Erzählte Geschichte: Narrative Strukturen in der französischen "Annales"-Geschichtsschreibung 9783110910469, 9783110183696

The study broadens the perspective of narratology to include the objects and methods of historiography, in particular th

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German Pages 220 [224] Year 2005

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Table of contents :
I. Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf
1. Der Kampf um die Geschichte
2. Möglichkeiten und Grenzen historiographischer Innovation
3. Die französische Annales-Geschichtsschreibung
II. Geschichte und Erzählung in der Theorie
1. Narrative Konfigurationen von Geschichte
2. Historiographie als Problem der strukturalistischen Erzählforschung
3. Heuristische Prämissen für die Analyse historiographischer Texte
III. Analysen historiographischer Texte
1. Kritik und Wiederkehr des Ereignisses: Georges Duby, Le dimanche de Bouvines
2. Die Konkurrenz von Erzählung und Tableau: Emmanuel Le Roy Ladurie, Les paysans de Languedoc
3. Erzählen in der longue durée: Jacques Le Goff, La naissance du Purgatoire
4. Zur Bedeutung der Vorstellungskraft in der Historiographie: Natalie Zemon Davis, The Return of Martin Guerre
IV. Ergebnisse und Ausblick
1. Erzählungen in der longue durée
2. Modernisierungsgrenzen
3. Narrative Fragmentierung
4. Historiographische Selbstreflexivität
5. Der Historiker als Mystagoge und Detektiv
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Sekundärliteratur
Index
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Erzählte Geschichte: Narrative Strukturen in der französischen "Annales"-Geschichtsschreibung
 9783110910469, 9783110183696

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Axel Rüth Erzählte Geschichte

Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie

Edited by/Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik Jose Angel Garcia Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margoli, Matias Martinez Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Axel Rüth

Erzählte Geschichte Narrative Strukturen in der französischen ^««^/^-Geschichtsschreibung

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-8427 ISBN 3-11-018369-2 Bibliografische Information Der Deutschen

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2002 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Inaugural-Dissertation im Fach Romanische Philologie angenommen. Ohne die Hilfe und Mitwirkung einer Reihe von Personen hätte dieses Buch nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Andreas Kablitz, der mich stets bedingungslos und tatkräftig unterstützt hat. Prof. Dr. KarlJoachim Hölkeskamp bin ich für die Übernahme des Korreferats zu Dank verpflichtet. Den Herausgebern der „Narratologia" danke ich für die Aufnahme in die Reihe, insbesondere Prof. Dr. Wolf Schmid, dessen Ratschläge mir bei der Erstellung des Manuskripts eine große Hilfe waren. Christof Blome, Julia Faust, Susanne Gessat, Michaela Kirst, Andre Krischer und Esther Zadow danke ich für ihre kritischen Lektüren und Bemerkungen. Mein größter Dank aber gilt meinen Eltern Louise und Walter Rüth, auf deren Unterstützung ich stets vertrauen konnte. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

Köln, im Dezember 2004

Axel Rüth

Inhaltsverzeichnis

I. Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf. 1. Der Kampf um die Geschichte 2. Möglichkeiten und Grenzen historiographischer Innovation 3. Die französische ylttna/es-Geschichtsschreibung II. Geschichte und Erzählung in der Theorie 1. Narrative Konfigurationen von Geschichte a) Hayden Whites extremer Relativismus b) Paul Ricceur: die synthese de l 'h0terogene 2. Historiographie als Problem der strukturalistischen Erzählforschung a) Roland Barthes' „Discours de l'histoire" b) Autor oder Erzähler? c) Die historiographische Erzählsituation d) Die narrative Verdoppelung der Historiographie 3. Heuristische Prämissen für die Analyse historiographischer Texte III. Analysen historiographischer Texte 1. Kritik und Wiederkehr des Ereignisses: Georges Duby, Le dimanche de Bouvines a) Die Abkehr vom traditionellen' Erzählen b) Die Negativfolie: Die Histoire de France von Lavisse c) Eine ,neue' Ereignisgeschichte - ohne Erzählung? d) Das Ereignis als Leerstelle und fait vecu e) Die Rückgewinnung der verlorenen Vergangenheit f) Die Schlacht als evenement revelateur g) Die Rezeptionsgeschichte des Ereignisses h) Der Erzähler als Mystagoge i) Eine Ereignisgeschichte zweiten Grades

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Inhaltsverzeichnis

2. Die Konkurrenz von Erzählung und Tableau: Emmanuel Le Roy Ladurie, Les pctysans de Languedoc a) Longue duree und quantitative Geschichte b) Programmatik: Eine histoire totale c) Periodisierung: „Tailler dans le vif de l'histoire" d) Voraussetzungen: „Champs de forces" e) Die Rekonstruktion des „grand cycle agraire" f) Historischer Wandel als Gesetzmäßigkeit g) Beziehungen zwischen Agrarzyklus, Mentalitäten und Ereignissen h) Eine Synthese aus discours und recit i) Wirtschafts- und Sozialgeschichte als Tragödie j) Ein Tableau mit insularer Narrativität 3. Erzählen in der longue duree\ Jacques Le Goff, La naissance du Purgatoire a) Geistesgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte b) Eine Rezeptionsgeschichte in der longue duree c) Das Textorganisationsmodell der stage narratives d) Die Etablierung der Phasen e) Rahmenerzählung: Von der Verräumlichung des Denkens.... f) Ereignisse, Subjekte und Aktanten g) Metaphorik h) Dante, ein Individuum in der longue duräe 4. Zur Bedeutung der Vorstellungskraft in der Historiographie: Natalie Zemon Davis, The Return of Martin Guerre a) Mikrohistorie: Geschichte oder Geschichten? b) Imaginierte Möglichkeiten c) Neuinterpretation durch Auffüllung von Leerstellen d) Quellenkritik als Psychologisierung des Quellenautors e) Die Rhetorik des Wahrscheinlichen f) Die Darstellung von Innenwelten g) Eine nicht mehr kontrollierte Vorstellungskraft IV. Ergebnisse und Ausblick 1. Erzählungen in der longue duree 2. Modernisierungsgrenzen 3. Narrative Fragmentierung 4. Historiographische Selbstreflexivität 5. Der Historiker als Mystagoge und Detektiv

86 86 89 95 97 100 105 109 114 118 121 124 124 126 130 133 145 147 151 155 158 158 161 166 176 180 181 183 185 185 187 191 192 194

Inhaltsverzeichnis

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Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Sekundärliteratur

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Index

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I. Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf 1. Der Kampf um die Geschichte Die Empörung unter den Historikern war groß, und das aus gutem Grund. Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts erreichte der linguistic turn die Geschichtswissenschaft. In Frankreich war Roland Barthes der erste, der die Historikerzunft dazu aufforderte, ihr Tun doch einmal in linguistischen Kategorien zu überdenken. Dann würden sie bemerken, dass der von ihnen postulierte außertextuelle Referent in Wirklichkeit ein signiße sei, und die sogenannte Objektivität nichts als ein rhetorischer Taschenspielertrick, ein effet de reel\ Zu allem Überfluss schlug einige Jahre später mit Paul Veyne ein Mann aus dem eigenen Lager der Geschichtswissenschaft in eine ähnliche Kerbe: „Expliquer, de la part d'un historien, veut dire ,montrer le deroulement de l'intrigue, le faire comprendre'" 2 . Die Bedeutung historischer Ereignisse folge schlicht und ergreifend der „logique humaine du drame", so Veyne3. Der bei weitem schwerste Schlag aber ging von Hayden Whites Metahistory4 aus. Darin wird die postmoderne Diagnose vom ,Tod des Subjekts' auf das Gebiet der historischen Erkenntnis übertragen. Der linguistic turn wurde endgültig zum narrative turn5 In den Schriften des amerikanischen Literatur- und Geschichtstheoretikers gerinnt Geschichtsschreibung im Zeichen des Derridaschen Diktums „II n'y a pas de hors-

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Roland Baithes: „Le discours de l'histoire", in: Poetique 13 (1982), S. 13-21. Ursprünglich erschienen in: Social Science Information/Information sur les Sciences sociales, VI-4, August 1967. Paul Veyne: Comment on ecrit I 'histoire, Paris 1971, S. 112. Ebd., S. 70. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination In Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973. Siehe dazu aus der Perspektive eines Historikers: Emst Hanisch: „Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur", in: Kulturgeschichte heute, hg. v. Wolfgang Hardtwig und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1996, S. 212-230 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16).

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Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

texte" zu einer Fiktionen produzierenden Operation. Die Formen der Geschichtsschreibung, so White, folgen nicht etwa der vorangegangenen Forschung, sondern unbewusst immer schon vorhandenen poetischen Wahrnehmungsmustern. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft seien keine empirisch gewonnenen, sondern erzählend erfundene. Der Historiker tue also, wenn er schreibt, nichts anderes als der Romancier: Er stellt Sinn her, indem er Einzelteile zu einer Erzählung zusammenfügt. Deshalb forderte White ähnlich wie Barthes, die Historiker sollten von den Idealen der Wissenschaftlichkeit und Objektivität abrücken, um die Historiographie wieder an ihre literarischen Grundlagen zurückzubinden - nur so könne die Historie heute noch als eine eigene Disziplin gelten6. Damit schien der seit Aristoteles sicher geglaubte Grenzwall zwischen Historiographie und Dichtung ein für allemal in Trümmern dazuliegen7. Die von dieser Grenzüberschreitung ausgehende Bedrohung war nicht zu unterschätzen: Wenn es die Wirklichkeit nur in und durch Sprache, Texte und Diskurse gibt, worin sollte dann noch die Legitimation eines Fachs liegen, das seine Aufgabe darin sieht, Aussagen über eme zwar vergangene, aber doch außersprachliche Wirklichkeit zu treffen - und das auch noch mit dem Anspruch auf Wahrheit und Objektivität? Historiker und ihre Leser leben seit über zwei Jahrzehnten, um ein Wort des französischen Historikers Roger Chartier zu gebrauchen, in einer ,Zeit der Zweifel' 8 . Die Titel einiger neuerer englischsprachiger Publikationen zeugen davon, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Die meisten Historiker sehen sich nach wie vor in der Defensive: Richard J. Evans nannte sein 6

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Hayden White: „The Historical Text as Literary Artifact", in: Ders: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore/London 1978, S. 81-100, hier: S. 99. Für einen Überblick über die Debatte um Postmoderne und Geschichte siehe: Christoph Conrad/Martina Kessel: „Geschichte ohne Zentrum", in: Dies.: (Hgg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 9-26. Eine Diskussion der Problematik aus der Perspektive des Historikers liefern Willie Thompson: What Happened to History?, London 2000, und Richard J. Evans: In Defence of History, London 1997. Der von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp herausgegebene Sammelband Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2002, bietet eine Vielzahl von Beiträgen zu den meisten Facetten der hier angesprochenen Problematik. Roger Chartier: iyLe temps des doutes", in: Le Monde, 18. März 1993, S. VI-VII. Es handelt sich bei diesem Artikel um die leicht gekürzte Fassung des Aufsatzes „L'histoire entre recit et connaissance", in: Ders.: Au bord de la falaise. L'histoire entre certitudes et inquietude, Paris 1998, S. 87-107.

Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

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Buch über die Grundlagen historischer Erkenntnis In Defence of History9. Der Australier Keith Windschuttie bevorzugt martialischere Ausdrucksweisen und spricht von einem „general front assault": The traditional practice of history is now suffering a potentially mortal attack from the rise to academic prominence of a relatively new array of literary and social theories .

Der konservative britische Historiker Geoffrey Elton sieht in poststrukturalistischen Theoretikern gar „devilish tempters who claim to offer higher forms of thought and deeper truths and insights", die tatsächlich aber den wissenschaftlichen Nachwuchs („innocent young people") mit dem „intellectual equivalent of crack" zu verderben drohen11. Solche Metaphern mögen polemisch und überzogen wirken, doch sie verdeutlichen, was im Kampf gegen die ,postmodeme Bedrohung' auf dem Spiel steht. Geschichte ist, wie Jörn Rüsen es einmal formulierte, „eine wichtige Front im semantisch ausgetragenen Machtkampf' 12 . Es geht aber nicht nur um die Existenz einer akademischen Disziplin, sondern auch um die Frage, ob das, was wir ,Geschichte' nennen, mehr ist als eine Fiktion. Ihre gesellschaftliche und kulturelle Funktion zwischen Unterhaltung, kollektiver Identitätsbildung und kritischer Aufklärung mit wissenschaftlichem Standard kann die Geschichtsschreibung aber nur dann erfüllen, wenn sie auf zwei konstitutiven Überzeugungen beharrt: erstens auf der Möglichkeit, ein objektives, das heißt intersubjektiv überprüfbares Wissen zu produzieren, zweitens auf der Möglichkeit, mittels Sprache Feststellungen über eine außersprachliche Wirklichkeit zu treffen13. Deshalb berufen sich Historiker in der Regel auf die Geschichte ihres Fachs, um dem Vorwurf der Fiktionalisierung entgegenzuwirken. Für die Zeitgenossen Michelets und Thierrys war der hybride Charakter der Historiographie noch eine Selbstverständlichkeit, ja: nicht anders denkbar14, und 9 10

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Evans: In Defence of History. Keith Windschuttie: The Killing of History. How Literary Critics and Social Theorists are Murdering Our Past, New York 1997, S. 2. Zitiert nach Evans: In Defence of History, S. 7. Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a. M. 1990, S. 12. Robert F. Berkhofer hat dafür in Anlehnung an Thomas Kuhn den Begriff „normal historical practice" geprägt. (Robert F. Berkhofer: „The Challenge of Poetics to (Normal) Historical Practice", in: Poetics Today 9 (1988), S. 435^152. Man beachte etwa die folgende Feststellung Rankes: „Die Aufgabe des Historikers [...] ist zugleich literarisch und gelehrt; die Historie ist zugleich Kunst und Wissen-

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Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

Historiker konnten die Romane Walter Scotts als ihr Vorbild nennen, ohne an Autorität einzubüßen 1 5 . Im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigte sich dann der „Hegemonieanspruch der Wissenschaft a u f den legitimen Zugang zur historischen Erkenntnis" 16 , w a s beispielsweise an der Tatsache ablesbar ist, dass D r o y s e n in seiner Historik Ranke die N ä h e z u Scottschen Darstellungsmitteln z u m Vorwurf machen konnte 17 . A u f dem Höhepunkt dieser Entwicklung zu einer wissenschaftlichen Institution waren schließlich optimistische Einschätzungen wie diejenige Emmanuel Le R o y Laduries m ö g lich, nach welcher der Historiker v o n morgen Programmierer sein oder nicht mehr sein wird' 1 8 . Z u dem Zeitpunkt, da sich der linguistic turn vollzog, schienen die Ursprünge der Geschichtswissenschaft als ein Teil der belles lettres aus Sicht der Historiker endgültig überwunden. W i s s e n schaftliche Standards und Überprüfbarkeit hatten über die subjektiv deformierende Perspektivierung des literarischen Erzählers gesiegt. D a s Schreiben der Geschichte ist nach dieser A u f f a s s u n g allein eine Frage des Stils, w i e die folgende Äußerung Richard Evans' verdeutlicht: There is no reason why historians' works should not be subjected to literary and linguistic analysis. It can sharpen up our perceptions of their thought. Historical writings are so diverse that the styles in which they are written runs from the rebarbatively technical and formula-laden work of econometric or demographic historians at on extreme to the literary gems of practised communicators at the other. Ultimately, however illuminating it may be in itself, the study of historians' writings as linguistic texts is almost bound to be of secondary importance to their critical scrutiny as pieces of historical scholarship. The historians who can be read for literary pleasure are few

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schaft" (Leopold von Ranke, Französische Geschichte, in: Ders.: Sämtliche Werke, Gesamtausgabe, Leipzig 1877, Bd. 12, S. 5. Vgl. Karl Massmann: Die Rezeption der historischen Romane Sir Walter Scotts in Frankreich (1816-1832), Heidelberg 1972, S. 81-90. Man beachte auch die folgende programmatische Äußerung Thierrys: „Je voulais mettre en evidence le caractere democratique de l'etablissement des communes, et j'ai pense que j'y reussirais mieux en quittant la dissertation pour le recit, en m'effafant moi-meme et en laissant parier les faits." (Augustin Thierry: Lettres sur l'Histoire de France, Paris: Garnier, o.J., S. 5). Vgl. auch: „[...] les personnages et les epoques doivent paraitre en scene dans le recit; ils doivent s'y montrer en quelque sorte tout vivants comme sur un theatre [...]". (,Lettres sur l'Histoire de France (Ve lettre)", in : Le Courrierfrangais (10. 9. 1820), zitiert nach Massmann: Rezeption, S. 84). Eberhard Lämmert: „Geschichten von der Geschichte. Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman", in: Poetica 17 (1985), S. 228-254, hier: S. 240. Vgl. ebd., S. 239. „[L]'historien de demain sera programmateur ou il ne sera pas." (Emmanuel Le Roy Ladurie: Le territoire de l 'historien, Paris 1973, Bd. 1, S. 13).

Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

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indeed, and most of them, such as Gibbon, Michelet, Tocqueville or Carlyle, wrote in the eighteenth or nineteenth century [...]. Given the extent to which historical research has moved on in purely empirical terms since then - we know a lot more about the French Revolution than any of these nineteenth-century authors did - it is not surprising that such an approach feels justified in largely neglecting the empirical content of what Michelet, Tocqueville and their contemporaries wrote. For modern and contemporary historians, however, the scrutiny of their work as historical scholarship generally remains more important than criticism of their status as literary texts 19 .

Diese Äußerung macht das Missverständnis deutlich, das nach wie vor eine gelungene Kommunikation zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft bzw. Literaturtheorie verhindert. White und seine Epigonen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie Historiographie auf die dem literarischen Realismus nahestehende Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts reduzieren. Diese kategorische Subsumierung aller Historiographie unter eine spezifische Art des Erzählens vernachlässigt erstens die Entwicklung wissenschaftlicher Standards und verstellt zweitens den Blick auf die Vielfalt des modernen historischen Erzählens. Historikern, die mit Evans die Trennung von Form und Inhalt sowie einen in literaturtheoretischer Perspektive naiv anmutenden Mimesis-Begriff aufrechterhalten wollen, lässt sich hingegen erwidern, dass eine Analyse historiographischer Texte mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft durchaus mehr erbringen kann als die Erhellung ihres „status as literary texts". Es geht um nichts geringeres als die Frage, was wir aus der Perspektive unserer gegenwärtigen Realität fur historisch bedeutsam halten, in welcher Form wir diese Geschichte erforschen, und schließlich: wie wir sie vermittelt bekommen wollen. Auch wer die Geschichte für mehr als einen Text hält, wird wohl der Beobachtung zustimmen, dass Geschichte erst als geschriebene rezipierbar wird: Sie existiert im wesentlichen in und durch Texte - Texte, die im Gegensatz zu fiktionalen immer partial sind, da sie stets im Kontext eines kollektiven Erzählprojekts stehen, eines virtuellen Texts, an dem alle Historiker beteiligt sind. Der Philosoph Kurt Röttgers spricht daher vom „kommunikativen Text des Geschichtenerzählens". Darunter versteht er ,,ein[en] zeitliche[n] Prozess, der den Anderen mit sprachlichen Mitteln in einen gemeinsamen Text ,verwebt'"20. Der Wahrheitsanspruch, der die Geschichte von Historiker kennzeichnet, gilt zeitlich nicht unbegrenzt:

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Evans: In Defence of History, S. 70 f. Kurt Röttgers: „Geschichtserzählung als kommunikativer Text", in: Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, hg. v. Siegfried Quandt und Hans Süssmuth, Göttingen 1982, S. 29-48, hier: S. 33.

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Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf , Wahre Geschichten' heißt hier nur .Geschichten mit Wahrheitsa/wpn/c/j'. Ob der Anspruch sich im Angesicht der Ewigkeit als gerechtfertigt erweisen wird, darf immer als unerheblich dahingestellt bleiben; ob aber das Erzählen einen Wahrheitsanspruch stellt, das ist in jedem Falle entscheidbar, im Zweifelsfalle durch Nachfragen der Zuhörer. Wird eine Geschichte mit Wahrheitsanspruch von den Zuhörern als wahr akzeptiert, dann gilt die Geschichte in diesem Zusammenhang als wahr. Jeder aus der Erzählsituation kann nun hingehen, und wird es oft tun, und die Geschichte als wahre Geschichte wieder- und weitererzählen .

In der Geschichtswissenschaft vollzieht sich dieses unendlich iterierbare Neuerzählen mit Wahrheitsanspruch selbstverständlich nach Maßgabe „diskursiver Akzeptabilitätsstandards" 22 . Eine Literaturwissenschaft, die sich als eine Wissenschaft vom Text versteht, interessiert sich nun für sämtliche Verfahren, die den Geschichten der Historiker Wahrhaftigkeit und Kohärenz verleihen 23 . Natürlich ist Evans darin zuzustimmen, dass sich Historiker wesentlich stärker für den ,Inhalt' geschichtswissenschaftlicher Texte interessieren als für deren sprachliche Vermittlung. Dennoch: Man muss Hayden Whites emplotmentSystematik nicht zustimmen, um jenes Projekt als sinnvoll zu erachten, das im Titel seiner Aufsatzsammlung The Content of the Form zum Ausdruck kommt: Durch die Art und Weise, wie historiographische Texte geschrieben sind, vermitteln sie eine Vorstellung davon, was Geschichte überhaupt ist 24 . Nun hat sich White bekanntlich lediglich mit der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Die immanenten wie die expliziten 21

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Ebd., S. 30. Vgl. auch Karlheinz Stierle: „Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie", Theorie und Erzählung in der Geschichte, in: hg. v. Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey München 1979 (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 3), S. 85-118. Röttgers: „Geschichtserzählung", S. 37. Vgl. auch Jacques Rancieres Projekt einer „poetique du savoir": „La poetique du savoir s'interesse aux regies selon lesquelles un savoir s'ecrit et se lit, se constitue comme un genre de discours specifique. Elle cherche le mode de verite auquel il se voue, non ä lui donner des normes, ä valider ou a invalider sa pretention scientifique". (Jacques Ranciere: Les noms de l'histoire. Essai de poetique du savoir, Paris 1992, S. 21). Vgl. Dietrich Harth: „Historik und Poetik. Plädoyer für ein gespanntes Verhältnis", in: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, hg. v. Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich und Klaus R. Scherpe, Stuttgart 1990, S. 1123, hier: S. 21: „Es geht daher nicht um die Frage, ob es dem Historiker erlaubt sei, mit Fiktionen zu arbeiten. Er darf ja nicht, wenn es die Zunft, die dazu ein Recht hat, verbietet. Weitaus interessanter ist doch die Frage nach der Funktion der rhetorischen, poetischen und stilistischen Komponenten für den Entwurf eines konsistenten Geschichtsbildes."

Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

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Geschichtsbilder historiographischer Texte waren im 20. Jahrhundert aber einem Modernisierungsprozess unterworden, und dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Historiker unserer Tage anders erzählen als Historiker vergangener Jahrhunderte. Die Frage lautet nicht, ob Historiker denn nun stets erzählen oder nicht, sondern vielmehr: Wie erzählen sie? Die Relevanz der Analysen von Erzählstrukturen in Texten von Historiker des späten 20. Jahrhunderts besteht in der Aufdeckung der impliziten Geschichtsbilder, die sich in den Erzählstrukturen verbergen. 2. Möglichkeiten und Grenzen historiographischer Innovation In dem Aufsatz „The Burden of History"25 fordert White die Historiker dazu auf, den ,nekrophilen' Kult aufzugeben, der darin bestehe, sich mit der Vergangenheit allein um ihrer selbst willen zu beschäftigen. Sie sollten vielmehr in Zusammenarbeit mit den Künstlern und Wissenschaftlern ihrer eigenen Zeit solche Fragen an die Vergangenheit richten, die der Lösung gegenwärtiger Probleme dienen. Dies, so White, sei etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen, als Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Geschichte ihre gemeinsame Aufgabe darin sahen, die Französische Revolution zu begreifen. Doch während sich die Wissenschaften und die Künste seitdem weiterentwickelt hätten, würden sich heutige Historiker immer noch auf jene aus dem 19. Jahrhundert stammenden Zwitterqualitäten ihres Diskurses berufen, die diesen weder ganz Wissenschaft noch ganz Kunst sein ließen. Diese Selbsteinschätzung, so White, beinhaltet einen überkommenen romantischen Kunstbegriff und einen ebenso überkommenen positivistischen Wissenschaftsbegriff. White möchte den heutigen Historiker dazu verpflichten, die so entstandene gegenwärtige Kluft zwischen Geschichtsschreibung und Kunst zu beseitigen und „to come to terms with the techniques of analysis and representation which modern science and modern art have offered for understanding the operations of consciousness and social process"26. So bemängelt er die Absenz einer surrealistischen, expressionistischen oder existentialistischen Geschichtsschreibung. Das traditionelle Erzählen kohärenter Geschichten, wie es typisch für den realistischen Roman ist, gehöre als eine historiographiegeschichtliche Altlast endlich über Bord geworfen. Eine ebensolche Forderung nach Modernisierung impliziert auch Roland Barthes' Kritik der Geschichtsschreibung als

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Hayden White: „The Burden of History", in: Ders.: Tropics of Discourse, S. 27-50.

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eines Diskurses, der dem wirklichkeitsverzerrenden Prinzip eines nicht nur literarhistorisch überkommenen effet de reel verpflichtet ist. Als ein weiteres Beispiel ist der 1973 erschienene, überwiegend literaturwissenschaftliche Band Geschichte - Ereignis und Erzählung aus der Poetik und Hermeneutik-Reihe zu nennen. Er enthält zwei Beiträge, die für eine Erweiterung der Erzählmöglichkeiten bzw. für eine Entnarrativisierung der Historiographie plädieren27. Wie White spricht der Historiker Christian Meier von den „überkommenen Konventionen der Historiographie".28 Die traditionell vom Historiker eingenommene Position eines allwissenden Erzählers müsse einer Pluralität von sich gegenseitig relativierenden Perspektiven weichen, die aber wohlgemerkt nicht bis zur Verweigerung sinnhaltiger Aussagen führen dürfe. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi fordert, die Geschichtsschreibung müsse den historistischen Glauben daran aufgeben, dass Individuen die Geschichte machten: Meine These ist, dass narrative Geschichtsschreibung in Beschreibung überführt werden muss, wenn eine neue Historie unserer Erfahrung von Geschichte als anonymem Prozess, als Folge von Zuständen und Veränderung von Systemen gerecht werden soll29.

Soziale Prozesse könne man eben nicht mehr erzählen, sondern nur noch beschreiben. Der „Verfuhrung narrativer Harmonisierung"30 sollte sich die Geschichtsschreibung dringend entziehen. Sowohl Meier als auch Szondi plädieren für solche Formen historischen Schreibens, die geeignet sind, spezifisch spätmoderne Erfahrungen adäquat zum Ausdruck zu bringen. Darin treffen sie sich mit Alain Robbe-Grillet, der ein Jahrzehnt zuvor ebendies für die Literatur gefordert hatte31. Ironischerweise ist es der Historiker Meier, der durch die Verwendung erzähltheoretischer Begrifflichkeiten Anleihen bei der modernen Literatur nahe legt, während sich beim Literaturwissenschaftler Szondi keine Hinweise darauf finden lassen, dass die Geschichtsschreibung diesem Vorbild folgen soll. Die Frage, wie sich anonyme bzw. kollektive historische Prozesse und Strukturen erzählend darstellen lassen, bleibt jedenfalls aktuell, wie ein Beitrag des Historikers Jür27

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Christian Meier: „Narrativität, Geschichte und die Sorgen des Historikers", in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, hg. v. Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 571-585; Peter Szondi: J ü r eine nicht mehr narrative Historie", in: Ebd., S. 540-542. Ebd., S. 584. Ebd., S. 541. Ebd., S. 542. Alain Robbe-Grillet: Pour un nouveau ronian, Paris 1963.

Historiographie zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierungsvorwurf

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gen Kocka aus dem Jahre 1990 zeigt. Dieser fordert seine Fachkollegen dazu auf, sich - in den Grenzen der Wissenschaftlichkeit - bei der modernen Literatur Anregungen zu holen32. Dass sich die Diskussion um die Modernisierung der Historiographie gerade um den zentralen Begriff der Erzählung drehen musste, liegt auf der Hand: Einerseits ist das Erzählen die historisch nachvollziehbare Gemeinsamkeit von Literatur und Historiographie, die den Vorschlag überhaupt erst legitim erscheinen lässt, dass sich die Geschichtsschreibung nach dem Vorbild der Literatur modernisieren ließe33. Andererseits ist das Erzählen gerade das Hindernis, das vor allem in den Augen vieler Historiker einem wie auch immer zu verstehenden wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch im Wege steht. Dementsprechend lassen sich die Modernisierungsvorschläge folgendermaßen unterscheiden: Die einen fordern, die Historiographie solle die Entwicklungen der fiktionalen Literatur im 20. Jahrhundert berücksichtigen, die anderen wollen das Gegenteil, eine immer stärkere Emanzipation vom Feld der Literatur im Zeichen von mehr Wissenschaftlichkeit. Die Plädoyers für eine Modernisierung der Historiographie nach dem Vorbild der Literatur implizieren jene oben bereits erwähnte historische Verwandtschaft zwischen den beiden Diskursen - eine Verwandtschaft, die ζ. B. in Begriffsanalogien der Art ,nouveau romcm - nouvelle histoire' zum Ausdruck kommt. Allein, es stellt sich die Frage, ob die historisch zweifelsfrei gegebenen Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Anstöße zwischen Literatur und Geschichte die Geschichtsschreibung wirklich unter Druck setzt, sich literarisch modernisieren zu müssen. Die Tatsache, dass die Historiographie einst zur ,schönen' Literatur gehörte, zieht ja nicht den obligatorischen Schluss nach sich, dass sie heute immer noch in einem systemischen oder gar „dialogischen" 34 Verhältnis zur fiktionalen Literatur steht. Dass die beiden Diskurse sich auch heute noch in stetem Austausch miteinander befinden, gilt vor allem in der literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur dennoch als eine Tatsache. So beginnt Eberhard Lämmert einen Aufsatz aus dem Jahre 1990 mit der selbstverständlichen Feststellung: „Das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Roman läßt sich seit mindestens zweihundert Jahren beschreiben als ein Wechsel von Annähe32

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Jürgen Kocka: Bemerkungen im Anschluss an das Referat von Dietrich Harth", in: Geschichte als Literatur, S. 24-28, hier: S. 28. Vgl. Daniel Fulda: „Die Texte der Geschichte. Zur Poetik des modernen historischen Denkens", in: Poetica 31 (1999), H.l-2, S. 27-60, besonders S. 58. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier 1995, hier: Bd. 1,S. 87.

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rung und Abstoßung"35. Doch findet man diese Auffassung auch bei Historikern, etwa bei Carlo Ginzburg, der in der Mentalitäten- und Alltagsgeschichte die Fortsetzung des Projekts einer nicht-offiziellen, unbekannten Geschichte sieht, wie es einige Romanautoren des 19. Jahrhunderts verfolgten36. Mit Blick auf die Verwissenschaftlichung und universitäre Institutionalisierung der Disziplin wäre eine andere Einschätzung der gegenwärtigen Situation denkbar: Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung bleibt zwar weiterhin ihren literarisch-ästhetischen Ursprüngen verbunden, sie hat sich jedoch von den Entwicklungen der Literatur (ζ. B. Selbstreflexivität, avantgardistisches fragmentiertes Erzählen, etwa nach der Art des nouveau romari) weitgehend emanzipiert, weil sie eine andere sozio-kulturelle Funktion erfüllt37. Hans Michael Baumgartner und Jörn Rüsen bringen das Dilemma, das sich aus den Modernisierungen der fiktionalen Literatur für die Geschichtsschreibung ergibt, auf den Punkt: Wenn es so ist, dass die fiktionale Literatur durch einen fundamentalen Wandel ihres Erzählmodus zeitgemäß - anspruchsvoller: auf der Höhe der Zeit - geblieben ist, dann handelt es sich bei diesem Problem filr die Historiographie um die ebenso schlichte wie wichtige Frage ihrer Zeitgemäßheit. Eine Historiographie, die heute noch narrative Deutungsschemata aus der Literatur des 19. Jahrhunderts verwendet, ist unzeitgemäß. Dies dürfte auf allgemeine Zustimmung stoßen; weniger konsensfahige Einsicht allerdings besteht darüber, was heute an die Stelle dieser Erzählmuster 35

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Eberhard Lämmert: „.Geschichte ist ein Entwurf: Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman", in: German Quarterly 63.1 (1990), S. 5-18, hier: S. 5. „Es brauchte ein Jahrhundert, bis die Historiker die Herausforderung annahmen, die von den großen Romanciers des 19. Jahrhunderts - von Balzac bis Manzoni, von Stendhal bis Tolstoi - ausgegangen waren; sie machten sich an Forschungsbereiche, die zuvor vernachlässigt worden waren, und nahmen dabei Erklärungsmodelle zu Hilfe, die subtiler und komplexer waren als die traditionellen." (Carlo Ginzburg: ,ßeweise und Möglichkeiten", in: Natalie Zemon Davis: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Frankfurt a. M. 1984, S. 185-213, hier: S. 202).

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Vgl. Röttgers: „Geschichtserzählung", S. 29 f.: „Jede Wissenschaft - entgegne ich, den Spuren E. Husserls folgend - ist nichts anderes als eine Kultivierung und methodische Disziplinierung eines von der Lebenswelt vorgegebenen Welt- und Handlungsorientierungsbedarfs. Offensichtlich unterscheiden sich die Wissenschaften weniger durch ihre Gegenstände und Methoden [...] als vielmehr dadurch, welche Sorten von Orientierungsbedarf, explizierbar als Fragen oder Fragedimensionen, die einzelnen Wissenschaften ihrer Konstitution von der Lebenswelt her nach befriedigen und durch welche Sorten von Tätigkeiten diese Befriedigungen erzielt werden." - Was hier über den wissenschaftlichen Status der Geschichtswissenschaft gesagt wird, ließe sich auch auf den pragmatischen Unterschied zwischen Literatur und Historiographie beziehen.

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gesetzt werden soll, da doch grundsätzlich die Schemata narrativer Sinnbildung nicht eliminiert werden können, solange Historiographie noch Veränderungen narrativ präsentiert. Hier liegt ein offenes Problem einer Erzählforschung, die sich der Tatsache stellt, dass auch die Geschichtsschreibung Erzählen ist, ebenso wie ein offenes Problem der Historiographie, die die Tatsache nicht verdrängt, dass sie mit der Literatur das Erzählen gemeinsam hat . Damit ist das Spannungsfeld von den Möglichkeiten und Grenzen historiographischer Modernisierung benannt. Wie aber sehen die narrativen Alternativen zum traditionellen' Erzählen nach der Art des 19. Jahrhunderts aus? D a diese Frage nicht auf systematische Weise zu beantworten ist, erscheint es dringend geboten, sollen im weiteren Verlauf dieser Arbeit einige Bücher von Historikern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysiert werden. Die französische Annales-,Schule' bietet sich dazu besonders an, steht sie doch im Ruf, die geschichtswissenschaftliche Praxis inhaltlich wie methodisch einer grundlegenden Revision unterzogen zu haben.

3. D i e f r a n z ö s i s c h e / I w w a / e i - G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g Literaturwissenschaftler, die sich mit Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung auseinandersetzen, analysieren in aller Regel ausschließlich Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert39. Die moderne Historiographie bleibt ein extrem selten untersuchter Gegenstand 40 . Die vorliegende Arbeit

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Hans Michael Baumgartner/Jörn Rtlsen: „ E r t r ä g e der Diskussion", in: Erzählforschung. Ein Symposion, hg. v. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1982, S. 691-701, hier: S. 695 f. Ζ. B. Stephen Bann: The Clothing of Clio. A Study of the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France, Cambridge 1984; Suzanne Gearhart: The Open Boundary of History and Fiction. A Critical Approach to the French Enlightenment, Princeton 1984; Anne Rigney: The Rhetoric of Historical Representation. Three Narrative Histories of the French Revolution, Cambridge 1990. Eine Ausnahme stellt das Buch von Philipp Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier, Baltimore/London 1992, dar. Carrard untersucht anhand eines sehr breiten Textkorpus die Schreibverfahren von ΛΜ/ζα/es-Historikem aus vier Jahrzehnten mit dem Ziel, eine .Poetik' der nouvelle histoire zu erarbeiten: „the study of the rules, codes and procedures that operate in a given set of texts" (S. xi). So reichhaltig diese Studie auch ist, bleibt sie sehr deskriptiv und leistet, schon in Ermangelung einer konkreteren Fragestellung, keine Synthese ihrer Beobachtungen an den Texten. Zudem werden die diversen Schreibstrategien von /In/ia/ej-Historikern losgelöst von ihrem forschungsgeschichtlichen Kontext un-

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widmet sich Texten französischer Annales-YHsX-OTiker und einer amerikanischen Historikerin mit Anbindung an die Pariser Ecole des hautes Etudes en Sciences Sociales. Die Auswahl der Texte erhebt nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Das wäre wohl auch kaum möglich, da die Historiker aus dem Umfeld der 1929 von Lucien Febvre und Marc Bloch begründeten Zeitschrift Annales d'histoire iconomique et sociale41 durchaus keine ,Schule' bilden, sondern in vielfaltigen Forschungsgebieten tätig sind. Das wesentliche Auswahlkriterium ist der Innovationsgedanke, den die Annales in die Geschichtswissenschaft getragen haben: Die Konzeption, was Geschichte ist und wer die Geschichte macht, wie sie der Geschichtswissenschaft von Ranke bis heute ganz überwiegend zugrunde gelegen hat, wandelt sich bei ihnen [den Annates] grundlegend .

Dies wird deutlich an Fernand Braudels ternärem Modell historischer Zeiten, an der polemischen Abkehr von der politischen Ereignisgeschichte und der Erschließung neuer Methoden und Forschungsgebiete durch ,Vernunftehen' (Paul Ricceur) mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Ethnologie. Die Aufmerksamkeit der nouveaux historiens gilt nach wie vor verstärkt der longue duree (jenen sich nur äußerst langsam verändernden biologischen, geographischen, klimatischen, aber auch wirtschaftlichen, demographischen und mentalen Strukturen). Die zeitliche Ebene der erzählbaren menschlichen Handlungen hingegen, die die traditionelle histoire evenementielle ausmacht, galt fortan als die bedeutungsloseste und wissenschaftsuntauglichste - sie ist in den Worten Braudels nichts als

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tersucht - kein einziger Text wird ausfuhrlicher als über zwei bis drei Seiten behandelt. Ab 1946 Amiales. Economies - Societes - Civilisations, seit 1994 Annales. Histoire, Sciences Sociales. Für einen historischen Überblick über die /Iwia/es-Geschichtsschreibung siehe: Traian Stoianovitch: French Historical Method. The Annales Paradigm, Ithaca 1976; Georg G. Iggers: New Directions in European Historiography, Middletown/Connecticut 21984, S. 43-79; Lynn Hunt: „French History in the Last Twenty Years: The Rise and Fall of the Annales Paradigm", in: Journal of Contemporary History 21 (1986), 209-224; Herve Coutau-Begarie: Le phenomene nouvelle histoire. Grandeur et ddcadence des Annales, Paris 21989; Peter Burke: The French Historical Revolution. The Annales School, 1929-89, Cambridge 1990; Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994. Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Uberblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 21996, S. 41.

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une agitation de surface, les vagues que les marees soulevent sur leur puissant mouvement. Une histoire ä oscillations breves, rapides, nerveuses. Ultra-sensible par definition, le moindre pas met en alerte tous ses instruments de mesure. Mais teile quelle, c'est la plus passionnante, la plus riche en humanite, la plus dangereuse aussi. Mefions-nous de cette histoire brülante encore, telle que les contemporains l'ont sentie, decrite, vecue, au rythme de leur vie, breve comme la nötre43. Unter forschungsgeschichtlichem Gesichtspunkt sei bereits an dieser Stelle davor gewarnt, von der Skepsis gegenüber der Zeit der Ereignisse auf eine Annales-typische Anti-Narrativität in der historiographischen Praxis zu schließen. Eine Problematisierung der Erzählung als Form der Erklärung, wie sie in der Philosophie und Geschichtstheorie üblich ist, hat - mit Ausnahme Veynes - im Umfeld der Annales nie stattgefunden. Während Theoretiker und Philosophen wie Danto, Veyne, White, Ricceur und Ranciere jegliche Historiographie durch die Operation der Erzählung fundamental bestimmt sehen, haben die Annales in ihren mitunter sehr polemischen Aufsätzen diese Art der historischen Sinnproduktion und Erklärung stets auf die politische Ereignisgeschichte beschränkt 44 . Diese sah ihre Aufgabe darin, Ereignisse zu sinnvollen Abläufen unter Vermeidung von Verallgemeinerungen zusammenzufassen. Sie schreibt, so F r a n c i s Füret, „le roman vrai des nations" 45 . An dessen Stelle soll nun eine sogenannte histoire-probleme treten, die sich durch ein höheres Maß an Konzeptualisierung und ein explizit gemachtes Erkenntnisinteresse („la bonne question, un probleme bien pose" 46 ) auszeichnet.

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Fernand Braudel: La Mediterranee et le monde mediterraneen a l 'epoque de Philippe II, Paris 1949 (41979). In Auszügen wiederabgedruckt in: Ders.: Ecrits sur l'histoire, Paris 1969, S. 11-13, hier: S. 12. Eine Beurteilung der Ereignisebene kündigt sich indes schon in Droysens Kritik der seiner Meinung nach zu .literarisch' schreibenden Historiker an: „Die Kunst des Historikers überhebt den Leser, an solche Nebendinge zu denken, sie erfüllt seine Phantasie mit Vorstellungen und Anschauungen, die von der breiten, harten, zäh langsamen Wirklichkeit nur die glänzend beleuchteten Spitzen zusammenfassen." (Johann Gustav Droysen: Historik, hg. v. Rudolf Hübner, München/Wien 1977, S. 419; Hervorhebungen A.R.). Siehe dazu: Hayden White: „The Question of Narrative in Contemporary Historical Theory", in: Ders.: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/London 1987, S. 26-57. Francois Furet: „Preface", in: Ders.: L'atelier de l'histoire, Paris 1982, S. 5-34, hier S. 15. Vgl. ders.: „De l'histoire-recit ä l'histoire-probleme", in: Oers.: L'atelier de l'histoire, S. 73-90, hier: S. 76.

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In der Praxis aber greifen die Annales, besonders die in dieser Arbeit behandelten Historiker der sogenannten ,dritten Generation' 47 durchaus häufig auf das Erzählen zurück. Georg G. Iggers spricht gar davon, sie hätten „die strenge Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur relativiert". Es sei ihnen gelungen, „strenge Wissenschaftlichkeit mit guter Literatur zu verbinden und ein breites Publikum zu gewinnen"48. Auf die Annales bezieht sich auch der britische Historiker Lawrence Stone mit seiner These eines „revival of narrative" 49 . Wenn sich die nun folgenden Analysen im wesentlichen auf die Annales-Geschichtsschreibung konzentrieren, so geschieht dies aus dem Grund, dass diese Texte sich besonders gut dazu eignen, Aufschlüsse über historiographische Innovationsmöglichkeiten zu gewinnen: Le dimanche de Bouvines50 stellt eine Auseinandersetzung mit der für die Geschichtswissenschaft zentralen Kategorie des Ereignisses dar. Georges Duby erhebt für diesen Text den Anspruch, eine Ereignisgeschichte geschrieben zu haben, ohne dabei dem Vorbild des traditionellen' historischen Erzählens gefolgt zu sein. Da ein Ereignis aber nicht denkbar ist ohne irgendeine Art der Erzählung, stellt sich die Frage, welche Form diese Erzählung bei Duby annimmt. Emmanuel Le Roy Laduries Les paysans de Languedoc1 ist erstens ein Beispiel für die quantitative respektive serielle Geschichtsforschung und zweitens der Entwurf einer histoire totale in einem begrenzten geographischen Rahmen. Die Analyse wird sich dementsprechend auf zwei Fragen konzentrieren. Erstens: Gibt es Forschungsmethoden und -gegenstände, die sich nicht mit einer Erklärung historischen Wandels durch Erzählung vereinen lassen? Zweitens: Welche Kriterien gewährleisten die ,Vollständigkeit' einer histoire totale? Bei La naissance du Purgatoire52 handelt es sich um die ,Biographie' einer kollektiven Vorstellung in der longue duree. Der Text ist ein Beispiel für eine Geschichte des Imaginären, womit sich Jacques Le Goff explizit 47 48

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Diese Bezeichnung ist allgemein üblich, vgl. Stoianovitch: French Historical Method, S. 40; Burke: The French Historical Revolution, S. 65. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 50 und S. 44. Vgl. auch Raphael: Die Erben, S. 15 ff. Lawrence Stone: „The Revival of Narrative", in: Past and Present 85 (1979), S. 3-24. Siehe auch Hobsbawm, Eric: „The Revival of Narrative. Some Comments", in: Past and Present 86 (1980), S. 3-8. Georges Duby: Le dimanche de Bouvines 27 juillet 1214, Paris 1973. Emmanuel Le Roy Ladurie: Les paysans de Languedoc, 2 Bde., Paris 1966. Jacques Le Goff: La naissance du Purgatoire, Paris 1981.

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von einer traditionellen' Ideen- und Geistesgeschichte abgrenzt. Der Text wirft die Frage auf, was aus den Kategorien , Ereignis' und ,Handlung' wird, wenn sich eine Erzählung über einen Zeitraum von 1000 Jahren erstreckt. Für viele Historiker hat Natalie Zemon Davis mit ihrem Buch The Return of Martin Guerre53 eine Grenze überschritten, nämlich die zwischen Fakten und Fiktionen. Viele Kritiker halten den Anteil des Fiktiven an Davis' Rekonstruktion eines berühmten Falls aus dem Languedoc des 16. Jahrhunderts für viel zu hoch54. Der Text eignet sich deshalb besonders gut für eine Erhellung der Frage nach den Funktionen der Vorstellungskraft in der Historiographie, zwischen Unverzichtbarkeit und Kontrollierbarkeit. Da sich die Forschungsansätze in allen Texten explizit von traditionellen' Formen der historischen Forschung (d. h. Ereignisgeschichte und Geistesgeschichte) absetzen, sich also durch ein hohes Problembewusstsem auszeichnen, ist zu erwarten, dass auch die Erzählverfahren Innovationsmomente beinhalten. Damit ist diesen Texten das schwierige Verhältnis von Geschichte, Literatur und Erzählung formal eingeschrieben. So hoffe ich, dass die folgenden Überlegungen und Analysen für beide Seiten von Interesse sind: Für Historiker, insofern die Notwendigkeit, das erforschte Wissen als Geschriebenes mitteilbar zu machen, konstitutiver Bestandteil ihrer Arbeit ist, für Literaturwissenschaftler, insofern die Anwendbarkeit eines literaturwissenschaftlichen Instrumentariums auf moderne nichtfiktionale Texte überprüft wird.

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Natalie Zemon Davis: The Return of Martin Guerre, Cambridge, Massachusetts/ London 1983. Auf französisch ist das Buch ein Jahr früher erschienen (Le retour de Martin Guerre, Paris 1982). Siehe dazu im einzelnen Kapitel 3.4.

II. Geschichte und Erzählung in der Theorie Der Aufstieg des Themas ,Geschichte und Erzählung' begann Mitte der sechziger Jahre mit Louis O. Mink, William B. Gallie und Arthur C. Danto1. Einen polemischen Höhepunkt erreichte die Debatte mit Hayden Whites Metahistory im Jahre 1973. Das lag vor allem an Whites These, das ,Faktische' der Geschichtsschreibung sei nichts als eine ,Fiktion' und unterscheide sich nicht von den in der fiktionalen Literatur angewandten Strategien der Sinnproduktion. Seitdem kommt kein Theoretiker oder Philosoph der Geschichte an der Frage vorbei, wie er es denn mit der Unterscheidung der beiden Diskurse halte. Das Spektrum reicht dabei von einer radikalen Einebnung des Unterschieds zwischen Fiktion und Historiographie bis hin zu der strikten Überzeugung, die beiden Erzählungen ließen sich aufgrund textimmanenter Merkmale kategorial unterscheiden. Im folgenden werde ich mich nicht dem hofihungslosen Unterfangen widmen, einen vollständigen Abriss der Debatte um Geschichte und Erzählung zu liefern2. Ebenso wenig liegt mir daran, die Grenzen zwischen Historiographie und Fiktion systematisch festzuschreiben, sind die geschichtswissenschaftlichen Schreibkonventionen doch einem steten historischen Wandel unterworfen. Ich werde mich vielmehr auf jene Aspekte beschränken, die von Bedeutung für die im dritten Kapitel folgenden Analysen historiographischer Texte sind. Es geht mir erstens um die Erörterung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der fiktionalen und der historischen Erzählung in zwei Dimensionen: deijenigen der narrativen Konfiguration (II.l.) und deijenigen der erzählerischen Vermittlung (II.2.). 1

Louis Mink: „The Autonomy of Historical Understanding", in: History and Theory 5,1 (1965), S. 24^7; William B. Gallie: Philosophy and the Historical Understanding, New York 1964; Arthur C. Danto: Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965. Einen knappen theoriegeschichtlichen Abriss liefert die vom Herausgeber verfasste Einleitung des Sammelbandes Theorie der modernen Geschichtsschreibung, hg. v. Pietro Rossi, Frankfurt a. M. 1987, S.7-24. Ein ausführlicher Überblick über den anglo-amerikanischen Raum findet sich bei Gerhild Scholz Williams: „Geschichte und literarische Dimension. Narrativik und Historiographie un der anglo-amerikanischen Forschung der letzten Jahrzehnte. Ein Bericht", in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft 63, H.2 (1989), S. 315-392, sowie bei Paul Ricceur: Temps et recit, Paris 1983, Bd. 1, S. 203-246.

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Zweitens ist zu klären, was die in den verschiedenen Theorien entwickelten Kategorien für die Analyse historiographischer Texte leisten3. 1. Narrative Konfigurationen von Geschichte Die beiden in diesem Unterkapitel behandelten Autoren zeichnen sich durch zwei Gemeinsamkeiten aus: Sie gehen zum einen davon aus, dass eine Folge von Ereignissen nicht aus sich heraus einen Sinn ergibt, sondern erst dadurch, dass diese Ereignisse zu einer Geschichte zusammengefügt werden. Es ist die Erzählung, die eine Okkurenz (einen einzigartigen, nicht wiederholbaren Vorfall) dem Bereich des Kontingenten entreißt und ihm allererst eine Bedeutung gibt. Diese Bedeutung hängt ganz entschieden von der Positionierung des einzelnen Elements im narrativen Syntagma (Anfang - Mitte - Ende) ab. Die Retrospektivität jeder Erzählung ermöglicht es erst, einem Ereignis beispielsweise die Bedeutung eines Wendepunkts in einer gegebenen Entwicklung zu geben. ,Erzählen' ist daher stets schon , Erklären'. a) Hayden Whites extremer Relativismus Mit Hayden White erreichte der linguistic turn die Theorie der Geschichtsschreibung. Der amerikanische Literaturtheoretiker vertritt in Metahistory und zwei späteren Aufsatzsammlungen4 die These, dass die Formen der Geschichtsschreibung nicht etwa der Kognition folgen, sondern unbewusst' immer schon vorhandenen poetischen Wahrnehmungsmustern. Deshalb seien historiographische Texte literarische Kunstwerke' („verbal artifacts" und „verbal fictions") zu nennen. Seine Überlegungen zur „deep structure of the historical imagination"5 haben ihren Ausgangspunkt in der ebenso 3

4

Ein historischer Aufriß der in den letzten Jahrzehnten breiter rezipierten Theorien milßte eigentlich mit Arthur C. Danto beginnen. In seiner Analytical Philosophy of History zeigt er, dass die Erzählung (die von ihm sogenannten .narrativen Sätze') besonders gut geeignet ist, historischen Wandel zu erklären. Da er sich aber nicht explizit mit der Unterscheidung von historischer und fiktionaler Erzählung befaßt, beginnt der folgende Überblick mit Hayden Whites Metahistory. Dantos Generalschema einer Erzählung behält gleichwohl seine Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Siehe dazu den Schluß dieses Kapitels. Hayden White: Tropics of discourse, Baltimore/London 1978; Ders.: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/London 1987. White: Metahistory, S. ix.

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schlichten wie zutreffenden Beobachtung, dass historische Erzählungen nicht weniger als fiktionale Erzählungen sprachlich verfasst sind. Sprache aber sei niemals ein neutrales und transparentes Medium, sondern sei als Ding in der Welt, und als solches stets bereits mit figurativen, tropologischen und generischen Inhalten versehen. Die Erkenntnisse der Historiker seien daher keine empirisch gewonnenen, sondern erzählend erfundene. Noch bevor ein Historiker damit beginnt, dem Erforschten eine sprachliche Form zu geben, sind bereits unbewusste sprachliche Wahrnehmungsmuster am Werk - als „precritically accepted"6 ästhetisches Paradigma. Der Historiker verfahrt also, wenn er schreibt, nicht anders als der Romancier: Er stellt Sinn her, indem er disparates ,Rohmaterial' (Personen, Handlungen, Ereignisse, etc.) zu einer sinnmachenden Erzählung synthetisiert. Den möglichen Einwand, der Historiker ,finde' seine Geschichten, während der Romanautor die seinen ,erfinde', weist White mit dem Argument zurück, auch der Historiker performs an essentially poetic act, in which he prefigures the historical field and constitutes it as a domain upon which to bring to bear the specific theories he will use to explain "what was really happening" .

Bedeutung sei nie den Ereignissen selbst inhärent, sondern eine Eigenschaft der sprachlichen und der Plotstrukturen - daher der Titel der Aufsatzsammlung aus dem Jahr 1987: The Content of the Form. Da sich White zufolge die Erklärungskraft einer Erzählung nicht von ihrem Inhalt (,reale' oder ,erfundene' Ereignisse) her verstehen lässt, verschwindet der Unterschied zwischen Historiographie und Fiktion: In point of fact, history - the real world as it evolves in time - is made sense of in the same way that the poet or the novelist tries to make sense of it, i.e., by endowing what originally appears to be problematical and mysterious with the aspect of a recognizable, because it is a familiar, form. It does not matter whether the world is conceived to be real or only imagined; the manner of making sense of it is the same8.

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Ebd. Ebd., S. χ. Hayden White: „The Historical Text as Literary Artifact", in: Ders: Tropics of Discourse, S. 81-100, hier: S. 98. Vgl. auch die folgende Behauptung Whites an anderer Stelle: „What I have sought to suggest is that this value attached to narrative in the representation of real events arises out of a desire to have real events display the coherence, integrity, fullness, and closure of an image of life that is and can only be imaginary. The notion that sequences of real events possess the formal attributes of the stories we tell about imaginary events could only have its origin in wishes,

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Das Verfahren, mittels dessen Sinn hergestellt wird, nennt White emplotment. Darunter versteht er „the encodation of the facts contained in the chronicle as components of specific kinds of plot structures" 9 . Bei diesen handelt es sich um kulturell vorgeprägte Muster, archetypische Erzählformen10. White entnimmt sie Northrop Fryes 1957 erschienener Anatomy of Criticism. Der Historiker trifft demnach eine mehr oder weniger bewusste Wahl zwischen vier narrativen Mustern, die er den tatsächlichen Ereignissen ,überstülpt'. Eine Geschichte zu verstehen, bedeutet nachzuvollziehen, warum sie so endet, wie sie endet, und dies setzt die Identifikation einer der vier prägenerischen Plotstrukturen durch den Leser voraus11: Die Romanze {romance), als eine Art Erlösungsdrama, handelt von der Selbstfindung des guten Helden, der über das Böse siegt. Die Satire ist Ungenauer Gegensatz: Der Mensch ist darin ein Gefangener der Welt und der ,dunklen Mächte', sein Wille vermag nichts auszurichten. Die Handlungsstruktur der Komödie ermöglicht die Darstellung einer wenigstens vorübergehenden Versöhnung zwischen Gesellschaft und Natur. Die Tragödie schließlich kennt nur den unausweichlichen Untergang des Helden und verdeutlicht den Zuschauern bzw. Lesern die ,Gesetze des Daseins'. Jede beliebige Ereignissequenz ist prinzipiell in jeder Plotstruktur darstellbar und damit offen für verschiedene Bedeutungen. Ja, die Möglichkeit von mindestens zwei Versionen ist sogar eine Voraussetzung dafür, dass sich der Historiker überhaupt für befugt hält, die ,Wahrheit' vergangenen Geschehens schildern zu können12. Jede Verknüpfung gibt den Ereignissen einen anderen Sinn. Da alle ,Versionen' gleich entfernt vom ein für allemal verlorenen ,Original', dem vergangenen Geschehen, sind, besteht auch kein Grund, einer Erzählung mehr Glauben zu schenken als einer anderen13.

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daydreams, reveries." (White: „The Value of Narrativity in the Representation of Reality", in: Ders.: The Content of the Form S. 1-25, hier: S. 24). Hayden White: „The Historical Text as Literary Artifact", in: Ders: Tropics of Discourse, S. 83. White: Metahistory, S. 8. Ebd., S. 21-25. Vgl. White: The Content of the Form, S. 20. Vgl. auch White: Metahistory, S. 21: „Providing the ,meaning' of a story by identifying the kind of story that has been told is called explanation by emplotment. If, in the course of narrating his story, the historian provides it with the plot structure of a Tragedy, he has ,explained' it in one way; if he has structured it as a Comedy, he has .explained' it in another way. Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind". - Als Beispiele führt White an anderer Stelle die Geschichten der Französischen Revolution

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Noch vor der - mehr oder weniger bewussten - Entscheidung für ein Plotstruktur nimmt die oben bereits angesprochene Präfigurierung des historischen Feldes mittels eines ,poetischen Akts' eine von vier verschiedenen sprachlichen Formen an, welche die - eben nur vermeintlich rationalen Verbindungen zwischen den Inhalten der Darstellung herstellen. Es handelt sich um die rhetorischen Tropen Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie14. Eine jede der oben genannten Plotstrukturen hat eine ,Affinität' zu einer der Tropen, wodurch sich die folgenden Paare ergeben: Romanze Metapher, Komödie - Synekdoche, Tragödie - Metonymie, Satire - Ironie. Darüber hinaus verbindet White jede Erzählstruktur mit einem „Mode of Argument" und einem „Mode of Ideological Implication"15. Die Matrix, die sich aus diesen Kombinationsmöglichkeiten ergibt, ist nicht als strenge Taxonomie zu verstehen, sondern als Abbildung von .Wahlverwandtschaften'. Die Kombinationsmöglichkeiten sind nicht unbegrenzt, aber vielfaltig. Einige Kombinationen sind jedoch ausgeschlossen, ζ. B. Komödie und mechanistische Argumentation. Whites Theorie der historischen Erzählung fand große Aufmerksamkeit in den Geisteswissenschaften, sie rief aber auch starken Widerstand hervor. Der nächstliegende Einwand gegen die Nivellierung des Unterschieds zwivon Michelet und Tocqueville an: „Thus, for example, what Michelet in his great history of the French Revolution construed as a drama of Romantic transcendence, his contemporary Tocqueville emplotted as an ironic Tragedy. Neither can be said to have had more knowledge of the ,facts' contained in the record; they simply had different notions of the kind of story that best fitted the facts they knew. Nor should it be thought that they told different stories of the Revolution because they had discovered different kinds of facts, political on the one hand, social on the other. They sought out different kinds of facts because they had different kinds of stories to tell. But why did these alternative, not to say mutually exclusive, representations of what was substantially the same set of events appear equally plausible to their respective audiences? Simply because the historians shared with their audiences certain preconceptions about how the Revolution might be emplotted, in response to imperatives that were generally extra historical, ideological, aesthetic, or mythical" (White: „The Historical Text as Literary Artefact", in: Ders: Tropics of Discourse, S. 85). Einige Jahre später hat White diese These der absoluten Kontingenz relativiert. Der Vorwurf lautete, seine Theorie öffne Tor und Tür für die Leugner des Holocaust. White räumte daraufhin ein, dass ein historischer Gegenstand bestimmte />/of-Strukturen durchaus ausschließen könne. Der Holocaust sei eben nicht als Komödie darstellbar. (Hayden White: „Historical Emplotment and the Problem of Truth", in: Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation: Nazism and the ,Final Solution', Cambridge/Massachusettes 1992, S. 37-52). 14 15

White: Metahhtory, S. 31-38. Ebd., S. 29.

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sehen Historiographie und Fiktion betrifft Whites Verwendung des Begriffs fiction16. White benutzt ihn synonym zu ,narrativer Konfiguration', und nicht im Sinne von ,fingieren'. Die narrative Form eines Textes reicht aber nicht aus, um einen Text dem Bereich der Fiktion zuzuschlagen. Journalistische Texte, Alltagserzählungen und juristische Rekonstruktionen eines Tathergangs wären als Gegenbeispiele zu nennen. Den Kritikern, die diesen Einwand vorbringen, muss man gleichwohl wiederum entgegenhalten, dass diese begriffliche Besonderheit Whites zentrales Argument nicht schwächt, welches besagt, dass auch Historiker ihre - im Untertitel von Metahistory angesprochene - Einbildungskraft (imagination) zum Einsatz bringen, wenn sie vergangene Ereignisse zu einer verständlichen Geschichte synthetisieren. Schwerer wiegen drei andere Einwände: Erstens beruht Whites Systematik ausschließlich auf der Analyse historiographischer und geschichtsphilosophischer Texte des 19. Jahrhunderts (Michelet, Ranke, Tocqueville, Burckhardt). Zweitens vernachlässigt er den Aspekt der erzählerischen Vermittlung, und damit die kritische Selbstreflexivität der historischen Erzählung, die über den bloßen selbsterklärenden Charakter einer plausiblen Geschichte hinausgeht. Dies mag für historische Erzählungen des 19. Jahrhunderts mit den in ihnen dominierenden covert narrators17 noch angehen, nicht jedoch für solche aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dort stößt man häufig auf overt narrators, die ihr Vorgehen explizit machen und den institutionellen und sozialen Ort, von dem aus sie schreiben, nicht verbergen. In dieser Offenheit ist der ,Wahrheits'-Anspruch - im Sinne von , Überprüfbarkeit' - der Historiographie zu suchen, und nicht in den vorbewussten narrativen Strukturen18. Dass sich White fur diesen As-

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Vgl. ζ. B. Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier 1995, Bd. 1, S. 142; Ute Daniel: „Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 195-218, 259-278, hier: S. 275. Die Termini covert narrator und overt narrator stammen von Seymour Chatman. (Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, New York 1978).

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Um einen möglichen Einwand an dieser Stelle vorwegzunehmen: Selbstverständlich gibt es auch Erzählungen mit Wahrheitsanspruch, die keinen overt narrator und keine kritische Selbstreflexivität aufweisen. Für die journalistische Erzählung gilt, dass sie zwar einen covert narrator aufweist (besonders im Falle kurzer Meldungen), dass sie aber Angaben über die Informationsquellen beinhaltet (ζ. B.: „wie aus Regierungskreisen verlautete"). Für die Alltagserzählung wiederum gelten ohnehin andere Re-

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Geschichte und Erzählung in der Theorie

pekt historiographischer Rekonstruktionen nicht interessiert, liegt wohl daran, dass er der Geschichtswissenschaft keine Fachsprache im Sinne der Naturwissenschaften zugesteht. Damit finden auch überprüfbare Konzepte und Begriffe keinen Eingang in seine Theorie der Geschichtsschreibung. Drittens wird weder deutlich, warum ausgerechnet Fryes vier Erzähltypen geeignet sein sollen, die Historiographie systematisch zu beschreiben, noch lassen sich die Korrelationen innerhalb der oben zitierten Matrix empirisch nachvollziehen. Sie wirken stattdessen schlicht apodiktisch19. Wenn auch nicht vollständig auszuschließen ist, dass sich Whites Kombinationen aus Plotstrukturen, Tropen, Argumentationsformen und ideologischen Implikationen auch in der jüngeren Historiographie ausmachen lassen, so scheinen mir die Erfolgsaussichten eines solchen Unternehmens doch äußerst gering20. Whites zentrale These von der Umkehrung des Verhältnisses von Forschungsarbeit und Schreiben bleibt indes diskussionswürdig und hat nichts von ihrer Bedeutsamkeit verloren. Darüber hinaus war er wohl der erste, der das Augenmerk der Literaturkritik auf den Gebrauch sprachlicher Bilder in der Historiographie gelenkt hat. Im folgenden werde ich auf das Werk Paul Ricceurs eingehen, das gegenüber Whites Theorie einen zweifachen Vorzug besitzt: zum einen einen wesentlich einfacheren und damit anwendungsfreundlicheren Erzählbegriff, zum anderen das Festhalten an einer coupure epistemologique zwischen der historischen und der rein selbsterklärenden Erzählung21.

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geln, da sie mündlich ist. Hier muß jeder Sprecher mit kritischen Rückfragen seitens seiner Zuhörer rechnen (ζ. Β.: ,Woher weißt du das?'). Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: „Tropologie, Narrativik, Diskurssemantik. Hayden White aus literaturwissenschaftlicher Sicht", in: Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, hg. v. Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Frankfurt a. M. 1993, S. 355-361, bes. S. 357. Mir ist im übrigen kein einziger solcher Versuch bekannt. Paradoxerweise hat gerade Whites Systematik, die allseits als bahnbrechend filr die Analyse historiographischer Rhetorik bewertet wird, keine wirklich konkrete Anwendung in späteren Studien gefunden. Wenigstens kurz erwähnen möchte ich an dieser Stelle das Buch des französischen Althistorikers Paul Veyne, Comment on ecrit l'histoire (Paris 1971). Obgleich zwei Jahre vor Metahistory erschienen, findet es bei White keine Erwähnung, während Ricceur in Temps et recit im wesentlichen einer Meinung mit Veyne ist. Auch Veyne bezweifelt grundsätzlich die Wissenschaftlichkeit der Geschichte. Da sie wie alle geisteswissenschaftlichen Gegenstände dem Bereich des „Sublunaire" angehöre, habe sie keine Methode und keine Terminologie, die denjenigen in den nomologischen Wissenschaften vergleichbar wären. Geschichte sei „rien qu'un recit veridique" (so der Titel des ersten Kapitels) oder auch „un roman vrai" (S. 10): „Expliquer, de la

Geschichte und Erzählung in der Theorie b) Paul Ricceur: die synthese

de l

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'heterogene

Obgleich weniger radikal als White, attestiert auch Ricoeur der historischen Erzählung eine enge Verwandtschaft zur fiktionalen Erzählung, und zwar in der Perspektive einer hermeneutisch-phänomenologischen Philosophie der Zeit. Sein dreibändiges Werk Temps et recit22 ist, wenn wir Hayden White folgen wollen, der bedeutendste Beitrag zu der uns beschäftigenden Debatte 2 3 . Ricoeurs zentrale These besagt, dass die menschliche Zeiterfahrung durch Erzählung allererst möglich wird, unabhängig von wandelbaren historischen und kulturellen Kontexten. Sein Plädoyer für die Erzählung ist indes nicht zu verwechseln mit einer Verteidigung der traditionellen Ereignisgeschichte. Unter einer Erzählung versteht er die Synthese disparater Elemente zu einer abgeschlossenen Geschichte nach dem Vorbild des aristotelischen mythos. Die menschliche Zeit ist das Produkt einer Überschneipart d'un historien, veut dire ,montrer le deroulement de rintrigue, le faire comprendre'" (S. 112). Der Historiker macht genau genommen nicht die Ereignisse, sondern die Intrige verständlich, und diese Intrige folgt - fern jeder Wissenschaftlichkeit - dem Gesetz des aristotelischen Wahrscheinlichen: „[...] les faits n'existent que dans et par des intrigues ού ils prennent Γ importance relative que leur impose la logique humaine du drame" (S. 78). Es sei daher unvermeidlich, dass die Subjektivität des Historikers in die Historiographie eingeht. Dies betrifft v. a. die Wahl des Gegenstands sowie das Relevanzkriterium, nach dem die Ereignisse im narrativen Akt selektiert und perspektiviert werden. Ereignisse bezeichnen die Historizität, über die es schon Erzählungen gibt, Nicht-Ereignishaftigkeit hingegen ist diejenige Historizität, derer wir uns noch nicht bewusst sind, was soviel bedeutet wie: worüber es noch keine Erzählung gibt. Die Kontingenz der Entscheidung für die Auswahl dieser und die Vernachlässigung jener Ereignisse sowie für ein bestimmtes Relevanzkriterium hat weitreichende Konsequenzen für den Begriff der Geschichte: Sie ist nichts als das Undefinierte Feld, in dem sich die verschiedenen Serien bzw. Erzählungen überkreuzen. Da deren Zahl aber wiederum unendlich ist, und da sie sich nicht hierarchisch anordnen lassen („un chaos semblable ä l'agitation d'une grande ville vue d'avion"; S. 43), taugt der Kollektivsingular allenfalls noch als ein Regulativ, ein „principe heuristique", das alles beinhaltet, was durch eine Erzählung zum Ereignis werden kann, weshalb Veyne dem entsprechenden Kapitel in seinem Buch die Überschrift gibt: „Tout est historique, done l'histoire n'existe pas". - Die weitgehende Übereinstimmung mit Whites Grundannahmen dürfte deutlich geworden sein, ein m.E. wichtiger Unterschied besteht jedoch in dem, was Veyne „l'allongement du questionnaire" (S. 281 ff.) nennt. Wenn die Geschichte auch keine Methode kennt, so besitzt sie doch eine Kritik. Die allein mögliche Rationalität der Geschichte beschränkt sich auf die wissenschafts- und historiographiegeschichtlich fortschreitende Begriffsbildung. 22

Paul Ricoeur: Temps et recit, 3 Bde., Paris 1983-85. Hayden White, „The Metaphysics of Narrativity: Time and Symbol in Ricoeurs Philosophy of History", in: Ders.: The Content of the Form, S. 169-184.

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Geschichte und Erzählung in der Theorie

dung zweier Arten der Erzählung, die in einem Ableitungszusammenhang zueinander stehen, der fiktionalen und der historischen. Sie unterscheiden sich durch die Referenz, prinzipiell aber liegt beiden dasselbe Erzählmodell zugrunde: eine synthese de l 'heterogene (auch mise en intrigue oder agencement des faits genannt). Wie die Metapher24 leistet auch die Erzählung eine semantische Innovation, indem sie heterogene Okkurenzen zu bedeutungsvollen Ereignissen macht25. Die Erzählung ist also nicht einfach ,Nachahmung', sondern ein schöpferisches Prinzip der Welterschließung. Sie ist eine concordance discordante, insofern sie Diskordanz als Peripetie in die Konkordanz der Fabel integrieren kann. Der mimetische Akt besteht aus drei Schritten: Die eigentliche mise en intrigue steht als mimesis II zwischen der mimesis I (Vorverständnis von Zeit und Handlung) und der mimesis III (,Refiguration' von Zeit und Handlung durch den Rezipienten, der Gadamerschen ,Anwendung' vergleichbar)26. Temps et redt will eine Antwort auf die Frage ,Was ist die Zeit?' liefern. Die historische ebenso wie die fiktionale Erzählung leisten einen jeweils spezifischen Beitrag für das, was Ricceur die ,Rekonfiguration der menschlichen Zeit' nennt27. ,Historische Erzählung' ist in der Definition Ricceurs durchaus kein Synonym für Historiographie, selbst wenn man der Überzeugung wäre, dass diese stets eine Erzählung ist28. Die beiden für die vorliegende Arbeit bedeutsamen Aspekten de Ricoeurschen synthese de l 'hetirogene betreffen die Kategorie des Ereignisses sowie die coupure epistemologique, die die Historiographie über den bloßen Nachvollzug einer Geschichte hinaushebt. Die beiden Konzepte dürfen als nützliche Prämissen für die Analyse historiographischer Texte gelten, die auch unter Ausblendung der ontologischen Problematik ihre Berechtigung behalten. Bei Ricceur findet sich eine Beobachtung zur Kategorie des Ereignisses, die man bei White vergeblich sucht. Dieser beschäftigt sich ausschließlich 24

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Paul Ricceur: La metaphore vive, Paris 1975. Ricceur: Temps et recit, Bd. 1, S. 55-84. Vgl. auch ders: „Contingence er Rationalite dans le Recit", in: Studien zur neueren französischen Phänomenologie. Ricceur, Foucault, Derrida, hg. v. Ernst Wolfgang Orth, München 1986 (Phänomenologische Forschungen 18), S. 11-29, bes. S. 11 f. Ricceur: Temps et recit, Bd. 1, S. 85-136. „Je vois dans les intrigues que nous inventons le moyen priviligie par lequel nous reconiigurons notre experience temporelle confuse, informe et, ä la limite, muette [...]" (ebd., S. 13). Dennoch halte ich die synonyme Verwendung für legitim, da der Begriff recit historique in den Texten französischer Autoren (ζ. B. Benveniste) bereits seit den sechziger Jahren im Sinne von .Geschichtsschreibung' verwendet wird.

Geschichte und Erzählung in der Theorie

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mit der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, nicht aber mit jenen modernen historiographischen Erscheinungsformen, an denen sich jede Theorie der historischen Erzählung erst zu behaupten hat, beispielsweise der Strukturgeschichte. Wenn Geschehen erst durch eine Erzählung zum Ereignis wird, dann ist daraus die Konsequenz zu ziehen, dass die Fabel zum Maßstab des Ereignisses wird. Dies bedeutet, dass das Ereignis nicht notwendigerweise ,kurz' und explosionsartig' sein muss, denn es ist ja eine Variable der Fabel29. Mit anderen Worten: Die Kategorie des Ereignisses ist auch, jenseits der ,schnellen' Zeit der Individuen, in der longue duree von fundamentaler Bedeutung für die Erklärung von historischem Wandel. In diesem Zusammenhang verweist Ricceur auf die Möglichkeit des Historikers, selbst extrem langsame Veränderungen durch einen „effet d'acceleration cinematographique"30 zu quasi-evenements zu stilisieren. Dieselbe Proportionalitätsregel gilt für Figuren innerhalb einer Intrige, die qucisi-personnages. Jeder oder jedes kann diese Funktion erfüllen: eine Institution, eine Mentalität, eine Struktur - unter der Voraussetzung, dass es sich als Subjekt in einen Satz der Form „X fait R" integrieren läßt31. Der andere uns hier interessierende Aspekt ist die von Ricceur so genannte coupure epistemologique zwischen einer selbsterklärenden Erzählung und der historischen Erzählung, die eben diesen narrativen Erklärungsprozess auf dreifache Weise zu ihrer eigenen Problematik erhebt: in der Begriffsbildung, im Streben nach Objektivität und in der kritischen Reflexion32. Damit ist nichts anderes angesprochen als die Diskursivität der Geschichtsschreibung, welche bewirkt, dass der Autor qua Konvention die 29 30 31

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„L'evenement, pour nous, n'est pas necessairement bref et nerveux ä la fai^on d'une explosion. II est une variable de Γ intrigue" (ebd., S. 303). Ebd., S. 157. Ebd., S. 275. Siehe dazu auch: Ebd., S. 313: „Par quasi-evenements, nous signifions que l'extension de la notion d'evenement, au-delä du temps court et bref, reste correlative ä l'extension semblable des notions d'intrigue et de personnage. II y a quasi-evenement lä oü nous pouvons discemer, meme tres indirectement, tres obliquement, une quasi-intrigue et des quasi-personnages". - Vgl. auch die folgende pointierte Formulierung Jacques Rancieres: „[...] l'histoire n'est, en demiere instance, susceptible que d'une seule architecture, toujours la meme: il est arrive une serie d'evenements ä tel ou tel sujet. On peut choisir d'autres sujets: la royaute au lieu des rois, les classes sociales, la Mediterranee ou l'Atlantique plutöt que les generaux et les capitaines. On η'en affrontera pas moins le saut dans le vide contre lequel les rigueurs d'aucune discipline auxiliaire n'apportent de garantie: il faut nommer des sujets, il faut leur attribuer des etats, des affections, des evenements" (Jacques Ranciere: Les noms de I 'histoire, Paris 1992, S. 9). Ricoeur: Temps etRecitl, S. 247 ff.

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Verantwortung fur die Rede des Erzählers zu übernehmen hat. Ricoeur schlägt die Fähigkeit, einer Intrige zu folgen (Gallies follow ability), einer intelligibilite du recit zu, während die erklärenden Rekonstruktionen des Historikers im Verhältnis dazu einen „discours de second degre" darstellen und als solche Ausdruck einer rationalite du recit sind33. Denn obgleich der Historiker keine Erklärungen im naturwissenschaftlichen Sinne gibt, steht ihm doch eine Fachsprache mit erkenntnisleitenden Begrifflichkeiten zur Verfügung (Paul Veynes ,Fragebogen'). Diese Begrifflichkeiten entstammen stets der Gegenwart des Forschers, weshalb sie einen Riß zwischen seiner Rede und den Erfahrungen der Menschen der Vergangenheit markieren34. Der Vorteil von Ricceurs coupure epistemologique gegenüber Whites Theorie der Tropen und emplotments besteht darin, dass sie plausibel zu machen vermag, dass historiographische Texte zwar literarische Kunstwerke' sind, dass sie aber zusätzlich spezifischen diskursiven Regeln folgen, welche sie von fiktionalen Texten unterscheidbar machen. Wenn auch nicht auszuschließen ist, dass ein Autor diese Selbstproblematisierung fingiert (schließlich darf die Fiktion alles - wie Wolfgang Hildesheimer mit seiner fiktiven historischen Biographie Marbot bewiesen hat35), so lässt sich doch die Vermutung formulieren, dass dieser diskursive Zwang Eingang in die Gestalt historiographischer Texte findet und spezifische Plausibilisierungsstrategien hervorbringt.

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Ricoeur: „Contingence et Rationalite", S. 18. „Meme lorsque l'histoire s'efforce de rendre compte de la faijon dont les hommes du passe se sont compris eux-memes, sa täche n'est pas de repeter, de re-raconter, mais de construire im discours de second ordre, qui reconstruit le discours de premier ordre selon les criteres de sens possibles aux savants d'aujourd'hui" (ebd., S. 23). Siehe dazu Dorrit Cohn: „Breaking the Code of Fictional Biography: Wolfgang Hildesheimer^'s Marbot, in: Dies.: The Distinction of Fiction, Baltimore/London 1999, S. 7995, hier S. 93: „Clearly the effect of the work depended on a complex, if not a perverse, manipulation of the reader". Diese besteht darin, dass Hildesheimer die Konventionen und kognitiven Beschränkungen eines Historiker-Biographen bis ins Detail fingiert. Der Journalismus kennt vergleichbare Fälle, etwa den Skandal um den Schweizer Journalisten Tom Kummer, der im Frühjar 2000 beschuldigt wurde, Schauspieler-Interviews und Reportagen aus Hollywood an deutsche Magazine, u. a. das Süddeutsche Magazin, verkauft zu haben. In der Tat hatten einige Interviews nie stattgefunden, sondern waren von Kummer aus anderen Quellen zusammengestellt oder einfach erfunden worden. In Stellungnahmen zu den Vorwürfen bezeichnete sich Kummer vorsichtig als „Literat". Dass die Texte nicht der Wahrheit entsprachen, war ihrer Struktur nicht anzusehen. Es bedurfte außertextueller Evidenz, um den Schwindel aufzudecken. (Siehe dazu: Süddeutsche Zeitung 27728. Mai 2000, S. 21 f.).

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2. Historiographie als Problem der strukturalistischen Erzählforschung36 a) Roland Barthes' „Discours de l'histoire" Auf strukturalistischer Seite war Roland Barthes der erste, der sich dem Problem des historischen Erzählens widmete. Sein semiotisches Unternehmen in dem weit verbreiteten Aufsatz „Le discours de l'histoire"37 ist im

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Die vorstrukturalistische Literaturkritik ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Unterschied zwischen fiktionaler und historischer Erzählung für einen ontologischen hält (sofern sie sich überhaupt mit der Problematik beschäftigt). Für diese Theoretiker des literarischen Kunstwerks sind Fiktionalität und Wahrheitsanspruch der Erzählung textimmanent beschreibbare Wesenszüge von literarischen Texten. Käte Hamburger und Roman Ingarden dürfen hier als exemplarisch gelten. Ingarden etwa glaubt im Rahmen seiner „Ontologie des literarischen Kunstwerks" (Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Tübingen 21960, S. XV), Wirklichkeitsaussagen und literarischkünstlerische Aussagen systematisch unterscheiden zu können. Für die Dichtung gelte: „[...] ein anderer Stil der Sprache, eine andere Komposition, das Auftreten von Mannigfaltigkeiten der parat gehaltenen Ansichten, die Abbildungsfunktion und die Repräsentationsfunktion der dargestellten Gegenständlichkeiten, das Vorhandensein der ästhetisch valenten Qualitäten, insbesondere auch das Auftreten der metaphysischen Qualitäten, auf deren Offenbarung das literarische Kunstwerk eingestellt ist, während sie in wissenschaftlichen historischen Werken manchmal auch auftreten können, aber dann im Grunde mit der Erkenntnisfunktion und mit der Funktion der Übermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse nichts zu tun haben und nur aus Zufall vorhanden sind [...]."(S. 190). Vgl. auch die Seiten 321-325 zum „Spezialfall" des historischen Romans („Das Problem der .Wahrheit' und der ,Idee' eines literarischen Kunstwerks") sowie die Seiten 350-353, in denen „das wissenschaftliche Werk" und „der bloße Bericht" als „Grenzfalle" behandelt werden. Die Sätze wissenschaftlicher Werke seien fast ausschließlich „echte Urteile", sie bezögen sich auf „objektiv bestehende Sachverhalte". ,Ästhetische Wertqualitäten" träten nur als „entbehrlicher Luxus" auf, die für das literarische Kunstwerk so charakteristischen „schematisierten Ansichten" nur als „manchmal sogar unentbehrliche Hilfsmittel bei der Übermittlung der Erkenntnisresultate". Schließlich entbehre der wissenschaftliche Text der metaphysischen Qualitäten, mit Ausnahme des Falls, dass das behandelte Thema selbst eine solche ist: „In allen anderen Fällen ist ihre Offenbarung nicht nur unwesentlich, sondern sie kann auch der Hauptfunktion des wissenschaftlichen Werkes entgegenwirken" (S. 352). Siehe auch Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 21968, S. 72-74.

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Roland Barthes: „Le discours de l'histoire", in: Poetique 13 (1982), S. 13-21. Ursprünglich erschienen in: Social Science Information/Information sur les Sciences sociales, VI-4, August 1967.

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Geschichte und Erzählung in der Theorie

Grunde dasselbe wie in „L'effet de reel"38 und den ΛMythologies: Es geht ihm darum, die Selbstanmaßung eines Diskurses, Wirklichkeit ,an sich' authentisch abzubilden, als eine ideologisch interessierte Vortäuschung zu entlarven. Er bezweifelt die textimmanent-strukturelle Unterscheidbarkeit von Erzählungen mit Wahrheitsanspruch und ,imaginären' Erzählungen: [...] la narration des evenements passes, soumise communement, dans notre culture, depuis les Grecs, ä la sanction de la .science' historique, placee sous la caution imperieuse du .reel', justifiee par des principes d'exposition ,rationnelle', cette narration, differe-t-elle vraiment, par quelque trait specifique, par une pertinence indubitable, de la narration imaginaire, telle que Ton peut la trouver dans Γ epopee, le roman, le drame? Et si ce trait - ou cette pertinence - existe, ä quel niveau de l'enonciation faut-il le placer39?

Barthes' Angriffsziel läßt sich literarhistorisch verorten. Es handelt sich einmal mehr um den „Realismus" des 19. Jahrhunderts und die mit diesem verbundenen Ideen von Subjektivität und authentischer Sprache40. Daher ist es kaum verwunderlich, dass sich der Text liest, als habe jemand die Kritik der nouveaux romanciers an Balzac auf die Historiographie übertragen. Denn Barthes kritisiert nicht die Geschichtsschreibung schlechthin, sondern lediglich die narrative Historie - entgegen der Aussage des Aufsatztitels. „Le discours de l'histoire" formuliert auf geradezu ,klassische' Art und Weise die These von der formalen UnUnterscheidbarkeit von fiktionaler und historischer Erzählung. Stein des Anstoßes ist fur Barthes die Beobachtung, dass gerade das Erzählen, das sich doch im , Schmelztiegel der Fiktion', in Mythen und frühen Epen, zuerst ausgebildet habe, die Objektivität der Geschichtsschreibung gewährleisten soll. Barthes glaubt, die Objektivität als eine auf der Textebene der enonciation anzusiedelnde „illusion referentielle" entlarven zu können, eine Illusion, die er wiederum als das Produkt einer „carence des signes de l'enonfant" bezeichnet. Indem der Historiker das „Ich" und sonstige deiktische Ausdrücke meidet, könne er die Illusion schaffen, den außerdiskursiven Referenten, d. h. die vergangene geschichtliche Welt selbst sprechen zu lassen: „l'histoire semble se raconter toute seule". Für eine narrative Geschichtsschreibung bedeutet dies: Histo38 39 40

Roland Barthes: „L'effet de reel", in: Ders u.a.: Litterature et realiti, Paris 1982, S. 81-90. Erstmals in: Communications II (1968). Barthes: „Le discours de l'histoire", S. 13. Vgl. dazu: Joachim Küpper: Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme von Poetologie und literarischer Praxis, Stuttgart 1987 (ZJSL, NF, Beiheft 13).

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riographie suggeriert, die Wirklichkeit selbst besäße die Form einer plausiblen Erzählung. In dieser Beobachtung gründet Barthes' Vorbehalt gegenüber der Geschichtsschreibung als einer „elaboration ideologique"41, die vorgibt, in der Geschichte einen Sinn zu finden und diesen in der Erzählung der Dinge unverfälscht, ,so wie sie waren' wiederzugeben, und die dabei verschweigt, dass sie diesen Sinn selbst konstruiert. Für die illusionistische Verwechslung von diskurseigenen Elementen und außerdiskursiver Realität hat Barthes (zunächst an anderer Stelle) den Begriff effet de riel erfunden42. Dieser, so Barthes in „Le discours de l'histoire", sei das wesentliche ideologische Kennzeichen nicht nur des literarischen Realismus, sondern auch der Geschichtsschreibung. Der effet de reel setzt eine doppelte Operation voraus: In einem ersten Schritt wird der Referent vom Diskurs getrennt und als ein dem Diskurs Äußeres postuliert - hier die res gestae, dort die historia rerum gestarum. In einem zweiten Schritt wird der signifie unterdrückt bzw. mit dem Referenten vertauscht. Das Spezifische des Realistischen' besteht also in der Vortäuschung, der Referent (ein außersprachliches reel) und der signißant (der Text als Ausdruck dieses reel) stünden in einer unmittelbaren Repräsentationsrelation. Tatsächlich aber, so Barthes, sei dieses räel nichts als ein unterschlagener signifie. Durch diese Unterschlagung entstehe ein neuer, konnotativer Sinn des historischen Diskurses im allgemeinen: Der Text wiederholt stets aufs neue: „c 'est arrive" - es ist (wirklich) geschehen. Diese Strategie ermögliche es dem Diskurs der Geschichte, sein eigentliches ideologisches Interesse zu verleugnen - gibt er doch vor, nur zu sagen, wie es wirklich gewesen ist: „le ,reel concret' devient la justification süffisante du dire"43. Eine solchermaßen funktionierende , Objektivität' aber sei erkenntnistheoretisch ungedeckt, denn sie fungiere zugleich als Zeichen und als Beweis der Realität. Mit dieser Argumentation folgt Barthes dem von dem Linguisten Emile Benveniste formulierten Oppositionspaar histoire vs. discours als zwei verschiedenen modes d'enonciation44 Die „enonciation historique" bleibt dabei der Erzählung in der dritten Person (d. h. bei Benveniste: in der aperspektivischen non-personne) solcher vergangener Ereignisse vorbehalten, die sich ohne Hinzutun des Sprechers ereignet haben. Damit eignet sich dieser Äußerungsmodus besonders gut für intersubjektiv konstituierte 41 42 43

44

Barthes: „Le discours de l'histoire", S. 20. Barthes: „L'effet de reel". Ebd., S. 87. Emile Benveniste: Problemes de linguistique generale, Paris 1966, S. 237-250 („Les relations de temps dans le verbe fran^ais").

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Fakten, wie die traditionelle Ereignisgeschichte sie sich zum Inhalt macht. Der Formenapparat des discours bleibt dabei unberücksichtigt: Deiktische Ausdrücke mit Bezug auf die Sprechsituation werden gemieden, allein die drei Tempora Aorist (passe simple), imparfait und plus-que-parfait werden verwendet, allenfalls noch ein present intempore?5. Als Beispiele fuhrt Benveniste jeweils einen Textauszug eines Historikers (Glotz) und ernes Romanciers (Balzac) an. Unter der Voraussetzung, dass der Historiker diesem Darstellungsprinzip treu bleibt und auf Reflexionen und Vergleiche verzichtet, sei die ganze Vergangenheit der Welt als eine kontinuierliche, auf drei grammatischen Tempora basierende Geschichte vorstellbar. In dieser Erzählung, so der Linguist, gebe es keinen Erzähler: Les evenements sont poses comme ils se sont produits ä mesure qu'ils apparaissent ä l'horizon de l'histoire. Personne ne parle ici; les evenements semblent se raconter 46 eux-memes .

Unter discours hingegen versteht Benveniste jede Art von enonciation, die einen Sprecher und einen Zuhörer sowie die Intention des ersten, auf letzteren einen Einfluss auszuüben, voraussetzt. Im discours sind alle verbalen Personalformen sowie alle Tempora außer dem Aorist möglich, vor allem aber die in der historischen Erzählung ausgeschlossenen Tempora present, fiitur und passe compose. Gegen dieses, aus textimmanenter Perspektive betrachtet, plausible Modell lassen sich im Hinblick auf den Umgang mit historiographischen Texten zwei wesentliche Einwände formulieren. Erstens verallgemeinert Benveniste eine bestimmte Art positivistischer Historiographie, die sich vor allem mit der politischen Ereignisgeschichte beschäftigt, zum redt historique schlechthin. Zweitens, darauf hat Gerard Genette zurecht hingewiesen, existiert eine auf diese Weise definierte Erzählung praktisch niemals in Reinform47. 45

46

47

Vgl. ebd., S. 244: „[...] le repere temporel du parfait est le moment du discours, alors que le repere de l'aoriste est le moment de l'evenement." Ebd., S. 241. „[...] en verite, le discours n'a aucune purete ä preserver, car il est le mode ,naturel' du langage, le plus large et le plus universel, accueillant par definition ä toutes les formes; le recit, au contraire, est un mode particulier, marque, defini par un certain nombre d'exclusions et de conditions restrictives (refus du present, de la premiere personne, etc.). Le discours peut ,raconter' sans cesser d'etre discours, le recit ne peut ,discourir', sans sortir de lui-meme. Mais il ne peut pas non plus s'en abstenir sans tomber dans la secheresse et l'indigence: c'est pourquoi le recit n'existe pour ainsi dire nulle part dans sa forme rigoureuse. La moindre observation generale, le moindre adjectif un peu plus que descriptif, la plus discrete comparaison, le plus modeste ,peut-etre', la plus inoffensive des articulations logiques introduisent dans sa trame un

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Barthes übernimmt die schon bei Benveniste angelegte, äußerst problematische Gleichsetzung des Geschichtsdiskurses mit der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, welche ja in der Tat einige Parallelen zum literarischen Realismus aufweist: Die Plausibilisierungsstrategien von Historikern wie Fustel de Coulanges, Augustin Thierry und Jules Michelet sind ohne Zweifel sehr literarisch zu nennen48. Begreift man aber die jüngere Historiographiegeschichte als einen Prozess der Emanzipation vom Kommunikationssystem der Literatur (und dies in mindestens doppelter Hinsicht: Bezüglich des Schreibens entwickeln sich spezifische Plausibilisierungsstrategien, institutionell verlagert sich die Forschung an die Universitäten), so reduziert sich die Bedeutung der Thesen Barthes' für die Betrachtung neuerer historiographischer Texte wesentlich. Denn Benvenistes Definition des recit historique setzt einen covert narrator voraus. Die moderne Historiographie, insbesondere die AnnalesHistoriographie zeichnet sich aber, wie wir sehen werden, durch eine starke Präsenz des Erzähler-Ichs und methodische Transparenz aus, also durch einen overt narrator. So verwundert es nicht, dass die Texte, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, eine historiographiegeschichtliche Grenze markieren, wie Barthes selbst bemerkt: Aussi Γ on comprend que Peffacement (sinon la disparition) de la narration dans la science historique actuelle, qui cherche ä parier des structures plus que de chronologies, implique bien plus qu'un simple changement d'ecoles: une veritable transformation ideologique: la narration historique meurt parce que le signe de l'Histoire est desormais moins le reel que Γ intelligible .

Mit dieser Passage, die ohne Zweifel auf die ^Awa/es-Historiographie anspielt, gibt Barthes den Hinweis, dass sich seine Diagnose auf ältere

48

type de parole qui lui est etranger, et comme refractaire." (Gerard Genette: „Frontieres du recit", in: Ders.: Figures II, Paris 1969, S. 49-69, hier S. 66 f.) Man denke nur an Thierrys Vorwort zu seinen Lettres sur l 'Histoire de France'. „Dans les matieres historiques la methode d'exposition est toujours la plus süre, et ce n'est pas sans danger pour la verite qu'on y introduit les subtilites de Γ argumentation logique. C'est pour me conformer ä ce principe que j'ai insiste avec tant de details sur l'histoire politique de quelques villes de France. Je voulais mettre en evidence le caractere democratique de l'etablissement des communes, et j'ai pense que j'y reussirais ntieux en quittant la dissertation pour le recit, en m 'effaqant moi-meme et en laissant parier les faits. L 'insurrection de Laon et les guerres civiles de Reims, naivement racontees, en diront plus qu 'une theorie savante sur I 'origine de ce tiers etat, que bien des gens croient sorti dessous terre en 1788." (Augustin Thierry: Lettres sur l'Histoire de France, Paris, Garnier, ο.J., S. 4 f., Hervorhebung A.R.). Barthes: „Le discours de l'histoire", S. 21.

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Geschichte und Erzählung in der Theorie

historiographische Praxen bezieht. Wie aber haben wir uns jene ,neue' Geschichtsschreibung vorzustellen, die sich am intelligible orientiert? Barthes mag dabei an eine histoire-probleme (Francois Füret) gedacht haben, die den Konstruktionscharakter ihres Gegenstandes nicht mehr verbirgt50. Eine solche Historiographie würde sich nicht mehr auf die rhetorische Autorität des ,so ist es wirklich geschehen' und auf die Nachvollziehbarkeit ihrer Erzählung stützen, sondern auf die Konstruktion ihres Gegenstandes mittels transparenter historischer Methoden bis hin zur Quantifizierung. So birgt Barthes' Ausblick fur die vorliegende Arbeit den interessanten, wenn auch äußerst knappen Hinweis auf die Frage nach der Struktur historiographischer Texte jenseits der ,sich selbst erzählenden' Ereignisgeschichte. b) Autor oder Erzähler? „Le discours de l'histoire" hinterläßt der strukturalistischen Erzähltheorie eine weitere Problematik, die erst über zwei Jahrzehnte später wieder aufgegriffen werden sollte: die Identität von Autor und Erzähler, ein zentrales Charakteristikum nicht nur der historischen Erzählung, sondern jeder faktualen Erzählung. Fiktionale Texte zeichnen sich durch die Suspendierung des Wahrheitsanspruchs aus51, weshalb in ihnen Autor und Erzähler dissoziiert sind. In Anlehnung an Patrick Lejeunes pacte autobiographique52 ließe sich von einem ,historiographischen Pakt' sprechen, welcher besagt, dass qua Konvention der Erzähler stets mit dem Historiker, dessen Name auf dem Buchdeckel steht, identifiziert wird. Die Geschichtsschreibung lebt davon, dass die Sprecher ihren Diskurs selbst zu verantworten haben. „Le discours historique, lui, pretend donner un contenu vrai (qui releve de la verifiabilite) mais sous la forme d'une narration"53, heißt es bei Michel de Certeau, oder anders ausgedrückt:

50

52

Vgl. Füret: ,JDe l'histoire-recit ä l'histoire-probleme", in: Ders.: L 'atelier de l 'histoire, Paris 1982, S. 73-90. Der Gedanke ist nicht gerade neu: Mit Droysen wäre dies eine Historiographie, die ihrem Leser nicht nur die „Speise", sondern auch die „Zubereitung der Speise" anbietet. (Droysen: Historik, S. 418). Vgl. Karlheinz Stierle, „Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten ?", in: Poetica 1 (1975). S. 345-387; Rainer Warning, „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion", in: Funktionen des Fiktiven, hg. v. Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183-206. Patrick Lejeune: Le pacte autobiographique, Paris 1975. Michel de Certeau: L 'ecriture de l 'histoire, Paris 1975, S. 110.

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En fait, si Ton adopte les distinctions de Benveniste entre .discours' et ,recit', eile [l'historiographie] est un recit qui fonctionne en fait comme discours organise par la place des ,interlocuteurs' et fonde sur celle que se donne l',auteur' par rapport ä ses lecteurs .

Barthes' Beschreibung von illusion referentielle

und effet de reel in

rein textimmanenten Kategorien vernachlässigt diesen Sachverhalt vollkommen. Er stülpt den literaturkritischen Diskurs seiner Zeit der Problematik des historiographischen Erzählens einfach über - und verbirgt diese damit erst recht. Es stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen sich aus der Einsicht de Certeaus fur die strukturalistische Erzählforschung ergeben. Die strukturalistische Erzähltheorie hat faktuale Erzählungen Jahrzehnte lang ignoriert. Der Versuch, narratologische Kategorien auf ihre Verwendbarkeit in der Analyse historiographischer Texte zu prüfen, ist ein relativ junges Phänomen. In einer Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1991 widmet sich Gerard Genette erstmals den pragmatischen Unterschieden zwischen der fiktionalen und der faktualen Erzählung, wobei er entschieden deduktiv vorgeht55. Dabei stützt er sich auf die Terminologie seines Discours du recit56, in welchem die Unterscheidung der beiden Erzählungen noch unberücksichtigt bleibt. Etwa zeitgleich (1990) beschäftigte sich Dorrit Cohn in dem Aufsatz „Signposts of Fictionality" auf systematische Art und Weise mit der Problematik57. Beide Autoren liefern wichtige Anregungen für die Analyse historiographischer Texte, hinterlassen gleichwohl, wie wir sehen werden, auch wieder ein neues erzähllogisches Problem, nämlich dasjenige der historiographischen Erzählsituation. Uns interessiert zunächst der Abschnitt über die narrative Stimme58 bei Genette, und darin insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Erzähler. Genette erfaßt die konventionell geregelte Identität von Autor und Erzähler mit der folgenden Formel:

54 55 56 57 58

Ebd., S. 106. Gerard Genette: Fiction et diction, Paris 1991. Die faktuale Erzählung umfasst neben der Historiographie Formen wie Autobiographie, Reportage und Tagebuch. Gerard Genette, „Le discours du recit. Essai de methode", in: Figures III, Seuil 1972, S. 67-282. Wiederabgedruckt in Dorrit Cohn: The Distinction of Fiction, Baltimore/London 1999, S. 109-131. Genette, Fiction et diction, S. 78 ff.

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Geschichte und Erzählung in der Theorie quand A = N, exit Ν, car c'est tout bonnement l'auteur qui raconte; quel sens y aurait-il a^arler du ,narrateur' des Confessions ou de VHistoire de la Revolution Frangaise ?

Diese Formel beansprucht Gültigkeit für alle faktualen Erzählungen. Sie stellt eine ebenso einleuchtende wie wichtige Bemerkung dar, die durch die tägliche wissenschaftliche Praxis bestätigt wird. Wäre die Identität von Autor und Erzähler nicht der Fall, gäbe es keine Forschungskontroversen. Historiker benötigen als Erzähler einen gesellschaftlichen und institutionellen Ort, von dem aus sie schreiben. Die postulierte Identität von Autor und Erzähler ist daher eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Text überhaupt als wissenschaftliche Historiographie rezipiert werden kann. Damit erhält der Paratext60 größere Bedeutung: Dort sind der Name des in eigener Verantwortung schreibenden Historikers und die Gattungsbezeichnung Historiographie auf implizite oder explizite Weise angegeben. Mit dem Paratext ist aber lediglich ein Rezeptionsangebot ausgesprochen. Ob ein Text als historiographischer ernst genommen werden kann, hängt darüber hinaus von des Verfassers Umgang mit den intersubjektiv konstituierten Regeln jenes Diskurses ab, in welchem der Paratext den eigentlichen' Text verortet. Diese Regeln aber sind nun historisch sehr variabel: War die Verwendung fiktionstypischer Merkmale in historiographischen Texten des 19. Jahrhunderts noch weitgehend legitim, so ging mit der Institutionalisierung und Methodisierung der Geschichtswissenschaft eine , Entliterarisierung' einher, und wenn an Stones' These vom revival of narrative61 doch etwas dran sein sollte, dann hat sich das Schreiben universitärer Historiker unserer Tage wieder stärker ,literarisiert'. Dies allein veranschaulicht bereits die historische Wandelbarkeit der Schreibkonventionen eines Diskurses, der Anspruch auf die ,Wahrheit' seiner Aussagen erhebt. Die Veränderungen der Regeln aber ist alles andere als willkürlich, sie ist an die Geschichte der Geschichtswissenschaft gebunden, welche ja stets mehr ist als nur das Schreiben von Geschichte, nämlich eine Vielfalt methodisch geleiteter Erkenntnisoperationen. Genettes Gleichsetzung von Autor und Erzähler des historiographischen Textes ermöglicht es uns, Barthes' strukturalistischen Immanentismus durch historisierende Zugangsweisen zu ergänzen, beispielsweise durch diejenige Eberhard Lämmerts: Dass Historiker des 19. Jahrhunderts den Wahrheitsanspruch mit dem aus heutiger Perspektive naiven Mittel einer 59 60 61

Ebd., S. 87 f. [A = Autor, Ν = Erzähler (A. R.)]. Vgl. Gerard Genette: Palimpsestes. La litterature au second degre, Paris 1982. Stone: „The Revival of Narrative".

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rein textuellen Objektivität im Sinne Benvenistes aufrechterhalten konnten, spricht für eine starke Bildungsautorität des Historikers über den Leser, und diese hängt wiederum damit zusammen, dass die Methoden intersubjektiver Verifizierung historischer Aussagen noch nicht sehr weit gediehen waren62. Allein unter diesen Umständen bewahren Barthes' Bemerkungen über den effet de riel ein gewisses Interesse für eine heutige literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Historiographie. Doch zurück zu Genettes Formel („quand A = N, exit Ν."): Sie suggeriert, dass der historiographische Text keinen Erzähler, sondern nur einen Autor hat. Die konventionell festgeschriebene Identität von Autor und Erzähler darf aber meines Erachtens nicht zu der irrtümlichen Annahme verleiten, historiographische Texte besäßen keinen Erzähler. Dass der Leser den Historiker berechtigterweise für seine Aussagen verantwortlich machen kann, ist eine Sache, eine andere ist die Analyse von Textstrukturen. Es bedarf kernes postmodernen Theoriegebäudes und keiner soziologischen Rollentheorie, sondern lediglich der Rhetorik, um festzustellen, dass jeder, der etwas schreibt (mithin jeder, der etwas sagt), dies nicht in einer individuellen und unveränderlichen Stimme tut. Er hat sich vielmehr gemäß seinen Zielen und dem Kontext, in dem er schreibt oder spricht, eine seiner Erzählung angemessene Stimme zu wählen: die Stimme des Augenzeugen in einer sensationellen' Alltagserzählung, die Stimme des Verteidigers in einem Rechtsprozess, die Stimme des investigativen Journalisten, der akribisch jeder Spur nachgeht. Es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet Historiker keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen narrativen Stimmen haben sollten - und sei die Bandbreite dieser Möglichkeiten noch so begrenzt. Um vorerst bei Beispielen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu bleiben: Man vergleiche nur den nüchternen Stil der von Lavisse herausgegebenen Histoire de France mit dem beschwörenden Erzählstil eines Michelet. Dieser benutzte seine Vorworte stets, um einen Erzähler zu inszenieren, der sich durch seine einsame Eingeweihtheit in die untergegangene Vergangenheit auszeichnet, so auch in der ersten, im Jahr 1833 entstandenen Vorrede zu seiner Histoire de France . Pour moi, lorsque j'entrai la premiere fois dans ces catacombes manuscrites, dans cette necropole des monuments nationaux, j'aurais dit volontiers, comme cet Allemand entrant au monastere de Saint-Vannes: Voici l'habitation que j'ai choisie et mon repos aux siecles des siecles! 62

Eberhard Lämmert: ,„Geschichte ist ein Entwurf: Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman", in: German Quarterly 63,1 (1990), S. 5-18.

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Geschichte und Erzählung in der Theorie Toutefois je ne tardai pas ä m'apercevoir dans le silence apparent de ces galeries, qu'il y avait un mouvement, un murmure qui n'etait pas de la mort. Ces papiers, ces parchemins laisses lä depuis longtemps ne demandaient pas mieux que de revenir au jour. Ces papiers ne sont pas des papiers, mais des vies d'hommes, de provinces, de peuples. [... ] Et ä mesure que je soufflais sur leur poussiere, je les voyais se soulever. Iis tiraient du sepulcre qui la main, qui la tete, comme dans le Jugement demier de Michel-Ange, ou dans la Danse des morts. Cette danse galvanique qu'ils menaient autour de moi, j'ai essaye de la reproduire dans ce livre .

Hier kündigt sich bereits stark die Metaphorik der „resurrection de la vie integrale" aus dem Vorwort zur Histoire de France von 1869 an. Michelets historiographischer Erzähler fuhrt Gespräche mit den Toten, und er haucht ihnen buchstäblich wieder Leben ein. Auf diese Weise hat er an einem quasi mystischen Geheimnis teil. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Text zu vollkommen anderen Leseerfahrungen fuhrt als die nüchterne Sprache des Positivisten, der seine Synthese der Quellen mit der schmucklosen Seriosität eines Untersuchungsrichters präsentiert, und diese Differenz liegt zu einem nicht unerheblichen Teil in der Qualität der narrativen Stimme begründet. Verschiedene Erzähler schaffen eben verschiedene Leserrollen. Halten wir fest, dass die Identität von Autor und Erzähler kein textuelles, sondern ein pragmatisches Kriterium darstellt. Es ermöglicht den Historikern nicht weniger als den Lesern, einen jeden Text als einen kommunikativen Akt innerhalb des kollektiven Unternehmens zu verstehen, dessen Zweck die Erforschung und Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist. c) Die historiographische Erzählsituation Die Beobachtung, dass Autor und Erzähler in der Historiographie identisch sind, beinhaltet noch keine Angaben über eine historiographiespezifische Erzählsituation. Es stellt sich daher die Frage, ob, und wenn ja, wie sich die narrative Stimme in der Historiographie mit dem Vokabular des Discours du ricit bestimmen ließe. Genette ergänzt die oben zitierte Formel durch einen weiteren Aspekt, der das Verhältnis des Erzählers/Autors zur Welt im Text betrifft. Demnach ist der historiographische Autor nicht identisch mit den Personen (P), über die er schreibt. Also gilt: Α = Ν; Α Φ Ρ; Ν Φ Ρ64. 63

Jules Michelet: „Histoire de France", in: Ders.: CEuvres completes, hg. v. Paul Viallaneix, Bd. IV, Paris 1974, S. 613 f. - Der mögliche Einwand, hier handele es sich um ein Vorwort, also um ein Element des Paratextes, gilt für die Geschichtsschreibung aufgrund des ,historiographischen Pakts', im Gegensatz zur Fiktion, nicht. Vgl. Genette: Fiction et diction, S. 84.

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Damit können wir den Versuch wagen, die narrative Stimme in der Historiographie genauer zu bestimmen. Die strukturalistische Erzähltheorie in der Folge Genettes klassifiziert den Erzähler nach einem erzähllogischen und einem ontologischen Kriterium: erstens nach seiner Zugehörigkeit zu einer Erzählebene (extra- oder intradiegetisch), zweitens nach seinem Verhältnis zur Welt im Text (hetero-, homo- oder autodiegetisch)65. Da Genette im Discours du recit diese Begrifflichkeiten allein auf die fiktionale Erzählung anwendet, gilt es nun zu überprüfen, was sie für die Bestimmung der historiographischen Erzählsituation leisten. Es bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung, dass der historiographische Erzähler nur extradiegetisch sein kann, wie jedes Äußerungssubjekt erster Ordnung. Die Frage nach der Partizipation des Erzählers an der erzählten Welt bereitet da schon größere Probleme: Handelt es sich im Falle der Historiographie prinzipiell um einen homodiegetischen Erzähler, der auf demselben Erzählniveau anzusiedeln ist wie die Figuren, von denen er berichtet, oder ist eben dies nicht der Fall, was bedeuten würde, dass wir es grundsätzlich mit einem heterodiegetischen Erzähler zu tun hätten. Cohn rückt den historiographischen Erzähler in die Nähe fiktionaler homodiegetischer Erzähler: The pages of certain novels abound in laments concerning the limits of knowledge, particularly where the psychic opacity of protagonists is concerned. The narrator of Günter Grass' Cat and Mouse says of his mysterious friend Mahlke: ,And as for his soul, it was never introduced to me. I never heard what he thought'. The voices that emit such complaints, however, belong, not to narrators who are alien (hetero-) to the world of the stories they tell, but to those who inhabit these same worlds, those Genette calls Aomodiegetic narrators. They are themselves presented as human beings with human limitations, including the inability to perceive what goes on in the minds of their fellow beings, to perceive what others perceive. In this respect they are comparable to historians, who can likewise only tell their protagonists' stories - to the extent that they are not their own (autobiographical) protagonists - in external focalization, and for the same reasons. This analogy with homodiegetic narrators becomes more plausible when we call to mind the plain fact that historians do, after all, live in the same (homo-) world as their narrative subjects [...] 66 .

Nicht ohne Grund verbindet Cohn in dieser lediglich auf den ersten Blick einleuchtenden Argumentation die Problematik der Erzählsituation mit deijenigen der Fokalisierung. Nach Genettes Discours du recit unterscheidet man im allgemeinen derer drei: die interne, die externe und die

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Genette: Discours du recit, S. 238-240, S. 251-259. Cohn: Distinction, S. 122.

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Null-Fokalisierung67. Die Möglichkeit einer internen Fokalisierung schließt Cohn für die Historiographie aus, denn die Einsicht in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer bleibt für sie ein Privileg des fiktionalen Erzählers. Diese Ansicht darf als allgemein anerkannt gelten, wenngleich nur Cohn dieses ,Verbot' als absolut bezeichnet68. Die damit benannte Einschränkung des historiographischen Erzählens hat zwei Gründe. Zum einen handelt es sich um die von Cohn angesprochene ontologisch-erkenntnistheoretische Beschränkung, zum anderen aber auch schlicht um eine Schreibkonvention: Historiker, die ihre Objekte (Menschen, die in den meisten Fällen schon lange tot sind) zu Wahrnehmungssubjekten machen, laufen Gefahr, ihre wissenschaftliche Autorität einzubüßen, denn interne Fokalisierungen gelten als Fiktionssignal69. Angesichts der erkenntnistheoretischen Beschränkung ist bemerkenswert, dass Cohn lediglich die Fokalisierung für unmöglich hält. Bei näherer Betrachtung erscheint der Modus nicht als das einzige Problem: Ein Historiker, der die Empfindungen von Menschen der Vergangenheit quasi auktorial und auf nicht-fokalisierte Weise erzählte, beließe damit diesen Menschen ihren Objekt-Status. Gleichwohl würde auch er, obwohl er nicht auf das Mittel der internen Fokalisierung zurückgreift, die kognitiven Grenzen des Wissbaren verletzen. Der Gegenstand der Darstellung (das ,Innenleben' nicht-erfundener Menschen) bliebe prekär, der Unterschied zur internen Fokalisierung bestünde lediglich darin, dass die Menschen der Vergangenheit nicht zu Subjekten des Wahrnehmungsprozesses gemacht würden70. Bei der externen Fokalisierung handelt es sich im Grunde ebenfalls um eine interne Fokalisierung, mit dem

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Genette, Discours du recit, S. 206-211. „This category [internal focalization], however, designates only what history cannot be or do: it cannot present past events through the eyes of a historical figure present on the scene, but only through the eyes of the (forever backward-looking) historian-narrator. In this sense we may say that the modal system of historical (and other nonfictional) narration is .defective' when compared to the virtual modalizations of fiction." (Cohn: Distinction, S. 119). Vgl. auch Nünning: Von historischer Fiktion, Bd. 1, S. 184 ff.; Genette: Fiction et diction, S. 75-78; Carrard: Poetics, S. 104-133. Zu Fiktionssignalen im Allgemeinen vgl. die grundlegende Studie von Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriffin der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 232-247. Vgl. Andreas Kablitz: „Erzählperspektive - point of view - focalisation. Überlegungen zu einem Konzept der Erzähltheorie", in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 98 (1988), S. 239-255, hier S. 245: „Ein fokalisiertes Erzählen gibt es überall dort, wo das Dargestellte auf einen Wahmehmungsprozeß bezogen wird, der innerhalb der histoire liegt".

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Unterschied, dass die intradiegetische Figur, auf deren Wahrnehmung sich der Erzähler beschränkt, anonym bleibt - anders ausgedrückt: Es werden nur solche Dinge beschrieben und erzählt, die für gleich welchen Beobachter erkennbar wären71. Da sich dieser Perspektivierungstyp auf äußerlich wahrnehmbare Dinge beschränkt, wird er auch camera eye genannt. Die Null-Fokalisierung oder focalisation zero (von einigen Theoretikern auch , externe Fokalisierung' genannt, weil die Perspektive außerhalb der Diegese, beim Erzähler, anzusiedeln ist) bezeichnet den klassischen Fall des traditionellen' Erzählens: Es gibt keine privilegierte Perspektive, sondern die Fokalisierung wechselt ständig bzw. ist nicht vorhanden (d. h. der extradiegetische Erzähler kann sein potentiell auktoriales Wissen voll ausschöpfen), weshalb Genette von einer aperspektivischen Nicht-Fokalisierung spricht. Im Grunde handelt es sich dabei um gar keine Fokalisierung, sondern um eine, vielleicht die grundlegende Erzählsituation: Der Erzähler kann prinzipiell alles sagen, was er weiß. Lässt sich darüber hinaus ein innerhalb der histoire ablaufender Wahrnehmungsprozess beobachten, so liegt eine Beschränkung dieses Wissens durch Fokalisierung vor. Cohn und Genette halten die dominante externe Fokalisierung ebenso wie die interne fur ein Privileg der fiktionalen Erzählung, wobei Genette weniger apodiktische Formulierungen wählt. Während er sich einer Entscheidung für eine historiographiespezifische Fokalisierung enthält, fordert Cohn als eine Antwort auf die Frage nach den Fokalisierungsmöglichkeiten der Historiographie eine Modifikation der Genetteschen Kategorien. Es bedürfe eines neuen Typs der Fokalisierung, der die Null- und die externe Fokalisierung verbindet72. Carrard hingegen spricht von einer „steady reliance on zero focalization"73, die gleichwohl gelegentlich zu externer und interner Fokalisierung wechselt. Die ganze Problematik verweist auf ein seltsames Paradox, das die Historiographie zu kennzeichnen scheint: Der Historiker weiß zugleich mehr als die Figuren, da er retrospektiv erzählt und Entwicklungszusammenhänge kennt, von denen die Menschen der Vergangenheit noch nichts

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Während es also die focalisation interne ihren Namen dem Subjekt der Wahrnehmung verdankt, bezieht sich die focalisation externe auf das rein äußerlich dargestellte Objekt der Wahrnehmung. Damit vollzieht Genette eine ähnliche Verwechslung grundsätzlicher Kategorien, wie er selbst sie Stanzel zum Vorwurf machte, indem er letzterem (zurecht) mangelnde Differenzierung zwischen den beiden Fragen „Wer sieht?" und „Wer spricht?" nachwies. Cohn: Distinction, S. 120. Carrard: Poetics, S. 112.

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wissen konnten. Gleichzeitig weiß er aber auch weniger als die Figuren, denn diese haben ihm Erfahrungen voraus, denen er sich nur annähern kann. Zu betonen ist aber, dass die Erschließung dieser Erfahrungen nicht unmöglich ist: Eine gute Quellenlage vorausgesetzt, ist es dem Historiker durchaus möglich, die Wahrnehmung von Menschen der Vergangenheit zu rekonstruieren und zur Darstellung zu bringen. Die Fokalisierung - letztendlich nicht mehr als ein rhetorisches Mittel - stellt nur in Cohns systematischer Perspektive ein Problem dar, nicht aber in empirischer Perspektive. Das eigentliche Problem bei Cohn entsteht erst durch die oben erwähnte Annäherung des historiographischen Erzählers an den fiktionalen homodiegetischen Erzähler, auf die ich nun eingehen werde. Es stellt sich die Frage, ob die Kategorien ,heterodiegetisch' und ,homodiegetisch' geeignet sind, die historiographische Erzählsituation näher zu bestimmen. Während Autor, Erzähler und Figuren eines Romans drei verschiedenen ,Seinsbereichen' 74 zuzuordnen wären (Balzac erfindet einen Erzähler, der mit auktorialem Wissen ,über' der Welt im Text steht und also nicht in demselben Raum existiert wie die Figuren), scheint für die Historiographie aufgrund ihrer außertextuellen Referenz zu gelten, dass Autor, Erzähler und Figuren allesamt demselben Seinsbereich angehören. Cohn optiert, wie bereits erwähnt, für einen quasi-homodiegetischen Erzähler. Tatsächlich aber kann jeder Versuch einer Bestimmung der historiographischen Erzählsituation mit dem Discours du recit unter Beibehaltung des ontologischen Arguments nur in Aporien führen. Denn der homodiegetische Erzähler zeichnet sich dadurch aus, dass er das berichtete Geschehen entweder als Hauptfigur oder wenigstens als Zeuge selbst erlebt hat, mit anderen Worten: dass er in der Geschichte, die er erzählt, anwesend ist - wie ja auch der Erzähler in Grass' Katz und Maus Mahlke persönlich gekannt hat75. Dies trifft auf die Historiographie nicht zu, denn die nachträgliche Lektüre von Dokumenten und sonstigen Quellen lässt sich nicht einmal als mittelbare Zeugenschaft anzusehen. Für den Historiker gilt vielmehr, dass er nicht als Zeuge und in den weitaus meisten Fällen nicht einmal als Zeitgenosse den Ereignissen (bzw. Strukturen, Mentalitäten etc.), die er schreibend rekonstruieren und erklären möchte, beigewohnt hat. Akzeptiert man nun das ontologische Kriterium, so kommt man aber dennoch zu dem Schluss, dass der Historiker mit den in ein vergangenes Geschehen verstrickten Menschen, dies gemein hat, dass er in seiner

74 75

Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1979. Vgl. Genette: Discours du recit, S. 251-254.

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Gegenwart dieselbe Welt bewohnt, welche die nunmehr Toten einst bewohnten. Er kann die Orte aufsuchen, an denen die Menschen einst lebten, er kann Gegenstände berühren, die sie einst berührten, er kann Worte und Zahlen lesen, die sie einst aufschrieben. Dies fuhrt zu dem unauflöslichen Widerspruch, dass die Kategorie des heterodiegetischen Erzählers die historiographische Erzählsituation eigentlich treffend beschreiben würde, wäre da nicht das Gegenargument, dass der Historiker derselben Lebenswelt angehört wie die Menschen, über die er schreibt. Eine Auflösung dieser Aporie ist dann möglich, wenn man das Erzählen, ganz gleich ob fiktiv oder mit Wahrheitsanspruch, als einen Akt begreift, in welchem Vorstellungskraft und Versprachlichung eine Geschichte hervorbringen. Mittels der Vorstellungskraft wird ein Geschehen präsent gemacht, und durch Versprachlichung erhält das Geschehen jene narrativitäts-spezifische Retrospektivität, die idealtypisch im Präteritum zum Ausdruck kommt. Wer eine erfundene oder nicht erfundene Geschichte erzählt, konstruiert eine imaginierte und versprachlichte ,Welt im Text'. Die berichtete Wirklichkeit hingegen ist ein für allemal vergangen. Genaugenommen ist die Geschichte sogar gerade dadurch definiert, dass ihr Gegenstand im ontologischen Sinne nicht mehr existiert, ein verlorengegangenes Original, von dem man niemals mit Sicherheit wissen wird, wie es ausgesehen hat, ein nicht einholbares Objekt des Begehrens, dem man sich allenfalls annähern kann - und dies nur auf der Grundlage der Spuren, die die vergangene Wirklichkeit hinterlassen hat. Die Welt der Vergangenheit, die der Historiker zunächst forschend, dann aber obligatorisch im Akt des Schreibens rekonstruiert, ist etwas vollkommen anderes als die gelebte, ,offene' vergangene Gegenwart. „L'histoire est une notion livresque et non un existential", heißt es bei Paul Veyne76. Als Leser historiographischer Texte ziehen wir unser Wissen über die Menschen der Vergangenheit allein aus den Informationen, die wir diesen Texten entnehmen können. Ganz gleich, ob sie wirklich gelebt haben oder nicht: Sie sind zunächst einmal nichts anderes als „etres de papier 77, wie ihre fiktionalen Äquivalente, die Romanfiguren. Von diesen unterscheiden sie sich allein dadurch, dass wir uns von ihnen vorstellen, es habe sie wirklich gegeben. Somit entfiele das fur eine textwissenschaftliche Betrachtung von Historiographie nicht sonderlich hilfreiche Kriterium der Seinsbereiche - eine Möglichkeit, die im Discours du recit durchaus vorgesehen ist. Denn 76

Veyne: Comment on ecrit, S. 101. Roland Barthes: „Introduction ä l'analyse structurale des recits", in: Communications 8(1966), S. 1-27, hier: S. 19.

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Genette spricht, anders als Stanzel, nicht von Seinsbereichen, sondern vom „univers diegetique", was wesentlich treffender mit ,erzählte Welt' zu übersetzen wäre. Unter dem „univers diegetique" ist eine rein textimmanente, erzähllogische Kategorie zu verstehen, die auch im Falle einer faktualen Erzählung nicht mit der Lebenswelt identifiziert werden darf. Die Art der Relation zwischen der Welt im Text und der Wirklichkeit (etwa, ob Eigennamen auf Menschen und Orte verweisen, die es tatsächlich gegeben hat) ist keine Texteigenschaft, sondern eine Frage der Gattungskonventionen. Deshalb gilt fur die folgenden Analysen, dass der historiographische Erzähler grundsätzlich als ein heterodiegetischer Erzähler verstanden wird, dem prinzipiell alle Fokalisierungsmöglichkeiten und Einsichten in das Innenleben von Menschen offen stehen - vorausgesetzt, die Quellenlage läßt eine Überprüfbarkeit zu. Alles erzählen kann freilich nur der Autor, der erfindet. Deshalb identifizieren wir ja Auktorialität und Null-Fokalisierung automatisch als fiktional, ohne dass wir dafür die fiktionsspezifische Trennung von Autor und Erzähler bemühen müssten78. Egal für welchen Erzähler und welche Art der Fokalisierung er sich entscheidet, besitzt jeder Fiktionsautor zunächst einmal die ganze Freiheit desjenigen, der sich mittels seiner Vorstellungskraft eine Stimme wählt und eine Geschichte erzählt. Nichtsdestoweniger kann er diese Allwissenheit freiwillig beschränken, ζ. B. indem er die Wahrnehmungsperspektive einer intradiegetischen Figur wählt. Das bedeutet, dass selbst ein weitgehend personal erzählter Roman wie Madame Bovary

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Ohne an der fiktionsspezifischen Dissoziation von Autor und Erzähler zweifeln zu wollen, halte ich die folgende Bemerkung Cohns über den fiktionalen auktorialen Erzähler für verwirrend: ,Jt is precisely because this ,somebody' assumes optical and cognitive powers unavailable to a real person that we feel the need to dissociate the statements of a fictional text from its real authorial source." (Cohn: Distinction, S. 127). Auktorialität verweist schlicht auf die Tatsache, dass ein Autor das Geschehen in aller Freiheit erfindet - in Genettes Worten: „Si seule la fiction narrative nous donne un acces direct ä la subjectivite d'autrui, ce n'est pas par le fait d'un privilege miraculeux, mais parce que cet autrui est un etre fictif [...], dont l'auteur imagine les pensees ä mesure qu'il pretend les rapporter: on ne devine a coup sür que ce que Γοη invente." (Genette: Fiction et diction, S. 76). Als ein Paradebeispiel gegen Cohns Argument mag hier Balzac gelten: Die Theorie lehrt uns, Autor und Erzähler strikt zu trennen, und doch verleiten uns die ständige Präsenz eines auktorialen Erzählers und v.a. dessen weltanschauliche Auslassungen in allen Romanen und Erzählungen immer wieder dazu, den Erzähler mit dem Autor des avant-propos der Comedie humaine zu identifizieren.

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grundsätzlich auktorial erzählt ist79. Noch die Möglichkeiten des Fiktionsautors, zwischen verschiedenen Fokalisierungen zu wählen, verweist auf eine prinzipielle Auktorialität, die sogar für einen vollkommen realisierten covert narrator noch gelten würde. Der Historiker verfugt nicht über diese Freiheit zur Allwissenheit, doch auch für ihn gilt, dass er prinzipiell alles erzählen kann, was er aus den Quellen weiß (eingeschlossen das Denken und Fühlen seiner Figuren), und dies unter Einsatz der Mittel, die auch diejenigen des Fiktionsautors sind: Vorstellungskraft und Versprachlichimg. Dennoch gibt es einen aus Produktionsperspektive kategorialen Unterschied zwischen historiographischem und fiktionalem Erzählen. Er besteht darin, dass der Historiker ein gegebenes Quellenmaterial zu verarbeiten hat. Dies fuhrt erstens dazu, dass die Beschränkungen der Wahrnehmungsperspektive keine frei gewählten sind, sondern vorgeschrieben durch die Regeln eines auf Verifizierbarkeit beharrenden wissenschaftlichen Diskurses. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass sich das Quellenmaterial einer narrativen Synthetisierung widersetzt, oder dass ein anderer Historiker zu einer abweichenden Erzählung kommt. Von Karlheinz Stierle stammt der Vorschlag, das binäre strukturalistische Textmodell generell durch eine ternäre „Textkonstitutionsrelation" („Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte") zu ersetzen: Diese Relation bestimmt sich inhaltlich in dreifacher Hinsicht: 1. als Fundierungsrelation: das Geschehen fundiert die Geschichte, die Geschichte fundiert den Text der Geschichte; 2. als ,hermeneutische' Relation: die Geschichte interpretiert das Geschehen, der Text der Geschichte interpretiert die Geschichte; 3. als Dekodierungsrelation: der Text der Geschichte macht die Geschichte sichtbar, die Geschichte macht das Geschehen sichtbar80.

Von der Rezeptionsseite her betrachtet gilt für die Historiographie wie für die Fiktion, dass das Geschehen nur aus dem Text selbst in Erfahrung zu bringen ist. Aus der Produktionsperspektive hingegen gilt im Falle der Historiographie, dass es ein vorausgehendes Geschehen gibt, das in Quellen dokumentiert ist. Das Geschehen sichtbar machen ist gleichbedeutend mit 79

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Die verschiedenen Erzählsituationen in Verbindung mit verschiedenen Fokalisierungsmöglichkeiten wären somit keine systematisch unterscheidbaren mehr, sondern würde sich allein durch ihre Position auf einer Skala unterscheiden, deren Extreme markiert sind durch voll realisierte Auktorialität und extreme (Selbst-Beschränkung dieser Auktorialität. Karlheinz Stierle: „Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte", in: Geschichte Ereignis und Erzählung, S. 530-534, hier: S. 531.

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der Interpretation des Geschehens, so wie es sich dem Historiker in den Spuren der Vergangenheit zeigt. Um das Geschehen in eine Geschichte zu überfuhren, ist der Historiker, wie bereits erwähnt, auf den Einsatz seiner Vorstellungskraft angewiesen. Hans Robert Jauß spricht von drei konstitutiven Funktionen des Fiktiven in der Historiographie: Erstens ist der Historiker - in Ermangelung eines ,absoluten' Anfangs - gezwungen, einen Anfang und ein Ende zu setzen. Zweitens perspektiviert er eine „faktisch ins Unübersehbare anwachsende Fülle des Vergangenen". Drittens hat er Informationslücken aufzufüllen, um der Vergangenheit die Form eines konsistenten Verlaufs zu verleihen81. Solche ,Leerstellen' haben in der Fiktion einen anderen kategorialen Status als in der Historiographie. Was in einer fiktionalen Erzählung nicht erwähnt wird, ist schlicht irrelevant für selbige und kann auch nicht durch außertextuelle Evidenz in Erfahrung gebracht werden. So werden wir nie erfahren, ob Frederic Moreau ein Geigenvirtuose war oder nicht. Flauberts Education sentimentale enthält nicht nur keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Behauptung. Es lässt sich sogar sagen, dass diese Behauptung falsch ist, denn fiktionale Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie lediglich den Anschein erwecken, sich selektiv zu einem Wirklichkeitskontinuum zu verhalten82. Völlig zurecht bemerkt Dorrit Cohn: „A novel can be said to be plotted, but not ewplotted"83. Ganz anders die historische Erzählung: Der Historiker verarbeitet ein Spurenmaterial, welches auf ein Wirklichkeitskontinuum verweist. Er selektiert die aus den Quellen gewonnenen Informationen und ordnet sie perspektivisch zu einer Erzählung an. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, dass er keinen Anfang und kein Ende einer Entwicklung in seinem Material ausmachen kann oder dass neue, bisher unbekannte Informationen oder eine Perspektivierung nach anderen Rele-

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Vgl. Hans Robert Jauß: „Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung von Geschichte", in: Formen der Geschichtsschreibung, hg. v. Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen, München 1982 (= Theorie der Geschichte 4), S. 415-451, bes. S. 422-425. Zum Thema .faktische Lücken' vgl. auch: Lubomir Doleiel: „Possible Worlds of Fiction and History", in: New Literary History 29 (1998), S. 785-809. Vgl. Andreas Kablitz: „Erzählung und Beschreibung. Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte", in: Romanistisches Jahrbuch 23 (1982), S. 67-84, bes. S. 80: Aufbau einer eigenen Welt heißt auch ,Aufbau der Illusion, dass sich das dargestellte Geschehen selektiv zu einem nicht dargestellten, prinzipiell aber darstellbaren Wirklichkeitskontinuum verhält'". Cohn: Distinction, S. 114.

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vanzkriterien zu einer neuen Erzählung des vergangenen Geschehens mit einem konkurrierenden Wahrheitsanspruch fuhrt. d) Die narrative Verdoppelung der Historiographie Es bedarf an dieser Stelle allerdings noch einer Bemerkung zur Vermittlungsebene. Genette weist völlig zurecht auf eine Eigenschaft eines Großteils aller fiktionalen Erzählungen hin, die darin besteht, dass der narrative Akt (narration) keine zeitliche Ausdehnung besitzt. Dies ist nahezu idealtypisch in realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts der Fall: „[...] il s'agit lä d'un acte instantane, sans dimension temporelle"84. Während der Leser weiß, dass ein Autor oft Jahre darauf verwandt hat, das Buch zu schreiben, das er, der Leser, gerade in den Händen hält, scheint sich der fiktive Akt des Erzählens in einem einzigen Punkt zu verdichten, über den sich nur eines sagen lässt, nämlich dass er zeitlich nach den berichteten Ereignissen liegen muss. Dies gilt auch fur die Narration in den meisten historiographischen Texten des 19. Jahrhunderts und des Positivismus des frühen 20. Jahrhunderts mit ihren covert narrators - für einige sogar geradezu idealtypisch. Nun ist bereits erwähnt worden, dass sich die moderne Geschichtsschreibung gerade durch eine Abkehr von dieser rein rhetorischen Objektivität auszeichnet. Im Zeitalter der Wissenschaftlichkeit kann , Objektivität' eben nur noch ,Überprüfbarkeit' bedeuten. Letztere setzt Transparenz hinsichtlich des methodischen Umgangs mit den Quellen voraus. Die Regeln des Diskurses haben sich verändert seit den Zeiten Michelets: Der kritische Leser des späten 20. Jahrhunderts, zumal wenn er selber vom Fach ist, gesteht dem Historiker nicht mehr jene Bildungsautorität zu, die der Leser des 19. Jahrhunderts noch anerkannt hat, und deshalb wird er sich nicht mit selbsterklärenden Erzählungen zufrieden geben. Die Plausibilität einer Darstellung muss sich vor seinem kritischen Auge erst erweisen, was im äußersten Falle dazu führen kann, dass sich ein Historiker bemüßigt fühlt, über möglichst jeden seiner Schritte Auskunft zu geben. Diese veränderte Rezeptionssituation liefert die Voraussetzung für die potentielle Existenz einer zweiten Geschichte, die von der fortschreitenden Erkenntnis des Historikers im Umgang mit seinen Quellen handelt85. Einmal mehr drängt sich an dieser Stelle die Frage nach der Referenz auf. Dass diese Geschichte den tatsächlichen Hergang der dem Schreiben vo84

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Genette: Discours du recit, S. 234. Vgl. Dorrit Cohn: „Freud's Case Histories and the Question of Fictionality", in: Dies.: Distinction, S. 38-57.

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rangegangenen Forschung tatsächlich adäquat ,abbildet', ist mehr als unwahrscheinlich, da die Vertextung der Forschungsergebnisse einige Zwänge mit sich bringt. Michel de Certeau spricht in diesem Zusammenhang von einer „inversion scriptuaire"86: Darunter ist das Phänomen zu verstehen, dass die Darstellung stets der Chronologie ihres Gegenstandes folgt, und nicht der Chronologie der Forschung. Zudem ist letztere prinzipiell unbegrenzt, während der Text ein Ende haben muss. Um aber überhaupt an dieses Ende zu gelangen, ist der Historiker, wie bereits erwähnt, gezwungen, Forschungslücken interpretativ zu füllen. Carlo Ginzburg hat die Arbeit des Historikers aus naheliegenden Gründen mit deijenigen eines Detektivs verglichen87. In der Tat, wenn es ein literarisches Genre gibt, mit dem die moderne Geschichtsschreibung aufgrund ihrer narrativen Struktur verwandt ist, dann ist dies der Kriminalroman, welcher ebenfalls durch die Existenz zweier Geschichten gekennzeichnet ist: das zum Zeitpunkt der Nachforschungen bereits abgeschlossene Verbrechen, das es aufgrund der Spuren zu rekonstruieren gilt, und die Geschichte der Rekonstruktion selbst: „La premiere histoire ignore entierement le livre, c'est-ä-dire qu'elle ne s'avoue jamais livresque", schreibt Tzvetan Todorov, für die zweite hingegen gelte, dass sie möglichst „simple, clair, direct" sein müsse88. Beides gilt auch für die Geschichtsschreibung: Die primäre Geschichte hat den Anspruch, vergangene Wirklichkeit darzustellen. Sie will weder Fiktion sein noch an eine bestimmte textuelle Erscheinungsform, respektive die des Buchs, gebunden sein. Sie proklamiert vielmehr ihre Unabhängigkeit vom Medium, insofern ihre Sprache eine transparente ist: Sie spricht von Handlungen, Menschen, Ereignisse, Strukturen etc., die unabhängig von der Darstellung einmal Realität gewesen sein sollen. Die Geschichte der Rekonstruktion wiederum muss klar, d. h. nachvollziehbar sein, andernfalls verstößt sie gegen die Diskursregel der Überprüfbarkeit. Der ,Auftraggeber', die Gemeinschaft der Forschenden, eine Gesellschaft, die sich Lehrstühle für Geschichte leistet, Studenten, jeder

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Vgl. de Certeau: L Venture S. 101 ff. Carlo Ginzburg: „Spie. Radici di un paradigma indiziario", in: Ders.: Miti, emblemi, spie. Morfologia e storia, Turin 1986, S. 158-209 [„Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli", in: Ders.: Spurensicherung. Uber verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 61-96], Vgl. Tzvetan Todorov: „Typologie du roman policier", in: Ders.: Poetique de la prose, Paris 1971, S. 55-65, Zitate S. 58 f. Mit Droysen könnte man die erste Geschichte die „Speise", die zweite die „Zubereitung der Speise" nennen (siehe Anm. 50).

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Leser, will möglichst problemlos nachvollziehen können, wie ein Historiker zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kriminalroman und Geschichtsschreibung ist allerdings hervorzuheben: Die Kriminalgeschichte verdankt ihre Kohärenz der zweiten Geschichte. Sie handelt davon, wie sich der Detektiv immer tiefer in die Vergangenheit zurückarbeitet. Der Detektiv ist also in der Regel der Held der Geschichte, die erste Geschichte (der aufzuklärende Fall) ist eine Funktion der zweiten Geschichte, insofern die Lösung des Rätsels das Ende der Erzählung bedeutet. Der Historiker hingegen ist nie der Held seiner Bücher, er steht im Dienste der vergangenen Wirklichkeit, die er ,sichtbar' machen will, mit anderen Worten: Hier ist die zweite Geschichte eine Funktion der ersten, insofern sie deren Überprüfbarkeit gewährleistet. Deshalb folgen historiographische Darstellungen der Chronologie der ersten Geschichte89. Moderne Historiographie birgt also die potentielle Möglichkeit, ihre Leser an den Prinzipien, die die Rekonstruktion der Vergangenheit (die histoire) bestimmen, teilhaben zu lassen. Da die Zeiten der von Barthes und Benveniste als ,erzählerlos' definierten historischen Erzählungen, welche die ,Ermittlungsgeschichte' unterschlagen, vorbei sind, tun Historiker dies in aller Regel auch. Ohne eine Analogie zwischen nouvelle histoire und nonveau romcm etablieren zu wollen, ließe sich dieses Phänomen in den Worten eines Theoretikers des noaveau romcin folgendermaßen beschreiben: Die moderne Geschichtsschreibung ersetzt, anders als der avantgardistische Roman, den recit d 'une aventure nicht nur durch die aventure d'im recit, sondern liefert beides zugleich90. 3. Heuristische Prämissen fur die Analyse historiographischer Texte Die obigen Ausführungen zum historiographischen Erzähler könnten den Eindruck erwecken, sie würden die historiographie-spezifische Referentialität nicht stark genug berücksichtigen, so dass sie letztendlich auf die Ein89 Der Vollständigkeit halber sei noch ein weiterer Unterschied erwähnt, der zu Verwirrungen führen könnte: Anders als der Detektiv kann der Historiker in den weitaus meisten Fällen die ,Täter' und ,Opfer' nicht mehr persönlich befragen oder gar Umgang mit ihnen pflegen. Deshalb ist er ja ein heterodiegetischer Erzähler, der nicht in demselben Raum lebt wie die Menschen, über die er schreibt - im Gegensatz zum homodiegetischen Erzähler der klassischen Kriminalgeschichte. Jean Ricardou: ,JEsquisse d'une theorie des generateurs", in: Michel Mansuy (Hg.): Positions et oppositions sur le roman contemporain, Paris 1971, S. 143.

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ebnung des Unterschieds zwischen fiktionalem und historiographischem Erzählen hinauslaufen. Allein, im Falle der Historiographie von Vorstellungskraft und Versprachlichung zu sprechen, ist nicht gleichbedeutend damit, Geschichtsschreibung dem Bereich des Fiktionalen zuschlagen zu wollen. Historiographie erscheint nach dem oben skizzierten Erzählbegriff vielmehr als eine Art ,methodisch geregelte Vorstellungskraft', als ein kontrolliertes Erzählen'. Von am Text selbst ablesbaren „essential differences"91 zwischen Historiographie und Fiktion oder von „kategorial verschiedene[n] Modi der Geschichtsdarstellung"92 zu reden, ist eher prekär, und dies aus zwei Gründen: Zum einen, weil es kein Unterscheidungsmerkmal gibt, das nicht historisierbar wäre93. Dies gilt selbst für das ,harte' Verständnis des Wahrheitsanspruchs, das erst die moderne wissenschaftliche Geschichtsschreibung kennzeichnet, wie man unschwer an der Verwendung von nicht belegten Dialogen in der frühneuzeitlichen Historiographie erkennen kann. Zum anderen aber auch, weil sich - empirisch - die Vielfalt des modernen historiographischen Erzählens der Subsumierung unter eine solche kategoriale Definition verweigern würde. Diese Position deckt sich im übrigen durchaus mit deijenigen Reinhart Kosellecks, welcher wohl kaum im Verdacht steht, postmoderne Gattungsrelativierung zu betreiben: Die Faktizität ex post ermittelter Ereignisse ist nie identisch mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge. Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selber ist vergangen. Damit wird ein geschichtliches Ereignis aber nicht beliebig oder willkürlich setzbar. Denn die Quellenkontrolle schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt sie vor, was gesagt werden kann. Negativ bleibt der Historiker den Zeugnissen vergangener Wirklichkeit verpflichtet. Positiv nähert er sich, wenn er ein Ereignis deutend aus den Quellen herauspräpariert, jenem literarischen

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Cohn: Distinction, S. 9. Nünning: Von historischer Fiktion, S. 173. Ebenso Robert Berkhofer: „The Challenge of Poetics to (Normal) Historical Practice", in: Poetics Today 9 (1988), S. 435-452; Paul Hemadi: „Clio's cousins: Historiography as Translation, Fiction, and Criticism", in: New Literary History 7 (1976), S. 247-257. Dass darüber hinaus ein Großteil der Historiker ebenfalls nichts von einer UnUnterscheidbarkeit der beiden Diskurse wissen möchte, liegt auf der Hand. Vgl. Lionel Gossman: „History and Literature: Reproduction or Signification", in: Ders.: Between History and Literature, Cambridge (Massachusettes)/London 1990, S. 227-256.

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Geschichtenerzähler, der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichte dadurch glaubwürdig machen will .

Der Wahrheitsanspruch der Historiographie aber basiert auf Überprüfbarkeit und ist nichts, was einem Text inhärent sein könnte. Historiographische Texte können prinzipiell ebenso anschaulich geschrieben sein wie fiktionale, oder sie können trockenste Wissenschaftsprosa bieten - „ihre wissenschaftlichen Begründungen aber haben sie außer sich" (Jörn Rüsen)95. Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Anschaulichkeit und Wissenschaftlichkeit, zwischen reiner Mimesis einerseits und Theoriebildung und Überprüfbarkeit andererseits. Es soll hingegen nicht geleugnet werden, dass dieser zuletzt genannte diskursive Zwang die Form historiographischer Texte auf Makro- wie auf Mikroebene beeinflusst. Dies ist an einer Reihe von Merkmalen ablesbar: an der Existenz von Quellenbelegen und Appendices, an methodischen Erläuterung zum Vorgehen, an der Seltenheit (wenn auch nicht völligen Abwesenheit) der Darstellung menschlicher Vorstellungswelten96 sowie an einem latenten Konflikt zwischen Quellenmaterial und narrativer Synthetisierung. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sich die Fiktion historiographiespezifische Darstellungsmittel zu eigen macht - und umgekehrt. Die Grenze zwischen Historiographie und Fiktion ist, was die Darstellungsverfahren betrifft, in der Tat durchlässig.

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Reinhart Koselleck: ,Darstellung, Ereignis und Struktur", in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten, Frankfurt a. M. 31995, S. 144-157, hier: S. 153. Die .negative' Definition des historiographischen Wahrheitsanspruchs findet sich auch bei Michel de Certeau: „Non qu'elle [rhistoriographie] dise la verite. Jamais historien n'a eu pareille intention. Plutöt, avec l'appareil de la critique des documents, l'erudit enleve de l'erreur aux ,fables'. Le terrain qu'il gagne sur eile, il l'acquiert en diagnostiquant du faux, II creuse dans le langage re?u la place qu'il donne a sa discipline, comme si, installe au milieu des narratives stratifiees et combinees d'une societe (tout ce qu'elle raconte ou s'est raconte), il s'employait ä pourchasser le faux plus qu'ä construire le vrai, ou comme s'il ne produisait de la verite qu'en determinant de l'erreur. Son travail serait celui du negatif, ou, pour emprunter ä Popper un terme mieux approprie, un travail de la .falsification'." (Michel de Certeau: „L'histoire, science et fiction", in: Ders.: Histoire et psychanalyse entre science et fiction, Paris 1987, S. 66-98, hier: S. 66). Jörn Rüsen: „Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft", in: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987, S. 230-237, hier: S. 236. Vgl. Nünning: Von historischer Fiktion, S. 173-199; Cohn: Distinction, Hernadi: „Clio's Cousins"; Doleiel: „Possible Worlds".

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Der Unterschied zwischen fiktionalen und historischen Erzählungen ist also rein pragmatischer, nicht aber systematischer oder kategorialer Art. Sehr treffend formuliert Lubomir Dolezel diesen Sachverhalt aus der Perspektive der „possible worlds"-Theorie: What appears at first sight from the vantage point of possible-worlds semantics is that literary (poetic) properties are irrelevant for the truth-functional status of texts. It is one thing to write in a certain style, but it is a completely different thing to make truth claims. Literariness and truth-functionality are two distinct qualities of writing: the former is a property of texture, the latter is a matter of the communicative aims and speech-act characteristics of textual activity. History, journalism, legal and political discourse, and so forth, all falling into the domain of cognitive communication, can be conducted in styles of various degrees of poeticity. But no flights of poetry or rhetoric can liberate them from truth-valuation. On the other hand, the most pedestrian' styles have no effect on the lack of truth-valuation of fictional texts .

Damit soll die Referentialität und die Möglichkeit der Geschichtsschreibung, wahre Aussagen zu treffen, nicht geleugnet werden. Die Überprüfung solcher Aussagen ist Sache der Historiker, nicht derjenigen, die die sprachlichen Strukturen der Historiographie analysieren. Für eine Textwissenschaft ist die Referentialität der Geschichtsschreibung nicht im ontologischen Sinne interessant, sondern als Element der Textgestalt. Der Verweis auf Quellen und die Darlegung der Methodik fuhrt, so sei hier hypothetisch formuliert, möglicherweise zu Beglaubigungsstrategien, die von denjenigen des fiktionalen Erzählens abweichen. Wenn der Historiker im Einsatz seiner Vorstellungskraft an das ,Vetorecht der Quellen' (Koselleck)98 gebunden ist, dann ist die Beschaffenheit dieser Quellen sowie die Art und Weise ihrer Interpretation von großer Bedeutung für die mimetische Gestalt des Textes. Die Geschichtsschreibung ahmt keine außertextuelle vergangene Wirklichkeit an sich nach, sondern sie rekonstruiert eine Vergangenheit in der Perspektive eines spezifischen Erkenntnisinteresses auf der Grundlage spezifischer Quellen. Die Mimesis verschiedener historischer Darstellungen bezieht sich nicht auf eine homogene vergangene Wirklichkeit (in dem Sinne wie eine Interpretation an einer stets identischen Werkkonstante zu überprüfen wäre), sondern auf ein von Text zu Text unterschiedliches Modell von Wirklichkeit, respektive von Geschichte. Die einzige Referenz der Historiographie, von der berechtigterweise die Rede sein kann, ist diejenige 97

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Doleiel: „Possible Worlds", S. 791. Reinhart Koselleck: „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt", in: Ders.: Vergangeue Zukunft, S. 176-207, hier: S. 206.

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auf die vergangene Wirklichkeit, wie sie sich in den jeweils zu interpretierenden Dokumenten darbietet". Demnach wäre diese nicht mehr einholbare Vergangenheit der Referent der Geschichtsschreibung, das spezifische Modell der Vergangenheit als Welt im Text wäre das Signifikat, und die sprachlich-narrative Gestalt des Textes wäre der Signifikant. Implizit transportiert deshalb jeder Text andere Vorstellungen darüber, was Geschichte überhaupt ist. Es kann keine Rede davon sein, dass die Geschichtsschreibung einen gleichförmigen vorab existierenden Gegenstand hätte, der dann auf stilistisch' unterschiedliche Weise darzustellen wäre. Es geht also um mehr als nur um literarische Qualitäten': Emmanuel Le Roy Laduries Buch über die Bauern des Languedoc und George Dubys Biographie eines französischen Ritters im Dienste englischer Könige100 etwa unterscheiden sich in wesentlich mehr als nur in ihrem Stil. Geschichte wird in den beiden Büchern auf jeweils unterschiedliche Weise rekonstruiert. Historiographie kennt kein stabiles Referenzsystem; die verschiedenen Arten, Geschichte zu schreiben, fuhren zu „verschiedenen Erkenntniswiesen von verschieden gedachten historischen Realitäten" (Roger Chartier): II est done clair que les choix faits entre les differentes ecritures historiques possibles - et qui toutes, certes, relevent du genre narratif- construisent des modes d'intelligibilite differents de realites historiques pensees differemment

Diese Modelle von Wirklichkeit aber können nur an einem Ort aufgespürt werden - in den Texten selbst. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass eine literaturwissenschaftliche Analyse historiographischer Texte stets den historiographiegeschichtlichen Forschungskontext eines jeden Textes zu berücksichtigen hat. Fußnoten im Text des Historikers etwa liefern mehr als nur einen effet de reel. Sie geben Auskunft über die Art der Quellen und auf welche Weise diese ausgewertet wurden. Die einer jeden Analyse zugrundeliegende Erkenntnisfrage soll daher aus dem spezifischen For-

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Vgl. Robert Berkhofer: „The Challenge of Poetics to (Normal) Historical Practice", in: Poetics Today 9 (1988), S. 435^52, bes. S. 445. Le Roy Ladurie: Les paysans de Languedoc, Georges Duby: Guillaume le Marechal ou Le meilleur chevalier du monde, Paris 1984. Roger Chartier: „Philosophie et histoire", in: Ders.: Au bord de la falaise, S. 234-254, hier: S. 247. [Roger Chartier: „Die unvollendete Vergangenheit. Beziehungen zwischen Philosophie und Geschichte", in: Ders.: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt a. M. 1992, S. 24-43, hier: S. 36],

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schungsansatz, dem Erkenntnisinteresse und den verwendeten Quellen eines jeden Texts entwickelt werden. Im Anschluss an die Definition der modernen Geschichtsschreibung als ein kontrolliertes Erzählen' erscheint es legitim, an fiktionaler Literatur erprobte Erzähltheorien auch auf historiographische Texte anzuwenden. Die Analyse der Erzählsituationen und der perspektivischen Vermittlung wird sich daher ausschließlich auf die Kategorien des Discours du recit stützen. Neben den oben bereits erwähnten Modellen eignen sich zwei weitere Modelle besonders gut fur die Erklärung narrativer Makrostrukturen auf der Ebene der histoire. Da wäre zunächst Jury M. Lotmans Sujettheorie zu nennen102. Lotman definiert das Ereignis als Überschreitung einer Grenze zwischen zwei topologischen Räumen durch einen Helden, also als eine Normverletzung und als ein „revolutionäres Element, das sich der geltenden Klassifizierung widersetzt"103. Das bedeutet, dass eine Handlung erst dadurch zum Ereignis wird, dass sie eine bestimmte Position in dem „vom Kulturtyp bestimmten sekundären semantischen Strukturfeld" einnimmt. Das zweite Erzählmodell ist dasjenige Arthur C. Dantos104. Darin kommt dem Ereignis die Funktion eines explcmans zu. Es erklärt den Prädikatswechsel (das explanartdum) eines Subjekts von einem Zeitpunkt t-1 zu einem Zeitpunkt t-3, bedingt durch das Eintreten eines Ereignisses zu einem Zeitpunkt t-2. Der Vorteil der beiden Erzählmodelle gegenüber den oben erwähnten Narrativisten besteht darin, dass sie sich auch für die Analyse kleinerer narrativer Einheiten eignen, während Whites und Ricoeurs Schemata narrativer Synthese stets die Gesamtkonfiguration eines Textes im Blick haben. Die folgenden Analysen basieren auf der Hypothese, dass sich fiktionale und historiographische Texte mitunter sehr wohl unterscheiden lassen wenn auch nicht im ,Reagenzglas des Poetikers' (Gerard Genette)105. Die Frage, ob sich Historiographie denn nun von Fiktion unterscheidet oder nicht, verstellt meiner Meinung nach den Blick auf den Variantenreichtum des historischen Erzählens. Ebendieser soll nun im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

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Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Ebd., S. 334. Danto: Analytische Philosophie, S. 235 ff. Genette: Fiction et diction, S. 91.

III. Analysen historiographischer Texte 1. Kritik und Wiederkehr des Ereignisses. Georges Duby,

Le dimanche de Bouvines a) Die Abkehr vom traditionellen' Erzählen Georges Dubys 1973 erschienenes Buch Le dimanche de Bouvines 27 juillet 1214 hat eine ,große' Schlacht der Weltgeschichte zum Thema 1 . Obgleich es sich dabei nicht um den chronologisch frühesten der im folgenden zu analysierenden Texte handelt, soll er als erster untersucht werden, da er sich besonders gut dazu eignet, das polemische Verhältnis der Annales zu den Kategorien Ereignis und Erzählung exemplarisch zu behandeln. Am 27. Juli 1214, einem Sonntag, trifft bei Bouvines in Flandern das Heer des Kapetingers Philipp auf die des deutschen Königs Otto IV. und des englischen Königs Johann Ohneland, letztere werden unterstützt von flandrischen Fürsten. Philipp siegt. Die Schlacht entscheidet den staufischwelfischen Thronstreit zugunsten Friedrichs II. Im Frieden von Chinon anerkennt Johann von England den Verlust aller englischen Besitzungen nördlich der Loire. Die Verklärung des historischen ,Großereignisses' in Chroniken und historiographischen Berichten beginnt noch am Abend der Schlacht mit den Texten, die Duby als Quellengrundlage dienen. Wie später in Guillaume le Marechal ou le meilleur chevalier du monde2 verzichtet Duby in Le dimanche de Bouvines auf Fußnoten, der Stil ist metaphemreich und unakademisch. Diese Eigenschaften entsprechen durchaus einem der intendierten Adressaten: Le dimanche de Bouvines ist in Fachkreisen ein durchaus anerkanntes Buch, geschrieben wurde es aber auch für ein Publikum jenseits der Universitäten und Hochschulen. Es erschien in einer Reihe, die den Titel trägt: „Trente journees qui ont fait la 1

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Georges Duby: Le dimanche de Bouvines 27 juillet 1214, Paris 1973. Die hier zitierte Ausgabe ist - ausnahmsweise - die 1985 in der Reihe „Gallimard folio histoire" erschienene Taschenbuchausgabe, die ein in der Erstausgabe nicht enthaltenes Vorwort des Autors aus dem Jahre 1984 enthält. Duby: Guillaume le Marechal.

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France"3. Lawrence Stone nennt es ein Beispiel für ein „revival of the narration of a single event"4. In der Bibliographie des ^/wa/es-Sammelbandes La Nouvelle Histoire wird Le dimanche de Bouvines mit dem Label Neuorientierung zum Ereignis' versehen5. Ungewöhnlich ist indes, dass sich ausgerechnet ein /ifwa/es-Historiker eines solchen Themas annimmt. Ereignisse galten diesen Historikern bekanntermaßen als die zu vernachlässigenden Einheiten der oberflächlichsten aller Zeitebenen, der Zeit der menschlichen Handlungen. Im Vorwort und im einleitenden Kapitel bekennt sich Duby in einschlägiger Metaphorik ohne Wenn und Aber zu Braudels Basistheorem: Les evenements sont comme l'ecume de l'histoire, des bulles, grosses ou menues, qui ere vent en surface, et dont l'eclatement suscite des remous qui plus ou moins loin se propagent. (S. 14)

Eine Erzählung, so Duby in einer autobiographischen Publikation, habe er überhaupt nicht beabsichtigt7. Bedenkt man die Vielfalt und die Verschiedenheit der Erzählbegriffe, welche die Diskussion um Geschichte und Erzählung prägen, so verlangt diese Abgrenzung gegen eine narrative Geschichtsschreibung nach einer Differenzierung. Es handelt sich speziell um die „histoire positiviste" (S. 19), die Duby als Negativfolie dient, verfolgt er doch, ausgehend von gänzlich verschiedenen Prämissen als diese, ein völlig anderes Ziel. Die

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Siehe dazu das Vorwort der Taschenbuchausgabe sowie Dubys wissenschaftliche Autobiographie L 'histoire continue, Paris 1991, S. 152 ff. Stone: „Revival ofNarrative", S. 17. La Nouvelle Histoire, hg .v. Jacques Le Goff, Roger Chartier und Jacques Revel, Paris 1978. Hier wie in allen anderen textanalytischen Kapitel geschieht der Verweis auf den zu interpretierenden Text mittels der Angabe der Seitenzahl direkt hinter dem Zitat. Auf alle anderen Primär- und Sekundärtexte wird auf die herkömmliche Weise in Fußnoten verwiesen. ,J1 n'etait pas question pour moi de raconter l'evenement [...] De l'evenement j'entendais me servir. Comme d'un revelateur. Utilisant toutes les paroles que son irruption avait fait jaillir. Car e'est en cela que Γ accident evenementiel peut nous interesser, nous historiens des structures. L'evenement explose. Son choc retentit au plus profond, et nous pouvons esperer voir remonter, emergeant de la penombre ού ils sont ordinairement enfouis, quantite de phenomenes dont, dans le cours habituel de la vie, on ne parle pas ä voix haute" (Duby: L 'histoire continue, S. 153 f.). Vgl. dazu auch Le Roy Laduries Aussage über eine Mentalitätengeschichte „qui eventuellement utilise la lecture de l'evenement, non comme une fin en soi, mais comme un revelateur" (Magazine Litteraire 164, 1980, S. 13).

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positivistischen Darstellungen der Schlacht von Bouvines entstanden sämtlich zwischen 1880 und 1935. Es handelt sich bei ihnen stets um politische Geschichten. Das Ereignis ist in ihnen ein besonders bedeutungsvoller Punkt („un noeud"; S. 19), in dem sich politische Konflikte zuspitzen und der neue Entwicklungen vorbereitet. Wesentlich ist, dass die historische Zeit, die dem Sonntag von Bouvines allererst seine Bedeutung gibt, einen einzigen linearen Vektor darstellt, die Entwicklung der europäischen Nationalstaaten. Das Verhältnis der geschriebenen Darstellung zur untergegangenen Wirklichkeit ist durch den Glauben an textphilologische Kontrollierbarkeit geregelt: In der Art eines Untersuchungsrichters scheidet der Historiker auf der Grundlage der Dokumente Lüge und Wahrheit voneinander und integriert im Anschluss daran die solchermaßen rekonstruierten historischen Tatsachen auf dem eben erwähnten Vektor an der ihnen zustehenden Position. Duby kritisiert vor allem zwei Aspekte an dieser Art der Geschichtsschreibung: Zum einen reduziere sie die Komplexität unüberschaubarer kausaler Zusammenhänge auf die Eindimensionalität einer linearen Erzählung, zum anderen behandele sie einen römischen Feldherren wie einen mittelalterlichen König nach demselben Maßstab einer ahistorischen „nature humaine" (S. 20), nämlich als einen Willen, der sich gegen andere durchsetzt, ohne jene tiefer liegenden Veränderungen zu berücksichtigen, die sich der Intentionalität menschlicher Handlungen entziehen und sie doch unbemerkt bestimmen, mentale Strukturen langfristiger Art eben. Diese Charakterisierung der positivistischen Geschichtsschreibung ließe sich noch ergänzen um einige Aspekte, die sich als Konsequenzen aus der von Duby geäußerten Kritik beschreiben lassen8: So konzentriert sich die positivistische Erzählung auf die Aneinanderkettung individueller Ereignisse unter Vermeidung von Generalisierungen. Dementsprechend dominiert das Tempus-System der histoire im Sinne Benvenistes, vor allem der passe simple. Tempora des discours, die auf den Standort des Erzählers verweisen, werden vermieden, ebenso die Verwendimg des Pronomens „Ich" - der Historiker verschwindet hinter seiner Darstellung. Der Seriosität des Untersuchungsrichters entspricht auf der Darstellungsebene die schmucklose Sprache des nüchternen Berichts. Aktanten9 sind prinzipiell nur Menschen, abstrakteren Entitäten wird in der Regel keine Handlungsfähigkeit zuerkannt. 8 9

Vgl. Carrard: Poetics of the New History, S. 1-28. Unter Aktanten verstehe ich Einheiten der Erzählung, von denen Handlungen ausgehen. Unter dem Subjekt der Erzählung jenes, dessen Grenzüberschreitung das Sujet des Textes konstituiert (Lotman) bzw. das eine Veränderung erfährt (Danto).

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Damit sind abstraktere Subjekte wie ζ. B. Institutionen, mentale und wirtschaftliche Prozesse von der Darstellung ausgeschlossen. Eine solche Geschichtsschreibung impliziert die Vorstellung eines kontinuierlich ablaufenden Geschichtsprozesses, dessen Gang weitgehend von menschlichen Handlungen bestimmt wird - ein Gedanke, der noch aus dem Titel der Reihe spricht, in der Dubys Buch erschienen ist: „Trente journees qui ont fait la France". Tage sind eine zeitliche Größe, die lediglich auf einer Ebene historischer Zeiten Bedeutung besitzen, deijenigen der menschlichen Handlungen. b) Die Negativfolie: Die Histoire de France von Lavisse Ein Blick in einen der von Duby beispielhaft angegeben Texte dieser Art von Geschichtsschreibung bestätigt diese allgemeinen Beobachtungen. Die von Ernest Lavisse herausgegebene Histoire de France10 ist, wie bereits ein Blick auf das Titelblatt verdeutlicht, eine Nationalgeschichte („Depuis les origines jusqu'ä la Revolution"), ihr chronologisches Ordnungsprinzip geht auf Herrscherzeiten zurück. So enthält das Deckblatt die folgende Information über die Gliederung des dritten Bandes: „Louis VII - Philippe Auguste - Louis VIII (1137-1226)". Die Schlacht selbst wird als der Höhepunkt eines Konfliktes dargestellt, welcher durch das Handeln einzelner Aktanten, Renaud de Dammartin, Ferrand de Portugal, Philippe Auguste, Jean-SansTerre, geprägt ist. Der Fortgang der Ereignisse erklärt sich durch individuelle Taktiken, Verrat, Aktion und Reaktion. Der ausführliche Abschnitt über die Konsequenzen der Schlacht beginnt mit zwei knappen Paragraphen über institutionale Geschichtssubjekte („l'Europe", „la Monarchie", „la dynastie de Hugues Capet", „La France", „la couronne imperiale", „l'Empire"), dann aber folgt eine detaillierte und mehrere Seiten lange Erzählung der Konsequenzen für die Schlachtteilnehmer. Die am Textrand abgedruckten Gliederungsinformationen lauten „Renaud emprisonne", „Ferrand dans la Tour du Louvre", „Otton ä Cologne. Sa mort", „Les Anglais et Jean-Sans-Terre", und selbst die mit „Resultats pour l'Allemagne" und „Resultats pour l'Angleterre" betitelten Paragraphen befassen sich mit den Schlachtteilnehmern, nicht mit den Staaten11. Die Tempora des discours werden nicht benutzt, Präsens erscheint nur als aus-

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Ernest Lavisse (Hg.): Histoire de France, Bd. ΙΠ, Paris 1902, S. 166-202. Ebd., S. 197-202.

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giebig gebrauchtes historisches Präsens12. Das Ereignis zu verstehen, heißt in der Histoire de France, seine Bedeutung fur die Entwicklung der politischen Einheit Frankreichs zu verstehen: La bataille de Bouvines est le premier evenement national de notre histoire, le prelude de cette unite morale et materielle que les rois du ΧΠΓ siecle etaient appeles ä realiser. (S. 197)

Wenn Duby programmatisch behauptet, zu erzählen läge nicht im geringsten in seiner Absicht, dann müssen wir uns stets vor Augen halten, dass es diese positivistische und nationalistische historische Erzählung ist, von der er sich abgrenzen will13. c) Eine ,neue' Ereignisgeschichte - ohne Erzählung? Historische Ereignisse werden von menschlichen Subjekten ausgelöst oder von ihnen erlitten. Sie sind einzigartig und nicht wiederholbar, sind also stets neu. Strukturen hingegen sind abstrakter, weil überindividuell und intersubjektiv14. Bei Strukturen handelt es sich um Zustände, die sich nur sehr langsam verändern. Ereignisse und Strukturen bedingen sich gegenseitig auf mehrfache Weise: Einerseits ermöglichen Strukturen erst die Existenz von Ereignissen, andererseits müssen sich Strukturen, um für den Menschen überhaupt sichtbar zu werden, in Ereignissen manifestieren. Ein Ereignis kann also zum „Indikator für soziale, rechtliche oder wirtschaftliche Vorgegebenheit langfristiger Art"15 werden. Ein weiterer Aspekt betrifft die Zeitlichkeit: Einerseits gibt es Ereignishaftigkeit nur im Bezug auf 12

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Auch das Futur ist als ein Futur der Vergangenheit zu begreifen, das sich auf eine im historischen Praesens geschilderte Vergangenheit bezieht, so ζ. B. S. 197: „C'etaient les plus graves interets de 1'Europe qui avaient ete en jeu ä Bouvines. La monarchie fhuujaise saura-t-elle triompher de la Feodalite, la dynastie de Hugues Capet rester au pouvoir, la France echapper ä l'invasion et au partage? [...] Questions vitales pour trois peuples: le succes de Philippe Auguste les avait resolues". Vgl. Francois Hartog: „L'art du recit historique", in: Passäs recomposes. Chants et chantiers de l 'Histoire, hg. v. Jacques Boutier und Dominique Julia, Paris 1995, S. 183-193: „SufFit-il de recuser evenement et individu pour echapper au recit? Inversement, sufFit-il d'evoquer le retour de Γ evenement (et de l'individu) pour conclure ä un retour du recit?" (S. 187); „Renoncer a l'histoire-recit, c'est-a-dire ä l'histoire evenementielle, c'etait abandonner non pas le recit, mais simplement une forme particuliere de recit" (S. 192). Reinhart Koselleck: „Darstellung, Ereignis und Struktur", in: Ders.: Vergangene Zukunft, S. 144-157, hier: S. 147 f. Ebd., S. 149 f.

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Strukturen. Andererseits bedürfen Strukturen wiederum der Ereignisse, genauer gesagt: „evenements initiaux ou generateurs"16, damit sie sich historisch begrenzen lassen. Denn ein Ereignis ist das im Sinne der bestehenden Struktur Unvorhergesehene und Ungewöhnliche. Diese Novität des Ereignisses ermöglicht allererst den historischen Wandel von Strukturen. Die Qualität der Beziehung, in der ein Ereignis zu einem System bzw. einer Struktur steht, legt es nahe, Ereignisse von sog. ,Elementen'17 zu unterscheiden. Diese sind im Gegensatz zum Ereignis im oben definierten Sinne wiederholbar und enthüllen eine Struktur, ohne sie zu verändern. Es liegt auf der Hand, dass sich eine Okkurenz je nach der gewählten Perspektive als ein Ereignis oder als ein Element bezeichnen lässt. Die Geburt eines Kindes nicht weniger als der Tod eines Menschen etwa sind für das soziale Umfeld sicherlich ein Ereignis - und für das individuelle Leben, das entsteht oder vergeht, ohnehin. Aber in der Perspektive des seriell arbeitenden Historikers können sie zu Elementen werden, ζ. B. wenn eine große Menge an Daten über viele Geburten und Tode in einem bestimmten Zeitraum vorliegt. Entscheidend ist das System, auf welches die Okkurenz bezogen wird. Der kategoriale Unterschied zwischen dem Stellenwert des Ereignisses bei Duby und in der positivistischen Geschichtsschreibung ist zurückzuführen auf die Wahl der Referenzsysteme18. Für die positivistischen Politikhistoriker ist der Ereignischarakter der Schlacht unbestritten, da sie die Schlacht zu den kurzfristigen politischen Machtverhältnissen in Europa zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Beziehung setzen. Das von Duby gewählte Referenzsystem aber sind die längerfristigen mentalen Einstellungen der Menschen zu den Phänomenen Krieg, Frieden, Schlacht und Religiosität. In bezug auf diese hat die Schlacht von Bouvines nicht den Status eines Ereignisses, sie birgt keine Novität. Damit erklärt sich auch, warum es Duby so leicht fallt, den Leser für die politische Geschichte von Bouvines auf die ,instruktiven' Bücher seiner positivistischen Vorgänger zu verweisen. Die beiden Perspektiven schließen sich in der Tat in keiner Weise aus. Sie zeichnen sich sowohl durch verschiedene Vorstellungen von Zeitlichkeit als auch inhaltlich durch die Beschreibung verschiedener Ebenen aus: Hier die Geschichte des Ereignisses, dort die Beschreibung der mentalen Dispo16 17

Edgar Morin: „L'evenement", in: Communications 18 (1972), S. 3-5, hier S. 4. Ζ. B. ebd.

Ί8

Vgl. Lotman: Struktur, S. 333: „[...] innerhalb eines und desselben Kulturschemas kann die gleiche Episode, je nach dem auf welcher Strukturebene sie angesiedelt ist, ein Ereignis werden oder nicht".

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sitionen. Damit können sich Dubys Dimanche de Bouvines und Lavisses Histoire de France gar nicht widersprechen. Die polemische Abwertung der politischen Ereignisgeschichte scheint im Dimanche de Bouvines erheblich entschärft. So lassen sich Dubys Äußerungen im Sinne der von Roger Chartier formulierten Einsicht lesen, dass die verschiedenen Arten, Geschichte zu schreiben, zu verschiedenen Erkenntnisweisen von verschieden gedachten historischen Realitäten'19 fuhren. Hinzuzufügen wäre noch, dass die verschiedenen Rekonstruktionsweisen der Vergangenheit vierundvierzig Jahre nach der Gründung der Annales d 'histoire economique et sociale durch Bloch und Febvre nicht einmal mehr ideologisch umkämpft zu sein scheinen, sie können als Ergebnisse verschiedener Erkenntnisinteressen nebeneinander existieren, ohne sich gegenseitig in Frage zu stellen. In einer als Buch publizierten Reihe von Gesprächen mit dem Philosophen Guy Lardreau erteilte Duby einige Jahre nach dem Erscheinen des Dimanche de Bouvines dem Glauben an das absolute Wahrheitskriterium der einen historischen Realität eine deutliche Absage. Er habe keine Veranlassung, so Duby, sich der Wahrheit näher zu fühlen als die Historiker der Vergangenheit, die sich mit demselben Problem befasst haben20. Diese Offenheit gegenüber anderen Rekonstruktionen der Vergangenheit anerkennt die prinzipielle Partialität einer jeden historischen Forschung und eines jeden historischen Schreibens. Das innovative Moment an Dubys Buch besteht also in der Funktion, die Duby dem Ereignis zuweist. Sie entspricht zwar in der Tat nicht dem außergewöhnlichen, einmaligen, Veränderung herbeiführenden Ereignis der traditionellen historischen Erzählungen, jedoch auch nicht jenen wiederholbaren Elementen, die den Gegenstand der seriellen Geschichte darstellen. 19

20

Siehe Kap.2,Anm. 100. Vgl. Georges Duby/Guy Lardreau: Dialogues, Pans 1980, S. 43: „Evidemment mes moyens d'investigation sont plus perfectionnes que ceux de mes devanciers; mais j'ai le sentiment tres net que ces moyens ne me permettent pas de saisir mes objets, ni de les employer, autrement qu'ils ne faisaient eux-memes, c'est-ä-dire pour construire quelque chose qui est expression de moi-meme, de la vision que, moi, j'ai du monde, et qui n'a pas plus sans doute de rapport avec ce qui s'est ,reellement' passe autrefois que leurs discours n'ont de rapport avec la ,verite' de ce qu'ils racontent. £a, c'est, selon moi, tout ä fait clair. [...] Cela ne veut pas dire que je ne fais pas tout ce que je peux pour etre le plus pres possible de ce que l'on peut appeler ,1a realite', par rapport ä cette imaginaire construction mentale qu'est notre discours. Et je n'invente pas, enfin... j'invente, mais je me soucie de fonder mon invention sur les assises les plus fermes, de l'edifier a partir de traces rigoureusement critiquees, de temoignages qui soient aussi precis, aussi exacts qu'il est possible. Mais c'est tout".

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Dubys dritter, von der Anthropologie inspirierter Weg besteht darin, sich der Schlacht als „revelateur" zu bedienen, um etwas über die Kultur, das bedeutet in diesem konkreten Falle, über die Feudalgesellschaft zu Beginn des 13. Jahrhunderts zu erfahren: „exploiter l'evenement" (S. 8). Dieser Umgang mit einem großen historischen Ereignis sei es gewesen, der ihn, neben dem Vergnügen des Schreibens ohne Belegzwang, an dem Auftrag reizte, ein Buch über die Schlacht von Bouvines zu verfassen: Je continue bien sür de penser comme Fernand Braudel (interview dans Le Monde du 14 decembre 1979) que le simple ,fait divers' qui n'a rien de singulier et qui se reproduit sans faire de bruit, ,peut etre l'indicateur d'une realite longue et quelquefois, merveilleusement, d'une structure', et qu'il importe par consequent de le traquer. Mais je pense aussi, et je le pensais dejä que justement c'est parce qu'il fait du bruit, parce qu'il est ,grossi par les impressions des temoins, par les illusions des historiens', parce qu'on en parle longtemps, parce que son irruption suscite un torrent de discours, que l'evenement sensationnel prend son inestimable valeur. Pour ce que, brusquement, il eclaire. Par ses effets de resonance, par tout ce dont son explosion provoque la remontee depuis les profondeurs du non-dit, par ce qu'il revele a l'historien des latences. Du fait meme qu'il est exceptionnel, l'evinement tire avec lui et fait emerger, dans le flot des paroles qu'il libere, des traces qui, sans ce coup de filet, seraient demeurees dans les tenebres, inaperfues, les traces du plus banal, de ce dont on parle rarement dans le quotidien de la vie et dont on n'ecrit jamais. (S. 8 f.)

Im Dimanche de Bouvines dient also ein individueller Fall, der eigentlich eine narrative Darstellung geradezu herausfordern würde, dazu, Erkenntnisse über allgemeinere Strukturen und Veränderungen zu gewinnen. Dem Individuellen kommt die Aufgabe zu, das Allgemeine sichtbar zu machen - eine Methode, für die Stone den Begriff „searchlight method" geprägt hat und die er auf den Einfluss der Anthropologie zurückfuhrt21. Duby selbst beschreibt seine Intention folgendermaßen: [...] regarder cette bataille et la memoire qu'elle a laissee en anthropologue, autrement dit ä tenter de les bien voir, toutes deux, comme enveloppees dans un ensemble culturel different de celui qui gouverne aujourd'hui notre rapport au monde. Ce dessein oblige ä trois demarches conjuguees. (S. 21)

Die beiden ersten der drei hier angekündigten Schritte betreffen das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem, der letzte die Überlieferung des Ereignisses. Eine wesentliche - deduktive - Voraussetzung für eine Interpretation der Spuren sieht Duby darin, das Ereignis in seinem zeitgenössischen kulturellen System zu situieren, nach Maßgabe allen Wissens, dass die Geschichtswissenschaft bisher produziert hat. In einem zweiten 21

Stone: „Revival ofNarrative", S. 14.

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induktiven - Schritt sollen die Spuren des außergewöhnlichen Ereignisses daraufhin befragt werden, was sie über das zeitgenössische Denken und Handeln verraten. Anhand der schriftlichen Spuren, die das Ereignis der Schlacht von Bouvines hinterlassen hat, macht Duby die Zusammenhänge sichtbar, die Rittertum, WafFentechnik, Religion, Politik, Handel, den Krieg und den Frieden miteinander verbinden. Es geht ihm mit anderen Worten also um das Typische in der Perspektive einer „sociologie de la guerre au seuil du XIIP siecle dans le Nord-Ouest de l'Europe" (S. 21). Die ,Ausbeutung des Ereignisses' nach der Art der Anthropologen macht aber nur einen, wenn auch den größeren Teil des Buchs aus. Der zweite Teil der Studie behandelt die Geschichte des Gedächtnisses von Bouvines. Was den Sonntag von Bouvines fur Duby zu einem herausgehobenen Ereignis macht - dies geht bereits aus dem oben zitierten Vorwort von 1984 hervor - sind nicht etwa die Konsequenzen des französischen Siegs im Rahmen der europäischen Staatengeschichte, wie es wohl in der Absicht der Publikationsreihe lag („Trente journees qui ont fait la France"), sondern die Tatsache, dass das Ereignis seit der zeitgenössischen Chronik des Guillaume le Breton bis an den heutigen Tag einen „torrent de discours" (S. 8) ausgelöst hat, von welchen ein jeder versucht, den 27. Juli 1214 für eine jeweils aktuelle Gegenwart zu vereinnahmen. Duby interessiert sich für die Geschichte der Erinnerung an Bouvines als eine Geschichte ideologisch motivierter Deformierung: Enfln, ces traces instruisent d'autre maniere sur le milieu culturel au sein duquel l'evenement vient eclater, puis survit ä son emergence. Elles font voir comment la perception du fait vecu se propage en ondes successives qui, peu ä peu, dans le deploiement de l'espace et du temps, perdent de leur amplitude et se deforment. Je me risquerai done aussi a observer - mais alors il ne saurait s'agir de ma part que d'une esquisse, et plutöt d'une proposition de recherche - Taction que l'imaginaire et l'oubli exercent sur une information, l'insidieuse penetration du merveilleux, du legendaire et, tout au long d'une suite de commemorations, le destin d'un souvenir au sein d'un ensemble mouvant de representations mentales. (S. 21 f.)

Die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses ist eine wesentliche Voraussetzung für seine ,Rezeptionsgeschichte'. Wäre es nicht außergewöhnlich, hätte es keine Reaktionen hervorrufen. Das Ereignis wird als ein Auslöser betrachtet, eine Explosion, die Resonanzen, d. h. schriftliche Spuren hervorruft: Zeugnisse über Bouvines, vom zeitgenössischen Schlachtbericht bis zum Geschichtsbuch des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Kapitelstruktur des Buchs trägt diesem doppelten Erkenntnisinteresse Rechnung. Dem Vorwort folgt ein einleitendes Kapitel, in dem Duby sein Vorgehen wie oben wiedergegeben skizziert und seine grundlegende

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Quelle vorstellt. Der erste Teil trägt die Überschrift „L'evenement" und beinhaltet zwei Kapitel, deren erstes, „Mise en scene" überschrieben, den Leser dazu befähigen soll, die Hauptquelle besser zu verstehen, die Prosachronik des Guillaume le Breton. Der Historiker stellt dem Leser sein Wissen zur Verfugung, indem er den historischen Text, um den es im folgenden gehen wird, in verschiedene Kontexte einbettet. So erfahren wir beispielsweise, warum Frauen in dem Bericht keine Rolle spielen, wohl aber Pferde. Die Tatsache, dass es sich hierbei um Informationen handelt, die gerade nicht in der Quelle enthalten sind, macht deutlich, dass dieses Kapitel dem ersten der von Duby erwähnten methodischen Schritte entspricht. Unter der Überschrift „La journee" folgt eine neufranzösische Übersetzung der altfranzösischen Prosachronik. Der zweite Teil („Commentaire") umfasst die Kapitel „La paix", „La guerre", „La bataille" und „La victoire". Dieser zweite Teil ist das historisch-anthropologische Kernstück der Studie, in dem das individuelle Ereignis der Gewinnung allgemeiner Erkenntnisse dient. Der dritte Teil, „Legendaire", ist der ,Rezeptionsgeschichte' der Schlacht von Bouvines gewidmet. Den Abschluss bilden Illustrationen, eine Chronologie der Ereignisse von 1163 bis 1227 sowie einige Dokumente der Wirkungsgeschichte vom Mittelalter bis 1914. Eine Analyse des Dimanche de Bouvines wird dementsprechend die Frage zu stellen haben, was Dubys Geschichte einer Schlacht von der oben charakterisierten positivistischen Ereignisgeschichte unterscheidet, worin also das ,Neue' dieser Behandlung eines historischen Ereignisses besteht. Denn angesichts der von verschiedenen Seiten gemachten Ausführungen zum Verhältnis von Ereignis und Erzählung ist die Frage berechtigt, ob es eine Ereignisgeschichte ohne jede Erzählung überhaupt geben kann. So stehen sich zu Beginn der Analyse zwei Meinungen gegenüber. Wie bereits erwähnt, gibt es nach Stone historiographische Texte, die sich „narration of a single event" nennen ließen. Er stellt die These eines Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand und der Form der Textorganisation her, der die Mentalitätengeschichte und die historische Anthropologie betrifft: More and more of the ,New Historians' are now trying to discover what was going on inside people's heads in the past, and what it was like to live in the past, questions which inevitably lead back to the use of narrative .

Dubys Selbstauskunft in L 'histoire continue jedenfalls bestätigt interessanterweise Stones Vermutung eines direkten Zusammenhangs zwischen

22

Ebd., S. 13.

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Gegenstand (Erfahrungen und Erlebensstrukturen von Menschen der Vergangenheit) und Schreibweise: Je tentais meme de penetrer jusque dans leur conscience. [...] Les chevaliers avaientils peur? Et de quoi? [...] Bref, je les observais comme Margaret Mead avait observe les Manus. Aussi desarme qu'elle, mais pas plus .

Dem widerspricht Carrard, für den Le dimanche de Bouvines einen strikt nicht narrativ organisierten Text darstellt („Duby denarrativizes his material entirely"24), womit gleichzeitig seine innovativen Qualitäten angesprochen wären, ersetze sein Verfasser doch die Erzählung durch eine „imaginative kind of collage"25. Im folgenden soll mittels einer detaillierten Analyse des Textes gezeigt werden, dass weder Stones noch Carrards Diagnose in der ihnen eigenen Einseitigkeit aufrecht zu erhalten ist, dass aber in jedem Fall narrative Kohärenz einen entscheidenden Anteil daran hat, dass Le dimanche de Bouvines überhaupt als ein zusammenhängender Text erscheint, der bis zum Schluss gelesen werden muss, um verstanden zu werden. Ich folge dabei der Denkfigur der Möglichkeiten und Grenzen' historiographischer Modernisierung. Denn obgleich es Duby gelingt, die Behandlung des Ereignisses von einer ganz bestimmten Darstellungsform der Erzählung zu entkoppeln, bleibt sein Text doch spezifisch narrativen Prinzipien verpflichtet. d) Das Ereignis als Leerstelle und fait vecu Mit diesem Programm begibt sich Duby in ein Dilemma: Wenn es zutrifft, dass ein Ereignis nur innerhalb einer Erzählung bedeutungsvoll sein kann, dann fragt sich, ob eine neue Erzählung an die Stelle der nationalgeschichtlichen Erzählung der Positivisten tritt, und wenn ja, welche. In jedem Falle ist der Historiker darauf angewiesen, dem Ereignis eine Bedeutung zu geben, andernfalls könnte er die Geschichte der Erinnerung an Bouvines nicht als eine Geschichte der Deformation des ursprünglichen' Geschehens begreifen. Die Begriffe und Metaphern, mit denen Duby das Ereignis be-

23 24

25

Duby: L 'histoire continue, S. 155 f. Carrard: Poetics of the New History, S. 65. Vgl. auch S. 64: „Duby's Le dimanche de Bouvines, for example, which Stone takes to be one of the best illustrations of the ,revival' he is outlining, actually figures among the texts which have the least to do with storytelling. [...] Yet the text itself turns out to be arranged not chronologically but analytically, constituting an interesting kind of collage". Ebd., S. 79.

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schreibt, geben Aufschluss darüber, wie er das Ereignis zu rekonstruieren gedenkt: Autour du fait, les temoignages se sont accumules. (S. 9; Hervorhebung A.R.) [L'evenement] a laisse des traces tres durables: elles ne sont pas aujourd'hui tout ä fait effacees. Ces traces seules lui conferent existence. En dehors d 'elles, l 'evenement n'est rien. Done c'est d'elles, essentiellement, dont ce livre entend parier. (S. 14; Hervorhebung A.R.) [...] l'evenement est en lui-meme extraordinaire [...]. (S. 21; Hervorhebung A.R.) Elles [ces traces] font voir comment la perception du fait vecu se propage en ondes successives qui, peu ä peu, dans le deploiement de l'espace et du temps, perdent de leur amplitude et se deforment. (S. 21; Hervorhebung A.R.) Toutefois, les repercussions de l'evenement se propagent plus loin, en ondes successives. Ces resonances, tentons de les mesurer par les traces ecrites qu'elles ont laissees. (S. 240) Dans le royaume d'Angleterre, le retentissement de Bouvines semble avoir ete plus profond qu'ä Dijon ou ä Troyes [...]. (S. 244)

Meeresgeologische Metaphern zur Bezeichnung zeitlicher Phänomene, vor allem der longue duree, findet man schon bei Braudel. ,Tiefe', ,Dunkelheit' und ,Stille' gehören ebenfalls zum festen Begriffsarsenal der Annales - auch im Dimanche de Bouvines, etwa in dem „La paix" überschriebenen Kapitel, an dessen Schluss traditionelle Ereignisse der politischen Geschichte, nämlich die Forderung der Königshäuser nach Unabhängigkeit von Rom in allen Belangen der Kriegsfuhrung, auf eine tiefer liegende wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung zurückgeführt werden: „Une histoire profonde, determinante: celle de l'argent" (S. 132)26. Doch um den Stellenwert der longue duree soll es an dieser Stelle nicht gehen. Eine andere Beobachtung ist wesentlich interessanter für die spezifische Problematik des Textes: Die oben zitierten Passagen lassen die Kategorie des Ereignisses selbst Undefiniert. Es gibt keine Ereignisse außerhalb der Spuren: „En dehors d'elles, l'evenement n'est rien." Damit ist zunächst einmal das Phänomen angesprochen, dass es ohne Überlieferung kein Wissen um die Ereignisse der Vergangenheit geben kann. Wenn man aber nun bedenkt, dass Duby mit Spuren schriftliche respektive erzählende Dokumente (Chroniken und panegyrische Literatur) meint, dann wird

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Paradoxerweise widersprechen solche klassischen Atmales-MeXwphem jenen oben zitierten Metaphern, die dem explosiven Ereignis die Kraft geben, von der Oberfläche ausgehend die Tiefe der langsameren historischen Bewegungen zu erschüttern.

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deutlich, dass er darin mit der These der Narrativisten übereinstimmt, dass Ereignisse ihre Bedeutung allererst im Rahmen von Erzählungen erhalten. Diese Art der historischen Sinnbildung will Duby selbst in seinem Text nun gerade umgehen. Er benötigt aber andererseits die Ereignishaftigkeit von Bouvines als eine Voraussetzung für die Geschichte der Erinnerung. Sein Ansatz setzt ja Ereignishaftigkeit voraus, da ein geräuschloser' fait divers keine schriftlichen Zeugnisse motiviert hätte. So stellt sich ihm das Problem, die Schlacht als Ereignis legitimieren zu müssen, ohne ihr dabei durch eine neue Erzählung einen Sinn zu geben. Da er das Ereignis nicht durch eine lineare Erzählung erklären will, kann seine Stelle zunächst nur leer bleiben, weshalb Duby auf das Bild einer nicht näher spezifizierten Explosion verfallt. Der Vergleich einiger Metaphern führt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass das Ereignis bei Duby mit der gelebten, noch nicht erzählten, offenen Vergangenheit austauschbar ist: „l'evenement [...] en luimeme", „le fait vecu". Natürlich ist er sich der Tatsache bewusst, dass dieses Objekt des Begehrens unerreichbar ist, im Vorwort nennt er diese gelebte Vergangenheit deshalb auch „l'insaisissable" (S. 10). Dieses nicht Greifbare ist nichts anderes als die Erfahrungen und das Denken derjenigen, die an der Schlacht teilnahmen. Den Metaphern kommt die Funktion zu, das Ereignis bedeutungsoffen zu halten - so bedeutungsoffen, wie es für die Teilnehmer der Schlacht gewesen sein muss: als noch nicht narrativ integrierter fait vecu. Wie aber hält man narrative Sinnbildung von einem Ereignis fern? Wie könnte eine neuartige Rekonstruktion des Ereignisses aussehen? - Die Alternative besteht für Duby nun darin, sich des Ereignisses als eines „revelateur" zu bedienen, mit dem Ziel, das Typische im Ereignis zu rekonstruieren: Wie wurde eine Schlacht geschlagen, mit welchen Waffen und Taktiken? Wie ist eine Truppe im allgemeinen aufgebaut? Wie fühlt sich ein Schlachtteilnehmer in der Stille vor dem Kampf? Woran glaubt er? Welche Bedeutung hatten Frieden und Krieg? e) Die Rückgewinnung der verlorenen Vergangenheit Der erste Teil des Buchs beinhaltet eine Einführung in die Quelle („Mise en scene"), den ins Neufranzösische übersetzten Originaltext den Gesta Philippi Augusti von Guillaume le Breton sowie einen ausführlichen „Commentaire" zu diesem Text. Die „Mise en scene" präsentiert dem Leser das in der Chronik geschilderte Geschehen als ein Schauspiel:

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Analysen historiographischer Texte Cependant, afin que chacun soit en mesure de suivre le spectacle, il est necessaire d'en presenter d'abord les acteurs, de planter un decor, de resumer en un tres bref prologue Γ intrigue dont il η'est rien dit dans le corps du recit, et qui pourtant conduit au matin de Bouvines. (S. 27)

Duby liefert dem Leser in der Folge Hintergrundwissen, das in der Gesta Philippi Augusti nicht explizit erwähnt wird, das aber wichtig für ein angemessenes Verständnis der Quelle ist. Dabei greift er auf ein breites Wissen zurück, das als Gemeingut der Historikerzunft gelten darf, und das durchaus eine narrative Form besitzt27. Er informiert zunächst über die Hauptakteure (Männer, Pferde, Gott, der Teufel). Was die am „spectacle" der Schlacht teilnehmenden Männer unterscheidet, wird mit der Theorie der drei Ordnungen erklärt (S. 34). Er wagt auf der Grundlage von visuellen und ikonographischen Überresten wie etwa den Bayeux-Teppichen eine Beschreibung der äußeren Erscheinungsgestalt der Schlachtteilnehmer (S. 35) und des Durcheinanders („cohue confuse", S. 41), in dem die Quelle sie darstellt. Die Rhetorik, in der dies geschieht, ist eine der resurrection und lässt weniger an strenge Wissenschaftlichkeit als an Michelet denken. Sie zielt auf größtmögliche visuelle Suggestivität28. Die Waffen und Panzerungen werden erklärt, sowohl in ihrer Materialität als auch in ihrer sozialen Bedeutung. In den Gesta Philippi Augusti ächtet Guillaume le Breton einige neue Waffenerfindungen als Teufelswerk. Der Leser begegnet solchen Äußerungen mit größerer Kompetenz, nachdem er von Duby erfahren hat, dass diese Waffen die soziale Hierarchie im Kampf auf den Kopf stellen: Die damals neuartigen Haken und Spitzen werden von gemeinen Kämpfern und Söldnern benutzt, um Ritter von ihren Pferden ziehen und töten zu können. Neue, dichtere Panzerungen sind die Antwort darauf. Heldenmut, „cette nouveaute du ΧΙΓ siecle" (S. 38), wird auf eben diese neuen Rüstungen zurückgeführt. Die hohen Kosten dieser Rüstungen haben wiederum soziale Folgen, beispielsweise den ökonomisch bedingten späten Ritterschlag. Banner sind in Guillaumes Text allgegenwärtig - auch dies, so erfahrt der Leser, ist auf die Entwicklung der Rüstungen zurückzu-

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„Puisque les marques de l'evenement ne sauraient faire l'objet d'une interpretation convenable sans etre au prealable replacees dans les systeme de culture qui refut en son temps leur empreinte, il importe d'abord de se referer ä tout ce que l'on sait par ailleurs de cette culture, afin de critiquer les temoignages qui nous sont depuis lors parvenus" (S. 21). Ζ. B.: „Emprisonnes dans leurs carapaces cliquetantes et couverts de ces couleurs lacerees, les personnages, au premier coup d'ceil, apparaissent agglomeres en une cohue confuse et qui se laisse ä grand-peine denombrer" (S. 40 f.).

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führen, denn dadurch wurden Zeichen zur Identifikation der Ritter unentbehrlich. Es folgen einige Hintergrundinformationen über König Philipp bis zum Zeitpunkt der Schlacht - im Grunde eine biographische Erzählung, verflochten mit Anmerkungen zur Geschichte des Kapetinger-Geschlechts und seines Legitimitätsanspruchs (so werden beispielsweise die Begriffe translatio

studii und trcmslatio imperii erklärt). Auffallig ist die extrem

häufige Verwendung des historischen Präsens. Damit gibt sich Duby die fiktive Rolle eines Kommentators zum Zeitpunkt der Schlacht - es handelt sich also um ein grammatisches Pendant zu den Präsenzeffekten der Theaterterminologie. Die Deixis verweist insgesamt auf den Zeitpunkt der Schlacht, wie die Zeitenfolge in der folgenden Passage verdeutlicht: Philippe est ä quelques jours de sa cinquantieme annee. Ce qui veut dire, pour le temps, il entre franchement dans la vieillesse. Trente-cinq ans plus tot, les grands du royaume / 'ont acclame dans la cathedrale de Reims, et les prelats ont repandu sur son corps l'huile de la sainte ampoule, le consacrant, au sens le plus fort du mot, l'impregnant, comme le sont les eveques, de la puissance divine et de toutes les vertus qu'elle confere. A cette date, le roi Louis VII, son pere, η'etait pas mort. Mais, ereinte, il ne se sentait plus capable d'agir. II survecut quelques mois ä Γ election et au sacre de son fils aine. Celui-ci, cependant, des ce jour-lä, etait devenu pleinement roi. A quator2e ans. [...] Depuis trente-cinq ans done, Philippe, chaque printemps, monte ä cheval et conduit les siens au combat. (S. 42; Hervorhebungen A.R.)

Es folgt eine Aufzählung der beiden Lager, die Schlachtteilnehmer werden namentlich genannt und, was wichtig für das Verständnis des Zusammenhalts der beiden Gruppen ist, ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse werden erklärt. Dies betrifft vor allem die Mitstreiter König Philipps, ihre Namen sind in Majuskeln gedruckt, wie es die typographische Konvention in Frankreich für die Namen von Figuren in Theatertexten vorsieht. Der Beschreibung des Orts und seiner strategischen Lage folgt ein Hinweis auf die zahlreichen politischen Intrigen, die am 27. Juli 1214 ebendort zusammenlaufen. Damit befinden wir uns auf der zeitlichen Ebene der Ereignisse und menschlichen Handlungen. Die wesentlichen politischen und religiösen Konflikte der Zeit werden genannt: das Projekt der Befreiung Jerusalems, die Verteidigung Spaniens gegen die Mauren und die neuen häretischen Bewegungen. Es sind aber vor allem zwei miteinander verwobene Konflikte, in deren Intrigen, traditionell ereignisgeschichtlich gesprochen, der Schlacht von Bouvines die Bedeutung eines Ereignisses zukommt: zum einen der Streit zwischen Kaisertum und Papsttum, zum anderen der Zwist zwischen dem englischen und dem französischen Königshaus. Auch hier befinden wir uns auf der Ebene der ,kurzen Dauer'. Es sind menschliche Aktanten, die da intrigieren. Die

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päpstlichen Interessen decken sich mit denen Philipps, zum Nachteil Johanns Ohneland. Dieser ist es, der die Grafen von Boulogne und Ferrand sowie den deutschen König Otto nicht zuletzt mit Geld (S. 54) davon überzeugt, sich im Kampf gegen den Kapetinger zu sammeln. Duby resümiert den weiteren Verlauf dieses Konflikts in kurzen Worten, die Erzählung wird immer langsamer, mündet in eine szenische Darstellung des Vorabends der Schlacht im historischen Präsens, um mit einem auf den temps de Ι'έηοηοέ verweisenden Erzählerkommentar zu enden: „Ce prologue etait necessaire. Ecoutons ä present le principal temoin" (S. 67). Von einer Absage ans Erzählen kann in diesem Kapitel keine Rede sein. Es handelt sich um eine Vielzahl thematisch geordneter Erzählungen (ζ. B. WafFenentwicklung, königliche Biographie, Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht), die sich im „Knotenpunkt" des Ereignisses überkreuzen oder dessen Hintergrund bilden (Die Schlacht hat also nicht in allen Erzählungen den Status eines Ereignisses). Politische Konflikte werden meist als individuelles Denken und Handeln dargestellt. Darin weicht Duby nicht sonderlich von der herkömmlichen Sichtweise auf das Ereignis ab. Eine Abweichung von der traditionellen Geschichtsschreibung markiert hingegen die patchwork-, netz- oder collagenartige Vielfalt der narrativen Zusammenhänge. Eine traditionelle historische Erzählung würde den roten Faden einer Erzählung in den Vordergrund stellen. Die „Mise en scene" entspricht damit jenem Arbeitsschritt, den Duby die Situierung des Ereignisses in seinem zeitgenössischen kulturellen System nennt. Dies erfolgt unter Verwendung alles Wissens, das die Geschichtswissenschaft bisher zu diesem Thema produziert hat, und so wird eben auch die politische Ereignisgeschichte nicht ausgespart. Die Behandlung des Ereignisses als „revelateur" erfolgt erst in dem mit „Commentaire" überschriebenen Teil des Buchs. Dort wird das Ereignis auf den Frieden, den Krieg, die Schlacht und den Sieg hin befragt. Dazwischen liegt freilich noch der ins Neufranzösische übersetzte Quellentext. Vom theoretischen Standpunkt her ist nicht einzusehen, warum dieser Text weniger an der ,Deformierung' des ursprünglichen, nicht einholbaren Ereignisses teilhaben soll als andere Dokumente. Dennoch versucht Duby, den Gesta Philippi Augusti den Status eines halbwegs authentischen Berichts zu verleihen. Der Text sei „la trace de l'evenement la plus immediate, la plus nette et la plus etendue" (S. 22): [...] un recit qui, bien sür, est arrange et qui toujours met Γ accent sur ce qui peut rehausser la gloire capetienne. Honnete au demeurant, autant qu'il est possible de l'etre quand on est serviteur et qu'on songe ä ses vieux jours, circonstancie, precis,

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clair, et que la rhetorique, le souci de charmer et de faire etalage de culture classique, n'encombre pas outre mesure. En un mot, le meilleur temoignage. (S. 27)

Was aber bedeutet dies, wenn nicht, dass uns dieser Text eben doch einen annehmbaren Zugang zum fait vecu liefert29? f) Die Schlacht als evenement

revelateur

Der mittelalterliche Text bedarf freilich eines gelehrten Kommentars, damit der Leser ihn auch ,richtig' versteht, nämlich nicht traditionell ereignisgeschichtlich, sondern im Sinne einer „ethnographie de la pratique militaire au debut du ΧΙΙΓ siecle" (S. 10). [...] puisque l'evenement est en lui-meme extraordinaire, les traces exceptionnellement profondes qui en demeurent revelent ce dont, dans Γ ordinaire de la vie, on ne parle pas ou trop peu; elles rassemblent, en un point precis de la duree et de l'etendue, une gerbe d'informations sur les manieres de penser et d'agir, et plus

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In seiner Ritter-Biographie Guillaume le Marechal geht Duby ganz ähnlich vor. Es gibt nur eine einzige Quelle, die Histoire de Guillaume le Marechal, ein altfranzösisches Lied in etwa zwanzigtausend Versen, nicht unähnlich den chansons de geste (wenn auch im Versmaß des höfischen Romans), das von Guillaume dem Jüngeren zur Erinnerung an seinen Vater Guillaume le Marechal kurz nach dessen Tod im Jahre 1219 in Auftrag gegeben wurde. Wie schwierig eine Bewertung der Quelle ist, verdeutlicht ein Blick in die einschlägigen Lexika zur mittelalterlichen Geschichte (Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München/Zürich 1983, Col. 203 und Bd. 4, München/Zürich 1989, Col. 1783 sowie Jean Favier: Dictionnaire de la France medievale, Paris 1993, S. 480). Der Text trägt Züge verschiedener Gattungen und mischt überprüfbares Zeitgeschehen mit fiktionstypischen Idealisierungen. Duby aber stilisiert seine Quelle durch eine kühne Metapher zu einer authentischen .Autobiographie'. Der Verfasser des Lieds, Jean, gibt die Auskunft, dass sich der Bericht zum größten Teil auf die Erinnerungen eines gewissen Jean d'Early stützt, ehemaliger Schildknappe Guillaumes und ein Leben lang dessen treuer Vasall. Seltsam nur, wie Duby mit dieser Information umgeht: „Du moins ne fait-il pas de doute que le plus sür vient de Jean d'Early, alter ego du Marechal, qui lui survit et qui parle. Racontant ce qu'il a vu de ses yeux mais egalement, et surtout peut-etre, ce que le Marechal, lorsqu'il etait vivant, racontait et aimait ä entendre raconter. Le souvenir de Jean d'Early est en realite celui meme de Guillaume le Marechal. Jean etait le porteur attitre de ce souvenir; il le porte encore, apres la mort, et le fourbit, comme jadis il avait porte et fourbi les armes de son patron. II le delivre, reluisant, lorsqu'il est requis de le faire. En bon serviteur, aimant d'amour son maitre. Par la bouche de Jean, son cadet d'une vingtaine d'annees, Guillaume lui-meme s'exprime. La matiere vient de lui, de sa propre memoire. La chanson, finalement, est-elle autre chose que ses memoires, non point personnellement ecrits, mais dits et fidelement rapportes? Une autobiographie?" (Duby: Guillaume le Marechal, S. 45 f.).

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Analysen historiographischer Texte precisement, puisqu'il est question d'un combat, sur la fonction militaire et sur ceux qui, dans la societe de l'epoque, etaient charge de l'assumer: Bouvines est un lieu d'observation eminemment favorable pour qui essaie d'ebaucher une sociologie de la guerre au seuil du Xllle siecle dans le Nord-Ouest de l'Europe. (S. 21)

Im „Commentaire" geht es darum, das Ereignis auszubeuten, was nun aber bedeutet, sich von ihm zu entfernen in Richtung einer allgemeineren historischen Realität. Was verstand man im 13. Jahrhundert unter ,Krieg' und ,Frieden'? Was bedeutete es, eine Schlacht zu schlagen und sie zu gewinnen? Der Kommentar enthält vier kleinere Kapitel, die die folgenden Überschriften tragen: „La paix", „La guerre", „La bataille", „La victoire". Diese Abfolge beinhaltet durchaus eine Geschichte. Sie beginnt mit der Erklärung dessen, was man im Mittelalter unter einem Krieg im Gegensatz zu dem extrem seltenen Phänomen der Schlacht verstand, und welche Bedeutung der Frieden hatte. Die Tatsache, dass der Kommentar mit zwei Kapiteln über die Schlacht selbst und den Sieg endet, verdeutlicht, dass Duby sich im Kern an den Plot der Gest a Philippi Augusti hält. Ein langes Zitat aus einer anderen Quelle, den Chroniques de Saint Denis, resümiert noch einmal Philipps Leben. Der Kapetinger bleibt auch im „Commentaire" die zentrale Figur. Sein Gewinn an Geld, Ruhm und Macht durch die Schlacht ist enorm und hat Auswirkungen auf die Zukunft der Monarchie. Die letzen Sätze des „Commentaire" verdeutlichen, dass diese das wahre Subjekt der Erzählung ist, das durch Bouvines eine Veränderung erfahrt: Beni soit Dieu: il etablit dans l'aisance ceux qui le servent bien. Par la victoire qu'il a donne, la monarchie capetienne se trouve veritablement - chargeons le mot de sa pleine signification - consacree. Au tout jeune Louis, le petit-fils, ce bebe de trois mois, la saintete dejä est promise. (S. 235)

Die Übergänge zwischen den Unterkapiteln bestätigen die bisherigen Beobachtungen. Sie haben zwei Funktion: Sie schaffen narrative Kohärenz, und sie dienen der Dramatisierung im Sinne einer Simulation offenen Geschehens. Verweist der Übergang von „La paix" zu „La guerre" noch auf eine „histoire profonde, determinante: celle de l'argent" (S. 132), so endet die Geschichte des Geldes wiederum mit dem Ausblick auf die kurz bevor stehende Schlacht. Geldgier erweist sich nämlich bei allen politischen Verstrickungen als einer der wesentlichen Gründe, die zur Schlacht fuhren. Das Bild der kapetingischen Truppen am Vorabend der Schlacht, das Duby dem Leser gibt, ist davon geprägt: Soeben haben die Soldaten das Lehen eines flandrischen Vasallen verwüstet und sind deshalb voll beladen mit Beute. Die gegnerischen Truppen indes wollen sich das Geld, das Johann

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Ohneland zu zahlen bereit ist, erst noch verdienen. So allgemein dieses Kapitel begonnen hat, nämlich mit einer tiefen, langsamen, determinierenden Geschichte, deijenigen des Geldes, so individuell-ereignisgeschichtlich endet es, nämlich mit dem Ausblick auf die kurz bevorstehende Schlacht: Et pourtant la tentation d'un gain süperbe, la flamme des vieilles rancoeurs, l'agressivite de pays ä pays, des Flamands contre ceux d'Artois et de Picardie, se revelent les plus fortes, livrent passage ä la temerite. II est decide que, ce dimanche, on risquera le tout pour le tout. L'empereur et ses allies ont choisi la bataille. (S. 189)

Der Übergang von diesem zum nächsten Kapitel beinhaltet wiederum ein romanhaftes Spannungselement und fuhrt auch die Zuspitzung des Geschehens fort, die wir bereits im vorangehenden Kapitels beobachten konnten, ja er verstärkt sie noch: Tous ces gestes signifient Γ entree dans le temps du sacre. Alors, dans la chaleur de midi, se rompt la gravite du silence. Derriere le roi de France, et comme ä 1'ofFice, deux clercs entonnent la psalmodie. Elle va se derouler tout au long du combat, interrompue seulement [...] par les sanglots de Γ emotion et les eclats d'une priere jaculatoire: que Dieu ne Poublie pas, son Eglise n'a qu'un protecteur, Philippe; eile est ecrasee par Otton, depouillee par Jean sans Terre. La personne du souverain, et cette couronne qui est l'enjeu de la partie, se trouvent des lors comme enserrees dans l'incantation qui monte, le vieil appel d'Israel au Dieu des armees: des psaumes, et qui sont bien choisi: ,Beni soit Yahve, mon rocher, qui instruit mes mains aux combats et mes doigts pour la bataille. Toi qui donnes la victoire aux rois, sauve David, ton serviteur (CXLIV)'; ,que Dieu se leve, que ses ennemis se dispersent et ses adversaires fuient devant sa face; comme se dissipe la fumee, qu'ils se dissipent. Disperse les grands qui aiment la guerre (LXVIII)'; ,Yahve, ta force rejouit le roi; combien ton salut le comble d'allegresse. Tu lui as accorde le desir de son cceur, tu n'as point refuse le souhait de ses levres. Ont-ils trame le mal, contre toi müri leur plan, ils n'auront pas le succes... (XXI)'. Dans ces chants d'esperance, et dans le tintamarre des injures et des clairons, le duel s'inaugure. (S. 207 f.)

Die Passage sei an dieser Stelle so ausfuhrlich zitiert, da an ihr deutlich wird, dass sich die Erzählzeit noch einmal dehnt. Wieder dominiert das historische Präsens und die Präsentation ist ausgesprochen szenisch. Einige Begriffe sind hervorzuheben: „entree dans le temps du sacre", „dans la chaleur de midi", „se rompt la gravite du silence". Sie signalisieren, dass der Text nun wieder bei der kürzesten aller historischen Zeiten angekommen ist, deijenigen der menschlichen Handlungen. In diesem Sinne ist auch die bereits in der Prosachronik vorhandene Auflistung der Psalmen zu verstehen. Sie entspricht funktional der direkten Rede. Obgleich der Leser weiß, dass der Kapetinger als Sieger aus der Schlacht hervorgehen wird, so suggeriert ihm die szenische Präsentation - wie auch die zahlreichen Foka-

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lisierungen - doch die Offenheit eines fait νέοι. Damit entspricht Le dimanche de Bouvines einer Disposition, die Gumbrecht historiographiespezifisch nennt: „Das von den Lesern aktualisierte historische Wissen wird in dem Rahmen von Erlebnisstrukturen zurückversetzt"30. Dies geschieht durch die „Kontrastierung von leerer Protention der Protagonisten einer thematisierten Vergangenheit und erfüllter Protention, wie sie die Nachwelt kennt", mit dem Ziel der „Vergegenwärtigung vergangenen Erlebens"31. Die Schlacht, die Duby nun beschreibt, ist ein Prototyp, und mit der Feststellung „Bouvines fut l'une de ces ceremonies exceptionelles dont les rites etaient depuis longtemps fixes" geht der Historiker über zu einer Schilderung dessen, was sich nach Maßgabe der verschiedenen Quellen auf dem Schlachtfeld am 27. Juli 1214 abgespielt hat. Verallgemeinernde Kommentare haben die Funktion, die Darstellung konkreter Situationen, etwa die Beratungen des Königs mit seinen Fürsten, nachdrücklich zu plausibilisieren32. Je näher Duby der Darstellungsebene der menschlichen Handlungen kommt, um so mehr häufen sich interne Fokalisierungen und Suggestivfragen33. Eine weitere narrative Dimension des „Commentaire" besteht darin, dass Duby um das Ereignis herum an dem bereits erwähnten Netz von Erzählungen weiterwebt und das Ereignis darin verortet. Bouvines hat nicht in jeder dieser Erzählungen den Charakter eines Ereignisses, nichtsdestoweniger handelt es sich um Erzählungen. Als Beispiel sei hier eine ,Geschichte des Kriegs' referiert: In der „nuit prehistorique" ist der Krieg eine gute Sache. Er erfüllt ökonomische Zwecke wie die Vermehrung von Ressour30

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Hans-Ulrich Gumbrecht: „,Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre'. Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung"; in: Formen der Geschichtsschreibung, S. 481-513, hier S. 495. Dubys Buch entspricht auf das Deutlichste auch den anderen drei von Gumbrecht angeführten Dispositionen: Bouvines ist „in der Welt der Rezipienten durch bestimmte Gegenstände metonymisch präsent", sie ist „im aktualisierbaren Wissen der Rezipienten präsent", und die Rezipienten sehen sie „als Teil,ihrer eigenen' Vorgeschichte an". Ebd., S. 496 f. Ζ. B.: „Averti, Philippe s'arrete, reunit son conseil. Comme il se doit: aucun prince, ä l'epoque, ne prend seul une decision de quelque consequence" (S. 202). Ζ. B. S. 203: „Philippe de Courtenay, qui, tres proche parent du roi, parla Tun des premiers, aurait admis qu'il est mal de repandre le sang humain un jour sacre; n'est-il pas vrai, pourtant, que celui qui ne prend pas Γ initiative de Γ agression, qui se defend seulement contre une attaque, commet un peche moindre: alors que ne pas resister au bon moment, c'est accepter la defaite, ou bien agir sottement." - Duby paraphrasiert hier eine Information, die in einer mittelalterlichen Quelle enthalten ist, der Flandria generosa.

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cen der Familienverbände, und der Frieden ist nicht mehr als eine kurze Unterbrechung eines Dauerkriegszustandes. Die Abwesenheit von Veränderung drückt sich textuell in der konsequenten Verwendung des imparfait aus. Dann aber erlebt der Krieg eine Veränderung: Or, aux approches de Γ an mille, dans 1 Occident christianise, voici que brusquement la guerre fut reputee mauvaise. Mutation bouleversante. [...] une autre conception de la paix s'installa. (S. 104)

Die Ereignishaftigkeit dieser Veränderung kommt gleich auf mehrfache Weise zum Ausdruck: in der Angabe eines Zeitpunkts, durch das Adverb „brusquement", in dem Kommentar „Mutation bouleversante" und in der Verwendung des passe simple. Sodann erklärt Duby ausgehend vom manichäischen Weltbild der Zeit, wie der Krieg wieder eine gerechte Sache im Dienste des Glaubens wird, nämlich als Verteidigung und Erweiterung des Reiches des Glaubens: „Menee dans ce but, la guerre redevient juste, et combattre n'est plus pecher" (S. 106). Das historische Präsens erfüllt dabei dieselbe Funktion wie oben das passe simple. Die Sujetbewegung im Sinne Lotmans ist problemlos auszumachen: Der Krieg hat die Grenze der beiden semantischen Felder ,gut' und ,schlecht' bzw. ,gerecht' und ,ungerecht' einmal überschritten und kehrt wieder zurück34. Es folgt die Entstehung der Gottesfriedensbewegung, in deren Rahmen sich die Vorstellung der drei Ordnungen entwickelt. Die nicht zur Gruppe der Kämpfenden gehören, sollten fortan durch einen gottgewollten Frieden geschützt sein. An dieser Stelle erscheinen institutionelle bzw. kollektive Aktanten: die Könige, die drei Gesellschaftsgruppen, die Kirche, Synoden. Wieder verweisen Tempora und Adverbien deutlich auf die Erzählung: Bientot, pourtant, l'Eglise vit qu'il etait de son devoir de ne pas laisser en proie aux forces sataniques tous ces hommes violents et pillards [la chevalerie], dangereux certes, mais pourtant baptises. Elle voulut les aider a sauver leur äme, eile tenta de les domestiquer. (S. 109)

Der Kreuzzugsgedanke ist geboren. Mit den Päpsten Urban II., Kalixt II. und Innozenz III. werden erstmals in diesem Kapitel individuelle menschliche Aktanten genannt, später im Text folgen weitere, die auf die Veränderungen bezüglich der Vorstellungen vom Frieden Einfluss nehmen: Ludwig VI. und, durch seine Schriften, Suger, Abt von Saint Denis. Die Geschichte des göttlichen Friedens und die Frage danach, wer ihn auf Erden sichert, verquickt sich mit zwei anderen Geschichten, der des französi34

Da sich diese Bewertungen auf die Perspektive der Zeitgenossen bezieht, handelt es sich hierbei im Grunde um eine verallgemeinerte interne Fokalisierung.

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sehen Königtums (S. 125-129) und der des Konflikts zwischen Friedrich Barbarossa und dem Papst. Au temps de Bouvines, Γ affaire de la paix et de la foi, l'Eglise romaine, monarchique, totalitaire, l'Eglise d'Innocent ΙΠ, entend plus que jamais en faire sa chose. (S. 113) Deux dates conjointes, celle du troisieme concile du Latran, celle du Sacre de Philippe Auguste, ouvrent la periode ού l'horizon veritablement se degagea, oü l'on peut voir le grand jeu se developper entre les rois, celui d'Allemagne, celui d'Angleterre, celui de France - une partie serree dont le pape n'etait plus qu'un partenaire parmi d'autres, et qui preparait Bouvines. (S. 129)

Weitere Beispiele für dieses Netz aus Erzählungen sind die bereits erwähnte Geschichte des Geldes und, mit dieser zusammenhängend, die Geschichte des Turnierwesens. Dessen Ursprünge gehen ins neunte Jahrhundert zurück, und es erlebt seine Hochphase im zwölften Jahrhundert, vor allem in Frankreich. Seine Bedeutung in diesem Kapitel beruht auf seiner Eigenschaft, das Verhalten der Schlachtteilnehmer von Bouvines zu bestimmen35. Gleichzeitig ist es für eine Geschichte des Geldes von Interesse, denn die Hauptakteure auf den Turnieren, die sogenannten „Jeunes", zeichnen sich durch ökonomische Unselbständigkeit aus. Könige nehmen in der Regel nicht an Turnieren teil, auch Philipp nicht. Duby schildert die Turniere dem heutigen Leser als einen „sport d'equipe" (S. 156). Die jungen Ritter sind in zusammengekauften ,Mannschaften' organisiert. Je besser eine Mannschaft sein soll, um so teurer ist sie. Daher kommt dem Turnierwesen eine Umverteilungsfunktion zu, und auch hier profitiert der Handel: Die Turniere ziehen Händler und Handwerker an, Pferdezüchter und Prostituierte, bei denen die Ritter das gerade erworbene Geld sofort wieder ausgeben36. Diese Entwicklungen beeinflussen auch die Ideologie der Ritter. Nicht mehr Stolz, sondern Geiz gilt als größte Sünde. Die ritterliche Ethik verlangt, prouesse mit largesse zu verbinden. Der Gewinn, den jene einem Ritter auf Turnieren und im Krieg einbringt, muss durch diese kompensiert werden. „Un preux ne saurait gagner que pour donner davantage" (S. 179). Diese Ideologie kann indes nicht verbergen, so Duby, 35

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Schon in der Prosachronik heißt es: „Gautier de Ghistelle et Buridan, qui etaient chevaliers de noble prouesse, exhortaient les chevaliers de leur echelle ä la bataille, et leur ramenaient en memoires les faits de lews amis et de lews ancetres, sans plus de pew, comme il semblait, que s'ils eussent joue en grand tournoi" (S. 77). Vgl. S. 163: „Le role des tournois dans l'economie du Xü e siecle equivaut ä celui que remplissait naguere encore la donation pieuse, dans une population que les pretres tenaient plus etroitement en laisse".

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dass die Ritter im Krieg von der reinen Besitzgier getrieben werden, wodurch sich erklärt, dass der Krieg wieder das Aussehen der zu Beginn des „Commentaire" erwähnten Plünderungsfeldzüge annimmt. Im gesamten Kommentar greift Duby auf ein breites Wissen zurück und nennt sehr viele Beispiele, zieht Quellen verschiedenster Art heran, vorwiegend schriftliche, aber auch solche der materiellen Kultur wie archäologische Funde und die Bayeux-Teppiche. Der in der Metapher „exploiter l'evenement" implizierte Anspruch, aus dem individuellen Ereignisse allgemeine Schlüsse zu ziehen, wird jedoch nicht erfüllt. Zutreffender bezeichnet die beiläufig genannte Metapher des ,Erhellens', was mit dem Projekt einer „ethnographie de la pratique militaire au debut du ΧΙΙΓ siecle" gemeint ist: L'evenement qu'est Bouvines s'eclaire lorsqu'on le situe ä sa vraie place, dans la longue coulee de tous les progres qui, durant le XIF siecle, avaient modifie les formes de Taction militaire. (S. 168)

Was der Leser über jene alltäglichen Dinge erfahrt, über die die Quellen sonst nichts berichten, weil sie zu selbstverständlich sind' (S. 21), wird nicht aus den Zeugnissen über das Ereignis gewonnen, sondern ganz im Gegenteil, an diese herangetragen: die tieferen Geschichten wie diejenigen des Krieges, des Geldes und des Turnierwesens. Dennoch lässt sich auch bei Duby unschwer eine lineare Erzählung erkennen, die man sowohl in den Gesta Philippi Augusti (die detaillierte chronologische Schilderung des Schlachtgeschehens) als auch in der Histoire de France (die Geschichte der französischen Monarchie) wiederfindet. Der wesentliche Unterschied zu diesen beiden Texten besteht darin, dass sich bei Duby die lineare Erzählung mit einer Vielzahl von Erzählungen mit verschiedenen Subjekten und verschiedenen Geschwindigkeiten überkreuzt und überlagert. Dieses Verfahren führt zu dem Effekt, dass das menschliche Handeln an Vielschichtigkeit gewinnt. Es erscheint als in viele ,tiefere' Geschichten verstrickt, und damit wird der lineare Verlauf eines historischen reel, wie wir ihn bei den Positivisten finden, aufgelöst in eine Vielzahl verschiedener reels. Die Selbstverständlichkeit, mit der Duby diese kontextuellen Geschichten erzählt, ist zunächst erstaunlich, ließen die programmatischen ersten Seiten des Buchs doch darauf schließen, dass es im folgenden um die Beschreibung von Strukturen gehen würde. Der Widerspruch klärt sich jedoch auf, hält man sich vor Augen, dass sich Duby nur von einer ganz bestimmten Spielart des Erzählens distanziert. Am Beispiel des Dimanche de Bouvines wird einmal mehr deutlich, dass die Kritik der Annales nicht eigentlich der Erzählung schlechthin gilt, sondern nur

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jenen historiographischen Varianten, welche Geschichte auf politische Konflikte reduzieren. Bezüglich des Aufbaus des ganzen Buchs aber lässt sich sagen, dass mit dem „Commentaire" die Voraussetzimg fur die Geschichte des Gedächtnisses von Bouvines im Sinne einer rezeptionsästhetischen Werkkonstante geschaffen ist. g) Die Rezeptionsgeschichte des Ereignisses Im Gegensatz zu jenen Metaphern, die Dubys ersten Arbeitsschritt benennen, impliziert die Metapher der „deformation progressive par le jeu, rarement innocent, de la memoire et de l'oubli." (S. 10) von vornherein eine Geschichte. Wird dem Verfasser der Gesta Philippi Augusti noch eine gewisse Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit attestiert, zu deren vollständiger Herstellung es freilich eines Kommentars bedurfte, so sind die Zeugnisse des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ganz der nationalistischen Propaganda zuzurechnen. Fraglich ist nur, ob es sich bei diesem Entwicklungszusammenhang um eine offene Folge von Rezeptionszeugnissen handelt, die in der Gegenwart des Historikers kontingent abbricht, oder um eine ,runde' Geschichte, eine narrative Synthese, die erst von ihrem Ende her verständlich wird und eine Sujetbewegung vorweist. Dubys Metaphorik lässt letzteres zumindest vermuten, impliziert der Gedanke der Deformation doch eine Teleologie und eine Opposition: Authentizität vs. Verfremdung. Die Geschichte des Gedächtnisses von Bouvines trägt den Titel „Legendaire" und umfasst zwei Kapitel. Das erste, „Naissance du mythe", befasst sich mit der Entstehung des Mythos in den Chroniken der unmittelbar auf das Ereignis folgenden Jahre. Schon hier zeigt sich, dass einige Berichte das Ereignis ,verfalschen'. Vor allem deutsche und englische Berichte haben ein offenkundiges Interesse daran, die Niederlagen Ottos und Johanns zu beschönigen. Im Anschluss an das kurze Referat zweier solcher Berichte stellt Duby erstmals die Frage, ob nicht auch Wilhelm Britos Bericht, den er als das glaubwürdigste aller Zeugnisse über Bouvines präsentiert hat, im Sinne des französischen Königs beschönigt, ob diese Prosachronik nicht schon am Mythos arbeitet, und er beantwortet diese Frage mit einer eingehenderen Betrachtung der Philippide, eines epischen Gedichts, das Guillaume le Breton noch im Jahr der Schlacht begann und zehn Jahre später abschloss. Guillaume hat also zwei Berichte über Bouvines verfasst, und die ideologisierten, legendenhaften Züge des zweiten dienen Duby als Argument, die Glaubwürdigkeit des ersten, der Gesta

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Philippi Augusti, dieses „sobre constat de depart" (S. 256) noch einmal zu bekräftigen. Ist dessen Inhalt zwar bereits „peu fidele ä la realite" (ebd.), so ist der zweite Bericht vollkommen dem Bereich des Märchenhaften zuzuschlagen. In ihm übersteigt die Truppenstärke des Gegners diejenige der Franzosen um ein Vielfaches, die Namen der Ortschaften werden sprechende, stilistisch zeichnet sich der Text durch sehr viel Schmuck aus. Durch all diese Merkmale erhält der Kampf zwischen Philipp und Otto epische Dimension, der Bericht wird zum Mythos37. Die zweite Phase der Erinnerung setzt um die Mitte des 13. Jahrhunderts ein und produziert Texte, die über die Fabulier- und Ausschmückungswut des Guillaume de Breton weit hinausgehen: Ottos Truppen besitzen eine zehnfache Übermacht, zählen dafür aber 30.000 Tote und Gefangene gegenüber nur zweien auf französischer Seite. Das Banner der Oriflamme wird zu einer den Sieg herbeiführenden Kraft überhöht. Zwei Züge kennzeichnen die Berichte dieser Phase. Zum einen betonen sie die priesterliche Funktion des Königs durch Abendmahlmetaphorik, zum anderen die Bedeutung der königlichen Krone. Beide sind fur Duby Ausdruck eines Mythos, der das neue Bündnis zwischen Königtum und Ritterschaft betont. Der politische Hintergrund besteht darin, dass der König neben der bereits erworbenen Unterstützung des betenden und des arbeitenden Teils der Bevölkerung noch die des dritten Teils, der kämpfenden Ordnung braucht. Im ausgehenden 14. Jahrhundert gerät das große Ereignis, das Bouvines einmal gewesen ist, schließlich in Vergessenheit.

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Den Übergang vom Bericht zum Mythos führt Duby auf drei zusammenhängende Verschiebungen zurück: Erstens wird das Geschehen im Sinne des im dreizehnten Jahrhundert allgemein dominierenden manichäischen Weltbildes gestaltet. Die Schwarzweiß-Kontraste zwischen den Bösen und den Guten werden dadurch gegenüber dem früheren Text noch verstärkt. Grausamkeit, Hinterhältigkeit, Wollust, Besitzgier und Zauberei kommen allein aus dem Heiligen Römischen Reich. Philipp hingegen ist der Verteidiger der Sache Gottes, was hier bedeutet: Er ist ein Gegner der Kirchenreform. Die zweite Verschiebung ist die Folge der ersten: Das Schlachtgeschehen wird reduziert auf die Liturgie eines Zweikampfs zwischen dem Vertreter Gottes und demjenigen des Teufels. Damit wird König Philipp zu einem Helden ohne jeden Anflug von Angst oder auch Reflexion. Der letzten Verschiebung aber misst Duby die größte Bedeutung bei: Der Sieg des „champion" Gottes wird zu einem nationalen Triumph uminterpretiert. Als Gegenbild der neuen, die alten geographischen Grenzen des Parisis überschreitenden Nation dienen die Deutschen, denen die Attribute der Grobschlächtigkeit und Kulturlosigkeit verliehen werden. Die abtrünnigen flandrischen Vasallen Philipps und diejenigen Johanns Ohneland treten dadurch in den Hintergrund.

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Das zweite Kapitel der Gedächtnisgeschichte, „Resurgences", hat das Wiederaufleben der Erinnerung ab dem 17. Jahrhundert zum Thema. Duby schreitet von einer Spur zur anderen streng chronologisch voran: Historische Abhandlungen, Geschichts- und Schulbücher, Kirchenfenster, Denkmäler, patriotische Lyrik und Dramatik, Zeitungsartikel, Gedenkfeiern, Reden. Das Tabu des Sonntagsfriedens spielt in ihnen schon keine Rolle mehr. Im 19. Jahrhundert kommt Bouvines, bedingt durch den Aufstieg des historischen Denkens und die romantische Vorliebe für das Mittelalter, wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Ein wichtiges Datum für die Geschichte der Erinnerung ist der deutsch-französische Krieg von 1870. Die Niederlage führt zu einer Rückbesinnung auf das Jahr 1214, in dem schon einmal ein deutscher Kaiser der Gegner Frankreichs gewesen ist. Duby führt einige (wenn auch wenige, aber eine stammt immerhin von keinem geringeren als Ernest Lavisse, dem Herausgeber der Histoire de France) Aussagen an, in denen Deutschland wieder zur Heimat aller Niedertracht und Kulturlosigkeit wird. Die Schulbücher aus dieser Zeit stellen Bouvines explizit als Sieg des Volkes, der Bürger, der Kommunen über das Feudalwesen dar, ein Sieg, den sich das gegenwärtige Frankreich zum Vorbild wählen solle. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem ab 1914, steigert sich die Aggressivität in den Spuren der Erinnerung an Bouvines. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen stehen sie ebenfalls im Zeichen nationalistischer Propaganda, die den Mythos einer ewigen Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen konstruiert. Durch die Auswahl der Zitate stellt Duby einen expliziten Bezug zu einer der großen Katastrophen der europäischen Geschichte her. Der veruntreuende Umgang mit der Geschichte produziert eine neue, unheilvolle Geschichte38. Die Untersuchung der Zeugnisse aus

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Vgl. S. 297 f.: „A cette meme date [1935], cependant, alors que les noirceurs s'amassaient outre-Rhin, alors qu'en France, les Anciens Combattants revaient d'un ordre nouveau, A. Hadengue consacrait ä la victoire creatrice un livre honnete, vibrant de cet enthousiasme qui jadis portait au lyrisme le capitaine de Mallery. Le mortel danger fait eclore dans les profondeurs de notre peuple un sentiment nouveau, et ce sentiment, il η 'est qu 'un mot pour le nommer: patriotisme. Hadengue s'est emu devant la serie, toujours incomplete, des vitraux de l'eglise [de Bouvines], Les propos d'un vieux paysan l'ont touche: c'etaient dijä les Prussiens qui etaient venus chez nous. Alors on a mobilise. Les seigneurs et les petits se sont mis d'accord. Comme dans les tranchees. Le general Weygand preface l'ouvrage. II est fort net. Quels enseignements tirer de cette histoire? Que les causes profondes du salut de la France (sont) dans la determination et le caractere du Chef. Chacun devine alors quelle ombre deja se profile. Vieille de sept ans, quelle jeunesse ces legons de Bouvines tie retrouvent-elles pas aujourd'hui, apres la lutte sans precedent que vient de soutenir

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der Nachkriegszeit, vor allem von Schulbüchern, fuhren schließlich zu dem Ergebnis, dass dem Ereignis Bouvines keine große Bedeutung mehr zukommt - die Geschichte der Erinnerung nimmt also ein gutes Ende, wie Dubys Bewertung dieses Befundes deutlich macht: On voit bien pourquoi se dissipent sous nos yeux les dernieres traces de l'evenement. Que viendrait faire le recit de Bouvines dans un enseignement donne aux enfants d'une Europe rassemblee, au nom d'une histoire qui s'est longuement et justement battue pour se degager des entraves de l'evenementiel? Notre temps chasse les batailles de sa memoire. D a raison. (S. 299)

Das bedeutet aber nicht, dass im Europa der 1970er Jahre nationale Angelegenheiten nicht mehr mit Gott in Verbindung gebracht würden. Die beiden letzten Zitate des Buchs stammen von Francisco Franco aus dem Jahre 1971, nur zwei Jahre vor dem Erscheinen von Dubys Buch. Darin bringt der spanische Diktator und General die großen militärischen Erfolge der Weltgeschichte mit einem göttlichen, wenn auch schwer durchschaubaren Willen zusammen. An dieser Stelle mündet Dubys Geschichte von Bouvines in eine Art grand recit des mythisierenden Umgangs mit,großen' Ereignissen in Europa - eine Erzählung, die bis an den Zeitpunkt des Schreibens des Historikers heranreicht. Im Gegensatz zu einer positivistischen Ereignisgeschichte erreicht hier zum Schluss der temps de l 'enonce den temps de l

'enonciation.

Et le 25 juillet 1971, jour de la fete de saint Jacques de Compostelle, patron de l'Espagne, entoure des membres de son cabinet et d'une vingtaine d'eveques, agenouille devant la statue du saint, il [Franco] parle de nouveau. Pour dire quoi? ,Pendant notre croisade de liberation, nous avons constate ä diverses reprises que les victoires les plus decisives etaient remportees les jours correspondant aux grandes fetes de l'Espagne. Ce fut le cas de la bataille de Brunete oü, apres plusieurs jours de pietinement, la victoire nous revint le jour de la fete de notre saint patron. II ne peut en etre autrement quand on combat pour la foi, pour l'Espagne et pour la justice. La guerre se fait plus facilement quand on a Dieu pour allie.' Dieu. Celui des holocaustes et des defiles militaires. Le dieu de l'ordre retabli. Ce grand cheval bleme qui planait sur le champ des morts, un soir, ä Brunete, avait la France pour son existence, apres une victoire cherement acquise, donl les resultats, incontestables mais incompletement poursuivis, jettent le doute dans l'esprit du vainqueur! Et ä l'heure oü le Chef actuel de l'Allemagne ecrit: .La France est I 'ennemie mortelle, I 'ennemie de toujours depuis le ΧΙΙΓ siecle. II faut une explication avec eile, il faut lui regier son compte! De fait, Dieu s'appretait, repondant au vceu de Mgr Touchet, a respecter la loi d'altemance. C'etait cette fois le tour des Teutons" (zur besseren Unterscheidung von Zitat und Originaltext sind die Zitate markierenden Anfuhrungsstriche durch Kursivdruck ersetzt; A.R.).

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Analysen hi stenographischer Texte autrefois plane sur Bouvines. II plane aussi sur Guernica, sur Auschwitz, sur Hiroshima, sur Hanoi et sur tous les höpitaux apres toutes les erneutes. Ce dieu-lä non plus n'est pas pres de mourir. II reconnait toujours les siens. (S. 300 f.)

Die Geschichte der Erinnerung fuhrt also bis in die Gegenwart, womit ein wesentlicher Unterschied zur positivistischen Erzählung benannt ist, beabsichtigt diese doch im Sinne einer illusion referentielle beim Leser den Effekt hervorzurufen, als habe die Vergangenheit selbst schon die Form einer Erzählung gehabt. Dies verlangt eine weitestgehende Dissimulierung des Ortes, von dem aus die historische Vergangenheit rekonstruiert wird. h) Der Erzähler als Mystagoge Betrafen die bisherigen Ausführungen vornehmlich die histoire, so soll abschließend noch die Vermittlungsebene eingehender untersucht werden. Setzt man die positivistische Erzählung als Negativfolie voraus, dann fallt zunächst die starke deiktische Präsenz des Erzählers im Dimanche de Bouvines auf. Das Pronomen „Ich" findet nicht nur in programmatischen Sätzen zur Methode Verwendung, sondern auch in solchen, in denen Duby Erfahrungen formuliert, die seine Zeitgenossen geteilt haben dürften: J'ai connu des paysans qui tremblaient encore un peu lorsque le mauvais temps les for9ait ä moissonner un dimanche. (S. 13) Je revois une image de mon premier Ii vre d'histoire. Elle montrait, se debattant sur le sol, ä moitie prisonnier d'un cheval renverse, une sorte de gros scarabee, avec des fleurs de lys sur les elytres, la tete enfermee dans une boite de fer; de tous cötes, des pointes et des crocs le mena^aient; on m'expliquait que c'etait le roi de France et que, malgre tout, il allait gagner. Cette image, tous les Frani^ais de mon äge ont pu la voir, quand ils avaient huit ou dix ans, tous ceux aussi qui allaient ä l'ecole dans les quarante premieres annees du XX e siecle et dans le dernier quart du XIXe39. (S. 14 f.)

Wie wir bereits gesehen haben, übernimmt Duby die Erzählung des Ereignisses im ersten Teil aus der Quelle, und damit auch die textkonstitutiven Oppositionen. Er schildert das Geschehen aus der Perspektive der französischen Sieger, jedoch nicht ohne das Dargestellte durch erzählerische Ironie fundamental in Frage zu stellen - ganz im Sinne der Geschichte der Erinnerung und jener hierarchisch höchsten Erzählung, die in dem weißen Pferd von Brunete ihr Sinnbild erhalten hat. Ironisierende 39

Die beiden ersten Zitate entsprechen wiederum nahezu idealtypisch emer der historiographiegeschichtlichen Grunddispositionen Gumbrechts: Die Vergangenheit ist metonymisch noch präsent in der Gegenwart der Rezipienten.

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und distanzierende Fokalisierungen finden sich vor allem in solchen Passagen, in denen Duby die Quelle nacherzählt: Or, le dimanche 27 juillet 1214, des milliers de guerriers transgresserent l'interdit. Ds se battirent, et furieusement, pres du pont de Bouvines, en Flandre. Des rois les conduisaient, celui d'Allemagne et celui de France. Charges par Dieu de maintenir l'ordre du monde, sacres par les eveques [...] C'etait, de surcroit, la premiere bataille qu'un roi de France se risquait ä livrer depuis plus d'un siecle. Enfin, la victoire que Dieu donna ä ceux qu'il aimait fut eclatante, plus que toutes Celles dont on pouvait se souvenir. (S. 13 f.) Quelques dates seulement [des batailles], par consequent, sur la trame serree de l'incessante guerre feodale. Mais des dates qui comptent, celles d'evenements decisifs. Et surtout entoures d'une aura surnaturelle, car ils sont la manifestation de ce que Dieu veut. (S. 195 f.)

Interne Fokalisierungen gelten in der Historiographie als äußerst heikel, bewohnt der Historiker doch dieselbe Welt, die einst die (in den meisten Fällen) Toten, über die er schreibt, bevölkerten. Schildert er ein Geschehen aus ihrer Perspektive, dann bedient er sich eines Darstellungsverfahrens, das konventionell als fiktionstypisch gilt. Nur der Fiktionsautor kann die Innenwelt seiner Figuren problemlos schildern, weil er selbst diese Figuren erfunden hat. Auch wenn dies bei einer außerordentlich günstigen Quellenlage selbst für den Historiker denkbar ist, so bleibt die interne Fokalisierung wenigstens konventionell doch prekär. Wie erklärt sich nun Dubys großzügiger Umgang mit diesen Konventionen? Die naheliegendste Antwort auf diese Frage wäre, darin ein Zugeständnis an das intendierte Lesepublikum zu sehen. Allein, beließe man es bei dieser Beobachtung, begäbe man sich eines tieferen Einblicks in die Funktionsweise von Dubys Text. Die häufige Verwendung interner Fokalisierungen erklärt sich durch das zugleich distanzlose und ironisch-distanzierte Verhältnis, dass Dubys Text zu den narrativen Quellen, vor allem zur Gesta Philippi Augusti, unterhält. Diese Texte enthalten direkte Reden, die den Mitstreitern Philipps in den Mund gelegt werden. Die beiden oben zitierten Abschnitte machen zweierlei deutlich: Erstens sind die direkten Reden aus den Quellen auch in Dubys Text noch enthalten - nicht im Wortlaut, aber als weltanschaulich gefärbte Fokalisierungen. Zweitens handelt es sich bei den Fokalisierungsinstanzen in fast allen Fällen nicht um Individuen, sondern um Kollektive. Duby bringt auf diese Weise einen typischen zeitgenössischen Blick zur Darstellung. Ohne die Frage nach der Legitimation einer solchen Perspektivierung berühren zu wollen, lassen sich diese kollektiven Fokalisierungen als dar-

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stellungstechnisches Äquivalent zu dem programmatischen Anspruch lesen, ,in die Köpfe' der Schlachtteilnehmer zu schauen. Die durch die internen Fokalisierungen bedingte Distanzlosigkeit zur Quelle beinhaltet ein sehr starkes ironisches Moment, welches noch verstärkt wird durch die Theatermetaphorik. Der Historiker gibt sich die Funktion eines Mystagogen, der den Vorhang hebt und dem Leser einen Blick auf eine verlorengegangene, ihm unbekannte Welt ermöglicht40. Dieses fiktive Moment rückt ihn in die Nähe literarischer Erzählerfiguren, etwa derjenigen des „diable boiteux" in Alain-Rene Lesages gleichnamigen Roman aus dem Jahre 170741 oder von Balzacs allwissendem Erzähler, wie Rainer Warning ihn beschrieben hat42. Die Folge dieser Erzählhaltung und der Fokalisierungen ist eine Art negativer effet de reel: Die Rekonstruktion des Ereignisses erscheint als eine Realität zweiten Grades, die sich ihres Konstruktcharakters bewusst ist. Ein positivistischer Historiker würde die Distanz zwischen vergangener Realität und Quelle durch jene Methode zu überbrücken suchen, die allgemein als Quellenkritik bezeichnet wird und dem Schreiben vorausgeht: Ist die Zuverlässigkeit des Schriftstücks einmal gesichert, kann er erzählen, wie es sich ,wirklich' zugetragen hat. Er redet dann von der Realität selbst, zu der ihm die Quellen Zugang verschafft haben. Bei Duby hingegen wird die Distanz zwischen dem Quellentext und der in diesem geschilderten Realität nicht aufgelöst, sondern geht mittels Ironie in die Darstellung ein. Denn die Realität, die Duby präsentiert, ist eine doppelte bzw. verschachtelte Welt im Text. Der univers diegetique der Gesta Philippi Augusti wird zu einem ironisch präsentierten univers diegetique in Dubys Text - und nicht eine mit dem Anspruch der Tatsächlichkeit auftretende vergangene Welt. Der narrative Konstruktcharakter, den der Positivist verdecken will, wird hier zu einem Textcharakteristikum, dessen konnotative Bedeutung darin besteht, stets aufs Neue zu wiederholen, dass es sich bei diesem Text um eine historische Realität zweiten Grades handelt, in Umkehrung der Beobachtung von Roland Barthes, der die Bedeutung der von ihm sogenannten objektiven Geschichte darin sah, un-

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Dies entspricht auch dem publizistischen Ort des Buchs: Ohne Fußnoten, ist es für ein breites, wenn auch gebildetes Publikum geschrieben, das dem etablierten Historiker die Rolle des Mystagogen auch zugesteht. Alain-Rene Lesage: >yLe diable boiteux", in: Romanciers du 18e siecle, hg. v. Etiemble, 2 Bde., Paris 1960, Bd. 1. Vgl. Rainer Warning: „Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Coniedie humaine", in: Honore de Balzac, hg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle und Rainer Warning, München 1980, S. 9-55.

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aufhörlich zu wiederholen: „c'est arrive"43. Die programmatischen Äußerungen über die niemals ganz einholbare Realität und die niemals ganz auffüllbare Leerstelle des Ereignisses finden in diesem Verfahren ihr Darstellungsäquivalent. Es legitimiert allererst den freien Umgang mit Fokalisierungen und die Beibehaltung jenes Plots aus der mittelalterlichen Quelle, es erlaubt die Gleichzeitigkeit von Distanzlosigkeit und Distanz zur Quelle, es bewahrt ihn letztendlich vor dem Vorwurf unreflektierter Naivität - nur dass dies eben auf eine Weise geschieht, die nicht den Schreibkonventionen der Historiographie folgt, sondern denen der Literatur. In seiner formalen Gestalt bildet der Text des Dimanche de Bouvines damit jenen Sachverhalt ab, der bei so vielen Historikern auf Widerwillen stößt: Fiktionalisierung ist unentbehrlich, will man die Vergangenheit, dieses unerreichbare Objekt des Begehrens, wieder vergegenwärtigen - auch in der wissenschaftlichen Historiographie. i) Eine Ereignisgeschichte zweiten Grades Ob die Makrostruktur eines Texts narrativ organisiert ist, lässt sich unter anderem überprüfen, indem man die Frage stellt, ob ein Verständnis des Textes die Lektüre bis zur letzten Seite voraussetzt. Dies trifft auf Le dimanche de Bouvines zu - entgegen seiner Programmatik, die dies nicht vermuten lässt. Der Behauptung Carrards, das Buch habe „the least to do with storytelling"44, ist nicht zuzustimmen. Vielmehr kann man sagen, dass Duby einen neuen Typ von Ereignisgeschichte erfunden hat. Resümierend lässt sich die Makrostruktur folgendermaßen beschreiben. Die Geschichte des Gedächtnisses ist, obgleich sie wesentlich weniger Raum einnimmt als die Rekonstruktion des Ereignisses, die hierarchisch höchste Erzählung, der der Text seine narrative Kohärenz verdankt. Der erste Teil des Buchs hat innerhalb dieser Erzählung die Funktion, den Ausgangspunkt, den noch nicht deformierten fait vecu zu rekonstruieren. Die Geschichte des Gedächtnisses ist eine Erzählung zweiten Grades, in der das Ereignis zum Subjekt der Veränderung wird. In einer (traditionellen) Ereignisgeschichte ersten Grades ist dies nicht der Fall, dort wäre das Ereignis eine Erklärung für die Veränderung eines identischen Subjekts (ζ. B. des 43

Barthes: „Le discours de l'histoire", S. 20: „[...] le discours historique ne suit pas le reel, il ne fait que le signifier, ne cessant de repeter c'est arrive, sans que cette assertion puisse etre jamais autre chose que l'envers signifie de toute narration historique". Siehe Anm. 24.

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französischen Königtums) zwischen zwei verschiedenen Zeitpunkten45. Erst auf einer zweiten Ebene kann das Ereignis selbst zum Subjekt werden, während die Stelle des Ereignisses (hier verstanden als Funktion der Erzählung) darin von den verschiedenen Wahrnehmungen des Ereignisses besetzt wird. Diese Wahrnehmungen fuhren zu immer neuen Veränderungen des Ereignisses. Legt man Lotmans Modell zugrunde, so ließe sich sagen, dass das Ereignis nun die Funktion einer Figur einnehmen kann, die die Grenze zwischen Authentizität und Inauthentizität überschreitet. Damit wäre auch das Sujet des Dimcmche de Bouvines benannt. Diese Ereignisgeschichte zweiten Grades wird nun aber, wie oben erwähnt, in eine noch weiter reichende Geschichte eingebettet. Das Bild des weißen Pferdes, den Legenden um die Schlacht bei Brunete zwischen Spaniern und Arabern entnommen, impliziert in der Aufzählung der historischen Orte und der mit diesen bezeichneten Daten allerdings auch zeitliche Enthobenheit. Innerhalb dieser Geschichte gibt es im Grunde keine Veränderungen, sondern nur das Motiv der ewigen Wiederkehr (nämlich der Wechsel zwischen politischer Unordnung und wiederhergestellter Ordnung). Die Geschichte der Erinnerung an Bouvines ist also nur eine, beispielhafte Geschichte. Die Deformierung der Ereignisse ließe sich an der Wahrnehmung anderer Schlachten oder Kriege ebenso gut demonstrieren. Die Überformung der Geschichte des Gedächtnisses mit einer ebenso moralischen wie moralistischen, natürlich kaum mehr als flüchtig angerissenen, Geschichte der unheilvollen Auswirkungen der historischen Mythen in Form von Weltkriegen, Diktaturen und Chauvinismen macht aus Dubys neuer Art der Ereignisgeschichte eine regelrechte Anti-Ereignisgeschichte, die sich an der Kategorie des Ereignisses als einem Einfallstor ideologisch interessierter Deformierung der Wirklichkeit exemplarisch abarbeitet46. Jeder noch so deskriptive historiographische Text hat eine zeitliche Dimension, insofern der Historiker nie einen unverstellten Blick auf die Ereignisse hat. Zwischen ihm und seinem Gegenstand steht immer die ebenso willkürliche wie verfremdende Überlieferung. Le dimcmche de Bouvines macht diesen Sachverhalt explizit. Dieses Buch über eine der „trente journees qui ont fait la France" leitet den Leser dazu an, sich durch die Ideologie, die noch im Titel der Reihe zum Ausdruck kommt, hindurch

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Vgl. Danto: Analytical Philosophy. In dieser Intention trifft sich Duby - bei allen Differenzen, die ansonsten überwiegen - mit Roland Barthes, genauer gesagt dem Barthes der Mythologies (Roland Barthes: Mythologies, Paris 1957).

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zu arbeiten und dabei zu bemerken, wie sein gegenwärtiger lebensweltlicher Kontext an der Deformierung des Ereignisses teilhat. Neben dem oben erwähnten umgekehrten effet de riel sind abschließend zwei Modernisierungsmomente des Textes hervorzuheben: Eine erste Innovation des Dimanche de Bouvines besteht in der Vorführung der exemplarischen Rezeptionsgeschichte eines Ereignisses. Hier offenbart sich womöglich ein konstitutives Paradox der Geschichtsschreibung: Selbst wenn sie in durchaus kritischer Ansicht von den unheilvollen Auswirkungen des historischen Erzählens handelt, kann sie dies doch nur, indem sie wiederum erzählt. Eine zweite, vielleicht wesentlichere Innovation des Textes besteht darin, dass er die Linearität einer Geschichte in eine Vielzahl von Geschichten auflöst. Insofern repräsentiert Le dimanche de Bouvines gerade durch seine programmatische Abkehr von älteren Weisen, Geschichte zu schreiben, die Fragmentierung der Geschichte und das gesteigerte Bewusstsein von der Partialität der historischen Erkenntnis. Der Unterschied zu früheren - eindimensional linearen - Geschichtskonzeptionen läge dann darin, dass der Referent ,Geschichte' zeitlich und thematisch nunmehr multidimensional gedacht wird.

2. Die Konkurrenz von Erzählung und Tableau: Emmanuel Le Roy Ladurie, Les paysans de Languedoc a) Longne duree und quantitative Geschichte In den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt, sowohl in den USA als auch in Europa, die quantitative Geschichte ihren großen Aufschwung. Unter den theses d'etat der dritten Annale s-Gsneration finden sich viele Fallstudien, die auf der statistischen Erfassung der Bevölkerungsund Preisentwicklung innerhalb einer Region basieren, so auch Emmanuel Le Roy Laduries 1966 erschienenes Werk Les paysans de Languedoc1. Historiographiegeschichtlich bedeuten diese Monographien eine Weiterentwicklung des longue aforee-Konzepts Fernand Braudels mit den wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsmethoden der Quantifizierung. Indem Le Roy Ladurie in seinem Buch einen Zeitraum von vier bis fünf Jahrhunderten behandelt, stellt er sich explizit in die Tradition seines akademischen Lehrers und dessen triadischen Zeitenmodells. Dies geschieht im wesentlichen durch den Rückgriff auf eine spezielle Quellenart, die sogenannten compoix. Bei diesen Dokumenten handelt es sich um Kataster, die bis ins 14. Jahrhundert zurück erhalten sind. Sie eignen sich hervorragend für die Rekonstruktion von Serien, die Aufschluss über die Entwicklung des Bodenbesitzes im Languedoc geben. Mit dem Titel seiner Antrittsvorlesung am College de France, „L'histoire immobile", zitiert Le Roy Ladurie Braudels Theorie der historischen Zeiten. Erinnern wir uns: Die longue duree ist die langsamste aller Zeiten, schon Braudel nannte sie „une histoire quasi immobile"2, die sich ebenso auf die geographische und klimatische Umgebung des Menschen bezieht wie auf den „outillage mental". Es handelt sich hierbei um eine „histoire lente ä couler et ä se transformer", „presque hors du temps". Bekanntestes Beispiel für eine ganzen Monographie einer solchen Geschichte ohne Menschen ist Emmanuel Le Roy Laduries Histoire du 1

Emmanuel Le Roy Ladurie: Les paysans de Languedoc, 2 Bde., Paris 1966. 1969 erschien bei Flammarion eine gekürzte Taschenbuchausgabe. Die hier verwendete Ausgabe ist die these von 1966. Zur Historiographiegeschichte der quantitativen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vgl.: Francis Dosse: L'histoire en miettes, S. 178-199; Bourde/Martin: Les icoles historiques, S. 192-199; Stoianovich: French Historical Method, Burke: The French Historical Revolution, S. 53-64. η Ζ. Β. in: Fernand Braudel: Ecrits sur l 'histoire, Paris 1969.

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climat depuis l'An Mil3. Die conjoncture, Bindeglied zwischen kurzer und langer Dauer, ist die Zeit der Wirtschaftszyklen und sozialen Strukturen (10-50 Jahre). Die kurze Dauer schließlich ist den Annales die trügerischste aller Zeiten. Einer jeden dieser Zeitebenen ist ein umfangreicher Teil von Braudels dreibändigem opus magnum gewidmet. Die Unterscheidimg der drei Ebenen findet sich auch in Les paysans de Languedoc wieder, wenn auch nicht in der Transparenz der La Mediterrame kennzeichnenden Dreiteilung. Für Paul Ricceur hat Braudel nicht die Grenzen der Erzählung gesprengt, sondern er hat eine neuen Typ der Erzählung erfunden („une quasi-intrigue virtuelle"), die in ihrem Ablauf von der langen zur kurzen Dauer noch der Norm einer narrativen Synthese verpflichtet bleibt4. Dies ist eine Frage, die uns auch bei der Analyse der Paysans de Languedoc beschäftigen wird: Gibt es, bei aller Quantifizierung und Deskription, in diesem Buch ein Strukturmerkmal, das einer narrativen Synthese mit immanenter Erklärungskraft gleichkäme, etwa einen Plot, der hierarchisch über den fünf großen Abschnitten des Buchs steht und diese zu einem Ganzen verbindet? Wie bereits erwähnt, stellt die auf der quantitativen bzw. seriellen Forschungsmethode basierende Geschichtsschreibung eine Weiterentwicklung des ursprünglichen longue ί/wree-Konzepts dar. Geht dieses auf die Verbindung von Geschichte und Geographie zurück, so lässt sich jene als eine ,Vernunftehe' (Ricceur) von Geschichte und Ökonomie bezeichnen. Ihr Vorbild haben diese theses d'etat in den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Monographien von Francis Simiand und Ernest Labrousse. In seiner Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au XV11T siecle aus dem Jahre 1933 setzt Labrousse Serien von verschiedenen Nahrungsmittelpreisen in Relation zur Lohnentwicklung bis 1789. Dasselbe Verfahren, der Vergleich seriell erstellter Entwicklungen, steht auch im Zentrum der Paysans de Languedoc, eine - wesentliche - Neuerung besteht allein in der Berücksichtigung demographischer Größen. Unter einer quantitativen Geschichte, so Francois Füret, ist im wesentlichen eine serielle Geschichte zu verstehen. Sie zeichnet sich durch drei Kriterien aus: einen bestimmten Quellentyp, eine bestimmte Vorgehensweise und eine bestimmte Art der Konzeptualisierung von Vergangenheit5.

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Paris 1967. Ricceur: Temps et recit, Bd. 1., Paris 1983, S. 287-304; Zitat S. 300. Francois Füret: „Le quantitatif en histoire", in: Faire de l'histoire, Bd. 1, Paris 1974, S. 42-61. Ursprünglich erschienen in: Annales E.S.C. 26 (1971), n° 1, S. 63-75 unter

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Die Tatsache, dass die nouveaux historiens immer wieder gezwungen waren, neue Quellen zu suchen und auszuwerten, erklärt sich nach Füret aus der ideologischen Prägung der im 19. Jahrhundert gegründeten Archive. Bei diesen handele es sich um Sammlungen politisch-administrativer Quellen, die in dem naiven Glauben ausgesucht wurden, sie bezeugten Ereignisse'. Da Ereignisse aber Erzählungen voraussetzen, beinhalteten diese Archive nicht viel mehr als das narrative Gedächtnis der Nationen: eine implizite, bereits im voraus konstruierte Finalität. Die serielle Geschichte hingegen richtet ihr Augenmerk nicht auf einzigartige Ereignisse, sondern ganz im Gegenteil auf Phänomene, die sich wiederholen und die sich deshalb innerhalb einer zeitlichen Einheit vergleichen lassen. Die in den Quellen dokumentierten ,Elemente', die in Serien rekonstruiert werden, müssen eine dezidiert anti-ereignishafte Homogenität aufweisen, welche einen Vergleich erst legitimiert. Obgleich dieses Verfahren aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte kommt, lässt es sich auch bei der Erforschung anderer Aspekte der Vergangenheit anwenden, beispielsweise in der Historischen Anthropologie und der Mentalitätengeschichte: „Car ce ne sont pas les sources qui definissent sa [la discipline] problematique, mais sa problematique qui definit les sources"6. Dies setzt eine explizite Konzeptualisierung voraus. Der Wert, den diese Quellen für die Forschung haben, ist also ein relativer und bemisst sich nicht an einer Ereignis-Mimesis und der impliziten Finalität einer Erzählung. Es ist folglich alles andere als ein Zufall, dass sich in Frankreich gerade die Annales-Yhstorksr dieser Art der Forschung zuwenden. Einmal mehr dient die traditionelle' Geschichte als Negativfolie, von der man sich mit der seriellen Methode abzusetzen gedenkt - eine regelrechte „revolution de la conscience historiographique"7, wie Füret meint. Eben diese Euphorie des Neuaufbruchs spricht auch aus Le Roy Laduries berühmtem Diktum „l'historien de demain sera programmateur ou il ne sera pas" 8 . dem Titel „L'histoire quantitative et la construction du fait historique", wieder abgedruckt in: Füret: L 'atelier de L 'histoire, S. 53-72. Füret, „Le quantitatif en histoire", S. 50. Vgl. dazu auch Michel Vovelle: ,.Histoire serielle ou case studies: vrai ou faux dilemme en histoire des mentalites?", in: Histoire sociale, sensibilites collectives et mentalites. Melanges Robert Mandrou, Pa7 ris 1985, S. 39-49. Füret: „Le quantitatif en histoire", S. 53. Le Roy Ladurie: Territoire de l'historien, Bd. 1, S. 13. In dieser Kürze zitiert, entwickelt der Satz allerdings eine Radikalität, die er in seiner vollständigen Form nicht besitzt: „En France aussi, un pronostic s'impose, en ce qui concerne l'histoire quantitative teile quelle sera pratiquee dans les annees 1980: dans ce domaine au

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Es stellt sich nun die Frage, wie sich diese Art der Forschung auf das Schreiben von Geschichte auswirkt. Welche historiographischen Neuerungen gehen mit longue dur0e und serieller Geschichtsforschung einher? Schreibt der seriell forschende Historiker seinen Text tatsächlich ohne Rückgriff auf narrative Strategien, oder behalten Ereignis und Erzählung auch in seinem Text eine gewisse Bedeutung? b) Programmatik: Eine histoire totale Im Einleitungskapitel der Paysans de Languedoc berichtet Le Roy Ladurie, wie er zu dem Projekt kam, die compoix des Languedoc auszuwerten. Was er auf den gut vier Seiten darlegt, lässt sich als die zeitlich sehr geraffte Erzählung eines Forschungsprojekts bezeichnen. Das ehemalige Parti Communiste-Mitglied9 Le Roy Ladurie ging mit der festen Vorstellung einer linearen Entwicklung der kapitalistischen Bodenkonzentration an die Quellen heran, sah sich im Verlauf seiner Forschungen aber gezwungen, den Glauben an diesen grand recit zu revidieren: Desormais, j'etais jete en pleine et pure histoire paysanne, et j'etais bien loin de ces ,origines du capitalisme', qui constituaient mes preoccupations premieres. C'etait la mesaventure classique; j'avais voulu m'emparer d'un document, pour y dechiffrer les certitudes de ma jeunesse; et c'etait le document qui s'etait empare de moi, et qui m'avait insuffle ses rythmes, sa Chronologie, sa verite particuliere. Les presuppositions initiales avaient ete stimulantes; elles etaient maintenant depassees. (S. 8)

Es scheint sich hierbei zunächst um eine unbedeutende biographische Anekdote zu handeln, die der Leser schnell überfliegt, um zum Hauptteil der Studie zu gelangen. Was aber hier in der Form einer autobiographischen Erzählung geleistet wird, ist zugleich Selbstlegitimation und programmatische Abkehr von jenen im 19. Jahrhundert gesammelten Quellen,

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moins, l'historien de demain sera programmateur ou il ne sera pas". Gleiches gilt auch für eine andere bekannte polemische Äußerung. Die meisten Kommentatoren sparen den Inhalt der Klammem in dem folgenden Zitat aus: „A la limite (mais c'est une limite tres lointaine, et qui dans certains cas est tellement hors de portee des recherches actuelles qu'elle n'est peut-etre qu'imaginaire), il n'est d'histoire scientifique que du quantifiable" (Le Roy Ladurie: Le Territoire de l 'historien, Bd. 1, S. 22). Beide Äußerungen bringen die Überzeugung zum Ausdruck, numerische Messbarkeit und die Möglichkeit datentechnischer Verarbeitung des Quellenmaterials würden aus der Geschichte allererst eine Wissenschaft machen - ein dezidiert antihermeneutisches Konzept, das einen Neo-Positivismus predigt (vgl. Dosse: L 'histoire en miettes, S. 186). Vgl. Raphael: Erben, S. 277 f.

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von denen Füret in seinem Aufsatz über die quantitative Geschichte spricht. Le Roy Ladurie benutzt eben keine Quellen mit Ereignis-mimetischen Qualitäten, und er präjudiziert seine Ergebnisse eben nicht durch eine mehr oder weniger bewusst bereits vorhandene Erzählung, sondern er entwickelt im folgenden eine den compoix angemessene serielle Auswertungsmethode. So lässt sich an dieser kurzen Passage exemplarisch beobachten, wie die ^««o/ei-Historiker ihren eigenen Mythos konstruieren, sich selbst eine herausgehobene Bedeutung im Feld der Geisteswissenschaften beimessen und die Rezeption ihrer Werke lenken: Der Wechsel von einer Geschichte mit narrativen Voraussetzungen zu einer modernen Strukturgeschichte vollzieht sich im Historiker selbst als eine Art Adoleszenzgeschichte10. Der marxistische grand ricit der Kapitalkonzentration weicht der seriellen Wirtschaftsgeschichte. So findet sich in der beruflichen Ontogenese des Historikers Le Roy Ladurie die Phylogenese eines ganzen Fachs in einer exemplarischen biographischen Verdichtung wieder. Nach Jahre währenden Studien bot sich Le Roy Ladurie in allen relevanten Daten zum Bevölkerungswachstum und zur landwirtschaftlichen Entwicklung statt eines linearen Verlaufs das Bild eines Auf und Ab. Auf Phasen der Zerstückelung folgten relative Konzentrationen und wieder Aufsplitterungen des Bodenbesitzes, die zwischenzeitliche Tendenz zur Besitzkonzentration des Bodens in den Händen weniger erweist sich als reversibel. Indem Le Roy Ladurie die Entwicklung des Bodenbesitzes zu anderen Langzeit-Phänomenen in Bezug setzt, gelangt er zu einer Periodisierung, deren Wendepunkte durch die schweren Krisen der Landwirtschaft im Languedoc bestimmt sind. Die neue Periodisierung besitzt zwar keine Linearität mehr, wohl aber hat sie launische, Handlungssubjekte: [...] une concentration fonciere s'instaurait ä nouveau; eile epurait les lopins marginaux; eile selectionnait, pour le remembrement, les proprietes les plus aptes, les plus riches ou les plus chanceux; eile favorisait les heritiers survivants ou les citadins rassembleurs; eile decimait les petits taillables, pour arrondir de leurs depouilles les gros ou les moyens. (S. 9) Alors s'annonfait, avec une sage lenteur, le remembrement contemporain: il laisse subsister, aujourd'hui encore, d'epais massifs de proprietes parcellaires; il n'est pas pres d'etre termine. (Ebd.)

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Vgl. auch die folgende Textstelle: „Mais j'etais jeune, j'enseignais ä Montpellier, juste ä pied d'oeuvre; j'avais des sixiemes et des loisirs; j'aimais l'histoire rurale et les paysages mediterraneens, j 'etais fascine par les origines du capitalisme. Je decidai de suivre le conseil de mon ami" (S. 7).

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An diesen abstrakten Aktanten („une concentration fonciere", „le remembrement") lässt sich deutlich erkennen, dass wir uns mit diesem Buch zwar nicht in der schnellen Zeit der Ereignisse befinden. Sie verdeutlichen aber zugleich, dass auch in der longue duree eine Periodisierung Subjekte voraussetzt, und dass diesen Subjekten Handlungen zugeordnet werden wollen („s'instaurait", „epurait", „selectionnaient", „favorisait", „s'annon5ait"). 1958, nach dreijährigem Quellenstudium, weitet Le Roy Ladurie seine Forschungen auf andere Aspekte der Vergangenheit aus: das Landwirtschaftsprodukt, Preise, Renten, Zehnte, Steuern, Arten der Entlohnung und schließlich auch Mentalitäten: Et par-dela ces categories encore abstraites, mais nullement figees, j'apercevais enfrn, au terme d'une longue marche, les hommes eux-memes, les paysans de Languedoc, avec leurs groupes sociaux. J'avais commence, tout au debut, par additionner les hectares et les unites cadastrales; j'aboutissais, en fin de recherche, ä regarder agir, lutter, penser les hommes vivants. [...] Avec les moyens du bord, et dans le cadre limite d'un groupe humain, je risquai l'aventure d'une histoire totale. (S. 11)

Damit erhält die Geschichte des Forschungsprojekts einer weitere Dimension. Sie handelt nicht nur davon, wie die serielle Geschichte sicher geglaubte Erkenntnisse über eine lineare Entwicklung revidiert, sondern auch davon, wie hinter der seriellen Auswertung abstrakter Zahlen plötzlich die Menschen der Vergangenheit ,sichtbar' werden, nicht als Individuen, aber als Typen und soziale Gruppen. Der Weg, den Le Roy Ladurie forschend zurückgelegt hat, fuhrt also über drei Stationen: von einer marxistisch inspirierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte über die serielle Geschichte zu einer ,totalen' Geschichte. An dem ursprünglichen Projekt der Erforschung der Bodenverteilung wird eine andere, tiefer liegende Geschichte sichtbar11.

„Une teile histoire de la propriete fonciere, ainsi brievement resumee, n'aurait eu, par elle-meme, qu'un interet juridique, ou purement technique, si eile n'avait joue le röle de revelateur seculaire, si eile n'avait informe, de premiere main, sur l'histoire longue de la societe qui la portait" (S. 9). Der Begriff „revelateur" bedeutet im Französischen nicht nur soviel wie .enthüllendes Moment', sondern auch ,Photo-Entwickler'. Insofern enthüllt die Geschichte des Bodenbesitzes nicht nur, sondern sie bildet die tiefer liegende Gesellschaftsgeschichte regelrecht ab, sie macht Geschichte sichtbar wie die Entwicklerflüssigkeit die photographisch eingefangene Welt sichtbar macht. Eine detaillierte Interpretation der Metapher erscheint aufgrund ihrer mangelnden semantischen Konsistenz allerdings wenig sinnvoll. Beschränken wir uns auf die Feststellung,

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Bei der histoire totale handelt es sich um einen traditionsreichen Kampfbegriff der Annales, der auf Lucien Febvre zurückgeht (und der damit wiederum einen Gedanken Michelets aufnimmt) 12 Dieses Konzept konnte von der ersten bis zur dritten -Generation seine Bedeutung bewahren. Zunächst beinhaltete die histoire totale den heute naiv anmutenden Anspruch, eine erschöpfende Synthese der Vergangenheit zu erreichen. Mit den Narrativisten gesprochen, kann es eine solche Erzählung natürlich nicht geben, weil es keinen absoluten Standpunkt gibt. Als Text wäre eine histoire totale im wahrsten Sinne des Wortes sinnlos, da sie keine Selektion von Informationen nach bestimmten Kriterien kennen würde. Selbstverständlich sind Historiker immer zur Selektion ihrer Quellen, Methoden und Darstellungsperspektiven gezwungen - ein erkenntnistheoretischer Allgemeinplatz. Historiographiegeschichtlich betrachtet, hätten wir, wäre dies doch möglich, nicht die Aufspaltung der Geschichte in Geschichten: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Mentalitätengeschichte, historische Anthropologie, alle Arten von seriellen Geschichten und Fallstudien. Die Bedeutung der histoire totale rührt eher daher, dass sie den Blick über die Grenzen des Fachs, hinüber zu den anderen Humanwissenschaften motivierte, womit die methodische und thematische Vielfalt angesprochen wäre, der die Annales-Gruppe schon seit Bloch und Febvre ihre Karriere recht eigentlich verdankt. Der Begriff versteht sich als ein Gegenkonzept, und zwar einmal mehr gegen die politische Ereignisgeschichte. Schon Febvre machte dieser einen doppelten Vorwurf: Zum einen trenne sie die Vergangenheit von der Gegenwart, zum anderen ignoriere sie die Vielfalt der historischen Erfahrung jenseits des Politischen. Der Gedanke, dem eine erschöpfende Darstellung entgegenzusetzen, zeigt sich denn auch noch deutlich in Braudels longue duree. La Mediterranee ist nichts anderes als der Versuch, innerhalb eines feststehenden geographischen Rahmens allen Aspekten von Geschichte auf den verschiedenen Zeitebenen gerecht zu werden, in Braudels Metaphorik: vom Meeresboden bis hin zum Schaum, der auf den Wellen tanzt. Dies fuhrt dazu, dass die beschriebenen Realitäten, auf der Grundlage unterschiedlichster Quellen rekonstruiert, mitunter unvermittelt nebeneinander stehen. Es ist, als entzöge sich die heterogene Masse an Information, die in jahrzehntelanger Forschung zusammengetra-

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dass die Geschichte des Bodenbesitzes eine verborgene Geschichte, die der Bauern des Languedoc, sichtbar macht. ,J1 n'y pas d'histoire economique et sociale. II y a l'histoire tout court, dans son unite. L'histoire qui est sociale entiere, par definition" (Lucien Febvre: Combats pour ihistoire, Paris 1953, S. 20).

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gen wurde, jeder Synthetisierung. Die Problematik der wissenschaftlichen Realisierbarkeit einer histoire totale ist für die vorliegende Arbeit von geringerer Bedeutung als die Frage nach ihrer rhetorischen Realisierbarkeit. Die Totalität, der allein man in narrativen Texten begegnet, ist selbstverständlich stets eine inszenierte, sie ist nicht die der Welt, sondern die einer Welt im Text. Dementsprechend ist auch die Vollständigkeit' von Information eine Frage der rhetorischen Inszenierung. In dieser Inszenierung muss das, was weltliche Totalität eigentlich ausmachen würde, nämlich eine Anhäufung imbedeutender Details, gerade fehlen. Es handelt sich bei der histoire totale also letztendlich um ein Phänomen der Rezeption, und ihr Gelingen hängt von zwei Faktoren ab: Zum einen muss sie - inhaltlich alle Themen ansprechen, die innerhalb eines gegebenen Erwartungshorizonts potentiell Gegenstände einer historischen Betrachtung werden können. Zum anderen erhielte kein Leser den Eindruck der Vollständigkeit ernes Textes, wenn eine Fülle von Nebensächlichkeiten das Prinzip verdeckte, das die textuelle Totalität organisiert. Dieses Prinzip wäre bei einer Erzählung ein thematischer roter Faden bzw. ein Plot, der den Text als ganzen vor der Kontingenz bewahrt und ihm Kohärenz verleiht. Welches Organisationsprinzip verleiht dem Text der Paysans de Languedoc also seine Kohärenz? Für die Beschreibung des Programms, das Le Roy Ladurie in der Einleitung seines Buchs skizziert, bietet sich als Alternative zur Erzählung der Begriff des Tableaus an. Darauf stellt nicht zuletzt der Begriff der histoire totale einen Hinweis dar. Beide Textorganisationsprinzipien, Erzählung und Tableau, existieren sicherlich in den seltensten Fällen in Reinform, jedoch sollte es möglich sein, emes als das dominierende und hierarchisch höchste zu bestimmen. Dubys Di manche de Bouvines etwa hat ohne Zweifel starke Tableau-Anteile, die Kohärenz des ganzen Textes jedoch leistet erne Erzählung. Les Paysans de Languedoc hingegen ist eine serielle Geschichte, die vornehmlich auf der Auswertung zahlenmäßiger Daten basiert. Diese Art der historischen Darstellung interessiert sich weniger für die kausale Aneinanderkettung von Ereignissen in der Zeit, als vielmehr für Kohärenzen, Korrelationen und Strukturen, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Das textorganisatorische Äquivalent hierzu, so ließe sich im Sinne einer Ausgangshypothese formulieren, ist das Tableau, und nicht die Erzählung. Ereignisse und ihre kausale Verkettung spielen in ihm eine untergeordnete Rolle - im Gegensatz zu geographischen, wirtschaftlichen, demographischen und technologischen Zusammen-

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hängen13. Wie in der Erzählung bedarf es jedoch eines wie auch immer gearteten Subjekts, um welches herum der Text zentriert ist. Bei Braudel war es ein geographischer Raum (das Mittelmeer), bei Le Roy Ladurie ist es eine soziale Gruppe innerhalb eines bestimmten geographischen Raums innerhalb einer bestimmten historischen Phase. Abwesenheit von Erzählung würde bedeuten, dass der Text keine Erklärung für eine Veränderung des Subjekts lieferte, wohl aber ,um das Subjekt herum' organisiert wäre1 . Allein, auch ein historisches Tableau hat eine zeitliche Ausdehnung. Le Roy Ladurie widmet sich ja den Bauern des Languedoc nicht zu allen Zeiten, sondern innerhalb eines bestimmten historischen Zeitraums. Bei aller Dominanz von Analyse und Beschreibung kann dies ein Hinweis auf Narrativität sein, denn es ist von jeher vorzüglich eine Eigenart der Erzählung, nach dem Schema ,Anfang-Mittelteil-Schluss' aufgebaut zu sein, ob man sich nun an Danto, White oder Ricoeur hält. Eine Erzählung beginnt mit dem Zustand eines bestimmten Subjekts zu einem bestimmten Zeitpunkt und endet mit einem veränderten Zustand dieses Subjekts zu einem späteren Zeitpunkt. Dadurch wird eine Situation oder eine Begebenheit, der unter allen anderen Situationen und Begebenheiten eigentlich kein besonderer Status zukommt, in der beständig dahinfließenden chronologischen Zeit, zum Anfang von etwas. Nichts anderes bedeutet es, wenn es heißt, eine Begebenheit werde durch die Integration in eine Erzählung erst zum Ereig13

Vgl. Antoine Prost: Douze legons sur l'histoire, Paris 1996, S. 207 f.: „[...] il existe deux modes de raisonnement historique. Pour simplifier, on dira que le premier s'interesse aux enchainements dans le deroulement du temps, et le second aux coherences au sein d'une societe donnee dans un temps donne. Le premier traite des evenements et s'organise selon Taxe du recit, le second s'attache ä la structure et releve du tableau."; S. 241: „Le recit convient ä Γ explication des changements (.pourquoi est-ce arrive?'). II implique naturellement une recherche des causes et des intentions. [...] Le tableau est le mode d'expose historique qui degage les coherences, le Zusammenhang. II repond ä la question: .Comment les choses etaient-elles?' II est naturellement situe dans le temps, parfois un temps tres long: Phistoire immobile autorise des tableaux pluriseculaires. Le tableau est centre non sur le changement, mais sur les particularites de son objet, et sur ce qui en assure l'unite; il relie entre eux une pluralite de faits contemporains et construit ainsi une totalite, un ensemble ού les choses ,se tiennent', ,vont ensemble'".

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Bei Jacques Ranciere lesen wir, dass die Nouvelle Histoire nicht nur auf ihre Zugehörigkeit zum Zeitalter der Wissenschaftlichkeit pocht, sondern auch auf ihre Zugehörigkeit zum Zeitalter der Demokratie. Die serielle Geschichte, wie sie sich in Les Paysans de Languedoc manifestiert, ist in diesem Sinne der Versuch, die bis dato historiographiegeschichtlich unsichtbar gebliebenen Bauern des Languedoc als ein kollektives Geschichtssubjekt sichtbar zu machen (Ranciere: Les noms de l 'histoire).

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nis. Eine Frage bleibt dennoch im Raum stehen: Lässt sich eine auf der Grundlage von seriell ausgewerteten Daten rekonstruierte Entwicklung noch als Erzählung bezeichnen? Sehen wir uns daher einmal genauer an, wie Le Roy Ladurie seinen Einschnitt begründet. c) Periodisierung: „Tailler dans le vif de l'histoire" Das zeitliche Grundgerüst, das die Textstruktur bestimmt, ist demographischer Art 15 . Le Roy Ladurie nennt drei Expansionsphasen der bäuerlichen Bevölkerung. Die erste reicht vom Mittelalter bis ins 15. Jahrhundert. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und die Bevölkerungszahl einerseits steigen, andererseits aber die Erträge nicht nachziehen. So kommt es zu den Hungersnöten der Jahre 1310 bis 1340. Die Pest und die Kriege mit England lösen das Problem dann auf „tragische" Weise durch Dezimierung der Bevölkerung. Die zweite Phase setzt Ende des 15. Jahrhunderts ein und schließt mit den Regentschaften Ludwigs XIII. und Ludwigs XIV. Es ist dies „[...] la phase [...] du second souffle, quand la societe rurale languedocienne se releve de ses ruines, ä la fin du XV e siecle; et quand eile s'engage dans 1'episode de la modernite" (S. 10). Le Roy Ladurie beobachtet einen starken Anstieg der Bevölkerungszahl bis zum Punkt einer ,malthusianischen Sättigung' von Boden, Auskommen und Beschäftigung. Der Grund: eine Überlast an Menschen. Die Landwirtschaft allein kann dieses Dilemma nicht beheben, und so löst erst die allgemeine Modernisierung im Zeitalter der Aufklärung das Problem durch wirtschaftliches Wachstum. Die dritte Phase schließlich erstreckt sich vom Ende der Regentschaft Ludwigs XIV. bis zum Jahre 1873, als eine Reblauskatastrophe und eine wirtschaftlich bedingte Krise der Weinbauexpansion die Bevölkerungszahlen wieder zurückgehen lassen. Les Paysans de Languedoc handelt ausschließlich von der zweiten Phase. Dieser Einschnitt wird damit begründet, dass aus der ersten Phase zu wenige compoix erhalten seien, als dass sie eine angemessene Quellengrundlage liefern könnten. Die Wahl des Anfangs ist also rein forschungspragmatischer Art. Er rührt nicht etwa daher, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt eine besonders interessante Entwicklung oder ein besonders interessanter Zusammenhang zu beobachten wäre. Der Einschnitt am Ende des 15

Zur Periodisierung vgl. auch Emmanuel Le Roy Ladurie: „La revolution quantitative et les historiens fran9ais: bilan d'une generation (1932-1968)", in: Ders.: Le Territoire de l'historien, Bd. 1, Paris 1973, S. 15-22, bes. S. 21 f. sowie Ders.: „L'histoire immobile", in: Ders.: Le territoire de l'historien, Bd. 2, Paris 1978.

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untersuchten Zeitraums wird anders begründet: Zunächst einmal seien das 18. und 19. Jahrhundert bereits gut erforscht, vor allem aber seien die Bauern dieser Phase keine Bauern im traditionellen Sinne mehr, sondern bereits moderne Winzer, die nicht mehr fur den Eigenbedarf, sondern nur noch fur den Markt produzierten. Das Ende ist also durch ein Ereignis gekennzeichnet, nämlich den Wandel von einer traditionellen bäuerlichen Gesellschaft zu einer modernen Agrargesellschaft. Dieser Befund über Anfang und Ende lässt sich verallgemeinern: Eine auf der Grundlage ökonomischer und demographischer Daten erstellte Serie ist potentiell unendlich. Im Gegensatz zu einer Erzählung kann sie weder einen aus sich selbst verständlichen Anfang noch ein solches Ende haben. Der seriell arbeitende Historiker ist folglich immer gezwungen, Anfang und Ende auf andere Weise zu begründen, genauer gesagt: durch die Einbettung der individuellen Studie in einen weiteren historischen Kontext. Für die Paysans de Languedoc ist dies die Geschichte der Modernisierung. Damit ist zwar nicht gesagt, dass auch die serielle Geschichte die Form einer Erzählung besitzt. Es lässt sich aber festhalten, dass sie Narrativität voraussetzt, denn ohne sie fänden ihre Serien kein Ende16. Eine jede der von Le Roy Ladurie zugrundegelegten Phasen folgt für sich genommen dem Schema von Flut und Rückflut („trois grandes phases de flux et reflux"; S. 10). Dies erinnert an das genuin narrative Muster von Aufstieg und Fall, wie man es aus den Geschichten über ,große' Staatsmänner, Kulturen und Weltreiche kennt. Bei näherer Betrachtung aber handelt es sich durchaus nicht um die Anwendung dieses Erzählschemas auf die Demographie, sondern lediglich um eine mittels quantitativer Forschung erstellte Bevölkerungskurve. Die Zahlen drängen die Periodisierung auf, und nicht eine ex ante erstellte narrative Finalität. Die von Le Roy Ladurie untersuchte zweite Phase unterliegt nun einer ökonomischen Gesetzmäßigkeit, und damit wären wir beim ,neomalthusianischen' Aspekt des Buchs angelangt. Das Malthussche Gesetz besagt, dass die Bevölkerung stets schneller wächst als der Bodenertrag, bzw. dass die mögliche Größe der Bevölkerung durch die Menge der verfugbaren Nahrungsmittel bestimmt und begrenzt wird. Der lange Agrarzyklus des 15. bis 18. Jahrhunderts ist sowohl durch Beständigkeit als auch durch Instabilität gekennzeichnet: Einerseits bestätigt er das malthusianische Ge16

Vgl. Ricoeur: Temps et recit, Bd. 1, S. 299: „L'histoire economique se prete ä une intrigue lorsqu'on choisit un terme initial et un terme final, lesquels sont foumis par d'autres categories que rhistoire conjoncturelle elle-meme, laquelle, en principe, est sans fin, illimitee au sens propre".

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setz als eine „regle de fonctionnement interne"17. Andererseits aber erlauben die verschiedenen Variablen, die für die wirtschaftliche Lage des Languedoc von Bedeutung sind, innerhalb der gewählten longue durie die Unterscheidung verschiedener Perioden, welche aber letztendlich, wenn auch auf verschiedene Art und Weise, stets wieder auf das Malthussche Gesetz verweisen. Innerhalb der von Le Roy Ladurie untersuchten Phase scheint damit die Synchronie letztendlich über die Diachronie zu triumphieren, es herrscht ein generelles Gleichgewicht: Die zeitlich voneinander abgrenzbaren demographischen Schwankungen sind nichts anderes als Schwankungen zwischen Bevölkerungszahl und Landwirtschaftsprodukt innerhalb dieses Gleichgewichts18. Fern von den kulturellen Neuerungen, deren Bedeutung auf die Eliten beschränkt bleibt, erleiden die Bauern eine „histoire immobile". Die große Masse der Bevölkerung, so Le Roy Ladurie, hat zunächst nicht teil an der Zukunft, die sich in Pascal, Newton und Papin ankündigt. Das aber würde bedeuten, dass wir es innerhalb des untersuchten Zeitraums mit Variationen ein und derselben Gesetzmäßigkeit zu tun haben. Diese programmatischen Bemerkungen des Historikers zum Vorgehen und zum Aufbau des Buchs sprechen in der Tat gegen eine narrative Makrostruktur des Texts. Die demographische Geschichte und die des Bodenbesitzes wären demnach deskriptiv und analytisch, was für das Textorganisationsprinzip des Tableaus sprechen würde. In der nun folgenden Analyse geht es darum, dieses Programm am Text selbst zu überprüfen. d) Voraussetzungen: „Champs de forces" Der erste Teil des Buchs („Champs de forces") nimmt eine Sonderstellung ein. Er liefert nicht mehr als den Hintergrund für die Rekonstruktion des „grand cycle agraire". Er ist eindeutig als ein Tableau identifizierbar. Die Themen sind der Reihe nach: das Klima, die Pflanzenwelt, die Agrartechniken und die Wanderungsbewegungen. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Beschreibung der ,Bühne', auf der das Leben der Bauern im Languedoc stattfindet. Dabei impliziert die Reihenfolge der Kapitel eine 17 18

Füret: „Le quantitatif en histoire", S. 56. So ist auch der Titel der deutschen Übersetzung der Antrittsvorlesung Le Roy Laduries am College de France zu verstehen (Emmanuel Le Roy Ladurie: „Die Tragödie des Gleichgewichts. Seuchen, Kriege und moderner Staat", in: Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, hg. v. Ulrich Raulff, Berlin 1986, S. 16-28).

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schrittweise Annäherung an die Menschen: Von den klimatischen Bedingungen des geographischen Raums zu den Pflanzen, die darin wachsen, sodann zu den Techniken, mit denen die Menschen diese Pflanzen kultivieren, und schließlich zur Zusammensetzung der Bevölkerung selbst. Traditionelle Gesellschaften wie diejenige des Languedoc in der Frühen Neuzeit sind abhängig von erfolgreichen Ernten, also vom Klima. Dieses wird vorgestellt als ein „personnage capricieux, redoutable et cependant toujours semblable ä lui-meme en sa mobilite" (S. 18). Dennoch geht es Le Roy Ladurie ausdrücklich nicht um einen Determinismus, sondern vielmehr um die Interferenzen zwischen der Geschichte der Menschen und derjenigen des Klimas, denn: „Les hommes font leur propre histoire" (S. 18) - daher auch schon an dieser Stelle die Ankündigung, dass das Klima im weiteren Verlauf des Buchs nicht mehr von Bedeutung sein wird19. Dass der Historiker dieses Programm ernst nimmt, zeigt sich beispielsweise daran, dass er den Versuch aufgibt, das Klima anhand der Weinernte-Daten zu ermitteln. Der Zeitpunkt der Ernte wird nicht etwa vom Klima diktiert, sondern von einer kulturellen Eigenart: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erntet man die Trauben reif, während man sie 100 Jahre zuvor noch grün pflückte. Es wäre ein Irrglauben, so Le Roy Ladurie, anzunehmen, dass dies auf eine Veränderung der klimatischen Bedingungen hinweisen würde. Aufgrund verschiedener meteorologischer Quellen rekonstruiert er Hitzewellen und Kälteperioden, Trockenzeiten und feuchte Schlechtwetterperioden und nennt die Konsequenzen für die Ernte. Dabei schreitet er in der Zeit zurück. Eine Erzählung liegt hier eindeutig nicht vor, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen gibt es das Klima, jenen „personnage capricieux" im Sinne eines Subjekts, dessen Veränderung beschreibbar wäre, gar nicht. Es löst sich auf in eine Vielzahl meteorologischer Phänomene: Wind, Regen, Luftfeuchtigkeit, Gewitter, Temperatur etc. Zum anderen werden zwar die Auswirkungen des Wetters auf die Ernte benannt, hingegen nicht die Gründe für Veränderungen des Wetters. Diese können nur beschrieben, aber nicht erzählt werden. Das gilt auch für das Kapitel über die Pflanzen und Agrartechniken: Die Pflanzenwelt des Languedoc löst sich auf in einen Katalog verschiedener Sorten und in der Beschreibung des Wegs, den sie zurückgelegt haben. Dabei geht es nicht um die Beantwortung der Frage ,Wie kam es, dass der Mais von Mexiko ins Languedoc gelangte?', sondern allein um die Frage ,Mit welchen Pflanzen lebten die Bauern des Langue19

„C'est cette interference d'une histoire humaine avec une histoire climatique que je voudrais eclairer, dans un cadre regional precis, et pour n'y plus revenir ensuite" (S. 18).

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doc?'. Es handelt sich nicht wirklich um eine Geschichte der Pflanzen, sondern darum, was die Erweiterung der Pflanzenvielfalt für die Menschen bedeutete: „elever rendement et qualite des produits, autrement dit revenu et 20

niveau de vie des hommes" (S. 53) . Wie der Großteil der Pflanzen, so kommen auch die meisten Agrartechniken aus dem Orient. Sie zeichnen sich, im Gegensatz zu denen aus Nordfrankreich, nicht durch Modernität aus. Dass das Agrarsystem des Languedoc dennoch überlebt, liegt daran, dass es in sich stimmig ist: „une structure coherente, bien adaptee au climat sec. Mais sa productivite reste faible" (S. 89). Erst im 19. Jahrhundert vollzieht sich ausgehend vom Norden eine technologische Modernisierung. Die „champs de forces" bilden also ein ganzes Netzwerk von Faktoren, die sich gegenseitig bedingen: Das Klima begünstigt den Anbau bestimmter Pflanzen. Der Widerstand der Languedoc-Bauern gegen die im Norden optimierten Ackerbautechniken erklärt sich durch die Tatsache, dass die Pflanzen des Languedoc aus dem Süden oder aus dem Orient kommen, und nicht aus dem technisch innovativeren Norden. Am Ende des Kapitels weiß der Leser, dass er sich dieses Languedoc in vielen Dingen anders vorzustellen hat als das Languedoc von heute: Andere Pflanzen wuchsen dort, die Winter waren härter, und die Physiognomie der Menschen war zwischenzeitlich stärker als heute durch Zuwanderungen aus Nordfrankreich geprägt. Im weiteren Verlauf des Buchs spielen die in diesem Teil angesprochenen ,Kraftfelder' keine Rolle mehr. Dass sie dennoch einen recht breiten Raum zu Beginn des Buchs einnehmen, lässt sich nur durch den Willen zu einer histoire totale erklären. Als Kriterium für deren Vollständigkeit scheint Braudels Modell der historischen Zeiten zu fungieren. So verwundert es denn auch nicht, dass die „champs de force" in der gekürzten Taschenbuchausgabe von 1969 vollständig fehlen können, ohne auch nur in einem einzigen Satz resümiert zu werden - im Gegensatz zu dem im Original fast hundertseitigen Kapitel „L'offensive de la rente", das zwar den für die Taschenbuchausgabe notwendigen Kürzungen zum Opfer gefallen ist, das dort aber immerhin noch erscheint - wenn auch reduziert auf ein minimales Resümee. Mit Geographie, Klima und Migration entfallen lediglich Voraussetzungen'. Der Agrarzyklus aber ,darf keine chronologische Lücke aufweisen . 20

Vgl. auch S. 72: „[...] combien de marraudeurs en 1709 ont survecu grace au mais et aux haricots, pillees sans vergogne dans les champs ouverts". Der folgenden Bemerkung eines Rezensenten über diesen Teil kann ich mich denn auch nicht anschließen: „Et meme, Γ etude de ce .mouvement tres long l'une [sie!]

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Der letzte Absatz dieses umfangreichen Kapitels leitet über zum eigentlichen Gegenstand des Buchs, und er lässt bemerkenswerterweise eine Erzählung erwarten: Mais cette geographie generale depasse infiniment le cadre des campagnes languedociennes. Et ce sont d'autres gradients, d'autres differences de potentiel, qui font l'objet de ce livre: ces differences, elles, s'inscrivent dans le temps; elles ne sont pas regionales, mais chronologiques; et elles opposent, pour l'essentiel, deux modalites de la vie sociale, deux styles du peuplement paysan: l'un rarefie ä Γ extreme, ä la fin du Moyen Age; l'autre, peu ä peu plethorique, ä l'apogee des Temps modernes. (S. 133) Dieser Abschnitt präsentiert ein Subjekt - die bäuerliche Besiedlung und eine konstitutive Opposition: demographische ,Spärlichkeit' vs. , Fülle'; schließlich wird darauf verwiesen, dass sich diese Opposition in der Zeit entfaltet. Der Leser stellt sich nun unweigerlich die Frage, wie es denn zu dem Bevölkerungsanstieg kam, der die Entwicklung zwischen Spätmittelalter und Moderne kennzeichnet - eine Frage, die im Kernstück des Buchs vorzüglich eine Erzählung zu beantworten in der Lage wäre. e) Die Rekonstruktion des „grand cycle agraire" Zunächst sei ein etwas ausfuhrlicherer Blick auf die ersten Sätze der „Conclusion" geworfen: Je me suis efforce, dans ce livre, d'observer ä divers niveaux, le mouvement tres long d'une economie, et de la societe qui enveloppe celle-ci: base et superstructure, vie materielle et culturelle, evolution sociologique et psychologie collective, le tout au sein d'un monde rural demeure en grande partie traditionnel. J'ai tente, plus precisement, d'analyser, dans leur multiplicite d'aspects, differents types successifs de croissance et de decroissance. L'ensemble de ces types, dans leur deroulement chronologique - demarrage, essor, maturite, declin - implique une unite, et tend ä dessiner une fluctuation rurale majeure, multiseculaire, organisee. Celle-ci enjambe huit generations. Plus simplement: un grand cycle agraire, observe dans sa totalite et qui s'etend de la fin du XVe au commencement du XVHP siecle, tel est, dans mon livre, le personnage central. J'ai pu le decrire et le caracteriser par les courbes de prix, naturellement; mais plus precisement par les etudes de demographie, cadastrale et totale,

economie, et de la societe qui enveloppe celle-ci' (633) repose sur une sorte de socle que le resume ci-dessus a volontairement laisse de cöte, mais qui n'en est pas moins indispensable ä l'intelligibilite de l'ouvrage [...]" (Louis Bergeron: paysans de Languedoc. Par Emmanuel Le Roy Ladurie (Review Essay)", in: History and Theory 7 (1968), S. 367-376, hier: S. 374).

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par les indices de production et d'activite, par les diagrammes successifs de repartition des terres, des fortunes et des revenus. (S. 633) Die Periodisierung beruht also auf demographischen und wirtschaftlichen Zahlen. Diese erlauben die Rekonstruktion eines „grand cycle agraire", der als „personnage central" des Buchs vorgestellt wird. Diese Formulierung suggeriert, der Agrarzyklus sei das Subjekt, von dessen wellenförmigem Verlauf das Buch handle. Bei näherer Betrachtung aber fallt auf, dass ein Agrarzyklus kein Subjekt einer Veränderung sein kann, er ist vielmehr die Form, die den Veränderungen des südwestfranzösischen ökonomischen System ihre Einheit gibt: Premiere phase: I 'etiage (Les conditions preliminaires au demarrage) (S. 634) Deuxiemephase: l'essor. (Ebd.) Troisiemephase: apres 1600, la maturite. (S. 635) On est alors en pleine phase IV, dans la periode longue du reflux. (S. 637) Die Veränderungen beziehen sich auf zwei Subjekte, die das ganze Buch hindurch zueinander in bezug gesetzt werden: das Bevölkerungswachstum und das landwirtschaftliche Wachstum 22 . 22

Die folgende Passage mag genügen, um zu verdeutlichen, in welcher Weise Le Roy Ladurie die beiden Größen aufeinander bezieht: „Mais le retour, des 1675-1680, ä la production deprimee rend necessaire, en fin de compte, un ajustement, une mise au point sociale. Dans quel domaine? II n'est pas question pour des raisons de haute politique que le Pouvoir diminue, face ä la depression du produit brut, ses exigences en prelevement fiscal. Bien au contraire, ce prelevement va augmenter encore ä la fin du siecle, contre toute logique economique, mais en concordance avec les grands desseins du Roi-soleil, consciencieusement servi par une bureaucratie sans entrailles. L'ajustement et la remise en ordre vont done se faire dans d'autres directions: certains prelevements prives d'abord, ä defaut des prelevements publics, s'attenuent un peu; la rente fonciere tend nettement ä baisser, en valeur reelle, ä la fin du siecle. La grande victime de l'ajustement social, c'est la demographie: ä la reduction du produit brut, ä son retour au status quo seculaire, la societe riposte par les solutions les plus frustes; eile reduit le nombre des bouches ä nourrir, des bras ä employer; eile s'ampute ellememe, sans anesthesie, d'une fraction de ses effectifs humains; eile cede une livre de chair. Apres 1680, en effet, tout accroissement demographique, meme modeste, est enraye; et voilä le fait capital, l'evenement vraiment n e u f - la population entame pour la premiere fois depuis deux siecles une baisse de longue duree; baisse provoquee non pas tellement par la repetition des famines, moins graves peut-etre qu'au centre et qu'au Nord de la France, mais par le chömage et la pauvrete, par la sous-alimentation chronique, par le bas niveau de vie, fertile en epidemies, par le mauvais etat sanitaire des classes pauvres, tres accessoirement par Γ emigration, par le retard au manage, ou meme par quelques restrictions des naissances" (S. 638).

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Die Entwicklung, die sich aufgrund des Textes rekonstruieren lässt (die histoire sozusagen), ist die folgende: Im 14. Jahrhundert gibt es im Languedoc so viele Menschen, wie dies bis zum 18. Jahrhundert nicht mehr der Fall sein wird - so viele, dass die Landwirtschaft sie trotz umfangreicher Urbarmachung ehemals ungenutzten Bodens nicht mehr ernähren kann (daher die Kapitelüberschrift „L'etiage d'une societe"). Die Ärmsten leiden Hunger. Geschwächt wie sie sind, werden sie ein leichtes Opfer für die Pest von 1348. Den compoix ist zu entnehmen, dass in einigen Gegenden bis zu 50 % der Bevölkerung sterben. Viele Todesfalle fuhren zu vielen Erbschaften der immer weniger werdenden Überlebenden, und so ist diese Zeit eine des sich konzentrierenden Bodenbesitzes. Ganze Familienlinien verschwinden, die Überlebenden kehren zurück zu einer archaischen Form von Großfamilie, affrerement bzw. frereche genannt. Der Zusammenschluss der Sippen hat zwei Gründe: Zum einen besteht die lebenspraktische Notwendigkeit, möglichst viele Menschen von dem wenigen Ackerland zu ernähren, das von den sich wieder ausbreitenden Wüstungen verschont geblieben ist, zum anderen gibt die Sippe die moralische Sicherheit und den Schutz, den der Staat in dieser existentiellen Krisensituation nicht leisten kann. Langsam erhöht sich das Lebensniveau wieder, die Löhne steigen ebenso wie die Qualität der Nahrung. Diese Entwicklung hat erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Ende, als sich die demographischen Zahlen auf einem sehr niedrigen Stand stabilisieren. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts explodiert diese wieder gut genährte, epidemieresistente Bevölkerung förmlich. Die compoix dokumentieren eine stark zunehmende Zahl von Steuerpflichtigen. Plötzlich herrscht wieder Mangel an Getreide, und so wird immer mehr Land, das im 15. Jahrhundert verwildert ist, wieder urbar gemacht. Doch einmal mehr öffnet sich die ,malthusianische Schere': Die landwirtschaftliche Produktion kann mit der demographischen Entwicklung nicht mithalten, und so kommt es zur „tragedie du ble" (S. 221). Die Behörden sehen sich gezwungen, ein Ausfuhrverbot für Weizen zu verhängen, ja sie unterdrücken gesetzlich die Wanderbewegungen der Nahrung suchenden Massen. Die ,Tragödie' ist auch durch die intensiv wie niemals zuvor betriebene Pflanzung von Olivenbäumen nicht aufzuhalten. Ebenso wenig kann der unterentwickelte Weinanbau dazu beitragen, die Katastrophe zu verhindern. Die Produktion bleibt im Vergleich zum 15. Jahrhundert zwar stabil, aber der lokale Weinkonsum nimmt eher ab. Zum Export wiederum ist der Wein des Languedoc aufgrund seiner schlechten Qualität nicht geeignet. Während andere Regionen bereits dazu übergegangen sind, den Wein erst im Oktober zu ernten,

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schneiden die Winzer im Languedoc ihre Reben bereits Anfang September, wie sie es von früher kennen. Der aus diesen Trauben gewonnene Wein ist sauer und hält sich nicht länger als ein Jahr. Die Unterernährung der Bauern schließlich wiegt umso schwerer, als sie die verheerende Pestwelle von 1530 begünstigt. Im Laufe des 16. Jahrhunderts fuhrt der demographische Aufschwung durch Erbteilungen zu einer Zerstückelung, ja: Pulverisierung des Kleingrundbesitzes. Der große Landbesitz ist in deutlich geringerem Maße davon betroffen. Die Bevölkerungszunahme und die mit ihr einhergehende Aufsplitterung des Grundbesitzes setzen eine Kette von verhängnisvollen Entwicklungen in Gang: Da die aus der eigenen Parzelle erwirtschafteten Produkte die Familien nicht mehr ernähren, sind die Bauern dazu gezwungen, Getreide fur den eigenen Bedarf zu kaufen. Das Geld für diese Einkäufe besorgen sie sich wiederum dadurch, dass sie sich zusätzlich zur Bestellung ihrer eigenen Felder bei den Großgrundbesitzern verdingen. Das dadurch entstehende Überangebot an Arbeitskräften aber fuhrt zum Verfall der Löhne. Die dadurch erzielten Gewinne ermöglichen es den Besitzern der großen Güter, durch Erwerb der mittelgroßen Güter zunächst zu expandieren. So kommt es zu einer Polarisierung des Bodenbesitzes zwischen Tagelöhnern auf der einen und reichen Stadtbürgern und Adligen auf der anderen Seite. Da die Grundrente im wesentlichen stagniert, wirft der reine Besitz von Land allerdings (noch) keinen großen Gewinn ab. Von den drei an diesem System beteiligten Gruppen: Arbeitnehmer, landwirtschaftliche Unternehmer bzw. Pächter und Grundeigentümer, sind die zweiten also die großen Gewinner des Jahrhunderts23. Diese Situation fuhrt schließlich zu einem erneuten Rückgang der Bevölkerungszahlen ab etwa dem Jahr 1570. Aus Deutschland und der Schweiz verbreitet sich reformatorisches Gedankengut auch bis ins Languedoc und fällt dort auf den fruchtbaren Boden des materiellen Mangels. Nur vordergründig durch die reformatorische Kritik am Klerus motiviert, kommt es in vielen Regionen des Languedoc zu 23

Le Roy Ladurie macht keinen Hehl aus seiner Sympathie fiir diese Entwicklung: „Un grand point, pourtant: au XVT siecle, la propriete n'est pas un droit divin, qui donne acces sans effort aux benefices d'une certaine expansion. II ne suffit pas d'etre ne. La propriete pour etre enrichissante, doit etre unie ä l'exploitation, ä l'entreprise, ä la direction effective du travail, cle du surproduit et du surprofit. [...] Bref, le XVT siecle, en ce cas, n'est pas seulement favorable aux fils de famille qui se donnent la peine de naitre, et qui trouvent sans souci leurs biens-fonds dans leur berceau. D avantage relativement les self-made-men, depourvus de terre au depart de leur carriere" (S. 301).

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Zehnt-Streiks. Angesichts des Analphabetismus, der unter der Landbevölkerung die Regel darstellt, sind diese Aufstände als ein sozialer, und nicht als ein religiöser Protest zu verstehen, zumal sie in protestantischen wie in katholischen Gebieten stattfinden. Bauern, Bürgertum und Adel bilden eine Front gegen den Klerus, doch als die Bauern auch noch den lehnsherrlichen Zins und die königlichen Steuern verweigern, wenden sich Adel und Bürgertum, ganz gleich welchen Glaubens, gegen sie. Gehen deren Interessen doch in Wirklichkeit nicht darüber hinaus, die Kirche verschuldet zu sehen, um ihr Land billig aufzukaufen. Die Situation spitzt sich am Ende des Jahrhunderts zu, so etwa im Karneval von Romans (1580), den Le Roy Ladurie ausfuhrlich erwähnt. Die Inszenierung dieser Bauernaufstände ist gekennzeichnet durch tiefe Instinktivität und irrationale Symbolik (Anthropophagie· und Kastrationsmotive) sowie eine damit einhergehende archaische Gewalttätigkeit. Das bäuerliche Bewusstsein reagiert auf die Enttäuschung von der Reformation, auf die Bürgerkriege und auf den Hunger mit einer Rückkehr zum Hexen- und Dämonenglauben („les recurrences d'une ,pensee sauvage'"). In Ermangelung einer ,echten' Befreiung sucht es „l'aventure d'une revoke satanique" (S. 412). Im 17. Jahrhundert wiederholt sich das ,malthusianische Dilemma': Zu Beginn des Jahrhunderts setzt ein erneutes Bevölkerungswachstum ein, das allerdings aufgrund schlechter Ernten und zweier Pestepidemien in den Jahren 1627 und 1653 flacher verläuft als dasjenige im vorangegangenen Jahrhundert. Die landwirtschaftliche Produktion hingegen stagniert. Auch eine bis in die zweite Jahrhunderthälfte andauernde Expansion des Weinanbaus und der Seidenraupenzucht in den Cevennen ändert nichts an dieser Entwicklung. Die beiden Sektoren sind zu unbedeutend im Vergleich zum Getreide. Abgesehen von der direkten Umgebung der Städte, wo Bürgerliche und Adlige immer mehr Land akkumulieren, wird das Parzelleneigentum zunächst immer kleiner. Der Kirche gelingt es, sich von den Streiks des 16. Jahrhunderts zu erholen und wieder den Zehnt zu erheben. Ab 1680 kommt es dann zum Stillstand sowohl in der Entwicklung der Bevölkerungszahlen als auch in der Bodenverteilung. Um 1690/1700 herum verschwinden schließlich immer mehr Kleinstbodenbesitze, sie werden von den großen verschluckt. Die Löhne stabilisieren sich, wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Rente steigt in der ersten Jahrhunderthälfte, ebenso die Preise. 1653/54 werden gar Rekordpreise fur Weizen verbucht. Die erheblichen Steuererhöhungen unter Richelieu und Colbert sowie die kriegsbedingte Inflation haben allerdings zur Folge, dass die landwirtschaftlichen Groß-

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Unternehmer trotzdem keine höheren Gewinne machen. Damit bleiben auch Investitionen aus, was zu einer weiteren Verknappung der Lebensmittel fuhrt. Die bäuerlichen Erhebungen in diesem Jahrhundert richten sich denn auch vor allem gegen die Steuerpolitik. In protestantischen Gegenden wie den Cevennen kommt es im Zuge der Aufhebung des Edikts von Nantes zudem zur traumatischen Erfahrung einer „veritable deculturation" (S. 614). Die Aufstände in den Cevennen (die sogenannte Camisardenrevolte) speisen sich zusätzlich aus zwei Traditionen: Chiliasmus und eine „hysterie convulsionnaire et prophetique" (S. 618) präsentieren sich als ein „melange detonant de nevrose prophetique et d'agitation fiscale" (S. 629). Aufgrund vielfaltiger, nur schwer rekonstruierbarer Gründe ist die Ackerwirtschaft in den Jahren 1680-1695 nicht mehr rentabel, die landwirtschaftliche Produktion bricht regelrecht zusammen. Das Gleichgewicht zwischen der Produktion und der Bevölkerungszahl wird auf makabre Weise wiederhergestellt, indem letztere ab 1685/1700 wieder sinkt. Diesmal sterben die Unterernährten vor allem an Tuberkulose, Malaria und den Blattern. Doch hat die Bevölkerungsabnahme auch kulturelle Ursachen: das Hinauszögern der Eheschließung, (seltener) Empfängnisverhütung und Abwanderungen. f) Historischer Wandel als Gesetzmäßigkeit Die Veränderungen innerhalb des Agrarzyklus folgen dem Schema eines „flux" und „reflux": Zu Beginn des untersuchten Zeitraums sind die Bevölkerungszahlen am Boden, und an seinem Ende, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, werden sie es wieder sein. Dazwischen liegt ein vergängliches Wachstum der Bevölkerung. Was jedoch nicht erkennbar ist, das ist eine Erzählsequenz, die diese Opposition, verstanden als ein Anfang und ein Ende, vermitteln würde. Es lassen sich zwar Veränderungen beobachten, aber diese Veränderungen ergeben sich nur bei oberflächlicher Betrachtung aus einem Ereigniszusammenhang (als ein solcher wären ja die Lohn-, Steuer- Bodenbesitz- und Bevölkerungsentwicklungen rein theoretisch interpretierbar). Die verschiedenen Phasen ergeben sich vielmehr aus der Korrelierung von serialisierten Bevölkerungs- und wirtschaftlichen Daten stets aufs Neue. Sie entstehen nicht aus einander, wie dies in der retrospektiven Perspektive einer Erzählung der Fall wäre, sondern stehen als vier Querschnitte «e^e«einander, als „differents types successifs de croissance et de decroissance" (S. 637). Die Entwicklung als ganze, die hier die Form einer Welle annimmt, ist durchaus nicht durch einen Plot präjudiziell, son-

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dem ist als eine Abbildung der korrelierten Reihen zu verstehen, welche sich aus der Quantifizierung der Daten ergeben. Wären die Veränderungen sprunghafter gewesen, dann wäre es eben zu anderen Phasen gekommen, die nicht das homogene Bild einer Welle abgegeben hätten. Der Schluss der Entwicklung in der vierten Phase ist durch das Malthussche Gesetz erklärbar, er stellt kein narratives Ende dar: Ce denouement est logique: les ciseaux malthusiens, entre production et population, ne pouvaient s'ouvrir indefmiment. (S. 639)

Das Adjektiv „logique" trifft tatsächlich den Charakter der Erklärung, die hier gegeben wird. Diese besteht nicht im Erzählen bzw. im Nachvollzug einer plausiblen Geschichte, sondern folgt dem Muster der Determination durch die Folgerichtigkeit ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Das Thema des Textes ist eben nicht der Transformationsprozess zwischen Anfang und Ende, sondern das gesetzmäßig geregelte Verhältnis von Bevölkerungszahl und Produktion, in anderen Worten: die „articulation interne" der Langzeitbewegung, die Kräfte, deren Zusammenspiel bei aller Unterschiedlichkeit der Phasen das für die bäuerliche Bevölkerung so folgenreiche Gleichgewicht gewährleistet. Von einer Erzählung kann nicht einmal im minimalen Sinne Dantos die Rede sein, fur den die allgemeinste Eigenschaft aller narrativen Sätze darin besteht, zwei zeitlich auseinanderliegende Ereignisse auf einander zu beziehen24. Denn Anfang und Ende des untersuchten Zeitraums werden nicht in dem Sinne aufeinander bezogen, dass die Veränderung durch ein zwischen den beiden liegendes explanans verständlich würde. Es geht Le Roy Ladurie gerade nicht um Veränderung, sondern tun die Beschreibung der Gefangenschaft' einer Gesellschaft in konstanten wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen. Ereignisse sind fur die Rekonstruktion der Produktions- und Bevölkerungsentwicklung völlig bedeutungslos. Die Radikalität, mit der sie von der Erklärung des Agrarzyklus ausgegrenzt werden, zeigt sich in aller Deutlichkeit an der Behandlung der Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts. Obgleich es denkbar wäre, dass sich eine Abnahme der Bevölkerungszahl auch diesem Ereignis verdankt, werden die Bürgerkriege von der Erklärung explizit ausgenommen: Si les analyses, foncieres, puis salariales, des chapitres precedents, sont exactes, ont doit enregistrer d'un bout ä Γ autre du siecle, une frequence et une intensite croissantes des disettes et des famines et, au meme rythme, une modification vraisemblable doit intervenir dans la politique frumentaire des autorites. 24

Danto: Analytical Philosophy, S. 236.

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La realite confirme cette hypothese. Soit le siecle qui va de 1460 a 1560 (apres cette date, la guerre civile perturbe peut-etre les conditions de Γ experience, en aggravant artificiellement les famines). (S. 317 f.; Hervorhebung A.R.)

Diese Ausgrenzung ergibt sich daraus, dass die Argumentation mit Malthus durch Gesetzmäßigkeiten erfolgt, und nicht durch Ereignisse, was hieße: durch Erzählung. Wenn den Auswirkungen der Bürgerkriege wortwörtlich das Attribut der Künstlichkeit verliehen wird, so ist dies vor dem Hintergrund der Erklärung durch das malthusianische Gesetz zu verstehen. Dieses wirkt jenseits des zeitgenössischen Bewusstseins und ist daher in der vormodernen Gesellschaft des Languedoc auch nicht alterierbar durch menschliches Handeln. Ohne dass der Begriff selbst fiele, erhält das ökonomische Gesetz durch seine Opposition zur ,Künstlichkeit' den Status einer Quasi-Naturgesetzlichkeit. Das Ereignis des Krieges wird gerade ausgeklammert, um die Reinheit des Experiments im ,malthusianischen Labor' zu gewährleisten. Das folgende Resümee eines Rezensenten ist daher verzerrend: Le seizieme siecle languedocien est en effet marque par une , eruption demographique' qui se poursuit jusque vers 1570, pour etre alors interrompue par les guerres civiles25.

Dieser Satz stellt eine explizite Verbindung her zwischen dem Versiegen der „eruption demographique" und den Bürgerkriegen, es handelt sich folglich um eine Erklärung durch Erzählung. Legt man Dantos narratives Minimalschema zugrunde, so lassen sich problemlos ein Subjekt (die Bevölkerungszahl) zu zwei verschiedenen Zeitpunkten und ein veränderungsinduzierendes Ereignis (die Bürgerkriege) ausmachen26. Der Text der Paysctns de Languedoc aber leistet diese Art der Erklärung gerade nicht. Das Adverb „peut-etre" in der oben zitierten Passage verleiht dieser potentiellen, aber unterlassenen Minimalerzählung darüber hinaus die pejorative Kon-

25

26

Bergeron: ylLes paysans de Languedoc. Par Emmanuel Le Roy Ladurie (Review Essay)", S. 369. Vgl. auch Stempel: „Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs", in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, S. 325-346, besonders S. 328. Dies würde in gleicher Weise auch für zwei Sätze gelten, der die Verbindung zwischen der Veränderung und dem Ereignis nur implizit herstellt, so ζ. B. die beiden folgenden: „Mit den Bürgerkriegen nimmt die Bevölkerungszahl wieder ab"; „Die Bevölkerungszahl steigt bis zum Ausbruch der Bürgerkriege". Die Struktur der virtuellen Sätze impliziert, dass der Bürgerkrieg die Ursache des Bevölkerungsrückgangs ist.

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notation des Ungesicherten und nicht Wissbaren. Die gesetzmäßige Erklärung erscheint als die gesichertere Erkenntnis27. Die Überwindung des ,malthusianischen Dilemmas' durch wirtschaftliche und kulturelle Modernisierung beginnt erst mit dem Übergang zum 18. Jahrhundert: Wie in vielen Ländern Europas büßt der Agrarsektor im Languedoc seine Vorherrschaft ein, Manufakturen entstehen, und damit einhergehend eine „mentalite industrialiste" (S. 645). Das Bruttoprodukt steigt, die Bevölkerung wächst, die extreme Verelendung der Landbevölkerung hat ein Ende28. Dieser lange Prozess hat erzähllogisch den Status eines Ereignisses, jenseits dessen das Malthussche Gesetz seine Gültigkeit einbüßt. Es ist deutlich geworden, dass, obgleich die Darstellung des untersuchten Zeitraums selbst nicht narrativ zu nennen ist, der zentrale Ausschnitt (14.-18. Jahrhundert) aber durchaus nach narrativen Gesichtspunkten ausgewählt ist. Die Darstellung der Phase selbst aber folgt nicht der Logik einer Erzählung, da es keine Geschichte gibt, die die Entwicklung bis zum Endpunkt (die moderne Agrargesellschaft) erklären würde. Obwohl sich also innerhalb dieses Ausschnitts keine narrativen Makrostrukturen ausmachen lassen, erscheint es angemessen, zumindest von einer narrativen Grundvoraussetzung zu sprechen, nämlich der Geschichte eines gesellschaftlichen Strukturwandels um 1800. Diese wäre Thema einer anderen, virtuellen Geschichte, in der sich die Geschichte der Paysans de Languedoc eingebettet findet. Einmal mehr zeigt sich zudem, dass die von vielen Literaturtheoretikern dogmatisch vernachlässigte Referentialität des historischen Diskurses (nicht auf die Vergangenheit selbst, aber auf die Quellen) ein Irrtum ist. Denn die Gewichtung der verschiedenen Aspekte eines historiographischen Textes ist abhängig von der Art der analysierten Dokumente. So ist es Le Roy Ladurie aufgrund seiner Entscheidung, das zeitliche Grundgerüst der 27

28

Zur Geringschätzung der Ereigniskategorie vgl. auch S. 382: „Le probleme n'est pas de decrire pour elles-meme les greves decimales, que de mesurer leur influence economique et sociale"; S. 387: „Surviennent les ,evenements' de 1560 ä 1563. A Beziers l'alerte est chaude, mais les chanoines, armes jusqu'aux dents, munis de poudre, et d'arquebuses, echappent au massacre." Die Anfiihrungszeichen kündigen bereits an, dass die vorgeblich ereignishaften Revolten in der langen Perspektive von Le Roy Laduries histoire totale ihren Ereignischarakter verlieren werden. „Impression d'ensemble: la societe, apres 1715-1720, apres Louis XTV, n'est plus freinee, bloquee, finalement ployee par Γ inflexible rigidite du produit brut. C'est au contraire ce meme produit brut qui, tout au long d'une croissance plus que seculaire (jusqu'en 1873) affectant principalement la viticulture, tire en avant la societe, la population, le standard de vie" (S. 654).

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Darstellung auf die Analyse der compoix zu gründen, unmöglich, für die Etablierung der Chronologie auf Mentalitäten zurückzugreifen - ganz zu schweigen von politischen Ereignissen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der kurzen Zeit der Ereignisse innerhalb des Agrarzyklus keine Aufmerksamkeit zukäme. Im folgenden soll es um die Frage gehen, auf welche Weise Individuen und Ereignisse auf mentale und ökonomische Strukturen bezogen werden. g) Beziehungen zwischen Agrarzyklus, Mentalitäten und Ereignissen Die histoire totale der Paysans de Languedoc umfasst alle drei Zeitebenen des Braudelschen Λ wra/es-Paradigmas. Was Braudel in La Mediterranee indes schuldig bleibt, sind Ausführungen darüber, in welchem Verhältnis 29

die drei historischen Zeiten eigentlich zueinander stehen . Die Relationen zwischen den Ereignissen und den Strukturen bleiben unbestimmt. Die Publikation der zweiten Auflage in drei Bänden ist also nicht nur eine rein editorische Notwendigkeit, sondern macht zugleich eine methodische Leerstelle sinnfällig: Was die verschiedenen Bände verbindet, bleibt offen. In den Paysans de Languedoc finden wir die Dreiteilung wieder. Ein wesentlicher Unterschied zu La Mediterrame besteht allerdings darin, dass die longue duree (der Agrarzyklus sowie die Mentalitäten) und die kurze Zeit der Ereignisse (soziale Revolten) wesentlich stärker miteinander verwoben sind. Individuen und Ereignisse sind zwar bedeutungslos für die Rekonstruktion des Agrarzyklus, dennoch sind sie unentbehrlich, insofern an ihnen sowohl die Mentalitäten als auch die Konsequenzen der malthusianischen Verhältnisse erst sichtbar werden. Die häufigsten Fälle, in denen Le Roy Ladurie auf die Zeit der menschlichen Individuen und Handlungen zu sprechen kommt, sind diejenigen mit illustrativer Funktion. Dies gilt etwa für den Großpächter und Geschäftsmann Masenx, der im 16. Jahrhundert lebte, und dessen soziale Physiognomie Le Roy Ladurie aus Haupt- und Notarsbüchern nachzeichnet. Er ist ein „capitaliste typique de , Γ accumulation primitive'", ein Großpächter und Wucherer, der finanziellen Vorteil daraus zu ziehen weiß, in einer Zeit niedriger Grundrente zu leben. Er repräsentiert, wie viele andere, den Typus eines „pionnier capitaliste":

29

Vgl. Georg G. Iggers: New Directions, S. 59.

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Ainsi, Masenx est un cas exemplaire; comme des milliers de ses contemporains, hommes d'affaires, avocats, ou gros fermiers, il se conduit en usurier du grain. (S. 305).

Gleiches gilt für die kontrastierende Gegenüberstellung des Tuchhändlers Sauvaire Texier und des Großpächters Pierre Sallagier (S. 339 f.). Beide stammen aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen und bringen es im Laufe des 16. Jahrhunderts zu Wohlstand. Jener lebt in der Stadt und hat sich den bürgerlichen Geschmack eines Emporkömmlings zugelegt. Dieser bleibt auf dem Land, seine Lebensumstände sind trotz seines Reichtums eher ärmlich, wie Le Roy Ladurie mit einem imaginierten Gang durch die Hauseinrichtungen der beiden im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen führt: Entrons d'abord chez Sauvaire Texier [...]. L'escalier ä vis mene aux sept chambres des etages; en outre Texier a salle, cuisine, grenier, cave. [...] Un cofire plein d'ecus: 200 χ en ducats, douzains, ducatons. Et des bijoux: anneaux d'or, pierres, jaspes, bracelets, 18 des d'argent, boite d'argent, chaine d'or et vigne d'or. [...]. Texier aime le vert: les robes, les tapis, les chaises ä tapisseries sont vertes. [...] Ses goüts pour les objets d'art sont attestes: un tableau encadre en bois, un bassin de verTe peint, et la vigne d'or. (S. 339). [Pierre Sallagier:] Entrons dans la cuisine, et dans la chambre, ού se deroule sa vie familiale. Desolante pauvrete: un lit, une table, deux ou trois coffres, un peu de vaisselle d'etain, six nappes, quelques draps et serviettes. Ni armes, ni tableaux, ni bijoux. [...] Chez lui, pas d'objets culturels, au sens traditionnel de cette epithete. (S. 340).

Die Beschreibungen sind durch in einer Fußnote minutiös aufgelistete compoix und andere Quellen abgesichert. Die erzählerische Vermittlung erfolgt durch eine explizit gemachte externe Fokalisierung {camera eye): Der Erzähler beschränkt seine Darstellung auf Dinge, die jeder anonyme, den Raum durchschreitende Beobachter sehen würde. Sodann weist Le Roy Ladurie auf das Typische der beiden Wohnungseinrichtungen hin. Die Portraits dienen allein der Veranschaulichung einer Phase innerhalb der longue duwe, d. h. sie werden in die ,lange' Perspektive der Wirtschaftsund Sozialgeschichte integriert: Derriere les deux hommes, on retrouve les societes, les deux styles de vie, les deux fafades: et Fantinomie qui oppose bourgeois et rustres, ville et Campagne, et, pourquoi pas, barbarie et civilisation. (S. 340)

Weitere Beispiele dieser Art lassen sich im Text problemlos ausfindig machen. Das Kapitel „Typologie des acquereurs" (S. 362-371), in dem es darum geht, die ,Soziologie' der Erwerber von Kirchenland im 16. Jahr-

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hundert anhand einiger Kurzbiographien exemplarisch zu rekonstruieren, repräsentiert hingegen einen anderen Funktionstypen: Hier geht es nicht mehr allein um die Veranschaulichung, sondern um eine Ableitung: Les ventes ecclesiastiques, qui s'echelonnent de 1563 ä 1591, sont pourtant signifkatives; elles eclairent les ambitions terriennes d'un groupe social: groupe d'acquereurs, difini ci-dessus par im faisceau convergent de biographies. (S. 371, Hervorhebung A.R.)

Aus der gewählten Formulierung geht eindeutig hervor, dass die Biographien nicht als Illustrationen einer anderweitig gewonnenen allgemeinen Erkenntnis zu verstehen sind, sondern im Sinne einer Induktion. Die Kriterien, die es Le Roy Ladurie erlauben, von einer sozialen Gruppe zu sprechen, werden den Biographien selbst entnommen. In den bisher erwähnten Passagen haben wir es zwar mit individuellen menschlichen Aktanten zu tun, jedoch nicht mit Ereignissen. Eben diese liegen nun aber in der Darstellung der Revolten vor. Schauen wir uns exemplarisch jene Kapitel an, in denen die sozialen Unruhen gegen Ende des 16. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 17. Jahrhunderts geschildert werden. Die Darstellung des Carnaval de Romans beginnt mit deutlichen Anzeichen von Narrativität. Anfang und Ende der Erzählung sind eindeutig markiert: Im Winter 1580 beginnt eine Revolution, das Paradebeispiel einer Grenzüberschreitung im Sinne Lotmans30. Durch die Niederschlagung derselben ist das Ende der Erzählung erreicht. Handwerker und einfache Arbeiter sind die Handlungsträger dieser genau datierbaren ,unerhörten' Tat. Sie wollen den Karneval dazu benutzen, ein ernsthaftes Anliegen durchzusetzen. Dies hätte Veränderungen des Machtgefüges zufolge, die über den Karneval hinaus Bestand hätten. Die Aufständischen missachten also die dem Karneval eigenen Regeln, da in diesem die Umkehrung der Hierarchien bekanntermaßen nur für eine festgelegte Dauer funktioniert. So stehen sich zwei Parteien gegenüber, die, wie es sich für eine Revolution gehört, zunächst einmal durch Macht bzw. Wohlstand und Unterworfenheit bzw. Armut gekennzeichnet sind: La ville se divise en partis hostiles qui correspondent aux divers quartiers, riches ou pauvres, et aux animaux-totems qui constituent le prix de leurs fetes folkloriques

30

„L'affaire commence en revolution populaire. Elle se termine en drame elizabethain, avec les couleurs vives de la Renaissance. Dans l'hiver 1580, en effet, les esprits s'echaufient ä Romans, devenu point central de tout le mouvement. Les artisans et laboureurs, excites par l'approche du carnaval, dansent leur revolte dans les rues de la ville" (S. 395).

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respectives: parti du mouton, du lievre, du chapon (des laboureurs et artisans mecaniques, diriges par Jean Serve); parti du coq, de l'aigle, de la perdrix (des gens de bien). Laroche est metaphoriquement invite ä couvrir la perdrix. On notera que les animaux choisis par les pauvres - ä Γ inverse du bestiaire, parfois tendre ou precieux (perdrix), souvent viril (coq, aigle) des riches - sont faibles, emascules, ,de mauvaise augure' comme l'a vu le notaire Eustache Piemond, pourtant bien dispose ä l'egard des rebelles. (S. 396)

Le Roy Ladurie interessiert sich insbesondere für eine weitere Grenzüberschreitung, nämlich diejenige des angedrohten Kannibalismus: „A six (ou quatre) deniers la chair du chretien" schreien die Aufständischen (S. 396). Der Aufstand endet mit einem Massaker am 15. Februar 158031. Der Anführer der Aufständischen, Paulmier, stirbt durch einen Spießstoß ins Gesicht, anschließend metzeln die Adligen die Handwerker und Arbeiter nieder. Die Grenzüberschreitung ist rückgängig gemacht, die Bewegung des Sujets zum Stillstand gekommen32. Nicht weniger narrativ ist die Rekonstruktion der Ereignisse in Agen im Jahre 1635. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Le Roy Ladurie in ihnen lediglich „une serie d'exemples" sieht - „si caracteristiques qu'il en merite une etude speciale" (S. 503). Die Passage beginnt wiederum ausgesprochen narrativ. „Agen, 17 juin 1635: une erneute nait contre les gabeleurs (par solidarite avec les insurges de Bordeaux)" (S. 503). Die Angabe des genauen Datums und das Verb „nait" zeugen von der Kontingenz des Anfangs, die eine jede Erzählung kennzeichnet. Was folgt, ist die Aufzählung einiger Gräueltaten, denen einige Besitzende zum Opfer fallen. Am zweiten Tag, dem 18. Juni, erreicht die Revolte mit dem Mord und der Verstümmelung eines Kirchenangehörigen ihren „moment crucial" (S. 504). Die erzählte Zeit verliert an Tempo, Le Roy Ladurie dramatisiert das Geschehen mittels szenischer Präsentation des Geschehens: „La situation, en ce 18 juin, vers 9-10 heures du matin, atteint done une aeuite indicible. II faut faire quelque chose" (S. 505). Die Erzählung endet auch hier mit der Reetablierung der Ordnung: „L'inevitable repression viendra; eile ne sera, (une fois n'est pas coutume), plus sanglante que la rebellion. [...] C'est une vendetta d'Ancien Regime" (S. 505). Für beide Erzählungen gilt: Insofern die Aufstände einen zeremoniellen und rituellen Charakter haben, folgen sie einem symbolischen Code, den 31

Bei der Jahresangabe 1588 auf S. 397 handelt es sich um einen Druckfehler. „Ainsi s'aeheve le Carnaval de Romans, acte manque d'inversion sociale: tout est remis ä l'endroit, les classes dominantes, un moment culbutees, retombent sur leurs pieds" (S. 397).

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man einer „interpretation [...] historico-ethnologique" (S. 506) unterziehen kann. Dadurch erhält der Historiker Aufschluss über die Mentalitäten. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass sie exemplarisch sind. Das besondere an den Ereignissen von 1580 in Romans ist, dass sie die Form eines Karnevals annehmen. Der Karneval erlaubt eine Inszenierung, die unbewusste ko llektive Ängste sichtbar macht, Ängste, die im Falle ,normaler' Revolten im Verborgenen bleiben (S. 397). Ereignisse werden an keiner Stelle um ihrer selbst willen dargestellt. Indem er einige Motive wie Anthropophagie, Frauenraub, Kastrationsangst und das Schleifen toter Körper durch die Straßen in den Texten isoliert, benutzt Le Roy Ladurie die Rebellionen allein als evenements revelateurs, welche die emotionale Aufladung von Revolten seit mindestens dem 14. Jahrhundert sichtbar machen. Diese Ausführungen fallen allerdings, gemessen an den Kapiteln über die Entwicklung von Steuern, Löhnen und Bodenbesitz, sehr knapp aus. Darüber hinaus ist nicht klar, ob die oben erwähnten Themen Ausdruck einer ,langen' Mentalitätengeschichte sind, oder ob es sich bei ihnen gar um anthropologische Konstanten handelt: Ces rebellions sont tres audacieuses; [...]. Elles visent des objectifs politiques plus etendus; mais, simultanement, elles mettent en mouvement les pulsions les plus profondes du psychisme humain. (S. 399)

In seiner Interpretation der Ereignisse von Agen im Jahre 1635 geht Le Roy Ladurie gar so weit, die rituellen Verstümmelungen mit denen aus Zolas Germinal und Homers llias zu konfrontieren: Les megeres, les enrages d'Agen, n'ont pas lu Homere: mais il leur a suffi de se laisser guider par leurs instincts pour abolir le temps, et pour retrouver les gestes des heros disparus. (S. 507)

„Abolir le temps" - eben dies tut Le Roy Ladurie, indem er solche Verbindungen herstellt. Seine psychoanalytisch inspirierte „analyse en profondeur" (S. 394) der Ereignisse betrachtet die Revolten des 16. und 17. Jahrhunderts nicht in ihrer Ereignishaftigkeit, sondern als beispielhaft für eine sehr lange, vielleicht sogar immobile Geschichte der menschlichen Psyche. Es geht dem Historiker darum, in der Interpretation der gestischen Symbolik einen exemplarisch Blick in die Tiefe der Mentalitäten zu erhalten. Nichtsdestoweniger will der Gegenstand der Analyse als Faktum erst einmal rekonstruiert werden, und dies geschieht im Falle von Ereignissen nun einmal durch die Erzählung. Dies gilt auch für historiographische Texte, die nach Strukturen fragen und Ereignisse nur als Indikatoren be-

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nutzen33. Die narrative Darstellung der Aufstände ist autonom in dem Sinne, dass sie in sich kohärent ist. So erscheinen die oben besprochenen Passagen lediglich als Inseln von Narrativität inmitten eines Tableaus. Das Verhältnis der langen Dauern von Mentalität, Ökonomie und Demographie untereinander hingegen bleibt unbestimmt. Die Zusammenhänge zwischen den Elementen des Tableaus lassen sich nicht als Kausalitäten bezeichnen, wie die folgenden Passagen verdeutlichen: L' expansion du nombre des hommes, on Γ a vu, η'est pas accompagnee d'une croissance harmonieuse des richesses; et cet echec social a son equivalent au niveau des prises de conscience, des luttes agraires et des poussees inconscientes. (S. 414; Hervorhebung A.R.) J'ai decrit jusqu'ä maintenant un certain nombre de grands phenomenes, probablement connexes, et qui se declenchent successivement ou simultanement. (S. 585; Hervorhebung A.R.) Les aspects materiels du grand cycle agraire sont done inseparables de ses aspects proprement culturels. Les uns et les autres se soutiennent, se fortifient de /αςοη mutuelle. L'economie stagne, la societe se fige, la demographie retombe apres ses premieres triomphes, parce que societe, demographie, economie ne possedent pas la technologie progressive de la vraie croissance. Mais eile ne possede pas non plus, ou pas encore, ou pas assez - largement diffusees dans les groupes dirigeants et dans le peuple - , la conscience, le culturel, la morale, la politique, l'education, Γ esprit reformiste, Γ aspiration plus libre au bonheur, qui stimulerait Γ initiative technique et l'esprit d'entreprise, et qui permettraient le ,decollage' de l'economie. (S. 644; Hervorhebung A.R.)

Entsprechungen' und ,Äquivalente' sind keine Kausalitäten, und die Verbindungen zwischen zeitlich aufeinander folgenden Phänomenen erscheint in Le Roy Laduries Wortwahl allenfalls als wahrscheinlich'. Braudels triadisches Modell der historischen Zeiten liefert im Falle der Paysans de Languedoc zwar einen Maßstab für die Vollständigkeit des historischen Tableaus, zugleich tritt in ihm aber auch die Etablierung von Kausalitäten zurück hinter diejenige von Zusammenhängen. h) Eine Synthese aus discours und recti Was auf der Ebene des discours in diesen der kurzen Dauer gewidmeten Passagen einmal mehr ins Auge fallt, ist Le Roy Laduries Skepsis gegenüber den Ereignissen. Erstens verzichtet er darauf, Ereignisse selbst zu 33

Vgl. Reinhart Koselleck: „Darstellung, Ereignis und Struktur", in: Ders.: Vergangene Zukunft, S. 144-157, bes. S. 149 f.

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berichten und zitiert in den meisten Fällen zeitgenössische Berichte. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Erstens bürgt der Historiker nicht mit seiner eigenen Stimme für die Wahrheitstreue des Berichts, und zweitens gibt er auf diese Weise nicht vor, die Ereignisse an sich zu analysieren, sondern die in den schriftlichen Zeugnissen enthaltene Symbolik. Wenn Le Roy Ladurie den Carnavctl de Romans ein „psychodrame" und eine „tragedie-ballet" (S. 397) nennt, so bleibt vollkommen unklar, ob er damit die tatsächlichen Ereignisse oder die Darstellung der Ereignisse in den zeitgenössischen Berichten mit all ihrer (interpretierbaren) Symbolik meint. Zweitens bleibt Le Roy Ladurie, auch wenn er erzählt, im Verbsystem der Rede (nach Benveniste) 34 . Der rhetorische Effekt dieses Verfahrens besteht darin, dass faktischer Bericht, panoramatische Zusammenfassung und erklärender bzw. interpretierender Kommentar in eins fallen. Auch der Hinweis auf eine dem Leser nicht vorliegende Quelle vermag nicht zu klä34

Die folgende Passage verdeutlicht diese beiden Charakteristika: „Donc, ces porteurs de fleaux crient tres haut ,qu'avant trois jours la chair du chretien se vendra ä six deniers la livre'. Ce mot, fait, du reste, hoireur; et le juge Guerin, notre narrateur probable, ose ä peine de le rapporter. Quant ä Paulmier, vetu, ä la Spartacus, d'une peau d'ours qui semble temfier les bourgeois, il s'assied d'autorite sur le siege consulaire, dont il expulse les representants des classes dirigeantes. C'est le monde a l'envers, la livre de thon rance et le vin punais ä 20 et 25 sous, ,1a perdrix ä l'orange, la becasse avec sa rotye' et les nourritures les plus delicieuses (et la chair du chretien) ä 4 ou 5 deniers comme l'ecrivent les ,gens de bien' dans un long ,tarif, canularesque et carnavalesque, destine ä ridiculiser Paulmier. Et precisement, ces ,gens de bien', ä leur tour, mettent ä profit le carnaval pour s'affubler d'oripeaux, qui symbolisent leur volonte d'ordre, de puissance, d'ostentation, d'intimidation, et aussi leur desir d'alliance, contre la barbarie .scythe' des revoltes, avec les forces brutales d'une repression virile, ä la turque: les hommes du parti de Pordre se deguisent done en roi, chancelier, archeveque, grand juge, arquebusiers, Suisses, et Turcs enturbannes. Au sortir de la messe, leur parade solenneile croise en procession celle des populaires, qui eux, portent dejä par avance, le deuil de ceux qu'ils tiennent pour leurs oppresseurs. Le heraut des hommes de Paulmier se deguise en crieur d'enterrement rouge et bleu (couleurs de deuil), et monte sur un äne; et ses suivreurs crient, toujours, ,A six (ou quatre) deniers la chair du chretien'. Les riches interpretent ce slogan scandaleux comme l'expression, ä leur egard, d'une volonte cannibalesque; nobles, robins, bourgeois, marchands, ils pretent ä la foule artisane et paysanne rhorrible dessein des les tuer tous, sinon de les manger, le jour de Mardi gras, pour epouser leurs femmes et pour faire le partage de leurs biens - ce mobile vague de diverses revoltes. Atroce complot, fete des fous, sanglante bouffonnerie du Mardi gras (du Gradimars), qui mettrait vraiment le monde ä l'envers, et qui perturberait le sens des mots et des choses" (S. 396).

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ren, welche Information nun der Quelle entnommen ist und welche nicht. Am prekärsten sind sicherlich solche Stellen, in denen erklärender Kommentar und Zusammenfassung von detailliertem Geschehen nicht mehr zu unterscheiden sind. Es scheint einem Annale s-Yksioriksr der sechziger Jahre unmöglich zu sein, den Anteil der eigenen Interpretation eindeutig zu markieren, da dies voraussetzen würde, den faktualen Bericht durch die Verwendung der entsprechenden Tempora der Erzählung zu markieren35. In den Paysans de Languedoc finden wir jenes Verfahren wieder, das Jacques Ranciere an der Darstellung des Todes Philipps II. in La Μέάίίβηαηέβ beobachtet hat: Der Gegensatz zwischen Erzählung und Rede wird verwischt, indem die Erzählung im System der Rede verfasst wird: D ne s'agit pas de tournure rhetorique mais de poetique du savoir: de l'invention, pour la phrase historienne, d'un regime nouveau de verite, produit par la combinaison de l'objectivite du recit et de la certitude du discours. II ne s'agit plus d'inserer des evenements racontes dans la trame d'une explication discursive. La mise du recit au present rend ses pouvoirs d'assertion analogues ä ceux du discours. L'evenement et son explication, la loi et son illustration se donnent dans le meme systeme du present .

Dieses Phänomen lässt sich auf jeder beliebigen Seite der Paysans de Languedoc beobachten - ganz gleich, ob es gerade um die Verbreitung von Maispflanzen, den Anstieg der Rente oder blutrünstige Rebellionen geht. Ranciere sieht in diesem Verfahren mehr als den stilistischen Kunstgriff eines historischen Präsens. Es handele sich dabei vielmehr um eine Antwort der nouvelle histoire auf das erkenntnistheoretische Dilemma, Wissenschaftlichkeit und Historizität miteinander versöhnen zu müssen. Erkenntnistheoretisch scheint die Darstellung von Geschichte nicht ablösbar von der Erzählung, und so besteht die einzige Möglichkeit, sich von den traditionellen' Erzählungen des 19. Jahrhunderts zu emanzipieren darin, diese Erzählung in das Gewand neuer sprachlicher Vermittlungsstrategien zu hüllen. Die Erzählung, charakteristisches Merkmal der traditionellen' Geschichte, wird vom System der Rede aufgesogen, wodurch sie , wissenschaftlich' wird. Gleichzeitig werden die Kategorien der Rede zu einer Erzählung geordnet, wodurch die Geschichtswissenschaft Historie bleiben kann37. 35

37

Damit ist jene im 19. Jahrhundert übliche strikte Trennung zwischen Bericht und Analyse gemeint, die als ein Charakteristikum der ,traditionellen' Erzählung zu gelten hat. Siehe dazu Guy Bourde/Herve Martin: Les ecoles historiques, Paris 1983. Ranciere: Les noms de l'histoire, S. 34. Ebd., S. 35.

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Nun verweisen die Tempora des discours per definitionem auf ein Redesubjekt. Und in der Tat ist das „Ich" des Historikers in den Pciyscms de Languedoc auch als Pronomen sehr präsent: Immer wieder informiert Le Roy Ladurie den Leser über sein Vorgehen, so dass das, was wir die histoire nennen können (die oben resümierte Chronologie der wirtschaftlichen Auf- und Abbewegungen), stets als das Ergebnis eines methodisch geleiteten Vorgehens erscheint. Die für die Erzählung charakteristische Loslösung von der Ich-Jetzt-Hier-Origo kommt dadurch gar nicht erst zum Zuge. Ging es beispielsweise Thierry als Historiker des 19. Jahrhunderts noch darum, die Ereignisse ,für sich selbst sprechen zu lassen' 38 , so schlägt Le Roy Ladurie in einer diesbezüglich besonders aufschlussreichen Passage vor: „Laissons, pour une fois, parier les chiffres eux-memes" (S. 567). Was folgt, sind fast drei Seiten, die nichts als Zahlen aus den compoix enthalten: eine Auflistung der Anzahl der Steuerpflichtigen in verschiedenen Dörfern, beobachtet über einen Zeitraum von ca. 150 Jahren. Diese Angaben finden sich nicht etwa in Fußnoten oder den Anhang verbannt (so dass im Haupttext allein ein sich selbst erklärender Entwicklungszusammenhang zu lesen wäre), sondern stehen im Haupttext. Dies trifft auch auf die Rechenformeln (ζ. B. S. 231, 533), die Reproduktionen von Unterschriften und Initialen (S. 345 f.) sowie die zahlreichen Statistiken und Fotos zu. Ihre Funktion erschöpft sich nicht im Beleg, vielmehr lassen sie den Leser teilhaben an der Arbeit des Historikers, wie auch die folgenden Passagen: Cette courbe, comment la construire? La methode des ecarts ä la moyenne parait la plus raisonnable. (S. 22) J'applique done au Nord les precedes mis en oeuvre pour le Midi: je determine, pour chaque annee, l'ecart septentrional moyen, valable pour la Bourgogne, la Suisse, la region rhenane, l'lle-de-France..., bref la vieille Gaule viticole du Nord. (S. 23) Le XVIe siecle languedocien, le ,beau XVF siecle' represente-il une periode de concentration, ou bien d'eclatement, de pulverisation des proprietes? [...] Diverses hypotheses sont possibles: laissons la parole aux faits, aux compoix. Methode: la question fonciere doit etre envisagee successivement sous ses deux aspects: les superficies [...] et les cadastrales [...]. Ainsi parviendra-t-on ä Γ approximation maximale39. (S. 239)

38

Siehe Kapitel 2, Anm. 49. Weitere Beispiele: „Entre ville et Campagne, et surtout entre laboureurs et artisans, le deealage religieux des origines est revelateur d'une dissociation culturelle, celle-ci facilement denoncee par une statistique de signatures. Methode: au XVIs siecle, je note, aux actes notaries trois grandes categories." (S. 344 f.); „Si je convertis en prixor ou en prix-argent les prix nominaux du marche des grains biterrois, j'obtiens, de

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Diese Schreibstrategie schafft eine starke Dominanz der enonciation. Selbstverständlich wäre der immanente Entwicklungszusammenhang im Tempussystem von imparfait und pass0 simple unter weitgehender Vernachlässigung des discours darstellbar - ganz im Sinne einer selbsterklärenden histoire. Dieser Eindruck kann im Leser aber gar nicht erst entstehen, weil die Vergangenheit stets explizit als Ergebnis der rekonstruierenden Forschung selbst, in der Hauptsache durch Vergleich von verschiedenen Serien, inszeniert wird. Der Leser der Paysans de Languedoc liest zu gleichen Teilen ein Buch über die Bauern des Languedoc und über die Forschungsarbeit des Historikers. Die solchermaßen nahegelegte Rezeptionshaltung ist eine der Distanz und der Kritik. Es kommt - selbst in den Kapiteln über die Aufstände nicht zu einer Illusionsbildung im Sinne fiktionalen Erzählens. Der Historiker als Erzähler ist sich seiner kognitiven Beschränkungen bewusst und teilt diese dem Leser mit. Somit trifft auf Le Roy Laduries Schreibweise zu, was Freud in seinen Fallgeschichten als didaktisches Programm fur sich in Anspruch nahm: dem Leser keine „lückenlose und abgerundete Krankengeschichte" zu präsentieren, sondern ihn den Standpunkt eines medizinischen Beobachters einnehmen zu lassen40. Dies führt dazu, dass sich eine zweite Erzählung über die Rekonstruktion der Vergangenheit legt, nämlich diejenige der Analyse bzw. der Forschung selbst. Die „aventure d'une histoire totale" ist nicht allein auf der primären Ebene des historischen Geschehens anzusiedeln, sondern, wie bei der klassischen Detektivgeschichte, auch auf deijenigen des Forschens und Schreibens. Ihr Protagonist ist der Historiker selbst. i) Wirtschafts- und Sozialgeschichte als Tragödie Wie gesehen, endet die Gültigkeit des Malthusschen Gesetzes in dem Augenblick, da die bäuerliche Gesellschaft des Languedoc den Schritt in die Moderne wagt. Damit endet auch die „histoire immobile". Am Ende der Paysans de Languedoc wird das Malthussche Gesetz selbst zum Subjekt einer Erzählung:

1650 ä 1730, une courbe en pente descendante et douce, continüment plane ou declive" (S. 514); „Prenons done les diagrammes de ce revenu brat, nominal. Transformons-le en revenu brat reel, ä prix constant, par exemple au moyen d'une conversion en ble, valeur-pilote. Que constatons-nous?" (S. 529). Vgl. Cohn: The Distinction of Fiction, S. 50 f. (Dort findet sich auch das Freud-Zitat).

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Les maledictions malthusiennes avaient domine le Languedoc, aux XVT et XVÜe siecles, tout comme elles dominent aujourd'hui encore, en depit d'une situation bien differente, certains peuplement du Tiers Monde. Aux temps modernes (et sans doute aussi, lors d'une periode precedente, au Moyen Age) elles avaient donne ä un grand cycle agraire, apres une phase initiale conquerante, son caractere de fluctuation inexorable. Mais ces maledictions s'effacent lentement au XVOT siecle, avant meme qu'elles soient formulees, en 1798, par Phomme dont elles portent le nom. Malthus est un theoricien lucide des societes traditionnelles. Mais c'est un prophete du passe; et il est ne trop tard, dans un monde trop neuf. (S. 654)

Über dem Agrar-Tableau der frühneuzeitlichen Phase schwebt also zu guter Letzt die doppelte Geschichte zweier Subjekte: zum einen die der „maledictions malthusiennes". Es wird erzählt, wann sie an Bedeutung gewinnen und wann sie , sterben', nämlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem Ende der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft. Ökonomische Gesetze besitzen die Eigenart, nicht erst mit ihrer Entdeckung wirksam geworden zu sein, und so legt sich eine zweite Geschichte über die erste, nämlich diejenige des britischen Nationalökonoms: Die ,Tragik' Malthus' liegt darin, dass er sein Gesetz in genau dem Augenblick entdeckt, in dem es nicht mehr die Erklärung gegenwärtiger Phänomene leistet. Kann ihm selbst dies nicht klar gewesen sein, so wird diese begrenzte Erklärungskraft des Gesetzes in der Perspektive des fast zweihundert Jahre später schreibenden Historikers zur Geschichte eines Scheiterns, das alle Dinge dieser Welt teilen: sie werden historisch, was nichts anderes bedeutet als dass sie vergehen. Doch ist es vor allem die Geschichte der Bauern des Languedoc, der Le Roy Ladurie immer wieder das Attribut des Tragischen verleiht. Dies geschieht vor allem dadurch, dass er die Opferrolle der ausgebeuteten Landbevölkerung betont: Sie ist es, die unter der Zerstückelung des Bodens, den sinkenden Löhnen und der repressiven Steuerpolitik eines Richelieu zu leiden hat. Familien verelenden und sterben am Hunger, Frauen rutschen angesichts der iamentablen Bezahlung in der Landwirtschaft in die Prostitution ab: „[...] l'ouvrier agricole, grand vaincu du siecle" (S. 300), ,,[l]a femme est grande victime de la pauperisation" (S. 278). Ein Kapitel trägt die Überschrift „La victoire du profit" (S. 291). Im Falle der Aufstände kommt die Niederschlagung als ein schicksalhaftes Prinzip über die Bauern: „L'inevitable repression viendra." Der Begriff des ,Tragischen' bzw. des ,Dramatischen' fallt auch expressis verbis·. Der Verfall der Getreidepreise im 16. Jahrhundert wird in einer Kapitelüberschrift zu „La tragedie du ble" (S. 221), der Carnaval de Romans ist ein „drame elizabethain" und eine „tragedie-ballet" (S. 397),

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die wirtschaftliche Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert offenbart ein „drame languedocienne" (S. 637) und eine „tragedie rurale" (S. 646), ein erfolgloser Bauernaufstand im 17. Jahrhundert wird zur „tragedie des Croquants" (S. 502). In vielen dieser Passagen treten die ideologischen Wurzeln Le Roy Laduries zu Tage. Der Marxist solidarisiert sich mit den Unterdrückten und kritisiert die Unterdrücker und Ausbeuter. Die eigentliche Tragödie der Landbevölkerung innerhalb des untersuchten Zeitraums aber besteht in ihrer Unterworfenheit unter das Malthussche Gesetz. Als ihre Ursache darf die ,malthusianische Schere' (S. 639) gelten: Die Bevölkerung wächst, während die Getreideproduktion stagniert. Die darauf folgende Verelendung, ja das Sterben der Bauern, ist, so Le Roy Ladurie, nichts anderes als die „solution radicale apportee par l'histoire au dilemme malthusien" (S. 317)41. In dieser Formulierung erscheint Geschichte als ein von Menschen nicht beeinflussbares Schicksal, ein auf eine gesetzmäßige Logik reduziertes, in der Tiefe wirkendes Prinzip. Die zeitlich begrenzte Gültigkeit dieses Prinzips verdeutlicht aber zugleich, dass es sich hier nur um eine Geschichte handelt: die Geschichte der Bauern des Languedoc vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, einer typischen vormodernen Gesellschaft. Die wirtschaftliche Stagnation wird ergänzt durch eine weitere Determinante, die „blocages culturels" (S. 640): Sitten, Lebensweisen, Werte, Mentalitäten, das kollektive Unbewusste. Man denke nur an die frühen Weinernten, die Heiratsbräuche, die Revolten und das mangelnde Interesse an volkswirtschaftlichen und technologischen Lösungen. Letzteres rührt daher, dass auch auf Seiten der Leidtragenden Fragen des Seelenheils in dieser sehr religiösen Welt schlicht dringlicher sind (S. 641). Aus der Perspektive des heute schreibenden Historikers sind die Bauern des Languedoc nichts anderes als unwissend Gefangene im Gefängnis des Malthusianismus und der Mentalitätsstrukturen. Diese Tragödie ist natürlich keine Aristotelische. So fehlen etwa Mitleid und Furcht, und damit auch die Katharsis. Kein Leser der Paysans de Languedoc wird bei seiner Lektüre einen Gedanken daran verschwenden, dass ihn ein ähnliches Unheil treffen könnte wie die südfranzösische Landbevölkerung in der frühen Neuzeit. Darüber hinaus erfüllt die bäuerliche Bevölkerung weder die Ansprüche eines tragischen Helden, noch liegt die Ursache ihres Unglücks in den eigenen Handlungen. Der Text birgt, wie 41

Vgl. auch Le Roy Laduries Ausführungen über Todesursachen: „Pour ajuster le peuplement aux ressources, quand celles-ci declinent, l'histoire a done plus d'un tour dans son sac" (S. 558).

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wir gesehen haben, nicht die Spur eines tragischen mythos: Es gibt keinen Handlungsverlauf, der vom Glück ins Unglück fuhren würde. Das Handeln (sofern es denn überhaupt stattfindet) und Leiden der Bauern läuft nicht auf ein tragisches Ende hinaus, und damit gibt es auch keine Fabel. Abgesehen von den Revolten, die es in einer jeden der von Le Roy Ladurie rekonstruierten Phasen gibt, herrscht Konfliktabsenz, es gibt nur das Auf und Ab der Determination. So ließe sich allenfalls die Situation der Bauern des Languedoc als tragisch bezeichnen, und die größte Verwandtschaft haben sie darin sicherlich noch mit den kleinbürgerlichen Figuren der naturalistischen Tragödie bzw. des naturalistischen Schicksalsdramas. Wie diese sind sie sozial unterprivilegiert und ungebildet, wie diese sind sie unfrei und führen einen aussichtslosen Kampf - allerdings nicht gegen Erbanlagen und Milieu, sondern gegen den Malthusianismus. Beide erleiden sie ihr Schicksal unbewusst, wissen nichts von den Strukturen, die ihre Situation bestimmen - im Gegensatz zum Zuschauer bzw. zum Leser42. Und wie die naturalistische Tragödie sind Les Payscms de Languedoc durch die Absenz eines moralischen Konflikts und damit auch der hamartia gekennzeichnet. j) Ein Tableau mit insularer Narrativität Die Kohärenz der Paysans de Languedoc ist durch den großen Agrarzyklus gewährleistet. Er ergibt sich aus der seriellen Auswertung quantifizierbarer Quellen und liefert damit das chronologische Grundgerüst und Verlaufsmodell eines „flux et reflux". Von einer narrativen Makrostruktur kann nur im Sinne einer Voraussetzung die Rede sein: Da eine Serie prinzipiell unendlich ist, bedarf es der Festlegung eines Anfangs und eines Endes, deren beider Begründung nicht in der Serie selbst zu finden ist. Im Falle der Paysans de Languedoc ist vor allem das Ende von Bedeutung. Dieses ist durch den historischen Prozess der Modernisierung, jenseits dessen der Malthusianismus keine Wirkung mehr besitzt, gekennzeichnet. Die Entwicklung innerhalb der untersuchten Zeitspanne ist also mit keinem der in Kapitel 2 dieser Arbeit vorgestellten Erzählbegriffe vereinbar. Sie lässt sich 42

Da Narrativität, wie gesehen, allenfalls als eine Voraussetzung für die Rekonstruktion des Agrarzyklus zu finden ist, greift Hayden Whites Modell der „Explanation by Emplotment" im Falle der Paysans de Languedoc nicht. Interessant ist gleichwohl die folgende Beobachtung Whites: „Tragedy and Satire are modes of emplotment which are consonant with the interest of those historians who perceive behind or within the welter of events contained in the chronicle an ongoing structure of relationships or an eternal return of the Same in the Different" (White: Metahistory, S. 11).

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unterteilen in vier „types successifs de croissance et de decroissance" (S. 633), die nicht auseinander entstehen, wie dies im Falle einer narrativ organisierten Makrostruktur der Fall wäre, sondern unvermittelt nebeneinander stehen. Sie bestätigen stets aufs neue den Zusammenhang zwischen landwirtschaftlicher Produktion und Demographie, der von Malthus als erstem erkannt wurde. Makrostrukturell lässt sich daher, statt von einer Erzählung, vielmehr von einem historischen Tableau reden, in dem Ökonomie, Demographie, Mentalitäten und Ereignisse ohne eindeutige kausale Zuordnungen zueinander in einen Zusammenhang gesetzt werden. Die Kohärenz dieses Zusammenhangs wird durch das historische Subjekt gewährleistet, auf welches sich alle untersuchten Phänomene beziehen, die Bauern des Languedoc. Die Tatsache, dass historische Veränderungen nicht durch Erzählung erklärt werden, fuhrt jedoch nicht zu einer vollkommenen Absenz narrativer Merkmale. Die kurze Zeit der Ereignisse dient der Veranschaulichung entweder ökonomischer Entwicklungen oder mentaler Dispositionen. Letztere betreffen vor allem die sozialen Unruhen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie werden in einem ersten Schritt als ,faktisches' Geschehen narrativ rekonstruiert (wenn auch im Präsens) und anschließend - darin sind sie evenements revelateurs - im Hinblick auf die fast unbewegliche Zeit der Mentalitäten interpretiert. Insofern ließe sich von ,insularer' Narrativität im Rahmen eines makrostrukturell nicht narrativ organisierten Tableaus sprechen. Gegen die dogmatische Vernachlässigung der historiographie-spezifischen Referentialität auf die Quellen in den vom linguistic turn inspirierten Erzähltheorien stellt sich deshalb vielmehr die Frage, ob die Beschaffenheit der Quellen und die Art ihrer Auswertung nicht doch einen Einfluss auf die Organisation eines historiographischen Textes ausüben. Die Makrostruktur der Paysans de Languedoc lässt dies vermuten. Auch auf der Vermittlungsebene macht sich dies bemerkbar. Mehr als schriftliche Quellen dies tun, zwingen die compoix Le Roy Ladurie dazu, sein Vorgehen immer wieder explizit zu erläutern, da sich aus ihnen kein selbsterklärender narrativer Zusammenhang gewinnen lässt. Die Plausibilität der Darstellung verdankt sich keiner schlüssigen Geschichte, sondern der minutiösen Dokumentation des Vorgehens. Ohne diese besäße der Text keine followability. Damit gleicht der Erzähler einem Detektiv, der den Leser stets über den Fortgang der ,Ermittlungen' auf dem Laufenden hält. Bezüglich des Anspruchs einer histoire totale lässt sich festhalten, dass die Berücksichtigung aller drei Zeitebenen des Braudelschen Paradigmas angefangen bei den quasi unbeweglichen geographischen und klimatischen

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„champs de force", über die langfristigen landwirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen bis hin zu den schnellen und plötzlichen Ereignissen - diesem allererst seine Legitimität verleiht. Die Tatsache, dass anders als in Braudels dreiteiliger Mediterranee - alle drei Zeitebenen in einem durchlaufenden Text miteinander verwoben sind, fuhrt allerdings zu einigen ,,literarische[n] Kühnheiten"43. Es handelt sich um einen Text, der sich die Techniken filmischer Inszenierung zu eigen machte: Wechsel von Nahaufnahme und Totale, von kurzen und langen Szenen, harte Schnitte44.

Diese von einem Historiker formulierte Kritik an Le Roy Laduries Schreibweise bringt womöglich ein grundlegendes Problem der ArmctlesGeschichtsschreibung im Braudel-Paradigma zum Ausdruck: Da sich das Verhältnis der verschiedenen historischen Zeiten zueinander auf keinen Determinismus reduzieren lässt, bleibt das, was sie verbindet, letztendlich ungeklärt - was sich eben auch in der Schreibweise äußert.

43 44

Raphael: Erben, S. 310 f. Ebd.

3. Erzählen in der longue duree: Jacques Le Goff, La naissance du Purgatoire a) Geistesgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte Jacques Le Goffs La naissance du purgatoire1 ist ein Beispiel dafür, wie sich die Mentalitätengeschichte nach dem Erfolg der sechziger und siebziger Jahre zur ,historischen Anthropologie' und zur ,Geschichte des Imaginären' weiterentwickelt hat. Gerade letztere hat sich Le Goff seit den sechziger Jahren zum Programm gemacht. In den achtziger Jahren kam es dann zu einer regelrechten „Renaissance der. Kultur- und Ideengeschichte" (Lutz Raphael). In diesen Kontext gehört La naissance du Purgatoire, ein Buch, von dem Krzysztof Pomian schreibt, es sei „un des livres les plus novateurs et les plus importants de Jacques Le Goff' 2 . Auch Peter Burke würdigt in seiner Geschichte der Annales die forschungsgeschichtliche Bedeutung der Studie: His most substantial contribution to the history of mentalities, however, or to that of ,the medieval imagination' (I'itnaginaire mediival), as he now calls it, was made twenty later with The Birth of Purgatory, a history of changing representations of the afterlife .

Sich wandelnde Repräsentationen des Jenseits - es handelt sich also um die Geschichte einer Idee. Es liegt daher nahe, das Buch im Kontext einer erneuerten Geistes- und Ideengeschichte zu lesen. Dies erscheint umso notwendiger, da deren Charakteristika, die im folgenden kurz beleuchtet werden sollen, der Mentalitätengeschichte schon seit den Anfängen der .4w?a/ei-Geschichtsschreibung unter Bloch und Febvre als Feindbild dienten. Die programmatische Kritik der Annales seit Febvre betrifft nicht nur den Umgang mit den Quellen, sondern ist auch für das Schreiben der Geschichte von Bedeutung. Es steht daher zu vermuten, dass Le Goff als ein Vertreter der dritten zlfwa/e.?-Generation nicht einfach zurückkehrt zu einer ,traditionellen' Geistesgeschichte, sondern die Errungenschaften der Mentalitätengeschichte in sein Projekt einer Geschichte des Fegefeuers aufnimmt. 1

3

Jacques Le Goff: La naissance du Purgatoire, Paris 1981. Krzysztof Pomian: „Temps, espace, objets", in: L 'ogre historien. Autor de Jacques Le Goff.; hg. v. Jacques Revel und Jean-Claude Schmitt, Paris 1998, S. 73-84, hier: S. 77. Peter Burke: The French Historical Revolution, S. 72.

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In mentalitätengeschichtlicher Perspektive basiert sowohl die Ideen- als auch die Geistesgeschichte auf einigen problematischen Prämissen. So geht die Geistesgeschichte von einem Verhältnis der Transparenz zwischen den in einem Text mitgeteilten Ideen und den Intentionen seines Autors aus. Texte werden als klar verständliche Aussagen ihrer Autoren gelesen4. Diese Autoren wiederum gelten den Geistes- und Ideenhistorikern als die herausragenden Vertreter ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Gruppe. In ihren Werken gerinnt die Ideenwelt einer Epoche zu einem Idealtyp. Diese Haltung erklärt die Fixierung der Geistes- und Ideengeschichte auf kanonisierte Texte der Hochkultur. Diesem elitären KulturbegrifF setzen die Mentalitätenhistoriker das etwas schwammige Konzept kollektiver imaginärer Vorstellungen entgegen (der ,Mentalitäten' eben), in dem die Unterscheidung zwischen elitärer und volkstümlicher Kultur entfallt. Diese Praxis im Umgang mit den Quellen bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass es kollektive Vorstellungen gibt, welche die Menschen einer Epoche unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe teilen. Davon zeugen die zahlreichen Monographien von ^««o/ei-Histonkern zu Themen wie Kindheit, Familie, Krankheit, Angst und Tod - oder eben Jenseitsvorstellungen wie in La naissance du Purgatoire. Roger Chartier bringt die Veränderung der Mentalitätengeschichte gegenüber der Geistesgeschichte folgendermaßen auf den Punkt: Est ainsi constitue comme objet historique fondamental un objet qui est le contraire meme de celui de l'histoire intellectuelle classique: ä Γ idee, construction consciente d'un esprit individue, s'oppose terme a terme la mentalite toujours collective qui regle, sans qu'ils le sachent, les representations et jugements des acteurs sociaux5.

In diesem Kontext ist Le Goffs ausdrücklicher Hinweis interessant, dass er sein Buch nicht aus der Perspektive eines Theologen geschrieben habe. Da die Strafen des Fegefeuers in kein Dogma aufgenommen wurden, blieb die imaginäre Ausgestaltung des ,dritten Orts' der Phantasie aller Gläubigen überlassen - und nicht nur der Gebildeten unter ihnen (S. 25 f.). Le Goff interessiert sich zwar sehr stark für die theologische Literatur zum 4

Vgl. Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 21996, S. 48. Für die folgenden Ausführungen zur Geistesgeschichte stütze ich mich auf Roger Chartier: „Histoire intellectuelle et histoire des mentalites", in: Ders.: Au bord de la falaise, S. 27-66. Zur historiographiegeschichtlichen Bedeutung der Mentalitätengeschichte und der Historischen Anthropologie siehe auch Burke: The French Historical Revolution; Stoianovitch: The Annales Paradigm; Dosse: L'histoire en miettes. Chartier: „Histoire intellectuelle", S. 38.

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Fegefeuer, aber ebenso für ,volkstümliche' Quellen. Schließlich finden sich Motive wie das reinigende Feuer und Jenseitsreisen seit jeher in Mythen, Märchen, Legenden und im Volkstheater. Das Fegefeuer ist eine kollektive imaginäre Vorstellung, in der die Unterscheidung von Gelehrten- und Volkskultur wenig Sinn macht. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt der Annales gilt dem problematischen, zu abstrahierender Geistigkeit tendierenden Voluntarismus der Geistes- und Ideengeschichte: Ideen wirken eben nicht durch sich selbst, so die Annales, sondern müssen im Verhältnis zur gesellschaftlichen Realität betrachtet werden, hängt ihre Verbreitung doch sehr stark von institutioneller Autorität und den Interessen sozialer Gruppen ab. Dementsprechend rekonstruieren die Annales die historischen Entwicklungen von Ideen nicht im luftleeren Raum der Abstraktion, sondern in konkreten sozialen Konstellationen: Es ist eben nicht allein der Wille, der die Welt verändert. Diese Überzeugung findet sich auch in La naissance du Purgatoire, denn es geht Le Goff um eine Kultur- und Sozialgeschichte des Fegefeuers. Diese beinhaltet selbstverständlich auch die Frage nach den Konsequenzen einer veränderten Jenseitsvorstellung für den ganz banalen, diesseitigen Alltag gläubiger Menschen und für die Institutionen der Macht, ebenso wie die Frage nach den institutionellen Voraussetzungen, unter denen sich das Fegefeuer im kollektiven Imaginären überhaupt erst durchsetzen kann. Diese Abgrenzungsbemühungen der Mentalitätengeschichte gegenüber der Geistesgeschichte machen deutlich, was die beiden Feindbilder der Annales, die politische Ereignisgeschichte und die Geistes- und Ideengeschichte, verbindet. Beide neigen zu einem positivistisch' anmutenden Mangel an methodischer Selbstreflexion. Sie gehen davon aus, dass die historische Wirklichkeit anhand der Quellen problemlos beobachtbar ist. Den Quellen wird eine Transparenz zugesprochen, hier im Hinblick auf die geistige ,Wirklichkeit' historischer Individuen (Autoren), dort im Hinblick auf tatsächlich' stattgefündene Ereignisse. Die Mentalitätengeschichte und alle aus ihr hervorgegangenen Forschungszweige sind also als ein Modernisierungsversuch zu betrachten, als die Begründung einer neuen Geistesgeschichte im Sinne einer allgemeinen Kultur- und Sozialgeschichte. b) Eine Rezeptionsgeschichte in der longue duree Betrachten wir in diesem Kontext Le Goffs Einleitung. Sie hat eine auf Luther zurückgehende Formulierung zum Titel: „Le troisieme lieu". Le Goff spricht darin diverse Aspekte semes Gegenstandes an und umreißt die

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folgenden Ziele: Es geht ihm zum einen um eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte dieses der Heiligen Schrift völlig unbekannten Zwischenreichs von der Antike bis ins 13. Jahrhundert. Zum anderen will er den funktionalen Zusammenhang zwischen der Idee des Fegefeuer und dem Aufschwung des Christentums ab der Jahrtausendwende deutlich machen. Dabei greift er ein Thema auf, über das er schon früher geforscht hat: Vorstellungen von Zeit und Raum, jene „armature de la fa9on de penser et de vivre d'une societe" (S. 10). Denn die Geburt des Fegefeuers, so Le Goff, ist nicht denkbar ohne einen substantiellen Wandel der Vorstellungen von Zeit und Raum. Das Fegefeuer verändert die Geographie des Jenseits und damit die Vorstellung vom Leben nach dem Tod sowie die Vorstellung von dem, was die historische Zeit des irdischen Lebens mit der eschatologischen Zeit nach dem Tod verbindet, und zwar in einer „lente mais essentielle revolution mentale" (S. 10). Die Geburt des Fegefeuers ist also ein ziemlich paradoxes Phänomen: Einerseits ist sie erei^nishaft („revolution"), andererseits ist sie ein Phänomen der longue durie . Das Purgatorium etabliert ein doppeltes Zwischenreich: Zeitlich zwischen dem irdischen Tod und dem Jüngsten Gericht, räumlich zwischen Hölle und Paradies. Es bringt ein zeitliches Moment des Übergangs ins Jenseits, welches vorher von seiner Logik her eigentlich keine zeitliche Dimension besaß. Nach dem irdischen Tod gab es nur Hölle und Paradies. Es bedurfte eines neuen Begriffs, desjenigen des ,Intermediären'. Dieser erlaubt es Le GofF, die Geschichte des Fegefeuers in den Horizont einer weiterreichenden Sozialgeschichte des Denkens zu stellen: Structure logique, mathematique, le concept d'intermediate est lie ä des mutations profondes des realites sociales et mentales du Moyen Age. Ne plus laisser seuls face a face les puissants et les pauvres, les clercs et les laücs, mais chercher une categorie mediane, classe moyenne ou tiers ordre, c'est la meme demarche et eile se refere ä une societe changee. Passer de schemas binaires a des schemas temaires, c'est franchir ce pas dans Γ organisation de la pensee de la societe dont Claude LeviStrauss a souligne l'importance. (S. 17 f.)

Die Passage ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zunächst einmal ist sie typisch für jene Spielart der Mentalitätengeschichte, die sich Anregungen aus dem Bereich der Ethnologie holt, die historische Anthropologie. Le GofFs Ideengeschichte bewegt sich eben nicht im Raum der geistigen 6

Vgl. die folgende Passage aus dem Kapitel über Augustinus: „Je me contenterai de citer, de situer et de commenter les principaux textes augustiniens concernant le Purgatoire. Je le ferai dans une double perspective: l'ensemble de la pensee et de Taction augustinienne, la genese du Purgatoire dans la longue duree" (S. 92).

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Abstraktionen, sondern stellt einen Zusammenhang her zwischen Ideen und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Darüber hinaus kündigt sich in dieser Passage ein wesentliches Strukturierungsmerkmal des ganzen Textes an, nämlich der Gedanke einer Entwicklung des Denkens von binären zu ternären Organisationsformen, eine Sujetbewegung, die fur die Makrostruktur des Textes von zentraler Bedeutung ist. Einen weiteren Hinweis auf die narrative Makrostruktur des Buchs birgt der Abschnitt zur „Imagerie penale: le feu" (S. 18). Die Vorstellungen eines reinigenden Feuers als eine Art rite de passage der Seele im Jenseits findet sich in vielen vorchristlichen Kulturen: in Rom, Griechenland, Persien und Indien ebenso wie im Judentum. Man denke nur an die Legende vom Phönix oder an die Vorstellung einer Feuertaufe. Verschiedene vorchristliche Spielarten des Feuers finden sich auch im Purgatoriums-Feuer wieder. Le Goff bezeichnet diese Elemente als „heritage" (S. 22). Er reizt die Metapher weiter aus zum Entwurf einer Rezeptionsgeschichte: Mais de ce passe lourd de sens du feu purgatoire, les hommes du Moyen Age n'avaient pas conscience, ni la masse ni meme les clercs, ä l'exception des textes scriptuaires, caution pour eux necessaire et süffisante de la tradition sacree. II m'a paru pourtant necessaire de mettre en lumiere ce long heritage. II eclaire certains aspects deconcertants de l'histoire medievale du Purgatoire, il permet de mieux comprendre les hesitations, les debats, les choix qui se sont manifestes dans cette histoire, car un heritage propose autant qu'il impose. Surtout il explique, me semblet-il, une des raisons du succes du Purgatoire qui est d'avoir repris certaines realites symboliques tres anciennes. Ce qui s'ancre dans une tradition a les plus de chances de reussir. Le Purgatoire est une idee neuve du christianisme mais qui a emprunte aux religions anterieures une partie de ses principaux accessoires. Dans le systeme chretien, le feu divin change de sens et l'historien doit d'abord etre sensible ä ces transformations. Mais la permanence d'un certain materiau de longue duree sous la vivacite plus ou moins grande des changements doit aussi retenir son attention. Les revolutions sont rarement des creations, elles sont des changements de sens. (S. 22 f.)

,,[H]eritage", „tradition", „changements de sens", das Zusammenspiel von ,Neuem' und ,Übernommenem' - es fallt schwer, bei diesen Begriffen nicht sofort an Hermeneutik und Rezeptionsgeschichte zu denken. Und auch mit den Möglichkeiten' und Verpflichtungen', die eine Erbschaft mit sich bringt, ist letztendlich nichts anderes angesprochen als der Prozess der Horizontverschmelzung. Daran ändert auch die in traditioneller Braudelscher Metaphorik erwähnte longue duwe nichts. An einer anderen Stelle wird Geschichte grundsätzlich als ein Selektionsprozess dargestellt:

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Ce voyage a la fois long et sommaire dans les au-delä antiques n'etait pas une recherche des origines. Les phenomenes historiques ne sortent pas du passe comme un enfant du ventre de sa mere. Dans leurs heritages les societes et les epoques choisissent. (S. 59 f.)

Ein solcher Prozess setzt einen bestimmten Erwartungshorizont voraus, der die Selektion steuert. Das wird an einem Zitat wie dem folgenden deutlich: „Le couple Enfer-Paradis ne suffit plus ä repondre aux interrogations de la societe" (S. 313). Le Goffs methodische Bemerkungen lassen demnach vermuten, dass die ,innere' Geschichte des Fegefeuers eine Rezeptionsgeschichte ist, was im übrigen auch sein Umgang mit den Quellen verdeutlicht: Ces textes sont souvent repetitifs mais ainsi se constitue un corpus, ainsi se construit rhistoire. Le jeu d'echos qu'on rencontrera souvent dans ce livre est rimage de la realite. Eliminer ces redites de rhistoire aurait conduit ä la deformer, ä la fausser. (S. 24)

Die Geschichte des Fegefeuers ist also nicht nur Selektion, sondern entsteht allererst aus einem Korpus von Texten, welche sich historisch aufeinander beziehen lassen. Damit bewegt sich Le Goff innerhalb einer Überlieferungsgeschichte - ein Umstand, der ihm erlaubt, das Problem der ,primären' historischen Ereignisse zu umgehen7. In obigem Zitat wird ein weiterer interessanter Punkt zum Thema: Wiederholungen und Redundanzen. Bei ihnen handelt es sich um Phänomene, welche die Lesbarkeit einer Erzählung beeinträchtigen können. Fiktionsautoren vermeiden sie daher tunlichst. In einem historiographischen Text hingegen zeugt ihre Existenz von einem Unterschied zu fiktionalen Erzählungen. Dieser liegt in der Referentialität begründet und ist somit ein fernes Echo der Aristotelischen Unterscheidung von Dichtung und Historiographie. Der gewissenhafte Historiker berücksichtigt auch Redundanzen, wenn er denn auf welche gestoßen ist, und das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die erzählerische Stringenz seines Textes. Zum Abschluss des einleitenden Kapitels lädt Le Goff den Leser ein, „ä ouvrir avec moi le dossier du Purgatoire" (S. 23). Der Begriff des ,Dossier' zieht sich durch den ganzen Text. Das Dossier zu eröffnen bedeutet, sich von der Hand des kompetenten Historikers (man beachte die Formulierung

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Vgl. Arno Borst: „Das historische .Ereignis'", in: Geschichte - Ereignis und Erzählung, S. 538: „Überlieferung läßt sich wiederbeleben, Vergangenheit nicht; literarische 'Ereignisse' gibt es, geschichtliche nicht, denn Reproduktion ist etwas anderes als Rekonstruktion, auch wenn beide Tätigkeiten Rezeption voraussetzen."

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„avec moi") gefuhrt durch eine große Masse an Texten hindurchzulesen, jene Texte, welche die Geschichte des Fegefeuers bilden. Der Begriff bietet insofern einen ersten Hinweis auf die Erzählerrolle, die sich Le Goff in diesem Buch gibt. Die Pathetik eines Le Roy Ladurie oder eines Duby steht ihm fern. Le Goff will nicht mehr sein als ein gewissenhafter Philologe, der seine Leser durch explizite Erklärung der Vorgehensweise, ja selbst seiner Zweifel an der eigenen Version der Geschichte des Fegefeuers durch eine große Masse an Texten aus einem Zeitraum von tausend Jahren fuhrt (S. 59). c) Das Textorganisationsmodell der stage narratives In der Mentalitätengeschichte findet häufig ein Textorganisationsmodell Anwendung, dem Philippe Carrard den Namen stage narrative gegeben hat, eine Erzählung in Phasen also8. Beispiele für solche stage narratives sind Georges Dubys Les trois ordres ou l 'imaginaire du feodalisme und Le chevalier, la femme et le pretre, Georges Vigarellos Le propre et le sale, Philippe Aries' L 'homme devant la mort, Michel Vovelles La mort et l' Occident und eben Jacques Le Goffs La naissance du Purgatoire . So adäquat der Begriff auf den ersten Blick erscheint, so prekär ist er bei näherer Betrachtung. Bei allen Unterschieden im Detail zeichnen sich stage narratives Carrard zufolge durch einige Gemeinsamkeiten aus: Ereignislosigkeit, Langsamkeit und fehlende Dramatik10. Die untersuchten Zeiträume spannen sich ja jeweils über Jahrhunderte, und die verschiedenen Phasen bilden eine Serie, die nicht notwendigerweise der Logik einer Erzählung gehorcht. Sie

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„In fact, several classics of the New History are made precisely of such a combination: they slice up the long term into a certain number of phases, which they characterize successively and piece together to constitute a narrative. This narrative, then, is not made of events, but rather of situations or stages. I propose, therefore, to call this type of textual organization .stage narrative' (Carrard: Poetics of the New History, S. 4754, hier: S. 47). Georges Duby: Les trois ordres ou I 'imaginaire du feodalisme, Paris 1978; Ders.: Le chevalier, la femme et le pretre, Paris 1981; Georges Vigarello: Le propre et le sale. L 'hygiene du corps depuis le Moyen Age, Paris 1985; Philippe Aries: L 'homme devant la mort, Paris 1977; Michel Vovelle: La mort et I Occident. De 1300 ä nos jours, Paris 1983. „To be sure, stories made of successive situations are low in ,narrativity': they do not involve intense conflicts, sudden turns, and unexpected conclusions, at least not in the form they take in the New History" (Carrard: Poetics of the New History, S. 54).

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rekonstruieren eine Abfolge von Systemen oder den Wandel innerhalb eines Systems. Diese Definition impliziert, dass es Erzählungen ohne Ereignisse geben kann, verstanden als Serien von Zuständen oder Phasen, deren Wandel nicht durch Ereignisse herbeigeführt wird: As far as ,events' are concerned, the stage narratives New Historians have told attest that transformations in a ,good', well-formed story do not have to be traced to a unique, easily identifiable occurrence11.

Nun versteht es sich von selbst, dass sich der historische Wandel von Mentalitäten nicht durch ,kurze' politische Ereignisse erklären lässt. Mentalitäten sind Phänomene der longue duree - man denke nur an jenen Satz aus Le dimanche de Bouvines, mit dem Duby eine Brücke aus dem Jahr 12

1214 ins 20. Jahrhundert schlägt . ,Plötzlichkeit' und ,Kürze' bilden aber nur eine mögliche Definition des Ereignisses. Folgt man den Narrativisten, so lässt sich der Wandel eines historischen Subjekts nicht ohne etwas erklären, das epistemologisch den Status eines Ereignisses besitzt. Dass es Ereignisse nur durch ihnen vorangehende und ihnen folgende Strukturen bzw. Situationen geben kann, liegt auf der Hand: „Erst ein Minimum von Vorher und Nachher konstituiert die Sinneinheit, die aus Begebenheiten ein Ereignis macht" 13 . Umgekehrt sind Strukturen nicht denkbar ohne Ereignisse, da es ohne sie keinen Wandel gäbe. Auch in Erzählungen, die nicht auf der Ebene der menschlichen Handlungen angesiedelt sind, muss es also Ereignisse, und damit auch Subjekte der Veränderung und Aktanten geben, verstanden als Textfunktionen. Wenn es zudem stimmt, dass Strukturen und Ereignisse nicht ohne einander erklärbar sind, dann müsste auch fur stage narratives gelten: Es gibt Textkonstituenten, die in bezug auf das Subjekt des Textes den Status von Ereignissen haben. Mit den Narrativisten ließe sich eine weitere These aufstellen: Wo es eine insgesamt narrative Konfiguration gibt, da gibt es auch Ereignisse. Angesichts eines so diffusen und wandlungsresistenten Gegenstands wie demjenigen einer kollektiven Vorstellung stellt sich der Mentalitätengeschichte in verschärfter Weise jenes Problem, wie sie Wandel erklären will, und wie sich die Darstellung dieses Wandels, der ja trotz aller Zähigkeit der Mentalitäten existieren muss, im historiographischen Text 11

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Ebd., S. 54. „J'ai connu des paysans qui tremblaient encore un peu lorsque le mauvais temps les forfait ä moissonner un dimanche" (Duby: Le dimanche de Bouvines, S. 13). Koselleck: „Darstellung, Ereignis und Struktur", in: Vergangene Zukunft, S. 144-157, hier: S. 145.

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niederschlägt, sich darstellen lässt. Die Darstellung historischen Wandels setzt Ereignisse voraus, und damit auch Subjekte und Aktanten (welche keine menschlichen Personen sein müssen). Denn das Fegefeuer hat eine Systematik und eine Geschichte, oder, in Le Goffs Worten: eine „logique et genese" (S. 15). Diese beiden Dimensionen eines jeden historischen Phänomens erinnern an zwei andere Oppositionspaare, die ein jeder Historiker zu vermitteln hat: Erzählung und Beschreibung, Ereignis und Struktur. Darüber hinaus folgen stage narratives nach Carrard auf der Ebene des discours ebenso streng der Chronologie des Geschehens wie auf der Ebene der histoire, zumindest was die Abfolge der wesentlichen Phasen betrifft14. Bezüglich deren Anzahl meint er, sie dürfe eine bestimmte Größe nicht überschreiten, soll die Lesbarkeit des Textes nicht durch Überdehnung zerstört werden. Sieben (wie in Vovelles La mort et I Occident) erscheint Carrard als eine obere Grenze. Generell aber sei ein drei- oder vierstufiges Modell das häufigste15. Obwohl Carrard einigen stage narratives einen Plot zugesteht, vernachlässigt das Konzept die Bedeutung des emplotment. So behandelt er Aries' L'homme devant la mort, als besäße der Text kein emplotment, sondern bestünde lediglich aus einer „series of five moments". Aus der Opposition der ersten Kapitelüberschrift des ersten Buchs und der Überschrift des zweiten Buchs von Aries' Werk ergibt sich aber eindeutig eine narrative Opposition mit zeitkritischem Tenor, nämlich „la mort apprivoisee" vs. „la mort ensauvagee"16. Aries erzählt einen historischen Prozess, denjenigen der zunehmenden Verdrängung und Tabuisierung des Todes. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert war der Tod stets die Angelegenheit einer Gemeinschaft, der es gelang, den Tod durch Riten zu nähmen'. Die Vorstellung eines ,individuellen' Todes deutete sich erst langsam ab dem Mittelalter an - eine Entwicklung, an der das Fegefeuer im Übrigen Anteil hatte. Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Tod zum beängstigenden Skandalon und zunehmend verdrängt und verschwiegen. Die Menschen des 20. Jahrhunderts schließlich haben Aries' Ansicht nach keine akzeptable Einstellung zum Tod mehr. Sie furchten ihn und verbannen ihn aus dem

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,Jf [...] we designate textual order with the letter A, B, C ... Z, and chronological order with the numbers 1, 2, 3 ... n, then the basic model of stage narratives comes in the form: Al, B2, C3 ...Zn" (ebd., S. 50). „New Historians mostly rely on narratives with three or four stages, since this formula seems to satisfy the sometimes conflicting demands of completeness and readability" (ebd., S. 51). Aries: L 'homme devant la mort.

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Alltag in eigens dafür geschaffene Institutionen wie Krankenhäuser und Hospize. Die Fähigkeit zu trauern lässt nach, Sterben wird eine einsame Angelegenheit in einer Gesellschaft, die durch ein allgemeines Nachlassen von Solidarität gekennzeichnet ist17. Die Bedeutung des emplotment ist also durchaus auch für die Lesbarkeit eines stage narrative nicht zu unterschätzen. Sie erklärt sich nicht allein durch eine überschaubare Anzahl an Phasen. Andere Faktoren spielen eine Rolle, so ζ. B. Analepsen und Prolepsen, die dazu beitragen, dass der Leser weder das bereits Erzählte noch das Ziel der Erzählung aus den Augen verliert. Le Goffs Vorwort und Carrards Definition des Prototyps stage narrative werfen zwei miteinander verknüpfte Fragen auf, mit denen sich eine Analyse von La naissance du Purgatoire auseinander zu setzen hat. Die erste betrifft die Kohärenz und Lesbarkeit des Textes: Mit welchen Verfahren wird sie sowohl auf discours- als auch auf histoire-Ebene realisiert? Die zweite betrifft das Verhältnis von Ereignis und Struktur: Wie lässt sich der historische Wandel einer kollektiven Vorstellung in der longue duree erklären? d) Die Etablierung der Phasen Schon ein Blick auf die Überschriften der drei Teile verdeutlicht, dass es sich bei La naissance du Purgatoire um einen narrativ organisierten Text handelt. Le Goff hat das anthropomorphisierende Schema einer menschlichen Biographie gewählt, um die ,Erfolgsgeschichte' des Fegefeuers zu schreiben. Das stage narrative ist in drei Phasen gegliedert, welche die folgenden Titel tragen: „Les au-delä avant le Purgatoire", „Le XIIe siecle: naissance du Purgatoire" und „Le triomphe du Purgatoire". So einfach und ,klassisch' diese lineare Dreiteilung auf den ersten Blick erscheint (fast möchte man eine metatextuelle Referenz auf das für die Argumentation so wichtige Thema der ternären Ordnung darin erblicken), so trügerisch erweist sie sich bei näherer Betrachtung. Denn der vordergründig eindimensionale Plot erweist sich als eine Vielfalt erzählerischer Stränge, die Le Goff

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Der prosaisch anmutende Titel der deutschen Übersetzung macht durch die Benennung eines historischen Subjekts dieses emplotment greifbarer. Es handelt sich nicht nur um eine Geschichte der menschlichen Haltungen angesichts des Todes, sondern um eine veritable Geschichte des Todes, wenn man den Tod nicht als biologisches Faktum, sondern als gesellschaftlich bedeutungsvollen Akt des Sterbens definiert.

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zu einer linearen Erzählung bündelt: Der Triumph des Fegefeuers wird ein dreifacher sein, theologisch, gesellschaftlich und dichterisch. Das Buch hat bezeichnenderweise die Überschrift des zentralen Kapitels zum Titel. Er benennt zugleich das zentrale Ereignis und damit das Sujet der Erzählung. Nun ist ein Ereignis nicht ohne narrative Oppositionen denkbar. Die im Titel zum Ausdruck kommende Grenzüberschreitung ist auf gleich mehrere Oppositionen bezogen. Ein Ereignis setzt nach Danto ein Subjekt der Veränderung voraus. Die Metaphorik von La naissance du Purgatoire legt den Gedanken nahe, dieses im Fegefeuer zu erkennen: Es wird geboren, indem es von seinen ,Vätern' ausgestaltet wird. Eine Untersuchung des ganzen Textes kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass das Subjekt dieser in der Opposition zum Ausdruck kommenden Veränderung nicht das Fegefeuer ist, sondern das Jenseits, bzw. die Vorstellungen vom Jenseits. Es war binär, und es wird nach der Geburt des Fegefeuers ternär sein. Die Grammatik des Titels camoufliert also das eigentliche Thema des Buchs: Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Geschichte der christlichen 18

Jenseitsvorstellungen zwischen dem vierten und 14. Jahrhundert . Die Erzählung beginnt mit der Vorgeschichte des Fegefeuers. Der erste, in drei größere Kapitel gegliederte Teil behandelt zunächst die antiken Ursprünge deijenigen Motive, die später fester Bestandteil des Fegefeuers werden sollten, genauer gesagt: der Doktrin vom Fegefeuer, die ja nur einen Aspekt der kollektiven Vorstellung ausmacht. Hier liegt bereits eine Selektion aus der Perspektive des etablierten Fegefeuers vor. Antike Jenseits-Elemente, die sich nicht im Fegefeuer wiederfinden, werden ausdrücklich nicht berücksichtigt (ζ. B. Metempsychose und Irrfahrten). Le GofF erwähnt hinduistische, iranische, ägyptische, griechische, römische, jüdische und früh-christliche Jenseitsvorstellungen. Zu den aufgenommenen Motiven (die nicht in allen Religionen existieren) gehören etwa die folgenden Vorstellungen: der mittlere Heilsweg, die Dialektik von Finsternis und Licht, Feuer, Qual, Prüfung und Linderung der Qualen der Verstorbenen durch die Gebete der Lebenden. Es handelt sich allerdings bestenfalls um eine virtuelle Rezeptionsgeschichte, treffender aber um einen chronologisch gestalteten Katalog, begleitet von kurzen Kommentaren zu etwaigen Zusammenhängen mit dem 18 Darauf weist auch Philippe Aries sehr zutreffend hin in seiner Rezension des Buchs: )rEn fait, malgre la restriction apparente de son titre: La naissance du Purgatoire, l'enquete de Jacques Le Goff nous tient lieu d'une histoire de l'Au-delä [...]" (Philippe Aries: „Le Purgatoire et la Cosmologie de l'Au-delä", in: Annales ESC 1983,1, S. 151-157, hier: S. 151).

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christlichen Fegefeuer des Mittelalters. ,,[L]a necessite et les hasards" (S. 32) bestimmen nach einer Äußerung Le Goffs die Selektion der Elemente - allein, hier bleiben sie noch im Dunkeln. Der Historiker beschränkt sich in vielen Fällen darauf, explizit oder implizit auf den spekulativen Charakter der Rezeptionszusammenhänge zu verweisen, in anderen muss der Hinweis genügen, dass eine historische ,Erbschaft' bzw. Vererbung auf der Hand liege, etwa vom Gilgamesch-Epos an das Judentum. Obgleich Le Goff an einigen direkten Einflüssen früher Texte auf das Fegefeuer keine Zweifel zu hegen scheint, so drückt die Wahl seiner Sprache in diesen Fällen doch eine gewisse Vorsicht aus, die daher zu rühren scheint, dass man es eben letztendlich nicht nachweisen kann 19 . W a s ihn dennoch dazu bewogen hat, all diese frühen Jenseitsvorstellungen in seinen Text aufzunehmen, erläutert er in einer hermeneutisch anmutenden Terminologie von Frage und Antwort: Convoquer ces religions anciennes dans le dossier du Purgatoire, c'est aussi replacer le Purgatoire dans un ensemble de solutions apportees ä un meme probleme: la structure de Pautre monde, l'imaginaire de l'au-delä comme demonstration de sa fonction. Dans certains cas cette reference ä d'autres religions mettra en presence d'heritages reels, historiques [...]. Parfois aussi la comparaison avec d'autres au-delä religieux n'aura valeur que logique, ne sera que mise en evidence des systemes de l'au-delä et de leurs diverses solutions au probleme commun. Quand il y a rencontre entre ces solutions et celle, chretienne, du Purgatoire, n'est-ce pas par identite de reponse sans 19

Vgl. die folgenden Passagen: „Le Purgatoire infernalise qu'on rencontrera souvent dans la chretiente medievale s'est sans doute en partie nourri de cet heritage egyptien" (S. 35, Hervorhebung A.R.); „La contribution de la Grece ancienne ä Γ idee de l'au-delä dans la longue duree semble surtout resider dans deux constructions intellectuelles [Piatos Philosophie der Wiedergeburt und Vergils Äneis] dont il est difficile de savoir quelle influence elles ontpu avoir sur la pensee chretienne" (S. 36, Hervorhebung A.R.); (über das iranische Jenseits:) „En Iran, ce qui frappe surtout dans les doctrines et les images de l'au-delä c'est Γ omnipresence du feu. Mais certains traits de l'eschatologie zoroastrienne presentent des caracteres qui, sans avoir eu sans doute d'influence directe sur les conceptions chretiennes qui meneront au Purgatoire, les evoquent" (S. 33); „Voici en revanche une sequence historiquement affirmee: de Babylone au judeo-christianisme" (S. 42); (über die .Wohnungen' der Toten im jüdischen Jenseits:) „Ainsi s'exprime ce sentiment de liberation spatiale, ce soucis de l'espace dans les choses de l'au-delä qui me parait fondamental dans la naissance du Purgatoire" (S. 52; Hervorhebung A.R.); „Le coup d'oeil sur le passe apporte un double eclairage. II permet de reperer certains elements, certaines images que les Chretiens choisiront pour mettre dans leur Purgatoire, celui-ci en acquerra certains traits, certaines couleurs qui se comprennent mieux, bien que prises dans un systeme nouveau et ayant change de sens, quand on sait d'oü, probablement, elles viennent" (S. 60, Hervorhebung A.R.).

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certitude d'influence? L'angoisse essentielle du temps de l'Enfer chez les gnostiques et Γ attention inquiete mais finalement teintee d'esperance des Chretiens au temps du Purgatoire ne viennent-ils pas d'une sensibilite au temps incluse dans les deux pensees mais de ίβςοη independante? (S. 31)

Eine nähere Betrachtung des Textabschnitts fuhrt zu einem eindeutigen Ergebnis: Die „valeur logique" der Verwandtschaft unter den Jenseitsvorstellungen überwiegt eindeutig in diesem Teil des Buchs. Mit der Frage nach der Beschaffenheit des Jenseits überhaupt postuliert Le Goff eine Art ahistorische Konstante, die das Interesse menschlicher Gesellschaften zu allen Zeiten geweckt habe. Der Abschnitt über die frühantiken Formen des Jenseits erfüllt daher für den ganzen Text wohl vor allem die Funktion der Vollständigkeit. Da er sich allenfalls spekulativ in die Rezeptionsgeschichte des Fegefeuers integrieren ließe, bleibt er ein narrativ nicht eingebundener Prolog, der dem Leser immerhin noch vermittelt, dass die Bestandteile des Fegefeuers eine Geschichte haben, die nicht erst mit den ,Vätern' des Fegefeuers beginnt. Das zweite Kapitel des ersten Teils beschäftigt sich mit den „fondateurs du Purgatoire" (Clemens von Alexandria, Origenes) und den „peres du Purgatoire" (Augustinus und Gregor der Große) sowie einem „faux pere du Purgatoire" (Cäsarius von Arles). Die Tatsache, dass erst mit ihnen die „veritable histoire du Purgatoire" (S. 79) beginnt, unterstreicht noch einmal den narrativen Sonderstatus des Kapitels über die frühen Jenseitsvorstellungen. Nun aber ,widerfahrt' dem Fegefeuer ein Ereignis: Es wird erfunden bzw. ,angezündet', wenngleich noch nicht,entfacht' 20 . Die Jenseitsentwürfe von Origenes und Clemens von Alexandria enthalten einerseits bereits Elemente des späteren Fegefeuers wie die zwei Kategorien von Sünde und Strafe sowie zeitliche Begrenztheit des reinigenden Feuers. Andererseits wird bei Origenes die Hölle selbst als Fegefeuer konzipiert, dieses also auf den Tag des jüngsten Gerichts gelegt, und die Lebenden haben keinen Einfluss auf das Schicksal der Toten im Feuer. Deshalb nennt Le Goff die beiden Autoren auch nur „fondateurs" (S. 79). Mit Augustinus aber tritt

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,,Le feu purgatoire discretement allume par les Peres, en particulier par Augustin, va longtemps couver sous le boisseau sans trouver ä s'enflammer dans ce monde d'insecurite, de luttes elementaires eclairees par le feu plus puissant du jugement plus ou moins confondu avec l'eclat sinistre du feu de la geheime." (S. 121); „Pourtant, c'est dans ces perspectives eschatologiques, mü par un zele pastorale ardent dans un contexte terrestre dramatique qu'un pontife va ranimer la flamme purgatoire. Apres Clement d'Alexandrie et Origene, apres Augustin, le dernier ,fondateur' du Purgatoire, c'est Gregoire le Grand" (ebd.).

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endlich „le vrai pere du Purgatoire" (S. 92) auf den Plan. Seinen wichtigsten Beitrag zur späteren Doktrin liefert er durch seine Terminologie, namentlich die Adjektive purgatorius, temporarius/temporalis und transitorius. Bei Augustinus findet sich zwar noch kein purgatorio, aber ein ,feu purgatoire". In den Confessiones und in De cura pro mortuis gerenda plädiert er für die Praxis der Fürbitten, Messen und Almosen zur Linderung des Leids der Verstorbenen im Fegefeuer. In De civitate Dei unterscheidet er vier Kategorien von Sünden, von welchen nur die den beiden mittleren zuzurechnenden im läuternden Feuer verbrennen können: die ,nicht ganz Guten' und ,nicht ganz Schlechten'. Vor allem aber legt er dieses höllenähnliche Feuer in jene Zeit zwischen dem individuellen Tod und dem Tag des jüngsten Gerichts. Was hier zum Fegefeuer noch fehlt, ist eine Theorie der lässlichen Sünden und die geographische Verortung des Feuers. Le Goff sieht in Augustinus' Werk den wichtigsten aller frühen Beiträge zum späteren Fegefeuer. Seine Autorität gewährleistete, dass sich die Vorstellung eines Reinigungsfeuers bis in zwölfte Jahrhundert erhielt und dann zentraler Bestandteil des Fegefeuers werden konnte. Das ist sicherlich ein wichtiger Schritt, dennoch bleibt Augustinus' Beitrag lediglich einer zur „prehistoire du Purgatoire". Das gilt auch für Gregor den Großen, der die augustinischen Sündenkategorien anhand von erzählerischen Anekdoten und Exempla veranschaulicht und die Reinigungsstätte im Diesseits verortet. Das dritte Kapitel des ersten Teils behandelt die Stagnationsphase vom siebten bis zum zwölften Jahrhundert. Was stagniert, ist jedoch nur die doktrinäre Entwicklung des Fegefeuers, nicht aber die Geschichte des Fegefeuers in der frühmittelalterlichen Visionsliteratur. Dadurch bleibt die Chronologie auf eine Weise gewahrt, die einerseits Carrards These von der strikten chronologischen Parallelität von discours und histoire in den stage narratives bestätigt. Andererseits sollte man sich mit dieser Beobachtung nicht begnügen, es steckt mehr dahinter, ein metatextuelles Moment nämlich. Zunächst einmal ist die folgende Bemerkung Le Goffs interessant, in der er dem Kapitel eine quasi immanent-poetische Bedeutung beimisst: Pourquoi done s'interesser a cette epoque ού il ne se passe pas grand-chose dans les conceptions de l'au-dela? Ce n'est pas pour sacrifier ä la tradition de Γexpose chronologique. Au contraire, je souhaiterais montrer ici que le temps de Fhistoire n'est ni uniformement accelere ni finalise. Ces cinq siecles sont, dans notre domaine, une longue periode d'apparente Stagnation de la reflexion de l'au-delä. (S. 133)

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Wir finden in dieser Passage zunächst eine gesteigerte Skepsis gegenüber jener Spielart der Historiographie, welche die Vergangenheit in das Korsett einer kohärenten Erzählung bannt, indem sie ihre Quellen einzig nach ihrer Nützlichkeit fur das Ende derselben selektiert. Le Goff aber will auch jene Texte über das Jenseits nicht unterschlagen, die keinen Beitrag zum späteren Fegefeuer leisten. Nach der oben zitierten Passage liegt es durchaus in seiner Absicht, dass die Stagnation im Akt des Lesens nachvollziehbar wird („montrer que le temps de l'histoire n'est ni uniformement accelere ni finalise"). Es scheint sich also um ein Kapitel zu handeln, in dem, um einen Titel von Hayden White zu zitieren, die Bedeutung in der Form liegt. Dadurch stagniert nun zugleich der Plot, der ja auf der Grenzüberschreitung von einer binären zu einer temären Ordnung des Jenseits beruht. Aus den Bewertungen der Texte (meist mittels des Prädikats a r chaisch') geht deutlich hervor, dass diese Grenzüberschreitung zwischen dem siebten und dem zwölften Jahrhundert nicht vorangetrieben wird: On peut done avoir Γ impression que l'auteur du traite a une vision tripartie de l'audelä. Enfer, .purgatoire', paradis. Mais cette division n'existe pas aussi marquee. Surtout la conception archa'ique de l'auteur du traite exclut pratiquement Γ idee d'un triple au-delä. (S. 137 f., über das irische Liber de ordine creaturarum) Texte remarquable par sa division de l'humanite en trois categories, et non quatre, dans la tradition augustinienne. Mais le texte nous retient surtout ici parce qu'il exprime une conception ,archa'ique' du feu purgatoire qu'il place ä l'epoque du Jugement dernier, etire en un long jour. (S. 140, über eine Homilie des Heiligen Eligius von Noyon) Car le systeme de la vision de Drythelm reste un systeme binaire, un mur en apparence infiranchissable separe un enfer eternel et d'un enfer temporaire d'un paradis d'eternite et un paradis d'attente. (S. 158 über Bedas Vision des Drythelm)

In den zitierten Passagen spiegelt sich der bereits erwähnte, von LeviStrauss übernommene Gedanke, dass der Schritt von der binären zur ternären Organisation des Denkens einen zivilisatorischen Fortschritt darstellt. Dieser Überzeugimg entsprechend, interessiert sich Le Goff stets nur fur das ,Neue' an einer Jenseitsvorstellung. Das macht sich zum einen an der Bewertung der Texte bemerkbar, zum anderen an der Betonung von Fegefeueraspekten, die in verschiedenen Texten noch nicht vorzufinden sind21. 21

Vgl. die folgenden Sätze: „Mais ä la conception d'un vrai Purgatoire il manque plusieurs elements essentiels" (S. 86); „L'Eglise carolingienne s'interesse peu au feu purgatoire et n'innove pas" (S. 142); „Rien de nouveau dans ce concentre doctrinal" (S. 146); „Dans ce texte, on s'en souvient, deux elements importants font obstacle ä la naissance du Purgatoire" (S. 200); „Ce texte [la vision de Drythelm] serait capital sur

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Das Kapitel besteht aus vier Sinnabschnitten, innerhalb derer Le Goff streng chronologisch vorgeht. Sie behandeln „Les au-delä barbares", „Audelä et heresie", „La serie visionnaire: voyages dans l'au-delä" und „La liturgie: pres et loin de l'au-delä". Innerhalb dieser Unterkapitel geht Le Goff streng chronologisch vor. Als Beispiel sei das erste aufgeführt, welches nur vordergründig die Gestalt eines geographischen Katalogs besitzt (S. 135-142). Die behandelten Texte werden wie folgt datiert: Spanien (6 /7. Jh.), Irland: (7. Jh.), Gallien (7. Jh.), Germanien (735), Großbritannien (730-735). Darauf folgt (nicht mehr geographisch gegliedert) die karolingische Epoche: Alkuin (732-804), Hrabanus Maurus (gest. 856), Paschasius Radbert (gest. 860), Atzo von Vercelli (961), Rather (ohne Datum), Lanfranc (1089) und Johannes Scotus (gest. 1210). Die strenge Chronologie, das ,Abhaken' von Texten, die den Plot nicht vorantreiben, gilt allerdings - im Gegensatz zu Le Goffs Ankündigung nur für dieses erste Unterkapitel über die doktrinäre Entwicklung des Fegefeuers. Mit den Jenseitsvisionen und der Liturgie kommt der Historiker zu Texten, die den Plot durchaus voranbringen. Für das Verständnis der narrativen Makrostruktur erscheint es wenig sinnvoll, dem Text Kapitel für Kapitel zu folgen. Es bedarf an dieser Stelle eines Blicks in den dritten Teil des Buchs („Le triomphe du Purgatoire"), bevor wir uns mit dem zweiten Teil, der von der ,Geburt' und damit der zentralen Grenzüberschreitung erzählt, beschäftigen. Dieser dritte Teil, in dem die Erzählung ihr telos erreicht, ist in drei Kapitel untergliedert: „La mise en ordre scholastique" (S. 319-386) handelt von der inhaltlichen und institutionellen Etablierung des Fegefeuers als theologische Doktrin (die ideologische Dimension des Fegefeuers). „Le triomphe social: la pastorale et le Purgatoire" (S. 387-447) befasst sich mit der phantastischen Ausgestaltung des Fegefeuers und seiner Rezeption durch die Massen (die imaginäre Dimension). „Le triomphe poetique: La Divina Commedia" (S. 449479) schließlich handelt von Dantes Werk als einer „chance extraordinaire" für das Fortleben des Fegefeuers in der menschlichen Erinnerung. Die ersten beiden Triumphe stellen die Endpunkte der zwei narrativen Stränge dar, die Le Goff zu einem stage narrative synthetisiert, der dritte nimmt eine Sonderstellung ein.

le chemin du Purgatoire s'il ne contenait des lacunes essentielles par rapport au futur systeme et s'il n'avait ete ecrit ä l'aube d'une epoque qui se detoumera des problemes de la purgation dans l'au-delä" (S. 157); sowie die Verwendung des Begriffs ,/evolution" im Einleitungskapitel und des Begriffs „archa'fque" im Allgemeinen.

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Visionen und Jenseitsreisen gehören zum erzählerischen Strang des gesellschaftlichen Triumphs. Obwohl sie als ,folkloristische' (in der Sprache der Kirche ,heidnische') Texte nichts Neues zur theologischen Ausdifferenzierung des Fegefeuer-Systems beitragen, sind sie von großer Wichtigkeit für die Geschichte des Fegefeuers: Sie liefern, auch wenn sich in ihnen nicht das Purgatorium ankündigt, allgemeine' Jenseits-Motive wie das Wasser, in dem die Toten unterschiedlich tief stehen, die Wechselbäder, die schmale Brücke, die folternden Dämonen und den Läuterungsberg - Bilder, die ins kollektive Imaginäre eingehen werden. In den Priestern und Gläubigen erreichen die Visionen „un nouvel auditoire, plus friand de pittoresque que d'illuminations" (S. 134). Gleiches gilt für die nur kurz abgehandelte Totenliturgie: Sie bringt das System des Fegefeuers zwar kernen Schritt weiter, doch sie unterstützt die Praxis, dass die Lebenden zunehmend für die Toten beten - eine wichtige Voraussetzung für die spätere Akzeptanz des Fegefeuers unter den Gläubigen. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, welche die Geschichte mitunter an den Tag legt (s.o.), gleichen sich im 13. Jahrhundert wieder aneinander an, und damit auch die Geschwindigkeit der verschiedenen Erzählstränge. Erinnern wir uns. Die theologische und die imaginäre Entwicklung des Fegefeuers verliefen nicht immer parallel. Davon kann an der Schwelle zum 14. Jahrhundert keine Rede mehr sein. Das theologische System steht, das Dogma ist seit dem zweiten Konzil von Lyon (1274) beschlossen, und auch die imaginäre Ausgestaltung des ,dritten Orts' ist vollständig und von den Gläubigen angenommen. Damit verflechten sich die beiden Erzählstränge zu einem allgemeinen Triumph: Quand l'Eglise fait descendre le Purgatoire des hauteurs du raisonnement theologique dans Penseignement quotidien, dans la pratique pastorale, mobilisant les ressources de Pimaginaire, le succes semble tres grand. A la fin du ΧΠΓ siecle le Purgatoire est partout, dans la predication, les testaments (timidement), la litterature en langue vulgaire. Le jubile de 1300 sera son triomphe par la rencontre entre les aspirations de la masse des fideles et les prescriptions de l'Eglise. Seule l'image reste refractaire ä ce triomphe. (S. 387)

Die Divina Commedia schließlich bildet als dritter Triumph den krönenden Abschluss. Auf den ersten Blick ist dies verwirrend, denn es gibt keinen Erzählstrang, der die Entwicklung des Fegefeuers in der Dichtung verfolgt hätte (es sei denn, man bezeichnet die klösterlichen Visionen als Dichtung). So wirkt die Bestandsaufnahme der Motive des Danteschen Fegefeuers (denn viel mehr bietet das Kapitel nicht), wie ein funktionsloses Anhängsel. Tatsächlich aber kommt diesem letzten Kapitel große Bedeu-

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tung für das emplotment zu: Im ersten Kapitel des Buchs („Le troisieme lieu") weist Lc Goff darauf hin, dass das Fegefeuer fur die katholische Kirche ein Zustand (d. h. theologisch), und kein Ort (d. h. imaginär) ist. Um ,heidnischem' Aberglauben zu begegnen, nennt das Dogma vom Fegefeuer weder einen Ort noch die Strafen, welche die Toten erleiden. Le Goff unterstreicht dennoch an eben dieser Stelle im Text seine Überzeugung, dass die Erfolgsgeschichte des Glaubens an das Fegefeuer nicht denkbar sei ohne die phantastische Ausgestaltung des Orts. Nur als kollektive imaginäre Vorstellung habe es sich durchsetzen können. Über Dante heißt es in diesem Zusammenhang: Quand, parmi les lai'cs, se rencontra un homme de genie qui etait aussi tres savant, il exprima mieux que d'autres - ä tous les niveaux - ce que fut pour les hommes du second Moyen Age, apres 1150, le Purgatoire. Le meilleur theologien de l'histoire du Purgatoire, c'est Dante. (S. 26)

„A tous les niveaux", damit sind die zwei Erzählstränge angesprochen, die sich durch den Text ziehen. Dante ist der glänzende Höhepunkt, in dem sich die beiden letztlich treffen, denn der Florentiner vereinigt in sich die Eigenschaften des ,besten' Theologen und die des ,besten' Visionärs: „Nul mieux que Dante n'a exprime la liaison du systeme de la Creation ici-bas et dans l'au-delä" (S. 451), heißt es im letzten Kapitel über Dantes phantastische Ausgestaltung des ,dritten Orts'. Der Dichter vereinigt die ganze Vielfalt der Motive, denen Le Goff minutiös nachgespürt hat, in einer „Symphonie" und „conclusion sublime" (S. 449). Damit birgt der dichterische Triumph einmal eine Synthese und eine nicht mehr überbietbare Steigerung der beiden vorangegangenen Triumphe22. Eine relativ große Zahl an Prolepsen gewährleistet zudem, dass Dante als Fluchtpunkt einer mehrsträngigen, fast ein Jahrtausend umspannenden Erzählung, die sich darüber hinaus immer wieder in minutiösen Textlektüren zu verlieren droht, nie vollständig aus dem Bewusstsem des Lesers schwindet23. Sie haben 22

Die Superlative zur Bewertung der Divina Commedia überschlagen sich hier. Vgl. S. 449: „C'est aussi, parmi ces images possibles et parfois concurrentes du Purgatoire que l'Eglise, tout en affirmant l'essentiel du dogme, avait laisse au choix de la sensibilite et de l'imagination des Chretiens, la plus noble des representations du Purgatoire nees de l'esprit humain". Man könnte auch mit Eco von Antizipationen und flashbacks sprechen (Umberto Eco: Lector in fabiila. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, Frankfurt a. M. 21994, S. 128). Die Beispiele erstrecken sich über den ganzen Text: (Über die ,Wohnungen' der Toten im jüdischen sheol) „Ainsi s'exprime ce sentiment de liberation spatiale, ce soucis de l'espace dans les choses de l'au-delä qui me parait

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einen nicht geringen Anteil an der Kohärenz und Lesbarkeit des Textes, zumal die Divina Commedia der wohl mit Abstand bekannteste aller behandelten Text ist. Bevor es zum Triumph des Fegefeuers kommen kann, bedarf es allerdings der Geburt des Fegefeuers, die im zweiten Teil behandelt wird. Das ewige Feuer des Gehenna wird zu einem temporären Zwischenreich. Doch nicht nur die Geographie des Jenseits kennt in Zukunft drei Bereiche. Auch das System der Sündenkategorien entwickelt sich. Fortan gibt es in Analogie zu den Räumen des Jenseits nicht mehr zwei (bzw. vier) Kategorien, sondern drei. Die ,nicht ganz Guten' und die ,nicht ganz Schlechten' verschmelzen zu einer neuen mittleren Kategorie, den durchschnittlichen'. Die beiden Erzählstränge des ersten Teils setzen sich fort: Hier die theologische Debatte über Sünde, Buße und die letzten Dinge, dort (in der volkstümlichen Literatur) die imaginäre Ausgestaltung des Orts, die auch die Frage seiner geographischen Verortung beinhaltet. Einmal mehr finden die beiden Entwicklungen nicht gleichzeitig statt: Zwischen 1170 und 1180 in theologisch-geistlichen Texten, zwischen 1180 und 1215 in der Visionsliteratur (S. 267). Das erste Kapitel dieses Teils behandelt die Vorstellung des Reinigungsfeuers, das zweite die Etablierung eines fest umrissenen Orts. Diese Entwicklung ist im 12. Jahrhundert im wesentlichen eine Angelegenheit der Theologen, und so verengt Le Goff seine Perspektive - von wenigen Aus-

fondamental dans la naissance du Purgatoire. Le Purgatoire sera un habitacle ou un ensemble d'habitacles, un lieu de renfermement mais aussi de l'Enfer au Purgatoire, du Purgatoire au Paradis, le territoire s'agrandit, l'espace se dilate. Dante saura magnifiquement l'exprimer" (S. 52); (Über die Visio Wettini) „Je n'en retiendrai que trois elements qui Interessent le futur Purgatoire: 1'insistence mise sur la purgation dans l'au-delä, la place tenue par une montagne comme lieu de ces peines temporaires (il y aura, ä la fin de notre histoire, la montagne du Purgatoire de Dante), la presence en ces lieux de chätiments de Charlemagne puni pour avoir cede aux tentations de la chair." (S. 161); (Über die Visto Tnugdali) „Les lieux ού ils [les diverses categories de pecheurs] sont punis sont d'une taille exceptionnelle: vallees profondes, montagne tres elevee, lac tres vaste, maison immense. La montagne aura avec Dante une fortune particuliere" (S. 256);„Dante sera, bien un siecle plus tard, dans la ligne des idees de Guillaume d'Auvergne sur le Purgatoire, un lieu plus proche du Paradis que de l'Enfer, un lieu ou l'on penetre en rencontrant d'abord des victimes de morts subites ou violentes, et meme suicidaires, dans le cas du portier Caton. Mais grace ä sa conception hemispherique de la terre, Dante saura donner ä la montagne du Purgatoire une localisation ä la fois intermediate et specifique" (S. 328).

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nahmen abgesehen - zunächst auch auf dieses Milieu24. Die Ebene, auf der Le Goff nun eine Grenzüberschreitung abliest, ist die sprachliche25. Er untersucht die Texte im Hinblick darauf, ob aus dem Adjektiv purgatorius (loca purgatoria, ignis purgatorius etc.) das neologische Substantiv purgatorium geworden ist. So zählt Le Goff in einem kurzen Text des Petrus Cantor aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert ganze neun Mal das Substantiv. Daraus schließt er: „Le mot et l'idee sont, au moins ä Paris, visiblement devenus courants ä la fin du siecle et le systeme EnferPurgatoire-Paradis semble bien au point" (S. 225). Mit dem Kapitel „Le Purgatoire entre la Sicile et l'Irlande" nimmt Le Goff den erzählerischen Faden der klösterlichen Visionsliteratur wieder auf. In dieser wird die Geographie und die phantastische Ausstattung des Jenseits weiterentwickelt. Besonders hervorzuheben ist hier ein irischer Text, das Fegefeuer des heiligen Patrick. Le Goff nennt ihn „l'acte de naissance litteraire du Purgatoire" (S. 246), ein Text, der eine entscheidende, auf Dante vorausweisende Rolle in der Erfolgsgeschichte des Fegefeuers gespielt hat, und dies nicht nur dadurch, dass er die Mündung des Fegefeuers - eine finstere Grube - in diese Welt legt. Einen ähnlichen Versuch gab es auf Sizilien: In der später in die Vita Odilonis aufgenommene Vision eines Einsiedlers von den Liparischen Inseln dringen die Klagen der Toten aus dem Ätna, der als Eingang zum Fegefeuer fungiert. Im dritten Teil des Buchs („Le triomphe du Purgatoire") werden die beiden Erzählstränge, wie bereits erwähnt, fortgeführt. Das Fegefeuer ist mittlerweile soweit etabliert, dass es sowohl für die Intellektuellen als auch für die Massen (und damit für die Seelsorger) ein wichtiges Thema geworden ist. Le Goff untersucht die Texte der großen Theologen aus der Zeit zwischen 1220 und 1280: Wilhelm von Auxerre, Wilhelm von Auvergne, Alexander von Haies, Bonaventura, Thomas von Aquin, Albertus Magnus - allesamt Mitglieder der Bettelorden. Es geht ihnen um die rationale 24

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„J'ai consulte le plus grand nombre de documents possible emanant des diverses regions de la chretiente, en particulier scrute les oeuvres emanant des principaux centres de production intellectuelle et culturelle au toumant du ΧΠ® au ΧΠΓ siecle. Je crois pouvoir avancer sur des bases solides que deux milieux ont mis au point la croyance et lance le mot de purgatoire. Le premier, le plus actif, c'est le milieu Lntellectuel parisien, et particulierement l'ecole cathedrale, l'ecole du chapitre de NotreDame dont on ne dira jamais assez le röle capital qu'il a joue avant que I'animation intellectuelle passe sur la rive gauche et dans les enseignements de la nouvelle universite, en particulier autour des maitres mendiants, Dominicains et Franciscains" (S. 227). Ein weiteres Zentrum ist Citeaux. Vgl. auch den Anhang S. 489-493.

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Rechtfertigung einer Buße nach dem Tod. Die etwas modifizierte augustinische Vorstellung von vier (nunmehr zu drei kontrahierten) Kategorien von Sündern ist zu diesem Zeitpunkt bereits ,klassisch' (S. 342) zu nennen. Innerhalb des Kapitels herrscht keine Chronologie. Le Goff resümiert die Positionen der verschiedenen Orden und der Häretiker. Dass sich das Fegefeuer letztendlich in einer ,infernalisierten' Version durchsetzte, lag weniger an seiner theologischen Konzeption als vielmehr an der Entscheidung der institutionellen Kirche, in der Seelsorge und in Fragen der Inquisition auf Angsterzeugung zu setzen. Mit dem Unterkapitel „Premiere definition pontificale du Purgatoire" (S. 379) wird die ,innere' Entwicklung des Dogmas an die ,äußere' Ereignisgeschichte angebunden: Am 6. März 1254 („une des grandes dates de l'histoire du Purgatoire") schreibt Papst Innozenz IV. einen offiziellen Brief an den Bischof von Chäteauroux. Darin fordert er die GriechischOrthodoxen auf, eine ihnen vorgelegte Definition des Fegefeurs zu unterschreiben. Dieser Text, so Le Goff, sei der „acte de naissance doctrinal du Purgatoire comme lieu" (beide Zitate S. 380). Zwanzig Jahre später sollten die Griechisch-Orthodoxen auf dem Konzil von Lyon (1274) dann endgültig die Existenz eines Reinigungsortes nach dem Tod akzeptieren. Das von der katholischen Kirche den Griechen oktroyierte Glaubensbekenntnis ist „la premiere proclamation de la croyance au processus purgatoire, sinon au Purgatoire, comme dogme" (S. 383), das Äquivalent einer Definition ex cathedra. Le Goff hebt hervor, dass das Dogma das Fegefeuer nicht als einen Ort definiert, sondern als einen Zustand. Der Erfolg des Fegefeuers aber sei nicht denkbar ohne seine phantastische Dimension. Entscheidend seien hier die „dispositions mentales" (S. 385) der Massen, und nicht die Doktrin - womit wir wieder beim Erzählstrang , imaginäre Ausgestaltung des Fegefeuers' angelangt wären. Den Übergang zu diesem, d. h. zum nächsten Unterkapitel, „Le triomphe sociale: la pastorale et le Purgatoire", gestaltet Le Goff, indem er den theologischen und den gesellschaftlichen Erzählstrang im Jubeljahr 1300 zusammen fuhrt. Das Interesse der Kirche trifft sich mit dem der gläubigen Masse. Was veränderte sich im Leben der Gläubigen durch die Etablierung des Fegefeuers? Vor allem führte das Jenseits zu einer neuen Vorstellung von Zeitlichkeit. Eschatologische und irdische Zeit gingen eine Verbindung ein, letztere wurde zunehmend linear: „Le Purgatoire introduit une intrigue dans l'histoire individuelle du salut. Et surtout cette intrigue se poursuit au-delä de la mort" (S. 390). Die Tage und Wochen unmittelbar vor dem Tod wurden wichtiger, schließlich boten sie die letzte Möglichkeit, allererst und

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darüber hinaus nicht zu lange ins Fegefeuer zu gelangen. Die schon länger bestehende Praxis, für die Toten zu beten, bekam einen neuen Sinn. Das solchermaßen neugestaltete Jenseits findet sich in einer Vielfalt von Texten, welche die erfolgreiche Vulgarisierung des Fegefeuers zu dieser Zeit belegen: neue Jenseitsreisen (mit Einschränkungen heran zu ziehen, da sie noch recht ,archaisch' anmuten), Exempla, Predigten, Heiligenlegenden, Testamente, Obituarien und (selten) literarische Texte. Zu den bekanntesten Vulgarisierern des Fegefeuers zahlten Jakob von Vitry (der auf die Idee einer Sonntagsruhe im Fegefeuer kam), Cäsarius von Heisterbach und Stefan von Bourbon. Die dreistufige Geschichte des Fegefeuers findet ihr Ende in einem Epilog mit dem Titel „La raison du Purgatoire" (S. 481). Le Goff resümiert auf wenigen Seiten die weitere Geschichte des Fegefeuers in seinen verschiedenen Dimensionen bis ins 20. Jahrhundert. Aus den Formulierungen geht sogar hervor, dass die phantastischen Darstellungen der bildenden Kunst seinem Triumph ab dem 14. Jahrhundert zu einem weiteren Höhe26

punlct verhelfen werden . Gleichzeitig hält es einen ,invasionsartigen' Einzug in die Testamente. Als Dogma verfestigt es sich weiter auf den Konzilen von Florenz (1439) und Trient (1562). Doch stellt all dies eine Art ,Nachgeschichte' des Fegefeuers dar. Die seine erklärt Le Goff für beendet. Ihm ging es um die Herausbildung des Fegefeuers als ideologisches und als imaginäres System zwischen dem 4. und dem 14. Jahrhundert. e) Rahmenerzählung: Von der Verräumlichung des Denkens Wie Le Goff bereits in seiner Einleitung ankündigt, steht diese Geschichte des Fegefeuers nun im Horizont einer weiterreichenden Erzählung, nämlich einer ,Sozialgeschichte des Denkens'. Darunter ist die Entstehung der ternären Ordnungen im Mittelalter schlechthin zu verstehen: die Entwicklung des Feudalsystem, die Entstehung eines Bürgertums, Vorstellungen von Zeit und Raum sowie die durch Georges Dubys Buch bekannt gewordenen drei Ordnungen. Die grundlegende narrative Opposition ist folglich in beiden Erzählungen dieselbe: Durch die Geburt einer neuen, intermediären, Kategorie wird eine binäre Struktur zu einer ternären.

26

„Depourvues des pouvoirs du delire litteraire qui tourmentent certaines visions de l'au-delä, Γ architecture, la sculpture et la peinture assurent au Purgatoire les seductions de la vision directe, parachevent le triomphe de sa localisation, de sa materiality de son contenu" (S. 481).

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So beginnt der zweite Teil („Le ΧΙΓ siecle: naissance du Purgatoire") mit einem mentalitäten- und sozialgeschichtlichen Tableau des zwölften Jahrhunderts (S. 177-180). Entscheidend ist der Hinweis auf die neue Gesellschaftsordnung, welche die Menschen in einen betenden, einen Krieg führenden und (als Neuheit) einen arbeitenden Stand einordnet. Über das Fegefeuer heißt es: „Enfin, comme le phenomene me semble exprimer une grande mutation de la societe, j'analyserai la fa?on dont le Purgatoire prend place dans cet accouchement d'une societe nouvelle" (S. 180). An anderer Stelle nennt Le GofF die Verdrängung binärer Schemata ein wesentliches Charakteristikum des Übergangs vom frühen zum hohen Mittelalter (S. 304f.). Ein sehr allgemeines Dreierschema findet sich in der Unterteilung in maiores, mediocres und minores (S. 305f.). Die Analogie zwischen verschiedenen Dreierordnungen geht so weit, dass beispielsweise auf das Bürgertum zutrifft, was auch für das Fegefeuer gilt: Als mittleres Element liegt dieses nicht auf der exakten Mitte zwischen und Hölle und Paradies, und jenes steht nicht exakt zwischen den Großen (Laien und Geistliche) und den Kleinen (Städtische und Landarbeiter), sie können paktieren. Denn bei der ,neuen Mitte' des hohen Mittelalters handelt es sich um ein „intermediäre decentre" (S. 304). Damit ist weder ein sozialgeschichtlicher noch ein ideengeschichtlicher Determinismus angesprochen. Die verschiedenen Lebensbereiche, in denen sich die Entstehung der Dreierschemata zeigt, stehen 'gleichberechtigt' nebeneinander als Phänomene, an denen ein abstrakter Mentalitätenwandel allererst sichtbar wird 27 . Damit wird deutlich, dass Le GofF der Geschichte des Fegefeuers jene Funktion zugesteht, die Le Roy 27

„Que Ton m'entende. D serait absurde de dire que la bourgeoisie a cree le Purgatoire ou que le Purgatoire decoule d'une fafon ou d'une autre de la bourgeoisie ä supposer qu'une bourgeoisie existe alors. Ce que je propose comme hypothese, comme lecture de la naissance du Purgatoire, c'est qu'elle fait partie d'un ensemble lie ä la transformation de la Chretiente feodale dont une expression essentielle a ete la creation de schemas logiques temaires avec introduction d'une categorie intermediate. Le modele s'ancre solidement dans des structures socio-economiques, c'est pour moi certain. Mais il me paralt non moins assure que la mediation des structures mentales, ideologiques et religieuses est essentielle au fonctionnement du systeme. De ce systeme le Purgatoire η'est pas un produit, mais un element." (S. 306 f., Hervorhebung A.R.); „Le Purgatoire est un element de cette expansion dans l'imaginaire social, dans la geographie de l'au-delä, dans la certitude religieuse. Une piece du systeme. C'est une conquete du Xlle siecle." (S. 179); „Enfin, comme le phenomene me semble exprimer une grande mutation de la societe, j'analyserai la fa?on dont le Purgatoire prend place dans cet accouchement d'une societe nouvelle." (S. 180, Hervorhebung A.R.).

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Ladurie und Duby bestimmten Ereignissen zugestehen, nämlich diejenige 28

eines evenenemt revelateur, ja eines redt revelateur . Einmal mehr zeigt sich, dass sich die Historiographie stets in einem hierarchisch gestaffelten Netz von Erzählungen bewegt, welche zeichenhaft aufeinander verweisen können. Ein Beispiel dafür liefert die historiographische Rede vom Wandel des Adjektivs purgatorius zum Substantiv purgatorium. Es handelt sich um nichts anderes als eine weitere - wenn auch minimale - sprachgeschichtliche Erzählung, an der sich wiederum eine tiefer liegende, abstrak29 tere historische Veränderung ablesen lässt . Dieses Analogieverhältnis ist wohlgemerkt nicht mit Kausalität zu verwechseln. Die Geschichte des Fegefeuers steht im Kontext einer allgemeineren Geschichte des Denkens, sie ist aber nicht durch diese determiniert. f) Ereignisse, Subjekte und Aktanten Eine der Ausgangsthesen dieser Textanalyse besagte (in Übereinstimmung mit Carrard), dass sich historischer Wandel in stage narratives nicht durch plötzliche, kurze Ereignisse erklären lässt. Dennoch erklärt eine Erzählung, umfasse sie noch so viele Jahrhunderte, Wandel durch die Benennung von Ereignissen. Ereignisse wiederum brauchen Aktanten und Subjekte, agierende und erleidende. Im folgenden soll es um die Frage gehen, welchen Entitäten dieser Status in der Geschichte des Fegefeuers zukommt. Bereits in seiner Einleitung weist Le Goff anlässlich der wortgeschichtlichen Problematik darauf hin, dass auch eine longue duree auf Daten angewiesen sei, andernfalls entbehre sie einer konstitutiven Eigenschaft aller Geschichte, der Chronologie: Certes on ne date pas une croyance comme un evenement, mais il faut repousser l'idee que l'histoire de la longue duree soit une histoire sans dates. Un phenomene lent comme la croyance au purgatoire stagne, palpite pendant des siecles, demeure 28

Dass es zwischen den beiden Begriffen keinen wirklichen Unterschied geben kann, erklärt sich schon allein durch die Tatsache, dass das hierarchisch höchste Ereignis nach Lotman zugleich die kürzestmögliche Zusammenfassung einer Erzählung dar29 stellt. Vgl. S. 307: „Le lecteur sera peut-etre aussi sceptique ä l'egard de l'importance que j'attache dans cette histoire ä quelques faibles changements de vocabulaire. Purgatoire d'adjectif devient substantia une locution adverbiale (non valde) est remplacee par une autre (mediocriter) et dans les deux cas j'y vois le signe de changements profonds. Je crois en effet que les changements linguistiques faibles s'ils se situent ä des endroits strategiques du discours sont le signe de phenomenes importants" (Hervorhebungen A.R.).

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dans des angles morts du courant de l'histoire, puis, soudain ou presque, est entraine dans la masse du flot non pour s'y perdre mais au contraire pour y emerger et pour temoigner. (S. 13, Hervorhebung A.R.)

Dieser programmatischen Aussage und insbesondere den Verben „emerger" und „temoigner" lässt sich die Überzeugung Le Goffs entnehmen, dass die Benennung von Daten (wenn nicht von Ereignissen) in der longue duwe eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, dass Geschichte überhaupt erst sichtbar und damit auch nachvollziehbar wird. Le Le Goffs Ausführungen lassen aber zugleich vermuten, dass Ereignisse in einer longue ift/ree-Erzählung eine Funktion besitzen, die sie in einer traditionellen Ereignisgeschichte nicht haben. In dieser sind die ,kurzen' Ereignisse selbst der Stoff der Geschichte, ihre Verkettung durch eine Erzählung ist die Geschichte. In jener müssen sie eme verborgene, langsamere Geschichte, ζ. B. diejenige kollektiver Vorstellungen, sichtbar machen. Im folgenden soll es um die Frage gehen, mittels welcher Schreibstrategien diese Sichtbarmachung realisiert wird. Betrachten wir zunächst einige Entwicklungen, denen Le Goff explizit einen ereignishaften Charakter zuspricht. Dies ist - sowohl im Haupttext als auch im Anhang - der Fall für den Übergang vom Adjektiv purgatorius zum Substantiv purgatorium30, und das, obwohl die auf dieses sprachliche Phänomen hin untersuchten Texte einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abdecken: Le fait essentiel est Γ apparition dans la seconde moitie du Χ1Γ siecle ä cote de l'adjectif purgatorius, a, um, du substantif purgatorium. Curieusement cet evenement linguistique qui me parait un signe d'une evolution capitale des croyances concernant l'au-delä, a echappe aux historiens du Purgatoire ou a peu retenu leur attention. (S. 489)

Ein weiteres Beispiel, der an die griechisch-orthodoxe Kirche gerichtete offizielle Brief von Papst Innozenz IV., „l'acte de naissance doctrinal du Purgatoire comme lieu" (S. 380). Angesichts einer Erzählung, deren zentrales und titelgebendes Ereignis die Geburt des Fegefeuers darstellt, ist es wohl in der Tat nicht übertrieben, in besagtem Dokument eine bedeutende Station des Erzählstrangs Doktrinäre Entwicklung des Fegefeuers' zu erblicken. Mit dem oben zitierten Satz endet das Unterkapitel „Premiere 30

„Le fait essentiel est l'apparition dans la seconde moitie du XUe siecle ä cöte de Γ adject if purgatorius, a, um, du substantif purgatorium Curieusement cet evenement linguistique qui me parait un signe d'une evolution capitale des croyances concemant l'au-delä, a echappe aux historiens du Purgatoire ou a peu retenu leur attention" (S. 489).

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definition pontificate du Purgatoire". Der erste Satz des anschließenden Unterkapitels lautet: „Un nouveau pas fut franchi par le second concile de Lyon en 1274" (ebd.). Damit ist der den Griechen oktroyierte, angeblich kompromisshafte Text Gregors X. gemeint. Wiederum ein Unterkapitel weiter heißt es über dieses Dokument: „C'est la premiere proclamation de la croyance au processus purgatoire, sinon au Purgatoire, comme dogme" (S. 383). Es sei angemerkt, dass zwischen den beiden Daten immerhin zwanzig Jahre und drei Päpste liegen. An anderer Stelle wird die Institutionalisierung des Dogmas in einem einzigen Satz als ein fast 300 Jahre dauernder Prozess dargestellt31. Es herrscht hier ganz offensichtlich ein Widerspruch zwischen den verschiedenen Textebenen. Im discours werden, mitunter metaphorisch wie im oben zitierten Fall, Ereignisse als wichtige Einschnitte hervorgehoben, was auf histoire-Ebem aber wieder relativiert wird. Denn dort gibt es in Wirklichkeit nur einen Prozess der Etablierung des Fegefeuers in seinen verschiedenen Dimensionen, einen Prozess, der sich in der Tat langsam und ohne wirklich ereignishafte, punktuelle Einschnitte voranbewegt. Und doch sind es die oberflächlichen' Ereignisse der Kirchengeschichte, die nicht weniger als die Wortgeschichte die Etablierung der Idee erst sichtbar, das heißt: verstehbar machen. Dieser Widerspruch kann nur ein Effekt der doppelten Definition des Ereignisses sein. Hier die Vorstellung, nach der Ereignisse kurz und punktuell sind, dort die Definition des Ereignisses als erzähllogische Kategorie der Veränderung, ohne die Erzählungen weder in der kurzen noch in der langen Dauer existieren können. Ein Text, der äußerst detailliert die Entwicklung einer Idee anhand von Texten über fast ein Jahrtausend rekonstruiert, steht vielleicht per deflnitionem in einer Spannung zwischen Prozesshaftigkeit und - dies wohl auch eine Forderung der Lesbarkeit - Ereignishaftigkeit. Prozess und Ereignis stehen dabei in einem proportionalen Verhältnis zueinander. In der Geschichte eines Krieges, einer Revolution oder einer historischen Biographie können Ereignisse auf Minuten, Stunden, Tage oder Wochen begrenzt sein - nicht so in der longue duree. Hier können zentrale Grenzüberschreitungen einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen, die im Modus des telling dennoch Ereignischarakter erhalten. Die minutiöse Lektüre der verschiedenen Texte hingegen entspräche tendenziell dem Modus des showing. Auf der vordergründigsten Ebene ist schließlich auch das dem Text zugrundeliegende 31

„Quand les peres conciliaires de Lyon Π (1274), de Florence (1438), de Trente (1563) institutionnaliseront le Purgatoire, ils tendront eux aussi ä maintenir hors des dogmes, des verites de foi [...] tout l'imaginaire du Purgatoire" (S. 117).

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Dreiphasen-Modell nichts anderes als eine Form des telling, eine extrem geraffle Erzählung, die Dantos narrativem Minimalschema32 entspricht: tl: Das Subjekt Jenseits ist binär strukturiert. t2: Ein Ereignis tritt ein: die Vorstellung des Fegefeuers wird geboren. t3: Das Subjekt Jenseits ist ternär strukturiert. Wie bereits erwähnt, erzählt La naissctnce du Purgatoire aber zwei nicht voneinander zu trennende Geschichten, die des Fegefeuers und die des Jenseits. Im obigen Schema ist das Fegefeuer nicht das Subjekt der Veränderung (welches hier das Jenseits ist), sondern das Veränderung induzierende Ereignis. Das Fegefeuer ist aber selbstverständlich auch als Subjekt der Veränderung denkbar: tl: Das Subjekt Fegefeuer ist nicht existent. t2. Ereignis: das Fegefeuer wird geboren (bzw. erfunden). t3: Das Fegefeuer existiert und triumphiert. Das Fegefeuer besitzt in La naissance du Purgatoire also eine doppelte Funktion. Im ersten Schema ist es ein Ereignis, im zweiten das Subjekt der Veränderung. Das Ereignis im zweiten Schema birgt allerdings ein nicht unwesentliches Problem: Es erfordert Aktanten, welche die Idee des Fegefeuers weiterentwickeln, verbreiten, als Dogma festschreiben, und letztendlich auch daran glauben und ihm so seinen Erfolg bescheren. Die Benennung dieser Aktanten in der longue duree erweist sich aber als ein nicht geringes Problem, denn beim Fegefeuer handelt es sich ja um ein prozesshaftes ,kollektives' Mentalitäten-Projekt, dessen Erfolg nicht von den individuellen Gedanken oder Handlungen einzelner Menschen abhängt. Dies trifft umso stärker auf eine Mentalitätengeschichte zu, die dem Voluntarismus der traditionellen' Geistesgeschichte abgeschworen hat. Die folgenden Zitate mögen einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Aktanten vermitteln, die an der Geburt des Fegefeuers auf die ein oder andere Weise aktiv teilhaben (alle Hervorhebungen: A.R.): Le Purgatoire medieval reutilise des motifs mis en circulation en des temps tres anciens: tenebres, feu, tortures, pont de l'epreuve et du passage, montagne, fleuve, etc., et a refuse finalement des elements qu'il a failli accueillir: päturages, errance, ou rejete d'entree de jeu: reincarnations, metempsycose. (S. 31)

32

t = Zeitpunkt. Vgl. Danto: Analytical Philosophy, S. 236.

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Ce n'est guere qu'ä travers le theme des descentes aux enfers que / Antiquite grecque et rontaine a apporte quelque chose ä l'imagerie chretienne de l'au-delä. (S. 36) II appartenait ä Augustin qui a marque d'une empreinte si profonde le christianisme et qui a ete probablement la plus grande .autorite' du Moyen Äge d'apporter au dossier du futur Purgatoire des elements capitaux. (S. 92) Le ΧΙΓ siecle, comme en beaucoup de domaines, va accelerer Purgatoire comme lieu ne naitra qu'ä la fin. (S. 183)

les choses; le

H semble qu'en ce moment decisif pour le Purgatoire naissant la chretiente latine, qui hesite ä le trouver en Irlande ou en Sicile, hesite aussi ä en faire un lieu pres de l'Enfer ou pres du Paradis... (S. 278f.) On voit que ce modele [maiores, mediocres, minores] - dans son utilisation sociologique - n'est pas moins important que celui des trois ordres. Celui-ci a cree le Tiers Etat, celui-lä les classes moyennes. (S. 306)

Die Liste der Beispiele ließe sich problemlos verlängern. Kirchenväter, eine Glaubensgemeinschaft, Epochen, Jahrhunderte, Vorstellungsschemata und nicht zuletzt das Fegefeuer selbst treten als grammatische Subjekte auf und verweisen darauf, wie schwierig es ist, die ,Urheber' des Jahrhunderte langen Entstehungsprozesses einer kollektiven Vorstellung zu benennen. Doch die Lesbarkeit einer historischen Erzählung verlangt eben nicht nur nach Ereignissen, sondern auch nach der Benennung deijenigen, die diesen Prozess vorantreiben. Auf der Ebene der doktrinären Entwicklung ist dieses Problem sicherlich noch am geringsten, besonders einflussreiche Autoren lassen sich beim Namen nennen. Epochen oder Jahrhunderte, begriffen als ,resümierende' Aktanten, stehen sicherlich in einem proportionalen Verhältnis zur longue duree der angesprochenen Entwicklungen, sie bergen aber nichtsdestoweniger ein sehr großes Differenzierungspotential ,nach unten'. Es handelt sich auch hier um jene grundsätzliche Spannung, in der ein Text der longue duree steht. So verweist der Titel des Buchs in metaphorischer Verdichtung auf ein Ereignis, doch der Text selbst belegt, dass sich dieses Ereignis sowohl syntagmatisch-chronologisch als auch paradigmatisch (damit sind die verschiedenen Aspekte des Fegefeuers gemeint) ausdifferenzieren lässt. g) Metaphorik Einen nicht unerheblichen Anteil an der Kohärenz des Textes hat auch die Metaphorik. Sie ist zudem das Textmerkmal, das - angefangen beim Titel - dem Leser als erstes ins Auge springt. Das Fegefeuer wird ,geboren', es verfugt über zwei ,Geburtsurkunden' (eine literarische und eine dogmati-

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sehe; S. 246/380), und es hat ,Väter' - wahre und falsche: Caesarius von Arles etwa ist ein , falscher' Vater, während Gregor der Große und vor allem Augustinus .richtige' Väter des Fegefeuers sind. Die Existenz gleich zweier Väter des Fegefeuers weist schon darauf hin, dass man die Metapher der Vaterschaft nicht überinterpretieren sollte. Es handelt sich bei lehnen ja um nichts anderes als um Autoren von Texten, in denen Hinweise auf die spätere Logik des Fegefeuers zu finden sind. Es ist gleichwohl nicht von der Hand zu weisen, dass es im ersten der drei Teile von La naissance du Purgatoire eine metaphorische Isotopie des Klassems33 Verwandtschaft' bzw. ,Erbschaft' gibt. Nun haben Isotopien einen nicht unwesentlichen Anteil an der Kohärenz eines Textes, daher sollen sie hier eingehender betrachtet werden: Au Purgatoire - comme ä l'enfer - le sheol leguera la notion de tenebres [...]. (S. 44) Si le sheol est redoutable. il n'apparait pourtant pas comme un lieu de torture. On y trouve toutefois trois types de chätiments speciaux: le lit de vermines, qu'on ne retrouvera pas dans l'Enfer et le Purgatoire Chretiens ä moins qu'on ne veuille y voir les ancetres des serpents infernaux, ce qui ne me parait pas etre le cas, la soif et le feu. (S. 46) Auparavant je me contente de reperer des heritages d'idees et d'images. (S. 49) Les fondements de leur [Clemens von Alexandria und Origenes] doctrine viennent d'une part de l'heritage de certains courants philosophiques et religieux grecs pai'ens et, de l'autre, d'une reflexion originale sur la Bible et l'eschatologie judeo-chretienne. (S. 80) C'est ce melange de certitude et de mefiance qu'Augustin propose et legue au Moyen Äge. (S. 118)

Le GofF betreibt die Rekonstruktion der Idee des Fegefeuers zunächst also auf eine genealogische Weise, und zwar im ganz herkömmlichen Sinne von ,Ahnenforschung4. Die Verwandtschafts- und Familienmetaphorik bezieht sich bald auf Autoren, bald auf Texte und Motive. Im zweiten Teil, in dem es um die aktive Ausgestaltung des Fegefeuers durch diverse Autoren geht, finden sich keine Metaphern dieses Klassems mehr. Die Wahl der Metaphern scheint alles andere als zufallig zu sein. Solche .Vererbungen' (seien sie nun genetischer oder materieller Art) setzen voraus, dass die (genetische oder Vermögens-) Ausstattung der Person, um die es geht, bekannt ist. Mit anderen Worten: Die Kenntnis dessen, was das .fertige' Fegefeuer ausmacht, ist die Voraussetzung für die Geschichte, die Le Goff dem Leser

33

Vgl. A.J. Greimas, Semantique structurale, Paris 1966.

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präsentiert. Die Metaphern aus den Bereichen ,Adoleszenz', ..Verwandtschaft' und ,Erbschaft' entsprechen somit dem, was Alexander Demandt in seinen Ausführungen zu den „organischen Entwicklungs-Metaphern" die „paradigmatische Wesensbestimmung" genannt und von der substantialistischen „idealistischen Wesensbestimmung" bei Herder, Humboldt und Ranke abgegrenzt hat: „Eine paradigmatische Wesensbestimmung liegt vor, wo ein Moment der völligen Verwirklichung angenommen und darin Erscheinung und Wesen identifiziert werden"34. Der Zustand der völligen Verwirklichimg, das betont Le Goff immer wieder, ist mit Dante erreicht. Er ist der Dichter, der dem Fegefeuer zum Triumph verhilft. Dieser aber ist nichts anderes als jener Augenblick, der gemeinhin in einer der Pflanzenwelt entliehenen Metaphorik die ,Blüte' genannt wird35. Da La naissance du Purgatoire nicht dem Schema ,Aufstieg und Fall' folgt, ist dieser Zustand zugleich der Endpunkt der Geschichte, von dem aus die Erzählung erst ihren Sinn erhält36. Sie ist der Endpunkt, der vorab bereits feststand. Nun besitzt die individuelle Entwicklung vom Samenkorn zur Blüte (oder auch des Menschen von der befruchteten Eizelle bis zum Erwachsenen) in der Natur eine zwingende Notwendigkeit, da sie ja beobachtbaren empirischen Gesetzen folgt3 . Anders verhält es sich mit der Notwendigkeit in einer Erzählung. Dort ist sie nicht denkbar ohne den Begriff der Wahrscheinlichkeit. Le Goff trägt dem Rechnung, indem er eben nicht mehr wie Burckhardt von einer Blüte spricht, sondern von einer Geburt und einem Triumph. Für den Text als ganzen erfüllt die metaphorische Isotopie die Funktion, mittels der Anlehnung an eine menschliche Biographie zur Kohärenz des Erzählten beizutragen. Einmal, indem sie die Kontingenz des Anfangs kaschiert. Der Anfang einer jeden Erzählung ist ja eine Setzung, die nur durch eine weitere Erzählung plausibel gemacht werden könnte, nicht 34

37

Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 117. Demandt verweist in diesem Zusammenhang auf Burckhardt, einen Vertreter der .traditionellen' Geistes- und Ideengeschichte, der in seiner Metaphorik auf solche Pflanzen zurückgreift, deren Namen von ihrer Blüte hergeleitet werden, wie z.B. das Gänseblümchen: „Demgemäß können wir bei einem historischen Gegenstand metaphorisch von Blüte sprechen, sobald seine begrifflich notwendigen Merkmale vollzählig vorhanden sind" (ebd.). Aries' L 'homme devant la mort ist hingegen dem umgekehrten Schema des Verfalls verpflichtet: Die Menschen des Mittelalters waren noch in der Lage, den Tod in das Leben zu integrieren. Diese Fähigkeit geht im Laufe der Geschichte verloren, die Menschen der Moderne fürchten und verdrängen den Tod nur noch. Ebd., S. 119.

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aber durch die Erzählung, um deren Beginn es sich handelt. Würde man versuchen, jeden Beginn einer Erzählung durch einen weitere Erzählung zu begründen, käme es theoretisch zu einer unendlichen Abschweifung, deren Sinn darin bestünde, die Grundvoraussetzung jeder vorangegangenen Erzählung zu plausibilisieren. Erzählen heißt eben auch: einfach irgendwo anfangen (eine Tatsache, die nirgends deutlicher zum Ausdruck kommt als in der Formel „es war einmal"). Die Biographie eines Menschen beginnt mit seiner Geburt. Warum, an welchem Ort und von welchen Eltern er geboren wird, ist recht beliebig. Die Geburt ist die Kontingenz eines Anfangs, die wir alle aufgrund einschlägiger Erfahrungen bedenkenlos zu akzeptieren bereit sind. Welche Metapher würde sich also besser eignen, eine Geschichte plausibel zu machen? Es handelt sich um die ,Biographie' einer Idee. Demandt weist darauf hin, dass sich Natur und Geschichte dadurch unterscheiden, dass jene Gesetzen folgt, während diese es mit Motiven und Absichten zu tun hat, die sich unter kein Gesetz subsumieren lassen - eine Erkenntnis, die beispielsweise noch in Burckhardts BlütenMetaphorik nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Denn diese suggeriert eine naturgesetzliche Folgerichtigkeit im Sinne eines 38

,,völlige[n] Sichverwirklichen[s]" . Anders bei Le Goff: Wie ein künstlicher Mensch wird das Fegefeuer von seinen Vätern in einem rigiden Erziehungs- und Schöpfungsprozess geformt. In einigen Sätzen wird es gar zum grammatischen Subjekt und agiert selbst, selektiert, verwirft und nimmt auf. Die Notwendigkeit seiner Entwicklung unterscheidet sich damit nicht mehr von der erzählten Biographie eines Menschen. Le Goff spricht von einem dossier, was sich am zutreffendsten mit Personalakte' übersetzen ließe. Die Genealogie entpuppt sich also letztendlich als eine (biographische) Erzählung, wie Le Goff selbst eingesteht zu Beginn seines Überblicks über „les au-delä avant le Purgatoire": Enfin mettre en lumiere ces heritages et ces tris c'est manifester que les rapports entre le Purgatoire chretien et les imaginaires anterieurs de Γ au-delä sont ceux d'une histoire, non d'une genealogie. Le Purgatoire n'a pas ete engendre automatiquement par une serie de croyances et d'images - füt-elle diachronique il est le resultat d'une histoire oü se melent la necessite et les hasards. (S. 31 f.)

Mit „necessite" und „hasards" nennt Le Goff selbst zwei zentrale narrative Komponenten, die ein emplotment oder eine concordance discordante miteinander zu verschmelzen haben, um die Geschichte annehmbar zu 38

Ebd., S. 117. Die Gleichsetzung von ,Blüte' und ,sich verwirklichen' stammt von Burckhardt selbst (Weltgeschichtliche Betrachtungen).

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machen. Gleichwohl ist die Plausibilität der Le Goffschen Geschichte vom Jenseits aber eingestandenermaßen nur diejenige einer Erzählung. Denn am Ende des Buchs gesteht der Historiker ein, dass unter Berücksichtigung eines anderen Aspekts als demjenigen des Intermediären womöglich eine andere Geschichte entstanden wäre, die wiederum ihre eigene Plausibilität besessen hätte: Au moment de terminer ce livre oü j 'ai essaye de montrer et d'expliquer la formation du systeme de l'au-delä chretien entre le IVe et le XTVe siecle, systeme ideologique et imaginaire, une inquietude me saisit. Mon propos a ete de suggerer que dans ce systeme la place maitresse fut l'element intermediaire, ephemere, fragile et pourtant essentiel, le Purgatoire, qui s'est fait sa place entre le Paradis et l'Enfer. Mais est-ce la verite du systeme? (S. 484)

h) Dante, ein Individuum in der longue duree Abschließend lässt sich sagen, dass eine Vielzahl von Verfahren die Kohärenz des Textes gewährleisten. Die Gliederung in drei Phasen ist nicht nur übersichtlich, sondern entspricht auch paradigmatisch dem Schema einer Erklärung durch Erzählung. Dass Dante das Ende und den nicht mehr überbietbaren Triumph des Fegefeuers darstellt, wird von vornherein klargestellt. Prolepsen sorgen zudem dafür, dass dieser Fluchtpunkt auch in Detailfragen des Fegefeuers nie aus dem Bewusstsein des Lesers verschwindet. Da sich Le Goff ausschließlich auf Texte als Quellen stützt und diese historisch aufeinander bezieht, ist es gerechtfertigt, von einer Rezeptionsgeschichte im besten Sinne des Wortes reden. Die Metaphorik unterstreicht diese Rekonstruktionsmethode auch auf der Ebene des discours. Die Geschichte des Fegefeuers ist zudem zeichenhafter Ausdruck einer hierarchisch höheren Geschichte, deijenigen des ternären Denkens im hohen Mittelalter. Beiden Erzählungen liegt dieselbe Basisopposition zugrunde: binär vs. ternär. Insofern sich das System des Fegefeuers nicht als Verwirklichung der Intentionen einzelner Autoren verstehen lässt, ist Le Goffs Mentalitätengeschichte auch ein Musterbeispiel für eine Erklärung durch Erzählung, wie Hermann Lübbe sie einmal definiert hat: Einer historischen Erklärung ist bedürftig, was weder handlungsrational noch systemfunktional erklärt werden kann, und auch aus kausalen oder statistischen Ereignisfolge-Regeln nicht ableitbar ist. Die historische Erklärung in dieser Charakteristik

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erklärt weder durch Rekurs auf Sinn, noch erklärt sie nomologisch. Sie erklärt, was sie erklärt, durch Erzählen einer Geschichte .

Der Begriff des stage narrative bleibt in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen prekär. Texte dieses Prototyps beinhalten zwar in der Tat keine plötzlichen, ,kurzen' Ereignisse, nichtsdestoweniger bleiben sie auf Ereignishaftigkeit angewiesen. Daher kann auch die Behauptung entschieden zurückgewiesen werden, stage narratives besäßen prinzipiell kein emplotment, sondern ließen einfach Phasen aufeinander folgen, ohne den Wandel dazwischen zu erklären. Es handelt sich bei ihnen letztendlich um eine sehr traditionelle Art der Erzählung, mit der Einschränkung, dass lange Zeitspannen durch Metaphern (,Geburt') und resümierende Berichte {telling) zu Ereignissen verdichtet werden. Dadurch bleibt eine gewisse Proportionalität zwischen den einzelnen Ereignissen und der longue duree gewahrt - ein Paradox, das in der Formel von der „lente mais essentielle revolution mentale" (S. 10) zum Ausdruck kommt. Die lange Geschichte des Fegefeuers begann mit anonymen Texten aus der Antike, sie setzte sich fort mit einer äußerst detaillierten Suche nach einzelnen Mosaikstückchen in Texten der Spätantike und des Frühmittelalters. Die Entwicklung des theologischen Fegefeuer-Systems im zwölften Jahrhundert war ein Kollektivprojekt zahlreicher Gelehrter. Die Vielfalt der grammatischen Subjekte, die als Handlungsträger auftreten, verdeutlicht zudem, wie problematisch die Erklärung von historischem Wandel in der longue duree ist. Und doch finden wir uns am Ende auf eine bestimmte Weise wieder auf der Ebene der menschlichen Akteure. Ein einzelner Mensch, Dante, ist das Genie, in dem die Geschichte des Fegefeuers letztendlich gipfelt. Mit dem Unterkapitel zum Dichter der Commedia endet die Geschichte des Fegefeuers, es folgt nur noch eine Art Epilog („La raison du Purgatoire"). Die UnVerhältnismäßigkeit der Maßstäbe (hier die Geschichte einer kollektiven Vorstellung, dort die Entscheidung eines einzelnen Menschen, einen dichterischen Entwurf des Jenseits niederzuschreiben) ist auffallig groß. Le Goff hätte es ja auch dabei belassen können, die Bedeutung des Textes der Divina Commedia hervorzuheben, so aber stellt sich die Frage nach dem ,Warum' dieses Stilmittels. In seiner Analyse von Braudels Mediterranee fragt Paul Ricoeur, warum die ,lange' Geschichte des Mittelmeers mit einem in ihrer Perspektive eigentlich unbedeutenden Vor-

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Hermann Lübbe: „Was heißt: ,Das kann man nur historisch erklären'?", in: Geschichte-Ereignis und Erzählung, S. 544.

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fall abgeschlossen werden muss, dem Tod Philipps II.40. Eine Antwort kann auch er nicht bieten, wohl aber eine Vermutung: [L]a mort revele un destin individuel qui ne s'inscrit pas exactement dans la trame d'une explication dont les mesures ne sont pas celles du temps mortel. Et sans la mort qui tranche ce destin, saurions-nous encore que l'histoire est celle des hommes ?

In Analogie zu dieser These ließe sich über La naissance du Pargcttoire sagen, dass auch eine Idee, um triumphieren zu können, immer noch der Menschen bedarf, die sie aufnehmen, weiter entwickeln und zum Teil ihres Denkens machen. Der letzte der drei Triumphe ist damit keine Metapher mehr, sondern wird zum veritablen, wenn auch rezeptionsgeschichtlichretrospektiven Triumph eines Menschen. In der Person Dantes wird die recht abstrakte Geschichte einer Vorstellung auf geradezu allegorische Art und Weise konkret. Das bedeutet aber auch: Die Entmetaphorisierung des Triumphs wird erkauft durch eine neue Allegorisierung, diejenige des Menschen und Dichters Dante.

ΔΟ

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Ricoeur: Temps et recit, Bd. 1, S. 287-304. Ebd., S. 298.

4. Zur Bedeutung der Vorstellungskraft in der Historiographie: Natalie Zemon Davis, The Return of Martin Guerre a) Mikrohistorie: Geschichte oder Geschichten? The Return of Martin Guerrex von Natalie Zemon Davis ist ein Beispiel für den Einfluss des Mentalitäten-Konzepts bis in die Vereinigten Staaten. Die Verbindung der amerikanischen Historikerin zu den Annales hat eine institutionelle Grundlage: Davis lehrte an der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und trat in den neunziger Jahren durch einige Veröffentlichungen zur ^»«a/ei-Geschichtsschreibung hervor 2 . Die Erzählung jener auch heute noch unerhört wirkenden Vorgänge um das Ehepaar Guerre aus dem französischen Pyrenäenvorland steht im Kontext der sogenannten Mikrogeschichte 3 , die in den siebziger Jahren einen regelrechten Boom erlebte. Als Auslöser dieses Trends darf der auch in Davis' Text mehrmals genannte Emmanuel Le Roy Ladurie gelten 4 . Sein Montaillou, village occitan de 1294 a 1324 aus dem Jahre 1975 ist das meistverkaufte Buch, das ein Annales-YHstoriker jemals geschrieben hat5. Was weniger auf

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Natalie Zemon Davis: The Return of Martin Guerre, Cambridge, Massachusetts/ London 1983. Auf französisch ist das Buch sogar ein Jahr früher erschienen, in einer Ausgabe zusammen mit einer Erzählung des Drehbuch-Autors Jean-Claude Carriere und des Filmregisseurs Daniel Vigne (Le retour de Martin Guerre, Paris 1982). Dennoch handelt es sich bei der französischen Ausgabe um eine Übersetzung aus dem Amerikanischen. Titel des Films: Le retour de Martin Guerre (1982). Regie: Daniel Vigne. Verleih: Concorde. Vgl. Raphael: Erben, S. 38, 386, 500. Zur Mikrogeschichte siehe Hans Medick (Hg.): Mikro-Historie. Neue Pfade der Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Michael Maurer: „Geschichte und Geschichten. Anmerkungen zum publizistischen und wissenschaftlichen Ort der neueren .histoire scandaleuse'", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 674-689, hier: S. 687. Allein bis 1989 wurden 188.540 Exemplare verkauft (Carrard: Poetics, S. 136.). Aus zwei Gründen habe ich mich gegen eine Analyse von Montaillou entschieden: Erstens ist der Text - obwohl er als Paradebeispiel einer ,Rückkehr des Erzählens' gilt - ähnlich den Paysans de Languedoc nach der Art eines Tableau organisiert, und nicht, wie oft behauptet, nach derjenigen einer Erzählung (vgl. ζ. B. Dominick LaCapra: History and Criticism, Ithaca/London 1985, S. 106). Zweitens eignet sich Le retour de Martin de Guerre besser als Montaillou, um zum Abschluss dieser Arbeit die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von fiktionalen und historischen Erzählungen zu beleuchten. Le Roy Laduries blinder Fleck besteht darin, dass er die Aussagen der Dorfbevölkerung

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Le Roy Laduries sprachlich eher sprödes Buch zutrifft, gilt umso mehr für die Epigonen: Sie schreiben ihre Bücher erklärtermaßen in der Absicht, den Ansprüchen eines Fachpublikums ebenso gerecht zu werden wie denjenigen emes Laienpublikums. Eine genaue Bestimmung dessen, was Mikrogeschichte eigentlich ausmacht, ist nicht einfach zu finden. Was sich über sie sagen lässt, ist, dass sie sich bevorzugt mit dem Alltag nicht-privilegierter Menschen beschäftigt, der sogenannten ,kleinen Leute'. In den meisten Epochen ist die Quellenlage für diese sozialen Gruppen freilich äußerst dürftig. Bei den Prozessakten und -berichten, auf deren Analyse Le Roy Laduries Montaillou, Carlo Ginzburgs II formaggio e i vermi und Davis' The Return of Martin Guerre fußen, handelt es sich um veritable Glücksfalle - im Allgemeinen ist das Leben der .einfachen' Menschen schlecht dokumentiert. Typische Themen solcher Mikrogeschichten sind Mentalitäten, symbolische Handlungen, Erfahrungen und Lebensweisen, materielle Kultur sowie das Verhältnis der Individuen zu den sozialen Gruppen, denen sie angehören. Iggers betont, das Ziel der Alltags- und Mikrogeschichte sei es, die „qualitativen Aspekte der Lebenserfahrungen zu erfassen"6. Das gilt auch für Natalie Zemon Davis, etwa wenn sie vom self-fashioning der Individuen im 16. Jahrhundert spricht (wenn auch ohne diesen auf Stephen Greenblatt zurückgehenden Begriff näher zu erläutern). Mikrogeschichten sind folglich in aller Regel der Mentalitätengeschichte bzw. der historischen Anthropologie zuzurechnen, jenen beiden bisweilen schwer von einander unterscheidbaren typischen y4««o/e5-Forschungsrichtungen. In der ,mikroskopischen Einzelbetrachtung' ähnelt die Mikrogeschichte in gewissem Sinne Clifford Geertz' thick description1. Insofern darf die Mikrogeschichte als ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Ethnologie auf die Geschichtswissenschaft gelten. Allein, auch wenn Geertz' Konzept durchaus einen Einfluss auf die Geschichtswissenschaft ausgeübt hat, so ist doch auf einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Ethnologie und Geschichte hinzuweisen: Der Historiker findet seinen Gegenstand nur noch in Spuren, während der Eth-

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als unvermittelte ,Originale' behandelt. Tatsächlich sprachen die Bauern - noch dazu unter Androhung von Folter - okzitanisch, die Schreiber aber notierten diese Äußerungen auf Latein. Der problematische Aspekt von Davis' Text besteht hingegen in der großen Bedeutung der Einbildungskraft filr die Rekonstruktion der Geschichte. Damit ist er exakt an jener prekären und mitunter durchlässigen Grenze zu verorten, die die Praxis der Geschichtsschreibung von derjenigen der Fiktion trennt. Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen 21996, S. 76. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973.

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nologe die Möglichkeit der Feldforschung besitzt. Er kann Beobachtungen am lebendigen Objekt anstellen. Mit Blick auf sein Buch II formaggio e i vermi aus dem Jahre 1976 schreibt Carlo Ginzburg in einem später erschienenen Aufsatz: Den Beobachtungsmaßstab zu verkleinem, bedeutete in diesem Falle, in ein ganzes Buch zu verwandeln, was für einen anderen Historiker - in einer hypothetischen Monographie über die protestantische Reformation im Friaul - nur eine einfache Fußnote abgegeben hätte . Nun stellt sich die Frage, ob umgekehrt denn auch etwas von jenen virtuellen großen Monographien in den mikrogeschichtlichen Studien erhalten bleibt - womit wir beim Thema ,Geschichten und Geschichte' wären. Die geschichtswissenschaftliche Orthodoxie verlangt von einer historiographischen Darstellung die Situierung des jeweils untersuchten individuellen Falls in einem größeren historischen Kontext 9 . So wundert es nicht, dass sich mikrohistorische Studien immer wieder dem gleichen Vorwurf ausgesetzt sehen: „Sie behandeln nicht Geschichte, sondern erzählen eine story"w. Mit ,Geschichte' muss hier nicht gleich der Kollektivsingular angesprochen sein, wohl aber ein umfassenderer Entwicklungszusammenhang (Jürgen Kocka), der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitein8

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Carlo Ginzburg: „Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß", in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169-192, hier: S. 181. Vgl. auch: „Die Betrachtung aus der Nähe erlaubt uns, Dinge zu erfassen, die bei einer Gesamtschau verloren gehen, und umgekehrt" (ebd., S. 184). Vgl. die folgende Äußerung des deutschen Sozialhistorikers Jürgen Kocka: „Die Anekdote, die Einzelgeschichte, die liebevoll rekonstruierte Facette haben sicherlich auch in den Darstellungen der Historiker ihren Platz, aber doch nur dann, wenn die Zusammenhänge, in denen sie stehen, mindestens angedeutet werden" (Jürgen Kocka: „Bemerkungen im Anschluß an das Referat von Dietrich Harth", in: Geschichte als Literatur, S. 24-28, hier: S. 26). Maurer: „Geschichte und Geschichten", S. 690. Vgl. auch Iggers: Geschichtswissenschaft, S. 75; Frank R. Ankersmit: „History and Postmodernism", in: History and Theory 28 (1989), S. 137-153, hier S. 148: „The choice no longer falls on the trunk or on the branches, but on the leaves of the tree. Within the postmodernist view of history, the goal is no longer integration, synthesis, and totality, but it is those historical scraps which are the center of attention". Als Beispiele fur eine solche angeblich ,nicht-essentialistische' oder .nominalistische' Geschichtsschreibung führt Ankersmit Le dimanche de Bouvines, Montaillou und eben The Return of Martin Guerre an. Was Dubys Buch betrifft, so dürfte die Analyse in Kapitel 3.1. gezeigt haben, dass es sich dabei durchaus nicht um eine mikrohistorische Studie handelt. - Aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu diesem Thema: Fulda: „Die Texte der Geschichte".

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ander verbindet. Dieser historische Gesamtzusammenhang, so suggeriert das Argument, fungiert hier gleichsam als eine Kontrollinstanz, vor der sich die Glaubwürdigkeit einer jeden historischen Darstellung zu behaupten hat, um nach geschichtswissenschaftlichen Standards als glaubwürdig gelten zu können. Historiker, die über einen individuellen Fall forschen und schreiben, ohne einen Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen, müssen mit dem Vorwurf leben, die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung sei ein rein textimmanentes Phänomen, sie basiere auf einer gelungenen Intrige, wie sie kennzeichnend für den Großteil fiktionaler Erzählungen ist. Gegen dieses Argument ließe sich einerseits einwenden, dass, zumindest wenn man den Theoretikern der historischen Erzählung Glauben schenken möchte, noch der sprödeste Strukturhistoriker zur Herstellung von historischem Sinn auf die Plausibilität einer gelungenen narrativen Synthese angewiesen bleibt. Andererseits ist aber unzweifelhaft, dass historische Dokumente nicht mit lückenlosen Dokumentationen der Vergangenheit zu verwechseln sind. Da sich der Historiker auf ein Wirklichkeitskontinuum bezieht, hat er, im Gegensatz zum Fiktionsautor, stets unter Einsatz seiner Vorstellungskraft Evidenzlücken des gegebenen Materials aufzufüllen und perspektivisch anzuordnen, und dies auf möglichst transparente und nachvollziehbare Weise. Was aber tut ein Historiker, wenn sich die Quellen gegen eine Vereinnahmung mittels narrativer Synthetisierung regelrecht sperren? b) Imaginierte Möglichkeiten The Return of Martin Guerre dreht sich um eine solche Informationslücke. Sie betrifft das Handeln und Denken der Hauptfigur des Geschehens. Diese ist nicht etwa, wie der Titel vermuten ließe, der verschwundene Ehemann Martin Guerre, sondern die verlassene Ehefrau, Bertrande de Rols. Das Interesse an der weiblichen Hauptfigur teilt Davis mit der amerikanischen Autorin Janet Lewis, die ihren historischen Roman aus dem Jahre 1941 unmissverständlich The Wife of Martin Guerreu nannte. Die Geschichte des Martin Guerre liefert, wenn man so will, eine ebenso wahre wie ,unerhörte' Begebenheit mit einer perfekten narrativen Struktur, der es selbst an einer Peripetie und einem deus ex machina nicht mangelt. Geschichtswissenschaftlich gesprochen bietet der Fall ein Parade-Beispiel für „das außerordentliche Normale" (Edoardo Grendi)12 - weder ,typisch' wie die Schlacht von Bouvines bei Duby, noch integrierbar in eine Serie 11

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Janet Lewis: The Wife of Martin Guerre, Athens/Ohio 1967. Zitiert nach Ginzburg: „Mikro-Historie", S. 191.

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ähnlicher Fälle. Das chronologische Grundgerüst des realen Geschehens ist auf der Grundlage der Quellen in seinen Grundzügen problemlos rekonstruierbar: In the 1540s in Languedoc, a rich peasant leaves his wife, child, and property and is not heard from for years; he comes back - or so everyone thinks - but after three or four years of agreeable marriage the wife says she has been tricked by an impostor and brings him to trial. The man almost persuades the court he is Martin Guerre, when at the last moment the true Martin Guerre appears. (S. vii)

Der Fall endet mit dem Todesurteil fur den Betrüger. Diese Intrige liegt allen Bearbeitungen der Ereignisse seit dem 16. Jahrhundert bis zum heutigen Tag zugrunde. Deren Anzahl ist groß und den verschiedensten Genres zuzuordnen: die beiden lehrhaften Erzählungen von Jean de Coras und Guillaume Le Sueur (Davis' wichtigste Quellen), ,wundersame Geschichten', ein historischer Roman, eine prominent besetzte Verfilmung und in jüngerer Zeit selbst ein Musical. Die Plots aber fallen durchaus unterschiedlich aus. Dies liegt vor allem an der Rolle der Bertrande de Rols. Die Tatsache, dass sie immerhin drei Jahre lang Haus und Bett mit einem falschen Ehemann teilte, um anschließend selbst als Klägerin im Prozess gegen diesen aufzutreten, lässt Bertrande eindeutig als das Opfer des Betrügers erscheinen. Dennoch entscheidet sich Davis für eine andere Variante: Obwohl sie von der falschen Identität des ,neuen' Martin wusste, akzeptierte Bertrande de Rols ihn als ihren Ehemann - in der Absicht ein neues Leben zu beginnen13. Das Problem besteht nun darin, dass sich die Quellen nach dem Dafürhalten einiger Kritiker gegen eine solche Interpretation sperren. Davis, so meint ihr engagiertester Kritiker, der amerikanische Historiker Robert Finlay, verwische auf illegitime Weise die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen14. Aus Bertrande werde gewissermaßen eine moderne Feministin avant la lettre, die ihr Leben entschlossen selbst in die Hand nimmt. Diese Interpretation widerspreche allen bisherigen Darstel13

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Der Film, an dem Davis als conseiller historique mitarbeitete, vertritt ebenfalls diese These. In einer der letzten Sequenzen fordert der Richter Coras Bertrande unter vier Augen auf, ihm die Wahrheit zu sagen. Eine Verurteilung habe sie nicht mehr zu filrchten. Daraufhin ,beichtet' ihm Bertrande in einem Monolog die Gefühle, die sie antrieben (wie vorher bereits Arnaud vor Gericht, als er einsieht, dass er das Spiel verloren hat). Damit sind auch die letzten Ungewissheiten aufgelöst. Robert Finlay: „The Refashioning of Martin Guerre", in: American Historical Review 93 (1988), S. 553-571. Im selben Heft erschien eine Erwiderung von Natalie Zemon Davis („,On the lame'"). Vgl. auch Iggers: Geschichtswissenschaft, S. 83; Evans: In Defence of History, S. 245 ff.; Daniel Fabre: „Compte rendu", in: Amiales ESC 14 (1986), S. 708-711.

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lungen des Falls (inklusive der von Davis benutzten Quellen), und es gebe auch keine neuen Quellen, die eine solche These rechtfertigen würden. Davis' programmatische Äußerungen zu Beginn des Buchs geben Aufschluss darüber, wie sie zu ihrer Version des Geschehens kam und warum sie trotz aller Kritik an deren Stichhaltigkeit festhält. Der autobiographische Charakter dieser wenigen Seiten erinnert an eine Erzählung des Forschungsprojekts, wie wir sie bei Le Roy Ladurie bereits kennen gelernt haben. Erstmals aufmerksam auf den Stoff wurde die Historikerin durch die Lektüre der wichtigsten Quelle, des Arrest memorable des selbst am Prozess beteiligten Richters Jean de Coras aus dem Jahre 1561. Etwa zur gleichen Zeit erfuhr Davis vom Filmprojekt des französischen Regisseurs Daniel Vigne, mit dem sie dann auch zusammenarbeitete. Die Dreharbeiten und die Arbeit im Schnittraum erschienen ihr, so Davis im Vorwort zu The Return of Martin Guerre, wie ein „historical laboratory, generating not proofs, but historical possibilities" (S. viii). Der Nachteil des Mediums besteht fur Davis freilich darin, dass sich der fertig geschnittene Film in seinem Zwang zur Eindeutigkeit von den historischen ,Fakten' entfernt und keinen Raum fur ein ,vielleicht' oder ein .möglicherweise' zulässt. Das Prinzip des showing macht es unmöglich, die spekulative Auffüllung von Lücken als solche kenntlich zu machen (die Bewunderung der kinematographischen Möglichkeiten, Geschichte ,lebendig' zu machen, ist Davis' sehr auf konkrete Anschaulichkeit bedachtem Text dennoch stark anzumerken). Die Historikerin umreißt ihre Intention folgendermaßen: I had to return to my original metier; even from location in the Pyrenees I was running off to archives in Foix, Toulouse, and Auch. I would give this arresting tale its first full-scale historical treatment, using every scrap of paper left me by the past. I would figure out why Martin Guerre left his village and where he went, how and why Arnaud du Tilh became an impostor, whether he fooled Bertrande, and why he failed to make it stick. This would tell us new things about sixteenth-century rural society. I would follow the villagers through the criminal courts and explain the judges' changing verdicts. And I would have the rare opportunity to show an event from peasant life being reshaped into a story by men of letters. It turned out to be much more difficult than I had thought - but what a pleasure to recount the story of Martin Guerre once again. (S. ix)

An dieser Passage sind drei Aspekte hervorzuheben: Erstens basiert Davis' Text im wesentlichen auf zwei bereits narrativen Bearbeitungen des Falls, Coras' Arrest memorable und der Admiranda historia von Guillaume Le Sueur („an event from peasant life being reshaped into a story by men of letters"). Hier wird deutlich, dass Geschichte ein kommunikativer Text (Röttgers) ist und vom Wiedererzählen lebt („what a

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pleasure to recount the story of Martin Guerre once again"). Wichtiger für eine Analyse des Textes ist, dass dies die Frage nach der Art und Weise aufwirft, in der Davis das Verhältnis der verschiedenen narrativen Stimmen zueinander gestaltet. Zweitens steht die Psychologie der Hauptfiguren im Zentrum der Aufmerksamkeit, vor allem die der Bertrande de Rols. Anders ist die Ankündigung, die Handlungsmotivationen der Akteure zu ergründen, wohl kaum zu verstehen. Es geht Davis um „the peasants hopes and feelings; the ways in which they experienced the constraints and possibilities in their lives" (S. 1). Drittens spricht die Historikerin einen größeren historischen Kontext an („sixteenth-century rural society"), über den der individuelle Fall Aufschluss ermöglichen soll - was sich auch in jenen Quellen ausdrückt, die sie zur Ergänzung der beiden Hauptquellen heranzieht, die Erlassverzeichnisse des Toulouser Parlaments, Notarsverträge und Regionalarchive. Handelt es sich bei The Return of Martin Guerre also doch um mehr als nur eine „story"? Um zu einer kohärenten Erzählung zu kommen, muss Davis Informationslücken auffüllen. Der zentrale Begriff, der ihrer Rekonstruktion zugrunde liegt, ist denn auch derjenige der Möglichkeiten', wie sie an anderer Stelle erläutert: Faire naitre Γ idee ce qu'un sujet historique ,pourrait avoir pense', ,voulu', ,senti' surtout quand on est bien documente sur le reste de sa vie et sur les modeles qu'elle suit - , ce semble etre une pratique historique legitime, et non pas de la poesie. Attribuer des opinions possibles ä tel individu, un paysan, un artisan, un ouvrier, en se fondant sur une bonne connaissance du groupe dont il fait partie et de ce que ,son type de personnage [...] ferait ou dirait', c'est apparemment jouer du plausible en histoire et de la vraisemblance; c'est prendre le9on de 1'anthropologic sociale, non pas de l'invention poetique. De fait, le possible est un champ qu'histoire et poesie se partagent, mais qu'elles mesurent selon des criteres de discipline differents .

Im Gegensatz zu ihren Kritikern hält Davis den Einsatz ihrer Vorstellungskraft durchaus für legitim: „What I offer you here is in part my invention, but held tightly in check by the voices of the past" (S. 5)16. In dem oben bereits zitierten Aufsatz nennt Davis dieses Vorgehen „l'imagination 15

Natalie Zemon Davis: „Du conte ä l'histoire", in: Le debat 54 (1989), S. 138-143, hier: S. 138. Die Formulierung erinnert auf verblüffende Art und Weise an die Beteuerung des

Erzählers in Balzacs Pere Goriot: ,y4ll is true" - mit dem Unterschied, dass die Vorzeichen verkehrt sind: Hier die Erzählerin ,wahrer' Geschichten, die die Imaginierung von Möglichkeiten betont, dort der fiktive Erzähler, der, ganz im Sinne des literarischen Realismus, Wahrhaftigkeit für eine vollständig imaginierte Geschichte beansprucht.

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systematique du possible", wobei sie sich auf die Bedeutung des lateinischen fingere bezieht: „ce qui est fa^onne, ouvre, cree ä partir d'elements existants. On pourrait appeler cela, plus simplement, faire acte d'auteur (auctorial action)"11. Jeder erzählt so viel er weiß, und der Historiker nur, was er glaubt wissen oder zumindest vermuten zu können - Davis' Äußerung entspricht recht präzise dem in Kapitel 2 dieser Arbeit dargelegten historiographischen Erzählbegriff, wobei die Vorstellungskraft im Falle der Historiographie wohlgemerkt nach den kontrollierbaren Regeln des historischen Diskurses einzusetzen ist. Die nun folgende Analyse orientiert sich an der These, dass die verschiedenen - aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mitunter problematischen - Aspekte des Textes (der Einsatz der Vorstellungskraft zur Auffüllung von Leerstellen, die eher ungewöhnliche Art der Quellenkritik, die Verwendung von Möglichkeitsadverbien und rhetorischen Fragen, das Darstellungsmittel der Fokalisierung und die narrative Stimme) durch einen funktionalen Zusammenhang gekennzeichnet sind: Sie dienen sämtlich der Tilgung von Unerklärbarem respektive nicht in Erfahrung zu Bringendem und stehen somit im Dienst einer auf Vereindeutigung ausgerichteten Neuinterpretation des Falls Martin Guerre. Davis' Motivation, die Geschichte noch einmal zu erzählen, kommt in einer Vielzahl von Fragen zum Ausdruck, die auf der gegebenen Quellengrundlage nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten sind, und die allesamt Variationen einer zentralen Frage (,Warum hat sich diese Geschichte gerade auf diese unglaubliche Weise ereignet?') sind: Warum verließ Martin Guerre sein Dorf? Was motivierte Arnaud du Tilh zur Annahme einer falschen Identität? Warum ist Martin Guerre ausgerechnet in jenem entscheidenden Moment zurückgekommen? Vor allem aber: Welche Rolle spielte Bertrande de Rols? Forschungstechnisch besteht das Problem dieser letzten Frage darin, dass alle überlieferten Bearbeitungen des Falls der Ehefrau die Rolle des Opfers geben. So schlüssig diese Erklärung auch zu sein scheint - sie hinterlässt ungläubiges Staunen darüber, wie eine Frau drei Jahre mit einem Betrüger zusammenleben kann, ohne zu bemerken, dass es sich bei diesem nicht um ihren früheren Ehemann handelt. The Return of Martin Guerre ist nichts anderes als das Projekt, diese Zumutung an den gesunden Menschenverstand, die zugleich eine erzählerische Unwahrscheinlichkeit darstellt, zu beheben und den überlieferten Ereignissen die Schlüssigkeit einer kohärenten Erzählung zu verleihen. The Return of Martin Guerre

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Davis: „Du conte", S. 139 f.

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steht somit in einem Spannungsfeld zwischen einem zugleich lebensweltlichen und erzählerischen Wahrscheinlichen auf der einen, und dem Vetorecht der Quellen' auf der anderen Seite. Das zentrale Argument, um das der Text in all seinen Dimensionen kreist, ist die These von Bertrandes Komplizenschaft. Damit befinden wir uns auf der Ebene individueller Handlungen und ihrer Motivationen. Würde es gelingen, Bertrandes Verhalten psychologisch zu erklären, wäre die letzte Kontingenz des Geschehens getilgt. Wie aber lässt sich überhaupt etwas über das Gefühlsleben von Bauern des 16. Jahrhunderts in Erfahrung bringen? Davis selbst spricht von „the hidden world of peasant sentiment and aspiration" (S. 4). Um dennoch etwas über diese ,unsichtbare' Welt zu erfahren, sieht ihre Methode vor, Informationslücken der beiden wichtigsten Quellen mittels eines allgemeinen - es ließe sich auch sagen: typischen Wissens über das bäuerliche Milieu im Languedoc des 16. Jahrhunderts zu ergänzen („les pratiques sociales et culturelles du XVT siecle"18). Dies lässt aber zugleich die Vermutung aufkommen, dass es mit Davis' Absicht, den individuellen Fall für allgemeine Kenntnisse fruchtbar zu machen, nicht weit her ist. Es geht vielmehr darum, das Allgemeine in den Dienst der individuellen Geschichte zu stellen - einer Geschichte, deren Kohärenz allein auf einer psychologischen Ebene hergestellt wird. Wenn aber letztendlich der individuelle außergewöhnliche Fall, bar jeder Beispielhaftigkeit, im Mittelpunkt des Interesses steht, dann ist Davis gar nicht einmal so weit entfernt von einer traditionellen Ereignisgeschichte, die die Ereignisse um ihrer selbst willen erzählt und sich ausschließlich auf der Ebene der kurzen Dauer bewegt, mit menschlichen Akteuren, ihren Motivationen und Handlungen (das allein rückt ihre Darstellung schon in die Nähe zum Roman) - mit dem einen Unterschied, dass die Akteure keine ,großen Männer' der Weltgeschichte sind, sondern Bauern19. c) Neuinterpretation durch Auffüllung von Leerstellen Zu Beginn der Analyse soll der von Davis' gestaltete Plot wiedergegeben werden: zum einen, weil er der oben angeführten ,Konsens-Intrige' einige Details hinzufügt, die von entscheidender Bedeutung für den selbsterklä18

Ebd., S. 140.

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Für Francis Füret besteht der Unterschied zwischen den traditionellen historischen Erzählungen und einigen Werken der .neuen1 Geschichte lediglich darin, dass letztere die Herzöge durch Clochards ersetzen. Hier müsse man neue Themen von neuen Arten der Behandlung eines Themas unterscheiden (Füret: L 'atelier de l 'histoire, S. 28).

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renden Charakter der Erzählung sind, zum anderen, weil ein Verständnis der verschiedenen Plausibilisierungsstrategien die Kenntnis des Plots voraussetzt. The Return of Martin Guerre beginnt mit einer Art Prolog: Im Jahre 1527 zieht der Bauer Sanxi Daguerre, Martins Vater, aus dem Baskenland fort, um sich in einem kleinen Dorf in der Grafschaft Foix niederzulassen. Die Art der Darstellung erinnert sehr stark an den literarischen Realismus20. Als handele es sich um einen Roman von Balzac oder Stendhal, wird der Ort des Geschehens in seinen verschiedenen Dimensionen vorgestellt: Geographie, Verwaltung, soziales Leben, Landwirtschaft und Handel. Die Familie Guerre wird nach der Art von Romanfiguren des 19. Jahrhunderts historisch verortet21. Lediglich die ersten spärlichen Hinweise auf Quellen und der Gebrauch von Möglichkeits-Adverbien wie „perhaps" und „probably" sowie, nach einigen Seiten, der Hinweis auf nicht Überliefertes weisen darauf hin, dass es sich um Geschichtsschreibung handelt. Die Illusionsstörungen halten jedoch sich in Grenzen22. Die eigentliche Geschichte beginnt mit der Eheschließung der beiden noch sehr jungen Leute. Bertrande de Rols ist erst zehn Jahre alt, Martin Guerre vierzehn. Die Ehe ist von Anfang an durch Martins Impotenz be20

Als Beispiel sei nur der Beginn der Erzählung zitiert: „In 1527 the peasant Sanxi Daguerre, his wife, his young son Martin and his brother Pierre left the family property in the French Basque country and moved to a village in the county of Foix, a three-week walk away. It was not the most usual thing for a Basque to do. Not that the men of Labourd were stay-at-homes, but when they traveled it was more likely out to sea, to trap whales on the Atlantic, even as far as Labrador. When they left for good, they were more likely to cross the Bidassoa River into the Spanish Basque country or down into Spain, rather than turn inland north of the Pyrenees. And the men who moved away were usually not heir of the family's property, as was Sanxi Daguerre, but younger brothers who could not or would not remain in the ancestral household. So important were these family houses to Basque villagers that each was given a name which the heir and his wife assumed: ,They call themselves Lords and Ladies of suchand-such a house, even if it is only a pigpen', a hostile observer was to claim later on" 21 (S. 6). „All this must have appealed to the Daguerres, who had grown up in an area where (despite the growing power of the ,noble' Urtubies) the seignorial regime had been weak and where all parishoners had the freedom to meet whenever they wished to draw up statutes for their common needs. If the family had settled just upstream at Pailhes, where the Villemurs, seigniors of Pailhes and captains of the Chateau de Foix, had their castle, it would have been a different story" (S. 13). 22 Damit soll nicht gesagt sein, dass dies den Wahrheitsanspruch der Erzählung prinzipiell schmälern würde. Die Rhetorik der Darstellung ändert nichts daran, dass in dem entsprechenden Kapitel bei Davis vor allem überprüfbare Fakten genannt werden.

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lastet. Nach acht Jahren Ehe gibt eine alte Frau dem Paar Ratschläge, wie dieser ,Zauber' von dem jungen Ehemann zu heben sei. Bertrande wird in der Tat schwanger und bringt einen Sohn zur Welt. Zudem hat Martin ein schwieriges Verhältnis zu seinem strengen Vater. Im Jahre 1548 stiehlt er ihm eine kleine Menge Saatgut. Die Angst vor dem Vater zwingt ihn zu der Flucht, von der er für so lange Jahre nicht zurückkehren soll. Nun ist Bertrande in der sozial wenig anerkannten Rolle, weder Witwe noch Ehefrau zu sein. 1556, nach acht Jahren in diesem Status, kommt ein Mann, Arnaud du Tilh, genannt Pansette, nach Artigat und behauptet, er sei Martin Guerre. Selbst die Schwestern des echten Martin glauben ihm (seine Eltern sind in der Zwischenzeit gestorben). In der Tat weiß Arnaud vieles aus ,seinem' früheren Leben. Bertrande erkennt den Betrug spätestens, als sie das Bett mit ihm teilt. Dennoch entscheidet sie sich für den Beginn eines neuen Lebens. Sie hilft Arnaud dabei, als ihr Mann zu gelten. Sie verlieben sich mit der Zeit tatsächlich ineinander, führen ihr Eheleben, wenn auch bisweilen mit Gewissensbissen, und zeugen sogar eine Tochter. Pierre Guerre, der Onkel des echten Martin, kommt der wahren Identität des Betrügers langsam auf die Schliche. Vergeblich versucht er, Bertrande davon zu überzeugen, Arnaud anzuzeigen. Ein knappes Jahr später erreicht Pierre ein Untersuchungsverfahren vor dem Gericht von Rieux. In dieser schwierigen Lage entscheidet sich Bertrande, gegen ihren neuen Ehemann zu klagen, allerdings mit der wohlüberlegten und listigen Strategie, den Prozess zu verlieren. Doch der Plan misslingt: Arnaud du Tilh wird schuldig gesprochen und zum Tod durch Enthauptung mit anschließender Vierteilung verurteilt. Der Verurteilte legt Berufung beim Toulouser Parlament ein. Die Richter (unter ihnen: Jean de Coras) stehen kurz davor, den Angeklagten wegen nicht aufzulösender Zweifel an semer Schuld freizusprechen, da erscheint der echte Martin Guerre, der mittlerweile in einer Schlacht ein Bein verloren hat und stattdessen eine Holzprothese trägt. Sein Onkel, seine Schwestern und auch Bertrande de Rols erkennen ihn wieder. Arnaud du Tilh wird dazu verurteilt, vor dem Hause Guerre aufgehängt zu werden, nicht ohne zuvor vor der Kirche von Artigat öffentlich Abbitte zu leisten. Bertrande halten die Richter zugute, dass das weibliche Geschlecht prinzipiell schwach sei. So bleibt sie selbst von der Anschuldigung des Betrugs und des Ehebruchs frei. Martin und Bertrande führen ihre Ehe in Artigat fort. Eingeschoben zwischen das Ende der seltsamen Geschichte und dem „Epilogue" finden sich drei Kapitel: zwei biographische

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über Jean de Coras und seinen Arrest memorable sowie eines über die weitere Rezeption des Falls. Durch die Auffüllung von Informationslücken werden in diesem Plot einige Ungereimtheiten passend gemacht. Um dieses Vorgehen soll es im Folgenden gehen. Es wurde bereits gesagt, auf welcher Ebene Davis durch die Auffüllung von Informationslücken den Übergang von einem äußerst unerklärlichen Geschehen zu einer äußerst kohärenten Geschichte herstellt: auf deijenigen der Psychologie der Hauptakteure und sogar des Erzählers Jean de Coras. Dennoch ist die Darstellung von Innenwelten nur ein Aspekt dieser Plausibilisierungsstrategie, wenn auch der wichtigste. Die Auffüllung von Lücken betrifft auch szenische, vergegenwärtigende Schilderungen, die eher äußerlich zu nennen sind. In vielen Fällen sind sie den psychologischen Kausalverknüpfungen fünktional zugeordnet und stützen so nachhaltig Davis' Thesen zur inneren Handlungsmotivationen der Akteure, vor allem die These von einer „self-fashioning Bertrande" (S. 118)23. Als erste relevante psychische Disposition einer Hauptfigur fällt die fundamentale Frustration des Martin Guerre auf, insbesondere seine sexuellen Schwierigkeiten. Seine Impotenz ist von entscheidender Bedeutung für den Fortgang des Plots: Sie erklärt nicht nur sein plötzliches Verschwinden, sondern auch das spätere Verhalten Bertrandes gegenüber dem Betrüger. Die Situation des frisch verheirateten Paars wird folgendermaßen geschildert: Nothing happened in Bertrande's marriage bed, it seemed, neither that night nor for more than years afterward. Martin Guerre was impotent; the couple had been ,cast under a spell'. That may not have been the first of Martin's misfortunes. Perhaps it was not so easy for the boy from the Labourd to grow up in Artigat. [...] Sometimes he must have been allowed to play with the village's youngsters - their elders complained about the children stealing grapes off the vines - and surely he was teased because of his name, Martin. It was common enough in Hendaye, but strange in those years among the Jehans, Arnauds, Jameses, Andreus, Guilhaumes, Antoines, Peys, and Bernards

•yi

Als Beispiel einer für den Plot irrelevanten szenischen Ausschmückung sei noch einmal das Kapitel zitiert, das von der Wanderung der Familie Guerre aus dem Baskenland in die Grafschaft Foix erzählt: „The roads the family traveled on its trek east were busy ones. They crossed a region of age-old trade exchange between the Pyrenees and the plains, its economy now quickening as Toulouse intensified its role as a major center of redistribution. Between the Save River and the Ariege River, the boundaries that would be important in their new life, moved carts of pastel balls, on their way to Toulouse dyeing shops; fleece, woolens rough and fine, wood, grain, wine, and fruit" (S. 8).

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of Artigat. That it was the name of a nearby parish made no difference. Martin was what the peasants called an animal, an ass, and in local tradition the bear that the shepherds saw up in the mountains. In the Guerre family, the young lord of the household had to cope not just with one but with two powerful male personalities, both with fiery tempers. Behind him there were nothing but girls, his sister Jeanne and three others, and his cousins, the daughters of Pierre Guerre - nothing but pisseuses. Then, when his penis had barely begun to grow behind his codpiece, another girl came into his life, Bertrande de Rols. [...] For a while Martin and his family might have hoped the impotence would pass. [...] Still nothing happened. Bertrande's family was pressing her to separate from Martin: since the marriage was unconsummated, it could be dissolved after three years and she would be free by canon law to marry again. It was humiliating, and the village surely let them know about it. A married couple who had not had a pregnancy after a certain period of time was a perfect target for a charivari, a caribari or calivari, as it was called in the areas around Pamiers. The young men must have darkened their faces, put on women's clothes, and assembled in front of the Guerre house, beating on wine vats, ringing bells, and rattling swords. It was indeed humiliating. (S. 19 fT.)

Ein Blick in die Anmerkungen verrät, welche Informationen allein den Quellen entnommen sind: Martins Familienverhältnisse, seine Impotenz (seine , Verhexung') und das Drängen der Eltern Bertrandes auf Annullierung der Ehe. ,Aufgefüllt' sind die anschaulichen Schilderungen von Martins Problemen in der Kindheit mit seinem Namen, seine Schwierigkeiten, in der familiären Konstellation eine männliche Identität auszubilden und das Charivari. Letzteres liefert ein Beispiel für Davis' Methode, den individuellen Fall durch Heranziehung allgemeinen historischen Wissens zu vervollständigen. An der Existenz eines Brauchs wie dem des Charivari kann nicht gezweifelt werden (eine Anmerkung nennt ein von Le Goff und Schmitt herausgegebenes Buch zum Thema). Letztendlich aber kann niemand wissen, ob das junge Ehepaar diese Demütigung hat über sich ergehen lassen müssen. Sicher, die Historikerin macht kenntlich, dass es sich dabei lediglich um eine Vermutung handelt (was in der Formulierung „the young men must have" zum Ausdruck kommt), doch letztendlich entsteht im Bewusstsein des Lesers ein konkretes Bild, nicht zuletzt, weil sich der hypothetische Charakter der Szene im Indikativ am Ende des Absatzes wieder aufhebt: „It was indeed humiliating". Gleiches gilt für Martins Problem mit seinem ,tierischen' Namen und die psychoanalytisch inspirierte Interpretation der Identitätsbildung des Heranwachsenden zwischen zwei autoritären Männern und jeder Menge Mädchen. Diese Auffüllungen sind für den Fortgang der Handlung bedeutend, ziehen sie doch Martins Traum von einem Leben „beyond the confines of fields of millet, of tile-

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works, properties, and marriages" (S. 22) nach sich. Verbürgt ist hingegen nur, dass er bisweilen durch das Umland gewandert ist. Der Text suggeriert nun auf der Basis eines hypothetischen Fernwehs, dass Martin Guerre nach Möglichkeiten suchte, Artigat zu verlassen. Sein Vater hätte ihm freilich niemals die Erlaubnis für eine längere Abwesenheit, etwa als Schäfer, Student oder Soldat, gegeben. Die Art und Weise, wie Davis im Anschluss an diese Spekulationen den (durch die Quellen verbürgten) Diebstahl des väterlichen Getreides schildert, legt es dem Leser nahe, die wahren Gründe der Flucht nicht in der Angst vor dem strengen Vaters zu suchen, sondern in dem von Davis mittels Imagination konstruierten psychischen Konflikt: None of these were courses to which Sanxi Daguerre would have given assent for his son Martin. But then in 1548, when the infant Sanxi was several months old and Martin in his twenty-fourth year, something happened to make the consent of the old landlord irrelevant. Martin ,stole' a small quantity of grain from his father. [...] Martin Guerre has now placed himself in an impossible situation. (S. 24)

Verschiedene rhetorische Strategien in dieser Passage suggerieren, dass Martin Guerre mit dem Diebstahl mehr oder weniger unbewusst lediglich nach einem Grund gesucht hat, Artigat verlassen zu können. Da wäre zunächst die selbsterklärende Qualität der Erzählung, die durch die bloße Verknüpfung der Fakten entsteht. Darüber hinaus unterstellen die Anfuhrungszeichen des Verbs („stole") sowie die Zuordnung von Subjekt und Verb im letzten Satz, dass es sich nur vordergründig um einen Diebstahl handelte, tatsächlich aber um eine bewusste Tat. Martin befindet sich nun nicht einfach in einer ausweglosen Situation, er hat sich selbst aktiv dorthin gebracht, um vor sich selbst eine Flucht aus Artigat rechtfertigen zu können. Die Beweggründe Arnauds du Tilh, erne neue Identität anzunehmen, sind für die Plausibilität der Erzählung von weit geringerer Bedeutung. Das entsprechend kurze Kapitel bleibt denn auch wesentlich bedeutungsoffener. Davis imaginiert - eingestandenermaßen - ein Gespräch zwischen Arnaud und Martin, die sich ja vielleicht einmal getroffen haben: Still, the two young men may have met in their wanderings around the region or elsewhere. As a .thought experience1, let us imagine what might have taken place if the heir from Artigat became friends with the golden-tongued peasant from Sajas. They learn that they look alike, even though Martin is taller, thinner, and a little darker than Amaud. [...] They exchange confidences. Martin expresses himself with ambivalence about his patrimony and his wife, perhaps seems to imply to his lookalike, ,take her'. And Pansette says to himself, ,Why not?' (S. 38 f.).

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Man fühlt sich an die erfundenen Dialoge ,großer' Männer erinnert, mit denen Historiker seit der Antike ihre Darstellung anreicherten24. Ein solches Treffen aber würde erstens Amauds Aussagen vor Gericht widersprechen und wäre zweitens psychologisch unglaubwürdig, wie Davis selbst sagt: This is a possible scenario, but it is not the one to which Amaud du Tilh finally confessed. He claimed that he had never encountered Martin Guerre before he went to Aitigat. If true, this makes the imposture all the more interesting (more marvelous, "mirabilis magis", said the pamphleteer Le Sueur) and more psychologically probable: it represents the difference between making another person's life your own and merely imitating him. (S. 39).

Dann fragt sich nur, welche Bedeutung dieser überschüssigen imaginierten Szene im Rahmen der Erzählung zukommt. Eine denkbare Funktion ist metatextueller Art: Die Passage stützt den Wahrheitsanspruch der Erzählung, indem sie dem Leser deutlich macht, dass die Historikerin ihre Einbildungskraft durchaus im Zaume zu halten versteht, wenn das Imaginierte dem in den Quellen Nachlesbaren widerspricht. Die Glaubwürdigkeit anderer Auffüllungen, die, was die aus den Quellen erfahrbaren Fakten betrifft, im Grunde nicht weniger erfunden sind (wie etwa diejenige des Charivari), wird dadurch erhöht. Bedenkt man zudem, dass die Tilgung des Unerklärlichen dadurch zustande kommt, dass die Einheit der Erzählung auf der psychologischen Ebene hergestellt wird, erscheint eine andere Funktion wesentlich zentraler, nämlich diejenige einer Antithese im Rahmen einer Argumentation, die auf das psychologisch Wahrscheinliche abzielt. Dieses besteht für Davis darin, eine fremde Identität zu erschaffen, und nicht einfach zu imitieren, wie der oben zitierte Abschnitt - wenn auch mehr postulierend als erklärend - verdeutlicht. Damit ist letztendlich wenig über die Beweggründe Arnauds ausgesagt. Ein grundsätzlicher innerer Konflikt etwa wird, anders als im Falle des echten Martin, nicht deutlich25.

24

25

Vgl. auch das Kapitel über den Prozess in Rieux: „What he [Arnaud] said we can only imagine. To Carbon Barrau, perhaps: ,I've never seen this man before in my life. And if he is my uncle, why can't he produce other members of the family who say so?' To the shoemaker: ,This man is a drinking companion of Pierre Guerre. Let him show his records about the size of my feet. And who else can support his lies?"1 (S. 70). Das Kapitel endet mit dem folgenden Fazit: „Now Arnaud du Tilh surely had something to gain in his move from Sajas to Artigat, for Martin Guerre's inheritance was larger than his own. But it is clear that in his elaborate preparations, his investigations, his memorization - even perhaps his rehearsals - Pansette was moving beyond the mask of the carnival player and the stratagems of the mere inheritance seeker to forge a new identity and a new life for himself in the village on the Leze"

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Das „self-fashioning" entspricht schlicht und ergreifend seinem Wesen, Pansette ist eine Spielernatur und ein „adventurer". Das reicht immerhin, um zu erklären, warum er das gewagte Spiel beginnt. Martin Guerres Fluchtgründe aber, vor allem seine Impotenz und Identitätsproblematik, sind wesentlich enger mit Bertrandes innerem Konflikt verwoben, der ja der für die Einheit der Erzählung zentrale ist. Daher imaginiert Davis fur das Leben des Martin Guerre Szenen aus Kindheit und Ehe, was für Arnaud nicht nötig ist. Damit kommen wir zur interessantesten Figur der Erzählung, Bertrande de Rols. Von zentraler Bedeutung ist vor allem ihre Haltung gegenüber jenem Mann, der sich ihr als der verschwundene, nunmehr zurückgekehrte Martin präsentiert: What of Bertrande de Rols? Did she know that the new Martin was not the man who abandoned her eight years ago? Perhaps not at the very first, when he arrived with all his „signs" and proofs. But the obstinate and honorable Bertrande does not seem a woman so easily fooled, not even by a charmer like Pansette. By the time she had received him in her bed, she must have realized the difference; as any wife of Artigat would have agreed, there is no mistaking „the touch of the man on the woman". Either by explicit or tacit agreement, she helped him become her husband. What Bertrande had with the new Martin was her dream come true, a man she could live with in peace and friendship (to cite sixteenth century values) and in passion. (S. 43 f.)

Die Passage ist von einiger Bedeutsamkeit, erklärt Davis doch darin, warum Bertrande unmöglich Arnaud für Martin gehalten haben kann. Scheinbar vorsichtige Formulierungen wie „perhaps", „does not seem", „must have realized" können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die These einer wissenden Bertrande hier als Faktum präsentiert wird. Im letzten Satz sind alle Ausdrücke, die Bertrandes Mitverschwörertum lediglich als eine Möglichkeit oder Vermutung kennzeichnen würden, dem Tatsachen schaffenden Indikativ gewichen. Als überprüfbaren ,Beleg' führt Davis ein Sprichwort an, das es tatsächlich gegeben hat, dessen Auswahl jedoch sehr willkürlich erscheint. Es findet sich in einem Text aus dem Jahre 1621, wie der Leser aus den Anmerkungen erfahrt. Es ist allerdings weniger diese Redewendung, die zum Verstehen führt, als vielmehr das Verstehen, dem ein passendes Sprichwort zugeführt wird. Wenn die Evidenz von Belegen so leicht zu haben sein soll, dann ließe sich mit dem ebenso weit verbreiteten „De nuit tous les chats sont gris" leicht ein Sprichwort nennen, das (S. 41). Im Grunde wird nur die Tatsache wiederholt, dass er die Entscheidung getroffen hat, von Gründen ist hingegen nicht die Rede.

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Davis' Interpretation zuwiderliefe, wie Finlay anmerkt26. Die Partnerschaftsideale „peace and friendship" mögen für das 16. Jahrhundert gegolten haben, dürften aber Bauern wenig bekannt gewesen sein. Wie in anderen Fällen auch, ist die Existenz der von Davis an die individuelle Geschichte herangetragenen historischen Wissensbestände nicht zu leugnen. Nicht einsichtig ist hingegen, warum sie gerade für die Akteure der Geschichte Geltung gehabt haben sollen. Es ist nicht auszuschließen, es spricht aber auch nichts ausdrücklich dafür. So entsteht der Eindruck, diese Art von Belegen camoufliere die eigentliche ,Methode', ein nicht überprüfbares psychologisches Einfühlen, gründend auf der Frage: Wie würde sich eine Frau in Bertrandes Lage und mit ihrer Vergangenheit allgemein verhalten in dem Augenblick, da ihr ein Fremder die Gelegenheit bietet, wieder ein Eheleben zu führen? Das Resümee, mit dem einige Seiten zuvor das Kapitel, in dem Bertrande charakterisiert wird, endet, schafft nicht nur ein narratives Spannungsmoment, sondert liefert vor allem die kausale Erklärung für Bertrandes spätere Entscheidung, Arnaud als Ehemann zu akzeptieren: Beyond a young womanhood with only a brief period of sexuality, beyond a marriage in which her husband understood her little, may have feared her, and surely abandoned her, Bertrande dreamed of a husband and lover who would come back, and be different. Then in the summer of 1556, a man presented himself to her as her longlost Martin Guerre. Previously he had been known as Arnaud du Tilh, alias Pansette. (S. 34)

Diese Darstellung von Bertrandes Gefühlsleben wird durch keine Fußnote belegt. Das wäre auch gar nicht möglich, weil sich weder bei Le Sueur noch bei Coras entsprechende Aussagen finden lassen.27 Was die Erklärung für einen Leser des 20. Jahrhunderts so plausibel macht, ist die Tatsache, dass, vor dem Hintergrund heutiger Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Ehe, es geradezu unwahrscheinlich wäre, wenn eine Frau in Bertrandes Situation nicht so empfunden und gehandelt hätte, wie Davis es schildert. Ein großer Unterschied zwischen dem ausgehenden 20. und dem 16. Jahrhundert besteht aber in der größeren Frömmigkeit des letzteren. Musste sich Bertrande nicht wie eine schwere Sünderin vorkommen? Der moralische Konflikt stellt einen weißen Fleck in Davis' Erzählung dar, denn er würde die Plausibilität der These einer „self-fashioning Bertrande" gefährden. Deshalb situiert Davis die Geschichte aus dem kleinen Dorf Artigat in 26 27

Finlay: „The Refashioning", S. 559. Vgl. ebd.

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der .großen' Geschichte des Protestantismus. Die Historikerin hält es für „possible, even probable" (S. 48), dass Amaud und Bertrande am Protestantismus interessiert waren. Ihre Belege: Die generelle Existenz protestantischer Proselyten in der Grafschaft Foix, die Hinwendung der Artigat benachbarten Stadt Le Mas zum neuen Glauben im Jahre 1561, ein Bildersturm in der Kirche von Artigat im Jahre 1568 und die Tatsache, dass die Familie de Rols „later" (aber wann? - Die in einer Anmerkung genannten Quellen geben Auskunft über das 17. Jahrhundert) protestantisch wurde. Die Vermutung, die das gewagte Unterfangen einer bewusst erfundenen Ehe und damit die Plausibilität des Plots am nachhaltigsten stärkt, ist hingegen eine andere: Perhaps too they heard some echoes of the new marriage law established in Reformed Geneva after 1545. There, marriage was no longer a sacrament; and a wife abandoned by her husband, .without the wife having given him any occasion or being in any way guilty', could after a year in inquiry obtain from the Consistory a divorce and permission to remarry. (S. 50)

Da keine Quelle einen Hinweis darauf enthält, dass es sich so verhält wie hier vermutet, bleibt eigentlich nur ein Schluss: Der Protestantismus macht die These einer erfündenen Ehe psychologisch plausibel und stützt damit wiederum die zentrale These von der „self-fashioning Bertrande". Die von vielen Historikern geforderte Situierung des behandelten Gegenstands in einen größeren historischen Kontext, der die Geschichtsschreibung davor bewahrt, mit „stories" identifiziert zu werden, ist in diesem Fall der psychologischen Ebene des Geschehens erzähllogisch untergeordnet bzw. funktional zugeordnet. Das gilt auch für das historisch anerkannte Partnerschaftsideal christlicher Humanisten, das Davis heranzieht, um plausibel zu machen, dass Bertrande und Arnaud viel und intim miteinander sprachen28. Davis weist in diesem Zusammenhang auf Le Roy Ladurie hin, der in Montaillou gezeigt hat, dass die Angewohnheit des „conversing day and night" nicht nur unter Adligen zu finden war, sondern auch unter verliebten Bauersleuten. In den Quellen gibt es freilich keinen Hinweis darauf, dass Bertrande und Arnaud es ebenso hielten. Die These von der Absprache der beiden Liebenden vor dem Prozess bedarf aber der Hypothese einer solch großen Intimität, denn: 28

„In happier times, they talked together. It was ,in conversing day and night' that the new Martin added to his store of information about Bertrande, the Guerres, and Artigat. Such intimate exchanges between husband and wife in the sixteenth century are thought to be an ideal of Christian humanists and Protestant moralists" (S. 46).

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The new Martin certainly had more to discuss with Bertrande than the crops, the sheep, and the children. Among other things, so one must surmise, they decided to make the invented marriage last. (S. 46)

Was der Glaubwürdigkeit dieses Plots noch im Weg steht, ist die Tatsache, dass Davis' Erzählung in einem zentralen Punkt von der Erzählung des Mannes abweicht, der als Richter sehr viel näher am Geschehen war als die Historikerin. Jean de Coras, der Verfasser des Arrest memorable, hielt Bertrande eindeutig für ein Opfer des Betrügers, und nicht fur eine Kollaborateurin. d) Quellenkritik als Psychologisierung des Quellenautors Die Psychologisierung macht nicht halt bei den Akteuren der primären Geschichte. Auch der Autor der Quelle, ja die Kritik der Quelle, wird in den psychologischen Plot eingebaut. Das ist insofern wenig verwunderlich, als Jean de Coras bei näherer Betrachtung ebenfalls eine Figur der Geschichte ist, er saß den drei Hauptakteuren persönlich gegenüber und stellte ihnen Fragen. Jean de Coras war eine juristische Kapazität. Angeblich hielt er schon im Alter von 13 Jahren seine erste Vorlesung in Toulouse. Mit einundzwanzig Jahren wurde ihm die Doktorwürde verliehen, später dozierte er in Toulouse vor bis zu 2000 Zuhörern. In einer Erbstreitigkeit führte Coras erfolgreich einen Prozess gegen seinen eigenen Vater. Er war verheiratet, wurde selbst Vater, bevor seine Frau starb und er ein zweites Mal heiratete. Wie aus einem erhaltenen Briefwechsel hervorgeht, muss er seine zweite Frau Jacquette de Bussi über alle Maßen geliebt haben. Das Paar war dem Protestantismus zugeneigt. Sein eigener Irrtum im Fall Martin Guerre hat ihn scheinbar dermaßen irritiert, dass er sofort nach Prozessende die Arbeit am Arrest begann. Der Text selbst ist eine Mischung aus juristischer Betrachtung, (allerdings nicht im Sinne eines Kommentars für Spezialisten), lehrhafter Erzählung und historischem Bericht. Im vollständigen Titel ist die Formel von der „histoire prodigieuse" enthalten, was dafür spricht, dass Coras (oder der Verleger) ein breiteres Publikum anvisiert hat, das sich für die Gattung der ,wunderbaren Geschichten' interessierte. Diese Informationen erscheinen auf den ersten Blick als ein narrativer Überschuss - schließlich ist die Geschichte der beiden Martins ja zu Ende erzählt. Allein, die biographische Skizze ist von großer Bedeutung, es verbirgt sich hinter ihr eine weitere Strategie zur Plausibilisierung der Davisschen Version der Geschichte. Sie bereitet die Glaubwürdigkeit der

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These vor, dass Jean de Coras sich mit dem schauspielernden Arnaud identifizierte und ihn deshalb freigesprochen hätte, wäre nicht plötzlich der echte Martin erschienen: When Jean de Coras came in contact with .Martin Guerre', he recognized a man with some of his own qualities. Peasant though he was, the prisoner was poised, intelligent, and (especially) eloquent. [...] ,1 don't remember having read of any man who had so successful a memory', said Coras. He also seemed an honorable family man, in love with a beautiful wife. That he had sued his uncle for the accounts did not seem so outrageous to a son who had sued his father for an inventory. If I am right that .Martin Guerre' was a Protestant sympathizer, Coras would have had yet another reason to find him a person he could believe. (S. 102)

Man sieht nun deutlich, nach welchem Relevanzkriterium die Details aus Coras' Leben ausgesucht sind. Davis erwähnt solche Dinge, die retrospektiv erklären, wie es dazu kommen konnte, dass sich Coras mit dem Betrüger identifizierte. Dass er dies tat, ist dem Arrest tatsächlich anzusehen: Vergleicht man den Text mit Le Sueurs Admiranda historia, so fallt auf, dass Coras die schauspielerische und die Gedächtnisleistung des Betrügers zu übertreiben scheint. Zudem vergleicht der Richter den Angeklagten mit verschiedenen biblischen, literarischen und realen Betrügerfiguren, und kommt zu dem Ergebnis, dass Arnauds Leistung alles bisher da Gewesene übertrifft. Für eine Identifikation des Richters mit dem Betrüger sprächen Davis zufolge zwei weitere Beobachtungen: Zum einen siedelt Coras die Geschichte explizit zwischen Komödie und Tragödie an. Er macht aus ihr ein Stück, dessen trauriger Held Arnaud ist - und das obwohl die Gattung der Tragikomödie literarhistorisch betrachtet keine Helden aus einem so einfachen Milieu zulässt29. Zum anderen spekuliert Davis darüber, ob Coras (wie auch Le Sueur) nicht eine spezifisch protestantische Botschaft aus dem Geschehen herausgelesen hat30. Dies betrifft vor allem den Auftritt des echten Martin Guerre am Ende des Prozesses. Allerdings relativiert Davis diese Spekulation umgehend in derselben Art wie bereits im Falle des imaginierten Dialogs zwischen Martin und Arnaud.

29

30

„That Coras could conceive of ,a play of tragedy between persons of low estate' depended on his being able to identify himself somewhat with the rustic who had remade himself (S. 112). „And was it not a Protestant God sending back the man with the wooden leg in time to undo the overweening confidence of the judges of the Parlement of Toulouse? If Coras and Le Sueur had such views, it must be said that they are not imposed by their texts" (S. 107).

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Die Plausibilität von Davis' Version soll gegenüber deijenigen des Arrest erhöht werden. Die Glaubwürdigkeit der Corasschen These einer getäuschten Bertrande soll relativiert werden durch die Faszination, die der Richter angesichts des Betrügers empfindet. Zwischen den beiden Möglichkeiten, die Frau als selbstbewusste Komplizin zu betrachten, oder den Betrüger als einen perfekten Meister seines Fachs, habe Coras sich für letztere entschieden, erstens als Apologie seines eigenen getäuscht Seins, und zweitens, weil ihn die Vorstellung einer so selbstbewussten Frau nach Davis' Dafürhalten stark beunruhigt haben muss. Fragte sich der Leser einige Seiten zuvor, welche Relevanz eigentlich die Erwähnung der ,abgöttischen' Liebe des Richters zu seiner zweiten Frau für die Geschichte des Martin Guerre hat, so erfahrt er es nun: Es ist die Angst des Richters davor, dass sich eine Frau, womöglich auch einmal seine eigene, einen anderen Mann sucht. ,Eigentlich', so Davis, muss er so etwas für möglich gehalten haben31. Zur Stützung dieser These zieht Davis den Briefwechsel der Eheleute Coras und de Bussi heran: The possibility of an honorable woman disposing of her body as she pleases is much more disturbing than the self-fashioning of Pansette. It is the subject of nightmares, as when Coras writes to Jacquette of ,a strange dream that I had yesterday that before my eyes you were married to another, and when I reproached you for the wrong you were doing me, you responded by turning your back on me'. (S. 112 f.)

Damit wird die Kategorie des Geschlechts interpretationsrelevant. Über Jacquette de Bussi schreibt Davis im Kontext der weiteren Rezeptionsgeschichte des über die Jahrhunderte zu einer regelrechten Legende gewordenen Falls: It should be added, however, that we have no female commentary on the story until the twentieth century. Jacquette de Bussi's reaction to her husband's gift book is unrecorded. I doubt that she believed that Bertrande de Rols could have been deceived for so long. (S. 118)

Da es fur die im letzten Satz geäußerte Annahme keinen historischen Beleg gibt, bleibt das Geschlecht als einziges relevantes Kriterium übrig. Davis evoziert auf diese Weise eine Art spezifisch weibliches Wissen, und sie bringt damit vor allem - zwar nur implizit, aber doch eindeutig - ihre

31

„Was the weakness of the sex really so great that wives could not tell the difference between married love and adultery? The cuckolded Martin Guerre clearly thought not, as we know from the words attributed to him in court by Coras and Le Sueur. And it is hard to imagine that the Coras we have seen dealing with Jacquette de Bussi could consistently believe that women were so easy to trick" (S. 110).

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eigene Geschlechtszugehörigkeit als Plausibilisierungsstrategie ins Spiel. Denn außer ihrem Buch gibt es lediglich den historischen Roman von Janet Lewis, von dem sie in einer Anmerkung behauptet, dass er mit ihrer Darstellung in dem Punkt übereinstimme, dass Bertrande sich nicht hat täuschen lassen und dass sie sich durch eine gewisse „independence of spirit" auszeichnet. Damit lenkt sie vom wichtigsten Unterschied zwischen ihrem Buch und dem Roman ab: Davis' These besagt ja nicht allein, dass Bertrande den Schwindel bemerkt hat, sondern, und dies ist noch wichtiger, dass sie ihr Leben selbst in die Hand genommen hat, indem sie gemeinsam mit Arnaud eine Doppelstrategie entwickelte. Sie tritt als Klägerin auf, um ihre Ehre zu retten, und Arnaud soll den Prozess dennoch gewinnen, damit sie weiter zusammenleben können. Dabei legt sie eine spezifisch ,weibliche' Phantasie an den Tag: For Bertrande, who knew the truth, there were yet other consequences of the lie. She had tried to fashion her life as best as she could, using all the leeway and imagination she had as a woman. (S. 60)

Nichts davon bei Lewis: In The Wife of Martin Guerre werden Bertrandes Zweifel mit den Jahren immer größer, bis sie nicht mehr vor ihrem Gewissen verantworten kann, mit einem Mann zu leben, der womöglich nicht ihr ,wahrer' Ehemann ist. Sie weiht Pierre Guerre (der bei Davis ein Gegner Bertrandes ist und Druck auf sie ausübt) ein und bringt Arnaud vor Gericht - obwohl alle um sie herum, auch der Dorfpfarrer, Arnaud für den echten Martin halten. Bertrande ist zwar auch in dieser Version (fast) eine Einzelkämpferin, aber sie handelt vollständig im Sinne einer kollektiven Moral. Sie liebt Arnaud, doch das Wagnis einer erfundenen Ehe geht sie nicht ein. Am Ende ist sie eine tragische Heldin, der Princesse de Cleves aus Madame de Lafayettes gleichnamigem Roman nicht unähnlich, die aller Leidenschaft beraubt, wenigstens ihren Seelenfrieden findet: Leaving the love which she had rejected because it was forbidden, and the love which had rejected her, she walked through a great emptiness to the door, and so on into the streets of Toulouse, knowing that the return of Martin Guerre would in no measure compensate for the death of Arnaud, but knowing herself at last free, in her bitter, solitary justice, of both passions of both men .

Dieser Roman taugt durchaus nicht dazu, das ohnehin schon mehr als prekäre Konzept eines spezifisch weiblichen Verständnisses der Geschichte plausibel zu machen.

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Lewis: The Wife, S. 108.

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Narratives Verstehen ist stets retrospektiv, eine Geschichte wird von ihrem Ende her allererst plausibel. Die Tatsache, dass Davis nach den Kapiteln über Jean de Coras und die Wirkungsgeschichte des Falls im Epilog, wenn auch nur kurz, wieder auf die Ebene des eigentlichen Geschehens im südfranzösischen Marktfleck Artigat zurückkehrt, unterstreicht die Beobachtung, dass das Psycho-Portrait des Richters dieser Geschichte hierarchisch untergeordnet ist. Das muss durchaus nicht so sein, man denke nur an Dubys Dimanche de Bonvines, in der die Wirkungsgeschichte des Ereignisses der Erzählung des eigentlichen Schlachtgeschehens erzähllogisch übergeordnet ist. e) Die Rhetorik des Wahrscheinlichen Die Auffüllung von Evidenzlücken vollzieht sich also auf zwei Weisen: zum einen durch eine - deutlich dominante - psychologisierende Neuinterpretation des Quellenmaterials mittels Einfühlung, zum anderen durch gesichertes allgemeines Wissen über die Epoche, die Region und die Zeit, in der sich die individuelle Geschichte ereignete. Für die wissenschaftliche' Plausibilität der letzteren gilt, dass die hinzugefugten Details zwar stets möglich sind, dass es aber keine zwingenden Gründe dafür gibt, dass etwas sich ausgerechnet in dieser Geschichte so ereignet hat. Es ist nicht auszuschließen, es spricht aber auch nichts ausdrücklich dafür - mit anderen Worten: Die Kohärenz der Erzählung beruht auf der Logik eines ,Warum soll es sich nicht so zugetragen haben?', also auf einer ex negativo hergestellten Plausibilität. Davis macht keinen Hehl aus dem hypothetischen Charakter ihrer Erzählung. Diese Logik der Rekonstruktion findet ihre Entsprechung in einer Rhetorik des Möglichen. Da wäre vor allem die extrem häufige Verwendung der Adverbien „perhaps" und „probably" sowie von Verbkonstruktionen mit „may", „seem" „might have" und „must have" zu nennen. Sie markieren in aller Offenheit jene Stellen, an denen die Historikerin ihre Vorstellungskraft einsetzt. Wir haben aber auch gesehen, wie fließend die Übergänge zwischen einer solchen Vorsicht und der Eindeutigkeit von Tatsachenbehauptungen sind. Der letzte Satz des Texts funktioniert ebenfalls wie ein resümierend auf den ganzen Text bezogenes „perhaps", indem er die Spannung der Erzählung zwischen ,Wahrhaftigkeit' und letztendlicher Unmöglichkeit sicheren Wissens zum Ausdruck bringt: „I think I have uncovered the true face of the past - or has Pansette done it once again?" (S. 125). Dieselbe ex negativo-Logik findet sich auch in den rhetorischen

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Fragen, die sich durch den ganzen Text ziehen33. Die argumentative Logik solcher Fragen funktioniert ja nach dem Prinzip, kein positives Argument für eine Auffüllung zu geben, und stattdessen alle möglichen Einwände gegen die Auffüllung zu entkräften. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Spannung zwischen Möglichkeiten und Sicherheiten auch eine Spannung zwischen zwei verschiedenen rhetorischen Dimensionen des Textes ist: Die offen eingestandenen Unsicherheiten (die Möglichkeitsadverbien und Verbkonstruktionen, die rhetorischen Fragen, der Schlusssatz) gehören zur elocutio. Auf der Ebene der dispositio aber finden wir Eindeutigkeit, nämlich einen vollkommen schlüssigen Plot, der alle Leerstellen mittels Psychologisierung auffüllt und so einen eindeutigen Sinn schafft. f) Die Darstellung von Innenwelten Es ist unmöglich, die Kohärenz eines psychologischen Plots herzustellen, ohne das Denken und Fühlen der Akteure darzustellen. Denn gerade auf dieser ,unsichtbaren' Ebene spielen sich ja die wesentlichen Entscheidungen ab, die den Plot vorantreiben. Dies gilt umso mehr für eine Geschichte, die von Betrug, Täuschung und Maskerade handelt. Davis ist folglich gezwungen, eine für die Geschichtsschreibung eher untypische Darstellungsstrategie anzuwenden, die perspektivische Vermittlung oder Fokalisierung, und das, obwohl die interne Fokalisierung allgemein als ein Privileg der Fiktion gilt.34 Die Darstellung von Innenwelten geschieht wohlgemerkt nicht obligatorisch durch interne Fokalisierung, man denke nur an die oben zitierte Passage über die Frustration des jungen Martin Guerre, die im Mo-

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Ζ. B.: ,3ut we still know rather littler about the peasants' hopes and feelings [...] We often think of peasants as not having had much in the way of choices, but is this in fact true? Did individual villagers ever try to fashion their lives in unusual and unexpected ways?" (S. 1); „Was it so unusual for a man in sixteenth-century villages and burgs to change his name and fashion a new identity? Some of this went on all the time" (S. 40). Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit. Stellvertretend sei noch einmal an Cohns striktes Verbot der internen Fokalisierung für die Historiographie erinnert: „This category [the principal history/fiction distinction], however, designates only what historians cannot be or do: it cannot present past events through the eyes of a historical figure present on the scene, but only through the eyes of the (forever backward-looking) historiannarrator. In this sense we may say that the modal system of historical (and other nonfktional) narration is .defective' when compared to the virtual modalizations of fiction" (Cohn: Distinction, S. 119).

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dus der Null-Fokalisierung stehen, oder das Kapitel über „the Honor of Bertrande de Rols". Selbst in dem oben bereits zitierten Abschnitt über Bertrandes Empfindungen bei der Ankunft des falschen Martin in Artigat ist Bertrande selbst keine Fokalisierungsinstanz. Interne Fokalisierungen finden sich vielmehr in solchen Abschnitten, die Unsicherheit und Argwohn der Akteure gegenüber dem Schauspieler Pansette zum Thema haben: At any rate, the doubts that the nimble Martin had quieted at his first appearance now came into the open and proliferated in Pierre's mind. Why had he forgotten so many Basque phrases, some of which must have been bandied about all throughout his childhood? Why was he no longer interested in swordplay and acrobatics? That stocky body he had accepted as his nephew's adult form now seemed alien. When he looked carefully at Sanxi, the boy did not resemble the man sharing Bertrande's bed. Above all, ,the Basque is faithful'. For a small theft of grain from his father, Martin Guerre had left his patrimony in dishonor. Now an impostor was in the process of shamelessly stealing it from the heir. (S. 54; Fokalisierungsinstanz: Pierre Guerre) Coras's first response was to deny that this was a case of human inventiveness. Instead, Arnaud was a magician, aided by an evil spirit. (S. 103, Fokalisierungsinstanz: Coras) And was it not a Protestant God sending back the man with the wooden leg in time to undo the overweening confidence of the judges of the Parlement of Toulouse? (S. 107; Fokalisierungsinstanz: Jean de Coras) They were not sure who he was and, in a case of such consequence, how could they presume to make a judgement? (S. 68; Fokalisierungsinstanz: die geladenen Zeugen)

Die interne Fokalisierung geht indes nie soweit, dass der Wissensstand des Lesers demjenigen der Getauschten entspräche, wie es avancierte Formen des personalen Erzählens kennzeichnet. Denn die Faktenlage ist von Beginn an eindeutig: Amaud ist nicht Martin Guerre, Bertrande ist seine Komplizin. Die internen Fokalisierungen dienen folglich allein der Nachvollziehbarkeit der Geschichte, die ja, wie gezeigt, wesentlich vom Denken und von der Wahrnehmung der Akteure abhängt. Davis schreibt in der Einleitung: „What I offer you here is in part my invention, but held tightly in check by the voices of the past" (S. 5). Die von ihr gewählten Rekonstruktions- und Darstellungsmittel geben eher Anlass zu der umgekehrten Vermutung. Es ist die Stimme des Erzählers, die die Stimmen der Vergangenheit in Schach hält. Selbst die narrative Stimme des Richters wird mittels Psychologisierung gewissermaßen ,einverleibt' (wie Coras wiederum die Stimmen der Zeugen und Betroffenen in eine für ihn eindeutige Synthese überfuhrt hat).

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Eine detailliertere Untersuchung der Textstellen mit interner Fokalisierung wäre indes kaum fruchtbar. Das Ergebnis bestünde in der schlichten Feststellung, dass sich Davis hier, wenn auch sparsam, eines fiktionstypischen Darstellungsmittels bedient35. Man mag aus Sicht der Geschichtswissenschaft darüber streiten, ob ein Historiker dies darf oder nicht. Der Text wird jedoch als historiographischer rezipiert und nicht als fiktionaler. So ließe sich allenfalls über eine andere Frage spekulieren: ob sich womöglich die historiographischen Schreibkonventionen im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert haben. g) Eine nicht mehr kontrollierte Vorstellungskraft Die Analyse hat gezeigt, dass der Text in seinen verschiedenen Dimensionen darauf angelegt ist, dem überlieferten Geschehen seine Unerklärbarkeit zu nehmen (vor allem in bezug auf das Verhalten Bertrandes). Das Produkt ist eine in sich geschlossene, psychologisch kohärente Geschichte, in der am Ende jedes Rätsel getilgt ist. Rein textimmanent betrachtet ist Davis' Erzähler daher alles andere als ein ,,postmoderne[r] historiographische[r] Detektiv, der nicht mehr alle Perspektiven zusammenbringen kann"36 - eher schon ein ganz traditioneller Untersuchungsrichter, der den eindeutigen Hergang der Tat ermittelt. Die Intrige ist, die Psychologisierung des Quellenautors eingeschlossen, vollkommen plausibel und wahrscheinlich'. Geschichtswissenschaftlich bleibt sie allerdings prekär durch die Entscheidung der Historikerin, die Kohärenz der Erzählung von vornherein auf der nur schwer anhand von Quellen überprüfbaren Ebene der Figurenpsychologie herzustellen. Geht man der genauen Beweisführung nach, stellt sich heraus, dass sich das gegebene Quellenmaterial einer Vereindeutigung widersetzt. Die verschiedenen Argumente, mit denen Davis die Evidenzlücken auffüllt, sind so divers und mitunter nicht belegt, dass es schwerfallt, von einer kontrollierten Vorstellungskraft' zu reden. Gemessen am wissenschaftlichen Standard der Überprüfbarkeit, ist ihre neue Ver35

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Ein Blick in The Wife of Martin Guerre macht deutlich, dass Davis immer noch weit davon entfernt ist, fiktionstypisch zu schreiben. Die Autorin des historischen Romans nimmt sich wesentlich mehr Freiheiten, was die Verwendung interner Fokalisieningen betrifft. Stephan Jäger: „Multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Wissenschaftliche Inszenierung von Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit", in: Vera und Ansgar Nünning (Hgg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier 2000, S. 323-346, hier: S.338.

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sion des Falls Martin Guerre sozusagen zu schlüssig (bzw., mit Hans Robert Jauß gesprochen, in ihrem Verlauf zu konsistent), um wahr sein37. Statt einer expliziten Rekonstruktionsmethode bringt Davis eine Art psychologischen Einfühlens zur Anwendung - in das Denken von Menschen, deren Welt sehr verschieden von unserer heutigen ist. Das psychologische Verstehen selbst bleibt dabei unreflektiert. Es handelt sich weniger um Konzepte als vielmehr um einen ,gesunden Menschenverstand', ausgehend von der Beobachtung: Es kann einfach nicht sein, dass Bertrande de Rols noch im Ehebett Arnaud du Tilh für Martin Guerre gehalten hat. Als historische Methode gilt das vielen Historikern als unseriös, wie der Argwohn einiger Kritiker des Fachs gegenüber dem Buch deutlich macht. Denn die Lückenauffüllung durch historisch verbürgtes Allgemeines erscheint stets als nachträgliche und der psychologischen Erzählung funktional untergeordnet, ist also nicht mit der eingangs dieses Kapitels erwähnten Einbettung in einen weiteren historischen Kontext zu verwechseln. In seinem Scheitern ist der Text ein Beleg für das in Kapitel 2 dieser Arbeit entwickelte historiographische Erzählmodell einer kontrollierten Vorstellungskraft'. So plausibel die These einer wissenden Bertrande de Rols auch ist, so wenig lässt sie sich - jedenfalls bei der aktuellen Quellenlage - vereinbaren mit dem ,Vetorecht der Quellen'. Einmal mehr wird deutlich, dass sich der Bedeutung des Fiktiven in der Geschichtsschreibung nicht systematisch beikommen lässt. The Return of Martin Guerre zeigt in aller Deutlichkeit, dass die historiographische Rekonstruktion der Vergangenheit stets in einer Spannung zwischen dem obligatorischen Einsatz der Vorstellungskraft einerseits und deren Kontrolle durch die Quellen andererseits steht. Wie weit das Pendel nach der einen oder der anderen Seite ausschlagen darf, lässt sich nur von Fall zu Fall entscheiden und hängt von ihrerseits wiederum historisch variablen wissenschaftlichen Standards ab.

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Jauß: „Der Gebrauch der Fiktion".

IV. Ergebnisse und Ausblick 1. Erzählungen in der longue duree Ungeachtet aller polemischen Kritik, die die Armales-YHsionker am Erzählen geübt haben, machen die vier Textanalysen eines deutlich: Eine Absage an die politische Ereignisgeschichte bedeutet durchaus keinen generellen Verzicht auf Ereignis und Erzählung. Wenn zudem zutrifft, dass eine Historiographie ohne jeden Anteil an Narrativität nicht denkbar ist, dann hat die Fokussierung der ,4 wia/es-Historiker auf die longue duree das Verhältnis von Erzählung und Wahrheitsanspruch deutlich verkompliziert. Überträgt man die Erzählung als textuelle Makrostruktur auf die longue duree, so ergeben sich zwei Modifikationen gegenüber den traditionellen' historischen Erzählungen, die sich in der kurzen Zeit menschlicher Handlungen bewegt: Erstens sind Ereignisse nicht mehr plötzlich und kurz, sondern können die Form längerer Prozesse annehmen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Le Goff von der Geburt des Fegefeuers spricht. Die Metapher resümiert in diesem Fall eine sehr langsame, sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Entwicklung zu einer punktuellen Grenzüberschreitung. Zweitens verlangen solcherart modifizierte Ereignisse nach der Benennung ihnen proportionaler Aktanten. Menschliche Individuen können diese Funktion verständlicherweise nicht mehr erfüllen. Sie erscheinen in diesen Erzählungen meistens als Gefangene langfristiger Strukturen (man denke nur an das Beispiel der Paysans de Languedoc) oder als typische Repräsentanten (wie die Schlachtteilnehmer in Le dimanche de Bouvines). Geschichte ist nichts mehr, was der Verfugung von Individuen unterworfen wäre, wohl aber von Institutionen oder sozialen bzw. kulturellen Gemeinschaften sowie von abstrakten, etwa geistes- oder mentalitätengeschichtlichen Phänomenen. Die Verwendung von Metaphern in diesem Zusammenhang ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht nicht prinzipiell problematisch, da die Überprüfbarkeit solcher Aussagen dennoch durch Quellenreferenz gewährleistet bleiben kann. Gleichwohl werden die Regeln, unter denen auf solche grammatischen Subjekte bezug genommen werden kann, schwerer kontrollierbar, vor allem dann, wenn die kollektiven Aktanten nach der Logik individueller menschlicher Handlungen auftreten,

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und wenn ihnen Affekte zugesprochen werden. Es ist wesentlich unproblematischer, einem politisch handelnden Individuum (etwa einem Herrscher) einen Namen zu geben, als einem kollektiven oder abstrakten Subjekt (etwa ,dem christlichen Abendland' oder ,der Modernisierung'1). Ironischerweise rufen die Erzählungen der longue durie nicht die Skepsis und Empörung hervor, mit der viele Historiker auf Davis' Le Retour de Martin Guerre reagierten - und das, obwohl sie durch das Problem der Referenz ein Einfallstor für nicht überprüfbare Aussagen darstellen. Um an ein Beispiel aus La naissance du Purgatoire zu erinnern. Es bedarf einiger Phantasie, um sich ,das zwölfte Jahrhundert' oder die lateinische Christenheit' als ein handelndes Subjekt vorzustellen. Davis macht es ihren Kritikern da schon wesentlich einfacher: Sie benennt menschliche Individuen, deren Affekte und Handlungen sich bei guter Quellenlage relativ einfach überprüfen lassen, aber aus eben diesem Grund wird der Text zugleich angreifbarer, wie die Rezeptionsgeschichte des Buchs es gezeigt hat. Was, im Feld der Literatur, den Vertretern des nouveau roman Balzac war, das war den Anmles-Ykstonkem die Ereignisgeschichte positivistischer Prägung. In ihren programmatischen Stellungnahmen zum Erzählen wählen sie diese von ihnen als ,traditionell' kritisierte Geschichtsschreibung als Negativfolie, von der sie sich abzusetzen gedenken. Es stellt sich die Frage, durch welche Schreibweisen sich die Annales denn nun von dieser unterscheiden. Auf der Grundlage der vier Textanalysen lässt sich sagen, dass die Innovationsmomente der analysierten Texte nicht etwa auf einer Übernahme modernistischer literarischer Schreibweisen beruhen, sondern auf geschichtswissenschaftlichen Forschungsprogrammen: Duby hat mit Le dimanche de Bouvines eine programmatische Ereignisgeschichte zweiten Grades geschrieben, die aber zugleich durch und durch narrativ ist. Jacques Le Goffs Fegefeuer-,Biographie' folgt einem klar erkennbaren metaphorisch gestalteten Plot. Die Abgrenzung von der Ideen- und Geistesgeschichte führt bei ihm zu keiner Sprengung konsistenter Erzählformen. Les paysans de Languedoc stellt eine Ausnahme dar: Der Text hat als einziger der hier analysierten Beispiele nicht die makrostrukturelle Form einer Erzählung, sondern diejenige eines Tableaus. Worüber er hingegen verfügt, ist eine insulare Narrativität, nämlich in solchen Passagen, in denen es um die Darstellung menschlicher Handlungen geht. Dies wirft die Frage auf, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Charakter der Quellen und der Art ihrer Auswertung einerseits und dem Darstellungsverfahren 1

Vgl. Ranciere: Les noms de l 'histoire, S. 9 f.

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andererseits gibt. An dieser Stelle kann nicht mehr als eine Vermutung diesbezüglich geäußert werden: Wenn statistische Quellen wie die compoix auch zu einem makrostrukturell nicht narrativen Text fuhren, so ist damit noch nicht bewiesen, dass dies obligatorisch in allen auf serieller Forschung basierenden Texten der Fall ist. Erinnern wir uns: Im Falle der vormodernen Gesellschaft des Languedoc konnte Le Roy Ladurie die Veränderungen mit Malthus als eine „articulation interne" erklären. Er spricht aber auch davon, hinter den ausgezählten Hektaren schließlich die Menschen des Languedoc gesehen zu haben. Die Menschen hinter den Zahlen zu erkennen, bedeutet jedoch nicht, die longue duree zu verlassen und in die kurze Zeit der Ereignisse einzutreten. Und es bedeutet auch nicht, dass die Veränderungen, um die es geht, der Logik menschlicher Handlungen folgen würden. Die Menschen sind hier die Gefangenen ökonomischer Strukturen, die sie nicht beeinflussen können und von denen sie auch gar nichts wissen. Bezüglich Le Roy Laduries Agrargesellschafts-Tableau lässt sich deshalb festhalten, dass Narrativität lediglich als Voraussetzung ein - allerdings konstitutiver - Bestandteil des Textes ist, denn auch ein Tableau verlangt, will es historisch sein, nach der Setzung eines Anfangs und eines Endes. Diese haben ihre Begründung außerhalb der prinzipiell unendlichen Serie, die dem Tableau zugrunde liegt. 2. Modernisierungsgrenzen Natalie Zemon Davis erzählt in The Return of Martin Guerre auf eine in literarhistorischer Perspektive so traditionelle Weise, dass sich Francois Furets Vorwurf an die „ethno-histoire" auf ihr Buch beziehen lässt: D'ailleurs, comme eile cherche moins ä expliquer l'etrange qu'ä retrouver le familier derriere Filiusion de l'etrange, eile est guettee par la tentation du pittoresque, qui constitue son lien avec le grand public .

Das ,breite Publikum' erreicht Davis nicht zuletzt durch eine psychologisierende Erzählweise, die sich in einer für historiographische Verhältnisse relativ häufigen Verwendung interner Fokalisierungen ausdrückt. Die Grenze zwischen Historiographie und Fiktion scheint also hinsichtlich der Darstellungsmittel durchaus offen zu sein - wenn auch streng gehütet, wie die Kritik an dem Buch beweist. Ob man im personalen Erzählen eine historiographische Modernisierung sehen kann oder soll, ist allerdings mehr als fraglich. 1857 war das Jahr, in dem sich Flaubert vor Gericht verantFüret: L 'atelier de l'histoire, S. 26.

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worten musste, weil er durch die Verwendung interner Fokalisierungen einen Ehebruch zur Darstellung bringen konnte, ohne als Erzähler ein moralisches Urteil aussprechen zu müssen. Seitdem hat sich der style indirect libre, jene Überblendung von Figurenperspektive und Erzählerrede, zu einem festen Bestandteil des Standardrepertoires fiktionaler Literatur entwickelt. Obgleich die in der Mikrohistorie stattfindende Verbindung von Ethnologie und Geschichte historiographiegeschichtlich als ein Novum zu gelten hat, fuhrt sie im Falle von The Return of Martin Guerre zu einer sehr traditionellen Art des Erzählens, die letztendlich die von Barthes und White geäußerte Kritik bestätigt, die Geschichtsschreibung orientiere sich immer noch an der literarischen Norm des 19. Jahrhunderts. Diesen Vorwurf wiederum kann man Duby, Le Roy Ladurie und Le Goff schon allein aus dem Grund nicht machen, dass menschliche Individuen in ihren Texten - bei aller narrativer Konsistenz - nicht die treibenden Kräfte der Geschichte sind. Eine vorsichtige Anleihe aus der Literatur darf in der mehr oder weniger stark ausgeprägten Selbstreferentialität zweier Texte erblickt werden: La naissance du Purgatoire und Le dimanche de Bouvines. Bei Le GofF ist diese allerdings recht schwach ausgebildet, sie beschränkt sich auf jenes Kapitel, in dem er die stagnierende Entwicklung des Fegefeuers im frühen Mittelalter im Akt des Lesens nachvollziehbar machen will. Bei Duby hingegen ist der metatextuelle Effekt überaus deutlich: Die historische Vergangenheit wird als ein Bühnengeschehen dargestellt, wodurch ein negativer effet de reel entsteht. Es ist wohl nicht übertrieben, darin eine selbstreflexive Thematisierung der konstitutiven Bedeutung des Fiktiven in der Darstellung von Geschichte zu sehen, wenngleich dies auf eine Weise geschieht, die nicht den Konventionen des historischen Diskurses entspricht. Die Analysen von vier historiographischen Texten können notwendigerweise keine Basis für allgemeine Aussagen über die Innovationsgrenzen der Historiographie nach dem Vorbild der fiktionalen Literatur sein. Sie liefern aber einen Ausgangspunkt für Überlegungen zu der Frage, warum sich das historische Erzählen als so resistent gegenüber den Entwicklungen der modernen Literatur erweist. Die Diagnose der Moderne, dass die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität dem Subjekt prinzipiell nicht verfugbar ist, hat letztendlich dazu geführt, dass sich Historiographie und Literatur immer weiter voneinander entfernt haben - eine Entwicklung, die sich nicht allein durch die Verwissenschaftlichung und die universitäre Institutionalisierung der Geschichte

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erklären lässt. Dies wird durch einen vergleichenden Blick auf nouvelle histoire und nouveau roman deutlich. Für die französische Literatur waren die fünfziger bis siebziger Jahre eine extrem theoriefreudige Zeit. Der avantgardistische Roman dieser Periode zeichnet sich durch eine dezidiert amimetische Narration aus. Darunter ist eine Schreibweise zu verstehen, die die traditionellen Kategorien des Erzählens ablehnt3. Als wesentliche Charakterzüge dieser Romane wären zu nennen: Selbstreflexivität, das Zurückstellen des enonce zugunsten der enonciation, der ,Primat des Signifikanten', Vernachlässigung des Erzählens zugunsten der Beschreibung, Auflösung der Chronologie, Entkausalisierung, Depersonalisierung, Multiperspektivität, fingierte Kontingenz. Alain Robbe-Grillet spricht von „le personnage", „l'histoire", „l'engagement" und „la forme et le contenu" als „quelques notions perimees"4 Das traditionelle' Erzählen, wie es ihm paradigmatisch durch Balzac verkörpert zu sein schien, geriet nicht nur bei Robbe-Grillet in den Verdacht, Kohärenz herzustellen, wo diese einfach nicht mehr erfahrbar sei: Tous les elements techniques du recit - emploi systematique du passe simple et de la troisieme personne, adoption sans condition du deroulement chronologique, intrigues lineaires, courbe reguliere des passions, tension de chaque episode vers une fin, etc.-, tout visait ä imposer l'image d'un univers stable, coherent, continu, univoque, entierement dechiffrable. Comme l'intelligibilite du monde n'etait pas mise en question, raconter ne posait pas de probleme. L'ecriture romanesque pouvait etre innocente5.

Robbe-Grillets Anmerkungen zum Erzählen ähneln nicht nur Barthes' Kritik an der Geschichtsschreibung, sondern auch der Kritik der Annales an der politischen Ereignisgeschichte. Auch Michel Butors Reflexionen

3

Vgl. Edward Reichel: „Der Roman und das Geschichtenerzählen. Ihre Kongruenz und Diskrepanz in der Romanforschung (1890-1970)", in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 296-345. Zur Kritik dieser Konzeption siehe: Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman, München 1976. Alain Robbe-Grillet: Pour un nouveau roman, Paris 1963, S. 29-53. Robbe-Grillet: Pour un nouveau roman, S. 37. Diese Kritik des Romans plädiert für einen radikalen Bruch mit der Tradition, jedoch ohne die Abhängigkeit von der Folie der Tradition als unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis ihrer .absolut neuen' Werke zu reflektieren. Bezeichnenderweise muss Jean Ricardou denn auch auf Stendhal zurückgreifen, um seine Ansicht über den Roman verständlich zu machen: „Le roman, ce n'est plus un miroir que l'on promene le long d'une route; c'est l'effet de miroirs partout agissant en lui-meme" (Jean Ricardou: „Nouveau Roman, Tel Quel", in: Poetique 4 (1970), S. 452).

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über den Roman als „laboratoire du recit" lassen sich in diesem Kontext lesen: [...] il est evident que la forme etant un principe de choix [...], des formes nouvelles reveleront dans la realite des choses nouvelles [...]. Inversement, ä des realites differentes correspondent des formes de recit differentes .

Übertragen auf die Problematik der immanenten Geschichtsbilder, die historiographische Texte durch ihre Form transportieren, bedeutet dies nichts anderes, als dass eine politische Ereignisgeschichte eine andere Vorstellung davon vermittelt, was Geschichte ist, als eine Erzählung in der longue duree. Es sei hier noch einmal an Chartiers Betonung der verschiedenen Erkenntnisweisen von verschieden gedachten historischen Realitäten'7 erinnert. Damit stoßen die Parallelen zwischen nouveau roman und nouvelle histoire freilich auch schon an ihre Grenzen. Die Fiktion kann das Spiel der narrativen Fragmentierung und der Selbstreferentialität bekanntermaßen so weit treiben, dass sich die geschilderten Ereignisse auf der Handlungsebene gar nicht mehr zu einer verständlichen Geschichte zusammenfugen. Historikern ist diese Möglichkeit der fingierten Opazität versperrt. Sie können den Anspruch nicht aufgeben, historische Veränderungen konsistent zu erzählen, wollen sie noch am „kommunikativen Text" (Röttgers) des Geschichtenerzählens teilnehmen. Die -4wMT/es-Geschichtsschreibung ist den Herausforderungen der Moderne auf andere Weise begegnet: Auch sie entfernte sich vom „personnage" (Robbe-Grillet), jedoch nicht durch die Auflösung der Schemata narrativer Sinnbildung, sondern durch die Hinwendung zur longue duree, zu den ,Gefangnissen der Strukturen'. Damit wiederum ist ein Weg benannt, der der fiktionalen Literatur versperrt bleiben muss, denn sie kann die Ebene menschlicher Handlungen nicht vollständig verlassen: Sie ist an die kurze Dauer gebunden. Was ihr allein bleibt, ist die formale Fragmentierung und Reflexion tradierter Erzählschemata. Nouveau roman und nouvelle histoire treffen sich darin, dass sie Geschichten über die Ohnmacht individueller Handlungen erzählen, diese, in dem sie die Subjekte der Erzählung auswechselt, jener, indem er selbstreferentiell wird. Nun kann man auch der Historiographie eine bestimmte Form von Selbstreflexivität und selbst von narrativer Fragmentierung nicht abspre6

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Michel Butor: „Le roman comme recherche", in: Ders.: Repertoire, Paris 1960, S. 711, hier: S. 9. Siehe Kap.2,Anm. 101.

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chen. Aufgrund der oben beschriebenen Modernisierungsgrenze äußern sich beide allerdings auf eine spezifische Art und Weise. 3. Narrative Fragmentierung Wenn die Geschichtsschreibung nicht auf konsistentes Erzählen verzichten kann, dann sollte man daraus eigentlich folgern, dass eine Fragmentierung des narrativen Syntagmas, wie man es aus dem nouveau roman kennt, in ihr keine Rolle spielt. Gegen diese These lässt sich das Argument vorbringen, dass die Historiographie die Fragmentierung des Erzählens in dem ihr möglichen Maße nachvollzogen hat - als eine Reaktion auf die Einsicht in die prinzipielle Uneinholbarkeit historischer Realitäten. Um jedoch weiterhin überprüfbare Aussagen machen zu können, haben die Historiker diese Erkenntnis nicht etwa auf ihre eigenen individuellen Texte bezogen, sondern auf den grand weit8 der Geschichte samt ihres „Großsubjekts (Christenheit, Menschheit, Nation, Abendland etc.)"9. Der Glaube an die Existenz einer Geschichte beinhaltete die Vorstellung einer , Realität schlechthin', folglich schlossen sich konkurrierende Deutungsmuster aus. Eine Darstellung konnte wahrer als die andere sein, so dass man von einem „intertextual antagonism"10 reden kann. Die ,neuen' historischen Erzählungen zeichnen sich durch verschieden gedachte historische Realitäten aus, die sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Ein Zustand, den Georges Duby auf den ebenso lapidaren wie griffigen Nenner bringt: „II n'y rien ä gagner de ces discordes. Je ne pense pas qu'il y ait encore des Bastilles ä prendre"11. Und Pierre Nora schreibt im Klappentext der 1980 begründeten Gallimard-Reihe Bibliotheque des his toi res (man beachte den Plural): „Nous vivons Peclatement de l'histoire". ,Die' Geschichte ist einer Vielzahl von Geschichten gewichen: Mentalitätengeschichten, Wirtschaftsgeschichten, Sozialgeschichten, Geschlechtergeschichten, Kulturgeschichten - und natürlich nach wie vor politischen Geschichten. g

Vgl. Jean-Franifois Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 9 1979. Jörn Rüsen: „Was heißt: Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn)", in: Ders./Klaus E. Müller: Historische Sinnbildung. Problewstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 1747, hier: S. 19. Anne Rigney: The Rhetoric of Historical Representation. Three Narrative Histories of the French Revolution, Cambridge 1990, S. 47. Duby/Lardreau: Dialogues, S. 97.

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Was von ,der' Geschichte - nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis - übrigbleibt, ist die Vorstellung eines Regulativs, eine „ideelimite" (Paul Veyne), eine heuristische Fiktion, die alles beinhaltet, was durch eine Erzählung zum Ereignis werden kann, ein imaginärer Raum, in dem sich Erzählungen mit verschiedenen Subjekten und verschiedenen Geschwindigkeiten überkreuzen: „comme totalite, l'Histoire nous echappe, et comme entrecroisement de series, eile est un chaos semblable ä l'agitation d'une grande ville vue d'avion"12. Gleichwohl ist fraglich, ob es Historikern möglich ist, den Glauben an einen historischen Gesamtzusammenhang vollständig aufzugeben. Womöglich ist die Vielzahl von , wahren' Geschichten negativ immer noch der Vorstellung wenn nicht einer übergreifenden Geschichte, so doch eines Zusammenhangs verbunden, so wie jeder noch so stark fragmentierte Roman noch die Kenntnis kohärenter Erzählschemata voraussetzt, um verstanden zu werden. 4. Historiographische Selbstreflexivität Die Selbstreflexivität der Literatur resultiert daraus, dass sie das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nicht mehr unproblematisch voraussetzen kann. Sie erzählt (so die Logik nicht nur des nouveau romcm) deshalb nicht mehr länger Geschichten, sondern thematisiert die Wahrnehmung und den Konstruktionscharakter von dargestellter Wirklichkeit13. Das Resultat ist ein Schreiben über das Schreiben. In extremis fuhrt dies zu Romanen, die sich ausschließlich metatextuell lesen lassen, die Handlungsebene verkommt zur Konnotation14.

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Veyne: Comment on ecrit l'histoire, S. 43. Vgl. Küpper: Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung; Reichel: „Der Roman und das Geschichtenerzählen". Dass selbstreflexives Erzählen alles andere als ein Privileg der Moderne ist, verdeutlicht die grundlegende Studie von Michael Scheffel: Formen des selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997. Dies ist paradigmatisch der Fall in Georges Perecs lipogrammatischem Roman La disparition (Paris 1969). Die vordergründige Handlungsebene tritt weitgehend zurück hinter den metatextuellen Spielen, welche immer wieder auf die dem Text zugrundeliegende contrainte verweisen, die vollständige Absenz des Buchstaben ,e'. Dies gilt auch für solche Romane, die der „theorie des generateurs" folgen, etwa Claude Simons La bataille de Pharsale und die Romane Jean Ricardous.

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Auch die Historiographie kennt eine solche „Offenlegung der jeweiligen Verfahren" und „Ästhetik der problematisierten Erzählillusion"15 - allerdings in ganz anderer Form. Dubys Präsentation einer historischen Wirklichkeit als Bühnenspektakel stellt eine Ausnahme dar, in aller Regel bleibt historiographische Selbstreflexivität der Rekonstruktion der Vergangenheit nicht nur „funktional zu- und untergeordnet",16 sondern bleibt auch innerhalb eines Textes isolierbar, etwa als Information zum methodischen Vorgehen, als argumentative Begründung eines zuvor narrativ erstellten Zusammenhangs, als Quellenbeleg in einer Fußnote. In den Texten von Annales-Historikern sind selbstreflexive Passagen darüber hinaus noch durch einen - auch pronominal sehr präsenten - overt narrator leicht isolierbar. Man denke auch an jene Passage, in der sich Le Goffs Erzähler, auf seine abgeschlossene Erzählung des Fegefeuers zurückblickend, fragt, ob er denn nun wirklich die ,wahre' Geschichte des Fegefeuers berichtet hat, oder ob die Betonung eines anderen Aspekts zu einer anderen, konkurrierenden Erzählung gefuhrt hätte. Gleiches gilt fur die exzessive Verwendung der Adverbien „perhaps" und „probably" und den in seiner Zusammenfuhrung von extradiegetischem Erzähler und intradiegetischer Figur etwas kokettierenden Schlusssatz in The Return of Martin Guerre: „I think I have uncovered the true face of the past - or has Pansette done it once again?" Solche Beispiele unterstützen letztendlich die These, dass es Historiographie nicht ohne ein wie gering auch immer veranschlagtes Maß an Narrativität geben kann. Was ein Historiker allein tun kann, um den Wahrheitsanspruch seiner Erzählungen aufrechtzuerhalten, ist die kritische Reflexion des Erzählten (nichts anderes meint ja Ricceurs Begriff der coupure epistemologique). All diese Worte, Sätze und Paragraphen werden niemals ein Bestandteil der Makrostruktur. Sie sind innerhalb eines Textes ebenso leicht isolierbar wie Werke der Historik im „kommunikativen Text" des historischen Diskurses von historiographischen Werken im engeren Sinne unterscheidbar sind. Es kann deshalb auch keine Rede davon sein, dass historiographische Texte das problematische Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in ihrer Form zur Darstellung bringen. Die Selbstreflexivität wird nie zur Selbstreferentialität.

15

16

Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1780, Berlin/New York 1996, S. 468. Ebd., S. 469.

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5. Der Historiker als Mystagoge und Detektiv Die bisherigen Bemerkungen betrafen im wesentlichen die Ebene der histoire. Was die Ebene des discours betrifft, haben wir gesehen, dass sich Historiker eine narrative Stimme geben, wenn sie Geschichte zur Darstellung bringen. Die Textanalysen erlauben es uns, von zwei idealtypischen historiographischen Erzählerrollen zu sprechen, dem Mystagogen und dem Detektiv. Unter einem Detektiv ist ein Erzähler zu verstehen, in dessen Text die Reflexivität einen breiten Raum einnimmt. Er ist ein akribischer Spurensucher, der sich auf einen kritischen Leser einstellt, den er stets auf dem laufenden darüber hält, warum er mit welcher Spur gerade auf welche Weise umgeht. Diese Art von Geschichtsschreibung erinnert an den Kriminalroman: Die historische Vergangenheit ist der Fall, den es aufzuklären gilt, und darüber liegt eine zweite Erzählung, diejenige der Forschungsarbeit, der Geschichte der Ermittlungen im Kriminalroman entsprechend. Der Leser nimmt dabei die Rolle des Auftraggebers ein. Bei diesem Erzählertypus tritt die coupure epistemologique besonders deutlich zutage, daher entspricht er dem Ideal der wissenschaftlichen Geschichte, er liefert Objektivität im Sinne von Überprüfbarkeit. Unter einem Mystagogen ist ein Erzähler zu verstehen, der besonderen Wert auf die Anschaulichkeit der von ihm rekonstruierten Vergangenheit legt. Auf Fußnoten kann er weitgehend verzichten, da er fur einen tendenziell unkritischen Leser schreibt, der die Autorität des Historikers anerkennt und sich von ihm bereitwillig an die Hand nehmen lässt, um sich in die Tiefen der historischen Vergangenheit hinab fuhren zu lassen. Der Mystagoge ist derjenige, der den Vorhang hebt auf das Schauspiel der Vergangenheit. Davis und vor allem Duby entsprechen diesem Typen, während Le Goff als akribischer Textphilologe und Le Roy Ladurie als objektiver Auszähler von Hektaren eher dem Detektiv entsprechen. Obgleich sich die drei von Jauß beschriebenen Funktionen des Fiktiven in jeder Historiographie aufspüren lassen, versteht es sich von selbst, dass der Mystagoge, um eine möglichst hohe Anschaulichkeit zu erzielen, häufiger als der Detektiv auf Vermittlungsverfahren zurückgreift, die wir aus der fiktionalen Literatur kennen: Dramatisierende Zuspitzungen, Fokalisierungen, szenische Darstellung des Geschehens und ein romanhafter' Stil. Francois Füret schreibt all diese Merkmale einer traditionellen' Geschichtsschreibung zu, von der sich die Annales gerade absetzen:

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L'historien est comme un peintre de genre: le cadre (c'est-ä-dire la periode), le sujet (c'est-ä-dire ce qu'il va choisir de la periode) lui sont donnes plus par les hasards de la vie que par le travail de Γ esprit. Mais ils ne disent rien de son art, qui est le vrai secret du metier, et qui ne consiste pas ä imaginer des rapports entre plusieurs ordres de faits reputes jusque-lä independents, ou ä poser des questions nouvelles sur des faits dejä connus; non, l'historien doit surtout rendre ä Γ existence par la magie de son recit, toutes ces vies, ces pensees, ces passions, perdues dans ces manuscrits anciens que personne, avant lui, n'a jamais relus. [...] Au centre de cette conception du metier et de la discipline, il y a le depot d'archives, de preference local, saints des saints dont Pinvestissement progressif donne son sens ä l'activite de l'historien. [...] Et le travail historique par excellence est le tete-ä-tete du chercheur avec ses archives, s'il accepte d'avance que ce soit elles qui aient le ,dernier mot' .

Die Vertreter einer solchen Geschichtsschreibung gehen, so Füret, auf eine ,imaginäre Reise'18, sobald sie die Archive betreten. Ihre Absicht, die Vergangenheit wieder lebendig und anschaulich zu machen, hält Füret entweder für ,absurd' oder zum Bereich der Kunst gehörend19. Die Erzählungen, die dabei entstehen, mobilisierten „plus le pouvoir d'evocation de l'historien que sa capacite proprement intellectuelle, son art plus que son esprit, sa sensibilite plus que son intelligence". Sie zeugten vor allem von der Sympathie des Historikers für das „vecu", welche zur Kategorie des Affektiven und Ideologischen gehört und deshalb eine Gefahr für die nüchtern gestellte Erkenntnisfrage darstellt20. Die Textanalysen haben indes gezeigt, dass selbst die angeblich so antinarrativen Annales-Historiker nicht ohne eine solche , Magie der Erzählung' auskommen. Es wäre daher zu überlegen, ob die beiden ErzählerIdealtypen nicht zwei Stränge der jüngeren Historiographiegeschichte repräsentieren, die bis in die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts fortwirken: Der Mystagoge stünde dann in der Tradition der Micheletschen Beschwörungen der Vergangenheit, während der Detektiv der später einsetzenden verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung zuzuordnen wäre. Moderne historiographische Texte würden sich dann prinzipiell zwischen diesen beiden Extremen bewegen. Damit verweisen die beiden idealtypischen Erzählhaltungen womöglich auf eine konstitutive Hybridität der Historiographie: Deren doppelte kulturelle Funktion besteht erstens im Erzählen wahrer Geschichten, zweitens aber auch darin, die Vergangenheit 17

18 19 20

Füret: L 'atelier de l'histoire, S. 19 f. Ebd,S. 20. Ebd., S. 21. Ebd, S. 23 f.

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als ästhetische Illusion wieder erfahrbar und nachvollziehbar zu machen. Die Kombination der beiden Aspekte macht die spezifische Faszination der Gattung aus. Historiker sind gesellschaftlich damit beauftragt, mit den Toten zu sprechen bzw. ihnen ihre Stimmen zu leihen - und dies auf eine intersubjektiv überprüfbare Art und Weise. Sie sind, wie Stephen Greenblatt es von den Literaturprofessoren gesagt hat, womöglich nichts anderes als „salaried, middleclass shamans"21. Erkenntnistheoretisch handelt es sich dabei zwar um ein recht fragwürdiges Unternehmen, doch lässt sich nicht leugnen, dass die untergegangene Wirklichkeit das Objekt des historiographischen Begehrens bleibt. Mittels der oben genannten fiktionstypischen Darstellungsmittel lässt sich zumindest illusorisch der Effekt erzielen, dass sie uns nicht gänzlich verlorengegangen ist. Die beiden historiographischen Erzählertypen entsprechen somit zugleich der in der Einleitung angesprochenen Hybridität der Geschichtsschreibung zwischen Wahrheitsanspruch und Fiktionalisierung. In jeweils verschieden großen Anteilen lassen sich beide Rollen in wohl jedem historiographischen Erzähler wiederfinden: Die Suggestionskraft des Mystagogen lässt uns die zeitliche Distanz vergessen, die uns von der für immer verlorenen Vergangenheit trennt, der reflektierende, seine Verfahren offenlegende Wissenschaftler ruft uns diese Distanz wieder ins Gedächtnis und erinnert uns so wieder an unsere Gegenwart - und an unsere Zukunft, unseren Tod, unser eigenes historisch Werden22. 21

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Stephen Greenblatt: Shakespearian Conversations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley/Los Angeles 1988, S. 1. Solche Zuschreibungen kommen durchaus nicht nur aus den Reihen des New Historicism. So stellt ζ. B. auch Jörn Rtisen eine Verbindimg zwischen den Historikern von heute und archaischen Priestertypen her: „In alten Gesellschaften waren es Magier und Zauberer, die den Wissensschatz der Geschichten hüteten, in dem eine Lebensgemeinschaft sich kulturell ausdrückte" (Rüsen: Zeit und Sinn, S. 12). Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: „Take a Step Back - And Tum Away from Death! On the Moves of Historicization", in: Historicization - Historisierung, hg. ν Glenn W. Most, Göttingen 2001, S. 365-375, hier S. 374 f.: „There is a style of writing history today whose main (if not only) ambition lies in making us forget that the past is no longer present. Making material objects from the past present and tangible - or at least pointing to them - often seems to produce the truly magic effect of eleminating the temporal distance that separates us from the desired past (or, to be more precise, it helps us to produce the illusion of this effect). Indulging, then, in the illusion that we can make the dead speak to us - and, if one may say so, that we can make them speak to us just for our pleasure - is a way of overcoming the treshold of death which relies in actively ignoring the death of those who have lived before us (together with ignoring the temporal limitations set by our own birth). [...] turning to the past, making the

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In der gesellschaftlichen Funktion des Historikers als Mystagoge oder Schamane ist deshalb die vielleicht bedeutendste Modernisierungsgrenze der Geschichtsschreibung zu sehen: Während sich der avantgardistische Roman durch eine Tendenz zur Erkenntniskritik und damit zu intellektuellem Spiel und Selbstthematisierung auszeichnet, verlangt die Vergegenwärtigung des Vergangenen als ästhetische Illusion nach eher traditionellen Darstellungsverfahren, welche geeignet sind, die ganze Vielfalt menschlicher Handlungen abzubilden - und nicht nur, selbstthematisierend, jene eine Handlung, die darin besteht, Geschichte zu schreiben.

dead ,speak' in order to overcome the treshold of death, unavoidably implies a turning away from that future in which our own death will lie."

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Droysen, Johann Gustav 4, 13, 32, 46 Duby, Georges 14, 51, 53-85, 93, 130-131, 145, 147, 160-161, 180, 186, 188, 191 ,193-194 Eco, Umberto 141 Eggert, Hartmut 6 Evans, Richard J. 2, 4-6, 162 Favier, Jean 69 Febvre, Lucien 12, 59, 92, 124 Finlay, Robert 162, 174 Frye, Northrop 19, 22 Fulda, Daniel 2, 9, 160, 193 Füret, Francis 13, 32, 87-88, 90, 97, 166, 187, 194-195 Gallie, William B. 16, 26 Gearhart, Suzanne 11 Geertz, Clifford 159 Genette, Gerard 30, 33-42, 45, 52 Ginzburg, Carlo 10, 46, 160-161 Gossman, Lionel 48 Greenblatt, Stephen 159, 196 Greimas, A.J. 152 Gumbrecht, Hans Ulrich 72, 80, 82, 196 Hamburger, Käte 27 Hanisch, Ernst 1 Hardtwig, Wolfgang 1 Harth, Dietrich 6, 9, 160 Hartog, Francois 57 Hempfer, Klaus W. 189 Hernadi, Paul 48 Hobsbawm, Eric 14

210 Hunt, Lynn 12 Iggers, Georg G. 12, 14, 109, 125, 159-160, 162 Ingarden, Roman 27 Jäger, Stephan 183 Jauß, Hans Robert 44, 184, 194 Julia, Dominique 57 Kablitz, Andreas 38, 44 Kessel, Martina 2 Kocka, Jürgen 6, 9, 160 Koselleck, Reinhart 8, 16, 44, 4850, 57, 114, 131 Küpper, Joachim 28, 192 LaCapra, Dominick 158 Lämmert, Eberhard 4, 9-11, 34-35 Lardreau, Guy 59, 191 Lavisse, Ernest 35, 56, 59, 78 Le Goff, Jacques 14, 54, 124-157, 170, 186, 188,193-194 Le Roy Ladurie, Emmanuel 4, 14, 51, 54, 86-123, 130, 147, 158159, 163, 175, 187-188, 194 Lewis, Janet 161, 179 Lotman, Jurij M. 52, 55, 58, 73, 84, 111, 147 Lübbe, Hermann 155-156 Lüsebrink, Hans-Jürgen 22 Lutz, Heinrich 44 Lyotard, Jean-Fransois 191 Martin, Herve 86 Massmann, Karl 4-5 Maurer, Michael 158, 160 Medick, Hans 158 Meier, Christian 8 Michelet, Jules 3, 5, 20, 21, 31, 3536, 45, 66, 92, 195 Mink, Louis 16 Morin, Edgar 58

Index Nipperdey, Thomas 6 Nora, Pierre 191 Nünning, Ansgar 9, 21, 38, 48-49, 183 Pomian, Krzysztof 124 Profitlich, Ulrich 6 Prost, Antoine 94 Ranciere, Jacques 6, 13, 25, 94, 116, 186

Ranke, Leopold von 3, 4, 12, 21, 153 Raphael, Lutz 12, 14, 89. 123, 124, 158 Raulff, Ulrich 97 Reichel, Edward 189, 192 Revel, Jacques 54, 123 Ricardou, Jean 47, 189, 192 Ricceur, Paul 12, 13, 22, 23-26, 52, 87, 94, 96, 156, 157, 193 Rigney, Anne 11, 191 Robbe-Grillet 8, 28, 189-190 Rossi, Pietro 16, 49 Röttgers, Kurt 5-6, 10, 163, 190 Rüsen, Jörn 3, 10, 11, 22, 44, 49, 191, 196 Scheffel, Michael 192 Scherpe, Klaus R. 6 Scholz-Williams, Gerhild 16 Stanzel, Franz Κ 39-40, 42 Stempel, Wolf-Dieter 8, 107 Stierle, Karlheinz 6, 32, 43, 82 Stoianovitch, Traian 12, 14, 125 Stone, Lawrence 14, 34, 54, 60, 6263 Thierry, Augustin 3-4, 31, 117 Thompson, Willie 2 Todorov, Tzvetan 46

Index

Veyne, Paul 1, 13, 22-23, 26, 41, 192 Vigarello, Georges 130 Vovelle, Michel 88, 130, 132 Warning, Rainer 32, 82

211 White, Hayden 1-2, 5-7, 9, 13, 1722, 23, 24, 26, 52, 94, 121, 138, 188 Windschuttie, Keith 3 Zipfel, Frank 38