. BADIAN 1993, 23-25). 131 Vgl. Liv. praef. 9 u. dag. MOLES 1993, 150, der den Satz als Anspielung auf Ennius’ berühmten Vers moribus antiquis res stat romana virisque versteht. 132 Auch diese Entwicklung beginnt bereits in der späten Republik – z.B. mit Nepos’ exempla-Sammlung (vgl. Gell. 6,18,11) – und findet später mit Valerius Maximus’ facta ac dicta memorabilia ihren Höhepunkt (vgl. LUCARELLI 2007 u. KRASSER 2011b). 133 Zur Bedeutung der exempla für die Geschichtskultur der Republik s. oben S. 19.

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites. Das ist vor allem beim Studium der Geschichte das Heilsame und Fruchtbare, daß man belehrende Beispiele jeder Art auf einem in die Augen fallenden Monument dargestellt findet. Daraus kann man für sich und für seinen Staat entnehmen, was man nachahmen, daraus auch, was man meiden soll, da es häßlich in seinem Anfang und häßlich in seinem Ende.134

In dieser Betonung einer stärker ‚privaten‘ Dimension bei der Beschäftigung mit Geschichte wird zugleich auch ein wesentlicher Unterschied zur Präsentation der römischen Vergangenheit im Rahmen des Augustus-Forums deutlich, da dort der Akzent auf den ‚staatstragenden‘ politischen und militärischen Erfolgen liegt.135 Nur vor diesem Hintergrund kann auch die gängige Bezeichnung von Livius als Moralist richtig verstanden werden. Sein ausgeprägtes Interesse an historischen Beispielen für moralisch richtiges Verhalten ist einerseits ein zentraler Teil der generellen Neubewertung der eigenen Vergangenheit in augusteischer Zeit,136 steht andererseits aber noch in einer engen Verbindung mit dem in den letzten Jahrzehnten der Republik dominierenden deszendenten Geschichtsbild. 137 Bei der starken Betonung der moralischen Dimension in ab urbe condita handelt sich es also weder um eine unkritische noch analytisch naive Bewunderung der römischen Geschichte,138 sondern um den Versuch, deren als problematisch empfundene Inhalte mit neuem Sinn zu versehen und der veränderten Gegenwart seiner Leser kommensurabel zu machen.139 Die Bevorzugung moralischer Kategorien zur Erklärung historischen Geschehens, die Livius häufig als unterkomplexe Verständnisebene zur Last gelegt wurde,140 sollte daher besser als bewußte Strategie verstanden werden, die der Vermittlung einer nun als gemeinsamer Vergangenheit empfundenen Geschichte im zeitgenössischen Kontext dient. Damit bewegt sich Livius zwar sowohl hinsichtich der Problemwahrnehmung wie der favorisierten Lösungsansätze in der Nähe der von Augustus betriebenen ‚Geschichtspolitik‘, ohne damit jedoch zum bloßen Sprachrohr des princeps zu werden. Diese vor allem von RONALD SYME formulierte Extremposition141 wird heute kaum noch vertreten, da sich neben den Gemeinsamkeiten auch eine Reihe ___________________________

134 Vgl. Liv. praef. 10 mit CHAPLIN 2000, v.a. 1-31. Zur ungewöhnlichen Formulierung tibi tuaeque rei publicae vgl. v.a. OPPERMANN 1967 [1955], 176, u. KOSTER 1996. 135 Allerdings hat auch Augustus in anderen Kontexten exempla mit breiterem Spektrum verwendet (vgl. Suet. Aug. 89,2 u. R. Gest. div. Aug. 8,5 mit CHAPLIN 2000, 173f.). 136 Vgl. z.B. BURCK 1967 [1935]; LEFÈVRE 1983 u. GALL 2006, 38f. 137 Zu den Berührungspunkten mit Sallust vgl. LEVENE 2007, 283-286, u. FELDHERR 2010. 138 Vgl. dag. z.B. BERNARD 2000, 330-358, u. DAHLHEIM 2006, 63. 139 Vgl. LUCE 1977, 230-295; KRAUS 1997, 70-74; LEVENE 2006, 106: „In striving to impose a particular reading on his work, he is effectively striving to establish an understanding of morality as the central feature of the empire.“ u. LEVENE 2010, 339-354. 140 Vgl. z.B. WALSH 1955; WALSH 1961, 82-109, u. FORSYTHE 1999, 65-73. 141 Vgl. SYME 1939, 463-465, u. SYME 1959, v.a. 76.

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von Unterschieden beobachten lassen.142 Diese reichen jedoch auch nicht aus, um die konträre These einer dezidiert kritischen Haltung zu belegen.143 Die Diskussion dieser Frage wird zudem durch den Verlust derjenigen Bücher erschwert, in denen Livius die Bürgerkriege und den Weg zum Prinzipat behandelt hat,144 so daß sie sich vor allem auf die wenigen Anspielungen stützen muß, die sich in den erhaltenen Teilen des Werkes auf die jüngere Geschichte finden lassen.145 Auch die wenigen biographischen Informationen zu ihrem Verhältnis – Livius beruft sich an einer Stelle auf eine persönliche Auskunft des Augustus,146 Augustus hat Livius laut Tacitus als Pompeianer bezeichnet, ohne daß ihre Freundschaft deswegen gelitten habe, 147 Livius ist von Augustus als Privatlehrer für Claudius engagiert worden 148 – erlauben keine eindeutigen Rückschlüsse. Als communis opinio hat sich daher etabliert, daß Livius mit Augustus’ Verständnis der römischen Geschichte zwar in vielen Punkten übereinstimmt, aber zugleich unabhängig genug ist, um auch abweichende Positionen vertreten zu können.149 Entscheidender als die Frage, inwieweit der Historiker und der neue Herrscher auf der inhaltlichen Ebene und bei der Bewertung einzelner Ereignisse miteinander übereinstimmen, dürfte jedoch ihre generelle Haltung zu Möglichkeiten und Grenzen bei der Rekonstruktion der Vergangenheit sein. Denn während die Aussagen der augusteischen ‚Geschichtspolitik‘ – wie das forum Augustum,150 die fasti triumphales151 oder die ara Pacis152 – naturgemäß dazu tendieren, historische Ereignisse als sichere Fakten zu präsentieren, wurde in der Forschung der letzten Jahre zu Recht stark betont, daß es für Livius ein wichtiges Anliegen darstellt, seine Leser auf die Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die sich bei der Ver___________________________

142 Selbst in der Auswahl und Verwendung der moralischen ‚Schlagworte‘ lassen sich deutliche Abweichungen feststellen (vgl. MOORE 1989, v.a. 153). 143 Vgl. v.a. HOFFMANN 1954; METTE 1961; PETERSEN 1961 u. LEEMAN 1967 [1961]. 144 Für eine Analyse der Periochae unter dieser Fragestellung vgl. BADIAN 1993, 21-29. 145 Vgl. v.a. VON HAEHLING 1989 u. zuletzt GAERTNER 2008. 146 Es handelt sich um die politisch brisante Frage, in welcher Funktion A. Cornelius Cossus in den 420er Jahren spolia opimia geweiht hat: vgl. Liv. 4,20,1-20,11 mit v.a. LUCE 1965, 211-217; BADIAN 1993, 13-16; MILES 1995, 40-54; RICH 1996; KRAFFT 1998; FLOWER 2000a; SAILOR 2006 u. PITTENGER 2008, 14f. 147 Die Aussage ist nur bei Tacitus und nur in der Rede belegt, mit der sich der Historiker Cremutius Cordus vor Tiberius wegen Majestätsbeleidigung verteidigt: vgl. Tac. ann. 3,34,3 mit BADIAN 1993, 11f., u. MINEO 2009. 148 Der Stiefenkel des Augustus war zu dieser Zeit allerdings nicht als potentieller Nachfolger vorgesehen: vgl. Suet. Claud. 41,1 mit z.B. BADIAN 1993, 12f. 149 Vgl. v.a. WALSH 1961, 10-19; MENSCHING 1967; LUCE 1977, 296f.; DEININGER 1985; VON HAEHLING 1989, 221; BURCK 1992, 164-176; BADIAN 1993; LEVENE 1993, 243248; KRAUS 1997, 74, u. CHAPLIN 2000, 192-196. 150 S. oben S. 33. 151 Vgl. SPANNAGEL 1999, 235-249; ITGENSHORST 2004 u. ITGENSHORST 2008. 152 Vgl. z.B. HÖLSCHER 1987, 45-49; ZANKER 1987, 171-217, u. ELSNER 1995, 192-210, der aber auch auf die ambivalenten Deutungsmöglichkeiten hinweist.

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mittlung von Geschichte notwendigerweise ergeben.153 Der Grund hierfür dürfte weniger in politischen Differenzen154 als in den Unterschieden zwischen den jeweils gewählten Medien und deren Darstellungskonventionen zu suchen sein.155 Vor dem Hintergrund dieses Transformationsprozesses, der sich mit PIERRE NORA als Wandel von gelebter Tradition zu vermittelter Geschichte beschreiben läßt,156 entstehen in den Jahren zwischen ungefähr 27 v. Chr. und 17 n. Chr. die 142 Bücher von Livius’ ab urbe condita.157 Bereits der immense Umfang des Textes und die zu seiner Produktion notwendige Zeitspanne158 können eindrucksvoll verdeutlichen, daß es sich bei ihrem Verfasser um einen prototypischen Vertreter der neuen ‚professionals‘ und Experten handelt, die sich auf ihre wissenschaftliche und literarische Kompetenz berufen und seit der Mitte des 1. Jh. v. Chr. die traditionellen Akteure auf dem Gebiet der historischen Erinnerung, die sich auf ihre eigene politisch-militärische Erfahrung und die Zugehörigkeit zu einer der aristokratischen memoria-Gemeinschaften gestützt hatten, verdrängen. Aus diesem Grund teilt Livius mit der augusteischen ‚Geschichtspolitik‘ das Anliegen, die bislang heterogen überlieferte und in ihrer Bewertung zum Teil durchaus problematische Vergangenheit als gemeinsame und auf die eigene Gegenwart bezogene Geschichte zu präsentieren, ohne deswegen jedoch in allen inhaltlichen Details oder im allgemeinen Umgang mit historischem Wissen und der Art seiner Präsentation auf einer Linie mit Augustus und seiner Umgebung zu liegen. ___________________________

153 Vgl. MILES 1995, 8-74; KRAUS / WOODMAN 1997 u. JAEGER 1997, v.a. 8: „... Livy as a Roman Daedalus constructing a monument from the rubble of the ages and leaving broken edges visible as reminders that any coherent account of the past is, at best, contrived from ruins.“ 154 Vgl. v.a. MILES 1995, 38: „This practical and recurrent demonstration of the author’s own inability to present clear and unambiguous judgments about questions of historical fact has important political implications. By suggesting that a factual record of the past cannot be reconstructed with confidence, the author’s evident difficulties bring into question any effort to monopolize the past. In particular, they deny to established powers that ability to monopolize the truth by using authority to determine what is and is not a fact.“ 155 Zu möglichen innerliterarischen Gründe für Ambiguitäten am Beispiel des römischen Epos vgl. O’HARA 2007, v.a. 5f. 156 Vgl. NORA 1990, v.a. 7: „Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute bewußt wird, in jeder Hinsicht Gegensätze. Das Gedächtnis ist Leben: stets wird es von lebendigen Gruppen getragen und ist deshalb ständig in Entwicklung. Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist.“ u. ferner ASSMANN 1992, 42-45. 157 Vgl. z.B. TIMPE 1979, 118f.: „Livius sieht es als praemium laboris an, daß sich der Geist des Historikers von den Übeln der Gegenwart abwenden kann, solange er bei der prisca aetas weilt (praef. 5). Hier sind also, wie schon öfter bemerkt, Geschichte und Gegenwart auseinandergetreten und ins Symbolische sublimiert, als eine grandiose Prozession aufgefaßte Vergangenheit der Aktualisierung entzogen.“ 158 Zur Verteilung der einzelnen Bücher auf diesen Zeitraum vgl. v.a. MENSCHING 1986; ausführlicher s. unten S. 75.

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c) Zwischen Lektüre und Theater: Die Erweiterung des Publikums Während in den ersten beiden Abschnitten der Fokus vor allem auf Seiten derer gelegen hat, die Erinnerung in unterschiedlichen Medien präsentiert und produziert haben, sollen nun die dazu komplementären Entwicklungen auf Seiten der Rezipienten skizziert werden. Der Akzent wird dabei – in Hinblick auf Livius’ Werk als den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung – im wesentlichen auf den literarischen Formen liegen, ohne dadurch ihren Charakter als nur einen Teil eines breiteren Spektrums aus den Augen zu verlieren.159 Diese Trennung wäre auch deswegen wenig sinnvoll, weil schriftliche und visuelle Medien häufig – etwa bei Münzen und ihren Legenden, bei Statuen und ihren Inschriften oder der laudatio als Teil der pompa funebris – eng miteinander verbunden sind. Ein besonders illustratives Beispiel hierfür bietet die Bedeutung historischer Stoffe für das römische Drama, vor allem im Rahmen der fabula praetexta.160 Allerdings wird sowohl ihr Anteil an der gesamten Produktion als auch der Einfluß der Stücke auf das Geschichtsbild in Rom kontrovers diskutiert. Vor allem die weitreichenden Thesen T.P. WISEMANs, der einen großen Teil der historischen Überlieferung auf dramatische Inszenierungen zurückführt,161 haben ebenso Zustimmung162 wie Widerspruch163 hervorgerufen. Angesichts der fragmentarischen Überlieferung werden sich diese Fragen zwar nicht mit letzter Sicherheit beantworten lassen, es kann aber davon ausgegangen werden, daß historische Dramen – zunächst und vorwiegend bei ihrer Aufführung, dann aber im Laufe der Zeit auch als Lektüretext164 – bei der Präsentation und Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit in der Republik eine bedeutende Rolle gespielt haben.165 Stellt man neben dem Zusammenspiel mehrerer Medien noch die Tendenz zur ‚Re-Oralisierung‘ in Rechnung, die für die römische wie die griechische Kultur generell kennzeichnend ist und sich in zahlreichen Möglichkeiten niederschlägt, in denen schriftlich festgehaltene Inhalte von einer Person einem größeren Kreis vorgetragen oder erklärt werden können,166 zeigt sich, daß der Kreis potentieller Rezipienten von Literatur während der Republik deutlich größer war als die Zahl der zu eigener Lektüre befähigten Personen. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Rezitation, die allerdings nicht für alle Textsorten und in allen Epochen gleichermaßen gut bezeugt ist. So ist es zwar unstrittig, daß die hi___________________________

159 S. oben S. 18-24. 160 Zu den wenigen Fragmenten und Testimonien dieser Gattung vgl. MANUWALD 2001. 161 Vgl. v.a. WISEMAN 1998a sowie ferner WISEMAN 1994, 1-22; WISEMAN 2007; WISEMAN 2008, 24-38, u. WISEMAN 2009. 162 Vgl. z.B. die Fallstudie von BERNSTEIN 2000. 163 Vgl. v.a. KEAVENEY 2006 u. ferner FLOWER 1995. 164 Vgl. aber auch RÜPKE 2000, 42, der betont, daß für das Drama im 3. und 2. Jh. v. Chr. primär von einer Produktionsschriftlichkeit auszugehen ist. 165 Vgl. die Diskussion gut zusammenfassend WALTER 2004a, 75-83. 166 Zur sozialen Dimension des Lesens in Rom vgl. JOHNSON 2000 u. WINSBURY 2009, 93-125, sowie dag. PARKER 2009, der vor einer Überbetonung der Mündlichkeit warnt.

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storischen Epen des Naevius oder Ennius – vor allem im Kontext des adeligen Symposions,167 aber wohl schon im 2. Jh. v. Chr. auch im Rahmen öffentlicher Lesungen168 – vorgetragen wurden. Ob sich eine analoge Praxis schon in dieser Zeit für Prosatexte und damit auch Geschichtswerke annehmen läßt, ist jedoch deutlich schwieriger zu beantworten.169 Denn während Rezitationen für die griechischen Historiker von Herodot170 an vielfach bezeugt sind,171 finden sich vergleichbare Belege für Rom erst in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. In diesem Zusammenhang kommt der Bemerkung des älteren Seneca, der Historiker Asinius Pollio „habe als erster von allen Römern seine Schriften vor geladenen Gästen vorgetragen“ (primus enim omnium Romanorum advocatis hominibus scripta sua recitavit), zentrale Bedeutung zu.172 Da Rezitationen für andere Gattungen auch schon in der Zeit zuvor bezeugt sind, bietet es sich zwar an, die Stelle auf die – hier allerdings nicht genannten – historiographischen Werke zu beziehen, zumal diese den bekanntesten Teil seines vielseitigen Œuvres dargestellt haben.173 Die Formulierung Senecas erlaubt aber auch noch andere Interpretationen, in denen der Akzent entweder darauf gelegt wird, daß Asinius Pollio der erste Römer war, der selbst seine eigenen Schriften (sua scripta) vorgetragen hat, oder darauf, daß er seine Rezitationen erstmals nicht nur im privaten Rahmen, sondern als gesellschaftliches Ereignis durchgeführt hat (advocatis hominibus).174 Aber auch abgesehen von der Frage, für welches Detail der Rezitation Asinius Pollio in den Augen Senecas eine Vorreiterrolle zukommt, paßt diese Stelle gut zu anderen Nachrichten über die steigende Bedeutung des öffentlichen Vortrages unterschiedlicher Gattungen in der Späten Republik und augusteischen Zeit,175 unter denen nun auch die Geschichtsschreibung einen festen Platz einnimmt.176 Daß Historiker ihre Werke in der gleichen Weise dem Publikum präsentieren wie Dichter oder Rhetoren verdeutlicht erneut den entscheidenden Wandel in ihrer gesellschaftlichen Positionierung: Statt der persönlichen auctoritas ist es die lite___________________________

167 Vgl. z.B. RÜPKE 2000, 43-46, u. RÜPKE 2001b, 49-59. 168 Vgl. Suet. gramm. 2,3-2,4 (ut postea Q. Vargunteius annales Ennii, quos certis diebus in magna frequentia pronuntiabat) mit KASTER 1995, 60, u. WALTER 2004a, 278. 169 Für eine skeptische Position vgl. z.B. RÜPKE 2000, 48. 170 Für die Zeugnisse vgl. MOMIGLIANO 1998 [1978], 6-8, sowie ferner v.a. EVANS 2009. 171 Dies gilt wohl auch für Thukydides, obwohl er andere Historiker dafür kritisiert, daß sie ihre Werke nur für den Augenblick des Vortrags schreiben (vgl. Thuk. 1,22 sowie ferner MOMIGLIANO 1998 [1978], 8f., u. MORRISON 2007). 172 Vgl. Sen. contr. 4 praef. 2. 173 Vgl. ANDRE 1949 u. ZECCHINI 1982. 174 Vgl. DALZELL 1955 u. WINSBURY 2009, 96-99, die beide zur letzten Deutung neigen. 175 Vgl. z.B. Hor. serm. 1,4,23-25 mit z.B. FANTHAM 1998, 77-83. 176 Vgl. z.B. Cic. fin. 5,52 (maximeque eos videre possumus res gestas audire et legere velle, qui a spe gerendi absunt confecti senectute) u. Sen. de ira 3,23,6 (historias quas postea scripserat [sc. Timagenes] recitavit) sowie ferner WISEMAN 1981, 383386; WINSBURY 2009, 104-106, u. MARINCOLA 2009, 13f.

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rarische Qualität, die über die Glaubwürdigkeit der vom Autor vorgelegten Version der Vergangenheit entscheidet. Die Rezitation des eigenen Werkes gibt dem Historiker zudem die Möglichkeit, über die Präsentation seiner Kompetenz auch als Person an Prestige und Autorität zu gewinnen.177 Gleichwohl gilt es zu bedenken, daß wir es hier noch mit einer frühen und nur schlaglichtartig beleuchteten Phase der Entwicklung zu tun haben, die sich möglicherweise von späteren Epochen unterscheidet. Das vergleichsweise gute Bild, das wir aus den Briefen des jüngeren Plinius und Suetons Kaiserbiographien178 von den Rezitationen – auch von Geschichtswerken179 – als festem Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens im 1. und 2. Jh. n. Chr. gewinnen können, darf daher nur mit einer gewissen Vorsicht auf die Späte Republik und die augusteische Zeit übertragen werden. Aus demselben Grund müssen auch die Zeugnisse aus der späteren Kaiserzeit mit Vorsicht interpretiert werden, da immer die Gefahr besteht, daß sie Verhältnisse aus ihrer Gegenwart in die Vergangenheit projizieren. Dies gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die wohl auf Aelian zurückgehende und in der Suda unter dem Lemma des Philosophen Annaeus Cornutus überlieferte Nachricht, daß Livius und ein sonst nicht bekannter Historiker Cornutus180 in Konkurrenz zueinander Lesungen aus ihren Werken veranstaltet haben, wobei die des reichen, alten und kinderlosen Cornutus – aus naheliegenden, aber außerliterarischen Gründen – gut, die des Livius hingegen schlecht besucht gewesen sein sollen.181 Angesichts dieser generellen Problematik und des stark anekdotischen Charakters der Stelle sollten Schlußfolgerungen von der Existenz der Rezitationen auf die literarische Form des livianischen Werkes – etwa auf die Episodenstruktur182 oder den dramatischen Charakter einzelner Passagen183 – nur zurückhaltend gezogen werden. Auf der anderen Seite kann aber auch kein Zweifel daran bestehen, daß der mündliche Vortrag des Textes in eigener Person oder durch einen ___________________________

177 Zum kompensatorischen Charakter der Rezitationen für Angehörige der Oberschicht vgl. DUPONT 1997, v.a. 45: „… recitationes constitute a private form of oratorical (or poetical) discourse, a discourse that bestowes social prestige and thus substitutes, at least in part, for the traditional oratio.“ 178 Vgl. Plin. epist. 1,31; 7,17; 8,24,2; 8,12,5; Suet. Tib. 61,3; Claud. 42,2 u. Nero 10,2 mit CITRONI 1990, 63-67; BINDER 1995; FANTHAM 1998, 199-209, u. SCHMIDT 2001b. 179 Vgl. Plin. epist. 1,13,3; 7,17,2-3 u. 9,27 sowie Suet. Claud. 41,1; für die Spätantike vgl. Lib. epist. 11, 983 mit MOMIGLIANO 1998 [1978], 5f., u. Auson. liber protrepticus 4667 mit GÄRTNER 1990, 98f., sowie allg. zu den Rezeptionsbedingungen für Historiographie in der Kaiserzeit vgl. KRASSER 1999 u. JOHNSON 2009. 180 Zur Annahme, daß es sich um eine von dem stoischen Philosophen neronischer Zeit verschiedene Person handelt, vgl. CICHORIUS 1922, 263-269, der eine Identifizierung mit C. Caecilius Cornutus (Praetor 57 v. Chr.) vorschlägt. 181 Vgl. Suda 2098 (= Aelian Frg. 86 DOMINGO-FORASTÉ) mit CICHORIUS 1922, 261-263, u. BURCK 1964 [1934], 194, u. OGILVIE 1965, 4. 182 Vgl. z.B. BURCK 1964 [1934], 194. 183 Vgl. z.B. JAEGER 2007, 400: „… Book 40 begs for a dramatic reading ...“

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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lector für Livius durchaus im Rahmen des Vorstellbaren gelegen hat und mit der zunehmenden Bedeutung der Lesungen im gesellschaftlichen Leben während der Abfassung seines Werkes im Laufe der Zeit vielleicht sogar noch an Bedeutung als Rezeptionsform gewonnen hat. Dennoch ist im Ganzen primär von einem Lesepublikum und einer schriftlichen Kommunikationssituation auszugehen. An dieser grundsätzlichen Annahme ändert sich auch dann nichts, wenn man neben der stillen Lektüre mit dem lauten Lesen als gesellschaftlicher Praxis rechnet.184 Selbst wenn die Rezeption von Literatur in der Antike in der Regel nicht für sich alleine, sondern vorwiegend in Gesellschaft der Familie, der Dienerschaft oder von Freunden erfolgt ist und daher – wie vor allem WILLIAM JOHNSON betont – immer als sozialer Akt zu verstehen ist, bleibt der individuelle Leser als impliziter Adressat doch die Norm in der antiken Literatur.185 Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, für die römische Geschichtsschreibung in dieser Zeit ein weiteres Publikum, das auch absichtliche oder zufällige Zuhörer eines Vortrags des Textes einschließt, von einer engeren Leserschaft, die den primär vom Autor intendierten Adressatenkreis bildet, zu unterscheiden. Will man die zweite Gruppe näher beschreiben, muß man sich mit der schwierigen Frage nach der Zahl der Personen, die über eine hinreichende Lesefähigkeit zur Lektüre eines Geschichtswerkes verfügt haben,186 befassen. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung läßt sich zwar – wie der Alphabetisierungsgrad vormoderner Gesellschaften generell – nur schwer bestimmen und dürfte 20% nicht überschritten haben.187 Es ist aber davon auszugehen, daß die absolute Zahl derjenigen, die ___________________________

184 Während die ältere communis opinio das laute Lesen als Regel ansah, geht man heute davon aus, daß beide Formen nebeneinander praktiziert wurden (vgl. KNOX 1968; KRASSER 1996, 169-177.211-220; GAVRILOV 1997; BURNYEAT 1997 u. BUSCH 2002). 185 Vgl. dag. JOHNSON 2000, v.a. 620: „A suprising amount of the burden to interpret the text was shifted from author to reader. Moreover, the idea of the ‘reader’ is complex: not simply reader-listener, but a reader-performer who acts as an intermediary, much like an actor rendering a play. The fact that sometimes, for the solitary reader, the intermediary did not exist, was no more important in the conceptualization of the text than the fact that today people sometimes read plays silently to themselves. … ancient readers (and indeed ancient authors) were, I suppose, conditioned to regard the text not as a voiceless and straightforward representation of the author’s intent, but as a script to be represented in performance (wether actualized or not).“ 186 Vgl. z.B. MALITZ 1990, 339 Anm. 64: „‚Lesefähigkeit‘ ist nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, Herodot oder auch nur Diodor mit Verständnis und ausreichender Geschwindigkeit zu lesen.“ Zur Blüte historischer Kompendien als Indiz für eine Ausweitung des Publikums vgl. MARINCOLA 1997, 29: „This may indeed represent a ‘down-marketing’ of history, in a sense, as histories began to appear for people who could not make their way through Livy’s 142- or Nicolaus’ 144-book histories.“ 187 Die niedrigen Schätzungen von WILLIAM HARRIS, der für Italien zwischen 100 v. Chr. und 250 n. Chr. von unter 15% ausgeht (vgl. HARRIS 1989, 175-284, v.a. 267), wurden zwar kritisiert (vgl. CITRONI 1990, v.a. 60-63; HUMPHREY 1991 u. BLANCK 1992, 30-39), aber nicht systematisch widerlegt; für einen differenzierten Umgang mit verschiedenen Alphabetisierungsniveaus vgl. die Beiträge in JOHNSON / PARKER 2009.

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über die Voraussetzungen zur eigenständigen Rezeption eines längeren Prosatextes verfügten, vom 3. Jh. v. Chr. bis in die augusteische Zeit kontinuierlich und signifikant zugenommen hat. Dabei hat neben der territorialen Erweiterung und kulturellen Ausstrahlung Roms188 auch die Erschließung von breiteren sozialen Schichten als potentiellen Rezipienten eine entscheidende Rolle gespielt.189 Diese deutliche Ausweitung des Adressatenkreises von lateinischer Literatur in sozialer wie in geographischer Hinsicht läßt sich nicht zuletzt am Beispiel der Geschichtsschreibung beschreiben. Zwar stellt das Fehlen einer grundlegenden Untersuchung zum Publikum der antiken Historiker190 ein oft beklagtes Desiderat dar.191 Dennoch kann man davon ausgehen, daß die römischen Historiker an der Wende zum 2. Jh. v. Chr. nicht nur selbst der Nobilität entstammten, sondern sich auch vor allem an ihre Standesgenossen richteten. Wenn hingegen Polybios in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. unterschiedliche Formen der Historiographie mit Blick auf die Vorlieben ihrer Leser vergleicht, so favorisiert er selbst zwar die πραγματικὴ ἱστορία und wünscht sich den πολιτικός als Leser: οὐκ ἀγνοῶ δὲ διότι συμβαίνει τὴν πραγματείαν ἡμῶν ἔχειν αὐστηρόν τι καὶ πρὸς ἓν γένος ἀκροατῶν οἰκειοῦσθαι καὶ κρίνεσθαι διὰ τὸ μονοειδὲς τῆς συντάξεως. οἱ μὲν γὰρ ἄλλοι συγγραφεῖς σχεδὸν ἅπαντες, εἰ δὲ μή γ', οἱ πλείους, πᾶσι τοῖς τῆς ἱστορίας μέρεσι χρώμενοι πολλοὺς ἐφέλκονται πρὸς ἔντευξιν τῶν ὑπομνημάτων. τὸν μὲν γὰρ φιλήκοον ὁ γενεαλογικὸς τρόπος ἐπισπᾶται, τὸν δὲ πολυπράγμονα καὶ περιττὸν ὁ περὶ τὰς ἀποικίας καὶ κτίσεις καὶ συγγενείας, καθά που καὶ παρ' Ἐφόρῳ λέγεται, τὸν δὲ πολιτικὸν ὁ περὶ τὰς πράξεις τῶν ἐθνῶν καὶ πόλεων καὶ δυναστῶν. ἐφ' ὃν ἡμεῖς ψιλῶς κατηντηκότες καὶ περὶ τοῦτον πεποιημένοι τὴν ὅλην τάξιν, πρὸς ἓν μέν τι γένος, ὡς προεῖπον, οἰκείως ἡρμόσμεθα, τῷ δὲ πλείονι μέρει τῶν ἀκροατῶν ἀψυχαγώγητον παρεσκευάκαμεν τὴν ἀνάγνωσιν. Ich bin mir freilich darüber nicht im unklaren, daß mein Werk etwas Strenges, Abweisendes an sich hat und wegen der Einseitigkeit und Beschränkung in der Stoffauswahl nur eine bestimmte Art von Lesern ansprechen und bei ihnen Beifall finden wird. Denn fast alle anderen Autoren, jedenfalls aber die meisten, haben alle Zweige der Vergangenheitskunde behandelt und locken dadurch viele zur Lektüre ihrer Schriften an. Wer gern unterhalten sein will, den ziehen Genealogien an; wen es reizt, im Dunkel der Vorzeit zu forschen, die Berichte über Kolonisationen, Städtegründungen, Herkunft und Verwandtschaft von Völkern und Stämmen, wie man dergleichen bei Ephoros lesen kann; den politisch Interessierten die Taten und Schicksale von Völkern, Städten und Herrschern. Dies ist das Thema, dem wir uns ausschließlich zugewandt haben, das den einzigen Gegenstand unseres Werkes bildet, und daher kommt dieses auch nur einer einzigen Art von Lesern entgegen, während wir der Mehrzahl keine Lektüre anzubieten haben, die sie fesseln könnte.192 ___________________________

188 Zur Verbreitung des Lateinischen vgl. HARRIS 1989, 175-190, u. PROSDOCIMI 1990. 189 Vgl. z.B. CITRONI 1990, 100-116. 190 Vgl. aber MOMIGLIANO 1998 [1978]; MALITZ 1990; NICOLAI 1992; HOSE 1994, 1923; MARINCOLA 1997, 19-33; NICOLAI 2007, 23-26, u. zuletzt MARINCOLA 2009. 191 Vgl. CHAPLIN 2000, 50f.: „No one has systematically addressed what we might call ‘the audience question’ in classical historiography.“ u. BECK / WALTER 2001, 47f. 192 Vgl. Pol. 9,1,2-1,5 [Übers. DREXLER 1961] mit z.B. NÄF 2010, 185-187.

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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Daß er darüber hinaus jedoch noch zwei andere Lesertypen – den primär an Genealogien interessierten φιλήκοος und den sich vor allem für die Vorgeschichte begeisternden πολυπράγμων καὶ περιττός – nennt, zeigt, daß inzwischen eine deutliche Differenzierung der Rezipienten von Historiographie stattgefunden hat. Das Interesse an der Geschichtsschreibung in Griechenland erstreckt sich seit dem Hellenismus nicht mehr nur auf den engen Kreis der selbst als Politiker oder Militär tätigen Personen, sondern hat eine erhebliche gesellschaftliche Diversifizierung erfahren.193 Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, eine analoge Erweiterung des Publikums auch für die lateinische Historiographie anzunehmen und davon auszugehen, daß sich etwa Coelius Antipater oder die ‚jüngeren Annalisten‘ nicht zuletzt an den sich in dieser Zeit formierenden Ritterstand und die Eliten der in engeren Kontakt zu Rom tretenden italischen Städte richten.194 Diese Annahme erfährt weitere Unterstützung, wenn wir Mitte des 1. Jh. v. Chr. auf eine bessere Zeugnislage zurückgreifen können: Bereits die Äußerungen des Nepos, der auch mit expertes litterarum Graecarum als Lesern seiner Biographiensammlung rechnet195 und daher griechische Begriffe gelegentlich erklärt,196 verweisen auf ein Publikum, das über keine dem Standard der römischen Oberschicht entsprechende Vorbildung verfügt. Daß in der Späten Republik von einer erheblichen sozialen Erweiterung des Publikums für historiographische Literatur auszugehen ist, bestätigt Cicero in wünschenswerter Deutlichkeit, wenn er in de finibus bonorum et malorum die Frage aufwirft, „warum auch Menschen von sehr niedriger Geburt, obwohl sie nicht darauf hoffen können, selbst historische Taten zu vollbringen, – ja sogar Handwerker – von Geschichtsschreibung erfreut werden?“ (quid, quod homines infima fortuna, nulla spe rerum gerendarum, opifices deinque delectantur historia?).197 Daß Cicero im Anschluß die beiden wichtigsten Rezeptionsformen historiographischer Literatur explizit benennt (res gestas audire et legere velle),198 zeigt zudem, daß spätestens in dieser Zeit von einem Lesepublikum für Geschichtsschreibung auch außerhalb der Oberschicht auszugehen ist. Dessen Existenz paßt gut in das Bild, daß wir allgemein von der Etablierung der Bibliotheken und des Buchmarktes im spätrepublikanischen und augusteischen Rom zeichnen können: Nachdem Caesars Projekt der ersten öffentlichen Bibliothek durch seine Ermor___________________________

193 Vgl. MEISSNER 1986, v.a. 317; MALITZ 1990, 323-327; BEISTER 1995; MARINCOLA 1997, 24f.; MARINCOLA 2001, 121f., u. ROOD 2004, 157-160. 194 Vgl. TIMPE 1979, 113-115; MUTSCHLER 2003, v.a. 280f., u. BECK / WALTER 2004, 23f. 195 Vgl. Nep. praef. 2 u. ferner Pelopidas 1. 196 Vgl. z.B. Nep. Kimon 3,1; Thrasybylus 3,2; Conon 3,3 u. Eumenes 1,6. 197 Vgl. Cic. fin. 5,52 mit MALITZ 1990, 339f.; MARINCOLA 1997, 28; WISEMAN 1998b, 4f.; WALTER 2004, 212f., u. MARINCOLA 2009, 13. 198 Vgl. Cic. fin. 5,52: maximeque eos videre possumus res gestas audire et legere velle, qui a spe gerendi absunt confecti senectute. („Wir können sehen, daß diejenigen am dringlichsten von historischen Taten zu hören und zu lesen wünschen, denen ihr hohes Alter jede Hoffnung darauf, selbst solche zu vollbringen, genommen hat.“).

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dung nicht mehr vollendet werden konnte,199 wurde es von Asinius Pollio in den frühen 30er Jahren aufgegriffen und umgesetzt.200 Auch Augustus engagiert sich auf diesem prestigeträchtigen Gebiet kultureller Euergesie und richtete Büchersammlungen auf dem Palatin und in der Porticus Octaviae ein,201 so daß innerhalb weniger Jahre – zumindest für das Stadtgebiet selbst – eine erstaunlich hohe Versorgungsdichte mit Bibliotheken zustande gekommen ist.202 Eine vergleichbar rasche Ausweitung kann in der gleichen Zeit für den Handel mit Büchern rekonstruiert werden,203 so daß schon in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. von einer Grundversorgung an Literatur auszugehen ist, die durch verschiedene private Händler, die in der Regel zugleich als Verleger agiert haben dürften, gewährleistet wurde.204 Obwohl daneben die traditionellen ‚Vertriebswege‘ – etwa über im eigenen Haus angefertigte Exemplare und ihr Verschenken an Freunde – weiterhin existiert haben dürften, ändert sich durch die gestiegene Bedeutung der Bibliotheken und des Buchhandels das Verhältnis von Autor und Leser und damit zugleich die Wahrnehmung der literarischen Kommunikationssituation, eine Veränderung, die von der zeitgenössischen Dichtung auch thematisiert wird.205 Vor diesem Hintergrund ist auch das Bild zu sehen, das Livius in der praefatio und an einigen anderen Stellen des Werkes von seinem Leser entwirft.206 Eine Person, die in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. in Italien lebt und der lateinischen Sprache mächtig war, konnte also auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen mit Bildern von Vergangenheit in Berührung kommen. Auf der Ebene der visuellen Präsentation treten neben die traditionellen gentilizischen Formen der Erinnerung (pompa funebris, imagines maiorum, Münzen, einzelne Statuen etc.) nun die Synthesen und Inszenierungen der augusteischen Zeit, deren Tendenz zur Kanonisierung und Vereinheitlichung am besten das Augustus-Forum verdeutli___________________________

199 Vgl. Suet. Iul. 44,2 mit z.B. KRASSER 1996, 44-50. 200 Vgl. Plin. nat. 7,115; 35,10 u. Isid. orig. 6,5,2 mit z.B. ZECCHINI 1982, 1279f. 201 Vgl. z.B. BLANCK 1992, 160-167; CASSON 2001, 80-83; BALENSIEFEN 2002; SCHICKERT 2005, 35-39, u. KRASSER 2005, 366-368. 202 Vgl. dag. HARRIS 1989, v.a. 228f.: „It would, …, be crudely anachronistic to suppose that the sum of these efforts had any large-scale effect on the diffusion of the written word.“ u. ferner WINSBURY 2009, 67-75, der sich ähnlich skeptisch äußert. 203 Den frühesten Beleg für die Existenz von Buchhändlern in Rom liefert Strabo, der im Zusammenhang der Verschlechterung des Textes der aristotelischen Schriften erwähnt, daß diese, nachdem sie 83 v. Chr. Sulla von Athen nach Rom gebracht hatte, dort von mehreren βιβλιοπῶλαι zugleich, jedoch in mäßiger Qualität in Umlauf gebracht wurden (vgl. Strab. 13,1,54 mit WINSBURY 2009, 57). 204 Vgl. BIRT 1882, 353-360; KLEBERG 1967, 22-44; CITRONI 1990, 60-77; FEDELI 1990; BLANCK 1992, 120-129; SCHMIDT 2001a; SCHICKERT 2005, 20-32, u. WHITE 2009, sowie dag. WINSBURY 2009, v.a. 53-66, der die Annahme von Verlegern in der Antike als Rückprojektion moderner Verhältnisse ansieht und ein sehr skeptisches Bild vom Umfang des antiken Buchhandels zeichnet. 205 Vgl. z.B. Hor. epist. 1,20; s. ausführlicher unten S. 65-70. 206 S. unten S. 71-74.

1. Die Beschäftigung mit Geschichte in der römischen Gesellschaft

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chen kann. Parallel dazu erweitert sich das Spektrum der literarischen Vermittlung von Geschichte, und zwar sowohl mit Blick auf die gewählten Gattungen als auch auf die Formen der Kommunikation: Während einige Kontexte weiterhin bestehen (z.B. das Epos und sein Vortrag im privaten Rahmen, das Drama als gesellschaftliches Großereignis) kommen andere neu hinzu (öffentliche Rezitationen, Bibliotheken und Buchhandlungen als ‚Vertriebswege‘ für eine historische Literatur, die nun auch chronologische Übersichten, biographische Sammelwerke und Universalgeschichtsschreibung umfaßt). Demgegenüber spielt Geschichte in der Schule – sowohl auf der Ebene des Grammatikunterrichts als auch in der Ausbildung beim Rhetor – außerhalb der Lektüre von Dichtung mit historischen Inhalt noch nicht die Rolle,207 die ihr im Laufe der Kaiserzeit zukommen wird.208 d) Zwischenfazit: Der zeitgenössische Leser im historischen Kontext Wenn man vor diesem Hintergrund den zeitgenössischen Leser von Livius’ ab urbe condita näher beschreiben möchte, so kann man dies zum einen mit Blick auf seine vermutlichen historischen Vorkenntnisse tun. Aufgrund der besonderen Erinnerungskultur der Republik sowie ihrer Transformation in augusteischer Zeit ist zunächst davon auszugehen, daß Erfolge innen- und außenpolitischer Natur mit größerer Wahrscheinlichkeit in das allgemeine Geschichtsbild eingegangen sind. Die besten Aussichten, zu einem prominenten Erinnerungsgegenstand zu werden, hatten dabei diejenigen Ereignisse, deren Akteure zu einem auch in der Zeit danach politisch erfolgreichen und auf dem Feld der memoria aktiven Gentilverband gehörten. Je weiter diese Ereignisse in der Vergangenheit liegen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es sich – trotz der direkten Bedeutung der Vergangenheit für die politische Konkurrenz der Gegenwart – um nachträgliche Konstruktionen handelt. Dies gilt auch für die Königszeit als Gründungsepoche, zumal in Rom kein floating gap in seiner klassischen Form zu erkennen ist.209 Für die Wahrnehmung eines neuen Geschichtswerkes durch seine Leser dürfte jedoch deren methodisches Vorwissen entscheidender als das inhaltliche gewesen sein. Denn gerade in seiner reichen Erfahrung mit medial wie intentional ganz unterschiedlichen Formen der Präsentation von Vergangenheit unterscheidet sich der zeitgenössische Rezipient des livianischen Werkes wohl am deutlichsten von einem Leser von Geschichtsschreibung in anderen Epochen. Selbst wenn er die Zeit der Republik nicht mehr selbst erlebt haben sollte, so waren doch die Spuren der multimedialen und polyphonen Inszenierung eines jeweils sehr bestimmten Bildes von Geschichte im Stadtbild, in der Literatur und in der Erinnerung älterer Zeitgenossen noch sehr präsent. ___________________________

207 Vgl. KÜHNERT 1961, 25f.89f.; STRASBURGER 1966, 47f., u. EIGLER 2003a, 51-56. 208 Zur Bedeutung in der rhetorischen Ausbildung vgl. Quint. inst. 2,4,18-21 u. 10,1,3134, sowie ferner NICOLAI 1992, 32-247; HOSE 1994, 5-18, u. EIGLER 2003a, 234-263. 209 S. oben S. 20.

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II. Kontexte und Transformationen

Weder die Kulmination des agonalen Systems in den letzten Jahrzehnten der Republik als auch die zunehmende Kritik an den traditionellen Formen durch die neuen Experten einer ‚professionellen‘ Erinnerungskultur dürfte aufmerksameren Lesern entgangen sein. Dies gilt in gleicher Weise für die extrem pessimistische Wahrnehmung der eigenen Geschichte während der Bürgerkriege und die Ablösung dieses deszendenten Bildes durch ein positiveres Modell in der augusteischen Zeit. Auch die damit einhergehende Transformation der pluralistischen Erinnerungen der Republik in eine gemeinsame ‚Nationalgeschichte‘ wird von den Zeitgenossen wahrgenommen worden sein. Diese tiefgreifenden Veränderungen und die damit verbundenen Spannungen dürften in ihrer Summe dazu geführt haben, daß ein Leser des livianischen Werkes in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. Geschichte als einen in hohem Maße kontroversen und von verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Interpretationen versehenen Gegenstand empfunden hat. Wenn man darüber hinaus abschließend noch mögliche Gründe für die Lektüre eines Geschichtswerkes in dieser Zeit benennen möchte, wird vor diesem Hintergrund deutlich, daß neben den üblichen Motiven wie der Orientierung an den exempla der Vergangenheit oder der Suche von – vor allem in Italien in großer Zahl vorhandenen – ‚Neubürgern‘ nach einer auf historisches Wissen gestützten Identität als Römer auch andere Gründe ausschlaggebend gewesen sein können. Unter diesen dürfte gerade einerseits der Wunsch nach einem neuen Verhältnis zur nach dem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruch in den letzten Jahren der Republik und der Bürgerkriegszeit in vielerlei Hinsicht als problematisch empfundenen eigenen Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt haben. Andererseits ist bei den zeitgenössischen Rezipienten aber auch ein Interesse daran vorauszusetzen, wie eine mit den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten interagierende Geschichtsschreibung wohl literarisch beschaffen sein, wie sie die disparaten Inhalte der älteren Erinnerungskultur aufgreifen und ob sich das in ihr präsentierte Bild der Geschichte von denen der anderen Erinnerungsmedien der gleichen Zeit unterscheiden wird.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten der gesellschaftliche Kontext des Umgangs mit Geschichte in seinen verschiedenen Formen skizziert wurde, soll nun die Historiographie noch einmal gesondert in den Blick genommen werden, um auf diese Weise die innerliterarischen Entwicklungen besser berücksichtigen zu können. Das sich aus diesem Überblick ergebende Tableau der im Laufe der Zeit für die historiographische Präsentation und Vermittlung der Vergangenheit entwickelten Darstellungstechniken bildet zugleich den Hintergrund, vor dem sowohl Livius’ Wahl der von ihm verwendeten Mittel wie auch deren Rezeption durch die zeitgenössischen Leser zu sehen ist. Dies gilt bei der Entscheidung für das Format einer annalistisch gegliederten Gesamtgeschichte ebenso wie bei der Verwendung einzelner narrativer Techniken oder stilistischer Prinzipien.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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a) Von der Chronik zur Monographie? Die Problematik evolutionärer Modelle Livius’ Ansatz, die ganze römische Geschichte in einem annalistisch gegliederten Werk210 darzustellen, ist häufig, aber zu Unrecht als unreflektierte Fortführung der Tradition und rückwärtsgewandte Geschichtskonzeption verstanden worden, weil diese ‚altväterliche‘ Art der Geschichtsschreibung schon durch modernere Formen – wie vor allem die zeithistorische Monographie – ersetzt worden sei.211 Hinter dieser Einschätzung steht die Annahme einer evolutionären Entwicklung der römischen Geschichtsschreibung von den chronikartigen Aufzeichnungen an ihrem Anfang bis hin zu sprachlich wie inhaltlich komplexeren, aber auch komprimierteren Werken wie etwa denjenigen Sallusts. Angesichts der fragmentarischen Überlieferung der republikanischen Historiker stellen solche Annahmen, mit denen sich das isolierte Material in übergreifende Entwicklungslinien einordnen läßt, eine notwendige, aber stets zu hinterfragende Hilfskonstruktion dar. Daß sich gerade diese Hypothese großer Beliebtheit erfreut, liegt nicht zuletzt daran, daß sie durch antike Zeugnisse gestützt wird, vor allem durch das von Cicero in de oratore (55 v. Chr.) und de legibus (ca. 52 v. Chr.) gezeichnete Bild der Entwicklung der Historiographie in Rom. Dessen Kernsatz läßt er Marcus Antonius in de oratore folgendermaßen formulieren:212 ‚atqui ne nostros contemnas‘ inquit Antonius ‚Graeci quoque ipsi sic initio scriptitarunt, ut noster Cato, ut Pictor, ut Piso. erat enim historia nihil aliud nisi annalium confectio.‘ „Und, um unsere Autoren nicht herabzuwürdigen“, sagte Antonius, „die Griechen pflegten anfangs auch so zu schreiben wie bei uns Cato, Pictor, Piso. Es war nämlich die Geschichtsschreibung nichts Anderes als die Zusammenstellung von Jahresberichten.“213

Ciceros These einer Entwicklung der Geschichtsschreibung aus der Chronik heraus kann jedoch inzwischen sowohl für die frühen Historiker in Rom als auch für die von ihm – in Anlehnung an Theophrasts Schrift περὶ ἱστορίας214 – als Parallele herangezogene griechische Historiographie215 als widerlegt gelten.216 ___________________________

210 Ausführlicher zu den Folgen der annalistischen Gliederung s. unten S. 75-123. 211 Vgl. z.B. CARNEY 1959, 1: „… in a historical survey of the development of Roman historiography, Livy’s choice of the annalistic form in 30 B.C. … was a choice which forsook contemporary practice in the writing of history and rejected the previous five decades of development in the evolution of literary genres in such writing.“ 212 Zur anachronistischen Stilisierung des Antonius an dieser Stelle vgl. FOX 2007, 135f. 213 Vgl. Cic. de or. 2,51-54, h. § 51 [Übers. BECK / WALTER 2001, 21] u. leg. 1,6-7 mit KREBS 2009. 214 Vgl. FLACH 1998, 42-47. 215 Vgl. grundlegend JACOBY 1949, v.a. 49, aber auch die Kritik bei FORNARA 1983, 1623, u. MARINCOLA 1999, v.a. 293f. 216 Vgl. BECK / WALTER 2001, 45f.: „Damit eng verbunden ist das auch in der modernen Forschung noch weit verbreitete, von Ciceros Rekonstruktion (...) gestützte Mißverständnis, die ‚annalistische‘ Geschichtsschreibung sei genetisch wie typologisch unmittelbar aus den schematischen Aufzeichnungen des Oberpriesters abzuleiten.“

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II. Kontexte und Transformationen

Vielmehr wird heute davon ausgegangen, daß die römischen Historiker schon seit Fabius Pictor217 unterschiedliche Darstellungsformen aus dem breiten Angebot der hellenistischen Historiographie rezipiert haben. Unter diesen stellte das annalistische Schema nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, die sich zudem möglicherweise erst relativ spät herausgebildet hat. Intensiv diskutiert werden in diesem Zusammenhang jedoch die Fragen, wodurch das annalistische Schema in Rom zu seiner breiten Akzeptanz gekommen ist218 und wer es als erster in einem Geschichtswerk als durchgängiges Gliederungsprinzip eingesetzt hat.219 Obwohl Ciceros Rekonstruktion der Gattungsgeschichte damit ihre Grundlage entzogen und ihr argumentatives Ziel, die Legitimation seines eigenen historiographischen Projektes, längst erkannt ist,220 bleibt die hier faßbare Konstatierung einer literarischen Entwicklung ein wichtiges Zeugnis für die gewandelte Wahrnehmung der Geschichtsschreibung am Ende der Republik, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Transformation der traditionellen Erinnerungskultur und der Tendenz zu einer Professionalisierung in der Späten Republik zu sehen ist.221 Der entscheidende Wandel in der Art und Weise, wie man in Rom über Geschichte geschrieben hat, hatte jedoch bereits in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. stattgefunden und wird von Cicero in seinem Überblick über die lateinische Historiographie vielleicht deswegen nicht thematisiert, weil sein Auslöser das auf Griechisch verfaßte Werk des Polybios war. Der Modernisierungsschub, den seine Historien in Rom ausgelöst haben, umfaßte von der sprachlichen Form über die Verwendung einzelner literarischer Techniken bis zum Aufbau und Zuschnitt des Werkes so gut wie alle denkbaren Bereiche der Geschichtsschreibung.222 Der Einfluß des Werkes wurde noch einmal erheblich dadurch gesteigert, daß Polybios seine Entscheidungen an vielen Stellen und unter Rekurs auf die zeitgenössische hellenistische Diskussion zur Theorie der Historiographie erläutert.223 Auf diese Weise hat er Produzenten wie Rezipienten von Geschichtsschreibung in Rom nicht nur das von ihm favorisierte Modell der πραγματικὴ ἱστορία,224 sondern zugleich die – zum Teil mit scharfer Polemik – abgelehnten Formen der ___________________________

217 Zum Aufbau des Werkes und der möglichen Beeinflußung durch die Ktisis-Literatur vgl. TIMPE 1972; PETZOLD 1993, 155; FLACH 1998, 66f., u. BECK / WALTER 2001, 61. 218 Zum Einfluß von Ennius’ annales vgl. BECK / WALTER 2001, 40-44; zur Rolle der Publikation der annales maximi durch Mucius Scaevola s. oben S. 19f. Anm. 16. 219 Für Cassius Hemina als ersten ‚Annalisten‘ vgl. Plin. nat. 13,84 mit RAWSON 1976, 704f., u. FORNARA 1983, 25, sowie dag. BECK / WALTER 2001, 242; für Calpurnius Piso vgl. WISEMAN 1979, 12f.; FORSYTHE 1994, 38-42, u. BECK / WALTER 2001, 284f. 220 Vgl. FRIER 1999 [1979], 69-81; BECK / WALTER 2001, 19-21, u. GOTTER et al. 2003, 32-37; zu historiographischen Aspekten in seinen anderen Werken RAWSON 1972; FLECK 1993; BÜCHER 2006, v.a. 141-147, u. FOX 2007, v.a. 149-208. 221 Für eine Interpretation von Ciceros Aussagen in diesem Kontext vgl. FELDHERR 2003. 222 Vgl. v.a. DAVIDSON 2009; zu Polybios’ Einteilung von Lesertypen s. oben S. 42f. 223 Zu Polybios’ Position in der hellenistischen Theoriediskussion vgl. WALBANK 1990. 224 Vgl. z.B. WALBANK 2002 [1993]; MARINCOLA 1997, 24f., u. MARINCOLA 2001, 121f.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Geschichtsschreibung225 bekannt gemacht, so daß sich danach bei den römischen Historikern eine intensivere Aneignung verschiedener hellenistische Modelle und eine lebhafte Debatte über die adäquate literarische Form beobachten läßt.226 Das durch Polybios’ theoretische Ausführungen ebenso wie durch seine Polemik geschärfte Methodenbewußtsein hat auf diese Weise nicht zuletzt der ‚Professionalisierung‘ der Historiker in den folgenden Jahrzehnten den Weg geebnet.227 Zu einem wesentlichen Schauplatz dieser neuen Theoriediskussion wurde die Frage des Formats eines Werkes und des in ihm zu behandelnden zeitlichen Ausschnittes. Obwohl Polybios selbst seine Historien in Anlehnung an Thukydides mit einem kurzen Überblick über die Vorgeschichte versehen hat228 und sie daher trotz des Schwerpunktes auf den Ereignissen der letzten Jahrzehnte als Universalgeschichtsschreibung verstanden hat,229 wird bei seinen Nachfolgern in Rom die zeitgeschichtliche Monographie mit Fokus auf dem politisch-militärischen Geschehen gleichsam zum Signum der modernen Historiographie. Dies gilt vor allem für die zwischen 120 und 110 v. Chr. entstandene Darstellung von Roms zweiten Krieg gegen Karthago durch Coelius Antipater,230 aber auch für die als fortlaufende Zeitgeschichte angelegte Darstellung insbesondere der politischen Ereignisse der Jahre von etwa 130 bis 91 v. Chr. im Geschichtswerk des Sempronius Asellio, die er selbst erlebt und zum Teil aktiv mitgestaltet hatte.231 Aus seinem Proömium haben sich die frühsten Überlegungen zur Art und Weise, wie Geschichte zu schreiben sei, erhalten. Dabei unterscheidet auch Asellio – wie später Cicero – zwischen einer aus seiner Sicht unbefriedigenden annalistischen Form und einer von ihm bevorzugten elaborierteren Form, in der nicht nur die Ereignisse selbst genannt, sondern auch ihre Hintergründe erzählt werden: ‚verum inter eos‘, inquit, ,qui annales relinquere voluissent, et eos, qui res gestas a Romanis conati essent, omnium rerum hoc interfuit. annales libri tantummodo, quod factum quoque anno gestum sit, ea demonstrabat, id est quasi qui diarium scribunt, quam Graeci ἐφημερίδα vocant. non nobis modo satis esse video, quod factum esset, id pronuntiare, sed etaim, quo consilio quaeque ratione gesta essent, demonstrare.‘ paulo post idem Asellio in eodem libro: ‚namque neque alacriores‘, inquit, ,ad rem publicam defendundam neque segniores ad rem properam faciundam annales libri commovere quicquam possunt. scribere autem bellum initum quo consule et quo confectum sit et quis triumphans introierit e eo libro quae in bello gesta sint [iterare id fabulas] non praedicare aut interea quid senatus decreverit aut quae lex rogatiove lata sit neque quibus consiliis ea gesta sint: iterare id fabulis pueris est [narrare] non historias scribere.

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225 226 227 228 229 230 231

Vgl. z.B. Pol. 2,56,1-56,13; 3,47,6-48,12 u. 15,36 mit MARINCOLA 2003, 293-302. Vgl. RÜPKE 1997, v.a. 82, u. BECK / WALTER 2004, 20-25, v.a. 20f. S. oben S. 27-32. Zu Pol. 1-2 und Thukyides’ Pentekontaetie vgl. z.B. MARINCOLA 2001, 117-119. Vgl. Pol. 1,4,7-4,11; 3,32,1-32,3; 5,33; 8,3-4; 8,13 u. 29,12 mit PITCHER 2009, 116f. Zum biographischen Hintergrund von Coelius Antipater s. oben S. 26 Anm. 73. Zum möglichen Anfang mit 146 v. Chr. als Fortsetzung des Polybios vgl. GOTTER et al. 2003, 33, aber auch die skeptische Einschätzung bei BECK / WALTER 2004, 84 mit Anm. 4. Zum biographischen Hintergrund von Asellio s. oben S. 26 Anm. 74.

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II. Kontexte und Transformationen „Doch bestand“, sagte er, „zwischen solchen, die Annalen hinterlassen wollten, und solchen, die den Versuch unternommen hatten, die Geschichte der Römer niederzuschreiben, vor allen Dingen der folgende Unterschied: Die Annalenwerke legen immer nur dar, was geschah und in welchem Jahr es sich ereignete, wie es diejenigen tun, die ein Tagebuch – griechisch ‚ephemeris‘ – schreiben. Ich meine, daß ich mich nicht nur nicht damit begnügen kann, das allein mitzuteilen, was geschehen ist, sondern auch darlegen muß, in welcher Absicht und in welcher Manier gehandelt wurde.“ Etwas später sagt wiederum Asellio im gleichen Buch: „Denn Annalenwerke vermögen weder eher tatkräftige Menschen zur Verteidigung des Staates noch eher träge zum raschen Handeln bewegen. Nur zu schreiben, unter welchem Konsul ein Krieg begonnen und unter welchem er beendet worden ist und wer im Triumph eingezogen ist, dabei aber nicht zu würdigen, was sich im Krieg ereignet hat, was der Senat in der Zwischenzeit beschlossen hat oder welches Gesetzt beziehungsweise welcher Antrag eingebracht worden ist und aus welchen Überlegungen dies vor sich ging – so etwas heißt Knaben Geschichten erzählen, nicht Geschichte zu schreiben.“232

Doch auch diese vieldiskutierte Stelle erweist sich auf den zweiten Blick als problematisch:233 Denn weder trifft das Pauschalurteil eines annalistischen Aufbaus auf alle vor dieser Zeit in Rom verfaßten Werke zu noch läßt sich die von Asellio vertretene terminologische Unterscheidung zwischen annales und historiae beziehungsweise res gestae als feststehende Bezeichnungen für unterschiedliche Formen von Geschichtsschreibung aufrecht erhalten.234 Dennoch können diese an der Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. formulierten Überlegungen als Manifest eines neuen historiographischen Methodenbewußtsein gelten, hinter das kein römischer Historiker mehr zurückgehen konnte. Dies gilt in erster Linie für die Autoren, die das Modell der zeitgeschichtlichen Monographie oder einer auf die jüngere und selbst erlebte Vergangenheit fokussierten historia continua übernommen haben. Deren bedeutendste Vertreter aus dem 1. Jh. v. Chr. sind Cornelius Sisenna, dessen historiae Asellios Geschichtswerk wohl auch in zeitlicher Hinsicht fortsetzten,235 Sallust, der mit seinen etwa zwischen 40 und 35 v. Chr. begonnen, aber nicht mehr fertiggestellten Historien wiederum den Anschluß an das Ende von Sisennas Darstellung gesucht hat,236 und Asinius Pollio, dessen die Zeit bis Philippi oder Aktium behandelndes Werk möglicherweise als Fortsetzung Sallusts konzipiert war.237 Auch Cicero hätte sich ___________________________

232 Vgl. FRH 12 F 1-2 (= Gell. 5,18,8-18,9) [Übers. BECK / WALTER 2004, 87] sowie zur Textgestaltung ferner SOVERINI 1999. 233 Vgl. v.a. FRIER 1999 [1979], 219-221; SCHÄUBLIN 1983; FLACH 1998, 82-87; MEHL 2001, 57f.; GOTTER et al. 2003, 33-35, u. WALTER 2003b, 138-141. 234 Die Begriffe werden trotz weiterer Defintionsversuche (Gell. 5,18,1-2 u. Serv. Aen. 1,373) in der Antike promiscue verwendet (vgl. VERBRUGGHE 1989 u. SCHOLZ 1994). 235 Vgl. RAWSON 1979, 373f.; zur Praxis der Fortsetzung in der antiken Historiographie allg. MARINCOLA 1997, 237-241 mit App. VI u. VII; zum biographischen Hintergrund Sisennas s. oben S. 27Anm. 75. 236 Zum biographischen Hintergrund Sallusts s. oben S.27 Anm. 76. 237 Vgl. Hor. c. 2,1 mit ANDRÉ 1949, 41-66; COULTER 1952 u. ZECCHINI 1982, v.a. 1281f.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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wohl mit seinen unverwirklichten historiographischen Projekten in diese Reihe eingeordnet, wie die Argumentation für eine Fokussierung auf die Zeitgeschichte und gegen die umfangreichere Schilderung der ganzen römischen Geschichte de Romulo et Remo nahelegen, die er seinem Bruder Quintus und Atticus in de legibus in den Mund gelegt hat.238 Trotz der Dominanz des letzltich auf die Rezeption von Polybios’ Historien zurückgehenden zeithistorischen Modells in der Theoriedebatte des 1. Jh. v. Chr. wird aber dennoch auch die ältere Form der Gesamtdarstellung ab urbe condita weiterhin praktiziert. Die prominentesten Vertreter dieses Ansatzes sind die vier Autoren Claudius Quadrigarius, Valerius Antias, Licinius Macer und Aelius Tubero,239 die in der Forschung als ‚jüngere Annalisten‘ zusammengefaßt werden. Diese Bezeichnung ist allerdings dadurch problematisch geworden, daß nach der Aufgabe des evolutionären Modells und der differenzierteren Analyse der Werke der frühen römischen Historikern seit Fabius Pictor von einer ‚älteren Annalistik‘ eigentlich nicht mehr gesprochen werden kann.240 Auch wenn sich die Frage, seit wann das annalistische Schema für Geschichtswerke in Rom verwendet wird, nicht beantworten läßt, so kann seine Wahl durch diese Autoren im frühen 1. Jh. v. Chr. doch als eine bewußte Entscheidung gegen die herrschende Mode und für eine als traditionell empfundene Form der Darstellung verstanden werden.241 Allerdings bleibt auch diese Form der Historiographie von dem polybianischen Modernisierungsschub auf den übrigen Ebenen der Darstellung nicht unberührt:242 Das zeigt sich sowohl in der Tendenz zur ausführlicheren Darstellung der Zeitgeschichte, die gleichermaßen durch die Quellenlage243 wie die Relevanz der Gegenstände bedingt ist, als auch in der stärkeren Berücksichtigung von literarischen und stilistischen Elementen, die nicht zuletzt mit Blick auf die Unterhaltung des Lesers erfolgt sein dürfte.244 Aufgrund dieser über viele Jahre und offenbar intensiv geführten Debatte245 ist davon auszugehen, daß Livius die Wahl eines Formates für sein Geschichtswerk gründlich erwogen hat. Er hat sich dabei gegen die gerade in den 40er und 30er ___________________________

238 Vgl. Cic. leg. 1,8; zum Kontext in seinen übrigen Äußerungen vgl. FOX 2007, 111-148. 239 Zu ihrem biographischen Hintergrund und dem Zusammenhang mit der Tendenz zur Professionalisierung historiographischer Literatur in dieser Zeit s. oben S. 25-27. 240 Vgl. v.a. BECK / WALTER 2001, 45f., u. TIMPE 2003, 293f. 241 Vgl. TIMPE 1979, 101: „Es bedeutet nicht unreflektiertes Verhaftetsein in einer primitiven Tradition, sondern eine bewußte Entscheidung.“; PETZOLD 1993, v.a. 175f., u. WALTER 2003b, v.a. 143-147. 242 Vgl. z.B. TIMPE 1979, 99-102; PETZOLD 1993, 172-175, u. WALTER 2003b, 143-155. 243 Dies wird besonders daran deutlich, daß Claudius Quadrigarius auf die Darstellung der Frühgeschichte vor dem Galliersturm verzichtete und diesen Schritt offenbar mit der schlechten Quellenlage begründet hatte (vgl. Liv. 6,1,1-1,3 mit z.B. FRIER 1999 [1979], 92-94; WALTER / BECK 2004, 109f., u. FORSYTHE 2007, 391f). 244 Vgl. TIMPE 1979, 102-105. Zur Rolle des Lesers in dieser Zeit s. unten S. 53-64. 245 Vgl. zusammenfassend z.B. JAL 1997, der auch die Fortsetzung dieser Debatte in der Kaiserzeit behandelt.

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II. Kontexte und Transformationen

Jahren des 1. Jh. v. Ch. dominierende Fokussierung auf die Zeitgeschichte entschieden, wie sie entweder als Monographie oder als ab einem Stichpunkt (oft dem Ende des Werks eines Vorgängers) einsetzender und dann fortlaufender Darstellung vor allem von Sallust und Asinius Pollio praktiziert worden war. Daß die Erwartung eines zeithistorischen Werkes nicht erst aus der Retrospektive literaturgeschichtlicher Forschung berechtigt ist, sondern bereits eine zeitgenössische Wahrnehmung darstellt, wird nicht zuletzt dadurch plausibel, daß Livius in der praefatio seinen Lesern eben diese Interessen unterstellt: et legentium plerisque haud dubito, quin primae origines proximaque originibus minus praebitura voluptatis sint, festinantibus ad haec nova, quibus iam pridem praevalentis populi vires se ipsae conficiunt. Auch zweifele ich nicht daran, daß den meisten Lesern die ersten Anfänge und das, was den Anfängen zunächst liegt, weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben, zu unserer Neuzeit zu kommen, in der die Kräfte des Volkes, das schon längst übermächtig ist, sich selbst aufzehren.246

Doch einer der Gründe, warum er dennoch einer Darstellung ab urbe condita den Vorzug gegeben hat, klingt bereits hier an und wird auch im weiteren Verlauf der praefatio mehrfach thematisiert: Die krisenhafte Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit in der Zeit der Bürgerkriege war vor allem im Format der zeitgeschichtlichen Historiographie erfolgt, so daß sich für den zeitgenössischen Leser mit dieser Subgattung die Erwartung eines pessimistischen Geschichtsbilds und einer besonderen Betonung der problematischen Aspekte der eigenen Geschichte verbunden haben dürfte.247 Von einer solchen Erwartung seiner Leser distanziert sich Livius daher bereits über die Wahl des Formats und signalisiert mit der Entscheidung für eine Gesamtdarstellung ab urbe condita zugleich, daß sein Werk einen – den übrigen Formen der Erinnerungskultur in der augusteischen Zeit vergleichbaren – Neuansatz in der Bewertungen der eigenen Vergangenheit bietet.248 Bei der Aussage über das dem Werk zugrunde liegende Geschichtsbild handelt es sich aber nur um einen von mehreren mit der Wahl des Formats verbundenen Effekten. Entscheidender waren möglicherweise die Vorteile für den Aufbau und die narrative Gestaltung, die sich dank der historiographischen Modernisierung aus der nun möglichen flexibleren Handhabung des traditionellen annalistischen Schemas gewinnen ließen.249 Eine ausführliche Reflexion über die Folgen einer chronologisch-geographischen Gliederung auf die Darstellung findet sich bereits bei Polybios, der den ab dem 7. Buch nach Jahren und Orten geordneten Aufbau seines universalhistorischen Werkes an mehreren Stellen explizit rechtfertigt.250 ___________________________

246 247 248 249

Vgl. Liv. praef. 4 mit MOLES 1993, 146-148; zu den Folgen für Lektüre s. unten S. 72. Vgl. Liv. praef. 4-5; 9 u. 10-11. Vgl. z.B. MARINCOLA 1997, 17f.; zu den Parallelen s. oben S. 24-37. Vgl. KRAUS 1997, 61f.; OAKLEY 1997, 122-128, u. RICH 2009 [1997]; ausführlicher zu den narrativen Vorteilen des annalistischen Schemas s. unten. S. 75-123. 250 Vgl. Pol. 1,3,3-3,6; 4,28; 15,24a u. 38,5-6; ausführlicher hierzu s. unten S. 102-105.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Diese Überlegungen sind vielleicht schon von den sog. ‚jüngeren Annalisten‘ aufgenommen und mit einer stärker auf Rom zentrierten Perspektive verbunden worden, auch wenn aufgrund der schlechten Überlieferung hierzu keine sicheren Aussagen möglich sind. Livius schließt mit seiner reflektierten Verwendung des chronologischen Aufbaus jedenfalls – direkt oder indirekt über seine römischen Vorgänger – an die auf Polybios zurückgehenden und von ihm auch theoretisch begründeten literarischen Innovationen an. Gerade hierin zeigt sich, daß Livius trotz der Entscheidung gegen eine zeitgeschichtliche fokussierte Darstellung und für das Format ab urbe condita gleichwohl von der Modernisierung der römischen Historiographie ab der Mitte des 2. Jh. v. Chr. vielfach beeinflußt ist. Daß er sich dabei nicht zuletzt mit Polybios’ Äußerungen zur literarischen Theorie der Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat,251 ist schon angesichts der hohen Wertschätzung, die er ihm als Historiker entgegenbringt,252 ausgesprochen naheliegend, auch wenn diese Form der livianischen Polybios-Rezeption in der Forschung bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit gefunden hat als die Frage der inhaltlichen Übernahmen.253 b) Nutzen oder Unterhaltung? Historiographische Theorie in der Späten Republik Der Einfluß der zahlreichen methodischen Überlegungen des Polybios auf die römische Geschichtsschreibung wurde noch nicht systematisch untersucht.254 Das ist um so bedauerlicher, als er auf diese Weise auch ein intensiveres Nachdenken der Historiker in Rom über die Wahrnehmung ihrer Text durch ihre Rezipienten auslöst. Diese Überlegungen wollen wir im folgenden zusammenfassen und dabei mit Polybios beginnen. Dieser thematisiert die Wirkung seines Werkes auf den von ihm intendierten Leser unter ganz verschiedenen Aspekten, unter denen den Fragen nach der Art der Gliederung255 und der stilistischen Ausgestaltung durch den Autor256 einerseits sowie dem Interesse am Gegenstand und der Span-

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251 Vgl. LEVENE 2010, 126-163, der dafür plädiert, daß Livius seine Leser vor allem in der 3. Dekade auf die Unterschiede zur polybianischen Version implizit hinweist; für eine analoge Auseinandersetzung mit Thukydides vgl. POLLEICHTNER 2010a. 252 Vgl. v.a. Liv. 30,45,5: historicus, haudquaquam spernendus auctor u. 33,10,10: non incertus auctor cum omnium Romanarum rerum tum praecipue in Graecia gestarum. 253 Vgl. hierzu vor allem aus quellenkritischer Perspektive NISSEN 1863; WALSH 1961, 281-286; TRÄNKLE 1977; BURCK 1992, 35-49; BRISCOE 1993 u. RUMPF 2006. 254 Vgl. als Einführung in diese Thematik zuletzt DAVIDSON 2009. 255 Vgl. z.B. Pol. 38,5-6; für Text und Übersetzung s. unten S. 103. 256 Vgl. z.B. Pol. 16,17,9-11: ἐγὼ δὲ φημὶ μὲν δεῖν πρόνοιαν ποιεῖσθαι καὶ σπουδάζειν ὑπὲρ τοῦ δεόντως ἐξαγγέλλειν τὰς πράξεις – δῆλον γὰρ ὡς οὐ μικρά, μεγάλα δὲ συμβάλλεται τοῦτο πρὸς τὴν ἱστορίαν – οὐ μὴν ἡγεμονικώτατόν γε καὶ πρῶτον αὐτὸ παρὰ τοῖς μετρίοις ἀνδράσι τίθεσθαι. („Ich dagegen meine, daß man sehr wohl um eine gefällige Form der Erzählung bemüht sein soll – denn es ist selbstverständlich, daß dies nicht wenig, sondern viel dazu beiträgt, ein Geschichtswerk wertvoll zu machen –, es sollte jedoch bei ernsthaften Männern nicht als das Erste und Wichtigste gelten.“ [Übers. DREXLER 1963]).

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nung auf den Ausgang auf Seiten der Rezipienten257 andererseits die größte Bedeutung zukommt.258 Mit besonderem Nachdruck verteidigt er sich ferner gegen den Vorwurf, sein Werk sei wegen seiner Länge schwer zu lesen: Ἧι καὶ τοὺς ὑπολαμβάνοντας δύσκτητον εἶναι καὶ δυς(ανά)γνωστον τὴν ἡμετέραν πραγματείαν διὰ τὸ πλῆθος καὶ τὸ μέγεθος τῶν βύβλων ἀγνοεῖν νομιστέον. πόσῳ γὰρ ῥᾷόν ἐστι καὶ κτήσασθαι καὶ δια(να)γνῶναι βύβλους τετταράκοντα καθαπερανεὶ κατὰ μίτον ἐξυφασμένας καὶ παρακολουθῆσαι σαφῶς ταῖς μὲν κατὰ τὴν Ἰταλίαν καὶ Σικελίαν καὶ Λιβύην πράξεσιν ἀπὸ τῶν κατὰ Πύρρον εἰς τὴν Καρχηδόνος ἅλωσιν, ταῖς δὲ κατὰ τὴν ἄλλην οἰκουμένην ἀπὸ τῆς Κλεομένους τοῦ Σπαρτιάτου φυγῆς κατὰ τὸ συνεχὲς μέχρι τῆς Ἀχαιῶν καὶ Ῥωμαίων περὶ τὸν Ἰσθμὸν παρατάξεως, ἢ τὰς τῶν κατὰ μέρος γραφόντων συντάξεις ἀναγινώσκειν ἢ κτᾶσθαι; Daher befinden sich auch die im Irrtum, welche meinen, unser Werk sei schwer zu erwerben und schwer zu lesen wegen der Zahl und Länge der Bücher. Denn wieviel leichter ist es, vierzig Bücher zu erwerben und durchzulesen, die gleichsam in einem Stück gewebt sind, und in ihnen die Ereignisse in Italien, Sizilien und Libyen von der Zeit des Pyrrhus bis zur Eroberung Karthagos und in der übrigen Welt von der Flucht des Spartaners Kleomenes in ununterbrochener Folge bis zur Schlacht zwischen Achaeern und Römern auf dem Isthmos genau zu verfolgen, als lauter Monographien zu lesen oder zu kaufen?259

Gerade an solchen Stellen, an denen er über die Attraktivität seines Werkes reflektiert, zeigt sich, daß Polybios trotz seiner Stilisierung als sich selbst genügender elder statesman den unter antiken Historikern sehr weitverbreiteten Wunsch, so viele Leser wie möglich zu finden, sehr wohl teilt.260 Um so härter würde ihn

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257 Vgl. Pol. 1,1,4-1,6: αὐτὸ γὰρ τὸ παράδοξον τῶν πράξεων, ὑπὲρ ὧν προῃρήμεθα γράφειν, ἱκανόν ἐστι προκαλέσασθαι καὶ παρορμῆσαι πάντα καὶ νέον καὶ πρεσβύτερον πρὸς τὴν ἔντευξιν τῆς πραγματείας. τίς γὰρ οὕτως ὑπάρχει φαῦλος ἢ ῥᾴθυμος ἀνθρώπων ὃς οὐκ ἂν βούλοιτο γνῶναι πῶς καὶ τίνι γένει πολιτείας ἐπικρατηθέντα σχεδὸν ἅπαντα τὰ κατὰ τὴν οἰκουμένην οὐχ ὅλοις πεντήκοντα καὶ τρισὶν ἔτεσιν ὑπὸ μίαν ἀρχὴν ἔπεσε τὴν Ῥωμαίων, ὃ πρότερον οὐχ εὑρίσκεται γεγονός, τίς δὲ πάλιν οὕτως ἐκπαθὴς πρός τι τῶν ἄλλων θεαμάτων ἢ μαθημάτων ὃς προυργιαίτερον ἄν τι ποιήσαιτο τῆσδε τῆς ἐμπειρίας; („Denn das Außerordentliche der Ereignisse, über die wir zu schreiben beabsichtigen, dürfte allein schon für jeden, ob jung oder alt, ein hinreichend starker Anreiz sein, sich dem Studium unseres Werkes zu widmen. Denn wer wäre so gleichgültig, so oberflächlich, daß er nicht zu erfahren wünschte, wie und durch was für eine Art von Einrichtung und Verfassung ihres Staates beinahe der ganze Erdkreis in nicht ganz dreiundfünfzig Jahren unter die alleinige Herrschaft der Römer gefallen ist? Oder wer hätte eine solche Leidenschaft für einen anderen Gegenstand ästhetischer Betrachtung oder wissenschaftlicher Erkenntnis, daß ihm daran mehr gelegen wäre, als hiervon zu hören?“ [Übers. DREXLER 1961]). 258 Vgl. ferner z.B. Pol. 36,12 (Zurücknahme der eigenen Person in der Erzählung) mit MARINCOLA 1997, 189-192, u. ROOD 2004, 153-155, oder Pol. 14,1a (animierende Funktion der Inhaltsangaben) mit ROOD 2004, 152, sowie allg. SACKS 1981, v.a. 7f.; VERCRUYSSE 1990 u. MARINCOLA 2001, 133f. (mit weiterführender Literatur). 259 Vgl. Pol. 3,32,1-32,3 [Übers. DREXLER 1961]. 260 Eine Untersuchung der Historien unter dieser Fragestellung hat NIKOS MILTSIOS angekündigt; vgl. MILTSIOS 2009, v.a. 483.

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daher das Verdikt des Dionysios von Halikarnassos getroffen haben, der ihn in eine wenig schmeichelhafte Reihe mit anderen hellenistischen Historikern stellt: τοιγάρτοι τοιαύτας συντάξεις κατέλιπον οἵας οὐδεὶς ὑπομένει μέχρι κορωνίδος διελθεῖν, Φύλαρχον λέγω καὶ Δοῦριν καὶ Πολύβιον καὶ Ψάωνα καὶ τὸν Καλλατιανὸν Δημήτριον Ἱερώνυμόν τε καὶ Ἀντίγονον καὶ Ἡρακλείδην καὶ Ἡγησιάνακτα καὶ ἄλλους μυρίους· ὧν ἁπάντων εἰ τὰ ὀνόματα βουλοίμην λέγειν, ‚ἐπιλείψει με‘ ὁ τῆς ἡμέρας χρόνος. Sie haben jedenfalls solche Geschichtswerke verfaßt, daß es niemand über sich bringt, sie bis zum Ende zu lesen. Damit meine ich Phylarch, Duris, Polybios, Psaon, Demetrios von Kallatis, Hieronymos, Antigonos, Herakleides, Hegesianax und zahllose andere: Um all ihre Namen aufzuzählen, würde ein ganzer Tag nicht reichen.261

Da diese Aussage trotz aller Polemik als repräsentativ für die Wahrnehmung von Polybios’ Werk außerhalb der Fachwissenschaft bis in die Gegenwart hinein gelten kann,262 ist sie ein guter Ausgangspunkt für die Frage, welche Lehren seine Nachfolger in Rom aus seinem Scheitern gezogen haben und welche Folgen dies für die Entwicklung der lateinischen Historiographie bis hin zu Livius hatte. Zu diesem Zweck ist es jedoch sinnvoll, zunächst noch einmal chronologisch einen Schritt zurückzutreten und die Entwicklungen der griechischen Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit kurz in ihren Hauptlinien zu skizzieren. Dies ist nicht nur deswegen eine schwierige Aufgabe, weil in dieser Epoche so viele Geschichtswerke wie nie zuvor verfaßt wurden, diese aber nur noch in wenigen Fragmenten greifbar sind, sondern auch weil in der Forschung zur Benennung und Abgrenzung der verschiedenen in dieser Zeit entwickelten Darstellungsformen eine langjährige Kontroverse besteht, die von einer Lösung weit entfernt ist. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, daß die wenigen expliziten Aussagen in der Regel von Gegnern der jeweils beschriebenen Richtung stammen, so daß sie von Polemik, Übertreibungen und Widersprüchen nicht frei sind. Folgt man dem wahrscheinlich von Theophrast in seiner Schrift περὶ ἱστορίας vertretenen und in der älteren Forschung übernommenen Modell einer stufenweisen ‚Entartung‘ der Geschichtsschreibung im Hellenismus,263 ergibt sich folgendes Bild: Die von Herodot und vor allem Thukydides auf den Gipfel ihrer Entwicklung gebrachte seriöse Historiographie der klassischen Zeit wurde zunächst von der allgemeinen Tendenz zur Rhetorisierung erfaßt. Für die Akzentuierung der stilistischen Gestaltung auf Kosten der historischen Genauigkeit wurden vor allem die in der Antike als Schüler des Isokrates geltenden Ephoros von Kyme (* ca. 400) und Theopomp von Chios (*378/377)264 verantwortlich gemacht.265 Mit der stärkeren Berücksichtigung der rhetorischen Gestaltung habe sich auch ___________________________

261 262 263 264 265

Vgl. Dion. Hal. de comp. Verb. 4,30. Zur geringen Polybios-Rezeption auf antiken Papyri vgl. MALITZ 1990, v.a. 337f. Vgl. z.B. PETER 1911, v.a. 420f. Das Schülerverhältnis wird heute bezweifelt vgl. z.B. FLOWER 1994, 42-62. Zur negativen Bewertung des Einflusses der Rhetorik vgl. z.B. MEISTER 1990, 80-93, u. LENDLE 1992, v.a. 129f.

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der inhaltliche Schwerpunkt zur moralphilosophichen Betrachtung verschoben, so daß die Geschichtsschreibung bei ihnen zur φιλοσοφία ἐκ παραδειμάτων oder – um es mit Ciceros berühmten Worten zu sagen – zur magistra vitae wird.266 Einerseits als Fortsetzung, andererseits aber auch in Abgrenzung zu dieser rhetorischen beziehungsweise moralischen Ausprägung sollen dann vor allem Duris von Samos (* ca. 330)267 und Phylarch (* 2. Hälfte des 3. Jh. v. Chr.) die tragische oder dramatische Richtung der Historiographie entwickelt haben, indem sie die auf die Unterhaltung und emotionale Involvierung des Lesers abzielenden Strategien der Dichtung, wie sie Aristoteles in seiner Poetik beschrieben hatte, auf die Darstellung von Geschichte übertrugen.268 Diesen beiden ‚degenerierten‘ Formen sei dann von Polybios im Rekurs auf Thukydides das Konzept der πραγματικὴ ἱστορία entgegengestellt worden, in der nun wiederum die historische Genauigkeit und die Faktentreue im Vordergrund stehen sollten.269 Die diesem Beschreibungsmodell inhärenten Probleme lassen sich am Beispiel der dramatischen oder tragischen Geschichtsschreibung gut verdeutlichen. Denn als Ergebnis der langjährigen Diskussion steht die heute weitgehend geteilte Erkenntnis, daß es sich dabei weder um ein historiographisches Programm noch um eine auf den Peripatos zurückgehende ‚Schule‘ handelt.270 Vielmehr wurden unter dem Begriff – zumeist in polemischer Absicht – eine Reihe von Darstellungstechniken subsumiert, auf die prinzipiell jeder Historiker zurückgreifen konnte. Diese waren zudem schon in der Geschichtsschreibung der klassischen Zeit vorhanden, wenn sich auch im Laufe der Zeit eine Intensivierung beobachten läßt. Dies gilt in gleicher Weise für die rhetorische Geschichtsschreibung: Auch hier haben wir es weniger mit einer auf Isokrates zurückgehenden Schultradition als vielmehr mit im Laufe der Zeit entwickelten und danach prinzipiell verfügbaren Optionen der literarischen Gestaltung zu tun. Daher sollten die drei Begriffe der rhetorischen, dramatischen und pragmatischen Geschichtsschreibung am besten nur als eine Art Sammelbezeichnung der unter diesen Schlagwörtern zusammengefaßten Möglichkeiten der Darstellung begriffen werden, auf die etwa ab dem 2. Jh. v. Chr. jeder Historiker zurückgreifen konnte und die sich zudem in gewissem Umfang auch miteinander kombinieren ließen.271 ___________________________

266 Vgl. Ps.-Dion. Hal. Rhet. 11,2 u. Cic. de or. 2,36 mit z.B. WALBANK 1990, 255, aber auch FORNARA 1983, 109-122, u. FLOWER 1994, 63-97, mit differenzierteren Ansätzen. 267 Duris kritisierte das Fehlen von ἡδονή und μίμησις bei Ephoros und Theopomp; vgl. FGrHist 70 F 1 (= Phot. Bibl. 176) mit z.B. GRAY 1987 u. GATTINONI 1997, 51-55. 268 Vgl. v.a. Aristot. poet. 1451a37-b10 mit z.B. FOUCHER 2000b, 775-779. Gegen einen großen Einfluß dieser Schriften auf die antike Historiographie vgl. v.a. SPÄTH 1998, 176-181, u. MARINCOLA 2003, 298f. 269 Vgl. v.a. Pol. 2,56-59 (Kritik an Phylarch) mit MARINCOLA 2003, 295-302. 270 Zur vielverhandelten Frage des Charakters der tragischen Geschichtsschreibung vgl. v.a. SCHWARTZ 1897, 560-564; ULLMAN 1942; ZEGERS 1959; WALBANK 1960; BRINK 1960; CANFORA 1999, 44-60; MARINCOLA 2003, v.a. 287f., u. RUTHERFORD 2007. 271 Vgl. z.B. DUFF 2003, 53f.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Die Gründe für die erhebliche Weiterentwicklung der historiographischen Darstellungstechniken zwischen dem 4. und 2. Jh. v. Chr. sind in den allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der hellenistischen Zeit zu suchen. Die Kombination aus wirtschaftlicher Blüte und Ablösung der traditionellen Polisgesellschaft durch die Monarchien der Diadochenreiche hat dazu geführt, daß sich das Lesepublikum für Geschichtsschreibung nicht nur deutlich verbreitert, sondern in seinen Interessen zudem verändert hat. Während für den Rezipienten der klassischen Zeit das eigene politische oder militärische Handeln in einer verantwortlichen Position durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen konnte, kommt nun verstärkt eine ‚private‘ Perspektive auf die Geschichte zum tragen. Diese äußert sich sowohl in einem größeren Interesse an der ethischen Dimension des Handelns der historischen Akteure als auch in der gestiegenen Bedeutung der Unterhaltung durch die Form und die Inhalte der Darstellung.272 Auf der Seite der Produzenten historiographischer Literatur führen diese Entwicklungen zu einem intensiveren Nachdenken über die Rolle des Lesers,273 das den Autoren der klassischen Zeit weitgehend fremd war.274 Die mit dieser Überlegung verbundenen Fragestellungen werden ebenso wie die als Antwort entwickelten Darstellungstechniken durch das Werk des Polybios – und trotz der Polemik gegen die von ihm abgelehnten Lösungen – in Rom seit der Mitte des 2. Jh. v. Chr. intensiv diskutiert. Die Folgen aus der neuen Wahrnehmung von Geschichtsschreibung als Literatur und Dialog des Autors mit dem Leser statt nur der Vermittlung von nützlichem Wissen an eine unbestimmte Mitund Nachwelt hat als erster Coelius Antipater gezogen. Er hat für sein Werk nicht nur den Wahrheitsanspruch der pragmatischen Historiographie reklamiert,275 sondern nach Ausweis der wenigen Fragmente auch die übrigen seit hellenistischer Zeit entwickelten Formen rezipiert: So kommt ihm nicht nur eine Pionierrolle bei der rhetorischen Stilisierung des Textes, 276 sondern auch für die Verwendung solcher Techniken zu, die – wie die Wiedergabe von Reden auch der Gegenseite277 – der Dramatisierung des Geschehens und Erzeugung von Spannung dienen. ___________________________

272 Vgl. GABBA 1981; FORNARA 1983, 122-134; MALITZ 1990, 334-337; FUHRER 1996, v.a. 120f., aber auch MARINCOLA 1997, 23: „But if the rate of literacy in antiquity was low, we would only be talking about various distinctions among the elite, not upper- and lowerclass audiences. ... It is quite possible, that the same reader could turn to several types of history for different experiences.“ 273 Dies gilt für die anderen Gattungen in analoger Weise; vgl. EFFE 2007, 280-283. 274 Vgl. MALITZ 1990, 327: „Für ihn [sc. Herodot] scheint die Frage, ob sein Werk genügend Anerkennung finden werde, überhaupt nicht existiert zu haben. In seinen neun Büchern gibt es, wenn ich nichts übersehen habe, keine einzige Erwähnung des tatsächlichen oder des von Herodot wenigstens gewünschten Publikums, etwa im Sinne von Polybios’ zahlreichen Bemerkungen zur Leserfrage.“ 275 Vgl. v.a. FRH 11 F 1 (= Prisc. gramm. 8): ex scriptis eorum, qui veri arbitrantur. 276 Vgl. Cic. leg. 1,6 u. FRH 11 F 2 (= Cic. or. 229-230). 277 Vgl. z.B. FRH 11 F 4-8 mit BECK / WALTER 2004, v.a. 38f.; s. unten S. 146 u. 172.

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II. Kontexte und Transformationen

Die Auseinandersetzung mit dem Theorieangebot der hellenistischen Historiographie und die Weiterentwicklung ihrer Darstellungstechniken durch die römischen Autoren läßt sich im folgenden sowohl bei Sempronius Asellio278 als auch bei Cornelius Sisenna beobachten. Daß Sisenna trotz der Entscheidung für die ‚seriösere‘ Zeitgeschichte279 in seinem Werk vor Dramatisierungen nicht zurückschreckte, wie der von Cicero gezogene Vergleich mit der für ihre romanhaften Züge berüchtigten Alexandergeschichte Kleitarchs nahelegt,280 zeigt ebenso wie seine später von Sallust aufgegriffene Archaisierung, die einen deutlichen Willen zur rhetorischen Stilisierung verrät,281 daß auch er die unterschiedlichen Angebote der hellenistischen Historiographie kannte und zu kombinieren verstand.282 Das gleiche gilt auch für die ‚jüngeren Annalisten‘. Vor allem diese Autoren haben – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Wandlungen in der gesellschaftlichen Verankerung historischen Wissens283 einerseits und der nun auch in Rom zu beobachtenden Ausdehnung des Lesepublikums andererseits284 – die Unterhaltung ihrer Rezipienten in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt. Dies zeigt sich in erster Linie daran, daß sie in ihren Werken trotz der prinzipiellen Entscheidung für das traditionelle Schema der Annalistik eine große Zahl moderner Darstellungstechniken zur Anwendung gebracht haben, die auf die stilistische Durchgestaltung des Textes einerseits und die erzählerische Dramatisierung der Handlung andererseits abzielen, ohne dabei jedoch auf den Wahrheitsanspruch der pragmatischen Geschichtsschreibung zu verzichten.285 Gerade die Fragmente der ‚jüngeren Annalistik‘ bilden daher auch ein wichtiges Bindeglied für die Situation in der Späten Republik. Hier erlaubt es die gute Zeugnislage, die vor allem durch die umfangreiche Überlieferung der Schriften Ciceros bedingt ist, den zeitgenössischen Diskurs über Historiographie, in dem vor allem der Reiz, den diese auf ihre Leser ausübt, eine zentrale Rolle spielt, zumindest teilweise zu rekonstruieren.286 In diesem Zusammenhang wird zwar häufig betont, daß die Geschichtsschreibung schon allein durch ihre Gegenstände die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten finden und aufrecht erhalten könne. Diese ___________________________

278 279 280 281 282 283 284 285 286

Vgl. v.a. FRH 12 F 1-2; s. oben S. 49f. S. oben S. 50. Vgl. Cic. leg. 1,7 mit RAWSON 1979, 339f., u. BECK / WALTER 2004, 243. Vgl. Cic. Brut. 259 mit RAWSON 1979, 342-345. Daß Sisenna in der Entwicklung der Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle spielt, wird auch durch Varros Abhandlung Sisenna vel de historia nahegelegt, auch wenn sich von ihr nur der Titel erhalten hat (vgl. Gell. 16,9,5 mit FORNARA 1983, 71). S. oben S. 18-37. S. oben S. 38-45. Vgl. TIMPE 1979, 105; SCHULLER 1993, 175-179; WALTER 2003b, 143-155, u. dag. BADIAN 1966, 19f., der die jüngere Annalisten als „mere entertainers“ charakterisiert. Zum 1. Jh. v. Chr. als einer Epoche des intensiven Nachdenkens über Geschichtsschreibung vgl. FORNARA 1983, 137: „This age witnessed the popularity of history, and a sense of its importance, never matched before or since in antiquity; it was a veritable renaissance, reflective and critical as well as creative.“

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Beobachtung wurde von Vitruv – in Abgrenzung zu seiner ungefähr um das Jahr 30 v. Chr. entstandenen Fachschrift über die Architektur – apodiktisch zugespitzt: historiae per se tenent lectores; habent enim novarum rerum varias exspectationes („Geschichtswerke fesseln ihre Leser von ganz allein; enthalten sie doch viele Elemente der Erwartung in Hinsicht auf noch unbekannte Entwicklungen.“).287 Aus der Konstatierung der intrinsischen Motivation der Geschichtsschreibung wird jedoch nicht der Schluß gezogen, der literarischen Form und der stilistischen Gestaltung kein Gewicht beizumessen. Welche Steigerung diese Aspekte durch die angemessene Art der Darstellung noch erfahren können, legt Cicero in seinem vielbesprochenen Brief an L. Lucceius288 dar. In diesem Schreiben aus dem Jahre 56/55 v. Chr. bittet er ihn um eine historiographische Darstellung seines Konsulats und führt, nachdem er sich für eine Monographie ausgesprochen hat,289 näher aus, welchen Reiz diese Ereignisse auf den Leser ausüben würden: multam etiam casus nostri varietatem tibi in scribendo suppeditabunt plenam cuiusdam voluptatis, quae vehementer animos hominum in legendo te scriptore tenere possit. nihil est enim aptius ad delectationem lectoris quam temporum varietates fortunaeque vicissitudines. quae etsi nobis optabiles in experiendo non fuerunt, in legendo tamen erunt iucundae. habet enim praeteriti doloris secura recordatio delectationem; ceteris vero nulla perfunctis propria molestia, casus autem alienos sine ullo dolore intuentibus, etiam ipsa misericordia est iucunda. quem enim nostrum ille moriens apud Mantineam Epaminondas non cum quadam miseratione delectat? qui tum denique sibi evelli iubet spiculum postea quam ei percontanti dictum est clipeum esse salvum, ut etiam in vulneris dolore aequo animo cum laude moreretur. cuius studium in legendo non erectum Themistocli fuga redituque retinetur? etenim ordo ipse annalium mediocriter nos retinet quasi enumeratione fastorum; at viri saepe excellentis ancipites variique casus habent admirationem, exspectationem, laetitiam, molestiam, spem, timorem; si vero exitu notabili concluduntur, expletur animus iucundissima lectionis voluptate. ___________________________

287 Vgl. Vitr. 5 praef. 1 sowie ferner Plin. epist. 5,8,4: orationi enim et carmini parva gratia, nisi eloquentia est summa: historia quoquo modo scripta delectat. sunt enim homines natura curiosi, et quamlibet nuda rerum cognitione capiuntur, ut qui sermunculis etiam fabellisque ducantur. („Rede und Dichtung finden ja nur wenig Anklang, wenn sie stilistisch nicht vollkommen sind. Geschichte dagegen erfreut auch unabhängig von ihrer Schreibart. Denn die Menschen sind von Natur aus neugierig und werden bereits durch die Kenntnis neuer Dinge an sich gefesselt, so daß sie sogar von Klatsch und Märchen in den Bann geschlagen werden.”) u. Tac. ann. 4,33,3: nam situs gentium, varietates proeliorum, clari ducum exitus retinent ac redintegrant legentium animum („Denn die geographische Situation der Völker, die Wechselfälle der Kämpfe, die ruhmvollen Tode der Anführer erhalten und wecken immer wieder von neuem das Interesse der Leser.“). 288 Von einer Tätigkeit des Praetors von 67 v. Chr. als Historiker hören wir nur hier: vgl. Cic. fam. 5,12,2 mit FLECK 1993, 199-202, u. FLACH 1998, 95. 289 Vgl. Cic. fam. 5,12,4. Zu Ciceros cupiditas immortalitatis als legitimer Erwartungshaltung gegenüber der historiographischen Monographie vgl. MARINCOLA 2003, 303306, u. für eine Interpretation als ironischer Auseinandersetzung mit dieser Hoffnung vgl. FOX 2007, 256-263.

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II. Kontexte und Transformationen Meine Schicksale werden Dir auch reiche, nicht ganz reizlose Abwechslung bieten, die die Leute in Deiner Darstellung beim Lesen in ihren Bann ziehen könnte. Nichts ist ja besser geeignet, den Leser zu fesseln, als der bunte Wechsel von Ereignissen und Schicksalen. Freilich, ich persönlich habe, als ich mich ihm ausgesetzt sah, nicht eben viel Freude daran gehabt, aber davon zu lesen, ist doch nicht unangenehm; hat doch die sorglose Erinnerung an vergangene Leiden etwas Angenehmes an sich. Bei allen anderen aber, die persönlich keine Unbill erfahren haben und fremde Schicksale ohne Schmerz betrachten können, löst gerade das Nachempfinden ein Gefühl der Lust aus. Wem von uns bringt nicht der bei Mantinea im Sterben liegende Epaminondas neben einem Gefühl des Bedauerns ästhetischen Genuß? Der sich erst dann den Speer aus der Wunde reißen ließ, als man ihm auf seine Frage versicherte, sein Schild sei geborgen, und so, trotz seiner schmerzenden Wunde noch wohlgemut, einen ruhmvollen Tod fand? Wer fühlte sich nicht aufs tiefste gepackt, wenn er von Themistocles’ Flucht und Heimkehr liest? Eine annalistische Aufreihung von Tatsachen, gleichsam eine kalendarische Tabelle, vermag uns doch nur mäßig zu interessieren; eines hervorragenden Mannes oft wechselnde, gefahrvolle Erlebnisse dagegen wecken Bewunderung, Spannung, Freude, Unbehagen, Furcht und Hoffnung, und finden sie dann gar ihren Abschluß mit einem denkwürdigen Ausgang, dann empfindet der Leser ein ungetrübtes Entzücken.290

Daß Cicero die reine Aufzählung historischer Ereignisse in der Form der Chronik als ungenügend gegenüber der literarisch gestalteten Schilderung darstellt und Lucceius bittet, zu seinen Gunsten die leges historicae außer Kraft zu setzen,291 hat ihm ebensoviel Kritik eingetragen wie die Forderung nach einer rhetorischen exaedificatio der geschichtlichen Fakten, die er von Antonius in de oratore vortragen läßt.292 Zugleich sind seine Äußerungen aber auch als aufschlußreiche Reflexe der historiographischen Debatte seiner Zeit erkannt worden. Ihre Interpretation litt jedoch lange darunter, daß man einerseits ihrem jeweiligen Kontext und den mit ihnen verfolgten argumentativen Zielen nicht genug Beachtung schenkte und andererseits versuchte, alle Bemerkungen zur Historiographie in ein einziges Theoriemodell zu integrieren. Doch gerade Ciceros Ansatz, je nach Intention auf verschiedene Darstellungsformen zu rekurrieren, ist typisch für die zeitgenössische Diskussion. Aus diesem Grund kann auch nur darüber spekuliert werden, ob er in Livius’ Werk die Realisierung seiner Vorstellungen erblickt hätte.293 ___________________________

290 Vgl. Cic. fam. 5,12,4-12,5 [Übers. KASTEN 1964]. 291 Vgl. Cic. fam. 5,12,3: itaque te plane etiam atque etiam rogo, ut et ornes ea vehementius etiam, quam fortasse sentis, et in eo leges historiae neglegas … („Darum bitte ich Dich rundheraus ein übers andre Mal, meine Taten noch krasser herauszustreichen, als es vielleicht dem Gefühl entspricht, die Gesetze der Geschichtsschreibung dabei einmal außer acht zu lassen …“ [Übers. KASTEN 1964]); mit HALL 1998. 292 Vgl. Cic. de or. 2,62-65 sowie zu Ciceros historiographischer Konzeption allg. z.B. RAWSON 1972; PETZOLD 1972; WISEMAN 1979, 27-40; BRUNT 1980; WOODMAN 1988, 70-116; FLECK 1993; PORCIANI 1997, 142-155; FELDHERR 2003; FANTHAM 2004, 147-152; FOX 2007, 111-208; PITCHER 2009, 14-24, u. LAIRD 2009, 198-204. 293 Vgl. dafür z.B. LEEMAN 1955; MCDONALD 1957, 160; OGILVIE 1965, 19; MOLES 1993, 146f.; FOUCHER 2000, 78-80, u. MINEO 2006, 20, sowie dag. z.B. RAMBAUD 1953; MELLOR 1999, 51f., u. FELDHERR 2003, 204.

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Während die dem Antonius in den Mund gelegten Überlegungen naheliegenderweise Berührungspunkte mit der rhetorischen Form der Geschichtsschreibung zeigen, läßt sich der Brief an Lucceius mit dramatischen Darstellungskonventionen in Verbindung bringen.294 Das Schreiben kann daher – unabhängig von der Frage, ob Cicero in ihm einer verlorenen griechischen Vorlage folgt oder nicht – den Stand der Diskussion zu einer auf die emotionale Wirkung bei dem Leser angelegten historiographischen Darstellung in der Späten Republik verdeutlichen. Dies gilt einerseits für die Struktur der gesamten Erzählung, die mit Blick auf die Interessen der Rezipienten nicht nur Abwechslung (varietas) bieten,295 sondern möglichst die Form einer geschlossenen Handlung (quasi fabula rerum eventorumque nostrorum) mit klar voneinander getrennten Akten und sorgsam gestalteten Peripatien (varii actus multaeque ationes et consiliorum et temporum) annehmen soll.296 Es gilt aber auch für die detaillierte Schilderung einzelner Szenen, vor allem wenn ein bereits an sich mitleiderregendes Geschehen in einer diesen Effekt noch steigernden Weise dargestellt wird, wie es Cicero am Beispiel des auf dem Schlachtfeld von Mantinea sterbenden Epaminondas verdeutlicht.297 Im Zentrum der von Cicero hier entfalteten Überlegungen steht jedenfalls der Wunsch des Historikers, das Interesse der Leser an seiner Darstellung zu wecken und aufrechtzuerhalten (studium in legendo erectum retinetur). Als bester Weg, dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt er hier, auf Seiten des Rezipienten voluptas und delectatio zu erzeugen, und zwar indem man ihm ermöglicht, das historische Geschehen emotional nachzuvollziehen, so daß sich aus der affektiven Involvierung und dem gleichzeitigen Bewußtsein der Distanz das Lesevergnügen ergeben kann.298 Als weitere Kategorie kommt die Spannung hinzu, für die es zwar keinen antiken Begriff gibt, deren Bedeutung sich aber aus den Bemerkungen zur exspectatio und curiositas der Leser eines Geschichtswerkes erschließen läßt.299 Nimmt man schließlich noch die Faszination durch unbekannte Schauplätze und die Beschreibung ihrer exotischen Bewohner in den Blick, wie sie Cicero als besondere Attraktion der Schrift seines Bruders Quintus über Caesars Britannien___________________________

294 Vgl. zuerst REITZENSTEIN 1906, 84-91, sowie ferner v.a. ULLMAN 1942, 50f.; ZEGERS 1959, 80-85; PETZOLD 1972, 272-274, u. FOUCHER 2000b, 782-785. Daß Cicero an solchen Techniken interessiert war, zeigt sein positives Urteil über Duris von Samos (vgl. Cic. Att. 6,1,18: homo in historia diligens mit z.B. GENTILI / CERRI 1988, 56f.). 295 Vgl. Cic. fam. 5,12,4. 296 Vgl. Cic. fam. 5,12,6. 297 Vgl. Cic. fam. 5,12,5; zum Zusammenhang mit der rhetorischen Theorie und zu ihrer Bedeutung für die antike Geschichtsschreibung vgl. MARINCOLA 2003, v.a. 288-293. 298 Vgl. KRASSER 1996, 29-42, v.a. 34: „Voluptas und delectatio sind die entscheidenden Stichworte. Das Lesevergnügen speist sich einerseits aus dem Gefühl des Mitleidens am unheilvollen Geschehen, andererseits aus dem Wissen um die Distanz des Lesers zum Geschilderten.“ 299 Vgl. Cic. fam. 5,12,5; Vitr. 5 praef. 1 u. Plin. ep. 5,8,4; s. unten S. 193-195.

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II. Kontexte und Transformationen

expedition hervorhebt300 und deren Reiz auch auf andere antike Leser bezeugt ist, ergibt sich ein vielfältiges Spektrum von Darstellungsformen, mit deren Hilfe in der Geschichtschreibung für die Unterhaltung des Lesers gesorgt werden kann.301 Die antiken Zeugnisse versuchen in der Regel diese Form der Historiographie und ihre Wirkung auf den Leser durch Vergleiche mit der Tragödie zu erklären. Für den modernen Betrachter ergibt sich jedoch eine ebenso große Nähe zu dem von der antiken Literaturtheorie bekanntermaßen weitgehend ignorierten Roman. Die engen Parallelen zwischen beiden Gattungen in Bezug auf die Handlung und die narrative Präsentation des Geschehens302 haben nicht zuletzt zu der vieldiskutierten These einer Entwicklung des Romans aus der Geschichtsschreibung der hellenistischen Zeit geführt.303 Diese Kontroverse muß hier nur insoweit interessieren, als sie die Frage berüht, ob wir im Rom des 1. Jh. v. Chr. von Romanen als Konkurrenz zur Geschichtsschreibung ausgehen können. Sichere Aussagen hierzu sind jedoch nicht möglich, da trotz aller Schwierigkeiten der Datierung im einzelnen davon ausgegangen wird, daß alle erhaltenen Texte der Gattung aus der Kaiserzeit stammen. Es läßt sich zwar mit guten Gründen vermuten, daß die frühesten Beispiele – vor allem der Alexanderroman sowie die vermeintlichen Augenzeugenberichte vom trojanischen Krieg – in ihren ‚Urfomen‘ bereits in hellenistischer Zeit entstanden sind, doch fehlen auch hierfür eindeutige Belege. Noch schwieriger ist die Lage für den lateinischen Roman: Einzig Ovids Hinweis auf einen Sisenna, der die μιλησιακά des Aristides von Milet übersetzt haben soll, bei denen es sich vielleicht um die als fabula Milesia bekannte Form des erotischen Romans gehandelt hat, steht hier zur Verfügung.304 Da die Identifizierung mit dem gleichnamigen Historiker ebenfalls umstritten ist,305 bleibt mit dem Jahr 9 n. Chr. nur das Abfassungsdatum der Tristien als terminus ante quem. Doch auch wenn die Existenz von Romanen in der Späten Republik nicht bewiesen werden kann, so ist die Nähe zwischen beiden Formen von ‚Unterhaltungsliteratur‘ mit Blick auf die antike Wahrnehmung dennoch von Interesse.306 ___________________________

300 Vgl. Cic. ad Quint. 2,15,4: o iucundas mihi tuas de Britannia litteras! timebam Oceanum, timebam litus insulae; reliqua non equidem contemno, sed plus habent tamen spei quam timoris, magisque sum sollicitus exspectatione ea quam metu. („Wie freue ich mich über das, was Du von Britannien schreibst! Ich hatte Angst vor dem Ozean, Angst vor den schroffen Küsten des Landes. Zwar nehme ich auch das Weitere nicht leicht, aber es bietet doch mehr Anlaß zu Hoffnung als zu Angst, und was mich in Unruhe versetzt ist weniger Furcht als Spannung auf den Fortgang.“ [KASTEN 1965]). 301 Vgl. zusammenfassend KRASSER 2002, 1007. 302 Vgl. z.B. FUHRMANN 1983, 19-22, u. HOLZBERG 2001, 45f. 303 Vgl. zuerst SCHWARTZ 1896 u. dag. PERRY 1967, 32-43, sowie ferner MOMIGLIANO 1998 [1978], 16f.; TREU 1984; HOLZBERG 2001, 46f., u. MORGAN 2007. 304 Vgl. Ov. trist. 2,443-444: vertit Aristiden Sisenna, nec obfuit illi, // historiae turpis inseruisse iocos. 305 Vgl. v.a. RAWSON 1979, 331-333; zum Historiker Sisenna s. oben S. 27 u. 58. 306 Vgl. KRASSER 2002, 1008.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Derartige Überlegungen, in denen die Unterhaltung der Leser programmatisch zu einem Ziel der historiographischen Darstellung wird, hätte Polybios sicherlich scharf kritisiert. Und dennoch hat gerade die Rezeption seines Werkes und seiner Überlegungen zu verschiedenen Arten der Beschreibung der Vergangenheit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines vielfältigen Repertoires historiographischer Darstellungsmöglichkeiten in Rom geleistet, unter denen die von ihm favorisierte pragmatische Geschichtsschreibung nur noch eine unter mehreren war. Aus diesen Optionen, wie wir sie bei Cicero weitgehend vollständig greifen können, wählen auch die Historiker der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. diejenigen Elemente aus, die ihnen für ihren jeweiligen Gegenstand passend erscheinen. Ein bewußtes Kombinieren von Darstellungstechniken ganz unterschiedlicher Provenienz in ein und demselbem Werk zeigt sich in den wenigen Fragmenten, die sich von der in den 30er Jahren des 1. Jh. v. Chr. entstandenen Gesamtgeschichte des Aelius Tubero, der als letzter Vertreter der ‚jüngeren Annalistik‘ und Freund Ciceros bekannt ist,307 erhalten haben, ebenso wie in den zeithistorischen Monographien Sallusts oder des Asinius Pollio. Im Falle von Sallusts de coniuratione Catilinae (ca. 42 v. Chr.) und de bello Iugurthino (ca. 40 v. Chr.) gibt der erhaltene Text selbst Aufschluß darüber, daß nicht nur auf die im Anschluß an Polybios betonte Tradition des Thukydides,308 sondern auch auf die übrigen hellenistischen Formen zurückgegriffen wurde.309 Beim verlorenen Werk Pollios sind wir hingegen wieder auf indirekte Zeugnisse angewiesen. Immerhin können wir mit dem an ihn gerichteten Eröffnungsgedicht von Horaz’ 2. Odenbuch auf einen Text zurückgreifen, der die Darstellung der Bürgerkriegsgeschichte zwischen den Polen der rationalen Erklärung des Geschehens in der pragmatischen Tradition auf der einen und der auf die emotionale Involvierung der Leser zielenden Schilderung auf der anderen Seite einordnet: motum ex Metello consule civicum bellique causas et vitia et modos ludumque Fortunae gravisque principium amicitias et arma nondum expiatis uncta cruoribus, periculosae plenum opus aleae, tractas et incedis per ignis suppositos cineri doloso. Der Streit, der begann unter Metellus, dem Konsul, zwischen den Bürgern, des Kriegs Gründe, Greuel, sein Verlauf, das Spiel der Fortuna und die unheilvollen Bündnisse der Führer, die Waffen,

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307 Zum biographischen Hintergrund s. oben S. 26 Anm. 67. Zum unterhaltenden Charakter des Werkes vgl. v.a. FRH 18 F 5-6 (= Gell. 7,3) mit KRASSER 1996, 35f., und BECK / WALTER 2004, 347f. 308 Vgl. SCANLON 1980 u. SCHMAL 2001, 148-153. 309 Vgl. z.B. PERROCHAT 1949; FLACH 1998, v.a. 110-115, u. SCHMAL 2001, 140-148.

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II. Kontexte und Transformationen besudelt mit noch ungesühntem Blut: Ein Werk, gefährlich, voll des Wagemuts, beginnst du, schreitest hin durch Gluten, die verborgen noch unter Asche voll Trug.310

Vor dem Hintergrund der Verfügbarkeit unterschiedlicher historiographischer Theorien und Darstellungstechniken im Rom der 30er Jahre des 1. Jh. v. Chr. ist auch die Konzeption von Livius’ ab urbe condita zu sehen. Hält man sich diesen Kontext vor Augen, kann auch die Beobachtung, daß die einzelne Abschnitte zum Teil erhebliche Unterschiede in ihrer literarischen Form aufweisen,311 nicht verwundern. Entgegen der bis in die Antike zurückgehenden Versuche, Livius’ Art der Darstellung in eine einzige Traditionslinie einzuordnen – das berühmteste Beispiel ist Quintilians Vergleich mit Herodot in stilistischer Hinsicht312 –, muß damit gerechnet werden, daß je nach Gegenstand und intendierter Wirkung auf unterschiedliche Darstellungstechniken zurückgegriffen wurde.313 Diese konnten nicht nur vom Autor ausgewählt und kombiniert werden, sondern dürften von einem Großteil der zeitgenössischen Rezipienten zudem erkannt und in ihrem jeweiligen Aussagewert verstanden worden sein. In dieser Hinsicht folgt Livius’ Ansatz also sowohl der theoretischen Debatte über die Historiographie als auch der praktischen Umsetzung in der Mitte des 1. Jh. v. Chr., in denen sich einerseits die Erweiterung möglicher Arten von Geschichtsschreibung und andererseits eine stärkere Berücksichtigung der Rolle des Lesers zeigt. Eine Vorreiterrolle kommt Livius dabei – zumindest nach der Lage unserer Überlieferung – vor allem deswegen zu, weil er als erster Historiker das Interesse am Stoff und die delectatio des Rezipienten explizit als eines der mit seinem Werk verfolgten Ziele benennt.314 ___________________________

310 Vgl. Hor. c. 2,1,1-8 [Übers. KYTZLER 1992] mit ULLMAN 1942, 50f.; ANDRÉ 1949, 61-66; COULTER 1952, 36; ZECCHINI 1982, 1281f.; FORNARA 1983, 75f.; GRIMAL 1990 u. WOODMAN 2003. 311 Vgl. bereits NIEBUHR 1846, 46: „Wenn wir das Werk des Livius aufmerksam betrachten, so finden wir es erstaunlich ungleich gearbeitet. Die verschiedenen Dekaden sind wesentlich von einander verschieden und in der ersten Dekade das erste Buch von den übrigen.“ sowie ferner v.a. LEVENE 1993, 241f., u. LEVENE 2007, 283f. 312 Vgl. Quint. inst. 10,1,101: nec opponere Thucydidi Sallustium verear, nec indignetur sibi Herodotus aequari Titum Livium, cum in narrando mirae iucunditatis clarissimique candoris, tum in contionibus supra quam enarrari potest eloquentem… („Weder würde ich mich scheuen, dem Thukydides den Sallust entgegenzustellen, noch könnte es Herodot übelnehmen, daß Titus Livius ihm gleichgestellt wird, der in seiner Erzählkunst wunderbare Lieblichkeit und die klarste Lauterkeit, zumal aber in seinen Volksreden eine schier unbeschreibliche Beredsamkeit zeigt: ...“ [Übers. RAHN 1995]). 313 Zu den intertextuellen Bezügen auf Thukydides vgl. RODGERS 1986 u. POLLEICHTNER 2010a; zum Einfluß der sog. tragischen Historiographie vgl. v.a. BURCK 1964 [1934], 176-233, u. WALSH 1961, 40-42.173-190. 314 Vgl. z.B. Liv. praef. 5 u. Liv. 43,13,2; ausführlicher s. unten S. 71-74.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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c) Für die Wissenschaft oder den Buchmarkt? Wandel im 1. Jh. v. Chr. Die gestiegene Bedeutung des Rezipienten in der historiographischen Theorie des 1. Jh. v. Chr., läßt sich durch die in den letzten beiden Abschnitten skizzierten gesellschaftlichen und innerliterarischen Entwicklungen bereits zu einem großen Teil erklären. Als einen weiteren Grund für die stärkere Betonung des Lesers und seiner Interessen sollen nun die veränderten Produktionsbedingungen historiographischer Literatur in der Späten Republik in den Blick genommen werden. Hierbei kommt vor allem dem sich im 1. Jh. v. Chr. in Rom und anderen Städten des westlichen Mittelmeeres etablierenden Buchhandel eine wichtige Rolle zu, dessen Folgen für die Verfügbarkeit von Literatur wir schon angesprochen haben.315 Doch die Existenz eines vergleichsweise dichten Netzes von gewerblich tätigen Verlegern und Händlern, das die traditionellen privaten ‚Vertriebswege‘ ergänzte, hatte nicht nur Folgen für die Leser, sondern auch für die Produzenten historiographischer Werke. Die vielleicht wichtigste Veränderung findet in der Wahrnehmung einer literarischen Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser statt. Diese wird unter anderem an der veränderten Konzeption des Adressaten durch die Autoren deutlich: Während in der Republik häufig ein namentlich genannter Widmungsträger angesprochen wird, tritt ab der 2. Hälfte des 1. Jh. Chr. zunehmend ein anonymer lector als Stellvertreter des imaginierten Lesepublikums an seine Stelle, wie sich insbesondere bei Ovid beobachten läßt.316 Trotz der fragmentarischen Überlieferung läßt sich der Prozeß auch für die Geschichtsschreibung in seinen Grundzügen nachvollziehen:317 Während für Coelius Antipater mit dem Grammatiker Aelius Stilo ein namentlicher Adressat bezeugt ist318 und Claudius Quadrigarius sein Werk einer – im erhaltenen Text nicht genannten – Person, wahrscheinlich seinem Gönner, gewidmet hat,319 wendet sich Sallust zu Beginn seiner Werke mit ausführlichen Rechtfertigungen der Tätigkeit als Schriftsteller an ein deutlich breiteres und anonym bleibendes Publikum.320 Livius intensiviert diesen Dialog schließlich noch, in dem er eine Kommunikation mit dem häufig in der 2. Person Singular direkt angesprochenen lector als einem imaginären Gegenüber des Autors inszeniert.321 ___________________________

315 S. oben S. 43f. 316 Vgl. v.a. Ov. trist. 3,1 mit KRASSER 2005, 370: „Deutlichstes Zeichen für diese Entwicklung ist die Behandlung des Adressaten in Ovids Œuvre, in dem häufig nicht ein Freund oder Repräsentant eines literarischen Zirkels namentlich genannt ist, sondern schlicht vom lector gesprochen wird, der offenkundig ein urban geprägtes Lesepublikum evoziert.“ 317 Vgl. allg. MARINCOLA 1997, 55f., der auch auf die Schwierigkeit hinweist, daß ein Geschichtswerk durch eine Widmung den Verdacht der Parteilichkeit hervorruft. 318 Vgl. FRH 11 F 2 u. 26. 319 Vgl. FRH 14 F 80 (= Gell. 1,7,9) mit KIERDORF 2003, 48, u. BECK / WALTER 2004, 109. 320 Vgl. Sall. Catil. 1-4 u. Iug. 1-4. 321 Ausführlicher s. unten S. 71-74.

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II. Kontexte und Transformationen

Angesichts dieser Entwicklungen ist darüber hinaus auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Historiker des 1. Jh. v. Chr. ihre Werke nicht primär für die ‚Fachkollegen‘ und mit dem Wunsch der Überlieferung bei der Nachwelt geschrieben haben, sondern unter anderem mit dem Ziel einer möglichst großen Verbreitung in der Gegenwart. Dieser Gedanke wäre vor dem Hintergrund der breite gesellschaftliche Kreise umfassenden Begeisterung für historische Gegenstände322 um so naheliegender, wenn in der Antike mit dem Verfassen eines Geschichtswerkes auch merkantiler Erfolg angestrebt werden konnte. Gegen diese Vermutung sprechen jedoch gute Gründe, die sich nicht zuletzt aus der Warnung ergeben, Verhältnisse der eigenen Zeit unreflektiert auf die Antike zu übertragen. Das gilt in diesem Zusammenhang vor allem für den Schutz der geistigen Urheberschaft als wichtiger Voraussetzung für die wirtschaftliche Verwertung literarischer Produkte. Eine solche Regelung läßt sich zwar juristisch für keine antike Epoche nachweisen, doch kann für die Späte Republik zumindest die moralische Verpflichtung zur Respektierung geistigen Eigentums angenommen werden.323 Daraus und aus den Nachrichten über den Buchhandel der Kaiserzeit kann der Schluß gezogen werden, daß es auch ohne einklagbaren Honoraranspruch in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. prinzipiell möglich war, mit dem Schreiben von Büchern Geld zu verdienen.324 Obwohl wir keine zeitgenössischen Zeugnisse zur Rolle des Buchhandels bei der Verbreitung des livianischen Werkes haben und der erste Beleg für die ökonomische Bedeutung seiner Schriften erst aus der Mitte des 1. Jh. n. Chr. stammt, wenn Seneca der Jüngere einen sonst nicht weiter bekannten Dorus als offenbar erfolgreichen Verleger von ab urbe condita erwähnt,325 läßt sich doch mit guten Gründen annehmen, daß sich Livius bereits beim sukzessiven Verfassen seines Werkes mit diesen Bedingungen auseinandergesetzt hat. Denn selbst wenn es in dieser Zeit nicht möglich war, mit dem Verkauf von Büchern Geld zu verdienen, so erlaubte es die Infrastruktur von Buchmarkt und Bibliotheken doch über die – für antike Verhältnisse enorme – Verbreitung der eigenen Schriften ein hohes Maß an gesellschaftlichen Prestige zu erlangen. ___________________________

322 Zur sozialen Ausweitung des Interesses an Geschichtsschreibung s. oben S. 38-45. 323 Vgl. SCHICKERT 2005, 52-79, die sich auf Ciceros Beschwerde gegenüber Atticus wegen der vorzeitigen Veröffentlichung von de finibus beruft (Cic. Att. 13,21,4). 324 Vgl. SCHICKERT 2005, 79-99, dag. für ein skeptischeres Bild WINSBURY 2009, v.a. 62. 325 Vgl. Sen. de ben. 7,6,1: libros dicimus esse Ciceronis; eosdem Dorus librarius suos vocat, et utrumque verum est: alter illos tamquam auctor sibi, alter tamquam emptor adserit; ac recte utriusque dicuntur esse, utriusque enim sunt, sed non eodem modo. sic potest Titus Livius a Doro accipere aut emere libros suos. („Wir sprechen von den Büchern Ciceros, die gleichen nennt aber auch der Händler Dorus die seinen, und beides ist wahr: Der eine beansprucht sie als ihr Autor, der andere als ihr Käufer; und zu recht nennt man beide ihren Besitzer, sie gehören nämlich beiden, wenn auch auf unterschiedliche Weise. So kann auch Livius seine eigenen Bücher von Dorus kaufen und erhalten.“) mit z.B. DZIATZKO 1894, 571f., u. SCHICKERT 2005, 21f.

2. Die Entwicklung der literarischen Geschichtsschreibung in Rom

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Die soziale Anerkennung durch literarischen Erfolg dürfte für Livius, der als Mitglied der Oberschicht des für seinen Reichtum bekannten Pataviums326 wohl finanziell unabhängig war,327 ohnehin erstrebenswerter gewesen sein. Zumal literarischer Ruhm als Alternative zu politischen oder militärischen Erfolgen auch generell für die Angehörigen der römischen Oberschicht nun eine immer größere Rolle zu spielen beginnt; eine Entwicklung die sich in der Kaiserzeit fortsetzen und ihren Höhepunkt in der Bildungskultur des 2. Jh. n. Chr. finden wird.328 Daß auch die Geschichtsschreibung ein Teil dieses Prozesses ist, kann erneut die Argumentation Sallusts in seinen beiden Vorreden verdeutlichen, in denen er über die historiographische Tätigkeit als Alternative zu den traditionellen, angesichts der Zeitumstände für ihn aber nicht mehr gangbaren Wegen reflektiert, auf denen ein Römer der res publica dienen und zugleich gloria erlangen kann.329 Auch Livius beginnt seine praefatio mit der Überlegung, ob es ihm gelingen wird, mit seiner Darstellung der römischen Geschichte gegenüber den Versionen seiner Vorgänger und Konkurrenten hinreichend Aufmerksamkeit und damit auch persönliche Berühmtheit (fama) zu erlangen: facturusne operae pretium sim, si a primordio urbis res populi perscripserim, nec satis scio nec, si sciam, dicere ausim, quippe qui cum veterem tum volgatam esse rem videam, dum novi semper scriptores aut in rebus certius aliquid allaturos se aut scribendi arte rudem vetustatem superaturos credunt. utcumque erit, iuvabit tamen rerum gestarum memoriae principis terrarum populi pro virili parte et ipsum consuluisse; et si in tanta scriptorum turba mea fama in obscuro sit, nobilitate ac magnitudine eorum qui nomini officient meo consoler. Ob ich etwas tue, was die Mühe lohnt, wenn ich die Angelegenheiten des römischen Volkes vom Anbeginn der Stadt an ausführlich aufzeichne, weiß ich nicht recht, und wenn ich es wüßte, würde ich wohl nicht zu sagen wagen. Denn ich sehe, daß es ein alter und vor allem ein allbekannter Stoff ist, indem immer neue Schriftsteller entweder in der Sache etwas Genaueres beizubringen oder durch ihre Darstellungskunst die unbeholfene alte Zeit zu übertreffen glauben. Wie es auch kommt, es wird mir doch Freude machen, für die Überlieferung der Taten des ersten Volkes der Erde auch meinerseits nach Kräften gesorgt zu haben. Und wenn in der so großen Schar der Schriftsteller mein Ruf im dunkeln bleibt, kann ich mich mit dem Rang und der Größe derer trösten, die meinen Namen in den Schatten stellen.330 ___________________________

326 Vgl. Strab. 3,5,3; 5,1,7 u. Mela 2,60. 327 Über seine soziale Stellung ist nichts bekannt, aufgrund der fundierten Ausbildung ist aber die Zugehörigkeit zur lokalen Oberschicht plausibel (vgl. z.B. OGILVIE 1965, 1). 328 Zur Pluralisierung der Lebensentwürfe seit der Späten Republik vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2003; PAUSCH 2004a, 9-21, u. KRASSER 2011a. 329 Vgl. v.a. Sall. Catil 3,1-4,2 u. Iug. 4,1-4,4 mit z.B. MARINCOLA 1997, 60f. 330 Vgl. Liv. praef. 1-3 mit MOLES 1993, v.a. 142: „Hence facturus … operae pretium conveys two distinct meanings: (1) Will Livy get a worthwile return (in glory) on all work that he will have put into writing his vast History? (2) Will his readerts get a worthwile return on the work they will have to put into reading it? While distinct, these meanings are complementary: a writer is rewarded when his readers feel rewarded: if they like his work, they reward him with glory.”

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II. Kontexte und Transformationen

Daß er seine Erwartung an den Erfolg des eigenen Werkes auf den ersten Blick zurückhaltender formuliert als Sallust, wird dadurch ausgeglichen, daß er sein literarisches Können stärker in den Vordergrund stellt. Dies läßt sich bereits an den ersten Worten der praefatio ablesen, die – in der von Quintilian favorisierten Lesart – eine hexametrische Struktur aufweisen.331 Auch am Ende der praefatio sucht er mit einem – wenn auch im Irrealis formulierten – Musenanruf die Nähe zur Formensprache der besonders prestigeträchtigen epischen Dichtung.332 Indem Livius zu Beginn seines Werkes die epische Dichtung als Vergleichshorizont benennt, lädt er die Leser dazu ein, auf mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Gattungen zu achten. Diese ergeben sich etwa bei der Haltung zu den dargestellten Gegenständen und vor allem den Personen, zumal gerade das panegyrische Epos in der gentilizischen Erinnerungskultur eine prominente Rolle gespielt hat. Zum anderen erlaubt die poetische Tradition aber auch einen gesteigerten Anspruch des Autors auf gesellschaftliche Anerkennung und literarische Unsterblichkeit. Daß Livius diesen zweiten Gedanke an einer späteren Stelle, dem Proöm zu einem nicht erhaltenen Buch, noch ausführlicher dargelegt hat, ist durch die Kritik des älteren Plinius daran überliefert: profiteor mirari me T. Livium, auctorem celeberrimum, in historiarum suarum, quas repetit ab origine urbis, quodam volumine sic orsum: iam sibi satis gloriae quaesitum, et potuisse se desidere, ni animus inquies pasceretur opere. profecto enim populi gentium victoris et Romani nominis gloriae, non suae, composuisse illa decuit. maius meritum esset operis amore, non animi causa, perseverasse et hoc populo Romano praestitisse, non sibi. Ich muß gestehen, daß ich mich über Livius wundere, den sehr berühmten Autor, weil er eines der Bücher seines Werkes, in dem er die Geschichte vom Ursprung der Stadt an darstellt, folgendermaßen beginnt: Er habe für sich schon genug Ruhm erworben und könnte daher die Hände in den Schoß legen, wenn sein ruheloser Geist nicht so große Freude an dem Werk hätte. Es wäre aber wahrhaftig schicklicher gewesen, dieses Werk zum Ruhme des in der ganzen Welt siegreichen Volkes und der römischen Kultur statt zu seinem eigenen geschrieben zu haben. Es wäre ein weitaus größeres Verdienst gewesen, wenn er die Arbeit aus Begeisterung für den Gegenstand statt zur Befriedigung seines Geistes fortgesetzt und sie für das römische Volk statt für sich selbst geleistet hätte.333

___________________________

331 Vgl. Quint. inst. 9,4,74. Die These von LUCE 1965, 234-238, daß Livius die Anklänge an den Hexameter in einer 2. Auflage selbst geändert hat, ist zu Recht auf wenig Zustimmung gestoßen (vgl. z.B. MOLES 1993, 141 mit Anm. 3). 332 Vgl. Liv. praef. 13: cum bonis potius ominibus votisque et precationibus deorum dearumque, si, ut poetis, nobis quoque mos esset, libentius inciperemus, ut orsis tantum operis successus prosperos darent („Mit guten Vorzeichen vielmehr und mit Gelübden und Gebeten zu Göttern und Göttinnen würden wir lieber beginnen, wenn das auch bei uns, wie bei den Dichtern, üblich wäre: sie möchten uns, die wir ein so großes Werk beginnen, glücklichen Fortgang schenken.“) mit z.B. CIZEK 1992, 357f., u. MOLES 1993, 156-159. 333 Vgl. Plin. nat. praef. 16 mit MARINCOLA 1997, 61: „From our survey here, it appears that Pliny was justified in his amazement at Livy’s remark about the renown he had won. We have not seen any other historian so openly comment on his own fame. “

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Der von Plinius geäußerte Vorwurf, daß für Livius die aus dem literarischen Erfolg seines Werkes resultierende gesellschaftliche Anerkennung seiner Person wichtiger gewesen sei als die mit seiner Darstellung der römischen Geschichte verbundene inhaltliche Wirkung, wurde in der Forschung seit dem 19. Jh. vielfach aufgegriffen. Dabei wurde er unter Verkennung der geänderten Rahmenbedingungen, vor deren Hintergrund auch sein Verständnis von einer Tätigkeit als Historiker zu sehen ist, an der senatorischen Geschichtsschreibung gemessen. Gegenüber dieser – in der idealen Vorstellung – von erfahrenen Politikern und verdienten Militärs als Fortsetzung ihres Dienstes für die Gemeinschaft verfaßten Werke erschien Livius als ein nur auf seinen persönlichen Vorteil schielender Literat, der sich unvorteilhaft von einem ‚echten‘ Historiker wie Asinius Pollio unterschied.334 Das Fehlen von Informationen darüber, wie er außerhalb von Patavium sein Leben verbracht hat,335 führte zudem zur Vorstellung eines ‚Stubengelehrten‘, dem seine fehlende militärische Erfahrung und mangelnde Autopsie der geographischen Verhältnisse – mit Verweis auf die gleichlautende Kritik des Polybios an einigen seiner Vorgängern336 – zur Last gelegt wurde.337 Erst in jüngerer Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese Beurteilung auf der letztlich unhistorischen Postulierung von einheitlichen und für alle Epochen der antiken Geschichtsschreibung verbindlichen Standards beruht und ein adäquates Verständnis von Livius’ historiographischer Konzeption erheblich erschwert hat.338 Dabei ist aber aus dem Blick geraten, welche besonderen Bedingungen durch das Florieren von Buchhandel und Bibliotheken seit der Mitte des 1. Jh. v. Chr. für die Produktion und Rezeption von Geschichtsschreibung in Rom gegeben sind. Daß Livius diese Möglichkeiten entschlossen nutzt und versucht, mit seinem Werk ein breiteres Publikum zu erreichen, als es sich Historiker in den Jahrhunderten zuvor überhaupt vorstellen konnten, rückt ihn zwar aus modernder Perspektive in die Nähe ‚populärwissenschaftlicher‘ Darstellungen. Doch vor dem Hintergrund der in der Antike üblichen engen Verbindung von Literatur und Geschichtsschreibung läuft auch dieser Vorwurf ins Leere. ___________________________

334 Vgl. v.a. SYME 1939, 486: „Pollio knew what history was like. It was not like Livy.“ sowie ferner z.B. HEUSS 1983, 214: „Livius war reiner Schriftsteller und Literat und hat sich als solcher auf die Geschichte verlegt, wahrscheinlich zu unserem Glück, denn die Arbeit, die er hinter sich brachte, die Arbeit eines Bücherwurms, mit ihr wäre ein anderen, ein begabterer Historiker wahrscheinlich nie fertig geworden, ganz abgesehen davon, daß er auf sie gar nicht erst verfallen wäre.“ 335 Es stellt eine naheliegende, aber unbeweisbare Annahme dar, daß er zumindest einen Teil seines Werkes in Rom geschrieben hat (vgl. z.B. WALSH 1961, 2-4.18, u. KRAUS 1994a, 4). An Reisen darüber hinaus führt er einen Aufenthalt in Kampanien an (vgl. Liv. 38,56,3), weitere sind nicht auszuschließen (vgl. z.B. MENSCHING 1986, 573). 336 Vgl. Pol. 12,25d-h sowie ferner Pol. 3,36-38; 3,57-59 u. Buch 34 mit z.B. PITCHER 2009, 57-64. Entgegen der modernen Wertschätzung haben diese Forderungen in der Antike keine große Nachwirkung entfaltet (vgl. aber Lukian. hist. conscr. 37). 337 Vgl. z.B. WALSH 1961, 153-157, u. GIROD 1982. 338 Vgl. LUCE 1977, 295-297, u. LEVENE 2007, 275f.286.

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II. Kontexte und Transformationen

Entscheidender als diese Fragen sind jedoch die gerade in der Liviusforschung der letzten Jahre betonten Erkenntnisse, daß mit einer gestiegenen Literarisierung keineswegs ein geringer geschichtsdidaktischer Impuls verbunden sein muß.339 Dieser weist lediglich – analog zu den Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Leserschaft – eine Verschiebung von der direkten Nachahmung politischer oder militärischer Aktionen hin zu einem allgemeineren Nachdenken über historische Entwicklungen und die zu ihrer Vermittlung gewählte literarische Form auf. Vor allem der zweite Punkt, die stärkere Berücksichtigung und Reflexion über die sprachliche Form der Geschichtsschreibung, kann sogar als methodischer Fortschritt gegenüber den Vorgängern verstanden werden.340 d) Zwischenfazit: Der historische Autor im zeitgenössischen Kontext Wenn man abschließend die wichtigsten Züge des auf diese Weise gewonnenen Bildes des historischen Autors in seiner Zeit zusammenfassen will, so gelten für ihn natürlich auch alle Beobachtungen zum inhaltlichen und methodischen Vorwissen in Hinblick auf die römische Geschichte und die traditionellen Formen ihrer Vermittlung, wie sie bereits für den zeitgenössischen Leser herausgearbeitet wurden.341 Zusätzlich wird man aber bei jemanden, der sich mit der Konzeption eines Geschichtswerkes beschäftigt, die Auseinandersetzung mit der historiographischen Theoriedebatte der letzten Jahrzehnte annehmen dürfen, zumal wenn diese so intensiv erfolgt ist, daß wir sie trotz der fragmentarischen Überlieferung der republikanischen Literatur im allgemeinen und Geschichtsschreibung im besonderen heute noch in ihren Grundzügen nachvollziehen können. Man wird also davon ausgehen können, daß Livius nicht nur die Entscheidung für die annalistische Form, sondern auch die Wahl der weitergehenden Aufbauund Gliederungsprinzipien nach gründlicher Abwägung der seit hellenistischer Zeit entwickelten Möglichkeiten und mit Blick auf ihre – zum Teil bereits von Polybios diskutierten – Vor- und Nachteile getroffen hat. Gerade in diesem souveränen Umgang mit dem aus der griechischen Geschichtsschreibung übernommenen und von den römischen Historikern weiterentwickelten Repertoire, aus der er je nach Gegenstand und Intention verschiedene Elemente auswählt und kombiniert, bewegt sich Livius auf der Höhe der zeitgenössischen Debatte über die richtige sprachliche Form für die Vermittlung von Geschichte. Dies gilt in gleicher Weise für die Erörterung unterschiedlicher Wirkungen, die mit der Lektüre eines Geschichtswerkes auf der Seite des Lesers verbunden sind. Dabei spielt in der Diskussion gerade der Späten Republik neben dem traditionell betonten Nutzen historischen Wissens auch die emotionale Involvierung und ___________________________

339 Vgl. z.B. JAEGER 1997, 11f.; ausführlicher s. oben S. 7f. 340 Zur Reflexion des Dionysios von Halikarnassos über die Rolle der Sprache in der Geschichtsschreibung vgl. WIATER 2011, v.a. 121-130. 341 S. oben S. 45f.

3. Livius’ Reflexion über die Bedürfnisse seiner Rezipienten

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die literarische Unterhaltung des Lesers eine zentrale Rolle. Hier kann Livius mit seinem Werk als Vorreiter gelten, da sein offensiver Umgang mit der delectatio des Lesers – zumindest nach der Lage der Überlieferung – ohne Parallele in der älteren Historiographie ist. Der damit verbundene Wunsch, von seinen Rezipienten zu Ende gelesen zu werden, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, daß Livius als einer der ersten Geschichtsschreiber in Rom über den florierenden Buchhandel und das expandierende Bibliothekswesen die Möglichkeit hatte, eine für antike Verhältnisse ungeahnt große Leserschaft zu erreichen. Daß Livius wegen dieser Entscheidungen nicht als ‚Unterhaltungsschriftsteller‘ und ‚Schreibtischhistoriker‘ mißverstanden werden sollte, wird rasch deutlich, wenn man sein Geschichtswerk vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit sieht, den wir vergleichsweise gut rekonstruieren können. Denn in der Debatte der Späten Republik wurde die im antiken Denken angelegte Verwandtschaft von Historiographie und Literatur in besonderer Weise betont, so daß die für ab urbe condita gewählte Konzeption nicht nur allgemein den Erwartungen an die antike Gattung der Geschichtsschreibung entspricht, sondern auch eine zeitgemäße Reaktion auf die spezifische Situation in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. darstellt.

3. Livius’ Reflexion über die Bedürfnisse seiner Rezipienten Die für die weitere Untersuchung wichtigste Folgerung aus diesem Kapitel, das sich mit den Voraussetzungen der Produktion und der Rezeption von Geschichtsschreibung in der Späten Republik beschäftigt hat, besteht in der großen Bedeutung, die der Rolle des Rezipienten bei der Lektüre von Geschichtsschreibung eingeräumt wird. Dieser Aspekt soll daher nun noch einmal anhand von Livius’ Äußerungen resümmiert und dahingehend zugespitzt werden, daß seine Idealvorstellung in einem Leser bestand, der dem Werk ab urbe condita bis in die eigene Gegenwart folgt und seinem Autor damit das Schicksal derjenigen Historiker erspart, die – zumindest laut Dionysios von Halikarnassos – niemand zu Ende habe lesen können.342 Zu diesem Zweck strebt Livius mit verschiedenen literarischen Strategien, von denen die zeitliche Struktur, die Verwendung unterschiedlicher Fokalisierungen und die Erzeugung von Spannung in den folgenden Kapiteln näher vorgestellt werden sollen, eine möglichst starke Involvierung des Lesers in die Handlung und den Fortgang des Textes an.343 Während sich aus der Analyse dieser Darstellungstechniken der Wunsch des Autors, das Interesse der Leser an der Lektüre aufrecht zu erhalten, bereits indirekt erschließen läßt, reflektiert Livius zudem an einigen Stellen explizit über die ___________________________

342 Vgl. Dion. Hal. de comp. Verb. 4,30 [Text und Übersetzung s. oben S. 55]; u. ferner z.B. OGILVIE 1965, 17f.: „It is one thing to produce a research thesis, another to write a history which will be generally readable. And Livy wanted to be read.“ 343 Zum Konzept des ‚engaged reader‘ bei Thukydides vgl. MORRISON 2006a, v.a. 14, u. zur Motivation des Lesers zur Lektüre bei Herodot vgl. BARAGWANATH 2008, v.a. 3.

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II. Kontexte und Transformationen

von ihm vermuteten Bedürfnisse der Rezipienten und darüber, wie ein Abbruch der Lektüre wegen einer ‚Unterversorgung‘ mit Leseanreizen wie delectatio, exspectatio und variatio verhindert werden kann. Damit greift er eine Tradition auf, die bis zu Polybios zurückreicht, der seine Entscheidungen beim Schreiben der Historien häufig mit Blick auf die Interessen seiner idealen Leser rechtfertigt.344 Livius kommt auf die Gefahr einer abgebrochenen Lektüre vor allem anläßlich der großen Textmenge von ab urbe condita und der damit für den Leser verbundenen Anstrengung zu sprechen. Den Zusammenhang zwischen der Ausdehnung des Werkes und einem dadurch möglicherweise erlahmenden Interesses thematisiert er bereits in der praefatio, wenn er seinen Lesern unterstellt, daß sie angesichts der großen Stoffmenge ältere Epochen zugunsten der mehr voluptas versprechenden Zeitgeschichte vernachlässigen würden: res est praeterea et immensi operis, ut quae supra septingentesimum annum repetatur et quae ab exiguis profecta initiis eo creverit ut iam magnitudine laboret sua; et legentium plerisque haud dubito quin primae origines proximaque originibus minus praebitura voluptatis sint, festinantibus ad haec nova quibus iam pridem praevalentis populi vires se ipsae conficiunt. Der Stoff bedeutet außerdem unermeßlich viel Arbeit: er reicht ja über mehr als 700 Jahre zurück, und er ist, von kleinen Anfängen ausgehend, so sehr gewachsen, daß er jetzt an seiner Größe leidet. Auch zweifele ich nicht daran, daß den meisten Lesern die ersten Anfänge und das, was den Anfängen zunächst liegt, weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben, zu unserer Neuzeit zu kommen, in der die Kräfte des Volkes, das schon längst übermächtig ist, sich selbst aufzehren.345

Zu der naheliegenden und aus der Tradition historiographischer Proömien bekannten Argumentationslinie, daß die Bedeutung der Gegenstände die Mühen der Lektüre rechtfertigt, tritt bei Livius eine neue Strategie, die genaugenommen eine doppelte ist: Er betont hier in der praefatio346 und auch später noch mehrfach347

___________________________

344 S. oben S. 53-55. 345 Vgl. Liv. praef. 4. 346 Vgl. v.a. Liv. praef. 5: ego contra hoc quoque laboris praemium petam, ut me a conspectu malorum, quae nostra tot per annos vidit aetas, tantisper certe dum prisca illa tota mente repeto, avertam, omnis expers curae, quae scribentis animum, etsi non flectere a vero, sollicitum tamen efficere posset („Ich hingegen möchte auch darin einen Lohn für meine Mühe suchen, daß ich mich von dem Anblick der Übel, die unser Zeitalter so viele Jahre lang gesehen hat, wenigstens so lange abwende, wie ich jene alte Zeit mir wieder aus ganzem Herzen vergegenwärtige, frei von jeder Sorge, die einem beim Schreiben wenn auch nicht von der Wahrheit abbringen, so doch in Erregung versetzen kann.“) sowie ferner Liv. praef. 3 u. 12-13. 347 Vgl. z.B. Liv. 31,1,1-5 u. 43,13,2: ceterum et mihi vetustas res scribenti nescio quo pacto anticus fit animus et quaedam religio tenet, quae illi prudentissimi viri publice suscipienda censuerint, ea pro indignis habere, quae in meos annales referam. („Doch werde ich, wenn ich die Ereignisse der alten Zeit aufschreibe, – ich weiß nicht wie – vom Geist der alten Zeit erfüllt, und eine fromme Scheu hält mich davon ab zu glauben, das, was jene Männer als wichtig für den Staat anerkennen zu müssen meinten, sei es nicht wert, in meinem Geschichtswerk aufgezeichnet zu werden.“).

3. Livius’ Reflexion über die Bedürfnisse seiner Rezipienten

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einerseits die Anstrengung, die von seiner Seite zum Verfassen des Werkes notwendig war, und andererseits zugleich das Vergnügen, das ihm aus der intensiven Beschäftigung mit den historischen Gegenständen erwachsen ist. Diese Stellen – die in der älteren Historiographie keine Parallele haben348 – sind Livius häufig als Beleg seines romantischen Eskapismus zur Last gelegt worden.349 Im Kontext der bislang vorgestellten Überlegungen lassen sie sich aber besser als ein bewußt eingesetztes Mittel verstehen, das den Leser zur Lektüre motivieren soll. Zu dieser bereits in der praefatio entwickelten Argumentation tritt im weiteren noch eine andere Strategie, die in analoger Weise eine Brücke zwischen den Mühen der historischen Personen und den Anstrengungen der Leser schlägt.350 Dies wird besonders deutlich, wenn Livius sich inmitten der langwierigen Auseinandersetzungen Roms mit den Samniten (343-290 v. Chr.) an den Leser wendet: supersunt etiam nunc Samnitium bella, quae continua per quartum iam volumen annumque sextum et quadragesimum a M. Valerio A. Cornelio consulibus, qui primi Samnio arma intulerunt, agimus; et ne tot annorum clades utriusque gentis laboresque actos nunc referam, quibus nequiuerint tamen dura illa pectora vinci, ... tamen bello non abstinebat. adeo ne infeliciter quidem defensae libertatis taedebat et vinci quam non temptare victoriam malebant. quinam sit ille, quem pigeat longinquitatis bellorum scribendo legendoque, quae gerentes non fatigaverunt? Es folgen jetzt auch noch die Kriege gegen die Samniten, die wir ununterbrochen schon durch vier Bücher und über 46 Jahre hin seit dem Konsulat des M. Valerius und des A. Cornelius behandeln; diese hatten als erste den Krieg nach Samnium getragen. Und um jetzt nicht die Niederlagen beider Völker in so vielen Jahren und alle die Bemühungen noch einmal zu bringen, durch die jene harten Gemüter doch nicht bezwungen werden konnten: … dennoch ließen sie vom Krieg nicht ab; so wenig wurden sie es leid, ihre Freiheit, selbst ohne Glück, zu verteidigen, und sie wollten lieber besiegt werden als nicht nach dem Sieg greifen. Wer möchte da beim Schreiben und Lesen die Länge der Kriege verdrießen, die jene nicht müde wurden zu führen?351

Daß neben den Samniten an einer anderen Stelle auch die Aequer und Volsker in derselben Weise zu exempla für den Leser gemacht werden,352 zeigt, daß es sich hierbei um eine Strategie handelt, die im Sinne eines argumentum a maiore den unermüdlichen Einsatz der historischen Personen in viel elementareren Lebenssituationen als Motivationshilfe für die Fortsetzung der Lektüre verwendet. ___________________________

348 Vgl. HERKOMMER 1968, 135f., u. MARINCOLA 1997, 45f.: „Indeed, Livy’s uniqueness is that … he presents the history as undertaken mainly for his personal pleasure.“ 349 Vgl. dag. z.B. FELDHERR 1998, 222. 350 Vgl. MARINCOLA 1997, 153f.: „There is a clever intermingling here of the historian’s labour and an enormous Rome now labouring under its own weight, and by extension, the historian who must work at sorting it all out. “ 351 Vgl. Liv. 10,31,10-31,15 mit OAKLEY 2005b, 343: „Although he occasionally makes favourable comments on Rome’s foes, most notably Hannibal, this remarkable and extended tribute to the bravery of the Samnites has no real parallel in the work.“ u. ferner zur historischen Seite GROSSMANN 2009 u. EYCHENNE 2009. 352 Vgl. Liv. 6,12,2.

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II. Kontexte und Transformationen

Beide Argumentationslinien kommen schließlich zusammen, wenn Livius im Proöm zur vierten Dekade auf den Krieg gegen Hannibal zurückblickt und sowohl seine Mühen beim Verfassen als auch seine Freude über das glücklich erreichte Ende explizit mit den Gefühlen der historischen Personen vergleicht: me quoque iuvat, velut ipse in parte laboris ac periculi fuerim, ad finem belli Punici pervenisse. nam etsi profiteri ausum perscripturum res omnes Romanas in partibus singulis tanti operis fatigari minime conveniat, tamen, cum in mentem venit tres et sexaginta annos – tot enim sunt a primo Punico ad secundum bellum finitum – aeque multa volumina occupasse mihi quam occupaverint quadringenti duodenonaginta anni a condita urbe ad Ap. Claudium consulem, qui primum bellum Carthaginiensibus intulit, iam provideo animo, velut qui proximis litori vadis inducti mare pedibus ingrediuntur, quidquid progredior, in vastiorem me altitudinem ac velut profundum invehi et crescere paene opus, quod prima quaeque perficiendo minui videbatur. Auch mich macht es froh, als wenn ich selbst an der Mühsal und Gefahr teilgehabt hätte, daß ich an das Ende des Punischen Krieges gelangt bin. Denn es gehört sich zwar keineswegs, daß jemand, der zu erklären gewagt hat, er werde die ganze römische Geschichte ausführlich darstellen, bei den einzelnen Teilen eines so großen Werkes müde wird; aber wenn ich daran denke, daß 63 Jahre – denn so lange ist es vom ersten Punischen Krieg bis zum Ende des zweiten Krieges – genauso viele Bände beansprucht haben wie die 487 Jahre von der Gründung der Stadt bis zum Konsulat des App. Claudius, der den ersten Krieg mit den Karthagern eröffnet hat, stelle ich mir schon jetzt vor – wie die, die durch die flachen Stellen dicht am Strand sich verlocken lassen und mit den Füßen in das Meer hineingehen –, daß ich mit jedem Schritt weiter in eine unermeßliche Tiefe und sozusagen in einen Abgrund gerate und daß die Arbeit fast noch anwächst, die beim Fertigstellen der ersten Teile weniger zu werden schien.353

Auch diese Stelle ist vor dem Hintergrund der Sorge zu sehen, die Leser könnten durch die schiere Menge des Textes die Lust an der Lektüre verlieren. Zugleich wird hier aber deutlich, daß mit dem zunehmenden Umfang der einzelnen Abschnitte auch eine inhaltliche Aussage verbunden ist: Indem er den wohl in allen Gesamtgeschichten zu beobachtenden Effekt, daß die Darstellung um so ausführlicher wird, je näher sie der eigenen Gegenwart kommt, ausdrücklich hervorhebt, macht Livius den Leser darauf aufmerksam, daß die Gegenstände der folgenden Bücher nicht nur bedeutender sind, sondern auch zuverlässiger und ausführlicher rekonstruiert werden können. Beides soll wiederum nicht zuletzt das Interesse an ihrer Darstellung erhöhen und den Rezipienten zum Weiterlesen motivieren. Darüber hinaus thematisiert Livius hier explizit das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit sowie seine Veränderung im Laufe des Werkes. Der bewußte Umgang mit der quantitativen Dimension des Textes und seiner Relation zu der Menge und Bedeutung der historischen Ereignisse gehört zu den auffälligsten Aspekten von ab urbe condita. Wie sich diese Überlegungen auf die grundlegende zeitliche Struktur seines Werkes ausgewirkt haben und welche Folgen diese Anlage für den Leser hat, wird eine der Leitfragen des nächsten Kapitels sein.

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353 Vgl. Liv. 31,1,1-5; für weitere Bedeutungsebenen des Bildes WARRIOR 1996, 25; zur möglichen Anlehnung an das Proöm des Thukydides POLLEICHTNER 2010a, 75f.

III. DIE STRUKTUR DER GESCHICHTE III. DIE STRUKTUR DER GESCHICHTE: ZEIT UND ERZÄHLUNG IM ANNALISTISCHEN SCHEMA Aus den Reflektionen über den Wandel im Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit, wie sie sich vor allem im Proöm zur vierten Dekade finden,1 wird deutlich, daß Livius sich intensiv mit der textuellen Ausdehnung seines Werkes und ihren Folgen für den Leser beschäftigt, ja daß er das Spiel mit den Quantitäten als Teil der Kommunikation mit dem Leser verwendet. Welche Schlußfolgerungen er daraus für die Anlage seines Werkes und die zeitliche Anordnung der Erzählung gezogen hat und mit welchen Strategien er auf der Ebene der Struktur versucht, das Interesse des Lesers wachzuhalten, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, zunächst die beiden grundlegenden Zeitebenen einer historiographischen Erzählung in den Blick zu nehmen: Auf der einen Seite steht die erzählte Zeit der historischen Ereignisse, deren Dauer – soweit bekannt – vorgegeben ist und durch die Einordnung in ein annalistisches Schema zudem besonders betont wird. Ihr steht auf der anderen Seite die Erzählzeit als die Ausdehnung dieser Ereignisse im Text und die daraus resultierende Dauer der Lektüre gegenüber. Das Verhältnis beider Zeitebenen zueinander ist in ab urbe condita – wie in den meisten Geschichtswerken – nicht konstant, sondern einer ganzen Reihe von Veränderungen unterworfen,2 die einerseits auf die historische Überlieferungslage zurückzuführen sind, sich andererseits aber auch als Teil der inhaltlichen Akzentuierung und damit der historiographischen Aussage erweisen. Zu diesen beiden für die weitere Untersuchung zentralen Zeitebenen tritt ferner die Abfassungszeit des Werkes durch den Autor hinzu, die zwar nicht ohne Auswirkung auf die Kommunikation mit den Rezipienten ist, hier aber aufgrund der wenigen zur exakten Rekonstruktion zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte – über den Umstand der enormen Ausdehnung von 27 v. Chr. bis 17 n. Chr. hinaus – weitgehend unberücksichtigt bleiben muß.3 Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, daß Livius selbst die große Textmenge seines am Ende 142 Buchrollen umfassenden Werkes und ihre abschreckende Wirkung auf den Leser problematisiert hat, gilt es, zunächst die grundsätzliche Wahl des annalistischen Schemas neu zu beleuchten. Denn mit der Entscheidung für diese relativ starre, linear in der Zeit fortschreitende Glie___________________________

1 Vgl. Liv. 31,1,1-5 [Text u. Übersetzung s. oben S. 74]. 2 Vgl. die detaillierte Übersicht zur Länge der einzelnen Bücher und der in ihnen jeweils behandelten Jahre bei STADTER 1972, 304-306 (= Appendix I). 3 Zur Annahme einer durchschnittlichen Arbeitsgeschwindigkeit für das Gesamtwerk von 3-4 Büchern pro Jahr und der sich daraus ergebenen Datierung der einzelnen Bücher vgl. v.a. MENSCHING 1986 mit zuletzt SCHEIDEL 2009, sowie ferner SYME 1959, 41, u. LUCE 1977, 139, die von einer größeren Steigerung der Geschwindigkeit im Laufe der Abfassung ausgehen; für ein alternatives Modell mit einem Beginn bereits 33/32 v. Chr. BURTON 2000, 443-445.

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III. Die Struktur der Geschichte

derung und gegen freiere und abwechslungsreichere Formen – wie sie beispielsweise in einer Monographie möglich gewesen wäre – waren potentiell erhebliche Nachteile für die Lesbarkeit des Werkes verbunden. Dieser Gefahr begegnet Livius, indem er das annalistische Schema einerseits in seiner grundsätzlichen Anlage flexibel handhabt und dabei der jeweils behandelten Epoche anpaßt,4 andererseits indem er in seinem Rahmen andere narrative Strategien zur Anwendung bringt. Denn auf den zweiten Blick lassen sich auf der Ebene der Darstellung recht zahlreiche Abweichungen von der chronologischen Abfolge der historischen Ereignisse beobachten. Das gilt sowohl für die Schilderung von gleichzeitigen Ereignissen als auch für die Verwendung von Exkursen, Vorverweisen und Rückblicken, mit denen wir uns im ersten Teil des Kapitels beschäftigen werden. Aber auch bei der Einteilung des Werkes in größere Einheiten spielt der Gegensatz zwischen der durch die annalistische Gliederung an sich angelegten Linearität der Handlung und den zur Vermeidung von Monotonie eingelegten Variationen eine zentrale Rolle. Dies werden wir anhand der Abwechslung auf der inhaltlichen Ebene, den Modulationen im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit und dem Zusammenspiel der fortlaufenden Jahreszählung mit der Komposition thematisch abgeschlossener Bücher und Buchgruppen im zweiten Teil des Kapitels in den Blick nehmen. Im Anschluß an den letzten Punkt soll abschließend die Möglichkeit diskutiert werden, ob durch diese Doppelstruktur auch eine selektive Rezeption des Werkes angelegt ist. Die Vorteile, die sich aus der Verwendung dieses linearen Schemas und seiner gezielten Variation ergeben, liegen aber nicht nur auf dem Gebiet der Leserbindung, sondern erstrecken sich auch auf die Ebene der Deutung des historischen Geschehens. Dabei erweist sich neben den Möglichkeiten zur Betonung und Interpretation einzelner Ereignisse durch die Art ihrer Anordnung vor allem die allgemeine Strukturierung von Zeit und Raum – über ihre Funktion als Orientierung für den Leser hinaus – als eine zentrale Aussage.5 Die systematische Erfassung der Vergangenheit und die Betonung von Rom als ihr Zentrum läßt sich zudem als für die augusteische Zeit in hohem Maße charakteristisches Phänomen verstehen. Den verschiedenen Vorteilen, die sich auf diesen beiden Ebenen – der stärkeren Involvierung des Lesers einerseits und der Unterstreichung der inhaltlichen Aussage andererseits – aus der Verwendung des annalistischen Schemas ergeben, soll im folgenden nachgegangen werden. ___________________________

4 Zur allgemeinen Neubewertung des annalistischen Schemas als eines vergleichsweise flexiblen Anordnungsprinzip vgl. allg. MARINCOLA 1999, 314: „It has been noted that the Roman historians date annalistically and that this form imposes certain limitations on the treatment of events, particularly in the way that events over several years must be broken up. Surely far too much has been made of this.“ u. ferner zu Tacitus’ Verwendung dieses Schemas die grundlegende Untersuchung von GINSBURG 1981. 5 Vgl. hierzu zuletzt LEVENE 2010, 1-81.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm a) Das römische Konsulatsjahr und die Ordnung der Erzählung Zu den auffälligsten Eigenschaften von Livius’ ab urbe condita gehört die für den modernen Leser ungewohnt starre Gliederung der Handlung nach Jahren oder genaugenommen nach der Amtszeit der römischen Magistrate, deren Wahl jeweils – wenn auch in unterschiedlicher Ausführlichkeit – beschrieben wird und damit einen regelmäßig wiederkehrenden Einschnitt in der Erzählung markiert. Was uns im folgenden interessiert, ist vor allem die Wirkung dieser Zäsuren auf die Wahrnehmung des Textes und der in ihm präsentierten Geschichte durch den Leser. Zu diesem Zweck bietet sich unter anderem eine Verwendung der von der Narratologie bereitgestellten Beschreibungskategorien an. Denn die von Livius gewählte Gliederung scheint nur auf den ersten Blick zu ‚natürlich‘ zu sein, um mit diesem Instrumentarium beschrieben zu werden. Auf den zweiten Blick zeigt sich, daß auch hier die Ereignisse der historischen Handlung in eine – oft sehr spezifische – zeitliche Folge in der Erzählung überführt werden, mit der in vielen Fällen nicht zuletzt eine bestimmte Deutung des Geschehens verbunden ist. Dies wäre sogar bereits dann der Fall, wenn Livius’ Werk tatsächlich – wie der annalistischen Geschichtsschreibung von ihren Kritikern gerne unterstellt wird6 – nur aus einer Chronik mit narrativ kaum verbundenen Einträgen zu den einzelnen Jahren bestünde. Denn auch mit einer solchen Gliederung sind bereits eine Reihe von Aussagen zur Perspektivierung der Erzählung und der Gewichtung der historischen Ereignisse getroffen.7 Bleiben die einzelnen Einträge aber nicht isoliert voneinander stehen, sondern werden in eine vielfältige Kausalbeziehung zueinander gesetzt, wird in narratologischer Perspektive bereits die Grenze eines bloßen Geschehens zur gestalteten Handlung überschritten, oder um es mit dem berühmten Beispiel E.M. FORSTERs zu illustrieren: „‘The king died and then the queen died’, is a story. ‘The king died and the queen died of grief’, is a plot.“8 Ohne hier näher auf die terminologischen Probleme dieser vielfach, aber nicht immer einheitlich verwendeten Begriffe eingehen zu können,9 wird im weiteren mit einem für den aktuellen Zweck reduzierten Instrumentarium gearbeitet und zwischen dem historischen Geschehen als der tatsächlichen – aber bereits von ___________________________

6 7 8 9

Vgl. z.B. Sempronius Asellio FRH 12 F 1 (= Gell. 5,18,8) [Text u. Übers. s. oben S. 49f.]. Zur Chronik als Gattung vgl. allg. WHITE 1987, 1-25, u. HÖLSCHER 2003, v.a. 57-85. Vgl. FORSTER 1974 [1927], 93f. Vgl. z.B. ECKEL 2007, 214f.: „Sie [sc. die Plotstruktur] bildet das im Anschluß an Hayden White meistbeachtete narrative Merkmal der Geschichtsschreibung, und dennoch ergibt sich gerade hier ein besonderer Operationalisierungsbedarf. Das liegt zunächst am Plotbegriff selbst, der keineswegs einheitlich definiert ist. Mit der strukturalistischen Unterscheidung von story und discourse ausgedrückt, wird der Plotbegriff zum Teil im Sinne von story verwendet, bezieht sich also auf die Ereignisse in ihrer chronologischen Abfolge, zum Teil wird er eher als discourse gefaßt und somit als die Art der Anordnung dieser Ereignisse im Text.“

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III. Die Struktur der Geschichte

den antiken Historikern nicht mehr vollständig rekonstruierbaren – Abfolge der Ereignisse auf der einen und der narrativen Darstellung als der vom jeweiligen Autor gewählten Form ihrer Anordnung auf der anderen Seite unterschieden.10 Die von Livius für seine Darstellung gewählte Form strukturiert – trotz ihres linearen und daher scheinbar natürlichen Charakters – das historische Geschehen daher im wesentlichen auf zwei Arten: Zum einen durch die Zusammenfassung zu Jahren, die zumeist mit der Amtszeit der Protagonisten der römischen Seite identisch sind, und zum anderen durch die zu bestimmten Zeitpunkten erfolgenden Schauplatzwechsel, die sich mit Notwendigkeit aus der tendenziell gleichzeitigen Schilderung von an verschiedenen Orten spielenden Ereignissen ergeben. Ehe wir uns ausführlicher mit den Folgen dieser Strategien für die Vermittlung eines bestimmten Bildes der Vergangenheit und seiner Wahrnehmung durch den Leser beschäftigen, soll kurz auf die – auch für die Vorkenntnisse und Erwartungen der Rezipienten relevante – Vorgeschichte dieser Technik in der antiken Geschichtsschreibung eingegangen werden. Das muß jedoch ohne den Anspruch erfolgen, die vieldiskutierte Frage nach dem Ursprung der annalistischen Gliederung in Rom und ihrem Beitrag zur Entwicklung der Historiographie zu klären.11 Als wichtiger Pionier einer streng chronologischen und zugleich zwischen verschiedenen geographischen Schauplätzen wechselnden Anordnung galt schon in der Antike Thukydides.12 So hält etwa Livius’ Zeitgenosse Dionysios von Halikarnassos in seiner Schrift über den athenischen Historiker ausdrücklich fest, daß dieser sein Geschichtswerk im Unterschied zu seinen Vorgängern als erster nach Sommern und Wintern gegliedert hat.13 In diesem Kontext konstatiert er jedoch zugleich, daß diese Form der Anordnung bei antiken Lesern erhebliche Irritationen ausgelöst habe, da auf diese Weise die Darstellung der zusammenhängenden Ereignisse immer wieder unterbrochen wurde: ___________________________

10 Im von IRENE DE JONG in Anlehnung an MIEKE BAL (vgl. BAL 1997, 3-15) entwickelten Modell entsprechen dem historischen Geschehen die Kategorien fabula und material, während die narrative Darstellung text und story umfaßt: vgl. DE JONG 2007a, 2f.: „… in his text a narrator relates a story; the story consists of the events of a fabula presented in a certain order and manner; and the fabula is a series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by characters. In effect, the fabula is nothing but a reconstruction by the narratees, on the basis of the story and text. …, it may be helpful in certain cases to posit a fourth layer, that of the material from which a narrator forms his fabula: this can range from historical sources to the texts of predecessors or traditional stories.” 11 S. oben S. 19f. 12 Vgl. v.a. Thuk. 2,1: γέγραπται ἑξῆς ὡς ἕκαστα ἐγίγνετο κατὰ θέρος καὶ χειμῶνα mit z.B. SCHWINGE 1996 u. SCHWINGE 2008, v.a. 164. 13 Vgl. Dion. Hal. de Thuc. 9,3: καινὴν δέ τινα καὶ ἀτριβῆ τοῖς ἄλλοις πορευθῆναι βουληθεὶς ὁδὸν θερείαις καὶ χειμερίοις ἐμέρισε τὴν ἱστορίαν. („Er [sc. Thukydides] aber wollte einen neuen von den anderen noch nicht beschrittenen Weg einschlagen und hat sein Geschichtswerk daher nach Sommern und Wintern gegliedert.“).

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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πλανώμεθα δή, καθάπερ εἰκός, καὶ δυσκόλως τοῖς δηλουμένοις παρακολουθοῦμεν, ταραττομένης ἐν τῷ διασπᾶσθαι τὰ πράγματα τῆς διανοίας καὶ τὰς ἡμιτελεῖς τῶν ἀκουσθέντων μνήμας οὐ ῥᾳδίως οὐδ' ἀκριβῶς ἀναφερούσης. Wir verirren uns, was ganz natürlich ist, und können der Erzählung nur schwer folgen, weil unser Geist durch das Auseinanderreißen der Ereignisse durcheinander kommt und sich die halbfertigen Erinnerungen an das Gehörte weder leicht noch richtig vergegenwärtigen kann.14

Auch wenn Dionysios hier ein stark vereinfachtes und in Übereinstimmung mit der kritischen Tendenz der ganzen Schrift15 sicherlich gezielt übertriebenes Bild einer starren und den Inhalt weitgehend ignorierenden Struktur von Thukydides’ Historien zeichnet, das in der Forschung der letzten Jahre erheblich relativiert wurde,16 bleibt diese Stelle dennoch ein wichtiges Zeugnis für die Wirkung einer annalistischer Gliederung auf antike Rezipienten und vor allem für die Gefahren, die mit ihrer allzu rigiden Verwendung verbunden sein konnten. Daß sich auch schon Historiker vor dem 1. Jh. v. Chr. dieser Risiken bewußt waren, zeigen die umfangreichen Begründungen, mit denen Polybios die in den Büchern 7-39, dem leider nur fragmentarisch erhaltenen Hauptteil seines Werkes, verwendete Gliederung, in der die einzelnen Ereignisse in einem festen Schema nach Olympiaden und Regionen präsentiert wurden,17 vor seinen Lesern rechtfertigen zu müssen meint: Οὐ γὰρ ἀγνοῶ διότι τινὲς ἐπιλήψονται τῆς πραγματείας, φάσκοντες ἀτελῆ καὶ διερριμμένην ἡμᾶς πεποιῆσθαι τὴν ἐξήγησιν τῶν πραγμάτων, (εἴγ') ἐπιβαλλόμενοι λόγου χάριν διεξιέναι τὴν Καρχηδόνος πολιορκίαν, κἄπειτα μεταξὺ ταύτην ἀπολιπόντες καὶ μεσολαβήσαντες σφᾶς αὐτοὺς μεταβαίνομεν ἐπὶ τὰς Ἑλληνικὰς κἀντεῦθεν ἐπὶ τὰς Μακεδονικὰς ἢ Συριακὰς ἤ τινας ἑτέρας πράξεις· ζητεῖν δὲ τοὺς φιλομαθοῦντας τὸ συνεχὲς καὶ τὸ τέλος ἱμείρειν ἀκοῦσαι τῆς προθέσεως· καὶ γὰρ τὴν ψυχαγωγίαν καὶ τὴν ὠφέλειαν οὕτω μᾶλλον συνεκτρέχειν τοῖς προσέχουσιν. ἐμοὶ δ' οὐχ οὕτως δοκεῖ, τὸ δ' ἐναντίον. μάρτυρα δὲ τούτων ἐπικαλεσαίμην ἂν αὐτὴν τὴν φύσιν, ἥτις κατ' οὐδ' ὁποίαν τῶν αἰσθήσεων εὐδοκεῖ τοῖς αὐτοῖς ἐπιμένειν κατὰ τὸ συνεχές, ἀλλ' ἀεὶ μεταβολῆς ἐστιν οἰκεία, τοῖς δ' αὐτοῖς ἐγκυρεῖν ἐκ διαστήματος βούλεται καὶ διαφορᾶς. Ich weiß wohl, daß manche gegen mein Geschichtswerk den Vorwurf erheben werden, ich risse Zusammengehöriges auseinander und unterbräche immerfort meine Erzählung, ehe eine bestimmte Handlungs- und Geschehenseinheit zum Abschluß gekommen ist. Nachdem ich zum Beispiel begonnen hätte, von der Belagerung Karthagos zu berichten, bräche ich mitten darin ab und ginge zu den Ereignissen in Griechenland, dann in Makedonien und Syrien oder auf anderen Schauplätzen über; der Leser aber, der sich unterrichten will, wünsche die Fortsetzung und das Ende der Sache zu erfahren. Denn nur dann springe zugleich ein höherer Genuß wie ein größerer Nutzen bei der Lektüre

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14 Vgl. Dion. Hal. de Thuc. 9,8 u. ferner Dion. Hal. Pomp. 3,13-14. 15 Zum Kontext von Dionysios’ Kritik vgl. WIATER 2011, 130-164. 16 Vgl. ROOD 1998, 111-115.287f.; MARINCOLA 2001, 65-73; DEWALD 2005, 35-47.101110; GREENWOOD 2006; 42-56, RENGAKOS 2006b, 284-292, u. ROOD 2007a, 139-146. 17 Vgl. v.a. Pol. 38,6; sowie ferner zur geographischen Gliederung CLARKE 1999, 114128; zur Olympiadenzählung CLARKE 2008, 109-121.

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III. Die Struktur der Geschichte heraus. Ich für meine Person halte das nicht für richtig, sondern bin der entgegengesetzten Ansicht und möchte mich dafür auf eine psychologische Tatsache berufen. Unserer Natur selbst widerstrebt es, wenn eines unserer Sinnesorgane ununterbrochen bei demselben Gegenstand verharrt; sie verlangt Abwechslung und will derselben Sache erst zu späterer Zeit und in einigem Abstand wieder begegnen.18

Zu diesen ‚leserpsychologischen‘ Argumenten, die sich aus der – im weiteren Verlauf dieser Stelle noch ausführlicher erörterten 19 – Bedeutung thematischer variatio für die Motivation der Rezipienten zur Fortsetzung der Lektüre ergeben, kommen jedoch auch noch wichtige inhaltliche Gründe für diese Form der Anordnung. Diese nennt Polybios bereits im Vorwort, wenn er auf die Unterschiede zwischen den historischen Ereignissen in der Zeit vor Roms zweitem Krieg gegen Karthago und nach dem von ihm als Wendepunkt empfundenen 3. Jahr der 140. Olympiade (216 v. Chr.) zu sprechen kommt: ἐν μὲν οὖν τοῖς πρὸ τούτων χρόνοις ὡσανεὶ σποράδας εἶναι συνέβαινε τὰς τῆς οἰκουμένης πράξεις (διὰ) τὸ καὶ (κατὰ) τὰς ἐπιβολάς, (ἔτι) δὲ (καὶ τὰς) συντελείας αὐτ(ῶν ὁμοίως δὲ) καὶ κατὰ το(ὺς τόπους διαφέρ)ειν ἕκαστα (τῶν πεπραγμ)ένων. ἀπὸ δὲ τούτων τῶν καιρῶν οἱονεὶ σωματοειδῆ συμβαίνει γίνεσθαι τὴν ἱστορίαν, συμπλέκεσθαί τε τὰς Ἰταλικὰς καὶ Λιβυκὰς πράξεις ταῖς τε κατὰ τὴν Ἀσίαν καὶ ταῖς Ἑλληνικαῖς καὶ πρὸς ἓν γίνεσθαι τέλος τὴν ἀναφορὰν ἁπάντων. In den vorangehenden Zeiten lagen die Ereignisse der Welt gleichsam verstreut auseinander; da das Geschehen hier und dort sowohl nach Planung und Ergebnis wie räumlich geschieden und ohne Zusammenhang blieb. Von diesem Zeitpunkt an aber wird die Geschichte ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper, es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Libyen mit denen in Asien und Griechenland, und alles richtet sich aus auf ein einziges Ziel.20

Die Beobachtung eines qualitativen Wandels in der Art und Weise, wie historische Ereignisse miteinander in Zusammenhang stehen, wird von Polybios noch mehrfach mit dem Bild der Verflechtung (συμπλοκή) beschrieben und als Grund für die von ihm gewählte chronologisch-geographische Anordnung angeführt.21 Auch wenn diese Kausalfolge aus seiner Sicht den Tatsachen entsprochen haben mag, liegt aus der Perspektive des Rezipienten doch noch eine andere Deutung nahe: Denn das von Polybios verwendete Schema dürfte mit seinen zahlreichen Schauplatzwechseln erheblich dazu beigetragen haben, den Eindruck der engen Verflechtung der Ereignisse zu verstärken oder auch erst zu erzeugen. Wenn wir Polybios’ Überlegungen zur Gliederung seines Werkes nach Olympiaden zusammenfassen, so haben sich für ihn mit dieser Entscheidung vor allem zwei Vorteile verbunden: Zum einen stellt für ihn die sich aus dieser Anordnung ___________________________

18 Vgl. Pol. 38,5 [Übers. DREXLER 1963] mit LEVENE 2010, 2f.; zur Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern vgl. MEISTER 1971 u. SACKS 1981, 114f. mit Anm. 42. 19 Vgl. Pol. 38,5-6; hierzu auch s. unten S. 86. 20 Vgl. Pol. 1,3,3-3,4 [Übers. DREXLER 1961]. 21 Vgl. z.B. Pol. 4,28 u. 8,3-4 mit WALBANK 1975; SACKS 1981, 116-120; MARINCOLA 2001, 120f., u. ROOD 2007b, 173f.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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zwangsläufig ergebende thematische variatio – trotz der hieran geäußerten Kritik – ein wichtiges Element der Leserbindung dar.22 Zum anderen besteht für ihn ein direkter Zusammenhang zwischen der Interpretation der Ereignisse und ihrer Anordnung, so daß bereits die Gliederung zum Teil der historiographischen Aussage wird und die enge ‚Verflechtung‘ des Geschehens zum Ausdruck bringen soll. Angesichts der intensiven Polybios-Rezeption der römischen Historiker ab der Mitte des 2. Jh. v. Chr. ist davon auszugehen, daß beide Überlegungen bereits früh auch auf das annalistische Schema übertragen wurden. Theoretische Äußerungen hierzu sind zwar nicht überliefert, doch kann man aus der Beliebtheit der Form in der ‚jüngeren Annalistik‘ den Schluß ziehen, daß von diesen Autoren die auf Polybios zurückgehenden Begründungen aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.23 Auf der anderen Seite finden sich in der zeitgenössichen Diskussion über die richtige Form der Historiographie aber auch Stimmen, die eine annalistische Gliederung ablehnen und sich – ebenfalls unter Berufung auf den von Polybios ausgelösten Modernisierungsschub – für die Monographie aussprechen.24 Die vielfältige Debatte zeigt, daß es sich bei der annalistischen Gliederung in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. zwar um eine mögliche und etablierte Form der Darstellung von Geschichte handelte, ihre Wahl aber keineswegs selbstverständlich war. Vielmehr dürfte Livius sich ganz bewußt und erst nach Abwägung der von seinen Vorgängern diskutierten Vor- und Nachteile für diesen Aufbau entschieden haben. Dabei verbindet sich für ihn – wie schon für Polybios, der für ihn neben den spätrepublikanischen Historikern auch hier die wichtigste Bezugsgröße war – mit seiner Verwendung zum einen das Ziel der stärkeren Leserbindung und zum anderen die Unterstützung seiner historiographischen Aussage. Diese besteht für ihn allerdings weniger in der Veranschaulichung der Verflechtung aller Ereignisse innerhalb der Oikumene als vielmehr im Bezug allen historischen Geschehens auf Rom. Dieser Bezug wird schon dadurch augenfällig, daß die Erzählung jedes einzelnen Jahres ihren Ausgangs- und Endpunkt bei den Wahlen und dem Amtsantritt der Magistrate in Rom selbst nimmt.25 Darüber hinaus ist mit der Bevorzugung dieses Schemas gegenüber der zeithistorischen Monographie auch ein Signal an den Leser verbunden, das auf eine letztlich optimistische Haltung des Autors zur römischen Geschichte schließen läßt.26 ___________________________

22 Zum Schauplatzwechsel als einem empfohlenen Mittel, die historiographische Erzählung nicht zu monoton werden zu lassen, vgl. ferner Lukian. hist. conscr. 50. 23 Vgl. TIMPE 1979, 102f.112; PETZOLD 1993, 171; RICH 2009 [1997], 133-140, u. WALTER 2003b, 143-147, v.a. 144f.: „Das Schema mochte so Orientierung geben in einer … heillosen Zeit, indem man sah, dass manches immer gleich blieb und funktionierte: der Amtsantritt der Konsuln, die Opfer, das Wirken des Senates, die Arbeit der Priester an der pax deorum.“ 24 S. oben S. 47-53. 25 Zur sich aus der Verwendung des annalistischen Schemas ergebenden Romzentrierung vgl. FEENEY 2009, 145-148; allg. zur ‚prorömischen‘ Perspektive s. unten S. 129-136. 26 S. oben S. 52f.

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III. Die Struktur der Geschichte

Bevor die Folgen dieser narrativen Strategie näher beschrieben werden können, muß jedoch dem Eindruck entgegengewirkt werden, daß es sich bei diesem Anordnungsprinzip um ein von Livius überall in gleicher Weise und ohne Rücksicht auf den Inhalt angewendetes Schema handelt. Während diese Ansicht in der älteren Forschung vertreten wurde,27 konnte in den letzten Jahren – vor allem in einem bahnbrechenden Aufsatz von JOHN RICH28 – gezeigt werden, daß Livius weder allgemein in jedem Buch die gleiche Struktur verwendet noch die Ereignisse im Einzelnen einem starren Schema unterordnet.29 Die Variationen auf der Ebene der Strukturierung zeigen sich besonders deutlich im ersten Buch, in dem in Ermangelung jährlich wechselnder Magistrate die Regierungszeit der Könige das Aufbauprinzip bildet. Aber auch in den folgenden Büchern bis zum Ende der ersten Dekade läßt sich eine deutlich offenere Gliederung beobachten, die über die Unterscheidung von Innen- und Außenpolitik oft nicht hinausgeht.30 Das vollentwickelte Prinzip der annalistischen Schilderung zeigt sich erst am Beginn der dritten Dekade und wird dann bis zum Ende des erhaltenen Textes verwendet.31 In den Büchern 21-45 folgt die narrative Anordnung der Ereignisse eines Jahres daher im wesentlichen einem wiederkehrenden Muster, das vor allem durch die Akzentuierung des Beginns der Amtszeit der römischen Magistrate als Zäsur in der Erzählung geprägt ist. Dieser Einschnitt, der in dieser Zeit regulär am 15. März stattfindet, wird auf verschiedene Arten hervorgehoben: zum einen bereits dadurch, daß am Ende des vorherigen Jahres neben anderen Ereignisse, die sich in Italien und Rom abspielen, regelmäßig auch die Wahlen der zukünftigen Magistrate erwähnt werden, so daß der Leser auf das nächste Jahr eingestimmt wird. Zum anderen wird nicht nur der Amtsantritt zumindest der Konsuln häufig explizit erwähnt, sondern auch eine Übersicht der von den jeweiligen Magistraten in diesem Jahr übernommenen Aufgabengebiete und damit eine wichtige Vorschau sowohl auf die anstehenden Ereignisse als auch auf die handelnden Akteure der römischen Seite gegeben. Im folgenden werden noch die erhaltenen und entsühnten Prodigien, in Rom empfangene Gesandtschaften und Entwicklungen aus dem Bereich der Innenpolitik erwähnt. Nachdem auf diese Weise ein klarer Einschnitt und eine deutliche Markierung des neuen Jahres erfolgt ist, begibt sich der Er___________________________

27 Vgl. MCDONALD 1957, 155-159, v.a. 156: „We find this pattern in any book of Livy.“; WALSH 1961, 30f.174-176, u. FRIER 1979, 270-274. 28 Vgl. RICH 2009 [1997]: Bei dem Wiederabdruck in CHAPLIN / KRAUS 2009 handelt es sich um eine gründlich überarbeitete und aktualisierte Fassung. 29 Vgl. z.B. BURCK 1992, 50-52; KRAUS 1994a, 9-13; KRAUS 1997, 61f.; OAKLEY 1997, 122-125; MARINCOLA 1999, 315, u. LEVENE 2010, 1-81. 30 Vgl. v.a. RICH 2009 [1997], 126-129, sowie dag. mit geringerer Betonung der Unterschiede zu den späteren Büchern z.B. KRAUS 1994a, 9-13, u. OAKLEY 1997, 122-125. 31 Zum nicht überlieferten Teil vgl. RICH 2009 [1997], 130-132, der unter Verweis auf den größeren Umfang im Verhältnis zur erzählten Zeit sowie auf die Änderungen der politischen Rahmenbedingungen von erheblichen Unterschieden in der Strukturierung vor allem der Bücher 71-142 ausgeht.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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zähler – in vielen Fällen gemeinsam mit dem neuen römischen Führungspersonal – an die über die gesamte Oikumene verteilten Schauplätze, an denen sich die aus römischer Perspektive relevanten Ereignisse der nächsten zwölf Monate abspielen, ehe er sich gegen Ende dieses Zeitraumes – erneut in gewisser Weise ‚im Gefolge‘ der verantwortlichen Akteure – wieder zurück nach Rom begibt.32 Doch auch in diesen Büchern zeigt sich bei näheren Hinsehen, daß Livius das Schema hier zwar durchgängig zur Strukturierung der Erzählung verwendet, der Aufbau im Einzelnen aber variabel den jeweiligen Gegebenheiten – beziehungsweise den mit ihrer Darstellung verbundenen Absichten – angepaßt wird.33 Stellt man darüber hinaus in Rechnung, daß Livius nicht nur in gewissem Umfang das Schema dem Geschehen, sondern an vielen Stellen auch die Reihenfolge der Präsentation der Ereignisse dem Schema anpaßt,34 so gewinnt man eine Vorstellung von den darstellerischen Möglichkeiten, die mit diesem nur auf den ersten Blick schlichten Schema verbunden sind. Diese werden noch dadurch gesteigert, daß Livius bei vielen Ereignissen lediglich ihre ungefähre Datierung innerhalb des jeweiligen Jahres angibt, so daß der Leser für ihre relative Einordnung auf die von der Reihenfolge der Erzählung vorgegebene Chronologie angewiesen ist.35 Dieser reflektierte Umgang mit den Möglichkeiten des annalistischen Schemas stellt auch das wichtigste Argument gegen die in der älteren Forschung favorisierte These dar, daß Livius nicht nur das Strukturprinzip, sondern auch die konkrete Anordnung der einzelnen Jahre von Polybios einerseits und den römischen Annalisten (vor allem Valerias Antias und Claudius Quadrigarius) andererseits übernommen habe, wobei er mit den aus den verschiedenen Datierungssystemen beider Vorlagen resultierenden Schwierigkeiten überfordert gewesen sei.36 Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, daß Livius diese Gliederung als bewußte Strategie – nicht zuletzt zur Kommunikation mit dem Leser – eingesetzt hat. Eine wichtige Folge dieser Gliederung besteht in der Erzeugung des Eindrucks einer mehr oder weniger gleichmäßig, jedenfalls aber geordnet ablaufenden Zeit, die in gewisser Weise das Rückgrat der geschichtlichen Entwicklungen bildet. ___________________________

32 Vgl. z.B. MCDONALD 1957, 155-159; OAKLEY 1997, 122, u. RICH 2009 [1997], 120f. 33 Vgl. RICH 2009 [1997], 121: „Livy’s practice is, nevertheless, a good deal more flexible than some modern accounts suggest. There is plenty of variety even within those parts of the annual narratives which derive from his annalistic sources, and Livy uses this material freely to serve his own compositional purposes.“ 34 Das auffälligste Beispiel sind Berichte über den Tod römischer Priester, die unabhängig vom konkreten Datum immer am Jahresende erfolgen (vgl. v.a. RICH 2009 [1997], 121f., u. ferner z.B. CHAPLIN / KRAUS 2009a, 8). 35 Vgl. RICH 2009 [1997], 122: „All this serves to convey the impression that the narrative is moving through the busy and varied events of the Roman year, but this is to some extent an illusionistic effect.“ 36 Vgl. z.B. NISSEN 1863, 65-69; TRÄNKLE 1977, 45-54; BURCK 1992, 41f., u. ferner RICH 2009 [1997], 123f. Zur Kombination von Polybios’ Jahreszeitangaben mit dem römischen Kalender, der in dieser Zeit nicht mit dem natürlichen Jahresverlauf konform geht, vgl. BRISCOE 1973, 2f.; BRISCOE 1981, 17-36, u. WARRIOR 1996, 33-35.

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III. Die Struktur der Geschichte

Indem diese Grundstruktur linear und unaufhaltsam auf die Gegenwart zuschreitet, setzt sie die Vergangenheit zu dieser in einen deutlichen Bezug und lädt den Leser ein, Vergleiche zwischen den identischen Zeiteinheiten damals und jetzt zu ziehen. Daß es sich bei diesen Zeiteinheiten um das römische Kalenderjahr handelt und dieses die Grundlage für die Ereignisse im gesamten Mittelmeerraum bildet, überträgt jedoch zugleich eine für die Entstehungszeit des Werks zutreffende Beobachtung in Epochen der Vergangenheit, in denen davon noch nicht die Rede sein konnte. Damit wird die spätere römische Herrschaft über die Oikumene in Livius’ Werk durch die zeitliche Struktur bereits vorweggenommen.37 Mit der spezifischen Form der Anordnung im annalistischen Schema ist aber nicht eine besondere zeitliche, sondern auch eine ebensolche räumliche Struktur verbunden. Indem die Erzählung zu den jährlich wiederkehrenden Wahlen und Amtsantritten jeweils nach Rom zurückkehrt, um sich von dort aus gleichsam auf den Spuren der römischen Protagonisten zu den in diesem Jahr relevanten Handlungsorten und danach wieder in die Stadt am Tiber zurück zu begeben, entsteht eine zirkuläre Struktur, deren konzentrische Kreise Rom als das Zentrum markieren und alle übrigen Orte in einen Bezug zu ihm setzen.38 Da diese Kreise im weiteren Verlauf der Erzählung zudem immer größer werden, läßt sich auch auf der Ebene der reinen Entfernung eine auf die Gegenwart gerichtete Aussage zum Wachstum des römischen Einflußbereiches vermuten. Zu diesen beiden über die zeitliche und räumliche Struktur letztlich auf die Gegenwart des Lesers zielenden Effekten des annalistischen Schemas kommen aber auch noch direkte Folgen für die Wahrnehmung der Ereignisse in ihrem geschichtlichen Kontext hinzu. Denn durch die jährlich wiederkehrenden Elemente wird eine Erwartungshaltung des Lesers hervorgerufen, die im jeweiligen Jahr erfüllt, aber auch enttäuscht werden kann. Daraus ergibt sich die implizite Aufforderung, die Leistungen der einzelnen Amtsträger miteinander zu vergleichen. Doch während diese Ebene im Kontext der erinnerungspolitischen Konkurrenz der nobilitären gentes in der republikanischen Geschichtsschreibung von größerer Bedeutung gewesen sein dürfte, tritt sie bei Livius zurück gegenüber der generell mit dem Erzeugen von Erwartungen einhergehenden Leserbindung. Diese ergibt sich ebenfalls aus der dem Schema inhärenten Aufforderung zum Vergleich der einzelnen Jahre untereinander einerseits und ihrer Addition zu einer letztlich auf die eigene Gegenwart zielenden Entwicklung andererseits.39 ___________________________

37 Vgl. das auf die augusteische Zeit zulaufende Zyklenmodell von MINEO 2006, v.a. 9. 38 Für illustrative Interpretationen einzelner Stellen vor dem Hintergrund dieser Wirkung vgl. JAEGER 2003 u. JAEGER 2010 (zu Syrakus in der 3. Dekade) und EIGLER 2003 (zur ‚Bildungsreise‘ des Aemilius Paullus in Griechenland im 45. Buch). 39 Vgl. z.B. KRAUS 1997, 62: „Since it is a pattern, however, and one that Livy’s readers come to expect to find, it provides a further kind of ‘map’ to this written city: as the elections, military assignments, and other such events formed the backbone of the state, so they form the backbone of Livy’s narrative, assuring that it, like the state it describes and recreates, moves ahead in predictable, traditional fashion.“

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Eng damit verbunden ist auch eine letzte mit diesem Schema verbundene Wirkung, die sich aus der variierenden Ausführlichkeit der Darstellung der einzelnen Jahre und dem damit einhergehenden Wechsel im Verhältnis von erzählter Zeit zu Erzählzeit ergibt. Bereits die Struktur der annalistischen Anordnung lädt den Leser in besonderer Weise dazu ein, auf diese Unterschiede zu achten und sie auch als inhaltliche Bewertungsebene zu betrachten. Dies wird noch deutlicher, wenn Livius die schwankende Quantität an einigen Stellen explizit thematisiert, indem er ganze Jahre mit dem Hinweis zusammenfaßt, in ihnen sei nichts Berichtenswertes geschehen.40 Auch wenn diese extreme Form einer narrativen Zusammenfassung auf das ganze Werk gesehen eher die Ausnahme bildet, so wird durch sie der Leser dennoch auf die mit den Wechseln im Rhythmus und der Quantität der Erzählung verbundenen Aussagemöglichkeiten aufmerksam gemacht.41 Indem Livius das annalistische Schema vor allem in den späteren Büchern konsequent verwendet, macht er sich auch dessen – unter anderem von Polybios beschriebene – Leistungen bei der Deutung des historischen Geschehens wie der Leserbindung zunutze. Neben den Vorteilen, die sich aus der linearen Ordnung der Zeit und dem Bezug auf Rom als dem auf diese Weise markierten zeitlichen wie räumlichen Zentrum der Erzählung ergeben, kommt auch den durch die wiederkehrenden Kategorien geweckten Erwartungen der Leser in Hinsicht auf die Handlung in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle zu. Zudem ist davon auszugehen, daß ein Leser, der mit der Präsentation von geschichtlichem Wissen in verschiedenen Medien vertraut war, sich der spezifischen Verformung des Bildes der Vergangenheit, die sich aus der Verwendung dieses Schemas ergibt, bis zu einem gewissen Grad bewußt war. Daraus folgt möglicherweise ebenfalls eine Intensivierung des Interesses an Inhalt und Form dieser Präsentation der eigenen Geschichte.42 Ein in besonderer Weise auffälliges Problem, das sich aus dieser Art der Anordnung der historischen Ereignisse ergibt, werden wir im folgenden Abschnitt näher kennenlernen. ___________________________

40 Vgl. v.a. Liv. 2,19,1: consules Ser. Sulpicius M’. Tullius; nihil dignum memoria actum (= 500 v. Chr) u. Liv. 4,30,4: consules L. Sergius Fidenas iterum Hostius Lucretius Tricipitinus. nihil dignum dictu actum his consulibus. (= 429 v. Chr.) mit RICH 2009 [1997], 128: „The extreme variety of the year narratives is in fact one of the hallmarks of the first decade. The amount of space accorded to individual years varies hugely: ...“ 41 Ausführlicher zum Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit s. unten S. 105-108. 42 Vgl. KRAUS 1996a, 13: „But in Livy’s history the narrative illusion is repeatedly broken by the structure or the narrative itself. The textual year, whose chronology does not match real time (could everyone important in Rome really have died at the end of the year?), keeps intruding. The texture of the narrative corresponds to the various facets of Livys puzzling persona: like him, it veers between assurance (perfect unchallenged mimesis, the sub oculos subiectio of vivid narration) and the need to document, to query, to list facts, to doubt (that is, to show the seams of the text). The result is to unsettle the authority both of the presentation and of the historian’s own voice. This decentralized authority has a specific end: the engagement of the reader in the historiographical project.“

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III. Die Struktur der Geschichte

b) Das Problem der gleichzeitigen Ereignisse und seine Lösungen Ein allgemeines Problem bei jeder Art der erzählerischen Wiedergabe, sei es von fiktionalen, sei es von historischen Handlungen, besteht in der Schilderung von gleichzeitigen, jedoch an verschiedenen Orten stattfindenden Ereignissen. Diese generelle Schwierigkeit der narrativen Präsentation wird durch die Entscheidung für die annalistische, also im Idealfall linear chronologisch fortschreitende Struktur noch einmal erheblich verschärft, da die Unvereinbarkeit dieses Systems mit der Schilderung gleichzeitiger Handlungen besonders augenfällig ist. Dem Leser steht daher hier auch nicht der Ausweg offen, sich den Zeitverlauf auch bei sukzessiver Schilderung durch den Erzähler als synchron fortschreitend zu denken, wie es für die homerischen Epen im sogenannten Zielinskischen Gesetz lange Zeit, wenn auch wohl zu Unrecht, postuliert wurde.43 Was den Umgang mit diesem Problem in der antiken Historiographie angeht, so bietet es sich erneut an, von den theoretischen Äußerungen des Polybios auszugehen. Im letzten Kapitel haben wir bereits die aus dem 38. Buch stammende Rechtfertigung der häufigen Schauplatzwechsel, die einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung einer möglichst synchronen Schilderung bilden, kennengelernt.44 In einem Fragment aus dem 15. Buch geht er noch einmal gesondert auf die unvermeidlichen Überschneidungen bei der Schilderung gleichzeitiger Handlungen ein: Ὅτι ἐπεὶ πάσας καθ' ἕκαστον ἔτος τὰς κατάλληλα πράξεις γενομένας κατὰ τὴν οἰκουμένην ἐξηγούμεθα, δῆλον ὡς ἀναγκαῖόν ἐστι τὸ τέλος ἐπ' ἐνίων πρότερον ἐκφέρειν τῆς ἀρχῆς, ἐπειδὰν πρότερος ὁ τόπος ὑποπέσῃ κατὰ τὸν τῆς ὅλης ὑποθέσεως μερισμὸν καὶ κατὰ τὴν τῆς διηγήσεως ἔφοδον ὁ τὴν συντέλειαν τῆς πράξεως ἔχων τοῦ τὴν ἀρχὴν καὶ τὴν ἐπιβολὴν περιέχοντος. Da wir Jahr für Jahr alle gleichzeitigen Ereignisse auf der ganzen Welt berichten, ist es unvermeidlich, bei einigen das Ende früher zu erwähnen als den Anfang, wenn nämlich nach der ganzen Disposition des Stoffes und dem Gang der Erzählung der Ort, an dem ein Handlungsablauf seinen Abschluß erreicht, innerhalb des Werkes an einer früheren Stelle behandelt wird als derjenige, an dem das Geschehen seinen Ausgang genommen hat.45

Obwohl Polybios dieses Problem hier klar erkannt hat, war er aufgrund seiner grundlegenden Entscheidung für eine feste geographische Abfolge beim Wechsel von einem Handlungsort zum nächsten, wie er ihn für die Bücher 7-39 angekündigt und wahrscheinlich auch umgesetzt hat, möglicherweise nicht in der Lage, diese Schwierigkeit generell zu beheben, sondern hat sich offenbar von Fall zu Fall mit individuellen Lösungen beholfen.46 Da auch die Werke seiner Nachfol___________________________

43 Die Beobachtung, wenn auch nicht die Bezeichnung geht zurück auf ZIELINSKI 18991901; zur Diskussion der Unmöglichkeit der Schilderung gleichzeitiger Ereignissen in den homerischen Epen vgl. z.B. RENGAKOS 1995, v.a. 22-28; NÜNLIST 1998; DE JONG 2007b, 30f., u. SCODEL 2008. 44 Vgl. Pol. 38,5-6 [Text u. Übersetzung s. oben S. 79f.]. 45 Vgl. Pol. 15,24a [Übers. DREXLER 1963] u. Pol. 28,16,5-11 mit z.B. PITCHER 2009, 131f. 46 Vgl. WALBANK 1972, 110-114; MARINCOLA 2001, 120f., u. ROOD 2007b, 174-176.

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ger in Rom nur fragmentarisch überliefert sind, kann der Frage, wie die antiken Historiker mit dieser Problematik umgegangen sind, erst am Beispiel des Livius ausführlicher nachgegangen werden, ohne daß damit die Behauptung verbunden wäre, daß alle dort anzutreffenden Lösungen seine eigenen Entwicklungen sind. Im livianischen Werk lassen sich grundsätzlich vier verschiedene Techniken greifen, wie der Erzähler bei der Schilderung gleichzeitiger Handlungen verfährt. Der einfachste Fall liegt vor, wenn das gerade dargestellte Geschehen zu einem Abschluß gekommen ist, ehe der Wechsel zu einem anderen Schauplatz erfolgt. Diese ideale Situation kann sich bei bestimmten historischen Ereigniszusammenhängen – wie etwa bei Feldzügen – tatsächlich auf gleichsam natürliche Weise ergeben und läßt sich dementsprechend häufig in ab urbe condita beobachten. Eng verwandt mit dieser ‚natürlichen‘ Lösung ist eine Technik, bei der ein Wechsel zwischen räumlich getrennten Geschehenskomplexen dann erfolgt, wenn die jeweils geschilderte Handlung zu einem vorübergehenden Stillstand oder zumindest einem relativ ereignisarmen Zustand gelangt ist.47 Beide Strategien werden im annalistischen Schema durch zwei besondere historische Umstände nachhaltig unterstützt: Zum einen wird am Ende jeden Jahres in der Regel das Führungspersonal auf römischer Seite ausgetauscht, so daß ein inhaltlicher Einschnitt hier naheliegt. Zum anderen galt der Winter als wenig geeignet für das Durchführen militärischer Aktionen und liefert daher in vielen Fällen eine naturbedingte Zäsur, die sich in besonderer Weise zum Übergang in der Erzählung anbietet.48 Bei den beiden verbleibenden Techniken kann der Erzähler nicht in gleicher Weise auf natürliche Gegebenheiten zurückgreifen, so daß die narrative Gestaltung des historischen Geschehens zu einer Handlung hier deutlicher hervortritt. Zugleich sind diese beiden Formen im erhaltenen Text von ab urbe condita aber auch seltener vertreten. Dies gilt vor allem für die Strategie, die mit einem häufigeren Wechsel inmitten der Handlung den Eindruck von Gleichzeitigkeit erzeugen will, und die mit einer metaphorischen Anleihe in der Filmwissenschaft als Technik der schnellen Schnitte beschrieben werden kann.49 Ein illustratives Beispiel für diese Form des Übergangs bietet die Schilderung der konträren Folgen der Schlacht von Pydna für ihre beiden Protagonisten: In rascher Abfolge blendet Livius hier zwischen dem sich auf der Flucht befindlichen Perseus und den ihm verfolgenden Aemilius Paullus hin und her, so daß sich auf dem vergleichsweise engem Raum von fünf Kapiteln50 insgesamt sieben ___________________________

47 Zu dieser ‚desultorischen‘ Technik bei Homer und ihrer Rezeption in der griechischen Geschichtsschreibung vgl. z.B. RENGAKOS 1995, 22-28, u. RENGAKOS 2006a, 188-190. 48 Vgl. z.B. VON ALBRECHT 1992, I 665: „Die Übergänge wirken mühelos; z.B. leiten Truppenbewegungen oder Gesandtschaftsreisen von einem Schauplatz zum anderen über. So braucht das annalistische Vorgehen nicht zur Zersplitterung zu führen.“ 49 Zu antiken und modernen Parallelen dieser Technik vgl. z.B. RENGAKOS 1995, 4. 50 Die Lücke am Ende des 44. Buches fällt hier nicht ins Gewicht, da an dieser Stelle kein umfangreicher Text ausgefallen zu sein scheint (vgl. HILLEN 1998b, 321).

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III. Die Struktur der Geschichte

Ortswechsel finden, 51 bevor diese nicht zuletzt mit narrativen Mitteln ‚atemberaubend‘ inszenierte Verfolgungsjagd erst zu Beginn des nächsten Buches ihr gleichfalls aufwendig gestaltetes Ende findet.52 Häufiger als diese Technik der schnellen Schnitte, bei der mehrere Wechsel in kurzer Folge eine Handlung mehrfach zerteilen, findet bei Livius jedoch ein verwandtes Phänomen Verwendung. Bei dieser Form des Übergangs zwischen zwei gleichzeitigen Handlungen wird die Darstellung des Zusammenhanges zwar nur einmal unterbrochen, dafür aber bewußt vor dem Zielpunkt, auf den die gerade geschilderte Handlung zuläuft, so daß mit dieser Form des Schauplatzwechsels nicht zuletzt die Erzeugung von Spannung verbunden ist. Mit dieser Technik zur Involvierung des Lesers werden wir uns in einem späteren Kapitel ausführlicher beschäftigen.53 Hier sei nur auf das 23. Buch als illustratives Beispiel verwiesen: Dort werden die militärischen Aktionen Hannibals und der Römer 216 bis 215 v. Chr., die vor allem in Süditalien, aber auch in Norditalien und Spanien sowie auf Sizilien und Sardinien stattfinden, so beschrieben, daß der Schauplatzwechsel oft gerade vor dem Ende der geschilderten Aktionen angesetzt ist und der Leser auf diese Weise zunächst – beispielsweise über den Ausgang einer Belagerung54 oder das Gelingen eines Hinterhaltes55 – im Unklaren gelassen wird. Wenn man diese vier unterschiedlichen Lösungen des generellen narrativen Problems der Schilderung gleichzeitiger Handlungen noch einmal zusammenfassen und mit den – im letzten Abschnitt beschriebenen – allgemeinen Auswirkungen des annalistischen Schemas auf die Ordnung der Erzählung und ihre Wahrnehmung durch den Leser in Bezug setzen will, so bietet es sich an, zwischen den ersten beiden und letzten beiden Formen zu unterscheiden. Denn während die Übergänge bei abgeschlossener oder bei vorübergehend ruhender Handlung sich eher dem Bereich der Unterstreichung der historischen Aussage zuordnen lassen, da auch durch sie die Übereinstimmung des politischen und militärischen Geschehens in der gesamten Oikumene mit den zeitlichen und räumlichen Ordnungsvorstellungen Roms zum Ausdruck gebracht wird, lassen sich die Technik der schnellen Schnitte ebenso wie der Wechsel vor dem Höhepunkt einer Handlung eher den anderen Strategien der Leserbindung durch die generelle Struktur des Werkes an die Seite stellen. ___________________________

51 Die Handlungsschritte sind im einzelnen: Perseus’ Flucht vom Schlachtfeld (44,42,142,3); Paullus’ Sieg gegen die makedonische Phalanx (44,42,4-42,9); Perseus’ Flucht nach Pella (44,43,1-43,8); Paullus’ Sorge um seinen Sohn (44,44,1-44,3); Perseus bittet in Amphipolis um Frieden (44,44,4-45,2); Paullus nimmt unter anderem Pydna ein (44,45,3-45,7); Perseus wird aus Amphipolis vertrieben (44,45,8-45,15); Paullus rückt nach Pella vor und wird in Amphipolis freundlich empfangen (44,46,1-Lücke). 52 Vgl. Liv. 45,4,2-9,7 mit z.B. BURCK 1982, 1153f., u. LEVENE 2006, 87-92. 53 S. unten S. 195-205. 54 Vgl. z.B. Liv. 23,17,7-20,3 (Belagerung von Casilinum). 55 Vgl. z.B. Liv. 23,35,1-35,19 (Hinterhalt der Kampaner für die Senatoren von Cumae).

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Doch auch von den mit den einzelnen Techniken jeweils verbundenen Wirkungen abgesehen hat auch schon ihr Vorhandensein dazu beigetragen, das generelle Bewußtsein des Lesers für die durch das annalistische Schema bedingte spezifische Form der Präsentation historischen Geschehens zu schärfen. Die mit dieser Anordnung der Ereignisse der Vergangenheit zu einer weitgehend chronologisch linearen Handlung verbundenen Beschränkungen, aber auch Optionen für den Erzähler sollen im folgenden Abschnitt noch einmal aus einer anderen Perspektive beleuchtet werden, wenn wir nach der Möglichkeit zur Verwendung von Rückblicken und Vorverweisen innerhalb des annalistischen Schemas fragen. c) Abweichungen von der Linearität: Rückblicke und Vorverweise Ein deutliches Zeichen dafür, daß es sich bei dem annalistischen Schema, wie es von Livius verwendet wird, um ein narrativ komplexeres Gebilde als eine reine Chronik handelt, ist die Existenz mehrerer vorübergehender Abweichungen von der streng linearen Folge der historischen Ereignisse. Diese lassen sich zunächst ganz grundsätzlich in Rückblicke auf zum Zeitpunkt der Haupthandlung bereits vergangenes Geschehen – sei es in Form von Analepsen im eigentlichen Sinne, sei es in Form von Rekapitulationen zuvor schon geschilderter Ereignisse – und in Vorverweise auf zu diesem Zeitpunkt noch in der Zukunft liegendes Geschehen – sei es in Form einer Andeutung, sei es als wirkliche Prolepse – unterteilen. Mit dieser inhaltlichen Unterscheidung muß jedoch noch eine zweite auf der formalen Ebene verbunden werden, so daß sich insgesamt ein komplexeres Bild ergibt. Denn mit Blick auf die Form ist zwischen den im annalistischen Schema bereits angelegten Positionen, an denen narrative Achronien häufiger, zum Teil sogar regelmäßig stattfinden (bei Livius gilt dies in erster Linie für die Verteilung der Aufgabenbereiche und die Prodigien des jeweiligen Jahres), und den übrigen Stellen zu unterscheiden, an denen solche Abweichungen gleichsam individuell verwendet werden. Gerade in der zweiten Kategorie läßt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher narrativer Verfahren zur Präsentation der Rückblicke oder Vorverweise beobachten, die beispielsweise vom Erzähler wiedergegeben, einer historischen Figur in den Mund gelegt oder indirekt aus deren Perspektive geschildert werden können. Die auffälligste Abweichung von der chronologischen Ordnung stellt in einer historiographischen Erzählung aber sicherlich der Exkurs dar, auf den wir noch verschiedentlich eingehen werden. Im Gegensatz zu anderen narrativen Besonderheiten der annalistischen Historiographie hat dieses Phänomen nicht in gleicher Weise Polybios’ theoretisches Interesse gefunden, obwohl in seinem Werk zahlreiche Analepsen und auch einige Prolepsen enthalten sind.56 Immerhin findet sich im Zusammenhang mit dem ersten Beispiel eines Rückblicks, in dem er die Geschichte Roms von der Eroberung durch die Gallier 387/386 v. Chr. bis zum Beginn seiner eigentlichen Dar___________________________

56 Vgl. hierzu zusammenfassend und mit Beispielen ROOD 2007b, 176-181.

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III. Die Struktur der Geschichte

stellung im Jahre 264 v. Chr. kurz rekapituliert,57 auch eine knappe Begründung dieses Vorgehens. Dabei steht aber der Gedanke im Vordergrund, dem Leser hier eine Begründung für den Ausgangspunkt der eigentlichen Erzählung zu geben: ληπτέον δὲ καὶ τοῖς καιροῖς ὁμολογουμένην καὶ γνωριζομένην ἀρχὴν παρ’ ἅπασι καὶ τοῖς πράγμασι δυναμένην αὐτὴν ἐξ αὑτῆς θεωρεῖσθαι, κἂν δέῃ τοῖς χρόνοις βραχὺ προσαναδραμόντας κεφαλαιώδη τῶν μεταξὺ πράξεων ποιήσασθαι τὴν ἀνάμνησιν. τῆς γὰρ ἀρχῆς ἀγνοουμένης ἢ καὶ νὴ Δί’ ἀμφισβητουμένης οὐδὲ τῶν ἑξῆς οὐδὲν οἷόν τε παραδοχῆς ἀξιωθῆναι καὶ πίστεως· ὅταν δ’ ἡ περὶ ταύτης ὁμολογουμένη παρασκευασθῇ δόξα, τότ’ ἤδη καὶ πᾶς ὁ συνεχὴς λόγος ἀποδοχῆς τυγχάνει παρὰ τοῖς ἀκούουσιν. Wir müssen aber auch einen Anfangspunkt wählen, der zeitlich unbezweifelbar festliegt und allgemein bekannt ist, sachlich aus sich selbst verstanden werden kann, auch wenn wir chronologisch etwas weiter zurückgehen und die davorliegenden Ereignisse in knapper Zusammenfassung ins Gedächtnis rufen müssen. Denn wenn der Anfangspunkt unbekannt oder am Ende gar umstritten ist, dann kann auch von dem Folgenden nichts auf Zustimmung und Glauben rechnen. Wenn dagegen über jene eine allgemeine Übereinstimmung erreicht ist, dann findet auch die ganze folgende Erzählung bei den Lesern willig Gehör.58

Auch wenn Polybios am Ende des Exkurses sich noch ein zweites Mal rechtfertigt, nennt er erneut nur diesen einen Gesichtspunkt.59 Auch an späteren Stellen führt er als weiteres Argument nur noch die besondere inhaltliche Bedeutung der dargestellten Gegenstände an.60 Während Polybios daher – zumindest in den erhaltenen Teilen seines Werkes – keine andere Begründungen für Abweichungen von der linearen Zeitfolge angibt als solche, die sich aus der besseren Verständlichkeit und damit letztlich der Geschichtsdidaktik ergeben, so läßt sich dennoch bereits für ihn ebenso wie für die Historiker in Rom vermuten, daß sie mit dieser narrativen Technik auch Ziele auf dem Gebiet der Leserbindung verfolgt haben. Implizit kann eine solche Intention aus Polybios’ Äußerungen zur Bedeutung der variatio erschlossen werden, auch wenn dort strenggenommen nur von thematischen Exkursen die Rede ist, zumal Dionysios von Halikarnassos diesen Zusammenhang später explizit herstellt.61 ___________________________

57 Vgl. Pol. 1,6-1,12. 58 Vgl. Pol. 1,5,4-5,5 [Übers. DREXLER 1961]. 59 Vgl. Pol. 1,12,8-12,9: διόπερ οὐ χρὴ θαυμάζειν οὐδ' ἐν τοῖς ἑξῆς, ἐάν που προσανατρέχωμεν τοῖς χρόνοις περὶ τῶν ἐπιφανεστάτων πολιτευμάτων. τοῦτο γὰρ ποιήσομεν χάριν τοῦ λαμβάνειν ἀρχὰς τοιαύτας, ἐξ ὧν ἔσται σαφῶς κατανοεῖν ἐκ τίνων ἕκαστοι καὶ πότε καὶ πῶς ὁρμηθέντες εἰς ταύτας παρεγένοντο τὰς διαθέσεις, ἐν αἷς ὑπάρχουσι νῦν. („Man darf sich daher auch im folgenden nicht wundern, wenn wir einmal bei den bedeutendsten Saaten der Zeit noch etwas weiter ausholen. Wir werden dies tun, um Anfangspunkte zu gewinnen, aus denen man klar erkennen kann, mit welchen Voraussetzungen, wann und wie die einzelnen Völker die Bahn betraten, auf die sie zur der jetzigen politischen Situation gelangt sind.“ [DREXLER 1961]). 60 Vgl. Pol. 2,14,1-14,3 (Gallierexkurs) u. Pol. 3,21,9-10 (Roms Verträge mit Karthago). 61 Vgl. Pol. 38,6 u. Dion. Hal. Pomp. 3,11-3,12; ausführlicher s. unten S. 103f.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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Ganz ähnlich rechtfertigt auch Livius den berühmtesten Exkurs seines Werkes, in dem er sich allerdings nicht mit realem historischen Geschehen, sondern mit dem möglichen Verlauf eines Krieges zwischen Alexander dem Großen und Rom im 4. Jh. v. Chr. beschäftigt:62 Er nimmt zwar mögliche Einwände gegen diese Abweichung von der linearen Abfolge der Ereignisse vorweg, betont dabei aber zugleich ihre Vorteile für den Leser: nihil minus quaesitum a principio huius operis videri potest quam ut plus iusto ab rerum ordine declinarem varietatibusque distinguendo opere et legentibus velut deverticula amoena et requiem animo meo quaererem. Nichts kann wohl vom Anfang dieses Werkes an weniger meine Absicht gewesen sein, als von der Reihenfolge der Ereignisse mehr als recht abzuschweifen und durch Ausschmückung des Werkes mit mannigfaltigen Dingen für meine Leser sozusagen liebliche Seitenpfade und für mich Entspannung zu suchen.63

Von dieser Stelle abgesehen fehlen zwar auch bei Livius theoretische Aussagen zur Verwendung dieser narrativen Technik, doch der vergleichsweise gute Erhaltungszustand des Textes erlaubt es in diesem Fall, die Wirkung dieser Strategien in der Praxis nachzuzeichnen. Dabei werden wir mit den Vorverweisen beginnen und zunächst diejenigen betrachten, die im annalistischen Schema von wiederkehrenden Rubriken unterstützt werden, ehe wir uns den an verschiedenen Stellen und aus individuellen Anläßen auftretenden Ausblicken zuwenden. Danach wollen wir uns in der gleichen Reihenfolge mit den Rückblicken auf zum Zeitpunkt der Handlung vergangene Ereignisse beschäftigen, da auf diese Weise die Abweichungen von der linearen Ordnung, die mit einem stärkeren Eingriff des Erzählers und daher mit einer größeren Betonung dieses Umstandes verbunden sind, vor dem Hintergrund der übrigen Stellen analysiert werden können. In der vollen Form der annalistischen Gliederung, wie sie in den Büchern 21 bis 45 verwendet wird, gibt es mit der Verteilung der Aufgabenbereiche unter den Amtsträgern für das jeweilige Jahr und dem Bericht über beobachtete und gesühnte Prodigien im wesentlichen zwei regelmäßig wiederkehrende Stellen, an denen der Blick des Lesers auf künftige Ereignisse gelenkt wird. Die direktere Form eines narrativen Vorverweises stellt die Verteilung der Aufgabenbereiche dar: In dieser zumeist im direkten Anschluß an die Wahl der römischen Magistrate und ihren Amtsantritt geschilderten Rubrik werden den einzelnen Personen ihre Tätigkeitsfelder in der Innen- und Außenpolitik zugewiesen. Vor allem bei der Vergabe des militärischen Oberbefehls ergibt sich daraus ein Blick auf die im weiteren Verlauf des Jahres zu erwartenden Ereignisse. Dieser wird zwar in der Regel narrativ durch den Erzähler, inhaltlich aber aus der Sicht der Figuren vor___________________________

62 Vgl. Liv. 9,17,1-19,17 mit z.B. BREITENBACH 1969; MORELLO 2002; OAKLEY 2005a, 184-261; MAHÉ-SIMON 2006, 181-183; HUMM 2006 u. BRIQUEL 2009. 63 Vgl. Liv. 9,17,1 sowie die Rechtfertigung der – allerdings gleichzeitigen – Exkurse zu Masinissa (Liv. 29,29,5) und Philopoimens Feldzug gegen Messene (Liv. 39,48,6); zu Exkursen bei Livius ferner allg. FORSYTHE 1999, 99-118, u. OAKLEY 2005a, 184-186.

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III. Die Struktur der Geschichte

genommen, so daß sich eine interne Fokalisierung ergibt, die auf unterschiedliche Weise zur Involvierung des Lesers beitragen kann. Dies wird besonders deutlich, wenn einzelne historisch bedeutende Ereignisse auf diese Weise vorbereitet und hervorgehoben werden. Ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten der narrativen Gestaltung, die sich hieraus ergeben, gibt die Verteilung der Aufgabenbereiche für das Jahr 207 v. Chr. im 27. Buch.64 Dort erfährt der Leser im Zusammenhang mit der Vergabe des Kommandos in Oberitalien an M. Livius Salinator, daß Hasdrubal mit dem von Hannibal dringend benötigten Verstärkungen bereits die Alpen erreicht hat,65 während er von dieser neuen eminenten Bedrohung Roms zuvor nur im Planungsstadium gehört hatte.66 Die hervorgehobene Rolle, die Livius dem durch die Niederlage am Metaurus letztlich gescheiterten Versuch der Karthager, Nachschub nach Italien zu bringen, sowohl inhaltlich als auch kompositorisch für den Aufbau des 27. Buches beimißt,67 wird auch daran deutlich, daß er im folgenden noch einen kurzen Bericht von den gleichzeitigen Ereignissen nördlich der Alpen gibt, ehe er mit dem Tod und der Nachwahl von Priestern sowie der Durchführung des Zensus die routinemäßig zum Jahreswechsel gehörenden Rubriken folgen läßt: de Hasdrubalis adventu in Italiam cura in dies crescebat. Massiliensium primum legati nuntiaverant eum in Galliam transgressum erectosque adventu eius, quia magnum pondus auri attulisse diceretur ad mercede auxilia conducenda, Gallorum animos. missi deinde cum iis legati ab Roma Sex. Antistius et M. Raecius ad rem inspiciendam rettulerant misisse se cum Massiliensibus ducibus qui per hospites eorum principes Gallorum omnia explorata referrent; pro comperto habere Hasdrubalem ingenti iam coacto exercitu proximo vere Alpes traiecturum, nec tum eum quicquam aliud morari nisi quod clausae hieme Alpes essent. Die Sorge wegen Hasdrubals Vorrücken nach Italien wuchs von Tag zu Tag. Zunächst hatten Gesandte aus Massilia gemeldet, er sei nach Gallien hinübergekommen und die Gallier seien infolge seiner Ankunft gespannt, weil es hieß, er habe eine große Menge Goldes mitgebracht, um Hilfstruppen in Sold zu nehmen. Von Rom waren dann Sex. Antistius und M. Raecius als Gesandte mit ihnen geschickt worden, damit sie sich von der Lage ein Bild machten, und sie hatten berichtet, sie hätten unter Führung von Massiliern Leute ausgeschickt, die alles, was sie durch deren Gastfreunde, angesehene Gallier, auskundschafteten, berichten sollten; die hätten in Erfahrung gebracht, daß Hasdrubal schon ein riesiges Heer zusammengezogen habe und im nächsten Frühjahr die Alpen überqueren werde; jetzt halte ihn nichts anderes auf, als daß die Alpen wegen des Winters unzulänglich seien.

___________________________

64 Vgl. Liv. 27,35,1-35,14. 65 Vgl. Liv. 27,35,10: provinciae iis non permixtae regionibus, sicut superioribus annis, sed diversae extremis Italiae finibus, alteri adversus Hannibalem Bruttii et Lucani, alteri Gallia adversus Hasdrubalem quem iam Alpibus adpropinquare fama erat, decreta. („Die Aufgabenbereiche wurden ihnen nicht in bezug auf die Gebiete gemeinschaftlich zugewiesen wie in den letzten Jahren, sondern getrennt in den entferntesten Gegenden Italiens, dem einen gegen Hannibal das Gebiet der Bruttier und Lukaner, dem anderen gegen Hasdrubal, der, wie es hieß, sich schon den Alpen näherte.“). 66 Vgl. Liv. 27,5,8-14 u. 27,20,1-20,8. 67 Vgl. BURCK 1962 [1950], 129f.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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Daß dieser ‚irregulär‘ eingeschobene Bericht über das Vorrücken Hasdrubals nur in der Form wiedergebener Nachrichten und Gerüchte erfolgt, steigert noch seine Wirkung auf den Leser, da er auf diese Weise die Perspektive der Menschen in Rom einnimmt.68 Eine weitere Form der besonderen Betonung kann sich in dieser Rubrik ergeben, wenn Livius näher auf die politischen Auseinandersetzungen eingeht, die der Vergabe prestigeträchtiger militärischer Kommandos vorausgegangen sind. Denn die Wiedergabe der Debatten über den Umfang der Befugnisse, die Dauer des Oberbefehls oder die Eignung des Kandidaten gibt ihm die Gelegenheit, die unterschiedlichen Bewertungen der historischen Situation durch die zeitgenössischen Akteure zu thematisieren und damit auf den Leser wirken zu lassen. Dieser kann die von Zeitgenossen vorgetragenen Versionen dann mit seinem eigenen Wissen von der weiteren historischen Entwicklung abgleichen und wird zudem – vor allem wenn ihm dies aufgrund der geringen Bekanntheit der Einzelheiten nicht möglich ist – in Spannung auf den tatsächlichen Ausgang versetzt.69 Ein interessantes Beispiel für diese Technik liefert der Beginn des 37. Buches mit der Verteilung der Aufgabenbereiche für das Jahr 190 v. Chr.70 Nachdem beide Konsuln sich mit dem gleichen Nachdruck um das im Krieg gegen Antiochos III.71 entscheidende Kommando im Osten beworben hatten, war ausnahmsweise auf den Losentscheid verzichtet worden. Daß der Senat letztlich gegen C. Laelius und für L. Cornelius Scipio votierte, lag vor allem daran, daß sich sein Bruder P. Scipio Africanus bereit erklärte, ihn im Kampf gegen Antiochos und den von ihm schon einmal besiegten Hannibal, der nun als Ratgeber des Monarchen fungiert, zu begleiten. Dieses Angebot wird mit einem expliziten Blick in die Zukunft aus der Perspektive der Zeitgenossen kommentiert, der sich nicht zuletzt als eine Art Leseanweisung verstehen läßt und sicherlich der Steigerung der Spannung beim Rezipienten dienen soll: haec vox magno adsensu audita sustulit certamen; experiri libebat, utrum plus regi Antiocho in Hannibale victo an in victore Africano consuli legionibusque Romanis auxilii foret; ac prope omnes Scipioni Graeciam, Laelio Italiam decreverunt. Dieses Wort [sc. Scipio des Älteren] wurde mit großem Beifall gehört und ließ es nicht zur Auseinandersetzung kommen. Man wünschte herauszufinden, ob König Antiochos an dem besiegten Hannibal oder der Konsul und die römischen Legionen an dem siegreichen Africanus mehr Hilfe hätten. Und fast alle bestimmten Griechenland für Scipio, Italien für Laelius.72 ___________________________

68 69 70 71

Vgl. Liv. 27,36,1-36,4. Vgl. z.B. Liv. 33,25,10-26,5 (Aufgabenbereiche für 197 v. Chr.). Vgl. Liv. 37,1,7-2,12 sowie Cic. Phil. 9,17 u. Val. Max. 5,5,1 mit BRISCOE 1981, 291-293. Diese militärische Auseinandersetzung der Jahre 192-188 v. Chr. bildet das zentrale Thema der als Pentade gestalteten Bücher 36-40 (vgl. KERN 1960, 142-145; LUCE 1977, 75-113, u. TSITSIOU-CHELIDONI 2007 sowie zur Rekonstruktion des historischen Geschehens v.a. GRAINGER 2002 u. DREYER 2007). 72 Vgl. Liv. 37,1,10; zur Erzeugung von Spannung durch Antizipation s. unten S. 223-248.

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III. Die Struktur der Geschichte

In einer indirekteren Form kann auch der routinemäßige Bericht über die im jeweiligen Jahr beobachteten Prodigien und ihre Sühnung die gleichen narrativen Funktionen in Hinsicht auf die bedeutungssteigernde und spannungserzeugende Anspielung auf zukünftiges Geschehen übernehmen. In diesem Fall kommt als weitere Besonderheit hinzu, daß die als omina interpretierten Vorkommnisse in der Regel – wenn auch keinesfalls immer – zusammengefaßt am Anfang des Jahres erfolgt, so daß bereits diese Bündelung einen erheblichen Eingriff des Erzählers in die tatsächliche Abfolge der historischen Ereignisse bildet. Auch hier läßt sich zeigen – was vor allem DAVID LEVENE überzeugend gelungen ist73 –, daß Livius diese auf den ersten Blick starre Rubrik seinen jeweiligen Darstellungsabsichten flexibel anzupassen versteht.74 So deutet er etwa in der dritten Dekade mehrfach bedrohliche Situationen, die sich für Rom in der Auseinandersetzung mit den Karthagern ergeben, bereits im Vorfeld durch besonders umfangreiche Listen von Prodigien an. Einen guten Beleg hierfür bietet der Jahreswechsel 218/217 v. Chr.: Livius bereitet hier die unmittelbar bevorstehende erste große Niederlage gegen Hannibal am Trasimenischen See nicht nur dadurch vor, daß er ungewöhnlich viele Prodigien erwähnt, sondern zudem diejenigen des letzten Jahres erst an dessen Ende, die des neuen Jahres aber an ihrem regulären Platz und damit in großer Nähe schildert.75 Sowohl die ungewöhnliche Länge der Listen mit Vorzeichen als auch ihre Verdoppelung durch die Umstellung tragen daher dazu bei, daß für das kommende Jahr eine in besonderer Weise bedrohliche Atmosphäre erzeugt wird.76 Ein anderes Beispiel für eine auf diese Weise verstärkte Betonung bietet der Beginn des Jahres 208 v. Chr., in dessen Verlauf beide Konsuln, T. Quinctius Crispinus und M. Claudius Marcellus, der als Eroberer von Syrakus eine der prominentesten Personen der Zeit war, in einem Hinterhalt ihr Leben verlieren.77 Dieses ungewöhnliche Ereignis wird nicht nur dadurch vorbereitet, daß für dieses Jahr besonders viele Prodigien genannt werden,78 sondern auch dadurch, daß die Aufzählung durch zwei Kommentare zusätzliches Gewicht erhält. Zunächst äußert der Erzähler seine Verwunderung darüber, daß in diesem Jahr auch relativ unbedeutende Vorkommnisse als Vorzeichen gewertet wurden,79 und hebt damit ___________________________

73 Vgl. LEVENE 1993, v.a. 36f., sowie zur Bedeutung der Prodigien bei Livius jetzt auch DAVIES 2004, 21-85, u. ENGELS 2007, 188-221. 74 Zur Anordnung der Prodigien vgl. DE SAINT-DENIS 1942 u. ENGELS 2007, 190-193. 75 Vgl. Liv. 21,62,1-62,11 u. 22,1,8-1,20 mit FUHRMANN 1983, 25-28. 76 Vgl. LEVENE 1993, 38-43, u. ENGELS 2007, 189. 77 Vgl. Liv. 27,26,7-27,14 (Tod des Marcellus) u. 27,33,6-33,7 (Tod des Crispinus). 78 Vgl. Liv. 27,23,1-23,4 mit LEVENE 1993, 63f. Auf den Tod des Marcellus verweist Livius noch einmal bei der Verteilung der Aufgabenbereiche (vgl. Liv. 26,29,1-29,10). 79 Vgl. Liv. 27,23,2: … Cumis – adeo minimis etiam rebus prava religio inserit deos – mures in aede Iovis aurum rosisse ... („… in Cumae – so sehr bringt ein verschrobener Glaube die Götter auch mit ganz unbedeutenden Dingen in Verbindung – hätten Mäuse im Tempel Jupiters am Gold genagt, …“).

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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die aufgeheizte und emotional angespannte Situation der Zeitgenossen hervor,80 und dann beendet er die Schilderung der mißglückten Sühnung der Vorzeichen mit dem expliziten Vorverweis auf das Kommende: per dies aliquot hostiae maiores sine litatione caesae diuque non impetrata pax deum. in capita consulum re publica incolumi exitiabilis prodigiorum eventus vertit. Mehrere Tage hindurch wurden voll ausgewachsene Opfertiere dargebracht, ohne daß es ein günstiges Vorzeichen gegeben hätte, und lange konnte man die Götter nicht gnädig stimmen. Der unheilvolle Ausgang der göttlichen Zeichen traf die Häupter der Konsuln, während der Staat unversehrt davonkam.81

Beide Strategien finden sich auch in späteren Büchern und spielen vor allem bei den zahlreichen Vorverweisen auf den Krieg mit Perseus von Makedonien (171-168 v. Chr.) zu Beginn der fünften Dekade eine entscheidende Rolle.82 Dies zeigt sich unter anderem in der hervorgehobenen Bedeutung, die dieser Thematik in der Schilderung der Jahre 177 und 176 v. Chr. zukommt.83 Geschieht das im ersten Fall über eine Verdoppelung dieser Rubrik, die hier am Anfang und gegen Ende des Jahres eingeschaltet ist,84 so kommt im zweiten Fall noch eine weitere Technik zum Einsatz: Statt die omina in einer geschlossenen Sektion zu behandeln, werden sie hier verteilt und mit anderen Ereignissen zu Beginn des Jahres – dem Amtsantritt der Konsuln sowie den von ihnen durchgeführten Opfern und Spielen85 – verbunden, so daß nicht nur der Eindruck einer besonderen Häufung, sondern auch einer umfassenden Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens entsteht.86 Während die Prodigien hier durch ihre Quantität betont wurden, werden die des nächsten Jahres im 42. Buch ganz explizit mit der emotionalen Verfassung der Zeitgenossen in Zusammenhang gebracht, wobei die Formulierung – in suspensa civitate ad exspectationem novi belli – sich kaum zufällig an Begriffe aus der Theoriedebatte der Späten Republik anlehnen dürfte.87 ___________________________

80 Zu Livius’ skeptischer Haltung gegenüber einigen Prodigien vgl. LEVENE 1993, 16-30, u. ENGELS 2007, 204-219, sowie dag. DAVIES 2004, v.a. 21-85, der Skepsis gegenüber religiösen Phänomenen bei Livius bestreitet. 81 Vgl. Liv. 27,23,4. 82 Zum Aufbau einer Spannungskurve im Vorfeld dieses Krieges s. unten S. 225-237. 83 Vgl. zum 41. Buch allg. KERN 1960, 160: „Bei dem Thema der inneren Entwicklung des Römertums geht es in diesem Buche speziell um den Wert der religio und der Tradition, die mehrfach bedroht, aber immer wieder restituiert wird, darüber hinaus aber auch um die Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre durch die Fülle der prodigia und omina, die offenbar auf die drohende Schwere und Gefahr der Zuspitzung zwischen Rom und Perseus weisen.“ 84 Vgl. Liv. 41,9,4-9,7 u. 41,13,1-13,3 mit LEVENE 1993, 105-107. 85 Vgl. Liv. 41,14,7 (Amtsantritt); 41,15,1-15,4 (Opfer) u. 41,16,1-16,6 (Spiele). 86 Dieser Eindruck wird noch durch die Formulierung unterstrichen, mit der die dritte Liste von omina eingeleitet wird: vgl. Liv. 44,16,6: plenis religionum animis prodigia insuper nuntiata: … („Während die Gemüter von abergläubischer Furcht erfüllt waren, wurden noch obendrein Zeichen vom Himmel gemeldet: …“). 87 Vgl. Liv. 42,20,1-20,6; zur Rolle der exspectatio s. oben S. 58-64 u. unten S. 193-195.

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III. Die Struktur der Geschichte

Wenn wir uns nach den Vorverweisen, die durch wiederkehrende Rubriken des annalistischen Schemas gestützt werden, nun den individuellen Vorwegnahmen zukünftigen Geschehens zuwenden, so haben wir es mit Blick auf die narrativen Formen mit einem deutlich heterogeneren Spektrum zu tun. Dabei spielen neben den direkten Ankündigungen durch den Erzähler88 vor allem verschiedene den historischen Figuren in den Mund gelegte Äußerungen – entweder als Referat einer Rede oder Schilderung von Gedanken – eine wichtige Rolle.89 Diese können sowohl die Form der Erläuterung eines Planes oder einer Absichtserklärung90 als auch der Warnung vor bevorstehenden Ereignissen haben.91 Alle drei Fälle werden zudem oft mit verschiedenen Arten der Zukunftsdeutung verbunden, wofür der im 21. Buch geschilderte92 und – bei richtiger Deutung93 – den gesamten Kriegsverlauf bereits zusammenfassende Traum Hannibals von einem Drachen, der Italien zwar verwüsten, aber nicht erobern kann, ein gutes Beispiel bietet. Neben diesen wiederkehrenden Formen finden sich aber auch singuläre Lösungen. So ergibt sich aus der Besteigung des Haimos-Gebirges durch Philipp V. von Makedonien eine Art visualisierter Vorwegnahme eines neuen Krieges gegen Rom, auch wenn die Pointe der ausführlich geschilderten Episode darin besteht, daß der Weg nach Italien, den der König auf diese Weise auskundschaften wollte, vom Gipfel des Berges letztlich nicht zu sehen ist. Auf einer zweite Ebene kann der Leser daher aus der Schilderung die Vermutung ableiten, daß Philipp möglicherweise nicht in der Lage sein wird, seine Kriegspläne zu realisieren.94 Zudem können diese unterschiedlichen Formen der Vorverweise sowohl untereinander als auch mit den anderen Ausblicken auf künftiges Geschehen kombiniert werden, um auf diese Weise einerseits einzelne Ereignisse in der Erzählung besonders zu betonen oder in einer bestimmten Weise zu deuten, andererseits den Leser in Spannung auf den tatsächlichen Fortgang der Handlung zu versetzen. Da wir Beispiele für diese kombinierte Strategie später ausführlicher kennenlernen werden,95 wollen wir uns nun den Rückblicken innerhalb der an sich linearen Erzählordnung von Livius’ ab urbe condita zuwenden. ___________________________

88 Vgl. z.B. Liv. 26,6,13-6,16 mit der Ankündigung des Untergangs von Capua, bei der sich der Erzähler zudem auf ein indirekt wiedergebenes Orakel beruft. 89 Zur Antizipation künftigen Geschehens in Reden s. unten S. 237-242. 90 Vgl. z.B. Liv. 24,13,1-13,5 (Hannibal erörtert mit einigen Adeligen aus Tarent seinen Plan, wie die Stadt an ihn übergeben werden kann). 91 Vgl. z.B. Liv. 5,32,6-32,7 (M. Caedicius warnt – veranlaßt durch eine göttliche Stimme – vor einem bevorstehenden Angriff der Gallier auf Rom). 92 Vgl. Liv. 21,22,6-22,9 sowie ferner Cic. div. 1,49 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 142-144. 93 Vgl. z.B. FUHRMANN 1982, 24: „Der Leser soll hier gewiß die hintergründige Ironie bemerken: das Traumgesicht sagt nichts Unwahres, es sagt jedoch nur die halbe Wahrheit.“ 94 Vgl. Liv. 40,21,1-22,14 sowie ferner Pol. 24,3 (= Strabo 7,5,1) mit z.B. LUCE 1977, 111; WALSH 1996a, 142; BRISCOE 2008, 464-468, u. v.a. JAEGER 2007. 95 S. unten S. 225-242.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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Für den Blick zurück auf der Haupterzählung vorangegangenes Geschehen hat das annalistische Schema zwar keine regelmäßig wiederkehrenden Rubriken zu bieten. Doch aus der generellen Perspektive der Erzählung, die den Mittelmeerraum erst nach und nach mit dem Wachsen des römischen Einflußbereichs in den Blick nimmt, ergibt sich als gleichsam strukturelle Notwendigkeit die nachträgliche Behandlung der Vorgeschichte vor allem von Städten96 und Völkern.97 Bei diesen Exkursen handelt es sich zumeist um interne, gelegentlich auch um externe Analepsen, wenn man den gesamten von Livius dargestellten Zeitraum von der Gründung der Stadt bis in seine eigene Gegenwart zum Maßstab nimmt. Bei zwei anderen strukturell bedingten Arten des Rückblicks, der Gesamtwürdigung einer Person, die in der Regel anläßlich ihres Todes gegeben wird, und der Schilderung von Triumphen mitsamt ihrer Vorgeschichte, handelt es sich hingegen in der Regel um Formen der narrativen Wiederholung.98 Denn hier werden nicht nur in den meisten Fällen Ereignisse aus der im Gesamtwerk dargestellten Zeit behandelt, sondern zudem häufig solche, die bereits an ihrem jeweiligen chronologischen Ort dargestellt wurden. Livius verwendet zur Charakterisierung historischer Personen allerdings – in den erhaltenen Teilen seines Werkes99 – nur selten die Form eines geschlossenen Porträts.100 Vielmehr bedient er sich zumeist unterschiedlicher Techniken der indirekten Charakterisierung, deren Spektrum von expliziten Kommentaren des Erzählers über die implizite Schilderung durch die Reaktionen der Umwelt bis hin zu der Wiedergabe von Reden der betreffenden Person und seiner Zeitgenossen reicht.101 Während jedoch allen diesen Formen gemeinsam ist, daß durch sie die zeitliche Abfolge der Ereignisse nicht gestört wird, so ist dies bei der zusammenfassenden Würdigung an einer Stelle nicht der Fall. Bei dem zu diesem Zweck in der Erzählung ausgewählten Zeitpunkt handelt sich in der Regel um den Tod der betreffenden Person,102 doch gibt es eine Reihe von Ausnahmen, die eine individuelle Schwerpunktsetzung erlauben: So findet sich die Würdigung des älteren ___________________________

96 97 98

Vgl. z.B. Liv. 8,22,5-22,7 (Neapel) u. Liv. 21,7,1-7,3 (Sagunt). Vgl. Liv. 5,33,1-35,3 (Kelten in Italien) u. Liv. 38,16,1-16,15 (Kelten in Kleinasien). Ausnahmen stellen Personen dar, die bislang nicht Teil der Erzählung waren, wie der Illyrerfürst Genthios (vgl. Liv. 44,30,2-30,5 sowie ferner Pol. 29,13,1-13,2). 99 Die das Gegenteil nahelegende Äußerung des älteren Seneca wird von ihm mit der aus dem 120. Buch stammenden Würdigung Ciceros belegt (vgl. Sen. suas. 6,21-22 = Liv. 120 Frg. 62 mit HOMEYER 1964; POMEROY 1991, 146-148, u. CHLUP 2004). 100 Zur häufig auch inhaltlich disparaten Schilderung als Teil der Darstellungsstrategie vgl. jetzt LEVENE 2010, 127-214. 101 Zu Livius’ indirekter Technik vgl. z.B. BRUNS 1898, 12-42; BORNECQUE 1933, 175181; WALSH 1961, 82-109; BURCK 1992, 132-163; BERNARD 2000, 13-160, v.a. 20, u. VASALY 2009, 255-259; zur antiken Historiographie allg. PITCHER 2007, 107-115. 102 Vgl. allg. BERNARD 2000, 32-35. Klassische Beispiele sind M. Furius Camillus (vgl. Liv. 7,1,7-1,10), Q. Fabius Maximus Cunctator (vgl. Liv. 30,26,7-26,10 mit WALSH 1961, 105f.) oder König Attalos von Pergamon (vgl. Liv. 33,21,1-21,5 mit Pol. 18,41 u. TRÄNKLE 1977, 113-115).

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III. Die Struktur der Geschichte

Cato, die umfangreichste im gesamten Werk, anläßlich der für ihn namensgebenden Wahl zum Zensor (184 v. Chr.)103 und die des L. Papirius Cursor104 im Anschluß an seine – wenn auch vermutlich unhistorischen – Erfolge bei Luceria und Satricum (320-319 v. Chr.) in Roms zweiten Krieg gegen die Samniten.105 Noch deutlicher wird der Rückbezug auf bereits geschildertes Geschehen im Zusammenhang mit der Darstellung von Triumphen. Bereits die reale Zeremonie des Einzug eines siegreichen Feldherrn bot vielfältige Optionen zur Erinnerung und Visualisierung der zurückliegenden Ereignisse.106 Auch bei der Erwähnung in einem Geschichtswerk ergibt sich daher die Möglichkeit, dieses multimediale Schauspiel und seine das historische Geschehen – wenn auch einseitig aus der Perspektive der Sieger – resümierende Wirkung den Lesern im Text summarisch vor Augen zu führen. Gute Beispiele hierfür bieten unter anderem107 die ausführlich geschilderten und als Abschluß einer größeren Einheit dienenden Triumphe des Scipio Africanus über Hannibal im 30. Buch108 und vor allem der – leider nur fragmentarisch erhaltene109 – des Aemilius Paullus über Perseus im 45 Buch.110 Doch die Schilderung der Zeremonie als solcher stellt nur ein Element unter mehreren dar, die Livius in diesem Zusammenhang prinzipiell zur Verfügung stehen und die er je nach Anlaß individuell zusammenstellt.111 Mit Blick auf die narrativen Rückblicke kommt dabei vor allem den Verhandlungen und Debatten, die der Vergabe eines Triumphes durch den Senat in der Regel vorausgehen,112 eine wichtige Rolle zu. Indem Livius diese – vor dem Hintergrund nobilitärer Konkurrenz – nicht selten kontrovers geführten Auseinandersetzungen um eine richtige Bewertung militärischer Leistungen ausführlich wiedergibt, erhält er die Möglichkeit, zentrale Elemente der Interpretation der eigenen Geschichte und damit nicht zuletzt der römischen Identität nicht nur zu thematisieren, sondern ___________________________

103 Vgl. Liv. 39,40,4-40,12 mit BERNARD 2000, 46-49. 104 Vgl. Liv. 9,16,11-16,19 mit BERNARD 2000, 44-46. 105 Vgl. Liv. 9,8,1-9,16,10 mit MORELLO 2003; OAKLEY 2005a, 114-175; BRIQUEL 2006; BRIQUEL 2009, 337-346, u. GROSSMANN 2009, 88. 106 Zum Triumph in der nobilitären Erinnerungskultur der Republik s. oben S. 22. 107 Vgl. ferner z.B. Liv. 10,46,2-46,6 (L. Papirius Cursor über die Samniten 293 v. Chr.); 28,9,5-9,20 (M. Livius Salinator und C. Claudius Nero nach dem Sieg am Metaurus 207 v. Chr.); 37,46,1-46,6 (Glabrio nach dem Sieg gegen Antiochos III. 190 v. Chr.) u. 37,58,6-59,6 (L. Scipio Asiaticus nach dem Sieg bei Magnesia 189 v. Chr.). 108 Vgl. Liv. 30,45,3-45,7 mit PITTENGER 2008, 165-167. 109 Vgl. z.B. LUCE 1977, 155 Anm. 3: „Plutarch’s description (Aem. Paul. 32-34) gives some idea of what Livy’s account must have been like.“ 110 Vgl. Liv. 45,40,1-40,8 mit LEVENE 2006, 97-101, der die ‚metahistorische‘ Ebene dieser Darstellung betont; zum Zusammenhang mit den Siegesfeiern des Paullus in Griechenland EGELHAAF-GAISER 2006, v.a. 56. 111 Vgl. PHILLIPS 1974, v.a. 266. 112 Zu den sich ändernden Kriterien für die Bewilligung eines Triumphes und den mit ihrer Rekonstruktion verbundenen Schwiergkeiten vgl. ITGENSHORST 2005, v.a. 180188; BEARD 2007, 187-218; PITTENGER 2008, 25-125, u. GOLDBECK / MITTAG 2008.

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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auch von den Zeitgenossen selbst aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren zu lassen.113 Die umfangreicher behandelten Diskussionen – beispielsweise um den Triumph des P. Cornelius Scipio Nasica über die Boier im Jahre 191 v. Chr.,114 den des Cn. Manlius Vulso über die Galater im Jahre 187 v. Chr.115 oder den schon erwähnten Triumph des Aemilius Paullus im Jahre 167 v. Chr.116 – werden damit zugleich zu Stellen, an denen der Leser nicht nur Wissen über die Vergangenheit vermittelt bekommt, sondern auch einen Einblick in die seiner Beurteilung und Kommemorierung zugrundeliegenden Mechanismen erhält.117 Wenn wir uns nun abschließend den Rückblicken auf vergangenes Geschehen zuwenden, die nicht an wiederkehrenden Stellen und in festen Formen erfolgen, sondern je nach Anlaß und in durchaus individueller Gestaltung, so bieten sich die zuletzt besprochenen Triumphdebatten insofern als Übergang an, weil es sich auch in diesen Fällen häufig um einen Krieg oder um einen anderen abgeschlossenen militärischen Ereigniszusammenhang handelt. Dieses Geschehen wird nun ebenfalls aus einer Perspektive oder mehreren Perspektiven noch einmal rekapituliert und unter Umständen auch sehr unterschiedlich gedeutet. Doch während diese Bewertungen im Zusammenhang der Triumphdebatten vor allem von den unmittelbar betroffenen Akteuren selbst vorgenommen wurden, ergibt sich hier eine größere Bandbreite der möglichen Formen, unter denen neben den Reden der historischen Personen118 vor allem den direkten Kommentaren des Erzählers eine zentrale Rolle zukommt. Prominente Beispiele bieten der Rückblick auf die ersten 46 Jahre der Auseinandersetzung mit den Samniten,119 die Rekapitulation von Roms ersten Krieg gegen Makedonien zu Beginn der vierten Dekade120 oder die – wenn auch recht kurze – Zusammenfassung der Geschichte der Makedonen anläßlich der Gefangennahme ihres letzten Königs Perseus durch Paullus.121 ___________________________

113 Vgl. CHAPLIN 2000, 140-156; ITGENSHORST 2005, 148-179, u. PITTENGER 2008, v.a. 275-298; zum Beitrag zur multiperspektivischen Darstellung s. unten S. 171. 114 Vgl. Liv. 36,39,3-40,14 mit CHAPLIN 2000, 151f., u. PITTENGER 2008, 187-195. 115 Vgl. Liv. 38,44,9-50,3 (Debatte) u. 39,6,3-7,5 (Triumphzug) mit KERN 1960, v.a. 81; WALSH 1993, 178; CHAPLIN 2000, 101-103; u. PITTENGER 2008, 196-230. 116 Vgl. Liv. 45,35,5-39,20 mit v.a. FLAIG 2000, 142-144; EGELHAAF-GAISER 2006, 53f., u. PITTENGER 2008, 246-274. 117 Weitere Beispiele bieten die Debatte um den Triumph des Claudius Marcellus über Syrakus 209 v. Chr. (vgl. Liv. 26,21,1-21,5 mit CHAPLIN 2000, 140-156, u. PITTENGER 2008, 150-159), den des Furius Purpurio über die Gallier 200 v. Chr. (vgl. Liv. 31,47,4-49,3 mit CHAPLIN 2000, 146-149, u. PITTENGER 2008, 168-180) oder den des Fulvius Nobilior nach der Eroberung von Ambrakia 187 v. Chr. (vgl. Liv. 39,4,1-5,17 mit CHAPLIN 2000, 153f., u. PITTENGER 2008, 196-212). 118 Vgl. z.B. Liv. 22,14,4-14,15; 32,21,1-21,37; 33,3,11-4,3; 34,31,1-32,20; 38,17,1-17,20; 42,39,4-42,9 u. 45,22,1-25,1; zu Rückblicken in Reden als Teil der multiperspektivischen Darstellung s. unten S. 157-189. 119 Vgl. Liv. 10,31,10-31,15 [Text u. Übersetzung s. oben S. 73]. 120 Vgl. Liv. 31,1,6-1,10 mit BRISCOE 1973, 51-55. 121 Vgl. Liv. 45,9,1-9,7 u. Pol. 29,21 mit BURCK 1992, 153-157, u. LEVENE 2006, 87-92.

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III. Die Struktur der Geschichte

Als besonders wirkungsvoll für die multiperspektivische Darstellung erweist sich dabei die Kombination mehrerer dieser Techniken, wie sie sich vor allem an vielen Stellen in der dritten Dekade beobachten läßt.122 So wird beispielsweise die Vorgeschichte seit Roms ersten Krieg gegen Karthago, die zuvor in den für uns verlorenen Büchern 16-20 dargestellt worden war, im 21. Buch sowohl als – teilweise aus der Sicht Hamilkars fokalisierter – Bericht des Erzählers123 als auch in den Reden, die Hannibal124 und der römische Konsul P. Cornelius Scipio125 vor dem ersten Aufeinandertreffen beider Heere am Ticinus 218 v. Chr. halten, aus jeweils unterschiedlicher Perspektive rekapituliert. Noch deutlicher wird dies im 26. Buch, in dem mit zahlreichen den bisherigen Kriegsverlauf resümierenden Elementen der Beginn einer neuen Pentade akzentuiert wird.126 Dabei läßt sich auch mit Blick auf die Form, in der die Rückblicke erfolgen, eine größere Bandbreite feststellen: Den Auftakt bildet die Senatsdebatte, in der die Lage zu Beginn des Jahres 211 v. Chr. diskutiert wird.127 Darauf folgt die detaillierte Schilderung von Hannibals zweiten Marsch auf Rom,128 die sowohl inhaltlich wie strukturell auf den Beginn des gesamten Krieges bezogen ist,129 dann eine Rekapitulation der Erfolge und Niederlagen beider Seiten in den letzten Jahren durch den Erzähler130 und schließlich die Rede Scipios vor seinen Soldaten am Ebro, die eine ausführliche Zusammenfassung und Deutung des bisherigen Kriegsverlaufes aus römischer Perspektive enthält.131 Neben der Mitte – zumal wenn diese wie im 26. Buch zugleich als Peripetie fungiert – bietet sich das Ende eines Geschehenszusammenhanges in besonderer Weise für Rückblicke an. Daher kann es nicht verwundern, daß wir auch in den übrigen Büchern dieser Dekade Beispiele für Rekapitulationen finden, die erneut in ganz unterschiedlichen Formen umgesetzt sind.132 In gleicher Weise wird auch Roms Krieg gegen Perseus am Ende des 45. Buches wiederholt rekapituliert und ___________________________

122 Zur Vielzahl der Vor- und Rückbezüge in der 3. Dekade und der dadurch erzeugten Dichte und Komplexität vgl. z.B. BURCK 1962 [1950], 9, u. LEVENE 2010, ix. 123 Vgl. Liv. 21,1,1-2,1 mit Pol. 3,9,6-10,7. 124 Vgl. Liv. 21,42,1-44,9 mit Pol. 3,62-63 sowie ferner BURCK 1962 [1950], 70f.; WALSH 1961, 232f., u. TREPTOW 1964, 119-128. 125 Vgl. Liv. 21,40,1-40,17 mit Pol. 3,64 u. TREPTOW 1964, 111-119. 126 Vgl. z.B. BURCK 1962 [1950], 13-17. 127 Vgl. Liv. 26,1,1-3,12. 128 Vgl. Liv. 26,7,1-11,13 mit SACK 1937; KLOTZ 1940 u. BURCK 1962 [1950], 121f. 129 Vgl. v.a. BURCK 1962 [1950], 17f., u. WALSH 1982, 1069f. 130 Vgl. Liv. 26,37,1-38,5 mit Pol. 9,21,13 sowie ferner HOFFMANN 1942, 59-68; BURCK 1962 [1950], 19-26, u. GÄRTNER 1975, 28-34, v.a. 30. 131 Vgl. Liv. 26,41,3-41,25 mit Pol. 10,6 sowie ferner BURCK 1962 [1950], 125-127, u. FELDHERR 1998, 66-72, v.a. 71f. 132 Vgl. Liv. 27,40,1-40,7 (Rückblick aus der Sicht der stadtrömischen Bevölkerung); 28,12,1-12,9 (Rückblick des Erzählers auf Hannibals militärische Leistung); 30,20,120,9 (Rückblick Hannibals auf seine Kriegsführung) u. 30,30,1-31,9 (Rückblicke in den Reden Hannibals und Scipios vor der Schlacht von Zama).

1. Das annalistische Schema und die Erzählzeit: Linearität als Norm

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erfährt dabei unterschiedliche Bewertungen. Dies gilt sowohl für die oben bereits erwähnten Debatten um den Triumph für Aemilius Paullus133 als auch für seine im Anschluß gehaltene Rede, die eine weitere ausführliche Nacherzählung seines Kommandos in Griechenland enthält.134 Resümierend läßt sich festhalten, daß die Anordnung der historischen Ereignisse in ab urbe condita trotz der grundsätzlichen Entscheidung für die lineare Struktur des annalistischen Schemas in einem breiten Spektrum narrativer Vorund Rückverweise erfolgt. Bei den Rückblicken, insbesondere wenn es sich um die wiederholte Schilderung bereits dargestellter Ereignisse handelt, läßt sich häufig eine Verbindung von Rekapitulation und Multiperspektivität beobachten, die einerseits einen Beitrag zur Deutung des Geschehens im vom Autor vorgeschlagenen Sinn leistet, andererseits durch ihren polyphonen Charakter den Leser aber auch auf mit der Präsentation und Beurteilung historischer Ereignisse verbundenen Schwierigkeiten aufmerksam machen kann. In analoger Weise dienen die Vorverweise auf künftige Ereignisse der Deutung des historischen Geschehens, können aber auch – vor allem über die Erzeugung von Spannung – eine wichtige Funktion bei der Leserbindung übernehmen. d) Zwischenfazit: Die Erzählzeit zwischen Fixierung und Flexibilität Mit der bewußten Entscheidung für das in seiner Zeit nicht mehr konkurrenzlose und in der historiographischen Theoriediskussion der Späten Republik auch nicht unumstrittene annalistische Schema hat Livius für seine Version der römischen Geschichte eine Struktur gewählt, die als besonders traditionell empfunden wurde und damit einen Teil ihrer Aussage bereits in sich trägt. Doch auch über den Bezug auf die – wohl nur vermeintliche – Tradition vorgeschichtlicher Priesterchroniken hinaus sind mit dieser zunächst wenig flexibel wirkenden Struktur auf den zweiten Blick eine ganze Reihe narrativer Optionen verbundenen, die diese Entscheidung auch auf literarischer Ebene nachvollziehbar machen. Trotz der mit dem annalistischen Schema einhergehenden Fixierung auf eine lineare Abfolge der historischen Ereignisse lassen sich solche Vorteile auch auf der Ebene der Zeitstruktur beobachten. Dabei kommt vor allem den drei in den zurückliegenden Abschnitten besprochenen Aspekten besondere Bedeutung zu: Indem die Ereignisse in jedem Jahr räumlich wie zeitlich von Rom ihren Ausgang nehmen, erhält die Erzählung und damit auch die Vergangenheit ein deutlich markiertes Zentrum. Zudem entstehen auf diese Weise innerhalb des Textes wiederkehrende Strukturen, die ebenfalls einen Beitrag zur Deutung des Geschehens leisten, darüber hinaus beim Leser aber auch eine Erwartungshaltung an den Fortgang der Erzählung erzeugen und ihn über die implizite Aufforderung zum Vergleich der einzelnen Jahre zu einer intensiveren Form der Lektüre anhalten. ___________________________

133 Vgl. Liv. 45,35,5-39,20 u. s. oben S. 99. 134 Vgl. Liv. 45,41,1-42,1 mit PASCHKOWSKI 1966, 221-248, u. CHAPLIN 2000, 118f.

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III. Die Struktur der Geschichte

In gleicher Weise lassen sich die verschiedenen Techniken, die zur Gestaltung des Übergangs bei der Schilderung gleichzeitiger Ereignissen verwendet werden, sowohl als Mittel zur Unterstreichung einer historischen Aussage als auch als ein Beitrag zur Leserbindung verstehen. Am deutlichsten treten beide Funktionen der flexiblen Elemente innerhalb der annalistischen Fixierung am Beispiel der Vorverweise und Rückblicke zutage. Denn diese temporären Abweichungen von der linearen Erzählzeit tragen nicht nur wesentlich zur Deutung des Geschehens bei, sondern führen – vor allem durch die multiperspektivische Präsentation im Falle der Rückblicke und durch die Erzeugung von Spannung im Falle der Vorverweise – auch zu einer stärkeren Involvierung des Lesers.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel Nachdem im ersten Teil des Kapitels bereits die im annalistischen Schema trotz der streng linearen zeitlichen Abfolge vorhandene Flexibilität behandelt wurde, liegt der Fokus in den folgenden Abschnitten nun auf den darüber hinausgehenden Möglichkeiten zur Variation. Dabei beginnen wir mit denjenigen Formen der Abwechslung, die sich auf der inhaltlichen Seite ergeben oder durch Veränderungen der Erzählgeschwindigkeit zustande kommen und die daher geringe Auswirkungen auf den Rezeptionsvorgang als solchen haben, um uns dann mit denjenigen Verfahren zu beschäftigen, die dem Rezipienten einen stärkeren Eingriff in sein Leseverhalten ermöglichen. Hier kommt der Bildung thematischer geschlossener Bücher und Buchgruppen sowie den intra- und möglicherweise paratextuellen Gliederungselementen eine zentrale Rolle zu. Denn gerade diese Techniken erlauben es dem Leser, trotz der Vorgaben des annalistischen Schemas in gewissem Umfang innerhalb des Textes zu ‚springen‘ und damit zu einer individuellen und unter Umständen auch selektiven Form der Lektüre zu finden. a) Polybios und die variatio als Vorteil des annalistischen Schemas Auch im Falle der variatio, die sich innerhalb des annalistischen Schemas ergeben kann, erweisen sich Polybios’ Überlegungen zur Theorie der Historiographie als geeigneter Ausgangspunkt. Aus dem 38. Buch hat sich ein Fragment mit der ausführlichen Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf erhalten, seine chronologische Art der Präsentation reiße Zusammengehöriges auseinander und stehe dem Verständnis durch den Leser daher im Wege.135 Wir haben diese Stelle bei der Behandlung des annalistischen Schemas bereits kennengelernt, ohne jedoch auf seine ebenfalls umfangreiche Erörterung der Vorteile dieser Anordnung, die auf die Widerlegung der Gegenargumente folgt, näher einzugehen:136 ___________________________

135 Vgl. Pol. 38,5-6; zu Polybios’ Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern an dieser Stelle vgl. MEISTER 1971 u. SACKS 1981, 114f. mit Anm. 42. 136 S. oben S. 79f.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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ἐμοὶ δ' οὐχ οὕτως δοκεῖ, τὸ δ' ἐναντίον. μάρτυρα δὲ τούτων ἐπικαλεσαίμην ἂν αὐτὴν τὴν φύσιν, ἥτις κατ' οὐδ' ὁποίαν τῶν αἰσθήσεων εὐδοκεῖ τοῖς αὐτοῖς ἐπιμένειν κατὰ τὸ συνεχές, ἀλλ' ἀεὶ μεταβολῆς ἐστιν οἰκεία, τοῖς δ' αὐτοῖς ἐγκυρεῖν ἐκ διαστήματος βούλεται καὶ διαφορᾶς. εἴη δ' ἂν τὸ λεγόμενον ἐναργὲς πρῶτον μὲν ἐκ τῆς ἀκοῆς, ἥτις οὔτε κατὰ τὰς μελῳδίας οὔτε κατὰ τὰς λεκτικὰς ὑποκρίσεις εὐδοκεῖ συνεχῶς ταῖς αὐταῖς ἐπιμένειν στάσεσιν, ὁ δὲ μεταβολικὸς τρόπος καὶ καθόλου πᾶν τὸ διερριμμένον καὶ μεγίστας ἔχον ἀλλαγὰς καὶ πυκνοτάτας αὐτὴν κινεῖ. παραπλησίως καὶ τὴν γεῦσιν εὕροι τις ἂν οὐδὲ τοῖς πολυτελεστάτοις βρώμασιν ἐπιμένειν δυναμένην, ἀλλὰ σικχαίνουσαν καὶ χαίρουσαν ταῖς μεταβολαῖς καὶ προσηνεστέρως ἀποδεχομένην πολλάκις καὶ τὰ λιτὰ τῶν ἐδεσμάτων ἢ τὰ πολυτελῆ διὰ τὸν ξενισμόν. τὸ δ' αὐτὸ καὶ περὶ τὴν ὅρασιν ἴδοι τις ἂν γινόμενον· ἥκιστα γὰρ δύναται πρὸς ἓν μένειν ἀτενίζουσα, κινεῖ δ' αὐτὴν ἡ ποικιλία καὶ μεταβολὴ τῶν ὁρωμένων. μάλιστα δὲ περὶ τὴν ψυχὴν τοῦτό τις ἂν ἴδοι συμβαῖνον· αἱ γὰρ μεταλήψεις τῶν ἀτενισμῶν καὶ τῶν ἐπιστάσεων οἷον ἀναπαύσεις εἰσὶ τοῖς φιλοπόνοις τῶν ἀνδρῶν. διὸ καὶ τῶν ἀρχαίων συγγραφέων οἱ λογιώτατοι δοκοῦσί μοι προσαναπεπαῦσθαι τῷ τρόπῳ τούτῳ, τινὲς μὲν μυθικαῖς καὶ διηγηματικαῖς κεχρημένοι παρεκβάσεσι, τινὲς δὲ καὶ πραγματικαῖς ὥστε μὴ μόνον ἐν αὐτοῖς τοῖς κατὰ τὴν Ἑλλάδα τόποις ποιεῖσθαι τὰς μεταβάσεις, ἀλλὰ καὶ τῶν ἐκτὸς περιλαμβάνειν. Ich für meine Person halte das nicht für richtig, sondern bin der entgegengesetzten Ansicht und möchte mich dafür auf eine psychologische Tatsache berufen. Unserer Natur selbst widerstrebt es, wenn eines unserer Sinnesorgane ununterbrochen bei demselben Gegenstand verharrt; sie verlangt Abwechslung und will derselben Sache erst zu späterer Zeit und in einigem Abstand wieder begegnen. Das kann man sich klarmachen erstens am Gehör: Weder beim Gesang noch bei einer Rezitation kann man einen immerfort gleichbleibenden Tenor der Stimme ertragen, Abwechslung dagegen, eingelegte Pausen, häufige große Veränderungen regen uns an zuzuhören. Ähnlich wird man finden, daß der Geschmackssinn nicht immerfort bei denselben Speisen bleiben kann, und mögen es die teuersten sein, sondern ihrer überdrüssig wird und sich der Abwechslung freut, oft sogar einfache Kost, wegen des Reizes der Neuheit, lieber zu sich nimmt als kostbare Gerichte. Das gleiche gilt auch vom Gesichtssinn. Er am wenigsten kann lange Zeit auf ein einziges Ziel gerichtet bleiben; dagegen zieht ein bunter Wechsel der Bilder unsere Augen auf sich. In ganz besonderem Maße aber trifft das Gesagte auf die Seele zu. Die Abwechslung in den Gegenständen angespannter Aufmerksamkeit ist für fleißige Arbeiter geradezu Erholung. Daher scheinen mir auch die bedeutendsten Geschichtsschreiber der älteren Zeit derartige Ruhepausen eingelegt zu haben, teils in Form von mythischen und novellistischen, teils von sachlichen Exkursen, in der Weise, daß sie nicht nur in Griechenland selbst von einem Schauplatz zum anderen übergingen, sondern auch das Ausland mit einbezogen.137

Diese Ausführungen eröffnen eine neue Sichtweise auf das annalistische Schema, die in der an ‚leserpsychologischen‘ Fragen stark interessierten historiographischen Diskussion der Späten Republik nicht ohne Resonanz geblieben ist. Explizite Aussagen hierzu können wir zwar erst bei Dionysios von Halikarnassos greifen, der in seinem Vergleich zwischen Herodot und Thukydides ersteren dafür lobt, daß er dem Leser genügend Ruhepausen einräumt, während Thukydides zu wenig auf dieses Bedürfnis nach thematischer variatio Rücksicht nehme: ___________________________ 137

Vgl. Pol. 38,5-6 [Übers. DREXLER 1963] mit z.B. PITCHER 2009, 149f.

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III. Die Struktur der Geschichte

συνειδὼς γὰρ Ἡρόδοτος, ὅτι πᾶσα μῆκος ἔχουσα πολὺ διήγησις ἂν μὲν ἀναπαύσεις τινὰς λαμβάνῃ, τὰς ψυχὰς τῶν ἀκροωμένων ἡδέως διατίθησιν, ἐὰν δὲ ἐπὶ τῶν αὐτῶν μένῃ πραγμάτων, κἂν τὰ μάλιστα ἐπιτυγχάνηται, λυπεῖ τὴν ἀκοὴν τῷ κόρῳ, ποικίλην ἐβουλήθη ποιῆσαι τὴν γραφὴν Ὁμήρου ζηλωτὴς γενόμενος· καὶ γὰρ τὸ βυβλίον ἢν αὐτοῦ λάβωμεν, μέχρι τῆς ἐσχάτης συλλαβῆς ἀγάμεθα καὶ ἀεὶ τὸ πλέον ἐπιζητοῦμεν. Θουκυδίδης δὲ πόλεμον ἕνα κατατείνας ἀπνευστὶ διεξέρχεται μάχας ἐπὶ μάχαις καὶ παρασκευὰς ἐπὶ παρασκευαῖς καὶ λόγους ἐπὶ λόγοις συντιθείς· ὥςτε μοχθεῖν μὲν τὴν διάνοιαν τῶν ἀκροωμένων ‚κόρον δ' ἔχει‘ φησὶν ὁ Πίνδαρος ‚καὶ μέλι καὶ τὰ τέρπν' ἄνθε' ἀφροδίσια‘. Weil Herodot verstanden hat, daß jede Erzählung, die eine große Ausdehnung aufweist, ihre Zuhörer dann in einen angenehmen Zustand versetzt, wenn sie einige Pausen enthält, wenn sie aber stets bei den gleichen Gegenständen verweilt, selbst wenn sie noch so gelungen ist, das Ohr durch Übersättigung kränkt, wollte er sein Werk abwechslungsreich gestalten und wurde so zum Nacheiferer Homers: Denn wir bleiben, wenn wir sein Buch in die Hand nehmen, bis zur letzten Silbe voller Bewunderung und wollen immer weiter lesen. Thukydides hingegen behandelt ausführlich und ohne Pause einen einzigen Krieg, wobei er Schlacht auf Schlacht, Rüstung auf Rüstung und Rede auf Rede folgen läßt. Die Folge hiervon ist, daß der Zuhörer sich quält, denn ‚Es gibt Überdruß‘, wie Pindar sagt, ‚auch vom Honig und von den erfreulichen Blumen der Liebe‘.138

Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Überlegungen auch schon zuvor von Historikern in Rom rezipiert wurden, so daß nicht von der unreflektierten Übernahme der annalistischen Anordnung als bloßem Traditionsbestand der römischen Geschichtsschreibung ausgegangen werden sollte. Gerade für Livius läßt sich vielmehr plausibel machen, daß er von den Überlegungen des Polybios, den Leser seines Geschichtswerkes zur kontinuierlichen Lektüre zu motivieren, profitiert hat. Vielleicht läßt sich sogar die Vermutung begründen, daß er aus dem Scheitern des Polybios bei diesem Unterfangen – es sei hier noch einmal an die Einschätzung des Dionysios von Halikarnassos erinnert, daß niemand sein Werk zu Ende lesen vermöge139 – seine Schlüsse gezogen und dies zum Anlaß zur Weiterentwicklung der eigenen Technik bei der Präsentation historischen Geschehens genommen hat. Denn bei einem Rückblick auf die im letzten Abschnitt behandelten Strategien des Übergangs von einem Thema zum anderen in ab urbe condita wird deutlich,140 daß er sich nicht nur von dem festen geographischen Schema, das Polybios zur Grundlage seiner Historien in den Büchern 7 bis 39 erklärt hat,141 emanzipiert hat, sondern auch bei der Plazierung und Gestaltung des jeweiligen Übergangs bewußt unterschiedliche Methoden zur Anwendung bringt. Mit beiden Entscheidungen ist jedenfalls eine Steigerung der Effekte zur Leserbindung verbunden, die von Polybios in der oben zitierten Passage zwar beschrieben, aber vielleicht nicht in vollem Umfang eingelöst wurden. ___________________________

138 139 140 141

Vgl. Dion. Hal. Pomp. 3,11-3,12. Vgl. Dion. Hal. de comp. verb. 4,30; ausführlicher s. oben S. 55. S. oben S. 75-102. Vgl. v.a. Pol. 1,3,3-3,6 u. 4,28.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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Da die einzelnen von Livius in diesem Zusammenhang angewandten Strategien in den vorangegangen Abschnitten bereits beschrieben wurden und ein näherer Vergleich mit Polybios durch die fragmentarische Überlieferung der späteren Bücher nur sehr bedingt möglich ist, soll auf die thematische variatio und auf die Übergänge innerhalb des annalistischen Schemas hier nicht weiter eingegangen werden. Stattdessen werden in den nächsten beiden Abschnitten zwei andere Bereiche und ihr Beitrag zur variatio im Vordergrund stehen. Dies gilt zunächst für die Veränderung im Rhythmus der Erzählung und dann für die Überformung der Einträge zu den einzelnen Jahren durch eine größere thematische Struktur in der Form der Gliederung des Gesamtwerkes in Bücher und Buchgruppen. b) Zwischen Chronik und Novelle: Modulationen im Rhythmus Die Beobachtung, daß es in ab urbe condita neben der als Norm angenommenen Art der Darstellung noch eine zweite, ausführlichere und literarisch anspruchsvollere Form der Präsentation historischer Ereignisse gibt, ist keineswegs neu. Vielmehr hat KURT WITTE bereits 1910 die Verwendung solcher ‚Einzelerzählungen‘ als wichtigen Unterschied zur literarischen Technik des Polybios herausgearbeitet.142 Seitdem ist der Wechsel zwischen stärker annalistischen, tendenziell summarisch berichtenden Passagen auf der einen und detaillierter, häufig in geschlossener Form erzählten Partien auf der anderen Seite als zentrales Element der livianischen Darstellung – unter anderem von ERICH BURCK – mehrfach untersucht worden.143 Dabei standen neben dem Vergleich mit der Darstellung der gleichen Ereignisse bei Polybios die Fragen im Vordergrund, welche Ziele Livius mit diesen Schilderungen verfolgt und auf welche Vorbilder er sich hierfür in der hellenistischen Geschichtsschreibung berufen konnte. Demgegenüber soll der Akzent hier auf der Interaktion dieser ‚Einzelerzählungen‘ mit ihrem Kontext und auf den Folgen liegen, die sich aus diesem Verhältnis für die Wahrnehmung des historischen Geschehens durch den Leser ergeben. Narratologisch betrachtet handelt es sich bei diesem Phänomen zunächst allgemein um einen Wechsel im Rhythmus der Erzählung. Dieser kommt bei Livius – wie in den meisten narrativen Texten – im wesentlichen dadurch zustande, daß sich zusammenfassende Berichte (summaries) mit ausführlich geschilderten Szenen (scenes) abwechseln.144 Eine Besonderheit der Geschichtsschreibung besteht ___________________________

142 Vgl. WITTE 1910. 143 Vgl. BURCK 1964 [1934], v.a. 182-195; BURCK 1962 [1950], 53-56; WALSH 1961, 173-218; TRÄNKLE 1977, v.a. 73-131; LUCE 1977, 185-229, u. BURCK 1992, 50-63. 144 Vgl. DE JONG 2007a, 11: „Theoretically, there are an infinite number of possibilities when it comes to rhythm. In practice, however, narratives typically modulate between scenes, in which events are told in great detail, often including the words spoken by a character, and we come close to – but of course never really match – their real-time duration, and summaries, where events are dealt with in broad strokes and without a great deal of detail.“

106

III. Die Struktur der Geschichte

allerdings in der Verfügbarkeit des Materials, so daß Teile des Erzählrhythmus wegen der schwanken Dichte an Informationen vorgegeben sind. Gleichwohl bleibt dem Autor ein erheblicher Handlungsspielraum, so daß die quantitativen Schwerpunkte nicht vorschnell mit dem Verweis auf die Überlieferung erklärt werden sollten. Ein weiterer Unterschied zu anderen narrativen Texten ergibt sich dadurch, daß dem Leser die im Laufe der Erzählung vergehenden Jahre vergleichsweise präsent sind und eine zusätzliche Ebene der Orientierung bieten.145 Dieser Effekt einer klaren Strukturierung der erzählten Zeit wird durch die Verwendung einer annalistischen Gliederung noch einmal erheblich verstärkt. Das generelle Bewußtsein des Lesers für die Veränderungen in dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit, das sich bereits aus der Gattung Historiographie im allgemeinen und dem annalistischen Schema im besonderen ergibt, wird von Livius zusätzlich dadurch geschärft, daß er es an einigen Stellen explizit thematisiert, indem er ganze Jahre lediglich mit der Bemerkung zusammenfaßt, daß in ihnen nichts Berichtenswertes geschehen sei. Dies ist für das Jahr 500 v. Chr. – Consules Ser. Sulpicius M’. Tullius; nihil dignum memoria actum146 – ebenso der Fall wie für das Jahr 429 v. Chr. – Consules L. Sergius Fidenas iterum Hostius Lucretius Tricipitinus. nihil dignum dictu actum his consulibus.147 Auch wenn eine solche extreme Form der Zusammenfassung auf das ganze Werk gesehen eine Ausnahme darstellt,148 so wird durch sie der Leser dennoch auf die mit den Wechseln im Rhythmus und in der Quantität der Erzählung verbundenen Aussagemöglichkeiten aufmerksam gemacht.149 Während wir es an diesen Stellen letztlich mit einer narrativen Ellipse zu tun haben, lassen sich Beispiele für das gegenteilige Phänomen der Pause, des Stillstandes der Handlung bei fortgesetzter Erzählung, in ab urbe condita strenggenommen nur in den klassischen Fällen eines Exkurses oder einer Ekphrasis finden.150 Um so umfangreicher ist aber das Repertoire an narrativen Techniken, mit denen die Geschwindigkeit der Erzählung reduziert und somit das Verhältnis zur erzählten Zeit verringert werden kann. Hierbei spielt neben der Angabe von Details zu verschiedenen inhaltlichen Bereichen durch den Erzähler (beispielsweise Personennamen, Charakterisierungen, Beschreibungen des Handlungsortes, Motive der Akteure, Bewertungen durch die Zeitgenossen) vor allem die Wiedergabe von Reden der beteiligten Personen eine entscheidende Rolle. Durch die Wiedergabe von Reden – entweder in ihrem angeblichen Wortlaut oder in oratio obliqua – erhält der Leser zwar inhaltlich die gleichen Informatio___________________________

145 146 147 148

Zu den unterschiedlichen Graden von time awareness vgl. DE JONG 2007a, 1f. Vgl. Liv. 2,19,1. Vgl. Liv. 4,30,4. Vgl. RICH 2009 [1997], 128: „The extreme variety of the year narratives is in fact one of the hallmarks of the first decade. The amount of space accorded to individual years varies hugely: ….“ 149 Zur impliziten Aufforderung zum Vergleich der einzelnen Jahre s. oben S. 85. 150 Zu den Begriffen ellipsis und pause vgl. DE JONG 2007a, 12.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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nen wie bei einer Mitteilung durch den Erzähler, ihre Wahrnehmung wird jedoch zusätzlich durch verschiedene Faktoren beeinflußt. Während die Folgen, die sich aus der Fokalisierung durch den jeweiligen Sprecher ergeben, uns im nächsten Kapitel ausführlicher beschäftigen werden,151 interessiert uns hier vor allem die durch die deutliche Verlangsamung der Erzählzeit – die bei der direkten Rede sogar mit der erzählten Zeit identisch ist – ausgelöste Wirkung. Da der Leser auf diese Weise den Eindruck gewinnen kann, diese Ereignisse in zeitlicher Hinsicht ‚mitzuerleben‘, läßt sich über die Veränderung der relativen Geschwindigkeit der Erzählung nicht zuletzt eine stärkere Involvierung des Rezipienten in das dargestellte Geschehen erzeugen. Besonders deutlich tritt dieser Effekt hervor, wenn nicht nur die Worte einer Person, sondern mehrere zu einem bestimmten Anlaß gehaltene Reden wiedergegeben werden. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Debatte um die Abschaffung der lex Oppia im Jahre 195 v. Chr., die Livius in den ersten acht Kapiteln des 34. Buches mit ungefähr 2600 Worten sehr detailliert schildert, so daß die Wiedergabe der beiden an diesem Tag gehaltenen Reden rund ein Sechstel des gesamten Buches einnimmt, das in den übrigen Kapiteln noch Ereignisse aus den Jahren 195 bis 193 v. Chr. enthält.152 Indem Livius der Debatte um die Abschaffung dieses Gesetzes gegen die luxuria soviel Raum gibt, daß er nicht nur die Reden des älteren Catos153 und des Volkstribunen L. Valerius, der seinen Antrag letztlich erfolgreich verteidigt,154 in aller Ausführlichkeit wiedergibt, sondern auch noch die Stimmung in der Stadt während der Auseinandersetzung detailliert beschreibt,155 hebt er diese scene von dem eher als summary gegebenen Bericht der übrigen Ereignisse in diesen Jahren deutlich ab.156 Damit ist einerseits eine Steigerung der Bedeutung des Themas verbunden,157 andererseits aber auch eine wichtige narrative variatio für den Leser, dessen Aufmerksamkeit durch diese Veränderung im Rhythmus der Erzählung geschärft wird. Die Annahme, daß dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit und seinen Veränderungen im Laufe des Werkes auch eine inhaltliche Bedeutung zukommt, ___________________________

151 S. unten 157-189. 152 Vgl. Liv. 34,1,1-8,3; zur Debatte und zur Rolle der exempla CHAPLIN 2000, 97-101. 153 Vgl. Liv. 34,2,1-4,21 mit PASCHKOWSKY 1966, 70-107, die versucht, eine stilistische Beeinflussung durch Catos überlieferte Reden nachzuweisen, sowie die berechtigte Kritik hieran durch BRISCOE 1981, 40-42. 154 Vgl. Liv. 34,5,1-7,15. Zum – strenggenommen anachronistischen – Hinweis auf Catos Geschichtswerk in dieser Rede (Liv. 34,5,7: tuas adversus te Origines revolvam) vgl. PASCHKOWSKY 1966, 125-152; TRÄNKLE 1971, 124, u. BRISCOE 1981, 56. 155 Vgl. Liv. 34,1,1-1,7 u. 8,1-8,3 mit OSGOOD 2006, der auf die Rede der Hortensia 43 v. Chr. (App. Civ. 4,32) als zeitgenössisches Vorbild dieser Schilderung verweist. 156 Vgl. aber auch die detaillierte Schilderung von Catos Sieg bei Emporiae (Liv. 34,14,116,2 mit TRÄNKLE 1971, 124-137) und von Flaminius’ Beratungen über einen Krieg gegen Nabis (Liv. 34,22,4-24,7 mit BURCK 1982, 1167). 157 Zur Bedeutung dieser Stelle im Kontext der luxuria-Debatte vgl. WALLACE-HADRILL 2008, 333-335.

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III. Die Struktur der Geschichte

ergibt sich bei Livius vor allem aus der Betrachtung des Textes. Untermauern läßt sich diese These jedoch erneut durch theoretische Aussagen des Polybios, der in seinen Historien mit Blick auf die Behandlung der Jahre 264 bis 220 v. Chr. hinsichtlich der Detailliertheit der Darstellung explizit zwischen verschiedenen Erzählgeschwindigkeiten unterscheidet: τὸ μὲν οὖν ἐξαριθμεῖσθαι τὰ κατὰ μέρος ὑπὲρ τῶν προειρημένων πράξεων οὐδὲν οὔθ' ἡμῖν ἀναγκαῖον οὔτε τοῖς ἀκούουσι χρήσιμον. οὐ γὰρ ἱστορεῖν ὑπὲρ αὐτῶν προτιθέμεθα, μνησθῆναι δὲ κεφαλαιωδῶς προαιρούμεθα χάριν τῆς προκατασκευῆς τῶν μελλουσῶν ὑφ' ἡμῶν ἱστορεῖσθαι πράξεων. διόπερ ἐπὶ κεφαλαίων ψαύοντες κατὰ τὸ συνεχὲς τῶν προειρημένων πειρασόμεθα συνάψαι τὴν τελευτὴν τῆς προκατασκευῆς τῇ τῆς ἡμετέρας ἱστορίας ἀρχῇ καὶ προθέσει. … βραχὺ δ' ἐπιμελέστερον πειρασόμεθα διελθεῖν ὑπὲρ τοῦ πρώτου συστάντος πολέμου Ῥωμαίοις καὶ Καρχηδονίοις περὶ Σικελίας. οὔτε γὰρ πολυχρονιώτερον τούτου πόλεμον εὑρεῖν ῥᾴδιον οὔτε παρασκευὰς ὁλοσχερεστέρας οὔτε συνεχεστέρας πράξεις οὔτε πλείους ἀγῶνας οὔτε περιπετείας μείζους τῶν ἐν τῷ προειρημένῳ πολέμῳ συμβάντων ἑκατέροις. In allen Einzelheiten über diese Ereignisse zu berichten ist weder für uns notwendig noch für den Leser von Nutzen. Wir beabsichtigen ja nicht, eine ausführliche Erzählung von ihnen zu geben, sondern gedenken nur das Wesentliche zu erwähnen, als Einführung in die Geschichte der Epoche, die wir selbst darstellen wollen. Indem wir also jene Begebenheiten in zeitlicher Abfolge nur den Hauptpunkten nach berühren, wollen wir versuchen, das Ende der Einleitung mit dem Anfang unserer Geschichtsdarstellung zu verknüpfen. ... Ein wenig sorgfältiger werden wir nur den ersten Krieg zwischen den Römern und Karthagern zu behandeln versuchen. Denn es ist nicht leicht, einen Krieg von längerer Dauer zu finden, noch umfassendere Rüstungen, beharrlichere Anstrengungen, zahlreichere Kämpfe, größeren Wechsel des Glücks als, auf beiden Seiten, in jenem Krieg.158

Vor diesem Hintergrund erfahren auch Livius’ Aussagen zur im Laufe seines Werkes anwachsenden Materialfülle und der damit einhergehenden quantitativen Zunahme des Textes eine weitere Bestätigung: Wenn er diesen Umstand im Proöm zur vierten Dekade anspricht, thematisiert er damit implizit auch die sukzessive Angleichung im Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit, je näher die geschilderten Ereignisse an die Gegenwart der zeitgenössischen Leser heranrücken.159 Mit dem Anstieg der textuellen Quantität ist daher auch eine tendenzielle Steigerung ihrer Bedeutung verbunden, die gut zur allgemeinen Betonung der Relevanz der Zeitgeschichte in der historiographischen Diskussion der Späten Republik paßt. Neben der linearen Zunahme an Umfang und intendierter Bedeutung, die sich in der Regel eher unbemerkt vom Leser vollzieht, lassen sich jedoch noch weitere über die Gliederung in einzelne Jahre hinausgehende und deutlich auffälligere Strukturen beobachten, die in ähnlicher Weise sowohl einen Beitrag zur inhaltlichen Hervorhebung als auch zur variatio der Lektüre leisten. Diesen Aspekten gilt unsere Aufmerksamkeit im nächsten Abschnitt. ___________________________

158 Vgl. Pol. 1,13,6-13,13 [Übers. DREXLER 1961] mit ROOD 2007b, 167-172. 159 Vgl. Liv. 31,1,1-5; zu dieser Stelle s. ausführlicher oben S. 74f.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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c) Vom Jahr zum Buch: Annalistische vs. thematische Struktur Die Erschließung und Analyse struktureller Bezüge in den Büchern und über die Buchgrenzen hinweg kann als ein Lieblingsthema der Liviusforschung seit den Arbeiten ERICH BURCKs gelten.160 Dennoch konnte bislang keine Einigkeit über den Aufbau insbesondere der lediglich in den periochae überlieferten Teile des Werkes erzielt werden. Diese Frage wird auch im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu lösen sein. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht vielmehr die Interaktion zwischen der durchlaufenden annalistischen Gliederung auf der einen und ihrer thematischen Überformung auf der anderen Seite. In einem ersten Schritt wollen wir uns daher mit der Bucheinteilung nach inhaltlichen Gesichtspunkten beschäftigen, bei der es sich – zumal in einem prinzipiell als Chronik angelegten Geschichtswerk – keineswegs um eine Selbstverständlichkeit handelt.161 In einem zweiten Schritt soll dann die Organisation von mehreren Büchern zu Buchgruppen und die umstrittene Frage ihrer Abgrenzung in den Blick genommen werden. Bei der Suche nach den Ursprüngen der Einteilung eines Geschichtswerkes in einzelne und tendenziell thematisch abgeschlossene Bücher ist es erneut erforderlich, von den hellenistischen Historikern auszugehen, wobei in diesem Fall sogar ein Schritt über Polybios hinaus in die alexandrinische Zeit notwendig ist. Denn die Einteilung historiographischer Werke in Bücher beginnt im Zuge der Systematisierungs- und Klassifizierungsbestrebungen des literarischen Bestandes im Kontext der Bibliothek von Alexandria.162 Dies führte dazu, daß einerseits die überlieferten Klassiker mit einer festen und häufig inhaltlich begründeten Buchstruktur versehen wurden, wie sich besonders gut bei Herodot beobachten läßt, dessen Werk jetzt in Bücher eingeteilt wird, die zudem die Namen der neun Musen erhalten.163 Andererseits wirkt sich diese Tendenz auch auf die zeitgenössischen Historiker aus, die sich nun bereits bei der Abfassung ihrer Werke um eine inhaltlich plausible Einteilung bemühen und sich hierzu auch theoretisch äußern. Auf diesem Gebiet kommt vor allem dem Universalhistoriker Ephoros von Kyme eine bedeutende Vorreiterrolle zu, der sein in der Mitte des 4. Jh. v. Chr. entstandenes Werk nicht nur bewußt in 30 Bücher eingeteilt hat, sondern diese auch jeweils mit einem eigenen Proöm versehen hat.164 Auf ihn dürften auch die bei Diodor überlieferten programmatischen Überlegungen hierzu zurückgehen: ___________________________

160 Vgl. BURCK 1964 [1934], 178-195; BURCK 1962 [1950]; BRÜGGMANN 1954; KERN 1960; STADTER 1972; WILLE 1973; LUCE 1977; LIPOVSKY 1981; BURCK 1992, 7-14, u. zuletzt LEVENE 2010, 5-33; sowie mit einem alternativen Ansatz MINEO 2006. 161 Vgl. zu concluding narratives in der antiken Historiographie MARINCOLA 2005a sowie ferner in der antiken Literatur allg. FOWLER 1989 u. FOWLER 1997. 162 Vgl. z.B. BIRT 1882, 444-446; MUTSCHMANN 1911, 93f.; HORNBLOWER 1994a, 16f., u. IRIGOIN 1997, 127-129, sowie dag. WINSBURY 2009, 47f., der die Bucheinteilung in der antiken Historiographie generell bezweifelt. 163 Die Einteilung wird das erste Mal von Diodor bezeugt (vgl. Diod. 11,37,6). 164 Vgl. FGrHist 70 T 10 u. T 11 mit MEISTER 1990, 86-89. Zur ebenfalls sekundären Bucheinteilung im Werk des Thukydides vgl. z.B. HEMMERDINGER 1948, 104-117.

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III. Die Struktur der Geschichte

ἐν πάσαις μὲν ταῖς ἱστορικαῖς πραγματείαι θήκει τοὺς συγγραφεῖς περιλαμβάνειν ἐν ταῖς βίβλοις ἢ πόλεων ἢ βασιλέων πράξεις αὐτοτελεῖς ἀπ' ἀρχῆς μέχρι τοῦ τέλους· οὕτως γὰρ μάλιστα διαλαμβάνομεν τὴν ἱστορίαν εὐμνημόνευτον καὶ σαφῆ γενέσθαι τοῖς ἀναγινώσκουσιν. αἱ μὲν γὰρ ἡμιτελεῖς πράξεις οὐκ ἔχουσαι συνεχὲς ταῖς ἀρχαῖς τὸ πέρας μεσολαβοῦσι τὴν ἐπιθυμίαν τῶν φιλαναγνωστούντων, αἱ δὲ τὸ τῆς διηγήσεως συνεχὲς περιλαμβάνουσαι μέχρι τῆς τελευτῆς ἀπηρτισμένην τὴν τῶν πράξεων ἔχουσιν ἀπαγγελίαν. ὅταν δ' ἡ φύσις αὐτὴ τῶν πραχθέντων συνεργῇ τοῖς συγγραφεῦσι, τότ' ἤδη παντελῶς οὐκ ἀποστατέον ταύτης τῆς προαιρέσεως. In allen historischen Werken sollten sich die Geschichtsschreiber bemühen, von Anfang bis Ende in sich abgeschlossene Unternehmungen von Städten oder Königen in ihren Büchern zusammenzufassen; es ist nämlich davon auszugehen, daß die Geschichte bei solcher Darbietung den Lesern besonders gut erinnerlich und klar verständlich sein wird. Halbvollendete Ereignisse, deren Ausgang mit den Anfängen nicht mehr in Verbindung steht, lenken die Aufmerksamkeit der wißbegierigen Leser ab, wohingegen die bis zum Ende zusammenhängende Erzählung einen erschöpfenden Bericht der Ereignisse entstehen läßt. Wenn aber bereits der natürliche Verlauf des Geschehens den Historikern entgegenkommt, dürfen sie um so weniger von jenem Grundsatz abweichen.165

In dieser Tradition steht – trotz seiner sonstigen Kritik an Ephoros – auch Polybios, der bei der Einteilung seiner Historien nicht nur inhaltliche Gesichtspunkte berücksichtigt, sondern ihre 40 Bücher darüber hinaus mit verschiedenen Gliederungshilfen versehen hat. Hierzu gehören zum einen die Vorreden, die er in den ersten sechs Büchern, beziehungsweise die Inhaltsangaben, die er ab dem siebten Buch verwendet hat,166 und die er nicht zuletzt als wichtigen Beitrag zur ___________________________

165 Vgl. Diod. 16,1,1-1,2 [Übers. VEH 2007] mit MEISTER 1971, 507f.; für den Zusammenhang mit Diodors eigener historiographischer Konzeption SACKS 1990, 14f. 166 Vgl. Pol. 11,1a: ἐγὼ δὲ κρίνω χρήσιμον μὲν εἶναι καὶ τὸ τῶν προγραφῶν γένος· καὶ γὰρ εἰς ἐπίστασιν ἄγει τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας καὶ συνεκκαλεῖται καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνοντας, πρὸς δὲ τούτοις πᾶν τὸ ζητούμενον ἑτοίμως ἔνεστιν εὑρεῖν διὰ τούτου· θεωρῶν δὲ διὰ πολλὰς αἰτίας καὶ τὰς τυχούσας ὀλιγωρούμενον καὶ φθειρόμενον τὸ τῶν προγραφῶν γένος, οὕτως καὶ διὰ ταῦτα πρὸς τοῦτο τὸ μέρος κατηνέχθην· τῆς γὰρ προεκθέσεως οὐ μόνον ἰσοδυναμούσης (πρὸς) τὴν προγραφήν, ἀλλὰ καὶ πλεῖόν τι δυναμένης, ἅμα δὲ καὶ χώραν ἐχούσης ἀσφαλεστέραν διὰ τὸ συμπεπλέχθαι τῇ πραγματείᾳ, τούτῳ μᾶλλον ἐδοκιμάσαμεν χρῆσθαι τῷ μέρει παρ' ὅλην τὴν σύνταξιν πλὴν ἓξ τῶν πρώτων βυβλίων·ἐν ἐκείνοις (δὲ) προγραφὰς ἐποιησάμεθα διὰ τὸ μὴ λίαν ἐναρμόζειν ἐν αὐτοῖς τὸ τῶν προεκθέσεων γένος. („Nun halte ich zwar auch das Vorwort durchaus für eine nützliche Sache: es weckt die Aufmerksamkeit der Leser, lockt und ermuntert zur Lektüre, außerdem verhilft es dazu, alles, was man sucht, ohne Schwierigkeiten zu finden. Da ich jedoch sah, daß solche Vorreden aus vielen Gründen beliebiger Art nicht beachtet werden und verlorengehen (?), bin ich auf das hier angewandte Verfahren zurückgekommen. Denn eine kurze Inhaltsangabe hat nicht nur denselben Wert wie ein Vorwort, sondern einen noch größeren; zugleich hat sie einen gesicherten Platz, weil sie mit der eigentlichen Erzählung unlöslich verbunden ist. Infolgedessen habe ich diesem Verfahren in meinem ganzen Werk den Vorzug gegeben, mit Ausnahme der sechs ersten Bücher, die ein Vorwort erhalten haben, weil die Inhaltsangaben dort nicht richtig paßten.“ [Übers. DREXLER 1963]).

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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Leserbindung und zur Erzeugung von Spannung versteht.167 Zum anderen hat in diesem Zusammenhang auch das heute verlorene 40. Buch eine wichtige Rolle gespielt, das aus einem Inhaltverzeichnis oder Index zum Gesamtwerk bestanden hat, den Polybios als ἀριθμός bezeichnet.168 Durch diese beide Elemente wird die thematische Strukturierung der – vor allem ab dem 7. Buch – fortlaufend annalistisch angelegten Erzählung deutlich verstärkt und für den Rezipienten ein zusätzlicher Leseanreiz geschaffen. Die Technik tendenziell inhaltlich abgeschlossener Bücher wurde spätestens in der Nachfolge des Polybios auch von den Historikern in Rom übernommen, wie sich anhand der Fragmente ihrer Werke vielleicht schon für Cato den Älteren,169 jedenfalls aber für Coelius Antipater170 und wohl auch für die ‚jüngeren Annalisten‘ plausibel machen läßt.171 In dieser Tradition steht dann auch Livius,172 obwohl nicht jeder Übergang eine so klare Zäsur aufweist wie die Ablösung der Königsherrschaft in Rom am Ende des ersten, die vorübergehende Zerstörung der Stadt durch die Gallier am Ende des fünften oder der zweite Sieg gegen Karthago am Ende des 30. Buchs. Gleichwohl kann die Zahl der Beispiele für das Zusammenfallen von Buchende und inhaltlicher Zäsur verdeutlichen, daß es sich hier um mehr als nur um einen durch die materielle Länge der Buchrolle bedingten,173 gleichsam mechanischen Einschnitt handelt.174 Die Annahme, daß Livius die Entscheidung, welche historischen Ereignisse am Ende der jeweiligen Rolle behandelt werden, nicht dem Zufall überlassen hat, erfährt noch dadurch zusätzliche Plausibilität, daß es wohl gar nicht in seinem Interesse lag, an allen Buchenden abgeschlossene Handlungszusammenhänge zu präsentieren. Vielmehr dürfte es im Gegenteil für die Motivation des Rezipienten zur Fortsetzung der Lektüre erstrebenswert gewesen sein, Entwicklungen offen zu lassen, Spannungsbögen aufzubauen oder gezielt cliffhanger anzulegen, um den ___________________________

167 Vgl. Pol. 14,1a [Text u. Übersetzung s. unten S. 196]. 168 Vgl. Pol. 39,8,8: τούτων δὴ πάντων ἡμῖν ἐπιτετελεσμένων λείπεται διασαφῆσαι τοὺς χρόνους τοὺς περιειλημμένους ὑπὸ τῆς ἱστορίας καὶ τὸ πλῆθος τῶν βύβλων καὶ (τὸν) ἀριθμὸν τῆς ὅλης πραγματείας. („Nachdem ich nun dies alles zum Abschluß gebracht habe, bleibt mir nur übrig, die Zeit, die dieses Werk umfaßt, die Zahl der Bücher mitzuteilen und ein Inhaltsverzeichnis des Ganzen zu geben.“ [Übers. DREXLER 1963]) mit z.B. ROOD 2004, 152. 169 Für Cato wird es durch die Disposition des Werkes nahegelegt (vgl. Nep. Cato 3,3-3,4). 170 Vgl. BECK / WALTER 2004, 36f. 171 Vor allem für Quadrigarius läßt sich eine elaboriertere Bucheinteilung vermuten (vgl. BECK / WALTER 2004, 110). 172 Vgl. allg. LEVENE 2010, 4f. 173 Zur Kapazität vgl. BIRT 1882, 286-341, mit der Kritik von WINSBURY 2009, v.a. 46f. 174 Vgl. die Übersicht zur Länge der einzelnen Bücher bei STADTER 1972, 304-306 (= App. I), u. ferner BURCK 1992, 7: „Der Umfang der einzelnen Bücher ist verschieden und liegt zwischen 65 und 41 Teubnerseiten; eine Ausnahme bilden die beiden mit geschlossenen, dramatischen Einzelerzählungen ausgestatteten Bücher 2 und 3 mit 67 ½ und 76 ½ Seiten und das durch Lücken verringerte Buch 43 mit 21 ½ Seiten.“

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III. Die Struktur der Geschichte

Anreiz für den Leser, nach der nächsten Rolle zu greifen, zu erhöhen.175 Auf der anderen Seite rechnet er allerdings offenbar auch damit, daß der Leser nach dem Buchende eine Pause macht,176 da er ihm nicht selten zu Beginn des nächsten Buches zentrale Ereignisse des letzten noch einmal in Erinnerung ruft.177 Während also die Berücksichtigung der Bucheinteilung und die Gestaltung abgeschlossener Einheiten als Bestandteil der historiographischen Technik bei den römischen Historikern auf fruchtbaren Boden gefallen ist, scheinen weder Livius noch seine Vorgänger die ebenfalls auf Ephoros zurückgehende und von Polybios weiterentwickelte Tradition der Paratexte als Orientierungshilfe für den Leser eines historiographischen Werkes übernommen zu haben. Paratextuelle Elemente sind allerdings als Erschließungshilfe und sekundäre Rezeptionsstrategie für den livianischen Text vielfach bezeugt und können auf eine wohl bereits im 1. Jh. n. Chr. einsetzende Tradition zurückblicken. Angesichts des großen Umfanges von 142 Büchern war die Verwendung von Zusammenfassungen besonders naheliegend. Eine solche wird vielleicht schon durch Martial bezeugt, der in einem Epigrammbuch neben anderen Gastgeschenken auch eine Edition von ab urbe condita in nur einem Band beschreibt (pellibus exiguis artatur Livius ingens, / quem mea non totum bibliotheca capit),178 bei der es sich wohl eher um eine abbrevierte Fassung179 denn um eine Miniaturausgabe180 gehandelt haben dürfte.181 Doch während sich weder von dieser Kurzversion noch von anderen, die aufgrund quellenkritischer Überlegungen für die frühe Kaiserzeit postuliert wurden,182 direkte Spuren erhalten haben,183 überliefert ein Papyrusfund in Oxyrhynchos, der in die erste Hälfte des 3. Jh. n. Chr. datiert wird, das früheste Beispiel eines ___________________________

175 Zur Erzeugung von Spannung auch über die Buchgrenze hinweg s. unten S. 205-208. 176 Vgl. BIRT 1882, 140f.: „Solch häufiger Buchwechsel aber mit der nothwendig ablenkenden Lesepause, die er mit sich brachte, war für die Lektüre nachtheilig; die zu Ende gelesene Rolle wollte fest gerollt, geschlossen und sorgsam bei Seite gelegt sein, bevor man die folgende aus dem Bord ziehen, ihres Mantels entledigen und aufblättern konnte, wobei immerhin ein Sklave behilflich gewesen sein mag.“ 177 Vgl. z.B. Liv. 22,1,1 (Apenninüberquerung Hannibals) u. 23,1,1 (Einnahme der Lager bei Cannae); ausführlicher zu internen Querverweisen s. unten S. 118-122. 178 Vgl. Mart. 14,190; das Epigramm trägt die Überschrift Titus Livius in membranis, was zusammen mit dem Wort pellis den Gedanken an einen Pergamentkodex nahelegt. 179 Vgl. z.B. BEGBIE 1967, 337; STEINMETZ 1982, 145, u. BESSONE 1982, 1231f. 180 Vgl. z.B. BIRT 1882, 86, u. ASCHER 1969. 181 Vgl. aber auch SCHMIDT 1993, 192f.: „Die Fiktionalität des Ganzen und die literaturtheoretische Pointe machen die Spekulationen … jedenfalls müßig, … Als Zeugnis für eine bestimmte, allgemein verbreitete Livius-Epitome fällt das witzige, literaturkritisch zu verstehende Spiel mit buchtechnischen Details jedenfalls aus.“ 182 Für eine erste Epitome in tiberianischer Zeit vgl. v.a. BESSONE 1982, 1261f., sowie für die reizvolle, aber nicht zu beweisende Annahme, daß Livius’ Sohn ihr Verfasser gewesen sein könnte, SANDERS 1904, 257-260. 183 Vgl. dag. v.a. SCHMIDT 1993, 196-201, dem es jedoch weniger um ihre Existenz als solche, sondern um ihren nicht nachweisbaren Einfluß auf die periochae geht.

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livianischen Paratextes.184 Die auf dem Papyrus erhaltenen Fragmente (vor allem zu den Büchern 37-40 und 48-55)185 stammen jedoch nicht von einer reinen Zusammenfassung, sondern von einer bearbeiteten Fassung, in der die Namen der Konsuln als Jahresangaben aus dem Text herausgerückt wurden, so daß sich eine schon auf den ersten Blick erfassbare Chronik ergab, die dem Leser eine rasche Orientierung ermöglichte.186 Diese Übersicht konnte selbständig,187 aber auch als Inhaltsverzeichnis in Kombination mit dem vollständigem Werk benutzt werden. Ob zwischen diesen frühen Kurzfassungen in unterschiedlichen Formen und den zumeist als periochae bezeichneten Inhaltsangaben,188 die sich mit Ausnahme der Bücher 136 und 137 für das gesamte livianische Werk erhalten haben189 und aus dem 4. Jh. n. Chr. stammen dürften,190 ein Zusammenhang besteht, wird heute mehrheitlich bezweifelt.191 Offen hingegen ist die Frage, ob die periochae ursprünglich in der Art eines Paratextes der Orientierung des Lesers bei der Verwendung des eigentlichen Werkes dienen sollten oder ob sie von vornherein zur eigenständigen Lektüre konzipiert waren. Möglicherweise war gerade diese Doppelfunktion intendiert.192 Es existieren keinerlei Hinweise darauf, daß dieser Paratext von Livius stammt, obwohl genau aus derartigen Zusammenfassungen der vorangegangenen Bücher die von Polybios als ἀριθμός bezeichnete Übersicht im 40. Buch bestanden haben dürfte und sich die Verwendung von Inhaltsverzeichnissen zumindest in der antiken Fachschriftstellerei vielleicht schon vor der naturalis historia des älteren Plinius in der Mitte des 1. Jh. n. Chr. etabliert hatte.193 Die gleiche Situation ergibt sich auch für andere paratextuelle Orientierungshilfen, wie etwa Hinweisen auf den Inhalt des jeweiligen Abschnitts in Form von Marginalien. Auch diese Technik der Texterschließung, die sich etwa im Codex Mediceus aus der Mitte des 10. Jh. erhalten hat,194 läßt sich auf die spätantike Beschäftigung mit Livius, wohl im Umfeld des Symmachus-Kreises, zurückfüh___________________________

184 185 186 187 188 189 190 191 192 193

194

Vgl. zur Datierung des Papyrus SCHMIDT 1997a, 338. Für den Text vgl. WEISSENBORN et al. 1959 [1910], 122-148. Vgl. z.B. KLOTZ 1936, 72, u. SCHMIDT 1997a, 338. Vgl. SCHMIDT 1993, 195: „... das sog. Chronicon von Oxyrhynchos ... funktioniert ... als eine Art von lateinischem Plötz; …“ Diesen Titel verwenden im 9. Jh. die ältesten Handschriften (vgl. BINGHAM 1978, 1). Für den Text vgl. WEISSENBORN et al. 1959 [1910], 1-121; zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Zusammenfassungen vgl. BINGHAM 1978, 88-388, u. CHAPLIN 2010c. Vgl. SCHMIDT 1993, 195f., aber auch für eine frühere Datierung BEGBIE 1967, 337. Vgl. zusammenfassend BINGHAM 1978, v.a. 78f., u. SCHMIDT 1993, 196-201. Vgl. z.B. BINGHAM 1978, 474: „The overall product, possibly intentional, is a combination of ‘Inhaltsangabe’ and breviarium, a brief Handbook of Roman history.“ Vgl. Plin. nat. praef. 33 mit SCHRÖDER 1999, v.a. 107f.: „Der Verweis auf Valerius Soranus (um 130 bis 82) ist zweifellos so zu verstehen, daß Plinius ihn für den ‚Erfinder‘ dieses Vorgehens hält; das muß aber nicht heißen, daß nicht auch schon andere, ..., vor Plinius dessen Vorbild gefolgt waren.“ u. dag. SCHMIDT 1997b, 225, der Existenz paratextueller Elemente für die Zeit der Republik skeptischer beurteilt. Vgl. CONWAY / WALTERS 1914, xiii-xv, sowie für weitere Beispiele KLOTZ 1936, 68f.

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III. Die Struktur der Geschichte

ren.195 Es handelt sich aber auch hier um eine sekundäre Rezeptionsstrategie und keinen auf den Autor zurückgehenden Paratext. Inwieweit die verschiedenen – zum Teil heute nicht mehr erhaltenen – Gliederungen des Textes Einfluß auf die Kapiteleinteilung gehabt haben, wie wir sie heute in den modernen Editionen finden, ist noch nicht abschließend erforscht (s. Appendix).196 Während für das einzelne Buch eine über die textimmanente Ebene hinausgehende Einteilung also Spekulation bleiben muß, gilt das keineswegs für die Gliederung des gesamten Werkes durch die Bildung thematisch zusammenhängender Buchgruppen. Dabei handelt es sich um die konsequente Weiterentwicklung der aus der hellenistischen Historiographie stammenden Technik, die Buchenden jeweils mit Einschnitten in der Handlung zusammenfallen zu lassen. Eine Einteilung in Pentaden und Dekaden läßt für große Teile der erhaltenen Bücher leicht plausibel machen197 und wird zudem durch einen Brief von Papst Gelasius I. aus dem Jahr 496 n. Chr. als die gängige Wahrnehmung des Werkes in der Spätantike bestätigt.198 Ob diese Gliederung Auswirkungen auf die Publikation des Werkes hatte oder ob es sich nur um eine Einteilung auf der inhaltlichen Ebene handelte, während die Veröffentlichung buchweise erfolgte, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Immerhin legt die Existenz von Binnenpröomien im 6., 21. und 31. Buch, die sich jeweils auf einen größeren Zusammenhang beziehen, die Vermutung einer Publikation thematisch zusammengehöriger Buchgruppen nahe. Besonders deutlich tritt die thematische Gliederung in der ersten Pentade zutage, die nicht nur im Ganzen mit der Zeit von der Gründung Roms bis zum als ‚zweite Geburt‘199 stilisierten Wiederaufbau nach der Zerstörung durch die Gallier eine deutlich markierte Epoche umfaßt,200 sondern zudem in ihren einzelnen Büchern klare Strukturen erkennen läßt. Dies gilt zum einen für die Einteilung nach Epochen, wie sich vor allem im ersten Buch mit der Behandlung der Königszeit zeigt,201 zum anderen aber auch für die Betonung bestimmter Themen in einzelnen Büchern, die dadurch den Charakter von Leitmotiven annehmen und damit ebenfalls einen Beitrag zur weiteren Gliederung der Pentade leisten.202 ___________________________

195 Vgl. VOIT 1936, v.a. 308, u. ZETZEL 1980, 48f. 196 Zur generell stiefmütterlichen Behandlung der paratextuellen Elemente antiker Texte in modernen Editionen vgl. z.B. SCHMIDT 1997b, 223f., u. SCHRÖDER 1999, 93f. 197 Vgl. z.B. LUCE 1977, 3: „Scholars are agreed that in the extant books, including the missing decade 11-20, Livy blocked out his material according to pentads and decades. … Nor has anyone ventured to posit imitation of a source; by common and tacit consent this structure is deemed to be the historian’s own creation.“ 198 Vgl. CSEL 35, p. 457,6: Livius secunda decade loquitur mit z.B. BURCK 1992, 8. 199 Vgl. Liv. 6,1-1,3 mit KRAUS 1994a, 87f. 200 Vgl. dag. TAKÁCS 2006, der die thematischen Bezüge zwischen Buch 5 und 6 betont. 201 Diese Tradition geht allerdings auf Livius’ Vorgängern zurück; zur These einer separaten Publikation des ersten Buches vgl. z.B. LUCE 1965, 210, u. BURTON 2000, 444. 202 Vgl. z.B. BURCK 1964 [1934], v.a. 8-175; OGILVIE 1965, 30f.; LUCE 1977, 26f.; VON ALBRECHT 1992, I 665, u. VASALY 2002, die Livius’ erste Pentade mit der Gliederung von Gedichtbüchern in den 30er und 20er Jahren des 1. Jh. v. Chr. vergleicht.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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Als weiteres Paradebeispiel für eine thematische Strukturierung bietet sich die dritte Dekade mit der Schilderung von Roms zweiten Kriegs gegen Karthago an. Daß gerade hier die Präsentation des Geschehens in vielfältiger Weise auf die Buchgrenzen bezogen ist und die dadurch entstehende Struktur – vor allem durch die dramatische Führung der Handlung – einen entscheidenden Einfluß auf die Wahrnehmung der historischen Ereignisse durch den Leser hat, konnte vor allem ERICH BURCK in überzeugender Weise zeigen.203 Das Gleiche gilt für die drei der Expansion Roms im griechischen Osten gewidmeten Pentaden der Bücher 31-45, wie vor allem JAMES T. LUCE nachgewiesen hat.204 Als schwieriger hat es sich dagegen erwiesen, eine auf generelle Zustimmung stoßende Gliederung für die Bücher 6-20 vorzuschlagen. Aus Gründen der Symmetrie liegt es nahe, daß wir in den Büchern 6-10 mit einer zweiten Pentade zu rechnen haben. Doch ist diese Annahme mit dem Problem konfrontiert, daß die Darstellung der Auseinandersetzung mit den Samniten, die eines der zentralen Themen in den Büchern 7-10 bildet, mit dem Ende des 10. Buches noch nicht abgeschlossen ist, sondern die Beendigung des 3. Samnitenkriegs im Jahr 290 v. Chr. laut den periochae erst im 11. Buch geschildert wurde.205 Eine mögliche Lösung besteht in der Annahme einer Dekade von Buch 6 bis 15, deren Thema die Etablierung von Roms Herrschaft in Italien gewesen sein könnte,206 der dann eine dem ersten Krieg gegen Karthago gewidmete Pentade von 16 bis 20 gefolgt wäre.207 Eine anderer, auf GÜNTHER WILLE zurückgehender Lösungsvorschlag legt Gruppen von 15 Büchern als Gliederungseinheit zugrunde, so daß hier eine solche ‚Pentekaidekade‘ bis zum Beginn des Konflikts mit Karthago208 und eine zweite, die ebendiesem Konflikt gewidmet ist, angenommen werden kann.209 Noch kontroverser fallen die Vorschläge zur Gliederung der nicht erhaltenen Teile des Werkes aus, wobei die Diskussion zusätzlich dadurch erschwert wird, daß unterschiedliche Ansichten zum geplanten Endpunkt zugrundegelegt werden. Neben der früher dominierenden Sichtweise, daß Livius die Zeit bis zum Tod des Augustus 14 n. Chr. darstellen wollte und sein Werk daher bei seinem eigenen Tod 17 n. Chr. unvollendet hinterlassen hat,210 wurde zuerst von RONALD SYME ___________________________

203 Vgl. v.a. BURCK 1962 [1950] sowie ferner KRAUS 1997, 59f., u. LEVENE 2010, 5-33. 204 Vgl. v.a. LUCE 1977, 33-138, sowie ferner BRÜGGMANN 1954 (zu 31-35); KERN 1960 (zu 36-45), u. WILLE 1973, 17-45, sowie gegen die Annahme von Pentaden HUS 1973. 205 Für die Annahme einer zweiten Pentade vgl. v.a. LIPOVSKY 1981, 21-25, u. STADTER 1972, 294, sowie dag. BRISCOE 1971, 1. 206 Vgl. BURCK 1992, 8f., u. OAKLEY 1997, 111f. 207 Vgl. v.a. STADTER 1972, 293; LUCE 1977, 4, u. BURCK 1992, 9. 208 Vgl. v.a. WILLE 1973, 53-56, sowie ferner LUCE 1977, 6f. („Early Rome“). 209 Vgl. v.a. WILLE 1973, 46-53, sowie ferner LUCE 1977, 6f. („The Punic Wars“). 210 Vgl. z.B. NISSEN 1872, 558; WÖLFFLIN 1874, 145, u. KLOTZ 1926, 818: „… offenbar hat ihm der Tod die Feder aus der Hand genommen.“; sowie ferner HENDERSON 1998 [1989], 309-314, mit dem berechtigten Hinweis, daß das Gegenteil der Annahme, daß Livius’ Werk unvollendet ist, nicht bewiesen werden könne.

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III. Die Struktur der Geschichte

die Ansicht vertreten, daß es sich bei dem faktischen Ende mit dem Tod des Drusus 9 v. Chr. auch um den vom Autor intendierten Abschluß handelt.211 Dabei ging SYME allerdings davon aus, daß die letzten neun Bücher eine spätere Ergänzung zum ursprünglichen Endpunkt mit der Schlacht bei Aktium im 133. Buch waren.212 Die Idee, daß das Werk ursprünglich nicht auf 142 Bücher angelegt war, wurde im folgenden auch von anderen aufgegriffen, die jedoch in Ciceros Tod am Ende des 120. Buches den zunächst geplanten Endpunkt erblickten.213 Diese Annahme läßt sich zwar inhaltlich plausibel machen und wird zudem durch den Hinweis der periochae gestützt, daß die Bücher 121-142 erst nach dem Tod des Augustus, also separat von den übrigen Teilen publiziert wurden.214 Ein wesentlicher Grund für ihre Akzeptanz besteht jedoch auch darin, daß sich mit ihrer Hilfe die von ihren Vertretern jeweils favorisierte Gliederung des gesamten livianischen Werkes in Buchgruppen besser begründen läßt. Dies gilt für die Annahme von Pentaden als zentrale ‚Rechengröße‘215 ebenso wie für die von PHILIP A. STADTER favorisierten Dekaden216 oder die von GÜNTHER WILLE ins Gespräch gebrachten Pentekaidekaden.217 Neben den Versuchen, die in den erhaltenen Büchern angenommenen Einteilungen auch in den späteren Teilen fortzuführen, und der radikalen Gegenthese, dessen Vertreter die Existenz von Pentaden oder Dekaden auch für die erhaltenen Bücher bestreiten,218 läßt sich als ‚dritter Weg‘ auch die Annahme vertreten, daß Livius selbst im Laufe der Abfassung Änderungen bei der Gliederung vorgenommen hat.219 So hat schon RONALD SYME den Umstand, daß die Bücher 109-116 mit den Ereignissen von der Überquerung des Rubicon bis zu Caesars Tod in den periochae als belli civilis libri I-VIII durchgezählt werden,220 zum Anlaß genommen, eine freiere Einteilung der nicht erhaltenen Teile anzunehmen, die durch die höhere Komplexität des historischen Geschehens erforderlich gewesen sei.221 ___________________________

211 212 213 214 215 216 217 218

Vgl. SYME 1959, 70, sowie ferner WOODMAN 1988, 139, u. MARINCOLA 2005a, 311f. Vgl. SYME 1959, 38, u. ferner z.B. OGILVIE 1965, 2. Vgl. v.a. STADTER 1972, 299f., u. WILLE 1973, 80f. Vgl. Liv. per. 121: qui editus post excessum Augusti dicitur mit LUCE 1977, 8 Anm. 17. Vgl. v.a. WALSH 1961, 5-8, u. LUCE 1977, 9-24, der das Modell aber modifiziert. Vgl. STADTER 1972, v.a. 291f. Vgl. WILLE 1973, v.a. 80. Vgl. NISSEN 1872, 542: „Die Annahme, dass Livius seine Bücher nach Dekaden geordnet oder auch nur nach solchen veröffentlicht hat, spricht ihm allen Geschmack und schließlich auch jene Begabung ab, an der doch kein verständiger Mensch wird zweifeln können.“; HUS 1973 u. TAKÁCS 2006; sowie dag. JAL 1975 u. JAL 1994. 219 Zu Veränderungen im Laufe der Entstehungszeit vgl. z.B. HENDERSON 1998 [1989], 315f.: „An author who begins a book in their thirties and is still writing it into their sixties if not seventies must be supposed to revise the conception of the work.“ 220 Vgl. Liv. per. 109-116; zum Inhalt GÄRTNER 1983 u. STRASBURGER 1983. 221 Vgl. SYME 1959, 28-40, v.a. 31: „If Livy began his work with decades in mind, they cracked and broke under pressure of the matter.“ sowie ferner z.B. WÖLFFLIN 1874, 146f.; KLOTZ 1926, 819f., u. BAYET 1940, xii-xv.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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Während diese These jedoch zumeist damit einherging, Livius die Fähigkeit zur Gestaltung seines Materials abzusprechen, ist von JAMES T. LUCE eine alternative Interpretation der späteren Bücher vorgeschlagen worden.222 Er geht dabei vor allem von der Beobachtung aus, daß in vielen Fällen das bedeutendste historische Ereignis gerade zu Beginn eines neuen Abschnittes behandelt wird. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Zerstörung Karthagos und das gesamte, schon in der republikanischen Historiographie als wichtige Wendemarke betrachtete Jahr 146 v. Chr., das in Buch 51 und damit am Beginn einer neuen Pentade behandelt wird. In einem zweiten Schritt konnte LUCE plausibel machen, daß Livius in den späteren Büchern bedeutende Zusammenhänge häufig am Übergang von einer Pentade zur anderen plaziert: Dies gilt sowohl für den bereits erwähnten dritten Krieg gegen Karthago, der nach den Angaben der periochae in Buch 49 beginnt und in Buch 51 endet, als auch für Pompeius’ Krieg gegen Mithridates in Buch 100.223 Das gleiche läßt sich für eingie bedeutende politische Aktivitäten – etwa des Gaius Gracchus in den Büchern 60 und 61 oder des Livius Drusus in den Büchern 70 und 71 – zeigen. Der sich daraus ergebende Effekt kann mit LUCE als Spannungsbogen verstanden werden, dessen Konstruktion für Livius im Laufe Zeit offenbar größere Bedeutung gewonnen hat.224 Auch wenn gerade bei der Einteilung der nicht erhaltenen Büchern in Gruppen vieles im Bereich der Spekulation verbleiben muß, so läßt sich doch festhalten, daß in ab urbe condita eine thematische Anordnung, die auf einer elementaren Ebene aus der Komposition inhaltlich abgeschlossener Bücher besteht, neben der fortlaufenden annalistischen Gliederung existiert. Die hieraus resultierende Doppelstruktur übernimmt mehrere Funktionen: Sie dient einerseits der Orientierung des Lesers, und zwar wohl schon auf der Ebene der Paratexte – so dürfte ein antiker Rezipient, konfrontiert mit den 142 Buchrollen, für die schon über die tituli erkennbaren Gruppen doch sehr dankbar gewesen sein225 –, jedenfalls aber bei ___________________________

222 Vgl. LUCE 1977, v.a. 20-23. 223 Vgl. ferner zum Ausbruch des Kriegs gegen Sertorius im 90. Buch OGILVIE 1984, 119. 224 Vgl. LUCE 1977, v.a. 20: „The divisions, which are made at particular significant or climatic moments enabled Livy to end one pentad one a high note of foreshadowing and imminent resolution and to begin the next with the resolution itself, or with the beginning of it.“ sowie ferner KERN 1960, v.a. 263f. 225 Vgl. BIRT 1882, 33f.: „Die ideelle Zusammengehörigkeit der Bücher scheint zur räumlichen gemeinhin nur durch eine gemeinsame capsa oder cista, den nidus, die loculi, das scrinium oder endlich durch die Bibliothek selbst geworden zu sein, ... Vor allem war sie aus der Übereinstimmung der numerierten tituli, etwa auch noch aus dem gleichförmigen Charakter der Emballage zu entnehmen. Musste sich der Buchinteressent gewisse Werke nun gar aus fünfzig oder hundert oder mehr Einzelrollen zusammensetzen …, so liess sich in dem Chaos so vieler gleichartiger Rouleaux schwer controliren, ob nicht das eine oder andere fehle, es liess sich schwer Unordnung und eine Störung ihrer Reihenfolge vom ersten bis zum hundertsten Stück verhüten, und so war es verständig, etwa je zehn oder je fünf von ihnen zu Untergruppen zu vereinigen, durch deren Vermittlung ein Überblick über das vieltheilige Ganze ermöglicht wurde.“

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III. Die Struktur der Geschichte

der Lektüre selbst.226 Sie stellt andererseits ein wichtiges Mittel der historischen Deutung dar und leistet einen wichtigen Beitrag zur Konstruktion einer primär römischen Perspektive auf das dargestellte Geschehen.227 Ein dritter Wirkungsbereich dieser Doppelstruktur ergibt sich jedoch auf dem Gebiet der Leserbindung. Angesichts der großen Relevanz dieses Themas in der zeitgenössischen Debatte über die Geschichtsschreibung im allgemeinen und für Livius im besonderen liegt die Vermutung nahe, daß hier eine Weiterentwicklung der bei den hellenistischen Historikern wie bei Polybios zu beobachtenden Techniken der Abfassung thematisch abgeschlossener Bücher stattgefunden hat. Dies gilt zum einen für den Umgang mit den Optionen, die sich aus der Kombination der Einschnitte aus beiden Gliederungssystemen ergibt: Denn die in diesem Zusammenhang stärkste Zäsur, das Zusammenfallen von Buch- und Jahresschluß, wird von Livius keineswegs ausschließlich verwendet. Vielmehr überbrückt er – allerdings nur innerhalb von Buchgruppen – gelegentlich das Ende eines Buches mit dem fortlaufenden Bericht eines Jahres, so daß sich aus dem Wechsel von stärkeren und schwächeren Zäsuren ein Rhythmus ergibt, der als weiteres Mittel zur Erzeugung von variatio verwendet wird.228 Als Fortentwicklung auf dem Gebiet der Leserbindung kann aber vor allem die von JAMES T. LUCE herausgearbeitete Strategie der Spannungsbögen gelten. Diese läßt sich auf der bislang diskutierten Grundlage der nur in den periochae überlieferten Bücher zwar letztlich nicht beweisen, kann aber durch die Analyse verwandter Techniken in den erhaltenen Büchern, die in einem späteren Kapitel vorgenommen werden soll,229 noch deutlich an Plausibilität gewinnen. d) Jenseits der Chronologie: Selektive Lektüre als Option? Nachdem wir bislang der historischen Chronologie und damit der vom Autor in erster Linie intendierten Leserichtung gefolgt sind, soll nun abschließend die Möglichkeit erörtert werden, ob durch die Kombination des annalistischen Schemas mit einer inhaltlichen Gliederung auch das Abweichen von einer rein chronologischen Lektüre erleichtert wird. Dabei wird uns neben der thematischen Struktur vor allem die Funktion der intratextuellen Orientierungshilfen interessieren. Einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage würden auch die paratextuellen Orientierungshilfen liefern. Da diese zwar aus späteren Epochen überliefert sind, aber nicht mit Sicherheit auf die Entstehungszeit zurückgeführt ___________________________

226 Vgl. v.a. KRAUS 1997, 58-62. 227 Vgl. JAEGER 1997, 6: „A Romanocentric worldview is, then, one of several ordering devices, some traditional and some unique, that give shape to Livy’s narrative and distinguish significant particulars within it.“ u. MINEO 2006, v.a. 9, der eine zyklische Struktur beobachtet, die auf die augusteische Zeit als Zielpunkt zuläuft. 228 Vgl. allg. STADTER 1972, 304-306 (= Appendix I); zu den Büchern 21-30 v.a. BURCK 1962 [1950] u. LEVENE 2010, 5-33; zu den Büchern 36-45 v.a. KERN 1960. 229 S. unten S. 205-208.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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werden können, können sie hier aber – nicht zuletzt um einen Zirkelschluß zu vermeiden – nicht weiter berücksichtigt. Angesichts der gut dokumentierten Existenz verwandter Verfahren in der hellenistischen Historiographie sollte ihre Verwendung jedoch auch für Livius nicht generell ausgeschlossen werden.230 Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß der Leser des livianischen Werkes von der bereits im Titel vorgegebenen chronologischen Leserichtung und der damit einhergehenden durchgängigen Lektüre – ab urbe condita bis in die eigene Gegenwart – abweichen konnte? War die punktuelle und selektive Form der Rezeption, die von der Suche nach bestimmten Stellen oder Themen geleitet ist und heute eher die Regel als die Ausnahme bilden dürfte, auch bereits für den antiken Leser möglich oder ist sie vom Autor bewußt als Option angelegt worden? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zwischen der Lektüre einzelner Bücher und Stellen auf der einen und von ganzen Buchgruppen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Aufgrund der im letzten Abschnitt skizzierten Einteilung in Buchgruppen, die durch separate praefationes im Text markiert231 und wohl zudem durch nicht erhaltene paratextuelle Elemente – wie außen an den Rollen angebrachte tituli – noch verstärkt wurde, kann davon ausgegangen werden, daß ein zeitgenössischer Leser in die Lage versetzt worden ist, je nach seinen Interessen bestimmte Abschnitte der römischen Geschichte gezielt aus dem Werk in seiner Gesamtheit herausgreifen und rezipieren zu können. Deutlich schwieriger ist die Situation für die Rezeption ausgewählter Passagen innerhalb einer Buchgruppe und erst recht innerhalb eines Buches, das wir uns in materieller Hinsicht auf jeweils einer Buchrolle vorzustellen haben. Hier erweist sich ein Blick auf die vom Autor in Form der Querverweise gegebenen intratextuellen Orientierungshilfen als lohnend. Darunter werden im folgenden nicht die in großer Zahl vorhandenen und in unterschiedlichen Formen erfolgenden Prolepsen und Analepsen auf der Ebene der Erzählung verstanden,232 sondern vielmehr die Aussagen, mit denen der Autor – unter anderem in der ersten Person – den Leser explizit darauf hinweist, das ein bestimmtes historisches Ereignis an einer anderen Stelle des Werkes bereits dargestellt wurde oder später behandelt werden wird, und ihm so die Möglichkeit gibt, seine Lektüre an der gegenwärtigen Stelle zu unterbrechen und im Text zu ‚springen‘. Wenn wir uns zunächst auf die expliziten Rückverweise233 konzentrieren und exemplarisch die Gruppe herausgreifen, die mit den Worten (sic)ut beziehungsweise de quo und ante dictum est beziehungsweise dixi(mus) erfolgt, ergibt sich ein klares Bild: Von den 38 Stellen, an denen eine solche Formulierung verwendet wird, beziehen sich 29 auf ein Ereignis im gleichen Buch, zumeist nur weni___________________________

230 Zu paratextuellen Gliederungen in der Liviusrezeption s. oben S. 112-114 u. Appendix. 231 Erhalten haben sich Binnenproömien zum Buch 6, Buch 21 und Buch 31 sowie möglicherweise zu Buch 2; s. ausführlicher oben S. 114 232 S. hierzu oben S. 89-101. 233 Vgl. hierzu jetzt auch LEVENE 2010, 63-81, v.a. 69.

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III. Die Struktur der Geschichte

ge Kapitel zuvor, gelegentlich in unmittelbarer Nähe und auf derselben Seite.234 Und auch bei den neun Verweisen, die über eine Buchgrenze hinausgehen, handelt es sich ausnahmslos sowohl um benachbarte Bücher als auch um solche, die zur selben Buchgruppe gehören.235 Dieser Eindruck wird auch durch die wenigen Ausnahmen – wie der Verweis im 31. Buch auf den illyrischen Stamm der Tralles im 27. Buch, bei dem sich der singuläre Charakter schon in der Formulierung widerspiegelt: sicut alio diximus loco,236 zeigt – nicht wesentlich verändert. Zu diesem Bild der auktorialen Rückverweise paßt auch die Beobachtung, daß es außerhalb der praefationes nur wenige explizite Vorverweise gibt und daß sich diese ebenfalls immer auf den engeren Kontext der jeweiligen Stellen beziehen. Ein Beispiel hierfür liefert die Ankündigung des Feldzuges, den der Konsul Cn. Manlius Vulso 189 v. Chr. in Kleinasien gegen die Galater führte und der den Gegenstand der folgenden 16 Kapitel des 38. Buches bildet:237 eadem non aestate solum, sed etiam iisdem probe diebus, quibus haec a M. Fulvio consule in Aetolia gesta sunt, consul alter Cn. Manlius in Gallograecia bellum gessit, quod nunc ordiri pergam. Nicht nur im selben Sommer, sondern auch fast an denselben Tagen, an denen dies vom Konsul M. Fulvius in Ätolien vollbracht wurde führte der andere Konsul Cn. Manlius in Galatien einen Krieg, mit dem ich jetzt die Fortsetzung meiner Darstellung beginne.238

Der Grund für die ungewöhnliche auktoriale Intervention an dieser Stelle dürfte neben der Parallele in Polybios’ Historien239 vor allem in der Intention bestehen, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse zu betonen. Doch auch hier verbindet sich mit dem Vorverweis keine Anweisung an den Leser, im Text zu springen. Man kann also innerhalb der Buchgruppen von einer linearen, der Chronologie ebenso wie der vom Autor vorgegebenen Anordnug folgenden Leserichtung als Norm ausgehen, die allenfalls durch gelegentliches Zurückblättern unterbrochen wurde.240 Demgegenüber läßt sich jedoch gerade aus dem Fehlen von Querverweisen über ihre Grenzen hinaus und aus der damit einhergehenden stärkeren ___________________________

234 Vgl. Liv. 1,37,4 = 37,2; 1,46,5 = 42,1-42,2; 4,19,7 = 19,1-19,2; 7,16,5 = 13,1-14,5; 7,39,7 = 39,1-39,3; 8,9,2 = 8,3-8,19; 10,29,8 = 28,2-28,5; 21,29,2 = 26,5; 22,24,1 = 18,8-18,9; 22,28,8 = 28,3; 23,8,1 = 2,1-3,14; 24,34,4 = 33,9; 26,39,6 = 39,2; 28,7,13 = 7,11; 28,30,4 = 23,6-23,8; 28,33,8 = 33,2; 30,3,2 = 2,5; 30,43,10 = 43,1-43,10; 31,22,5 = 14,3; 34,19,1 = 17,4; 35,34,5 = 32,1; 35,35,4 = 34,1-34,8; 37,6,4 = 6,2; 37,41,8 = 40,12; 38,6,1 = 5,2; 39,45,6 = 22,6-7; 40,23,1 = 20,9; 42,56,8 = 54,9 u. 44,30,6 = 27,8-27,12. 235 Vgl. Liv. 25,5,9 = 24,18,9; 27,12,5 = 26,40,17; 28,5,1 = 27,33,5; 29,23,3 = 28,18,118,12; 34,60,1 = 33,49,5-49,7; 35,13,6 = 34,59,8; 36,6,1 = 35,47,2-47,3; 37,8,6 = 36,45,8 u. 45,26,1 = 44,30,12-31,15. 236 Vgl. Liv. 31,35,1 = 27,32,4. 237 Vgl. Liv. 38,12,1-27,9. 238 Vgl. Liv. 38,12,1. 239 Vgl. Pol. 21,33,1 mit BRISOE 2008, 57f. 240 Vgl. LEVENE 2010, 74f., der zu demselben Ergebnis kommt.

2. Das annalistische Schema und seine Optionen: Variation als Ziel

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Abgeschlossenheit der jeweiligen Gruppen die Vermutung ableiten, daß mit einer gezielten Lektüre einzelner Teile – etwa der dritten Dekade mit der Darstellung der berühmten Konfrontation mit Hannibal – durchaus gerechnet werden kann. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß zu Beginn einer neuen Einheit die für das Verständnis der Handlung notwendigen Informationen aus den früheren Büchern gelegentlich in knapper Form nachgetragen werden. Ein gutes Beispiel hierfür bietet Gaius Flaminius, dessen kontroverse Vorgeschichte für das Verständnis seiner Rolle in den Büchern 21-22 entscheidend ist. Auf die Darstellung der einschlägigen Ereignisse, die nach Angabe der periochae im 20. Buch erfolgt ist,241 wird aber nicht explizit verwiesen, sondern sie wird dem Leser in narrativ variierender Form – etwa durch die Hinweise auf Flaminius’ Vergangenheit in Reden seiner Gegner242 – an Ort und Stelle zur Verfügung gestellt. Daraus läßt sich die Folgerung ziehen, daß die Lektüre ausgewählter Abschnitte des Werkes in Form von Buchgruppen nicht nur möglich, sondern als Option bewußt angelegt ist. Mit dem Abweichen von der chronologischen Leserichtung ist allerdings zugleich ein Verstoß gegen das ebenfalls gezielt und mit Rücksicht auf historiographische Aussage gestaltete Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit und damit gegen die vom Autor empfohlene ‚Lesezeit‘ verbunden. 243 Daß Livius mit einem Rezipienten, der mit der Anordnung der Ereignisse und der Geschwindigkeit der Erzählung unzufrieden ist und daher eine individuelle Lektüre favorisiert, durchaus gerechnet hat, läßt sich jedoch anhand der praefatio plausibel machen: et legentium plerisque haud dubito, quin primae origines proximaque originibus minus praebitura voluptatis sint, festinantibus ad haec nova, quibus iam pridem praevalentis populi vires se ipsae conficiunt. Auch zweifele ich nicht daran, daß den meisten Lesern die ersten Anfänge und das, was den Anfängen zunächst liegt, weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben, zu unserer Neuzeit zu kommen, in der die Kräfte des Volkes, das schon längst übermächtig ist, sich selbst aufzehren.244

Auch wenn sich letztlich nicht entscheiden läßt, ob mit festinare hier eine in höherer Geschwindigkeit erfolgende, aber vollständige Lektüre oder eine selektive Form der Rezeption, in der auch Teile vom Leser ausgelassen werden können, gemeint ist,245 so ist doch mit beiden Formen eine erhebliche Abweichung von der eigentlich empfohlenen ‚Lesezeit‘ verbunden. ___________________________

241 242 243 244

Vgl. Liv. per. 20. Vgl. z.B. Liv. 22,6,3 mit historischen Rückblicken in der Rede des Ducarius. S. oben S. 105-108. Vgl. Liv. praef. 4 mit MOLES 1993, 146-148. Zur Vorliebe für die Zeitgeschichte als charakteristisches Phänomen in der Späten Republik s. oben S. 49-52. 245 Zur festinatio als terminus technicus für eine historiographische Kurzfassung in der Kaiserzeit seit Velleius Paterculus vgl. Vell. 1,16,1; 2,41,1; 2,108,2 u. 2,124,1.

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III. Die Struktur der Geschichte

Die Gliederung von ab urbe condita ermöglicht es über ihre Doppelstruktur aus fortlaufender annalistischer Jahreszählung einerseits und der Verwendung inhaltlich abgeschlossener Bücher und Buchgruppen andererseits jedenfalls dem Leser, sich in diesem Werk nicht nur rasch zu orientieren, sondern es prinzipiell auch je nach seinen spezifischen Interessen selektiv zu ‚benutzen‘. Dennoch sind bereits angesichts der materiellen Voraussetzungen der antiken Buchrolle dem ‚Springen‘ im Text enge Grenzen gesetzt, die auch durch die geringe Zahl von intratextuellen Querverweisen bestätigt werden. Daß sich die Stelle, auf die Bezug genommen wird, zumeist im gleichen Buch, jedenfalls aber in der gleichen Buchgruppe befindet, legt die Vermutung nahe, daß es sich bei den thematischen Gruppen um die kleinste für eine selektive Lektüre konzipierte Einheit handelt, während innerhalb der Bücher und Gruppen eine kontinuierliche, allenfalls durch gelegentliches Zurückblättern unterbrochene Lektüre intendiert ist.246

3. Das annalistische Schema und die Erzählung: Zwischen Normierung und variatio 3. Das annalistische Schema und die Erzählung

Wenn man sich bei der Betrachtung des annalistischen Schemas von der Vorstellung löst, daß es sich bei ihm um eine mehr oder weniger unreflektiert aus der historiographischen Tradition übernommene und in besonderer Weise unflexible Gliederung handelt, so zeigt sich, daß im Gegenteil mit der Verwendung dieser Struktur zahlreiche Vorteile für die literarische Gestaltung eines Geschichtswerkes verbunden sind. Diese Vorteile ergeben sich zum einen aus der durch dieses ‚Raster‘ bedingten Normierung bei der Präsentation historischer Ereignisse, zum anderen aber aus den gerade in diesem festen Rahmen vorhandenen Optionen zur Variation auf den unterschiedlichen narrativen Ebenen. Mit Blick auf den normierenden Teil kommt dabei dem Umstand die größte Bedeutung zu, daß mit der durchgängigen Markierung der römischen Chronologie und der deutlichen Akzentuierung der Jahreswechsel durch die Verlagerung des Handlungsortes nach Rom diese Stadt in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht zum Zentrum der Erzählung wie der Geschichte wird, und zwar bereits in Epochen, in denen dies weniger zutreffend war als zur Entstehungszeit des Werkes. Eine solche Präsentation der Vergangenheit läßt sich als ‚retrograde Universalisierung’ dem für die augusteische Zeit generell charakteristischen Phänomen einer systematischen Erfassung von Raum und Zeit an die Seite stellen. Darüber hinaus fordert die Verwendung einer festen Zeiteinheit den Leser dazu auf, die einzelnen Jahre – beispielsweise mit Blick auf die jeweils geschilderten Erfolge – miteinander zu vergleichen. Indem die annalistische Struktur den Leser auf diese Weise zur Mitarbeit animiert, leistet sie einen Beitrag sowohl zur Deutung des historischen Geschehens wie zur stärkeren Involvierung des Rezipienten. ___________________________

246 Für ein analoges Nebeneinander von selektiver Nutzung und kontinuierlicher Lektüre in der naturalis historia des älteren Plinius vgl. DOODY 2010, 92-131.

3. Das annalistische Schema und die Erzählung

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In gleicher Weise lassen sich auch die verschiedenen Optionen zur Variation innerhalb des annalistischen Schemas sowohl als Mittel zur Unterstreichung der historischen Aussage als auch als Beitrag zur Leserbindung verstehen. Dies gilt für den Umgang mit Ana- und Prolepsen ebenso wie für die unterschiedlichen Techniken, die Livius zur Lösung des Problems der Schilderung von gleichzeitigen Ereignissen entwickelt hat. Wenn man sich dann in einem zweiten Schritt von der engeren Frage, in welcher Reihenfolge die historischen Ereignisse in den einzelnen Teilen geschildert werden, löst und sich den Folgen des annalistischen Schemas für den Aufbau des Werkes in seiner Gesamtheit zuwendet, zeigt sich auch hier, daß sowohl beim Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit als auch bei der Kombination der Jahreszählung mit thematisch abgeschlossenen Büchern und Buchgruppen neben der Normierung zugleich vielfältige Optionen für Variationen – vom Inhalt über die Erzählzeit bis zur Lesegeschwindigkeit – vorhanden sind. Auch diese lassen sich nutzen, um die historische Aussage zu unterstreichen und die Motivation zur Fortsetzung der Lektüre zu erhöhen.

IV. POLYPHONE GESCHICHTSSCHREIBUNG: FOKALISIERUNG UND MULTIPERSPEKTIVITÄT Für die Wahrnehmung des historischen Geschehens durch den Leser stellt die in der Erzählung eingenommene Perspektive, also die Frage aus wessen Sicht die Ereignisse jeweils geschildert werden, einen zentralen Faktor dar, der in diesem Kapitel einer näheren Analyse unterzogen wird. Während Livius in der älteren Forschung oft dafür kritisiert wurde, eine unreflektiert patriotische Haltung zu seinem Gegenstand einzunehmen, kann eine genauere Untersuchung seiner literarischen Technik zeigen, daß der Erzähler in ab urbe condita im Ganzen zwar eine primär prorömische Perspektive einnimmt, diese an zahlreichen Stellen aber durch Elemente einer multiperspektivischen Darstellung ergänzt. In diesem Zusammenhang spielen neben der Fokalisierung aus der Sicht anderer Personen als der Akteure der römischen Seite die Reden als besonders geeignetes Verfahren für die polyphone Präsentation der Vergangenheit eine zentrale Rolle. Diesen beiden Darstellungstechniken wollen wir uns am Beispiel der Schilderung von Hannibals Alpenübergang, die über weite Strecken aus karthagischer Perspektive fokalisiert ist, einerseits und den an verschiedenen Stellen verwendeten sogenannten ‚Barbarenreden‘, in denen Angehörige anderer Völker Kritik am Handeln der römischen Seite üben, andererseits beschäftigen. Dabei wird sich auch hier aufzeigen lassen, daß die analysierten narrativen Strategien sowohl auf der Ebene der historischen Interpretation der Ereignisse als auch auf der Ebene der literarischen Präsentation wichtige Funktionen übernehmen. Ehe wir mit der Untersuchung der einzelnen Passagen aus Livius’ Werk beginnen, soll jedoch zunächst ein Blick auf die antike Diskussion, welche Haltung ein Historiker in seinem Text zu den von ihm behandelten Gegenständen einnehmen soll, geworfen werden. Dabei wird sich zeigen, daß zwar ein Mindestmaß an Objektivität eingefordert wird, die Mehrzahl der antiken Stimmen von einem Geschichtsschreiber aber eine patriotische Perspektive als Grundhaltung erwartet. Diese sich von den Ansprüchen der modernen Geschichtswissenschaft grundlegend unterscheidende Erwartungshaltung der zeitgenössischen Leser kann auch für ein adäquates Verständnis des livianischen Werkes nicht außer acht gelassen werden.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall a) Der patriotische Blick als Postulat und Problem in der Antike In der antiken Diskussion über die Geschichtsschreibung spielt die Frage, welche Haltung der Historiker zu den in seinem Text dargestellten Inhalten einnehmen soll, keine geringe Rolle. In zwei der umfangreichsten Rezeptionszeugnissen zur zeitgenössischen Wahrnehmung von historiographischen Texten wird der Autor von seinem antiken Leser vor allem dafür kritisiert, die eigene Heimatstadt nicht

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

positiv genug behandelt zu haben. Das ist sowohl der Hauptkritikpunkt des Dionysios von Halikarnassos an Thukydides, dessen Geschichtswerk er an verschiedenen Stellen seines Œuvres bespricht,1 als auch der des Plutarch an Herodot, den er in der Schrift mit dem programmatischen Titel περὶ τῆς Ἡροδότου κακοηθείας (de malignitate Herodoti) ausführlich begründet hat.2 Die Quintessenz der Kritik des Dionysios besteht darin, daß Thukydides sowohl durch die Wahl seines Themas als auch durch die Anfangs- und Endpunkte seiner Darstellung den Leser daran hindere, die ‚richtige‘ – also seiner Meinung nach eine mit der athenischen als der wahrhaft griechischen Seite sympathisierende – Haltung zum geschilderten Geschehen einzunehmen. 3 Vielmehr führe das Scheitern dieser Identifikation zu einem starken Widerwillen des Rezipienten gegenüber dem Werk und seinen Inhalten.4 Deswegen fordert Dionysios auch generell von allen Historikern, ihren Gegenstand so zu wählen und zu behandeln, daß es dem Leser ermöglicht wird, sich mit der richtigen Seite zu identifizieren und auf diese Weise zugleich Vergnügen an der Lektüre zu empfinden: πρῶτόν τε καὶ σχεδὸν ἀναγκαιότατον ἔργον ἁπάντων ἐστὶ τοῖς γράφουσιν πᾶσιν ἱστορίας ὑπόθεσιν ἐκλέξασθαι καλὴν καὶ κεχαρισμένην τοῖς ἀναγνωσομένοις. τοῦτο Ἡρόδοτος κρεῖττόν μοι δοκεῖ πεποιηκέναι Θουκυδίδου. Die erste und eigentlich allerwichtigste Aufgabe besteht für jeden Historiker darin, ein schönes und für die Leser angenehmes Thema zu wählen. Das hat meiner Meinung nach Herodot besser gemacht als Thukydides.5 ___________________________

1 Vgl. v.a. Dion. Hal. de Thuc. u. Pomp. 3,2-3,21 mit SACKS 1983, 65-87, u. WEAIRE 2005. 2 Vgl. HOMEYER 1967; BOWEN 1992; MARINCOLA 1994; PELLING 2007 u. BARAGWANATH 2008, 9-22. 3 Zum zeitgenössischen Kontext der Fokussierung auf Athen in dieser Zeit und dem von Dionysios wesentlich mitgeprägten ‚Klassizismus‘ vgl. WIATER 2011, v.a. 29-59. 4 Vgl. v.a. Dion. Hal. Pomp. 3,4-3,6: ὁ δὲ Θουκυδίδης πόλεμον ἕνα γράφει, καὶ τοῦτον οὔτε καλὸν οὔτε εὐτυχῆ· ὃς μάλιστα μὲν ὤφειλε μὴ γενέσθαι, εἰ δὲ μή, σιωπῇ καὶ λήθῃ παραδοθεὶς ὑπὸ τῶν ἐπιγιγνομένων ἠγνοῆσθαι. ὅτι δὲ πονηρὰν εἴληφεν ὑπόθεσιν, καὶ αὐτός γε τοῦτο ποιεῖ φανερὸν ἐν τῷ προοιμίῳ· πόλεις τε γὰρ δι' αὐτὸν ἐξερημωθῆναί φησι πολλὰς Ἑλληνίδας, τὰς μὲν ὑπὸ βαρβάρων, τὰς δ' ὑπὸ σφῶν αὐτῶν, καὶ φυγαδείας καὶ φθόρους ἀνθρώπων ὅσους οὔπω πρότερον γενέσθαι, σεισμούς τε καὶ αὐχμοὺς καὶ νόσους καὶ ἄλλας πολλὰς συμφοράς. ὥστε τοὺς ἀναγνόντας τὸ προοίμιον ἠλλοτριῶσθαι πρὸς τὴν ὑπόθεσιν, Ἑλληνικῶν μέλλοντας ἀκούειν. („Thukydides beschreibt jedoch nur einen einzigen Krieg, und der ist weder schön noch glücklich verlaufen: Er hätte am besten niemals stattgefunden, wenn aber doch, dann hätte er dem Schweigen und Vergessen überantwortet und von der Nachwelt gar nicht zur Kenntnis genommen werden sollen. Daß er ein ungeeignetes Thema gewählt hat, räumt er selbst in seiner Einleitung offen ein: Sagt er doch, daß durch diesen Krieg viele griechische Städte verwüstet wurden, teils von Barbaren, teils aber auch untereinander, daß es mehr Vertreibungen und Massaker als jemals zuvor gegeben hat sowie Erdbeben, Hungersnöte, Seuchen und viele andere Unglücke. Die Folge davon ist, daß die Leser der Einleitung dem Thema entfremdet werden, obwohl sie nun etwas über Griechenland hören werden.“) sowie ferner Pomp. 3,9-15 u. de Thuc. 37-41 mit z.B. FOX 1993, 37-41. 5 Vgl. Dion. Hal. Pomp. 3,2-3,3.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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Daß Dionysios den mustergültigen Vertreter seiner Forderung in Herodot erblickt,6 der von Plutarch später genau dafür kritisiert wird, daß er die Griechen in seinem Werk unfreundlich darstellt,7 entbehrt zwar nicht einer gewissen Ironie und kann zugleich die Subjektivität der von beiden Autoren angelegten Kriterien verdeutlichen. Dennoch können wir hier eine wichtige Position in der antiken Diskussion zur Geschichtsschreibung greifen, bei der die Eignung eines Textes, den Leser durch eine mit seiner bereits feststehenden Meinung übereinstimmenden Darstellung moralisch zu erbauen und zugleich literarisch zu unterhalten, höher bewertet wird als eine objektive Vermittlung der historischen Fakten. Zugleich findet in der antiken Theorie aber auch eine Problematisierung dieser subjektiven Historiographie statt, die dann nicht mehr als patriotisch, sondern als panegyrisch begriffen wird. Explizit äußern sich in dieser Weise zwar nur Polybios und Lukian,8 doch läßt sich dieser Anspruch implizit auch aus anderen Bemerkungen erschließen. Neben der schon für Hekataios belegten,9 danach rasch topisch gewordenen Beteuerung, nur die Wahrheit sagen zu wollen,10 spielt hier die vielfach geäußerte Forderung nach einer unparteiischen, von Sympathie oder Abneigung für die beteiligten Personen, Städte oder Völker möglichst freien Darstellung der Vergangenheit eine zentrale Rolle.11 Um diesen Anspruch zu illustrieren, wird von hellenistischer Zeit an die Tätigkeit des Historikers mit der eines Richters verglichen.12 Die Beliebtheit gerade dieses Bildes verdeutlicht aber auch die Bedeutung, die der Beurteilung historischer Personen in den Kategorien von Lob und Tadel in der antiken Geschichtsschreibung zukommt,13 und kann darüber hinaus als Hinweis darauf verstanden werden, daß in der Antike unter Wahrheit in der Historiographie offenbar etwas ___________________________

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Vgl. v.a. Dion. Hal. epist. Pomp. 3,15: ἡ μὲν Ἡροδότου διάθεσις ἐν ἅπασιν ἐπιεικὴς καὶ τοῖς μὲν ἀγαθοῖς συνηδομένη, τοῖς δὲ κακοῖς συναλγοῦσα· ἡ δὲ Θουκυδίδου [διάθεσις] αὐθέκαστός τις καὶ πικρὰ καὶ τῇ πατρίδι τῆς φυγῆς μνησικακοῦσα. („Herodots Haltung ist in allen Punkten vortrefflich: Er freut sich über die Guten und leidet wegen der Schlechten. Die des Thukydides jedoch ist unverblümt und feindselig und läßt seinen Ärger auf das Vaterland wegen seiner Verbannung erkennen.“). Vgl. v.a. Plut. de malignitate Herodoti 854e-855a u. 857a: φιλοβάρβαρος. Vgl. Pol. 1,14,4-14,9 u. Lukian. hist. conscr. 40-41 mit LUCE 1989, 20-22. Vgl. FGrHist F 1 (= Demetr. de eloc. 12): τάδε γράφω ὥς μοι δοκεῖ ἀληθέα εἶναι. Vgl. z.B. HERKOMMER 1968, 137f., u. NICOLAI 1992, 16f. Vgl. FORNARA 1983, 99-101; LUCE 1989 u. MARINCOLA 1997, 158-174, v.a. 158: „Of all the claims made by ancient historians, the promise to be impartial is far and away the most common.“ Vgl. Lukian. hist. conscr. 38-41, v.a. 41: ἴσος δικαστής, εὔους ἅπασιν ἅχρι τοῦ μὴ θατέρω ἀπονεῖμαι πλεῖον τοῦ δέοντος („... ein gerechter Richter, allen wohlgesinnt, ohne dabei einer Seite mehr als ihr gebührt, zuzubilligen, ...“ [Übers. HOMEYER 1965]) sowie zur Bedeutung dieser Analogie schon für Herodot BARAGWANATH 2008, 17-20; zur Verwendung in der lateinischen Historiographie HERKOMMER 1968, 140-144. Dies wird besonders in dem Vergleich deutlich, den Dionysios zwischen Theopomps Geschichtswerk und dem Unterweltsgericht zieht (vgl. Dion. Hal. Pomp. 6,7-6,8).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

anderes verstanden wurde als in der Neuzeit. Die These eines – in Analogie zu einem Gerichtsverfahren – auf die Plausibilität beschränkten Wahrheitsanspruchs bei der Rekonstruktion der Vergangenheit haben vor allem PETER WISEMAN und TONY WOODMAN vertreten,14 sie ist aber nicht ohne Widerspruch geblieben.15 Aus der richterlichen Unparteilichkeit als Ideal der antiken Historiographie ergibt sich aber auch die Forderung nach einer ausgewogenen Darstellung, in der beide Seiten eines Konfliktes in den Blick genommen werden. Diese Forderung wird von Lukian in seiner Abhandlung über die Geschichtsschreibung (πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν / quomodo historia conscribenda sit) interessanterweise nicht nur auf die Quantität der Informationen, sondern auch auf die vom Erzähler dazu eingenommene Perspektive bezogen: καὶ ὅλως ἐοικέτω τότε τῷ τοῦ ῾Ομήρου Διὶ ἄρτι μὲν τὴν τῶν ἱπποπόλων Θρῃκῶν γῆν ὁρῶντι, ἄρτι δὲ τὴν Μυσῶν, κατὰ ταὐτὰ γὰρ καὶ αὐτὸς ἄρτι μὲν τὰ ῾Ρωμαίων ἴδιᾳ ὁράτω καὶ δηλούτω ἡμῖν οἷα ἐφαίνετο αὐτῷ ἀφ' ὑψηλοῦ ὁρῶντι, ἄρτι δὲ τὰ Περσῶν, εἶτ' ἀμφότερα εἰ μάχοιντο. … ἐπειδὰν δὲ ἀναμιχθῶσι, κοινὴ ἔστω ἡ θέα, καὶ ζυγοστατείτω τότε ὥσπερ ἐν τρυτάνῃ τὰ γιγνόμενα καὶ συνδιωκέτω καὶ συμφευγέτω. In seinem Verhalten aber gleiche der Geschichtsschreiber dem Homerischen Zeus, der ein Mal auf das Land der rossetummelnden Thraker und dann wieder auf das Reich der Myser herabschaut; ebenso soll er ein Mal die eigenen Leute beobachten und uns berichten, wie er die Lage von oben aus beurteilt, und wieder den Blick auf die Reihen der Perser richten, und schließlich, wenn beide miteinander im Kampf liegen, auf beide Seiten achten. ... Sobald es dann zum Kampf kommt, muß er beide Seiten beobachten und alles, was geschieht, gerecht wie auf einer Waage wiegen und stets überall dabei sein, bei einer Verfolgung ebenso wie bei einer Flucht.16

Das von Lukian hier und noch an anderen Stellen seiner Schrift empfohlene narrative Verfahren17 läßt sich in der Terminologie der Literaturwissenschaft als multiperspektivisches Erzählen verstehen.18 Wie die Interpretation vor allem der griechischen Historiker in den letzten Jahren gezeigt hat, handelt es sich hierbei nicht nur um eine theoretische Forderung Lukians, sondern um ein bereits von Herodot oder Thukydides vielfach angewandtes Konzept.19 Dabei wird zu Recht betont, daß die Verwendung narrativer Strategien wie der Fokalisierung sich nicht ___________________________

14 Vgl. WISEMAN 1979 u. WOODMAN 1988, 70-116; ferner z.B. DARBO-PESCHANSKI 1998. 15 Vgl. z.B. SCHEPENS 2007, 41f.: „To pass judgement is, definitely, an important aspect of most Greek historians’ conception of their task. But to argue … that Herodotus, Thucydides, and Polybius made it their prime business to ‘judge the past’ and act as ‘adjudicators’ rather than try to investigate and accurately report events, problematizes the truth-claims of these historians to an extent that is hardly reconcilable with their emphatically professed aims (…).“ 16 Vgl. Lukian. hist. conscr. 49 [Übers. HOMEYER 1965]. 17 Vgl. v.a. Lukian. hist. conscr. 50. 18 Vgl. z.B. NEUHAUS 1971, v.a. 161-166, u. NÜNNING / NÜNNING 2008. 19 Vgl. HORNBLOWER 1994b, 134f.164f.; ROOD 1998, v.a. 20f.; DEWALD 1999; ROOD 2004a; DE JONG 2004b; PELLING 2006; GREENWOOD 2006, 19-41; RENGAKOS 2006b; MORRISON 2006a, 39-43, u. BARAGWANATH 2008, 203-288.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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in dem mit ihr verbundenen literarischen Mehrwert und ästhetischen Genuß erschöpft, sondern mit der Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven auf das Geschehen zugleich eine wichtige historiographische Aussage verbunden ist.20 Zugleich handelt es sich bei den Elementen, die einer Schilderung aus unterschiedlichen Perspektiven dienen, aber immer nur um einen Teil des Geschichtswerks. In der Darstellung in ihrer Gesamtheit überwiegt in der Regel doch die Perspektive der historischen Seite, der sich der Autor und die von ihm intendierten Leser zugehörig fühlen. Dennoch gilt es festzuhalten, daß die doppelte Frage nach dem für die erfolgreiche Involvierung der Leser wünschenswerten Grad der patriotischen Perspektive einerseits und dem für eine objektive Darstellung erforderlichen Anteil multiperspektivischer Schilderung andererseits in der historiographischen Theoriediskussion der Antike prominent behandelt wurde. Wo in dieser Debatte Livius’ Umgang mit der römischen Geschichte einzuordnen ist, soll in den folgenden beiden Abschnitten dargelegt werden. Zu diesem Zweck wollen wir uns zuerst mit der Frage beschäftigen, durch welche narrativen Strategien Livius dem Leser seines Werks eine patriotische Perspektive und die Identifikation mit den historischen Figuren auf der römischen Seite nahelegt, ehe im nächsten Abschnitt die Elemente der polyphonen Präsentation von Vergangenheit in ab urbe condita benannt werden sollen, die dann – als die in der Forschung bislang weniger berücksichtigte Komponente seines Geschichtsbildes – auch in dem verbleibenden Teil dieses Kapitels im Vordergrund stehen sollen. b) Die narrative Etablierung der römischen Perspektive bei Livius Wohl kaum ein zeitgenössischer Leser, der Livius’ in lateinischer Sprache verfaßtes und mit dem Titel ab urbe condita seinen Gegenstand nur scheinbar unbestimmt bezeichnendes Werk in die Hand nimmt, wird – schon aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Historiographie – daran gezweifelt haben, daß er hier in erster Linie römische Geschichte aus einer römischen Perspektive geschildert bekommt. Dieser erste Eindruck verfestigt sich, wenn er im weiteren Verlauf der Lektüre feststellt, daß die historischen Ereignisse – wie der Titel dem erfahrenen Leser schon nahegelegt hatte – vorwiegend mit Hilfe des annalistischen Schemas gegliedert werden. Welche Auswirkungen gerade diese Anordnung auf die Wahrnehmung des vergangenen Geschehens hat, wurde im letzten Kapitel bereits thematisiert. Die einzelnen Aspekte sollen hier nun noch einmal zusammengefaßt und um weitere Beobachtungen ergänzt werden. Die Wahrnehmung historischer Ereignisse durch den Leser wird bei ihrer Anordnung im annalistischen Schema zunächst vor allem durch die spezifische zeitliche und räumliche Struktur beeinflußt: Die Erzählung erhält ihre grundlegende Gliederung durch den Amtsantritt der Konsuln, dessen explizite Erwähnung den ___________________________

20 Vgl. DEWALD 1999, 247; MORRISON 2006, 17f., u. BARAGWANATH 2008, 4f.; zur Multiperspektivität in der modernen Geschichtsdidaktik vgl. BERGMANN 2000 u. JAEGER 2000.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Wechsel in der römischen Jahreszählung markiert. Da zudem für die Schilderung der damit verbundenen Ereignisse auch der Handlungsort regelmäßig nach Rom verlegt wird, wird in der historiographischen Darstellung nicht nur die römische Zeitstruktur betont, sondern die Stadt am Tiber zugleich auch zum Zentrum der Handlung gemacht, um das sich die Ereignisse der einzelnen Jahre in einem kontinuierlich größer werdenden Abstand herum abspielen, ohne jedoch den Bezug zu der auf diese Weise markierten ‚Hauptstadt‘ zu verlieren. Während die zentrale Rolle der zeitlichen Struktur bei Livius’ Gliederung der römischen Geschichte ‚von der Gründung der Stadt an‘ schon behandelt wurde,21 soll hier näher auf den nicht minder relevanten Beitrag der räumlichen Struktur zur Organisation des Textes eingegangen werden, der in der Forschung der letzten Jahren auch bereits verstärkt in den Blick genommen wurde. Die einschlägigen Arbeiten haben sich jedoch auf die Bücher der ersten Pentade und damit auf die Topographie Roms und des näheren Umlands konzentriert.22 Die dort gewonnenen Erkenntnisse zur Funktion des Handlungsortes und zur im Lauf der Lektüre immer weiter ausgreifenden mental map im Kopf des Lesers lassen sich aber auch auf die übrigen Bücher des Werkes übertragen, in denen die kontinuierliche Expansion Roms über die italische Halbinsel,23 das westliche Mittelmeer24 und schließlich über Griechenland dargestellt wird.25 Im Gegensatz zu den Orten der römischen Frühgeschichte dürften die Schauplätze der großräumigen Auseinandersetzungen mit Karthago oder den makedonischen Königen auch für den zeitgenössischen Leser zum Teil ganz neu, zum Teil nur dem Namen nach bekannt gewesen sein, so daß sie für ihn erst durch die livianische Erzählung nicht nur in einen historischen, sondern auch in einen geographischen Kontext gestellt werden. Die auf diese Weise generierte räumliche Ordnung ist vorwiegend linear konfiguriert und bedient sich der unter anderem aus der Kognitionspsychologie bekannten Technik der routes,26 wie sie auch in der antiken Gattung des Itinerars zur Anwendung kommt und deren generelle Bedeutung für die nicht den neuzeitlichen kartographischen Modellen folgende Raumerfassung der Antike in der Diskussion der letzten Jahrzehnte zu Recht stark be___________________________

21 S. oben S. 77-85. 22 Vgl. z.B. KRAUS 1994b; EDWARDS 1996; JAEGER 1997; JAEGER 1999 u. PAUSCH 2008a. 23 Hier haben vor allem die Kaudinischen Pässe und ihr Beitrag zu Roms Niederlage viel Aufmerksamkeit gefunden: vgl. Liv. 9,2,6-6,4 mit HORSFALL 1982 u. MORELLO 2003. 24 Zur Geographie in der 3. Dekade vgl. JAEGER 2006, 391: „If we are willing to read Livy’s history at least partly as an extended story of space that is falling increasingly under Rome’s influence that determines both the course of events and the nature of the records of events, then we can learn something about the historian’s narrative technique by studying the embedded topographies of places swallowed by the growing giant.“ 25 Hier wurde unter anderem die Besteigung des Haimos-Gebirges durch Philipp V. (vgl. Liv. 40,21-22 mit JAEGER 2007) und die Präsentation Griechenlands im 45. Buch als Teil einer Triumphinszenierung untersucht (vgl. EIGLER 2003b u. EGELHAAF-GAISER 2006). 26 Vgl. DOWNS / STEA 1982.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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tont wurde.27 Der daraus resultierende Umstand, daß das von Livius verwendete Modell häufig nicht den modernen Sehgewohnheiten entspricht, hat ihm in der älteren Forschung häufig den Vorwurf des Desinteresses oder der Inkompetenz in Hinsicht auf die geographische Darstellung eingetragen.28 Befreit man sich aber von der Erwartung, daß die geographische Repräsentation des Imperiums in ab urbe condita modernen Vorstellungen kartographischer Erfassung entsprechen müsse,29 so läßt sich zeigen, daß der auf den ersten Blick ungegliederte Raum der antiken Oikumene innerhalb des Textes durchaus narrativ strukturiert wird. Dies geschieht vor allem durch die sukzessive Präsentation neuer Regionen im Laufe der Erzählung, die der Leser häufig gemeinsam und daher gleichsam aus der Perspektive der dorthin entsandten römischen Magistrate kennenlernt. Da im Rahmen des annalistischen Schemas der Handlungsort am Ende des Jahres regelmäßig wieder nach Rom verlegt wird, ergibt sich zudem eine zirkuläre Struktur, mit der das neue Zentrum der auf diese Weise innerhalb des Textes generierten mediterranen Welt eine deutliche Kontur erhält. Der Leser lernt daher das größer werdende Imperium Schritt für Schritt kennen und nimmt zugleich eine explizit römische Perspektive auf die historische Entwicklung ein. Diese Beobachtungen erweisen sich zwar für die erhaltenen Teile des Werkes in seiner Gesamtheit als zutreffend, müssen aber noch um die Diskussion einer zunächst vielleicht problematisch erscheinenden Ausnahme ergänzt werden. Hat sich Livius doch dafür entschieden, sein Geschichtswerk gerade nicht mit einem Hinweis auf die Vorgeschichte Roms, sondern auf die seiner eigenen Heimatstadt Patavium, dem heutigen Padua, zu beginnen, indem er nach der knappen Schilderung der Eroberung Trojas zuerst die Irrfahrten des als Stammvater der Veneter geltenden Antenor schildert und erst danach das weitere Schicksal des Aeneas und seiner Nachfahren in den Blick nimmt: casibus deinde variis Antenorem cum multitudine Enetum, qui seditione ex Paphlagonia pulsi et sedes et ducem rege Pylaemene ad Troiam amisso quaerebant, venisse in intimum maris Hadriatici sinum, Euganeisque qui inter mare Alpesque incolebant pulsis Enetos Troianosque eas tenuisse terras. et in quem primo egressi sunt locum Troia vocatur pagoque inde Troiano nomen est: gens universa Veneti appellati. ___________________________

27 Zur karthographischen Erfassung des Raumes in der Antike und den Unterschieden zur Neuzeit vgl. v.a. BRODERSEN 1995; HÄNGER 2001; RATHMANN 2007 u. RIGGSBY 2009. 28 Vgl. z.B. BURCK 1964 [1934], 197-200; WALSH 1961, 153-157, u. zusammenfassend GIROD 1982; sowie dag. HORSFALL 1985, v.a. 204, u. EGELHAAF-GAISER 2006, v.a. 43: „Obwohl Livius den Anspruch verifizierbarer Verlässlichkeit erhebt, ist realistische Genauigkeit nicht sein Primat. Vielmehr zielt seine Darstellung auf den historiographischen Entwurf einer imperialen mental map, in der die Erfüllungsorte der römischen Reichsgeschichte sinnfällig aufeinander bezogen sind.“ 29 Zudem ist in Rechnung zu stellen, daß die Generierung räumlicher Strukturen in literarischen Texten – zu denen die antike Geschichtsschreibung in vielen Punkten gehört – generell anderen Gesetzmäßigkeiten folgen kann (vgl. z.B. LOTMAN 1972, v.a. 329f.).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Nach mancherlei Zwischenfällen sodann kam Antenor mit einer Menge der Eneter, die infolge innerer Unruhen aus Paphlagonien vertrieben worden waren, ihren König Pylaimenes vor Troja verloren hatten und Wohnsitze und einen Führer suchten, in die innerste Bucht des Adriatischen Meeres; hier vertrieben die Eneter und die Trojaner die Euganeer, die zwischen dem Meer und den Alpen wohnten, und nahmen diese Länder in Besitz. Und wirklich heißt die Stelle, wo sie zuerst an Land gingen, Troja, und der Gau heißt danach der Trojanische; das Volk insgesamt nennt man die Veneter.30

Der überraschende Schritt, den prominenten Platz zu Beginn des Werkes seiner norditalischen Heimatstadt zuzubilligen,31 fügt sich jedoch gut in die politische Situation der Entstehungszeit ein und kann daher als Versuch gewertet werden, die römischen ‚Neubürger‘ in Italien durch die Integration ihrer Lokalgeschichte als Leser für eine ansonsten romzentrierte Geschichtsschreibung zu gewinnen.32 Neben dieser grundlegenden durch das annalistische Schema erzeugten räumlichen und zeitlichen Struktur der Erzählung leisten aber auch eine ganze Reihe weiterer Faktoren ihren Beitrag zur Etablierung einer römischen Perspektive auf das historische Geschehen. Unter diesen kommt nicht zuletzt der schieren Quantität der Informationen, die der Leser über Gegebenheiten und Vorgänge auf der römischen Seite erhält, und ihrem deutlichen Übergewicht im Vergleich zu Angaben über andere Länder und Völker eine zentrale Rolle zu. Dieser Eindruck entsteht in erster Linie durch die quantitative Verteilung der Informationen im Text, wird aber zudem durch auktoriale Kommentare verstärkt,33 in denen Livius sich in der ersten Person zu Wort meldet und seine Konzentration auf die römische Geschichte vor dem Leser rechtfertigt. Die erste explizite34 Äußerung erfolgt im 33. Buch anläßlich der Feldzüge Antiochos III. in Kleinasien in den 190er Jahren: non operae est persequi, ut quaeque acta in his locis sint, cum ad ea quae propria Romani belli sunt vix sufficiam. Es lohnt sich nicht zu verfolgen, wie alles einzelne in dieser Gegend geschah, da ich kaum dem gewachsen bin, was direkt mit dem Krieg der Römer zu tun hat.35

Auch an einer anderen Stelle, an der Livius sich zu dieser Thematik äußert, stellt er den gleichen Zusammenhang zwischen einer Beschränkung auf die römische Geschichte und seinen letztlich begrenzten Kapazitäten als Historiker her: ___________________________

30 Vgl. Liv. 1,1,1-1,3 sowie Strab. 12,3,8 u. Verg. Aen. 1,242-249 mit KRAUS 1997, 73. 31 Ereignisse mit Bezug zu Patavium werden zwar auch später gelegentlich erwähnt, lokalhistorischen Charakter gewinnt aber nur die Schilderung, wie seine Einwohner die Flotte des Kleonymos besiegen und dies zum Anlaß eines jährlichen Festes nehmen (vgl. Liv. 20,2,9-2,15 mit z.B. LAURENCE 1998, 104-106, u. DENCH 2005, 211f.). 32 Vgl. FELDHERR 1997, 139f., u. LEVENE 2010, 214-216. Zur Rolle der Historiographie bei der Integration neuer Bürger auch in den Jahrzehnten zuvor s. oben S. 38-46. 33 Zur Häufigkeit auktorialer Kommentare vgl. MARINCOLA 1997, 11f., u. dag. FELDHERR 1998, 31f.; zur Interaktion von zwei Stimmen in Livius’ Text s. oben S. 11f. 34 Implizit liegt der Gedanke auch der Begründung für den Exkurs zum Tod des Alexanders von Epiros zugrunde (vgl. Liv. 8,24,1-28,18 mit MAHÉ-SIMON 2006, 172-179). 35 Vgl. Liv. 33,20,13 mit BRISCOE 1973, 288, u. LUCE 1977, 43f.

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sed externorum inter se bella, quo quaeque modo gesta sint, persequi non operae est satis superque oneris sustinenti res a populo Romano gestas scribere. Aber es ist nicht der Mühe wert, zu verfolgen, auf welche Weise die auswärtigen Mächte alle ihre Kriege untereinander geführt haben, da es ja schon genug und übergenug Mühe macht, die Taten des römischen Volkes darzustellen.36

Er bedient sich damit einer auch sonst von ihm in der Kommunikation mit dem Leser angewandten Strategie, die darin besteht, daß er seine eigene Mühe bei der Abfassung des Werkes betont, um auf diese Weise die Motivation des Rezipienten zur Lektüre zu steigern.37 Diese Stelle dient ebenso wie andere über das ganze Werk verteilte Kommentare des Autors mit gleicher Stoßrichtung38 nicht zuletzt dazu, die in der praefatio angekündigte39 und durch die Wahl des annalistischen Formats unterstrichene Fokussierung auf die römische Geschichte dem Leser noch einmal in Erinnerung zu rufen und die – im zeitgenössischen Kontext nicht abwegige40 – Erwartung einer universalhistorischen Darstellung zu entkräften. Zugleich verstärken sie jedoch, indem die Ereignisse außerhalb des Imperiums als nachrangig deklariert werden, die schon durch die quantitativen Verhältnisse erzeugte Perspektivierung auf die römische Geschichte noch einmal erheblich. Der Leser erfährt also mehr über die römische Seite als über Ereignisse auf der jeweils anderen Seite, was auch deswegen eine wichtige Beobachtung darstellt, als die Identifikation des Lesers mit den Figuren eines literarischen Textes unter anderem auch auf der Menge der ihm zur Verfügung gestellten Informationen beruht. Von einer anderen zentralen Strategie zur Steuerung der Sympathie des Rezipienten für die historischen Akteuren, nämlich der Verwendung der Personalpronomina in der ersten Person Plural, macht Livius hingegen – im Unterschied zu den meisten republikanischen Historikern41 – nur indirekt Gebrauch.42 Während Caesar in seinen commentarii de bello Gallico die römische Seite häufig mit Formen der Pronomen nos und noster bezeichnet, um damit den Leser stärker in ___________________________

36 Vgl. Liv. 41,25,8. 37 S. oben S. 71-74. 38 Vgl. v.a. Liv. 35,40,1 u. 39,48,6: cuius belli et causas et ordinem si expromere velim, immemor sim propositi, quo statui non ultra attingere externa, nisi qua Romanis cohaererent rebus. („Wenn ich die Ursachen dieses Krieges und die Abfolge der Ereignisse darlegen wollte, würde ich meinem Vorsatz untreu werden, den ich gefaßt habe: die auswärtigen Angelegenheiten nur so weit zu berühren, wie sie mit römischen Interessen zusammenhängen.“). 39 Vgl. v.a. Liv. praef. 1: a primordio urbis res populi Romani perscribere u. praef. 3: rerum gestarum memoria principis terrarum populi mit z.B. BURCK 1982, 1186. 40 Zur Blüte der Universalgeschichtsschreibung im 1. Jh. v. Chr. s. oben S. 28 u. 49. 41 Vgl. MARINCOLA 1997, 287 (= App. V): „It is characteristic of the Roman historians to use the first-person plural frequently when referring to the Roman state or the Roman soldiers in battle. Cato may have been the first to do this, … By Sallust’s time, the convention is already fully developed.“ 42 Vgl. LEEMANN 1963, I 196, u. MARINCOLA 1997, 288 (= App. V).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

die Handlung zu involvieren,43 verwendet Livius auf der Ebene des Autors und des Erzählers diese Pronomen ausschließlich in Bezug auf das Rom der eigenen Gegenwart, nicht aber für die im Werk dargestellte Vergangenheit der Stadt und ihrer Bewohner. Diese werden vielmehr in der Regel mit Formen von Romanus bezeichnet, nos oder noster finden sich hier nur – allerdings in reicher Zahl – in den direkten Reden der historischen Personen sowie in wenigen Ausnahmefällen auch in der vom Erzähler wiedergegebener indirekter Rede.44 Diese Beschränkung der Personalpronomina in der ersten Person Plural auf die vom Erzähler oder Autor hergestellten Bezüge zur eigenen Gegenwart zeigt sich bereits deutlich in der praefatio45 und läßt sich im weiteren Verlauf wiederholt in gleicher Weise beobachten.46 Darüber hinaus werden diese Pronomen nur noch in zwei eng umgrenzten und quantitativ irrelevanten Sonderfällen verwendet: zum einen als geographische Umschreibung entweder für Italien – jedoch nur an einer Stelle im Alexanderexkurs47 – oder für das Mittelmeer – doch selbst der später geläufige Ausdruck mare nostrum findet sich nur zweimal in Bezug auf Spanien und bezeichnet den Gegensatz zur Atlantikküste;48 zum anderen bei der Diskussion von Überlieferungsvarianten. Hier verwendet Livius einerseits nostri scriptores als Sammelbezeichnung, um die römischen Historiker Polybios gegenüber zustellen,49 andererseits aber auch den Autorenplural nos von sich selbst, um den Anschluß an die polybianische Überlieferungsversion zu rechtfertigen.50 Sowohl die eingeschränkten Felder der Verwendung der Personalpronomina in der ersten Person Plural als auch die vor dem Hintergrund der Textmenge nur äußerst geringe Zahl der Beispiele für alle genannten Bereiche mit Ausnahme der direkten Reden historischer Personen zeigen, daß Livius von dieser Technik nur ___________________________

43 Vgl. hierzu und zu den von Caesar intendierten Adressaten BUSCH 2005. 44 Vgl. z.B. Liv. 25,19,10-11; 44,18,2-3 u. 44,20,2-3. 45 Vgl. Liv. praef. 9: ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit; labente deinde paulatim disciplina velut desidentes primo mores sequatur animo, deinde ut magis magisque lapsi sint, tum ire coeperint praecipites, donec ad haec tempora quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus perventum est („Darauf vielmehr soll mir jeder scharf sein Augenmerk richten, wie das Leben, wie die Sitten gewesen sind, durch was für Männer und durch welche Eigenschaften zu Hause und im Krieg die Herrschaft gewonnen und vergrößert wurde; dann soll er verfolgen, wie mit dem allmählichen Nachlassen von Zucht und Ordnung die Sitten zunächst gleichsam absanken, wie sie darauf mehr und mehr abglitten und dann jäh zu stürzen begannen, bis es zu unseren Zeiten gekommen ist, in denen wir weder unsere Fehler noch die Heilmittel dagegen ertragen können.“). 46 Vgl. z.B. Liv. 1,19,3: quod nostrae aetati di dederunt, ut videremus; 6,38,13: usque ad memoriam nostram u. 34,51,5: iam inde a principio ad nostram usque aetatem. 47 Vgl. Liv. 9,19,15. 48 Vgl. Liv. 26,42,4 u. 28,1,2. 49 Vgl. Liv. 45,44,19: haec de Prusia nostri scriptores. 50 Vgl. Liv. 33,10,10.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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sehr zurückhaltend Gebrauch macht. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen seiner Herkunft aus Patavium und dem Bewußtsein für den tiefgreifenden Wandel in der Frage, wer in den einzelnen Epochen als Römer gelten konnte und wer historisch gesehen auf der Gegenseite stand.51 Vielleicht liegt die Ursache aber auch darin, daß eine konsequente Kennzeichnung der römischen Seite als ‚wir‘ den Leser bei der Identifikation bereits zu stark festgelegt hätte und daher die von Livius, wie noch zu zeigen ist,52 angestrebte partiell polyphone Präsentation verhindert hätte. Eine weniger offensichtliche, aber dennoch ebenso wirkungsvolle Technik wie die Kennzeichnung einer Seite in der historischen Erzählung mit den Pronomen der ersten Person Plural besteht in der Verwendung eines einheitlichen Systems moralischer Werte und Handlungsnormen, das die historischen Figuren innerhalb der Handlung mit den zeitgenössischen Rezipienten außerhalb des Textes verbindet.53 Die Untersuchung der in ab urbe condita thematisierten Wertbegriffe ist ebenso wie der Nachweis ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit den in ihrer Entstehungszeit dominierenden moralischen Konzepten ein beliebtes Thema der Forschung.54 Dies zeigt sich vor allem in der umfassenden Analyse der 50 von Livius am häufigsten verwendeten ethischen Begriffe durch TIMOTHY J. MOORE, der zu folgendem Ergebnis kommt: Livy’s use of words for virtues confirms his pro-Roman bias. Most of the virtues which Livy implies are most sublime are indeed Roman virtues, attributed to Romans much more often than to non-Romans, and Livy states overtly that several of the most important virtues are peculiarly Roman qualities.55

Auf eine neue Basis wurde diese Interpretation des livianischen Werkes von JANE CHAPLIN gestellt, die durch ihre Untersuchung, wie die Personen innerhalb der Erzählung historische Ereignisse als moralische exempla deuten und verwenden,56 zeigen kann, daß auch auf dieser Ebene ein Identifikationsangebot an den Leser unterbreitet wird: Der Umgang der historischen Akteure vor allem auf der römischen Seite mit ihrer Geschichte entspricht in Hinsicht auf die moralischen Bewertungskriterien und die aus den Ereignissen abgeleiteten Folgen für weitere Handlungen weitgehend dem der zeitgenössischen Leser.57 Auch hier leisten da___________________________

51 Vgl. LEEMAN 1963, 194-196, u. LEVENE 2010, 260: „But in the light of what I have argued here, it seems more plausible to suggest that this reflects not the personal status of the historian, but the assumptions about the relationship of Rome and other nations underlying his work. Rome at any time may be fighting others, but those ‘others’, for all their alienness, will themselves one day be part of Rome.“ 52 S. unten S. 136-139. 53 Zum Verständnis von Livius als primär moralistischem Historiker und der Einordnung dieses Vorwurfes in den Kontext der Entstehungszeit des Werkes s. oben S. 35f. 54 Vgl. z.B. BURCK 1967 [1935], 123-140; WALSH 1961, 66-81, u. LUCE 1977, 230-297. 55 Vgl. MOORE 1989, v.a. 157-160, hier 157. 56 Vgl. CHAPLIN 2000, v.a. 50-72. 57 Vgl. CHAPLIN 2000, v.a. 106-136.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

her beide Ebenen, die Entsprechung der als zentral angesehenen Handlungsnormen und die Übereinstimmung der von den Akteuren gegebenen Deutung des historischen Geschehens mit derjenigen des Rezipienten, einen wichtigen Beitrag zur Identifikation mit den historischen Figuren der römischen Seite. Dem Leser von Livius’ Geschichtswerk wird durch verschiedene literarische Strategien nahegelegt, daß er bei seiner Lektüre vorwiegend die Perspektive der römischen Seite und ihrer Akteure einnehmen soll. Unter diesen Techniken spielt die grundsätzliche zeitliche und räumliche Struktur, die durch das annalistische Schema generiert wird, eine wichtige Rolle. Dazu treten noch weitere Faktoren wie die quantitative Verteilung der Informationen zu Rom und anderen Völkern, die explizite Fokussierung auf die ersteren durch den Autor, der – allerdings zurückhaltende – Gebrauch der Personalpronomina der ersten Person Plural sowie die Verwendung eines von den Figuren der Handlung mit den zeitgenössischen Rezipienten geteilten Systems moralischer Werte. Durch diese Elemente wird zugleich die Identifikation der Leser mit der römischen Seite deutlich verstärkt. c) Elemente der polyphonen Präsentation von Vergangenheit Der Eindruck einer explizit römischen Perspektive, der durch die im letzten Abschnitt vorgestellten narrativen Techniken entsteht, hat vor dem Hintergrund moderner Erwartungen an die objektive Darstellung in einem Geschichtswerk dazu geführt, daß Livius in der Forschung lange Zeit als ein besonders patriotischer Historiker galt, dessen Schilderung der römischen Geschichte sehr subjektiv und an vielen Stellen bewußt ad maiorem gloriam Romae verfaßt sei.58 Befreit man sich jedoch von dieser für die antike Historiographie letztlich anachronistischen Vorstellung einer völlig objektiven Darstellung,59 lassen sich in ab urbe condita trotz einer primär römischen Perspektive auch eine ganze Reihe von Elementen beobachten, die der polyphonen Präsentation von Vergangenheit dienen. Das geschichtsdidaktische Anliegen einer ausgewogenen Darstellung kann in unterschiedlichen narrativen Formen zum Ausdruck gebracht werden, von denen die Schilderung durch den Erzähler die nächstliegende Möglichkeit darstellt. Tatsächlich geraten auf diese Weise an vielen Stellen auch die mit den römischen Erfolgen verbundenen Opfer auf der Seite der unterlegenen Städte und Völker in den Blick. In diesem Zusammenhang kommt im livianischen Geschichtswerk – wie allgemein in der antiken Historiographie – vor allem den Darstellungen der Belagerung und Eroberung von Städten eine wichtige Rolle zu.60 Die einzelnen ___________________________

58 Vgl. BURCK 1962 [1950], 26-30; BURCK 1982; WALSH 1982, v.a. 1060-1064; FEICHTINGER 1992; PASCHOUD 1993, v.a. 144: „On peut, je crois, dire que le patriotisme est le facteur principal qui commande les Libri ab Vrbe condita: sans lui, l’œuvre n’existerait pas, ou bien elle aurait été toute differente.“ u. DAHLHEIM 2006. 59 S. oben S. 125-129. 60 Vgl. z.B. Liv. 5,21,10-21,16; 21,14,1-15,2; 27,23,1-31,11; 31,17,1-17,11 mit WALSH 1961, 191-197; WALSH 1982, 1071f.; BURCK 1992, 52-59, u. KRAUS 1994b.

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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Schilderungen rekurrieren dabei zwar immer auch auf die Topoi zur Darstellung der urbs capta, wie sie etwa in Quintilians Handbuch für den angehenden Redner Eingang gefunden haben.61 Dennoch sind Unterschiede in den einzelnen Schilderungen zu beobachten, die ihre Ursache zum Teil in den historischen Fakten,62 zum Teil aber auch in der Darstellungsabsicht des Historikers haben.63 Ein eindrucksvolles Beispiel für eine Schilderung, in der auch den Leiden der nichtrömischen Seite viel Platz eingeräumt wird, bietet die Einnahme der Stadt Iliturgi in Spanien durch Scipio im Jahre 206 v. Chr.,64 die mit der vollständigen Zerstörung und der Tötung aller Bewohner endet: tum vero apparuit ab ira et ab odio urbem oppugnatam esse. nemo capiendi vivos, nemo patentibus ad direptionem omnibus praedae memor est. trucidant inermes iuxta atque armatos, feminas pariter ac viros; usque ad infantium caedem ira crudelis pervenit. ignem deinde tectis iniciunt ac diruunt quae incendio absumi nequeunt; adeo vestigia quoque urbis exstinguere ac delere memoriam hostium sedis cordi est. Da nun zeigt sich, daß man die Stadt aus Rachsucht und Haß angegriffen hatte. Niemand dachte daran, Gefangene zu machen, niemand an Beute, obwohl alles zum Plündern offenstand; sie schlachteten Unbewaffnete ebenso wie Bewaffnete, Frauen in gleicher Weise wie Männer; die grausame Rachsucht ging bis zum Mord an Kleinkindern. Dann warfen sie Feuer in die Häuser und rissen ein, was von dem Feuer nicht verzehrt werden konnte; so viel lag ihnen daran, auch die Spuren der Stadt auszulöschen und die Erinnerung an den Wohnsitz der Feinde zu tilgen.65

Die besondere Grausamkeit, mit der die römischen Soldaten hier vorgehen, wurde im Vorfeld auf verschiedenen narrativen Ebenen mit Hinweisen auf den Abfall der Stadt zu Karthago und der Ermordung römischer Flüchtlinge durch ihre Bewohner erklärt.66 Dennoch war damit wohl auch für antike Leser nicht die Aufhebung der mit dieser Darstellung verbundenen emotionalen Wirkung verbunden. Ein ähnlich drastisches Bild der Auswirkungen der römischen Erfolge für die Unterlegenen bietet die Schilderung des durch die römische Besatzung unter L. Pinarius im Jahr 214 v. Chr. in der sizilischen Stadt Henna verübten Massakers. Zwar handelt es sich hierbei eigentlich nicht um eine Belagerung, da die Römer sich bereits in der Stadt befinden. Als deren Bewohner aber die Übergabe des strategisch wichtigen Henna an die Karthager fordern, wird zur Beratung eine Versammlung beider Seiten im Theater einberufen,67 deren Eskalation von Livius explizit mit der Schilderung einer urbs capta verglichen wird, um damit die sich hier gegen Zivilisten richtende Grausamkeit der Römer zusätzlich zu betonen: ___________________________

61 62 63 64 65 66

Vgl. Quint. inst. 8,3,67-69 mit PAUL 1982 u. FOUCHER 2000a, 378-383; s. unten S. 198f. Zum historischen Aussagewert vgl. zuletzt ROTH 2006 mit vorsichtigem Optimismus. Zur Involvierung des Lesers durch ἐνάργεια s. unten S. 209-223. Vgl. Liv. 28,19,5-20,7. Vgl. Liv. 28,20,6-20,7. Vgl. Liv. 28,19,2 (Bericht durch den Erzähler); 19,6-19,8 (indirekte Rede Scipios) u. 19,11-19,12 (aus der Sicht der Einwohner von Iliturgi fokalisierte Schilderung). 67 Vgl. Liv. 24,37,2-39,3.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

tum praefectus toga signum, ut convenerat, dedit. militesque intenti dudum ac parati alii superne aversam contionem clamore sublato decurrunt, alii ad exitus theatri conferti obsistunt. caeduntur Hennenses cavea inclusi coacervanturque non caede solum sed etiam fuga, cum super aliorum capita ruerent, integri sauciis, vivi mortuis incidentes cumularentur. inde passim discurritur, et urbis captae modo fugaque et caedes omnia tenet nihilo remissiore militum ira, quod turbam inermem caedebant, quam si periculum par et ardor certaminis eos inritaret. ita Henna aut malo aut necessario facinore retenta. Da gab der Kommandant das vereinbarte Zeichen mit der Toga. Die Soldaten waren längst darauf gefaßt und bereit und fielen teils schreiend der Versammlung von oben in den Rücken oder stellten sich in dichten Scharen an den Ausgängen des Theaters in den Weg. Die Bewohner von Henna, im Zuschauerraum eingeschlossen, wurden niedergeschlagen und stürzten in Haufen übereinander, nicht nur durch das Gemetzel, sondern auch auf der Flucht; denn die einen fielen über die anderen, Verwundete über Unverletzte, Lebende über Tote, und häuften sich so auf. Von hier aus lief man nach allen Seiten auseinander, und wie bei der Eroberung einer Stadt herrschte überall Flucht und Mord; denn die Soldaten hieben genauso wütend und rücksichtslos auf eine wehrlose Menge ein, als wenn sie gleiche Gefahr und die Leidenschaft zum Kampf anreizte. So wurde Henna durch eine schlimme oder notwendige Maßnahme gehalten.68

Nach der ambivalenten Bewertung durch den Erzähler erfährt der Leser im folgenden zwar von der Billigung durch Claudius Marcellus als dem zuständigen Oberbefehlshaber, aber auch von der negativen Beurteilung durch die Einwohner Siziliens, die sich auf diese Nachricht hin der karthagischen Seite anschließen, so daß er sich sein eigenes Urteil über das geschilderte Vorgehen bilden kann.69 Diesen Beispielen für eine Schilderung des Leids der anderen Seite durch den Erzähler ließen sich noch zahlreiche andere an die Seite stellen.70 Wir wollen uns jedoch auf eine weitere Schilderung konzentrieren, die zugleich bereits als Überleitung zur Präsentation solcher Elemente in anderen narrativen Formen dienen kann. Im Zug der Auseinandersetzung mit Antiochos III. kommt es 191 v. Chr. zur Belagerung und Eroberung von Herakleia in Ätolien durch den römischen Konsul M’. Acilius Glabrio.71 Die Beschreibung ist weniger wegen der grausamen Details des Kampfgeschehens von Interesse als wegen der Bereitschaft des Erzählers, die Perspektive der anderen Seite einzunehmen, die soweit geht, daß er an zwei Stellen die Römer sogar als hostes bezeichnet.72 Nachdem zunächst der durch die lange Dauer der Belagerung verursachte Schlafmangel der Ätoler ___________________________

68 Vgl. Liv. 24,39,3-39,7. 69 Vgl. Liv. 24,39,7-39,10. 70 Vgl. z.B. Liv. 45,33,7-34,6 (Plünderung von Epiros) mit BURCK 1982, 1179: „Man gewinnt … den Eindruck, daß Livius diese systematische Raub- und Vernichtungsaktion gegen etwa 70 Städte, bei der 150.000 Menschen weggeschleppt worden sein sollen, als Makel für die römische Ehre empfindet.“ 71 Vgl. Liv. 36,22,1-24,12. 72 Vgl. WALSH 1990, 101: „He [sc. Livy] is particularly prone to portrayal of the action from the viewpoint of the besieged, even to the point of calling the Romans ‘the enemy’ (…).“

1. Die Schilderung aus römischer Perspektive als Normalfall

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auf diese Weise akzentuiert wurde,73 läßt sich das gleiche Phänomen auch in dem Moment der Erstürmung der Stadt beobachten: Aetoli pars sopiti adfecta labore ac vigiliis corpora ex somno moliebantur, pars vigilantes adhuc ad strepitum pugnantium in tenebris currunt. hostes partim per ruinas iacentis muri transcendere conantur, partim scalis ascensus temptant, adversus quos undique ad opem ferendam concurrunt Aetoli. Wer von den Ätolern schon eingeschlafen war, riß seinen von der Mühe und den Nachtwachen erschöpften Körper wieder aus dem Schlaf, wer noch wach war, lief in der Dunkelheit auf den Kampflärm zu. Die Feinde machten sich teils daran, über die Trümmer der eingestürzten Mauer hinüberzusteigen, teils versuchten sie auf Sturmleitern hinaufzuklettern. Gegen diese liefen die Ätoler von allen Seiten zusammen, um Hilfe zu bringen.74

Während es sich an diesen beiden Stellen um eine punktuelle Verschiebung der Perspektive durch den Erzähler handelt, wollen wir uns im folgenden näher mit Beispielen beschäftigen, an denen sich ein Wechsel des Blickpunktes über einen größeren Abschnitt des Textes hinweg beobachten läßt. Zur Analyse der in solchen Passagen verwendeten Technik bietet es sich an, unter anderem auf das in der Narratologie entwickelte Konzept der Fokalisierung zurückzugreifen. Denn diese vor allem von GÉRARD GENETTE und MIEKE BAL etablierte Beschreibungskategorie erlaubt eine Differenzierung zwischen einer Schilderung, die durch den Erzähler, aber aus der Sicht einer historischen Person erfolgt, einerseits und der Verwendung tatsächlicher Figurenrede andererseits. Diesen beiden in Livius’ ab urbe condita häufig anzutreffenden Fällen wollen wir uns in den nächsten beiden Abschnitten am Beispiel der zum Teil durch die Augen der Karthager fokalisierten Darstellung des Kriegsgeschehens in der dritten Dekade einerseits und den ‚Barbarenreden‘, die von verschiedenen Personen in praktisch allen Teilen des Werkes gehalten werden, andererseits beschäftigen, ehe noch einmal zusammenfassend die Folgen dieser polyphonen Inszenierung von Geschichte für den Leser in den Blick genommen werden.

___________________________

73 Vgl. Liv. 36,23,5-23,6: etenim cum multis urgerentur rebus, nulla eos res aeque ac vigiliae conficiebant, Romanis in magna copia militum succedentibus aliis in stationem aliorum, Aetolos propter paucitatem eosdem dies noctesque adsiduo labore urente. per quattuor et viginti dies, ita ut nullum tempus vacuum dimicatione esset, adversus quattuor e partibus simul oppugnantem hostem nocturnus diurno continuatus labor est. („Denn wenn sie auch durch viele Dinge bedrängt wurden, machte ihnen doch nichts so sehr zu schaffen wie der Mangel an Schlaf; die Römer lösten bei ihrer großen Menge an Soldaten einander auf den Posten ab, bei den Ätolern plagte wegen ihrer geringen Zahl die Mühe ohne Unterbrechung Tag und Nacht dieselben. 24 Tage lang folgte, ohne daß der Kampf in dieser Zeit einmal geruht hätte, gegen den von vier Seiten zugleich angreifenden Feind die Anstrengung in der Nacht auf die am Tage.“ 74 Vgl. Liv. 36,24,3-24,4.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie a) Die Fokalisierung bei der Analyse antiker Geschichtsschreibung Die erstmals von GÉRARD GENETTE betonte Unterscheidung zwischen der narrativen Perspektivierung, die durch die Einführung eines neuen Sprechers entsteht, und derjenigen, die sich ergibt, wenn der Erzähler die Ereignisse aus dem Blickwinkel einer seiner Figuren fokalisiert, ohne die Person selbst reden zu lassen, ist heute zum Allgemeingut der Narratologie geworden.75 Das gilt allerdings mehr für die generelle Beobachtung als für das von GENETTE konkret vorgeschlagene Modell.76 Eine wichtige Weiterentwicklung dieses Ansatzes hat vor allem durch MIEKE BAL stattgefunden, ohne daß sich eine einheitliche Terminologie jedoch bislang hätte durchsetzen können.77 Für die hier verfolgten Zwecke ist in erster Linie die von GENETTE als ‚intern‘ und von BAL als ‚character-bound‘ bezeichnete Form einer vorübergehenden Fokalisierung durch wechselnde Personen der Handlung – im Gegensatz sowohl zur ‚olympischen‘ Perspektive des Erzähler wie auch zur Figurenrede in oratio recta oder obliqua – relevant, die daher im folgenden der Einfachheit halber als Fokalisierung bezeichnet werden soll. Die Anwendbarkeit dieser ursprünglich zur Interpretation fiktionaler Texte der Neuzeit entwickelten Kategorie auf die ihrem Anspruch nach faktualen Texte der antiken Historiker ist zwar nicht unproblematisch78 und erfordert – wie auch die generelle Frage einer Übertragbarkeit narratologischer Kategorien auf die antike Geschichtsschreibung79 – durchaus noch weitere methodische Klärung. Dennoch kann angesichts der Tatsache, daß es sich bei der antiken Historiographie nach ___________________________

75 Vgl. zuerst GENETTE 1972, 203-206, u. GENETTE 1994, v.a. 132: „Dennoch leiden die meisten theoretischen Arbeiten zu diesem Thema (…) meines Erachtens erheblich darunter, daß sie das, was ich hier Modus und Stimme nenne, miteinander vermengen, d. h. die Frage Welche Figur liefert den Blickwinkel, der für die narrative Perspektive maßgebend ist? wird mit der ganz anderen Wer ist der Erzähler? vermengt – oder kurz gesagt, die Frage Wer sieht? mit der Frage Wer spricht?“ 76 GENETTEs Modell unterscheidet drei Formen, von denen die Nullfokalisierung dem Normalfall der auktorialen und allwissenden Erzählperspektive entspricht, während in der internen Fokalisierung aus der Sicht einer Person der Handlung erzählt wird und in der externen Fokalisierung auf jede Introspektion in die Figuren verzichtet wird. 77 Vgl. BAL 1997, 142-161, v.a. 148: „Character-bound focalization (…) can cary, can shift from one character to another, even if the narrator remains constant.“ sowie ferner NÜNNING 1990; MARTINEZ / SCHEFFEL 1999, 63-67, u. SCHMID 2008, 118-122. 78 Vgl. z.B. DAVIDSON 1991, 11, u. ROOD 1998, 294-296, v.a. 295f.: „I conclude, in Bal’s model, the theoretical underpinning of focalization is weak, and the term itself broad and inprecise. The focaliser usurps what is normally regarded as the narrator’s domain: the ‘selection and evaluation’ of events. But when a story is told from a character’s point of view, that character is not telling it, nor does she know that anyone is telling it; the narrator selects from information that is within the character’s field of knowledge (or ‘vision’) what is relevant for the story.“ 79 S. hierzu oben S. 13f.

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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unseren Maßstäben um einen partiell fiktionalen Text handelt – was sich unter anderem an der Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen historischer Personen zeigt, auch wenn diese nicht durch Quellen gestützt werden80 –, dieses Instrument schon jetzt gewinnbringend verwendet werden. Dies gilt um so mehr, als in der praktischen Anwendung die Vorteile gegenüber den Alternativen – wie etwa FRANZ STANZELs Modell typologischer Erzählsituationen81 – rasch deutlich werden, da sich mit Hilfe der Kategorie der Fokalisierung vor allem die variablen Übergänge zwischen den einzelnen Formen präziser erfassen lassen.82 Die wichtigste Erkenntnis, die sich aus der Anwendung dieses Modells auf die antike Historiographie – vor allem auf die Werke von Herodot,83 Thukydides84 und Polybios85 – in den letzten Jahren ergeben hat, besteht darin, daß in diesen Texten immer auch bereits abweichende Deutungen des historischen Geschehens angelegt sind. Diese polyphone Darstellungstechnik wurde häufig nicht richtig verstanden, weil viele Interpreten die dadurch entstehenden Abweichungen vor allem als Fehler des Historikers aufgefaßt haben. Solche Widersprüche erweisen sich aber als ein Teil der historiographischen Aussage, wenn man sie als bewußte literarische Strategie des Autors erkennt, die vom Leser aufgelöst werden soll.86 In der Livius-Forschung sind einige der auf diese Weise im eigentlichen Erzählertext – und damit außerhalb der Reden – angestrebten Wirkungen, die eine polyphone Darstellung der Vergangenheit zum Ziel haben, bereits unter anderen Bezeichnungen beschrieben worden. Hier spielt vor allem die von HANS ARMIN GÄRTNER vorgeschlagene Kategorie der Reflexionen eine wichtige Rolle, die explizit auch Formen der oratio obliqua und vom Erzähler selbst berichtete Partien umfaßt und deren wichtigste Funktion er in der Erzeugung einer abweichenden Perspektive auf das Geschehen in der Wahrnehmung des Rezipienten erblickt.87 ___________________________

80 81 82 83 84 85 86

87

Vgl. FUHRMANN 1983, 19-22; MARINCOLA 1997, 5-12, u. DE JONG 2004a, v.a. 8f. Vgl. STANZEL 1982, v.a. 240-300. Vgl. GENETTE 1994, v.a. 138. Vgl. v.a. DEWALD 1999, 224-233; DE JONG 2004b; PELLING 2006 u. BARAGWANATH 2008, 203-288. Vgl. v.a. HORNBLOWER 1994b, 134f.164f.; ROOD 1998, v.a. 20f.; DEWALD 1999, 233244; GREENWOOD 2006, 19-41; RENGAKOS 2006b u. MORRISON 2006a, 39-43. Vgl. v.a. DAVIDSON 1991 u. ROOD 2004b. Vgl. GENETTE 1994, 138-140, u. STOCKER 2003, 56: „Es ist möglich, daß der Erzähler den Spielraum der perspektivischen Vorgabe (…) nicht voll ausschöpft und Dinge, die er wissen müßte, sozusagen ‚verschweigt‘ (‚Paralipse‘) oder daß er mehr erzählt, als die Fokalisierung eigentlich zuläßt (‚Paralepse‘).“ Vgl. GÄRTNER 1975, v.a. 36f.: „… Reflexionen gehen von Ereignissen der Vergangenheit aus, geben so einen Rahmen für das kommende große Ereignis und bereiten den Leser auf dessen vielfältige Bedeutung vor. Dabei zeigen sich die Geschehnisse der Vergangenheit in der Sicht der am Geschehen beteiligten Gruppen. ... Der Leser versteht diese Reflexionen nur dann, wenn er sich mit den Akteuren in dem jeweiligen Zeitpunkt identifiziert. Diese dramatische Identifikation ist das Ziel des Livius, wenn er das Bauelement der Reflexion verwendet.“

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Zur Interpretation von Livius’ Text ist die Fokalisierung zwar schon herangezogen worden, doch erfolgte die Übernahme bislang nur punktuell und ging nicht mit einer systematischen Anwendung einher. Diese so umfangreiche wie lohnende Aufgabe kann allerdings auch hier nicht gelöst werden. Neben den Monographien von MARY JAEGER,88 ANDREW FELDHERR89 und JANE CHAPLIN,90 die auf das Konzept der Fokalisierung rekurrieren, um ihren Untersuchungsgegenstand näher zu beleuchten, ist hier vor allem auf den Beitrag CHRYSANTHE TSITSIOUCHELIDONIs im jüngst erschienenen Band ‚Narratology and Interpretation. The Content of Narrative Form in Ancient Literature‘ zu verweisen,91 in dem sie sich mit den unterschiedlichen Funktionen der internen Fokalisierung und ihrer Interaktion mit dem Erzähler beschäftigt.92 Wir werden uns hier im folgenden auf ein Beispiel beschränken und uns dabei näher mit dem Beitrag der Fokalisierung zur Inszenierung des Geschehens sowie seiner historiographischen Deutung in der dritten Dekade im allgemeinen und im 21. Buch im besonderen beschäftigen.93 b) Mit Hannibal in den Alpen: Inszenierung und Interpretation Neben der ersten Pentade kann die dritte Dekade mit der Darstellung von Roms zweitem Krieg gegen Karthago sicherlich als der am besten untersuchte Teil von Livius’ Werkes gelten.94 Dennoch bietet sich eine erneute Beschäftigung gerade mit diesem Abschnitt unter der hier verfolgten Fragestellung an, weil mit Hilfe der literarischen Kategorie der Fokalisierung nicht zuletzt auf die vielverhandelte Frage nach der vom Autor eingenommenen Haltung zu den dargestellten Ereignissen neues Licht fallen kann. Denn der Umstand, daß der Erzähler das Geschehen zwar primär aus einer römischen Perspektive wiedergibt, dabei aber dennoch phasenweise die Blickrichtung ändert und auch Figuren der karthagischen Seite zur Fokalisierung der Schilderung verwendet, führt nicht nur zur Erhöhung des ___________________________

88 Vgl. JAEGER 1997, v.a. 24: „Monumenta provide opportunities for examining what Gérard Genette calls ‘focalization’ of a narrative, that is, for analyzing it by asking the question, Who sees?“ 89 Vgl. FELDHERR 1998, v.a. 1-4, der aber die Begriffe ‚vision‘ und ‚gaze‘ verwendet. 90 Vgl. CHAPLIN 2000, v.a. 48-72 u. 3f.: „The focalizer of an exemplum is the person who recognizes it and bases his behaviour on it.“ 91 Vgl. GRETHLEIN / RENGAKOS 2009. 92 Vgl. TSITSIOU-CHELIDONI 2009, v.a. 527-531. 93 Anbieten würden sich auch die Rückblicke Hannibals und Scipios im 30. Buch (vgl. Liv. 30,20,1-20,9 u. 30,30,1-31,9 mit BURCK 1962 [1950], 156-158; TREPTOW 1964, 128-139.200-212; BURCK 1967c, 440-452; ROSSI 2004; RUMPF 2006 u. zuletzt FELDHERR 2010) oder die auf den Krieg gegen Pyrrhus (vgl. jetzt ROTH 2010, 180-189). 94 Neben den klassischen Arbeiten von ERICH BURCK und P.G. WALSH (vgl. BURCK 1962 [1950]; BURCK 1971 u. WALSH 1982) und einer Reihe von Studien, die einzelne Abschnitte in den Blick genommen haben (vgl. z.B. JAEGER 1997, 94-131; ROSSI 2000; JAEGER 2003; ROSSI 2004; MARINCOLA 2005b u. JAEGER 2010), gilt das vor allem für die neue Interpretation der Dekade als Ganzes durch DAVID LEVENE (vgl. LEVENE 2010).

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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literarischen Reizes und trägt damit zur Leserbindung bei, sondern hat zugleich Folgen für die historiographische Deutung, die sich dadurch als deutlich ausgewogener erweist als in der Regel angenommen wird.95 Dieser zweite Punkt ist angesichts einer langen Forschungstradition, die Livius gerade seine einseitig prorömische Haltung gegenüber den historischen Gegenständen zur Last gelegt hat,96 sicherlich erklärungsbedürftig. Wenn im folgenden daher von einer Darstellung die Rede ist, in der auch die jeweils andere Seite zu ihrem Recht kommt, so ist dieses Konzept nicht mit dem Objektivitätsanspruch der modernen Geschichtswissenschaft zu verwechseln. Vielmehr sollte Livius im Kontext der antiken Historiographie und ihrer Forderung nach einer patriotischen Haltung ihres Verfassers zu seinen Gegenständen gesehen werden. 97 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Darstellung in ab urbe condita allgemein und diejenige des Konflikts mit Karthago in der dritten Dekade in besonderer Weise als vergleichsweise differenziert und ausgewogen,98 wie sich nicht zuletzt an seiner Behandlung Hannibals zeigen läßt. Daß sich hier trotz einer weiterhin vorherrschend negativen Charaktisierung ein deutlicher Unterschied zu anderen Formen der antiken Geschichtsschreibung – und zwar nicht zuletzt zur Darstellung der gleichen Ereignisse durch die republikanischen Historiker99 – beobachten läßt, ist in der Forschung bereits mehrfach festgestellt worden.100 Diese Überlegungen lassen sich durch die Untersuchung der jeweils vorgenommenen Fokalisierung und ihres Beitrages zur historiographischen Deutung im folgenden fortführen und vertiefen. Eine der frühesten Anwendungen narratologischer Kategorien auf den Text von Livius’ dritter Dekade wurde von MANFRED FUHRMANN in seinem Beitrag zur Festschrift für ERICH BURCK vorgenommen.101 ___________________________

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Vgl. LEVENE 2010, 214-269, v.a. 259: „Livy’s account of non-Romans is thus far from the caricature of his attitudes that is sometimes presented.“ 96 Vgl. z.B. BURCK 1962 [1950], 26-30, u. WALSH 1982, 1060-1064. 97 S. oben S. 125-129. 98 Vgl. LEVENE 2010, 219-235. Dies paßt zur Beobachtung, daß sich das Bild der Karthager in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. aus älteren Klischees löst, wie es ERICH BURCK 1943 – entgegen der Zielsetzung dieses im Rahmen des ‚Kriegseinsatzes der Altertumswissenschaft‘ entstandenen Bandes – gezeigt hat (vgl. BURCK 1943, v.a. 304-336). 99 Vgl. WALSH 1982, 1064: „It is no mean merit in Livy that he recoils from the tendentious chauvinism of a Valerius Antias, whose entire history is written ad maiorem Romae gloriam. Livy is too a patriot, but he tries to be a honest patriot; ...“; zur vielverhandelten Frage nach den Quellen und dem Anteil der annalistischen Tradition auf der einen und des Polybios auf der anderen Seite vgl. HESSELBARTH 1889; DE SANCTIS 1916; SONTHEIMER 1934; HOFFMANN 1942; TRÄNKLE 1977, 193-241; SCHMITT 1991; BRISCOE 1993, v.a. 40; HÄNDL-SAGAWE 1995, 10-12, u. SKLENÁR 2004. 100 Vgl. WALSH 1961, 103-105; CHRIST 1968, 469-473; WALSH 1982, 1068; WILL 1983a; CIPRIANI 1987; POROD 1989, 204f.; BURCK 1992, 136f.; MADER 1993; ROSSI 2004; STEPPER 2006; LEVENE 2010, 228-235, u. MOORE 2010, v.a. 165, der Hannibal als Paradebeispiel für Livius’ differenzierte Charakterisierung versteht. 101 Vgl. FUHRMANN 1983.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Doch auch seine Analyse der ersten Kapitel des 21. Buches, in denen er „ganz und gar das Produkt eines olympischen Betrachters“ erblickt,102 läßt sich mit Hilfe der Kategorie der Fokalisierung und der Frage, aus wessen Perspektive das Geschehen jeweils geschildert wird, noch um einen wichtigen Aspekt erweitern. Dieser wird im folgenden an drei Beispielen aus dem 21. Buch verdeutlicht, in denen der Leser dem Blick historischer Figuren zunächst mit der Vorgeschichte des aktuellen Krieges auf die Vergangenheit, dann mit den Schwierigkeiten der Alpenüberquerung auf die Gegenwart und schließlich mit der Vorbereitung der Schlacht an der Trebia auf die Zukunft der Handlung folgen soll. Die fokalisierte Darstellung der Vorgeschichte des zweiten Krieges zwischen Rom und Karthago beginnt bereits im Binnenproöm, das in der auktorialen ersten Person Singular die besondere historische Relevanz dieser Auseinandersetzung hervorhebt.103 Die naturgemäß differierenden Meinungen beider Seiten, was die Ursachen des gegenwärtigen Konfliktes sind und welcher Zusammenhang zu den Ereignissen des vorherigen Krieges besteht, werden hier in Partizipialkonstruktionen sprachlich gleichberechtigt nebeneinander gestellt: odiis etiam prope maioribus certarunt quam viribus: Romanis indignatibus quod victoribus victi ultro inferrent arma; Poenis quod superbe avareque crederent imperitatum victis esse. Fast leitete mehr Haß als Kraft den Kampf: Die Römer waren empört, daß die Besiegten sie als die Sieger von sich aus angriffen; die Punier, weil sie glaubten, man habe sie als Besiegte hochfahrend behandelt und erpreßt.104

Indem die Gründe für die Bereitschaft zum neuen Krieg in den beiden parallelen quod-Sätzen nur aus der Perspektive der jeweiligen Partei und ohne Kommentar des Autors oder Erzählers wiedergegeben werden, wird der Leser aufgefordert, sich an der Beurteilung der historischen Situation zu beteiligen.105 Allerdings war die Lage für den zeitgenössischen Rezipienten dadurch eine andere, als er wahrscheinlich bereits die für uns heute verlorene – und auch mit ___________________________

102 Vgl. FUHRMANN 1983, v.a. 22f., u. ferner zustimmend z.B. CIPRIANI 1987, 9-13. 103 Vgl. Liv. 21,1,1-1,3, v.a. § 1: in parte operis mei licet mihi praefari, quod in principio summae totius professi plerique sunt rerum scriptores, bellum maxime omnium memorabile, quae unquam gesta sint, me scripturum, quod Hannibale duce Carthaginienses cum populo Romano gessere. („Diesem Teil meines Werkes darf ich vorausschicken, was die meisten Geschichtsschreiber an den Anfang ihres Gesamtwerkes gestellt haben: Ich will den denkwürdigsten aller Kriege beschreiben, die je geführt wurden; die Karthager trugen ihn unter Hannibals Führung mit dem römischen Volk aus.“); zu den Anklängen an das Proöm des Thukydides RODGERS 1986, 336, u. POLLEICHTNER 2010, 74-77. 104 Vgl. Liv. 21,1,3. 105 Vgl. dag. z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 18: „Noch deutlicher stempelt Livius hier Karthago als den aus freien Stücken (ultro) handelnden Angreifer ab, während Rom als das empörte Opfer der Aggression ein berechtigtes Kriegsmotiv zu besitzen scheint. Damit ist die Frage der Kriegsschuld von vorneherein romfreundlich geklärt.“

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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Hilfe der periochae kaum rekonstruierbare – Schilderung der gleichen Ereignisse in den letzten fünf Büchern der zweiten Dekade gelesen haben wird. Aber auch wenn wir nicht von einer kontinuierlichen Lektüre des livianischen Werkes ausgehen, so ist doch die Wahrscheinlichkeit hoch, daß der antike Leser mit dem Geschehen des ersten Kriegs zwischen Rom und Karthago bereits vertraut war, so daß er hier nicht zuletzt zu einer Neubewertung unter stärkerer Berücksichtigung der karthagischen Perspektive aufgefordert wird. Um die konträren Sichtweisen beider Kriegsparteien zu verdeutlichen, werden im weiteren Verlauf des 21. Buches vor allem zwei Ereignisse mehrfach herausgegriffen und als unmittelbare Vorgeschichte der aktuellen Auseinandersetzung diskutiert: Dabei handelt es sich zum einen um die zwischen 244 und 241 v. Chr. erbittert geführten Kämpfe um den Berg Eryx auf Sizilien, die erst mit dem vertraglich ausgehandelten Abzug der Karthager unter Hannibals Vater Hamilkar Barkas ein Ende fanden, nachdem der Krieg durch die Schlacht bei den Ägatischen Inseln bereits zugunsten Roms entschieden war.106 Zum anderen handelt es sich um die nachträgliche Annektierung Sardiniens durch Rom, die nach einem Aufstand ihrer Bewohner gegen Karthago im Jahr 238 v. Chr. erfolgte, obwohl sie im Friedensvertrag nicht vorgesehen war.107 Diese beiden Ereignisse, die schon in der Antike Anlaß zu höchst kontroversen Deutungen geboten haben, werden dem Leser hier – nachdem sie bereits in den letzten Büchern der zweiten Dekade sicherlich in angemessener Detailliertheit erzählt worden waren108 – noch einmal in narrativ unterschiedlichen Formen und aus der Perspektive verschiedener historischer Personen in Erinnerung gerufen. Den Anfang macht Hamilkar selbst, dessen Wahrnehmung der Ereignisse mit starker Betonung ihrer emotionalen Wirkung auf ihn wiedergegeben wird: angebant ingentis spiritus virum Sicilia Sardiniaque amissae: nam et Siciliam nimis celeri desperatione rerum concessam et Sardiniam inter motum Africae fraude Romanorum, stipendio etiam insuper imposito, interceptam. Der Verlust Siziliens und Sardiniens ließ diesen ehrgeizigen Mann keine Ruhe finden. Er meinte, Sizilien habe man in voreiliger Verzweiflung geräumt; Sardinien sei ihnen von den Römern während der Wirren in Afrika durch Betrug weggeschnappt worden, und obendrein hätten sie dabei eine Kriegslast auferlegt bekommen.109 ___________________________

106 Vgl. Pol. 1,56,1-63,3 mit z.B. ZIMMERMANN 2009, 33-37. 107 Vgl. Pol. 1,79,1-79,5 u. 1,88 mit z.B. AMELING 2001; HOYOS 2007a, v.a. 154-159, u. ZIMMERMANN 2009, 38-41. 108 Die periochae enthalten nur knappe Angaben hierzu: vgl. Liv. per. 19,12: rebus adversus Poenos a pluribus ducibus prospere gestis, summam victoriae C. Lutatius cos. victa ad Aegates insulas classe Poenorum imposuit. petentibus Carthaginiensibus pax data est („Nachdem eine Reihe von Feldherren gegen die Punier erfolgreich gekämpft hatte, errang Konsul C. Lutatius den entscheidenden Sieg, indem er die Flotte der Punier bei den Aegatischen Inseln schlug.“) u. per. 20,4: Sardi et Corsi cum rebellassent, subacti sunt („Als die Sarden und Korsen sich erhoben, wurden sie unterworfen.“). 109 Vgl. Liv. 21,1,5.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Dieses durch die Perspektive des karthagischen Protagonisten fokalisierte Resümee der wichtigsten Begebenheiten der Zwischenkriegszeit hat zwar ein direktes Vorbild bei Polybios,110 steht bei Livius aber in einem über diese Einzelstelle hinausweisenden Kontext, den wir uns im folgenden näher ansehen wollen. Wenige Kapitel, aber einige Jahre später werden die Kämpfe am Eryx ein zweites Mal erwähnt. Doch obwohl dies erneut durch einen Karthager geschieht, erfährt das Ereignis jetzt eine konträre Deutung. Denn inzwischen hat Hannibal nicht nur das Kommando in Spanien übernommen, sondern belagert 219 v. Chr. auch das mit Rom verbündete Sagunt. Bei den Beratungen in Karthago, ob man den römischen Forderungen nach einem Ende der Belagerung und der Auslieferung Hannibals stattgeben oder durch die Ablehnung einen neuen Krieg riskieren soll,111 stellt gerade der Umstand, daß Hamilkar auf Sizilien keinen Sieg erringen konnte, für Hanno den Großen, der als bedeutendster innenpolitischer Gegenspieler der Barkiden112 auch in ab urbe condita eine wichtige Rolle spielt,113 ein zentrales Argument gegen den neuen Waffengang dar, wie ihn Livius in seiner Rede vor der Ratsversammlung114 ausführen läßt:115 Aegatis insulas, Erycemque ante oculos proponite, quae terra marique per quattuor et viginti annos passi sitis. nec puer his dux erat, sed pater ipse Hamilcar, Mars alter, ut isti volunt. Denkt an die Ägatischen Inseln, an den Eryx und erinnert euch, was ihr zu Wasser und zu Lande in jenen 24 Jahren erlitten habt. Damals war nicht so ein Knabe Feldherr, sondern der Vater Hamilkar selbst, ein zweiter Mars wie diese da behaupten.116

Hierbei handelt es sich sprachlich gesehen zwar um den Teil einer Figurenrede und damit gerade nicht um eine Fokalisierung im eigentlich Sinne. Es ergibt sich aber bei beiden literarischen Mitteln der gleiche Effekt der verstärkten Perspektivierung aus dem Blickwinkel einer bestimmten historischen Person. Zudem läßt sich an dieser Stelle auch eine tatsächliche Fokalisierung beobachten, da der Erzähler hier explizit und sogar im Vorfeld die Reaktion der Zuhörer schildert, die Hanno mit der Rede nicht von seiner Sicht der Dinge überzeugen kann: ___________________________

110 Vgl. Pol. 3,9,6-10,7 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 22f. 111 Die Beratungen sind wahrscheinlich unhistorisch und müssen im Zusammenhang der problematischen Überlieferung zur Eroberung Sagunts als auslösendem Moment des Krieges gesehen werden; zu den apologetischen Tendenzen der republikanischen Historiker vgl. z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 55-96, u. ZIMMERMANN 2009, 42-62. 112 Zu Hanno als politischem Akteur und Gegner der Barkiden vgl. HOYOS 2003, 35-46. 113 Livius hat ihn schon gegen die Entsendung Hannibals nach Spanien sprechen lassen (vgl. Liv. 21,3,2-3,6 mit MADER 1993, 209-216) und läßt ihn später eine Grundsatzrede gegen den Krieg halten (vgl. Liv. 23,12,6-13,6). 114 Zu den karthagischen Ratsversammlungen vgl. HÄNDL-SAGAWE 1995, 38f. 115 Die Rede hat kein Gegenstück bei Polybios, vielleicht aber bei Coelius Antipater; das wird zumindest durch Fragmente nahegelegt, die zu einer (oder mehreren) Rede(n) Hannos passen würden (vgl. FRH 11 F 4-8 u. ferner HÄNDL-SAGAWE 1995, 76). 116 Vgl. Liv. 21,10,7-10,8; zu den performativen Aspekten der Rede GÄRTNER 1990, 109f.

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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Hanno unus adversus senatum causam foederis magno silentio propter auctoritatem suam, 117 cum adsensu audientium egit. Hanno sprach vor dem Senat als einziger für den Vertrag, und alle Zuhörer schwiegen. Das galt aber seinem Ansehen und bedeutete nicht Zustimmung.118

Der Leser erhält durch die Einführung eines internen Publikums und die damit verbundene Verdoppelung der Adressaten nun zusätzlich die Möglichkeit, seine Reaktion auf die Rede mit derjenigen der Rezipienten im Text zu vergleichen.119 Die Zahl der unterschiedlichen Blickwinkel auf die Ereignisse auf Sizilien und Sardinien wird im weiteren Verlauf noch erhöht, wenn sie von anderen Rednern und vor anderen Zuhörern thematisiert werden. Zu diesem Zweck überspringen wir die Kapitel, in denen Hannibals Weg über die Pyrenäen, die Rhône und die Alpen geschildert wird,120 und begeben uns direkt in die Poebene, wo die Karthager Ende des Jahres 218 v. Chr. am Ticinus das erste Mal auf ein römisches Heer treffen. Obwohl es nur zu einem Reitergefecht kommt, wird diese Konfrontation von Livius mit großem Aufwand in Szene gesetzt: Er läßt zunächst den Konsul P. Cornelius Scipio, den Vater des gleichnamigen späteren Siegers von Zama, und dann Hannibal eine lange, jeweils in oratio recta wiedergegebene Ansprache an ihre Soldaten halten.121 In beiden Reden spielt die Vorgeschichte der aktuellen Auseinandersetzung erneut eine zentrale Rolle.122 Scipio nutzt den Hinweis auf den Gewinn Siziliens und Sardiniens zunächst als Beleg für die vermeintlich angeborene militärische Überlegenheit der Römer,123 um mit einer ausführlichen Schilderung des vertraglich garantierten Abzugs der ___________________________

117 Zur Berechtigung dieser Konjektur von LIPSIUS vgl. HÄNDL-SAGAWE 1995, 75. 118 Vgl. Liv. 21,10,2. Die Vorwegnahme der Reaktion der Zuhörer dient vielleicht auch der Erzeugung tragischer Ironie (vgl. FUHRMANN 1983, 23, u. CHAPLIN 2000, 78f.). Zur Antizipation in den Reden s. unten S. 237-242. 119 Das Verhältnis von internen und externen Publikum bei Livius ist erst in den letzten Jahren näher untersucht worden: vgl. SOLODOW 1979, 259; FELDHERR 1998, 9-12; CHAPLIN 2000, 50f., u. LEVENE 2006, 75f. 120 Vgl. Liv. 21,21-21,38. 121 Vgl. Liv. 21,40,1-41,17 (Scipio) u. 21,43,1-44,9 (Hannibal) mit z.B. ATZERT 1911; ULLMANN 1927, 88-94; BURCK 1962 [1950], v.a. 71, u. TREPTOW 1964, 110-128. 122 Polybios dagegen, der dieselben Personen in umgekehrter Reihenfolge sprechen läßt, faßt die historischen Rückblicke in Scipios Rede lediglich summarisch zusammen: vgl. Pol. 3,62-64, v.a. 64,2 mit WALSH 1961, 232f., u. MILLER 1975, 52. 123 Vgl. Liv. 21,40,5-40,6: ne genus belli neve hostem ignoretis, cum iis est vobis, milites, pugnandum, quos terra marique priore bello vicistis, a quibus stipendium per viginti annos exegistis, quibus capta belli praemia Siciliam ac Sardiniam habetis. erit igitur in hoc certamine is vobis illisque animus, qui victoribus at victis esse solet. („Damit ihr diesen Krieg und den Feind gründlich kennt: Ihr müßt gegen Leute kämpfen, Soldaten, die ihr zu Wasser und zu Lande bereits im vorherigen Krieg besiegt habt. Zwanzig Jahre lang habt ihr von ihnen Kriegsabgaben eingetrieben, und als Lohn für diesen Kampf habt ihr Sizilien und Sardinien gewonnen. Also wird euch und ihnen in dem bevorstehenden Krieg zumute sein, wie es eben Siegern und Besiegten zumute ist.“).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Karthager vom Eryx dann neben der Erinnerung an den eigenen Erfolg auch die Empörung über den Undank der Gegner zu wecken, die, nachdem man sie damals verschont habe, nun ihre Waffen erhöben ‚wie Sklaven gegen ihre Herren‘.124 Auch Hannibal verwendet den Hinweis auf Sizilien und Sardinien mehrfach zur Motivation. Dabei betont er neben der langen Zugehörigkeit der beiden Inseln zu Karthago und der Unrechtmäßigkeit des römischen ‚Raubes‘125 vor allem die nun vorhandene Möglichkeit ihrer Wiedereroberung.126 Der Leser von Livius’ Werk wird hier also mit zwei weiteren Bewertungen der gleichen Ereignisse konfrontiert, und erneut stimmen die von den Sprechern gegebenen Deutungen weder untereinander noch mit den vorherigen überein. Auch hier ergibt sich aus der Reaktion des internen Publikums für den externen Rezipienten kein Hinweis, welcher Version er den Vorzug geben soll. Die Fokalisierung aus der Perspektive der Soldaten beider Heere beschränkt sich auf den Hinweis, daß sie nach den Reden ihrer jeweiligen Feldherren gleichermaßen für den Kampf begeistert waren (his adhortationibus cum utrimque ad certamen accensi militum animi essent).127 Gerade dieser letzte Aspekt unterstreicht aber auch noch einmal, daß die Bewertung historischer Ereignisse stets von bestimmten Personen und in konkreten Situationen vorgenommen wird. Die bewußt polyphone Darstellung der Vorgeschichte von Roms zweiten Krieg gegen Karthago leistet daher nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag dazu, beim Leser ein Bewußtsein für die Relativität historischer Urteile im allgemeinen zu schaffen. ___________________________

124 Vgl. Liv. 21,41,10-12: itaque vos ego, milites, non eo solum animo, quo adversus alios hostes soletis, pugnare velim, sed cum indignatione quadam atque ira, velut si servos videatis vestros arma repente contra vos ferentes. licuit ad Erycem clausos ultimo supplicio humanorum, fame interficere; licuit victricem classem in Africam traicere atque intra paucos dies sine ullo certamine Carthaginem delere; veniam dedimus precantibus, emisimus ex obsidione, pacem cum victis fecimus, tutelae deinde nostrae duximus, cum Africo bello urgerentur. („Darum, Soldaten, möchte ich, daß ihr nicht nur mit dem Mut kämpft, den ihr gewöhnlich an den Tag legt, sondern mit zorniger Entrüstung, als sähet ihr plötzlich eure eigenen Sklaven in Waffen gegen euch. Als wir damals unsere Feinde am Eryx eingeschlossen hatten, hätten wir sie durch die für die Menschen grausamste Qual, den Hunger, umkommen lassen können. Wir hätten mit unserer siegreichen Flotte nach Afrika übersetzen und in wenigen Tagen Karthago kampflos vernichten können. Aber wir haben ihnen verziehen, weil sie darum baten, wir ließen sie aus dem Kessel abziehen, wir schlossen Frieden mit den Besiegten und betrachteten sie sogar als unsere Schützlinge als sie später im afrikanischen Krieg in Bedrängnis gerieten.“). 125 Vgl. v.a. Liv. 21,44,7: parum est, quod veterrimas provincias meas, Siciliam ac Sardiniam, („Ist es denn noch zu wenig, daß du mir meine uralten Provinzen Sardinien und Sizilien geraubt hast?“). 126 Vgl. v.a. Liv. 21,43,6: si Siciliam tantum ac Sardiniam parentibus nostris ereptas nostra virtute recuperaturi essemus, satis tamen ampla pretia essent. („Wenn wir mit unserer Tapferkeit nur Sizilien und Sardinien, die man unseren Eltern geraubt hat, wiedererobern wollten, wäre dieser Preis schon reich genug.“). 127 Vgl. Liv. 21,45,1.

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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Während bei der Fokalisierung mit Blick auf zum Zeitpunkt der Erzählung bereits vergangene Ereignisse geschichtsdidaktische Interessen überwogen haben dürften, tritt beim zweiten Beispiel, das uns nun mit den Karthagern in die Alpen führt, auch die mit dieser literarischen Strategie verbundene Unterhaltung und ihr Beitrag zur Leserbindung stärker in den Vordergrund. Die Überquerung der Alpen durch das karthagische Heer unter Hannibals Führung gehörte bereits in der Antike zu den bekanntesten historischen Ereignissen und wurde dabei zugleich in ihren Details wie auch in ihrer generellen Bedeutung kontrovers diskutiert.128 Bei Livius hat sich diese antike Debatte unter anderem in den Reden, die Scipio und Hannibal am Ticinus halten, niedergeschlagen.129 Doch auch bei der Darstellung der Alpenüberquerung selbst trägt Livius der Bedeutung dieses Ereignisses Rechnung, indem er mit Hilfe der Fokalisierung aus der Perspektive der Karthager eine den Leser in besonderer Weise involvierende und damit in seinen Bann schlagende Schilderung des Geschehens gibt.130 Dies zeigt sich bereits, wenn der Leser nach der Überquerung der Rhône erstmals von der Angst der karthagischen Soldaten hört und erfährt, welche Vorstellungen sie sich von den Alpen machen, bevor sie diese überhaupt gesehen haben: multitudo timebat quidem hostem nondum oblitterata memoria superioris belli, sed magis iter immensum Alpesque, rem fama utique inexpertis horrendam, metuebat. Die meisten fürchteten zwar den Feind, weil die Erinnerung an den ersten Krieg noch nicht erloschen war. Aber noch größere Angst hatten sie vor dem ungeheuren Weg und den Alpen, die natürlich das Gerücht den Leuten, die sie nie gesehen hatten, als etwas Unheimliches erscheinen ließ.131

Diesem ‚imaginären Blick‘ auf die Alpen folgt als Reaktion Hannibals, der die Unruhe seines Heeres bemerkt hat, eine ausführliche und in indirekter Rede wiedergegebene Ansprache, in der er die Befürchtungen seiner Soldaten dadurch zu zerstreuen versucht, daß er die Passierbarkeit der Alpen betont.132 Die Wirkung dieser Rede auf die Soldaten wird hier ausdrücklich als erfolgreich beschrieben: his adhortationibus incitatos corpora curare atque ad iter se parare iubet („Als er sie durch diese anfeuernden Worte begeistert hatte, sagte er, sie sollten sich frisch machen und zum Weitermarsch rüsten.“). ___________________________

128 Vgl. Pol. 3,44,1-3,60,13; Liv. 21,29,1-38,9 u. Sil. 3,466-646; sowie zur historischen Route v.a. SEIBERT 1988; HÄNDL-SAGAWE 1995, 193-248, u. HOYOS 2006. 129 Vgl. Liv. 21,40,7-40,11 (Scipios Kritik) u. 43,9.15 (Hannibals Stolz auf die Leistung). 130 Diese Schilderung ist verschiedentlich unter literarischen Aspekten behandelt (vgl. WITTE 1910, 397-408; BURCK 1962 [1950], 65-70, u. GÄRTNER 1975, 152-169) und zuletzt von ANDREW FELDHERR als Versuch gedeutet worden, mit der Inszenierung von Hannibal als einem ‚Paradox‘ einen alternativen Geschichtsverlauf zu evozieren (vgl. FELDHERR 2009b, v.a. 317) 131 Vgl. Liv. 21,29,7. 132 Vgl. Liv. 21,30,1-30,11, v.a. 6-8. Polybios läßt Hannibal an dieser Stelle zwar auch eine Rede halten, betont die Alpenüberquerung aber nicht in gleicher Weise (vgl. Pol. 3,44,5-44,13 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 193f.).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Daß der Effekt von Hannibals Rhetorik jedoch nur kurzfristig wirksam bleiben konnte, wird dem Leser eindrücklich vor Augen geführt, wenn er wenige Kapitel später dem Blick der Soldaten auf das reale Alpenpanorama folgt: tum, quamquam fama prius, qua incerta in maius vero ferri solent, praecepta res erat, tamen ex propinquo visa montium altitudo nivesque caelo prope immixtae, tecta informia imposita rupibus, pecora iumentaque torrida frigore, homines intonsi et inculti, animalia inanimaque omnia rigentia gelu, cetera visu quam dictu foediora terrorem renovarunt. Die ganze Angelegenheit war schon früher, durch Gerüchte, durch die ja Ungewisses meistens aufgebauscht wird, vorweggenommen worden. Trotzdem ließ die Höhe der Berge, die man jetzt aus der Nähe sah, die Schneemassen, die sich fast mit dem Himmel vereinigten, die elenden auf Felsvorsprüngen gebauten Hütten, die Herdentiere und das Zugvieh, das vor Kälte verkümmert aussah, die ungeschorenen und verwilderten Menschen, die gesamte lebende und leblose Natur, vor Frost erstarrt, und alle übrigen Erscheinungen, die beim Anblick noch abscheulicher wirkten als in der Schilderung, den Schrecken wieder neu entstehen.133

Der Gegensatz zum zuvor von Hannibal gezeichneten Bild wird durch die erneute Thematisierung der fama explizit hergestellt, um dann durch die zweimalige Betonung der Visualisierung und die Menge an Details den Gegensatz zur von den Teilnehmern des Zuges erlebten Realität besonders stark herauszustellen. Die den Karthagern entgegentretenden Schrecken werden im folgenden noch dadurch gesteigert, daß die Bewohner der Alpen als zusätzliche Gegner eingeführt werden, die sie an der Durchquerung der Täler zu hindern versuchen. Auch deren erster ‚Auftritt‘ wird aus der Perspektive der karthagischen Soldaten geschildert: erigentibus in primos agmen clivos apparuerunt inminentes tumulos insidentes montani, qui, si valles occultiores insedissent, coorti ad pugnam repente ingentem fugam stragemque dedissent. Als der Zug die ersten Hügel hinaufstieg, wurden sie gewahr, daß die Bergbewohner die höheren Erhebungen besetzt hielten. Hätten sie sich in den verborgeneren Tälern festgesetzt und plötzlich angegriffen, hätten sie bei einem plötzlichen Angriff eine ungeheure Flucht und Vernichtung verursacht.134

Die mit der Situation verbundene Gefahr wird hier vor allem durch zwei Techniken stark akzentuiert: Einerseits wird das Geschehen aus der Perspektive der – grammatisch bezeichnenderweise im dativus iudicantis stehenden – Karthager fokalisiert, andererseits schließt sich unmittelbar ein Gedankenspiel im Irrealis an, das als kurze ‚Beinahe-Episode‘ und damit als rudimentäre Form virtueller Geschichtsschreibung ebenfalls der Steigerung der Dramatik dient.135 Nachdem diese Schwierigkeit durch eine List Hannibals, der mit der scheinbaren Anwesenheit seiner Soldaten in der Nacht die Gegner täuscht, überwunden werden konnte,136 ergibt sich am folgenden Tag die nächste Gefahr. Der Angriff ___________________________

133 134 135 136

Vgl. Liv. 21,32,7. Vgl. Liv. 21,32,8; zur mimetischen Funktion TSITSIOU-CHELIDONI 2009, 543. Zum Beitrag solcher Schilderungen zur Erzeugung von Spannung s. unten S. 246-248. Vgl. Liv. 21,32,9-32,10.

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der Alpenvölker auf das einen engen Paß durchquerende karthagische Heer wird ausführlich geschildert,137 wobei der Leser zunächst die Perspektive der Bergbewohner einnimmt, die gleichzeitig Hannibals List durchschauen und sein Heer auf ihrem exponierten Weg erblicken.138 Mit dem sich daraus entwickelnden Angriff auf die Karthager wechselt auch die Fokalisierung der Erzählung, die nun aus der Perspektive der Soldaten erfolgt und mit plastischen Details die Panik von Mensch und Tier ausmalt.139 Schließlich folgt der Leser aber dem Blick Hannibals, dessen Eingreifen die Lage entschärft: quae quamquam foeda visu erant, stetit parumper tamen Hannibal ac suos continuit, ne tumultum ac trepidationem augeret; deinde, postquam interrumpi agmen vidit periculumque esse, ne exutum impedimentis exercitum nequiquam incolumem traduxisset, decurrit ex superiore loco et, cum impetu ipso fudisset hostem, suis quoque tumultum auxit. Obgleich dies schrecklich anzusehen war, blieb Hannibal doch für kurze Zeit stehen und hielt seine Leute zurück, um die schreckliche Panik nicht noch zu vergrößern. Dann erkannte er aber, daß der Zug durchbrochen wurde und Gefahr bestand, das Heer zwar ungeschlagen, aber ohne alles Gepäck vergebens über den Paß gebracht zu haben. Daher eilte er rasch von der Höhe herab. Zwar zerstreute er die Feinde durch den bloßen Angriff, aber er brachte auch seine Leute noch mehr in Verwirrung.140

Eine ähnlich rasche Folge wechselnder Fokalisierungen zwischen der Perspektive der Alpenbewohner, der Karthager und Hannibal als ihrem Anführer findet sich auch noch in der Schilderung der Kämpfe der folgenden beiden Tage.141 In der folgenden Beschreibung der Auseinandersetzung mit der Natur tritt dieses von CHRYSANTHE TSITSIOU-CHELIDONI als Verstärkung der mimetischen Qualität des Textes gedeutete Wechselspiel142 zwar in den Hintergrund. Dennoch spielen auch hier weiterhin die Blickrichtungen eine entscheidende Rolle für die Darstellungstechnik.143 Das gilt sowohl für die reale Konfrontation der Karthager mit der Höhe der Berge und der Menge des Schnees auf den engen Wegen als auch für die imaginäre Schau Italiens, die Hannibal zu ihrer Motivation anläßlich einer weiteren Ansprache regelrecht ‚inszeniert‘:144 ___________________________

137 Vgl. Liv. 21,33,3-33,10 u. Pol. 3,51,1-51,9 mit GÄRTNER 1975, 163-165, u. HÄNDLSAGAWE 1995, 222f. 138 Vgl. Liv. 21,33,2-33,4. 139 Vgl. Liv. 21,33,5-33,7. 140 Vgl. Liv. 21,33,8-33,9. 141 Vgl. Liv. 21,34,1-35,3. 142 Vgl. TSITSIOU-CHELIDONI 2009, v.a. 533: „What we observe here is a quick (but in no way abrupt) change of the narrative’s focus position. This variation obviously heightens the perspicuity of the narration: through the varied focalization the narrated events become elucidated from all sides.“ 143 Vgl. Liv. 21,35,4-37,7. 144 Diese Inszenierung erinnert an andere performative Elemente, die Livius’ Redner zur Steigerung der Wirkung anwenden: vgl. z.B. Liv. 21,18,13-18,14 (Kriegserklärung in der ‚Bausch-Szene‘); 21,20,1-20,8 (Gallier empfangen Gesandte erst mit Waffen, dann mit Lachen); 21,42,1-43,1 (Hannibal läßt zwei Gefangene gegeneinander kämpfen).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

praegressus signa Hannibal in promunturio quodam, unde longe et late prospectus erat, consistere iussis militibus Italiam ostentat subiectosque Alpinis montibus Circumpadanos campos moeniaque eos tum transcendere non Italiae modo, sed etiam urbis Romanae; cetera plana, proclivia fore; uno aut summum altero proelio arcem et caput Italiae in manu ac potestate habituros. Da ritt Hannibal an die Spitze des Zuges und ließ die Soldaten auf einem Felsvorsprung halten, von wo aus man eine gute und weite Fernsicht hatte. Er zeigt ihnen Italien und die Poebene am Fuße der Alpen und wies darauf hin, daß sie jetzt nicht nur die Mauern Italiens überstiegen, sondern auch die der Stadt Rom. Von jetzt an gehe es durch Ebenen, ja sogar bergab. Nach einem, höchstens zwei Kämpfen würden sie die Burg und die Hauptstadt Italiens in ihrer vollen Gewalt haben.145

Eine Fokalisierung ist also auch in Livius’ Darstellung von Hannibals Überquerung der Alpen nicht durchgängig zu beobachten, sie wird vielmehr erneut punktuell und zur Hervorhebung einzelner Passagen verwendet. Dennoch ergibt sich aus der Fülle der Stellen, an denen die Ereignisse der Alpenüberquerung aus der Perspektive der Karthager berichtet werden, hier der vergleichsweise geschlossene Eindruck einer Schilderung ‚mit den Augen der anderen‘.146 Dieses Angebot an den Leser, für gewisse Zeit sozusagen in die Rolle des historischen Gegners zu schlüpfen, hat neben der generellen Aussage auf inhaltlicher Ebene, daß es sich auch bei den Gegnern um Menschen handelt, für den antiken Rezipienten wohl zudem eine erhebliche Steigerung der mit der Lektüre verbundenen Unterhaltung zur Folge gehabt. Die Leserbindung wird noch dadurch gesteigert, daß zusätzlich zur Fokalisierung durch die Perspektive der Karthager der Leser an einigen Stellen auch dem Blick der Alpenbewohner folgen kann. In gleicher Weise wie bei vergangenen und aktuellen Ereignissen lassen sich Fokalisierungen in ab urbe condita auch im Zusammenhang mit zum Zeitpunkt der Erzählung zukünftigen Begebenheiten beobachten. Dies gilt sowohl für den Blick auf eine entfernte Zukunft, deren Realisierung häufig offen gelassen wird, wie auch für die Beschreibung der näheren Zukunft, wie sie etwa im narrativen Element der Planungsrede Ausdruck findet. Aus der ersten Kategorie sei hier nur kurz auf Hannibals berühmten Drachentraum am Ebro hingewiesen, in dem der Träumende vergeblich angewiesen wird, auf dem Weg nach Italien seinen Blick keinesfalls zurückzuwenden, woraus sich vor dem Hintergrund der Fokalisierung der Erzählung ein faszinierendes Spiel mit den Blickrichtungen ergibt.147 ___________________________

145 Vgl. Liv. 21,35,8-35,9 mit Pol. 3,54,1-54,4; zur fraglichen Historizität HÄNDL-SAGAWE 1995, 235f.; zum Beitrag zur Erzeugung von Spannung s. unten S. 241. 146 Vgl. FELDHERR 2009b, 317f. Anm. 9: „… the entire account of the Alpine crossing is so strongly focalized through the experiences of the Carthaginians that a Roman reader may be in danger of forgetting who he is. In reading of the battles between Carthaginians and Gauls, who does a Livian reader root for – the civilized and skilful Carthaginians whose journey we have been following, or the barbaric Gauls, sackers of Rome, who here nevertheless are blocking the route of Rome’s mortal enemy?“ 147 Vgl. Liv. 21,22,6-22,9 mit FUHRMANN 1982, 24, u. HÄNDL-SAGAWE 1995, 142-144; zur internen Fokalisierung in dieser Passage TSITSIOU-CHELIDONI 2009, 537f.

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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Näher beschäftigen wollen wir uns stattdessen mit zwei Szenen, die in engem Zusammenhang miteinander stehen und der Vorbereitung der Schlacht an der Trebia dienen. Diese erste große militärische Auseinandersetzung auf italischem Boden fand Ende des Jahres 218 v. Chr. statt und wird am Ende des 21. Buches mitsamt ihrer Vorgeschichte ausführlich beschrieben. 148 Ihre Darstellung zeigt dabei einige der charakteristischen Züge der Behandlung römischer Niederlagen in dem Geschichtswerk des Livius wie schon in denen seiner republikanischen Vorgänger. Relevant sind hier vor allem zwei Strategien: zum einen die Tendenz, eine Einzelperson herauszugreifen, deren – hier durch den übertriebenen Ehrgeiz des einen Konsuls bedingte – Fehleinschätzung der Lage zu der Niederlage führt, und zum anderen die Betonung von externen Faktoren – hier das Winterwetter und der Fluß –, die zum negativen Ausgang wesentlich beigetragen haben.149 Den Auftakt bildet ein von der römische Seite knapp gewonnenes Reitergefecht,150 das von Tib. Sempronius Longus, der wegen der von P. Cornelius Scipio am Ticinus erlittenen Verwundung das Kommando allein führt, als wichtiger Erfolg angesehen wird. Dies erfährt der Leser zunächst durch einen aus der Perspektive des Sempronius fokalisierten Bericht des Erzählers, der dann aber rasch und ohne einleitendes verbum dicendi – ein bei Livius häufiger zu beobachtendes Verfahren151 – in eine indirekte Rede übergeht:152 ceterum nemini omnium maior ea iustiorque quam ipsi consuli videri; gaudio efferri, qua parte copiarum alter consul victus foret, ea se vicisse: restitutos ac refectos militibus animos nec quemquam esse praeter conlegam qui dilatam dimicationem vellet; eum, animo magis quam corpore aegrum memoria volneris aciem ac tela horrere. Im übrigen erschien der Sieg niemandem größer und verdienter als dem Konsul selbst. Er war außer sich vor Freude, gerade mit dem Teil seiner Truppen gesiegt zu haben, mit dem der andere Konsul eine Niederlage erlitten hatte: Nun sei den Soldaten der Mut wiedergegeben und gestärkt; und nur noch sein Amtsgenosse wünsche einen Aufschub des entscheidenden Kampfes. Der aber schaudere vor Schlacht und Waffen zurück, wenn er an seine Verwundung dachte. So fühlte er sich mehr seelisch als körperlich krank.153

Schließlich wechselt die Darstellung noch kurzfristig zur wörtlichen Rede.154

___________________________

148 Vgl. Liv. 21,52,1-56,9 u. ferner Pol. 3,69,5-74,11 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 321-352; zum Beitrag der Schilderung zur Erzeugung von Spannung s. unten S. 243f. 149 Zur apologetischen Tendenz vgl. SONTHEIMER 1934, 102-121; BRUCKMANN 1936, 59-65; BURCK 1962 [1950], 75-77, u. SEEK 1983, 87-90; zur Behandlung römischer Niederlagen durch Livius allg. BRUCKMANN 1936, v.a. 123-126; WILL 1983b; BURCK 1992, 64-68, u. zuletzt LEVENE 2010, 260-326. 150 Vgl. Liv. 21,52,1-52,11 u. ferner Pol. 3,69,5-69,14 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 321-326. 151 Vgl. LAMBERT 1946, 42f., u. KRAUS 1994a, 13: „L(ivy) typically omits the verb of speaking to introduce short passages of indirect speech: the reported thoughts surface directly from the narrative, without authorial intervention, as it were.“ 152 Polybios läßt die beiden Konsuln in dieser Situation einen Dialag in indirekter Rede halten (vgl. Pol. 3,70,1-70,11 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 326-328). 153 Vgl. Liv. 21,53,1-53,2 mit GÄRTNER 1975, 38-41, u. TSITSIOU-CHELIDONI 2009, 542. 154 Vgl. Liv. 21,53,5.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Nachdem der Erzähler schon zu Beginn implizit Kritik an Sempronius geübt hat, wird er in der abschließenden Bemerkung deutlicher: Denn hier wird zusätzlich die Unangemessenheit der Situation betont, in der Sempronius seine ‚Rede‘ zunächst an Scipios Krankenbett und dann ein weiteres Mal vor seinen Offizieren hält: haec adsidens aegro collegae, haec in praetorio prope contionabundus agere („So sprach er, als er am Bettrand seines verwundeten Kollegen saß; das Gleiche sagte er in seinem Hauptquartier fast so, als spräche er in einer Versammlung zu den Soldaten.“).155 Damit wird deutlich, daß dieser Abschnitt und die in ihm zu beobachtende Fokalisierung der Erzählung nicht zuletzt dazu dienen, für die der Niederlage an der Trebia vorausgehende Fehleinschätzung der Lage möglichst eine der handelnden Personen allein verantwortlich zu machen. Wenn im unmittelbar folgenden Abschnitt die gleiche narrative Technik wieder verwendet wird, hat sie zunächst eine entgegengesetzte Zielrichtung. Denn nachdem der Leser noch erfahren hat, daß Sempronius den Befehl zum Kampf gegeben hat,156 geht die Erzählung direkt vom römischen ins karthagische Lager über und folgt den Gedanken Hannibals, der als genauer Beobachter der Situation bei seinen Gegnern gezeigt wird.157 Seine allgemeinen Überlegungen erhalten mit dem Plan für einen Hinterhalt eine konkrete Richtung, als er durch Späher von den Vorbereitungen der Römer zur Schlacht erfährt.158 Für die Dauer der hierfür erforderlichen Vorbereitungen nimmt der Leser nun ganz die Perspektive Hannibals ein, der mit seinem Bruder Mago das Gelände in Augenschein nimmt.159 Dann erklärt er in zwei kurzen Ansprachen zunächst vor Ort seinen Begleitern und später den ausgewählten Soldaten die Funktionsweise seines Planes. Der eigentliche Adressat ist in beiden Fällen aber der Leser: ‚hic erit locus‘ Magoni fratri ait ‚quem teneas. delige centenos viros ex omni pedite atque equite, cum quibus ad me vigilia prima venias; nunc corpora curare tempus est.‘ ita praetorium missum. mox cum delectis Mago aderat. ‚robora virorum cerno‘ inquit Hannibal; ‚sed uti numero etiam, non animis modo valeatis, singulis vobis novenos ex turmis manipulisque vestri similes eligite. Mago locum monstrabit, quem insideatis; hostem caecum ad has belli artes habetis.‘ Zu seinem Bruder Mago sagt er: ‚Dies wird die Stelle sein, die du besetzen sollst. Suche dir von dem gesamten Fußvolk und der Reiterei je 100 Mann aus und komme mit ihnen um die erste Nachtwache zu mir! Jetzt ist es Zeit, euch zu stärken.‘ So wurde der Kriegsrat entlassen. Mago war bald mit seinen ausgewählten Soldaten zur Stelle. ‚Ich sehe hier eine Kerntruppe‘ sagte Hannibal‚ ‚aber damit ihr auch zahlenmäßig überlegen seid, soll sich jeder von euch je neun gleichwertige Männer aus den Schwadronen und Maniplen aussuchen. Mago wird euch die Stelle zeigen, die ihr als Falle benutzen sollt. Ihr habt einen Feind vor euch, der für derartige Kriegslisten blind ist.‘160

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Vgl. Liv. 21,53,6 u. zur Formulierung in praetorio HÄNDL-SAGAWE 1995, 328f. Vgl. Liv. 21,53,7. Vgl. Liv. 21,53,7-53,10. Vgl. Liv. 21,53,11. Vgl. Liv. 21,54,1. Vgl. Liv. 21,54,2-54,3 u. Pol. 3,71,1-71,8 (ebenfalls zweigeteilt, aber ohne Reden).

2. Mit den Augen der anderen: Fokalisierung als literarische Strategie

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Der Effekt dieser Perspektivierung wird dadurch noch gesteigert, daß der externe Rezipient ausdrücklich gesagt bekommt, daß die Römer blind für das sind, was hier ins Werk gesetzt wird, und daß er von diesem Teil des karthagischen Heeres erst wieder dann hören wird, wenn sein für die Römer überraschendes Erscheinen auf dem Schlachtfeld zur Entscheidung in der Schlacht beitragen wird.161 Mit der intensiven Fokalisierung in dieser Passage wird einerseits Hannibals Geschick als Feldherr hervorgehoben und seine richtige Einschätzung der Lage der fehlerhaften des Sempronius effektvoll gegenübergestellt. Die spezifische Art der Schilderung dient daher einerseits wieder dem gleichen Zweck wie im ersten Abschnitt: In beiden Fällen soll die römische Niederlage für den Leser verständlich gemacht werden. Doch auch von dem inhaltlichen Anliegen abgesehen geht mit dem Perspektivwechsel und dem Spiel mit Wissen und Nichtwissen in Bezug auf das weitere Geschehen andererseits auch eine Steigerung der Unterhaltung des Rezipienten einher.162 Das läßt sich in gleicher Weise auch für andere Stellen in Livius’ Werk zeigen. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Panik verwiesen, die durch die Nachricht von der Niederlage an der Trebia in Rom ausgelöst wird und die eine aus der Perspektive der verängstigten Bevölkerung fokalisierte und daher extrem negative Version des weiteren Kriegsverlaufes enthält.163 Durch eine unter anderem die unterschiedlichen Fokalisierungen in den Blick nehmende Analyse der Anfänge von Roms zweitem Krieg gegen Karthago im 21. Buch wurde im zurückliegenden Abschnitt der Versuch unternommen, die vom Erzähler zum Geschehen eingenommene Haltung näher zu beschreiben. Es hat sich dabei als sinnvoll erwiesen, daß traditionelle Bild einer einseitig prorömischen Tendenz insoweit zu korrigieren, als der Leser im Laufe der Lektüre die Perspektive unterschiedlicher Figuren und Gruppen einnimmt. Die wechselnden Fokalisierungen, die sich sowohl in Hinblick auf die Vergangenheit (am Beispiel der Ereignisse vor dem Kriegsausbruch), auf die Gegenwart (am Beispiel des Alpenübergangs) und auf die Zukunft (am Beispiel der Vorbereitungen der Schlacht an der Trebia) beobachten ließen, erweisen sich als bewußt eingesetzte narrative ___________________________

161 Vgl. Liv. 21,55,8-55,9 mit FUHRMANN 1982, 25; ausführlicher zum Beitrag der Stelle zur Erzeugung von Spannung s. unten S. 238f. 162 Zu kontrafaktischen Schilderungen und der Spannungerzeugung s. unten S. 246-248. 163 Vgl. Liv. 21,57,1-57,2: Romam tantus terror ex hac clade perlatus est ut iam ad urbem Romanam crederent infestis signis hostem venturum nec quicquam spei aut auxilii esse quo portis moenibusque vim arcerent: uno consule ad Ticinum victo, altero ex Sicilia revocato, duobus consulibus, duobus consularibus exercitibus victis quos alios duces, quas alias legiones esse quae arcessantur? („Der Schrecken, der sich von dieser Niederlage bis nach Rom verbreitete, war so gewaltig, daß alle glaubten, der Feind werde sofort zum Angriff auf die Stadt ansetzen, und es gebe keine Hoffnung und keine Möglichkeit, seine Streitmacht von den Toren und Mauern abzuwehren. Ein Konsul sei am Ticinus besiegt, der zweite von Sizilien zurückgerufen; beide Konsuln und zwei konsularische Heere seien besiegt. Welche anderen Führer und Legionen gebe es noch, die man herbeirufen könne?“) mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 353f.; zur analogen Reaktion auf den Fall Sagunts (Liv. 21,16,2-16,6) s. unten S. 240.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Strategie, mit der unterschiedliche Ziele auf dem Gebiet der inhaltlichen Aussage – unter denen der Erzeugung des Eindrucks von Objektivität eine wichtige Rolle zukommt164 – wie der Unterhaltung und Involvierung des Lesers verbunden sind. c) Zwischenfazit: Funktionen der Fokalisierung in ab urbe condita Die am Beispiel des ersten Buchs der dritten Dekade beschriebenen Wirkungen fügen sich gut zu den allgemeinen Erkenntnissen zur Funktion der Fokalisierung in narrativen Texten, wie sie beispielsweise von MIEKE BAL beschrieben wurden: Character-bound focalization (…) can cary, can shift from one character to another, even if the narrator remains constant. In such cases, we may be given a good picture of a conflict. We are shown how differently the various characters view the same facts. This technique can result in neutrality towards all characters. Nevertheless, there usually is no doubt in our minds which character should receive most attention and sympathy.165

Das gilt gerade auch für den Umstand, daß eine variable Fokalisierung nicht mit der Aufgabe einer primären und dem Leser zur Identifikation angebotenen Perspektive einhergehen muß. Vielmehr ist das mit abweichenden Fokalisierungen angestrebte Ziel nicht zuletzt in der auf diese Weise verursachten momentanen Aporie des Lesers darüber zu vermuten, wie sich beide Sichtweisen miteinander verbinden lassen und welche von beiden denn nun die richtige ist.166 Die durch die Auflösung der Widersprüche bewirkte stärkere Involvierung des Lesers in den Text erhöht auf der einen Seite den literarischen Reiz der Lektüre für den Leser.167 Auf der anderen Seite enthält die polyphone Art der Präsentation aber auch einen wichtigen Teil der historischen Aussage: Indem die Ereignisse nicht nur einmalig vom Erzähler geschildert, sondern im weiteren Verlauf des Textes in wechselnden Fokalisierungen von verschiedenen historischen Figuren einem mehrstimmigen Deutungsprozeß unterzogen werden, trägt diese Präsentation wesentlich dazu bei, den Leser sowohl die Rekonstruktion der Vergangenheit als auch die Beurteilung geschichtlichen Handelns als einen personengebunden und daher vom jeweiligen Standpunkt abhängigen Prozeß erfahren zu lassen. Daß der Leser von ab urbe condita auf diese Weise die Möglichkeit erhält, vorübergehend die Perspektive der anderen, militärisch letztlich unterlegenen Seite einzunehmen, und damit zugleich zur Reflektion über die Art und Weise der Bildung der historischer Urteile angehalten wird, mag als scheinbar modernes Anliegen vielleicht zunächst überraschen. Doch gerade solche Elemente hat die Forschung der letzten Jahre als in hohem Maße charakteristisch für die augusteische ___________________________

164 Vgl. z.B. TSITSIOU-CHELIDONI 2009, 543: „Thus the reader has the impression that the narration is unbiased though at the same time quite mimetic.“ 165 Vgl. BAL 1997, 148. 166 Die Diskrepanzen lassen sich daher nicht nur als Fehler, sondern auch als gezielte Einschränkung oder Erweiterung der Perspektive verstehen (vgl. GENETTE 1998, 138). 167 Zu aktiveren Formen der Rezeption vgl. allg. ISER 1984 [1976] u. ECO 1987 [1979].

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Zeit erkannt, in der sich in unterschiedlichen Medien eine intensive Beschäftigung mit der Bedeutung von Vergangenheit und der Funktion von Geschichtsbildern beobachten läßt.168 Dies gilt in gleicher Weise, wenn wir uns nun von der fokalisierten Schilderung durch den Erzähler zur Figurenrede und damit zu einer literarischen Technik begeben, die es dem Erzähler ermöglicht, einer der historischen Personen das Wort vorübergehend zu erteilen und für eine gewisse Zeit ganz hinter dieser zurückzutreten.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte a) Die Reden in der historiographischen Diskussion der Antike Einer der fundamentalen Unterschiede zwischen antiker und moderner Geschichtsschreibung besteht darin, daß es für einen antiken Historiker möglich und legitim ist, historische Figuren in direkter Rede sprechen zu lassen und ihre Äußerungen in seinem Text scheinbar wörtlich wiederzugeben, ohne daß diese Formulierungen durch zeitgenössische Dokumente belegt sein müssen. 169 Dieses narrative Verfahren, das eine sehr effiziente Möglichkeit zur Vermittlung von Gedanken, Absichten und Motiven der handelnden Personen darstellt, ist für uns heute ein Gattungsmerkmal fiktionaler Literatur und seine Verwendung in einem Text, der sich mit der Darstellung der Vergangenheit beschäftigt, ein sicheres Indiz dafür, daß es sich bei diesem Werk um einen historischen Roman handelt.170 Demgegenüber ist es in der antiken Historiographie wohl schon seit ihren Anfängen,171 jedenfalls aber seit Herodot üblich, historische Personen Reden halten – oder seltener Briefe schreiben – zu lassen, obwohl in vielen Fällen nicht nur die Authentizität des Wortlautes, sondern sogar die Faktizität der Rede als solcher bereits dem antiken Leser als in höchstem Maße zweifelhaft erschienen sein müssen. Der Frage, wie sich die offenkundige Fiktionalität zahlreicher Reden in der antiken Geschichtsschreibung – etwa der von Dionysios von Halikarnassos in den antiquitates Romanae dem Romulus in den Mund gelegten172 – mit dem seit Thukydides vielfach postulierten Wahrheitsanspruch der antiken Historiker vereinbaren läßt, wollen wir im folgenden nachgehen.173 Zu diesem Zweck werden ___________________________

168 169 170 171

S. oben S. 24-37. Vgl. allg. v.a. WALBANK 1965; MARINCOLA 2007b u. PITCHER 2009, 103-111. Vgl. z.B. GENETTE 1992, 77-79, u. COHN 1999, v.a. 119. Für Reden bei Hekataios vgl. FGrHist 1 F 30 u. T 20 (= Longin. Rh. 27,1-2) u. dag. Marcellinus, vita Thuc. 38, der die Einführung dieser Technik Herodot zuschreibt. 172 Vgl. z.B. Dion. Hal. ant. 2,3; zu seinen eigenen Äußerungen hierzu s. unten S. 162. 173 Daß die Verwendung von Reden bereits in der Antike von dem Bewußtsein ihrer Fiktionalität begleitet wurde, wird heute mehrheitlich angenommen (vgl. aber FORNARA 1983, 154f.: „… we are not entitled to proceed on the assumption that the historians considered themselves at liberty to write up speeches out of their own heads. That some or many or most actually did so is perhaps hypothetically conceivable. We must recognize, however, that such a procedure would have been contrary to convention and not, as all too many moderns seem to suppose, a convention in its own right.“).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

wir uns nach einem kurzen forschungsgeschichtlichen und methodischen Exkurs zunächst mit den Gründen für die Verwendung dieses narrativen Mittels in der antiken Geschichtsschreibung beschäftigen, ehe wir uns mit seiner Problematisierung in der Antike selbst auseinandersetzen wollen. Schließlich soll im letzten Teil der Bezug von dieser allgemeinen Debatte zu Livius und seiner spezifischen Verwendung von Reden in ab urbe condita erfolgen. Wie bei der Beschäftigung mit der antiken Geschichtsschreibung allgemein, so lassen sich auch beim konkreten Fall der Reden deutliche Unterschiede zwischen einer stärker historisch und einer eher philologisch ausgerichteten Betrachtungsweise feststellen.174 Während sich die Vertreter des ersten Fachs naturgemäß vor allem mit dem historischen Quellenwert und der Rekonstruierbarkeit möglicher Vorlagen beschäftigt haben,175 stand für Philologen lange Zeit die stilistische und rhetorische Analyse im Vordergrund.176 Beiden Herangehensweisen war dabei der methodische Grundsatz gemeinsam, diese Partien vom übrigen Text weitgehend zu trennen und einer isolierten Interpretation zu unterziehen. Es stellt demgegenüber ein verbindendes Element der meisten neueren Ansätze dar, daß die Interaktion beider Textteile in den Blick genommen und davon ausgehend nach dem generellen Beitrag der Reden zur historiographischen Darstellung gefragt wird. Dies geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund der stärkeren Verwendung narratologischer Modelle zur Interpretation der Texte der antiken Historiker, die sich allgemein in den letzten Jahrzehnten beobachten läßt.177 Zu den Vorteilen, die sich aus der Anwendung dieses Instrumentariums auf die antike Geschichtsschreibung ergeben, gehört unter anderem, daß das Phänomen der Reden präziser erfaßt und besser beschrieben werden kann.178 Dies zeigt sich etwa an der Frage, welche Folgen für die Wahrnehmung durch den Leser mit der grammatischen Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Rede verbunden sind. Während Platon hier eine Maximalposition vertreten hat und am Beispiel der Umwandlung der Rede des Chryses aus dem ersten Buch der Ilias in oratio obliqua den Gegensatz deutlich markieren wollte,179 wird dieser Unterschied heute vielfach als nachrangig angesehen und beide Formen vielmehr in umfassendere Modelle integriert, die eine flexible Skalierung von minimaler zu maximaler Fokalisierung der Erzählung durch die jeweilige Person favorisieren. ___________________________

174 Zu den unterschiedlichen Perspektiven beider Disziplinen auf die antike Geschichtsschreibung vgl. z.B. PAUSCH 2011a (mit weiterer Literatur). 175 Zu Livius vgl. KOHL 1872, 16-27; WALSH 1961, 231-235, u. FORSYTHE 1999, 74-86; zum Sonderfall der Triumphdebatten jetzt auch PITTENGER 2008, v.a. 19f. 176 Zu Livius vgl. TAINE 1856, 288-318; CANTER 1917; CANTER 1918; ULLMANN 1927, 49-196; ULLMANN 1929; LAMBERT 1946; WALSH 1961, 235-242; DANGEL 1982; UTARD 2004 u. UTARD 2006. 177 Zu dieser Entwicklung und den noch zu lösenden Problemen s. oben S. 9-12. 178 Zu den verschiedenen Formen der Figurenrede in der fiktiven Literatur der Neuzeit vgl. z.B. LÄMMERT 1955, 195-242; STOCKER 1997 u. SCHMID 2008, 151-229. 179 Vgl. Plat. rep. 3,392c-394b mit z.B. LAIRD 1999, 48-78, u. HALLIWELL 2009.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Dem Autor stehen hierfür unterschiedliche Techniken zur Verfügung, die mit der im letzten Abschnitt behandelten Schilderung der Ereignisse aus der Perspektive einer historischen Person durch den Erzähler beginnen und über die Wiedergabe seiner Gedanken in indirekter Rede bis zur Verwendung einer Figurenrede im eigentlichen Sinn reichen.180 Wir werden daher im folgenden die Phänomene der indirekten und direkten Rede in Livius’ Werk gemeinsam behandeln, ohne die Unterschiede zwischen beiden Formen dabei aus dem Blick zu verlieren.181 Die Verwendung von Reden durch die antiken Historiker läßt sich einerseits damit erklären, daß es sich bei ihnen um einen bedeutenden Teil des literarischen Erbes der antiken Geschichtsschreibung vom homerischen Epos handelt,182 dessen Charakter als Schnittmenge aus reiner Narration und reiner Mimesis bereits Platon mit Blick gerade auf die Verwendung der Figurenrede in einem ansonsten von der Wiedergabe der Handlung durch den Erzähler geprägten Text beschrieben hat.183 Doch dieser Hinweis auf die Genese der Gattung reicht als Erklärung für die große Beliebtheit dieses Phänomens nicht aus. Vielmehr müssen hierbei auch die verschiedenen Vorteile berücksichtigt werden, die sich für den Autor aus der Verwendung dieser literarischen Technik bei der Darstellung historischer Ereignisse ergeben: Wenn der Erzähler für eine gewisse Zeit zurücktritt und stattdessen eine historische Figur sprechen läßt, so ist damit zunächst ein wichtiger Beitrag zur Charakterisierung des jeweiligen Redners verbunden.184 Darüber hinaus geht der Wechsel des Modus vom Bericht zur Rede aber nicht nur mit einer signifikanten stilistischen variatio einher, die dem Leser Unterhaltung und dem Autor die Gelegenheit zu literarischer Bewährung gibt, sondern auch mit einer stärkeren Dramatisierung der Darstellung.185 Letztere kommt nicht zuletzt dadurch zustande, daß der Leser auf diese Weise ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Standpunkten aus betrachten kann. Mit den Folgen dieser Art der multiperspektivischen Präsentation für die Involvierung des Rezipienten einerseits und die inhaltliche Aussage andererseits werden wir uns in den folgenden Abschnitten näher beschäftigen. Schließlich kommt den ___________________________

180 Vgl. z.B. LAIRD 1999, 136-143, u. SCARDINO 2007, 36-46.57, der in einem dreistufigen Modell zwischen dem einfachen Narrator-Text, dem durch eine historische Person fokalisierten komplexen Narrator-Text und den Reden der Personen unterscheidet. 181 Auch die Untersuchungen zur indirekten Rede bei Livius betonen eher die Gemeinsamkeiten; vgl. KOHL 1872, 23; LAMBERT 1946, v.a. 19f., u. UTARD 2006, v.a. 74-76. 182 Vgl. STRASBURGER 1972, v.a. 38f.; FORNARA 1983, 29-31, u. SCARDINO 2007, 2f. 183 Vgl. Plat. rep. 392c-394b mit z.B. RENGAKOS 2004, 76: „Am auffälligsten ist wohl der epische Ursprung der antiken Geschichtsschreibung in der Verwendung der dritten, zwischen der einfachen diegesis (‚Erzählung‘) und der mimesis (‚Wiedergabe des Gesprochenen‘) liegenden, gemischten Darstellungsart, die Platon in seiner Politeia (392c-394b) als für die homerisch Poesie konstitutiv herausgearbeitet hat, das heißt in der Verwendung der Form, welche berichtende Partien und direkte, fingierte Rede verbindet.“ 184 Vgl. v.a. FGrHist 124 F 44 (Kallisthenes) u. Lukian. hist. conscr. 58; s. unten S. 168. 185 Vgl. z.B. WALBANK 1965, 23, u. MILLER 1975, v.a. 46.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Reden auch noch eine zentrale Rolle bei der – häufig indirekten – Deutung und Kommentierung des Geschehens durch den Autor zu.186 Trotz der schon von den Zeitgenossen erkannten generischen Verbindung zum Epos und der mit dem Einsatz dieser literarischen Technik verbundenen Vorteile, deren Liste sich leicht noch verlängern ließe, hat es dennoch bereits in der Antike nicht an kritischen Stimmen gegen die Verwendung von Reden in der Historiographie gefehlt. Diese Kritik richtet sich mit der Fiktionalität auf der einen und der Rhetorisierung auf der anderen Seite im wesentlichen auf zwei Problemfelder, von denen eines auf der Ebene des Inhaltes, das andere auf der Ebene der Darstellung liegt. Die beiden sollen im folgenden nacheinander besprochen werden, ohne dabei die Frage aus den Augen zu verlieren, warum sich diese Gegenargumente letztlich als unzureichend erwiesen haben und die antike Geschichtsschreibung von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende mehr oder weniger durchgängig durch die Verwendung von Reden geprägt wurde.187 Jede Diskussion über den Anteil von Wahrheit und Fiktion in den Reden in der antiken Historiographie muß ihren Ausgang von Thukydides’ zu Recht ebenso berühmten wie berüchtigten Ausführungen hierüber im Methodenkapitel zu Beginn seines Geschichtswerkes nehmen: καὶ ὅσα μὲν λόγῳ εἶπον ἕκαστοι ἢ μέλλοντες πολεμήσειν ἢ ἐν αὐτῷ ἤδη ὄντες, χαλεπὸν τὴν ἀκρίβειαν αὐτὴν τῶν λεχθέντων διαμνημονεῦσαι ἦν ἐμοί τε ὧν αὐτὸς ἤκουσα καὶ τοῖς ἄλλοθέν ποθεν ἐμοὶ ἀπαγγέλλουσιν· ὡς δ' ἂν ἐδόκουν ἐμοὶ ἕκαστοι περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα μάλιστ' εἰπεῖν, ἐχομένῳ ὅτι ἐγγύτατα τῆς ξυμπάσης γνώμης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων, οὕτως εἴρηται. Was nun die einzelnen Reden angeht, die im Vorfeld des Kriegs und in dessen Verlauf gehalten wurden, so war es schwierig, sich an den genauen Wortlaut des Gesagten zu erinnern, sowohl für mich, wenn ich es selbst gehört hatte, als auch für andere, wenn sie es mir von anderswoher berichteten. Daher habe ich jeden so sprechen lassen, wie es mir mit Blick auf die jeweiligen Erfordernisse am sinnvollsten erschien, wobei ich mich so eng wie möglich an die generelle Intention des tatsächlich Gesagten gehalten habe.188

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186 Vgl. Pol. 12,25b: ῞Οτι τῆς ἱστορίας ἰδίωμα τοῦτ' ἐστὶ τὸ πρῶτον μὲν αὐτοὺς τοὺς κατ' ἀλήθειαν εἰρημένους, οἷοί ποτ' ἂν ὦσι, γνῶναι λόγους, δεύτερον τὴν αἰτίαν πυνθάνεσθαι, παρ' ἣν ἢ διέπεσεν ἢ κατωρθώθη τὸ πραχθὲν ἢ ῥηθέν· ἐπεὶ ψιλῶς λεγόμενον αὐτὸ τὸ γεγονὸς ψυχαγωγεῖ μέν, ὠφελεῖ δ' οὐδέν· προστεθείσης δὲ τῆς αἰτίας ἔγκαρπος ἡ τῆς ἱστορίας γίνεται χρῆσις. („Die Aufgabe der Geschichte ist erstens, die tatsächlich gehaltenen Reden, welcher Art auch immer sie gewesen sein mögen, in Erfahrung zu bringen, zweitens den Grund zu erforschen, weshalb eine Handlung oder Meinungsäußerung Erfolg hatte oder nicht. Denn die einfache Mitteilung der Ereignisse allein ist vielleicht eine fesselnde Unterhaltung, Nutzen bringt sie nicht. Erst wenn man Gründe und Ursachen hinzufügt, wird das Studium der Geschichte fruchtbringend.“ [Übers. DREXLER 1963]) mit z.B. WALBANK 1965, 1f.; FORNARA 1983, 142; DUFF 2003, 20; SCARDINO 2007, v.a. 59, u. MARINCOLA 2007b, v.a. 119. 187 Der Anteil der Reden am gesamten Text schwankt zwar zwischen ungefähr 10% und 25% (vgl. z.B. WALSH 1961, 231 Anm. 2, u. PITCHER 2009, 103f.), ganz auf sie verzichtet haben aber allenfalls Kratippos und Pompeius Trogus s. unten S. 165f. 188 Vgl. Thuk. 1,22,1.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Obwohl sich die Forschung mittlerweile schon seit vielen Jahrzehnten um eine Einordnung dieser Stelle zwischen historischer Methodik und literarischer carte blanche bemüht, ist noch keine einvernehmliche Lösung in Sicht.189 Dies gilt vor allem für die Interpretation der ξυμπάση γνώμη, der Thukydides möglichst genau folgen will. Während diese Formulierung zumeist mit ‚Gedankengang‘ oder ähnlichen auf den Inhalt der tatsächlich gehaltenen Reden zielenden Ausdrücken wiedergegeben wird, hat sich KONRAD VÖSSING dafür ausgesprochen, γνώμη als die Beurteilung der jeweiligen Situation durch die sprechende Person zu verstehen, deren Perspektive Thukydides historisch rekonstruiert habe, um ihr dann eine – nach modernen wie antiken Maßstäben – fiktive Rede in den Mund zu legen.190 Eine solche Übersetzung ist zwar syntaktisch nicht unproblematisch,191 doch gilt diese Einschränkung für jede bisher vorgeschlagene Lösung dieser letztlich wohl für uns nicht völlig verständlichen Stelle in beinahe gleicher Weise. Diese Lesart verstärkt aber jedenfalls ihren Charakter als Fiktionalitätssignal erheblich und paßt damit nicht nur gut zum modernen Verständnis der Reden in der Geschichtsschreibung, sondern auch zu einem großen Teil ihrer Interpretation in der Antike. Denn neben einer wesentlich durch Thukydides beeinflußten und in dem erhaltenen Textbestand vor allem von Polybios vertretenen Linie, die eine strikte Übereinstimmung der Reden mit ihren realen Vorbildern fordert,192 gibt es auch eine Reihe von Stimmen, die in dieser Frage eine andere Auffassung vertreten. ___________________________

189 Vgl. z.B. WALBANK 1965, 244-246; FORNARA 1983, 143-145; HORNBLOWER 1987, 45-72; WOODMAN 1988, 10-15; ROOD 1998, 46-48; GARRITY 1998; WINTON 1999; PLANT 1999; PELLING 2000, 112-122; MARINCOLA 2001, 77-85; GREENWOOD 2006, 57-82; SCARDINO 2007, 399-416; HAGMAIER 2008, 242-244, u. PITCHER 2009, 107f. 190 Vgl. VÖSSING 2005, 213: „Deshalb soll hier folgende Übersetzung vorgeschlagen werden: ‚... in möglichst engem Anschluß an die generelle Einschätzung, auf der das tatsächlich Gesprochene beruhte.‘ Bei dieser Interpretation der Stelle behauptet Thukydides zu wissen, wie die Akteure im großen und ganzen die jeweilige Lage einschätzten.“ 191 Vgl. z.B. WALBANK 1965, 3f. 192 Vgl. v.a. Pol. 12,25a: διότι γὰρ ταῦτα παρ' ἀλήθειαν ἐν τοῖς ὑπομνήμασι κατατέταχε Τίμαιος, καὶ τοῦτο πεποίηκε κατὰ πρόθεσιν, τίς οὐ παρακολουθεῖ τῶν ἀνεγνωκότων; οὐ γὰρ τὰ ῥηθέντα γέγραφεν, οὐδ' ὡς ἐρρήθη κατ' ἀλήθειαν, ἀλλὰ προθέμενος ὡς δεῖ ῥηθῆναι, πάντας ἐξαριθμεῖται τοὺς ῥηθέντας λόγους καὶ τὰ παρεπόμενα τοῖς πράγμασιν οὕτως ὡς ἂν εἴ τις ἐν διατριβῇ πρὸς ὑπόθεσιν ἐπιχειροίη ὥσπερ ἀπόδειξιν τῆς ἑαυοῦ δυνάμεως ποιούμενος, ἀλλ' οὐκ ἐξήγησιν τῶν κατ' ἀλήθειαν εἰρημένων. („Daß diese in die Erzählung eingelegten Reden der Wahrheit nicht entsprechen, sondern bewußte Fiktionen des Timaios sind, welchem Leser könnte das entgehen? Er hat nicht aufgeschrieben, was in Wirklichkeit gesagt worden ist, sondern hat sich ausgedacht, wie hätte gesprochen werden müssen, und läßt alle diese Reden mit ihren Reflexionen daherrauschen wie jemand, der in der Schule über ein gestelltes Thema zu sprechen versucht, als ob er Proben seines Rednertalents liefern sollte und nicht vielmehr einen Bericht von dem zu geben hätte, was tatsächlich gesagt worden ist.“ [Übers. DREXLER 1963]) mit WALBANK 1965, 4-12; NICOLAI 1999; MARINCOLA 2001, 128-133, u. PITCHER 2009, 105f.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Repräsentativ für ein solches Verständnis ist etwa die kritische Analyse, die Dionysios von Halikarnassos seiner Schrift über Thukydides (περὶ Θουκυδίδου) von den Reden im allgemeinen und vom Melierdialog im besonderen gibt.193 Er nimmt ihn dabei in doppelter Weise beim Wort, indem er ihm zunächst unter Verweis auf seine eigene Aussage über seine Verbannung zugesteht, daß er auf Melos weder selbst dabei gewesen sein noch das Gesagte von Dritten gehört haben konnte, dann aber von ihm fordert, die Reden möglichst strikt nach der von ihm selbst formulierten und hier zitierten Regel zu gestalten: τούτων τῶν λόγων ὅτι μὲν οὔτε αὐτὸς μετέσχεν ὁ συγγραφεὺς τῷ συλλόγῳ τότε παρατυχὼν οὔτε τῶν διαθεμένων αὐτοὺς Ἀθηναίων ἢ Μηλίων ἤκουσεν, ἐξ ὧν αὐτὸς ἐν τῇ πρὸ ταύτης βύβλῳ περὶ αὑτοῦ γράφει, μαθεῖν ῥᾴδιον, ὅτι μετὰ τὴν ἐν Ἀμφιπόλει στρατηγίαν ἐξελαθεὶς τῆς πατρίδος πάντα τὸν λοιπὸν τοῦ πολέμου χρόνον ἐν Θρᾴκῃ διέτριψε. λείπεται δὴ σκοπεῖν, εἰ τοῖς τε πράγμασι προσήκοντα καὶ τοῖς συνεληλυθόσιν εἰς τὸν σύλλογον προσώποις ἁρμόττοντα πέπλακε διάλογον ‚ἐχόμενος ὡς ἔγγιστα τῆς συμπάσης γνώμης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων‘, ὡς αὐτὸς ἐν τῷ προοιμίῳ τῆς ἱστορίας προείρηκεν. Daß der Historiker weder selbst an dem Treffen teilgenommen hat, bei dem diese Reden damals gehalten wurden, noch sie in der Wiedergabe durch Athenern oder Meliern gehört hat, geht leicht aus dem hervor, was er selbst im vorangehenden Buch über sich geschrieben hat, daß er nach dem Einsatz als Stratege vor Amphipolis aus seiner Heimatstadt verbannt wurde und die gesamte übrige Zeit des Krieges in Thrakien verbracht hat. Es gilt daher zu untersuchen, ob er den Dialog so gestaltet hat, daß er den Umständen entspricht und zu den Personen paßt, die zu dieser Unterredung zusammengekommen sind, ‚mich so eng wie möglich an die generelle Intention des tatsächlich Gesagten haltend‘, wie er es selbst im Proömium des Geschichtswerkes fordert.194

Auch wenn Thukydides dieser Aufgabe nach Meinung des Dionysios letztlich nicht gerecht geworden ist, so ist doch bemerkenswert, wieviel Freiheit er bereits für die Gestaltung der Reden von Zeitgenossen ansetzt. Wie sehr sich der fiktionale Anteil bei weiter zurückliegenden Epochen noch steigern kann, verdeutlicht nichts so gut wie die große Anzahl von Reden in seinem eigenen Werk über die römische Frühgeschichte,195 obwohl Livius nicht der erste antike Autor war, der die Darstellung gerade dieser Zeit wegen der schlechten Überlieferung und der Unmöglichkeit exakten Wissens eher den Dichtern als den Historikern zuweisen wollte.196 Livius selbst hat darauf im übrigen Rücksicht genommen, indem er in ___________________________

193 Vgl. Dion. Hal. de Thuc. 34-49, v.a. 37-41 (zum Melierdialog) mit FOX 1996, 63-74; FOX 2001 u. MARINCOLA 2007b, 126f. 194 Vgl. Dion. Hal. de Thuc. 41 mit z.B. SACKS 1986, 387f.: „It is clear that, despite quoting Thucydides’ claim to keeping as closely as possible to ‘the overall purport of what was actually said’, Dionysius does not expect Thucydides to record the ipsissima verba, or anything close to it. Rather, Dionysius expects only τὸ πρέπον, or, in Thucydidean terms, τὰ δέοντα. This, then, is how Dionysius read Thucydides’ entire statement on λόγοι at I 22.1.“; GREENWOOD 2006, 71f., u. WIATER 2011, 154-165. 195 Vgl. Dion. Hal. ant. 7,66,2-66,3 mit MARINCOLA 2007b, 126f., u. PAUSCH 2011b. 196 Vgl. Liv. praef. 6-8 u. Liv. 6,1,1-1,3; zum zeitgenössischen Kontext s. oben S. 30f.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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der ersten Pentade nicht nur weniger längere Reden verwendet,197 sondern seine Skepsis anläßlich der Verginia-Geschichte zudem explizit thematisiert.198 Dennoch hat er daraus nicht die Schlußfolgerung abgeleitet, auf diese Technik bei der Darstellung eines weiter zurückliegenden Zeitabschnitts ganz zu verzichten. Eine konsequente Differenzierung der Plausibilität je nach der historischen Epoche, in der die Reden angesiedelt sind, wird in der antiken Debatte überhaupt nur äußerst selten vorgenommen.199 Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ergibt sich aber letztlich aus dem antiken Verständnis der Geschichtsschreibung als primär literarischer Gattung: Denn obwohl Unterschiede zwischen einzelnen Reden hinsichtlich der Quellenlage unvermeidlich sind, kann doch die Lektüre der einen nicht ohne Folgen für die der nächsten Rede bleiben und auf die Dauer erweist sich der auf diese Weise konstituierte ‚horizontale‘ Bezug innerhalb der verschiedenen Texte wohl als stärker als die ‚vertikale‘ Verknüpfung zwischen der einzelnen Rede und ihrer historischen Situation. Eine weitere Differenzierung, die in der Antike kaum vorgenommen wird, ist die nach den unterschiedlichen Anlässen der einzelnen Reden. Das ist deswegen überraschend, weil die Unterschiede in Hinsicht auf die Überlieferungsumstände zwischen der Ansprache eines Feldherren an seine Soldaten vor der Schlacht200 ___________________________

197 Vgl. TREPTOW 1964, 9-12; TRÄNKLE 1977, 120f., u. BURCK 1992, 69. 198 Vgl. Liv. 3,47,5: quem decreto sermonem praetenderit [sc. Appius Claudius], forsan aliquem verum auctores antiqui tradiderint: quia nusquam ullum in tanta foeditate decreti veri similem invenio, id quod constat nudum videtur proponendum, decresse vindicias secundum servitutem. („Welche Ausführungen er seiner Entscheidung vorausschickte, mögen vielleicht alte Quellen korrekt überliefert haben. Weil ich aber nirgendwo etwas finde, was bei einer so abscheulichen Entscheidung Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann, scheint er mir richtig, das, was feststeht, als nackte Tatsache hinzustellen: er traf eine einstweilige Verfügung zugunsten der Sklaverei.“) mit z.B. LAMBERT 1946, 14, u. TSITSIOU-CHELIDONI 2009, 547. 199 Vgl. z.B. FGrHist 70 F 9 (Ephoros): Ἔφορος δ' ἐν τῆι τῶν Ἱστοριῶν τρόπον τινὰ ἐξηγήσατο, φησὶ περὶ τῶν ἀρχαίων πραγμάτων τοὺς νεωτέρους διεξέρχεσθαι ‚περὶ μὲν γὰρ τῶν καθ' ἡμᾶς γεγενημένων‘ φησί ‚τοὺς ἀκριβέστατα λέγοντας πιστοτάτους ἡγούμεθα, περὶ δὲ τῶν παλαιῶν τοὺς οὕτω διεξιόντας ἀπιθανωτάτους εἶναι νομίζομεν, ὑπολαμβάνοντες οὔτε τὰς πράξεις ἁπάσας οὔτε τῶν λόγων τοὺς πλείστους εἰκὸς εἶναι μνημονεύεσθαι διὰ τοσούτων‘. („Ephoros hat es im ersten Buch seiner Historien auf diese Weise erklärt, indem er den Umgang der jüngeren Historiker mit der alten Geschichte rekapitulierte: Wer mit dem Anspruch auf größte Genauigkeit über zeitgenössische Ereignisse schreibt, den halte ich für sehr zuverlässig, wer aber in der selben Weise über Ereignisse der alten Zeit schreibt, den halte ich für sehr unglaubwürdig, weil ich der Meinung bin, daß es weder möglich ist, alle Ereignisse noch die Mehrzahl der Reden über einen so langen Zeitraum im Gedächtnis zu behalten.“ mit WALBANK 1965, 5, u. FORNARA 1983, 145. 200 Die Diskussion zur Existenz solcher Ansprachen in der Antike hat zwar noch zu keiner communis opinio geführt, aber die akustischen wie mnemotechnischen Probleme ihrer Dokumentation verdeutlicht (vgl. HANSEN 1993; PRITCHETT 1994; EHRHARDT 1995; HORNBLOWER 1996, 82f.; PRITCHETT 2002 u. IGLESIAS ZOIDO 2007).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

auf der einen und einer etwa im Senat gehaltenen und dort möglicherweise sogar aufgezeichneten Rede201 auf der anderen Seite eigentlich auf der Hand liegen. Wenn man an den letzten Punkt anknüpfend auch an diejenigen Reden denkt, die von ihrem Verfasser schriftlich festgehalten und sogar publiziert wurden, läßt sich das Problem der Fiktionalität noch von einer anderen Seite in den Blick nehmen: Denn in der Regel hat ein antiker Historiker unter diesen Umständen auf eine Wiedergabe verzichtet, wie sich aus den gelegentlichen Verweisen auf die Verfügbarkeit der Rede in anderer Form ergibt. Solche recusationes haben sowohl Sallust in Bezug auf Ciceros erste Catilinarische Rede202 als auch Livius anläßlich einiger Reden des älteren Cato, wie derjenigen für die Rhodier, verfaßt: non inseram simulacrum viri copiosi, quae dixerat referendo; ipsius oratio scripta extat, Originum quinto libro inclusa. Ich will kein Bild des wortgewaltigen Mannes einfügen, indem ich wiedergebe, was er gesagt hat; seine Rede liegt schriftlich vor, und zwar im fünften Buch der ‚Origines‘.203

Der Grund für diese Zurückhaltung ist wohl im Ideal stilistischer Einheitlichkeit zu suchen, das sich aus dem literarischen Anspruch der Gattung ergibt. Denn vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, eine vorliegende Rede umzuformulieren, selbst wenn man versuchen sollte, einzelne persönliche Züge des Sprechers im Sinne einer προσωποποιία beizubehalten.204 Dieser Konkurrenzsituation haben sich die Historiker in der Regel entzogen.205 Die einzige bekannte Ausnahme bildet die von Tacitus in den Annalen wiedergegebene Rede,206 die von Kaiser Claudius 48 n. Chr. in Lyon gehalten und dort als Inschrift überliefert wurde.207 Beide Versionen weisen zwar eine ähnliche Argumentationsstruktur auf, unterscheiden sich in stilistischer Hinsicht aber so deut___________________________

201 Vgl. hierzu PITCHER 2009, 104. 202 Vgl. Sall. Catil. 31,6: tum M. Tullius consul, …, orationem habuit luculentam atque utilem rei publicae, quam postea scriptam edidit („Dann hielt der Konsul M. Tullius … eine glänzende und dem Gemeinwesen nützliche Rede, die er später schriftlich festhielt und publiziert.“) mit v.a. BROCK 1995, 212f. 203 Vgl. Liv. 45,25,3 (Cato frr. 163-167 M) sowie ferner 38,54,11 (Cato fr. 67 M) u. 39,42,6-42,7 (Cato frr. 69-71 M) mit BROCK 1995, 209f. 204 Vgl. z.B. MARINCOLA 2007b, 129: „At the same time, the historian might by subtle means try to individualize his speakers either by the form in which they speak (…) or by the language they use (…), though for the latter they do not imitate the style of a speaker so much as perhaps use a few phrases or idioms which would remind the audience of the speaker (…).“; zur These stilistischer Charakterisierung bei Livius vgl. PASCHKOWSKI 1966, v.a. 267; OGILVIE 1965, 19f., u. BERNARD 2000, 89-112, sowie dag. WALSH 1961, 229f., u. OAKLEY 1997, 118f. 205 Vgl. BROCK 1995, v.a. 218. 206 Vgl. Tac. ann. 11,24,1-24,7 mit z.B. ULLMANN 1927, 230-238, u. LAIRD 1999, 134. 207 Zur 1528 entdeckten Inschrift (CIL XIII 1668) vgl. PERL 1996; zur nicht zu klärenden Frage, ob diese Rede durch ihre Aufstellung in Lyon in Rom als bekannt vorausgesetzt werden kann, vgl. BROCK 1995, 210-212, der gegen die – oft stillschweigend – vorausgesetzte Annahme argumentiert, daß Taticus’ Leser diese Rede kannten.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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lich von einander,208 daß dieses Beispiel gut illustrieren kann, mit welchen Unterschieden selbst dann zu rechnen ist, wenn die Vorlage einer Rede existiert hat.209 Diese Beobachtungen gelten in gleicher Weise auch für den – weitaus häufigeren – Fall, daß die Vorlage einer Rede im Geschichtswerk eines Vorgängers existiert: Auch zwischen diesen beiden Versionen besteht in der Regel ein komplexes Verhältnis aus inhaltlicher Anlehnung und stilistischer aemulatio.210 Ein genauerer Blick auf die antike Debatte zur Frage der Fiktionalität der Reden in der Geschichtsschreibung legt also die Vermutung nahe, daß die meisten Historiker gar nicht den Anspruch auf die wörtliche Wiedergabe des häufig nicht existenten oder nur schwer dokumentierbaren Originals erhoben haben. Vielmehr war es offenkundig ihr Anliegen, durch weitgehende Umformulierung, durch den demonstrativen Verzicht auf die Aufnahme bereits publizierter Reden und durch die Verwendung von Einleitungen wie in hunc modum locutus fertur,211 die die Fiktionalität des Wortlautes zusätzlich betonen, dem Leser zu verdeutlichen, daß diese Partien auch als ihre eigene Stimme und als Teil der historiographischen Darstellung verstanden werden sollen. Damit ist jedoch das Risiko verbunden, daß sie vom Leser gar nicht mehr als fremde Stimmen erkannt werden. Mit diesem – von den Zeitgenossen ebenfalls bereits intensiv diskutierten – Problem kommen wir zum zweiten Teil des Überblicks über die antike Debatte. Die hier formulierte Kritik beschäftigt sich nicht mit dem Verhältnis der Reden zur dargestellten Realität, sondern mit ihrer quantitativen Relation zum übrigen Text des Werkes. Dabei wird neben der Quantität auch ihre stilistische Qualität und rhetorische Ausarbeitung als unverhältnismäßig kritisiert. Diese Diskussion läßt sich schon für das 4. Jh. v. Chr. belegen, wenn der von Dionysios in seiner Schrift über Thukydides angeführte Historiker Kratippos von Athen in diese Zeit zu datieren ist, wie heute wieder mehrheitlich angenommen wird.212 Kratippos soll das Werk des Thukydides fortgesetzt, auf Reden aber verzichtet haben, weil er weder von ihrer Nützlichkeit für die Präsentation der historischen Inhalte noch von ihrem Beitrag zur Leserfreundlichkeit von Thukydides’ Text überzeugt war: ___________________________

208 Vgl. GRIFFIN 1982 u. PITCHER 2009, 106f. Zu einem stilistischen Einfluß von Livius (v.a. Liv. 4,3,2-5,6) auf Claudius’ Sprache in dieser Rede LAST / OGILVIE 1958. 209 Vgl. z.B. WOODMAN 1988, 14f.: „… if one of Thucydides’ readers happened to get hold of a transcript of a speech which also appears in his work, he would have (as it were) two versions of the ‘same’ speech: the original and Thucydides’. ... This ‘bifocal’ capacity of the ancients is so fundamentally alien to modern historical thought that we often fail to come to terms with it or recognise the chasm between classical and modern historiography which it implies.“ 210 Vgl. MARINCOLA 2007b, 129f.: „When a speech already existed in a predecessor’s work, it seems clear that the ancient historian felt himself bound in some measure by the content. He felt free – indeed he may have felt obligated (…) – to modify it, recast it, ‘improve’ it, and recontextualize it based on his own approach and the needs of his own history.“ 211 Zur relativierenden Funktion vgl. z.B. LAIRD 1999, 124f., u. MARINCOLA 2007b, 120. 212 Zu dieser Forschungsdebatte vgl. z.B. PRENTICE 1927 u. MEISTER 1990, 65-68.

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ὧν προνοούμενος ἔοικεν ἀτελῆ τὴν ἱστορίαν καταλιπεῖν, ὡς καὶ Κράτιππος ὁ συνακμάσας αὐτῷ καὶ τὰ παραλειφθέντα ὑπ' αὐτοῦ συναγαγὼν γέγραφεν, οὐ μόνον ταῖς πράξεσιν αὐτὰς ἐμποδὼν γεγενῆσθαι λέγων, ἀλλὰ καὶ τοῖς ἀκούουσιν ὀχληρὰς εἶναι. τοῦτό γέ τοι συνέντα αὐτὸν ἐν τοῖς τελευταίοις τῆς ἱστορίας φησὶ μηδεμίαν τάξαι ῥητορείαν, πολλῶν μὲν κατὰ τὴν ᾿Ιωνίαν γενομένων, πολλῶν δ' ἐν ταῖς ᾿Αθήναις, ὅσα διαλόγων καὶ δημηγοριῶν ἐπράχθη. εἴ γέ τοι τὴν πρώτην καὶ τὴν ὀγδόην βύβλον ἀντιπαρεξετάζοι τις ἀλλήλαις, οὔτε τῆς αὐτῆς ἂν προαιρέσεως δόξειεν ἀμφοτέρας ὑπάρχειν οὔτε τῆς αὐτῆς δυνάμεως· ἣ μὲν γὰρ ὀλίγα πράγματα καὶ μικρὰ περιέχουσα πληθύει τῶν ῥητορειῶν, ἣ δὲ περὶ πολλὰς καὶ μεγάλας συνταχθεῖσα πράξεις δημηγορικῶν σπανίζει λόγων. Diese Bedenken scheinen auch der Grund gewesen zu sein, warum er sein Werk unvollendet gelassen hat, wie auch Kratippos, sein Zeitgenosse und Sammler seiner Hinterlassenschaft, schreibt, und zwar unter Verweis darauf, daß sie nicht nur der Darstellung der Ereignisse hinderlich, sondern den Lesern zudem lästig seien. Weil er dies dann auch selbst bemerkt habe, so Kratippos weiter, habe er in den letzten Abschnitten seines Werkes keine Reden mehr eingefügt, obwohl es viele Ereignisse sowohl in Ionien als auch in Athen gab, die eine Darstellung mit Hilfe von Dialogen und Reden erfordert hätten.213

Diese Meinung scheint Kratippos in seiner Zeit jedoch weitgehend alleine vertreten zu haben, zumindest wenn man dem wohl auf Theophrast zurückgehenden und insbesondere von Polybios in zahlreichen polemischen Äußerungen über seine Vorgänger214 vertretenen Modell folgt, das von einer kontinuierlichen Degeneration der seriösen Historiographie der klassischen Zeit durch die Tendenz zur Rhetorisierung im Hellenismus ausgeht.215 Auch wenn man dieser – nicht zuletzt auf moralischen Wertungen beruhenden – Rekonstruktion heute mit guten Gründen skeptisch gegenübersteht, so kann doch nicht bestritten werden, daß sich die generell gestiegene Bedeutung der Rhetorik in dieser Zeit auch auf die Historiographie ausgewirkt hat, und zwar sowohl auf den Stil im allgemeinen wie der Reden im besonderen. Dies kann nicht zuletzt die von Polybios beschriebene Erwartungshaltung seinem eigenen Werk gegenüber zeigen,216 auch wenn er sich in der Folge von ihr distanziert und für sich einen moderaten und ausschließlich an inhaltlichen Kriterien orientierten Umgang mit Reden in Anspruch nimmt.217 ___________________________

213 214 215 216

Vgl. Dion. Hal. de Thuc. 16 mit WIATER 2011, 130-165. Zur Polemik als Teil der Autoritätskonstruktion vgl. allg. MARINCOLA 1997, 217-236. Dieses Modell wurde vielfach übernommen: vgl. z.B. PETER 1911, v.a. 416-420. Vgl. Pol. 36,1,1-1,2: ἴσως δέ τινες ἐπιζητοῦσι πῶς ἡμεῖς οὐκ ἐν ἀγωνίσματι κεχρήμεθα προφερόμενοι τοὺς κατὰ μέρος λόγους, τοιαύτης ὑποθέσεως ἐπειλημμένοι καὶ τηλικαύτης πράξεως· ὅπερ οἱ πλεῖστοι ποιοῦσι τῶν συγγραφέων, εἰς ἀμφότερα τὰ μέρη διατιθέμενοι τοὺς ἐνόντας λόγους. („Vielleicht werden manche fragen, warum wir nicht, einen solchen Stoff in Händen, zu einem Ereignis von solcher Bedeutung gelangt, die Gelegenheit benutzen und die Reden, die jeder einzelne gehalten hat, zu Prunkstücken unserer rhetorischen Kunst ausgestalten, wie es die meisten Historiker machen, die alle in der Sache liegenden Argumente nach beiden Seiten hin entwickeln.“ [Übers. DREXLER 1963]). 217 Vgl. Pol. 36,1,3-1,7 mit PÉDECH 1964, 254-302; WALBANK 1965, 4-18; SACKS 1981, 79-95; DAVIDSON 1991; MARINCOLA 2001, 128-133, u. WIATER 2010.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Ein völliger Verzicht auf Reden, wie ihn außer Kratippos nur Pompeius Trogus gefordert hat,218 kommt für Polybios jedoch nicht in Frage. Diese Position, in der man die communis opinio der zeitgenössischen Debatte erblicken kann, läßt sich im 1. Jh. v. Chr. besonders gut bei Diodor am Anfang des 20. Buches greifen: τοῖς εἰς τὰς ἱστορίας ὑπερμήκεις δημηγορίας παρεμβάλλουσιν ἢ πυκναῖς χρωμένοις ῥητορείαις δικαίως ἄν τις ἐπιτιμήσειεν· οὐ μόνον γὰρ τὸ συνεχὲς τῆς διηγήσεως διὰ τὴν ἀκαιρίαν τῶν ἐπεισαγομένων λόγων διασπῶσιν, ἀλλὰ καὶ τῶν φιλοτίμως ἐχόντων πρὸς τὴν τῶν πράξεων ἐπίγνωσιν . καίτοι γε τοὺς ἐπιδείκνυσθαι βουλομένους λόγου δύναμιν ἔξεστι κατ' ἰδίαν δημηγορίας καὶ πρεσβευτικοὺς λόγους, ἔτι δὲ ἐγκώμια καὶ ψόγους καὶ τἄλλα τὰ τοιαῦτα συντάττεσθαι· τῇ γὰρ οἰκονομίᾳ τῶν λόγων χρησάμενοι καὶ τὰς ὑποθέσεις χωρὶς ἑκατέρας ἐξεργασάμενοι κατὰ λόγον ἂν ἐν ἀμφοτέραις ταῖς πραγματείαις εὐδοκιμοῖεν. νῦν δ' ἔνιοι πλεονάσαντες ἐν τοῖς ῥητορικοῖς λόγοις προσθήκην ἐποιήσαντο τὴν ὅλην ἱστορίαν τῆς δημηγορίας. λυπεῖ δ' οὐ μόνον τὸ κακῶς γραφέν, ἀλλὰ καὶ τὸ δοκοῦν ἐν τοῖς ἄλλοις ἐπιτετεῦχθαι τόπων καὶ καιρῶν τῆς οἰκείας τάξεως διημαρτηκός. διὸ καὶ τῶν ἀναγινωσκόντων τὰς τοιαύτας πραγματείας οἱ μὲν ὑπερβαίνουσι τὰς ῥητορείας, κἂν ὅλως ἐπιτετεῦχθαι δόξωσιν, οἱ δὲ διὰ τὸ μῆκος καὶ τὴν ἀκαιρίαν τοῦ συγγραφέως ἐκλυθέντες τὰς ψυχὰς τὸ παράπαν ἀφίστανται τῆς ἀναγνώσεως, οὐκ ἀλόγως τοῦτο πάσχοντες τὸ γὰρ τῆς ἱστορίας γένος ἁπλοῦν ἐστι καὶ συμφυὲς αὑτῷ καὶ τὸ σύνολον ἐμψύχῳ σώματι παραπλήσιον, οὗ τὸ μὲν ἐσπαραγμένον ἐστέρηται τῆς ψυχικῆς χάριτος, τὸ δὲ τὴν ἀναγκαίαν σύνθεσιν ἔχον εὐκαίρως τετήρηται καὶ τῷ συμφυεῖ τῆς ὅλης περιγραφῆς ἐπιτερπῆ καὶ σαφῆ παρίστησι τὴν ἀνάγνωσιν. Mit Recht tadelt man die Leute, die in ihren Geschichtswerken überlange Reden einfügen oder rhetorische Stilmittel in dichter Aufeinanderfolge gebrauchen. Denn sie zerreißen nicht nur den Zusammenhang ihrer Erzählung dadurch, daß sie solche Reden am falschen Platze einfügen – sie zerstören damit auch das Interesse derer, denen es ernsthaft um die Kenntnis der Dinge zu tun ist. Gleichwohl steht es jenen, die glauben, die Kraft ihrer Worte beweisen zu müssen, frei, davon unabhängig Reden und Botenberichte zu erdichten, sowie Lob- und Tadelsreden und ähnliches dieser Art. Wenn sie nämlich diese Reden im richtigen Maße gebrauchten und in ihrer Darstellung beide Programme von einander getrennt ausarbeiteten, dann geschähe es wohl, daß sie sich vernünftigerweise in beiden Beschäftigungen auszeichneten. Heutzutage freilich kommt es vor, daß einige das Übergewicht auf die Rhetorik legen und ihre ganze Darstellung historischer Ereignisse zu einem Zusatz der Rede verkümmern lassen. Doch es betrübt nicht nur, wenn der Stil schlecht ist, sondern auch, wenn ganz offenkundig in anderer Hinsicht die Aufgabe zufriedenstellend gelöst scheint, Ort und Zeit aber ihrer gebührenden Zuordnung verlustig gehen. So kommt es, daß unter den Lesern solcher Werke die einen die rhetorischen Partien einfach überspringen, auch wenn diese ihren Zweck voll erfüllt zu haben scheinen, die anderen durch die Länge der Lektüre und die Überschwenglichkeit des Geschichtsschreibers ermüden und die Lektüre ganz aufgeben. Denn die Geschichtsschreibung ist als literarische Gattung schlicht und wesensgetreu sowie alles in allem einem belebten Körper ähnlich. Entreißt man diesem ein Stück, so verliert dieses seinen ihm innewohnenden Reiz. Was aber den notwendigen Zusammenhang bewahrt, das behauptet seinen angemessenen Platz und verschafft der Lektüre durch die Wesenstreue der gesamten Beschreibung Vergnügen und Klarheit.219

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218 Vgl. Iust. 38,3,11 mit FORNARA 1983, 143; LAIRD 1999, 136f., u. SCARDINO 2007, 3. 219 Vgl. Diod. 20,1,1-1,5 [Übers. VEH / WIRTH 2005]; mit z.B. WALBANK 1965, 5f., u. FORNARA 1983, 149f: „The source of Diodorus is not Ephorus but Duris of Samos.“

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Eine weitere mit der übermäßigen Verwendung und Rhetorisierung von Reden verbundene Gefahr wird von Diodor zwar nicht erwähnt, ergibt sich aber folgerichtig aus diesen Überlegungen: Wenn der Historiker selbst in erster Linie als Rhetor und die Reden daher nur noch als seine eigene Stimme wahrgenommen werden, dann ist ein Übermaß an Fiktionsbewußtsein erreicht, das die literarische Strategie in ihrer Wirkung bedroht. Denn eine Perspektivierung der historischen Erzählung ist nur solange möglich, wie dem Leser ‚fremde‘ Stimmen auch als solche erscheinen. Dies ist möglicherweise auch der Hintergrund der zuerst beim Alexanderhistoriker Kallisthenes von Olynthos belegten220 und dann unter anderem von Dionysios 221 und Lukian 222 aufgegriffenen Forderung, daß die Reden vor allem dem Charakter der historischen Personen entsprechen sollen. Fügt man diese beiden Teile der antiken Diskussion zusammen, zeigt sich, daß die Zeitgenossen bei der Verwendung der Reden in der Geschichtsschreibung weniger mit der Frage beschäftigt waren, wie groß die Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Originals ist, sondern ob die vom Autor verfaßte Version sowohl plausibel in Hinsicht auf die historische Situation als auch so eigenständig im Vergleich mit dem übrigen Text ist, daß sie dem Leser erlaubt, mit ihrer Hilfe für kurze Zeit die Blickrichtung und den Standpunkt einer anderen Person einzunehmen. Diese Perspektivierung der Darstellung durch die Figurenrede kommt dann am besten zustande, wenn der Rezipient die Reden gerade nicht als vorgefundene und unverändert übernommene Dokumente, sondern als bewußt gestaltete und mit dem Rest des Werkes eng interagierende Teile der literarischen Darstellung begreift. Zugleich darf aber die Wahrnehmung der Reden als Stimme des Autors nicht so weit gehen, daß ihr Charakter als fremde Stimmen ganz verloren geht.223

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220 Vgl. FGrH 124 F 44: ὁ μὲν γὰρ ἱστοριογράφος Καλλισθένης φησί· δεῖ τὸν γράφειν τι πειρώμενον μὴ ἀστοχεῖν τοῦ προσώπου, ἀλλ' οἰκείως αὐτῶι τε καὶ τοῖς πράγμασι τοὺς λόγους θεῖναι. („Denn der Historiker Kallisthenes sagt: ‚Wer auch immer etwas schreiben will, darf nicht den Charakter der Person verfehlen, sondern muß seine Reden in Übereinstimmung mit diesem und der Situation gestalten.‘“); zum zeitgenössischem Kontext z.B. WALBANK 1965, 5f., u. FORNARA 1983, 145f. 221 Vgl. Dion. Hal. Pomp. 3,20.5,6 u. de imiatione frg. 31,3; zu den Ausführungen im Brief an Pompeius Geminus als ‚zweite Auflage‘ der verlorenen Schrift de imitatione vgl. SACKS 1983, 65-87; WEAIRE 2002 u. WEAIRE 2005, 247f. 222 Vgl. Lukian. hist. conscr. 58: ἢν δέ ποτε καὶ λόγους ἐροῦντά τινα δεήσῃ εἰςάγειν, μάλιστα μὲν ἐοικότα τῷ προσώπῳ καὶ τῷ πράγματι οἰκεῖα λεγέσθω, ἔπειτα ὡς σαφέστατα καὶ ταῦτα. πλὴν ἐφεῖταί σοι τότε καὶ ῥητορεῦσαι καὶ ἐπιδεῖξαι τὴν τῶν λόγων δεινότητα. („Wenn es aber erforderlich ist, jemanden eine Rede halten zu lassen, so sollte diese vor allem zum Charakter der Person passen und mit der Situation übereinstimmen, außerdem sollte sie wiederum möglichst klar formuliert sein. Davon abgesehen ist es Dir gestattet, als Redner zu glänzen und Dein ganzes rhetorisches Talent zur Geltung zu bringen.“). 223 Vgl. hierzu ausführlicher PAUSCH 2010c.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Ist dieses störanfällige Gleichgewicht für den Leser gegeben, dann erlaubt die Technik der Figurenreden die Wiedergabe verschiedener Meinungen und damit die multiperspektivische Darstellung des vergangenen Geschehens, die in einer literarisch ebenso ansprechenden wie geschichtsdidaktisch überzeugenden Form erfolgt. Eine erfolgreiche Verwendung dieses – von Homer übernommenen224 – Verfahrens zur mehrstimmigen und polyphonen Präsentation der Geschichte ist in den letzten Jahren vor allem für Thukydides überzeugend herausgearbeitet worden.225 Dabei wurde zu Recht die Wirkung auf den Leser stark betont, der als externer Rezipient aller Reden in einem Geschichtswerk fungiert und daher die konträren Positionen im Lauf seiner Lektüre miteinander vergleichen kann und auf diese Weise zur Partizipation an der historischen Urteilsbildung und zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Text angehalten wird.226 Daß dieses Gleichgewicht bereits in der Antike nicht zu allen Zeiten und für alle Leser gegeben war, kann daher kaum verwundern. Welche Veränderungen sich dabei schon in der Rezeption ein und desselben Werks ergeben, zeigt nicht zuletzt ab urbe condita: Die Art der Verwendung der Reden läßt sich gut mit dem bei Diodor greifbaren und im 1. Jh. v. Chr. wahrscheinlich weit verbreiteten Konzept erklären. Dennoch wird gerade Livius schon in der frühen Kaiserzeit nicht zuletzt als eine Art historiographischer Redelehrer wahrgenommen,227 wie sich etwa an auf die rhetorischen Passagen konzentrierten Auswahlausgaben zeigt.228 Ein Grund für diese Form der Rezeption ist sicherlich in der Bedeutung, die der ___________________________

224 Zur analogen Funktion der Reden im Epos vgl. v.a. DE JONG 1987, 160: „As a result, speeches offer a richly varied, often emotionally coloured spectre of interpretations, evaluations and verbalizations. … It is one of the Iliad’s attractions that it is, in epic terminology, πολύφημος: ‘many voiced’.“ 225 Vgl. v.a. ROOD 1998, 39-54; DEWALD 1999, 233-244; ROOD 2004a, 124; MORRISON 2006b; RENGAKOS 2006b; SCARDINO 2007, 383-701, u. HAGMAIER 2008, 245-247, sowie bereits MEYER 1899, v.a. 380. 226 Vgl. z.B. MORRISON 2006b, v.a. 252: „Thucydides has structured his history in such a way as to invite and challenge his reader to become a participant in the project of historical analysis, using speech and narrative as means to engage the reader.“ 227 Vgl. v.a. Sen. de ira 1,20,6: apud disertissimum virum Liuium; Tac. Agr. 10: veterum eloquentissimus auctor; Tac. ann. 4,34,3: eloquentiae ac fidei praeclarus in primis u. Quint. inst. 10,1,101: tum in contionibus supra quam enarrari potest eloquentem, ita quae dicuntur omnia cum rebus tum personis accommodata sunt. 228 Eine solche wird von Sueton als ein Grund für die Ermordung des Mettius Pompusianus durch Domitian erwähnt: vgl. Suet. Dom. 10,3: quod habere imperatoriam genesim vulgo ferebatur, et quod depictum orbem terrae in membrana contionesque regum ac ducum ex Tito Livio circumferret, quodque servis nomina Magonis et Hannibalis indidisset („… weil es von ihm allgemein hieß, daß sein Horoskop ihm den Thron verspreche, weil er eine Weltkarte auf Pergament sowie die Reden der Könige und Feldherren aus dem Werk des Titus Livius mit sich herumtrug und weil er seinen Sklaven die Namen Mago und Hannibal gegeben hatte.“). Auch wenn der Kontext zu einer gewissen Vorsicht mahnen sollte, kann die Stelle doch als Hinweis auf die Existenz solcher Zusammenstellungen in dieser Zeit verstanden werden.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Deklamation gerade mit historischen Themen in dieser Zeit zukam, zu suchen.229 Doch auch unabhängig davon stellt die Wahrnehmung der Geschichtsschreibung im Ganzen – und nicht nur mit Blick auf die Reden – unter primär rhetorischen Gesichtspunkten eine wiederkehrende Form der Beschäftigung dar, die bereits in der Antike auf eine lange Tradition zurückblicken konnte.230 Wir wollen uns im folgenden aber nicht in erster Linie mit den vielverhandelten Fragen nach dem Verhältnis der Reden in ab urbe condita zur rhetorischen Theorie und Praxis ihrer Zeit231 oder nach dem Beitrag zur Charakterisierung der Sprecher232 beschäftigen, sondern das Potential dieser literarischen Technik zur multiperspektivischen Auffächerung der Erzählung und der damit verbundenen Involvierung des Lesers mit den sogenannten ‚Barbarenreden‘ an einem besonders auffälligen Beispiel aus der lateinischen Historiographie verdeutlichen. b) ‚Barbarenreden‘: Kritische Stimmen zu den Erfolgen Roms Die für Livius’ Darstellung der römischen Geschichte generell zentralen Anliegen der polyphonen Darstellung und der Involvierung des Lesers lassen sich in verschiedenen Formen und in unterschiedlicher Intensität bei so gut wie allen in ab urbe condita wiedergegebenen Reden beobachten, da mit diesen nicht nur die Option zur Schilderung konträrer Meinungen oder abweichender Überlieferungstraditionen verbunden ist,233 sondern mit der Imagination der Redesituation stets ___________________________

229 Vgl. z.B. Sen. suas. 1: deliberat Alexander, an Oceanum naviget; 2: trecenti Lacones contra Xersen missi, cum treceni ex omni Graecia missi fugissent, deliberant, an et ipsi fugiant; suas. 4: deliberat Alexander magnus, an Babylona intret, cum denuntiatum esset illi responso auguris periculum; suas. 5: deliberant Athenienses, an tropaea Persica tollant Xerse minante rediturum se, nisi tollerentu); suas. 6: deliberat Cicero, an Antonium deprecetur u. suas. 7: deliberat Cicero, an scripta sua comburat promittente Antonio incolumitatem, si fecisset mit BONNER 1949, v.a. 156f.; HOSE 1994, 16f., u. MIGLIARIO 2007, 51-149. 230 Hier spielen Ciceros Aussagen zur Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle (vgl. v.a. Cic. leg. 1,5 u. de or. 2,62-65; zum zeitgenössischen Kontext s. oben S. 60); zu den antiken Zeugnissen allg. z.B. FORNARA 1983, 143-154, u. SCARDINO 2007, 3-6. 231 Für eine starke Anlehung an die Rhetorenschule vgl. TAINE 1856, 288-318; CANTER 1917; CANTER 1918; ULLMANN 1927, 49-196; ULLMANN 1929, u. WALSH 1961, 221225, sowie dag. PASCHKOWSKI 1966, 100f. Anm. 1 u. 148 Anm. 1; BRISCOE 1973, 1722; BRISCOE 1981, 1 Anm. 1; BURCK 1992, 85f., u. LUCE 1993, 71f. 232 Auch diese Rezeption setzt bereits in der Antike ein: vgl. Quint. inst. 9,2,29-37 u. 10,1,101 sowie ferner ULLMANN 1927, 5-7; WALSH 1961, 219-244; TREPTOW 1964; PASCHKOWSKI 1966 u. BERNARD 2000, 87-129. 233 Vgl. KOHL 1872, 9; BORNECQUE 1967 [1933], 400f., u. FORSYTHE 1999, 79: „In fact, the historical speech is a convenient means by which the historian can set forth disagreeable or unpopular opinions by ascribing them to a person in the narrative. By doing so the historian can do justice to Clio by airing both sides of an issue, but he avoids having to express thoughts critical of Rome in the impersonal voice of the author.“

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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auch die stärkere Dramatisierung des Geschehens einhergeht.234 Für den zweiten Punkt spielt die Einführung eines internen Publikums eine zentrale Rolle, dessen Verhältnis zu den externen Rezipienten erst in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Forschung gerückt ist.235 Dabei wird vor allem die Vorbildfunktion der internen Zuhörer für die vom Autor gewünschte Reaktion des Lesers betont,236 während durch die Analyse der gleichen Technik etwa bei Thukydides die Vermutung einer deutlich komplizierteren Interaktion nahegelegt wird.237 Prinzipiell ließe sich daher jede Rekapitulation238 aus zwei unterschiedlichen Perspektiven als Beispiel für diese literarische Technik herausgreifen. Selbst wiederholte Schilderungen, die von zwei Personen der gleichen Seite vorgenommen werden und sich daher nur in Nuancen unterscheiden, führen zu einer stärkeren Beschäftigung mit der Bewertung und Bedeutung dieser Ereignisse. Ein Paradebeispiel für dieses Phänomen sind die Debatten um die Bewilligung eines Triumphes für einen römischen Feldherren, die Livius in großer Zahl in seinem Werk wiedergibt239 und die nicht zuletzt dem Zweck dienen, dem Leser die kontroversen Sichtweisen der Protagonisten und damit die Schwierigkeit der richtigen Beurteilung historischer Leistung eindrücklich vor Augen zu führen, wie vor allem die Untersuchung von MIRIAM R. PELIKAN PITTENGER zeigen konnte.240 Das gleiche gilt für den Fall, daß der Rekapitulation durch nur eine historische Person eine durch den Erzähler gegenüber gestellt wird, wie es etwa im 26. Buch geschieht, wenn die erste Hälfte des Krieges zunächst im Erzähltext241 und dann in einer Rede Scipios vor seinen Soldaten242 rekapituliert wird.243 Als Beispiele für eine polyphone Form der Präsentation, die sich im Laufe der Lektüre aus den Standpunkten verschiedener Sprecher zusammensetzt, bieten sich auch bedeuten___________________________

234 Das ist in der Forschung seit langem gesehen worden: vgl. KOHL 1872, 3; BORNECQUE 1967 [1933], 402f.; WALSH 1961, 234f.; MILLER 1975, 51, u. TRÄNKLE 1977, 121. 235 Vgl. SOLODOW 1979, v.a. 259; FELDHERR 1998, v.a. 9-12, u. CHAPLIN 2000, 50-54. 236 Vgl. aber LEVENE 2006, 75f.: „Of course, this is not a simple process: for one thing, the reader is not obliged to follow that guide, and, for another, internal audiences can sometimes be shown up as no less unreliable than any other interpreter would be.“ 237 Vgl. z.B. MORRISON 2006b, 256-261. 238 Zu den Rückblicken als Abweichungen von der linearen Erzählzeit s. oben S. 89-101. 239 Vgl. v.a. Liv. 26,21,1-21,5 mit CHAPLIN 2000, 140-156, u. PITTENGER 2008, 150-159; Liv. 31,47,4-49,3 mit CHAPLIN 2000, 146-149, u. PITTENGER 2008, 168-180; Liv. 36,39,3-40,14 mit CHAPLIN 2000, 151f., u. PITTENGER 2008, 187-195; Liv. 38,44,950,3 mit KERN 1960, 81; WALSH 1993, 178; CHAPLIN 2000, 101-103; u. PITTENGER 2008, 196-230; Liv. 39,4,1-5,17 mit CHAPLIN 2000, 153f., u. PITTENGER 2008, 196212; Liv. 45,35,5-39,20 mit FLAIG 2000, 142-144; EGELHAAF-GAISER 2006, 53f., u. PITTENGER 2008, 246-274. 240 Vgl. PITTENGER 2008, v.a. 275-298, sowie ferner CHAPLIN 2000, 140-156, u. ITGENSHORST 2005, 148-179. 241 Vgl. Liv. 26,37,1-37,9 mit BURCK 1962 [1950], 19-26, u. GÄRTNER 1975, 28-34. 242 Vgl. Liv. 26,41,3-41,25 mit BURCK 1962 [1950], 125-127, u. FELDHERR 1998, 71f. 243 Vgl. ferner z.B. Liv. 38,17,1-17,20; 42,32,6-35,2; 45,22,1-25,1 u. 45,40,9-42,1.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

de Schlachten an, die nach der Darstellung durch den Erzähler häufig einem vielstimmigen Deutungsprozeß unterzogen werden. Unter dieser Fragestellung hat die Behandlung der römischen Niederlage bei Cannae in den letzten Jahren großes Interesse in der Forschung gefunden,244 wobei unter anderem JANE CHAPLIN überzeugend zeigen konnte, welche Unterschiede in den von beiden Seiten vorgenommenen Bewertungen zum Vorschein kommen.245 Wir wollen uns hier jedoch nicht mit der wiederholten Rekapitulation eines einzelnen Ereignisses beschäftigen, sondern diejenigen Äußerungen in den Blick nehmen, in denen Angehörige anderer Völker eine generelle Kritik an den Zielen und Mitteln der römischen Außenpolitik in den Mund gelegt wird. Diese Stellen, die sich nicht nur bei Livius, sondern in vielen Werken der lateinischen Historiographie finden lassen und für die sich die Bezeichnung als ‚Barbarenreden‘ eingebürgert hat, bieten ein besonders gutes Beispiel für die mit Hilfe von Figurenreden erzeugte Polyphonie.246 Nach einem kurzen Blick auf die Entwicklung der Darstellungsstrategie bei Caesar und Sallust sowie auf ihre weitere Entwicklung in der Kaiserzeit werden die einschlägigen Passagen bei Livius – die über das ganze Werk verteilt sind – im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen stehen. Das früheste noch greifbare247 und zugleich eines der bekanntesten Beispiele aus dieser Textgruppe findet sich im siebten Buch von Caesars commentarii de bello Gallico und steht im Zusammenhang mit der Belagerung von Alesia 52 v. Chr.248 Es handelt sich um die Rede,249 die Caesar den Gallier Critognatus in der Versammlung der Belagerten halten läßt und in der dieser dem Vorschlag eines Ausbruchversuchs sein Votum für das Durchhalten in der Stadt entgegensetzt, selbst wenn man hierfür auf das Mittel des Kannibalismus zurückgreifen müsse.250 ___________________________

244 Vgl. z.B. JAEGER 1997, 99-107, u. JAEGER 2003, 219. 245 Vgl. CHAPLIN 2000, 50-72, v.a. 53: „Cannae ist an unusually helpful demonstration of how speakers and audiences determine the meaning of an exemplum since it highlights the contrast between Roman and Carthaginian deployment of the past.“ 246 Inwieweit damit bei römischen Rezipienten eine multiperspektivische Wahrnehmung erreicht wurde, wird allerdings kontrovers diskutiert: vgl. z.B. FUCHS 1938, 15-17; VOLKMANN 1964; STIER 1969, 448-451; STÄDELE 1981, v.a. 249, BURCK 1982 u. ADLER 2006, v.a. 384; s. ausführlicher unten S. 187-189. 247 Reden sind in der römischen Historiographie seit Cato belegt, waren aber wohl von Anfang an Teil ihres literarischen Repertoires. Hinweise auf Personen der Gegenseite als Sprecher finden sich zuerst bei Coelius Antipater (vgl. BECK / WALTER 2004, 38: „Die Prägekraft, die vom coelianischen Werk auf die weitere Tradition ausging (...), dürfte in dieser Hinsicht mithin am größten gewesen sein.“). 248 Vgl. Caes. Gall. 7,68-90. Unabhängig von der Debatte um die Abfassung ist beim 7. Buch von der raschen Publikation 52/51 v. Chr. auszugehen (vgl. WISEMAN 1998b, 6). 249 Die Ausführungen des – bis dahin übrigens nicht erwähnten Critognatus – stellen die längste direkte Rede im Bellum Gallicum dar; vgl. Caes. Gall. 7,77,1-77,16 mit v.a. RASMUSSEN 1963, 47-54; SCHIEFFER 1972; STÄDELE 1981, 254-256; RIGGSBY 2006, 107-118, u. TSITSIOU-CHELIDONI 2010, 139-145. 250 Vgl. Caes. Gall. 7,77,1-77,13.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Zur Begründung seiner drastischen Empfehlung erinnert er seine Zuhörer an die Konfrontation der Gallier mit den Kimbern und Teutonen, um diese sodann mit der aktuellen Auseinandersetzung mit den Römern zu vergleichen: nam quid illi simile bello fuit? depopulata Gallia Cimbri magnaque inlata calamitate finibus quidem nostris aliquando excesserunt atque alias terras petierunt; iura, leges, agros, libertatem nobis reliquerunt. Romani vero quid petunt aliud aut quid volunt, nisi invidia adducti, quos fama nobiles potentesque bello cognoverunt, horum in agris civitatibusque considere atque his aeternam iniungere servitutem? neque enim ulla alia condicione bella gesserunt. quod si ea quae in longinquis nationibus geruntur, ignoratis, respicite finitimam Galliam, quae in provinciam redacta iure et legibus commutatis securibus subiecta perpetua premitur servitute. Denn welche Parallelen gibt es denn zu jenem Krieg? Nachdem Gallien verwüstet und großes Unheil angerichtet worden war, verließen die Kimbern schließlich doch unser Land und zogen in andere Gegenden: Recht, Gesetze, Felder und Freiheit ließen sie uns zurück. Was aber wollen die Römer anderes und worauf sind sie aus, als aus Neid auf alle, deren Ruhm und Kriegstüchtigkeit ihnen zu Ohren kommt, deren Felder und Städte zu besetzen und ihnen ewige Sklaverei aufzuerlegen? Denn sie führen ihre Kriege mit keiner anderen Zielsetzung. Wenn euch das, was sie in weitentfernten Ländern tun, unbekannt ist, so schaut auf das benachbarte Gallien, das zur Provinz gemacht wurde, das nach der Abschaffung von Recht und Gesetzen der römischen Willkür unterworfen ist und in ewiger Sklaverei gehalten wird.251

Diese negative Charakterisierung der römischen Politik in Gallien steht – ebenso wie ihr Pendant in der Rede des Ariovist252 – sicherlich im Zusammenhang mit dem Diskurs über römische Identität, der die commentarii in ihrer Gesamtheit durchzieht,253 und dient zudem der Rechtfertigung Caesars.254 Doch enthält diese Stelle darüber hinaus ein gewissermaßen überschüssiges Element an Kritik, in dem die weitere Entwicklung dieser literarischen Technik als Teil einer multiperspektivischen Darstellung bereits angelegt ist. Angesichts der kritischen Haltung, die Sallust in seinen Schriften generell gegenüber der römischen Außenpolitik der letzten Jahrzehnte einnimmt,255 kann es nicht überraschen, daß er dieses Darstellungselement übernimmt und in seiner Wirkung noch ausbaut. Dies gilt sowohl für die knappe Zusammenfassung einer Ansprache Jugurthas, mit der dieser Bocchus auf die Auseinandersetzung mit den römischen Truppen in Cirta 107 v. Chr. einstimmen will und die trotz ihrer ___________________________

251 Vgl. Caes. Gall. 7,77,14-77,16. 252 Vgl. v.a. Caes. Gall. 1,44,8-44,10. 253 Vgl. RIGGSBY 2006, 118: „The audience for this speech, then, is a group of mirrorRomans. They occupy a different place from the Romans and view the world from that different position. The nature of their gaze, however, is Roman. They see things largely in Roman categories; only the concrete references fo the terms ‘we’ and ‘they’ have been reversed.“ 254 Vgl. z.B. SCHIEFFER 1972, v.a. 491. 255 Vgl. v.a. Sall. Catil. 10,1-11,8 u. Iug. 8,1-8,2; 32,1-35,10; 41,1-42,5 mit z.B. SCHMAL 2001, 62-65.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Kürze in nuce bereits die wesentlichen Punkte der in diesen Texten wiederholt geäußerten Romkritik enthält,256 als auch für den Brief des Mithridates, der aus dem vierten Buch der Historien stammt und in einer wohl spätantiken Anthologie mit anderen Reden und Briefen Sallusts überliefert wurde.257 In diesem oft behandelten Schreiben258 versucht Mithridates VI. von Pontos angesichts der 69 v. Chr. von L. Licinius Lucullus gegen ihn erzielten Erfolge, den Partherkönig Phraates III. zu einem Bündnis gegen Rom zu überreden. Zu diesem Zweck läßt ihn Sallust Roms Auseinandersetzung mit den hellenistischen Monarchien der letzten Jahre kritisch rekapitulieren,259 um ihn dann zum Generalangriff auf die Prinzipien der römischen Außenpolitik ausholen zu lassen: an ignoras Romanos, postquam ad occidentem pergentibus finem Oceanus fecit, arma huc convortisse? neque quicquam a principio nisi raptum habere, domum, coniuges, agros, imperium? convenas olim sine patria, parentibus, peste conditos orbis terrarum, quibus non humana ulla neque divina obstant, quin socios, amicos, procul iuxta sitos, inopes potentisque trahant excindant, omniaque non serva, et maxume regna, hostilia ducant. Oder ist Dir entgangen, daß die Römer, nachdem ihrem Ausgreifen im Westen der Atlantik Einhalt geboten hat, ihre Waffen nun hierher gerichtet haben? Und daß sie von Anfang an nichts besitzen außer dem, was sie geraubt haben: ihre Häuser, ihre Frauen, ihre Felder und ihre Herrschaft? Daß sie einmal eine Ansammlung von Fremden ohne Vaterland und Eltern waren, die ihre Stadt zum Verderben der ganzen Welt gegründet haben, die sich von keinem menschlichen oder göttlichem Recht daran hindern lassen, ihre Verbündeten, ihre Freunde, nah und fern Wohnende, die Schwachen und die Starken auszuplündern und zu vernichten, und die alles, was sich ihnen nicht unterworfen hat, und vor allem Königreiche, als ihre Feinde ansehen?260 ___________________________

256 Vgl. Sall. Iug. 81,1: ibi fide data et accepta Iugurtha Bocchi animum oratione accendit: Romanos iniustos, profunda avaritia, communis omnium hostis esse; eandem illos causam belli cum Boccho habere, quam secum et cum aliis gentibus, lubidinem imperitandi, quis omnia regna advorsa sint; tum sese, paulo ante Carthaginiensis, item regem Persen, post uti quisque opulentissimus videatur, ita Romanis hostem fore. („Nachdem sie sich gegenseitig Treue gelobt haben, versucht Jugurtha die Kampfbereitschaft des Bocchus mit einer Rede zu steigern: Die Römer seien ungerecht, von unersättlicher Habgier geprägt und die gemeinsamen Feinde aller; jene führten aus dem gleichen Grund Krieg gegen Bocchus wie gegen ihn selbst und gegen andere Völker, und dies sei das Verlangen nach Herrschaft derer, denen alle Königreiche verhaßt sind; jetzt sei er für die Römer der Feind, vor kurzem seien es noch die Karthager und in der gleichen Weise der König Perseus gewesen, später werde es jeder sein, der gerade vermögend erscheint.“) mit VOLKMANN 1964, 10f., u. BURCK 1982, 1159. 257 Vgl. Sall. hist. frg. 4,69 REYNOLDS. Die Überlieferung basiert auf dem Vaticanus latinus 3864 (9. Jh.), der auch die (pseudo-)sallustianischen Briefe an Caesar enthält. 258 Vgl. z.B. SCHNORR VON CAROLSFELD 1888, 75; VOLKMANN 1964, 10-16; STIER 1969; STÄDELE 1981, 249-254; AHLHEID 1988 u. MCGUSHIN 1994, 173-199. 259 Vgl. Sall. hist. frg. 4,69,5-69,12 mit BIKERMANN 1946, 137-141; AHLHEID 1988, 7274; MCGUSHIN 1994, 177-192; SCHMAL 2001, 89f., u. ADLER 2006, 389-394. 260 Vgl. Sall. hist. frg. 4,69,17 REYNOLDS; zu den Parallelstellen für diese Kritik in der späteren Historiographie STÄDELE 1981, 251-254.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Ein solcher diplomatischer Vorstoß läßt sich in dieser historischen Situation zwar plausibel annehmen. Dennoch ist der Wortlaut des Briefes fiktiv261 und geht entweder vollständig auf Sallust oder auf seine Überarbeitung der Version in dem Werk eines früheren Historikers zurück.262 Für uns ist jedoch die Suche nach einer möglichen Vorlage weniger relevant als die Überlegung, warum Sallust einen solchen Brief an dieser Stelle überhaupt verwendet hat. Diese Frage stellt sich um so dringender, als die Bemühungen des Mithridates um ein Bündnis mit den Parthern erfolglos blieben, wie der Leser – falls er dieses historische Wissen nicht präsent hatte – der folgenden, leider nicht überlieferten Darstellung entnommen haben wird. Wir können daher nur spekulieren, inwieweit sich aus dem Fortgang der Handlung eine Widerlegung der hier Mithridates in den Mund gelegten Argumente ergeben hat. Aber auch ohne über diesen Kontext zu verfügen, läßt sich angesichts der analogen Stellen in Sallusts anderen Schriften vermuten, daß die Erzeugung dramatischer Ironie, die sich aus der Diskrepanz zwischen dem Wissen der handelnden Figur und dem des Lesers ergibt, hier nicht das Hauptanliegen war.263 Vielmehr ist es naheliegend, daß sich die Wirkung der Kritik über die Einzelstelle hinaus erstrecken und – in noch stärkeren Maße als bei Caesar – einen Beitrag zur multiperspektivischen und polyphonen Darstellung eines Abschnittes der römischen Geschichte leisten soll.264 Auf den Brief des Mithridates, den Sallust – eine kontinuierliche Arbeit an den Historien vorausgesetzt – etwa 35 v. Chr. geschrieben haben dürfte,265 folgen als nächste Beispiele aus der Textgruppe der ‚Barbarenreden‘ entweder die Stellen in der – wohl zwischen 25 und 20 v. Chr. verfaßten – zweiten Pentade von Livius’ ab urbe condita266 oder die in der ebenfalls ungefähr in dieser Zeit entstandenen Universalgeschichte des Pompeius Trogus. Die historicae Philippicae sind zwar nur in der spätantiken Zusammenfassung des M. Iunianus Iustinus überliefert,267 ___________________________

261 Vgl. z.B. SCHMAL 2001, 89, u. ADLER 2006, 386-389, aber auch dag. zur möglichen Verwendung einer authentischen Vorlage z.B. STIER 1969, 447f. 262 Möglicherweise geht die Tradition, Mithridates als Kritiker Roms auftreten zu lassen, auf Timagenes von Alexandria zurück (vgl. KAERST 1897, 653-656), dessen in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. verfaßtes Werk περὶ βασιλέων in Rom offenbar als zu ‚barbarenfreundlich‘ empfunden wurde (vgl. z.B. Sen. epist. 91,13 mit SORDI 1982). 263 Vgl. dag. STIER 1969, 446: „Es bleibt also … nur der Ausweg, daß Sallust die paradoxe Verbiegung der historischen Wirklichkeit bewußt vorgenommen hat und mit ihr das Ziel verfolgte, für seine Leser die Vorgänge sozusagen auf den Kopf zu stellen.“ 264 Vgl. z.B. SCHMAL 2001, 90f., u. ADLER 2006, v.a. 396, sowie bereits SCHNORR VON CAROLSFELD 1888, 75: „Möglich wäre, daß Sallust den doch eigentlich sehr unwichtigen Brief … benützt hat, um den Römern einmal unter fremder Maske zu zeigen, mit wie viel Ungerechtigkeit sie sich in den Besitz ihrer Weltstellung gesetzt haben.“ 265 Die Datierung ergibt sich aus dem Beginn der Arbeit 39 v. Chr und dem vermutlichen Todesdatum 34 v. Chr. (vgl. BIKERMANN 1946, 147f., u. ADLER 2006, 395f.). 266 Im weiteren Sinne gehört auch die von Dionyios dem Mettius Fufetius in den Mund gelegte Kritik am frühen Rom hierher: vgl. Dion. Hal. ant. 3,10. 267 Vgl. v.a. SEEL 1972 u. YARDLEY 2003.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

doch enthält diese neben anderen Stellen, an denen Vertreter fremder Völker Kritik an Rom vorbringen,268 eine wegen ihrer besonderen Bedeutung sogar wörtlich wiedergegebene269 Ansprache von Mithridates VI. an seine Soldaten.270 Ihr Inhalt berührt sich zwar eng mit dem Brief in Sallusts Historien, aufgrund der Unterschiede im Wortlaut und in Hinsicht auf die Situation ist aber eher nicht von einem direkten Einfluß auszugehen. Vielmehr hat Trogus Mithridates hier wie an anderen Stellen als sein Sprecher verwendet, um auf diese Weise dem Leser eine alternative Deutung der historischen Ereignisse zu geben. Bevor wir uns den Stellen in Livius’ Werk ausführlicher zuwenden, wollen wir noch einen kurzen Blick auf die Weiterentwicklung dieser literarischen Strategie in der Geschichtsschreibung der Kaiserzeit werfen. Neben Cassius Dio, der anläßlich des Aufstands der Britanner 60 n. Chr. ihre Anführerin Boudicca eine Rede halten läßt,271 und Curtius Rufus, bei dem anstelle der Römer Alexander der Große als Adressat der von den Skythen vorgetragenen Kritik am Imperialismus fungiert,272 ist es vor allem Tacitus, der auf dieses Verfahren zurückgreift. Allerdings verbindet er sowohl in seiner Paraphrase einer Rede der Boudicca273 als auch in der ausführlich und in oratio recta wiedergegebenen Rede des Calgacus, einem der Anführer der Kaledonier in der Schlacht am Mons Graupius 84 v. Chr.,274 die Klage über Roms Umgang mit anderen Völkern mit seiner generellen Kritik an der Herrschaft der Kaiser über ihre eigenen Untertanen, so daß sich die Stoßrichtung dieser literarischen Technik hier bereits deutlich gewandelt hat. Bei den Stellen in ab urbe condita, die sich als ‚Barbarenreden‘ verstehen lassen und die wir im folgenden als besonders illustratives Beispiel herausgreifen, handelt es sich nur um einen kleinen Ausschnitt aus den zahlreichen Reden, die insgesamt von Vertretern anderer Völker im livianischen Werk gehalten werden. Allein in der dritten Dekade kommen an 27 Stellen verschiedene nichtrömische Sprecher275 zu Wort, deren Ausführungen in oratio recta oder obliqua – zum Teil recht umfangreich – wiedergegeben werden.276 Dabei handelt es sich nicht aus___________________________

268 Vgl. Iust. 28,2,1-2,13 (Rede der Aetoler) u. 29,2,2-2,6 (Rede des Illyrers Demetrius). 269 Vgl. Iust. 38,3,11; zu den Rückschlüssen, die sich aus dieser Stelle auf die generelle Verwendung von Reden durch Trogus ziehen lassen, s. oben S. 167. 270 Vgl. Iust. 38,4,1-7,10 mit FUCHS 1938, 15f.; BURCK 1982, 1160; URBAN 1982, 14331441; YARROW 2006, 284-290, u. ADLER 2006, 396-401. 271 Vgl. Cass. Dio epit. 62,3,1-5,6 (Boudicca) mit ADLER 2008, 184-193. 272 Vgl. Curt. 7,8,8-8,30; zum Verständnis als ‚Barbarenrede‘ BALLESTEROS-PASTOR 2003. 273 Vgl. Tac. ann. 14,35,1-35,2 mit ADLER 2008, 179-184. 274 Vgl. Tac. Agr. 30-32 mit EDELMAIER 1964, 24-62; VOLKMANN 1964, 17-20; STÄDELE 1981, 256f.; LAIRD 1999, 121-123; RUTLEDGE 2000, 86-90, u. ADLER 2008, 193-195. 275 Am häufigsten von allen Personen (inklusive der Römer) spricht Hannibal: vgl. Liv. 21,21,3-21,7; 21,30,1-30,11; 21,35,8-35,9; 21,43,1-44,9; 21,45,4-45,9; 21,54,1-54,5; 23,43,1-43,4; 27,12,11-12,13; 27,14,1; 30,30,1-30,30; 30,32,1-32,11 u. 30,44,4-44,10. 276 Vgl. v.a. Liv. 21,3,2-3,6; 21,10,1-10,13; 21,13,1-13,9; 21,18,4-18,12; 21,19,8-19,11; 21,20,1-20,8; 21,50,8-50,10; 23,11,7-12,5; 23,42,1-42,13; 26,13,2-13,19; 26,30,130,10; 28,39,1-39,16; 29,17,1-18,20; 30,12,12-12,16 u. 30,42,11-42,21.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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schließlich um Karthager oder Personen, die aus nachvollziehbaren Gründen eine kritische Haltung zu Rom einnehmen. Die Entwicklungen dieser ereignisreichen Jahre werden vielmehr auch aus neutralen Perspektiven präsentiert, um auf diese Weise die Vielschichtigkeit des Bildes noch zu erhöhen.277 Das Anliegen einer polyphonen Schilderung erstreckt sich darüber hinaus in Ansätzen auch auf die Darstellung der Gegenseite, wie die verschiedenen Reden Hannos des Großen verdeutlichen können, der als politischer Gegenspieler Hannibals mehrfach als Sprecher einer konträren Position zum Kriegsgeschehen in Karthago gemacht wird.278 Als Ergänzung hierzu und geradezu als Gegenbild zu einer klassischen ‚Barbarenrede‘ kann der Auftritt der Gesandten der Saguntiner vor dem römischen Senat im 28. Buch gelten, der ein – angesichts der Umstände der Zerstörung ihrer Stadt allerdings ebenfalls nicht unproblematisches – Loblied auf Roms Umgang mit seinen Verbündeten enthält.279 Obwohl die Passagen, die als ‚Barbarenreden‘ im engeren Sinne gelten können, also nur einen kleinen Teil des erhaltenen Textes bilden, so gehören diese Stellen doch zu denjenigen, deren Deutung in der Forschung am intensivsten diskutiert wird. In dieser Debatte spiegeln sich naturgemäß die Schwierigkeiten, die mit dem Verständnis der ‚Barbarenreden‘ in der antiken Historiographie generell verbunden sind und denen wir uns am Ende dieses Abschnittes – auf der Basis der Interpretation der livianischen Beispiele – noch einmal zuwenden wollen.280 Zunächst soll jedoch die Besprechung der einschlägigen Stellen erfolgen, wobei wir uns an der Reihenfolge ihres Auftretens im erhaltenen Text orientieren. Das erste Beispiel stammt aus dem 8. Buch und steht im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen Rom und den Latinern um die Führung im nach dem ersten Krieg gegen die Samniten (343-341 v. Chr.) vergrößerten römischen Herrschaftsgebiet.281 In der Forschung ist bereits gezeigt worden, daß sich gerade in der Darstellung dieser weit zurückliegenden Epoche die aktuellen Erfahrungen des Bundesgenossenkrieges (91-87 v. Chr.) besonders intensiv spiegeln.282 Dies gilt vor allem für Forderungen nach politischer Teilhabe in Senat und Konsulat, die Livius – vielleicht im Anschluß an republikanische Historiker – in dieser Situation dem L. Annius aus Setia als Praetor des Latinischen Bundes in den Mund legt und deren Ablehnung zum zweiten Latinerkrieg führt (340-338 v. Chr.).283 ___________________________

277 Ein gutes Beispiel ist die Wahrnehmung des Krieges aus der Sicht der Alpenbewohner anläßlich der Alpenüberquerung Hasdrubals 207 v. Chr.: vgl. Liv. 27,39,7-39,9. 278 Vgl. v.a. Liv. 21,3,2-3,6; 21,10,1-10,13 u. 23,12,6-13,6; zur Einnahme der Perspektive Hannos als Teil der Fokalisierung durch den Erzähler s. oben S. 146. 279 Vgl. Liv. 28,39,1-39,16; für eine affirmative Deutung z.B. BURCK 1962 [1950], 140. 280 S. unten S. 187-189. 281 Vgl. Liv. 7,29,1-8,2,4 sowie zur Frage der Historizität des 1. Samnitenkrieges z.B. CORNELL 1995, 345-347; FORSYTHE 2005, 281-288, u. GROSSMANN 2009, 19f. 282 Vgl. v.a. DISPERSIA 1975. 283 Vgl. Liv. 8,6,8-14,12 mit z.B. CORNELL 1995, 347-352, u. FORSYTHE 2005, 289-292.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Wenn man diese von Livius sicherlich bewußt betonte historische Parallele im Blick behält, ist es um so auffälliger, daß im Zusammenhang der beiden Reden des Annius, mit denen er zunächst in der Bundesversammlung der Latiner284 und dann im römischen Senat285 für seine Forderung einer paritätischen Besetzung der politischen Führungspositionen geworben und die bisherige Ausübung der Herrschaft durch die Römer kritisiert haben soll,286 der Erzähler eine eindeutig ablehnende Haltung einnimmt: Am Ende der ersten Rede wird zwar die Zustimmung der Latiner als internem Publikum erwähnt, zugleich aber mit der Charakterisierung von Annius’ Sprechweise als ferociter Kritik geübt.287 Bei der zweiten Rede fällt nicht nur die Reaktion der Zuhörer anders aus, sondern der Erzähler tadelt hier erneut explizit das Auftreten des Annius, der „gesprochen habe, als ob er das Kapitol siegreich mit Waffengewalt eingenommen hätte, und nicht als ein Gesandter, der nur aufgrund des Völkerrechts geschützt war“ (tamquam victor armis Capitolium cepisset, non legatus iure gentium tutus loqueretur).288 Auch im Anschluß an die Rede scheint sich der Erzähler eindeutig auf die Seite der Römer zu schlagen: Denn nicht nur der Senat, der zusätzlich durch die militante Erwiderung des Konsuls Manlius Imperiosus Torquatus aufgepeitscht wird,289 reagiert mit Empörung und entschiedener Ablehnung,290 sondern sogar Juppiter selbst, in dessen Heiligtum auf dem Kapitol die Sitzung einberufen worden war.291 Denn dieser soll – so die von Livius’ hier angeführte Überlieferung – Annius zur Strafe für seine Beleidigungen auf der Treppe seines Tempels ausgleiten haben lassen, so daß er an ihrem Fuß tot oder bewußtlos liegen geblieben sei und Torquatus auf diese Weise als willkommenes Omen sowohl für den gerechten Anlaß wie für einen günstigen Ausgang des Krieges gedient habe:292 ‚bene habet; di pium movere bellum. est caeleste numen; es, magne Iuppiter; haud frustra te patrem deum hominum hac sede sacravimus. quid cessatis, Quirites vosque patres conscripti, arma capere deis ducibus? sic stratas legiones Latinorum dabo, quemadmodum legatum iacentem videtis.‘ ___________________________

284 285 286 287

288 289 290 291 292

Vgl. Liv. 8,4,1-4,11 mit ULLMANN 1927, 71f., u. OAKLEY 1998, 413-418. Vgl. Liv. 8,5,3-5,6 mit OAKLEY 1998, 418-420. Vgl. v.a. Liv. 8,5,4. Vgl. Liv. 8,4,12: haec ferociter non suadenti solum sed pollicenti clamore et adsensu omnes permiserunt, ut ageret diceretque quae e re publica nominis Latini fideque sua viderentur. („Ihm, der das frech nicht nur empfahl, sondern auch versprach, erlaubten alle durch ihr Beifallsgeschrei, zu tun und zu sagen, was ihm im Interesse des latinischen Staatswesens zu liegen und mit seinem Pflichtgefühl vereinbar zu sein scheine.“); aber auch OAKLEY 1997, 586, zur Verwendung von ferox mit positiver Konnotation durch Livius an anderen Stellen. Vgl. Liv. 8,5,2. Vgl. Liv. 8,5,7-5,10 mit OAKLEY 1998, 420f. Vgl. Liv. 8,6,1. Vgl. Liv. 8,5,1; zum Zusammenhang mit einer Kriegserklärung OAKLEY 1998, 418f. Vgl. Liv. 8,6,1-6,7 mit OAKLEY 1998, 421-425.

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„Das ist gut; die Götter haben den frommen Krieg eröffnet. Es gibt eine Gottheit im Himmel; du bist es, großer Jupiter; nicht vergeblich haben wir dir, dem Vater der Götter und Menschen diese Stätte geweiht. Was zögert ihr Mitbürger und ihr Senatoren, die Waffen zu ergreifen, wo die Götter uns führen? Ich werde euch die Legionen der Latiner so hingestreckt darbieten, wie ihr ihren Gesandten daliegen seht.“293

Ergibt sich aus dieser Schilderung der Begleitumstände, wie in der Forschung zumeist angenommen wird,294 für den Leser eine Widerlegung der dem Annius in den Mund gelegten Kritik? Zur Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, noch einmal auf den Bezug dieser Stelle auf die weniger weit zurückliegenden Ereignisse des Bundesgenossenkrieges und damit auch auf die nähere Gegenwart der zeitgenössischen Rezipienten zurückzukommen. Wegen des Verlustes dieser Teile des Werkes ist es nicht mehr möglich, die beide Schilderung direkt miteinander zu vergleichen. Immerhin erfahren wir aber aus den periochae zu Buch 71, daß Livius auch hier die Reden der Italiker wiedergegeben hat.295 Der Umstand einer wiederholten und wahrscheinlich aufeinander bezogenen Darstellung dieser Problematik kann auch ohne detaillierten Vergleich als Hinweis darauf dienen, daß der Leser diese Thematik nicht zuletzt auch mit Blick auf seine eigene Zeit beurteilen sollte, in der die Forderungen der Latiner zumindest in Hinsicht auf die Bewohner Italiens ja bereits politische Realität geworden sind.296 Eine ähnliche Situation finden wir auch beim nächsten Beispiel vor, in dem wiederum der Vertreter eines italischen Volkes als Romkritiker auftritt, dessen Angehörige zur Entstehungszeit des Werkes nicht nur römische Bürger sind, sondern sicherlich auch zu Livius’ intendierten Adressaten gehören.297 Die Rede des samnitischen Feldherren Gavius Pontius298 leitet nicht nur das 9. Buch, sondern auch eine entscheidende Phase im zweiten Krieg gegen die Samniten (327/26304 v. Chr.) ein.299 Denn wie der Leser in den ersten Worten des Buches erfährt, ___________________________

293 Vgl. Liv. 8,6,5-6,6. 294 Vgl. LIPOVSKY 1981, 130-132; BURCK 1982, 1173f.; OAKLEY 1998, 413, u. FELDHERR 1998, 82-85, sowie dag. LEVENE 1993, 218-220, der die Widerlegung von Annius’ Kritik durch den Kontext zurückhaltender bewertet. 295 Vgl. Liv. per. 71,2-72,3: cum deinde promissa sociis civitas praestari non posset, irati Italici defectionem agitare coeperunt. eorum coetus coniurationesque et orationes in consiliis principum referuntur. („Als dann aber den Bundesgenossen das versprochene Bürgerrecht nicht gewährt werden konnte, begannen die Italiker erzürnt an Abfall zu denken. Es wird von ihren Zusammenkünften und Verschwörungen und Reden der führenden Männer auf den Versammlungen berichtet.“). 296 Vgl. LEVENE 1993, 220: „Yet in Livy’s own day many non-Roman Italians, including such people as Livy himself, were eligible for political office, without any idea that this was a breach of religion.“. 297 Zu den potentiellen Lesern von Geschichtsschreibung im 1. Jh. v. Chr. s. oben S. 38-45. 298 Möglicherweise handelt es sich bei dieser Figur um eine Rückprojektion aus dem Bundesgenossenkrieg vgl. OAKLEY 2005a, 40f., u. GROSSMANN 2009, 56f. Anm. 12. 299 Zu den Schwierigkeiten der Periodisierung der Auseinandersetzungen zwischen Rom und den Samniten zwischen 343 und 290 v. Chr. vgl. z.B. GROSSMANN 2009, 25-27.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

wird das hier beginnende Jahr 321 v. Chr. mit der Schlacht bei den Caudinischen Pässen zu einer der schwersten Niederlagen der römischen Geschichte führen.300 Dieser Kontext ist zum Verständnis unserer Stelle von großer Bedeutung. Denn im Gegensatz zum letzten Beispiel nimmt der Erzähler hier eine weniger ablehnende Haltung zum Inhalt der Rede und den in ihr erhobenen Vorwürfen ein. Den Anlaß dieser offenbar vor den Soldaten des samnitischen Heeres gehaltenen Rede301 des Gavius Pontius bildet die Rückkehr der Gesandten aus Rom, wo sie mit dem Versuch einer Wiedergutmachung gescheitert sind.302 Daß die Römer sich durch diese Zurückweisung bei den Göttern ins Unrecht gesetzt haben und es nun daher die Samniten sind, die ein bellum iustum führen, ist das wichtigste Argument des Pontius.303 Dieser Interpretation der Geschehnisse und der damit einhergehenden Kritik an Roms Außenpolitik304 widerspricht der Erzählers nicht, sondern stimmt ihm bei der Schilderung der Reaktion des internen Publikums ausdrücklich zu, wenn er festhält, daß Pontius „dies nicht nur zur Freude seiner Zuhörer, sondern auch in Übereinstimmung mit der Wahrheit vorausgesagt hat“ (haec non laeta magis quam vera vaticinatus).305 Der Grund für die eindeutige Parteinahme des Erzählers ist sicherlich darin zu suchen, daß mit der Ablehnung der Wiedergutmachung der Samniten und dem damit einhergehenden Verstoß der Römer gegen das Fetialrecht dem Leser eine plausible religiöse Erklärung für die Niederlage bei den Caudinischen Pässen gegeben werden soll. Die in diesem Zusammenhang geäußerte generelle Kritik am Verhalten Roms bleibt jedoch auch darüber hinaus wirksam.306 Das wird besonders deutlich, wenn der das römische Selbstverständnis an einer heiklen Stelle berührende Vorwurf, daß nun die Samniten für sich in Anspruch nehmen können, einen gerechten Krieg zu führen,307 in einer zweiten Rede des Pontius erneut aufgegriffen wird. Dort zählt er anläßlich der Verhandlungen mit dem eingeschlossenen römischen Heer Verträge auf, die Rom in der Vergangenheit gebrochen hat: ___________________________

300 Vgl. Liv. 9,1,1: sequitur hunc annum nobilis clade Romana Caudina pax T. Veturio Calvino Sp. Postumio consulibus. („Auf dieses Jahr folgte der durch die römische Niederlage berüchtigte Friede von Caudium unter den Konsuln T. Veturius Calvinus und Sp. Postumius.“) u. Liv. 9,2,1-6,4 mit z.B. BRUCKMANN 1936, 3-31; LIPOVSKY 1981, 140-146; HORSFALL 1982; ASH 1998, 27-44; MORELLO 2003; OAKLEY 2005a, 3-34.48-96; BRIQUEL 2006 u. GROSSMANN 2009, 59-71. 301 Zu dieser aus dem Kontext abgeleiteten Annahme vgl. OAKLEY 2005a, 42f. 302 Vgl. Liv. 8,39,10-39,15 u. 9,1,2-1,3 mit OAKLEY 1998, 769f.; OAKLEY 2005a, 13f., u. GROSSMANN 2009, 56-59. 303 Vgl. Liv. 9,1,3-1,11; zum Aufbau z.B. ULLMANN 1927, 73, u. OAKLEY 2005a, 41f. 304 Vgl. v.a. Liv. 9,1,8-9,9 mit z.B. BURCK 1982, 1175f. 305 Vgl. Liv. 9,2,1 mit LEVENE 1993, 226f. 306 Vgl. dag. BURCK 1982, 1175f., der von einer „planmäßigen Aufhebung der Anwürfe gegen Roms Expansion“ im weiteren Verlauf ausgeht. 307 Zum bellum iustum bei Livius vgl. DREXLER 1959b; PETZOLD 1983 u. OAKLEY 2005a, 46-48; zu seiner Rolle in der römischen Selbstwahrnehmung z.B. RÜPKE 1990, v.a. 117-122; RÖMER 1993; ZACK 2001 u. GRIFFIN 2008.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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nunquamne causa defiet cur victi pacto non stetis? obsides Porsinnae dedistis; furto eos subduxistis. auro civitatem a Gallis redemistis; inter accipiendum aurum caesi sunt. pacem nobiscum pepigistis, ut legiones vobis captas restitueremus; eam pacem inritam facitis. et semper aliquam fraudi speciem iuris imponitis. Wird euch niemals ein Grund fehlen, euch als Besiegte nicht an eine Abmachung zu halten? Ihr habt Porsenna Geiseln gestellt; verstohlen habt ihr sie wieder weggeführt. Mit Gold habt ihr eure Bürgerschaft von den Galliern freigekauft; während sie euer Geld entgegennahmen, wurden sie niedergehauen. Mit uns habt ihr einen Friedensvertrag geschlossen, nach dem wir euch die gefangenen Legionen zurückgeben sollten; diesen Frieden erklärt ihr für ungültig. Und immer umgebt ihr den Betrug mit einem Schein des Rechts.308

Nach diesen beiden Beispielen aus der ersten Dekade kommen wir nun zur Darstellung des zweiten Kriegs zwischen Rom und Karthago, die durch den Einsatz zahlreicher verschiedener Sprecher generell einen ausgeprägt polyphonen Charakter aufweist.309 Unter der spezifischen Fragestellung der ‚Barbarenreden‘ und der in ihnen artikulierten generellen Romkritik bieten sich einerseits die ablehnenden Antworten der Iberer und Gallier auf das Bündnisangebot der römischen Gesandten an, die unmittelbar nach der Kriegserklärung in Karthago 218 v. Chr.310 zu diesem Zweck in den Versammlungen mehrerer Völker vorsprechen. Diese von Polybios nicht erwähnte und möglicherweise von Livius der Überlieferung hinzugefügte Mission311 ist ein Mißerfolg und führt daher auf der Ebene der Handlung nicht weiter, sie gibt dem Leser in der ablehnenden Reaktion der umworbenen Völker aber einen guten Überblick über mögliche Kritikpunkte an der römischen Außenpolitik der letzten Jahre. Vor allem der pointierten Antwort des Ältesten der Volkianer, der die – in der Darstellung des Erzählers weitgehend zurückgedrängten312 – Versäumnisse der Römer bei der Zerstörung des mit ihnen verbündeten Sagunt durch die Karthager thematisiert, wird dabei vom Erzähler ausschlaggebende Wirkung zugeschrieben: ad Volcianos inde est ventum, quorum celebre per Hispaniam responsum ceteros populos ab societate Romana avertit. ita enim maximus natu ex iis in concilio respondit: ‚quae verecundia est, Romani, postulare vos, uti vestram Carthaginiensium amicitiae praeponamus, cum qui id fecerunt [Saguntini] crudelius quam Poenus hostis perdidit vos socii prodideritis? ibi quaeratis socios censeo, ubi Saguntina clades ignota est; Hispanis populis sicut lugubre, ita insigne documentum Sagunti ruinae erunt, ne quis fidei Romanae aut societati confidat.‘ inde extemplo abire finibus Volcianorum iussi ab nullo deinde concilio Hispaniae benigniora verba tulere. ___________________________

308 Vgl. Liv. 9,11,1-11,13, hier §§ 6-7. 309 Zur fokalisierten Darstellung in der 3. Dekade s. oben S. 142-156. 310 Vgl. Liv. 21,18,1-19,5 mit Pol. 3,20-21.29-33 sowie ferner HÄNDL-SAGAWE 1995, 108-124, u. HOYOS 1998, 233-259. 311 Vgl. Liv. 21,19,6-20,9 u. dag. Pol. 3,33,4 mit z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 124f. 312 Vgl. Liv. 21,7,1-15,6 sowie aus der umfangreichen Forschungsdiskussion zu Livius’ Darstellung vgl. v.a. HÄNDL-SAGAWE 1995, 55-96, u. ZIMMERMANN 2009, 42-62.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Darauf kamen sie zu den Volkianern, deren in ganz Spanien sattsam bekannte Antwort die übrigen Völker von einem Bündnis mit Rom abkehrte. Folgendes nämlich erwiderte der Älteste von ihnen im Rat. „Römer, was ist das für eine Unverschämtheit von euch zu verlangen, wir sollten die Freundschaft mit euch der karthagischen vorziehen? Seid ihr doch an den Saguntinern, die dies taten, als Bundesgenossen grausamer zum Verräter geworden als der punische Feind zum Mörder! Ich meine, ihr solltet eure Bundesgenossen dort suchen, wo man vom Unglück Sagunts nichts weiß. Für die Völker Spaniens werden die Trümmer Sagunts zugleich eine deutliche und traurige Warnung bleiben, sich nicht mehr auf die Bündnistreue Roms zu verlassen.“ Darauf legte man ihnen nahe, das Gebiet der Volkianer sofort zu verlassen. Von da ab erhielten sie von keiner einzigen Ratsversammlung mehr eine freundlichere Antwort.313

Andererseits ist aus der dritten Dekade die Rede des Vibius Virrius aus Capua vor der Ratsversammlung seiner von den Römern belagerten Stadt im 26. Buch von besonderem Interesse. Während die Redner aus anderen Völkern bislang vor allem der Korrektur der vom Erzähler präsentierten prorömischen Version eines bestimmten Ereignisses dienten, steht jetzt die allgemeine Betonung der Leiden der im Krieg unterlegenen Seite im Zentrum. Um dieses Anliegen zu illustrieren, wird in der antiken Geschichtsschreibung häufig auf die Eroberung einer Stadt und das zur Schilderung einer urbs capta entwickelte Darstellungsrepertoire zurückgegriffen.314 Der Übertritt des mit Rom verbündeten Capua zu Hannibal 216 v. Chr., seine langjährige Belagerung und die Bestrafung durch die Römer nach der Übergabe 211 v. Chr. bilden einen der elaboriertesten Geschehenszusammenhänge der dritten Dekade315 und eignen sich daher in besonderer Weise zur Veranschaulichung des durch den Krieg verursachten Leides. Die Situation, in der Vibius, der bereits beim Bündniswechsel eine führende Rolle gespielt hat,316 vor dem Rat Capuas spricht, ist in hohem Maße prekär für Sprecher und Publikum: Hannibal hat sich nach einem vergeblichen Entlastungsangriff auf Rom nach Süditalien begeben und der Versuch der Belagerten, ihn über ihre ausweglose Lage zu informieren, ist fehlgeschlagen.317 Daraufhin beschließt der Senat die Übergabe der Stadt an die Römer. Im Zusammenhang dieser Beratungen steht seine Rede, in der er sich nicht gegen die Kapitulation, sondern vielmehr gegen jede damit verbundene Hoffnung auf Schonung durch die Römer ausspricht und den verantwortlichen Senatoren stattdessen empfiehlt, mit ihm gemeinsam Selbstmord zu begehen.318 Zu diesem Zweck läßt ihn Livius zunächst die Ereignisse der letzten Jahre rekapitulieren,319 bevor er mit drastischen Worten die Behandlung der übergebenen Stadt durch die Römer ausmalt: ___________________________

313 Vgl. Liv. 21,19,8-19,10 mit z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 126. 314 S. oben S. 136f. 315 Vgl. Liv. 23,2,1-10,13; 23,18,1-18,16; 25,15,18-22,16; 26,4,1-7,10 u. 26,12,1-16,13 mit VON UNGERN-STERNBERG 1975, 24-62; FRONDA 2010, 103-126, u. LEVENE 2010, 354-375. 316 Vgl. Liv. 23,6,1-6,8 mit VON UNGERN-STERNBERG 1975, 29-31, u. FRONDA 2010, 119f. 317 Vgl. Liv. 26,12,1-13,1. 318 Vgl. Liv. 26,13,2-13,19 u. ferner zum Aufbau ULLMANN 1927, 107-109. 319 Vgl. Liv. 26,13,4-13,13.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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non videbo Ap. Claudium et Q. Fulvium victoria insolenti subnixos, neque vinctus per urbem Romanam triumphi spectaculum trahar, ut †deinde† in carcerem aut ad palum deligatus, lacerato virgis tergo, cervicem securi Romanae subiciam; nec dirui incendique patriam videbo, nec rapi ad stuprum matres Campanas virginesque et ingenuos pueros. Albam, unde ipsi oriundi erant, a fundamentis proruerunt, ne stirpis, ne memoria originum suarum exstaret: nedum eos Capuae parsuros credam, cui infestiores quam Carthagini sunt. Ich will nicht sehen, wie Appius Claudius, wie Quintus Fulvius sich ihres übermütigen Sieges rühmen, mich nicht als Schauspiel ihres Triumphes gefesselt durch die Stadt Rom schleppen lassen, um danach im Kerker zu sterben oder an den Pfahl gebunden, den Rücken mit Ruten zerpeitscht, meinen Nacken einem Römerbeil zu beugen. Ich will nicht zusehen, wie meine Vaterstadt zerstört und angezündet wird, wie kampanische Mütter, Mädchen und Knaben aus edlem Geschlecht zur Entehrung geschleppt werden. Alba, woher sie selbst stammen, haben sie von Grund auf zerstört, damit keine Erinnerung an ihren Stammort und an ihren Ursprung zurückbleibe. Und ich sollte glauben, daß sie Capua schonen werden, auf das sie noch zorniger sind als auf Karthago?320

Der Erfolg der Rede bei ihrem Publikum wird als gemischt beschrieben: Zwar folgt ein Teil des Adels der Einladung des Vibius Virrius zu einem Festmahl, an dessen Ende die gemeinschaftliche Einnahme von Gift stehen wird,321 die Mehrheit des Senats entscheidet sich jedoch für die Übergabe, und zwar im Vertrauen auf die so oft bewiesene Milde Roms, wie explizit gesagt wird.322 Diese Hoffnung erweist sich für sie persönlich allerdings als Trugschluß, da Fulvius Flaccus ihre Hinrichtung ohne die Zustimmung des anderen Konsuls und trotz anderslautender Anordnung des Senats durchführen läßt, was nicht nur mit einer ausführlichen Schilderung, sondern auch mit der Diskussion der verschiedenen Überlieferungsvarianten in der Erzählung stark betont wird.323 Zugleich wird Capua zwar als politische Einheit aufgelöst und ein Teil der Bewohner umgesiedelt, die Stadt selbst aber weder zerstört noch ihre Bewohner versklavt, so daß sich der tatsächliche Fortgang der Handlung doch auch von dem Szenario unterscheidet, das Vibius entfaltet hatte.324 Es ist dabei Teil der narrativen Strategie, den Leser in die Beantwortung der Frage, ob er die historische Situation richtig beurteilt hat, einzubeziehen. Zugleich kann der Umstand, daß hier zum Teil ‚virtuelle Grausamkeit‘ geschildert wird, als Hinweis dienen, daß die Kritik an den mit Roms Expansion verbundenen Opfern auch über die Stelle hinaus wirksam bleiben soll. ___________________________

320 Vgl. Liv. 26,13,13-13,17, hier §§ 15-16. 321 Vgl. Liv. 26,13,17-13,19 (Rede) u. 26,14,3-14,6 (Schilderung durch den Erzähler). 322 Vgl. Liv. 23,14,2: maior pars senatus, multis saepe bellis expertam populi Romani clementiam haud diffidentes sibi quoque placabilem fore, legatos ad dedendam Romanis Capuam decreverunt miseruntque. („Der größere Teil des Senats gab die Hoffnung nicht auf, die oft in vielen Kriegen bewährte Milde des römischen Volkes werde auch gegen sie wirksam werden. Deshalb stimmte er für die Übergabe von Capua an die Römer und schickte Gesandte ab.“). 323 Vgl. Liv. 23,15,1-16,6 mit VON UNGERN-STERNBERG 1975, 77-95. 324 Vgl. Liv. 23,16,7-16,13 mit LEVENE 2010, 368-375.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Wir kommen damit zu den Beispielen aus der vierten und fünften Dekade, in deren Mittelpunkt Roms Auseinandersetzung mit dem griechischen Osten im allgemeinen und Makedonien im besonderen in der ersten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. steht.325 Während die Sprecher bislang entweder aus Italien oder dem westlichen Mittelmeerraum kamen, sind nun Griechen die ‚fremden Stimmen‘, mit deren Hilfe römischen Lesern eine Außenperspektive auf die eigene Geschichte präsentiert wird. In diesem Zusammenhang erweist sich der Begriff der ‚Barbarenrede‘ freilich als geradezu paradox, da der Vorwurf, die Römer verhielten sich in Griechenland wie Barbaren, zum festen Repertoire der zeitgenössischen Kritik der Griechen an der römischen Herrschaft gehört.326 Ob aus dieser Zeit stammende Texte einen direkten – oder über Polybios vermittelten – Einfluß auf Livius’ Darstellung ausgeübt haben, ist umstritten.327 Jedenfalls läßt sich in den letzten erhaltenen Büchern eine Intensivierung der Kritik beobachten, die sich aber besser mit dem in der praefatio thematisierten deszendenten Geschichtbild und damit als darstellerische Absicht denn als Abhängigkeit von den Quellen erklären läßt.328 Die erste Stelle, die hier besprochen werden soll, ist zugleich das ausführlichste Beispiel für diese narrative Strategie in ab urbe condita. Sie findet sich im 31. Buch, das den Beginn des zweiten Kriegs mit Philipp V. von Makedonien (200196 v. Chr.) schildert,329 und besteht aus den von den Gesandten der Makedonen, der Athener und der Römer auf der Versammlung des Ätolischen Bundes 199 v. Chr.330 gehaltenen Reden, deren Ziel jeweils darin besteht, dessen Mitglieder zum Kriegseintritt auf der eigenen Seite zu bewegen.331 Zu diesem Zweck zeichnet der Sprecher der Makedonen ein negatives Bild der römischen Herrschaft in der Magna Graecia,332 wobei er vor allem auf Capua näher eingeht: Capua quidem, sepulcrum ac monumentum Campani populi, elato et extorri eiecto ipso populo, superest, urbs trunca sine senatu, sine plebe, sine magistratibus, prodigium, relicta crudelius habitanda quam si deiecta foret. Capua, das Grab und Mahnmal des kampanischen Volkes, existiert zwar noch, nachdem die Bevölkerung selbst zu Grabe getragen und aus dem Land vertrieben ist, eine verstümmelte Stadt ohne Senat, ohne Volk, ohne Beamte, etwas Widernatürliches, und daß man die Stadt zum Bewohnen hat stehen lassen, ist grausamer, als wenn man sie zerstört hätte.333 ___________________________

325 326 327 328 329 330 331 332 333

Zu den historischen Entwicklungen in dieser Zeit vgl. allg. ECKSTEIN 2008. Vgl. z.B. FUCHS 1938, 14f., u. DEININGER 1971, 23-37. Vgl. BURCK 1982, 1156-1160, v.a. Anm. 16. Vgl. z.B. BURCK 1967c, 462; zur praefatio im zeitgenössischen Kontext s. oben S. 32f. Dieser Krieg (vgl. allg. ECKSTEIN 2008, 273-305) bildet das Hauptthema der Bücher 31-33 (zum Aufbau vgl. v.a. BRÜGGMANN 1954 u. LUCE 1977, 33-74). In Livius’ Zählung handelt es sich um das Jahr 200 v. Chr.; zu diesem chronologischen Fehler vgl. TRÄNKLE 1977, 49f.; LUCE 1977, 59-65, u. WARRIOR 1996, 33-35. Vgl. Liv. 31,29,1-32,5 mit v.a. BURCK 1967c, 452-463; BRISCOE 1973, 129-139, u. BURCK 1982, 1156-1163. Vgl. Liv. 31,29,3-29,10. Vgl. Liv. 31,29,11.

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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Mit dem Hinweis auf das Schicksal Capuas als historisches exemplum erhält der Leser aber zugleich noch eine weitere Interpretation der Ereignisse, die er im 26. Buch bereits aus der Perspektive der unterlegenen Campaner und der siegreichen Römer kennengelernt hatte.334 Im verbleibenden Teil der Rede charakterisieren die Makedonen die Römer noch einmal allgemein als Fremde und Barbaren.335 Die nun folgende Rede der Athener besteht im wesentlichen aus einer Klage über die von Philipp veranlaßte Zerstörung Attikas, die dem Ziel dient, die Ätoler zum Kriegseintritt zu bewegen, mit der darüber hinaus aber auch eine Entkräftung der Kritik an den Römern verbunden ist, da aus der Perspektive der Athener sich die Makedonen als die wahren Barbaren erweisen.336 Den Abschluß bildet die Rede des Furius Purpurio, der die Widerlegung der makedonischen Vorwürfe in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt.337 Dabei wird auch hier wieder der Umgang mit Capua ausführlich behandelt und erfährt eine weitere Deutung, in der vor allem die relative Milde der Behandlung durch die Römer betont wird.338 Die besondere Bedeutung, die Livius diesem diplomatischen Ringen zugemessen hat, zeigt sich neben der umfangreichen und sorgfältigen Ausführung339 nicht zuletzt daran, daß er entgegen den Usancen der antiken Historiographie drei Reden wiedergibt, statt sich auf zwei konträre Positionen zu beschränken.340 Diese Abweichung von den Darstellungskonventionen ist deswegen um so auffälliger, als die Athener mit ihrer Ansprache das gleiche Ziel verfolgen wie die Römer. Eine Erklärung ist sicherlich, daß durch die Einführung der Athener die von den Makedonen geäußerte Kritik in der Wahrnehmung der internen wie der externen Rezipienten majorisiert wird. In diese Richtung weist auch die Schilderung des Erzählers, der nicht nur explizit festhält, daß die römische Position bei den zeitgenössischen Zuhörern größere Wirkung entfaltete, sondern auch den Umstand, daß der Ätolische Bund seine Entscheidung vertagt, mit dem Hinweis auf eine mögliche Bestechung des Vorsitzenden durch die Makedonen zu erklären versucht.341 Auch wenn der Ätolische Bund später tatsächlich auf römischer Seite in den Krieg eintritt,342 bleibt doch zu konstatieren, daß diese mit großem Aufwand geschilderten Verhandlungen keine unmittelbaren Folgen für die Handlung haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Auswirkungen ihre ausführliche Wiedergabe, für die sich Livius wohl auf keine Vorbilder berufen konnte,343 ___________________________

334 335 336 337 338 339 340 341 342 343

Zur Verwendung historischer exempla in Livius’ Reden vgl. allg. CHAPLIN 2000. Vgl. Liv. 31,29,12-12,15 mit BRISCOE 1973, 133. Vgl. Liv. 31,30,1-30,11 mit z.B. BRISCOE 1973, 133-135, u. BURCK 1982, 1161. Vgl. Liv. 31,31,1-32,2, v.a. 31,3-31,17 mit BRISCOE 1973, 135-138. Vgl. Liv. 31,31,10-31,16. Vgl. v.a. ULLMANN 1927, 135f.; BRÜGGMANN 1954, 27-40, u. BRISOE 1973, 20f. Vgl. z.B. MARINCOLA 2007b, 127. Vgl. Liv. 31,31,32,1-32,5 mit z.B. BURCK 1982, 1161f. Vgl. Liv. 31,31,40,9-41,1 mit ECKSTEIN 2008, 214.278f. Die Frage wäre aber auch bei der Existenz einer polybianischen Vorlage berechtigt (vgl. dafür v.a. BRISCOE 1973, 129, u. zurückhaltender BURCK 1982, 1156 Anm. 16).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

auf den Leser hat. Dieser erhält zu Beginn der Darstellung der Begebenheiten in Griechenland einen Einblick in die Wahrnehmung der Römer durch die zeitgenössischen Griechen. Der multiperspektivische Charakter dieses Abschnitts wird dabei sowohl durch die zusätzliche Wiedergabe der Sichtweise der Athener als auch durch die Verwendung der Vertreter des ätolischen Bundes als internen Rezipienten, mit deren Reaktion der Leser seine eigene vergleichen kann, gesteigert. Das nächste Beispiel entstammt dem 37. Buch und damit der Schilderung von Roms Krieg gegen den Seleukidenkönig Antiochos III. den Großen (192-188 v. Chr.).344 In diesem Zusammenhang versuchen 190 v. Chr. beide Konfliktparteien Prusias I. von Bithynien auf ihre Seite zu ziehen. Zur Schilderung dieses diplomatischen Ringens bedient sich Livius statt der Wiedergabe der Reden von Gesandten eines anderen narrativen Verfahrens: Er paraphrasiert die von Antiochos III. sowie vom Konsul L. Cornelius Scipio und seinem Bruder P. Scipio Africanus an Prusias gerichteten Briefe in indirekter Rede.345 Während Antiochos’ Schreiben mit der Kritik an Roms Außenpolitik im allgemeinen und seiner Haltung zu Königreichen im besonderen zunächst seine Wirkung auf den Monarchen nicht verfehlt,346 gelingt es Scipio Africanus durch die Rekapitulation seines persönlichen Umgangs mit verschiedenen Herrschern in Spanien diesen Eindruck wieder zu entkräften.347 Den Ausschlag gibt aber erst die Ankunft eines römischen Gesandten, der Prusias von den geringen Aussichten eines militärischen Erfolg gegen Rom überzeugen kann,348 so daß auch hier von einer vollständigen inhaltlichen Widerlegung der angesprochenen Kritikpunkte nicht die Rede sein kann. Die letzten Beispiele im erhaltenen Teil von ab urbe condita gehören in den Kontext von Roms drittem und letztem Krieg gegen Makedonien unter Perseus (171-168 v. Chr.).349 Die drei einschlägigen Stellen sind recht kurz und bieten inhaltlich kaum Neues, variieren die dem Leser schon bekannten Vorwürfe aber in Hinsicht auf die narrative Form: Zunächst wird im 42. Buch Perseus gezeigt, wie er anläßlich der Annullierung des Friedensvertrags 172 v. Chr. zunächst vor den ___________________________

344 Der sogenannte römisch-syrische Krieg (vgl. allg. GRAINGER 2002; DREYER 2007 u. ECKSTEIN 2008, 306-341) bildet das Hauptthema der Bücher 36-40 (vgl. KERN 1960, v.a. 142-145, u. LUCE 1977, v.a. 75f.); zur Darstellung dieser Auseinandersetzung als Konflikt zwischen Ost und West in der antiken Welt vgl. TSITSIOU-CHELIDONI 2007. 345 Vgl. Liv. 37,25,4-25,14 mit Pol. 21,11 u. ferner TRÄNKLE 1977, 105: „Polybios hatte lediglich den Inhalt des Briefes der beiden Scipionen genauer ausgeführt; ... Livius dagegen ist in diesen beiden Punkten ausführlicher, so dass das Bild eines rechten diplomatischen Ringens entsteht und dem Leser gewissermaßen die Aufgabe zufällt, zusammen mit dem betroffenen König abzuwägen, welche Argumente er für gewichtiger zu halten geneigt sei.“ u. BRISCOE 1981, 328f. 346 Vgl. Liv. 37,25,4-25,7 mit z.B. WALSH 1954, 105f., der auf die Parallelen zum Brief des Mithridates in den Historien Sallusts (s. oben S. 174f.) verweist. 347 Liv. 37,25,8-25,12 u. ferner zu den exempla CHAPLIN 2000, 74-77. 348 Liv. 37,25,13-25,14 mit GRAINGER 2002, 278-280. 349 Der Krieg mit Perseus (vgl. allg. GRUEN 1984, 399-436) bildet das Hauptthema der Bücher 41-45 (vgl. KERN 1960, 258-261, u. LUCE 1977, v.a. 114).

3. Die Stimmen der anderen: Reden und die Beurteilung der Geschichte

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römischen Gesandten mündlich und dann am nächsten Tag noch einmal schriftlich das Verhalten Roms tadelt.350 Im folgenden Jahr hält er eine Rede vor seinen Soldaten, in der er die gleichen Punkte kritisiert351 und die begeistert aufgenommen wird.352 Schließlich spricht er ‚durch‘ seine Gesandten, die er 168 v. Chr. zu Antiochos IV. und Eumenes II. geschickt hat, um sie als Verbündete zu gewinnen. Auch diese – gewissermaßen in doppelter indirekter Rede wiedergegebenen – Ausführungen enthalten erneut die übliche Kritik an Roms Umgang mit anderen Staaten im allgemeinen und den griechischen Monarchien im besonderen.353 Entgegen der in der Forschung vorherrschenden Deutung, die vor allem ERICH BURCK in einem ANRW-Beitrag von 1982 vertreten hat, daß die Kritik an Rom stets mit ihrer systematischen Widerlegung einhergeht und für den Leser somit letztlich zur Romapologie wird,354 wurde hier versucht, den Akzent auf das Fortwirken der von den verschiedenen Sprechern geäußerten Kritik zu legen. Dies läßt sich einerseits deswegen plausibel machen, weil bei einem genaueren Blick auf den narrativen Rahmen der Fortgang der Erzählung keinesfalls immer die prorömische Position zu bestätigen scheint. Andererseits ergibt sich auch aus der bloßen Quantität der einschlägigen Stellen – bei denen es sich zudem nur um die Beispiele aus dem erhaltenen Teil des Werkes handelt355 – ein weiteres Argument für ihre Wirksamkeit über die Einzelstelle hinaus. Da dieses Problem sich aber in gleicher Weise für die ‚Barbarenreden‘ im Ganzen stellt, scheint es sinnvoll, die hier vorgeschlagene stärker multiperspektivische Lesart dadurch zu erweitern, daß noch einmal die durch die Verwendung von Reden allgemein verursachte intensivere Partizipation des Leser in den Blick genommen wird. c) Zwischenfazit: Reden und die Partizipation an der Urteilsbildung Für eine Analyse des Beitrags der literarischen Technik der Reden historischer Personen zur multiperspektivischen Darstellung der Vergangenheit bietet sich die Gruppe der sogenannten ,Barbarenreden‘ in besonderer Weise an, da die Figuren häufig eine von der Position des Erzählers abweichende Deutung der Ereignisse ___________________________

350 351 352 353 354

Vgl. Liv. 42,25,8-25,13 mit BURCK 1982, 1171f., u. GRUEN 1984, 410f. Vgl. Liv. 42,52,6-52,16. Vgl. Liv. 42,53,1. Vgl. Liv. 44,24,2-24,6 mit BURCK 1982, 1172f., u. GRUEN 1984, 558f. Vgl. BURCK 1982, 1170: „Romkritik war also aktuell und forderte zur Romapologie heraus. … Von hier aus war für Livius der Zugang zur Darstellung gegnerischer Positionen (und ihrer Widerlegung) beim Kampf um Roms Aufstieg und Weltherrschaft naheliegend und geöffnet.“ u. OAKLEY 1998, 413: „Speeches by foreigners which are critical to Rome, but the contents of which are refuted by the later turn of events, are a characteristic feature of Livy’s history; ...“. 355 Wenn Livius – entsprechend den Hinweisen der praefatio – ein kritisches Bild von der Späten Republik gezeichnet hat, ist auch mit mehr ‚Barbarenreden‘ zu rechnen, wie es die periochae für den Bundesgenossenkrieg nahelegen (vgl. Liv. per. 71,2-72,3).

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

liefern. Die Beantwortung der Frage, welche Wirkung den konträren Standpunkten bei der Wahrnehmung des gesamten Textes durch den Leser zukommt, hängt nicht zuletzt von der Vorstellung ab, die man sich von der Verortung der antiken Geschichtsschreibung zwischen einer objektiven und einer patriotischen Haltung gegenüber ihren Gegenständen macht.356 Daß die meisten antiken Historiker den Ansprüchen der modernen Geschichtswissenschaft nicht genügen, sollte jedoch nicht dazu führen, ihnen jedwege kritische Distanz abzusprechen. Bereits die häufige Verwendung von ‚Barbarenreden‘ in der römischen Historiographie ab der Mitte des 1. Jh. v. Chr. zeigt, daß eine multiperspektivische Darstellung der eigenen Geschichte im Gegenteil ein wichtiges Anliegen bildete. Aus der bloßen Existenz dieser Passagen lassen sich natürlich keine Rückschlüsse auf ihre Wirkung bei den zeitgenössischen Leser ziehen, wie nicht zuletzt die kontroverse Forschungsdebatte zu dieser Frage verdeutlicht.357 Es bietet es sich daher an, einen Blick auf die Rahmenbedingungen der Rezeption zu werfen, soweit diese rekonstruiert werden können.358 Hier sind vor allem die Erfahrungen mit der Rhetorik, über die der Leser aus eigener Anschauung verfügte, relevant. Die Tätigkeit des Historikers wird in der antiken Theorie gerne mit derjenigen eines unparteiischen Richters verglichen, wie wir bereits gesehen haben.359 Diese Analogie läßt sich aber nicht nur auf die Autoren, sondern auch auf die Rezipienten historiographischer Texte anwenden, zumal diese in der Regel über reiche lebensweltliche Erfahrung im Anhören von Gerichtsreden in ihrer Funktion als Richter, Geschworene oder einfache Zuschauer verfügten. Zwar gibt Livius – wie auch die anderen antiken Historiker360 – nur selten Gerichtsreden im eigentlichen Sinne wieder, sondern zumeist Reden aus dem genus deliberativum.361 Die Situation für den Zuhörer bleibt aber insofern gleich, als er auch hier aufgefordert wird, sich am Prozeß einer Entscheidungsfindung zu beteiligen.362 Ob er dabei in ___________________________

356 S. oben S. 125-128. 357 Vgl. FUCHS 1938, 15-17; VOLKMANN 1964; STIER 1969, 448-451; STÄDELE 1981, v.a. 249; BURCK 1982 u. ADLER 2006. 358 Zum zeitgenössischen Kontext des livianischen Werkes s. 17-74. 359 S. oben S. 127f. 360 Polybios nennt Reden in Volksversammlungen, von Gesandten und von Feldherren als häufigste Formen: vgl. Pol. 12,25a3 mit MARINCOLA 2007b, 127f. 361 Vgl. KOHL 1872, 24; ULLMANN 1929, 121-127; BORNECQUE 1967 [1933], 398f.; GRIES 1949,122-139, u. TREPTOW 1964, 12-31. Das längste Beispiel einer Gerichtsrede ist die Anklage von Perseus gegen seinen Bruder Demetrios vor Philipp V. (vgl. Liv. 40, 9,1-15,16 mit WALSH 1961, 226f.; CHAPLIN 2000, 80f., u. BRISCOE 2008, 434-453). 362 Vgl. z.B. Quint. inst. 3,8,67: quae omnia vera esse sciet, si quis non orationes modo sed historias etiam – namque in his contiones atque sententiae plerumque suadendi ac dissuadendi funguntur officio – legere maluerit quam in commentariis rhetorum consenescere („Daß dies alles richtig sei, wird wissen, wer nicht nur lieber Reden sondern auch Geschichtswerke – in ihnen haben ja Volks- und Senatsreden meistens die Aufgabe zuzuraten oder abzuraten – lesen will, statt über den Schriften der Redelehrer alt zu werden.“ [Übers. RAHN 1995]).

4. Die polyphone Präsentation und ihre Folgen für den Leser

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allen Fällen zu einem eindeutigen Urteil kommt oder ob ihm die Präsentation im Sinne eines audiatur et altera pars gerade im Gegenteil vor Augen führt, daß er statt einer einfachen Wahrheit von verschiedenen – allesamt mehr oder weniger berechtigten – Perspektiven auf das vergangene Geschehen ausgehen muß, hängt sicherlich nicht zuletzt von der Disposition des einzelnen Lesers ab. Doch auch unabhängig von der Frage, ob sich aus der multiperspektivischen Präsentation der eigenen Geschichte Rückwirkungen auf die Identität des zeitgenössischen Römers ergeben haben, ist mit der Verwendung dieser Technik doch in jedem Fall eine stärkere Involvierung des Lesers in das dargestellte Geschehen verbunden. Daß gerade die Reden Anlaß zur intensivieren Auseinandersetzung mit dem Text boten, kann die Rezeptionsgeschichte von ab urbe condita in der Kaiserzeit verdeutlichen.363 Die Wahrnehmung von Livius als ‚Redelehrer‘ und die Konzentration auf diese Passagen erklärt sich sicherlich zum Großteil aus der Bedeutung, die der Rhetorik im allgemeinen und Deklamationen im besonderen in dieser Zeit zukommt. Sie kann aber auch in eindrucksvoller Weise zeigen, daß die Reden als ein die Aktivität des Rezipienten in besonderer Weise herausfordernder Teil seines Geschichtswerkes empfunden wurden.

4. Die polyphone Präsentation und ihre Folgen für den Leser Die in diesem Kapitel vorgestellten Beispiele für die narrative Technik der Fokalisierung aus der Perspektive verschiedener am historischen Geschehen beteiligter Gruppen einerseits und der Verwendung von Reden, deren Sprecher ebenfalls zumeist unterschiedlichen Seiten angehören, andererseits können verdeutlichen, daß die polyphone Präsentation der Vergangenheit ein zentrales Anliegen von ab urbe condita bildet. Das läßt sich auch bei der Schilderung innenpolitischer Konflikte beobachten,364 vor allem wenn die sonst vorherrschende Perspektive der gesellschaftlichen Führungsschicht punktuell durch die Sichtweise anderer sozialer Gruppen ergänzt wird. Neben dem Einzelbeispiel der Rede des Centurio Sp. Ligustinus, in der dieser anläßlich des bevorstehenden Konflikts mit Perseus von Makedonien die zahlreichen Kriege der letzten Jahrzehnte aus der Perspektive eines einfachen Soldaten rekapituliert,365 gilt dies vor allem für die Darstellung der Ständekämpfe in der ersten Dekade. Deren Behandlung erfolgt trotz der generellen Betonung der concordia als Ideal366 nicht nur vergleichsweise ausführlich, sondern auch mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sichtweisen beider Konfliktparteien auf das Geschehen.367 Gerade für diese hochgradig umstrittenen ___________________________

363 S. oben S. 169f. 364 Ein illustratives und viel besprochenes Beispiel bieten die Scipionenprozesse 187 v. Chr.: vgl. Liv. 38,50,4-60,10 mit v.a. LUCE 1977, 92-104; JAEGER 1997, 132-176; CHAPLIN 2000, 90-92, u. HAIMSON LUSHKOV 2010. 365 Vgl. Liv. 42,32,6-35,2 mit BURCK 1992, 74f.; CADIOU 2002 u. HOYOS 2007b, 63f. 366 Vgl. WALSH 1996a, 168, u. GALL 2006, 93. 367 Zur Darstellung der Bürgerkriege vgl. z.B. LIPOVSKY 1981, 29-86, u. RIDLEY 1990.

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IV. Polyphone Geschichtsschreibung: Fokalisierung und Multiperspektivität

Ereignisse, die in den politischen Debatten des 1. Jh. v. Chr. vielfach als Argumente verwendet und immer wieder neu interpretiert wurden,368 mußte sich eine multiperspektivische Präsentation anbieten, da sie den Leser am Prozeß der Deutung der Geschichte partizipieren läßt und ihm auf diese Weise die Schwierigkeiten historischer Beurteilungen verdeutlichen kann.369 Eine deutlich größere Rolle spielt im Ganzen aber die Thematisierung der mit der erfolgreichen römischen Außenpolitik verbundenen Opfer, wie hier vor allem am Beispiel der Darstellung der Karthager in der dritten Dekade und der über das ganze Werk verteilten Gruppe der ‚Barbarenreden‘ gezeigt werden sollte. Beiden Bereichen gemeinsam ist dabei der Blick für die historisch letztlich schwächere Seite. Hierin berührt sich Livius’ Ansatz mit dem generellen Interesse auch an den problematischen Aspekten der eigenen Geschichte, wie es für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit in der augusteischen Zeit generell charakteristisch ist. Die multiperspektivischen Elemente in ab urbe condita entsprechen daher in gewisser Weise den im Zuge der ‚two voices‘-Theorie beobachteten Strategien in Vergils Aeneis, ohne daß daraus jedoch auf eine anti-augusteische Stoßrichtung geschlossen werden kann.370 Es handelt sich vielmehr um die zeittypische Berücksichtigung mehrerer Sichtweisen auf ein und dasselbe historische Geschehen. Die verschiedenen multiperspektivischen Elemente führen zwar nicht dazu, daß die vorherrschend prorömische Perspektive auf die eigene Geschichte gänzlich aufgehoben wird. Durch die wiederholte Integration abweichender Sichtweisen wird aber doch eine ausgewogene Art der Darstellung erreicht, die den Forderungen der historiographischen Theorie der Antike – wenn auch nicht der Neuzeit – gerecht wird. Diese zielt auf der Ebene der Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit unter anderem auf die Erweiterung des historiographischen Horizontes des Lesers. Darüber hinaus führen die aus der multiperspektivischen Darstellung resultierenden Widersprüche und ihre Auflösung zur stärkeren Aktivierung und Unterhaltung des Lesers.371 Der hieraus resultierende Anreiz zu einer Fortsetzung und Intensivierung der Lektüre läßt sich daher durchaus mit dem Beitrag der Spannung zur Involvierung des Lesers vergleichen, mit dem wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen wollen.

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368 Zu den Gegenwartsbezügen in der ersten Dekade vgl. HEUSS 1983; GUTBERLET 1985; VON HAEHLING 1989; OAKLEY 1997, 86-89, u. GAERTNER 2008. 369 Vgl. KRAUS 1997, 71, u. LEVENE 2007, 286. 370 Zur Debatte um Livius’ Haltung zu Augustus, in der die Extrempositionen, daß er entweder Sprachrohr oder erklärter Gegner des Prinzipates gewesen ist, zu Recht einer communis opinio gewichen sind, die ihm größeren Freiraum in der Bewertung der römischen Geschichte zugesteht, s. oben S. 31-37. 371 Zur aktiveren Rezeption als Ziel der Widersprüche im römischen Epos vgl. O’HARA 2007, v.a. 5f., u. allg. zu solchen Formen einer intensiveren Mitarbeit des Lesers bei der Lektüre eines literarischen Textes v.a. ECO 1987 [1979].

V. DER INVOLVIERTE LESER V. DER INVOLVIERTE LESER: SPANNUNG ALS HISTORIOGRAPHISCHE STRATEGIE Die literarische Strategie der Erzeugung von Spannung wird noch immer als ein Phänomen vorwiegend der modernen Trivial- und Unterhaltungsliteratur verstanden,1 obwohl inzwischen auch Untersuchungen zu ihrer Verwendung in unterschiedlichen antiken Gattungen vorliegen. Dies gilt natürlich vor allem für das Drama, bei dem die Beschäftigung mit dieser Frage in der klassischen Philologie auf die längste – zum Teil auf Beobachtungen der antiken Rhetorik basierende2 – Tradition zurückblicken kann,3 aber auch für das Epos4 und andere erzählende Gattungen wie etwa den Roman.5 Im Bereich der Historiographie sind zwar erste Ansätze zu verzeichnen,6 eine systematische Anwendung der auf diesem Gebiet in den Neuphilologien sowie in der Theater- und Filmwissenschaft und der Psycholinguistik erzielten Erkenntnisse7 steht jedoch noch aus. Auch für Livius’ ab urbe condita ist die Verwendung von Spannung in der Forschung bereits verschiedentlich konstatiert und zumeist mit seiner Rezeption der sogenannten dramatischen Geschichtsschreibung in Zusammenhang gebracht worden.8 Während dieser Interpretationsansatz vor allem die Bezüge zu anderen Werken und Gattungen herausgearbeitet hat, soll hier im folgenden der Versuch unternommen werden, die Erzeugung von Spannung als auf die Involvierung des Lesers zielende Darstellungsstrategie und damit als zentrales Element der literarischen wie auch der historiographischen Konzeption des Werkes zu verstehen. Zu diesem Zweck werden im folgenden verschiedene literarische Verfahren vorgestellt, für die eine solche Wirkung auf den Leser plausibel gemacht werden kann. Dabei lassen sich den einzelnen Techniken, obwohl sie nicht nur auf unterschiedlichen narrativen Ebenen angesiedelt sind, sondern auch in ihrem Umfang – von Halbsätzen bis über mehrere Seiten reichenden Figurenreden – deutlich voneinander abweichen, dennoch mit der Retardation, der Empathie und der Antizipation drei grundlegende Techniken der Erzeugung von Spannung zuordnen. ___________________________

1 Vgl. ANZ 2003, 466: „Obwohl kein literarischer Text ohne Spannungselemente auskommt, standen diese in der Hierarchie literaturwissenschaftlicher Interessen lange Zeit weit unten: Sie gelten in erstrangiger Literatur als zweitrangiges, nur in zweitrangiger Literatur als erstrangiges Phänomen.“; WENZEL 2004, 181f., u. IRSIGLER et al. 2008a. 2 Für eine Übersicht über die Zeugnisse vgl. LAUSBERG 1960, II 950 (s.v. suspense). 3 Vgl. v.a. FUCHS 2000 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur). 4 Vgl. z.B. DE JONG 1987, v.a. 97f.; REICHEL 1990; NESSELRATH 1992; SCHMITZ 1994 u. RENGAKOS 1999. 5 Zum Roman vgl. z.B. ANDERSON 1984, 122-135, u. HOLZBERG 2001, 11-16. 6 Zur Erzeugung von Spannung durch Retardation bei den griechischen Historikern vgl. RENGAKOS 2004, 83-99; RENGAKOS 2006a, 192-207, u. RENGAKOS 2006b, 292-295. 7 Vgl. z.B. BOOTH 1983, 125-133; WULFF 1993; BAL 1997, 160f., u. PFISTER 2001, 141-148. 8 Vgl. z.B. BURCK 1964 [1934], 195-233, u. WALSH 1961, 173-190.

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V. Der involvierte Leser

Zugleich zeigen sich auch über diese Kategorien hinweg Gemeinsamkeiten in der Art der Darstellung. Dabei kommt einerseits den verschiedenen Formen einer proleptischen Ankündigung bevorstehenden Geschehens, vor allem in wiederholter Form, eine wichtige Rolle zu. Anderseits läßt sich in den meisten der vorgestellten Beispiele entweder die Begrenzung oder die Erweiterung des dem Leser präsentierten Blickfeldes beobachten. Das Spektrum reicht dabei von der gezielten Einschränkung durch die Fokalisierung aus der Sicht einer bestimmten Figur bis zum gegenteiligen Phänomen der bewußten Öffnung der Perspektive auf zukünftiges oder nur virtuelles historisches Geschehen. In beiden Fällen wird der Rezipient aber zu einer stärkeren Beteiligung an der Lektüre aufgefordert: Denn entweder muß er die ihm durch die Perspektivierung vorenthaltenen Informationen ergänzen oder die von – mehr oder weniger – zuverlässigen Instanzen gegebenen Hinweise auf die weitere Entwicklung der Geschichte mit seinem eigenen historischen Wissen vergleichen. Bevor wir uns diesen Phänomenen im einzelnen zuwenden, müssen aber zunächst noch kurz zwei übergreifende Aspekte thematisiert werden, die zugleich denkbare Einwände gegen eine Analyse der Spannung in der antiken Geschichtsschreibung darstellen. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage, inwieweit diese literarische Technik in der Antike erkannt und beschrieben wurde, zum anderen um das allgemeine, sich in einem historiographischen Text jedoch in besonderer Schärfe stellende Problem der Bekanntheit des Ausgangs. Während sich die erste Frage durch den Verweis auf die Bedeutung vor allem des Begriffs der exspectatio in der Diskussion der Späten Republik vergleichsweise leicht beantworten läßt, werden wir bei der Lösung des zweiten Problems weiter ausholen und dabei unter anderem das Konzept der paradoxen Spannung vorstellen. Danach ergibt sich die weitere Gliederung aus den drei oben bereits genannten grundlegenden Techniken zur Erzeugung von Spannung. Dabei sollen zunächst die retardierenden Elemente in der einzelnen Szene, in einem größeren Handlungszusammenhang und in der Gliederung des gesamten Werks vorgestellt und ihre Wirkung unter anderem mit einem Fortsetzungsroman verglichen werden. Dann werden wir uns mit der detaillierten Schilderung und der mit ihr einhergehenden Identifikation des Lesers mit den Figuren der Handlung als einer Voraussetzung für das Empfinden von Spannung beschäftigen und dabei vor diesem Hintergrund auch noch einmal das Verhältnis zur ‚dramatischen‘ Historiographie diskutieren. Abschließend soll die Antizipation zukünftiger Ereignisse auf den unterschiedlichen narrativen Ebenen – direkt durch den Erzähler oder indirekt in den Reden historischer Figuren – und die damit verbundene immer nur partiell erfolgende Vergabe von Informationen über den weiteren Verlauf der Handlung in den Blick genommen und mit dem Konzept virtueller Geschichtsschreibung in Zusammenhang gebracht werden.

1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung

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1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung a) Die exspectatio als Rezeptionsphänomen in der Späten Republik Gerade für die Analyse der Spannung wäre natürlich die Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die zeitgenössischen Rezipienten in besonderer Weise wünschenswert. Da diese in unserem Fall aber nicht in empirischer Weise ermittelt werden kann,9 bleibt neben der Untersuchung der Texte selbst10 nur die Interpretation der theoretischen Aussagen zum Wirkungspotential der Geschichtsschreibung. Diese stammen in der Regel zwar selbst von Historikern, bei denen es sich ja aber stets auch um Leser handelt. Zusätzlich wird diese Untersuchung dadurch erschwert, daß es im Lateinischen – wie im Griechischen – keine direkte Entsprechung für den modernen Begriff der Spannung gibt.11 Dennoch ist dieses Phänomen in der Antike nicht nur beschrieben worden, sondern es lassen sich auch einige Wortfelder beobachten, die zu diesem Zweck häufiger verwendet werden.12 In der Diskussion um die richtige Form der Geschichtsschreibung, die in Rom während des 1. Jh. v. Chr. geführt wird, kommt dabei vor allem den Begriffen der curiositas und der exspectatio sowie der oft mit Formen von tenere bezeichneten Vorstellung, daß der Leser vom Text geradezu gefesselt werde, große Bedeutung zu. Das zeigt sich in apodiktischer Kürze etwa bei Vitruv, der darin einen wichtigen Unterschied zu seiner eigenen um das Jahr 30 v. Chr. entstandenen Schrift über die Architektur erblickt: historiae per se tenent lectores; habent enim novarum rerum varias exspectationes („Geschichtswerke fesseln ihre Leser von ganz alleine; denn sie enthalten viele Elemente der Erwartungen in Hinsicht auf noch unbekannte Entwicklungen.“).13 Am deutlichsten tritt das Konzept jedoch hervor, wenn zusätzlich die Reaktion der Leser beschrieben wird.14 Die eindrücklichste Stelle hierfür findet sich erneut in Ciceros berühmten Brief an den Historiker Lucceius aus dem Jahr 56/55 v. Chr.:15 ___________________________

9 Zur Erfassung von Spannung in vormodernen Texten vgl. allg. ACKERMANN 2008. 10 Zum analogen Problem bei der Analyse des antiken Dramas vgl. FUCHS 2000, 15f., u. zum modernen Drama PFISTER 2001, 142: „Es muß jedoch vorausgeschickt werden, daß im Rahmen unserer Darstellung Spannung nicht primär als Kategorie des Rezeptionsprozesses im äußeren Kommunikationssystem behandelt werden soll, sondern als innertextuelle Relationierung, als ‚Spannungspotential‘ des dramatischen Textes selbst.“ 11 Dem deutschen Oberbegriff stehen im Englischen mehrere Termini gegenüber, unter denen suspense, mystery und tension eine weitergehende Konzeptualiserung erfahren haben, vgl. z.B. JUNKERJÜRGEN 2002, 61-74, u. LANGER 2008, v.a. 14-20. 12 Das Wortfeld ist von ANDREAS FUCHS anhand der antiken Aussagen zum Drama (vgl. FUCHS 2000, 89-202) und der Iliasscholien (vgl. FUCHS 2007) untersucht worden. 13 Vgl. Vitr. praef. 5,1. 14 Vgl. FUCHS 2007, v.a. 33: „Metaphorische Begriffe wie: beflügeln (anpteroūn), und in fremdem, literaturkritischem Kontext benutzte Wortfelder wie: Erwartungshaltung (prosdodía), Angst (agōnia) und Aufmerksamkeit (prosektikón/prosochē) heben unterschiedliche Nuancen der literarischen Wirkungen hervor.“ 15 S. oben S. 59-61.

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V. Der involvierte Leser

cuius studium in legendo non erectum Themistocli fuga redituque retinetur? etenim ordo ipse annalium mediocriter nos retinet quasi enumeratione fastorum; at viri saepe excellentis ancipites variique casus habent admirationem, exspectationem, laetitiam, molestiam, spem, timorem; si vero exitu notabili concluduntur, expletur animus iucundissima lectionis voluptate. Wer fühlte sich nicht aufs tiefste gepackt, wenn er von Themistocles’ Flucht und Heimkehr liest? Eine annalistische Aufreihung von Tatsachen, gleichsam eine kalendarische Tabelle, vermag uns doch nur mäßig zu interessieren; eines hervorragenden Mannes oft wechselnde, gefahrvolle Erlebnisse dagegen wecken Bewunderung, Spannung, Freude, Unbehagen, Furcht und Hoffnung, und finden sie dann gar ihren Abschluß mit einem denkwürdigen Ausgang, dann empfindet der Leser ein ungetrübtes Entzücken.16

Dieser Beschreibung läßt sich eine Passage aus einem Brief an seinen Bruder Quintus an die Seite stellen, in dem er die Wirkung, die dessen Darstellung von Caesars zweiter Britannienexpedition im Jahr 54 v. Chr. – die möglicherweise in der Form eines Epos erfolgt war – auf ihn als Leser ausgeübt hat, näher ausführt: o iucundas mihi tuas de Britannia litteras! timebam Oceanum, timebam litus insulae; reliqua non equidem contemno, sed plus habent tamen spei quam timoris, magisque sum sollicitus exspectatione ea quam metu. Wie freue ich mich über das, was Du von Britannien schreibst! Ich hatte Angst vor dem Ozean, Angst vor den schroffen Küsten des Landes. Zwar nehme ich auch das Weitere nicht leicht, aber es bietet doch mehr Anlaß zu Hoffnung als zu Angst, und was mich in Unruhe versetzt ist weniger Furcht als Spannung auf den Fortgang.17

Angesichts der vielfältigen Bezüge von Livius’ historiographischem Ansatz zu in der späten Republik formulierten Konzepten, wie wir sie in den letzten Kapiteln bereits kennengelernt haben,18 liegt der Gedanke nahe, auch die von Cicero und seinen Zeitgenossen beschriebene Wirkung der Spannung als Teil der Kommunikationsstrategie mit dem Leser in ab urbe condita zu vermuten. Zwar fehlt bei ihm – wie auch in den Fragmenten der Historiker aus der Zeit der Republik – eine explizite Auseinandersetzung mit diesem Konzept als Teil der Darstellung,19 doch kann seine Verwendung leicht aus dem Text erschlossen werden. Beispiele hierfür lassen sich zwar in allen Teilen des Werkes finden, für eine nähere Untersuchung erweisen sich aber die Bücher der vierten und fünften Dekade als besonders geeignet. Dies ist zum einen der quantitativen Steigerung der Phänomene geschuldet, die sich vielleicht als Fortentwicklung der literarischen Technik im Laufe der Entstehungszeit verstehen läßt. Zum anderen bieten sich die Jahre 201 ___________________________

16 17 18 19

Vgl. Cic. fam 5,12,5 [Übers. KASTEN 1964]. Vgl. Cic. ad Quint. 2,15,4 [Übers. KASTEN 1965]. S. oben S. 17-74. Für eine Verwendung des Begriffes exspectatio in dieser Bedeutung auf der Ebene der Beschreibung vgl. Liv. 5,19,7: profectus cum exercitu ab urbe exspectatione hominum maiore quam spe, in agro primum Nepesino cum Faliscis et Capenatibus signa confert. („Dann brach er [sc. M. Furius Camillus] mit dem Heer von Rom auf, wobei die Spannung der Leute größer war als ihre Zuversicht, und stieß im Gebiet von Nepete zuerst mit den Faliskern und Capenaten zusammen.“) u. 42,20,1 (s. unten S. 234).

1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung

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bis 167 v. Chr. deswegen an, weil ihre Behandlung in den Historien des Polybios zumindest fragmentarisch erhalten ist und einen punktuellen Vergleich erlaubt.20 b) Hannibal ad portas? Spannung und das Vorwissen des Lesers Auf den ersten Blick scheint sich aus der allgemeinen Bekanntheit des Ausgangs bei einem Geschichtswerk, das den Lesern ihre eigene Vergangenheit präsentiert, ein erhebliches Problem bei der Erzeugung von Spannung zu ergeben: Wenn ein römischer Rezipient beispielsweise am Erfolg im zweiten Krieg gegen Karthago zweifelte, würde er letztlich ja seine eigene Existenz in Frage stellen. Dennoch läßt sich gerade an diesem Beispiel zeigen, daß die Erzeugung einer momentanen Ungewißheit und damit der Furcht vor einem anderen Ausgang in Rom auf eine gewisse Tradition zurückblicken kann. Die heute noch sprichwörtliche Wendung Hannibal ad portas ist zwar nicht vor Ciceros Philippischen Reden belegt, doch legt die Art ihrer Verwendung als Teil einer exempla-Reihe die Vermutung nahe, daß wenn nicht die Formulierung selbst, so doch zumindest die mit ihr verbundene Wirkungsabsicht auf ältere Vorbilder zurückgeht.21 Auf das hier zu greifende Phänomen eines anomalous suspense und seine Bedeutung für Livius’ Präsentation der römischen Geschichte werden wir in Kürze zurückkommen, zunächst wollen wir uns aber der Frage der Bekanntheit des Ausgangs und den möglichen Formen von Spannung noch einmal grundsätzlicher zuwenden. Dies ist nicht zuletzt deswegen notwendig, als die Prämisse, daß der zeitgenössische Leser den Ausgang aller in ab urbe condita behandelten historischen Ereignisse bereits kennt, einer doppelten Präzisierung bedarf. Denn angesichts der enorm gestiegenen Zahl potentieller Rezipienten für Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. ist einerseits mit einem von Leser zu Leser differierendem Vorwissen zu rechnen.22 Andererseits unterscheiden sich auch die einzelnen historischen Begebenheiten nach ihrer Bedeutung im allgemeinen Bewußtsein.23 Vor allem in den späteren Büchern läßt sich für einige der kleineren, ___________________________

20 Die Darstellungen sind unter quellenkritischer Perspektive mehrfach verglichen worden, wobei der Fokus auf der historischen Verläßlichkeit lag: vgl. WITTE 1910; BRISCOE 1973, v.a. 6f.; TRÄNKLE 1977, 73-191; LUCE 1977, v.a. 169-171, u. BURCK 1992, 35-49. 21 Vgl. Cic. Phil. 1,11: Hannibal, credo, erat ad portas, aut de Pyrrhi pace agebatur, ad quam causam etiam Appium illum et caecum et senem delatum esse memoriae proditum est. („Hannibal, glaube ich ja fast, stand vor den Toren oder es wurde über den Frieden mit Pyrrhus diskutiert, ein Tagesordnungspunkt, für den man, wie überliefert wird, sogar den berühmten Appius, blind und alt wie er war, herbeigeholt hat.“). 22 S. oben S. 38-45. 23 Vgl. z.B. MILTSIOS 2009, 484: „Polybius’ audience and readers must have been well informed of Perseus’ revolt, of the destruction of Macedon, as well as of the disastrous Achaean War with Rome, ... But what could they have possibly known about the secret talk and action in conspiracy narratives, such as in the account of Achaeus’ capture, or about the role played by Polybios himself in organizing Demetrius’ of Syria successful escape from Rome?“

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V. Der involvierte Leser

in die Haupterzählung eingelegten und häufig mit romanhaften Zügen wiedergegeben Geschichten vermuten, daß sie der Leser nicht bereits als Teil der kanonischen römischen Geschichte kannte und sich über ihren Ausgang im Unklaren war. Das gilt zum Beispiel für das Schicksal der namenlosen Frau des Keltiberers Allucius,24 für die letztlich tödliche Doppelheirat der Karthagerin Sophoniba,25 für die dramatische Flucht der Chiomara,26 für den Selbstmord der Theoxena mit ihrer Familie27 und nicht zuletzt für die sogenannte Bacchanalien-Verschwörung, der wir uns im nächsten Abschnitt ausführlicher zuwenden werden.28 Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen ist auch Polybios’ Beschreibung der Wirkung der Inhaltsangaben zu verstehen, die er den – nicht überlieferten – späteren Büchern seines Geschichtswerkes vorangestellt hat und die er in einen engen Zusammenhang mit der Erzeugung von Spannung bringt: 29 ὅτι φησὶν ὁ Πολύβιος περὶ ἑαυτοῦ καὶ περὶ τῆς τῶν βίβλων ὑποθετικῆς ἐξηγήσεως· ἴσως μὲν οὖν ἐπὶ πάσαις ταῖς ὀλυμπιάσιν αἱ προεκθέσεις τῶν πράξεων εἰς ἐπίστασιν ἄγουσι τοὺς ἐντυγχάνοντας καὶ διὰ τὸ πλῆθος καὶ διὰ τὸ μέγεθος τῶν γεγονότων, ὡς ἂν ὑπὸ μίαν σύνοψιν ἀγομένων τῶν ἐξ ὅλης τῆς οἰκουμένης ἔργων· οὐ μὴν (ἀλλὰ) τὰ κατὰ ταύτην τὴν ὀλυμπιάδα [204-200 v. Chr.] μάλιστα νομίζω συνεπιστήσειν τοὺς ἀναγινώσκοντας διὰ τὸ πρῶτον μὲν τοὺς κατὰ τὴν ᾿Ιταλίαν καὶ Λιβύην πολέμους ἐν τούτοις τοῖς χρόνοις εἰληφέναι τὴν συντέλειαν· ὑπὲρ ὧν τίς οὐκ ἂν ἱστορῆσαι βουληθείη ποία τις ἡ καταστροφὴ καὶ τί τὸ τέλος αὐτῶν ἐγένετο; φύσει γὰρ πάντες ἄνθρωποι, κἂν ὁλοσχερῶς παραδέχωνται τὰ κατὰ μέρος ἔργα καὶ λόγους, ὅμως ἑκάστων τὸ τέλος ἱμείρουσι μαθεῖν. Polybios sagt von sich und über die seinen Büchern vorangestellten Inhaltsangaben folgendes: Vielleicht wecken in allen Olympiaden die vorangestellten Inhaltsangaben das Interesse und die Aufmerksamkeit der Leser durch die Menge der Ereignisse und ihre Bedeutung, da hier alles, was in der ganzen Welt geschehen ist, mit einem Blick überschaubar gemacht wird. Die Ereignisse dieser Olympiade aber werden, wie ich denke, die Leser in besonderem Maße fesseln, erstens, weil in dieser Zeit die Kriege in Italien und Libyen ihren Abschluß fanden, und wer wünschte nicht zu erfahren, welches ihr Ausgang, ihr Ende war? Denn von Natur haben alle Menschen den Wunsch, wenn sie auch noch so gern den Bericht von den Begebenheiten im einzelnen aufnehmen, vor allem zu hören, worauf es bei diesen einzelnen Aktionen am Ende hinauskam.30

Der auf den ersten Blick überraschende Umstand, daß Polybios bei seinen Lesern offenbar sogar den Ausgang des zweiten Kriegs zwischen Rom und Karthago als unbekannt voraussetzt, läßt sich möglicherweise mit einem primär griechischen Adressatenkreis als den intendierten Rezipienten seines Werkes erklären.31

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24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Liv. 26,50,1-50,14 mit KOWALEWSKI 2002, 211-218, u. CHAPLIN 2010b. Vgl. Liv. 30,12,5-15,10 mit KOWALEWSKI 2002, 219-239, u. CHRISTES 2008. Vgl. Liv. 38,24,1-24,11 mit KOWALEWSKI 2002, 179-192. Vgl. Liv. 40,4,1-4,15 mit KOWALEWSKI 2002, 240-249, u. BRISCOE 2008, 419-422. Vgl. Liv. 39,8,4-19,7; s. unten S. 213-222. Vgl. Pol. 11,1a; s. oben S. 110f. Vgl. Pol. 14,1a [Übers. DREXLER 1963]. Vgl. v.a. WALBANK 1972, 3-6, u. dag. CHAMPION 2004, 4 Anm. 5, der unter Verweis auf Pol. 6,11,3-11,8 u. 31,33,8 dafür plädiert, daß auch Römer angesprochen wurden.

1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung

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Als entscheidender erweist sich aber ein anderer Umstand, der sich bereits aus dem Kontext der Stelle ergibt: Polybios spricht hier ja von der Wirkung der den einzelnen Büchern vorangestellten Inhaltsangaben, in denen der Leser über den faktischen Ausgang der dargestellten Ereignisse bereits summarisch informiert wurde. Es kann sich bei dem von Polybios beschriebenen Phänomen also nur um eine Form der Spannung handeln, die statt dem Ende stärker auf den Verlauf der Geschichte ausgerichtet ist.32 Zur Unterscheidung dieser beiden Spielarten haben sich im Rückgriff auf die Dramentheorie BERTHOLD BRECHTs die Begriffe der Was-Spannung (‚Welches Ende hat die Geschichte?‘) und der Wie-Spannung (‚Auf welchem Wege kommt dieses Ende zustande?‘) etabliert.33 Allerdings wurde in der Forschung der letzten Jahrzehnte zu Recht betont, daß diese traditionelle Dichotomie eine zu schematische Opposition darstellt. So hat sich insbesondere MANFRED PFISTER für die Überführung des qualitativen Gegensatzes in eine rein quantitative Differenz ausgesprochen und stattdessen ein Modell vorgeschlagen, das angesichts der immer nur partiellen Informiertheit des Rezipienten die unterschiedliche Länge der Spannungsbögen in den Mittelpunkt rückt.34 Obwohl diesem Einwand aus theoretischer Perspektive kaum widersprochen werden kann, bietet es sich aus praktischen Gründen dennoch an, die Unterscheidung für die weitere Untersuchung von Livius’ Werk beizubehalten.35 Denn der Begriff der Wie-Spannung hat inzwischen eine weitere Konzeptualisierung erfahren, in der unter anderem betont wurde, daß es sich hierbei um ein in literarischen Texten – vor allem bei der Behandlung mythischer Stoffe – allgemein häufig anzutreffendes Phänomen handelt, dessen Wirkung auf den Leser, der den Text bewußt rezipiert, nicht geringer sein muß als diejenige der Was-Spannung.36 ___________________________

32 Vgl. MILTSIOS 2009, v.a. 484: „Hence the foreshadowing of future actions lessens by no means out interest in the story; on the contrary, it leaves us in a state of emotional tension as to the way in which the action will unfold.“ 33 Vgl. z.B. ANZ 2003, 465: „Brecht differenziert zwischen ‚Spannung auf den Ausgang‘ und der ‚Spannung auf den Gang‘ der Handlung (…).“ 34 Vgl. PFISTER 2001, v.a. 143: „Sowohl struktur- als auch texturbezogene Spannung läßt sich also auf antizipierende Hypothesenbildung auf der Basis partieller Informiertheit zurückführen, wobei sich der Unterschied zwischen struktureller und textureller Spannung qualititativ als der einer unterschiedlichen ‚Reichweite‘ der Spannungsbögen beschreiben läßt: können im ersten Fall einzelne Spannungsbögen den ganzen Text überwölben, so kommt es im zweiten Fall immer nur zu kürzeren Spannungsbögen, und kann im ersteren Fall ein einziger Spannungsbogen dominant sein, so handelt es sich im zweiten Fall immer um ein Neben- und Ineinander mehrerer Spannungsbögen.“ u. ferner mit eine Anwendung auf das antike Drama FUCHS 2000, v.a. 50-53. 35 Vgl. z.B. LUCE 1971, 295: „The question is seldom ‘What will happen?’, but ‘How will it happen?’ The pleasure in reading was in recognition of the familiar, realized not so much in the fulfillment of a story, but in expectation of its fullfillment – suspense of anticipation, not of revelation.“ 36 Vgl. allg. BOOTH 1983, 125-133, u. ANZ 1998, 159: „Die mildere Wie-Spannung hat für die Literatur eine Bedeutung, die vielfach unterschätzt wird.“

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V. Der involvierte Leser

Nachdem wir mit dem verschiedenen Bekanntheitsgrad einzelner Ereignisse und den unterschiedlichen Formen von Spannung zwei wichtige Präzisierungen an dem hier im Mittelpunkt stehenden Problem vorgenommen haben, wollen wir nun auf die eingangs anhand der Redewendung Hannibal ad portas thematisierte Form des anomalous suspense zurückkommen. Dieser Begriff wurde von dem Psycholinguisten RICHARD GERRIG geprägt, der bei seinen Probanden 1989 eine kurzfristige Verunsicherung über den Ausgang einer ihnen an sich bekannten Geschichte (etwa über die Wahl von George Washington zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika) feststellen konnte, wenn sie während des Experimentes eine abweichende Darstellung zu lesen bekamen.37 Die Beobachtungen wurden später auch auf das Problem des Auftretens von Spannung bei der wiederholten Lektüre eines Textes übertragen,38 wobei sich neben der Bezeichnung als irreguläre auch diejenige als paradoxe Spannung etabliert hat.39 Die Vermutung liegt nahe, daß in ab urbe condita ähnliche Strategien verwendet werden, die auf die momentane Evozierung eines alternativen Geschichtverlaufs und damit auch auf die Erzeugung von anomalous suspense oder paradoxer Spannung angelegt sind.40 Die sich hieraus ergebende Nähe zur virtuellen Historiographie, mit der wir uns noch beschäftigen werden,41 kann darüber hinaus als Hinweis auf eine Parallele in der Erfahrungswelt der antiken Rezipienten dienen. Denn ein weitgehend analoges Rezeptionsverhalten erfordern auch die Deklamationen von ihren Zuhörern, die im Rom der augusteischen Zeit zunehmend beliebt werden und dabei gerne historische Themen aufgreifen. Sieht man sich zum Beispiel die von Seneca dem Älteren in den Suasorien genannten Gegenstände aus dem Bereich der Geschichte näher an, zeigt sich, daß der Rezipient auch hier seine historischen Kenntnisse über den tatsächlichen Ausgang vorübergehend ausblenden muß, um der Präsentation durch den Redner adäquat folgen zu können.42 Die Notwendigkeit der Suspendierung des Vorwissens wird auch von Quintilian im Zusammenhang der unterschiedlichen Arten von Beratungsreden konstatiert: ___________________________

37 Vgl. GERRIG 1989a u. GERRIG 1996; für eine Anwendung auf die Odyssee SCHMITZ 1994. 38 Vgl. GERRIG 1989b, 279: „When we read a text – fiction or non-fiction – we actively make predictions about possible courses the plot might take, but these predictions are based only on generic knowledge: the types of events that usually happen. Because experiences cannot be repeated, we do not seek out specific information about exactly what will happen. When we read a text for a second time, we are violating the general constraint on non-repetition. Anomalous suspense and anomalous replotting arise because the system acts in ignorance of these violations.“ u. BREWER 1996. 39 Vgl. z.B. CARROLL 1996; JUNKERJÜRGEN 2002, 63-65, u. KÖPPE 2008, 68-81. 40 Vgl. KRAUS 1997, 61: „While on one level such historical knowledge threatens the interest of the narrative – why read it if you know how it comes out? – Livy maintains the tension appropriate to such a story through his narrative immediacy, which as we read enables us to suspend, at least partially, the knowledge that Rome won this (and indeed every other) war.“ 41 S. unten S. 246-248. 42 Vgl. z.B. Sen. suas. 1.2.4.5.6 u. 7 mit z.B. MIGLIARIO 2007, 51-149; s. oben S. 170.

1. Spannung als Wirkungskategorie der antiken Geschichtsschreibung

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sed in iis quoque, quae constabit posse fieri, coniectura aliquando erit, si quaeretur an utique futurum sit ut Carthaginem superent Romani, ut redeat Hannibal, si Scipio exercitum in Africam transtulerit, ut servent fidem Samnites, si Romani arma deposuerint. quaedam et fieri posse et futura esse credibile est, sed aut alio tempore aut alio loco aut alio modo. Aber auch bei dem, von dem es feststeht, daß es geschehen kann, kann manchmal die Vermutungsfrage vorliegen, wenn etwa gefragt wird, ob es unbedingt geschehen wird, daß die Römer die Karthager überwinden; daß Hannibal zurückkehren wird, wenn Scipio sein Heer nach Afrika übergesetzt hat; daß die Samniten ihre Treuepflicht wahren, wenn die Römer die Waffen niedergelegt haben. Von manchem ist es glaublich, daß es sowohl geschehen kann als auch eintreten wird – jedoch entweder zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort oder auf eine andere Weise.43

Auch wenn sowohl das zeitliche Verhältnis der Entstehung von Livius’ Werk und der Etablierung der Deklamationen in Rom als auch der Einfluß, den diese Gattung auf einzelne Abschnitte seines Textes ausgeübt hat,44 umstritten ist und angesichts der dürftigen Zeugnislage eher bestritten werden sollte, läßt sich doch eine funktionale Parallele aufrecht erhalten. Denn auch ein Großteil von Livius’ Darstellung historischer Begebenheiten zielt auf die momentane Suspendierung des Vorwissens des Rezipienten, um ihn auf diese Weise zu einer engagierten Form der Lektüre und damit zugleich zur intensiveren Wahrnehmung der dargestellten Ereignisse zu animieren.45 Wenn man die drei in diesem Abschnitt vorgestellten Elemente – Unterscheidung nach dem Bekanntheitsgrad der dargestellten Episode, Differenzierung von Spannung auf den Ausgang und Spannung auf den Verlauf sowie die vorübergehende Ausblendung von historischen Vorwissen als Teil der Darstellungsstrategie – zusammennimmt, läßt sich zeigen, daß sich trotz der generellen Bekanntheit des Ausgangs der Geschichte, die ja nicht zuletzt in der von den Rezipienten erlebten Gegenwart besteht, bei ihrer Schilderung gleichwohl Spannung erzeugen läßt. Nachdem mit den bisherigen Überlegungen die Verwendung von Spannung als literarische Strategie in Livius’ Geschichtswerk von der Seite des Lesers plausibel gemacht werden sollte, soweit das im antiken Kontext möglich ist, soll in den weiteren Abschnitten nun der Nachweis auf der Seite des Textes erfolgen. ___________________________

43 Vgl. Quint. inst. 3,8,17 [Übers. RAHN 1995]. 44 Vor allem der Alexanderexkurs ist mehrfach in dieser Weise interpretiert worden (vgl. Liv. 9,17,1-19,17 mit z.B. BONNER 1949, v.a. 156f.) 45 Für Thukydides ist diese Strategie von JAMES MORRISON beschrieben worden: vgl. v.a. MORRISON 2006a, 14: „On one side, it is possible for the reader to enjoy a leisurely, distant view by looking at events in retrospect: this first perspective is that of the ‘distant’ or ‘retrospective’ reader, who knows the course of the war in outline, with the Athenian defeat in 404 providing the terminus towards which events are headed. There is, however, a second viewpoint: the engaged perspective. We find Thucydides employing techniques that produce a vivid, participatory experience for the ‘engaged’ reader. From this perpective, the reader must respond actively in contemplating past possibilities and potential future events.“

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V. Der involvierte Leser

2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation Eine besonders naheliegende narrative Strategie zur Erzeugung von Spannung besteht in der Verzögerung des vom Leser erwarteten Fortgangs der Handlung. Die Retardation kann dabei durch unterschiedliche Techniken auf allen Ebenen der Erzählung ausgelöst werden.46 Dies läßt sich schon bei den griechischen Historikern beobachten,47 die diese Elemente ihrerseits aus dem Epos übernommen haben dürften.48 Im folgenden sollen die verschiedenen narrativen Verfahren, die Livius für eine retardierende Darstellung und damit zur Spannungserzeugung verwendet, vorgestellt werden. Hierfür werden wir vom Kleineren zum Größeren übergehen und nach dem einzelnen Satz zunächst den Aufbau einfacher und mehrteiliger Schilderungen sowie dann schließlich die Anlage des Werkes in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen. a) Ni M. Porcius ...: Irreale Konditionalsätze als ‚Beinahe-Episoden‘ Daß schon die syntaktische Struktur eines einzelnen Satzes viele Möglichkeiten zur Erzeugung von Spannung bietet, wurde bereits verschiedentlich konstatiert49 und kürzlich von dem Anglisten ALWIN FILL systematisch untersucht.50 Neben vielen anderen grammatischen Elementen, die vor allem der Retardation der vom Rezipienten erwarteten Information dienen, werden von ihm in diesem Zusammenhang auch irreale Konditionalsätze als eine zentrale Strategie beschrieben.51 Diese dienen – zumeist in verneinter Form – zur Schilderung einer möglichen Entwicklung der Handlung, die zwar letztlich nicht zustande kommt, dem Leser aber auf diese Weise als kurze ‚Beinahe-Episode‘ lebhaft vor Augen gestellt wird („Dies oder jenes wäre um ein Haar passiert, wenn nicht im letzten Moment ...“). Diese narrative Technik läßt sich – vor allem bei der Schilderung dramatischer Szenen – bereits im homerischen Epos52 und im Geschichtswerk beispielsweise ___________________________

46 Vgl. ANZ 2003, 464: „Unterbrechungen oder Dehnungen des Handlungsverlaufs und der Informationsvergabe sind charakteristische Kennzeichen der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Intensivierung von Spannung.“ u. FILL 2007, v.a. 81. 47 Vgl. z.B. RENGAKOS 2004, 83-86, u. RENGAKOS 2006b, 292-295. 48 Vgl. z.B. REICHEL 1990; NESSELRATH 1992 u. RENGAKOS 1999, 311-320. 49 Vgl. ANZ 1998, 159f.: „Es gibt eine Vielzahl stilistischer Mittel, innerhalb eines Satzes durch das Hinauszögern erwarteter Informationen subtile Spannungseffekte zu erzielen.“ 50 Vgl. FILL 2007, v.a. 36-47. 51 Vgl. FILL 2007, 44f.: „In einer bestimmten Form des Konditionalsatzes erzeugt die Verbform (…) Spannung zwischen dem Inhalt des Satzes und der Wirklichkeit. Sätze dieser Art werden ‚irreale Konditionalsätze‘ oder ‚counterfactual conditionals‘ (…) genannt.“ 52 Vgl. DE JONG 1987, xvii: „One of the places where we can see the narrator and his narratees interacting is what I have called the ‘if not-situation’: ... I argue that this device has both a narrative function, to create suspense or pathos, and an ‘ideological’ function, to stress that the version persented by the narrator is according to fate, thus underscoring his authority.“; NESSELRATH 1992 u. GRETHLEIN 2006a, 269-280.

2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation

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des Thukydides beobachten.53 In beiden Fällen wird durch die angedeutete Schilderung eines virtuellen weiteren Verlaufes der Handlung einerseits Spannung erzeugt, andererseits aber auch die Gewißheit des Lesers in Bezug auf den – ihm in der Regel bekannten – Ausgang der Geschichte kurzfristig erschüttert.54 Solche Elemente der vorübergehenden Verunsicherung des Rezipienten lassen sich mit dem Konzept der paradoxen Spannung in Zusammenhang bringen,55 erfüllen bei Livius darüber hinaus aber auch eine zentrale Funktion bei der Vermittlung von Wissen über Vergangenheit, wie wir im Zusammenhang mit der Antizipation zukünftiger Ereignisse noch ausführlicher sehen werden.56 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß sich bei Livius – wie auch bei anderen römischen Historikern57 – zahlreiche Stellen finden lassen, die in dieser Weise als ‚Beinahe-Episoden‘ verstanden werden können.58 Ein gutes Beispiel bietet die Schilderung einer Schlacht an den geschichtsträchtigen Thermopylen, in der 191 v. Chr. das römische Heer unter M.’ Acilius Glabrio auf die Truppen des Seleukiden Antiochos III. trifft.59 Diese hatten sich im Engpaß verschanzt und den angreifenden Römern bereits große Verluste zugefügt, als sich durch das von Cato dem Älteren erfolgreich durchgeführte Umgehungsmanöver die Wende ergibt, die zur Flucht des Gegners und zum römischen Sieg führt: multi temere subeuntes vallum transfixi sunt; et aut incepto irrito recessissent aut plures cecidissent, ni M. Porcius ab iugo Callidromi deiectis inde Aetolis et magna ex parte caesis – incautos enim et plerosque sopitos oppresserat – super imminentem castris collem apparuisset. Viele, die blindlings gegen den Wall anstürmten, wurden durchbohrt. Und entweder hätten die Angreifer sich zurückziehen müssen, ohne daß das Unternehmen einen Erfolg gebracht hätte, oder es wären noch mehr gefallen, wenn M. Porcius, der die Ätoler inzwischen vom Kamm des Kallidromon geworfen und zum großen Teil niedergemacht hatte – sie hatten sich nämlich nicht vorgesehen und größtenteils geschlafen, als er sie überfiel –, sich nicht auf dem Hügel über dem Lager gezeigt hätte.60

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53 Vgl. z.B. ROOD 1998, 173; RENGAKOS 2004, 83-86, u. GRETHLEIN 2010, 248-252. 54 Vgl. GRETHLEIN 2006a, 280: „Indem ‚Beinahe-Episoden‘ einen alternativen Handlungsverlauf vorstellen, aber zur Tradition zurückkehren, machen sie es möglich, daß die Tradition gewahrt bleibt, aber trotzdem die Offenheit der Zukunft auf der Ebene der Handlung deutlich wird. Durch sie wird in eine Tradition, die Überraschungen weitgehend ausschließt, Kontingenz eingeführt.“ 55 S. oben S. 196-199. 56 S. unten S. 223-248. 57 Vgl. hierzu allg. CHAUSSERIE-LAPRÉE 1969, 597-609. 58 Für Beispiele in der 1. Pentade vgl. Liv. 2,47,3; 2,47,8; 2,50,10 u. 3,1,4 mit BURCK 1964 [1934], 215 Anm. 1; für Beispiele in den späteren Büchern Liv. 27,42,4; 29,6,13 u. 33,12,4 mit WALSH 1961, 201-203. 59 Vgl. Liv. 36,18,1-19,12 mit WALSH 1990, 93: „This battle is recounted also by Appian, Syr. 17-20, Diodorus 29.3 (both like Livy following Polybius’s lost account), and Plutarch, Cato Maior 13f. (probably using Cato’s own version), ...“ u. zur impliziten Verknüpfung der verschiedenen Schlachten in Livius’ Schilderung CHAPLIN 2010a. 60 Vgl. Liv. 36,18,8 mit WALSH 1990, 10.

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V. Der involvierte Leser

Dieser ausschlaggebende Moment wird in einem einzigen langen Satz geschildert, der dem Leser zunächst die kritische Lage deutlich vor Augen stellt. Dann wird mit der Eröffnung des Konditionalsatzes – ni M. Porcius – zwar ein Hinweis auf eine Veränderung der Situation gegeben, doch ohne daß dieser zunächst präzisiert wird. Stattdessen folgen ausführliche Rückblicke auf die von Cato in der Zwischenzeit errungenen Erfolge, deren retardierender Charakter vor allem in der Anführung gleich mehrerer Begründungen deutlich wird. Erst danach wird mit dem Verb des irrealen Konditionalgefüges der sich über den ganzen langen Satz erstreckende Spannungsbogen aufgelöst. Diese Art der Schilderung dient zwar einerseits der Betonung des entscheidenden Beitrags von Catos Erscheinen als deus ex machina zum Erfolg in dieser Schlacht,61 leistet andererseits aber auch einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung von Spannung und der momentanen Verunsicherung des Lesers über den tatsächlichen Fortgang der Handlung. b) Der Schauplatzwechsel im annalistischen Schema als ‚Schnitt‘ Wenn wir uns nach der Ebene des Satzes nun der Schilderung einer einzelnen Episode oder einer Folge von Szenen zuwenden, so stehen Livius, der schon von Quintilian gerade für seine narratio gerühmt wird,62 prinzipiell alle diejenigen Möglichkeiten zur Verfügung, die in erzählenden Texten generell zur Retardation verwendet werden. Zwar sind der Reduzierung der Erzählgeschwindigkeit durch eine ausführlichere Schilderung oder dem Einfügen von Exkursen – etwa einer Rede oder einer Ekphrasis – durch die historische Quellenlage letztlich gewisse Grenzen gesetzt. Dennoch sollte der Gestaltungsspielraum, der sich auf dieser Ebene auch für einen Geschichtsschreiber ergibt, nicht unterschätzt werden.63 Das läßt sich etwa an den verschiedenen Elementen verdeutlichen, mit denen der bereits angekündigte Ausbruch von Roms zweiten Krieg gegen Karthago64 in der ersten Hälfte des 21. Buches immer wieder hinausgezögert wird. So heißt es schon bei der Erwähnung von Hamilkars Tod ausdrücklich, daß der bevorstehende Krieg nur durch diesen glücklichen Umstand und die Jugend Hannibals aufgeschoben worden sei (mors Hamilcaris peropportuna et pueritia Hannibalis distu___________________________

61 Vgl. WALSH 1990, 97: „This chapter [sc. § 18] affords an excellent example of Livy’s techniques of dramatic presentation in battle-accounts. In Appian, Syr. 18f. (…), the success of Cato in dislodging the Aetolians is introduced before the main battle. Livy reserves the information until the close of the chapter, when Cato appears as a deus ex machina to change the course of the battle.“ 62 Vgl. Quint. inst. 10,1,101. 63 Zur Erzeugung von Spannung durch Leerstellen in der Erzählung GÄRTNER 1999, v.a. 35f.: „Die Spannung, die dabei entsteht, beruht demnach auf der Mitarbeit des Lesers. Gleichzeitig wird dem Leser das Gefühl der Gemeinschaft vermittelt, da er merkt, daß ihm vom Autor die Fähigkeit zugebilligt wird, diese Lücken im Text durch Wissen oder Schlußfolgerungen zu schließen.“ 64 Vgl. Liv. 21,1,1.

2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation

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lerunt bellum).65 Darauf folgt eine ausführliche Schilderung der Zeit, in der Hasdrubal den Oberbefehl über das karthagische Heer in Spanien innehatte.66 Daran schließt sich als ein weiteres retardierendes Moment die Wiedergabe der Debatte um die Ernennung Hannibals als Nachfolger Hasdrubals im karthagischen Senat an, in deren Kontext sogar die Gegenargumente Hannos detailliert und in direkter Rede referiert werden.67 Die Retardation des Ausbruchs des zweiten Kriegs gegen Karthago im 21. Buch 1,1-2,2 2,3-2,7 3,1-4,10 5,1-5,17 6,1-6,8 7,1-9,2 9,3-9,4 10,1-11,2 11,3-12,3 12,4-13,9 14,1-15,2 15,3-15,6 16,1-17,9 18,1-19,5

Binnenproöm mit dem Krieg gegen Hannibal als Themenangabe Kommando Hasdrubals in Spanien als retardierendes Moment Debatte um die Entsendung Hannibals nach Spanien Hannibal übernimmt das Kommando und bereitet den Krieg vor Gesandtschaft Sagunts vor dem römischen Senat Belagerung Sagunts I: Kämpfe mit wechselndem Erfolg Römische Gesandtschaft vor Sagunt Römische Gesandtschaft in Karthago Belagerung Sagunts II: erste Erfolge Hannibals Verhandlungsversuche des Alco und Alorcus Belagerung Sagunts III: Einnahme und Zerstörung der Stadt Diskussion der chronologischen Probleme Reaktion in Rom: Stimmungsbild und Kriegsvorbereitungen Römische Gesandtschaft in Karthago und Kriegserklärung

Doch auch nachdem Hannibal das Kommando in Spanien übernommen und durch die Belagerung Sagunts sogleich mit den Kriegsvorbereitungen begonnen hat,68 finden sich noch eine Reihe weiterer Elemente, die den Ausbruch zunächst verzögern. Dazu gehören zum einen die sehr umfangreich dargestellten, letztlich aber ergebnislos verlaufenden Gesandtschaften der Saguntiner nach Rom69 sowie der Römer nach Sagunt70 und Karthago.71 Zum anderen wirkt die Schilderung der Belagerung Sagunts selbst retardierend. Hierfür stellt der hartnäckige Widerstand eine wichtige historische Voraussetzung dar, dessen Wirkung aber durch die Art seiner Wiedergabe erheblich verstärkt wird. Dabei spielt neben der Ausführlichkeit der Darstellung72 ihr Aufbau eine wichtige Rolle, da die dramatische

___________________________

65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Liv. 21,2,3. Vgl. Liv. 21,2,3-2,7. Vgl. Liv. 21,3,1-4,1; zur Funktion Hannos als ‚Warner‘ vgl. MADER 1993, 209-216. Vgl. Liv. 21,5,1-5,2. Vgl. Liv. 21,6,2-6,8 u. dag. Pol. 3,15-16 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 55-62. Vgl. Liv. 21,9,3-9,4. Vgl. Liv. 21,10,1-11,2; bei der Gesandtschaft handelt es sich möglicherweise um eine Dublette zu derjenigen nach der Eroberung Sagunts (vgl. Liv. 21,18,1-19,11 u. Pol. 3,20-22 mit z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 62-82, u. HOYOS 1998, 174-232). 72 Vgl. Liv. 21,7,1-15,2; die Schilderung bei Polybios ist deutlich kürzer: vgl. Pol. 3,17.

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Schilderung der Belagerung zweimal unterbrochen wird, um von der römischen Gesandtschaft73 und den Verhandlungen des Alco und Alorcus74 zu berichten, ehe nach dem Scheitern der Bemühungen die Einnahme der Stadt erfolgt.75 Als Reaktion auf die Eroberung Sagunts erfolgt dann – allerdings erst nach der Diskussion der chronologischen Probleme der zuvor präsentierten Version76 – die Schilderung einer weiteren Gesandtschaft nach Karthago, die in der berühmten ‚Bausch-Szene‘ schließlich den Krieg erklärt.77 Die Stellen erweisen sich als um so aussagekräftiger für Livius’ Technik, da die Mehrzahl von ihnen bei Polybios fehlt oder dort deutlich kürzer behandelt wird. Diese Art der Darstellung leistet zwar dadurch, daß das eigentlich erwartete Ereignis immer wieder aufgeschoben und auf diese Weise mit einer umfangreichen, die Beurteilung beeinflussenden Vorgeschichte versehen wird, auch einen wichtigen Beitrag zur Rechtfertigung des römischen Handelns – sowohl der Kriegserklärung als auch der fehlenden Unterstützung für das belagerte Sagunt –, darüber hinaus kann die hier zu beobachtende Erzeugung von Spannung mit Hilfe der wiederholten Retardation aber auch als zentrales Element einer ansprechenden Gestaltung des Textes angesehen werden, das auf eine stärkere Bindung des Lesers abzielt. Während die bislang beschriebenen Techniken prinzipiell in jedem narrativen Text verwendet werden können, ergibt sich für Livius aus der Wahl des annalistischen Schemas als grundsätzlicher Gliederung eine zusätzliche Möglichkeit, die darin besteht, daß der durch die Jahresstruktur bedingte Schauplatzwechsel zur Retardation und damit zur Erzeugung von Spannung genutzt werden kann. Diese Option ist zwar auf Ereignisse beschränkt, die sich über mehrere Jahre erstrecken, und zudem in gewissem Umfang an die historischen Fakten gebunden, doch auch hier kann ein genauerer Blick auf die tatsächliche Umsetzung im Text zeigen, daß der innerhalb des annalistischen Schemas vorhandene Gestaltungsspielraum vergleichsweise groß ist.78 Gute Beispiele für die Technik solcher als gezielte ‚Schnitte‘ zur Steigerung der Spannung eingesetzter Schauplatzwechsel enthält das 23. Buch. Dort werden die militärischen Aktionen Hannibals und der Römer in den Jahre 216 und 215 v. Chr., die vor allem in Süditalien, aber auch in Norditalien und Spanien sowie auf Sizilien und Sardinien stattfinden so beschrieben, daß der Schauplatzwechsel häufig genau vor dem Ende der geschilderten Aktionen angesetzt ist. Der Leser wird auf diese Weise zunächst im Unklaren gelassen, wie zum Beispiel die Bela___________________________

73 Vgl. Liv. 21,9,3-11,2. 74 Vgl. Liv. 21,12,4-13,9. 75 Vgl. z.B. WALSH 1961, 196: „By such piecemeal description the reader is not confronted with a concentrated version of the warfare, and is kept in suspense as the climax develops in three seperate acts.“ 76 Vgl. Liv. 21,15,3-15,6 mit z.B. LUCE 1977, xxi.141-142; WALSH 1982, 1062; SEEK 1983, 82-85, u. HÄNDL-SAGAWE 1995, 47f.58-60.93-95. 77 Vgl. Liv. 21,18,1-19,5. 78 Zu den Möglichkeiten der variato im annalistischen Schema allg. s. oben S. 102-122.

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gerung von Casilinum enden wird, wenn er stattdessen zunächst einen ausführlichen Bericht über Hannibals Winterlager 216/215 v. Chr. in Capua erhält.79 Auch im folgenden Jahr finden sich in gleicher Weise auf eine Retardation der Handlung zielende Übergänge zwischen den einzelnen Schauplätzen: So wird etwa zunächst der abenteuerliche Weg der Gesandten des makedonischen Königs Philipp V. durch Italien geschildert, die ein Bündnis zwischen ihm und Hannibal vereinbaren sollen.80 Doch als diese schließlich von römischen Patrouillenbooten aufgegriffen werden, geschieht vor ihrer Übersendung nach Rom, aber nach dem spannungssteigernden Hinweis, daß sie auf die verschiedenen Schiffe verteilt wurden, damit sie sich nicht unter einander absprechen können, der mit per idem tempus markierte Übergang zu den Ereignissen auf Sardinien.81 Danach folgt der Erzähler kurz einer karthagischen Flotte, um diese, als sie nach einem schweren Unwetter auf den Balearen notlanden muß, wieder zu verlassen und sich den gleichzeitigen Ereignissen in Kampanien zuzuwenden.82 Dort kommt es hinsichtlich der Erzeugung von Spannung für den Leser nun zu einer weiteren Steigerung: Denn die Kampaner bereiten für die Senatoren von Cumae, die sie zum Abfall von Rom bringen wollen, einen Hinterhalt vor. Zwischen dessen Vorbereitung und der Verhinderung ist aber ein Abschnitt eingefügt, in dem geschildert wird, wie Sempronius Gracchus sein unter anderem aus Sklaven neu formiertes Heer ausbildet.83 In der Folge kommt es nach und nach zur Zusammenführung der bislang getrennt behandelten Handlungsfäden,84 ehe kurz vor dem Ende des 23. Buches mit den Ereignissen vor Nola ein neuer inhaltlicher Akzent gesetzt wird.85 Die Schilderung der vorangehenden Zeit, die nicht mit in gleicher Weise bedeutenden Ereignissen aufwarten konnte, hat jedoch durch die spezifische Strukturierung mit wiederholten Retardationen und der dadurch ausgelösten Spannung den Leser gleichwohl ‚bei der Stange halten‘ können. c) Die Einteilung in Bücher und die Option zum cliffhanger In ähnlicher Weise wie der im annalistischen Schema geregelte Schauplatzwechsel kann auch der Einschnitt, der sich durch die Einteilung des ganzen Werkes in einzelne Bücher ergibt,86 für die Retardation und die Erzeugung von Spannung genutzt werden. Im Gegensatz jedoch zur Veränderung der Reihenfolge im Text ___________________________

79 Vgl. Liv. 23,17,7-18,9 (erste Phase der Belagerung); 18,10-18,16 (Hannibals Winterlager) u. 19,1-20,3 (zweite Phase der Belagerung). 80 Vgl. Liv. 23,33,1-34,9. 81 Vgl. Liv. 23,34,9. 82 Vgl. Liv. 23,34,16-34,17. 83 Vgl. Liv. 23,35,1-35,4 (Vorbereitung des Hinterhaltes); 35,5-35,9 (Ausbildung im Lager von Gracchus’ Heer) u. 35,10-35,19 (Gracchus vereitelt den Hinterhalt). 84 Vgl. Liv. 23,38,1-41,12. 85 Vgl. Liv. 23,41,13-46,7. 86 Zu den weiteren Folgen der Einteilung in Bücher s. oben S. 109-118.

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selbst, kann der Autor in diesem Fall die Länge der Verzögerung nicht selbst bestimmen, da diese davon abhängt, wann der Leser die nächste Rolle in die Hand nimmt. Gerade deswegen ist es aber ein naheliegender Gedanke, hier besonders wirksame Mittel der Leserbindung einzusetzen, damit diese Unterbrechung so kurz wie möglich ausfällt und nicht zum kompletten Abbruch der Lektüre führt. Daß dieser Aspekt auch bei der Einteilung der Buchgruppen eine Rolle spielte, hat JAMES T. LUCE plausibel gemacht, der anhand der Angaben der periochae für eine Reihe von Themenkomplexen in den nicht erhaltenen Büchern zeigen konnte, daß sich ihre Behandlung über die jeweilige Zäsur der Pentade oder Dekade hinaus erstreckt hat.87 Diese Beobachtung trifft jedoch in den überlieferten Teilen bei der Behandlung größerer Zusammenhänge nicht in gleicher Weise zu, vielmehr kann hier – wie am Beispiel von Roms zweitem Krieg gegen Karthago in der dritten Dekade besonders deutlich wird – das Gegenteil als die Regel gelten, was LUCE auf eine Weiterentwicklung von Livius’ literarischer Technik im Laufe der Abfassung zurückgeführt hat. Seine Beobachtung läßt sich aber auch in den erhaltenen Büchern bestätigen, wenn man den Blick statt auf ganze Geschehenskomplexe auf einzelne Handlungsstränge lenkt. Daß sich Livius hier gerne einer Technik bedient, für die sich in der Filmwissenschaft der – ursprünglich dem Fortsetzungsroman entstammende Terminus – cliffhanger eingebürgert hat,88 zeigt sich rasch bei einem Blick auf die Gestaltung der Schlußpassagen der einzelnen Bücher. Noch deutlicher tritt die Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts in ab urbe condita hervor, wenn man die Praxis hier mit derjenigen Caesars in seinen commentarii de bello Gallico vergleicht. Dort bildet nicht nur die Rückkehr der Legionen in die Winterlager ein am Ende jeden Jahres und damit auch jeden Buchs wiederkehrendes Element, sondern der Erzähler versucht zudem, alle militärischen Aktionen und sonstigen Ereignisse als zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen darzustellen.89 Diese Gliederung paßt gut zur Funktion der commentarii als jährlicher Tatenbericht und zur Darstellungsabsicht ihres Verfassers, hat aber zugleich auch Folgen für den Leser, für den sich an der Buchgrenze die Gelegenheit zum Innehalten ergibt. Darüber hinaus kann das Bestreben, inhaltlich abgeschlossene Bücher zu bilden, in der Geschichtsschreibung schon auf eine längere Tradition zurückblicken, deren Vorreiter in Rom möglicherweise der ältere Cato war.90 Auch Livius macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, wie sich vor allem an der Behandlung der gesamten Königszeit im 1. Buch und an der Einteilung von Pentaden und Dekaden ___________________________

87 Vgl. LUCE 1977, v.a. 20-23; ausführlicher s. oben S. 115-117. 88 Vgl. z.B. TÜRSCHMANN 2008, 226f. 89 Vgl. BATSTONE / DAMON 2006, 38: „The return to winter camps generelly signals a break in the fighting, and Caesar is careful to avoid reference to anything that would call attention to the fact that each book ends in the middle of a war. ... Thus we can see Caesar as a narrator trying to avoid reference to those events that spill over the yearly boundaries of his commentary.“ 90 Vgl. Nep. Cato 3,3-3,4; ausführlicher s. oben S. 111.

2. Die Erzeugung von Spannung durch Retardation

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zeigt. Daneben gibt es aber zahlreiche Buchenden, an denen auf den Abschluß eines Handlungszusammenhangs offenbar bewußt verzichtet wird. Stattdessen wird die Entwicklung in der Schwebe gelassen oder der weitere – mit Vorliebe für den Leser bedrohliche – Verlauf mit gezielten Vorverweisen angedeutet, um auf diese Weise Spannungsbögen gerade über den materiellen Einschnitt des Endes der Papyrusrolle hinaus zu konstruieren. Diese sollen die Unterbrechung der Lektüre, die als solche unvermeidlich ist und in gewissen Umfang auch erwartet wird, wie die gelegentlichen Zusammenfassungen wichtiger Ereignisse zu Beginn eines neuen Buches zeigen,91 so kurz wie möglich ausfallen lassen. Eindrucksvolle Beispiele für diese Technik lassen sich erneut am Beginn der dritten Dekade beobachten. So endet das 21. Buch mit einer ausführlichen Darstellung der mit der Wahl von C. Flaminius zum Konsul für das Jahr 217 v. Chr. verbundenen politischen und religiösen Probleme.92 Vor allem seine Fehler und Versäumnisse im rituellen Bereich, die im Amtsantritt in Ariminum statt in Rom und seinem mißglückten Opfer zur Einführung gipfeln, müssen vom Leser als Hinweis auf ein im nächsten Jahr drohendes Unheil verstanden werden.93 Diese Deutung wird zudem noch verstärkt, wenn der Erzähler die Reaktion der Zeitgenossen beschreibt: id a plerisque in omen magni terroris acceptum („Die meisten erblickten darin ein Zeichen von schrecklicher Vorbedeutung.“).94 Daraus ergibt sich für den Rezipienten – und zwar unabhängig davon, ob sein historisches Wissen ihm die Identifikation des bedrohlichen Ereignisses mit der Niederlage am Trasimenischen See erlaubt – ein starker Impuls zur Fortsetzung der Lektüre. Auch am Ende des 22. Buchs wird in ähnlicher Weise die Unabgeschlossenheit der Handlung betont, wenn die unterschiedlichen Reaktionen auf die Niederlage bei Cannae 216 v. Chr. geschildert werden: Während viele Bundesgenossen sich abwenden, weil sie nun mit der endgültigen Niederlage Roms in absehbarer Zeit rechnen,95 wird zugleich die ungebrochene Zuversicht und der Durchhaltewille in Rom selbst betont.96 Indem hier noch im Unklaren gelassen wird, welche der beiden Bewertungen der Situation sich als zutreffend erweist, wird der Leser zu Vermutungen über den weiteren Verlauf der Handlung animiert. Diese dienen erneut der Erzeugung von Spannung und damit der Verkürzung der Lesepause. Wie schon im 22. Buch so fällt auch das Ende des 23. Buches nicht mit dem Abschluß eines Jahres zusammen. Dennoch läßt sich auch hier das Bemühen er___________________________

91 Vgl. z.B. Liv. 22,1,1 (die gescheiterte Apenninüberquerung Hannibals in Buch 21) oder 23,1,1 (die Einnahme der römischen Lager nach der Schlacht bei Cannae in Buch 22); ausführlicher zu Querverweisen innerhalb des Werkes s. oben S. 118-122. 92 Vgl. Liv. 21,63,1-63,15; zur Tendenz der römischen Historiographie, C. Flaminius die Schuld für die Niederlage am Trasimenischen See zu geben, vgl. z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 391-397, u. MEISSNER 2000. 93 Vgl. z.B. BURCK 1962 [1950], 78, u. LEVENE 1993, 38-43. 94 Vgl. Liv. 21,63,14. 95 Vgl. Liv. 22,61,10-63,12. 96 Vgl. Liv. 22,61,13-61,15.

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V. Der involvierte Leser

kennen, dem Leser eine Zusammenfassung über die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit zu geben und zugleich die Offenheit der weiteren Entwicklung zu betonen. Dies geschieht hier mit Hilfe eines Schauplatzwechsels nach Spanien, der aber eng mit dem Geschehen in Rom verbunden ist: Die Überleitung wird durch einen Brief der Scipionen geleistet, deren Bitte um weitere Unterstützung nach ausführlicher Debatte bewilligt wird.97 Der Erzähler folgt dann den neuen Truppen nach Spanien und berichtet von den dort errungenen Siegen.98 Den Abschluß des Buchs bildet jedoch ein Satz, der mit der expliziten Konstatierung des Ausnahmecharakters der diesjährigen Erfolge in Spanien effektvoll auf die drohenden Gefahren in Italien verweist: multoque maiores ea aestate in Hispania quam in Italiae res gestae („und in diesem Sommer geschahen in Spanien viel wichtigere Dinge als in Italien“).99 Die hier besprochenen Stellen können verdeutlichen, daß es in ab urbe condita neben einigen thematisch abgeschlossenen Büchern auch zahlreiche Beispiele für die bewußte Gestaltung eines offenen Endes gibt. Durch die Verwendung von cliffhanger-Elementen wird Spannung erzeugt und der Leser zur Fortsetzung der Lektüre trotz der materiellen Unterbrechung beim Wechseln der Rolle animiert. In diesem Sinne ähnelt die von Livius’ angewandte Technik anderen Formen des seriellen Erzählens, etwa dem aus Zeitungen bekannten Fortsetzungsroman.100 d) Zwischenfazit: Geschichtsschreibung als ‚Fortsetzungsroman‘ Die unterschiedlichen retardierenden Elemente auf der Ebene des Satzes, einer einzelnen Handlung und der Gliederung des Werks in seiner Gesamtheit leisten einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung von Spannung und verstärken nicht nur die Unterhaltung des Lesers, sondern auch seine Motivation zur Fortsetzung der Lektüre. Zugleich führt die Verwendung dieser Techniken aber auch zur veränderten Wahrnehmung des dargestellten historischen Geschehens. Auch dies läßt sich auf allen behandelten narrativen Ebenen beobachten: Sowohl innerhalb des syntaktischen Gefüges eines einzelnen Satzes als auch bei der Darstellung von größeren Handlungskomplexen wird durch die Verzögerung oder das Infragestellen des vom Leser erwarteten Endes eine zumindest kurzfristige Verunsicherung über den weiteren Gang der Handlung ausgelöst. Indem das historische Geschehen dem Rezipienten als zum Zeitpunkt des Vollzugs ergebnisoffen präsentiert wird, verbindet sich die literarisch ansprechende Form der Darstellung mit einem wichtigen Anliegen der historiographischen Vermittlung der Vergangenheit. Auch die häufige Überbrückung von möglichen Zäsuren in der historischen Erzählung wirkt sich nicht nur auf die Leserbindung aus und erfüllt damit eine ___________________________

97 98 99 100

Vgl. Liv. 23,48,4-49,4. Vgl. Liv. 23,49,5-49,13. Vgl. Liv. 23,49,14. Vgl. allg. TÜRSCHMANN 2008.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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wichtige Funktion bei der Motivation des Rezipienten zur Aufrechterhaltung der Lektüre, sondern verändert auch die Wahrnehmung der Geschichte. Denn die verbindenden Elemente betonen den Zusammenhang des historischen Geschehens auch über den materiellen Einschnitt der Buchgrenze hinweg, so daß dem Leser die in ursprünglich 142 einzelnen Büchern präsentierte Vergangenheit stärker als ein Kontinuum erscheinen kann. Zugleich führen diese an den modernen Fortsetzungsroman erinnernden Techniken auch dazu, daß im Text in seiner Gesamtheit eine stärkere Spannung auf seinen letztlichen Ausgang entsteht. Da das Ende des Werkes, wie schon in der praefatio mitgeteilt wird, aber mit der Gegenwart des Rezipienten und damit der augusteischen Zeit als Zielpunkt der Geschichte identisch ist, ergibt sich auch hier aus den Techniken zur Erzeugung von Spannung eine verstärkende Wirkung für die Darstellung und Deutung des Inhalts.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie a) Die detaillierte Schilderung und die Identifikation mit den Figuren Eine wichtige Voraussetzungen für die Erzeugung von Spannung ist die Identifikation des Rezipienten mit einer Figur oder einer Gruppe von Personen innerhalb der Darstellung.101 Um diese zu ermöglichen, muß der Text eine bestimmte Menge an Informationen über die Hintergründe, Motive und Pläne der betreffenden Personen enthalten. Das auf diese Weise unterbreitete Angebot der Identifikation wird vom Leser darüber hinaus dann bereitwilliger angenommen werden, wenn zwischen ihm und der Figur möglichst viele Übereinstimmungen zu beobachten sind. Die Ähnlichkeiten in Hinsicht auf Lebenslage, Geschlecht oder Nationalität erweisen sich aber weder als notwendige noch als hinreichende Bedingung.102 Dieser Umstand ist deswegen wichtig, weil gerade bei der Beschäftigung mit der antiken Geschichtsschreibung häufig davon ausgegangen wird, daß sich die Identifikation des Lesers gleichsam zwangsläufig über die Zugehörigkeit zur gleichen Ethnie ergibt.103 Wie im letzten Kapitel aber schon anhand der unterschiedlichen Perspektiven auf das historische Geschehen gezeigt werden konnte,104 handelt es sich hierbei nur um eine mögliche Wahrnehmung des historischen Geschehens. ___________________________

101 Vgl. PFISTER 2001, 144: „Ein Faktor, der unmittelbar die Spannung beeinflußt, ist der Grad der Identifikation des Rezipienten mit der fiktiven Figur, die das Subjekt der folgenden Handlungssequenzen ist. Je stärker diese Identifikation ist, um so engagierter wird der Rezipient deren Pläne, Alternativen und Risiken mitverfolgen, und um so stärker wird er auf die folgenden Handlungssequenzen gespannt sein.“; zum Problem der Identifikation mit fiktionalen Figuren RADFORD / WESTON 1975 u. MELLMANN 2006. 102 Vgl. allg. VORDERER 1996 u. JUNKERJÜRGEN 2002, 36-42. 103 Dieses Denkmodell liegt auch Dionysios’ Kritik an Thukydides’ Historien zugrunde, deren Fehler seiner Ansicht nach gerade darin besteht, daß sie griechischen Lesern keine Identifikation mit den Protagonisten erlaubt (vgl. Dion. Hal. Pomp. 3,4-15 u. de Thuc. 37-41 mit z.B. FOX 1993, 37-41, u. WIATER 2011, 130-165). 104 S. oben S. 125-128.

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V. Der involvierte Leser

Wenn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten historischen Gruppierung also nicht das entscheidende Kriterium für die Identifikation des Lesers mit den Personen der Handlung ist, dann rückt die Art der Darstellung in den Mittelpunkt des Interesses. Neben der Menge der Informationen als solcher105 kommt dabei ihrer emotionalen Qualität eine zentrale Rolle zu.106 Das gilt sowohl für die Schilderung der Gefühle von Personen der Handlung107 als auch für die dadurch beim Leser ausgelösten Reaktionen.108 Trotz der Schwierigkeiten, mit denen die zuverlässige Rekonstruktion antiker Emotionen verbunden ist,109 können wir in diesem Fall unter dem antiken Begriff der ἐνάργεια auf ein gut dokumentiertes Konzept einer literarischen Technik zurückgreifen, deren Qualität in der Erzeugung einer detaillierten und emotional aufgeladenen Darstellung gesehen wurde. Die Konzeptualisierung von ἐνάργεια oder evidentia als einer Kategorie der literarischen Darstellung erfolgt zunächst unabhängig von der Geschichtsschreibung und läßt sich sowohl in den theoretischen Äußerungen zur Rhetorik110 und zur Dichtung,111 jeweils vor allem im Zusammenhang der Ekphrasis, verorten. Doch schon das von Quintilian in seiner institutio oratoria zur Illustrierung dieser Technik gewählte Beispiel der Schilderung einer urbs capta verdeutlicht die große Nähe zur Geschichtsschreibung: sic et urbium captarum crescit miseratio. sine dubio enim qui dicit expugnatam esse civitatem complectitur omnia quaecumque talis fortuna recipit, sed in adfectus minus penetrat brevis hic velut nuntius. at si aperias haec, quae verbo uno inclusa erant, apparebunt effusae per domus ac templa flammae et ruentium tectorum fragor et ex diversis clamoribus unus quidam sonus, aliorum fuga incerta, alii extremo complexu suorum cohaerentes et infantium feminarumque ploratus et male usque in illum diem servati fato senes: tum illa profanorum sacrorumque direptio, efferentium praedas repetentiumque discursus, et acti ante suum quisque praedonem catenati, et conata retinere infantem suum mater, et sicubi maius lucrum est pugna inter victores. licet enim haec omnia, ut dixi, complectatur ‚eversio‘, minus est tamen totum dicere quam omnia. ___________________________

105 Vgl. BREWER 1996, 109: „A necessary condition for the involvement in a fictional world is some degree of detail in the description of the events and the characters of the ficitional world. Thus, an abstract plot summary of a suspenseful novel can give the basic event sequence, yet it does not elicit an emotional response in the reader.“ u. ferner WENZEL 2004, 186. 106 Zur emotionalen Reaktion auf Literatur vgl. allg. ANZ 1998 sowie ferner z.B. VAN HOLT / GROEBEN 2006. 107 Vgl. MACMULLEN 2003, 1-50, u. ferner zur Darstellung von Tränen bei griechischen Historikern LATEINER 2009. 108 Für die antike Historiographie vgl. MARINCOLA 2003; zur Bedeutung der Emotionen als Leseanreiz für Geschichtsschreibung allgemein vgl. HERNANDI 1981. 109 Vgl. CAIRNS 2008. 110 Vgl. v.a. Quint. inst. 8,3,62-71 sowie ferner LAUSBERG 1960, 399-407 (§§ 810-819), u. WEBB 2009, 87-106. 111 Vgl. v.a. Ps.-Long. de sublim. 15,1-15,10 sowie ferner ZANKER 1981 u. OTTO 2009.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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So wächst auch das Gefühl des Jammers bei der Einnahme von Städten. Zweifellos nämlich erfaßt derjenige, der sagt, die Gemeinde sei erobert worden, alles, was nur ein solcher Schicksalsschlag enthält, jedoch dringt es wie eine knappe Nachricht zu wenig tief ein in unser Gefühl. Wenn du dagegen das entfaltetest, was alles das eine Wort enthielt, dann wird das Flammenmeer erscheinen, das sich über die Häuser und Dächer ergossen hat, das Krachen der einstürzenden Dächer und das aus den so verschiedenen Lärmen entstehende eine Getöse, das ungewisse Fliehen der einen, die letzte Umarmung, in der andere an den Ihren hängen, das Weinen der Kinder und Frauen und die unseligerweise bis zu diesem Tag vom Schicksal bewahrten Greise; dann die Plünderung der geweihten und ungeweihten Stätten, die Beute, die die Eroberer wegschleppen, deren Umhereilen, um sie einzutreiben, die Gefangenen, die jeder Sieger in Ketten vor sich hertreibt, die Mutter, die versucht, wenigstens ihr eigenes Kind festzuhalten, und wo es sich um größeren Beuteanteil handelt, der Wettstreit unter den Siegern. Mag auch das Wort ‚Zerstörung‘ all das, wie gesagt, umfassen, so ist es doch weniger, das Ganze auszusprechen, als alles.112

Es ist daher wenig überraschend, daß sich bereits bei den frühesten Vertretern der Geschichtsschreibung in Griechenland Stellen finden lassen, an denen mit Hilfe von ἐνάργεια eine besonders detaillierte und auf die emotionale Wirkung berechnete Darstellung verwendet wird. Dies gilt auch für Herodot und Thukydides, auch wenn der Begriff erst in hellenistischer Zeit als literarischer terminus technicus zu greifen ist. Doch sollte hieraus nicht der Schluß gezogen werden, daß die Technik als solche vorher nicht zum Repertoire der Historiker gehört hätte.113 Dies kann heute auch deswegen als weitgehend akzeptiert gelten, weil man sich von der Vorstellung der Entwicklung einer spezifischen Form der tragischen Geschichtsschreibung im Zuge einer Degenerierung der Historiographie der klassischen Zeit während des Hellenismus zu Recht verabschiedet hat.114 Gleichwohl läßt sich in dieser Zeit analog zur terminologischen Fixierung auch eine Intensivierung der Verwendung der ἐνάργεια in verschiedenen Gattungen beobachten. Auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung läßt sich dies insbesondere an der Kritik ablesen, die Polybios an einigen seiner Vorgänger übt. Vor allem den Historiker Phylarch, der in der zweiten Hälfte des 3. Jh. v. Chr. gelebt hat, kritisiert er für dessen seiner Meinung nach übertriebenes Streben nach ἐνάργεια.115 Doch auch Polybios spricht sich nicht generell gegen das Evozieren von Emotionen als ___________________________

112 Vgl. Quint. inst. 8,3,67-69 [Übers. RAHN 1995] mit z.B. PAUL 1982 u. FOUCHER 2000a, 378-383. 113 Vgl. z.B. Plut. de gloria Atheniensum 347a: ὁ γοῦν Θουκυδίδης ἀεὶ τῷ λόγῳ πρὸς ταύτην ἁμιλλᾶται τὴν ἐνάργειαν, οἷον θεατὴν ποιῆσαι τὸν ἀκροατὴν καὶ τὰ γινόμενα περὶ τοὺς ὁρῶντας ἐκπληκτικὰ καὶ ταρακτικὰ πάθη τοῖς ἀναγινώσκουσιν ἐνεργάσασθαι λιχνευόμενος. („Thukydides jedenfalls strebt in seinem Werk immer nach Anschaulichkeit, da er darauf aus ist, den Rezipienten gleichsam zum Zuschauer zu machen und die Empfindung von Schrecken und Bestürzung der Augenzeugen auch bei seinen Lesern zu bewirken.“) mit z.B. NICOLAI 1992, 139-155; WALKER 1993, v.a. 355-361, u. MARINCOLA 2003. 114 Zu dieser Diskussion s. oben S. 55-57. 115 Vgl. v.a. Pol. 2,56-59 mit MARINCOLA 2001, 127f., u. MARINCOLA 2003, 293-302.

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V. Der involvierte Leser

Teil der historiographischen Darstellung aus, sondern tadelt nur die Verwendung dieser Technik im Übermaß und im falschen Kontext. Es besteht daher auch kein qualitativer Widerspruch, sondern eher ein quantitativer Unterschied zur Rolle, die Dionysios von Halikarnassos der emotionalen Schilderung in seiner Konzeption der Geschichtsschreibung beimißt.116 Daß die Debatte über das richtige Maß bei der Verwendung von Emotionen zur Schilderung geschichtlicher Vorgänge nicht nur im Hellenismus,117 sondern auch im Rom der Späten Republik intensiv geführt wurde, kann neben einem erneuten Blick auf Ciceros Brief an den Historiker Lucceius118 auch die Beschreibung der Wirkung von Asinius Pollios Werk über den Bürgerkrieg verdeutlichen, die Horaz in poetischer Form gibt und in der die emotionalen Aspekte stark betont werden.119 Vor diesem Hintergrund ist auch die Verwendung dieser literarischen Technik bei Livius zu sehen, wie in der Forschung bereits verschiedentlich betont wurde. Während ERICH BURCK und P.G. WALSH in ihren einflußreichen Untersuchungen zur ἐνάργεια vor allem die Rezeption der hellenistischen Geschichtsschreibung durch Livius herausgearbeitet und damit eine innerliterarische und produktionsästhetische Perspektive eingenommen haben,120 hat zuletzt vor allem ANDREW FELDHERR die Wirkung dieser Darstellungstechnik auf den Leser und den damit einhergehenden Beitrag zur historiographischen Aussage hervorgehoben.121 Für unsere Fragestellung sind dabei vor allem die Stellen von besonderem Interesse, an denen Livius bei der detaillierten Ausgestaltung der Erzählung näher auf einzelne Personen und ihr Innenleben eingeht. Auch dieser Bereich seiner narrativen Technik wurde unter dem Schlagwort der ‚psychologisierenden‘ Darstellung bereits verschiedentlich behandelt.122 Dennoch können diese Phänomene in einem neuen Licht erscheinen, wenn hier der gleiche Wechsel der Perspektive von der Übernahme literarischer Vorlagen durch den Autor hin zu ihrer Wirkung auf den Leser erfolgt. Wie die verschiedenen Elemente im Einzelfall zusammenwirken, um zunächst eine Identifikation des Lesers mit Figuren der Handlung zu bewirken und auf diese Weise dann zum einen Spannung bei der Lektüre zu erzeugen, zum anderen aber auch die Wahrnehmung der historischen Ereignisse durch den Rezipienten zu beeinflussen, soll im folgenden anhand der Schilde___________________________

116 117 118 119 120

Vgl. z.B. MARINCOLA 2003, 309f., u. WIATER 2011, 121-130. Zur Diskussion um die sog. dramatische Geschichtsschreibung s. oben S. 56. Vgl. Cic. fam. 5,12,4-5. Vgl. Hor. c. 2,1,17-36 mit v.a. GRIMAL 1990 u. WOODMAN 2003; s. oben S. 63f. Vgl. v.a. BURCK 1964 [1934], 195-233, u. WALSH 1961, 181-190; sowie ferner z.B. STEINMETZ 1972, 196-202, u. TRÄNKLE 1977, 99-109. 121 Vgl. FELDHERR 1998, 4-19, v.a. 11: „For the historian, the reproduction of the spectacle provides in the fullest sense the connection between past and present that I have suggested is a central function of the historian’s use of enargeia, a chance to make his audience’s experience approximate those of their ancestors.“ 122 Vgl. z.B. BURCK 1964 [1934], 226-233; WALSH 1961, 168-172; DUCOS 1987; PAUW 1991; VON ALBRECHT 1992, I 666-670, u. OAKLEY 1997, 120-122.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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rung der sogenannten Bacchanalien-Verschwörung verdeutlicht werden. Dabei wird neben anderen Techniken dem Umgang mit der vom Rezipienten jeweils eingenommenen Perspektive und den sich daraus ergebenden Unterschieden zwischen ihm und den historischen Personen in Hinsicht auf das Vorwissen über den weiteren Verlauf der Handlung eine zentrale Rolle zukommen. b) de Bacchanalibus: ἐνάργεια und die Erzeugung von Spannung Daß die römischen Konsuln des Jahres 186 v. Chr. die Ausübung des DionysosKultes in der Stadt und dem italischen Herrschaftsgebiet stark eingeschränkt und mit zahlreichen Auflagen versehen haben, wissen wir aus einer Inschrift, die 1640 auf einer Bronzeplatte in Tiriolo in Kalabrien entdeckt wurde und sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Aus diesem als senatus consultum de Bacchanalibus bekannten und viel besprochenen Text123 sowie den knappen Bemerkungen bei Cicero und Valerius Maximus124 würde selbst dann, wenn das 39. Buch von ab urbe condita nicht erhalten wäre, der Schluß gezogen werden, daß sich in diesem Jahr eine Konfrontation zwischen den politischen Eliten und den Anhängern des Kultes ereignet hat, in der sich erstere durchgesetzt haben.125 Über den genauen Hergang und das Ausmaß dieser Ereignisse informiert uns aber nur Livius, der von mehr als 7000 Angeklagten spricht und festhält, daß die Mehrzahl von ihnen zum Tode verurteilt wurde.126 Dieser Bedeutung entspricht der erstaunlich große Raum, den die Schilderung im 39. Buch einnimmt. Denn in der – zumindest aus der Perspektive späterer Generationen – vergleichsweise ereignisarmen Zeit zwischen dem Ende von Roms Krieg gegen Antiochos III. von Syrien127 und vor dem Beginn desjenigen gegen Perseus von Makedonien,128 läßt sich vorübergehend eine deutliche Zunahme des Erzähltempos beobachten, so daß auch ein nicht sonderlich umfangreiches Buch wie das 39. den gesamten ___________________________

123 Vgl. CIL 12 581, v.a. Z. 2-22 mit GELZER 1936; DIHLE 1962; MEYER 1972, 980-982; HEILMANN 1985, 30-32; PAILLIER 1986, 151-193; CANCIK-LINDEMAIER 1996, 79-86; FLOWER 2003b, 83-92, u. KUPFER 2004. 124 Vgl. Cic. leg. 2,37 u. Val. Max. 6,3,7 mit GRUEN 1990, 38f.: „No other source provides information of any substance. But persecution of the Bacchants left its mark on the tradition. Later writers ignore the details but recall the episode as a prime example of Roman severity, a determined campaign to rid Italy of the alien, subversive cult.“ 125 Zum archäologischen Material, das eine Verbreitung des Kultes und möglicherweise Zerstörungen zu Beginn des 2. Jh. nahelegt, vgl. PAILLIER 1988, 125-402; PAILLER 1998 u. WISEMAN 2008, 84-139. 126 Vgl. Liv. 39,17,6: coniurasse supra septem milia virorum ac mulierum dicebantur („Über 7000 Männer und Frauen sollen den Eid geleistet haben.“) u. 18,5: plures necati quam in vincula coniecti sunt. („Es wurden mehr hingerichtet als ins Gefängnis geworfen.“). 127 Vgl. Liv. 38,38,1-39,17 (Friedensvertrag von Apameia). 128 Vgl. Liv. 42,30,8; zur narrativen Vorbereitung dieses Kriegs s. unten S. 225-237.

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V. Der involvierte Leser

Zeitraum von 187 bis 183 v. Chr. umfassen kann.129 Es ist daher nicht überraschend, daß von den insgesamt ca. 15000 Wörtern etwas mehr als ein Fünftel auf das Jahr 186 v. Chr. entfällt.130 Daß von diesen ca. 3800 Wörtern aber ca. 3000 den Vorkommnissen im Zusammenhang der Bacchanalien gewidmet sind,131 ist erstaunlich und kann verdeutlichen, wir stark diese Angelegenheit, der in der Debatte über die moralische Degeneration in dieser Zeit exemplarischer Charakter zukam, 132 bereits quantitativ betont wurde. Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Bedeutung lassen sich aus diesem Umstand natürlich nur begrenzt ziehen.133 Dieser Abschnitt ist daher vielfach als besonders auffälliges Beispiel einer livianischen ‚Einzelerzählung‘, die wegen ihres exemplarischen Inhalts nicht nur ausführlicher, sondern auch aufwendiger geschildert wird,134 gelesen worden.135 Dazu kommt, daß sich hier bereits eine ganze Reihe narrativer Techniken beobachten lassen, die auf die stärkere emotionale Involvierung des Lesers zielen, in unserer Wahrnehmung jedoch mit anderen Gattungen, vor allem dem Drama136 und dem historischen Roman,137 verbunden sind. Angesichts der ungewöhnlich guten Überlieferungssituation, die es erlaubt, mit der Inschrift aus Tiriolo auf der einen und Livius’ Darstellung auf der anderen Seite zwei Versionen des gleichen Ereignisses miteinander zu vergleichen, ist diese Stelle auch gerne als Testfall zur Untersuchung der generellen Arbeitsweise antiker Historiker herangezogen worden.138 Dennoch hat die ausführliche Darstellung und die intensive Aufmerksamkeit, die dem Abschnitt in der Forschung zuteil wurde, beinahe mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Die Probleme beginnen bereits mit der Bezeichnung als coniuratio, die Livius wiederholt und programmatisch vornimmt.139 Damit wird ___________________________

129 Vgl. z.B. KERN 1960, v.a. 119; LUCE 1977, 104-109, u. WALSH 1994, 1-7. 130 Vgl. Liv. 39,8,1-39,23,4. 131 Vgl. Liv. 39,8,1-19,7. Der Rest des Jahres wird von der kurzen Zusammenfassung der militärischen Aktionen in Italien und Spanien (vgl. Liv. 39,20,1-21,10) sowie dem Bericht über die regulären Ereignisse in Rom (vgl. Liv. 39,22,1-23,4) eingenommen. 132 Vgl. z.B. KERN 1960, 119; LUCE 1977, 261f.; LEVENE 1993, 92-95; ZIMMERMAN 1995, 367-371, u. WALSH 1996b, 189f. 133 Für eine skeptische Position vgl. MEYER 1972, 982; GRUEN 1990, 64f., u. NIPPEL 1997, 63, sowie dag. für eine größere Relevanz KERN 1960, 102, u. HEILMANN 1985, 32. 134 Vgl. v.a. WITTE 1910; s. ausführlicher oben S. 105-108. 135 Vgl. z.B. KERN 1960, 98-103, u. WALSH 1996b, 202: „Nowhere else in Livy do we encounter so lengthy, so dramatic and so entertaining a soap-opera ….“ 136 Vgl. v.a. SCAFURO 1989 u. WALSH 1996b. 137 Vgl. v.a. ZIMMERMANN 1995. 138 Angesichts der Übereinstimmungen ist davon auszugehen, daß Livius die Inschrift direkt oder über einen der republikanischen Historiker kannte: vgl. Liv. 39,18,7-18,9 mit GELZER 1936, 281-287; MEYER 1972, 978-982; HEILMANN 1985, 30f., u. PAGÁN 2004, 53; sowie zu seiner Arbeitsweise allg. z.B. NISSEN 1863, v.a. 222; COVA 1974; ROUSSELLE 1982; PAILLIER 1988, 597-612; ROUSSELLE 1989; WALSH 1994, 4f.; WALSH 1996b, 192-195.201f.; BRISCOE 2003 u. BRISCOE 2008, 231-250. 139 Vgl. Liv. 39,8,1; 8,2; 13,3; 14,4; 14,8; 15,10; 16,3; 16,5; 17,6 u. 18,3.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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nicht nur die Wahrnehmung und Bewertung durch den Leser zu einem gewissen Teil vorgegeben,140 sondern die Schilderung auch in die literarische Tradition gescheiterter Verschwörungen gegen Rom gestellt.141 Diese Stelle ist aber auch für eine ganze Reihe historischer Fragen zur Zeit der mittleren Republik von großem Interesse.142 Die Themengebiete reichen von der Religionsausübung143 und dem Vereinswesen144 über die Todesstrafe145 und der Konstruktion von Geschlechterrollen146 bis hin zu Roms Umgang mit seinen italischen Verbündeten.147 Darüber hinaus ist bei der Mehrzahl dieser Aspekte auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein Zusammenhang zu ähnlichen Ereignissen während der Abfassungszeit von Livius’ Werk besteht.148 Wir wollen uns jedoch hier auf die Involvierung des Leser in das Geschehen und die dadurch erzeugte Spannung konzentrieren. Zu diesem Zweck werden wir uns auf die bislang herausgearbeiteten Parallelen zum Drama und Roman stützen und versuchen, diese Beobachtungen weiter auszubauen. Auch für eine Beschäftigung unter dieser Fragestellung bietet der Text reiches Material, da sich in ihm genaugenommen ein doppeltes Angebot zur Empathie beobachten läßt: Denn einerseits wird der Leser dazu angehalten, sich mit dem Schicksal Roms und der Gesamtheit seiner Bürger zu identifizieren. Dies wird vor allem durch die spezifische Art der Darstellung der Ereignisse als Verschwörung, aber auch durch die explizite Wiedergabe der Emotionen der Zeitgenossen erreicht, wie insbesondere an der Reaktion der Senatoren auf die Eröffnungen des Konsuls deutlich wird: patres pavor ingens cepit, cum publico nomine, ne quid eae coniurationes coetusque nocturni fraudis occultae aut periculi importarent, tum privatim suorum cuiusque vicem, ne quis adfinis ei noxae esset. ___________________________

140 Für eine radikale Umdeutung vgl. v.a. NORTH 1979, 205, u. GRUEN 1990, 64f.: „The entire course of events smacks of staged operation. … In short, the coniuratio was not that of the Bacchants, but of those who sought to make an example of them.“ 141 Vgl. PAGÁN 2004, 50-67. 142 Daß es sich bei Livius’ Bericht häufig um die einzige umfangreichere Quelle handelt, macht ihre Beurteilung nicht einfacher; für eine Übersicht vgl. GRUEN 1990, 39-46. 143 Vgl. NORTH 1979; HEILMANN 1985; PAILLIER 1986, 195-245; CANCIK-LINDEMAIER 1996 u. RÜPKE 2001a, 38-41. 144 Vgl. z.B. NIPPEL 1997, 72. 145 Die Stelle spielt eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion des Kriminalprozesses und der Entwicklung des ius provocationis: vgl. MOMMSEN 1889, 153.257; KUNKEL 1962, v.a. 25f.; NIPPEL 1997, v.a. 68-71, u. ROBINSON 2007, 7-29. 146 Vgl. CANCIK-LINDEMAIER 1996, 95f.; FLOWER 2003b, v.a. 89f., u. PAGÁN 2004, 15-17. 147 Vgl. GRUEN 1990, v.a. 66-78, u. TAKÁCS 2000. 148 Vgl. z.B. SCAFURO 1989, 135f.; CANCIK-LINDEMAIER 1996, 93, u. PAGÁN 2004, 54. Eine genaue Datierung des 39. Buches ist nicht möglich; Anhaltspunkte ergeben sich aus der Datierung des 28. Buches nach 19 v. Chr. (vgl. Liv. 28,12,12) und den Hochrechnungen zur durchschnittlichen Arbeitsgeschwindigkeit (vgl. MENSCHING 1986), so daß eine ungefähre Datierung zwischen 17 und 15 v. Chr. als plausibel gelten kann.

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V. Der involvierte Leser

Die Senatoren ergriff gewaltige Angst, sowohl um den Staat, daß diese Komplotte und nächtlichen Zusammenkünfte heimliche Verbrechen oder Gefahr herbeiführten, vor allem aber auch persönlich um jeden ihrer Angehörigen, daß einer in dieses Vergehen verwickelt sei.149

Neben der Aufforderung zur Empathie mit den römischen Bürgern in ihrer Gesamtheit, die durch die Betonung der von Angst erfüllten Atmosphäre noch verstärkt wird, erhält der Leser aber andererseits noch ein zweites und wahrscheinlich wirkungsvolleres Angebot zur Identifikation. Dies betrifft die beiden stark hervorgehobenen Protagonisten der privaten ‚Nebenhandlung‘, Publius Aebutius und Faecenia Hispala, deren persönliches Schicksal jedoch zugleich eng mit der politischen ‚Haupthandlung‘ verbunden ist. Die Einführung dieser – wahrscheinlich nicht historischen150 – Figuren, deren letztlich glücklich verlaufende Liebesgeschichte sich nicht nur vor dem Hintergrund der Bacchanalien-Verschwörung entfaltet, sondern mit ihrer Aufdeckung im kausalen Zusammenhang steht, bildet die wichtigste Gemeinsamkeit von Livius’ Schilderung sowohl mit dem Drama151 wie dem antiken Roman.152 Auch eine Parallele zum historischen Roman der Neuzeit läßt sich von hieraus ziehen: Denn gerade die Verknüpfung bekannter historischer Personen, deren Agieren im Rahmen des bekannten Geschichtsbilds die ‚Haupthandlung‘ vorantreibt, mit fiktiven Figuren, die das größere Identifikationspotential bieten, ist spätestens seit dem 19. Jh. in hohem Maße charakteristisch für diese Gattung.153 Für unsere Fragestellung ist es nun von besonderem Interesse, daß die beiden Figuren nicht nur mit Namen vorgestellt, sondern ausführlich eingeführt werden, indem ihre Vorgeschichte, ihre momentane Situation und ihre emotionale Verfassung detailliert geschildert werden. Auf diese Weise erfahren wir nicht nur, daß ___________________________

149 Vgl. Liv. 39,14,4. 150 Vgl. z.B. KOWALEWSKI 2002, 278-282, dag. aber auch SCAFURO 1989, 120; WALSH 1996b, 196f., u. BRISCOE 2008, 236-239, die unter Verweis auf Livius’ Erwähung der Senatsbeschlüsse zu ihren Gunsten (39,19,3-19,7) für die Historizität plädieren. 151 Für andere Gemeinsamkeiten mit der Neuen Komödie vgl. SCAFURO 1989, 125-127, die auf die Wortwahl, die Intrigenhandlung, die stereotype Charakterisierung und das happy-ending mit der Hochzeit der Protagonisten verweist. 152 Vgl. TREU 1964, 458: „Zur Fiktion des Historischen gehört, daß die Romanciers nicht die wohlbekannten Hauptakteure der Geschichte zu ihren Helden machen: Die Biographie etwa eines Perikles war zu gut bekannt, um in ihr glaubhaft exotische Abenteuer unterzubringen. Das Rezept war von überzeitlicher Effizienz: Man nehme Nebenfiguren aus Hauptepochen als Hauptfiguren und lasse gegebenenfalls die bekannten Hauptfiguren kurz am Rande erscheinen.“; HOLZBERG 2001, 45f., u. MORGAN 2007. 153 Vgl. FULDA 1996, 392: „Die hauptsächliche Innovation des scottschen Romanmodels bestand in der Einführung eines unhistorischen ‚mittleren‘ Helden, der – produktionsästhetisch gesehen – eine ‚typische‘ Romanhandlung in ein als historisch mehr oder weniger bekanntes und deshalb nur begrenzt disponierbares Geschehen einzuflechten erlaubte und der – rezeptionsästhetisch gesehen – den Leser an die ‚große‘ Geschichte heranführen konnte.“; POTTHAST 2007, 29-55, u. GEPPERT 2009, 157-166.

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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Publius Aebutius aus dem Ritterstand stammt und Halbwaise ist, sondern auch daß sein Stiefvater sein Vermögen veruntreut hat und die Eltern ihren Sohn nun durch die Initiation in den Dionysos-Kult aus dem Weg räumen oder zumindest kompromittieren wollen.154 Ebenso wird Faecenia Hispala nicht nur als Freigelassene und scortum nobile vorgestellt, sondern auch ihre intensive Zuneigung zu Aebutius und ihr Einsatz für ihn beschrieben.155 Bereits diese detaillierte Einführung stellt die Personen dem Leser umfassend vor Augen und erleichtert daher seine Identifikation mit ihnen. Daß die Figurenkonstellation außerdem deutliche Parallelen mit dem für die Neue Komödie typischen und dem Rezipienten daher vertrauten Personal aufweist,156 kommt als verstärkendes Element hinzu. Ein weiteres Element, das einen Vergleich mit anderen Gattungen ermöglicht, ist der Aufbau der Erzählung, die in deutlich voneinander abgegrenzten und aufeinander aufbauenden Abschnitten fortschreitet. Es ist sogar für diesen Abschnitt – wie auch für andere Stellen in ab urbe condita157 – der Versuch unternommen worden, in dieser Art der Gliederung die Struktur eines klassischen Dramas mit seinen fünf Akten wiederzuerkennen.158 Auch wenn sich ein solcher Ansatz nicht stichhaltig beweisen läßt – und daher auch bei dem Rückschluß auf ein republikanisches Drama als letztlich zugrundeliegender Quelle Vorsicht geboten ist159 –, kann eine derartige Einteilung doch verdeutlichen, daß wir es hier mit einem sehr bewußt strukturierten Text zu tun haben. Dies läßt sich aber auch an einer Reihe anderer Elemente ablesen, unter denen wir uns im folgenden – neben der Frage der Identifikation durch ἐνάργεια – vor allem auf die spezifische Form der Zeitstruktur und die wechselnde Fokalisierung konzentrieren wollen, da sich für beide ein Zusammenhang mit der Erzeugung von Spannung plausibel machen läßt. Livius beginnt die Darstellung der Ereignisse des Jahres 186 v. Chr. zwar mit dem hierfür im annalistischen Schema vorgesehenen Thema, der Verteilung der Aufgabenbereiche unter den neu gewählten Magistraten, nutzt aber an dieser wie an zahlreichen anderen Stellen die Möglichkeit zur variablen Gestaltung dieser narrativen Struktur.160 Denn bereits im ersten Satz erfolgt ein Vorverweis auf die – schon hier explizit so bezeichnete – Verschwörung: ___________________________

154 Vgl. Liv. 39,9,2-9,4. 155 Vgl. Liv. 39,9,5-9,7 mit v.a. KOWALEWSKI 2002, 252-282. 156 Zu den Gemeinsamkeiten in der Figurenkonstellation, aber auch zu den Unterschieden im weiteren Verlauf der Handlung vgl. SCAFURO 1989, 135, sowie ferner WALSH 1996b, v.a. 197, u. CANCIK-LINDEMAIER 1996, 89f. 157 Vgl. BURCK 1964 [1934], 182-195; WALSH 1961, 178f.; OGILVIE 1965, 18f., u. ferner FELDHERR 1998, 166f. 158 Für eine Gliederung von Livius’ Darstellung als Drama vgl. WALSH 1996b, 195-199: Prolog = 39,8; 1. Akt = 39,9,1-9,4; 2. Akt = 39,5-10,9; 3. Akt = 39,11,1-11,3; 4. Akt = 39,11,4-11,7; 5. Akt = 39,12,1-14,3. 159 Zur Annahme eines Theaterstücks als Vorlage vgl. v.a. WISEMAN 1998, 43-48, u. ferner WALSH 1996b, 201f., sowie dag. FLOWER 2000b, 30f. 160 Zu den Optionen der Darstellung im annalistischen Schema allg. s. oben S. 175-123.

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V. Der involvierte Leser

insequens annus Sp. Postumium Albinum et Q. Marcium Philippum consules ab exercituum bellorumque et provinciarum cura ad intestinae coniurationis vindictam avertit. Im folgenden Jahr hatten die Konsuln Sp. Postumius Albinus und Q. Marcius Philippus keine Zeit für das Heer und für Kriege und Provinzen, sondern mußten ihre Aufmerksamkeit auf die Unterdrückung eines Komplotts im Innern des Staates richten.161

Damit wird nicht nur sofort eine Wertung vorgegeben, sondern durch den Vorverweis auch Spannung erzeugt, eine Strategie, die sich gerade bei der Verteilung der Aufgabengebiete häufiger beobachten läßt162 und die in den Bereich der Antizipation gehört, mit dem wir uns noch ausführlicher beschäftigen werden.163 Daran schließt sich ein vom Erzähler gegebener Bericht an, der einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Bacchus-Mysterien in Rom enthält und bereits die ihren Anhängern zur Last gelegten moralischen Vergehen und kriminellen Handlungen aufzählt,164 ehe die Schilderung mit dem Hinweis endet, daß diese Verbrechen bislang durch den Kult und seine Begleiterscheinungen vor den Zeitgenossen verborgen geblieben sind: occulebat vim quod prae ululatibus tympanorumque et cymbalorum strepitu nulla vox quiritantium inter stupra et caedes exaudiri poterat. Die Gewalt blieb unentdeckt, da man in dem Geheul und dem Lärm der Tamburine und der Becken keinen Laut der bei den Schändungen und Mordtaten um Hilfe schreienden Opfer hören konnte.165

Bei dieser in der weiteren Erzählung beibehaltenen Strategie,166 den Lesern einen Wissensvorsprung vor den Figuren der Handlung hinsichtlich einer für diese bevorstehenden Bedrohung zu verschaffen, handelt es sich um eine in verschiedenen Gattungen vom antiken Drama bis zum modernen Film angewandte Technik zur Erzeugung von Spannung.167 ___________________________

161 Vgl. Liv. 39,8,1 u. 8,3: consulibus ambobus quaestio de clandestinis coniurationibus decreta est („Den beiden Konsuln wurde die Untersuchung wegen der geheimen Vereine übertragen.“) mit BRISCOE 2008, 231. 162 Zu den verschiedenen Funktionen der Vorverweise s. oben S. 89-101. 163 S. unten S. 223-248. 164 Vgl. Liv. 39,8,3-8,8 mit WALSH 1994, 118; NIPPEL 1997, 71; KOWALEWSKI 2002, 254256, u. BRISCOE 2008, 250-252. 165 Vgl. Liv. 39,8,8 mit NORTH 1979, 204: „It is difficult to believe at all in the story of sudden discovery. It may even be doubted wether Livy believed it altogether himself.“ u. WALSH 1996b, 198: „This account in its main lines is simply incredible.“ 166 Vgl. v.a. Liv. 39,9,1: primo magnitudo urbis capacior patientiorque talium malorum eam celavit: tandem indicium hoc maxime modo ad Postumium consulem pervenit. („Zuerst blieb es durch die Größe der Stadt verborgen, die solche Übel besser in sich aufnehmen und ertragen konnte. Endlich gelangte eine Anzeige im wesentlichen auf folgende Art an den Konsul Postumius.“) 167 Vgl. BAL 1997, 161, u. PFISTER 2001, 79-90, v.a. 81: „Der Informationsvorsprung der Zuschauer gegenüber den einzelnen Figuren ist im Korpus vorliegender dramatischer Texte von der Antike bis zur Gegenwart die quantitativ dominierende Struktur diskrepanter Informiertheit.“

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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Diese Diskrepanz in Hinsicht auf die Informationen über die Vorgänge bei den Mysterien wird nun auf einer zweiten narrativen Ebene wiederholt und in ihrer Wirkung auf den Leser damit verstärkt. Denn während der Stiefvater und die Mutter des Aebutius ihn im vollen Bewußtsein der Gefahr zur Initiation überreden wollen, ist er selbst noch auf dem Stand der Mehrheit seiner Zeitgenossen und sieht in diesem Schritt nur eine harmlose kultische Verrichtung.168 Erst im Gespräch mit seiner Geliebten Faecenia Hispala, die noch als Sklavin ihre Herrin zu den Mysterien begleitet hat, erfährt er von den dort unter dem Deckmantel der Religion verübten Vergehen.169 Für den Rezipienten handelt es sich bei dem in indirekter Rede wiedergegebenen Bericht Hispalas jedoch bereits um die zweite Schilderung der gleichen Ereignisse, die sich zwar in der Art der Fokalisierung und durch ihren Adressaten innerhalb der Erzählung von der ersten unterscheidet, aber gerade durch das Nebeneinander von Aufnahme und Variation die Behauptungen in ihrer Plausibilität und in ihrer Wirkung verstärkt.170 Die weitere Handlung wird vor allem dadurch getragen, daß die Informationen über den bedrohlichen Charakter der Mysterien, die der Leser nun mit beiden Protagonisten der Dramen- oder Romanhandlung teilt, auch die Zeitgenossen in ihrer Gesamtheit erhalten müssen. Bevor dies geschieht, werden aber noch einige Zwischenschritte ausführlich geschildert und tragen als retardierende Momente nicht zuletzt zur weiteren Verstärkung der Spannung bei:171 So wird Aebutius auf seine Weigerung, sich in die Mysterien einweihen zu lassen, von seinen Eltern – in einer besonders komödienhaften Szene – verstoßen,172 begibt sich zunächst zu seiner Tante Aebutia und auf deren Rat schließlich zum Konsul Sp. Postumius Albinus, um ihn über die Vorgänge im Zusammenhang der Mysterien zu informieren. Doch auch dieser ergreift daraufhin nicht sofort Maßnahmen gegen die für den Leser längst evident gewordene Verschwörung, sondern holt zuerst bei seiner Schwiegermutter Sulpicia Erkundigungen über Aebutia ein, bittet Sulpicia ein Treffen mit ihr zu arrangieren, fragt Aebutia über ihren Neffen aus und möchte schließlich auch noch Hispala persönlich vernehmen.173 Dies führt zur detailliertesten Szene der ganzen Darstellung, die damit beginnt, daß erst die bestürzte Reaktion Hispalas auf Sulpicias Einladung und dann ihr Schrecken wiedergegeben wird, als sie dort nicht nur die vornehme Dame, sondern auch den Konsul erblickt.174 Dieser starke Fokus auf der emotionalen Ver___________________________

168 Vgl. Liv. 39,9,2-9,4 mit WALSH 1994, 118f.; KOWALEWSKI 2002, 257f., u. BRISCOE 2008, 254f. 169 Vgl. Liv. 39,10,1-10,9 mit WALSH 1994, 120; KOWALEWSKI 2002, 260-262, u. BRISCOE 2008, 257-259. 170 Vgl. Liv. 39,10,6-10,7. 171 Zu anderen Formen der Retardation bei Livius s. oben 200-209. 172 Vgl. Liv. 39,11,1-11,2 mit SCAFURO 1989, 125.139f.; KOWALEWSKI 2002, 262f., u. BRISCOE 2008, 259f. 173 Vgl. Liv. 39,11,3-12,1 mit KOWALEWSKI 2002, 264f., u. BRISCOE 2008, 260-262. 174 Vgl. Liv. 39,12,2.

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V. Der involvierte Leser

fassung Hispalas wird auch im weiteren Verlauf beibehalten, wenn ausführlich beschrieben wird, wie sie sich zunächst sträubt – wiederum ein retardierendes Moment – und erst mit einer Mischung von Drohungen und Versprechen schließlich dazu gebracht werden kann, sich dem Konsul anzuvertrauen.175 Ihre Aussage liefert für den Leser nun bereits die dritte Version der Ereignisse, die erneut mit der Vorgeschichte des Kultes einsetzt176 und danach die dem Konsul und seinen Zeitgenossen bislang verborgene Gegenwart beschreibt: ex quo in promiscuo sacra sint et permixti viri feminis, et noctis licentia accesserit, nihil ibi facinoris, nihil flagitii praetermissum. plura virorum inter sese quam feminarum stupra esse. si qui minus patientes dedecoris sint et pigriores ad facinus, pro victimis immolari. nihil nefas ducere, hanc summam inter eos religionem esse. viros, velut mente capta, cum iactatione fanatica corporis vaticinari; matronas Baccharum habitu crinibus sparsis cum ardentibus facibus decurrere ad Tiberim, demissasque in aquam faces, quia vivum sulpur cum calce insit, integra flamma efferre. raptos a diis homines dici, quos machinae illigatos ex conspectu in abditos specus abripiant: eos esse, qui aut coniurare aut sociari facinoribus aut stuprum pati noluerint. multitudinem ingentem, alterum iam prope populum esse; in his nobiles quosdam viros feminasque. biennio proximo institutum esse, ne quis maior viginti annis initiaretur: captari aetates et erroris et stupri patientes. Seitdem die Mysterien gemeinschaftlich seien und das Miteinander von Männern und Frauen und die Ungebundenheit der Nacht dazugekommen sei, sei keine Untat und keine Schandtat dort unterblieben. Es gebe mehr Unzucht von Männern untereinander als mit Frauen. Wenn welche die Schande nicht über sich ergehen lassen wollten und weniger Bereitschaft zu einer Untat zeigten, würden sie wie Opfertiere geschlachtet. Nichts für unerlaubt zu halten, das sei das höchste Gebot unter ihnen. Männer weissagten, als wenn sie von Sinnen wären, unter ekstatischen Hin- und Herwerfen ihres Körpers; verheiratete Frauen liefen im Aufzug von Bacchantinnen mit aufgelöstem Haar und mit brennenden Fackeln zum Tiber hinab, hielten die Fackeln ins Wasser und zögen sie mit unversehrter Flamme wieder heraus, da reiner Schwefel mit Kalk darin sei. Man sage, von den Göttern seien die Menschen geraubt worden, die sie an eine Maschine bänden und in verborgenen Höhlen verschwinden ließen; das seien die, die sich entweder geweigert hätten, den Eid zu leisten oder die Schandtaten mitzumachen oder Unzucht mit sich treiben zu lassen. Es sei eine gewaltige Menge, fast schon ein zweites Volk, darunter auch einige Männer und Frauen aus bekannten Familien. In den letzten beiden Jahren sei der Brauch aufgekommen, daß keiner eingeweiht werde, der älter sei als zwanzig Jahre. Man suche die Altersstufe einzufangen, die für Aberglauben und Unzucht empfänglich sei.177

Diese Beschreibung ist nicht nur bislang die längste und in Hinsicht auf die Details die expliziteste,178 sondern durch ihre spezifische Fokalisierung aus der ___________________________

175 Vgl. Liv. 39,12,3-13,7 mit KERN 1960, v.a. 100; KOWALEWSKI 2002, 265-268, u. BRISCOE 2008, 262-265. 176 Vgl. Liv. 39,13,8-13,9. 177 Vgl. Liv. 39,13,10-13,14 mit WALSH 1994, 5.122; KOWALEWSKI 2002, 268-270, u. BRISCOE 2008, 266f. 178 Die Schilderung stellt auch im Gesamtwerk eine Ausnahme dar (vgl. BURCK 1964 [1934], 205-209, v.a. 205: „Eine besonders starke Zurückhaltung des Livius stellen wir in der Wiedergabe erregter, grausiger Szenen fest.“ u. WALSH 1961, 181-184).

3. Die Erzeugung von Spannung durch Empathie

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Sicht einer Augenzeugin, die sich zudem zunächst effektvoll geweigert hat, ihr Wissen preiszugeben, auch die wirkungsvollste. Dazu kommt noch der Effekt der Kumulierung, denn im Gegensatz zum Konsul als dem internen Adressaten, stellt diese Version für den externen Rezipienten bereits die zweite Wiederholung der gleichen Ereignisse dar. Ihr entscheidender Charakter wird ferner dadurch betont, daß auf der Ebene der Handlung erst durch Hispalas Aussage als inoffizieller Kronzeugin die Gegenmaßnahmen der Obrigkeit eingeleitet werden.179 Nachdem der Konsul den Senat über seine Entdeckungen informiert hat, verbietet dieser die Bacchus-Mysterien und ordnet die Verhaftlung seiner Anhänger an.180 Die erneute Darstellung der Ereignisse aus der Sicht des Konsuls erfolgt zwar nur in summarischer Form, stattdessen wird hier die von Furcht und Sorge geprägte Reaktion der Senatoren eindrücklich geschildert.181 Als letzter Schritt des Ausgleichs der Unterschiede in Hinsicht auf das Wissen über diese Vorgänge folgt nun aber die ausführlichste Schilderung in der Rede, die der Konsul vor der Volksversammlung hält, um die drastischen Maßnahmen zu erklären.182 Diese in direkte Rede wiedergegebene Ansprache richtet sich erneut an ein internes Publikum, das zum ersten Mal von der Bedrohlichkeit der Mysterien erfährt,183 während sie für den Leser nun bereits die vierte Version der Ereignisse darstellt. Aus der veränderten Kommunikationssituation ergeben sich aber erneut wichtige Variationen im Vergleich mit den früheren Schilderungen. Hierbei spielt vor allem die nach allen Regeln der Kunst erfolgenden rhetorische Zuspitzung durch den Konsul eine zentrale Rolle,184 der unter anderem wiederholt auf die Angst und den Schrecken zu sprechen kommt, den diese Eröffnungen bei den Zuhörern auslösen.185 Auf der Ebene der Handlung dient diese Strategie der Steuerung der ___________________________

179 Vgl. SCAFURO 1989, 137: „Viewed from these perspectives, Hispala resembles a number of the other ladies in Livy’s account of early Roman history – women like Lucretia and Verginia who are raped or killed at critical moments in the development of the Roman State. These women, too, unite private household and State, set in motion significant re-orderings of the State, and permit the oppurtinity to display the strength of the New Order, although at the expense of their lives.“; KOWALEWSKI 2002, 403409, u. PAGÁN 2004, 62-64. 180 Vgl. Liv. 39,14,5-14,10 mit WALSH 1994, 122f.; KOWALEWSKI 2002, 271, u. BRISCOE 2008, 268-270. 181 Vgl. Liv. 39,14,3-14,4 [Text u. Übersetzung s. oben S. 215f.]. 182 Vgl. Liv. 39,15,1-16,13 mit z.B. BURCK 1992, 78; WALSH 1994, 123-126; CANCIKLINDEMAIER 1996, 90-92, u. BRISCOE 2008, 270-280. 183 Allerdings wird zu Beginn die Möglichkeit thematisiert, daß die Zeitgenossen bereits Gerüchte gehört haben: vgl. Liv. 39,15,4-15,7; allg. zur Rolle des Gerüchts in Livius’ Darstellung DUBOURDIEU / LEMIRRE 1997. 184 Zur Gliederung vgl. ULLMANN 1927, 164f.; WALSH 1994, 123f., u. BRISCOE 2008, 271f. 185 Vgl. z.B. Liv. 39,15,4: si aliquid ignorabitis, ne locum neglegentiae dem, si omnia nudavero, ne nimium terroris offundam vobis, vereor. („Wenn ihr etwas nicht wißt, fürchte ich, daß ich Anlaß gebe zur Gleichgültigkeit; wenn ich alles enthülle, daß ich euch einen allzu großen Schrecken einjage.“); 15,8; 15,13 u. 16,4.

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V. Der involvierte Leser

Emotionen durch den Redner – und paßt damit gut zur Situation einer Rede vor der Volksversammlung –, doch auch für den externen Rezipienten geht mit dieser Schilderung eine Verstärkung seiner Involvierung in die Handlung einher. Nach dieser Rede, die nicht nur durch ihre detaillierte und emotionale Darstellung den Höhepunkt der gesamten Schilderung bildet, sondern zugleich auch die aus dem Wissensvorsprung der Leser gegenüber den Figuren der Handlung resultierende Spannung auflöst, wird das Tempo der Erzählung merklich erhöht. Die Bestrafung der Anhänger und die rigiden Beschränkungen der weiteren Kultausübung werden – zumal im Vergleich zu ihrer tatsächlichen Bedeutung – nur kursorisch behandelt.186 Dies wird um so deutlicher, wenn man die als Abschluß der ganzen Behandlung der Bacchanalien-Verschwörung in allen ihren Einzelheiten wiedergegebenen Belohnungen für Aebutius und Hispala hinzunimmt.187 Blickt man auf die Erzählung im Ganzen zurück, zeigt sich, daß der Text seine ungewöhnliche Länge vor allem durch die komplexe Zeitstruktur und vielen Vorund Rückblicke auf das Geschehen gewinnt. Das zeigt sich insbesondere an der mehrfachen Wiederholung der bei den Mysterien angeblich verübten Vergehen. Diese werden dem externen Rezipienten in vier zwar variierten, immer aber auch komplementären Versionen geschildert, so daß sie im Laufe der Erzählung immer größere Evidenz gewinnen. Dazu kommt als weiteres zentrales Element die Spannung, die sich aus der unterschiedlichen Informiertheit und der Identifikation mit den in aller Ausführlichkeit geschilderten Protagonisten der Nebenhandlung ergibt. Auf diese Weise wird die Bacchanalien-‚Verschwörung‘ nicht nur zu einer der elaboriertesten Darstellungen in Livius’ Geschichtswerk, sondern auch zu einem Paradebeispiel dafür, wie mit einer spezifischen Form der Präsentation ein Beitrag sowohl zur Unterhaltung des Lesers, als auch zur Rechtfertigung des aus religiöser, politischer und vor allem juristischer Perspektive problematischen Vorgehens gegen die Anhänger der Dionysos-Mysterien verbunden sein kann.188 c) Zwischenfazit: ‚Dramatische‘ Geschichtsschreibung und der Leser Als zentrales Element von Livius’ Geschichtsschreibung wird in der Forschung zu Recht die Strategie genannt, komplexe historische Entwicklungen durch die Fokussierung auf das Schicksal einzelner Personen und durch die ausführliche Beschreibung ihrer emotionalen Reaktion für den Leser anschaulich zu machen. ___________________________

186 Vgl. Liv. 39,17,1-19,2 mit CIL 12 581 sowie ferner WALSH 1994, 126f., u. BRISCOE 2008, 280-286. 187 Vgl. Liv. 39,19,3-19,7 mit WALSH 1994, 127f.; KOWALEWSKI 2002, 271f., u. BRISCOE 2008, 286-290. 188 Vgl. z.B. PAGÁN 2004, 22: „Yet the amusement of the reader is seldom innocuous; ... Thus, in a conspiracy narrative, a pleasurable mode of presentation is an effective way to discourage thoughts of further uprising. By anesthetizing the reader to the realities of the violence of conspiracy, the aesthetics of a conspiracy narrative can also defuse the fear that a conspiracy engenders.“

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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Für diese Darstellungstechnik, deren Detailfülle zugleich eine Verringerung des Erzähltempos verlangt, bietet neben vielen anderen über das ganze Werk verteilten ‚Einzelerzählungen‘189 die Schilderung der Bacchanalien-‚Verschwörung‘ ein oft besprochenes Beispiel. Diese Form der Präsentation historischer Ereignisse ist zudem häufig mit dem antiken Drama parallelisiert und als Übernahme eines vermeintlich in hellenistischer Zeit entwickelten Modells der tragischen Historiographie erklärt worden. Die Annahme eines solchen Konzepts als einer neu etablierten ‚Schule‘ hat man heute zwar weitgehend aufgegeben und geht stattdessen davon aus, daß derartige Elemente zu allen Zeiten zum Repertoire antiker Historiker gehört haben.190 Der Vergleich mit den Darstellungskonventionen des Dramas erweist sich aber, wenn er nicht mehr als Beleg für eine Verwandtschaft herangezogen wird, als nützliche Interpretationshilfe, um Phänomene wie die Identifikation des Lesers mit den Figuren der Handlung oder die Erzeugung von Spannung besser zu verstehen. In diesem Sinne kann gerade die Behandlung der Ereignisse bei den Bacchanalien zeigen, wie sich eine im Vergleich zur durchschnittlichen ‚Erzähldichte‘ besonders ausführliche Schilderung auf die Wahrnehmung des Geschehens durch die Leser auswirkt. In diesem Zusammenhang kommt neben der Ausführlichkeit an sich und der Berücksichtigung der Emotionen aller Beteiligten der – uns aus dem historischen Roman bekannten – Einführung fiktiver Nebenpersonen eine zentrale Rolle zu, die dem Rezipienten ein zusätzliches Identifikationsangebot unterbreiten. Da das Geschehen über weite Strecke aus der begrenzten Sicht der beteiligten Personen geschildert wird, ergibt sich zudem ein Spiel mit den unterschiedlichen Graden der Informiertheit zwischen den Rezipienten und den Figuren der Handlung über die den letzteren bevorstehende Bedrohung. Durch diese Komponenten wird eine besonders intensive Spannung erzeugt, die nicht nur zur Unterhaltung des Lesers beiträgt, sondern auch seine Wahrnehmung des Geschehens – hier im Sinne der Rechtfertigung der drastischen Maßnahmen – verändert.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation Nachdem wir uns am Beispiel dieser einzelnen, besonders ausführlich gestalteten Schilderung mit dem Beitrag der Empathie zur Erzeugung von Spannung beschäftigt haben, wollen wir nun wieder einen größeren Ausschnitt wählen und in den folgenden Abschnitten untersuchen, wie die Antizipation innerhalb einzelner Bücher und im Werk in der Gesamtheit genutzt wird, um der Darstellung des historischen Geschehens eine spezifische Zeitstruktur zu geben. Dabei wird erneut ___________________________

189 Vgl. z.B. BORZSÁK 1973; SOLODOW 1979, v.a. 259; PAUW 1991; FELDHERR 1998, 165-217; FOUCHER 2000b, 789-792, u. MAHÉ-SIMON 2006. 190 Zur Kritik am Konzept der tragischen Geschichtsschreibung und der zentralen Rolle von Emotionen in allen antiken Geschichtswerken vgl. MARINCOLA 2003, v.a. 287f., u. RUTHERFORD 2007, v.a. 513f.; ausführlicher s. oben S. 56.

224

V. Der involvierte Leser

neben der Menge proleptischer Verweise und ihrem iterativen Charakter auch die mit der Fokalisierung der Erzählung verbundene Frage, wer diese Hinweise jeweils gibt oder erhält, eine wichtige Rolle spielen. Bei der Erzeugung von Spannung kommt allgemein und über Gattungsgrenzen hinweg der Antizipation des weiteren Geschehens durch den Rezipienten, der auf der Grundlage der ihm zur Verfügung gestellten Informationen Hypothesen über den Fortgang der Handlung bildet, zentrale Bedeutung zu.191 Wir haben bereits gesehen, daß dies auch dann gilt, wenn – wie in der Historiographie, aber auch in anderen literarischen Texten – der faktische Ausgang des Geschehens den Lesern prinzipiell bekannt ist.192 Vielmehr steigert diese Diskrepanz, die in Hinsicht auf das Wissens über den weiteren Verlauf zwischen den Figuren der Erzählung und den externen Rezipienten herrscht, in vielen Fällen sogar noch die Spannung193 und bietet zudem die Option zur Erzeugung von dramatischer Ironie.194 Um dem Leser die Informationen an die Hand zu geben, die den Ausgangspunkt seiner Vermutungen über den Fortgang der Handlung bilden, stehen dem Autor unterschiedliche literarische Mittel zur Verfügung.195 Für die nächstliegende Form, in der diese Informationen vom Erzähler in eigener Person als Teil der Darstellung der Handlung gegeben werden, haben wir mit der Bacchanalien-Verschwörung bereits ein ausführliches, aber in narrativer Hinsicht vergleichsweise einfaches Beispiel kennengelernt,196 ein komplexeres wird im nächsten Abschnitt folgen. Eine andere Strategie werden wir im darauf folgenden Abschnitt kennenlernen, wenn wir uns mit den Reden historischer Personen und den aus ihrer jeweiligen Perspektive formulierten Versionen des potentiellen Geschichtsverlaufs beschäftigen und dabei nicht zuletzt ihre Wirkung auf den externen Rezipienten ___________________________

191 Vgl. WULFF 1993, 98: „Spannungserleben umfaßt die Antizipation kommenden Geschehens und die damit verbundenen Affekte, wenn es nicht sogar genau darin besteht. … Vereinfacht gesagt, muß der Zuschauer mit Informationen versorgt werden, die es ihm gestatten, mögliche und wahrscheinliche Handlungsentwürfe aus einer gegebenen Situation zu extrapolieren.“ u. PFISTER 2001, 142f.: „Das Spannungspotential als Kategorie der linear-sequentiellen Ablaufstruktur ergibt sich somit immer aus einer nur partiellen Informiertheit von Figuren und/oder Rezipienten in bezug auf folgende Handlungssequenzen. Sowohl bei einer totalen Informiertheit von Figuren und/oder Rezipienten ... als auch bei einer totalen Offenheit und Unvorhersagbarkeit der fiktiven Zukunft kann kein Spannungspotential aufgebaut werden.“ 192 S. oben S. 195-199. 193 Vgl. BAL 1997, 161, u. PFISTER 2001, 79-90. 194 Zur dramatischen Ironie ausführlicher s. unten S. 242. 195 Vgl. z.B. PFISTER 2001, 145: „Solche zukunftsorientierte Informationsvergabe bieten explizit ankündigende Planungsreden, Schwüre, Prophezeiungen und Träume und implizit angedeutende atmosphärische und psychische Omina. Gerade aus dem Wissen um Pläne und mögliche Hindernisse ergibt sich jene partielle Informiertheit in bezug auf die folgenden Handlungssequenzen, die wir als Grundbedingung für den Aufbau eines Spannungspotentials bezeichnet haben.“ 196 S. oben S. 213-222.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

225

in den Blick nehmen. Danach wollen wir uns einer Form der Antizipation des Fortgangs der Erzählung durch den Leser zuwenden, die sich aus der wiederholten Verwendung formaler Darstellungselemente ergibt und dadurch auch auf der inhaltlichen Ebene eine bestimmte Erwartungshaltung erzeugt. Dabei wird sich zeigen, daß diese Vermutungen des Lesers vom Autor zwar in der Regel erfüllt, gelegentlich aber auch enttäuscht werden können. Abschließend sollen die einzelnen Bereiche zusammengefaßt und in ihrer Wirkung mit Elementen der ‚virtuellen‘ Geschichtsschreibung verglichen werden. a) Die wiederholte Ankündigung des Krieges mit Perseus Eine der nächstliegenden Formen der Erzeugung von Spannung besteht in der Ankündigung von Ereignissen, die für die Figuren der Handlung – und damit zugleich für den sich mit diesen identifizierenden Leser – bedrohlich sind. Diese Technik erweist sich dann als besonders effektiv, wenn die Vorverweise wiederholt erfolgen und mit der schrittweisen Präzisierung der drohenden Gefahr einhergehen, wie dies schon in der griechischen Epik und Historiographie der Fall ist.197 Mit den Stellen, an denen bei Livius künftiges Geschehen in den Blick genommen wird, haben wir uns im Kapitel zur Zeitstruktur seiner Erzählung bereits aus formaler Perspektive beschäftigt und dabei die unterschiedliche Formen von Prolepsen benannt. 198 Neben verschiedenen individuellen Gestaltungen spielen hier vor allem die wiederkehrenden Elemente der Verteilung der Aufgabenbereiche für das kommende Jahr unter den neu gewählten Magistraten und der Bericht über Prodigien sowie deren Sühnung eine zentrale Rolle. Wir werden uns in diesem Abschnitt mit der Kombination mehrerer narrativer Formen zur Vorbereitung eines einzelnen Ereignisses beschäftigen, das auf diese Weise vom Leser wiederholt und daher um so intensiver antizipiert werden soll. Beispiele für diese Darstellungsstrategie lassen sich in allen Teilen des Werkes finden. Sucht man jedoch nach großflächigeren und auch über Buchgrenzen hinweg angelegten Spannungsbögen, bieten sich vor allem die späteren Bücher an. So wird in der dritten Dekade der Bündniswechsel von Syrakus zu Karthago 215 v. Chr., der nach dem im 24. Buch geschilderten Tod Hierons II. erfolgen wird, in den Büchern 21 bis 23 auf verschiedene Weise intensiv vorbereitet. Die Vorverweise auf den Verlust dieses bedeutenden Verbündeten, der zudem in einer für Rom prekären Phase des Krieges stattfindet, beginnen mit dem ersten Auftritt Hierons in der dritten Dekade, bei dem der wohl schon über 90-jährige König in einer indirekten Rede auf sein hohes Alter hinweist.199 Dieser zunächst ___________________________

197 Vgl. z.B. ROOD 1998, 39-54; RENGAKOS 1999, 321-323, u. RENGAKOS 2004, 86-94. 198 S. oben S. 89-101. 199 Vgl. Liv. 21,50,9: pollicitusque [sc. Hiero] est, quo animo priore bello populum Romanum iuvenis adiuvisset, eo senem adiuturum. („Er versprach, auch jetzt, im hohen Alter, den römischen Staat mit der gleichen Gesinnung zu unterstützen, wie er ihm im vorigen Krieg als junger Mann geholfen habe.“) mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 312f.

226

V. Der involvierte Leser

auf biologischer Ebene angelegte Spannungsbogen wird durch die ausführlichen Schilderungen der Hilfsleistungen, mit denen Hieron Rom früher unterstützt hat, noch unterstrichen.200 Der deutlichste Hinweis auf den späteren Abfall von Rom erfolgt jedoch im 23. Buch, wenn berichtet wird, daß noch zu Lebzeiten Hierons sein Sohn und Mitregent Gelon II. ein Bündnis mit Karthago eingegangen wäre, wenn ihn nicht sein überraschender Tod daran gehindert hätte.201 Die Nachricht ist zwar in ihrer Historizität umstritten,202 kann aus literarischer Perspektive aber als gutes Beispiel für eine ‚Beinahe-Episode‘ gelten.203 Diese in doppelter Weise zur Steigerung der Spannung geeignete Stelle im 23. Buch stellt den Höhepunkt und zugleich den Abschluß der Vorbereitung auf den Bündniswechsel von Syrakus dar, der dann schließlich nach dem Tod Hierons unter seinem Enkel Hieronymus im Jahre 215 v. Chr. tatsächlich erfolgt. Auch die detaillierte Schilderung dieser Ereignisse selbst enthält einen weiteren Spannungsbogen: Denn nachdem zu Beginn festgestellt wird, daß sich die Dinge für Rom zum Schlechteren verändern werden, erweisen sich zunächst die von Hieron getroffenen Gegenmaßnahmen und eine römische Gesandtschaft als retardierende Momente, ehe sich der als jugendlicher Tyrann stilisierte Hieronymus dann doch durchsetzt und der Bündniswechsel Realität wird.204 Durch diese intensive Vorbereitung erhält das Ereignis eine zeitliche Struktur, die über den Beitrag zur Erzeugung von Spannung hinaus auch seine inhaltliche Wahrnehmung durch den Leser verändert. Denn auf diese Weise wird nicht nur die Bedeutung des Geschehens an sich, sondern auch seine negative Bewertung gesteigert, weil in der ausführlichen Schilderung noch einmal die Bündnistreue Hierons als Kontrast und die Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufes vor Augen geführt wird. Hieronymus’ Abfall von Rom erscheint dadurch nicht als feststehendes Faktum, sondern als Entscheidung, die auch anders hätte fallen können und den Leser daher zur intensiveren Auseinandersetzung auffordert. ___________________________

200 Vgl. Liv. 22,37,1-37,13 sowie ferner z.B. 23,21,5. 201 Vgl. Liv. 23,30,10-30,12: in Siciliam quoque eadem inclinatio animorum pervenit et ne domus quidem Hieronis tota ab defectione abstinuit. namque Gelo, maximus stirpis, contempta simul senectute patris simul post Cannensem cladem Romana societate ad Poenos defecit, movissetque in Sicilia res, nisi mors, adeo opportuna ut patrem quoque suspicione aspergeret, armantem eum multitudinem sollicitantemque socios absumpsisset. („Sogar bis nach Sizilien reichte dieser Wankelmut, und nicht einmal Hieros Haus blieb frei von dem Zug zum Abfall. Denn Gelo, sein ältester Sohn, gab nichts auf das hohe Alter seines Vaters und nach der Niederlage von Cannae auch nichts auf das römische Bündnis; und er trat zu den Puniern über. Er hätte in Sizilien bestimmt Unruhe gestiftet, wenn ihn nicht der Tod zur rechten Zeit, so daß deswegen sogar der Vater in Verdacht geriet, weggerafft hätte, als er schon das Volk bewaffnete und die Bundesgenossen aufhetzte.“) mit JAEGER 2003, 214f. 202 So hält Polybios explizit fest, daß sich Vater und Sohn bis zum Tod des letzteren gut verstanden haben (vgl. Pol. 7,8,9 mit DEININGER 1983). 203 Zum Beitrag solcher Elemente zur Erzeugung von Spannung s. oben S. 200-202. 204 Vgl. Liv. 24,4,1-7,9 mit JAEGER 2003, 214-217.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

227

In gleicher Weise lassen sich auch bei der deutlich umfangreicheren narrativen Vorbereitung des Krieges gegen Perseus von Makedonien Auswirkungen sowohl in Bezug auf die literarische Wahrnehmung des Texts als auch hinsichtlich der in ihm dargestellten historischen Ereignisse beobachten. Die dritte und entscheidende Auseinandersetzung Roms mit Makedonien, die 171 v. Chr. beginnt und mit der Schlacht bei Pydna 168 v. Chr. endet,205 bildet das Hauptthema der Bücher 41-45 und damit der letzten erhaltenen Pentade des livianischen Werkes.206 Doch obwohl der Krieg erst in der Mitte des 42. Buchs erklärt wird,207 erhält der Leser ab dem 39. Buch immer wieder Hinweise auf eine drohende neue Konfrontation mit dem makedonischen Königreich, das sich bereits unter Perseus’ Vater Philipp V. in zwei Kriegen als hartnäckiger Gegner erwiesen hatte.208 Der erste Mal wird der drohende Konflikt zu Beginn des Jahres 185 v. Chr. erwähnt, und zwar vom Erzähler selbst bei der Erläuterung seiner Ursachen: cum Perseo rege et Macedonibus bellum, quod imminebat, non unde plerique opinantur nec ab ipso Perseo causas cepit. inchoata initia a Philippo sunt, et is ipse, si diutius vixisset, id bellum gessisset. Der Krieg mit König Perseus und den Makedonen, der drohte, hatte seine Ursachen nicht da, wo die meisten vermuten, und nicht bei Perseus selbst. Die ersten Anfänge liegen bei Philipp, und er selbst hätte diesen Krieg geführt, wenn er länger gelebt hätte.209

Dieser gleichsam direkt zum Leser gesprochene Kommentar, der eine rudimentäre Form der Diskussion von Überlieferungsvarianten darstellt, bildet den Auftakt eines längeren Abschnitts, in dem Philipps Unzufriedenheit mit den ihm nach Kynoskephalai (197 v. Chr.) diktierten Friedensbedingungen geschildert wird.210 Auch wenn der Erzähler am Ende dieses Berichts ein Fazit zieht, wird darin nicht nur betont, daß die Ursachen des Konfliktes schon bei Philipp zu suchen sind, sondern dem Leser zugleich in Erinnerung gerufen, daß eine erneute Auseinandersetzung mit den makedonischen Königen bevorsteht.211 Der Effekt dieser Antizipation wird dadurch erheblich gesteigert, daß der anschließende Übergang ___________________________

205 206 207 208

Zur den historischen Ereignissen vgl. allg. GRUEN 1984, 399-436. Zum Aufbau vgl. KERN 1960, 258-261, u. LUCE 1977, v.a. 114. Vgl. Liv. 42,30,8. Vgl. LUCE 1977, 75: „From the middle of Book 39 (...) the coming war with Perseus is repeatedly foreshadowed (...), even though the outbreak does not take place for another thirteen years.“ 209 Vgl. Liv. 39,23,5. 210 Vgl. Liv. 39,23,5-29,3 mit Pol. 22,6,1-6,6 u. 22,18 sowie ferner LUCE 1977, 106f.; WALSH 1994, 133-141, u. BRISCOE 2008, 301-322. 211 Vgl. Liv. 39,29,3: hae causae maxime animum Philippi alienaverunt ab Romanis, ut non a Perseo filio eius novis causis motum, sed ob has a patre bellum relictum filio videri possit. („Hauptsächlich diese Streitigkeiten entfremdeten Philipp den Römern, so daß man sehen kann, daß der Krieg nicht von seinem Sohn Perseus wegen neuer Streitigkeiten vom Zaune gebrochen, sondern ihm aufgrund dieser Streitigkeiten von seinem Vater als Vermächtnis hinterlassen worden ist.“).

228

V. Der involvierte Leser

zu den Ereignissen in Rom mit der Bemerkung eingeleitet wird, dort beschäftige sich noch niemand mit einen Krieg gegen Makedonien: Romae nullae Macedonici belli suspicio erat.212 Hier werden die Unterschiede zwischen den Personen der Handlung und den Lesern hinsichtlich ihres Wissen über das weitere Geschehen in gleicher Weise wie bei der – im übrigen kurz zuvor im gleichen Buch geschilderten – Bacchanalien-Verschwörung zur Erzeugung von Spannung genutzt. Auch im unmittelbar folgenden 40. Buch, das die aus Livius’ Sicht offenbar vergleichsweise ereignisarmen Jahre von 182 bis 179 v. Chr. umfaßt, finden sich wiederholt Hinweise auf diesen bevorstehenden Konflikt (die in der Übersicht auf der nächsten Seite kursiv markiert sind). Dabei spielen die im annalistischen Schema in der Art eines ‚Fortsetzungsromans‘213 wiedergegebenen Nachrichten über den Thronfolgestreit im makedonischen Königshaus eine zentrale Rolle,214 die bereits Polybios stark hervorgehoben und möglicherweise in der Form einer Tragödie präsentiert hatte.215 Die Figurenkonstellation besteht aus Philipp V. und seinen Söhnen Perseus und Demetrios, die um seine Nachfolge konkurrieren. Ein Zusammenhang zum bevorstehenden Krieg ergibt sich daraus, daß Demetrios, der jüngere der beiden, durch einen Aufenthalt als Geisel in Rom und die ihm vom Senat erwiesenen Ehren als prorömisch galt und dieser Umstand in der Auseinandersetzung von seinem Bruder als Argument gegen ihn genutzt wird.216 Für den Leser bedeutet das, daß sich der Ausgang des Thronstreits mit der Frage verbindet, wann – und im Sinne eines anomalous suspense möglicherweise auch ob – es zu einem dritten Krieg gegen Makedonien kommt. Er wird den einzelnen Szenen des Dramas daher mit besonderer Aufmerksamkeit folgen und mit jedem Erfolg des Romgegners Perseus den Ausbruch näher rücken sehen. Dies gilt bereits für die erste Schilderung, in der Perseus Demetrios vorwirft, er habe ihn ermorden wollen, und so eine Verhandlung vor Philipp herbeiführt, die jedoch ohne Ergebnis bleibt.217 Im Resümee der Ereignisse des Jahres 182 v. Chr. wird der Zusammenhang zum drohenden Krieg noch einmal explizit hergestellt: haec maxime vivo Philippo velut semina iacta sunt Macedonici belli, quod cum Perseo gerendum erat. Schon zu Lebzeiten Philipps wurde so im wesentlichen der Keim gelegt zu dem Makedonischen Krieg, der mit Perseus ausgetragen werden mußte.218 ___________________________

212 Liv. 39,29,4 u. dag. BRISCOE 2008, 322: „… but Livy wants also to stress that what precedes is an historical judgement, not a view taken in Rome at the time.“ 213 Ausführlicher zu dieser Technik s. oben S. 202-205. 214 Vgl. LUCE 1977, 109f., u. WALSH 1996a, 1. 215 Vgl. Pol. 23,10-11 mit v.a. WALBANK 1938 u. ferner z.B. WALSH 1996a, 14f. 216 Zum historischen Hintergrund vgl. PFEILSCHIFTER 2005, 354-362. 217 Vgl. Liv. 40,3,3-16,3 mit v.a. WALSH 1961, 226f.; WALSH 1996a, 132; CHAPLIN 2000, 80f., u. BRISCOE 2008, 417-453. 218 Vgl. Liv. 40,16,3; das überlieferte maxime wird aus inhaltlichen Gründen angezweifelt (vgl. BRISCOE 2008, 452f.: „… the word is impossible, since the war was fought entirely against Perseus.“), doch liegt der Akzent hier auf der Vorbereitung des Krieges.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

229

Die narrative Vorbereitung des Krieges gegen Perseus in den Büchern 40-42 40,1,1-3,2 40,3,3-16,3 5,1-15,16 40,16,4-18,2

Ereignisse in Rom zum Jahresanfang (182 v. Chr.) Ereignisse in Griechenland Streit zwischen Perseus und Demetrios Ereignisse in Italien, Spanien, Nordafrika und Rom

40,18,3-20,4 40,21,1-24,8 21,1-22,14 22,15-24,8 40,25,1-35,2

Ereignisse in Rom zum Jahresanfang (181 v. Chr.) Ereignisse in Griechenland Philipp besteigt den Haimos Intrige des Perseus und Ermordung des Demetrios Ereignisse in Italien, Spanien und Rom

40,35,3-44,2

Ereignisse in Rom, Italien und Spanien (180 v. Chr.)

40,44,3-46,16 40,47,1-53,6 40,54,1-58,9 54,1-56,9 56,10-58,9 40,59,1-59,8

Ereignisse in Rom zum Jahresanfang (179 v. Chr.) Ereignisse in Spanien, Rom und Italien Ereignisse in Griechenland Aufdeckung von Perseus’ Intrige und Tod Philipps Perseus besteigt den Thron Ereignisse in Rom

41,1,1-20,13

größere Lücken im überlieferten Text (178-175 v. Chr.)

41,21,1-22,3 41,22,4-25,8 23,1-24,20 41,26,1-28,11

Ereignisse in Rom zum Jahresanfang (174 v. Chr.) Ereignisse in Griechenland Perseus will die Achäer als Verbündete gewinnen Ereignisse in Spanien und Rom

42,1,1-10,8

Ereignisse in Rom, Griechenland, Italien, Spanien (173 v. Chr.)

42,10,9-14,9 11,1-14,4 42,15,1-17,9 15,3-16,9 17,1-17,9 42,18,1-28,13

Ereignisse in Rom zum Jahresanfang (172 v. Chr.) Debatte im Senat über Perseus, Rede des Eumenes Ereignisse in Griechenland gescheitertes Attentat auf Eumenes bei Delphi Perseus versucht, römische Feldherren zu vergiften Ereignisse in Rom

42,29,1-30,7 42,30,8-36,8 30,8-30,11 32,6-35,2 42,36,8-46,10 38,8-43,3 42,47,1-49,10 49,1-49,10 42,50,1-67,12

Überblick über die außenpolitische Lage (171 v. Chr.) Ereignisse in Rom zum Jahresanfang Antrag in der Volksversammlung zur Kriegserklärung Probleme bei der Aushebung, Rede des Sp. Ligustinus Ereignisse in Griechenland Verhandlung mit Perseus am Peneios; Waffenstillstand Ereignisse in Rom profectio des P. Licinius Crassus Ereignisse in Griechenland: Beginn der Kampfhandlungen

230

V. Der involvierte Leser

Wenn nach den nun folgenden Berichten über das Geschehen in Italien, Spanien und Nordafrika sowie über die Vorkommnisse beim Jahreswechsel in Rom,219 wieder die Entwicklungen in Griechenland in den Blick geraten, geschieht dies zunächst in der Form, daß eine Gesandtschaft Philipps an den römischen Senat erwähnt wird. Als deren eigentlicher Zweck wird aber zugleich die Überprüfung der von Perseus gegen Demetrios vorgebrachten Anschuldigungen einer geheimen Absprache mit Rom angeführt und so ein Zusammenhang mit der nächsten Etappe des Thronstreites hergestellt.220 Bevor diese aber selbst geschildert wird, folgt Philipps berühmte Besteigung des Haimos, um von dort aus den Weg nach Italien zu erkunden.221 Diese Episode stellt bereits aufgrund ihres strategischen Zieles – auch wenn dieses wegen des schlechten Wetters nicht umgesetzt wird222 – einen weiteren Vorverweis auf den kommenden Krieg dar.223 Der Aufstieg ist aber auch mit der Geschichte des Bruderzwists verbunden, da Philipp Demetrios nicht mitnimmt und damit weiter zur Entfremdung beiträgt.224 Folgerichtig verzichtet Livius hier auf den im annalistischen Schema erforderlichen Schauplatzwechsel und schildert im direkten Anschluß – allerdings auch ohne Markierung des Jahreswechsels225 – Perseus’ letzte Intrige, in der dieser mit einem vermeintlichen Brief des Quinctius Flamininus an Demetrios schließlich Erfolg hat,226 sowie die dramatisch dargestellte Ermordung des Demetrios, der auf Anweisung seines Vaters erst Gift verabreicht bekommt und dann, als dieses sich als nicht hinreichend wirksam erweist, in seinem Zimmer erwürgt wird.227 Dennoch ist mit dieser Sterbeszene die Spannung nicht beendet. Vielmehr ergibt ___________________________

219 Vgl. Liv. 40,16,4-20,2. 220 Vgl. Liv. 40,20,3-20,6. 221 Vgl. Liv. 40,21,1-22,14 sowie ferner Pol. 24,3 (= Strabo 7,5,1) mit z.B. LUCE 1977, 111; WALSH 1996a, 142; JAEGER 2007 u. BRISCOE 2008, 464-468. 222 Vgl. v.a. Liv. 40,22,4 mit JAEGER 2007. 223 Zu dieser Szene als individuell gestalteter Prolepse s. oben S. 96. 224 Vgl. v.a. Liv. 40,21,7-21,8: non fallebat Demetrium ablegari se, ne adesset consilio, cum in conspectu locorum consultarent, quae proxime itinera ad mare Hadriaticum atque Italiam ducerent, quaeque ratio belli esset futura. sed non solum parendum patri, sed etiam adsentiendum erat, ne invitum parere suspicionem faceret. („Demetrios war sich klar darüber, daß er weggeschickt wurde, damit er bei der Beratung nicht dabei wäre, wenn sie mit dem Blick auf das Gelände berieten, welche Wege am schnellsten zum Adriatischen Meer und nach Italien führten und wie der Kriegsplan sein sollte. Aber er mußte nicht nur seinem Vater gehorchen, sondern ihm auch zustimmen, um nicht den Verdacht zu erregen, als ob er nur widerwillig gehorche.“). 225 Zur Datierung vgl. z.B. BRISCOE 2008, 21. 226 Vgl. Liv. 40,22,15-24,1 u. ferner BRISCOE 2008, 468f., der sich für die Echtheit des Briefes ausspricht. 227 Vgl. Liv. 40,24,2-24,8, v.a. § 8: ita innoxius adulescens, cum in eo ne simplici quidem genere mortis contenti inimici fuissent, interficitur. („So wurde der schuldlose junge Mann getötet, da seine Feinde sich bei ihm nicht einmal mit einer einfachen Todesart begnügt haben.“).

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

231

sich aus dem Bericht des Erzählers, der Demetrios’ Tod eindeutig auf eine Intrige zurückgeführt hat, eine neue Diskrepanz zwischen dem Wissen des Lesers und dem der Figuren, vor allem dem des von Perseus hintergangenen Philipp. Diese Spannung wird noch dadurch verstärkt, daß sich, nachdem die Ereignisse zweier Jahre am makedonischen Hof zusammengefaßt wurden, für den Leser nun eine längere Pause ergibt, in der er über den weiteren Verlauf zunächst im Unklaren gelassen wird. Dies ändert sich erst im Jahr 179 v. Chr., wenn Philipp kurz vor seinem Tod durch Antigonos über die Hintergründe der Ermordung des Demetrios aufgeklärt wird, diese bereut und anstelle von Perseus nun Antigonos zu seinem Nachfolger machen will.228 Doch scheitert der Plan wegen seines bald darauf erfolgenden Todes und der für diesen Fall getroffenen Vorkehrungen, so daß Perseus schließlich tatsächlich auf den makedonischen Thron gelangt.229 Daß damit ein wichtiger Schritt in Richtung auf den Beginn eines neuen Krieges gegen Rom gemacht wurde, wird auch durch den in diese Erzählung eingestreuten Bericht über die Bastarnen deutlich, die noch von Philipp als Verbündete für diesen Konflikt angeworben worden waren.230 Allerdings scheitert das Unternehmen und Perseus sucht die Freundschaft Roms, wenn auch nur um zunächst seine Position in Makedonien festigen zu können.231 Mit diesem expliziten Hinweis des Erzählers auf die Vorläufigkeit des Friedens endet nicht nur das Jahr 179 v. Chr., sondern – abgesehen von kleineren Ereignissen in Rom – auch das 40. Buch, so daß der Tod Philipps und der Herrschaftsantritt seines Nachfolgers in der Art eines cliffhanger232 bereits auf den bevorstehenden Krieg und das Hauptthema der nächsten Pentade verweisen können.233 Die Strategie der wiederholten Ankündigungen setzt sich im 41. Buch fort und wird mit der besonderen Betonung der Prodigien noch um ein weiteres Element ergänzt.234 Dies galt wohl auch für das Jahr 178 v. Chr., von dessen Darstellung aber die erste Hälfte einer Lücke im Codex Vindobonensis Latinus 15, dem einzigen Überlieferungsträger der fünften Dekade, zum Opfer gefallen ist,235 so daß der erhaltene Text weder die Prodigien noch mögliche Ereignisse in Griechenland enthält.236 In den nächsten beiden Jahren läßt sich hingegen gut beobachten, wie die Behandlung der jeweiligen Vorzeichen zur Antizipation des drohenden ___________________________

228 229 230 231 232 233

Vgl. Liv. 40,54,1-56,7. Vgl. Liv. 40,56,8-57,1 mit BRISCOE 2008, 554-560. Vgl. Liv. 40,57,1-58,8 mit BRISCOE 2008, 560-565. Vgl. Liv. 40,58,9. Zu dieser Strategie und ihrem Beitrag zur Erzeugung von Spannung s. oben S. 205-208. Vgl. z.B. LUCE 1977, 111: „Philip’s death and the accession of Perseus (54-58) are delayed to near the end of Livy’s account of 179 (...) in order that the pentad may end on this theme; ...“. 234 Zur Verwendung der Prodigienberichte als narrative Prolepse s. oben S. 94f. 235 Zum vermutlichen Inhalt der Lücke vgl. z.B. LUCE 1977, 121, u. HILLEN 1993, 253f. 236 Immerhin enthält die periocha zu Buch 41 den Hinweis, daß das Feuer der Vesta in diesem Jahr erloschen ist (vgl. Liv. per. 41: ignis in aede Vestae exstinctus est.).

232

V. Der involvierte Leser

Krieges und damit zur Erzeugung von Spannung verwendet wird. Im ersten Fall wird die entsprechende Rubrik verdoppelt und nicht nur an ihrem regulären Platz zu Beginn, sondern auch am Ende des Jahres wiedergegeben.237 In der Darstellung des Jahres 176 v. Chr. wird diese Technik variiert und noch gesteigert, indem die omina nicht mehr in einer einzelnen Sektion behandelt, sondern über das Jahr verteilt und mit anderen Ereignissen – dem Amtsantritt der Konsuln, ihren Opfern und den Spielen238 – verbunden werden, so daß der Eindruck einer umfassenden Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens entsteht. Obwohl eine kontinuierliche Lektüre des 41. Buchs auch danach durch eine Reihe von Lücken in der Überlieferung erschwert wird,239 hat sich dennoch eine weitere Stelle erhalten, die sich als ein Teil der Spannungskurve verstehen läßt. Denn Livius geht ausführlich auf Perseus’ Suche nach Verbündeten 174 v. Chr. ein.240 Dabei stehen die Achäer im Mittelpunkt, deren Reaktion auf sein Angebot umfangreich in Szene gesetzt wird.241 Vor allem die Rede des Kallikrates, der sich gegen das Bündnis ausspricht, enthält klare – über das interne Publikum hinaus auch an den Leser gerichtete – Hinweise auf den bevorstehenden Krieg: quis enim non videt viam regiae societatis quaeri, qua Romanum foedus, quo nostra omnia continentur, violetur? nisi hoc dubium alicui est, bellandum Romanis cum Perseo esse et, quod vivo Philippo expectatum, morte eius interpellatum est, id post mortem Philippi futurum. Denn wer sieht nicht, daß man einen Weg für ein Bündnis mit dem König sucht, wodurch das Bündnis mit Rom verletzt wird, von dem für uns alles abhängt? Oder zweifelt einer daran, daß die Römer mit Perseus Krieg führen müssen und daß das, was zu Lebzeiten Philipps erwartet, aber durch seinen Tod aufgehalten wurde, nach dem Tod Philipps eintreten wird?242

Nach diesen beiden Reden wird von Achäern allerdings keine Entscheidung getroffen, vielmehr wird diese explizit vertagt, wodurch sich ein weiteres Element von Spannung ergibt.243 Auch hier folgen auf die detailliert geschilderte Szene nur noch kurze Zusammenfassungen der Ereignisse in Spanien und Rom, ehe zusammen mit dem Jahr 174 v. Chr. auch das 41. Buch endet, so daß sich erneut ein cliffhanger über die Buchgrenze hinaus ergibt.244 ___________________________

237 238 239 240 241 242 243 244

Vgl. Liv. 41,9,4-9,7 u. 41,13,1-13,3 mit LEVENE 1993, 105-107. Vgl. Liv. 41,14,7 (Amtsantritt); 41,15,1-15,4 (Opfer) u. 41,16,1-16,6 (Spiele). Zum Inhalt vgl. Liv. per. 41 mit z.B. HILLEN 1993, 292-296.298f.304. Vgl. Liv. 41,22,4-25,8. Vgl. Liv. 41,23,5-23,18 (Rede des Kallikrates) u. 24,1-24,18 (Rede des Archon). Vgl. Liv. 41,23,9. Vgl. Liv. 41,24,19-24,20 mit z.B. BURCK 1974, 165. Vgl. Liv. 41,26,1-28,11 mit KERN 1960, 160: „Bei dem Thema der äußeren Entfaltung des römischen Imperiums handelt es sich hier speziell um die initia belli Macedonici, die dieses Buch kraft seines ‚Achtergewichts‘ dem drohenden Konflikt mit Perseus zuweisen, die Spannung auf die Schilderung dieses Ringens wecken und den Ansatzpunkt für die kompositionelle Einheit der Bücher 41-45 als Pentade enthalten.“

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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Mit derselben Strategie, der Schilderung von Perseus’ Suche nach Verbündeten, beginnt auch die Behandlung dieses Themas im nächsten Jahr und im 42. Buch.245 Im darauf folgenden Jahr 172 v. Chr. wird die narrative Vorbereitung jedoch verändert und gesteigert, da sich nun König Eumenes II. von Pergamon nach Rom begibt, um im Senat Bericht über Perseus’ Aktivitäten zu erstatten.246 In seiner ausführlich wiedergegebenen Rede zeichnet er ein möglichst bedrohliches Bild von der bevorstehenden Auseinandersetzung und thematisiert dabei zugleich explizit den unterschiedlichen Wissensstand hinsichtlich der von Perseus getroffenen Vorbereitungen zwischen ihm und seinen Zuhörern.247 Dabei spielt nicht zuletzt die Fokalisierung aus seiner Perspektive eine zentrale Rolle, die vor allem im zweiten, in direkter Rede gehaltenen Teil seiner Ausführungen deutlich hervortritt, wenn wiederholt Verben des Sehens in der ersten Person Singular verwendet werden, um die Perspektive des Sprechers gegenüber derjenigen seiner Zuhörer auch sprachlich deutlich zu markierten: cernebam Persea non continentem se Macedoniae regno, alia armis occupantem, alia, quae vi subigi non possent, favore ac benivolentia conplectentem; videbam, quam inpar esset sors, cum ille vobis bellum , vos ei securam pacem praestaretis, quamquam mihi quidem non parare, sed gerere paene bellum videbatur. Ich sah, daß Perseus sich nicht auf die Herrschaft über Makedonien beschränkte, sondern daß er andere Länder mit Waffengewalt besetzte und wieder andere, die er nicht gewaltsam unterwerfen konnte, mit Zeichen seiner Gunst und seines Wohlwollens umstrickte. Ich sah, wie ungleich die Situation war, da jener einen Krieg gegen euch vorbereitete, ihr aber ihm sie Sicherheit des Friedens gewährtet. Dabei schien er mir den Krieg nicht nur vorzubereiten, sondern fast schon zu führen.248

Mit Eumenes’ Rede wird zugleich der Informationsrückstand der Zeitgenossen gegenüber den externen Rezipienten ausgeglichen, wenn auch eigens betont wird, daß die Geheimhaltung des Senats ein Bekanntwerden des Inhalts außerhalb der Kurie zunächst verhindert hat.249 ___________________________

245 Vgl. Liv. 42,4,5-6,12, v.a. 5,1: Perseus bellum iam vivo patre cogitatum in animo volvens omnis non gentes modo Graeciae, sed civitates etiam legationibus mittendis, pollicendo plura quam praestando, sibi conciliabat. („Perseus wälzte in seinem Herzen den Gedanken an den Krieg, den er schon gefaßt hatte, als sein Vater noch lebte, und suchte nicht nur alle Völkerschaften Griechenlands, sondern auch die Städte für sich zu gewinnen, indem er Gesandschaften schickte und mehr versprach, als er erfüllte.“). 246 Livius erwähnt – in einer ausnahmsweise vorangestellten Variantendiskussion – auch die auf Valerius Antias zurückgehende Version, daß nicht Eumenes II., sondern sein Bruder Attalos in Rom war (vgl. Liv. 42,11,1). 247 Liv. 42,11,2-13,12. 248 Vgl. Liv. 42,13,1-13,12, hier §§ 4-5. 249 Vgl. Liv. 42,14,1: haec oratio movit patres conscriptos. ceterum in praesentia nihil, praeterquam fuisse in curia regem, scire quisquam potuit: eo silentio clausa curia erat. („Diese Rede beeindruckte die Senatoren. Aber im Augenblick konnte niemand mehr wissen, als daß der König im Senatsgebäude gewesen war; die Verschwiegenheit war so groß, daß nichts über die Schwelle des Senatsgebäudes drang.“).

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V. Der involvierte Leser

Danach nimmt in Livius’ Darstellung daher die Dichte der Hinweise auf den Ausbruch des Krieges noch einmal zu: Perseus’ Gesandte werden im Senat kühl aufgenommen,250 was dieser zum Anlaß für Schritte nimmt, die eine weitere Eskalation bewirken und von denen das letztlich gescheiterte Attentat auf Eumenes in Delphi und der Versuch, römische Feldherren in Brundisium zu vergiften, ausführlich geschildert werden.251 Wenn es im direkten Anschluß dazu kommt, daß Perseus in Rom zum Feind erklärt wird,252 ist dieser Schritt vom Leser nicht nur seit geraumer Zeit erwartet und geradezu erhofft, sondern zugleich vom Erzähler hinreichend erklärt und gerechtfertigt worden, so daß sich an diesem Beispiel besonders gut die enge Verbindung von literarischer Unterhaltung und historiographischer Deutung zeigt, die mit der Erzeugung von Spannung verbunden ist. Doch auch nun ist die Spannung noch nicht völlig aufgehoben, sondern wird dadurch fortgesetzt, daß der Senat Perseus zwar zum Feind erklärt, die Eröffnung des Krieges aber auf das nächste Jahr verschiebt.253 Dabei handelt es sich um das erste aus einer ganzen Reihe retardierender Elemente, die zwischen dem Erkennen der Bedrohung durch die Zeitgenossen in Rom und ihrer Reaktion durch die Aufnahme der Kampfhandlungen eingeschaltet sind und für den Leser der Fortführung des Spannungsbogens dienen. Daß sich aber auch die Zeitgenossen in einer gesteigerten Anspannung befinden, wird vom Erzähler mehrfach explizit erwähnt.254 Am deutlichsten wird dies im Kontext der ungewöhnlich zahlreichen Prodigien des Jahres 172 v. Chr., wenn die Stimmung in der Stadt als angespannt in der Erwartung eines neuen Krieges (in suspensa civitate ad exspectationem novi belli) beschrieben wird.255 Daß hierbei mit der exspectatio ein zentraler Begriff aus der historiographischen Debatte der Späten Republik verwendet wird, ist kaum Zufall, sondern gibt der Stelle selbstreferentiellen Charakter und macht sie zu einer Art Leseanweisung für diese gesamte Schilderung. Auch daß die Konsuln des Jahres 172 v. Chr. durch verschiedene andere Probleme an einer Aufnahme des Krieges während ihrer Amtszeit gehindert werden, geht zwar sicherlich auf historische Tatsachen zurück, trägt in diesem Kontext aber auch dazu bei, die Spannung aufrecht zu erhalten.256 Diese wird durch den ___________________________

250 251 252 253 254

Vgl. Liv. 42,14,2-14,4. Vgl. Liv. 42,15,3-16,9 (Delphi) u. 42,17,1-17,9 (Brundisium). Vgl. Liv. 42,18,1. Vgl. Liv. 42,18,2-18,6. Vgl. Liv. 42,19,3: cum expectatione senatus esset bello etsi non indicto, tamen iam decreto, qui regum suam, qui Persei secuturi amicitiam essent, … („Während der Krieg zwar schon beschlossen, aber noch nicht erklärt war und der Senat abwartete, welche von den Königen seine Freundschaft, welche die des Perseus suchen würden, …“) u. 42,26,2: cum Macedonicum bellum expectaretur, … („Während man auf den Krieg mit Makedonien wartete, …“). 255 Vgl. Liv. 42,20,1-20,6, hier § 1; zur exspectatio als zeitgenössischem ‚Schlagwort‘ s. oben S. 192-195; zur Rolle der Prodigien als narrativer Prolepse s. oben S. 89. 256 Vgl. Liv. 42,21,1-24,10.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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ausführlichen Bericht der römischen Gesandten über die Annullierung des Friedensvertrags durch Perseus257 und die darauf in Rom hin erfolgenden Rüstungen258 noch weiter gesteigert. In diesem Jahr erfolgen auch die routinemäßigen Berichte über die Wahlen und die von den Magistraten durchzuführenden Opfer unter dem Vorzeichen des drohenden Krieges.259 Das Jahr 171 v. Chr. beginnt schließlich in singulärer Weise mit einem ausführlichen Überblick über die außenpolitische Lage im gesamten östlichen Mittelmeerraum,260 der sogar noch vor dem Amtsantritt der Magistrate geschildert wird. Zwar bringen die neuen Konsuln dann als erste Amtshandlung den Antrag auf eine Kriegserklärung in die Volksversammlung ein,261 doch findet sich selbst hier noch ein Moment der Spannung, da der Leser nur erfährt, daß dieser Antrag gestellt wurde (haec rogatio ad populum lata est), ihm jedoch das Ergebnis zunächst vorenthalten wird.262 Dazu kommen noch eine Reihe weiterer retardierender Momente, die vom Streit bei der Vergabe der Aufgabengebiete263 über die in der langen Rede des Sp. Ligustinus gipfelnden Konflikte bei der Aushebung264 bis hin zu den in aller Detailliertheit geschilderten Verhandlungen mit Perseus am Peneios reichen,265 die schließlich zu einem Waffenstillstand führen, den vor allem die Römer intensiv zur Verbesserung ihrer Ausgangsposition nutzen.266 Erst danach erfolgt der Aufbruch des konsularischen Heeres nach Griechenland,267 den Livius dazu nutzt, um eine ausführliche Beschreibung der profectio des P. Licinius Crassus zu geben. 268 Dabei schildert er zunächst den Zug des Konsuls vom Kapitol durch die Stadt und die Reaktion der Zuschauer, ehe er näher auf die Gedanken der Zeitgenossen eingeht, die sich beim Anblick dieses Schauspiels mit potentiellen Verläufen des Krieges beschäftigen: ___________________________

257 Vgl. Liv. 42,25,1-25,13 mit z.B. BURCK 1982, 1171f., u. HILLEN 1998b, 354. 258 Vgl. Liv. 42,27,1-27,8. 259 Vgl. Liv. 42,28,1-28,6, v.a. § 1: cum tantum bellum immineret, ... („da ein so großer Krieg drohe, …“) u. 42,28,7-28,9, v.a. § 7: ut, quod bellum populus Romanus in animo haberet gerere, ut id prosperum eveniret („daß der Krieg, den das römische Volk zu führen im Sinn habe, günstig ausgehe.“). 260 Vgl. Liv. 42,29,1-30,7 mit z.B. HILLEN 1998b, 356. 261 Vgl. Liv. 42,30,8-30,11. 262 Daß der Krieg erklärt worden sein muß, ergibt sich zwar aus der weiteren Handlung, die Bestätigung erfolgt aber erst später (vgl. Liv. 42,36,1). 263 Vgl. Liv. 42,31,1-32,5. 264 Vgl. Liv. 42,32,6-35,2 mit BURCK 1992, 74f.; CADIOU 2002 u. HOYOS 2007b, 63f.; zur ungewöhnlichen Wiedergabe aus der Perspektive eines Soldaten s. oben S. 189. 265 Vgl. Liv. 42,38,8-43,3. 266 Vgl. Liv. 42,43,4-47,12 mit Pol. 27,1-5. 267 Vgl. Liv. 42,48,4-48,10. 268 Vgl. Liv. 42,49,1-49,10. Die Stelle wird wegen der Ähnlichkeit mit Beschreibungen anderer Rituale häufig auf Polybios zurückgeführt (vgl. v.a. Pol. 6,53-54 mit z.B. NISSEN 1863, 254, u. dag. LUCE 1977, 131: „… scenes describing crowd psychology are more characteristic of Livy (...) than of Polybius.“).

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V. Der involvierte Leser

subit deinde cogitatio animos, qui belli casus, quam incertus fortunae eventus communisque Mars belli sit; adversa secundaque, quae inscitia et temeritate ducum clades saepe acciderint, quae contra bona prudentia et virtus attulerit. quem scire mortalium, utrius mentis, utrius fortunae consulem ad bellum mittant? triumphantemne mox cum exercitu victore scandentem in Capitolium ad eosdem deos, a quibus proficiscatur, visuri, an hostibus eam praebituri laetitiam sint? Dann befällt die Menschen der Gedanke, welche Rolle der Zufall im Kriege spielt, wie unberechenbar der Lauf des Schicksals und wie unparteiisch der Kriegsgott ist. Sie denken an Unglück und Glück, welche Niederlagen oft durch Ungeschick und Unbesonnenheit der Feldherrn eingetreten sind, welche Erfolge dagegen Klugheit und Tapferkeit gebracht haben. Wer von den Menschen wisse, was für einen Geist und was für ein Glück der Konsul habe, den sie in den Krieg schickten? Würden sie ihn bald sehen, wie er im Triumph mit dem siegreichen Heer zum Kapitol hinaufsteige zu denselben Göttern, von denen er aufbreche, oder würden sie selbst den Feinden diese Freude gewähren?269

Die Antizipation eines positiven wie eines negativen Ausgangs des Konflikts, die durch die Fokalisierung aus der Perspektive der am weiteren Geschehen nur aus der Ferne partizipierenden stadtrömischen Bevölkerung noch verstärkt wird, erweist sich als besonders wirksames Mittel zur Erzeugung von Spannung. Die Stelle kann darüber hinaus ebenfalls als Leseanweisung für den externen Rezipienten fungieren, der sich in der gleichen Position wie die Zeitgenossen befindet. Gerade durch die Skizzierung von virtuellen Verläufen kann auch ein Leser, der den historischen Ausgang des Krieges kennt, zumindest vorübergehend in den Zustand einer paradoxen Spannung270 versetzt werden. Diese Schilderung stellt zugleich auch das letzte retardierende Moment dar, bevor die Handlung tatsächlich dem Konsul und seinem Heer nach Griechenland folgt und der dritte und letzte Krieg Roms mit dem Makedonischen Königreich beginnt.271 Schaut man von hieraus auf die umfangreiche und sich über vier Bücher erstreckende Vorbereitung dieses Konfliktes zurück und nimmt dabei vor allem die Erzeugung von Spannung in den Blick, tritt die planvolle Anlage deutlich hervor. Gerade die Redundanz der Darstellung, die in der älteren Forschung kritisiert wurde,272 erweist sich nun als Teil einer großräumigen narrativen Strategie, die mit Hilfe von wiederholter Ankündigung und schrittweiser Präzisierung eines bedrohlichen Ereignisses auf dessen Antizipation durch den Rezipienten zielt. Der sich auf diese Weise ergebende Spannungsbogen soll den Leser auf der einen Seite durch die – in der Sicht der Späteren – offenbar vergleichsweise ereignisarmen ___________________________

269 Vgl. Liv. 42,49,4-49,6. Für eine Interpretation unter besonderer Berücksichtigung der ‚spektakulären‘ Darstellung vgl. FELDHERR 1998, 9-12. 270 S. oben S. 195-199. 271 Vgl. Liv. 42,50,1-67,12 mit LUCE 1977, 121: „It is clear that Livy wished to make the war ceremonies in Rome, followed by Polybius’ account of the first campaigning season, into a single narrative unit. Hence all notices from Roman sources not connected with the outbreak of the war were reserved for the beginning of 43.“ 272 Vgl. v.a. NISSEN 1863, 243: „… ein wunderbares Conglomerat von Wiederholungen und Widersprüchen ohne chronologische Ordnung“ u. ferner z.B. LUCE 1977, 123f.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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Jahre 185-171 v. Chr. tragen und ihn dadurch gleichsam ‚bei der Stange halten‘. Auf der anderen Seite wird hierdurch aber auch die Wahrnehmung und Bewertung des Geschehens durch den Leser verändert: In unserem Beispiel dienen die lange Dauer und die Detailliertheit der Berichte über die Entwicklungen in Makedonien nicht zuletzt dazu, die Kriegsschuld eindeutig Perseus zuzuweisen. b) Die Reden Hannibals zwischen Plan und possible world Nachdem wir im letzten Abschnitt mit den Reden von Kallikrates und Eumenes II. bereits zwei Beispiele für die Verwendung dieser narrativen Strategie kennengelernt haben, soll der Beitrag der Reden historischer Personen zur Antizipation des weiteren Geschehens durch den Leser hier noch einmal ausführlicher in den Blick genommen werden. Dabei soll nicht erneut die auf diese Weise erzeugte Multiperspektivität in Hinsicht auf die narrative Vergangenheit im Mittelpunkt stehen,273 obwohl auch die aus zwei abweichenden Schilderungen des gleichen Ereignisses resultierende tension ein wichtiges Element der Spannung bildet.274 Vielmehr soll in diesem Abschnitt der Beitrag der Reden zur Antizipation des auf der Ebene der Erzählung in der Zukunft liegenden Geschehens und die damit verbundene Präsentation von virtuellen Handlungsverläufen oder possible worlds in den Blick genommen werden. Denn Figurenreden sind in verschiedenen Gattungen ein bevorzugtes Mittel der antizipatorischen Informationensvergabe an die externen Rezipienten, die auf diese Weise nicht nur das Material, sondern auch die Motivation zur Bildung von Hypothesen über den weiteren Handlungsverlauf erhalten. Der besondere Reiz besteht dabei darin, daß durch den eingeschränkten Blick des Sprechers immer nur ein partielles und stark perspektiviertes Bild der Zukunft entsteht, das zudem im Widerspruch mit dem von anderen Personen präsentierten möglichen Fortgang der Erzählung stehen kann.275 Der Leser erhält daher die Möglichkeit, auf der Grundlage der ihm von den verschiedenen Figuren angebotenen possible worlds seine eigene Vermutung zu bilden und diese bei der weiteren Lektüre mit dem tatsächlichen Fortgang der Erzählung zu vergleichen.276 Daraus ergibt sich eine besonders intensive Form der Antizipation und damit auch der Spannung.277 ___________________________

273 S. oben S. 157-189. 274 Zum Zusammenhang von Fokalisierung und Spannung vgl. NEUHAUS 1971, v.a. 162, u. BAL 1997, 160f.; für einen experimentellen Nachweis HOEKEN / VAN VLIET 2000. 275 Zur analogen Funktion der Perspektivenstruktur im Drama vgl. PFISTER 2001, 90-103. 276 Vgl. ECO 1987 [1979], 140-153, v.a. 143: „Der Modell-Leser ist dazu aufgerufen, an der Entwicklung der Fabel mitzuwirken, indem er die nachfolgenden Zustände antizipiert. … Diese Aktivität des Vorhersehens durchläuft in der Tat den ganzen Interpretationsprozeß und entwickelt sich zusammen mit anderen Operationen nur in einer folgerichtigen Dialektik, indem sie fortwährend von der Aktualisierung der diskursiven Strukturen überprüft wird.“ u. SURKAMP 2002, v.a. 174-177. 277 Zur Verbindung von possible-worlds theory und Spannung vgl. LANGER 2008, 26-28.

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V. Der involvierte Leser

Aus diesem Grund wollen wir uns im folgenden bei der Beschäftigung mit Livius’ 21. Buch auf die Vorverweise in den Reden Hannibals konzentrieren, obwohl es sich dabei nur um einen Teil der zahlreichen Hinweise auf den Kriegsverlauf handelt, die der Leser zu Beginn der dritten Dekade auf unterschiedlichen narrativen Ebenen erhält. Diese Stellen haben zwar bereits mehrfach – vor allem in den Arbeiten von ERICH BURCK und MANFRED FUHRMANN278 – die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden, doch standen dabei die auktorialen Hinweise im Proöm279 und verschiedene vom Erzähler geschilderte Episoden (Hannibals Eid, so schnell wie möglich zum Feind der Römer zu werden,280 sein Traum von einem Drachen, der Italien verwüstet,281 oder das von den Römern trotz großer Verluste gewonnene und im Nachhinein als omen für den Verlauf des Krieges gewertete Reitergefecht an der Rhône282) im Vordergrund des Interesses. Demgegenüber haben die Reden von historischen Figuren im 21. Buch für die Frage der Antizipation des weiteren Geschehens bislang noch keine adäquate Berücksichtigung gefunden, obwohl dem Blick auf zum Zeitpunkt der Handlung zukünftige Ereignisse in ihnen schon rein quantitativ große Bedeutung zukommt. Daß Reden auch von anderen Historikern in gleicher Weise verwendet wurden, konnte in neueren Untersuchungen vor allem zu Thukydides gezeigt werden.283 Es lassen sich bei der durch Reden veranlaßten Antizipation des weiteren Geschehens zwei Formen unterscheiden: Bei dem ersten Typ beziehen sich die vom jeweiligen Sprecher aus seiner Perspektive gegebenen Informationen auf ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis, dessen konkreter Verlauf beim Rezipienten nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Dies ist oft in den Ansprachen von Feldherren vor ihren Soldaten der Fall, die dazu dienen, diese – und mit ihnen die Leser – über die Strategie für die folgende Auseinandersetzung in Kenntnis zu setzen. Ein gutes Beispiel hierfür bieten die beiden kurzen Reden, in denen Hannibal vor der Schlacht an der Trebia 218 v. Chr. zunächst seinem Bruder Mago und dann den ausgewählten Soldaten seinen Plan für den Hinterhalt erklärt: ___________________________

278 Vgl. BURCK 1962 [1950], v.a. 57-74, u. FUHRMANN 1983, v.a. 22: „Die Differenz, die sich … in dieser Hinsicht hervortut, läuft im ganzen darauf hinaus, daß sich die Ereignisse selbst in einem offenen Horizont, im Horizont eines zwar drohenden, aber noch abwendbaren Krieges vollzogen haben, während sie von Livius im Horizont eines Krieges vorgeführt werden, der wirklich stattgefunden hat ...“ 279 Vgl. Liv. 21,1,1-1,3. Zu den auktorialen Hinweisen im Zusammenhang der Datierung der Eroberung Sagunts vgl. 21,15,3-15,6 mit z.B. LUCE 1977, xxi u. 141f.; WALSH 1982, 1062; FUHRMANN 1983, 23, u. HÄNDL-SAGAWE 1995, 47f.58-60.93-95. 280 Vgl. Liv. 21,1,4 mit Pol. 3,10,7-12,7; Nep. Hann. 1,3-2,6 u. Liv. 35,19,1-19,7 sowie ferner GÄRTNER 1975, 7-12; HÄNDL-SAGAWE 1995, 19-21, u. HOYOS 2003, 47-86. 281 Vgl. Liv. 21,22,6-22,9 mit Cic. div. 1,49 sowie ferner HÄNDL-SAGAWE 1995, 142-144. 282 Vgl. Liv. 21,29,1-29,4 mit Pol. 3,45 sowie ferner HÄNDL-SAGAWE 1995, 188-190. 283 Vgl. z.B. MORRISON 2006b, v.a. 265: „In varying degrees of specifity, speeches also anticipate later events by means of predictions, warnings, and proposed strategy. An obvious task for the reader is to evaluate the accuracy of such predictions by testing them against the subsequent course of events recounted in narrative.“

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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‚hic erit locus‘ Magoni fratri ait ‚quem teneas. delige centenos viros ex omni pedite atque equite cum quibus ad me vigilia prima venias; nunc corpora curare tempus est.‘ ita praetorium missum. mox cum delectis Mago aderat. ‚robora virorum cerno;‘ inquit Hannibal ‚sed uti numero etiam, non animis modo valeatis, singulis vobis novenos ex turmis manipulisque vestri similes eligite. Mago locum monstrabit, quem insideatis; hostem caecum ad has belli artes habetis.‘ Zu seinem Bruder Mago sagt er: ‚Dies wird die Stelle sein, die du besetzen sollst. Suche dir von dem gesamten Fußvolk und der Reiterei je 100 Mann aus und komme mit ihnen um die erste Nachtwache zu mir! Jetzt ist es Zeit, euch zu stärken.‘ So wurde der Kriegsrat entlassen. Mago war bald mit seinen ausgewählten Soldaten zur Stelle. ‚Ich sehe hier eine Kerntruppe‘, sagte Hannibal‚ ‚aber damit ihr auch zahlenmäßig überlegen seid, soll sich jeder von euch je neun gleichwertige Männer aus den Schwadronen und Maniplen aussuchen. Mago wird euch die Stelle zeigen, die ihr als Falle benutzen sollt. Ihr habt einen Feind vor euch, der für derartige Kriegslisten blind ist.‘284

Der klassische Effekt einer Planungsrede, die das künftige Geschehen in einer starken Perspektivierung aus der Sicht der sprechenden und planenden Personen präsentiert, wird hier durch eine Reihe zusätzlicher Elemente gesteigert: Dies gilt einerseits für den expliziten Hinweis auf die Blindheit des Gegners für diesen Plan, den Hannibal den internen Zuhörern und damit auch den externen Rezipienten abschließend mit auf den Weg gibt. Dies gilt andererseits aber auch für den Umstand, daß wir von diesem Teil des karthagischen Heeres erst wieder hören, als sein für die Römer überraschendes, vom Leser aber erwartetes Erscheinen auf dem Schlachtfeld tatsächlich die Entscheidung herbeiführt.285 Der erste Typ antizipatorischer Informationsvergabe durch Reden erzeugt also eine Form der Spannung, die darauf beruht, daß der Leser über ein in der näheren Zukunft der Erzählung liegendes Ereignis Informationen erhält, die er rasch mit dem tatsächlichen Verlauf vergleichen kann. Gegenüber diesem relativ einfachen Fall handelt es sich bei den Vorverweisen des zweiten Typs um von den Akteuren skizzierte Verläufe einer längeren Handlungssequenz, die in unserem Fall zumeist den Ausgang des gesamten Krieges in den Blick nimmt. Angesichts der Bekanntheit dieses Konfliktes scheint es auf den ersten Blick nur schwer vorstellbar zu sein, gerade mit ihrer Schilderung bei römischen Lesern Spannung zu erzeugen. Andererseits läßt sich jedoch bei der Rezeption bekannter historischer Vorgänge ebenso wie beim wiederholten Lesen einer fiktiven Geschichte durchaus eine irreguläre oder paradoxe Spannung beobachten, wie wir oben gesehen haben.286 Einer solchen zumindest vorübergehenden Verunsicherung des Lesers über den tatsächlichen Ausgang der Geschichte dienen verschiedene Elemente von Livius’ Werk, denen wir uns im Zusammenhang mit der virtuellen Historiographie im Anschluß noch einmal ausführlicher zuwenden werden.287 Unter den verschiede___________________________

284 Vgl. Liv. 21,54,2-54,3 u. dag. Pol. 3,71,1-71,8 (mit analoger Zweiteilung, aber ohne direkte Rede); zu dieser Stelle als Beispiel für eine Fokalisierung s. oben S. 154f. 285 Vgl. Liv. 21,55,8-55,9 mit FUHRMANN 1982, 25. 286 S. oben S. 195-199. 287 S. unten S. 246-248.

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nen Strategien, die eine solche Verunsicherung des Rezipienten auslösen können, nehmen die Reden – nicht zuletzt wegen ihres Potentials zur Perspektivierung – einen prominenten Platz ein. Ein gutes Beispiel für den Einsatz dieser Technik stellt die Schilderung der Debatte im römischen Senat nach der Eroberung von Sagunt durch Hannibal, die 219 v. Chr. den zweiten Krieg gegen Karthago auslöst, dar: tantusque simul maeror patres misericordiaque sociorum peremptorum indigne et pudor non lati auxilii et ira in Carthaginienses metusque de summa rerum cepit, velut si iam ad portas hostis esset, ut tot uno tempore motibus animi turbati trepidarent magis quam consulerent: nam neque hostem acriorem bellicosioremque secum congressum nec rem Romanam tam desidem umquam fuisse atque imbellem. ... (6) trahere secum tot excitos Hispanorum populos; conciturum avidas semper armorum Gallicas gentes; cum orbe terrarum bellum gerendum in Italia ac pro moenibus Romanis esse. Da ergriff die Senatoren eine solche Trauer und solches Mitleid mit den so schmählich umgekommenen Bundesgenossen, ferner so viel Scham, ihnen keine Hilfe gebracht zu haben, so großer Zorn auf die Karthager und solche Furcht um den ganzen Staat – als stünde der Feind bereits vor den Toren –, daß sie – von so vielen Ereignissen gleichzeitig erschüttert – mehr in kopflose Panik verfielen als daß sie berieten: Nie habe man es mit einem hartnäckigeren und kriegstüchtigeren Feind zu tun gehabt, und nie sei der römische Staat so abgespannt, so ungerüstet gewesen. ... (6) So werde man schließlich in Italien und vor den Mauern Roms mit dem ganzen Erdkreis Krieg führen müssen.288

Hier wird auf beiden narrativen Ebenen – erst in der Beschreibung der Reaktion der Senatoren durch den Erzähler, dann in der Wiedergabe ihrer Beratung in indirekter Rede289 – eine aus römischer Sicht extrem pessimistische, erstmals mit dem Hannibal ad portas-Motiv spielende Version des Kriegsverlaufs präsentiert.290 Ihr fiktiver Charakter kann vom Leser nach kurzer Besinnung auf sein historisches Vorwissen zwar letztlich leicht erkannt werden, dennoch dürfte sie für den Augenblick ihre verunsichernde und damit das Interesse an dem Fortgang der Handlung steigernde Wirkung nicht verfehlt haben. Dieser Effekt kann noch gesteigert werden, wenn die Vorankündigung bedrohlicher Ereignisse wiederholt erfolgt und mit der schrittweisen Präzisierung des weiteren Handlungsverlaufes einhergeht.291 Für beides lassen sich im 21. Buch Beispiele finden, vor allem in den drei Reden, die Hannibal vor dem Aufbruch aus Spanien, nach der Überquerung der Rhône und in den Alpen vor seinem Heer ___________________________

288 Vgl. Liv. 21,16,2-16,6 u. zu den hier rekapitulierten historischen Ereignisse HÄNDLSAGAWE 1995, 98-101; zur literarischen Wirkung CLAUSS 1987, v.a. 66f. 289 Zur indirekten Rede als von Livius bevorzugtem Mittel zur Wiedergabe der Gedanken von größeren Gruppen vgl. LAMBERT 1946, 46-49. 290 Vgl. FUHRMANN 1983, 23: „… dieser Vergleich setzt ein Ereignis des Jahres 211 v. Chr., das Livius erst 26,7-11 behandelt, das berühmte Hannibal ad portas, als bekannt voraus (…).“. Eine kürzere Parallele hierzu stellt die Reaktion in Rom auf die Nachricht von der Niederlage an der Trebia dar (vgl. Liv. 21,57,1-57,3). 291 Zur Verwendung dieser Strategie im Epos vgl. z.B. RENGAKOS 1999, 321-323.

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hält.292 Während er in der ersten Rede nur vage von einem Krieg außerhalb Spaniens spricht,293 benennt er an der Rhône nicht nur Italien, sondern bereits das Marsfeld als Ziel und läßt damit nicht zuletzt den Leser eine Bewegung im imaginären Raum vollziehen.294 Noch weiter geht er in der letzten Rede, die er in den Alpen hält, als seine Soldaten an den Schwierigkeiten des Gebirges verzweifeln: praegressus signa Hannibal in promunturio quodam, unde longe et late prospectus erat, consistere iussis militibus Italiam ostentat subiectosque Alpinis montibus Circumpadanos campos moeniaque eos tum transcendere non Italiae modo, sed etiam urbis Romanae; cetera plana, proclivia fore; uno aut summum altero proelio arcem et caput Italiae in manu ac potestate habituros. Da ritt Hannibal an die Spitze des Zuges und ließ die Soldaten auf einem Felsvorsprung halten, von wo aus man eine gute und weite Fernsicht hatte. Er zeigt ihnen Italien und die Poebene am Fuße der Alpen und wies darauf hin, daß sie jetzt nicht nur die Mauern Italiens überstiegen, sondern auch die der Stadt Rom. Von jetzt an gehe es durch Ebenen, ja sogar bergab. Nach einem, höchstens zwei Kämpfen würden sie die Burg und die Hauptstadt Italiens in ihrer vollen Gewalt haben.295

Die Reihe läßt sich noch fortsetzen, wenn man seine Reden am Ticinus hinzunimmt dem Nebenfluß des Po, an dessen Ufer die Karthager Ende 218 v. Chr. zum ersten Mal auf ein römisches Heer treffen. Vor allem in der kürzeren zweiten Ansprache, die im übrigen ohne Gegenstück bei Polybios ist, blickt er bereits über den siegreich beendeten Krieg hinaus und stellt seinen Soldaten nicht nur reiche Beute, sondern auch Ländereien in Italien in Aussicht: nihil umquam satis dictum praemonitumque ad cohortandos milites ratus, vocatis ad contionem certa praemia pronuntiat, in quorum spem pugnarent: agrum sese daturum esse in Italia Africa Hispania, ubi quisque velit, immunem ipsi, qui accepisset, liberisque; qui pecuniam quam agrum maluisset, ei se argento satisfacturum. Er meinte, man könne nie genug Reden halten und Ermahnungen vorausschicken, um die Soldaten anzufeuern. Er rief sie also wieder zu einer Heeresversammlung zusammen und versprach ihnen sichere Belohnung, in deren Erwartung sie kämpfen sollten: Er werden ihnen in Italien, Afrika und Spanien, wo jeder es wolle, Ländereien zuweisen, und zwar abgabenfrei für den Empfänger und seine Kinder. Wer lieber Geld als Ackerland wünsche, den werde er mit Silber entschädigen.296

Vielleicht in noch stärkerem Maße als das Motiv eines bereits vor den Mauern Roms stehenden Hannibals dürfte die Vorstellung, wie dieser in Italien an seine

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292 Zur generellen Charakterisierung Hannibals als historisches ‚Paradox‘, um dadurch beim Leser einen alternativen Geschichtsverlauf zu evozieren, vgl. FELDHERR 2009b. 293 Vgl. Liv. 21,21,3-21,7 u. dag. Pol. 3,34,7-34,9 mit HÄNDL-SAGAWE 1995, 132f. 294 Vgl. Liv. 21,30,1-30,11, v.a. § 11, u. ferner Pol. 3,44,10-44,13 mit GÄRTNER 1975, 151-158, u. FELDHERR 2009b, 314f.319f., der die Eignung dieser Rede betont, beim Leser einen alternativen Geschichtsverlauf zu evozieren. 295 Vgl. Liv. 21,35,8-35,9 mit Pol. 3,54,1-54,4; zur sehr fraglichen Historizität der Rede HÄNDL-SAGAWE 1995, 235f.; zur Fokalisierung des Geschehens aus der Perspektive der Karthager s. oben S. 151f. 296 Vgl. Liv. 21,45,4-45,5; zur Wirkung der Rede als Vorverweis ferner BURCK 1992, 82.

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V. Der involvierte Leser

Veteranen Land verteilt, gerade bei augusteischen Lesern eine lebhafte Imagination ausgelöst haben. Hatten doch bereits die Enteignungen, die nach den Bürgerkriegen des 1. Jh. v. Chr. zur Abfindung römischer Soldaten in Italien vorgenommen worden waren, zu nicht unerheblichen sozialen Problemen geführt und waren als Schreckensszenarien sicherlich noch präsent. Auch wenn die dadurch ausgelöste Verunsicherung erneut nur momentan wirksam bleibt und bei näherer Besinnung des Rezipienten auf seinen Wissensvorsprung gegenüber den historischen Figuren möglicherweise sogar in die Empfindung dramatischer Ironie umschlägt,297 geht damit doch in jedem Fall eine Verstärkung seines Interesses am Fortgang der Handlung einher. Zur Erzeugung von Spannung können die Reden historischer Figuren daher auf zwei Wegen beitragen: einerseits durch die partielle Vergabe von Informationen über unmittelbar bevorstehende weniger bekannte Ereignisse, die zur antizipierenden Bildung von Hypothesen führt; andererseits durch die Präsentation zumindest stark perspektivierter, zum Teil geradezu kontrafaktischer Versionen der ganzen weiteren Handlung, die zur momentanen Verunsicherung des Lesers führen und ihn zum Vergleich mit seinem historischen Wissen veranlassen. Diese kontrafaktischen Vorverweise sollten daher nicht einseitig als Form der dramatischen Ironie verstanden und damit in gewisser Weise entschärft werden, weil sich ihre Wirkung dann lediglich in der Bestätigung des Vorwissens des Lesers und seiner Erwartung eines römischen Erfolges erschöpft. Vielmehr läßt sich angesichts der großen Bedeutung, die einer Verunsicherung des Rezipienten über den Ausgang der Ereignisse allgemein in Livius’ historiographischer Konzeption zukommt, plausibel machen, daß ein enger Zusammenhang mit der Erzeugung irregulärer oder paradoxer Spannung besteht. c) Déjà-vu? Typische Szenen und die Erwartung des Lesers Eine weitere Möglichkeit, bei der Schilderung historischen Geschehens die Antizipation des Lesers anzuregen und ihn damit in Spannung auf den Fortgang der Handlung zu versetzen, besteht in der wiederholten Verwendung einer charakteristischen Art der Darstellung, die der Leser dann auch ohne expliziten Hinweis des Erzählers mit einer bestimmten Erwartung verbindet. Daß die Wiedergabe typischer Szenen in wiederkehrenden Formen für die Präsentation der Vergangenheit im livianischen Werk eine wichtige Rolle spielt, ist in der Forschung bereits verschiedentlich festgestellt worden.298 Allerdings stand dabei zumeist die ___________________________

297 Zum Konzept vgl. PFISTER 2001, 87-90, v.a. 88: „Sie tritt immer dann auf, wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur für den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält.“; zur Verwendung bei Livius vgl. z.B. FUHRMANN 1983, v.a. 24: „... der den Ausgang kennende Leser soll diese Äußerungen offenbar am Erfolg messen und so die ungewollte Ironie auskosten, die ihnen innewohnt.“ 298 Vgl. v.a. WALSH 1961, 191-218; KRAUS 1996a, 15-17, u. OAKLEY 1997, 7-10.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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Frage der Übereinstimmung der Schilderungen mit der historischen Realität im Vordergrund, während im Zusammenhang der Erzeugung von Spannung vor allem ihre Wirkung auf den Leser von Interesse ist, der im Laufe seiner Lektüre auf mehrere solcher Darstellungen trifft. Neben häufiger vorkommenden Situationen wie der Volksversammlung, der Senatssitzung oder dem Triumphzug299 bieten sich vor allem die Schlachtschilderung als Beispiel an, die in der antiken Historiographie generell besonders stark von formalen Mustern geprägt ist.300 Die einzelnen Elemente, die bei Livius häufiger Verwendung finden, sind ebenfalls schon mehrfach beschrieben worden.301 Um die Wirkung zu verdeutlichen, die sich aus der Wiederholung dieser Elemente auf den Leser und seine Antizipation des weiteren Geschehens ergibt, wollen wir ein Beispiel aus der dritten Dekade herausgreifen. Schon zu Beginn der Darstellung von Roms zweitem Krieg mit Karthago wird im Zusammenhang mit der Schlacht an der Trebia 218 v. Chr. ein bestimmtes Muster für den Verlauf einer Niederlage gegen Hannibal etabliert. Denn im Vorfeld kommt es hier zu einem Reitergefecht, dessen für die römische Seite günstiger Ausgang302 in der Auseinandersetzung der beiden Konsuln, ob man Hannibal eine Schlacht anbieten oder auf Verstärkungen warten soll, eine wichtige Rolle spielt, da sich Tib. Sempronius Longus in der Rede, mit der er seinen Amtskollegen P. Cornelius Scipio zur Schlacht überreden will, gerade auf diesen Erfolg beruft.303 Auch in den im direkten Anschluß wiedergegeben Überlegungen Hannibals spielt das Gefecht und seine verhängnisvolle Bewertung durch Sempronius eine entscheidende Rolle: Hannibal cum, quid optimum foret hosti, cerneret, vix ullam spem habebat temere atque improvide quicquam consules acturos; cum alterius ingenium, fama prius, deinde re cognitum, percitum ac ferox sciret esse ferociusque factum prospero cum praedatoribus suis certamine crederet, adesse gerendae rei fortunam haud diffidebat. Hannibal wußte, was für den Feind am günstigsten war. Daher rechnete er kaum damit, daß die Konsuln etwas unüberlegt und unvorsichtig tun würden. Er wußte aber auch, daß der eine Konsul leicht erregbar ein Draufgänger sei, – das hatte er zunächst gerüchteweise gehört, dann aber auch durch Erfahrung gelernt – und meinte nun, durch den erfolgreichen Kampf gegen seine Plünderer sei er noch kampflustiger geworden. Deshalb glaubt er sicher, eine günstige Gelegenheit zu einem entscheidenden Schlag zu finden.304 ___________________________

299 Die Schlachtschilderung steht oft schon im Zusammenhang mit der Debatte um einen Triumph (vgl. PITTENGER 2008, 127-147, v.a. 146: „Then the metanarrative threatens to lead in endless circles form battlefield to curia and back again, turned in on itself like a Möbius strip.“). 300 Vgl. z.B. ASH 1998; LENDON 1999 u. GERLINGER 2008, v.a. 18.366. 301 Vgl. z.B. BRUCKMANN 1936; WALSH 1961, 197-204; WILL 1983b; BURCK 1992, 5968; KRAUS 1997, 67f., u. OAKLEY 1997, 83f. 302 Vgl. Liv. 21,52,1-52,11 u. ferner Pol. 3,69,5-69,14. 303 Vgl. Liv. 21,53,1-53,6 u. ferner Pol. 3,70 (Dialog in indirekte Rede) mit GÄRTNER 1975, 38-41, u. HÄNDL-SAGAWE 1995, 326; zur Fokalisierung s. oben S. 153f. 304 Vgl. Liv. 21,53,7-53,11, v.a. §§ 7-8 mit z.B. HÄNDL-SAGAWE 1995, 330.

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V. Der involvierte Leser

Gerade durch diese zweite Version der Ereignisse aus der Perspektive Hannibals, wird für den Leser ein enger Zusammenhang zwischen der Fehleinschätzung des Sempronius und der drohenden Niederlage hergestellt. 305 Darüber hinaus wird der Leser auch schon hier in Spannung versetzt, die im folgenden durch die ausführliche und aus der Sicht der Karthager fokalisierte Vorbereitung des entscheidenden Hinterhaltes noch gesteigert wird.306 Dieses Schema, in dem der Erfolg in einem Reitergefecht zu Leichtsinn auf römischer Seite führt und dieser dann von Hannibal zum Stellen einer Falle genutzt wird, kann nach seiner ausführlichen Einführung anläßlich der Niederlage an der Trebia als etabliertes Muster gelten. Wenn der Leser es in der Folge wiedererkennt, so ergibt sich für ihn daher bereits auf der formalen Ebene eine Spannung. Diese besteht einerseits in der Antizipation einer möglichen weiteren Niederlage, andererseits aber auch in der Frage, ob das Schema diesmal in der gleichen Weise wiederholt, ob es variiert oder ob es sogar durchbrochen wird. Eine Veränderung des Schemas zeigt sich bereits bei der ersten Wiederverwendung: Auch im Vorfeld der Schlacht von Cannae kommt es 216 v. Chr. zu einem für die Römer siegreichen Reitergefecht,307 das danach nicht nur die gleiche kontroverse Beurteilung durch die Konsuln – in diesem Fall durch den vorsichtigen Aemilius Paullus und seinen sich durchsetzenden Gegenspieler Terentius Varro – findet,308 sondern auch Hannibal erneut Gelegenheit zu einem Hinterhalt gibt.309 Doch im Gegensatz zur Falle an der Trebia geht sein Kalkül, die Römer in sein vermeintlich verlassenes Lager zu locken, um sie dort anzugreifen, hier nicht auf, weil sie im letzten Moment von zwei Sklaven gewarnt werden.310 Dennoch handelt es sich dabei letztlich nur um eine Variation des Schemas, da die drohende Niederlage dadurch nur um wenige Kapitel aufgeschoben wird.311 Ein wirkliches Durchbrechen des Schemas findet erst im nächsten Jahr 215 v. Chr. und im Zusammenhang der Belagerung von Cumae statt. Dort gelingt den Römern unter Sempronius Gracchus ein erfolgreicher Ausfall,312 der von Hannibal in der dem Leser bereits bekannten Weise gedeutet und genutzt wird: postero die Hannibal, laetum secunda re consulem iusto proelio ratus certaturum, aciem inter castra atque urbem instruxit.

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305 Zur Rolle des Sempronius als ‚Sündenbock‘, die sich auch in der Schlacht fortsetzt, vgl. SONTHEIMER 1934, 102-121; BRUCKMANN 1936, 59-65; BURCK 1962 [1950], 7577; WILL 1983b, 172-182, u. SEEK 1983, 87-90. 306 Vgl. Liv. 21,54,1-54,5 u. ferner Pol. 3,71; ausführlicher s. oben S. 238f. 307 Vgl. Liv. 22,41,1-41,2. 308 Vgl. Liv. 22,41,2-41,3. 309 Vgl. Liv. 22,41,4-41,9. 310 Vgl. Liv. 22,42,1-42,12. 311 Vgl. Liv. 22,47,1-50,12. 312 Vgl. Liv. 23,37,1-37,7.

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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Am nächsten Tag stellte Hannibal zwischen Lager und Stadt sein Heer zur Schlacht auf; er meinte nämlich der Konsul werde es in der Freude über seinen Erfolg zu einem regelrechten Kampf kommen lassen.313

Doch in diesem Fall geht der Konsul nicht auf das Angebot ein, so daß sich hier – für den Leser wider Erwarten – eine Durchbrechung des Schemas ergibt. In ähnlicher Weise lassen sich in den zahlreichen Schilderungen von Kämpfen mit den verschiedenen italischen Nachbarn vor allem in der zweiten Pentade bestimmte Muster beobachten, die für einen Rezipienten, der das livianische Werk nicht nur punktuell aufschlägt, um bestimmte Information zu finden, sondern es einer kontinuierlichen Lektüre unterzieht, Einfluß auf seine Erwartungshaltung in Bezug auf den Fortgang der Handlung haben. Unter diesen kommt der – schon im zweiten Buch eingeführten314 – Regel große Bedeutung zu, daß innenpolitische discordia stets zu außenpolitischen Mißerfolgen führt.315 Erkennt der Leser dieses Muster, verbindet sich für ihn die Erwähnung von Streitigkeiten – sei es zwischen den Ständen, sei es im Senat – im Vorfeld einer militärischen Auseinandersetzung bereits mit der Antizipation einer drohenden Niederlage. Auch dieses Schema kann, ist es einmal etabliert, zur Erzeugung von Spannung, aber auch zur Irreführung des Lesers genutzt werden, wenn dessen Erwartungshaltung auf einen letztlich nur virtuellen Verlauf der Geschichte gerichtet wird.316 Von hieraus eröffnet sich möglicherweise auch ein neuer Zugang zu den sogenannten Dubletten, die eines der am häufigsten kritisierten Elemente des Werkes darstellen. Das komplexe Problem der historischen Plausibilität solcher Wiederholungen, das im übrigen von Livius selbst mehrfach thematisiert wurde,317 kann hier nicht gelöst werden,318 aber hinsichtlich der Wirkung auf einen Rezipienten, ___________________________

313 Vgl. Liv. 23,37,8. 314 Vgl. z.B. OGILVIE 1965, 233, u. LUCE 1977, 26f. 315 Vgl. z.B. BURCK 1982, 1180-1184; KRAUS 1994a, 11f.24-30, u. OAKLEY 1997, 125128; zu den Bezügen der Ständekämpfe auf die Ereignisse des 1. Jh. v. Chr. vgl. v.a. GUTBERLET 1985 u. VON HAEHLING 1989. 316 Ein gutes Beispiel aus der vierten Dekade ist die Debatte um die Kriegserklärung an Philipp V., die mit einem explizitem Rückverweis auf die innenpolitischen Konflikte früherer Epochen erfolgt (vgl. Liv. 31,6,3-6,6, v.a. § 4 mit BRISCOE 1973, 71), ohne daß sich daran jedoch Mißerfolge anschließen. 317 Vgl. Liv. 6,42,4-42,8 u. 29,35,2: duos eodem nomine Carthaginiensium duces duobus equestribus proeliis interfectos non omnes auctores sunt, veriti, credo, ne falleret bis relata eadem res;… („Daß zwei Anführer der Karthager mit demselben Namen in zwei Reitergefechten getötet wurden, schreiben nicht alle meine Gewährsleute, ich glaube, aus Furcht, es möge unbemerkt bleiben, daß derselbe Vorgang zweimal erzählt wird ...“). 318 Vgl. WALTER 2004b, v.a. 424f.: „Die – durch das römische Namenssystem zusätzlich komplizierte – Traditionsbildung in ihren Etappen vor der mündlichen Überlieferung und den spezifischen familialen Erinnerungen bis zur Geschichtsschreibung bleibt ein schwer entwirrbarer Dschungel, da die realen soziopolitischen Praktiken und Normen auch geschichtsgenerierende Mechanismen waren – und umgekehrt.“ u. CORBIER 2006.

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V. Der involvierte Leser

der das Werk nicht nur selektiv, sondern kontinuierlich zur Kenntnis nimmt,319 läßt sich eine zu den oben beschriebenen Phänomenen analoge Wirkung vermuten. So ist am Beispiel der Zweikämpfe mit einem Gallier, die sowohl T. Manlius Torquatus 361 v. Chr.320 als auch M. Valerius Corvus 349 v. Chr.321 geführt haben sollen, von ANDREW FELDHERR plausibel gemacht worden, daß solche Stellen, auch wenn es sich bei ihnen historisch wahrscheinlich um Dubletten handelt, als bewußt aufeinander bezogene Darstellungen zu verstehen sind.322 Daraus ergibt sich dann auch hier die Option, bei der zweiten Schilderung die Antizipation des Lesers zu aktivieren, die entweder zur Erzeugung von Spannung oder zur überraschenden Enttäuschung einer Erwartungshaltung genutzt werden kann. Auch die wiederholte Verwendung formaler Elemente und die Etablierung bestimmter Darstellungsmuster kann daher sowohl zur Verunsicherung des Lesers über den tatsächlichen Fortgang der Geschichte wie dem Aufbau von Spannung dienen. Solche Beobachtungen sind im Zuge der stärkeren Betonung einer kontinuierlichen Lektüre von ab urbe condita in den letzten Jahren bereits mehrfach gemacht worden.323 Die hierbei erzielten Ergebnisse können aber noch präzisiert werden, wenn auch die anderen der Erzeugung von Antizipation dienenden Elemente in den Blick genommen und mit dem generellen Anliegen der Schilderung von possible worlds oder der virtuellen Historiographie zusammengebracht werden, wie es nun im Resümee dieses Abschnittes versucht werden soll. d) Zwischenfazit: ‚Virtuelle‘ Geschichtsschreibung und der Leser Wenn man abschließend die Wirkung der verschiedenen in diesem Abschnitt behandelten narrativen Techniken, die den Leser zu einer Antizipation der weiteren Handlung veranlassen können, zusammenfaßt, so liegen sie vor allem auf zwei Ebenen: Einerseits wird auf diese Art und Weise Spannung erzeugt, weil der Re___________________________

319 Für einen ähnlichen Ansatz vgl. KRAUS 1998, 266f.: „I would like to take a different track: to propose a reading of these doublets that asks what they can teach us about the text and about the world it creates. It is a reading that is less interested in the production of the Ab Vrbe Condita than in its reception, and in the crisis of interpretation and authority generated by this ‘bad’ repetition.“ 320 Vgl. Liv. 7,9,8-10,14 mit z.B. RICHTER 1983 u. CARTER 2008. 321 Vgl. Liv. 7,26,1-26,5 u. ferner Gell. 9,11. 322 Vgl. FELDHERR 1998, 99: „Thus, far from treating it as a liability to be disguised, Livy has made this repetiveness one of the crucial features of his presentation. Each scene emphasizes elements that complete the other narrative, so that the full meaning of both emerges only when they are taken together.“; zu den Duellszenen allg. POPOVREYNOLDS 2010, die die intertextuellen Bezüge zu Catos Origines herausarbeitet. 323 Vgl. z.B. KRAUS 1997, 61: „Yet the historian plays with our awareness, as well, most notably by means of narrative ‘seeds’ that plant expectations of later events. ... In each case, the foreshadowing and the event foreshadowed function reciprocally, their effectiveness in tying the text together depending on the reader’s awareness and expectation that something like this will happen again.“

4. Die Erzeugung von Spannung durch Antizipation

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zipient auf der Grundlage der ihm zur Verfügung gestellten Informationen Hypothesen über den weiteren Handlungsverlauf bilden und mit der tatsächlichen Entwicklung vergleichen kann. Daraus ergeben sich, wie bei den anderen Fällen der Spannungserzeugung in ab urbe condita durch Retardation und Empathie auch, Vorteile sowohl für die Unterhaltung des Lesers, der zur Fortsetzung seiner Lektüre veranlaßt wird, als auch für die Deutung und Bewertung des historischen Geschehens, wie an den Beispielen der sogenannten Bacchanalien-Verschwörung und der Vorbereitung des Kriegs gegen Perseus besonders deutlich geworden ist. Die Antizipation künftiger Ereignisse kann aber auch auf einer zweiten Ebene großen Einfluß auf die Wahrnehmung der historiographischen Darstellung durch den Rezipienten ausüben. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Version vom weiteren Verlauf der Handlung, die der Leser auf der Basis der narrativen Vorverweise erstellt hat, mit den tatsächlichen historischen Entwicklungen nicht übereinstimmt. Eine solche ‚Irreführung‘ des Lesers324 – ob sie nun durch falsche Prophezeiungen, durch den fokalisierten ‚Blick‘ einer Figurenrede oder durch die Durchbrechung eines zuvor etablierten Darstellungsschemas auf formaler Ebene zustande kommt – führt zur Diskrepanz zwischen dem vorgestellten und realen Verlauf der Handlung, die ihrerseits sowohl für die Unterhaltung des Lesers wie für die Interpretation des historischen Geschehens fruchtbar gemacht werden kann. Kontrafaktische Schilderungen können daher eine Funktion übernehmen, die derjenigen von virtueller Geschichtsschreibung weitgehend entspricht.325 Daß für Livius’ Präsentation der Vergangenheit alternative Szenarien generell eine wichtige Rolle spielen, kann bereits der Alexanderexkurs verdeutlichen, der mit der ausführlichen Schilderung einer hypothetischen Auseinandersetzung Roms mit Alexander dem Großen das berühmteste Beispiel eines imaginären Geschichtsverlaufes aus der Antike ist.326 Darüber hinaus lassen sich aber eine ganze Reihe weiterer Beispiele für ‚virtuelle‘ Historiographie in ab urbe condita finden: So wird beispielsweise zu Beginn des zweiten Buchs über die Folgen spekuliert, die es für die Entwicklung Roms gehabt hätte, wenn Brutus nicht erst Tarquinius Superbus, sondern bereits einen der früheren Könige vertrieben hätte.327 ___________________________

324 Zur dieser Technik bei den griechischen Historikern vgl. RENGAKOS 2004, 86-99. 325 Vgl. v.a. DEMANDT 2001, sowie ferner SUERBAUM 1997 u. WEBER 2000. 326 Vgl. Liv. 9,17,1-19,17 mit BREITENBACH 1969; MORELLO 2002, v.a. 83: „… traditional readings have underestimated the value of a counterfactual digression as a tool for historical thinking.“; OAKLEY 2005a, 184-261; MAHÉ-SIMON 2006, 181-183; HUMM 2006 u. BRIQUEL 2009. 327 Vgl. Liv. 2,1,3-1,6 mit SUERBAUM 1997, 42f., sowie Liv. 31,16,10-16,11 (Attalos und Rhodier hätten Griechenland befreien können); 35,14,5-14,12 (wenn Hannibal Scipio besiegt hätte) u. 44,4,7-6,17 (wenn Perseus entschlossener gewesen wäre). Ein Hinweis auf eine verlorene Stelle virtueller Geschichtsschreibung hat sich möglicherweise bei Seneca erhalten: vgl. Sen. nat. quaest. 5,18,4: nunc quod de Caesare maiore [C. Mario] vulgo dictatum est et a Tito Livio positum, in incerto esse utrum illum magis nasci an non nasci rei publicae profuerit, dici etiam de ventis potest.

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V. Der involvierte Leser

Neben den explizit als Element virtueller Historiographie markierten Stellen erfüllen aber auch nur skizzenhaft ausgeführte Bilder – wie Hannibal, der in Italien an seine Veteranen Land verteilt – oder die von den Figuren der Erzählung in ihren Reden geschaffenen possible worlds prinzipiell die gleichen ‚geschichtsdidaktischen‘ Funktionen: Sie sollen den Leser zur Reflektion über mögliche andere Entwicklungen veranlassen und ihm damit die Bedeutung der jeweiligen Ereignisse schärfer vor Augen stellen als es der Fall wäre, wenn er ihren Ausgang als bekannt voraussetzen könnte. Dabei kann gerade die durch hypothetische Geschichtsverläufe ausgelöste Verunsicherung dem Rezipienten verdeutlichen, daß die Vergangenheit erst aus der Retrospektive abgeschlossen ist, während sie von den Akteuren als ergebnisoffen erlebt wurde und daher auch eine ganz andere Wendung hätte nehmen können.328 Am deutlichsten tritt der Zusammenhang der beiden durch die Antizipation zukünftiger Ereignisse ausgelösten Wirkungen im Fall der paradoxen Spannung zu tage: Denn daß auch bei der Schilderung historischer Vorgänge, die der Mehrzahl der Leser bekannt gewesen sein dürften, die Erzeugung von Spannung angestrebt wird, indem unter anderem durch die kontrafaktische Schilderungen von possible worlds auf eine Verunsicherung der Rezipienten abgezielt wird, läßt sich am besten mit den Vorteilen erklären, die mit dieser Art der Präsentation verbunden sind. Diese Vorteile liegen sowohl auf dem Gebiet der Leserbindung wie der veränderten Wahrnehmung der Inhalte des Werkes und lassen sich erneut mit dem Begriff der stärkeren Involvierung des Lesers zusammenfassen.

5. Spannung als Teil der Leserbindung und der Geschichtsdarstellung Wenn man die Darstellung der römischen Geschichte in ab urbe condita nicht – wie es heute in der Regel geschieht – punktuell mit Blick auf ein bestimmtes historisches Ereignis, sondern kontinuierlich und sozusagen auf Strecke liest, stellt man rasch fest, daß zahlreiche Elemente der Darstellung der Erzeugung und Aufrechterhaltung von Spannung dienen. Dies gilt für die Retardation der Handlung, deren Spektrum vom Einzelsatz über die Gestaltung von Szenen bis zur Bucheinteilung reicht, ebenso wie für die Antizipation zukünftigen Geschehens, die durch Vorverweise auf verschiedenen narrativen Ebenen erfolgt und in einigen Fällen – wie bei der Vorbereitung des Kriegs gegen Perseus – zu einem sich über mehrere Bücher erstreckenden Spannungsbogen führen kann. Dazu kommen noch weitere Techniken, die – zumindest in den erhaltenen Büchern – nur einmal verwendet werden, wie etwa die Einführung von Nebenfiguren zur Verstärkung des Identifikationsangebots an den Leser in der Darstellung der Bacchanalienverschwörung. ___________________________

328 Zu diesem Bestreben bei Thukydides vgl. MORRISON 2006, 14: „We find Thucydides employing techniques that produce a vivid, participatory experience for the ‘engaged’ reader. From this perpective, the reader must respond actively in contemplating past possibilities and potential future events.“

5. Spannung als Teil der Leserbindung und der Geschichtsdarstellung

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Nicht zuletzt wegen dieser Fülle einschlägiger Stellen kann die Beschäftigung mit Spannung als charakteristischem Element des livianischen Werkes auf eine lange Tradition in der Forschung zurückblicken. Dennoch erweist sich diese Fragestellung bei der Analyse von ab urbe condita immer noch als ertragreich. Denn zum einen können sowohl die Technik wie die Wirkung von Spannung präziser erfaßt werden, wenn die gerade in den letzten Jahren in den Neuphilologien, der Film- und Theaterwissenschaft oder der Psycholinguistik gewonnenen Erkenntnisse bei der Interpretation stärker berücksichtigt werden. Dies gilt vor allem für die sich im Falle eines historiographischen Textes in besonderer Schärfe stellende Problematik der Bekanntheit des Ausgangs und den verschiedenen Lösungsansätzen, unter denen die paradoxe Spannung eine prominenten Platz einnimmt. Denn an zahlreichen Stellen in ab urbe condita läßt sich – wie bei der profectio des Licinius Crassus im 42. Buch oder in Hannibals Reden zu Beginn der dritten Dekade – das Bemühen erkennen, den Leser über den tatsächlichen und ihm in den meisten Fällen wahrscheinlich bekannten Ausgang der Ereignisse zu verunsichern, um auf diese Weise seine Aufmerksamkeit auf den Text und das in ihm dargestellte Geschehen zu erhöhen. Zum anderen hat die Forschung bei der Analyse der Erzeugung von Spannung bislang vor allem innerliterarische und produktionsästhetische Fragestellungen verfolgt und sich unter anderem mit möglichen Vorbildern für die Verwendung dieser Technik in der hellenistischen Historiographie beschäftigt. Wenn man hier jedoch einen Wechsel der Perspektive vornimmt und stattdessen die Wirkung dieser Darstellungsstrategie auf den Rezipienten des Werkes in den Vordergrund stellt, zeigt sich, daß es sich bei dieser narrativen Technik nicht nur um ein Mittel zur ansprechenderen Gestaltung handelt, sondern daß mit ihr auch ein wichtiger Teil der historiographischen Aussage verbunden ist. Daß die Spannung zur von Livius generell angestrebten stärkeren Bindung des Lesers einen wichtigen Beitrag leistet, ist natürlich besonders naheliegend. Dabei wird der Effekt, der sich aus der attraktiveren Präsentation bereits generell ergibt, noch dadurch gesteigert, daß – etwa durch den Einsatz von cliffhanger-Formen – die Motivation zur Fortsetzung der Lektüre beim Übergang von einer Rolle zur nächsten gesteigert werden kann. Hält man sich vor Augen, daß das Gesamtwerk ursprünglich 142 Bände umfaßte, wird deutlich, daß es sich hier sicherlich um einen kritischen Punkt bei der Frage der Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen Autor und Leser gehandelt haben dürfte. Doch auch der Einfluß dieser narrativen Strategie auf die Wahrnehmung und Deutung des historischen Geschehens durch den Leser sollte nicht unterschätzt werden. Einerseits wird durch das Empfinden einer Spannung, welches Schicksal einzelne Figuren oder Gruppen von Personen erleiden werden, die Empathie des Leser noch einmal erheblich verstärkt. Andererseits kann sich beim Eintritt eines über einen längeren Zeitraum erwarteten Umstandes ein weiterer Effekt ergeben, der darin besteht, daß dieses Ereignis vor allem aus der durch die wiederholten Vorverweise betonten diachronen Perspektive verstanden wird, während andere

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V. Der involvierte Leser

für die Bewertung möglicherweise relevante Faktoren auf der synchronen Ebene an den Rand gedrängt werden. Ein gutes Beispiel hierfür kann erneut die ausführliche narrative Vorbereitung der Kriegserklärung an Perseus liefern, die vom Leser schließlich primär als zwangsläufiges Resultat einer langen Vorgeschichte wahrgenommen wird. Daß dieses literarische Verfahren zur Unterstützung einer prorömischen Sichtweise eingesetzt wird, stellt zwar nicht die einzige Möglichkeit, aber doch die Regel dar. Ebenso läßt sich beobachten, daß diese Technik von Livius in einer innenpolitischen Auseinandersetzung in der Regel zugunsten der senatorischen Seite eingesetzt wird, wie exemplarisch die Schilderung der sogenannten Bacchanalien-Verschwörung zeigen kann. Diese beiden mit der Erzeugung von Spannung in ab urbe condita vor allem verfolgten Anliegen berühren sich in der stärkeren Involvierung des Lesers als einem auch allgemein zentralen Ziel von Livius’ spezifischer Art der Präsentation der römischen Geschichte.

VI. FAZIT VI. Fazit

Zum besseren Verständnis der Kommunikation zwischen dem Historiker und seinen Lesern, die zugleich den zentralen Gegenstand und das wichtigste Denkmodell dieser Arbeit bildet, ist zu berücksichtigen, daß das Werk in einer Zeit eines vielfach kulturellen Wandels entstanden ist. Denn vor diesem Hintergrund lassen sich die narrativen Strukturen und literarischen Techniken, die Livius in ab urbe condita verwendet und die in den vorausgehenden Kapiteln vorgestellt wurden, präziser erfassen. Während die entscheidenden Veränderungen des politischen und gesellschaftlichen Systems, die mit dem Übergang von der Republik zum Prinzipat verbunden waren, und ihre Folgen für den Umgang mit der Geschichte im livianischen Werk aber bereits mehrfach dargestellt und mit Blick auf eine prooder antiaugusteische Haltung letztlich ohne Ergebnis diskutiert wurden,1 ist hier versucht worden, auch die nicht weniger weitreichenden Wandlungen bei der Produktion und Rezeption von Geschichtsschreibung in der 2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr. in der gleichen Weise einzubeziehen. Diese Entwicklungen auf dem Gebiet der historiographischen Literatur lassen sich – unter anderem anhand der intensiven Debatte, mit der sie von den Zeitgenossen begleitet wurde – nicht nur vergleichsweise gut nachzeichnen, sondern auch für die Interpretation von Livius’ ab urbe condita fruchtbar machen. Dies soll mit Blick auf die Ergebnisse dieser Arbeit nun noch einmal kurz zusammengefaßt werden. Auf der Folie der politischen und kulturellen Veränderungen im 1. Jh. v. Chr. (Kapitel II) läßt sich der spezifische Ansatz bei der Vermittlung von Geschichte, den Livius verfolgt, genauer einordnen und besser verstehen: Im Gegensatz zu einem modernen Rezipienten, für den Livius’ Werk weitgehend alternativlos ist, wenn er etwas über die römische Geschichte ‚von der Gründung der Stadt an‘ erfahren will, stand dem zeitgenössischen Leser eine erheblich größere Auswahl an Darstellungen zur Verfügung. Dies betrifft nicht nur eine Fülle verschiedener historiographischer Schilderungen, sondern auch ihre Behandlung in einer Reihe anderer Erinnerungsmedien, deren breites Spektrum von Statuen und Ahnenmasken über Rituale und Prozessionen bis zu Münzen und Bauprogrammen reicht. Livius’ Werk entsteht daher in einem Kontext, in dem wir von einer großen Zahl von Repräsentationen der Vergangenheit ausgehen müssen, die für uns zwar verloren sind, für den zeitgenössischen Leser aber den Umgang mit seiner Geschichte wesentlich bestimmten. Diese Konkurrenzsituation – die Livius auch in der praefatio reflektiert, wenn er über sein Thema sagt, es sei cum veterem tum volgatam esse rem …, dum novi semper scriptores aut in rebus certius aliquid allaturos se aut scribendi arte rudem vetustatem superaturos credunt („ein alter und vor allem ein allbekannter Stoff …, indem immer neue Schriftsteller entwe___________________________

1 Zur neuen communis opinio einer relativ großen Unabhängigkeit von Augustus und der in seinem Umfeld zu beobachten Konzeption der römischen Geschichte s. oben S. 35f.

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VI. Fazit

der in der Sache etwas Genaueres beizubringen oder durch ihre Darstellungskunst die unbeholfene alte Zeit zu übertreffen glauben“)2 – hat für die Kommunikation im wesentlichen zwei Folgen: Der Autor muß sich einerseits stärker um ihre Fortsetzung bemühen, er muß andererseits aber mit erheblichem Vorwissen – inhaltlicher wie methodischer Natur – zumindest bei einem großen Teil seiner Rezipienten rechnen und diese Kenntnisse und Erwartungen bei der Vermittlung seines Bildes der römischen Geschichte adäquat berücksichtigen. Analysiert man den Text von ab urbe condita unter diesen Prämissen, so lassen sich verschiedene Darstellungsstrategien beobachten, als deren gemeinsames Ziel sich jedoch eine stärkere Involvierung des Lesers in den Text und die in ihm präsentierte Geschichte benennen läßt. Die damit einhergehende Aktivierung des Rezipienten hat dann ihrerseits von Fall zu Fall unterschiedliche Folgen, unter denen sich jedoch die intensivere Leserbindung einerseits und die Erzeugung eines Geschichtsbildes, in dem historische Ereignisse in ihrem Verlauf und ihrer Bewertung offener erscheinen und dadurch eine Partizipation des Lesers verlangen, andererseits als wiederkehrende Elemente und zentrale Anliegen erweisen. Dies gilt bereits für die grundlegende Frage nach dem Verhältniss von Zeit und Erzählung in Livius’ Werk (Kapitel III), die mit dem Verweis auf die Übernahme des traditionellen annalistischen Schemas nur scheinbar leicht beantwortet werden kann. Denn bei dieser Gliederung handelt es sich bei genauerem Hinsehen weder um ein ‚naturgegebenes‘ noch um ein im 1. Jh. v. Chr. alternativloses Modell für den Aufbau eines Geschichtswerkes. Daher bietet es sich vielmehr an, die Entscheidung für diese auf den ersten Blick ‚starre‘ Anordnung der historischen Ereignisse in ab urbe condita mit den Vorteilen zu erklären, die sich aus ihrer Verwendung ergeben. Diese bestehen einerseits in der Normierung der Vergangenheit, die in zeitlicher Hinsicht linear und weitgehend gleichförmig auf die Gegenwart des Lesers zuläuft, so daß die einzelnen Jahre und damit zugleich die Amtszeiten der römischen Magistrate untereinander vergleichbar werden, und die in räumlicher Hinsicht in Rom ein Zentrum erhält, um das sich das Geschehen in immer größer werdenden Kreisen anordnet, womit nicht zuletzt eine Rückprojektion seiner Bedeutung als caput mundi in frühere historische Epochen einhergeht. Zum anderen liegen die narrativen Vorteile des annalistischen Schemas aber gerade in den vielfältigen Möglichkeiten zur Variation. Diese Optionen, die auf der thematischen Ebene ebenso zu suchen sind wie in der chronologischen Abfolge oder im Verhältnis von der Erzählzeit und erzählter Zeit, haben an vielen Stellen eine Funktion bei der Präsentation der Inhalte, indem sie beispielsweise zur Hervorhebung eines historischen Ereignisses oder zur Unterstreichung seiner Bedeutung dienen. Vor allem aber leisten diese Elemente, indem sie Monotonie bei der Lektüre vermeiden, einen wichtigen Beitrag zur stärkeren Involvierung des Lesers. Dies gilt sogar – und vielleicht in besonderer Weise – für die Möglichkeit zu einer partiellen Lektüre, die sich unter anderem aus der Kombination ___________________________

2 Vgl. Liv. praef. 2.

VI. Fazit

253

des annalistischen Schemas mit der Einteilung inhaltlich abgeschlossener Bücher ergibt: Denn gerade die Freiheit, sich zwischen einer kontinuierlichen oder selektiven Lektüre zu entscheiden, eröffnet für den Autor wie für den Leser die Möglichkeit zu differenten Formen der Interaktion, die gerade durch ihre Pluralität als besonders intensive Form der Partizipation verstanden werden können. Auf eine aktivere Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text und auf ein offeneres Bild der Vergangenheit zielt auch die multiperspektivische Darstellung, die sich in ab urbe condita an zahlreichen Stellen beobachten läßt (Kapitel IV). Das gilt für die Fokalisierung von Teilen der Erzählung aus der Sicht anderer Personen oder Gruppen ebenso wie für die ausgiebige Verwendung von Reden, in denen Angehörige fremder Völker oder Vertreter differenter gesellschaftlicher Gruppen zu Wort kommen. Daß Livius das historische Geschehen wiederholt aus anderen Perspektiven als der römischen schildert, ist eine wichtige Relativierung des Vorwurfs einer einseitig patriotischen Haltung, auch wenn damit keine prinzipielle Aufgabe des prorömischen Standpunktes verbunden ist. Vielmehr berührt sich sein Ansatz mit dem generellen Interesse in augusteischer Zeit auch für die schwächere und letztlich unterlegene historische Seite sowie gerade für einige der problematischen Aspekte der eigenen Vergangenheit. Durch die wiederholte Integration abweichender Sichtweisen wird zugleich eine ausgewogene Darstellung erreicht, die den Ansprüchen der historiographischen Theorie der Antike – wenn auch nicht denen der Neuzeit – gerecht wird. Für den Leser hat die polyphone Präsentation der Vergangenheit zwei wichtige Folgen: Einerseits führen die aus dieser Schilderung zwangsläufig resultierenden Widersprüche und ihre Auflösung zur stärkeren Aktivierung und Unterhaltung des Lesers. Andererseits ist mit der Berücksichtigung abweichender Sichtweisen auf das historische Geschehen und durch die Betonung der konträren Bewertung von Ereignissen durch unterschiedliche Personen aber auch eine Veränderung der generellen Wahrnehmung von Geschichte verbunden, in der die Rolle des Rezipienten – auch über den livianischen Text hinaus – deutlich aktiver ausfällt. Auch bei der Analyse der narrativen Techniken zur Erzeugung von Spannung lassen sich nicht nur im naheliegenden Bereich der Leserbindung, sondern auch bei der inhaltlichen Vermittlung und Deutung des historischen Geschehens Folgen für den Rezipienten plausibel machen (Kapitel V). Dies gilt sowohl für die unterschiedlichen Ebenen, auf denen – von der Syntax des einzelnen Satzes über die abgeschlosse Erzählung einer Szene bis hin zur Einteilung von Bücher und Buchgruppen – dieses Phänomen beobachtet werden kann, als auch für die verschiedenen zu seiner Erzeugung verwendeten Verfahren, wie der Retardation der Handlung, der Empathie mit den Figuren und der wiederholten Antizipation bedrohlicher Ereignisse. Eine wichtige Folge der sich hieraus ergebenden Involvierung besteht dabei natürlich im stärkeren Anreiz zur Fortsetzung der Lektüre, die gerade am Übergang von einer Buchrolle zur nächsten in dem ursprünglich 142 Bücher umfassenden Werk auf besondere Unterstützung angewiesen war.

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VI. Fazit

Doch die Auswirkungen dieser narrativen Strategie erstrecken sich nicht nur auf den Bereich der Leserbindung. Vielmehr beeinflußt die spannende Präsentation eines historischen Ereignisses einerseits seine Wahrnehmung und unterstützt andererseits eine bestimmte Deutung des Geschehens. Sie kann darüber hinaus aber auch das generelle Verständnis für geschichtliche Vorgänge verändern. Dies wird vor allem dann besonders deutlich, wenn die Erzeugung von Spannung mit der zumindest kurzfristigen Verunsicherung des Lesers über den Ausgang eines historischen Geschehens einhergeht, obwohl ihm dieser in vielen Fällen – bei ruhiger Besinnung auf sein historisches Wissen – bekannt sein dürfte. An solchen Stellen berührt sich diese Darstellungsstrategie mit der Wirkung von ‚virtueller‘ Geschichtsschreibung, da beide die Aufmerksamkeit des Rezipienten dafür schärfen, daß die jeweilige historische Entwicklung in ihrer Zeit ergebnisoffen ist und daher auch einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können. Versteht man ab urbe condita auf diese Weise als Teil einer Kommunikation zwischen seinem Autor und einem zeitgenössisch konzipierten ‚Modell-Leser‘, läßt sich bei der Beschreibung der narrativen Strukturen und literarischen Techniken, die in diesem Text der Vermittlung der Geschichte dienen, ein deutlicher Fortschritt erzielen. Dabei kommen vor allem der stärkeren Involvierung des Rezipienten und ihren Auswirkungen für die Bindung des Lesers einerseits und die Wahrnehmung des im Text präsentierten Bildes von der Vergangenheit andererseits zentrale Rollen zu. Zugleich kann das bessere Verständnis der von Livius in der Kommunikation mit seinem Leser angewandten Strategien auch einen Hinweis darauf geben, warum sein Werk trotz der vielfältigen Konkurrenz, mit der es sich in seiner Zeit auseinandersetzen mußte, schon unter den Zeitgenossen als eine Erfolgsgeschichte gelten konnte. Allerdings kann der Beitrag, den hierzu die Art der Präsentation im allgemeinen und die Involvierung des Rezipienten im besonderen leisten, letztlich nicht verbindlich benannt werden – was aber auch heißt: Die Antwort hierauf bleibt jedem Leser selbst überlassen.

VII. APPENDIX Zu den Kapiteleinteilungen in ab urbe condita Der livianische Text war in den frühen Drucken nicht in Kapitel eingeteilt.1 Ihre Einführung geht vielmehr auf JAN GRUTER, den langjährigen Leiter der Bibliotheca Palatina,2 und seine Frankfurter Ausgabe von 1608 zurück,3 während die weitere Unterteilung in Paragraphen erst 1738 von ARNOLD DRAKENBORCH eingeführt wurde.4 Obwohl sich GRUTER in der praefatio ad lectorem bei seiner Begründung dieser Gliederungshilfe nur auf ihre Praktikabilität für den von ihm angelegten Index und nicht auf ältere Vorbilder beruft,5 läßt sich dennoch zeigen, daß er nicht der erste ist, der auf die naheliegende Idee gekommen ist, die große Textmenge von ab urbe condita in dieser Weise zu gliedern. So findet sich etwa in dem aus dem 12. Jh. stammenden und heute in Dublin aufbewahrten Codex Cantabrigiensis eine numerische Kapitelzählung in margine, deren Einteilung zu großen Teilen mit denen GRUTERs übereinstimmt.6 Es ist aber dennoch natürlich möglich, daß GRUTER diese Einteilung selbständig vorgenommen hat. Denn die Übereinstimmung mit älteren Beispielen kann auch damit erklärt werden, daß es sich bei ihr lediglich um die visuelle Verdeutlichung einer bereits im Text selbst angelegten Gliederung handelt. Ob eine solche ursprüngliche Form der Einteilung – deren Existenz als wahrscheinlich vorauszusetzen ist – ausschließlich auf einer textimmanenten Ebene ___________________________

1 Zur Gestaltung des Livius-Textes in der Inkunabelzeit vgl. VAN HECK 2002, v.a. 562: „Nelle edizioni liviane degli anni settanta e ottanta, infatti, il testo dell’opera si presenta ancora come un blocco monolitico in cui il lettore fattica a trovare la sua strada. In esse mance non solo l’attuale divisione dei singoli libri in capitoli e paragrafi …, ma anche la numerazione delle carte; in qualcuno sono privi di numerazione persino i libri.“ 2 JAN GRUTER bzw. DE GRUYTERE wurde 1560 in Antwerpen geborren und war von 1603 bis zu seinem Tod 1627 Leiter der Bibliotheca Palatina in Heidelberg. 3 Vgl. dag. CONWAY / WALTERS 1914, ix-x, deren Annahme, daß die Kapiteleinteilung erstmals in der Ausgabe von 1612 verwendet, seitdem vielfach wiederholt wurde. 4 Vgl. ARNOLD DRAKENBORCH, Amsterdam u. Leiden 1738-46, 7 Bde., mit z.B. CONWAY / WALTERS 1914, x. 5 Die praefatio findet sich erstmals in der Frankfurter Ausgabe von 1627; vgl. S. 4: „porrò quod Livium diviserim in tmemata, sive quis capitella vocare malit, sive paragraphos, neminem spero mihi id versurum vitio: probabitur potius omnibus, qui animadvertent eâ ratione consultum partim memomoriae suae, partim tempori. sic sanè & citius & facilius loca laudata indicataque reperientur. cui utrique ut magis adhuc tibi gratificarer, Lector, in Notis meis, in Dissertationibus ad Tacitum, expressi frequenter capitis principium, medium, finem: idque notant litterae illae singulares p.m.f. imò saepius occuret a.m. itam a.f. quo innuere volui ea ipsa reperiunda, ante capitis medium, ante capitis finem.“ 6 Vgl. WHITEHEAD 1917, 75: „Out of these 229 numerical divisions, 70 correspond exactly with the chapters first marked in Gruter’s edition of 1612, and since universally adopted; a good number are placed only two or three lines below his divisions.“

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VII. Appendix

stattgefunden hat oder durch paratextuelle Orientierungshilfen unterstützt wurde, kann für Livius aufgrund der Überlieferungslage nicht bewiesen werden. Angesichts der durchaus gängigen Verwendung solcher Hilfsmittel in der hellenistischen Historiographie,7 ist aber auch nicht kategorisch auszuschließen, daß sein Text bereits zur Entstehungszeit über – etwa durch Ekthesis markierte oder in margine gesetzte – Überschriften verfügte, zumal diese Elemente stets besonders gefährdet sind, im Lauf der Überlieferung verloren zu gehen.8

___________________________

7 Ausführlicher hierzu s. oben S. 109-118. 8 Vgl. z.B. SCHRÖDER 1999, 158f.

VIII. LITERATURVERZEICHNIS 1. Ausgaben und Übersetzungen a) Zu Livius BAYET 1940: Jean Bayet, Tite-Live: Histoire Romaine I, Paris 1940 (21961) BRISCOE 1986: John Briscoe, Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 41-45, Stuttgart 1986 BRISCOE 1991: ders., Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 31-40, 2 Bde., Stuttgart 1991 CONWAY / WALTERS 1914: Robert Seymour Conway u. Carl Flamstead Walters, T. Livi: ab urbe condita, Bd. 1 (Bücher 1-5), Oxford 1914 CONWAY / WALTERS 1919: dies., T. Livi: ab urbe condita, Bd. 2 (Bücher 6-10), Oxford 1919 CONWAY / WALTERS 1929: dies., T. Livi: ab urbe condita, Bd. 3 (Bücher 21-25), Oxford 1929 CONWAY / WALTERS 1935: dies., T. Livi: ab urbe condita, Bd. 4 (Bücher 26-30), Oxford 1935 DOREY 1971: Thomas A. Dorey, Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 21-22, Leipzig 1971 DOREY 1976: Thomas A. Dorey, Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 23-25, Leipzig 1976 FEIX 2000: Josef Feix, T. Livius: Römische Geschichte, 21-23, lat.-dt., Düsseldorf 42000 FEIX 2007: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 24-26, lat.-dt., Düsseldorf 32007 HILLEN 1993: Hans J. Hillen, T. Livius: Römische Geschichte, 39-41, lat.-dt., München 1993 HILLEN 1997a: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 4-6, lat.-dt., Düsseldorf 21997 HILLEN 1997b: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 27-30, lat.-dt., Düsseldorf 1997 HILLEN 1998a: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 35-38, lat.-dt., Düsseldorf 31998 HILLEN 1998b: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 42-44, lat.-dt., Düsseldorf 21998 HILLEN 2000a: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 7-10, lat.-dt., Düsseldorf 22000 HILLEN 2000b: ders., T. Livius: Römische Geschichte, Buch 45. Antike Inhaltsangaben und Fragmente der Bücher 46-142, lat.-dt., Düsseldorf 2000 HILLEN 2007a: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 1-3, lat.-dt., Düsseldorf 42007 HILLEN 2007b: ders., T. Livius: Römische Geschichte, 31-34, lat.-dt., Düsseldorf 42007 JAL 1971: Paul Jal, Tite-Live, Histoire Romaine, Tome XXXI: livres 41-42, Paris 1971 MCDONALD 1965: Alexander Hugh McDonald, Titi Livi: ab urbe condita, Bd. 5 (Bücher 21-25), Oxford 1965 OGILVIE 1974: Robert M. Ogilvie, T. Livi: ab urbe condita, Bd. 1 (Bücher 1-5), Oxford 1974 WALSH 1986: Patrick G. Walsh, Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 28-30, Leipzig 1986 WALSH 1989: ders., Titi Livi: ab urbe condita, Bücher 26-27, Leipzig 1989 (11982) WALSH 1999: ders., Titi Livi: ab urbe condita, Bd. 6 (Bücher 36-40), Oxford 1999 WEISSENBORN / MÜLLER 1959 [1887]: Wilhelm Weissenborn u. Mauritius Müller, Titi Livi ab urbe condita libri, Bd. 3 (Bücher 31-40), Stuttgart 1959 (= 1887) WEISSENBORN et al. 1959 [1910]: Wilhelm Weissenborn, Mauritius Müller u. Otto Rosbach, Titi Livi ab urbe condita libri, Bd. 4 (Bücher 41-45), Periochae omnium librorum, fragmenta Oxyrhynchi reperta, Iulii obsequentis, prodigorum liber, Stuttgart 1959 (= 1910)

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VIII. Literaturverzeichnis

b) Zu einzelnen Autoren oder Textsammlungen BECK / WALTER 2001: Hans Beck u. Uwe Walter, Die Frühen Römischen Historiker, Bd. 1, Darmstadt 2001 BECK / WALTER 2004: dies., Die Frühen Römischen Historiker, Bd. 2, Darmstadt 2004 BÜTTNER-WOBST 1889-1905: Theodorus Büttner-Wobst, Polybii historiae, 5 Bde., Stuttgart 1889-1905 (ND 1962-1963) CHASSIGNET 1986: Martine Chassignet, Caton: Les Origines, Paris 1986 CHASSIGNET 1996: dies., L’Annalistique Romaine, t. 1: Les annales des Pontifes et l’annalistique ancienne, Paris 1996 CHASSIGNET 1999: dies., L’Annalistique Romaine, t. 2: L’annalistique moyenne, Paris 1999 CHASSIGNET 2004: dies., L’Annalistique Romaine, t. 3: L’Annalistique Récente. L’Autobiographie Politique, Paris 2004 DREXLER 1961: Hans Drexler, Polybios: Geschichte, Bd. 1, Zürich 1961 DREXLER 1963: ders., Polybios: Geschichte, Bd. 2, Zürich 1963 FGrH: Felix Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin u. Leiden 1932-58 HERING 1992: Wolfgang Hering, C. Iulius Caesar Vol. I: Bellum Gallicum, Stuttgart 1992 HOMEYER 1965: Helene Homeyer, Lukian: Wie man Geschichte schreiben soll, München 1965 HRR: Historicorum Romanorum Reliquiae ed. Hermann Peter, 2 Bde., Leipzig 21914 u. 21916 KASTEN 1964: Helmut Kasten, Marcus Tullius Cicero: An seine Freunde, Darmstadt 1964 KASTEN 1965: ders., Marcus Tullius Cicero: An Bruder Quintus, An Brutus, Brieffragmente, Darmstadt 1965 KLINGNER 1959: Friedrich Klingner, Q. Horatius Flaccus: Opera, Leipzig 31959 (= 61982) KYTZLER 1992: Bernhard Kytzler, Q. Horatius Flaccus: Sämtliche Gedichte, Stuttgart 1992 RAHN 1995: Helmut Rahn, Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, 2 Bde., Darmstadt 31995 (= 2006) REYNOLDS 1991: L.D. Reynolds, C. Sallusti Crispi Catilina, Iugurtha, Historiarum fragmenta selecta, appendix Sallustiana, Oxford 1991 SHACKLETON BAILEY 1988: D.R. Shackleton Bailey, M. Tulli Ciceronis epistulae ad familiares: libri I-XVI, Stuttgart 1988 VEH 2007: Otto Veh, Diodoros: Griechische Weltgeschichte Buch XVI, Stuttgart 2007 VEH / WIRTH 2005: Otto Veh u. Gehard Wirth, Griechische Weltgeschichte, Bücher 18-20, Stuttgart 2005

2. Forschungsliteratur und Kommentare ACKERMANN 2008: Kathrin Ackermann, Möglichkeiten und Grenzen der historischen Spannungsforschung, in: IRSIGLER et al. 2008, 33-49 ADAMIK 2008: Tamás Adamik, Remarks on Livy’s Patavinitas, in: Roger Wright, Latin vulgaire – latin tardif, Hildesheim 2008, 34-41 ADLER 2006: Eric Adler, Who’s Anti-Roman? Sallust and Pompeius Trogus on Mithridates, CJ 101 (2006), 383-407 ADLER 2008: ders., Boudica’s Speeches in Tacitus and Dio, CW 101 (2008), 173-195

2. Forschungsliteratur und Kommentare

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IX. REGISTER 1. Allgemeines Register Da in dieser Arbeit nicht die historischen Ereignisse, sondern die literarische Technik im Vordergrund steht, ist auf die systematische Erfassung der Eigennamen verzichtet worden. Abfassung 17; 32f; 37; 75; 115f.; 175; 215148; s. auch Kontext, zeitgenössischer Acilius Glabrio 138f.; 201f. Aelius Stilo 65 Aelius Tubero 26; 51; 63 Aemilius Paullus 8438; 87f.; 98f.; 101 Alexanderexkurs 91; 134; 19944; 247 Alexanderroman 58; 62 Alphabetisierung 40f. Analepse 89; 96; 119; 123; s. auch Rückblick Annaeus Cornutus 40 annales maximi 19f.; 48218; 78; 101 Annalisten, jüngere 25-27; 43; 51; 53; 58; 63; 81; 83; 111 Annalistik s. Schema, annalistisches Annius, L., aus Setia 177-179 Antiochos III. 93; 132; 138; 186; 201; 213 Antiquare 27 Antizipation 191f.; 201; 218; 223-248; 253 ara pacis 36 Aristides von Milet 62 Aristoteles 44203; 56 Asinius Pollio 30; 34130; 39; 44; 50; 63; 69; 212 Atticus 413; 28; 29 auctoritas (des Autors) 26; 30; 39f. Aufgabengebiete, Verteilung der 82; 89; 9193; 217; 225 Augustus 31-37; 44; 115f.; 190; 251; s. auch Erinnerungskultur, augusteische Augustus-Forum s. forum Augustum Autobiographie 25 Autopsie 69 Bacchanalia 195; 213-222; 228; 247; 248; 250 Barbarenrede 125; 139; 170-190 Beinahe-Episode 150; 200-202; 226; 231 bellum iustum 180f. Bewertung 2; 13; 84f.; 93; 98f.; 122; 127f.; 135f.; 144f.; 156f.; 157-190; 214f.; 222f.; 226; 234; 236f.; 247-250; 252-254 Bibliotheken 43f.; 45; 69; 71 Biographie 25; 28; 43; 45 Boudicca 176 Brief 157; 174f.; 186; 208 Bucheinteilung 76; 102; 109-122; 205-208; 248; 252f.

Buchmarkt 43f.; 45; 65-70; 71 Bund, ätolischer 184-186 Bundesgenossenkrieg 177-179; 187355 Caecilius Cornutus 40180 Caecilius Metellus Scipio 29 Caesar 25; 2554; 30; 43f.; 61f.; 116; 133f.; 172f.; 175; 194; 206; 247327 Calgacus 176 Calpurnius Piso 47; 48219 Cannae 172; 207; 244 Capua 9688; 182-184; 205 carmina convivalia 2344 Cassius Dio 176 Cassius Hemina 48219 Cato der Ältere 23; 47; 97f.; 107; 111; 13341; 164; 172247; 201f.; 206; 246322 Caudium, Niederlage von 13023; 179-181 Charakterisierung 97f.; 106; 159; 168; 170 Chronicon von Oxyrhynchos 112f. Chronik 20; 47f.; 60; 77; 89; 101; 105; 109; 113 Chronographie 28; 45 s. auch Kompendium Cicero, Marcus 413; 19; 2346; 2778; 2889; 29; 43; 47f.; 49; 50f.; 58; 59-63; 66323; 66325; 9799; 116; 164; 170229; 170230; 193f.; 195; 212; 213 Cicero, Quintus 61f.; 194 Claudius (Kaiser) 36; 164f. Claudius Marcellus 94f.; 99117; 138 Claudius Quadrigarius 26; 2992; 51; 65; 83; 111171 cliffhanger 111f.; 205-208; 231f.; 249 Codex Cantabrigiensis 255 Codex Mediceus 113 Codex Vindobonensis Latinus 15 231 Coelius Antipater 26f.; 43; 49; 57; 65; 111; 146115; 172247 Cornelius Cossus 36146 Cornelius Scipio Africanus 93; 98; 100; 137; 149; 171; 186; 189364; 208; 243f. Cornelius Scipio (cos. 218) 100; 147f.; 153f. Cornelius Scipio Nasica 99 Cornutus (Historiker) 40 Cremutius Cordus 46147 Critognatus 172f. cultural revolution 27 Cumae 8855; 205; 244f.

1. Allgemeines Register Curtius Rufus 176 Datierung 77-85; 113; 129f.; 252 Dekaden 114-118; s. auch Bucheinteilung Deklamation 169f.; 189; 198f. delectatio s. Unterhaltung (des Lesers) Diodor 109f.; 167f.; 169 Dionysios von Halikarnassos 25; 54f.; 70340; 71; 78f.; 90; 103f.; 126f.; 157; 162; 165; 168; 175266; 209103; 212 Domitian 169228 Dorus (Verleger) 66 Drama 22; 38; 45; 62; 191; 19310; 214-219; 223; 228; 237275 Drusus 116 Dubletten 245f. Duris von Samos 55; 56; 61294 Einzelerzählung 105-108; 214; 223 Emotionen 209-223 Empathie 191f.; 209-223; 247; 248f.; 253 ἐνάργεια 209-223 Ennius 34131; 38f.; 48218 Entpolitisierung 34f. Ephoros von Kyme 28; 42; 55; 109f.; 112; 163199 Epos 10; 11f.; 22; 23; 45; 68; 86f.; 158f.; 169; 190371; 191; 194; 200f.; 210; 225; 240290 Erinnerungskultur, augusteische 17; 24-37; 45f.; 52; 76; 122; 156f.; 190; 251f.; 253 Erinnerungskultur, gentilizische 17; 18-24; 27-32; 33; 37; 45f.; 48; 68; 84; 251f. Erwartung (des Lesers) 2f.; 52; 58-64; 7274; 84f.; 91f.; 101; 129; 192-185; 225; 242-248 Eryx 145-148 Erzähler 9-12; 17; 89; 91f.; 94f.; 96; 97; 99f.; 107; 125; 134; 136; 138f.; 140-142; 144; 153; 155; 159; 178; 180; 182; 185; 187189; 192; 206-208; 224; 227; 234; 238; 240; 242 Erzählgeschwindigkeit 102; 105-108; 123; 202; 213f.; 222f. Erzählzeit 74; 75-118; 121; 123; 252 Eumenes II. 187; 229; 233f.; 237 exempla 19; 34f.; 46; 73; 107152; 135f.; 172245; 185; 186346; 195 Exkurs 76; 89-91; 97; 106; 202 exspectatio 58-64; 95; 192-195; 234; s. auch Erwartung (des Lesers) Fabius Pictor 22; 47f.; 51 fabula Milesia 62 fabula praetexta 38 fasti triumphales 36 Feldherrnrede 163f.; 238f.; s. auch Reden festinatio 121245 Flaminius, Gaius (cos. 217) 121; 207 floating gap 20; 45

303

Fokalisierung 10; 91f.; 107; 140-190; 192; 220f.; 223f.; 232; 236; 237-242; 244; 248 Fortsetzungsroman 192; 206; 208f.; 228-233 forum Augustum 33; 36; 44f. Fulvius Flaccus (cos. 212) 183 Furius Purpurio 185 Gegenwartsbezug 84; 122; 133f.; 190365; 215; 252; s. auch Kontext Gelasius (Papst) 114 Genealogie 24f.; 28f.; 42f. genera dicendi 188f. gentes s. Erinnerungskultur, gentilizische Geographie 130f.; s. auch Handlungsort Gerichtsrede 188f. Geschichtsbild, pessimistisches 32f.; 35; 46; 52; 184 Geschichtsdidaktik 7f.; 70; 90; 12920; 149; 169; 189f.; 248 Geschichtsschreibung, dramatische 56; 57; 61; 64313; 191f.; 211; 223 Geschichtsschreibung, hellenistische 48f.; 55-57; 58; 63; 70; 105; 109; 114; 118f.; 127f.; 166; 211f.; 249; 256 Geschichtsschreibung, moralistische 55f. s. auch Moralismus Geschichtsschreibung, pragmatische 5; 48; 56; 57f.; 63 Geschichtsschreibung, rhetorische 55f.; 57; 61; 169f. Geschichtsschreibung, tragische s. Geschichtsschreibung, dramatische Geschichtsschreibung, virtuelle 1; 13; 150; 183; 192; 198f.; 200-202; 225f.; 236; 237-242; 246-250; 254 Gleichzeitigkeit 76; 78; 86-89; 102; 120; 123 Gliederung 53f.; 70; 75-123; 255f. Haimos (Gebirge) 96; 13025; 229f. Hamilkar 100; 145f.; 202 Handlungsort 76; 106; 129-131 Hannibal 73351; 74; 88; 92f.; 94f.; 96; 98; 100; 112177; 121; 125; 142-156; 176275; 177; 182f.; 195-199; 202-205; 237-245; 248f. Hanno (der Große) 146; 177; 203 Hekataios 127; 157171 Henna 137f. Herakleia (in Ätolien) 138f. Herodot 11; 1356; 39; 55; 57247; 64; 71343; 103f.; 109; 126f.; 128; 141; 157; 211 Hieron II. von Syrakus 225f. Hieronymus 1; 30100 historia continua 50f. Homer 11; 86f.; 104; 158f.; 169 homo novus 23; 29; 30 Horaz 32; 212 Identifikation 129; 133-135; 156; 209-213; s. auch Empathie

304

IX. Register

Iliturgi 137 imagines maiorum 21; 44; 251 Inhaltsverzeichnis 110f.; 113; 196f.; s. auch Paratexte Involvierung (des Lesers) 13f.; 56; 61; 63; 70f.; 72-74; 76; 85; 88; 91f.; 102; 107; 122; 129; 133f.; 149; 156; 159; 170f.; 189f.; 191-250; 252; 254 Ironie, tragische 147118; 175; 224; 242 Isokrates 55f. Jahreszählung 78; 79f.; s. auch Datierung Kallisthenes von Olynthos 159184; 168 Kanon 33f.; 44f. Kapital, symbolisches 19 Karthago 49; 54; 74; 79f.; 92f.; 94f.; 100; 108; 111; 115; 117; 125; 130; 137f.; 139; 142-156; 171; 176f.; 181f.; 190; 195-199; 202-205; 206; 225f.; 238-245 Kleitarch 58 Κλώδιος 29; 31 Komödie 216151; 217; 219; s. auch Drama Kommentar, auktorialer s. Stimme, auktoriale Kommunikation 1-3; 13f.; 17; 57; 65; 194f.; 249; 251f.; 254 Kompendium (historisches) 41186; 113 Konditionalsätze, irreale 200-202 Kontext, zeitgenössischer 2f.; 13f.; 17-74; 135f.; 251f.; s. auch Theoriediskussion Kratippos 160187; 165-167 laudatio funebris 21; 2554; 29; 38 Lektüre, kontinuierliche 2; 104; 118-122; 145; 205-208; 245f.; 248 Lektüre, selektive 2; 76; 102; 118-122; 252f. Lesen (in der Antike) 40f. Leserbindung 13; 42f.; 72-74; 80f.; 84f.; 88; 90; 101f.; 104; 111f.; 118; 123; 142f.; 149; 152; 204; 205f.; 208f.; 236f.; 248f.; 252-254 Leserichtung 118-122 Licinius Crassus (cos. 171) 229; 235f.; 249 Licinius Macer 26; 51 Ligustinus, Sp. (Centurio) 189; 229; 235 linguistic turn 3-5; 7; 9 Literatur, antiquarische 27 Livius, Biographie 17; 30; 115f.; s. Kontext Livius, Sohn des 112183 Lucceius 59-61; 193f.; 212 Lukian 127f.; 168 Mago 154; 238f. Makedonien 79; 95; 99; 130; 184-187; 227237 Manlius Imperiosus Torquatus 178f. Manlius Vulso 99; 120 Marcus Antonius (in de oratore) 47; 60f. Marginalien 113f.; s. auch Paratexte Marius 30

Martial 112 mental map 130f.; s. auch Handlungsort Messalla Corvinus 30100 Messalla Rufus 2890 Mithridates VI. von Pontos 117; 174f.; 186346 Monographie 27; 47; 47-53; 76; 81 Moralismus 35f.; 135f.; 214 mos maiorum 19 Mucius Scaevola 2016; 48218 Münzen 22; 24; 38; 44; 251 Multiperspektivität 98-102; 125-190; 237; 253 Naevius 38f. Nepos 28; 34132; 43 Nikolaos von Damaskus 41186 Nobilität 17-19; 21; 23; 27; 30-33; 42; 69; 84; 98f.; s. auch Erinnerungskultur, gentilizische Offenheit (des weiteren Verlaufs) 7; 111f.; 208; 226; 248; 252-254 oral tradition 2235 Ovid 62; 65 Panegyrik 127 Papirius Cursor 98 Papirius Paetus 29 Paratext 102; 110f.; 112-114; 117-119; 196f.; 255f. patavinitas 30 Patavium 30; 67; 69; 131f.; 135 Patriotismus 125-139; 142f.; 187-190; 209; 253 Pentaden 114-118; s. auch Bucheinteilung Pentekaidekade 115; s. auch Bucheinteilung periochae 34130; 36144; 109; 113; 115f.; 117f.; 121; 145; 179; 187355; 206; 231236 Perseus 87f.; 95; 98f.; 100f.; 186f.; 188361; 213; 227-237; 247; 248; 250 persona 11; s. auch Erzähler Personalpronomen 133-135 Philipp V. von Makedonien 96; 13025; 184f.; 188361; 205; 227-231 Phylarch 55; 56; 211 Pinarius, L. 137f. Planungsrede 89; 151; 154f.; 224195; 238f.; s. auch Reden Platon 158f. Plinius der Ältere 68; 113; 122246 Plinius der Jüngere 1; 40 plot 77f. Plutarch 29; 31; 126f. Polybios 5; 26; 42f.; 46-63; 69; 70; 72; 7981; 83; 85-87; 89f.; 102-105; 108, 110f.; 112f.; 118; 120; 127; 134; 141; 14399; 146; 147122; 161; 166f.; 181; 184; 185343; 186345; 188360; 195-197; 20159; 20372; 204; 211f.; 226202; 228; 235268; 241

1. Allgemeines Register Polyphonie 18-24; 45; 125; 134; 136-139; 141; 148; 156; 169; 170; 171f.; 253; s. auch Multipersktivität pompa funebris 21; 38; 44 Pompeius (Magnus) 46; 117 Pompeius Trogus 28; 160187; 167; 175f. pontifex maximus 19f. Pontius, Gavius 179-181 possible world 237-242; 248; s. auch Geschichtsschreibung, virtuelle Postumius Albinus (cos. 186) 219-222 Privatisierung (der Geschichte) 34f.; 57 Prodigien 82; 89; 94f.; 224195; 225; 231f.; 234 Professionalisierung 27-32; 37; 46; 48f.; Prolepse 89; 119; 123; 192; 223-237; s. auch Vorverweis Propaganda 32 προσωποποιία 164 Prusias I. von Bithynien 186 Publikum, Erweiterung des 17; 38-45; 57f.; 66; 69; 132; 179f.; 195 Publikum, internes 146f.; 149; 154f.; 170f.; 178; 185; 207; 218-223; 236; 237-242 Quellenkritik 6-8; 16; 53253; 14399; 158; 19520 Querverweise 118-122 Quintilian 6; 30; 68; 136f.; 198f.; 202; 210f. Rede 57; 89; 96; 97; 99f.; 106f.; 121; 125; 134; 139; 140-142; 149; 153-155; 157190; 191; 202; 221f.; 224f.; 232f.; 237242; 243f.; 248; 253 Rede, direkte 107; 134; 158f. Rede, indirekte 134; 141; 153; 158f.; 240 Reflexionen 141; s. auch Fokalisierung Rekapitulation s. Zusammenfassung Rekonstruktion 2; 4f.; 7f.; 12 Retardation 191f.; 200-209; 219; 234-236; 247; 248; 253 Rezitation 23; 38-41; 45 Rhetorik 4f; 188f.; 191; 210; s. auch Geschichtsschreibung, rhetorische Richter (Historiker als) 127f.; 188f.; s. auch Bewertung Roman, antiker 58; 62; 191 Roman, historischer 10; 58; 157; 214-219; 223 Romzentrierung 53; 76; 77-85; 88; 118; 122; 129-136; 252 Rückblick 76; 89-91; 96-101; 119f.; 171; 182; 186; 219-222 Sagunt 9796; 146; 155163; 177; 181f.; 203f.; 240 Sallust 27; 30; 32; 47; 50; 63; 65; 67f.; 13341; 164; 173-175; 186346 Samniten 73; 99; 115; 177; 179-181 Schauplatzwechsel 78-81; 86-89; 102-105; 202-205; 208; 228-233

305

Schema, annalistisches 47-53; 58; 70; 75123; 129f.; 133; 204f.; 217; 228-233; 252f. Schule, Geschichte in der 45 Scribonius Libo 2883 Sempronius Asellio 26f.; 49f.; 58 Sempronius Gracchus 205; 244f. Sempronius Longus (cos. 218) 153f.; 243f. Senatus consultum de Bacchanalibus 213f. Seneca der Ältere 39; 9799; 198; 247327 Seneca der Jüngere 66 Sisenna 27; 50; 58; 62 Spannung 53f.; 57; 61; 88; 93; 94f.; 96; 101f.; 111f.; 117f.; 150135; 191-250; 253f. Spannung, paradoxe 195-199; 201; 228; 236; 239-242; 248; 254; s. auch Spannung spolia opima 36146 Ständekämpfe 189f. Statue 21f.; 24; 32; 38; 44; 251 Stilisierung, rhetorische 4f.; 55f.; 57; 58; 158; 160; 164f.; 166; 221 Stimme, auktoriale 11f.; 119; 132f.; 165-170 Stimme (des Erzählers) 11f.; s. auch Erzähler Strabo 44203 Sueton 40 suspense, anomalous s. Spannung, paradoxe Symmachus-Kreis 13f. συμπλοκή 80 Syrakus 8438; 225f. Tacitus 46147; 754; 164f.; 176 Theophrast 47; 55f.; 166 Theopomp von Chios 55; 12712 Theoriediskussion (in Rom) 12; 48f.; 53; 57-64; 70f.; 81; 95; 101; 103f.; 108; 118; 192-195; 212; 234; 251 Thukydides 5; 1145; 1356; 39171; 49; 53251; 55f.; 63; 64311; 64313; 71343; 74353; 78f.; 103f.; 109164; 126f.; 128; 141; 144103; 160-163; 165f.; 169; 171; 19945; 200f.; 209103; 211; 238; 248328 Tiberius 46147 Ticinus, Schlacht am 100; 147f.; 149 Timagenes von Alexandria 39176; 175262 Tragödie 56; 62; s. auch Drama Trasimenischer See, Schlacht am 94; 207 Trebia, Schlacht an der 144; 153-155; 238f.; 243f. Triumph 2231; 97; 98f.; 171; 243 Troja, genealogischer Bezug 24f.; 28; 131f. Überlieferungsvariante s. Variantendiskussion Universalgeschichtsschreibung 28; 45; 49; 133 Universalisierung, retrograde 122 Unterhaltung (des Lesers) 7f.; 42f.; 51; 53-64; 70f.; 72-74; 126; 128; 152; 155f.; 159; 169; 190; 208; 222f.; 234; 247-250; 253 urbs capta 136f.; 182; 210f.

306

IX. Register

Valerius Antias 26; 51; 83; 14399 Valerius Maximus 34132; 213 Variantendiskussion 11; 134; 170f.; 183; 203f.; 227; 233246 variatio 61; 72-74; 76; 80f.; 82f.; 90; 102123; 159; 20478; 252f. Varro 27; 28; 29; 31; 58282 Velleius Paterculus 121245 Vergil 33f.; 190 Verunsicherung (des Lesers) 198; 201f.; 208; 239-242; 246; 248f.; 253 Vibius Virrius 182f. Vitruv 59; 193

Vorverweis 76; 89-96; 120; 217-222; 241296; 248f. Widersprüche 13; 20f.; 93; 141-148; 155f.; 170f.; 187-190; 192; 207; 237; 248; 253 Widmungen 26; 65 Wie-Spannung 197; s. auch Spannung Zäsur 31; 77; 82; 87; 111; 118 Zeitgeschichte 26f.; 32; 35f.; 42; 47; 49-52; 58; 72; 74; 108; 121; 162f.; 209 Zuhörer s. Publikum, internes Zusammenfassung 85; 98-101; 105f.; 112f.; 121; 171; s. auch Rückblick

2. Stellenregister Aelius Tubero FRH 18 F 5-6

63307

Caesar Gall. 1,44,8-44,10 173 Gall. 7,77,1-77,16 172f. Cato FRH 3 F 4,1 FRH 3 F 4,7a

1915 23

Catull 1,5-8

2882

Cicero ac. 1,9 ad Quint. 2,15,4 Att. 6,1,1 Att. 6,1,17 Att. 13,21,4 Att. 13,30,2 Brut. 13-15 Brut. 61-62 Brut. 96 Brut. 259 Catil. 1,28 Cato 12 de or. 2,36 de or. 2,51-54 de or. 2,62-65 fam. 5,12 fam. 9,21,2-21,3 fin. 5,52 leg. 1,5 leg. 1,6 leg. 1,6-7 leg. 1,7 leg. 1,8 leg. 2,37 Mur. 16 off. 1,78 Phil. 1,11 Planc. 67

2778 61f.; 194 61294 29 66323 2883 2883 2234 ; 29 19 58281 19 2234 56 1915; 47 60; 170230 59-61; 193f.; 212 29 39176; 43 170230 57276 47 58280 50f. 213 2346 19 195 19

Claudius Quadrigarius FRH 14 F 80 26; 65 Coelius Antipater FRH 11 F 1 FRH 11 F 2 FRH 11 F 4-8 FRH 11 F 26

57275 57276; 65 57277; 146115 65

Corpus Inscriptionum Latinarum 12 581 213f. VI,8,3 40931-41021a 33 XIII 1668 164f. Curtius 7,8,8-8,30

176

Dio Cassius 54,5,3

33123

Diodor 11,37,6 16,1,1-1,2 20,1,1-1,5

109163 109f. 167f.

Dionysios von Halikarnassos ant. 1,85,3 2555 ant. 2,3 157172 ant. 3,10 175266 ant. 7,66,2-66,3 162 de comp. verb. 4,30 55; 71; 103 de imiat. frg. 31,3 168 de Thuc. 9,3 78 de Thuc. 9,8 79 de Thuc. 16 165f. de Thuc. 37-41 126; 162; 209103 Pomp. 3,2-3,21 126f.; 209103 Pomp. 3,11-3,12 9061; 103f. Pomp. 3,13-14 7914 Pomp. 3,20 168 Pomp. 5,6 168 Ps.-Dion. Hal. Rhet. 11,2 56

2. Stellenregister Ephoros FGrHist 70 F 1 56267 FGrHist 70 F 9 163199 FGrHist 70 T 10-11 109 Gellius 5,18,1-2 6,18,11 16,9,5

50234 34132 58282

Hekataios FGrHist F 1 FGrHist 1 F 30 FGrHist T 20

127 157171 157171

Hieronymus chron. p. 154, 18f. 30100 epist. 53,1,3 11 Horaz c. 2,1 epist. 1,20 epod. 1 epod. 7 serm. 1,4,23-25

34130; 50237; 63f.; 212 44205 32 32 39175

Isidor orig. 6,5,2

44200

Iustinus 28,2,1-2,13 29,2,2-2,6 38,3,11 38,4,1-7,10

176268 176268 167; 175f. 175f.

Kallisthenes FGrHist 124 F 44 159184; 168 Livius praef. 1 praef. 1-3 praef. 2 praef. 3 praef. 4 praef. 4-5 praef. 5 praef. 6-8 praef. 9 praef. 10 praef. 10-11 praef. 11-12 praef. 12-13 praef. 13 1,1,1-1,3 1,19,3 2,1,3-1,6 2,19,1 3,47,5 4,3,2-5,6 4,20,1-20,11 4,30,4 5,19,7

33f.; 13339 67 251f. 30; 72346; 13339 52; 72345; 121 33; 52247; 37157; 64314; 72 162 33; 34; 52247; 135 34f. 52247 33 72346 68 132 13446 247 85; 106 163 165208 36146 85; 106 19419

5,21,10-21,16 5,32,6-32,7 5,33,1-35,3 6,1,1-1,3 6,12,2 6,38,13 7,1,7-1,10 7,9,5 7,9,8-10,14 7,26,1-26,5 8,4,1-6,7 8,22,5-22,7 8,24,1-28,18 8,39,10-39,15 8,40,4-40,5 9,1-11,13 9,1,1 9,2,1 9,2,6-6,4 9,8,1-16,19 9,11,1-11,13 9,17,1-19,17 9,19,15 10,31,10-31,15 10,46,2-46,6 20,2,9-2,15 21,1,1-2,1 21,1,1-19,5 21,1,5 21,3,2-3,6 21,7,1-7,3 21,7,1-15,6 21,10,2-10,8 21,14,1-15,2 21,15,3-15,6 21,16,2-16,6 21,18,1-19,5 21,18,13-18,14 21,19,6-20,9 21,20,1-20,8 21,22,6-22,9 21,29,1-29,4 21,29,1-38,9 21,29,7 21,30,1-30,11 21,32,7-32,10 21,33,3-33,10 21,34,1-37,7 21,35,8-35,9 21,40,1-40,17 21,42,1-44,9 21,45,1-45,5 21,50,9 21,52,1-56,9 21,53,1-53,11

307 13660 9691 9797 31; 50243; 114; 119; 162 73 13446 97102 31106 246 246 177-179 9796 13234 180302 30f. 179-181 179f. 180 13023; 180f. 98 180f. 91; 19944; 247 13447 73; 99 98107 13231 100123; 119; 144; 202; 238 202-204 145f. 146113; 177; 241 9796 181 146f.; 177 13660 238279 155163; 240 181 151144 181f. 151144 96; 152; 238 238 149-156 149 149; 241 150 151 151 151f.; 241 100; 147f.; 149 100; 147f.; 149; 151144 148; 241f. 225 153-155; 243f. 153f.; 243f.

308 21,54,1-54,3 21,55,8-55,9 21,57,1-57,3 21,62,1-62,11 21,63,1-63,15 22,1,1 22,1,8-1,20 22,6,3 22,14,4-14,15 22,37,1-37,13 22,41,1-42,12 22,61,10-63,12 23,1,1 23,6,1-6,8 23,12,6-13,6 23,17,7-20,3 23,30,10-30,12 23,33,1-46,7 23,35,1-35,19 23,37,1-37,8 23,48,4-49,14 24,4,1-7,9 24,13,1-13,5 24,37,2-39,10 26,1,1-3,12 26,6,13-6,16 26,7,1-11,13 26,12,1-16,13 26,21,1-21,5 26,29,1-29,10 26,37,1-38,5 26,41,3-41,25 26,42,4 26,50,1-50,14 27,5,8-14 27,20,1-20,8 27,23,1-31,11 27,23,4 27,26,7-27,14 27,27,13 27,33,6-33,7 27,35,1-35,14 27,36,1-36,4 27,39,7-39,9 27,40,1-40,7 28,1,2 28,9,5-9,20 28,12,1-12,9 28,19,5-20,7 28,39,1-39,16 29,29,5 30,12,5-15,10 30,20,1-20,9 30,26,7-26,10 30,30,1-31,9 30,45,3-45,7

IX. Register 154f.; 238f.; 244 155; 239 155; 240290 94 207 112177; 114; 20791 94 121242 99118 226 244 207 112177; 20791 182316 146113; 177 88; 204f. 226 205 88 244f. 207f. 226 9690 137f. 100 9688 100; 240290 182f. 99117; 171239 9478 100; 171 100; 171 13448 196 92 92 13660 94f. 94 2234 94 92 92f. 177277 100132 13448 98107 100132 137 177 9163 196 100132 97102 100132 98

30,45,5 31,1,1-5 31,1,6-1,10 31,16,10-16,11 31,17,1-17,11 31,29,1-32,5 31,35,1 31,40,9-41,1 31,47,4-49,3 32,21,1-21,37 33,3,11-4,3 33,10,10 33,20,13 33,21,1-21,5 33,25,10-26,5 34,1,1-8,3 34,31,1-32,20 34,51,5 35,14,5-14,12 35,19,1-19,7 35,40,1 36,18,1-19,12 36,22,1-24,12 36,39,3-40,14 37,1,7-2,12 37,25,4-25,14 37,46,1-46,6 37,58,6-59,6 38,12,1-27,9 38,16,1-16,15 38,17,1-17,20 38,24,1-24,11 38,44,9-50,3 38,50,4-60,10 38,54,11 38,56,3 39,4,1-5,17 39,6,3-7,5 39,8,1-8,3 39,8,1-19,7 39,8,8-9,1 39,9,2-9,7 39,9,2-13,14 39,14,3-16,13 39,14,4 39,17,1-19,2 39,19,3-19,7 39,20,1-23,4 39,23,5-29,3 39,29,4 39,40,4-40,12 39,42,6-42,7 39,48,6 40,3,3-16,3 40,4,1-4,15

53252 72347; 74; 75; 108; 114; 119 99120 247327 13660 184-186 121 185342 99117; 171239 99118 99118 53252; 134 132 97102 9369 107 99118 13446 247327 238280 13538 201f. 138f. 99; 171239 93 186 98107 98107 121 9797 99118; 171243 196 99; 171239 189364 164 69335 99117; 171239 99 217f. 196; 213-222 218 216f. 218f. 221 215f.; 221 222 216150; 222 214131 227 228 98 164 9163; 13538 228 196

2. Stellenregister 40,9,1-15,16 40,16,4-20,6 40,21,1-22,14 40,22,15-24,8 40,54,1-58,9 41,9,4-9,7 41,9,4-16,6 41,13,1-13,3 41,14,7-16,6 41,22,4-28,1 41,25,8 42,4,5-6,12 42,11,2-14,11 42,14,2-20,6 42,20,1-20,6 42,21,1-28,9 42,25,8-25,13 42,26,2 42,29,1-48,10 42,30,8 42,32,6-35,2 42,39,4-42,9 42,49,1-49,10 42,50,1-67,12 42,52,6-53,1 43,13,2 44,4,7-6,17 44,24,2-24,6 44,30,2-30,5 44,42,1-46,1 45,4,2-9,7 45,9,1-9,7 45,22,1-25,1 45,25,3 45,33,7-34,6 45,35,5-39,20 45,40,1-40,8 45,40,9-42,1 45,41,1-42,1 45,44,19 120 Frg. 62 per. 19 per. 20 per. 41 per. 71 per. 109-116 per. 121

188361 230 96; 13025; 230 230 231 95 232 95 95 232 133 233 233 234 95; 19419; 234 234f. 187 234254 235 227; 235 171243; 189; 235 99118 235f. 236271 186f. 64314; 72347 247327 187 9798 87f. 88 99121 99118; 171243 164 13870 99; 101; 171239 98 171243 101 134 9799 145108 121; 145108 232236; 232239 179; 187355 116 34130; 116

Lukian hist. conscr. 37 hist. conscr. 38-41 hist. conscr. 40-41 hist. conscr. 49 hist. conscr. 50 hist. conscr. 58

69336 127 127 128 8122; 128 159184; 168

Martial 14,190

112

309

Nepos praef. 2 Att. 18,1-18,2 Att. 18,2-18,4 Cato 3,3-3,4

43 2883 2889 23; 111169

Ovid fast. 5,550-566 trist. 2,443-444 trist. 3,1

33123 62 65316

Platon rep. 3,392c-394b

158f.

Plinius der Ältere nat. praef. 16 nat. praef. 33 nat. 7,115 nat. 8,11 nat. 13,84 nat. 34,30-31 nat. 35,4-35,14 nat. 35,7 nat. 35,8 nat. 35,10 nat. 35,11

68 113 44200 23 48219 25 2126 2234 2890 44200 2887

Plinius der Jüngere epist. 1,31 epist. 2,3,8 epist. 5,8,4 epist. 7,17 epist. 8,12,5 epist. 8,24,2 epist. 9,27

40 1 59287; 61299 40 40 40 40

Plutarch Aem. Paul. 32-34 de gloria Athen. 347a malign. Her. 854e-855a malign. Her. 857a Numa 1,2 Polybios 1-2 1,1,4-1,6 1,3,3-3,4 1,3,3-3,6 1,4,7-4,11 1,5,4-5,5 1,6-1,12 1,13,6-13,13 1,14,4-14,9 2,14,1-14,3 2,56,1-56,13 2,56-59 3,21,9-10 3,32,1-32,3 3,33,4 3,44,1-60,13

98109 211 127 127 29

49 54257 80 52250; 104141 49229 90 89f. 108 127 9060 49225 56269; 211 9060 49229; 54 181311 149-156

310 3,47,6-48,12 3,62-64 3,69,5-74,11 3,71,1-71,8 4,28 5,33 6,53-54 7,8,9 8,3-4 8,13 9,1,2-1,5 11,1a 12,25a 12,25b 12,25d-h 14,1a 15,24a 15,36 16,17,9-11 21,11 21,33,1 23,10-11 28,16,5-11 29,12 34 36,1,1-1,7 36,12 38,5-6 39,8,8 40

IX. Register 49225 100124; 100125;147122 153148 239284; 244306 52250; 8021; 104141 49229 235268 226202 49229; 8021 49229 42f. 110; 196 161; 188360 159f. 69336 54258; 111; 196f. 52250; 86 49225 53256 186345 120239 228 8645 49229 69336 166 54258 52250; 53255; 79f.; 86; 9061; 102f. 111 111; 113

Ps.-Long. de sublim. 15,1-15,10 210111 Quintilian inst. 1,5,56 inst. 2,4,18-21 inst. 3,8,17 inst. 8,1,3 inst. 8,3,67-69 inst. 9,2,29-37 inst. 9,4,74 inst. 10,1,31-34 inst. 10,1,101

30 45208 198f. 30 137f.; 188362; 210f. 170232 68 45208 6; 64312; 169227; 170232; 202

Res gestae Divi Augusti R. Gest. 2 33123 R. Gest. 8,5 35135 R. Gest. 31,5 33123 Sallust Catil. 1-4 Catil. 3,1-4,2 Catil. 31,6 hist. frg. 4,69 Iug. 1-4 Iug. 4,1-4,4

65 67 164 174f. 65 67

Iug. 81,1 Iug. 85

173f. 30

Sempronius Asellio FRH 12 F 1-2

49f.; 58278; 77

Seneca der Ältere contr. 4 praef. 2 suas. 1-7 suas. 6,21-22 nat. quaest. 5,18,4

39 170229; 198 9799 247327

Seneca der Jüngere de ben. 7,6,1 de ira 1,20,6 de ira 3,23,6

66 169227 39176

Servius Aen. 1,373 Aen. 5,704

1915; 50234 2888

Strabo 13,1,54

44203

Suda 2098

40

Sueton Aug. 29,2 Aug. 89,2 Claud. 41,1 Claud. 42,2 Cal. 34,1 Dom. 10,3 gramm. 2,3-2,4 Iul. 6,1 Iul. 44,2 Nero 10,2 Tib. 61,3

33123 35135 36148; 40 40 33124 169228 39168 2554 44199 40 40

Tacitus Agr. 10 Agr. 30-32 ann. 3,34,3 ann. 4,33,3 ann. 4,34,3 ann. 11,24,1-24,7 ann. 14,35,1-35,2

169227 176 46147 59287 169227 164f. 176

Thukydides 1,22 2,1

39171; 160f. 7812

Valerius Maximus 6,3,7

213

Varro ant. div. frg. 2a

29

Vergil Aen. 6,756-892

33

Vitruv praef. 5,1 6,5,1-2

59; 61299 2128

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