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German Pages 336 Year 2023
Eva Lieberich Neid und soziale Ordnung
Trends in Medieval Philology
Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa
Volume 44
Eva Lieberich
Neid und soziale Ordnung Diskurse, Strukturen, Narrative
D 188
ISBN 978-3-11-117915-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-120210-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-120290-7 ISSN 1612-443X Library of Congress Control Number: 2023937608 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung „Es wird Zeit, den Neid zu verteidigen.“1
Die vorliegende Studie basiert auf meiner Dissertation, die ich an der Freien Universität Berlin im Jahr 2019 verteidigt habe. Begonnen wurde sie an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, die die ungestörte Arbeit am Buch über drei Jahre mit einem Stipendium ermöglichte. Für die Aufnahme in die Reihe Trends in Medieval Philology danke ich den Herausgebern Ingrid Kasten, Niklaus Largier und Mireille Schnyder. Eva Locher und Laura Burlon haben von Verlagsseite dafür gesorgt, dass das Manuskript als Buch Form annahm. Viele Menschen haben den Weg von den ersten Ideen zur Drucklegung begleitet und unterstützt. Ihnen allen möchte ich danken und einige namentlich hervorheben: Sebastian Coxon, Matthias Meyer und Michael Mecklenburg haben im Studium meine Begeisterung für die mittelalterliche Literatur geweckt und gefördert. Ingrid Kasten hat mich in die Emotionsforschung eingeführt und stand im besten Wortsinn als ‚Doktormutter‘ immer bereit, selbst unfertige Kapitel zu lesen und in schwierigen Phasen des Schreibprozesses zu beraten. Elke Koch hat zentrale Hinweise für die methodische Konzeption der Dissertation gegeben und vielerorts rote Fäden gelegt. Bernd Roling hatte ein offenes Ohr für alle Fragen zur Diskursgeschichte des Neids und gab zahlreiche Literaturhinweise. Martin Baisch war mein wichtigster Gesprächspartner zum Verhältnis von Anerkennung und Neid und in vielen Situationen eine wichtige Entscheidungshilfe. Wegweisende Anregungen für die Konzeption dieses Buches habe ich während eines von Thomas Y. Levin ermöglichten Auslandsaufenthalts an der Princeton University erhalten. Das Seminar Tristans inspirierte mich zu einer vergleichenden Analyse von Eilharts und Gottfrieds Tristan-Romanen, im Gespräch mit Daniel Heller-Roazen wurde ich auf die Relevanz der Sprachsündendebatte für die literarische Darstellung von Neid aufmerksam. Auch an die Einladung von Jessica Rosenfeld zu einer Lunch Lecture an die Universität St. Louis denke ich dankbar zurück. Die gemeinsame Diskussion über Neidrhetoriken in heutigen sozialen Debatten bestärkte mich darin, die Bewertungsdimension von Neid genauer zu untersuchen. Wichtig für den Fortschritt der Arbeit war nicht zuletzt der Austausch mit anderen Doktoranden und Freunden: Ich danke den Teilnehmern des Sewanee Medieval Colloquium 2014, den Doktorandencolloquien an der Freien Universität Berlin, der Universität Kassel, der Universität Hamburg sowie dem Mediävisti HARTMANN, Michael: Zur Verteidigung des Neids. In: Merkur 840 (2019), S. 85-91, hier S. 85. https://doi.org/10.1515/9783111202105-202
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Danksagung
schen Kolloquium der Humboldt Universität dafür, dass ich Teile meiner Dissertation dort vorstellen und diskutieren durfte. Mein besonderer Dank gilt Anabel Recker, Kai Schöpe, Katharina Engler-Coldren, Tilo Renz, Katie Stone und Erica Wickerson, welche Korrektur- und Literaturhinweise gaben. Anne Sedlmayer brachte mit ihrem analytischen Blick Ordnung in manches gedankliche Chaos und half bei der Vorbereitung der Disputation. Ebenso bedeutend wie die inhaltliche war die persönliche und emotionale Unterstützung, die ich während der Arbeit an diesem Buch erfahren habe. Meinen Freunden danke ich für den Mut und die Stärke, die sie mir verliehen haben, meiner Familie für ihre Geduld mit meinem Buchprojekt und ihren Rückhalt. Persönlich danken möchte ich Janin, Anabel, Lydia, Anne, Janni, Hanna, Katharina E. und Katharina S. für ein Leben jenseits der Dissertation, Lore und Ilse für ihren Glauben an mich und ihre Herzlichkeit, Rolf und Ute für ein zweites Zuhause in Hamburg. Meine Eltern und meine Schwester Anke unterstützen meine Leidenschaft für Literatur von Kindesbeinen an. Mein Vater hat seine Faszination für alte, fremde Kulturen an mich weitergegeben, meine Mutter und meine Schwester führten mich ins Diskutieren über Bücher ein. Meine Mutter hat diese Arbeit zudem mehrmals aufmerksam und kritisch Korrektur gelesen. Christoph, der seit Beginn des Projekts als ‚Lebensmensch‘ an meiner Seite und mein beständiger Gesprächspartner ist, ist dieses Buch gewidmet. Potsdam im Mai 2023
Eva Lieberich
Inhaltsverzeichnis Danksagung
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Neid – eine Emotion der Moderne? Eine Vorbemerkung
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1
Einleitung – Keies Neid und die Ordnung des Artushofes
2
Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids 17 Ort und Ordnung 17 Funktionsweisen von Neid in Ordnungsdebatten um 1200 21 Definitionen – Neid als passio, Sünde und Hauptsünde 24 Sprechende Neider 31 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster 36 Die semiotische Perspektive – Neid als Fehler im Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen 37 Die heilsgeschichtliche Perspektive – Neid als Unterscheidung von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ 38 Die sozial-ethische Perspektive – Neid als falsche Identifikation mit dem Nächsten 43 Die hofkritische Perspektive – Neid als Verfolgung der Besten 46
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.4 3.5
Methodische Überlegungen 51 Begriffsbildung 51 Probleme der historischen Semantik 51 Neid als trianguläre soziale Emotion 54 Konzeptionalisierungen von Neid 58 Forschungsüberblick – Neid als Teil höfischen Agons und als Verstoß gegen die caritas 60 Neid als negative Emotion? Neid und Gesellschaft in der modernen Emotionstheorie 69 Methode: Das Erzählen von Neid als ‚Verhandlung‘ höfischer Ordnung 73 Untersuchungsschwerpunkt und Vorgehen 75
8
VIII
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3
Inhaltsverzeichnis
Der Neid auf den Günstling 78 Gunst und Günstling in der Geschichtswissenschaft 78 Herzog Ernst B – Problematisierung der Gunst im Personenverbandsstaat 85 Der neidische Zorn Heinrichs als (un-)soziale Emotion 88 Das neidische Sprechen und die Erkennbarkeit der triuwe 91 Übertragungen 96 Neid und die Bruchstellen des Personenverbandsstaats 98 Die huld des Herrschers und die huld Gottes in der CrescentiaLegende 100 Maisterîn 104 Neid und die Identität der Heiligen 107 Herrschaftskrisen 112 Göttliche und weltliche Strafe 117 Verdoppelungen. Der falsche und der wahre Günstling in De Contrarietate Parii et Lausi 120 Teuflische Ansteckungen 122 Contrarietas 125 Gesteigerte Wiederholung 134 Neid-Didaxe und Rhetorik 143 Literarische Günstlingsdiskurse 147 Die Vielen und der Eine 152 Hof- und Herrschaftskritik – Der betrogene König 154 Ökonomien der königlichen Gunst 158 Der gespaltene Hof 160 Der Herrscher im Fokus 165 Huiusmodi sunt lusus curie 168 Der Neid der maugen – Gruppenneid als Sorge um den Herrschaftserhalt 170 Gleichheitsstreben und Herrschaftssicherung 171 Gruppenneid in der Diskussion 174 Die zagen und der vrume – Neid als Übereinkunft einer schwachen Elite 178 Gruppenneid als Mangelerscheinung 180 Der vrume Rezipient 183 Exzeptionalität – Tristan und die neidische Hofgesellschaft Einebnung von Unterschieden 187 Neidlektüren 189 Kehrseite der Bewunderung 192
185
Inhaltsverzeichnis
5.4.4 5.4.5 5.5
Gestörte Hierarchien 196 Exzeptionalität ohne Neid? 199 Schlaglichter auf einen Hof in Aufruhr – Gruppenneid zwischen Hofkritik und Herrschaftsverteidigung 203
6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3
Neidische Minnefeinde 207 Das Motiv der neidischen Minnefeinde 207 Antret, der zag, und die verspätete huote 210 Antrets doppelter Neid 211 Kain untugent er nie erkant 213 Verrautten und verlogen 215 Das Lachen der und das Lachen über die huote 219 Der nîdege Marjodô – cumpanjûn Tristans, Verehrer Isoldes und truhsaez Markes 222 Bedingungen der Freundschaft 223 Freundschaft als Täuschung 231 Die Rekonfiguration des nît 234 Jener slange, dirre hunt 237 Der neidische Rivale als Alter Ego des Protagonisten 240 Verbunstes gir 243 Beobachten, nachahmen, ersetzen 246 keiner slahte gunterfeit 251 Neid und huote 258
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Der Protagonist und der Neider vor Gericht 262 Der Neidvorwurf als rhetorische Strategie 262 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber 265 Prekäre Ökonomien – das Dilemma der Weisheitsprobe 266 Topisches Erzählen 268 Erzählen als Kombinationskunst: Nît und wîsheit 270 Die Weisheitsprobe des Königs 272 Ethische Aporien. Die Transgressionen des Helden und des Neiders in Konrads Engelhard 274 Im Baumgarten – Rechtliche, soziale und politische Dimensionen des Liebesakts 277 Normüberschreitung versus Normüberschreitung 279 Der angeklagte Ankläger. Das intentionale Verständnis der detractio 282
IX
X
Inhaltsverzeichnis
7.3.4 7.3.5 7.4
Zwei Deutungen der Sünde des Neiders Hierarchiekonflikte als Subtext 288 Von und durch Neid erzählen 289
286
8.1 8.2 8.3
Der Neid und die höfische Ordnung – Überlegungen zum Schluss 292 Neid als negative Emotion? 293 Neid als Deutungs- und Bewertungsmechanismus 296 Verhandlungen höfischer Ordnung 299
9
Literaturverzeichnis
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Register
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Neid – eine Emotion der Moderne? Eine Vorbemerkung Man darf sich nicht verhehlen, daß die demokratischen Einrichtungen das Gefühl des Neides im menschlichen Herzen in hohem Maße fördern. Das geschieht nicht so sehr, weil sie jedem die Mittel geben, den anderen gleich zu sein, als vielmehr, weil sich diese Mittel denen, die sie brauchen, beständig versagen. Die demokratischen Einrichtungen wecken und schüren das leidenschaftliche Verlangen nach Gleichheit, ohne es je völlig stillen zu können.1
Diese Zeilen aus Alexis de Tocquevilles 1835 erstmals veröffentlichter Studie De la démocratie en Amérique begründen eine Deutungstradition, welche die Diskussion über die Emotion Neid noch heute prägt. Ihr Inhalt lässt sich ausgehend von dem Zitat wie folgt zusammenfassen: Die moderne Demokratie sei nicht allein Produkt des Gleichheitsstrebens, sie selbst bringe dieses paradoxerweise in bisher unbekannten Ausmaßen hervor. Indem sie die ständischen Barrieren auf politischer und rechtlicher Ebene beseitige, errege sie zum einen die Einbildungskraft. Dem Diener sei es nun möglich, sich mit dem Herrn, dem Armen sich mit den Reichen und dem Bauern sich mit dem Städter zu vergleichen.2 Da die Demokratie es zum anderen jedoch nicht schaffe, für eine vollständige Angleichung der Lebenslagen zu sorgen, setze sie mit dem Gleichheitsstreben zugleich den Neid auf den nächst Höhergestellten frei.3 In der Textpassage umreißt Tocqueville derart einen speziellen Fall dessen, was im Englischen im Anschluss an Hesiod und Aristoteles als neighbourhood envy4 bezeichnet wird: Gleichheitsstreben und Neid gehen – so Tocqueville – in der Demokratie miteinander einher, was ihn dazu
de Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika. Erster Teil; Zweiter Teil. Aus dem Französischen neu übertragen von Hans ZBINDEN, Stuttgart 1962 (Alexis de Tocqueville. Werke und Briefe Bd. I.), S. 227. Ebenda, S. 60 f. Für eine ausführlichere Analyse des Verhältnisses von Demokratie, Gleichheitsstreben und Neid bei Tocqueville vgl. NULLMEIER, Frank: Politische Theorie des Sozialstaats, Frankfurt, New York 2000 (Theorie und Gesellschaft 46), S. 34 f. sowie ELSTER, Jon: Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions, Cambridge u. a. 1999, S. 192–202. Zum Einfluss des sogenannten ‚Tocqueville-Paradox‘ auf die soziologische Theoriebildung zur Wahrnehmung sozialer Unterschiede vgl. NECKEL, Sighard: Wissenssoziologische Ursprünge der Ungleichheitstheorie. Das Toqueville-Paradox. In: Turn Over. Cultural Turns in der Soziologie. Festschrift für Helmuth BERKING. Hrsg. von Sybille FRANK/Jochen SCHWENK, Frankfurt, New York 2010, S. 333–340. Das Wort neighbourhood envy umreißt begrifflich die Idee, dass Neid sich immer auf ähnliche Personen bzw. auf Personen aus der gleichen gesellschaftlichen Sphäre richtet. Für die Verwendung dieses Terminus vgl. u. a. ELSTER, Alchemies of the Mind, S. 169 f. https://doi.org/10.1515/9783111202105-001
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Neid – eine Emotion der Moderne? Eine Vorbemerkung
veranlasst, von der „demokratischen Regung des Neids“ (envie démocratique)5 zu sprechen. Tocquevilles zunächst paradox anmutende, aber darum nicht weniger eingängige These stand am Anfang meiner Beschäftigung mit der Emotion ‚Neid‘ und hat mir im Verlauf der Arbeit an dieser Studie zunehmend Unbehagen bereitet. Der Grund hierfür liegt weniger in Tocquevilles Analyse selbst als in ihren Folgen. Als ‚demokratische Emotion’ hat der Neid in der politischen Philosophie und Soziologie seit Tocqueville Karriere gemacht. Die Emotion spielt überall dort eine zentrale Rolle, wo über den Gefühlshaushalt einer gelingenden Demokratie reflektiert,6 der Zwiespalt zwischen dem Versprechen der Chancengleichheit und den Problemen gerechter Güterverteilung diskutiert7 oder die Angemessenheit absoluter Gleichheitsforderungen kritisiert wird.8 Die Vorstellung von Neid als demokratischer Emotion beeinflusst jedoch nicht nur den Blick auf die Gegenwart. Mit ihr zusammen hat sich auch ein bestimmtes Narrativ der Geschichte der Emotion eingebürgert. In diesem funktioniert die mittelalterliche und frühneuzeitliche Ständegesellschaft als Gegenpol zur modernen ‚Neidgesellschaft‘. So stellt beispielsweise Martha NUSSBAUM in ihrer 2013 erschienenen Studie Political Emotions. Why Love Matters for Justice die monarchischen Regierungsformen der Vergangenheit den modernen Demokratien der Gegenwart in Bezug auf Neid gegenüber: Under absolute monarchy, people’s possibilities were fixed, and they might come to believe that fate, or divine justice, had placed them where they were. But a society that eschews fixed orders and destinies in favor of mobility and competition opens the door to envy for the prosperity of others.9
NUSSBAUM behauptet nicht, dass Neid in vormodernen Gesellschaften gänzlich unbekannt gewesen sei. Wie viele Andere geht sie aber davon aus, dass die Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit statisch gewesen seien und Neid
de Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika, S. 359. Vgl. NUSSBAUM, Martha: Political Emotions. Why Love Matters for Justice, Cambridge/Mass., London 2013, S. 339–346. Vgl. RAWLS, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann VETTER, Frankfurt 17 2010, S. 575–587 oder an ihn anknüpfend NECKEL, Sighard: Blanker Neid, blinde Wut? In: Ders: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Veränderte und erweiterte Neuausgabe. Frankfurt, New York 2000, S. 110–130. Vgl. SCHOECK, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg 1966, S. 255–283 sowie KERSTING, Wolfgang: Kritik der Verteilungsgerechtigkeit. In: Die Neidgesellschaft. Hrsg. von Robert GERNHARDT, Berlin 2001 (Kursbuch 143), S. 23–37, hier besonders S. 32–37. NUSSBAUM, Political Emotions, S. 339.
Neid – eine Emotion der Moderne? Eine Vorbemerkung
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dementsprechend eine randständige Rolle gespielt habe.10 Als typisch ‚demokratische Emotion‘ stellt Neid in ihren Augen konsequenterweise auch eine typisch moderne Emotion dar. Diese Vorstellung schlägt sich in kultur- und literaturwissenschaftlichen Analysen der Emotion nieder. Während die Erforschung von Neid in der mittelalterlichen Literatur nach wie vor eine Leerstelle darstellt,11 setzen Überblicksstudien, die den Anspruch haben, zu einer Kultur- und Literaturgeschichte der Emotion beizutragen, häufig erst im späten achzehnten oder neunzehnten Jahrhundert an.12 Um dies zu legitimieren, bedienen sie sich zweier Argumentationsmuster. Zum einen behaupten sie – wie René GIRARD in seinem Erstlingswerk Figuren des Begehrens – eine Zunahme von Neid in der Moderne. In den einführenden theoretischen Überlegungen zum mimetischen Begehren bei Cervantes, Stendhal, Flaubert, Proust und Dostojewski führt GIRARD aus, wie sich in Folge der modernen Verwischung der Unterschiede die klassischen Vorbildrelationen des mimetischen Begehrens in den Texten des neunzehnten Jahrhunderts in aggressive Neidrelationen verwandelt haben.13
Die beschriebene Argumentation findet sich in vielen sozialphilosophischen und soziologischen Analysen des Gefühlslebens der Moderne. Vgl. etwa BURKART, Günter: Distinktionsgefühle. In: Gefühle – Struktur und Funktion. Hrsg. von Hilge LANDWEER, Berlin 2007 (Deutsche Zeitschrift für Philologie, Sonderband 14), S. 159–174, hier S. 169 oder NECKEL, Sighard: Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle. In: Ders.: Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt, New York 2000, S. 2–10, hier S. 7 f. Bislang existieren sowohl im deutsch- wie auch im französisch- und englischsprachigen Raum lediglich wenige Aufsätze zur textuellen Gestaltung von Neid im Mittelalter. Vgl. hierzu den Forschungsüblick im Kapitel 3.2. Vgl. in der Reihenfolge ihrer ursprünglichen Erscheinungsdaten: GIRARD, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth MAINBERGER-RUH, Münster u. a. 22012 (Beiträge zur mimetischen Theorie 8); Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hrsg. von KREUZER, Tillmann F./WEBER, Kathrin, Gießen 2011; WILHELM, Fabrice: L’envie. Une passion démocratique au XIXe siècle, Paris 2013, S. 15–18. Eine Ausnahme stellen rein psychoanalytische Analysen des Neids dar, die jedoch die Zeitlosigkeit und Universalität betonen und selten die historische Entwicklung von Neidkonzeptionen diskutieren. Vgl. z. B. den Vortrag von Florence GUIGNARD auf dem interdisziplinären Colloquium Littérature et Psychanalyse in Mulhouse 2002: GUIGNARD, Florence: Lʼenvie, terre de désolation II. Quelques figures tirées de Shakespeare et de Molière. In: LʼEnvie et ses figurations littéraires. Hrsg. von Fabrice WILHELM, Dijon 2005, S. 21–32. GIRARD argumentiert hier ganz in Tocquevillescher Manier: „Nicht, weil die Zahl der ‚neidvollen Charaktere‘ oder ‚eifersüchtigen Temperamente‘ auf unselige und geheimnisvolle Weise überhandgenommen hätte, haben die modernen Empfindungen Hochkonjuktur, sondern weil die interne Vermittlung in einer Welt obsiegt, in der die Unterschiede zwischen den Menschen sich allmählich verwischen.“ Siehe: GIRARD, Figuren des Begehrens, S. 23. GIRARD nimmt an dieser Stelle nicht explizit auf Tocqueville Bezug; dass sich seine Argumentation auch aus der Lektüre
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Zum anderen wird der literarischen Darstellung von Neid seit dem späten achtzehnten Jahrhundert eine neue Qualität zugeschrieben. In ihrer Einleitung zum Konferenzband Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur skizziert Katrin WEBER für das späte 18., das 19. und zwanzigste Jahrhundert folgende diskurs- und literaturgeschichtliche Entwicklung: Der Leser werde aufgrund von Leerstellen im Text nicht nur zunehmend in die Deutung, Bewertung und Konstruktion beider Emotionen eingebunden, die moderne Literatur entferne sich von ihren mythischen Vorgängern auch durch eine immer stärkere Individualisierung und Differenzierung in der Beschreibung von Neid. Die Diskurse über Neid und Eifersucht verlagerten sich weg von sündentheologischen Erschließungsweisen hin zu solchen Deutungen, die den Normbruch und die Folgen beider Emotionen im Rahmen sozialer Gefüge beschreiben.14 Darüber hinaus komme es zu einer Ausdifferenzierung und Vervielfältigung der Emotionsdiskurse, neben den religiösen träte in der Moderne der medizinische, der philosophische und der psychologische bzw. psychoanalytische Diskurs.15 Im neunzehnten Jahrhundert setzt auch Fabrice WILHELMs Untersuchung Envie. Une passion démocratique au XIXe siècle an, die 2014 den Prix des Ambassadeurs und den Prix Montyon gewonnen hat. In ihr wird nun explizit ausformuliert, worin sich der mittelalterliche Neiddiskurs vom modernen unterscheidet. Um die Deutungstraditionen, mit denen sich die Texte Stendhals, Hugos, Balzacs, Zolas und Ibsens auseinandersetzen, genauer zu bestimmen, stellt WILHELM sei-
von Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika herleitet, macht er jedoch an vielen anderen Stellen deutlich. Vgl. ebenda, S. 70, S. 125 u. S. 141–143. Als frühes Beispiel für diesen Wandel dient Kathrin WEBER Rochefoucaulds Darstellung von Neid am Hof. Vgl. WEBER, Kathrin: Einleitung. Eifersucht und Neid zwischen Literatur und sozialer Situation. In: Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hrsg. von Tillmann F. KREUZER/Kathrin WEBER, Gießen 2011, S. 7–39, hier S. 11. Während WEBER die Wirkungen von Neid auf die Gesellschaft hervorhebt, nimmt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances FERGUSON umgekehrt die Prägung der Emotion durch die Gesellschaft für ihre Charakterisierung von Neid als moderne Emotion in den Blick. In ihrem bezeichnenderweise Envy rising betitelten Aufsatz über Dickens Our Mutual friend beschreibt FERGUSON die Figur des Schuldirektors Headstone als „first literary martyr to envy“. Dieser These liegt die Auffassung zu Grunde, dass Neid erst mit der Ausbildung klarer Bewertungskategorien im sozialen Feld als distinkte und identifizierbare Emotion hervortrete. Im Zeitalter des Utilitarismus und – wie die Ansiedlung der Neidhandlung im Schulmilieu zeige – mit der Entstehung der Massenbildung werde Neid in der Literatur als „first fully rationalized emotion“ verhandelt. Indem in der Volksschule sozialer Rang durch ein Ranking der Schüler nach Leistung ersetzt werde, sei die eigene Unterlegenheit nun nicht mehr Produkt persönlicher Einschätzung, sondern beruhe auf der Gewissheit objektivistischer Bewertungsraster. Vgl. FERGUSON, Frances: Envy rising. In: English Literary History 69 (2002), S. 889–905. Vgl. WEBER, Einleitung. Eifersucht und Neid zwischen Literatur und sozialer Situation, S. 11.
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nen Textanalysen eine epochenübergreifende Geschichte der Konzeption und Bewertung des Neids voran. Sei Neid in der Antike als Teil des gesellschaftlichen Agons begriffen worden und seien der Emotion somit sowohl positive als auch negative Seiten zugeschrieben worden, wandele sich Neid im mittelalterlichen Sündendiskurs seit Augustinus zur „expression psychologique du mal“.16 Es handelt sich laut WILHELM um die Ur-Sünde des Teufels, die dieser an die von ihm beneideten Menschen weitergebe. Bei den Theoretikern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts werde zusammen mit einem neuen Modell des Neids auch ein anderes Modell der Sündengeschichte möglich: Rousseau, Tocqueville, Michelet und Taine analysierten Neid nun in engem Zusammenhang mit der ihn hervorbringenden Gesellschaft. Neid sei zumindest teilweise Produkt des Sozialen, sodass aus der theologisch-psychologischen Geschichte des Bösen nun eine soziale und politische Geschichte des Bösen werde.17 Einhergehend mit den unterschiedlichen Konzeptionen von Neid skizziert Fabrice WILHELM jeweils auch ein anderes Verhältnis von Neid und Gesellschaft, eine andere politische Dimension der Emotion: In der Antike gehe es darum, Neid in Richtung seiner positiven Varianten des zélos zu kanalisieren, damit er die Ordnung der Polis stütze und nicht gefährde. Im Mittelalter werde Neid hingegen mit der Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung gleichgesetzt, sodass die Emotion in jedem Fall eingegrenzt und verhindert werden müsse. In Gersons Predigt Contre L’envie von 1403 münde dieses Unterfangen zuletzt in eine mittelalterliche Alternativversion der Tocquevilleʼschen These: Gerson nutzt – so WILHELM – die unvermeidbare Anwesenheit der Emotion Neid dazu, die Ständegesellschaft und mit ihr die Existenz sozialer Hierarchien zu rechtfertigen.18 Funktioniere das Erzählen von Neid hier also systemstabilisierend, schlage das Pendel ab dem neunzehnten Jahrhundert anders herum aus: Da Neid nicht mehr als Folge der Erbsünde des Menschen, sondern als gesellschaftlich verursacht begriffen werde, rege er dazu an, über alternative Gesellschaftskonzepte nachzudenken. Die neidfreie Gesellschaft
WILHELM, L’envie, S. 15. WILHELM führt diese These anhand eines Durchgangs durch die politische Theorie und Geschichtsschreibung des Revolutionszeitalters aus: Rousseau rechnet Neid dem verderblichen Einfluss der Gesellschaft auf den im Naturzustand guten Menschen zu. Bei Michelet erscheint die Ungleichheit – Rousseau weiterdenkend – so selbst als Ursünde, die sich in Form des Neids manifestiert. Indem neben dem Gerechtigkeits- und Freiheitsstreben auch Neid die Revolutionäre befeuere, schlage diese in Terreur um. Im Gegensatz zu Michelet interpretiert Taine den Neid als Produkt der Revolution, er ist die Verlustemotion des durch die Revolution deklassierten Adels sowie der neuen revolutionären Akteure in den Clubs und Versammlungen. Toqueville sieht den Neid – wie bereits beschrieben – als Produkt der zunehmenden Gleichheit in den neu entstehenden demokratischen Gesellschaften. Vgl. WILHELM, L’envie, S. 15–18. Vgl. WILHELM, L’envie, S. 82–97.
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Neid – eine Emotion der Moderne? Eine Vorbemerkung
werde im Anschluss an Rousseau als Ziel politischen Handelns ausgelobt, sodass der Neid seine Funktion als das Imaginäre der Ungleichheit gegen die des Imaginären der Gleichheit eintausche.19 Mit diesem Abriss entwirft Fabrice WILHELM eine wesentlich differenziertere Geschichte des Neides als WEBER. Beide stimmen jedoch darin überein, dass Neid in der mittelalterlichen Epoche und ihrer Literatur nur eingeschränkt als ‚soziale Emotion’ bezeichnet werden kann: Kathrin WEBER spricht der vormodernen Literatur die Fähigkeit der Reflexion über gesellschaftliche Auswirkungen von Neid ab. Fabrice WILHELM geht davon aus, dass Neid im Gegensatz zur Moderne nicht als Reaktion auf die gesellschaftliche Verfasstheit begriffen wird, sondern in Tradition der Erbsündenlehre des Augustinus ganz aus der verdorbenen Natur des Menschen hergeleitet wird.20 Das Narrativ von Neid als moderner Emotion gewinnt in ihren Ausführungen so weiter an Kontur. Beide messen der Emotion ‚Neid‘ in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht nur quantitativ geringeres Gewicht bei; im Vergleich mit und in Kontrast zu modernen Diskussionen um Neid und Gleichheit nehmen sie an, dass Neid im Mittelalter als der sozialen Ordnung vorgängig und unabhängig von ihr gedacht wird. Unübersehbar ist der teleologische Grundzug dieses Narrativs. Wie so häufig konstituiert der Blick aufs Mittelalter den Diskurs über die Moderne mit: WILHELM stellt seiner Studie eine epochenübergreifende Diskursgeschichte des Neids nur voran, um die zwischen älteren und neuen Konzepten changierende Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zu erhellen. GIRARD und WEBER nutzen die Reflexion über mittelalterliche Neidkonzeptionen dazu, die modernen Konfigurationen des Neids von mittelalterlichen abzugrenzen und auf diese Weise die Besonderheiten der ersteren zu klären. Unklar bleibt derart in allen drei Studien, inwiefern der kontrastive Rückbezug nicht selbst schon Mittelalterbilder produziert. Wechselt man die Blickrichtung, lassen sich einige der wirkmächtigsten Argumente für das Narrativ auch anders perspektivieren. So folgt etwa unsere Unkenntnis breiter gesellschaftlicher Debatten über Neid im Mittelalter nicht zwangsläufig aus der geringeren Relevanz der Emotion für die mittelalterliche Kultur und Literatur. Vielmehr lässt sich umgekehrt argumentieren, dass die fehlende Verbreitung von Neid im Mittelalter deshalb behauptet wird, weil dieser Zeitraum noch unzureichend erforscht ist. Ebenso lassen sich Kohärenz und Einsinnigkeit der vorgetragenen Auffassung von Neid als Sünde und Ausdruck des Bösen im Mittelalter zumindest teilweise auf die Auswahl der analysierten Diskurse zurückführen: Indem der Fokus der Forschung in den erwähnten Überblicksdarstellungen ausschließlich auf
WILHELM, L’envie, S. 97–118. Ebenda, S. 99.
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dem theologischen Diskurs liegt, werden genau jene Seiten des Mittelalters fokussiert, die dieses von der (scheinbar) säkularen Moderne trennen. Um im Sinne der historischen Emotionsforschung eine Diskussion über Unterschiede und Entwicklungslinien im Verhältnis von Neid und Gesellschaft führen zu können, bedarf es folglich nicht nur weiterer Studien zu Neid im Mittelalter, sondern auch einer Ausweitung des Blicks auf andere Diskurse. Anhand von Hartmanns Iwein soll im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet werden, ob und inwiefern sich das Bild von Neid im literarischen Diskurs von dem des theologischen Diskurses unterscheidet.
1 Einleitung – Keies Neid und die Ordnung des Artushofes Zu Beginn von Hartmanns Iwein1 versammeln sich die vornehmsten Ritter und Damen zu Pfingsten in Kardiol. Artus veranstaltet eine alsô schoene hôchzît (HI 35), dass der Erzähler anmerkt, der König habe weder zuvor noch danach je ein glänzenderes Fest gegeben. Dennoch wird die höfische vreude durch einen Streit gestört: Nach dem gemeinsamen Festmahl erzählt Kalogrenant einer Gruppe von Rittern eine Geschichte, als plötzlich die Königin hinzutritt. Kalogrenant springt als einziger auf, um sie formvollendet zu begrüßen. Daraufhin mischt sich der Truchsess, der bislang abseits schlafend lag, ein. Er verspottet Kalogrenants Verhalten und spricht ihm ab, sein Ansehen gegenüber den anderen Rittern gesteigert zu haben. Hätten die Ritter um das Nahen der Königin gewusst, so hätten sie Ginover ebenfalls formgerecht begrüßt. Die Königin kritisiert die Einlassung. Sie weist Keies Kritik nicht nur als Neid zurück, sie wirft ihm zudem vor, beständig und überall dort, wo einem Anderen Ehre widerfahre, neidisch zu sein: [...] Keiî, daz ist dîn site, und entschadest niemen mê dâ mite danne dû dir selbem tuost, daz dû den iemer hazzen muost deme dehein êre geschiht. dû erlâst dîns nîdes niht daz gesinde noch die geste: der boeste ist dir der beste und der beste der boeseste. [...] (HI 137–145)
Keie wird auf diese Weise als Prototyp des Neids am Hof gezeichnet. Als Figur, die „den agonalen Neid am Hof ein Stück weit verkörpert“,2 beschimpfen Ginover und später auch Kalogrenant Keie so ausgiebig, dass sich ihre Anklagen heute als Konzentrat mittelalterlicher Neidkritik lesen.
Zit. n. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. BENECKE/K. LACHMANN/L. WOLFF. Übersetzung und Nachwort von Thomas CRAMER, Berlin, New York 2001. Auf Hartmanns Iwein wird im Folgenden mit der Sigle ‚HI‘ verwiesen. Mit diesen Worten fasst Harald HAFERLAND Hartmanns Gestaltung der Figur des Keie zusammen. Vgl. HAFERLAND, Harald: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 89. https://doi.org/10.1515/9783111202105-002
1 Einleitung – Keies Neid und die Ordnung des Artushofes
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Das Streitgespräch zwischen Keie, Ginover und Kalogrenant hat wiederholt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Probleme bereitet dabei im Besonderen die Deutung von Keies Neid. Ich möchte die Diskussion im Folgenden kurz nachvollziehen, um von ihr ausgehend mein eigenes Forschungsvorhaben genauer zu umreißen. Sowohl Franziska WENZEL als auch WERNER RÖCKE verweisen auf die unausgesprochenen gesellschaftlichen Implikationen des Streitgesprächs. WENZEL fokussiert in ihrer Analyse den Rahmen des höfischen Festes. Sie betont, dass nicht der gesamte Hofstaat zu Pfingsten nach Kardiol kommt. Ob man am Fest teilnehmen dürfe oder nicht, werde anhand eines einzigen Kriteriums entschieden, nämlich: ein guot ritter zu sein (HI 42).3 Damit rücke Hartmann in seiner Beschreibung des Festes die unterschiedslose Idealität all seiner Teilnehmer in den Vordergrund.4 Diese Übereinkunft über die Gleichrangigkeit der Artusritter werde durch Ginovers Eintreffen und Kalogrenants Begrüßung der Königin aufgekündigt: Kalogrenant verwandelt sich in „jene[n] Einzelnen, den der Artusroman jenseits des Hofes kennt.“5 Indem er und kein Anderer aufsteht, repräsentiert er die höfische Ordnung nicht mehr zusammen mit den anderen Artusrittern, sondern stellvertretend für die Gemeinschaft. Folgt man WENZEL, macht Keie diesen Wandel durch seine Kritik sichtbar und thematisiert so ex negativo die Regeln der Artusgesellschaft. Seine Spottreden gegen den herausgehobenen Einzelnen diskursivieren die Antinomie der höfischen Ordnung, die einerseits von der Gleichrangigkeit aller Artusritter ausgeht, für die in der Aventiure jedoch jeweils nur ein Ritter exemplarisch einsteht.6 Werner RÖCKES Interpretation der Textstelle rückt dagegen die Fragilität dieser Ordnung in den Fokus. Er beschreibt Keies Rolle am Artushof im Anschluss an antike und mittelalterliche Sündenbockrituale als die eines in die höfische Ordnung integrierten Provokateurs und schlägt vor, die Keie–Sequenzen des Artusromans performativ zu lesen: Keies Handlungen inszenieren die Gewalt, die in einer auf Ehre und Ehrverletzungen fixierten Gesellschaft immer als Drohung
Genauere Angaben zum Rang und zur Herkunft der Gäste fehlen an dieser Stelle. Vgl. WENZEL, Franziska: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns ‚Iwein‘. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate KELLNER/Ludger LIEB/Peter STROHSCHNEIDER, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89–109, hier S. 90–92. Die WENZELs Interpretation zu Grunde liegende These der Idealität des Artushofs ist ein Problem, das hier nicht eingehend behandelt werden kann. Zu hinterfragen wäre insbesondere ihre statische Auffassung von der Idealität des Hofes, welche durch die Artusritter lediglich aktualisiert und repräsentiert werden muss. Ebenda, S. 97. WENZEL, Keie und Kalogrenant, S. 96. Ebenda, S. 97. Wiedergegeben wird hier nur der Teil von WENZELs Argument, der Keies Kritik an Kalogrenant betrifft.
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präsent ist, gleichzeitig „vollziehen sie aber auch Formen der Abschwächung oder Vermeidung von Gewalt.“7 Konkret auf Keies Konflikt mit Kalogrenant bezogen heißt dies Folgendes: Keie führt durch seine Spottrede vor, dass das labile Gleichgewicht wechselseitiger Ehransprüche und Ehranerkennungen durch Kalogrenants Auszeichnung gestört ist. Keie deeskaliert RÖCKE zufolge den drohenden Ehrkonflikt, indem er sich im Verlauf des Streitgespräches mit Ginover und Kalogrenant selbst die schulde zuschreibt.8 Trotz der unterschiedlichen Ansätze, die WENZEL und RÖCKE verfolgen, schreiben beide Keie und seiner Spottrede eine zentrale Rolle für den Erhalt der höfischen Ordnung zu. Keie ist „eine Instanz negativer Kritik“9, „ein Institut der höfischen Ordnung und ihrer Kommunikationsregeln“10, „der Repräsentant der Artusgesellschaft, der sich stärker als andere [...] für den Bestand dieser Gesellschaft verantwortlich sieht“.11 Zugleich und offenbar einhergehend mit der Neubewertung der Figur Keies verschwindet aus ihren Argumentationen der Neid: RÖCKE blendet Ginovers Neidvorwurf in seiner Interpretation aus. WENZEL weist ihn explizit zurück. Sie schließt von der Beobachtung, dass Keie die gesellschaftlichen Verhaltensregeln mit seiner Kritik sichtbar mache, darauf, dass dieser nicht neidisch sein könne: „In den Schmähungen des herausragenden Einzelnen ist nicht etwa die Mißgunst Keies zu sehen, vielmehr werden die höfischen Verhaltensformen diskursiv.“12 Aus Keie, dem Prototyp höfischen Neids, wird so ein diffamierter Kritiker. Damit fördert WENZEL eine Problemstelle der Interpretation zu Tage. Hinter ihrem Abwägen zweier Deutungsoptionen verbirgt sich die Frage: Kann die Figur Keie gleichzeitig neidisch sein und zur Reflexion der höfischen Ordnung beitragen? Kann sich Keies neidische Rede gegen den Anderen richten und trotzdem produktive Funktionen für die höfische Gemeinschaft übernehmen? WENZEL schließt in ihrer verneinenden Antwort den semantischen Gehalt von Keies Rede mit der Figurenmotivation kurz. Sie argumentiert damit letztlich auf der Ebene der Figurenkommunikation. Entweder handelt es sich bei Keies Schmähungen um einen neidischen Sprechakt der Ehrabschneidung oder aber um einen der Kritik und Offenlegung der
RÖCKE, Werner: Spielräume der Interpretation. Sündenbockrituale und Inszenierungen der Gewaltvermeidung in Literatur und Kultur des Mittelalters. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung. Hrsg. von Walter ERHART, Stuttgart, Weimar 2004 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XXVI), S. 287–307, hier S. 299. Ebenda, S. 300. WENZEL, Keie und Kalogrenant, S. 99. Ebenda, S. 104. RÖCKE, Spielräume der Interpretation, S. 306. WENZEL, Keie und Kalogrenant, S. 97.
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höfischen Verhältnisse. Indem sie sich dafür entscheidet, Ginovers Neidvorwurf zurückzuweisen, gerät ihre Interpretation dann jedoch mit der Perspektive der Rezipienten in Konflikt. Denn: Ginovers und Kalogrenants Anklagen vermitteln ein Deutungsangebot, dem sich Hörer und Leser nur schwer verweigern können. Interessanter als die Frage, ob Keie wirklich neidisch ist, erscheint mir für den literarischen Text daher die Frage, warum und warum genau an dieser Stelle von Keies Neid erzählt wird. Formuliert man das Problem auf diese Weise um, verschiebt sich das Untersuchungsinteresse in zweierlei Hinsicht. Erstens: Das diskursive Potential von Keies Rede wird nicht mehr auf der Ebene der Handlung, sondern auf der Ebene der Sinngebungsprozesse der Erzählung (récit) verortet.13 Zweitens: Es geht nicht mehr darum, ob Keie Neider oder Ordnungsfigur ist, sondern darum, wie sein Neid und die von WENZEL und RÖCKE skizzierten Ordnungsproblematiken im Text relationiert werden. Aus der Textstelle lassen sich diesbezüglich mehrere mögliche Zusammenhänge herleiten, die separat voneinander betrachtet, aber auch ergänzend zueinander gelesen werden können: Ich setze zunächst bei der Struktur der Emotion an. Ginover beschreibt Keies Neid als ein Gefühl, das sich auf die höfischen Hierarchien richtet. Keie – so berichtet auch der Erzähler – leidet und ärgert sich, wo immer einem Anderen Ehre zugesprochen wird (HI 110–112). Insofern trägt die Emotion selbst nicht unwesentlich zur Reflexion des höfischen Gemeinwesens bei. Über ihre Struktur weist die Emotion auf Veränderungen der höfischen Ordnung hin. Das Aufkommen von Neid markiert für den Rezipienten den von WENZEL beschriebenen Wechsel von der festlichen Gemeinschaft gleichrangiger Ritter zur Konkurrenz um Ehre und Rang und bereitet so die nachfolgende Brunnenâventiure vor. Man könnte die These vor dem Hintergrund der spezifischen Verfasstheit der Artusgesellschaft sogar noch weiter zuspitzen: Keies Neid weist darauf hin, dass das Gleichheitsprinzip der arthurischen Tafelrunde an dieser Stelle durch Kalogrenants Verhalten in Frage gestellt wird. Keies Neid macht die erneute Geltung des agonalen Prinzips am Hof jedoch nicht allein sichtbar, er kanalisiert zugleich das von RÖCKE angesprochene Konfliktpotential zwischen dem ausgezeichneten Einzelnen und der durch sein Verhalten zurückgesetzten Gemeinschaft der anderen Artusritter. Indem Ginover Keie als habituell neidisch charakterisiert, wird die gesellschaftliche Problematik zum einen auf eine Figur begrenzt und die Aggression gegen den Vorrang des Anderen zum
‚Erzählung‘ (récit) bezeichnet hier mit Gérard GÉNETTEs Erzähltheorie den „vorgebrachten Diskurs (syntaktischer und semantischer Aspekt bei Morris)“ im Gegensatz zur Narration als „Situation, in der er vorgebracht wird (pragmatischer Aspekt).“ Vgl. GENETTE, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas KNOP, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen VOGT, München 21998, S. 200.
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anderen als Verstoß gegen den ritterlichen Kodex, als Defizit dieser Figur gezeigt: In Keies Innerem – Ginover greift die bekannte Giftmetapher für den Neid auf – schwimme sein Herz in eiter (HI 156) und mache ihm Schande (HI 158). Der gleiche Mechanismus von Personalisierung und Diffamierung tritt in Kalogrenants Replik auf Keie sogar noch stärker zu Tage: – So wie der Mist stinke, die Biene steche und die Hornisse sirre, so sei es Keies Art, neidisch zu sein (HI 204–209). Im einzigen Forschungsbeitrag zum Streitgespräch, der Neid in seine Deutung integriert, arbeitet Andreas KRAß mögliche Funktionen der mit der Emotion einhergehenden Bewertungen heraus: Da er davon ausgeht, dass Keies Schimpfrede die Unhöflichkeit Kalogrenants gegenüber der Gruppe spiegelt, wird Keie für ihn zu einer Figur, die Ordnungsverstöße am Hof seismographisch aufspürt, diese in ihrem eigenen Verhalten kritisch spiegelt und als Sündenbock für diese einsteht. Man muss dieser Interpretation nicht in allen Punkten folgen; insbesondere die Deutung Keies als ‚Sündenbock‘ führt angesichts der weiteren Zugehörigkeit Keies zur Artusgesellschaft zu weit. KRAß formuliert indes präzise, wie die von Ginover und Kalogrenant gewählten Metaphern des Neids wirken: Dadurch, dass sie Keies Verhalten als unhöfisch charakterisieren und der bäuerlichen Sphäre zuweisen, verschieben sie die Kritik vom Kritisierten auf den Kritiker.14 Über diese Bewertungen hinaus enthalten die Anklagen gegen Keie eine Deutungsanweisung des Neids. Die Königin begründet die Toleranz der Artusgesellschaft gegenüber Keies wiederholten Ausfällen damit, dass sein neidisches Verhalten so stabil, so sehr gewonheit sei (HI 148), dass sich dessen Semantik entschlüsseln lasse. Ginover legt in ihrer eingangs zitierten Rede das gewonnene Emotionswissen offen. [D]er boeste ist dir der beste/ und der beste ist dir der boeste (HI 144f.), wirft die Königin Keie vor und macht im nächsten Schritt deutlich, dass, so wie der Neid die Parameter der Wahrnehmung verändert, umgekehrt das Wissen um den Neid die Parameter der Interpretation der neidischen Schmährede verschiebt. Da alle Keies Neid zu deuten wüssten, funktioniere Keies Schmährede als Lob Kalogrenants (HI 146–152). Das Erzählen von Neid trägt im Übergang von der Gleichheit der Ritter in der Festsituation zum Wettstreit der Ritter im Ậventiuregeschehen also ex negativo zur Ausformulierung Vgl. KRAß, Andreas: Neidische Narren. Diskurse der Mißgunst im ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue und im ‚Narrenschiff‘ Sebastian Brants. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 138 (2005), S. 92–109, hier S. 94–97. Diesen Mechanismus präsentiert KRAß als so wirksam, dass er über die eigentliche Situation, die den Neidvorwurf auslöst, hinausreicht. Folgt man KRAß, so spiegelt Keies Verhalten nicht nur die Unhöflichkeit Kalogrenants gegenüber seinen Mitrittern, sondern zugleich auch die Verfehlungen der nächsthöheren Hierarchiebene: Im Gegensatz zu Chrétien werde König Artus in Hartmanns Fassung für sein Schlafen auf dem Hoffest vom Erzähler nicht kritisiert. Der Tadel werde auf den ebenfalls schlafenden Keie verschoben (HI 74), der durch den Neidvorwurf schließlich zum Sündenbock aller am Hof stattfindenden Ordnungsverfehlungen werde. Vgl. KRAß, Neidische Narren, S. 92–93 u. S. 96–97.
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und Etablierung der Ordnung bei. An Keies Neid können sowohl die über die Funktionsweise des Neids informierte Hofgesellschaft als auch die Rezipienten des Textes ablesen, dass Anerkennung und Ehrzuschreibung die richtige Reaktion auf die Repräsentation höfischer Verhaltensideale durch einen Einzelnen darstellen.15 Für Andreas KRAß wirft Keies Neid so zuletzt auch Licht auf dessen bekannte Verbindung mit Gawein, die in der Tradition des Artusromans mal als Kontrastbeziehung, mal als Freundschaft gezeichnet wird. Beide repräsentieren auf ihre Weise die höfische Ordnung. Verkörpert die Figur Gawein als der ideale, der mustergültige Ritter die höfischen Ordnungsideen, so funktioniert Keie durch seinen Neid als „Instanz der invertierten Moral“.16 Um die zentrale Funktion der Figur Keie für die arthurische Ordnung zu bekräftigen, ist es folglich nicht nötig, den Neidvorwurf Ginovers aus der Interpretation auszuklammern. Auf der Ebene der ‚Erzählung‘ (récit) funktioniert die Emotionszuschreibung vielmehr als Teil der textinternen Reflexion über die Antinomie höfischer Ehrvergabe. Das Beispiel Keies macht deutlich, dass das Erzählen von Neid Probleme der hierarchischen und sozialen Ordnung des Hofes im Text sichtbar machen und ihre Interpretation und Bewertung, Dynamik und Lösung mitgestalten kann. Damit treffen viele der zentralen Prämissen des Epochennarrativs von Neid auf den Iwein nicht zu. Weder geht es in Hartmanns Artusroman primär um Neid als Sünde, noch wird die Rede von Neid im gesellschaftlichen Kontext ausschließlich dafür funktionalisiert, die ständischen Hierarchien zu rechtfertigen. Vielmehr wird Neid im Rahmen hierarchischer Unstimmigkeiten innerhalb einer fest umrissenen sozialen Gruppe thematisiert. Indem im Iwein gerade dem Truchsess – also der Figur, die über die Einhaltung der Normen wachen soll – Neid zugeschrieben wird, ist die Emotion und das Erzählen von ihr aufs engste mit Fragen der höfischen Ordnung verbunden. Ausgehend von diesem Befund soll in dieser Studie das skizzierte Emotionsnarrativ auf seine Allgemeingültigkeit hin überprüft und der sozialen Dimension von Neid im literarischen Diskurs des Mittelalters genauer nachgegangen werden: Wie repräsentativ ist Hartmanns Iwein für das Erzählen von Neid um 1200? Wird die Emotion auch in anderen literarischen Texten des Hoch- und Spätmittelalters dafür genutzt, über die höfische Ordnung zu reflektieren oder ist die schillernde Figur des Keie auch in Bezug auf Neid ein Sonderfall?
In seiner Untersuchung der in der höfischen Literatur formulierten Interaktionsregeln beschreibt Harald HAFERLAND die Identifikation als richtige Reaktion auf den Auftritt des Besten. Im Auftritt des Einzelnen „verdichtet sich Sozialität. In ihm sehen alle sich selbst, sich selbst als Einzelne und als vermittelte Allgemeinheit.“ Vgl. HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 80. KRAß, Neidische Narren, S. 94 f.
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Diese Fragen berühren zentrale Themen der jüngeren Emotionsforschung: Sie betreffen zum einen den Status der Emotion: Indem Neid als Reflexionsmediium gesellschaftlicher Ordnung in den Blick genommen wird, partizipiert die Studie an der Diskussion um die Neubewertung negativer Emotionen.17 Sie betreffen zum anderen die Rolle sozialer Emotionen in der Literatur. Untersucht werden soll nicht nur, inwiefern Neid auf Handlungsebene (histoire) auf soziale Strukturen zurückverweist oder neue hervorbringt. Darüber hinaus widmet sich die Studie den Möglichkeiten von Literatur, über das Erzählen von sozialen Emotionen (discours) Probleme der gesellschaftlichen Ordnung im Raum des Imaginären aufzugreifen, als solche sichtbar zu machen und zu diskutieren beziehungsweise neue, eigene Ordnungsentwürfe zu entwickeln.18 Der Fokus der Textanalysen liegt dabei nicht zufällig auf dem Hof. Zwar wird Neid wie beispielsweise in Thomasîns Der Welsche Gast bisweilen als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet.19 Häufiger jedoch wird Neid innerhalb abgegrenzter sozialer Räume diskutiert. Der für seine Fürsten- und Gesellschaftsspiegel berühmte normannische Theologe Johannes von Salisbury beschreibt den Hof neben Kloster und Universität als eine von drei „Brutstätten des Neides“.20 Entgegen der These, dass die mittelalterliche Ständegesellschaft Neid einschränke, weist Johannes in seinem Entheticus maior darauf hin, dass die Abgrenzung nach außen innerhalb der Stände und gesellschaftlichen Institutionen eine um so größere Nähe zwischen Personen entstehen lasse, die sich aneinander messen, miteinander um Positionen konkurrieren und einander beneiden. Während sich Neid in der „dé-
Zur aktuellen Diskussion um die Neubewertung der negativen Emotionen vgl. das Kapitel 3.3. Zum Begriff der ‚Ordnung‘ vgl. das Kapitel 2.1 ‚Ort und Ordnung‘. Tomasîn schildert in Der Welsche Gast, wie ein Stand dazu tendiert, den jeweils anderen Stand zu beneiden (V. 2639–2676). Indem er die Komik dieses Handelns herausstreicht, zielt er wie Gerson darauf ab, die Ständegesellschaft zu konservieren. Vgl. Thomasin von Zirclaria: Der Wälsche Gast. Hrsg. von Heinrich RÜCKERT. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich NEUMANN. Photomechanischer Nachdruck der Ausg. Quedlinburg und Leipzig 1852, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Texte des Mittelalters), hier S. 72 f. Johannes von Salisbury: Entheticus Maior III, 1725–1728. Vgl. John of Salisbury: Entheticus Maior and Minor. Hrsg. von Jan van LAARHOVEN, Bd. 1, Leiden u. a. 1987 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 17), hier S. 217. Ähnlich Vinzenz von Beauvais in De morali principis institutione: Unde quia in curiis magnatum maxima est bonorum huius mundi scilicet honorum et diviciarum ac deliciarum affluencia, ideo ibi maxime regnat invidia (De morali principis institutione, XX; „Daher, weil an den Höfen der größte Überfluss an Regenten, an Gütern dieser Welt, selbstverständlich auch an Reichtümern und Luxus besteht, deswegen herrscht dort der Neid am heftigsten“ [eigene Übersetzung].). Zit. n. Vinzenz von Beauvais: De morali principis institutione, XX. In: Vincentii Belvacensis De Morali Principis Institutione. Hrsg. von Robert J. SCHNEIDER, Turnhout 1995 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 137), S. 98–103, hier S. 102.
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mocratie du couvent“ sowohl auf das spirituelle Fortkommen als auch auf den Aufstieg in der klösterlichen Karriereleiter richte,21 konkurrierten die Lehrer an der Universität laut Johannes von Salisbury um Schüler und persönlichen Ruhm. Allein der Hof mit seinen Intrigen und Verleumdungen wird vom Kleriker indes topisch mit Neid verbunden. Es handelt sich für Johannes von Salisbury um den Ort, an dem sich mehr Neider finden lassen als in allen anderen Sozialwesen.22 Indem sich die Studie auf einen sozialen Raum23 anstatt auf eine Gattung oder ein übergreifendes Thema konzentriert,24 wird es möglich, die sozialen Dynamiken und Funktionen von Neid innerhalb der literarischen Entwürfe eines gesellschaftlichen Gefüges genauer und in ihrer Vielfalt zu erfassen. Dies erscheint mir gerade für eine Analyse der sozialen Dimension von Neid notwendig. Denn die Verbindung zwischen der Emotion und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie auftritt, ist weder uniform noch beliebig. Neid ist in jedem Sozialwesen in andere hierarchische Gefüge eingebunden, es verwundert daher nicht, dass auch in der literarischen Repräsentation und Imagination Neidobjekte, Figurenund Handlungskonstellationen von Sozialwesen zu Sozialwesen zu differieren vermögen. Für das Fallbeispiel des Hofes heißt dies: Es gibt in der Literatur spezifisch höfische Konfigurationen des Neides. In der Literatur des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts sind es häufig die Günstlinge am Hof, die um ihre Ehre und ihr Ansehen beim Herrscher beneidet werden. Mit Tristan, Engelhard und Herzog Ernst werden drei der berühmtesten literarischen Vertreter dieses Typs von Neidern bedrängt. Letztere fordern die höfischen Protagonisten als Gegenspieler heraus, klagen diese beim Herrscher an und können – falls dies überhaupt möglich ist – nur mit Hilfe aufwendiger Listen über Vgl. WILHELM, L’envie, S. 95. Vgl. zur mittelalterlichen Thematisierung des Neids an Hof und Universität: CASAGRANDE, Carla u. VECCHIO, Silvana: Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge. Collection historique dirigée par Alain Dorbin et Jean-Claude Schmitt. Traduit de l'italien par Pierre–Emmanuel Dauzat, Paris 2009, S. 82–87. Bewusst wird hier, um Missverständnisse zu vermeiden, nicht auf den Terminus des ‚literarischen Raums‘ zurückgegriffen. In der Analyse von Neid am Hof wird nicht mit literarischen Raumtheorien gearbeitet, vielmehr stehen die sozialen Dynamiken am Hof im Zentrum. Für eine Analyse des literarischen Raums ‚Hof‘ vgl.: BRINKER–VON DER HEYDE, Claudia: Burg, Schloss, Hof. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo RENZ/Monika HANAUSKA/Mathias HERWEG, Berlin, Boston 2018, S. 100–119. Für einen gattungsgeschichtlichen Zugriff auf literarische Emotionen vgl. beispielsweise EMING, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12–16. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Quellen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39) und für einen thematisch orientierten Zugriff: FREIENHOFER, Evamaria: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts, Berlin, Boston 2016 (Trends in Medieval Philology 32).
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wunden werden. Um das Potential, dass diese Figuren- und Handlungskonstellation für Ordnungsdiskussionen bietet, zu erproben, werden im Rahmen dieser Studie bewusst narrative Texte, die zu unterschiedlichen Gattungen gehören und an unterschiedliche Diskurstraditionen anknüpfen, analysiert. In dem häufig als Staatsroman bezeichneten Herzog Ernst B und im Stricker-Märe Der junge Ratgeber rückt Neid im Rahmen feudal-herrschaftlicher Fragestellungen in den Fokus; in der CrescentiaLegende wird die feudale Gunst–Thematik hingegen mit einer religiösen verknüpft. In Eilharts Tristrant, Gottfrieds Tristan, Konrads Engelhard und dem Reinfried richtet sich Neid nicht nur auf die Vorrangstellung des Beneideten, in den höfischen Romanen ist Neid zugleich die Emotion des Minnefeinds, der den Beneideten dabei ertappt, wie er mit seiner (vermeintlichen) Geliebten zusammentrifft. Die Auswahl der Texte stellt derart sicher, dass unterschiedliche Ordnungsthematiken und Wertmaßstäbe in den Erzählungen von Neid zur Sprache kommen. Mit Blick auf die Fragestellung soll dabei auch die hofkritische Perspektive nicht fehlen. Da diese am normannischen Hof Henry II. am stärksten ausgesprägt ist, werden ergänzend zu den mittelhochdeutschen Texten zwei mittellateinische Texte Walter Maps analysiert: die beiden moraldidaktischen Exempel De Rege Portigalensi und De Contrarietate Parii et Lausi.25
Zwei dieser Texte – Walter Maps De Rege Portigalensi und Gottfrieds Tristan – wurden bereits gemeinsam unter der Fragestellung der Freundschaft betrachtet und dabei der Neid auf den Protagonisten am Rande gestreift. Vgl. KRÜGER, Caroline: Freundschaft in der höfischen Epik um 1200. Diskurse von Nahbeziehungen, Berlin, New York 2011.
2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids 2.1 Ort und Ordnung In den Sozialwissenschaften ist der Begriff der ‚Ordnung‘ aus der Mode gekommen. Er gilt als „unordentlich“, da er „deskriptive und präskriptive Elemente“ miteinander verbindet.1 Inhaltlich bezeichnet ‚Ordnung‘ die strukturelle und normative Seite gesellschaftlicher Gefüge.2 Indem der Begriff zugleich den Gegenbegriff der ‚Unordnung‘ aufruft, referiert er diese Normen nicht nur, er zieht selbst Grenzen zwischen dem, was in einer Gesellschaft als wünschenswert erscheint und was nicht.3 Damit liegt ihm eine bestimmte Perspektive zu Grunde. ‚Ordnung‘ existiert nicht objektiv. Es muss – wie der Politologe Herfried MÜNKLER festgestellt hat – immer bedacht werden, „aus wessen Perspektive [...] Ordnung gedacht und entworfen“ wird.4 Mag eine solche Vermischung empirischer und normativer Perspektiven für politikwissenschaftliche Analysen existierender Gesellschaften hinderlich sein, so ist sie als Analysekategorie literarischer Gesellschaftsentwürfe vielversprechend. Im Falle des Erzählens vom Hof erlaubt es der Begriff der ‚Ordnung‘ nicht nur zu fragen: Was ist der Hof? Welche Personen, soziale Strukturen und gemeinschaftliche Regeln konstituieren ihn im Text als soziales Gefüge? Über die Ebene der Repräsentation hinausgehend rückt die normative Perspektive der Narration selbst in den Fokus: Was soll der Hof sein? Welches Bild von ‚Ordnung‘ und ‚Unordnung‘ versucht der Text zu vermitteln?5 Die Beantwortung der ersten beiden Fragen bereitet bereits auf der Ebene der historischen Realitäten Probleme. Denn ‚Hof‘ bezeichnet im zwölften und dreizehnten Jahrhundert weder einen festen Ort, einen abgegrenzten Personen-
Vgl. für diese Analyse des sozialwissenschaftlichen Diskurses: MÜNKLER, Herfried: Ordnung. Vom Nutzen und Nachteil eines soziopolitischen Begriffs. In: Merkur 70 (2016), S. 17–25, hier S. 17. Ebenda. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20. Im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften ist das Interesse an Ordnungsentwürfen in der Literaturwissenschaft nie abgerissen, wie die zahlreichen Publikationen zu Ordnungsstörungen zeigen. Die jüngere Forschung – und hier reiht sich auch die vorliegende Publikation ein – bemüht sich darum, die Rolle des Erzählens bei der Ver- und Aushandlung von Ordnung systematisch zu erfassen. Vgl. den Tagungsband Erzählte Ordnungen – Ordnungen des Erzählens. Studien zu Texten vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von FUHRMANN, Daniela u. SELMAYR, Pia, Berlin, Boston 2021 (Trends in Medieval Philology 40). https://doi.org/10.1515/9783111202105-003
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
kreis noch eine behördenähnliche Organisation. Angesichts der Vielgestaltigkeit mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Höfe ist die Geschichtswissenschaft bislang daran gescheitert, eine einheitliche Definition für die historische Formation zu finden.6 Um sich dem Phänomen der höfischen Ordnung zu nähern, wird daher mit Aloys WINTERLINGs Formel vom Hof als ‚erweitertem Haus des Herrschers‘ auf eine Minimaldefinition dessen, was den Kern des Hofes bildet, zurückgegriffen: WINTERLING versteht den Hof im Anschluss an Otto BRUNNERs Begriff des ganzen Hauses als räumlich-sachliche, soziale, wirtschaftliche und herrschaftliche Einheit. Er unterscheide sich von anderen adeligen ‚Häusern‘ durch seinen Umfang.7 Da der Herrscher die Vorherrschaft über andere Adelige beansprucht und das Herschaftsgebiet an sich binden will, greift der Hof über die familia und die mit administrativen und klerikalen Aufgaben der Hofhaltung betrauten Ministerialen und Kleriker hinaus. Neben Spielleuten, Unterhaltern und Händlern halten sich immer wieder auch Lehensleute und Edelfreie aus anderen Adelsfamilien kurz- oder längerfristig am Hof auf.8 Mit dieser Definition verbinden sich zwei wichtige Beobachtungen der sozialund gruppengeschichtlichen ‚Hof-Forschung‘ der 1990er Jahre.9 Erstens stellt der
Vgl. für diese Auswertung der Bemühungen der Geschichtswissenschaft um eine einheitliche Hofdefinition den Forschungsbericht: BIHRER, Andreas: „Curia non sufficit“. Vergangene, aktuelle und zukünftige Wege der Erforschung von Höfen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), S. 235–272, hier S. 249. Einen Überblick zu den verschiedenen in der Forschung vor allem in den 90er Jahren diskutierten Hofdefinitionen findet sich bei BUTZ, Reinhardt u. DANNENBERG, Lars-Arne. Überlegungen zur Theoriebildung des Hofs. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hrsg. von Reinhardt BUTZ u. a. Köln u. a. 2004, S. 1–41, hier insbesondere S. 5–6. Vgl. WINTERLING, Aloys: ‚Hof‘. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hrsg. von Reinhardt BUTZ/Jan HIRSCHBIEGEL/Dietmar WILLOWEIT, Köln u. a. 2004, S. 77–90, hier S. 78–79. Zum Personenkreis, der den Hof durch sein Zusammenkommen bildet, vgl. MELVILLE, Gert: Um Welfen und Höfe. Streiflichter am Schluss einer Tagung. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Hrsg. von Bernd SCHNEIDMÜLLER, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), S. 541–557, hier S. 544–545. Mit Konrads von Megenbergs Begriffen der curia minor und curia maior grenzt die Forschung den engeren Hofstaat derjenigen, die immer am Hof blieben, von denjenigen ab, die sich nur vorübergehend dort aufhielten. Vgl. PARAVICINI, Werner: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 32011 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 32), S. 67–68. Zu den Ergebnissen der personen- und sozialgeschichtlichen Forschung vgl. die Zusammenfassung bei BIHRER, „Curia non sufficit“, S. 266.
2.1 Ort und Ordnung
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Hof im Mittelalter ein „soziales Zentrum“10 dar. Fluide in seiner Zusammensetzung ist der Hof ein „point of contact“;11 er konstituiert sich über anwesenheitsbasierte Interaktion als Netz persönlicher und nur zum Teil schon organisatorischer Bindungen, in deren Mittelpunkt die Herrscherfigur steht.12 Aufbauend auf diesen personalen Bindungen funktioniert der Hof zweitens als Ort des Erwerbs, der Durchsetzung und der Inszenierung von Macht und Einfluss. Zum einen konkurrieren die Adeligen um die Gunst des Herrschers, um ihre Interessen durchzusetzen und ihren Rang im Vergleich zu anderen Adeligen zu steigern. Umgekehrt wirbt aber auch der Herrscher um die Adeligen. Die Vergabe von Gunst und Patronage stellt für ihn eine Möglichkeit dar, sich der Loyalität der politischen Führungsgruppen zu versichern, die über das gesamte dreizehnte Jahrhundert hinweg häufig noch Mehrfachbindungen an verschiedene Höfe als Lehens- und Amtsträger unterhalten.13 Schon der Versuch, den Hof in seinen Merkmalen und Funktionsweisen zu fassen, macht deutlich, dass man im Falle des Hofes von einer feststehenden Ordnung im Sinne einer modernen Verfassung nur bedingt reden kann. Schriftliche Hofordnungen, die neben der wirtschaftlichen Versorgung des Hofes auch die Festsetzung des zum Hof gehörenden Personenkreises und die Eindämmung der hohen Gewaltbereitschaft zum Thema haben,14 sind bis auf wenige Ausnahmen erst aus dem fortgeschrittenen dreizehnten Jahrhundert überliefert, zuerst aus Frankreich, Aragon und England, und es dauert bis ins fünfzehnte Jahrhundert, bis ihre Zahl auch im Reich zunimmt.15 Und auch dort, wo mit der Herausbildung der Hofämter Mitte des zwölften Jahrhunderts scheinbar klare Aufgabenbereiche und Rangordnungen
JOHANEK, Peter: Höfe und Residenzen. Herrschaft und Repräsentation. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisème Cycle Romand 1994. Hrsg. von Eckart Conrad LUTZ, Freiburg 1997 (Scrinium Friburgense 8), S. 45–78, hier S. 50. Ebenda. Vgl. WINTERLING, ‚Hof‘, S. 78–79. Zur wechselseitigen Abhängigkeit des Herrschers und der Adeligen beim Erlangen von Macht und Einfluss vgl. MELVILLE, Um Welfen und Höfe, S. 544 sowie JOHANEK, Höfe und Residenzen S. 50. Zur inhaltlichen Ausrichtung der Hofordnungen vgl. JOHANEK, Höfe und Residenzen, S. 52–54. Vgl. PARAVICINI, Werner: Europäische Hofordnungen als Gattung und Quelle. In: Höfe und Hofordnungen 1200–1600. 5. Symposium der Residenzen-Kommision der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Hrsg. von Holger KRUSE/Werner PARAVICINI, Sigmaringen 1999 (Residenzenforschung 10), S. 13–20, hier S. 14.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
am Hof geschaffen werden, existieren parallel dazu weiterhin Gunsthierarchien, die diese konterkarieren und oft größere Relevanz entfalten.16 Das bedeutet nicht, wie insbesondere Gerd ALTHOFF betont hat, dass am Hof keine Regeln existieren würden. Der semiorale und zum Teil informelle Charakter der höfischen Kultur hat jedoch zur Folge, dass Normen und Rangfolgen häufig als „ungeschriebene Gesetze“ funktionieren und erst im Rahmen der Interaktion am Hof Wirkung entfalten:17 Hofordnungen werden vom Herrscher wie im Frühmittelalter häufig noch mündlich an den Sohn weitergegeben und durch Gebrauch aktualisiert;18 Rangordnungen sind nicht nur durch Stand und Amt festgelegt, sie müssen durch das Verhalten des Herrschers bestätigt und zur Anschauung gebracht werden;19 Konflikte über die Einhaltung der Ordnung werden nicht allein vor Gericht ausgetragen, sondern auch in demonstrativen Akten der Distanzierung und Annäherung,20 der Integration und des Ausschlusses.21 Angesichts dieser auf Kommunikation angewiesenen und teils informellen Kultur des Hofes wird in der Studie ein dynamischer Ordnungsbegriff angesetzt. Das heißt für die Analyse der literarischen Repräsentation von Neid am Hof zum einen: Der Hof wird nicht als Ordnungsgefüge verstanden, in das Neid nur von außen als Fremdkörper eingreift. Der Hof und seine Rangordnung sind beweglich und Neid ist selbst Reaktion auf diese und Teil dieser Dynamiken. Das heißt für den Vorgang des Erzählens von Neid am Hof zum anderen: Neid wird nicht nur als Abweichung von und Gefährdung einer bestehenden Ordnung markiert. Es wird davon ausgegangen, dass das Erzählen von der Transgression ‚Neid‘ selbst aktiv an der Ausformulierung und Verhandlung von Ordnungskonzeptionen beteiligt ist. Vgl. hierzu: PARAVICINI, Werner: Informelle Strukturen bei Hofe. Eine Einleitung. In: Informelle Strukturen bei Hofe. Dresdener Gespräche III zur Theorie des Hofes. Hrsg. von Reinhardt BUTZ/Jan HIRSCHBIEGEL, Berlin 2009 (Vita curialis 2), S. 1–9, hier S. 2–4. ALTHOFF, Gerd: Ungeschriebene Gesetze. Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen? In: Ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1996, S. 282–304. Vgl. ZOTZ, Thomas: Hof und Hofordnung vor der Zeit der Verschriftlichung. In: Höfe und Hofordnungen 1200–1600. 5. Symposium der Residenzen-Kommision der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Hrsg. von Holger KRUSE/Werner PARAVICINI, Sigmaringen 1999 (Residenzenforschung 10), S. 65–73, hier S. 66. Vgl. WINTERLING, ‚Hof‘, S. 84. Vgl. ALTHOFF, Ungeschriebene Gesetze, S. 294–297. Vgl. BUTZ, Reinhardt: Herrschaft und Macht. Grundkomponenten eines Hofmodells? Überlegungen zur Funktion und zur Wirkungsweise früher Fürstenhöfe am Beispiel des Landgrafen von Thüringen aus dem ludowingischen Haus: In: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Hrsg. von Ernst HELLGARDT/Peter STROHSCHNEIDER/Stephan MÜLLER, Köln 2002, S. 45–84, hier S. 49.
2.2 Funktionsweisen von Neid in Ordnungsdebatten um 1200
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Dieser Gedanke ist nicht neu. Mit FOUCAULT lässt sich das Verhältnis von Neid und höfischer Ordnung als Interdependenz von Grenzüberschreitung und Grenze, Normbruch und Norm denken:22 Indem der Erzähler Neid als Grenzverletzung kommentiert und beurteilt, werden zugleich die von der Emotion problematisierten Hierarchien ebenso wie die von Neid unterlaufenen Regeln des Zusammenlebens sichtbar.23 Ich möchte in meiner Arbeit diese allgemeine Einsicht in die Logik von Grenzüberschreitungen mit Blick auf die historischen Diskurse präzisieren und nach den spezifischen Möglichkeiten des mittelalterlichen Erzählens von Neid in Ordnungsdiskussionen fragen: Bestätigt das Erzählen von Neid im Sinne einer konservativen Auslegung der Beziehung von Norm und Normüberschreitung24 lediglich die geltende höfische Ordnung? Oder geht es darüber hinaus?
2.2 Funktionsweisen von Neid in Ordnungsdebatten um 1200 Um den Blick auf dieses Verhältnis von Neid und höfischer Ordnung zu schärfen und auszudifferenzieren, eignet sich der Beginn von Hartmanns Iwein in besonderer Weise: Da Neid im Rahmen des Streitgesprächs einerseits als Teil des Plots gezeigt und andererseits von den Figuren diskutiert und reflektiert wird, treffen Deutungen, Handlungen und Bewertungen des Neids in Keies Fall direkt aufeinander und werden miteinander verwoben. Innerhalb weniger Verse werden derart sowohl unterschiedliche textuelle Ebenen erkennbar, auf denen die Emotion
„Die Überschreitung treibt die Grenze bis an ihre äußerste Grenze; sie läßt sie über ihrem drohenden Verschwinden erwachen, sie läßt sie in dem zu sich kommen, was sie ausschließt, und sich darin zum ersten Mal erkennen, sie läßt sie ihre positive Wahrheit in ihrem Verlust spüren.“ Siehe: FOUCAULT, Michel: Vorrede zur Überschreitung. In: Ders: Von der Subversion des Wissens. Hrsg. von und aus dem Französischen und Italienischen übertr. v. Walter SEITTER. Mit einer Bibliographie der Schriften Foucaults, Frankfurt a. M. 1991, S. 28–45, hier S. 32. Zur Funktion des Erzählens von Transgressionen als Sichtbarmachung und Diskussion von Ordnung vgl. auch: FUHRMANN, Daniela u. SELMAYR, Pia: Ordnen, Wissen, Verstehen. Theoretische Überlegungen. In: Erzählte Ordnungen – Ordnungen des Erzählens. Studien zu Texten vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Dies., Berlin, Boston 2021 (Trends in Medieval Philology 40), S. 1–33, hier S. 22–25. Für den Soziologen René DURKHEIM haben Normen die Tendenz, in Vergessenheit zu geraten und sich abzuschleifen. Mit der Empörung über das Verbrechen der Grenzüberschreitung werde die moralische Empfindung wiederbelebt, die verletzte Norm revitalisiert. Paradoxerweise festige die Transgression also die Normen und Grenzen, die sie in Frage stellen wolle. Vgl. für dieses Referat: HAHN, Alois: Transgression und Innovation. In: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich SCHULZ-BUSCHHAUS. Hrsg. von Werner HELMICH/Helmut METER/Astrid Poier-BERNHARD, München 2002, S. 452–465, hier S. 454–455.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
in narrativen Texten mit der höfischen Ordnung in Kontakt tritt, als auch die Mechanismen, mittels derer dies geschieht. Das Streitgespräch gibt zuallerst Hinweise darauf, was unter Neid um 1200 verstanden wird und wie die Emotion im sozialen Kontext verankert ist. Ginover beschimpft Keie nicht einfach als Neider. In ihrer Replik auf Keies Ausfall gegen Kalogrenant ordnet sie bestimmte Verhaltensweisen des Truchsessen als neidisch ein, sodass sich anhand ihrer Rede ein erstes Verständnis der Emotion formulieren lässt. Indem Ginover Keies Hass auf denjenigen, dem Ehre geschieht, als nîd (HI 142) bezeichnet, beschreibt sie Neid zum einen als Emotion, die Personen miteinander in Relation setzt. Keies Neid erscheint hier ursächlich für seine Aggressionen gegenüber Kalogrenant. Zum anderen macht sie deutlich, dass Neid sich an Unterschieden orientiert. Keies Neid richtet sich laut ihrer Beschreibung darauf, das Kalogrenant über ein Gut verfügt, dass ihm selber fehle. Neid wird so als Emotion gezeigt, die aufs Engste mit Fragen der höfischen Rangordnung verknüpft ist. Im Iwein lässt sich am Neid nicht nur ablesen, wer im höfischen Wettbewerb größeren Erfolg hatte, sondern auch, welche Distinktionen in der höfischen Gesellschaft als besonders wichtig und daher als beneidenswert gelten. Auf der Handlungsebene lässt sich Neid auf zweierlei Weise mit der höfischen Ordnung in Verbindung bringen. Betrachtet man das Streitgespräch in Zusammenhang mit der vorangehenden Festbeschreibung, lässt sich Keies Neid erstens als Reaktion auf Veränderungen in der höfischen Rangordnung lesen. Keie reagiert neidisch darauf, dass Kalogrenant trotz des Gleichheitsversprechens der Artusrunde im Vergleich mit ihm und allen Anderen an Ehre hinzugewonnen hat. Ausgehend vom Iwein lässt sich folglich argumentieren, dass Neid in narrativen Texten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts auch eine Diagnose der sozialen Situation am Hof beinhaltet: Neid tritt in Folge von Veränderungen im Machtgefüge auf und macht sie so für den Rezipienten sichtbar. Zugleich versucht Keie die Rangordnung im Iwein selbst zu verändern. Folgt man der Deutung des Erzählers und Ginovers, so attackiert Keie durch sein schelten und schimpfen genau jene Ehre, um die er Kalogrenant beneidet. Die Emotion funktioniert im Iwein somit als Schnittstelle zweier Ordnungsdynamiken: Indem der Neider darauf reagiert, dass der Andere in der höfischen Rangordnung aufsteigt, weist die Emotion zurück auf Veränderungen in der höfischen Ordnung. Indem Neid zu ehrabschneiderischen Sprechhandlungen motiviert, erweist er sich hingegen selbst als potentiell Ordnung verändernde Kraft. Dem lässt sich eine weitere Beobachtung anschließen. Das Sprechen ist nicht nur das Handlungsmedium des Neiders, es wird auch über den Neider gesprochen. Zum Thema wird die neidische Beziehung im Iwein erst über verbale Deutungs- und Zuschreibungsprozesse. Keie kommuniziert seine Emotion weder über Worte noch über Gesten, doch erkennen Andere an seinen Verhaltensweisen den
2.2 Funktionsweisen von Neid in Ordnungsdebatten um 1200
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Neid und machen sein Fühlen öffentlich. Besonderes Gewicht gewinnen diese Zuschreibungsprozesse für die Interpretation im Iwein dadurch, dass sich mit ihnen Deutungen und Bewertungen verbinden. Das Beispiel von Keies Neid zeigt, dass die neidische Beziehung sowohl den Status des Neiders als auch des Beneideten neu definieren kann. Wird Neid entdeckt, so verändern sich blitzartig die Ordnungssemantiken und Wertungsmuster im Text: Aus Kritik wird Lob, aus dem Kritiker der Kritisierte. Am Beispiel des Iwein wird die Komplexität sichtbar, die Ordnungsdebatten in literarischen Texten annehmen können. Den genannten Funktionsweisen von Neid als Personen miteinander relationierende Emotion und als Bewertungsmechanismus, als Reaktion auf soziale Veränderungen wie als Motivation für höfische Hierarchien dynamisierende Sprechhandlungen soll in diesem Kapitel genauer nachgegangen werden. Indem die Neiddarstellung des Iwein im Feld der historischen Diskurse verortet und so noch einmal detaillierter erklärt wird, soll im Verlauf des Kapitels Schritt für Schritt ein methodischer Zugriff auf das Erzählen von Neid im zwölften und dreizehnten Jahrhundert entwickelt werden, der im nächsten Kapitel gebündelt wird. Damit wird im Vergleich mit Kathrin WEBER und Fabrice WILHELM ein alternatives Verfahren der Historisierung gewählt: Der Einfluss des religiösen Diskurses auf die Literatur wird zwar nicht geleugnet. Dieser wird jedoch nicht mehr als umfassendes Deutungsmuster an die literarischen Texte herangetragen: Indem der religiöse Diskurs ausdifferenziert und nach Funktionsweisen getrennt untersucht wird, steht die Frage im Zentrum, wie er in literarischen Texten produktiv gemacht werden kann. Der Sachlogik folgend beginnt dieses Unterfangen mit der Frage nach dem Verständnis von Neid selbst.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
2.3 Definitionen – Neid als passio, Sünde und Hauptsünde Invidia est enim odium felicitatis alienae. Neid ist nämlich Hass auf fremdes Glück.25 Quarto aliquis tristatur de bonis alicujus inquantum alter excedit ipsum in bonis. Et hoc proprie est invidia. Viertens ist jemand traurig über die Güter eines anderen, insofern dieser mehr hat als er selbst. Und das ist Neid im eigentlichen Sinne.26
Anhand der Neiddefinitionen des Augustinus und des Thomas von Aquin lässt sich ein erster Eindruck davon gewinnen, was im zwölften und dreizehnten Jahrhundert als gemeinsames Neidverständnis zu Grunde gelegt werden kann. Sowohl der im 4. Jhd. n. Chr. geborene Kirchenvater als auch der scholastische Theoretiker aus dem dreizehnten Jahrhundert betonen die soziale Dimension von Neid. Sie fassen Neid als Gefühl, das sich nicht einfach auf Glück oder Besitz, sondern explizit auf das Glück oder den Besitz eines Anderen richtet. Diese soziale Dimension wird in den Diskursen des Mittelalters auf mehreren Ebenen ausgeleuchtet und erklärt: Neid ist – wie Andreas KRAß betont – nicht nur in die Ordnung der passiones eingeordnet, als Sünde und Hauptsünde steht er zugleich in einer Reihe mit „Hoffart, Habgier, Völlerei etc.“27 Will man der Differenz mittelalterlicher Neidkonzeptionen gerecht werden, müssen diese zusätzlichen Analyseund Bewertungsebenen in die Analyse einbezogen werden. Als Emotion weist Neid, wie Augustinus’ und Thomas’ Definitionen zeigen, eine große Spannweite auf. Je nachdem, ob der Fokus der Betrachtung stärker auf dem Beneideten oder auf dem Neider liegt, wird Neid – wie im Iwein – als Hass oder aber als Form der Trauer beschrieben.28 Wie Bridget BALINT gezeigt hat, konzent-
Augustinus: Ennarationes in Psalmos 104, 17 (18). Zit. n. Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in Psalmos CI-CL. Hrsg. von E. DEKKERS/I. FRAIPONT, Turnhout 1956 (Corpus Christianorum, Series Latina 40), S. 1545. Die Übersetzung stammt von mir, E.L. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 2. Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit n. Thomas von Aquin: Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/Kl ugheit (II-II, 34–56). Kommentiert von Josef ENDRES, Heidelberg u. a. 1966 (Summa Theologica. Hrsg. von der AlbertusMagnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 17B), S. 36–50, hier S. 43. KRAß, Neidische Narren, S. 104. Dies gilt insbesondere für das Spätmittelalter. Ausgehend von Nemesius’ Schrift De natura hominis wird invidia neben acedia, anxietas und misericordia in den großen scholastischen Systematisierungsversuchen der passiones regelmäßig der Trauer zugeordnet. Vgl. zum Fortwirken der Einteilung des Nemesius: KÜHNE, Anja: Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Partonopier und Meliur‘, Göppingen 2004 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 713), S. 158f u. 188f.
2.3 Definitionen – Neid als passio, Sünde und Hauptsünde
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riert sich der religiöse Diskurs schon früh auf das Leiden des Neiders: „When the Fathers write in detail about the term and its meaning, they seem less concerned about the damage the envier might do than about the spiritual health of the envious person.“29 Wie dem Melancholiker wird dem Neider ein Übermaß an schwarzer Galle diagnostiziert.30 Das neidische Leiden drückt sich sowohl in den zur Beschreibung verwendeten Metaphern als auch in den Entwürfen einer Physiognomie des Neiders aus. Schon die Kirchenväter St. Basilius und St. Cyprian schildern den Neid in ihren Predigten als Rost, der das Eisen zerfrisst, als Schlange, die im Prozess der Geburt die eigene Mutter tötet, als nagenden Wurm in der Seele und als inneres Verbrennen.31 Gemeinsam ist all ihren Metaphern, dass sie die invidia als Selbstzerstörung charakterisieren.32 Neid wird als Krankheit entworfen, die den Körper aufzehrt,33 sodass es nicht verwunderlich ist, dass der in der mittellateinischen Literatur häufig für Neid verwandte Begriff des livor auf die Blässe und Ausgezehrtheit des Neiders referiert.34 Zentraler Bezugspunkt sowohl für die Beschreibung als auch für die Terminologie des Neides ist die Aglauros-Episode aus Ovids Metamorphosen. Juno be-
Vgl. BALINT, Bridget: Envy in the intellectual discourse. In: The seven deadly sins. From communities to individuals. Hrsg. von Richard Gordon NEWHAUSER, Leiden 2007 (Studies in medieval and reformation traditions 123), S. 41–56, hier S. 44. So zum Beispiel in Hugos von Trimberg Der Renner. Vgl. Hugo von Trimberg: Der Renner, D. 5, 14134. In: Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. von Gustav EHRISMANN, Bd. 2, Tübingen 1909 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 248), hier S. 198. Zur Verwandtschaft von Neid und Melancholie, allerdings mit Schwerpunkt auf dem frühneuzeitlichen Diskurs vgl. MINOU, Mina: Envyʼs pathology. Historical contexts (Version 2). In: Wellcome Open Research 2,3 (2017), S. 8–11. https://wellcomeopenresearch.org/articles/2–3/v2 [31. Januar 2023]. Zur mittelalterlichen Ikonographie des Neids vgl. insbesondere: DIEKSTRA, Frans N. M.: The Art of Denunciation. Medieval Moralists on Envy and Detraction. In: In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages. Hrsg. von Richard NEWHAUSER, Toronto 2005 (Papers in Mediaeval Studies 18), S. 431–454. Dabei wird das Leid des Neiders bisweilen direkt mit Glück des Beneideten relationiert. Je größer der Vorteil des Anderen ist, desto stärker fällt in Cyprians Predigt De zelo et livore auch das den Neider verzehrende Feuer aus. Vgl. Cyprian: De zelo et livore, 7. Hier und im Folgenden zit. n. Cyprien de Carthage: La jalousie et lʼenvie. Introduction, texte critique, traduction, notes et index par Michel POIRIER, Paris 2008 (Sources Chrétiennes 519), hier S. 80–83. Zur Auffassung von Neid als Krankheit im mittelalterlichen Sündendiskurs vgl. MINOU, Mina: Envyʼs pathology. Historical contexts. (Version 2), S. 2–3. Vgl. BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 43. Wörtlich übersetzen lässt sich livor mit ‚bleiartige Farbe einer Körperstelle, blauer Fleck‘.Vgl. SCHAUPP, Manfred: Invidia. Eine Begriffsuntersuchung. Dissertation (masch.), Freiburg 1962, S. 35. Angefangen bei Cyprian bis hin zu den spätmittelalterlichen Predigtmanualen werden in der religiösen Literatur immer wieder die blasse Farbe und die zitternden, knirschenden Zähne des Neiders hervorgehoben. Vgl. DIEKSTRA, The Art of Denunciation, S. 437–439.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
sucht die Göttin der Invidia, um die Königstochter Aglauros, die ihre Gebote übertreten hat, mit Neid auf deren Schwester Herse zu infizieren. Invidia tritt Juno dabei nicht nur als Herrin über den Neid, sondern als dessen allegorische Verkörperung gegenüber: pallor in ore sedet, macies in corpore toto, nusquam recta acies, [...] sed videt ingratos intabescitque videndo successus hominum carpitque et carpitur una suppliciumque suum est. Bleich sind Wangen und Mund, die Dämonin ist mager am ganzen Leib, stets schielt sie querüber [...] Unwillkommene Erfolge betrachtet sie, und im Betrachten Zehrt sie sich ab; denn andere benagt sie und nagt an sich selber Und ist so ihre eigene Pein [...].35
Die im Mittelalter oft zitierten Verse machen deutlich, dass Neid so genau wie kaum eine andere Emotion anhand des Körpers beschrieben wird.36 Auf der anderen Seite sind die Emotionsäußerungen im Fall von Neid jedoch auch versteckter als bei anderen Emotionen. Nicht nur funktioniert Neid körperlich, wie CASAGRANDE und VECCHIO treffend formulieren, vor allem als ‚Substraktion‘.37 Der Neider ist zudem darum bemüht, seinen Hass und seine Trauer versteckt zu halten.38 Denn als Trauer über das Glück eines Anderen ist Neid eine gesellschaftlich nicht akzeptable Form der Trauer. Anders als es die von Kathrin WEBER entworfene Diskursgeschichte der Emotion vermuten ließe, beinhaltet der religiöse Diskurs nicht allein eine Bewertung, sondern bereits eine differenzierte Analyse des intersozialen Funktionierens der Emotion. In der scholastischen Philosophie des Thomas von Aquin richtet sich
Ovid: Metamorphosen II, 775–782. Text zit. n. Ovidius: Metamorphoses. Hrsg. von W. S. ANDERBerlin 2008 (Bibliotheca Teubneriana 1565), S. 84. Die Übersetzung folgt: Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern. Übersetzt und hrsg. von Hermann BREITENBACH. Mit einer Einleitung von. L. P. WILKINSON, Stuttgart 2001, S. 84. Sichtbar wird die zentrale Rolle der Metamorphosen für die mittelalterliche Beschreibung des neidischen Leidens zum Beispiel im Policraticus des Johannes von Salisbury. Vgl. Johannes von Salisbury: Policraticus VII, 24. Der Text wird hier und im Folgenden zit. n. Ioannis Saresberiensis Opera Omnia. Unveränderter Nachdruck der Orginalausgabe Oxford, Paris, London 1848. Hrsg. von J. A. GILES, Bd. 4, Leipzig 1969, S. 186–192, hier S. 188. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 72. Zum Topos des unsichtbaren Neids vgl. Hugo von Trimberg: Der Renner, D. 5, V. 14135–14148, Bd. 2, S. 198. SON,
2.3 Definitionen – Neid als passio, Sünde und Hauptsünde
27
Trauer immer auf ein Übel.39 In diesem System stellt Neid zunächst ein Paradoxon dar: Wie kann er als Trauer bezeichnet werden, wenn er doch vom Gut/ Guten (bonum) eines Anderen ausgelöst wird? Thomas von Aquin geht von einem komplexen Übertragungsmechanismus aus. Der Widerspruch wird für ihn dann erklärbar, wenn der Neider das Gut/Gute des Anderen für sich selbst als Übel qualifiziert.40 Laut Thomas ist Neid Trauer darüber, dass das Gut/Gute des Anderen die eigene Vorrangstellung mindert. Damit charakterisiert er Neid zum einen als Emotion, bei der es um zwischenmenschliche Hierarchien geht. Im Anschluss an Aristoteles, dessen mittelalterliche Rezeption in Zentraleuropa im dreizehnten Jahrhundert einsetzt, definiert Thomas Ruhm (gloria), Ehre (honor) und Geltung (opinio) als bevorzugte Objekte des Neids.41 Mit Thomas stellt der Neid Keies auf die Ehre Kalogrenants insofern eine typische Neidkonstellation dar. Zum anderen macht Thomas von Aquin bestimmte Bedingungen aus, die Neid bevorzugt entstehen lassen. Neid ist für ihn – wie schon für Hesiod und Aristoteles – ein Phänomen der Ähnlichkeit in Bezug auf Herkunft, Verwandtschaft, Wuchs, Kleidung und Ruf.42 Im Gegensatz zu Personen, die dem Neider fernstehen, tangieren den Neider die Erfolge derjenigen, die aus derselben Sphäre wie er selbst stammen, in seinem eigenen Streben nach Ruhm direkt. Neid wird so letztlich als Form ökonomischen Denkens gezeichnet: Der Neider nimmt die Güterverteilung zwischen sich und dem Anderen als ‚Nullsummenspiel‘ wahr, in dem des Einen Gewinn des Anderen Verlust bedeutet.43 Im Anschluss an Aristoteles präzisiert Thomas von Aquin den Charakter der Emotion, indem er den Neid mit anderen Formen der Trauer über die Güter Anderer vergleicht. Er orientiert sich dabei an Aristoteles’ Unterscheidung verschie Gemäß dem der Summa Theologica zugrundeliegenden Ordnungssystem der passiones werden Emotionen in ihr weniger über ihre spezifische emotionale Qualität als über ihre Zielausrichtung definiert. Vgl. KOCH, Trauer, S. 32. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 1. Zit. n. Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/Klugheit (II-II, 34–56), S. 37f. Ebenda, S. 38. Vgl. Aristoteles: Rhetorik 2, 10. Hier und im Folgenden zit. n. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof RAPP, Erster Halbband, Berlin 2002, S. 95–96. Vgl. Hesiod: Theogonie, V. 23–26; „Der Töpfer eifert mit dem Töpfer, und der Maurer eifert mit Maurer, und der Bettler beneidet den Bettler, der Sänger den Sänger.“ Zit. n. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Albert SCHIRNDING. Mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther SCHMIDT, Düsseldorf, Zürich 21997, hier S. 84 f. Alternativ zu Aristoteles ließe sich der Gedanke, dass Neid auf Ähnlichkeit beruht, auch aus der Vulgata Liber ecclesiastes 4,4 ableiten. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 1. Zit. n. Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/Klugheit (II-II, 34–56), S. 36–40. Vgl. hierzu: CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 73 f.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
dener Formen der Trauer über die Güter Anderer44 und fügt dieser weitere passiones hinzu: Während sich der gerechte Unwille (nemesis) auf das unverdiente Glück des Anderen richte und die Furcht auf die Bedrohung, die vom Glück des Beneideten ausgeht, legten der Neider und der Eifrige in ihrem Fühlen unterschiedliche Schwerpunkte: Den Eifrigen bekümmere der eigene Nichtbesitz, sodass er das Gut ebenfalls erwerben will. Der Neider hingegen empfinde Leid aufgrund des Besitzes des Anderen, sodass die Emotion für Thomas in eine moralisch-soziale Perversion mündet: Anstatt sich über das Gute des Anderen zu freuen, empfindet der Neider Schmerz.45 An dieser Verkehrung macht Thomas den sündhaften Charakter des Neides fest. In seiner Bewertung der mit Neid benachbarten Emotionen zeigt sich, dass die christliche Sicht auf die invidia stückweise von der antiken Ordnung der Emotionen abweicht. Ist in Aristoteles Rhetorik allein der photonos nicht wünschenswert, weil er den Zuhörer der Rede gegen den Angeklagten einnimmt und Mitleid mit ihm verunmöglicht, ist aus religiös-christlicher Perspektive schon das Streben der nemesis nach irdischer Gerechtigkeit nicht legitim: Der Empörte missachtet Gottes planvolle Verteilung der Güter, er will die spätere himmlische Ordnung schon auf Erden verwirklichen. Von den drei bei Aristoteles genannten Formen der Trauer über die Güter Anderer kann so allein der zelus (Nacheifern) ohne Sünde sein. Thomas von Aquin heißt ihn gut, wenn er sich auf edle oder unwürdige Güter richtet.46 Für die Konzeption der auf die Güter des Anderen gerichteten Emotionen lassen sich an dieser Neubewertung der Emotionen zwei Entwicklungen ablesen: Die nemesis rückt im Vergleich zur Antike näher an die invidia heran,47 während die Nachahmung der guten Seiten des Anderen (emulatio) zur positiven Alternative des Neids ausgestaltet wird.48 Deuten sich schon bezüglich der Einschätzung von Neid als Sünde nicht nur Abgrenzungen, sondern auch Übergänge des Neids zu anderen Emotionen an, so gilt dies noch stärker für die dritte ‚Ordnung‘, in die Neid im Mittelalter eingebun-
Aristoteles: Rhetorik 2, 9–11, Erster Halbband, S. 92–97. Für eine Zusammenfassung der aristotelischen Neidtheorie vgl. VIANO, Christina: Competitive Emotions and Thumos in Aristotleʼs Rhetoric. In: Envy, Spite and Jealousy. The rivalrous emotions in ancient Greece. Hrsg. von David KONSTAN/Keith RUTTER, Edinburgh 2003 (Edinburgh Leventius Studies 2), S. 85–97. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 2. Zit. n. Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/Klugheit (II-II, 34–56), S. 41–43. Ebenda. Zur Ablehnung der Idee der nemesis im christlichen Denken vgl. WILHELM, L’envie, S. 79–80. Als solche deutet bereits Augustinus den zelos in De civitate Dei XV, 7. Kain hätte, anstelle auf Abel neidisch zu sein, diesen nachahmen sollen. Vgl. Augustinus, Aurelius: Der Gottesstaat. De civitate Dei. In deutscher Sprache von Carl Johann PERL, Bd. 2, Paderborn u. a. 1979, S. 19. Vgl. zur emulatio als Heilmittel der invidia: Wilhelm, L’envie, S. 69.
2.3 Definitionen – Neid als passio, Sünde und Hauptsünde
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den ist: Seit Gregor dem Großen gehört Neid zu den Hauptsünden.49 Damit wird Neid zum einen als Ursprung weiterer sündhafter passiones und Handlungen ausgemacht: Aus dem Neid gehen laut Gregor die Tochtersünden odium, susurratio, detractio, exsultatio in adversis proximi und afflictio autem in prosperis hervor50 und werden von Thomas später auch als Verlaufsdynamik des Neides interpretiert, in der auf den anfänglichen Hass ‚Ohrenbläserei‘ und Ehrabschneidung folgen und Schadenfreude beziehungsweise Gram das Resultat der erfolgreichen oder gescheiterten Handlungen des Neiders bilden.51 Zum anderen wird die Emotion selbst Teil einer Kettenreaktion zwischen den Hauptsünden. In Gregors Moralia in Job ist Neid ein Produkt der Eitelkeit (vana gloria). Der Eitle suche vani nominis potentiam und stelle sich dementsprechend als Neider allen Anderen entgegen, die ebenfalls weltliche Ehren erlangen wollen.52 Umgekehrt befeuere der Neid wiederum den Zorn (ira), denn durch Neid verliere das Gemüt das Gleichgewicht, die seelische Verletzung mache sich in äußerer Aggression bemerkbar. Gleich zweifach wird im mittelalterlichen Hauptsündendiskurs folglich die Möglichkeit statischen oder rein passiven Neids ausgeschlossen. Neid ist Ursprung und Teil aggressiver Emotionsund Handlungsdynamiken – eine Funktion, die auch in literarischen Texten dafür genutzt werden könnte, einen Plot zu kreieren und voranzutreiben. Wie als passio wirft die invidia auch als vitium capitale bei den Theologen des Hoch- und Spätmittelalters Fragen auf. Unter den sieben Hauptsünden ist sie, wie Carla CASAGRANDE und Silvia VECCHIO in ihrer Geschichte der Hauptsünden konstatieren, die einzige, die keinen Genuss bereitet. Die Habgier habe die Freude des Besitzes, der Zorn den der Rache, der Stolz den der Selbsterhöhung, die Eitelkeit das Lob der Anderen, die Schwermut die Entspannung von Körper und Geist, die Völlerei und die Wollust eine Vielzahl körperlicher Genüsse. Allein der Neider – so Alain
Zur Entstehungsgeschichte der Liste der Hauptsünden vgl. BLOOMFIELD, Morton W.: The seven deadly sins. An introduction to the history of a religious concept with special reference to medieval english literature, Michigan 1952, S. 43–104; zur Aufnahme von Neid in die Liste der Hauptsünden vgl. insbesondere S. 72. Gregor der Große: Moralia in Job 45, 88; „Hass, Getuschel, üble Nachrede, ausgelassene Freude über das Unglück des Nächsten und Betrübnis über dessen Glück“ [eigene Übersetzung]. Hier und im Folgenden zit. n. Sancti Gregorii Papae I, Cognomento Magni, Opera omnia. Hrsg. von Jean Paul MIGNE, Bd. 2, Paris 1857 (Patrologiae Cursus Completus, Series Latina 76), Sp. 509–1162, hier Sp. 821. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 4. Zit. n. Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/Klugheit (II-II, 34–56), S. 49–50. Gregor der Große: Moralia in Job 45, 89; „die Kraft des leeren Namens“ [eigene Übersetzung]. Zit. n. Sancti Gregorii Papae I, Opera omnia, Bd. 2, Sp. 821. Mit dem Verschwinden der vana gloria als eigenständiger Hauptsünde rückt Neid im Hochmittelalter an den Anfang der Hauptsündenliste und wird direkt aus der suberbia abgeleitet.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
de Lille – könne sich keine Hoffnung auf Freuden machen, seine Sünde sei ein nie endendes Leiden.53 Peraldus wundert sich in der Summa de vitiis daher, warum der Neider, anstatt sich das ewige Heil zu sichern, den Schmerz in dieser Welt wählt.54 Eine psycho-kausale Erklärung der widersprüchlichen Sünde scheint für ihn nicht möglich. Eine Deutung des Leidens des Neiders ist jedoch bereits in der Anlage der Aglauros-Erzählung enthalten. Neid entsteht hier nicht natürlich, sondern wird als Strafe für die trotz ihrer niederen Motive erfolgreiche Aglauros gedacht.55 Dieser Bestrafungscharakter des neidischen Leides wird auch im Rahmen der Sündentheorie diskutiert: Während Strafe und Schuld nach Augustinus normalerweise streng voneinander geschieden werden müssen, gilt Neid in Thomas’ De Malo als diejenige Sünde, die bereits ihre eigene Strafe enthält.56 Einschätzungen wie diese zeigen, dass die Einordnung des Neids unter die Sünden und Hauptsünden dem Verständnis der Emotion nicht äußerlich bleibt. Insbesondere im Vergleich mit Aristoteles Rhetorik wurde deutlich, dass es für die Konzeptionalisierung von Neid eine Rolle spielt, in welche Reihe mit anderen Sünden er eingefügt und von welchen positiven Emotionen er abgegrenzt wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es zum einen sinnvoll, die Unterschiede zwischen mittelalterlichen und modernen Neidkonzeptionen im Methodenkapitel noch einmal explizit zu reflektieren; es kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass dasselbe gemeint ist, wenn von Neid gesprochen wird.57 Zum anderen ergeben sich aus der Analyse der historischen Diskurse von Neid konkrete Fragen und Aufgaben für die methodische Operationalisierung: Wie lässt sich in der Textanalyse damit umgehen, dass für die Beschreibung des Leidens des Neiders zwar eine überaus reiche Bildtradition bereit steht, Neid jedoch auf der anderen Seite als versteckte Emotion gilt und – wie im Iwein deutlich wird – entziffert werden muss? Auf welche Weise können Alternativen zu Neid wie die emulatio in die Interpretation einbezogen werden? Und wie lässt sich das von
Alain de Lille: Summa de arte praedicatoria VIII, col. 128–129. Vgl. hierzu: CASAGRANDE u. VECHistoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 71. Peraldus: Summa de vitiis II, VII, I, 3. Vgl. hierzu: CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 71. Für eine ausführliche Deutung der Aglauros-Erzählung im Lichte der geschilderten aristotelischen Neidtheorien vgl. WITTCHOW, Frank: „Pallidus amaro aspectu“. Der Neid. Ein häßliches Gefühl. In: Pathos – Affekt – Emotion. Transformationen der Antike. Hrsg. von Martin HARBSMEIER/ Sebastian MÖCKEL, Frankfurt a. M. 2009, S. 217–249. Thomas von Aquin: De Malo, q. 10, 1. Vgl. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae. Vom Übel II. De malo II, q. 8–16. Übersetzt von Christian SCHÄFER, Hamburg 2010 (Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Rolf SCHÖNBERGER, Bd. XII), S. 69–75, hier S. 74–75. Vgl. das Kapitel 3.1. Begriffsbildung.
CHIO,
2.4 Sprechende Neider
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Thomas beschriebene Streben des Neiders nach hierarchisierenden Neidobjekten wie Ehre, Ruhm und Geltung theoretisch fassen?
2.4 Sprechende Neider In der Eingangsszene von Hartmanns um 1200 verfassten Iwein liegt besonderes Augenmerk auf den Sprechhandlungen und ihrer Bewertung. Schon während Keie Kalogrenant für sein Verhalten kritisiert, gerät seine Art zu sprechen in den Fokus. Der Erzähler kennzeichnet Keies Rede als ehrabschneiderisch: im was des mannes êre leit/ und beruoft in drumbe sêre/ und sprach im an sîn ere (HI 110–112). Diese Beschreibung lässt sich zum einen als nüchterne Beschreibung der Inhalte von Keies Kritik verstehen. Zum anderen macht sie Keies Rede vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskurse als sprachliche Verfehlung lesbar. Der Angriffene selber stellt fest, Keie rede anders danne wol (HI 192). Zum Zeitpunkt dieser Aussage wird Keies Sprechhandlung jedoch schon nicht mehr für sich allein betrachtet. Das fehlgeleitete Sprechen wird auf eine ebenso fehlgeleitete Emotion zurückgeführt: Keies ehrabschneiderisches Sprechen korresponiert laut Ginover mit seinem altbekannten Neid (HI 133–158).58 Diese Zuordnung mag zunächst überraschen. In der Antike wird Neid zumeist mit einer anderen Handlung verbunden: mit dem bösen Blick, dem Schadenzauber. Ausgehend von der pythagoreischen Extramissionstheorie des Sehens spricht die griechische und hellenistische Literatur dem neidischen Blick eine Ausstrahlung zu, die den Anderen schädigt.59 Invidia wird von daher mit „to look at askance, regard with ill will“60 übersetzt. Invidia bezeichnet im klassischen Latein zunächst beides: die Emotion selbst und den bösen Blick, mit dem der Neider
Ohne diese Zuordnung könnte Keies sprachliches Fehlverhalten auch als Ausdruck von Zorn gelesen werden, der häufig mit der Sprachsünde der ehrabschneiderischen Beleidigung, der sogenannten contumelia, verbunden wird. Hartmann weicht insofern leicht von den gängigen Schematisierungen der Sünden ab. Zur genauen Funktionsweise des Neids gibt es verschiedene Theorien, die aber jeweils den bösen Blick mit Neid verbinden. Folgt man den Quaestiones Convivales des Plutarch, geht der böse Blick darauf zurück, dass der die Seele vergiftende Neid durch die Augen als vergiftende Sehstrahlen nach außen ströme, laut Heliodors Aithiopica belädt der Blick des Neidischen die Luft mit einer bösen Kraft, die in den Körper des Beneideten eindringe. Zu den antiken Theorien des bösen Blicks vgl. RAKOCZY, Thomas: Böser Blick. Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur, Tübingen 1996 (Classica Monacensia 13), S. 186–216. Vgl. den Eintrag ‚invidia‘ in: Oxford Latin Dictionary. Hrsg. von P. G. W. GLARE, Oxford 1982, S. 959.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
den Anderen fixiert.61 Der Glaube an letzteren geht über Matth. 6,3,2 und Paulus’ Galaterbrief auch in die christliche Tradition ein: Die frühen Kirchenväter weisen zwar die physiologische Erklärung des bösen Blicks als heidnischen Aberglauben zurück, geben die Vorstellung jedoch nicht ganz auf. Ihnen zufolge ist es der Teufel, der über die Augen der Neider in das weltliche Geschehen eingreift.62 Neid wird insofern primär als visuelle Sünde begriffen. Selbst dort, wo das Sehen des Neiders nicht als magische Handlung konzipiert wird, lässt sich die Sünde am Blick erkennen. So belegt Augustinus in den CONFESSIONES seine These, dass auch die Kinder nicht frei von der Erbsünde seien, mit der Art und Weise, wie ein Kleinkind seinen Bruder ansieht: Vidi ego et expertus sum zelantem parvulum: nondum loquebatur et intuebatur pallidus amaru aspectu conlactaneum suum.63 Auch im zwölften und dreizehnten Jahrhundert wird Neid mit dem bösen Auge oder, in abgeschwächter Form, dem schiefen Blick auf das Glück der Anderen assoziiert.64 Jedoch ist die Darstellung des Neids in Hartmanns Iwein ein Indiz dafür, dass in diesem Zeitraum eine konkurrierende Deutungstradition im Aufwind ist. Schon Gregor der Große zählt zwei Sprechhandlungen, nämlich die susurratio, die ‚Ohrenbläserei‘, und die detractio, die ‚Verleumdung‘, unter die Töchter der
Zur Etymologie von invidia vgl. BILE, Monique: Les mots de lʼenvie. In: Le théâtre de lʼenvie. Actes du colloque international de Metz (5–7 octrobe 2006). Hrsg. von Jean-Pierre BORDIER/JeanFrédéric CHEVALIER, Metz 2010 (Recherches en Littérature 6), S. 17–35, hier S. 28 sowie die ausführlichen Erläuterungen bei: SCHAUPP, Invidia, S. 1–14. SCHAUPP führt zahlreiche Beispiele für die Gleichsetzung von invidia und fascinatio in der antiken Literatur an. Vgl. DICKIE, Matthew W.: The Fathers of the Church and the evil eye. In: Byzantine Magic. Hrsg. von Henry MAGUIERE, Washington 1995, S. 9–34 u. RAKOCZY, Böser Blick, S. 216–226. Augustinus, Confessiones I, 11; „Mit eigenen Augen sah und beobachte ich einmal eines Knäbleins Eifersucht. Es konnte noch nicht sprechen und schaute doch blaß, mit bitterbösem Ausdruck auf seinen Milchbruder.“ Text und Übersetzung zit. n. Augustinus, Aurelius: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Übersetzt von Wilhelm THIMME. Mit einer Einführung von Norbert FISCHER, Düsseldorf, Zürich 2004, S. 23–25. So greift, wie Sarah SPENCE hervorgehoben hat, noch Bernhard von Clairvaux in seiner Predigt über den dreizehnten Vers des Hohen Liedes auf die Figur des Basilisken zur Beschreibung von Neid zurück. Vgl. SPENCE, Sarah: Double Vision. Love and Envy in the Lais. In: In Quest of Marie de France, a Twelth-Century Poet. Hrsg. von Chantal A. MARÉCHAL, Lewiston, Queenston 1992, S. 262–279, hier S. 264. Nachdem Bernhard den Blick des Basilisken als giftig, verderblich und verhexend charakterisiert hat, fügt er in Form einer rhetorischen Frage eine Auflösung der Allegorese an: „Was bedeutet denn ‚neiden‘ (invidere) anderes als ‚Böses sehen‘ (malum videre)?“ (Bernhard von Clairvaux, Sermones super psalmum „Qui habitat“, 13) Übersetzung zit. n. Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch. Hrsg. von Gerhard B. WINKLER, Bd. 7, Innsbruck 1996, S. 464–468, hier S. 466 f. Zum Glauben an den bösen Blick im Mittelalter vgl. HAUSCHILD, Thomas:
2.4 Sprechende Neider
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invidia.65 Aufgrund der Wirkmacht der gregorianischen Systematik der Hauptsünden ordnen Theologen der folgenden Jahrhunderte die beiden Sprachsünden kontinuierlich dem Neid zu. Folgt man der Forschung, so setzte ab Ende des 11. Jahrhunderts eine intensive Diskussion über das neidische Sprechen ein66 und erreichte im dreizehnten Jahrhundert – also zu der Zeit, als Hartmann seinen Iwein verfasste – diskursübergreifend einen Höhepunkt. Mireille VINCENT-CASSY kommt in einer vergleichenden Studie der in der altfranzösischen Literatur mit Neid verbundenen Schlüsselbegriffe zu dem Ergebnis: „[L]e substantif accolé à envie différait selon l'époque. Cʼest la médisance au XIIIe siécle, la convoitise au XIVe et la haine au XVe siècle [...].“67 Ihr zufolge beschränkt sich diese Entwicklung nicht auf die Literatur; in der künstlerischen Darstellungspraxis der Sünde lässt sich zeitlich leicht versetzt eine parallele Fokusverschiebung beschreiben: Werden im fünfzehnten Jahrhundert vor allem die gierigen Augen, die nach Objekten greifenden Gesten oder gleich die prall gefüllten Geldbörsen der Neider hervorgehoben, zeigen die Künstler des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts den Neider mit herausgezogener Zunge; aus seinem Mund springen Kröten oder schießen Flammen. In den zahlenmäßig noch geringen Sündendarstellungen dieser Zeit wird sein sprechender Mund so zu dem Merkmal, an dem man den Neider erkennen kann.68 Hierzu passt, dass sich in Reaktion auf häretische Bewegungen und den Aufstieg der als unkultiviert wahrgenommenen Volkssprachen Theologen, Mönche und Prediger darum bemühten, das Sprechen zu disziplinieren.69 Carla CASA-
Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, Berlin 21982, S. 16–20. Gregor der Große: Moralia in Job 45, 88, Sp. 821. Vgl. BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 46–47. VINCENT-CASSY, MIREILLE: Lʼenvie au Moyen Ậge. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 35, 2 (1980), S. 253–271, hier S. 258. Vgl. VINCENT-CASSY, Lʼenvie au Moyen Ậge, S. 260. Giottos zwischen 1303 u. 1305 entstandene Darstellung des Neids in der Scrovegni-Kapelle in Padua stellt insofern schon ein Übergangsphänomen dar: Giotto zeigt die invidia mit dem Geldbeutel in der Hand, aus ihrem Mund züngelt als Bild für die detractio eine Schlange. Die übergroßen Ohren der Figur verweisen darauf, wie gern der Neider allen Gerüchten über den Beneideten zuhört. Vgl. für eine historische Kontextualisierung von Giottos berühmter Darstellung: SHOAF, Matthew: The heart, the eyes and medieval envy. In: Micrologus 11 (2003), S. 213–228 sowie BASCHET, Jerôme: Les sept péchés capitaux et leurs châtiments dans lʼiconographie médiévale. In: Carla CASAGRANDE u. Silvana VECCHIO: Moyen Âge. Collection historique dirigèe par Alain Corbin et Jean-Claude Schmitt. Traduit de l’italien par Pierre-Emmanuel Dauzat, Paris 2009, S. 339–385, hier S. 346–348. Vgl. LINDORFER, Bettina: ‚Zungensünden‘ und ewiges Strafgericht. Zur Performativität der Rede im moraltheologischen Diskurs des späten Mittelalters. In: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt im Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jutta EMING/Claudia JARZEBOWSKI, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter-
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
und Silvana VECCHIO charakterisieren die Jahre zwischen 1190 bis 1260 als ‚Jahrhundert der Sprachsünde‘. In den großen theologischen Traktaten der Zeit werden die Sprachsünden nun nicht mehr – wie bei Gregor – den Hauptsünden untergeordnet. Sie werden in eigenen Kapiteln in das jeweilige System der Abhandlung integriert.70 Derart wird die Schwere der sprachlichen Verfehlungen stärker betont. In der viel rezipierten Summa de vitiis des Wilhelm Peraldus werden die Sprachsünden den sieben Hauptsünden in einem Tractatus de peccato linguae an die Seite gestellt, sodass das falsche Sprechen als achte Hauptsünde erscheint.71 Für die Verhandlung der altbekannten Sprachsünden bedeutet dies Folgendes: Unter Rückgriff auf die biblische, antike und patristische Tradition werden diese nicht nur ausgiebiger als vorher betrachtet. Indem die Verfehlungen des Sprechens gemeinsam fokussiert werden, kommt es zu einer systematischen Erfassung, Klassifizierung und Analyse der Sprachsünden, wie es sie weder vorher noch nachher gab.72 Dieses neue Nachdenken über das richtige und das falsche Sprechen verleiht auch der Reflexion über die neidischen Sprechhandlungen eine neue Qualität. Ob und wie sich die Modelle und Bewertungen, die hier für das neidische Sprechen entwickelt werden, auch in literarischen Texten wiederfinden, bleibt jeweils zu fragen. Wo sie es jedoch tun, kann der Sprachsündendiskurs als Analyseinstrument dienen, um die Handlungsdimension des Neides genauer zu beschreiben. Dies gilt insbesondere für die am häufigsten mit Neid assoziierte Sprachsünde der detractio, die nicht nur über eine komplexe soziale Struktur verfügt, sondern auch vielgestaltig ist. Peraldus präsentiert im 9. Kapitel seiner Summa de vitiis eine ganze Bandbreite von Handlungen, die als detractio bezeichnet werden. Ausgehend von der Wortbedeutung des Verbs detrahere (entziehen, wegnehmen) zählt er Sprechakte auf, die das verborgene Schlechte des Anderen offenbaren, das Gute des Anderen verbergen, dem anderen fälschlicherweise Verbrechen unterstellen oder das Gute des Anderen in etwas Schlechtes umwandeln. All diesen ErscheinungsforGRANDE
und Frühneuzeitforschung 4), S. 53–74, hier S. 62–64. In England wird die Verleumdung nach dem 4. Laterankonzil auch zum Straftatbestand vor kirchlichen Gerichten. Derjenige, der einen Anderen fälschlicherweise eines Verbrechens anklagt, muss entsprechend der Bestimmungen der Constitution of the Council of Oxford (1222) mit der Exkommunikation rechnen. Vgl. HELMHOLZ, R.H.: Introduction. In: Select Cases on Defamation to 1600. Hrsg. von R. H. HELMHOLZ, London 1985 (Publications of the Selden Society 101), S. XIV–XV. Vgl. CASAGRANDE, Carla u. VECCHIO, Silvana: Les péchés de la langue. Discipline et éthique de la parole dans la culture médiévale. Traduit de lʼitalien par Ph. BAILLET. Préface de J. LEGOFF, Paris 1991, S. 11–15. Vgl. CRAUN, Erwin D.: Lies, Slander and Obscenity in Medieval English Literature. Pastoral Rhetoric and the Deviant Speaker, Cambridge 1997, S. 15. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 21.
2.4 Sprechende Neider
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men der detractio gemeinsam ist, dass sie eine bestimmte soziale Situation voraussetzen. Die detractio wird von Peraldus mit Bezug auf das dritte Buch Mose als Erzählen von Schlechtem in Abwesenheit desjenigen, den es betrifft, definiert.73 Damit sind in die neidische Sprechhandlung mindestens drei Personen involviert: Derjenige, der Schlechtes spricht, derjenige der zuhört und derjenige, über den in Abwesenheit gesprochen wird.74 Indem die detractio im dreizehnten Jahrhundert in der Diskussion um Neid an die Stelle tritt, die lange die fascinatio innehatte, verändert sich insofern auch die Sozialität neidischer Handlungen. Zwischen den Neider und den Beneideten tritt die Figur eines Dritten, der die Rede anhört und sie weiterträgt. Treffen Neider und Beneideter in der Tradition des bösen Auges noch direkt aufeinander, entwickelt das neidische Sprechen hier eine sozial infektiöse Tendenz; es funktioniert – wie Carla CASAGRANDE und Silvana VECCHIO hervorheben – als „maladie sociale“:75 Nicht mehr nur der Neider begeht eine Sünde, sondern auch der bereitwillig Zuhörende, der ihm Glauben schenkt und das Gehörte unter Umständen wiederum weitererzählt.76 Dass die detractio in soziale Beziehungen eingreift, rückt im weiteren Verlauf des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts sogar stärker in den Fokus. Konzentriert sich die Diskussion um die Sprechhandlung zunächst primär auf die Beziehung zwischen Sprecher und Objekt und damit auf den inhaltlich-semantischen Vorgang des detrahere, verschiebt sich ihr Schwerpunkt zunehmend auf die Bezie-
Vgl. Peraldus’ Ausführungen zur detractio im Tractatus IX der Summa de vitiis: Dissuadetur autem nobis hoc vitium Levitici 19, ubi sic legitur: ‚Non maledices surdo, nec coram caeco pones offendiculum, sed timebis Dominum Deum.’ Ad litteram valde impium est surdo maledicere, cum ipse non audiat nec contra obiecta aliquid possit respondere (Peraldus: Tractatus IXb. De peccato linguae 5, 394b; „Vor dieser Sünde warnt uns aber Leviticus 19, wo geschrieben steht: ‚Du sollst dem Tauben nichts Schlechtes sagen und du sollst vor den Augen des Blinden kein Hindernis aufstellen, sondern Gott deinen Herrn fürchten.‘ Es ist tatsächlich aber äußerst gottlos, dem Tauben Schlechtes zu sagen, weil er selbst nicht hören kann und sich zu dem Vorwurf nicht äußern kann“ [eigene Übersetzung].). Zit. n. Peraldus: Summa de vitiis, Lyon 1668. https://www.public. asu.edu/~rnewha us/peraldus/ [31. Januar 2023]. Vgl. zur Definition der detractio: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 239. Unter dieser Kapitelüberschrift fassen Carla CASAGRANDE und Silvana VECCHIO die gesellschaftlichen Auswirkungen von Neid zusammen. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au moyen âge, S. 78. So argumentiert Thomas in der der detractio gewidmeten Quaestio 73 seiner Summa Theologica. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II 73, 4. Zitiert hier und im Folgenden nach: Thomas von Aquin: Summa theologica. Recht und Gerechtigkeit (II-II, 57–79). Kommentiert von A. F. UTZ, Heidelberg u. a. 1953 (Summa Theologica. Hrsg von der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 18), hier S. 314–317. Vgl. hierzu auch die ausgiebigen Ausführungen in: Peraldus: Tractatus IXb. De peccato linguae 5, 339b f. Vgl. Peraldus: Summa de vitiis, Lyon 1668. https://www.public.asu.edu/~rnewhaus/peraldus/ [31. Januar 2023].
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hung zwischen Sprecher und Hörer. Der Urheber der detractio wird nun aufgrund seiner ethisch fragwürdigen Intentionen verurteilt: Er will bei seinem Zuhörer Hass gegen einen Anderen erzeugen bzw. diesen Anderen der Liebe oder der Achtung seines Zuhörers berauben.77 Variiert das Ziel dieses arglistigen Sprechens zunächst, wird in den scholastischen Traktaten die fama, die Ehre, zum einzigen Angriffspunkt: Detractio autem, secundum suam rationem, ordinatur denigrandam famam alicujus.78 In den Beschreibungen der detractio wird nun eine weitere Dimension der von Carla CASAGRANDE und Silvana VECCHIO beschriebenen maladie sociale sichtbar: Die detractio führt Böswilligkeit zwischen Personen ein, sie verändert und verhindert Kommunikation.79 Bezogen auf die sie hervorbringende Emotion des Neids bedeutet dies: Mit Hilfe der detractio attackiert der Neider die Vorrangstellung des Beneideten dort, wo dessen Überlegenheit sozial über die Anerkennung durch Andere hergestellt wird. Damit erweitert sich der Radius der von der Emotion ausgehenden sozialen Erschütterung. Indem der Neider seinen Hass sprechend weiterträgt, werden die sozialen Bindungen, welche Gesellschaft zusammenhalten, selbst destabilisiert.80 Dies wirft die Frage auf, wie die Folgen des Neides an einem Ort imaginiert werden, der ganz und gar auf Akte der wechselseitigen Anerkennung wie Ehre und Gunst abstellt: In welchem Ausmaß vermag die neidische detractio die Beziehungen am Hof neu zu ordnen. Inwieweit greift sie in die höfischen Funktionsmechanismen ein?
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster Indem Ginover Keie sowohl für die textinternen als auch für die textexternen Rezipienten als Neider entlarvt, wird aus dem Kritiker der Kritisierte. Die Frage ist, warum Neid in dieser Weise funktionieren kann. Der Hinweis darauf, dass Neid als Sünde und Hauptsünde immer negativ konnotiert ist, reicht als Erklärung allein nicht aus. Denn entgegen der Darstellung Katrin WEBERs stellt der religiöse und moraldidaktische Diskurs des Hoch- und Spätmittelalters kein monolithisches Deutungssystem dar.81 In Abhängigkeit von den verwendeten Quellen und
Zur Fortentwicklung der detractio-Definition vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 239–242. Thomas von Aquin: Summa Theologica, q. 73, 2; „Die Ehrabschneidung aber ist ihrem Begriff nach ausgerichtet auf die Anschwärzung des guten Rufes eines Menschen.“ Text und Übersetzung zit. n. Thomas von Aquin: Summa Theologica. Recht und Gerechtigkeit, S. 305–308. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux, S. 79. Ebenda. Vgl. hierzu die Vorbemerkung.
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster
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vom Gebrauchskontext ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf die Relation zwischen Neider und Beneidetem, die in den literarischen Texten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts bei der Deskription von Neid unabhängig voneinander aufgegriffen, miteinander verknüpft und mit neuen Bedeutungen versehen werden können.
2.5.1 Die semiotische Perspektive – Neid als Fehler im Wahrnehmungsund Urteilsvermögen Indem Ginover Keie im Iwein vorwirft, der boeseste ist dir der beste/ und der beste der boeseste (HI 144f.), greift sie auf eine der gängigsten Deutungen von Neid im Hoch- und Spätmittelalter zurück. Anschließend an die antike Tradition sowie die christliche Genesisexegese wird Neid mit der Unfähigkeit, ins Licht zu gucken, assoziiert.82 Der Neider ist derjenige, der gegenüber den Vorzügen des Anderen blind bleibt, beziehungsweise, wie es Thomas von Aquin formuliert hat, das Gut/ Gute des Anderen als Übel wahrnimmt.83 Wie zentral diese Idee für das Verständnis der neidischen Verfehlung ist, lässt sich anhand der Predigtlehren und Enzyklopädien des vierzehnten Jahrhunderts nachvollziehen, welche den moralischen Diskurs des Hoch- und Spätmittelalters zusammenfassen und verdichten: So betont etwa Johannes de Sancto Geminiano in seiner Summa de exemplis, dass der für Neid im Sündendiskurs verwandte Begriff der invidia selbst mit dem Wahrnehmungsdefizit des Neiders korreliert. Johannes de Sancto Geminiano übersetzt invidia nicht mehr als ‚böser Blick‘, sondern explizit als non-videre, als ‚nicht sehen‘.84 Der Neider unterlässt es bei Johannes de Sancto Geminiano aber nicht nur, das Gute des Anderen wahrzunehmen. Wie ein schlechter Künstler verwandele
So vergleicht Plutarch Neid mit der Augenkrankheit der Opthalmia, bei der der Kranke laut Plutarch kein helles Licht ertragen kann. Vgl. MESKILL, Lynn S.: Ben Jonson and Envy, Cambridge u. a. 2009, S. 43 f. Bei den frühen griechischen Kirchenvätern wird der Neid des Teufels auf den Menschen hingegen als Unfähigkeit interpretiert, das göttliche Licht zu schauen, welches den Menschen verliehen wurde. Vgl. WILHELM, Fabrice: L’envie, S. 66. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 73 f. Johannes de Sancto Geminiano erläutert die Wortbedeutung folgendermaßen: Unde invidia dicitur aut non videndo (Liber de exemplis et similitudinibus rerum, 9, 33; „Von daher heißt es invidia oder nicht sehen“ [eigene Übersetzung].). Zit. n. Johannes de Sancto Geminiano: Liber de exemplis et similitudinibus rerum, Venedig 1499, hier S. 352. Die Worte Patet hic cecae invidiae („Hier zeigt sich der blinde Neid“) bildeten ursprünglich die jetzt nicht mehr lesbare Unterschrift der berühmten Neid-Darstellung Giottos in der Scrovegni-Kapelle in Padua. Vgl. hierzu: SHOAF, The heart, the eyes and medieval envy, S. 220–221.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
der Neider aurum [...] in cuprum, gemmas in lutum, granum in paleam, vinum in aquam, mel in fel, diem in noctem, gaudium in moerorem, rosam in palliurum, balsamum in sterquilinium, electuarium in venenum.85 Damit wird Neid zu einer umfassenden Verzerrung der Wirklichkeit. Das Speculum Morale des Pseudo-Vinzenz von Beauvais, in dem sich dieselben Gegensatzpaare fast wortgleich finden, attestiert dem Neider eine schwerwiegende Störung des Urteilsvermögens: Item invidia pervertit iudicium.86 Ginovers Vorwürfe gegen Keie reihen sich nahtlos in die zeitgenössische Reflexion über die neidische Perzeption ein. Jedoch kommt dem Wahrnehmungsund Urteilsfehler des Neiders im religiösen Diskurs und im literarischen Text eine unterschiedliche Funktion zu. Während dieser vor allem in den scholastischen Diskussionen als Beweis dafür dient, dass Neid nicht nur passio, sondern auch peccatum ist,87 ist das Urteilsproblem des Neiders bei Ginover in eine Semiotik des Neides eingebettet. Dadurch, dass Keie neidisch sei, müssen seine Worte und Taten laut Ginover entsprechend gedeutet werden.
2.5.2 Die heilsgeschichtliche Perspektive – Neid als Unterscheidung von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ In den patristischen Interpretationen der Genesis ist Lucifer der erste Neider.88 Die Kirchenväter weisen der Emotion Neid somit eine zentrale Rolle in der Heilsgeschichte zu. Ob die Emotion schon für den Sturz des Engels verantwortlich ist, darüber herrscht indes Uneinigkeit. Laut Iranaeus, Tertullian, Justin und Cyprian neidet Lucifer den Menschen ihre Gottesebenbildlichkeit und wird aufgrund sei-
„[Von daher gleichen die Neider gewissen verdorbenen Künstlern in dem Sinne, dass sie] Gold in Kupfer, Edelsteine in Kot, Korn in Stroh, Wein in Wasser, Honig in Galle, den Tag in die Nacht, Freude in Kummer, die Rose in den Dorn, Balsam in Schmutz und Latwerge in Gift [verwandeln]“ [eigene Übersetzung]. Siehe: Ebenda. Pseudo-Vinzenz von Beauvais: Speculum Morale Lib. III, 1, 4. Hier und im Folgenden zit. n. Vincentius Bellovacensis Speculum Quadruplex sive Speculum Maius. Naturale/Doctrinale/Morale/Historiale. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Douaci 1624, Teil 3, Graz 1965, hier S. 1142. Wie Alexander von Hales in seiner Summa fratris argumentiert, handelt es sich beim Schmerz des Neiders um eine natürliche Seelenbewegung, die an sich unvermeidlich ist. Indem der Neider das Gute des Anderen in seinem Urteil zurückweise, geselle sich zum Schmerz jedoch ein bewusster Vorgang, der von der Fakultät der Ratio geleitet werde und mit dem sich der Neider schuldig mache. Vgl. hierzu: CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 73. Zur Tradition der Auslegung des Teufels als erster Neider vgl. die Übersicht über die Belegstellen bei SCHAUPP, Invidia, S. 153 f.
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster
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nes Neides auf die Menschen von Gott aus dem Himmel verwiesen.89 Die Mehrheit der Kirchenväter, darunter Origenes, Chrysostomos und Hieronymus, macht hingegen die superbia Luficers für seinen Sturz aus der Höhe verantwortlich.90 Augustinus söhnt beide Deutungen miteinander aus, indem er aus ihnen eine logische Folge herstellt. Für ihn ist derjenige, der seine eigene Exzellenz liebt, logischerweise neidisch auf diejenigen, die sich ihm gleichstellen wollen oder ihm überlegen sind.91 Ausgehend von dieser Kausalität lautet die Geschichte von Lucifers Neid in De civitate Dei wie folgt: Postea vero quam superbus ille angelus ac per hoc invidus per eandem superbiam a Deo ad semet ipsum conversus et quodam quasi tyrannico fastu gaudere subditis quam esse subditus eligens de spiritali paradiso cecidit ([...]), malesuada versutia in hominis sensum serpere affectans, cui utique stanti, quoniam ipse ceciderat, invidebat, colubrum in paradiso corporali, ubi cum duobus illis hominibus, masculo et femina, animalia etiam terrestria cetera subdita et innoxia versabantur, animal scilicet lubricum et tortuosis anfractibus mobile, operi suo congruum, per quem loqueretur, elegit [...]. Nachdem sich aber jener hoffärtige und darum neidische Engel durch seinen Hochmut von Gott zu sich gekehrt hatte, sich in seinem tyrannischen Stolz lieber über Untertanen freuen als selbst untertan sein wollte und aus dem geistigen Paradies herabgestürzt war, da strebte er mit verführerischer List nach dem Sinn des Menschen, dem er, da er selbst gefallen war, die Standhaftigkeit neidete. ([...]) Im leiblichen Paradies nun, wo sich mit den beiden Menschen, dem Mann und der Frau, auch die übrigen zahmen und unschädlichen irdischen Lebewesen tummelten, wählte er sich die Schlange aus, ein schlüpfriges Tier, in krummen Windungen geschickt, das just seinem Tun entsprach, und das ihm als Sprecher dienen sollte.92
Lucifer wird aufgrund seines Stolzes aus dem ‚geistigen‘ Paradies verbannt, er neidet infolgedessen den Menschen ihren Verbleib im Paradies und verführt sie ebenfalls zur Sünde.93 Diese Fassung der Genesisgeschichte findet sich nicht nur
Irenaeus: adu. Haer. 4, 40, 3.; Tertullian: adu. Marc. 2, 10; Cyprian: De zelo et livore, 1–4. Vgl. KING, Peter: Augustine and Anselm on Angelic Sin. In: A Companion to Angels in Medieval Philosophy. Hrsg. von Tobias HOFFMANN, Leiden, Boston 2012 (Brillʼs Companions to the Christian Tradition 35), S. 261–281, hier S. 262. Vgl. KING, Augustine and Anselm on Angelic Sin, S. 262 f. sowie FORSYTH, Neil: The Old Enemy. Satan and the Combat Myth, Princeton 1987, S. 428–434. Lucifers Stolz wird allerdings vielerorts als Vergleichsemotion konstruiert, sodass er strukturell vom Neid kaum unterscheidbar ist. So vertreten Kirchenlehrer von Gregor dem Großen bis zu Hugo von St. Viktor die These, dass Lucifer wie Gott habe sein wollen. Vgl. ROLING, Bernd: Ein Anfang ohne Umkehr. Der Sündenfall der Engel und die Unmöglichkeit der Reue zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Frühmittelalterliche Studien 48 (2014), S. 389–411, hier S. 396. Vgl. zur schwierigen Unterscheidung von Neid und Stolz in der Revolte Lucifers auch: WILHELM, L’envie, S. 72. Augustinus, De civitate Dei XIV, 11. Zit. n. Augustinus, Der Gottesstaat, Bd. 1, S. 946–949. Ebenda.
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bei Augustinus. In der ersten bibelexegetischen Schrift des Ambrosius von Mailand, der Augustinus nachhaltig beeinflusste, wird der Neid Lucifers auf die im Paradies verbliebenen Menschen noch ausführlicher begründet: Lucifers Neid rühre daher, dass diejenigen, die von niederer Natur als er selber sind, ihm nach seinem Sturz von Gott vorgezogen werden.94 Das von Augustinus und Ambrosius entworfene Bild vom Neid des Teufels prägt einen Großteil der Genesisnacherzählungen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts.95 Im populären Elucidarium des Honorius Augustodunensis oder in der Weltchronik des Rudolfs von Ems werden die Motive des Neids in unterschiedlichen Formen – mal in Form eines enzyklopädischen Dialogs, mal als Historiographie – nachempfunden, weiter ausformuliert und reflektiert.96 Andernorts reichen seit den Kirchenvätern aber auch nur wenige Worte aus, um das Neidnarrativ der Genesis zu vergegenwärtigen. Um zu unterstreichen, dass der Neid des Teufels am Beginn jener Ereigniskette steht, die die Erbsünde, das nachparadiesische Leid und die Sterblichkeit der Nachfahren Adams verursacht, wird über das gesamte Mittelalter hinweg folgende Stelle aus dem Salomon zugeschriebenen Buch der Weisheit zitiert: Invidia autem diaboli mors introivit in orbem terrarum (Buch der Weisheit II, 24).97 Für die Deutung der Emotion im zwölften und dreizehnten Jahrhundert folgt aus dieser Form der Genesisexegese dreierlei: Erstens wird Neid als die Sünde des
Ambrosius: De paradiso XII, 54. Zit. n. Ambrosius: De paradiso. Übersetzung mit Erläuterungen zum Inhalt und zum literarischen Hintergrund. Hrsg. von Wolfgang BIETZ, Hamburg 2013 (Studien zur Kirchengeschichte 17), S. 136–139. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Geschichte vom teuflischen Neid auf die Gottesebenbildlichkeit im Hochmittelalter gänzlich vergessen ist. So präsentiert die bis ins hohe Mittelalter in unterschiedlichen Sprachen und Fassungen überlieferte Vita Adae et Evae anknüpfend an die jüdische Genesisexegese weiterhin eine Version der Genesis, in der sich das Aufbegehren des Teufels gegen Gott aus seinem Neid auf die Menschen erklärt: Von Adam gefragt, warum er ihn mit Neid verfolge, berichtet Lucifer, dass er von Michael aufgefordert worden sei, den Menschen als Gottes Ebenbild anzubeten. Vgl. Vita Adae et Evae 10,3–17,2. In: Das Leben Adams und Evas. Übersetzt und kommentiert von Otto MERK/Martin MEISER, Gütersloh 1998 (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 2), hier S. 794–799. Vgl. Honorius Augustodunensis LʼElucidarium, I, 83. In: Honorius Augustodunensis: L’Elucidarium et Les Lucidaires. Contribution, par lʼhistoire dʼun texte, à lʼhistoire des croyances religieuses en France au moyen âge. Hrsg. von Yves LEFÈVRE, Paris 1954, S. 376 sowie Rudolf von Ems‘ Weltchronik, 339–349. In: Rudolf von Ems: Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift. Hrsg. von Gustav EHRISMANN, Berlin 1915 (Deutsche Texte des Mittelalters 20), S. 6. „Durch den Neid des Teufels aber kam der Tod in die Welt“ [eigene Übersetzung]. Zur Bedeutung dieser Zeilen aus dem Buch der Weisheit für die mittelalterliche Beschreibung von Neid vgl. z. B. Cyprian: De zelo et livore, 4. In: Cyprien de Carthage: La jalousie et lʼenvie, S. 70–73 oder Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 36, 4. In: Summa theologica. Die Liebe (2. Teil)/ Klugheit (II-II, 34–56), S. 49.
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster
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Teufels identifiziert. Während Gott im Anschluss an die platonische Philosophie als neidlos erscheint,98 wird der Teufel erst durch seinen aus dem Stolz folgenden Neid zum Gegner Gottes auf Erden.99 Zweitens dient der Neid des Teufels in der Genesisgeschichte als Modell für seine fortwährende Rolle als Verführer der Menschen in der Heilsgeschichte. So greift der Franziskaner Berthold von Regensburg das anhand der Genesis entwickelte Deutungsmuster des Neids in seinen massenwirksamen Predigten für das Publikum Mitte des dreizehnten Jahrhunderts auf und entwickelt seine Warnung vor den Sünden vom Neid her: Die nîdent daz der mensche die selben freude besezzen hât und kêrent darumbe allen ir flîz und alle ir ahte, wie sie uns die selben freude erwenden, daz wir zem himelrîche iht komen, daz sie dô verworht hânt.100 Als Reaktion auf ihren eigenen Verlust versuchten die Teufel – Berthold bezieht sich hier auf die mit Lucifer zusammen gefallenen Engel – die Menschen mit Sünde zu infizieren und sie so ebenfalls der Freuden des Himmelsreichs zu berauben. Drittens wird der Neider mit dem Teufel assoziiert. Wer neidet, der ahmt laut Cyprian den Teufel nach101 bzw. macht sich – wie es das Speculum Morale Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ausdrückt – zum ‚Bundesgenossen‘ und Werkzeug des Teufels: Invidi enim sunt socii diaboli in lucro et damno.102 Die Emotion ‚Neid‘ rückt durch ihre Verbindung mit dem Teufel so in die Nähe des Bösen selbst. Dies wird auch in den in De civitate Dei auf die Sündenfallerzählung (exortus) folgenden Büchern über die sechs Weltalter (ex-/procursus) deutlich. In der nach Adams und Evas Sündenfall mit der Erbsünde belasteten Menschheit fungiert bei Augustinus der Neid Kains auf Abel als Trennlinie zwischen der am Ende der Zeit erretteten civitas dei und der auf ewig verdammten civitas diaboli:103 Während der Neider Kain den dem Teufel anheimfallenden Menschenstaat gründe,
Vgl. zur Gegenüberstellung von neidischem Teufel und neidlosem Gott insbesondere: Boethius, Philosophiae Consolatio III, 9.c. In: Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio. Hrsg. von Ludwig BIELER, Turnhout 21984 (Corpus Christianorum, Series Latina 94), hier S. 52. Vgl. WILHELM, L’envie, S. 65. Berthold von Regensburg: Von den vier stricken. In: Ders.: Vollständige Ausgabe seiner deutschen Predigten mit Einleitungen und Anmerkungen von Franz PFEIFFER und Joseph STROBL. Mit einer Bibliographie und einem überlieferungsgeschichtlichen Beitrag von Kurt RUH, Bd. 2, Berlin 1965, S. 137–144, hier S. 137. Cyprian: De zelo et livore, 4. Zit. n. Cyprien de Carthage: La jalousie et lʼenvie, S. 73. Vgl. zu Neid als Imitation des Teufels: CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 67. Pseudo-Vinzenz von Beauvais: Speculum Morale Lib. III, 1, 4; „Die Neider nämlich sind Bundesgenossen des Teufels auf Gedeih und Verderb“ [eigene Übersetzung]. Zit. n. Vincentius Bellovacensis Speculum Quadruplex sive Speculum Maius. Naturale/Doctrinale/Morale/Historiale, Teil 3, S. 114. Zur augustinischen Deutung der Menschheitsgeschichte als Geschichte zweier diametral verschiedener Menschengruppen vgl.: FUHRER, Therese: Augustinus, Darmstadt 2004 (Klassische Philologie kompakt), S. 137–149.
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gehöre sein beneideter Bruder Abel dem schon existierenden Gottesstaat an. Wie Fabrice WILHELM hervorhebt, wird Neid von Augustinus nicht einmal, sondern gleich zweimal mit der civitas diaboli verbunden. Indem Augustinus beschreibt, wie Romulus Remus aus Neid umbringt, zeichne er auch die Hauptstadt des Menschenstaats, Rom, als Gründung des Neids. Im Vergleich beider Neidkonstellationen differenziert Augustinus seine Deutung des Neids aus. Während Neid bei Romulus und Remus – und damit in der irdischen Bürgerschaft – als Teil eines ‚Nullsummenspiels‘ funktioniere, bei dem die Herrschaft des Einen durch die Mitherrschaft des Anderen geringer werde, habe der Neid zwischen Kain und Abel einen anderen Charakter.104 Er verweist allein zurück auf Kains eigenen Mangel, nämlich darauf, dass er das Neidobjekt der Gnade nicht wahrhaft und genug begehrt habe, sich selbst Gott nicht hingegeben habe.105 Aus der graduellen Abstufung im Besitz wird derart eine umfassende Opposition. Die Differenz zwischen Neider und Beneidetem wird für Augustinus zur Feindschaft zwischen Gut und Böse selbst: [...] qua invident bonis mali, nulla alia causa, nisi quia illi boni sunt, illi malli.106 Neid steht somit nicht mehr nur im Zentrum der menschlichen Geschichte und ihrer Konflikte, er steht auch im Zentrum der Feindschaft zwischen irdischer und himmlischer civitas. Im Rahmen der Heilsgeschichte beneiden die Bösen stets die Guten.107 Diese weite Lesart der Emotion als Neid nicht nur auf das ‚Gut‘, sondern auch auf das ‚Gute‘ fungiert bei Fabrice WILHELM als zentrales Argument für seine Deu-
Im Gegensatz zum Besitz menschlicher Güter verringert sich laut Augustinus ‚das Gute‘ nicht, sondern es vermehrt sich, wenn es Allgemeingut wird. Vgl. Augustinus: De civitate Dei, XV, 5. In: Augustinus, Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 12–13. datur intelligi propterea Deum non respexisse in munus eius, quia hoc ipso male dividebat, dans Deo aliquid suum, sibi autem se ipsum. (Augustinus: De civitate Dei, XV, 7; „Damit wird zu verstehen gegeben, daß Gott deshalb Kains Gabe nicht angesehen hat, weil Kain sie auf üble Art getilgt hat; er hat Gott von dem Seinen gegeben, sich selbst aber nicht.“ Text und Übersetzung zit. n. Augustinus, Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 16–17.) Augustinus: De civitate Dei, XV, 5; „[...] es war der Neid, mit dem die Bösen die Guten beneiden, aus keinem anderen Grund als dem, weil die einen gut, die anderen böse sind.“ Text und Übersetzung zit. n. Augustinus, Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 12–13. Diese Interpretation folgt in weiten Teilen: WILHELM, L’envie, S. 73 f. Ebenda. Dementsprechend folgen auf Kain und Abel in der von den Kirchenvätern immer wieder zitierten Liste biblischer Neidkonstellationen nicht nur Jakob und Esau, Joseph und seine Brüder, Mose und Aaron sowie David und Saul. Sie gipfelt in den Predigten und Traktaten der Kirchenväter zumeist in der Anschwärzung Christi durch die neidischen jüdischen Rechtsgelehrten und Priester, sodass die Geschichte des Neides und die Heilsgeschichte aufs Engste miteinander verwoben werden und die Geschichte des Neids im Alten Testament typologisch im Neuen Testament gespiegelt wird. Vgl. zur Verbindung von Neidgeschichte und Heilsgeschichte: BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 45.
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster
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tung mittelalterlichen Neids als ‚psychologischer‘ Ausdruck des Bösen.108 Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob Neid auch im literarischen Diskurs in dieser Weise funktioniert: Wird der Neider hier durch seine Emotion zu einer Figur des Bösen? Und wenn ja, in welchen Situationen und mit welchen Folgen für die Gesamtinterpretation wird dieses Deutungsmuster vom Erzähler und anderen Figuren in den Texten aufgerufen?
2.5.3 Die sozial-ethische Perspektive – Neid als falsche Identifikation mit dem Nächsten Gaudere cum gaudentibus, flere cum flentibus (Röm. 12,15) Sich freuen mit den Fröhlichen, weinen mit den Weinenden109
Neid, so die Anglistin Jessica ROSENFELD, nimmt eine Sonderstellung im mittelalterlichen Sündenkanon ein. Traditionell werden die Sünden als fehlgerichtetes Begehren verstanden, dementsprechend funktioniert Buße als Umlenkung von weltlichen Freuden auf geistliche, dem Seelenheil förderliche Freuden.110 Neid jedoch, so wie er im Mittelalter verstanden wird, sprengt diese Konzeption von Sünde und Buße auf zweierlei Weise: Erstens erlangt der Neider durch seine Sünde Trauer und Schmerz anstelle physischen und geistigen Genusses. Zweitens passen die wenigen Freuden, die die Sünde des Neids hervorbringt, die Freude am Klatsch und die Freude am Unglück seines Nachbarn, nicht in klassische Konzepte der sündhaften Begierde. Diese Besonderheit erfordert ROSENFELD zufolge eine Umorientierung im spätmittelalterlichen Sündendiskurs.111 Neid werde in diesem weniger als Sünde des Begehrens, denn als Sünde gegen den Nächsten charakterisiert. Im Gegensatz zu anderen Sünden werde Neid aus der Perspektive einer christlichen Sozialethik erklärt und beurteilt.112
Vgl. WILHELM: L’envie, S. 15 u. 73. Die Übersetzung stammt von mir, E. L. ROSENFELD, Jessica: Compassionate Conversions. Gowerʼs Confessio Amantis and the Problem of Envy. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 42, 1 (2012), S. 83–105, hier S. 85–86. Zwar versuchen die Kirchenväter, vereinzelt auch die Begierde des Neiders von begrenzt vorhandenen weltlichen Gütern auf die unbegrenzt vorhandenen himmlischen Güter umzulenken, jedoch sind diese Ratschläge nicht neidspezifisch und eignen sich tendenziell besser für die avaritia, die Habgier. Vgl. den von Jessica ROSENFELD für einen ihrer Artikel gewählten Titel Envy and Ethics. Vgl. ROSENFELD, Jessica: Envy and Ethics. ‚Plesaunce Leefful‘ in The Parsonsʼs Tale. In: Medieval English Literature. Criticism and Debates. Hrsg. von Holly CROCKER/D. Vance SMITH, London u. a. 2013, S. 97–104, hier S. 98–101.
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Hinweise für eine solche Konzeption des Neids als soziale Sünde findet ROSENFELD in den mittelalterlichen Tugendlisten, in denen die Sünde des Neids (invidia) regelmäßig mit der Tugend der Nächstenliebe (caritas) kontrastiert wird.113 Folgt man Richard NEWHAUSER, dann erlauben die den Kardinalsünden erst nachträglich gegenübergestellten Kardinaltugenden Rückschlüsse darauf, wie erstere im Mittelalter verstanden wurden.114 Mit der Kontrastierung von invidia und caritas wird also nicht nur das komplementäre Idealverhalten und Heilmittel der Sünde definiert, Neid wird zugleich als Verstoß gegen die christliche Sozialordnung konstituiert. Neid erscheint – wie Jessica ROSENFELD argumentiert – als eine Sünde, die vor allem durch eine falsche emotionale Haltung gegenüber dem Anderen bedingt wird.115 In ihrem bisher in drei Aufsätzen skizzierten Buchprojekt mit dem Titel Envying thy neighbour versucht ROSENFELD diese spezifische Haltung des Neiders gegenüber dem Anderen genauer zu fassen. Sie stellt heraus, dass Schadenfreude nicht wie in Gregors Moralia in Job als Tochtersünde des Neides, sondern auch als integraler Anteil des Neids beschrieben wird.116 In Anlehnung an Augustinus werde Neid beispielsweise in Chaucers Parsonʼs Tale chiastisch als sorwe of oother mennes wele, ande joye of othere mennes harm definiert.117 Für ROSENFELD liegt der Fokus dieser Definition nicht allein auf der fehlenden Passung zwischen der Emotion und dem Zustand des Anderen, sie beinhaltet zugleich ein Gegeneinander der Emotionen von Neider und Beneidetem. Der Neider reagiere jeweils im Gegensatz zu den erwartbaren Emotionen des Anderen und handele so entgegen dem zentralen ethischen Gebot aus Paulus’ Römerbrief: gaudere cum gaudentibus, flere cum flentibus (Röm. 12,15). Der Neider verweigert sich dieser Form des ‚mimetischen Parallelismus‘. Indem Neid von ROSENFELD im Rahmen der Diskus-
Schon die Anweisungen zur Predigt im zweiten Diözesankapitular des Theodulf von Orléans (ca. 800–813) führten die caritas als oppositionelle Haupttugend zur Sünde des Neids an. Vgl. Theodulf von Orléans, Zweites Kapitular, 10, 4–13. In: MGH Capitula Episcoporum. Teil 1. Hrsg. von Peter BROMMER, Hannover 1984, S. 73–184, hier S. 173–176. Dass Giotto die caritas in der Scrovegni-Kapelle in Padua direkt gegenüber der Invidia platziert, gibt eindrucksvoll Zeugnis von dieser Tradition. Vgl. NEWHAUSER, Richard, Preaching the ‚Contrary Virtues‘. In: Mediaeval Studies 70, 1 (2008), S. 135–162, hier S. 140 f. Vgl. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 84 mit Bezug auf NEWHAUSER. In Abweichung von seiner Quelle, einer aufgrund ihres ersten Wortes als Quoniam bekannten Bearbeitung von Peraldus’ Summa de vitiis, stellt Chaucers Parsonʼs Tale Freude und Leid nicht mehr als Zweige des Neides, sondern als Teile desselben dar. Vgl. ROSENFELD, Envy and Ethics, S. 101. Chaucer, Geoffrey: The Canterbury Tales X, 480; „Sorge über das Wohlergehen und Glück über den Schaden anderer Menschen“ [eigene Übersetzung]. Zit. n. The Riverside Chaucer. Hrsg. von Larry D. BENSON, Oxford 32008, S. 3–328, hier S. 303. Zur Interpretation vgl. ROSENFELD, Envy and Ethics, S. 99.
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sion verhandelt wird, wie man die Schmerzen und Freuden des Anderen teilen sollte, wird das Problem des Neids reformuliert als Problem der Identifikation mit dem Nächsten.118 Diese sozialethische Perspektive auf Neid ist im dreizehnten Jahrhundert ausschlaggebend dafür, dass Neid nicht nur als Hauptsünde, sondern ebenfalls als Todsünde klassifiziert wird. In De Malo rückt Thomas von Aquin den Neid in die Nähe des Mordes. Er schätzt das Vergehen des Neiders gegen die Nächstenliebe als so gravierend ein, dass Neid bis auf wenige Ausnahmen nicht vergeben werden könne. Dabei reichert der Scholastiker in seiner Antwort (respondeo) auf die Frage, warum Neid Todsünde sei, die Tradition der sozialen Argumentation noch einmal mit einem neuen Bezug an: Er beschreibt das Fehlverhalten des Neiders im Abgleich mit der Freundschaftsdefinition in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik.119 Während der Christ seinen Nächsten mögen und ihm wünschen solle, er existiere, lebe und genieße noch andere Güter, missachte der Neider die von Aristoteles beschriebenen Gebote der Freundschaft. Anstatt sich mit dem Nächsten zu identifizieren und ihm wie sich selbst Gutes zu wünschen, trauere der Neider über das Glück seines Nächsten.120 Die Nächstenliebe wird so nicht nur im Anschluss an Aristoteles’ Freundschaftsdefinition erklärt, sie nimmt auch gegenüber dem Neid den Platz ein, den in der Antike die Freundschaft innehatte. So wie bei Aristoteles phtonos (‚Neid‘) und philia (‚Freundschaft‘) aufgrund der gemeinsamen Bedingung der Ähnlichkeit einen Kontrast darstellen und die Freundschaft stets vom Neid bedroht wird, so wird nun – wie Fabrice WILHELM hervorhebt – der Neid zum Kernproblem der Nächstenliebe.121 Die Folgen dieser Störung der caritas bleiben nicht auf die Ebene der Zweierbeziehung zwischen Beneidetem und Neider beschränkt, in den organologischen Gesellschaftsentwürfen des Mittelalters macht Neid, wie es Carla CASAGRANDE und Silvana VECCHIO in ihrer Histoire des péchés capitaux au moyen âge formulieren, die „tensions et conflits“ im sozialen Körper sichtbar. Als Beispiel hierfür dient ihnen die Regula Pastoralis, die seelsorgerische Schrift Gregors des Großen. Gregor skizziert hier ein Gesellschaftsideal, in dem jeder mit dem anderen durch den Glauben verbunden ist und – gleich den verschiedenen Teilen des Körpers – für das Gemeinwohl kooperieren muss. Getragen wird diese Gesellschaft von der Idee, dass die Vorteile des Anderen zugleich die eigenen sind, da beide derselben Gemeinschaft angehören und am Allgemeinwohl partizipieren. Nächstenliebe erlaubt es,
Vgl. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 104. Vgl. Aristoteles: Eth. Nic. IX, 4, 1166 a. In: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und hrsg. von Ursula WOLF, Hamburg 2006, S. 290–291. Vgl. Thomas von Aquin: De Malo, q. 10, 2. In: Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae. Vom Übel II. De malo II, S. 79. Ebenda, S. 70.
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diesen Zusammenhang zu sehen, das Gute des Anderen als eigenen Besitz wahrzunehmen. Indem der Neider sich dieser Identifikation mit dem Nächsten verweigert, gefährdet er die Ordnung der Gesellschaft. In Gregors Darstellung verwandelt er Gemeinschaft in Wettbewerb, Teilhabe in Unterlegenheit.122 Neid stellt der caritas – in den Worten Carla CASAGRANDEs und Silvana VECCHIOs – ein „sentiment antagoniste et competitif“ gegenüber, welches die Zusammenarbeit verhindert und das Band der Solidarität zerreißt.123 Angepasst an die Strukturen moderner Demokratien ist diese Perspektive auf den Zusammenhang von Neid und Gesellschaft bis heute wirksam. Wenn Martha NUSSBAUM in ihrer Studie Political Emotions das Mitgefühl als die Emotion auslobt, die Gesellschaften zusammenhält, und darüber reflektiert, wie man den das Mitgefühl gefährdenden Neid ausschalten könne, dann argumentiert sie auch in der Tradition christlicher Diskurse über Neid und Nächstenliebe. Von einer mangelnden Reflexion über die sozialen Auswirkungen des Neids, wie sie Katrin WEBER für die Vormoderne behauptet, kann im Hoch- und Spätmittelalter folglich keine Rede sein.
2.5.4 Die hofkritische Perspektive – Neid als Verfolgung der Besten Der Hauptsündendiskurs konzentriert sich auf die spirituelle Gesundheit des Neiders. Angriffs- und Streitlust des Neiders werden von den Kirchenvätern zwar thematisiert, Gefahren und Schaden für den Neider jedoch größer taxiert als für den Beneideten.124 Dies wird insbesondere in Cyprians Predigt De zelo et livore deutlich. Mehr noch als der Beneidete – so Cyprian – sei der Neider seinem Feind ausgeliefert, da dieser in seiner eigenen Brust wohne.125 Dieser Fokus auf den Neider wirkt in den scholastischen Summen des Hochmittelalters fort. Stets geht es um die Sünde des Neiders, selten hingegen um die Perspektive des Beneideten. Anders als von Fabrice WILHELM dargestellt ist die biblisch-patristische Tradition im zwölften und dreizehnten Jahrhundert jedoch nicht mehr die einzige, innerhalb derer Neid im religiösen Diskurs verhandelt wird. In der intellektuellgelehrten Diskussion an den Schulen und Universitäten spielt zur gleichen Zeit die Klage über die Emotion eine immer größere Rolle. Folgt man Bridget BALINT,
Ebenda, S. 70. Vgl. Gregor der Große: Regula Pastoralis 3, 10. In: Sancti Gregorii Papae I, Cognomento Magni, Opera omnia. Hrsg. von Jean Paul MIGNE, Bd. 3, Paris 1802 (Patrologiae Cursus Completus, Series Latina 77), Sp. 13–128, hier Sp. 63. CASAGRANDE u. VECCHIO, Histoire des péchés capitaux au Moyen Âge, S. 79–80. BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 42–45. Cyprian: De zelo et livore, 9. In: Cyprien de Carthage: La jalousie et lʼenvie, S. 84–87.
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so ist hierfür vor allem die einsetzende Rezeption der Werke der römischen Klassik an den Kathedralschulen verantwortlich.126 Diese fokussieren nicht nur den Schmerz des Neiders, sie legen darüber hinaus ihr Augenmerk auf das Leiden des Beneideten.127 Insbesondere der im Mittelalter vielrezipierte Stoiker Seneca,128 der Geschichtsschreibung wie eigenen Aussagen zufolge selbst ein Opfer des Neides am ‚Hof‘ Neros,129 warnt in seinen Briefen und Trostschriften ausführlich vor der zerstörerischen Kraft des Neides. Seneca beschreibt Neid als fürchterliche Waffe, die auf das Leben der besten Männer wie ein wilder Sturm niederfährt130 und gibt Ratschläge, wie man sich vor Neid schützen könne. So rät er dem Weisen dazu, seinen Vorrang durch Bescheidenheit zu verdecken. Um dem Neid zu entgehen, solle man möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nicht mit seinen Besitztümern prahlen, sich ihrer nur im Versteckten erfreuen.131 Seneca entwirft mit diesen Ratschlägen eine Kultur der Neidvermeidung, die der Anthropologe George F. FOSTER mit dem Begriff der „fear axis“ beschreibt.132 Paradoxerweise stützt Seneca mit seinen Warnungen vor Neid gleichzeitig eine seinem Anliegen entgegengesetzte Deutungstradition. Indem er wie auch Livius, Plutarch, Diogenes Laërtius und Ovid bevorzugt Berühmte, Intelligente und
BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 51. Ebenda, S. 42 f. Zur Seneca-Rezeption im Mittelalter vgl. NOTHDURFT, K. D.: Studien zum Einfluss Senecas auf die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts, Leiden, Köln 1963. Vgl. hierzu MOTTO, Anna Lydia: Seneca on Envy. In: Res Publica Litterarum 31 (2008), S. 28–39, hier S. 34–37. In Hugos von Trimberg Der Renner wird Seneca aufgrund seiner Ermordung durch Nero zum Paradebeispiel der Auswirkungen des Neids auf die Tugendhaften. Vgl. Hugo von Trimberg: Der Renner, D. 5, V. 14635–14654, Bd. 2, S. 219 f. Seneca, Epist. 74, 4. In: Seneca, Lucius Annaeus: Epistulae morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Gerhard FINK, Bd. 1, Düsseldorf 2007, S. 446 f. Welch große Rolle Seneca dem Leiden des Beneideten zuweist, wird auch In den Trostschriften für Marcia und Polybius deutlich. In beiden zählt Seneca die Verfolgung durch Neid unter diejenigen Schwierigkeiten, von denen die Toten nun befreit seien. Vgl. Seneca, Trostschrift an Marcia, XIX-4. In: Seneca, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. von Manfred ROSENBACH, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 370 f. u. Seneca, Trostschrift an Polybius IX-1. In: Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 2, S. 262 f. Vgl. Seneca, Epist. 105, 3–4. In: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 4, S. 616–621, hier S. 618. Im Einklang mit diesen Vorschlägen kommt der Darstellung von Neid in der römischen Literatur bisweilen auch eine kritische Funktion bezüglich des Beneideten zu. In Plutarchs Vitae Parallelae ist Neid an vielen Stellen auch als Bestrafung von Hybris zu verstehen. Vgl. GRAUL, Jana: ‚Particolare Vizio de’ Professori di Queste Nostre Arti‘. On the Concept of Envy in Vasariʼs Vite. In: Tatti Studies in the Italian Renaissance 18, 1 (2015), S. 113–146, hier S. 116 f. Diese Funktion findet sich in den mittelalterlichen Theorien von Neid jedoch nicht wieder. FOSTER, George F.: The anatomy of envy. A study in symbolic behaviour. In: Current Anthropology 13, 2 (1972), S. 165–202, hier S. 166.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
Tüchtige als Opfer von Neid darstellt, werden Neid und virtus in der römischen Dichtungstradition miteinander verknüpft.133 Neid wird zum Zeichen der virtus des Beneideten und – wie die Kunsthistorikerin Jana GRAUL argumentiert – zum feststehenden Topos: „According to this topos, excellence – or virtue – is almost inevitably accompanied by invidia (envy) as a particular, albeit extreme, form of recognition. Envy in this sense proves the virtuousness of its victims.“134 Wie Stephen JAEGER in seiner Studie Die Entstehung höfischer Kultur gezeigt hat, knüpfen vor allem die mit der lateinischen Literatur sozialisierten Hofkleriker an diese ambivalente Tradition der Neidauslegung an. In moraldidaktischen Episteln, Berichten und Traktaten über das Leben an der curia sprechen sie sowohl von der Gefahr, im Umfeld des Hofes selber sündig zu werden, als auch von den neidischen Intrigen, denen der Tugendhafte am Hof ausgesetzt ist.135 Die Rede über den Neid bekommt so einen hof- und gesellschaftskritischen Impetus. Beispielhaft hierfür sind die Schriften des Johannes von Salisbury. Der für seine umfangreichen Antikekenntnisse schon zu Lebzeiten berühmte Theologe und Hofkleriker warnt im siebten Buch seiner berühmten Staats- und Gesellschaftslehre Policraticus. De nugis curialium et vestigiis philosophorum (1159) explizit vor der höfischen Unsitte des Neids und greift dabei auf die Verbindung von Neid und Exzellenz zurück: Nicht nur versammelten sich am Hof Neider und Verleumder in großer Zahl, der Neid am Hof trifft laut Johannes diejenigen am stärksten, die den Anderen an Ruhm und Verdiensten überlegen sind.136 Um zu belegen, dass den Besten Schaden gerade aus ihrer Überlegenheit entsteht, zitiert Johan-
Vgl. MOTTO, Seneca on envy, S. 33 f. sowie BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 51–54. GRAUL, Jana: ‚Particolare Vizio de’ Professori di Queste Nostre Arti‘, S. 114. Wie GRAUL in ihrer 2022 erschienenen Dissertation herausgearbeitet hat, ist die Verknüpfung von invidia und virtus zentral für die Ausbildung der frühneuzeitlichen Künstleridentität – zum einem als Nobilitierungsrhetorik, zum anderen als Ausdruck künstlerischen Tugendstrebens. Vgl. GRAUL, Jana: Neid. Kunst, Moral und Kreativität in der Frühen Neuzeit, München 2022 (Römische Studien der Bibliotheca Hertziana 51), S. 39–40. Für eine ausführlichere Darstellung des Topos und seiner Funktionalisierung in der mittelalterlichen Literatur vgl. das Kapitel 7 ‚Der Protagonist und der Neider vor Gericht‘. Vgl. JAEGER, C. Stephen: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine HELLWIG-WAGNITZ, Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen 167), S. 88–104. Ubique tamen qui illustrioribus clarescunt meritis, acrius invidiae toxicato dente roduntur (Johannes von Salisbury: Policraticus, VII, 24; „Dennoch werden überall die, welche durch etwas glänzendere Verdienste hell erstrahlen, etwas heftiger vom vergifteten Zahn des Neides benagt“ [eigene Übersetzung].). Zit. n. Ioannis Saresberiensis Opera Omnia, Bd. 4, S. 191.
2.5 Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster
49
nes aus den Epistulae des Horaz: Urit enim fulgore suo qui praegravat artes/ Infra se positas, extinctus amabitur idem.137 Noch aussichtsloser erscheint die Lage des Beneideten im Entheticus Maior (um 1155). Im dritten Teil seines umfassenden Lehrgedichts bindet Johannes von Salisbury die Emotion Neid in seine Analyse der zeitgenössischen gesellschaftlichen Institutionen und die in ihr vorkommenden Menschentypen ein. Johannes charakterisiert die Neider als bissige Hunde: Nemo valet morsus rictumque cavere caninum, quos schola, quos claustrum, quos fovet aula nocens. Hos humilis cautela fugit virtusque probata; sed tamen interdum livor utramque ferit. Niemand vermag sich vor den Bissen und dem Maul der Hunde zu hüten, die die Schule, das Kloster und der ruchlose Hof begünstigt. Demütige Vorsicht und erwiesene Tugend fliehen diese, aber dennoch erwischt der Neid beide manchmal.138
Neid wird in diesen Versen nicht nur fest in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten verortet. Neid wirft auch ein bestimmtes Licht auf die beschriebenen Orte. Indem Johannes von Salisbury im Entheticus Maior davon berichtet, dass in der Schule, im Kloster und ganz besonders am Hof die Tugendhaften der zerstörerischen Kraft des Neids nicht entfliehen können, wird Neid zum Medium der Zeitund Gesellschaftskritik.139 Die Verse im Entheticus Maior bereiten einen Ratschlag vor, den Johannes von Salisbury wenige Jahre später an den Anfang seines Entheticus Minor (um 1159) geben wird. In den ersten Versen des wesentlich kürzeren Lehrgedichts, das anlässlich des Amtsantritts Thomas Beckets als Ratgeber für Reisende an den Hof entstanden ist, fordert der Erzähler seinen Adressaten und mit ihm auch den Rezipienten auf: Si michi credideris, linguam cohibebis; et aulae/ limina non intret pes tuus: esto domi.140 Bei Johannes von Salisbury wird so bereits eine erste Möglichkeit greifbar, wie die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert verbreiteten Deutungs- und Bewer Ebenda mit Bezug auf Horaz Ep. II, 13 u.14; „Derjenige, der die Talente, die ihm unterlegen sind, durch das eigene Gewicht niederdrückt, der entflammt [die Anderen] mit seinem eigenen Glanz. Derselbe wird erst dann geliebt werden, wenn er ausgelöscht worden ist“ [eigene Übersetzung]. Johannes von Salisbury: Entheticus Maior III, 1725–1728. In: John of Salisbury: Entheticus Maior and Minor, Bd. 1, S. 217. Die Übersetzung stammt von mir, E. L. Vgl. JAEGER, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 101–103. Johannes von Salisbury: Entheticus Minor 1–2; „Wenn du mir vertraust, dann hütest du deine Zunge und dein Fuß übertritt nicht die Schwelle zum Hof: Bleibe zuhause!“ [eigene Übersetzung] Zit. n. John of Salisbury: Entheticus Maior and Minor, Bd. 1, S. 231.
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2 Annäherungen. Hartmanns Iwein und die historischen Diskurse des Neids
tungsmuster von Neid für die Diskussion der höfischen Ordnung funktionalisiert werden können. Im folgenden Methodenkapitel sollen die anhand der historischen Diskurse gemachten Beobachtungen dazu genutzt werden, einen differenzierten Zugriff auf literarische Ordnungsdiskussionen zu entwickeln, der über die einfache These von Neid als Sünde hinausgeht. Dafür wird das Verständnis der Emotion einerseits mit Hilfe philosophischer und psychologischer Neid-Theorien begrifflich geschärft, andererseits wird ein Modell dafür entwickelt, wie die beschriebenen Funktionsweisen von Neid in Narrationen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts miteinander interagieren.
3 Methodische Überlegungen 3.1 Begriffsbildung dû erlâst dîns nîdes niht daz gesinde noch die geste [...]. (HI 142 f.)
Im vorausgegangenen Kapitel wurde anhand der Beschreibung von Keies nît auf typische Erzählmuster von Neid um 1200 rückgeschlossen. Dabei wurde eine wichtige methodische Voraussetzung übergangen: Ein Bezug zwischen der Textstelle und den historischen Neiddiskursen muss auch umgekehrt nachgewiesen werden. Indem die Interpretation der Übersetzung Thomas CRAMERs blind vertraute, wurde nicht geklärt, warum sich nît im Iwein überhaupt als Emotion und Sünde des Neides lesen lässt. Für die Literaturwissenschaft stellt die Analyse historischer Emotionen in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung dar: Zum einen muss sie sich ein fremdes Lexikon von Emotionswörtern erarbeiten. – Wie lässt sich die Emotion ‚Neid‘ in der mittelhochdeutschen und mittellateinischen Literatur sicher identifizieren? Zum anderen werden grundsätzliche Fragen hinsichtlich des historischen Wandels von Emotionen aufgeworfen: Ist mit mittelhochdeutsch nît auch neuhochdeutsch ‚Neid‘ gemeint? Wie kann in der Analyse nicht nur lexikalischen, sondern auch konzeptionellen Umbrüchen in der Geschichte der Emotion Rechnung getragen werden?1 Beiden Fragen soll in diesem Kapitel nachgegangen werden, um auf diese Weise nicht nur einen präziseren Zugriff auf Neid in Hartmanns Iwein, sondern auch auf Neid in anderen literarischen Texten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts zu entwickeln.
3.1.1 Probleme der historischen Semantik Im Abgleich mit den Befunden der mittellateinischen und mittelhochdeutschen Wörterbücher werden mögliche Neidkonstellationen zunächst anhand eines über paradigmatische und syntagmatische Beziehungen zusammenhängenden Wort-
Mit diesen Fragen schließt sich diese Studie einem moderaten sozialkonstruktivistischen Verständnis von Neid an, wie es sich in der historischen Emotionsforschung inzwischen weitgehend durchgesetzt hat. Vgl. KOCH, Elke: Emotionsforschung. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane ACKERMANN/Michael EGERDING, Berlin 2015, S. 67–101, hier S. 74. https://doi.org/10.1515/9783111202105-004
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3 Methodische Überlegungen
felds identifiziert. Dieses umfasst im Mittellateinischen sowohl den eng mit dem Hauptsündendiskurs verwobenen Terminus invidia2 als auch das primär auf die Antikenrezeption zurückgehende livor.3 Während invidia – wie im vorangegangenem Kapitel erläutert – auf die Vorstellung des bösen Blicks des Neiders zurückgeht, steht in der Etymologie von livor nicht die Aggression des Neiders, sondern umgekehrt dessen physiologische Erscheinung und genauer das sich in dieser abzeichnende Leiden im Vordergrund.4 Im Mittelhochdeutschen bieten sich ebenfalls zwei Bezeichnungen zur Analyse von Neid an: Zwar wird invidia zumeist mit nît5 übersetzt, ergänzend oder alternativ werden aber auch verschiedene Formen der Verneinung von gunnen/unnen verwandt und die Emotion Neid so als Missbilligung des Glücks des Anderen ausgedeutet.6 Der in der Emotionsforschung etablierte historisch-semantische Zugriff gerät im Falle von Neid jedoch schnell an seine Grenzen, weil Neid – wie die unterschiedlichen Definitionen des Augustinus und Thomas von Aquin gezeigt haben – auch in mittelalterlichen Texten nicht als klar abgegrenztes emotionales Feld beschrieben wird. So wird Neid stets unter Rückgriff auf andere Emotionen definiert. Darüber hinaus werden mit Neid im Hauptsündendiskurs wie im didaktischen Diskurs emotionale Verlaufs- und Handlungsdynamiken verknüpft,7 sodass auch in literari So gebraucht beispielsweise Thomas von Aquin in der Summa theologica durchgängig invidia als Bezeichnung für Neid. Zur Semantik und zum Gebrauch von invidia im Mittelalter vgl. Invidia. In: Dictionary of Medieval Latin from British Sources. Hrsg. von R. K. ASHDOWNE, Bd. 1, Oxford, New York 2013, S. 1468. Zum Gebrauch von livor in der lateinischen Literatur vgl. insbesondere: BILE, Les mots de lʼenvie, S. 32–34. Inwiefern diese unterschiedlichen Etymologien im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ausgehend von der Lexik auch für die Konzeptionalisierung der Emotion in den Texten aktualisiert werden, ist indes ungewiss. Der abwechselnde und unterschiedslose Gebrauch von invidia und livor in Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi legt nahe, dass beide mehr oder weniger deckungsgleich verwandt werden können. Vgl. zu Walter Maps Exempelerzählung die Analyse im Kapitel 4.4. Vgl. zur Etymologie den Eintrag ‚Neid‘ in: GRIMM, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe, Bd. 13, München 1984, Sp. 550–554. Die Verwendung des Wortes ‚nît‘ als Übersetzung für invidia geht wahrscheinlich auf die Tätigkeit des nîdern, des Herabdrückens des Anderen in der neidischen detractio zurück. Sicher feststellen lassen sich die Etymologie von nît in diesem Fall jedoch nicht. Vgl. die Beiträge zu vergunnen, verbunnen, erbunnen im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch sowie im Grimmschen Wörterbuch. Der ergänzende Gebrauch von niht gunnen lässt sich zum Beispiel in Bertholds Predigt Wie man die werlt in zwelfiu teilt beobachten. Vgl. Berthold von Regensburg: Wie man die werlt in zwelfiu teilt. In: Ders.: Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz PFEIFFER. Mit einem Vorwort von Kurt RUH, Bd. 1, Berlin 1965, S. 462–473, hier S. 465. Vgl. z. B. Hugo von Trimberg: Der Renner, D. 5, V. 13995–14013, Bd. 2, S. 192 f.
3.1 Begriffsbildung
53
schen Texten stets mit Kippeffekten und Überschneidungen mit anderen Emotionen wie Trauer, Zorn, Schadenfreude oder – wie in Hartmanns Iwein – Hass zu rechnen ist. Damit diese Dynamiken in die Analyse einbezogen werden können, muss die Analyse folglich zumindest stellenweise über das beschriebene Korpus von Emotionswörtern hinausgehen. Erweist sich der historisch-semantische Zugriff in diesem Punkt als zu eng, so ist er andernorts zu offen. Die meisten der genannten Emotionswörter werden im zwölften und dreizehnten Jahrhundert nicht exklusiv für den Neid verwandt.8 Dies bereitet für die Analyse des von Ginover verwandten mittelhochdeutschen Wortes nît Probleme. Wie Klaus GRÜBMÜLLER in seinem für die Emotionsforschung wegweisenden Aufsatz Historische Semantik und Diskursgeschichte herausgestellt hat, ist nît in Abhängigkeit von seiner diskursiven Einbindung jeweils anders zu verstehen: Bezeichnet der Terminus im ritterlich-heldischen Erzählen zumeist den positiven zur Aktion drängenden ‚kämpferischen Eifer‘, den ‚Kampfgrimm‘, so etabliert er sich aufgrund seiner „semantischen Blässe“ im biblisch-theologischen Diskurs als Übersetzung für invidia.9 Die von GRUBMÜLLER formulierte Einsicht in die grundsätzliche Regel, dass zwischen Begriff und Bezeichnung zu unterscheiden ist,10 erhält auf diese Weise besondere Dringlichkeit. Nicht allein muss eine den historischsemantischen Ansatz verfeinernde Methode gefunden werden, die es ermöglicht, zu entscheiden, ob nît im jeweiligen Kontext als ‚Kampfzorn‘ oder als ‚Neid‘ zu verstehen ist. Diese Methode muss auch dort noch greifen, wo sich – wie in Hartmanns Iwein – die Rede von der Emotion in der weltlichen Literatur weitgehend vom Sündendiskurs emanzipiert und nicht mehr direkt auf ihn zurückverweist.11
Während livor nach wie vor auch auf eine bläuliche Farbe referieren kann, bezeichnet vergunst in Abhängigkeit von der Bedeutung des Präfixes ‚ver‘- entweder die negative emotionale Reaktion oder die positiv besetzte Erlaubnis. Vgl. den Eintrag ‚livor‘ in: Oxford Latin Dictionary. Hrsg. von GLARE, P. G. W. Oxford 1982, S. 1037 f. sowie den Eintrag ‚vergunst‘ in LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023]. Vgl. GRUBMÜLLER, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen JAEGER/Ingrid KASTEN, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 2003), S. 47–69, hier S. 60–63. Ebenda, S. 48. Für eine ausführliche Analyse des Problems vgl. FRICKE, Harald: Wortgeschichte oder Begriffsgeschichte. Bemerkungen zu einem wiederkehrenden Problemkomplex der Reallexikon–Arbeit. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd DICKE/Manfred EIKELMANN/Burkhard HASEBRINK, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 15–24. Die von GRUBMÜLLER selbst zitierten Beispiele verbleiben allesamt innerhalb des biblisch– theologischen Diskurses oder beziehen sich wie das Spruchgedicht Der Kanzler direkt auf ihn. Vgl. GRUBMÜLLER, Historische Semantik und Diskursgeschichte, S. 63.
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3 Methodische Überlegungen
Um den Zugriff auf mögliche Neidkonstellationen in dieser Weise zu präzisieren und gleichzeitig auf mit Neid verknüpfte emotionale Dynamiken hin zu öffnen, wird das semasiologische daher in einem zweiten Schritt durch ein onomasiologisches Verfahren ergänzt.
3.1.2 Neid als trianguläre soziale Emotion [I]t is hard to think of a more social emotion.12
Der modernen Emotionsphilosophie und- psychologie gilt Neid als komplexe Emotion, das heißt als ‚zusammengesetzte Emotion‘, die sowohl Gefühle der Trauer, des Hasses, der Bewunderung oder der Scham beinhalten kann.13 Neid wird von daher nicht vom emotionalen Erleben her definiert. Ausschlaggebend für das Verständnis einer Gefühlsäußerung als Neid ist vielmehr die soziale Situation, auf die diese reagiert:14 Neid wird als Emotion definiert, die sich darauf bezieht, dass „eine andere Person ein Gut besitzt, welches wir nicht besitzen, aber gerne haben würden.“15 Die Emotion setzt – so der Philosoph Justin DʼARMS – folglich drei Entitäten miteinander ins Verhältnis: einen ‚Neider‘, einen ‚Beneideten‘ und ein ‚Neidobjekt‘, bei dem es sich sowohl um konkrete Gegenstände als auch, wie im Fall der Ehre Kalogrenants, um Rangzuschreibungen, Fähigkeiten oder Charakterzüge handeln kann.16 Gemäß dieser Definition von Neid zielen moderne Emotionstheorien darauf ab, die neidische Beziehungsstruktur möglichst genau zu beschreiben. Neid wird neben Verlegenheit, Scham, Schuld, Angst, Stolz, Eifersucht, Bewunderung und Mit-
KIM, Sung Hee u. SMITH, Richard H.: Envy. Introduction. In: Envy. Theory and Research. Hrsg. von SMITH, Richard H., Oxford 2008, S. 3–14, hier S. 3. Vgl. zur Vielfalt der mit Neid verbundenen Gefühle aus emotionspsychologischer und emotions–philosophischer Sicht: PARROT, W. Gerrod: The emotional experiences of envy and jealousy. In: The psychology of jealousy and envy. Hrsg. von Peter SALOVEY, New York, London 1991, S. 3–30, hier S. 12–15 sowie VENDRELL FERRAN, ĺngrid: Über den Neid. Eine phänomenologische Untersuchung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), S. 43–68, hier S. 46. Vgl. zum situationalen Ansatz bei der Bestimmung von Neid: CHUANG, Ching–Ho: Neid und Eifersucht in kulturpsychologischer Perspektive. In: Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Hrsg. von Tillman F. KREUZER/Kathrin WEBER, Gießen 2011, S. 31–59, hier S. 34 f. DEMMERLING, Christoph u. LANDWEER, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, S. 195. DʼARMS, Justin: Envy. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hrsg. von Edward N. ZALTA (Spring 2017 Edition). Vgl. https://plato.stanford.edu/archives/spr2017/entries/envy/ [31. Januar 2023].
3.1 Begriffsbildung
55
leid unter die ‚sozialen Emotionen‘ eingeordnet.17 Damit ist nicht nur gemeint, dass sich „Neid in der Regel gegen andere Menschen [...] richtet.“18 Neid ist, wie die Emotionspsychologen Gerrod PARROT und Patricia RODRIGUEZ MOSQUERA erklären, sozial auch durch seine Auswirkungen auf Andere. Er fordert überall dort, wo er wahrgenommen wird, zu Reaktionen und zur Entwicklung von Strategien des Umgangs mit ihm auf.19 Nicht zuletzt geht die Emotion auf genuin soziale Problemstellungen zurück. „Envy has no object independent of social relation“,20 konstatiert die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances FERGUSON und Maria MICELI und Christiano CASTELFRANCHI präzisieren: „The object of envy is superiority or noninferiority to a reference group or individual.“21 Der Kultursoziologe Günter BURKART charakterisiert Neid dementsprechend als ‚Distinktionsemotion‘. Mit diesem Begriff bezeichnet er Gefühle der Über- oder der Unterlegenheit, die vor allem „im Zusammenhang mit Verhältnissen von sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft auftreten.“22 Beim Neid handelt es sich ihm zufolge um letzteres: Die Emotion signalisiert Unterlegenheit innerhalb einer sozialen Hierarchie.23 Mit Hilfe dieses modernen Analyseinstrumentariums lässt sich auch der Blick auf das Übersetzungsproblem von nît schärfen. Im Gegensatz zum Zornigen hasst Keie Kalogrenant nicht, weil dieser unmittelbar seine Ehre verletzt hat.24 Seine (angebliche) Aggression ergibt sich vielmehr daraus, dass sowohl er als auch Kalogrenant als Artusritter um das Neidobjekt Ehre konkurrieren und beide dadurch, dass Kalogrenant dieses im Gegensatz zu Keie besitzt, hierarchisiert werden. Können die modernen Neidtheorien insofern dabei helfen, Kampfzorn und Neid voneinander zu unterscheiden, so ist bei ihrer Verwendung dennoch methodische Vorsicht geboten. Auf der Suche nach einer vorläufigen Definition von Neid dürfen etwaige Unterschiede zwischen den Neidkonzeptionen des einundzwanzigsten und des dreizehnten Jahrhunderts nicht einfach übersprungen werden: Neid ist im mittelal-
Zur Kategorisierung von Neid als soziale Emotion vgl. HARELI, Shlomo u. PARKINSON, Brian: Whatʼs social about social emotions? In: Journal for the theory of social behaviour 38,2 (2008), S. 131–156, hier S. 133. MAYRING, Philipp U. ULICH, Dieter: Psychologie der Emotionen, Stuttgart 22003, S. 167. PARROT, Gerrod W. u. RODRIGUEZ MOSQUERA, Patricia M.: On the pleasures and displeasures of being envied. In: Envy. Theory and Research. Hrsg. von Richard H. SMITH, Oxford 2008, S. 117–132, hier S. 117–124. FERGUSON, Envy rising, S. 889. MICELI, Maria u. CASTELFRANCHI, Christiano: The Envious Mind. In: Cognition and Emotion 21 (2007), S. 449–479, hier S. 452. BURKART, Distinktionsgefühle, S. 159. Ebenda, S. 166. Zum ‚Kampfzorn‘ als Reaktion auf Ehrverletzungen vgl. FREIENHOFER, Verkörperungen von Herrschaft, S. 3–4.
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3 Methodische Überlegungen
terlichen Verständnis, woran Andreas KRAß eindringlich erinnert hat, nicht nur Emotion, als Sünde und Hauptsünde ist er anders als heute ins Tugend- und Lasterschema eingeordnet.25 Umgekehrt birgt laut Jutta EMING aber auch der exklusive Rückgriff auf mittelalterliche Definitionen der Emotion, wie sie im vorangegangenen Kapitel analysiert wurden, Gefahren: Dort, wo die (theoretische) Perspektive des heutigen Betrachters in der Analyse historischer Literatur ausgeblendet wird, werden moderne Emotionskonzepte häufig trotzdem und dann methodisch unreflektiert an die Texte herangetragen.26 Um dieses Risiko zu minimieren, wird in dieser Studie keine der zeitgenössischen Definitionen von Neid direkt übernommen. Stattdessen nähert sich diese Studie einem Begriff von Neid über den Weg der Historisierung: Im Abgleich moderner und mittelalterlicher Redeweisen werden im Folgenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Modellierung von Neid herausgearbeitet, die bei der Identifikation und Analyse von Neid in mittelalterlichen Narrationen berücksichtigt werden müssen. In der Moderne werden Neid und Eifersucht als dreigliedrige Emotionen gemeinsam betrachtet. Im Vergleich mit und in Abgrenzung von der Eifersucht wird eruiert, wie die Relation zwischen Neider, Beneidetem und Neidobjekt zu verstehen ist. Erstens werden Neid und Eifersucht über die Anzahl der an den Emotionen beteiligten Personen unterschieden. Indem Justin DʼARMS, Hilge LANDWEER und Christoph DEMMERLING Neid aus emotionsphilosophischer Perspektive als dyadisch, Eifersucht hingegen als trianguläres Begehren entwerfen, implizieren sie, dass Emotionen einen anderen Charakter annehmen, je nachdem, ob sie sich auf einen Gegenstand oder eine Person richten.27 Häufig wird mit dieser Unterscheidung eine weitere verbunden. DʼARMS und der Anthropologe George M. FOSTER argumentieren, dass, während sich die Eifersucht ganz auf das Objekt der Begierde fokussiere, sich der Neider umgekehrt auch auf dessen Besitzer konzentriere.28 Jener sei für den Neider nicht ohne Weiteres austauschbar. Der Rivale müsse mit ihm in einer Art Wettbewerbsund Konkurrenzsituation stehen, in den Händen Anderer verliere das Neidobjekt an
Vgl. KRAß, Neidische Narren, S. 104. Vgl. EMING, Jutta: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: JLT 1,2 (2007), S. 251–273, hier S. 263–264. Damit wird die Eifersucht in Übereinstimmung mit dem Alltagsverständnis als ‚Liebeseifersucht‘ konstituiert. Vgl. DʼARMS, Justin: Envy sowie DEMMERLING u. LANDWEER: Philosophie der Gefühle, S. 196–198. So betont FOSTER in seiner anthropologischen Studie zum Neid: „It is important to note that an envier is not envious of the thing he would like to have; he is envious of the person who is fortunate enough to have it. The possession is the trigger not the object of envy.“ Siehe: FOSTER, The anatomy of envy, S. 168.
3.1 Begriffsbildung
57
Wert.29 Das weist für LANDWEER und FOSTER auch auf eine andere Gerichtetheit und Dynamik beider Emotionen hin. Dem Eifersüchtigen geht es ihnen zufolge um ein privilegiertes Verhältnis zu anderen Personen, welches er durch das Hinzutreten des Rivalen gefährdet sieht. Seine Emotion basiert auf einem realen oder gefürchteten Verlust. Der Neider hingegen hat das Gefühl, Dinge von Wert nicht zu besitzen. An die Stelle der Verlustdynamik tritt so eine Begehrensdynamik: Der Neider will das besitzen, was ihm der Andere voraus hat.30 Demgegenüber scheint der Abgrenzung von Neid und Eifersucht in den mittelalterlichen Diskursen keine vergleichbare Bedeutung zuzukommen.31 Nicht nur wird Neid im moralischen und religiösen Diskurs häufig in Bezug auf andere Sünden und oppositionelle Tugenden definiert. Obwohl sich die scholastischen Lehrgebäude um eine genaue Differenzierung der passiones bemühen, wird die zelotypia (‚Eifersucht‘) in Thomas’ Summa Theologica nicht als eigene Form der Trauer über die Güter eines Anderen ausgewiesen.32 Um solchen historischen Differenzen in der Konzeption der Emotion Rechnung zu tragen, wird in dieser Studie eine weitere Definition von Neid als ‚sozialer Emotion‘ als in der Moderne angesetzt: Ausgehend von den Definitionen des Augustinus und Thomas von Aquin wird Neid zum einen als Emotion verstanden, die in negativer Weise auf den Mehrbesitz eines Anderen reagiert. Anders als die allein auf das materielle Eigentum eines Anderen ausgerichtete Hauptsünde der Habgier,33 wird Neid zum anderen als Emotion gefasst, die sich über das anvisierte Neidobjekt hinaus auf die dieses besitzende Person richtet. Da das Verhältnis zur Eifersucht in mittelalterlichen Diskursen (noch) nicht als definitorische Leitdifferenz funktioniert, lässt die gewählte Definition be-
Dieses auf Hierarchien abzielende Wettbewerbsdenken des Neiders wird insbesondere anhand der Missgunst als Form des gesteigerten Neids sichtbar gemacht. Hier richtet sich das Gefühl nach Hilge LANDWEER ganz auf den Beneideten aus. Die Zerstörung seines Vorteils ist dem Neider wichtiger als der Erwerb des Neidobjekts. Nach Christoph DEMMERLING und Hilge LANDWEER wird das Objekt dem Anderen, unabhängig davon, ob man das Objekt selber haben möchte, nicht gegönnt. Vgl. DEMMERLING u. LANDWEER, Philosophie der Gefühle, S. 196–198. DEMMERLING u. LANDWEER, Philosophie der Gefühle, S. 196–198. Der andere Status der Eifersucht zeigt sich auch in den Begrifflichkeiten. Interessanterweise existiert mit dem von zelos abgeleiteten Wort zelotypia nur im Mittellateinischen eine Bezeichnung für den ‚Liebesneid‘. Im Mittelhochdeutschen fehlt hingegen ein Wort für das, was wir modern Eifersucht nennen. Vgl. zu zelotypia als Bezeichnung sowohl für den Eifer als auch für die Eifersucht: BILE, Les mots de lʼenvie, S. 25 f sowie: Dictionary of Medieval Latin from British Sources. Hrsg. von R. K ASHDOWNE, Bd. XVII, Oxford, New York 2013, S. 3747. Vgl. das Kapitel 2.3 Definitionen. Von dieser wird Neid in vielen moraldidaktischen und religiösen Erzählungen der Zeit abgegrenzt. Vgl. insbesondere die in mehreren Sprachen verbreiteten mittelalterlichen Bearbeitungen der Avian-Fabel Vom Neidischen und vom Habgierigen sowie das Exempel CLI aus den Gesta Romanorum.
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3 Methodische Überlegungen
wusst offen, ob es sich beim Objekt des Neides um eine Eigenschaft, um einen Gegenstand oder um die Beziehung zu einer Person handelt und ob Verlust- oder Begehrensdynamiken in den Neidkonstellationen dominieren. Neid wird auf diese Weise konsequenter als heute anhand seiner speziellen sozialen Struktur identifiziert: Überall dort, wo im Text das durch Besitzhierarchien geprägte Beziehungsdreieck zwischen Neider, Neidobjekt und Beneidetem, der über das Neidobjekt verfügt, nachgewiesen werden kann, soll auf nît als Synonym für invidia geschlossen werden. Dies birgt den Vorteil, dass auch solche Handlungs- und Verlaufslogiken des Neids mit in die Analyse einbezogen werden können, in denen die verursachende Emotion nicht noch einmal eigens benannt wird.
3.1.3 Konzeptionalisierungen von Neid Für die Textanalyse offengelassen wird ebenfalls, wie die neidische Relation ausgedeutet wird. In der modernen Emotionswissenschaft haben sich drei unterschiedliche Modelle von Neid etabliert. Der vorherrschenden Meinung nach geht Neid ein Vergleich voraus. Da der Neider im Gegensatz zu dem Beneideten nicht über das Neidobjekt verfügt, falle dieser für ihn negativ aus.34 Indiz für eine solche Operation des Vergleichs ist für die beiden Philosophen Hilge LANDWEER und Christoph DEMMERLING u. a. der neidtypische Schmerz. Ohne den Vergleich bewirkten die herausragenden Eigenschaften des Anderen (das Neidobjekt) Bewunderung und Achtung, durch den Vergleich entstehe hingegen eine schmerzende Selbstverletzung.35 Die Emotion ‚Neid‘ verfügt dieser Auffassung zufolge über eine „reflexive Struktur“. Der neidische Blick auf den Anderen schließe den Blick auf das eigene Ich ein, sodass der Theologe Notger SLENZKA Neid als negatives Selbstverhältnis beschreibt.36 Für den Literatur- und Kulturwissenschaftler René GIRARD sind die einzelnen Parteien des neidischen Dreiecks anstatt durch eine kognitive Operation über ihr Begehren miteinander verbunden. Damit ist nicht nur gemeint, dass Neider und Beneideter dasselbe Objekt für sich besitzen wollen. Beide werden zusätzlich dadurch verknüpft, dass der Beneidete eine Vorbildrolle für den Neider innehat, die
Vgl. z. B. ALICKE, Mark D. u. ZELL, Ethan: Social Comparison and Envy. In: Envy. Theory and Research. Hrsg. von Richard H. SMITH, Oxford 2008, S. 73–93, hier S. 74. Vgl. DEMMERLING u. LANDWEER, Philosophie der Gefühle, S. 196–198. SLENCZKA, Notger: Vom theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer Selbstverhältnisse. In: Theologie der Gefühle. Hrsg. von Roderich BARTH/Christopher ZARNOW, Berlin, Boston 2015, S. 157–189, hier S. 170–171.
3.1 Begriffsbildung
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bis in die Begehrensstrukturen hineinwirkt: Dem Objekt des Neides wird erst durch das Begehren bzw. den Besitz des Beneideten Wert verliehen, der Neider ahmt das Begehren seines Vorbilds nach. Die Emotion des Neides wird von GIRARD auf diese Weise in seine Theorie vom mimetischen Charakter des Begehrens eingebunden. Bewirke die Vermittlung durch den Anderen bei räumlicher, sozialer Distanz eine Verehrung des Mittlers, führe sie bei räumlicher und sozialer Nähe zu Konkurrenz um das begehrte Objekt, sodass aggressive Emotionen wie Neid entstehen könnten. Je nachdem, welcher Partner des neidischen Dreiecks bei der Analyse der Emotion in den Blick genommen wird, entstehen folglich andere Vorstellungen über die Beweggründe und das Funktionieren des Neids. Legt die Vergleichstheorie den Schwerpunkt auf das Neidobjekt als Unterscheidungskriterium zwischen Neider und Beneidetem, so verschiebt GIRARD den Schwerpunkt auf die Beziehung zum Beneideten, dessen Vorbildfunktion für den Neider der Rezipient entschlüsseln und aufdecken muss.37 Jacques LACAN wiederum erweitert das Nachdenken über Neid aus psychoanalytischer Perspektive, indem er in das an sich dreigliedrige Modell die zusätzliche Position des Beobachters, der bewertenden Partei einführt. Über die Jahre, in denen er Augustinus’ Beschreibung des neidischen Blicks eines Kleinkindes38 immer wieder neu übersetzt und erklärt, entwickelt LACAN eine Theorie des Neides, die sich vereinfacht so darstellen lässt: Aufgrund einer rückständigen IchEntwicklung strebt der Neider wie das Kind im Spiegelstadium nach einer Ganzheit, die ihm nur der Blick des Anderen verleihen kann. Er entwickelt Identität nur in der Bestätigung durch Andere. Auf der Suche nach der Ganzheit stößt der Neidische auf ihm ähnliche Personen, die über den Blick des/ der Anderen, d. h. über Anerkennung, verfügen und sucht die Unterschiede zwischen sich und die-
In diesem Punkt überschneidet sich GIRARDs Deutung mit phänomenologischen Einwänden gegen die Vergleichstheorie. „Das Leben vom fremden Leben erreicht einen größeren Tiefgang als das Vergleichen mit dem Anderen“, schreibt Bernhard WALDENFELS. Er fasst Neid in seiner Phänomenologie des Fremden als „parasitäres Gefühl“, das sich vom Besitz und den Qualitäten des Anderen ernähre. Da sich der Neider in seinem Fühlen gedanklich an die Stelle des Anderen setzt, schließe dies auch Gefühle der negativen Identifikation ein. Damit das Gefühl des Neids nicht erlösche, bedürfe es neben des Fremdgefühls des Hasses auf den Anderen immer auch des Selbstgefühls der Bindung an denselben. Das Begehren des Neiders nährt sich – so WALDENFELS – maßgeblich vom Beneideten. Vgl. WALDENFELS, Bernhard: Schattenrisse der Moral, Frankfurt am Main 2006, S. 275–296, hier besonders: S. 293 f. Vgl. Augustinus, Confessiones I, 11. Für LACANs intensive und wiederholte Beschäftigung mit Augustinus vgl. beispielweise: LACAN, Jacques: Was ist ein Bild/ Tableau? In: Ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Hrsg. von Norbert HAAS, übersetzt von Norbert HAAS, Olten, Freiburg i. Br. 1978 [Das Seminar von Jacques Lacan XI 1964], S. 112–126, insbesondere S. 122–123.
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sem auf. Im Falle des Neids wird die Bestätigung für den Anderen damit erklärt, dass diese Person über etwas verfügt, was dem eigenen Ich fehlt. Damit konstruiert der Neider auf der einen Seite einen persönlichen Mangel, der der Bestätigung durch den Anderen und der Absicherung der Identität entgegensteht. Auf der anderen Seite entwirft der Neider im Beneideten eine Abstraktion eines idealen, omnipotenten Selbst. Ausschlaggebend für beide Bewegungen ist der Blick des Anderen, der nicht immer einer konkreten Person zugeordnet sein muss, sondern auch ein Wertesystem darstellen kann.39 Keine der präsentierten Theorien kann für sich in Anspruch nehmen, einen Text aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert zu erklären. Da sie unterschiedliche Aspekte des Neids akzentuieren, bilden sie jedoch einen geeigneten Ausgangspunkt, um die Texte vergleichend daraufhin zu befragen, auf welche(n) Bestandteil(e) der neidischen Relation sie jeweils den Schwerpunkt legen und welche historischen Denkmuster von Neid sie dabei aufgreifen.40 So lässt sich beispielsweise mittels der Vergleichstheorie die von Thomas beschriebene Dominanz immaterieller Neidobjekte wie Ehre, Ruhm und Geltung in den Texten genauer in den Blick nehmen. Mit Hilfe von LACAN kann der Rolle der Anerkennung durch einen Dritten in höfischen Neidkonstellationen nachgegangen und die ritterliche Konkurrenz um die Ehre strukturell erfasst werden.41 Girards mimetische Theorie rückt die zentrale Rolle der emulatio als Alternative zu Neid im theologischen Denken in den Fokus und ermöglicht es, präzise danach zu fragen, wie das Verhältnis von Neid, Identifikation und Nachahmung in den Texten gestaltet wird. Alle drei Theorien wurden in der Forschung bereits auf mittelalterliche Neidbeschreibungen angewandt. Ob und wie die dabei entwickelten Forschungsansätze für das Vorhaben, mittelalterliche Ordnungsreflexionen zu untersuchen, fruchtbar gemacht werden können, soll das folgende Kapitel ermitteln.
3.2 Forschungsüberblick – Neid als Teil höfischen Agons und als Verstoß gegen die caritas In der literaturwissenschaftlichen Mediävistik hat Neid bisher meist im Hinblick auf seine narrativen Funktionen Aufmerksamkeit erhalten. Angefangen bei LUGOWSKIs
Vgl. für diese Zusammenfassung der in verstreuten Vorlesungen niedergelegten Neidtheorie LACANs: VIDAILLET, Bénédicte: Psychoanalytic Contributions to understanding envy. Classic and contemporary perspectives. In: Envy. Theory and Research. Hrsg. von Richard H. SMITH, Oxford 2008, S. 267–289 u. PORGE, Erik: Un écran à l’envie. In: Revue du littoral 30 (1990), S. 11–30. Vgl. den Forschungsüberblick in diesem Kapitel. Vgl. hierzu HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 99–100.
3.2 Forschungsüberblick
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morphologischer Analyse der Figuren im Ritter Galmy42 über James A. SCHULTZ Klassifikation narrativer Motivationstypen aus den 1980ern43 bis hin zu Harald HAFERLANDs Überlegungen zum modularen Erzählen als Spezifikum mittelalterlicher Literatur44 wird Neid regelmäßig als Form der kausalen Motivierung beschrieben: Er initiiert Aggressionen, Listen und Intrigen und bildet derart als begründendes Element eine Brücke zwischen einem Ereignis der Handlung und dem nächsten. Diese (funktionale) Sicht auf Neid dominiert nicht nur die im eigentlichen Sinne narratologische Forschung. Wie insbesondere die Beiträge zum Tristan Gottfrieds zeigen, wird Neid auch in der Breite der Forschung vor allem in seiner Rolle für das Voranschreiten der Handlung wahrgenommen und analysiert.45 Demgegenüber rückt die Emotion selbst und ihre Einbindung in das skizzierte gesellschaftliche Gefüge in der Forschung weitgehend in den Hintergrund. Jessica ROSENFELDs noch unveröffentlichte Studie Envying thy Neighbor. Pleasure, Identity and Gender in Late Medieval Literature stellt bisher das einzige emotionsgeschichtliche Buchprojekt zu Neid in der mittelalterlichen Literatur dar. Es liegen aber auch in Aufsatzform bisher nur wenige Analysen vor, die sich explizit mit Neid als Emotion befassen.46 Selbst wenn man anglistische, romanistische und germanistische
LUGOWSKI analysiert die Figur des neidischen Wernhard im Rahmen der Herleitung seines berühmten Konzepts der Motivation von hinten. Dementsprechend tritt bei LUGOWSKI die Emotion und die sie empfindende Figur ganz hinter der ihr zugewiesenen Funktion zurück. Sobald die Aufgabe des Neiders – nämlich die Motivation der Vertreibung des Helden vom Hof – erledigt ist, verschwindet auch die Figur aus dem Gefüge der Handlung. Vgl. LUGOWSKI, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz SCHLAFFER, Frankfurt a. M. 2 1994, S. 59–61. Bei SCHULTZ wird die kausale Motivation durch Neid dadurch weiter verstärkt, dass der Erzähler den Neid zum generellen Gesetz erhebt und so außerhalb der Geschichte selbst verortet. Vgl. SCHULTZ, James A.: Why Does Mark Marry Isolde? And Why Do We Care? An Essay on Narrative Motivation. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61, 2 (1987), S. 206–222, hier S. 209–210. HAFERLAND, Harald: Konzeptuell überschriebene Module im volkssprachlichen Erzählen des Mittelalters und ihre Auflösung. In: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018), S. 108–193. Für eine ausführlichere Darstellung dieses Forschungsansatzes vgl. das Kapitel 5.4. Beispielhaft hierfür ist die Analyse der Funktion von Neid für Markes Brautwerbung in Christoph HUBERs Einführung in Gottfrieds Tristan. Vgl. HUBER, Christoph: Gottfried von Straßburg. Tristan, Berlin 22000 (Klassiker–Lektüren 3), S. 77. Nach meinen Recherchen existieren in der germanistischen Mediävistik bis auf die Vorstudien zu diesem Buch bisher lediglich folgende drei Aufsätze, die Neid im Titel tragen: GRUBMÜLLER, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. Zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen JAEGER/Ingrid KASTEN, Berlin u. New York 2003 (Trends in Medieval Philology 2003), S. 47–69; KRAß, Andreas: Neidische Narren. Diskurse der Mißgunst im ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue und im ‚Narrenschiff‘ Sebastian Brants. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 138 (2005), S. 92–109; DIETL, Cora: Vom Hass zum Neid.
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Veröffentlichungen gemeinsam betrachtet, bleibt die Forschungslage so dünn, dass sich keine Forschungsbeiträge finden lassen, die aneinander anknüpfen und aufeinander aufbauen. Versucht man die isolierten Beiträge zu Neid dennoch zu ordnen und zu gliedern, so gelingt dies am besten über die Diskursfelder, in denen sie die Emotion jeweils verorten. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung wird der Bezug zwischen Neider und Beneidetem in zwei unterschiedlichen Registern verhandelt: Harald HAFERLAND und Barbara WAHLEN beschreiben Neid im höfischen Roman im Anschluss an die antike Tradition als Begleiterscheinung höfischen Agons.47 Die Emotion wird als Teil des Aushandlungsprozesses von Rang und Ehre, als Teil der Verhandlung höfischer Hierarchien untersucht. Sarah SPENCE, Jessica ROSENFELD und in Teilen seiner Argumentation auch Andreas KRAß fokussieren Neid hingegen vornehmlich als zwischenmenschliche Beziehung. Sie gehen der Frage nach, welche Bedeutung die Texte der Tatsache beimessen, dass Neid im religiösen Diskurs als Kehrseite der caritas, als Gegenstück von Liebe, Mitgefühl und Identifikation, beschrieben wird. Abhängig von der jeweiligen Rahmung ergeben sich unterschiedliche Schwerpunkte in der analytischen Betrachtung der Beziehung zwischen Neider und Beneidetem. Bei Harald HAFERLAND steht die Vergleichsrelation im Vordergrund. Er bindet den Neid in seiner 1988 erschienenen Dissertationsschrift Höfische Interaktionsformen in eine umfassende Theorie ritterlichen Wettstreits ein, bei der jeder Positionierung der Figur im agonalen System auch eine andere Emotion entspricht. Will man HAFERLANDs Konzept des höfischen Neids erläutern, muss man also zugleich seine Theorie des Agons als eine der höfischen Kultur und Literatur zugrundliegende Ideologie adeliger Selbstvergewisserung erklären. In der höfischen Kultur des Mittelalters sei die – so HAFERLANDs Definition von Agon – „grammatische Grundregel“ „des Übertreffens und Überbietens“48 darauf ausgerichtet, den sozialen Status des Adels zu bekräftigen. Der feudale, bei der Geburt mitgegebene Status werde auf den durch außergewöhnliche Taten erworbenen Rang rückgeführt. Indem das, was Status legitimieren kann, als seine soziale Ursache imaginiert wird, entstehe jedoch auch ein Rechtfertigungszirkel: Der höfische Roman wird
Die Figur des Nîthart zwischen mhd. nît und nhd. „Neid“. In: Wörter–Verbindungen. Festschrift für Jarmo KORHONEN zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich BREUER/Irma HYVÄRINEN, Frankfurt a. M. 2006, S. 377–386. Dabei ist anzumerken, dass sich sowohl DIETLs als auch GRUBMÜLLERs Analysen auf semantische Entwicklungen konzentrieren. Damit wird hier eine konträre Position zu den bisherigen Versuchen einer epochenübergreifenden Emotionsgeschichtsschreibung vertreten. Während Fabrice WILHELM mit Blick auf den religiösen Diskurs davon ausgeht, dass die antike Tradition agonalen Wettbewerbs im Mittelalter abbricht, sieht Harald HAFERLAND sie im höfischen Ritterroman fortgesetzt. Vgl. WILHELM, L’envie, S. 12–13. HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 34.
3.2 Forschungsüberblick
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nach HAFERLAND von einem Verhaltenskodex bestimmt, in der der Ritter seinen Status nicht einfach genießen kann, sondern immer auch als Rang präsentieren und aktualisieren muss.49 Emotionen sind für HAFERLAND notwendiges Nebenprodukt dieses fortwährenden Ringens um Anerkennung durch die höfische Öffentlichkeit: Die Emotion desjenigen, der sich seiner Ehre gewiss ist, ist der Stolz. Mit Zorn wird wiederum auf eine Kränkung des Stolzes reagiert. Neid tritt immer dann auf, wenn es nicht möglich sei, dem ritterlichen Ideal zu entsprechen.50 Er entsteht dort, wo es jemand Anderes geschafft habe, dass sein Name lobend erwähnt und damit sein Status als Rang präsent werde. Der typische Beneidete ist für HAFERLAND folglich der Aufsteiger, der wie Tristan durch seine perfekte Verkörperung des höfischen Verhaltenskodex neu an die Spitze der höfischen Hierarchie rückt.51 Der typische Neider ist umgekehrt derjenige, der sich, wie der zu Beginn dieses Kapitels vorgestellte Truchsess Keie, nicht durch herausragende Taten auszeichnen kann. Nicht jeder Verlierer im höfischen Wettbewerb ist indes ein Neider. Die dem ritterlichen Kodex angemessene emotionale Reaktion auf die Niederlage ist die Scham, die den Ritter dazu anhält, die Schande auszubügeln und sich – wie im Falle Iweins nach Lunetes öffentlicher Kritik – einen neuen ehrenvollen Namen zu schaffen. Funktioniert dieses Selbstregulativ wie im Falle des Neides nicht, muss die Figur mit dem Spott der Hofgesellschaft rechnen. Der vielverspottete neidische Keie ist nach HAFERLAND im Artusroman eine „notwendige Randfigur“, die die Regeln des höfischen Wettbewerbs missachtet und diese durch den Spott, den sie erfährt, für die Anderen in Erinnerung ruft.52 Im Unterschied zu HAFERLAND macht Barbara WAHLEN die von Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles beschriebene Verwandtschaft von invidia und emulatio für ihre Analyse des ritterlichen Werte- und Normensystems im altfranzösischen Artusroman produktiv.53 Dabei stützt sich WAHLEN auf eine im Mittelhochdeutschen so nicht auffindbare sprachliche Besonderheit. Während Thomas
Ebenda, S. 28–35. Zur Rolle des Wettstreits in der mittelalterlichen Kultur und Literatur vgl. das von Bent GEBERT geleitete Forschungsprojekt Wettkampfkulturen. Erzählformen der Pluralisierung in der deutschen Literatur des Mittelalters. HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 31. Ebenda, S. 87 f. Für den Typus des Aufsteigers gibt HAFERLAND mit der Unterscheidung von Rang und Status das differenzierteste Beschreibungsmittel an die Hand. Ebenda, S. 83–84. Vgl. WAHLEN, Barbara: ‚Se haï[r] solement por chevalerie‘. Réflexions sur le rôle ambigu de lʼenvie dans le ‚Roman de Meliadus‘ [Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, 20.11.2009]. Der 2009 auf dem Brackweder Colloquium gehaltene Vortrag wurde mir von der Autorin freundlicherweise als Manuskript zur Verfügung gestellt. Er knüpft in Teilen an das Unterkapitel Troisième correction: la réconciliation des frères ennemis ihrer Dissertation an. Vgl. WAHLEN, Barbara:
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von Aquin für die beiden benachbarten Formen der Trauer über den Besitz des Anderen unterschiedliche Begriffe verwendet, bezeichnet envie im Altfranzösischen sowohl den positiven Eifer, der sich aus dem Gefühl des eigenen Mangels entwickelt, als auch den zerstörerischen Hass auf den sich im Vorteil befindlichen Anderen.54 Dieser semantischen Doppelkodierung entspricht nach WAHLEN eine Ambivalenz der ritterlichen Ethik im mittelalterlichen Artusroman: Auf der einen Seite werde jeder Ritter, der nach Ehre strebt, notwendigerweise vom Wunsch, den anderen zu übertreffen angetrieben. Der ritterliche zélos sei kein Beiwerk, sondern Kern der ritterlichen Heroik.55 Auf der anderen Seite sei die Grenze zu übergroßem Stolz und Neid, die nach WAHLEN im Anschluss an den Sündendiskurs auch in der ritterlichen Ethik negativiert werden,56 stets fließend. Envie erweist sich in den Interpretationen von Barbara WAHLEN dementsprechend als Kipp-Phänomen. Dort, wo envie dazu führt, dass man über sich hinausgeht, ist er positiv, dort, wo er zur überbordender Aggression führt, negativ: „Amertume vertueuse, si elle conduit au dépassement de soi, cette tristesse est une désespérence pécheresse, si elle se transforme en haine vengeresse.“57 Signalisiert die Emotion als Distinktionsemotion Unter- und Überlegenheit, arbeitet Andreas KRAß in seiner Analyse des 53. Kapitels von Sebastian Brants Narrenschiff affine Formen des Begehrens von Neider und Liebenden heraus. Im Zentrum seiner Argumentation steht dabei die soziale Struktur des Neids. Der Neider begehre etwas, das der Beneidete besitze. Dabei beziehe sich der Affekt bei Brant jedoch weniger auf das Neidobjekt als auf die besitzende Person. Indem der Ich-Erzähler der
LʼÉcriture À Rebours. Le Roman de Meliadus du XIIIe au XVIIIe siècle, Genf 2010 (Publications Romanes et Franc̹aises CCLII), S. 220–239. Der Begriff émulation taucht laut WAHLEN im Altfranzösischen nur selten und dann meist im Sinne von Rivalität ohne positive Bedeutung auf. Der vom Griechischen zelos abgeleitete Begriff ‚zèle‘ werde nur für den religiösen Eifer verwendet. Vgl. WAHLEN, Barbara: ‚Se haï[r] solement por chevalerie‘, S. 7–8. Zur Bedeutung, die WAHLEN dem Neid für die Formulierung des ritterlichen Ideals zuschreibt, vgl.: WAHLEN, Se ‚haï[r] solement por chevalerie‘, S. 3 u. WAHLEN, LʼÉcriture À Rebours, S. 229 f. Das von der Dame du Lac im altfranzösischen Prosalancelot (VII, XXIa, 13) ausgesprochene ritterliche Gebot, den Schwachen zu helfen, impliziert auch den Kampf gegen den Neid und die Gier. Der christliche Diskurs über Neid als Sünde geht laut WAHLEN neben der Idee von envie als emulatio in den Artusroman ein. Vgl. die Zusammenfassung von WAHLENs Vortrag im Tagungsreader: OSCHEMA, Klaus u. SLANIČKA, Simona: Emotionen! Émotions! 16 Jahrestagung des Brackweder Arbeitskreises (DHI Paris 20–21. November 2009). Zusammenfassung der Beiträge, S. 114–119. brackwederarbeitskreis.files.wordpress.com/2015/11/reader_emotionen_2009.pdf [31. Januar 2023]. WAHLEN, LʼÉcriture à Rebours, S. 229. Wie Barbara WAHLEN anhand des Roman de Meliadus und seiner Continuation aus dem späten dreizehnten Jahrhundert zeigt, kann sich die Bewertung von envie sogar innerhalb einer Romantradition verschieben. Vgl. WAHLEN, LʼÉcriture à Rebours, S. 222–230.
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Abhandlung Neid als Gegenteil des hold-Seins charakterisiere und über die Ich-DuRede beschreibe, konzeptionalisiere er Neid als persönliche Beziehung.58 Um diesen Fokus auf den Beneideten zu erklären, greift KRAß auf die Theorie René GIRARDs zurück. Das Begehren des Neidobjekts werde durch „die Identifikation mit dem begehrenden Andern“ ausgelöst, der „somit als Mittler des Begehrens fungier[e]“.59 Als Beleg dieser Interpretation von Neid führt KRAß die Verwendung bereits von Ovid genutzter liebessprachlicher Metaphern an. Brants Kapitel zum Neid hebt für KRAß dementsprechend hervor, dass das Begehren des Neiders im gesellschaftlichen Personenverband nicht nur sozial destruktive Auswirkungen habe, sondern auch „affektive Kohäsion“ zwischen Neider und Beneidetem zu stiften vermag.60 Die amerikanische Komparatistin Sarah SPENCE kommt für die altfranzösische Literatur des zwölften Jahrhunderts aus einer anderen Richtung zu ähnlichen Ergebnissen: Ausgehend von Bernards von Clairvaux Erörterungen zur Etymologie von invidia in seinen Predigten über das ‚Hohe Lied‘ konstatiert sie ein Wiedererstarken der antiken Transmissionstheorie des Neids. Neid werde in der visuell orientierten Kultur des Hochmittelalters als Sünde des Sehens konzipiert.61 Dieser Fokus verbinde ihn mit der höfischen Liebe, die in der volkssprachlichen Literatur ebenfalls über das Schauen konzipiert und teils sogar über dieselbe Metaphorik des versteinernden Basiliskenblickes beschrieben werde.62 Mehr als die gemeinsame Bildsprache interessieren SPENCE jedoch die Parallelen zwischen den Wirkungen des Blicks der Liebe und denen des bösen Auges: Mittels einer Analyse der berühmten Minnekrankheit Lavinias zeigt sie, dass der oder die Minnekranke im mittelalterlichen Roman d’ Eneas unter Krankheitssymptomen wie Schwitzen, Zittern, Brennen, Atemnot und Ohnmachtsanfällen leidet, die auch als Folge der feurigen Ausstrahlung des bösen Auges gedeutet werden.63 Für SPENCE verweisen diese Gemeinsamkeiten auf einen komplexen Umkodierungsprozess des Neids im literarischen Diskurs. Die höfische Liebe führe – so das Ergebnis ihrer Textanalysen von Raimbauts dʼAurengas En aital rimeta prima und Maries des France Guigemar – die Tradition der fascinatio fort, deute den auf Äußerlichkeiten fixierten aggressiven Blick des Neiders jedoch in eine Hinwendung, in eine Öffnung hin zum Ande-
Vgl. KRAß, Neidische Narren, S. 100–103. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 102 f. Vgl. SPENCE, Double Vision, S. 264 f. Ebenda, S. 264. Vgl. SPENCE, Double Vision, S. 268 sowie ausführlicher: SPENCE, Sarah: ‚Lo Cop Mortal‘. The Evil Eye and the Origins of Courtly Love. In: Romanic Review 87, 3 (1996), S. 307–318, hier S. 308–311 u. S. 315 f.
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ren um.64 In Bezug auf den am Anfang ihrer Analysen stehenden religiösen Diskurs heißt das: Abweichend von diesem schlägt die höfische Literatur mit dem amour courtois ein spezifisches Heilmittel gegen den Neid vor, welches die Gefahren einer aufs Visuelle konzentrierten Gesellschaft adressiert und ins Positive wendet.65 Während Andreas KRAß die personale Verbindung zwischen Neider und Beneidetem mit Hilfe der anthropologischen Theorie René GIRARDs erläutert, greift Sarah SPENCE also auf die historischen Diskurse zurück, um die Motivparallelen von Neid und Liebe zu erklären. Beide Thesen büßen jedoch aufgrund methodischer Probleme an Überzeugungskraft ein: Um einen Zusammenhang zwischen Neid und der visuellen Kultur des Hofes nachzuweisen, legt Sarah SPENCE in ihrer Analyse der historischen Diskurse zu großes Gewicht auf die antike Tradition der Verbindung von Neid und Sehen. Diese Einseitigkeit macht sich auch in ihren Textanalysen bemerkbar. Es stellt sich die Frage, ob das Sehen des Neiders in der höfischen Literatur durchgängig mit dem bösen Auge assoziiert werden kann, wenn die Aggression gegen den Beneideten, wie SPENCE in ihrer Analyse des Guigemar selbst zugibt, nicht mehr vom Blick auf den Anderen, sondern von der Rede des Neiders ausgeht.66 Andreas KRAßʼ Vorgehen hingegen wirft die Frage auf, ob und wie moderne Neidtheorien auf mittelalterliche Texte angewendet werden dürfen. Er selbst plädiert dafür, modernen Theorien keine theoretische Verbindlichkeit für die Analyse mittelalterlicher Texte zuzusprechen, sondern diese jeweils heuristisch an die Texte heranzutragen. Nur ausgehend von einer ausgiebigen Würdigung der „poetische[n] und diskursive[n] Struktur der betreffenden Texte“, dürften Theorien für ihre Analyse genutzt werden.67 Diesem Ansatz fühlt sich auch diese Arbeit verpflichtet. In Differenz zu KRAß’ Vorgehen sollen die modernen theoretischen Ansätze dabei nur als Beschreibungsmittel, als Instrument der Annäherung, und nicht als Erklärungsmodell verwandt werden. KRAß’ Textanalyse wird dort problematisch, wo er in Übertragung des GIRARDschen Modells auf den Text auch dem Beneideten ein bei Brant so nicht ausformuliertes Begehren zuschreibt und das Begehren des Neiders als diesem nachgängig interpretiert. KRAß unterstellt den Worten des Ich-Erzählers auf diese Weise eine ihnen zu Grunde liegende psy-
Ebenda, S 268 f. Vgl. SPENCE, ‚Lo Cop Mortal‘, S. 316 f. Vgl. SPENCE, Double Vision, S. 265. Diese im Bezug auf den Neid generalisierende und Unterschiedliches zusammenfassende Tendenz rührt daher, dass SPENCE eine kulturgeschichtliche Herkunftsgeschichte höfischer Liebe erzählen will. Um Neid in das Paradigma der visuellen Kultur des Hofes einordnen zu können, ordnet sie die neidische Rede trotz ihrer anderen Tradition und Sozialität dem neidischen Blick bei und stellt sie ebenfalls der höfischen Liebe gegenüber. KRAß, Neidische Narren, S. 104.
3.2 Forschungsüberblick
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chologische Logik und ordnet sie bruchlos in GIRARDs Theorie des mimetischen Begehrens ein. Der Text lässt sich ausgehend von Jessica ROSENFELDs Analyse des religiösen Diskurses zu Neid im Mittelalter jedoch auch anders deuten. Gerade die Art und Weise, wie der Bezug auf den Anderen vom Text ausgestellt wird, macht den ethisch bedenklichen Mangel an emotionaler Identifikation mit dem Anderen sichtbar. In den bisher veröffentlichten drei Aufsätzen aus ihrem Buchprojekt Envying thy Neighbor. Pleasure, Identity, and Gender in Late Medieval Literature führt Jessica ROSENFELD vor, welche verschiedenen Formen und Funktionen das Nachdenken über Neid als verfehlte Identifikation mit dem Nächsten in der mittelenglischen Literatur annimmt. Ihren Ausführungen zufolge führen sowohl Gowers Confessio Amantis als auch Chaucers Parson’s Tale den Rezipienten jeweils von der pervertierten Identifikation hin zur richtigen Identifikation mit dem Nachbarn, von Neid zu Liebe und Mitleid.68 Beispielhaft hierfür ist die Handlung des Tale of Celestine sowie des Tale of Constance. Am Beginn beider Erzählungen parodieren die Neider die der Nächstenliebe zugrunde liegende Einfühlung. Die Neider ahmen ihren Nächsten zwar nach und versetzen sich so in seine Position, ihre Imitationen folgen jedoch einer Ersetzungslogik: Sie täuschen falsche Identitäten vor, um den Anderen zu verdrängen oder seine Position für sich selbst zu beanspruchen. Der Neider tritt in der Confessio Amantis laut ROSENFELD dementsprechend als eine Person auf, die die Ähnlichkeit ihres Nächsten verkennt. Am Ende jeder der Erzählungen weichen die neidischen Verwechslungstechniken schließlich wahrer Identifikation, die Protagonisten erleben in der Erkenntnis der Ähnlichkeit des Anderen ihre eigene Bekehrung.69 In diesen Interpretationen wird ein weiterer Aspekt von ROSENFELDs sozialethischer Konzeptionalisierung der Emotion deutlich. Ausgehend von Aristoteles’ im Spätmittelalter viel rezipierten Überlegungen zu Neid als Phänomen der Nähe in Zeit, Ort, Alter und Ansehen70 stellt ROSENFELD fest: „Envy [ ... .] raises particular questions about likeness and imitation itself as alternately malevolent or sympathetic.“71 Aus der Perspektive einer christlichen Ethik rückt in ihren Textanalysen folglich der richtige Umgang mit den „imagined pleasures and actual pains and difficulties of likeness“72 in den Vordergrund. Dabei legt sie in Anlehnung an Sianne NGAIs Ugly Feelings besonderes Augenmerk auf die Unterscheidung von
ROSENFELD, Envy and Ethics, S. 103 u. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 91–93. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 91–93. Aristoteles, Rhetorik 2, 10, Erster Halbband, S. 95–96. Vgl. das Kapitel 2.3. ‚Definitionen‘. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 91. ROSENFELD, Jessica: Envy and Exemplarity in ‚The Book of Margery Kempe‘. In: Exemplaria 26, 1 (2014), S. 105–121, hier S. 108.
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Identifikation und Nachahmung als unterschiedlichen Formen der Anähnelung an den Anderen: Während die ‚Identifikation‘ auf der Phantasie ‚jemand Anderes zu sein‘ basiere, kopiere derjenige, der ‚nachahmt‘, lediglich das Verhalten des Anderen.73 In ihren Analysen mittelenglischer Literatur macht ROSENFELD diese Differenz für die Interpretation des Neides produktiv: Das Besondere der Neider besteht für sie gerade darin, dass sie den Beneideten nachahmen, ohne sich mit ihm zu identifizieren.74 Damit ist der Überblick über das Forschungsspektrum abgeschlossen. ROSENFELD bezieht sich nicht nur auf andere Diskurse als HAFERLAND. ROSENFELD und HAFERLAND decken in ihren Untersuchungen jeweils auch unterschiedliche Dimensionen von Neid als sozialer Emotion ab. Spielen in HAFERLANDS Analyse von Neid als Nebenprodukt des höfischen Wettkampfs die vielen Kommentare der höfischen Erzähler zu sozialen Verfehlungen der Neider keine Rolle, so treten in ROSENFELDS vornehmlich auf religiöse Texte konzentrierter Untersuchung die Gründe für den Neid, der Kampf um gesellschaftliche Hierarchien, in den Hintergrund. Um keine der beiden Ebenen des Neids von vornherein aus der Analyse auszuschließen, werden in dieser Untersuchung beide Ansätze aufgegriffen und für die Analyse des Erzählens von Neid am Hof miteinander verknüpft. Ausgehend von den Forschungen Harald HAFERLANDs soll der Neid am Hof zum einen als Distinktionsemotion fokussiert werden, die in den ständigen Wettbewerb um Ehre und Gunst eingebunden ist. Mit Bezug auf Jessica ROSENFELDS Untersuchung der sozialethischen Dimension des Neides soll zum anderen die Art und Weise analysiert werden, in der Neid in existierende soziale Beziehungen am Hof wie Freundschaft oder Verwandtschaft eingreift und die ihnen zugrunde liegende Identifikation mit dem Anderen pervertiert und unterminiert. Indem Neid sowohl als Emotion des abgrenzenden Vergleichs als auch als besondere Form der Beziehung zum Anderen begriffen wird, lässt sich das Potential der Emotion für die Diskussion der höfischen Ordnung erkennen: Im Erzählen von Neid können Fragen der hierarchischen Ordnung mit Fragen der sozialen Ordnung verbunden und hierarchische Distinktionen in ethische Oppositionen verwandelt werden. Der Studie liegt die zu erhärtende These zu Grunde, dass Neid als diskursive Schnittstelle zwischen der vertikalen und der horizontalen Ebene der höfischen Ordnung funktioniert. Als Vorbild für eine vertiefte Analyse der Funktionen von
NGAI, Sianne: Ugly Feelings, Cambridge/Mass., London 2007, S. 142–143. Für ROSENFELDs Operationalisierung dieser Unterscheidung für ihre Textanalysen vgl. ROSENFELD, Envy and Exemplarity, S. 109–110. Zum Potential der Unterscheidung von Emulation und Identifikation für die Analyse vorwiegend religiöser Literatur vgl. die Textanalysen ROSENFELDs von Gowers Vox Clamantis und Margery Kempes Heiligenvita in ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 90–9 u. ROSENFELD, Envy and Exemplarity, S. 111–118.
3.3 Neid als negative Emotion? Neid und Gesellschaft
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Neid in Ordnungsdiskussionen kann, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, die moderne Debatte über die Bewertung von Neid dienen.
3.3 Neid als negative Emotion? Neid und Gesellschaft in der modernen Emotionstheorie Wenn sich die Eifersucht – in einer klischeehaften Ausdrucksweise – als das ‚grünäuige Ungeheuer‘ (Othello) bezeichnen lässt, dann ist Neid das schielende, rot- und triefäuige Monster. Neid ist, um es sehr freundlich auszudrücken, nie etwas Hübsches oder Gutes.75
Mit seiner Beschreibung von Neid als einem monströsen Gefühl steht der amerikanische Essayist Joseph EPSTEIN nicht alleine. Neid gilt gemeinhin als „ugly feeling[...]“, als „negative“ oder gar als „nasty emotion“.76 Diese negative Attribuierung des Neids bezieht sich zum Teil auf die Erfahrungsqualität des Neids. In vielen emotionspsychologischen Studien wird er neben Zorn, Angst, Scham, Trauer, Schuld, Eifersucht und Ekel deshalb zu den negativen Emotionen gezählt, weil Neid eine Situation für das Wohlbefinden des Subjekts als schädlich bewertet und somit Schmerz und psychischen ‚Stress‘ verursacht.77 Darüber hinaus wird jedoch vielerorts ein Urteil über die Soziabilität von Neid gefällt: Neid wird aufgrund seines negativen und oft sogar feindlichen Bezugs auf den Anderen als Gefahr für jede Form von Gemeinschaft wahrgenommen.78 Am prominentesten hat diese Kritik am Neid in jüngster Zeit die Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha NUSSBAUM vorgetragen. In ihrem 2013 erschienenen Buch Political Emotions – Why love matters for justice schlägt sie im Anschluss an ROUSSEAU und RAWLS vor, bestimmte Emotionen als kollektive Mentalitäten gezielt zur Stärkung demokratischer und liberaler Gesellschaften zu kul-
EPSTEIN, Joseph: Neid. Die böseste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias WOLF, Berlin 2010, S. 22. Siehe in Reihenfolge der Zitate: NGAI, Ugly Feelings, S. 11; LAZARUS, Richard S.: From psychological stress to the emotions. A history of changing outlooks. In: Annual Revue of Psychology 1993 (44), S. 1–22, hier S. 12; LAZARUS, Richard S. u. LAZARUS, Bernice N.: Passion and Reason. Making sense of emotions, New York und Oxford 1994, S. 13. Vgl. LAZARUS, From psychological stress to the emotions. In der Philosophie und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts finden sich sowohl Dystopien einer Gesellschaft, in der die Neider die Beneideten vernichten wie in Ayn RANDs Atlas Shrugged als auch utopische Entwürfe einer gleichheitsorientierten, neidfreien Gesellschaft wie B. F. SKINNERs Walden Two.
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3 Methodische Überlegungen
tivieren.79 Neid stellt für sie dabei eines der größten Risiken für den gesellschaftlichen Frieden dar. Der Neider konzentriere sich allein auf sein eigenes Wohlergehen. Indem er den Anderen als Wettbewerber wahrnehme, verweigere er die Identifikation mit seinen Mitbürgern und zerstöre mit seinem Hass die für eine funktionierende Demokratie notwendige mitfühlende Bürgerlichkeit.80 Zentrales Ziel muss für eine Gesellschaft laut Martha NUSSBAUM demnach sein, Neid einzuhegen, soziale wie gesellschaftliche Faktoren für sein Ausbrechen soweit wie möglich zu beheben81 und als Gegenmittel das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, zu stärken.82 Gegen die hier zum Ausdruck kommende Verdammung des Neids regt sich in den letzten Jahren ̶ wie schon angedeutet wurde ̶ indes zunehmend Widerspruch. Disziplinübergreifend ist in der Emotionsforschung in den letzten Jahren nicht nur das Interesse an den sogenannten negativen Gefühlen gewachsen.83 Diesen werden zunehmend auch gesellschaftsdiagnostische und sozial produktive Funktionen zugesprochen.84 So kritisiert die Soziologin Eva ILLOUZ in ihrer Rezension zu Political Emotions, dass NUSSBAUMS Unterscheidung zwischen gesellschaftsförderlichen und gesellschaftsfeindlichen Emotionen ein vereinfachendes Verständnis von negativ und positiv zu Grunde liege. Was für das Subjekt – d. h. hier sowohl für den Neider als auch für den Beneideten – negativ sei, müsse noch lange nicht negativ für Gesellschaften sein. In Kollektiven übernähmen die sogenannten negativen Emotionen regulative Funktionen, sie sicherten den Fortbestand von Gruppen und sozialen Ordnungen.85 Damit argumentiert ILLOUZ im Gegensatz zu NUSSBAUM nicht mehr auf der Ebene der kollektiven Mentalitäten, sondern auf struktureller,
Vgl. NUSSBAUM, Political Emotions, S. 1–3. Ebenda, S. 314–316, S. 339–S. 345. Zu Neid als Hindernis für eine Ethik des Mitgefühls vgl. bereits: NUSSBAUM, Martha: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001, S. 342–345. Vgl. NUSSBAUM, Political Emotions, S. 343–345. Ebenda, S. 345–359. So veranstaltete das Swiss Centre for Affective Sciences (CISA) im Jahr 2017 eine Konferenz mit dem Titel Negative Emotions. The Good, the Bad and the Ugly. Vgl. den Tagungsbericht auf: https://emotionsblog.history.qmul.ac.uk/2017/06/negative-emotions-the-good-the-bad-and-theugly/ [31. Januar 2023]. Bekanntestes Beispiel für die beschriebene Neubewertung der negativen Emotionen ist Sianne NGAis erstmals 2005 erschienene Studie Ugly Feelings, in der sie die diagnostische Relevanz und kritische Produktivität von negativen Emotionen der Ohnmacht, d. h. der verhinderten Handlungsfähigkeit, für die Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft beleuchtet. Vgl. NGAI, Ugly Feelings. Vgl. ILLOUZ, Eva: Martha Nussbaum. Lieben bis zum Abwinken. Aus dem Englischen von Michael Adrian. In: Die Zeit 42 (2014). www.zeit.de/2014/42/martha-nussbaum-politik-emotionen? cid=4045895 [31. Januar 2023].
3.3 Neid als negative Emotion? Neid und Gesellschaft
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institutioneller Ebene.86 In diesem Sinne beschreibt auch die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances FERGUSON Neid als sozial integrierende Kraft. Mit Bezug auf David HUME führt sie aus, dass Neid nur unter der Bedingung der Nähe auftreten kann. Er entstehe nicht, weil die Differenz zwischen ‚uns‘ und dem ‚Anderen‘ so groß, sondern weil der ‚Andere‘ ‚uns‘ bei aller Überlegenheit immer noch ähnlich sei. Insofern, so spitzt FERGUSON HUME zu, gefährde Neid soziale Bindungen nicht allein, er signalisiere zugleich Gruppenzugehörigkeit: „[E]nvy functions to identify itʼs protagonists – the envious and the envied – as members of the same species.“87 FERGUSON geht sogar noch weiter. In ihrer Argumentation kontrolliert und misst Neid den Raum zwischen Ähnlichkeit und Differenz aus. Die Emotion richtet sich ihrer Ansicht nach auf denjenigen, der von der sozialen Norm abweicht, der sich von den anderen Mitgliedern der Gruppe unterscheidet.88 Neben die Vorstellung, dass Neid Normen des sozialen Verhaltens ignoriere und auf diese Weise Gemeinschaften erschüttere, tritt so die Idee, dass Neid soziale Normen forciere und die Werte der Gruppe verteidige. Hauptquelle für diese differenzierte Analyse der gesellschaftlichen Rolle des Neids ist Helmut SCHOECKs in den 60er Jahren entstandene und bis heute viel diskutierte Studie über Neid. Im Gegensatz zu FERGUSON fokussiert der konservative Soziologe allerdings nicht die Art und Weise, wie Neid auf Normabweichungen reagiert, sondern umgekehrt die Art und Weise, wie Menschen auf Neid reagieren.89 Laut SCHOECK ist es die Angst vor dem Neid des Anderen, die dafür sorgt, dass ‚wir‘ gute Bürger bleiben. Sie dränge Menschen zur Konformität und sorge dafür, dass der soziale und moralische Code, der für die Existenz großer und komplexer Gesellschaften notwendig ist, akzeptiert wird. SCHOECK beschreibt die Emotion somit als gesellschaftlichen Kontrollmechanismus.90 Dieser trage zum einen zur Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen bei, zum anderen – so argumentiert
Ebenda. Für eine ausführlichere Diskussion der Differenz zwischen einer personenzentrierten und einer makrosoziologischen Analyse der gesellschaftlichen Funktionen von Emotionen vgl. auch das öffentliche Transkript ihrer TAZ–Vorlesung Mehr Emotion wagen? auf http://www. taz.de/!159583/ [31. Januar 2023]. FERGUSON, Envy Rising, S. 891. Ebenda, S. 890 f. Damit reiht sich SCHOECK ein in die Tradition der soziologischen und anthropologischen Emotionsforschung, die den Umgang mit Emotionen und die daraus entstehenden Emotionskulturen untersucht. Zur anthropologischen Diskussion um Neidkulturen vgl. inbesondere FOSTER, The anatomy of envy. Vgl. SCHOECK, Neid, S. 384 f. Ausführlich diskutiert wird dieser Aspekt von SCHOECKs Neidtheorie in: DUMOUCHEL, Paul: A Mimetic Rereading of Helmut Schoeckʼs ‚A Theory of Social Behaviour‘. In: Ders: The Ambivalence of Scarcity and other Essays, East Lansing 2014, S. 109–125, hier S. 113–115.
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3 Methodische Überlegungen
SCHOECK aus wirtschaftsliberaler Sicht – könne er den Fortschritt von Gesellschaft aber auch hemmen, indem er individuelle Größe und Innovation behindere. Der wirtschaftliche Erfolg westlicher Gesellschaften basiere darauf, den Neid bezwungen und in der Tradition von Platons Timaios die Neidlosigkeit Gottes im kollektiven Bewusstsein verankert zu haben.91 Mit diesen egalitaristischen Forderungen eine Abfuhr erteilenden Ausführungen schließt SCHOECK nicht zuletzt an Friedrich NIETZSCHE an, der das demokratische Gleichheitsstreben als Produkt neidischen Mittelmaßes deutet. Da der Neider aus Unvermögen selbst nicht besitzen könne, richte sich sein Streben darauf, dass auch der ihm überlegene Andere nicht besitzen könne: „[...] weil ich ETWAS nicht haben kann, soll alle Welt NICHTS haben! soll alle Welt nichts s e i n.“92 Ist dieser Gedanke bei NIETZSCHE Teil der sogenannten Sklavenmoral und negativ gefärbt, so findet er sich bei seinem Zeitgenossen Sigmund FREUD in einer positiven Version. Im neunten Kapitel von Massenpsychologie und Ich-Analyse untersucht FREUD die Rolle der Strategien zur Bewältigung von Neid bei der Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen. Ihm zufolge führt gerade die Unmöglichkeit, das neidische Begehren erfolgreich und unbeschadet auszuleben, zur Gemeinschaftsbildung. Wie er am Beispiel des Geschwisterneids und des Starkults zeigt, kann kollektiver Neid nur durch gemeinsamen Verzicht aufgelöst werden, sodass die Erfahrung des Neids letztlich in eine Gemeinschaftsbildung unter der Maßgabe der Gleichheit aller münde. Das feindselige Gefühl des Neids bringt für FREUD paradoxerweise den Gemeinsinn hervor.93 Betrachtet man Neid nicht mehr nur als individuelles, sondern als gesellschaftliches Phänomen, entsteht so entgegen dem allgemeinen Verständnis von Neid ein durchaus ambivalentes Bild der Emotion: Je nachdem, ob Neid in seinen Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft betrachtet wird, als Reaktion auf Abweichungen von der Ordnung der Gemeinschaft analysiert wird oder aber umgekehrt die Reaktionen auf ihn in den Blick genommen werden, wird er als ordnungszerstörend, als ordnungskonservierend oder sogar als
Vgl. SCHOECK, Neid, S. 57–74, hier insbesondere S. 73 f. sowie S. 386 f. NIETZSCHE, Friedrich: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, Aph. 304. Zit. n. Nietzsche, Friedrich: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio COLLI/Mazzino MONTINARI, Bd. 3, Berlin, New York 92015, S. 224. Vgl. Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich–Analyse. Die Zukunft einer Illusion. Mit einer Einleitung von Reimut REICHE, Frankfurt a. M. 92014, S. 81–83. Für eine ausführlichere Besprechung des Zusammenhangs von Neid und Gemeinschaftsbildung vgl. das Kapitel ‚Neidische Minnefeinde‘.
3.4 Methode: Das Erzählen von Neid als ‚Verhandlung‘ höfischer Ordnung
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ordnungsstiftend bewertet.94 In der vorliegenden Arbeit soll dieser differenzierte Blick auf die verschiedenen Ebenen neidischer Interaktion mit der gesellschaftlichen Ordnung produktiv gemacht und auf diese Weise ein neuer methodischer Ansatz für die Analyse von Neid erprobt werden.
3.4 Methode: Das Erzählen von Neid als ‚Verhandlung‘ höfischer Ordnung Neid wird nicht mehr nur – wie so häufig in bisherigen Analysen geschehen – in Bezug auf seine strukturellen Funktionen für den Aufbau der Handlung analysiert.95 Im Anschluss an die modernen Diskussionen über das Verhältnis von Neid und Gesellschaft wird die soziale Emotion im Hinblick auf ihren Beitrag zur Problematisierung und Konzeptionalisierung höfischer Ordnung und damit im Hinblick auf ihre Funktionen für den Bedeutungsaufbau der Narration befragt. Methodisch sind hierfür die Besonderheiten des literarischen Diskurses zu bedenken. Mag Neid in einem Teil des theologischen Diskurses der Zeit und in der direkt an diesen anschließenden Exempelliteratur – wie Fabrice WILHELM behauptet – als ‚psychologischer Ausdruck des Bösen‘ und damit weniger als Emotion denn als emotionaler Habitus der Figuren verstanden werden, so gilt dies nicht für längere Erzählungen: Emotionen sind in Narrationen – wie Elke Koch hervorgehoben hat – immer „in Handlungsabläufe, Figurenkonzeptionen und Konfliktsituationen“96 eingebunden. Um vom Entstehen der Emotion erzählen zu können, bedarf es eines ‚Vorher‘ und eines ‚Nachher‘, bedarf es Verschiebungen innerhalb der Besitzverhältnisse und Hierarchien. Mit Bezug auf die Beispielanalyse des Iwein wird daher davon ausgegangen, dass Neid auch in anderen mittelalterlichen Narrationen grundsätzlich in vier unterschiedlichen Formen mit der höfischen Ordnung interagieren kann: Indem sich die Emotion auf eine andere Person richtet, relationiert Neid erstens verschiedene Dabei wird die Diskussion um Neid jeweils eng mit der Diskussion über die gesellschaftliche Gleichheit verknüpft: Neid wird sowohl als Folge zu groß werdender gesellschaftlicher Ungleichheit wie auch die Gleichheitsidee umgekehrt als Folge des Neids gedacht. Vgl. den Forschungsüberblick im vorliegenden Kapitel. Theoretisch grenzt sich die Dissertation damit von Ansätzen in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung ab, die wie Katharina PHILIPOWSKI Emotionen in Texten vornehmlich als „Knotenpunkt im Konflikt- und Handlungsgefüge“ analysieren. Vgl. PHILIPOWSKI, Katharina: Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. In: PBB 128 (2006), S. 251–274, hier S. 267. Vgl. KOCH, Elke: Bewegte Gemüter. Zur Erforschung von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008), S. 33–54, hier S. 44.
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3 Methodische Überlegungen
Figuren miteinander. Unabhängig von seiner Bewertung kommt Neid in Erzählungen zweitens eine evaluative Funktion hinsichtlich der gesellschaftlichen Verfasstheit zu, insofern er auf Veränderungen innerhalb der Hierarchien reagiert und die Dynamik der höfischen Ordnung auf diese Weise für die Rezipienten sichtbar macht. Da der Neider versucht, die höfische Ordnung durch seine ehrabschneiderischen Anklagen gegen den Beneideten zu seinen Gunsten zu reorganisieren, besitzt Neid drittens selbst eine soziale Veränderungen motivierende Komponente, die sowohl die Handlungen des Neiders als auch die Reaktionen auf diese umfasst. Die Emotion ‚Neid‘ und der mit ihr verbundene detractio-Diskurs funktionieren innerhalb der höfischen Ordnung viertens als Bewertungsmechanismus von Verhalten: Der Neider spricht nicht selbst über seinen Neid. Die Emotion wird ihm von außen, entweder von anderen Figuren oder vom Erzähler, zugeschrieben. Dieses Sprechen und Erzählen von Neid birgt – dies zeigt der verbreitete Topos von Neid als Zeichen der virtus – das Potential, feststehende Hierarchien, Deutungsmuster und Wertungen an Figurenkonstellationen heranzutragen und derart sowohl die Handlungen des Neiders als auch die des Beneideten hinsichtlich ihrer Konformativität mit der höfischen Ordnung (neu) zu bewerten. Den Close-Readings liegen somit kapitelunabhängig folgende Fragen zu Grunde: Was für eine Relation zwischen den Figuren stiftet Neid? In welcher Situation am Hof entsteht Neid? Wie verändert Neid die Situation am Hof? Und mit welchen Folgen für die Bewertung des Geschehens am Hof wird Neid thematisiert? Mit diesem Vorgehen wird nicht behauptet, dass alle vier Funktionsmechanismen von Neid in Narrationen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts jeweils gleichermaßen und gleichzeitig zum Tragen kommen; im Gegenteil: Indem das Verhältnis von Neid und höfischer Ordnung ausdifferenziert und auf vier unterschiedlichen Ebenen untersucht wird, soll der Blick darauf gerichtet werden, wie diese in den Texten gewichtet und miteinander kombiniert werden. Das Zusammenspiel von relationaler, evaluativer, motivationaler und bewertender Funktion des Neids wird als Mechanismus der ‚Verhandlung‘ höfischer Ordnung begriffen. Dieser maßgeblich von Stephen GREENBLATT geprägte Begriff betont, dass die höfische Ordnung in literarischen Texten nicht einfach repräsentiert, sondern durch das Erzählen von Neid als Idee und Norm mit hervorgebracht wird.97 Um die Besonderheiten insbesondere narrativer Verhandlungen von Ordnung zu beschreiben, werden die für erzählende Texte konstitutiven Ebenen der histoire und des discours in dieser Studie sowohl zusammen als auch getrennt voneinander betrachtet. Zum einen wird untersucht, ob die Emotion ‚Neid‘ auf der Ebene
Vgl. GREENBLATT, Stephen: Towards a Poetics of Culture. In: The New Historicism. Hrsg. von H. Aram VEESER, New York, London 1989, S. 1–14, hier S. 12.
3.5 Untersuchungsschwerpunkt und Vorgehen
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der Handlung eine überwiegend ordnungsgefährdende oder ordnungskonservierende Rolle spielt. Zum anderen wird analysiert, wie Neid als Bewertungs- und Deutungsmuster auf der Ebene des discours den Blick auf Ordnungsthematiken prägt. Dem Erzähler kommt in dieser methodischen Anlage die Rolle des Dirigenten zu. In der Art und Weise, wie er die verschiedenen Funktionsweisen von Neid miteinander verknüpft, entscheidet sich, welche Veränderungen am Hof im Text im Vordergrund stehen, welche als Teil der zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgeschriebenen höfischen Ordnung und welche als Störung derselben verstanden werden.
3.5 Untersuchungsschwerpunkt und Vorgehen Von besonderem Interesse für solche ‚Verhandlungen‘ höfischer Ordnung hat sich die mit Neid verknüpfte Sprachsünde der detractio, der Ehrabschneidung, erwiesen. Dort, wo die Rede des Neiders mit der Erzähler- und Figurenrede über Neid verknüpft wird, können Ordnung und Normüberschreitung gleich zweifach zum Thema werden: Der Behauptung des Neiders, dass der Beneidete die höfischen Regeln missachtet habe, steht der Bericht über die Verstöße des auf diese Weise sprechenden Neiders gegen die religiöse und soziale Ordnung gegenüber. Über die Frage, was die richtige Ordnung darstellt, muss so nicht nur auf Ebene des Erzählerdiskurses, sondern auch auf Handlungebene entschieden werden. Die diskursive Verknüpfung von Neid und Sprechen dient dieser Studie von daher als Leitfaden, an dem sich auch die Textauswahl orientiert: Indem die religiöse Sprachsündendiskussion den Rahmen für die Untersuchung steckt, greift die Arbeit über herkömmliche Periodisierungen wie Hoch- und Spätmittelalter oder höfische Klassik und Nachklassik hinaus. Mit der Crescentia-Legende, Eilharts Tristrant, zwei Erzählungen aus Walter Maps De Nugis Curialium, Gottfrieds Tristan, dem Herzog Ernst B, dem Strickermäre Der junge Ratgeber, Konrads Engelhard und dem Reinfried von Braunschweig umfasst das Korpus Texte von der Mitte des zwölften bis hin zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts, die dadurch miteinander verbunden sind, dass sie alle von verbalen Attacken der Neider gegen die Beneideten erzählen: Der Beneidete wird am Hof u. a. der Zauberei, der ‚Buhlschaft‘ mit Königin oder Königstochter, der fehlenden triuwe gegenüber dem Lehnsherrn und sogar des Mords am Erben der Herrschaft beschuldigt. Die neidischen Verleumdungen sind für die Analyse von Neid umso wichtiger, als der Neider die Emotion in der Regel nicht nach außen zeigt. Wie insbesondere die Bilder der Täuschung und Verben der Heimlichkeit in Hugos Renner nahelegen, wird Neid versteckt, der Emotionsausdruck nicht nur kontrolliert, sondern unter-
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3 Methodische Überlegungen
drückt.98 An dieser Besonderheit orientiert sich die Studie in ihrer Herangehensweise an die Texte. Wurde in der mittelalterlichen Literatur im Anschluss an Gerd ALTHOFFS Analysen des strategischen Einsatzes von Emotionen in politischen Ritualen99 bisher vor allem der körperliche und gestische Emotionsausdruck auf seine kommunikativen und performativen Funktionen hin untersucht,100 rücken nun die auf den Neid im Plot folgenden Handlungen in den Vordergrund. Nicht der Neid und das Zeigen von Neid haben Handlungscharakter, sondern die vom Neid motivierten Ehrabschneidungen, die darauf abzielen, das Neidobjekt (wieder) zu erlangen bzw. den Anderen des Neidobjektes zu berauben. Diese Handlungen sind zwar zeitlich vom Emotionserleben getrennt; da sie sowohl über die emotionale Dynamik mit Neid verbunden sind, als auch als Erkennungsmerkmal des Neides dienen, werden sie hier jedoch als Teil eines im zwölften und dreizehnten Jahrhundert verbreiteten ‚Neid-Narrativs‘ begriffen, das von der Emotion her erzählerisch konzeptionalisiert wird.101 Damit einhergehend weicht die Studie in der Wahl ihres Untersuchungsschwerpunkts von bisherigen literaturwissenschaftlichen Emotionstudien ab: An-
Dementsprechend rücken anstelle von Beschreibungen des Emotionsausdrucks in den Texten die Schwierigkeiten des Dekodierungsprozesses der Emotion in den Vordergrund. Ein erfolgreicher Dekodierungsprozess wird in Gottfrieds Tristan beschrieben, wo der zeichenkundige Protagonist die nur angedeuteten Gebärden des Neiders (GTR 8373) zu deuten weiß. Vgl. hierfür das Kapitel ‚Gruppenneid am Hof‘. Zur Differenzierung von Emotion und Emotionsausdruck in Bezug auf die mittelalterliche Literatur vgl. EMING, Emotion und Expression, S. 36–39. Vgl. z. B. ALTHOFF, Gerd: Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation: In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ im Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan–Dirk MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände XVII), S. 239–252; ALTHOFF, Gerd: Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in mittelalterlicher Öffentlichkeit. In: Ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1996, S. 258–281 sowie ALTHOFF, Gerd: Ira Regis. Prolegomena to a History of Royal Anger. In: Angerʼs Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages. Hrsg. von Barbara ROSENWEIN, London 1998, S. 59–74. So beziehen sich Jutta EMING, Elke KOCH u. Evamaria FREIENHOFER in ihren Studien mit den Begriffen der ‚Inszenierung‘, der ‚Performativität‘ und ‚Verkörperung‘ auf den gestischen und körperlichen Emotionsausdruck und seinen Handlungscharakter. Vgl. EMING, Emotion und Expression, S. 39–42 u. 65–66.; KOCH, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 48–55; FREIENHOFER, Verkörperungen von Herrschaft, S. 10–12. Die Analyse des gestischen und körperlichen Emotionsausdrucks hat sich in Bezug auf die Analyse der sozialen und politischen Funktionen von Emotionen so produktiv erwiesen, dass Ingrid KASTEN anlässlich der Konferenz Machtvolle Gefühle 2010 feststellen konnte: „Der Körper ist zweifellos die zentrale Kategorie der Emotionsforschung.“ Siehe: KASTEN, Ingrid: Einleitung. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Dies., Berlin, New York 2010, S. 1–24, hier S. 20. Ich verstehe ‚Narrativ‘ hier als Kleinstform der Erzählung und definiere diese im Anschluss an BAL, BORDWELL und RICHARDSON als erklärende Verknüpfung mindestens zweier zeitdifferenter
3.5 Untersuchungsschwerpunkt und Vorgehen
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stelle des Körpers steht nun die Figurenrede im Mittelpunkt der Analyse. Es wird besonderes Augenmerk auf Inhalt, Wirkung und Funktionsweise der neidischen Vorwürfe innerhalb der Erzählungen gelegt und ihre Rolle für die Diskussion der höfischen Ordnung zusammen mit der des Neides reflektiert. Um die Bedeutung von Neid für verschiedene Bereiche des sozialen Miteinanders am Hof zu eruieren, werden die vorgestellten Texte nicht in chronologischer Folge oder anhand von Gattungen, sondern entlang von Konfigurationen des Neids geordnet. Darunter verstehe ich in Anlehnung an die Dramentheorie die Verbindung einer bestimmten Figurenkonstellation mit einer ähnlich gelagerten Konfliktstruktur.102 Die Anordnung der Kapitel orientiert sich an den Zusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den einzelnen Konfigurationen. Die ersten Analysen widmen sich der häufigsten und grundlegenden Konstellation von Neid am Hof: dem Neid auf den Günstling. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie der Neider durch eine detractio versucht, die Gunst des Herrschers wiederzuerlangen. Von hier ausgehend werden in den folgenden Kapiteln zwei Varianten dieser Grundkonstellation gezeigt: Das zweite Textanalysekapitel untersucht, wie sich die Dynamik und Semantik der Konfiguration verändern, wenn auf Seiten der Neider nicht nur eine Person, sondern gleich mehrere Angehörige des Hofs den Günstling beneiden. Das dritte Textanalysekapitel geht der Frage nach, welche Funktionen Neid dann übernimmt, wenn auf Seiten der Beneideten neben das vom Herrscher gewährte Gunstverhältnis ein von diesem nicht sanktioniertes Liebesverhältnis zur Königin/Königstochter tritt und sich auf diese Weise das Verhältnis zwischen Neider, Beneidetem und der herrschaftlichen Ordnung weiter verkompliziert. Abgeschlossen werden die Textanalysen durch ein Kapitel, welches die bisher gemachten Beobachtungen zum strategischen Einsatz von Neid im Erzählen von der höfischen Ordnung noch einmal bündelt und zuspitzt.
Ereignisse. Für einen Überblick über verschiedene Definitionen von Narrativ vgl. ABBOTT, H. Porter: The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 22008, S. 13. Gero VON WILPERT definiert ‚Konfiguration‘ im Anschluss an K. POLHEIM als „die Anordnung, das wechselseitige Aufeinanderbezogensein der Einzelteile, etwa der Figuren und ihrer Konflikte im Drama als dichter. Struktur.“ Siehe: VON WILPERT, Gero: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 82001, S. 428.
4 Der Neid auf den Günstling 4.1 Gunst und Günstling in der Geschichtswissenschaft Et quamvis in huiusmodi familiaritate invidia facile subrepat, hanc maxima cautela in plerisque declinabat. Und obwohl sich bei einer derartigen Vertrauensstellung leicht der Neid einschleicht, wußte er ihn doch durch ein Höchstmaß an Vorsicht niederzuhalten.1 A qua hic venerabilis iuvenis Bernwardus benignissime suscipitur, atque in brevi summae familiaritatis locum apud illam obtinuit, adeo ut domnum regem fidei illius literis imbuendum moribusque instituendum consensu cunctorum procerum commendaret. In quo ita excelluit licet quorundam invidia morderetur, ut puer imperialis in discendo mirifice proficeret [...]. Bei ihr fand der junge Geistliche wohlwollende Aufnahme. In kurzer Zeit hatte er ihr höchstes Vertrauen erworben, so sehr, dass die Kaiserin mit Zustimmung aller Großen den Unterricht und die Erziehung des Königs in seine Hände legte. Diese Aufgabe erfüllte er, obwohl er unter dem Neid gewisser Leute zu leiden hatte, so vorzüglich, dass der junge Kaiser erstaunliche Fortschritte im Lernen machte [...].2 Nam tercio Ottoni imperatori affectuosissimo animo pro scire ac posse obsequebatur. Unde et multorum invidiam in se commovebat, qui indignabantur, illum vigilantiori studio rei publicae negocia obire. Dem Kaiser Otto III. diente er in aufrichtiger Liebe nach bestem Wissen und Vermögen. Dadurch zog er sich aber den Neid vieler zu, die es nicht gerne sahen, daß er sich so wachsam der Staatsgeschäfte annahm.3
In dichter Folge berichtet die teils im elften, teils im zwölften Jahrhundert entstandene Vita Bernwardi von mehreren Fällen aggressiven Neids gegen den späteren Bischof. Schafft es Bernward am Hof seines Großvaters, des Pfalzgrafen, dank kluger Vorsichtsmaßnahmen noch, den Neid seiner Konkurrenten in Zaum zu halten, trifft ihn bei seinem weiteren Aufstieg zum Lehrer des Thronfolgers und Berater des Kaisers die Aggression ungemildert. Alle drei Fälle von Neid werden in der Vita als isolierte, miteinander über die Figur des Beneideten hinaus nicht weiter verbundene Ereignisse präsentiert. Dennoch haben sie, wie der Mittelal-
Thangmar: Vita Sancti Bernwardi Episcopi Hildesheimensis, 2. Zit. n. Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts. Übers. und hrsg. von Hatto KALLFELZ, Darmstadt 21973 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 22), S. 265–361, hier S. 278 f. Die Übersetzungen entstammen hier und im Folgenden der Edition. Thangmar: Vita Bernwardi, 2, S. 278 f. Thangmar: Vita Bernwardi, 6, S. 282 f. https://doi.org/10.1515/9783111202105-005
4.1 Gunst und Günstling in der Geschichtswissenschaft
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terhistoriker Gerd ALTHOFF herausgestellt hat, eines gemeinsam: Bernward wird jeweils um die Gunst, d. h. die Vertrauensstellung, beneidet, die ihm von seinem Herrn – sei dieser ein Graf oder ein Kaiser, ein Mann oder eine Frau – gewährt wird. Um dieser für den heutigen Leser ungewohnten Wiederholung derselben Neidkonstellation auf den Grund zu gehen, lohnt ein Blick auf die Machtstrukturen des elften und zwölften Jahrhunderts. Folgt man Gerd ALTHOFF, dann definierte die Nähe zum Herrscher in einer Zeit, in der Herrschaft und Herrschaftsträger noch nicht voneinander getrennt waren, den Rang, den der Adelige oder Ministeriale am Hof einnahm. ALTHOFF führt dies in Bezug auf den Bernward gewährten kaiserlichen Gunsterweis des vertrauten Gespräches aus. Zwar sei der Herrscher dazu verpflichtet gewesen, wichtige Entscheidungen mit seinen Getreuen zu besprechen, jedoch war nicht festgelegt, wer zu diesem Kreis gehörte und somit als Ratgeber fungieren konnte. Bedenke man, dass es nicht üblich war, dem Herrscher ungefragt Wünsche vorzutragen oder öffentlich Ansprüche anzumelden, werde deutlich, welche Rolle der Gunst für die höfischen Hierarchien zukam: Nur, wer das Ohr des Herrschers, den Zugang zum Herrscher hatte, konnte seinen Einfluss politisch geltend machen.4 Die Geschichtswissenschaft hat das Phänomen der Gunst in den letzten Jahren genauer untersucht, um das Funktionieren des vormodernen Hofes zu beschreiben. Dabei erregt vor allem der informelle Charakter der Gunst im Gegensatz zu formalen Formen der Herrschaftsbeteiligung, wie der Verleihung von Ämtern oder der Mitwirkung in höfischen Gremien, ihr Interesse: „Was Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in der Demokratie ist, ist die Nähe des Fürsten in der Monarchie. Das heißt mit anderen Worten, dass diejenigen, die den Zugang zum Fürsten kontrollieren, und seien es die Türhüter, eine informelle Macht ausüben, die ihnen formal nicht zusteht.“5 Ob diese sich mit zunehmender Verschriftlichung höfischer Normen verstärkende Diskrepanz zwischen formeller und informeller Macht auch eine Diskrepanz zwischen einem durch Geburt und einem durch Gunst verliehenen gesellschaftlichen Rang beinhaltet, darüber differieren in der Forschung die Meinungen. Zwar bildet sich laut ALTHOFF im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter die Spielregel aus, dass der Herrscher sich bei der Gunstvergabe an Rang und Amt zu orientieren habe.6 Jedoch gibt es Hinweise darauf, dass diese Regel oft
ALTHOFF, Gerd: Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 259–282, hier S. 276–277. PARAVICINI, Werner: Informelle Strukturen bei Hofe. Eine Einleitung. In: Informelle Strukturen bei Hofe. Dresdener Gespräche III zur Theorie des Hofes. Hrsg. von Reinhardt BUTZ/Jan HIRSCHBIEGEL, Berlin 2009 (Vita curialis 2), S. 1–9, hier S. 4. ALTHOFF, Huld, S. 197.
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4 Der Neid auf den Günstling
genug nicht beachtet wurde.7 Wie Werner PARAVICINI ausführt, funktionierte gerade die irreguläre Gunstvergabe als Herrschaftsinstrument. Indem immer wieder Aufsteiger mit Gunst bedacht wurden, die in ihrer Stellung am Hof vollkommen vom Herrscher abhingen, ermöglichte es die Gunst dem Herrscher, gegenüber (den in Ämtern und Gremien vertretenen) traditionellen Eliten Entscheidungsspielräume zu behaupten oder auszuweiten.8 Was folgt hieraus für das Verhältnis von Neid und Gunst? Zum einen dies: Dadurch, dass der Hof durch die Gunst ganz auf den Herrscher ausgerichtet ist,9 sind Konkurrenzen zu erwarten, die um so stärker werden, je weiter der durch Geburt erworbene Stand und der durch Gunst verliehene Rang auseinanderklaffen. Neid begleitet Gunst nicht nur bisweilen und zufällig, die Emotion ist – wovon das wiederholte gemeinsame Auftreten von Neid und Gunst in der Vita Bernwardi zeugt – in das Funktionieren des Hofes strukturell als Kehrseite der positiven emotionalen Bindung zwischen Herrscher und Begünstigtem10 eingebaut. Die Vergabe von Gunst produziert am Hof immerfort Neid. Tauscht man die geschichtswissenschaftliche gegen eine literaturwissenschaftliche Perspektive ein, so lässt sich die Verknüpfung von Neid und Gunst jedoch noch weitergehend interpretieren. Wie ich im folgenden Kapitel anhand des Herzog Ernst, der Crescentia-Legende und Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi zeigen werde, erklärt die herausgehobene Rolle der Gunst im Personenverbands-
Als Beispiel führt Andreas HIRSCHBIEGEL den Geschenkverkehr unter Karl VI. (1380–1422) an. Wie in den Listen der zum neuen Jahr jeweils vom König Beschenkten deutlich wird, genossen am französischen Hof Adelige Gunstpositionen, die ihnen „nach Ausweis der höfischen Hierarchie eigentlich nicht zustanden.“ Siehe: HIRSCHBIEGEL, Jan: Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings. In: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan HIRSCHBIEGEL/Werner PARAVICINI, Ostfildern 2004 (Residenzenforschung 17), S. 23–39, hier S. 23. Vgl. PARAVICINI, Informelle Strukturen bei Hofe, S. 4. Zur Rolle der Gunst bei der Ausrichtung des Hofes auf den Herrscher vgl die Ausführungen von Aloys WINTERLING, der den Hof anhand seiner interaktiven Muster beschreibt: WINTERLING, ‚Hof‘, S. 80–82. Waren die emotionalen Aspekte mittelalterlicher Gunstbeziehungen lange umstritten, so werden diese in der jüngeren Forschung verstärkt betont: „Gunst beruht vielfach auf persönlicher Freundschaft oder Zuneigung, die unter Umständen auch eine erotische Komponente besitzen kann.“ ASCH, Ronald G.: Schlussbetrachtung. Höfische Gunst und höfische Günstlinge zwischen Mittelalter und Neuzeit. 18 Thesen. In: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan HIRSCHBIEGEL/Werner PARAVICINI, Ostfildern 2004 (Residenzenforschung 17), S. 515–531, hier S. 517. Zur emotionalen Konturierung mittelalterlicher Gunst- und Freundschaftsbeziehungen vgl. auch OSCHEMA, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studium zum Spannungsfeld von Emotion und Institution, Köln u. a. 2006 (Norm und Struktur 26).
4.1 Gunst und Günstling in der Geschichtswissenschaft
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staat nicht nur das gehäufte Vorkommen von Neid am Hof. Vielmehr wirft das Erzählen von der Emotion auch Licht auf die Funktionsmechanismen der Gunst. Weil Neid zugleich integraler Bestandteil und Störfaktor gunstbasierter Herrschaft ist, kann das Erzählen von ihm als Medium der Reflexion über die Gunst (und ihre Problematiken) funktionieren. Dies gilt m. E. für mittelalterliche Texte im Besonderen, da sowohl im Lateinischen als auch im Mittelhochdeutschen keine eigens für den Begünstigten reservierten Termini existieren.11 Gunst ist so vor allem anhand der für sie überlieferten Symptome wie der Beschreibung freundschaftlicher Emotionen oder freundschaftlicher Gesten, wie der Gabe von Geschenken, erkennbar,12 deren Bedeutung für die Rangfolge am Hof über den auf Hierarchien abstellenden Neid mitkonstruiert und thematisiert wird. Damit ist das, was dabei hilft, die Gunst überhaupt erst sichtbar zu machen, zugleich das, was diese problematisiert. Als Kehrseite der positiv besetzten emotionalen Huldbindung13 zwischen Herrscher und Begünstigtem rückt die negative Emotion ‚Neid‘ in den Erzählungen vor allem die Spannungen, die die Gunstvergabe am Hof erzeugt, in den Fokus. Indem Neid die Figuren dazu anleitet, gegen die Vergabe vorzugehen, wird die Gunstbeziehung auf der Ebene der Handlung herausgefordert. Im Folgenden wird untersucht, in welcher Weise dieses reflexive Potential des Neids in den Narrationen genutzt wird. Was wird über die Gunst ausgesagt, wenn vom Neid auf diese erzählt wird? Um Antworten hierauf zu erhalten, soll der Neid auf die Gunst dort fokussiert werden, wo er zusammen mit der Vertrautheit zum Herrscher seine größte Zuspitzung erreicht: am Beispiel des Neids auf den Günst-
Laut Sebastian ZANKE ist der Günstling „kaum greifbar, zumindest nicht im Versuch, ihn als Phänomen präziser zu fassen und auszudifferenzieren. Die Zeitgenossen wussten recht genau, wer in der Gunst des Herrschers stand und vor allem wer nicht, doch benennen wollten sie diese zunächst nicht – den Quellen fehlt der Begriff von der Sache.“ Siehe: ZANKE, Sebastian: Drama! Favoriten in Zeiten der Krise. Beitrag zur Artikelreihe Aufstieg und Fall an den europäischen Höfen des Mittelalters. https://mittelalter.hypotheses.org/6342 [31. Januar 2023]. Vgl. zu diesem Problem der Sichtbarkeit auch: OSCHEMA, Klaus: Freund und Favorit. Begriffliche Reflexionen zu zwei Bindungstypen an spätmittelalterlichen Höfen [2015]. mittelalter.hypotheses.org/6130 [31. Januar 2023]. Vgl. HIRSCHBIEGEL, Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings, S. 37. Gunst wird zumeist über die Betonung des Vertrauensverhältnisses ausgedrückt. So findet sich im Lateinischen neben lat. gratia häufig der Terminus familiaritas für die Gunst und der des familiaris für den Günstling. Auch in den volkssprachlichen Texten wird Gunst meist über sowohl spezifisch als auch allgemein verwendbare Termini der Vertrautheit und Freundschaft wie hulde (Geneigtheit, Wohlwollen) beschrieben.Vgl. ALTHOFF, Huld, S. 261–263. Ich verwende den Begriff der ‚Huld‘ im Anschluss an Gerd ALTHOFF für die wechselseitige Bindung zwischen Herrscher und Gefolgsmann. Vgl. ALTHOFF, Huld, S. 216 f. Hingegen beziehe ich den Begriff der ‚Gunst‘ nur auf die dem Favoriten gewährten Vorzüge.
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ling,14 der „eine persönliche und tendenziell exklusive Gunst des Herrschers“ genießt15 und so den Zugang zum Herrscher „monopolisiert“.16 Mit diesem Zugriff soll zugleich der Blick auf die Rolle von Neid innerhalb der Bewertungs- und Deutungsprozesse von Gunst gelenkt werden. Als Figur, die dem Herrscher auf ungewöhnliche Weise nahe kommt, changiert die Bewertung des Günstlings historisch zwischen „normgemäßer Figur des Vertrauten und Freundes“17 und „normbrechender Einzelfigur“.18 Einerseits verkörpert er – wie auch die Vergabe der Gunst selbst sichtbar macht – in den Augen seiner Zeitgenossen die Normen des Hofes in besonderem Maße.19 Andererseits tritt der Günstling in Fürstenspiegeln, Hofkritik und Historiographie ab dem Spätmittelalter in der Rolle des Schmeichlers auf.20 Seine Funktion als secundus a rege wird dahingehend ausgelegt, dass der Günstling als böser Ratgeber den Herrscher korrumpiere oder sogar versuche, diesen in den Schatten zu stellen und zu verdrängen.21 Nicht zuletzt wird der Nähe des Günstlings zum Herrscher und zu dessen Familie eine erotisch-sexuelle Dimension zugesprochen, die dessen Be-
Der Begriff des ‚Günstlings‘ wird hier äquivalent zu dem des ‚Favoriten‘ und wertneutral verwendet. ASCH, Ronald G.: „Lumine Solis“. Der Favorit und die politische Kultur des Hofes in Westeuropa. In: Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und ihre Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Michael KAISER/Andreas PEČAR, Berlin 2003 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 32), S. 21–38, hier S. 24. KRÜGER, Freundschaft in der höfischen Epik um 1200, S. 291. PARAVICINI, Werner: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. In: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan HIRSCHBIEGEL/Werner PARAVICINI, Ostfildern 2004 (Residenzenforschung 17), S. 13–20, hier S. 17. Ebenda. ASCH, Schlussbetrachtung, S. 520. Vgl. HIRSCHBIEGEL, Zur theoretischen Konstruktion der Figur des Günstlings, S. 30. Nachdem schon im zwölften Jahrhundert – so zum Beispiel im Policraticus – eindringlich vor den Schmeichlern am Hof gewarnt wurde, erlebte die Debatte um die Unterscheidung von Freund und Schmeichler ab dem späten vierzehnten Jahrhundert angesichts mehrfacher spektakulärer Aufstiege, „denen meist ein ebenso spektakulärer Fall de[s] höfischen Karrieristen folgte“, in Frankreich eine regelrechte Konjunktur. Siehe: OSCHEMA, Klaus: Riskantes Vertrauen. Zur Unterscheidung von Freund und Schmeichler im späten Mittelalter. In: Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Hrsg. von Gerhard KRIEGER, Berlin 2009 (Akten des Mediävistenverbandes 12), S. 511–529. Vgl. ASCH, Schlussbetrachtung, S. 526–527. Beispiele für solche Usurpationsversuche finden sich in den Studien Alois WINTERLINGs und Brigitte STREICHs. Vgl. WINTERLING, ‚Hof‘, S. 85–86 und STREICH, Brigitte: „... uf das des marschalks ... schrift und beger nicht veracht werden dorfft ...“. Der ‚Fall‘ des Obermarschalls Hugold von Schleinitz († 1490). In: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan HIRSCHBIEGEL/Werner PARAVICINI, Ostfildern 2004 (Residenzenforschung 17), S. 329–364.
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ziehung zum Herrscherhaus angreifbar macht.22 Die Negativbewertungen erweisen sich als so stark, dass der im fünfzehnten Jahrhundert neu gebildete Begriff des mignon, aber auch der des favori sowie dessen deutsche Übersetzung selbst schon negative Konnotationen mit sich bringen.23 Für die Geschichtswissenschaft stellt der Günstling aufgrund dieser schillernden Beschreibungen eine der am schwierigsten zu fassenden Figuren am Hof dar. In der Figur des Günstlings verbindet sich die dem Phänomen Gunst eigene Ambivalenz mit dem Problem der Perspektivität ihrer Bewertung. Gunst und Günstling lassen sich insofern als ‚Kippfigur‘24 begreifen, als die Nähe zum Herrscher zwar auf die Freundschaft zwischen beiden hinweist, letzterem jedoch, da die Gunst den Günstling sowohl auf hierarchischer als auch auf intimer Ebene an den Herrscher heranrückt, auch gefährlich werden kann. Dieses der Gunst selbst innewohnende Kippmoment wird in einem zweiten Schritt überformt von den intensiven Deutungs- und Bewertungstätigkeiten Außenstehender, die die Kritik am Günstling dazu nutzen, ihren eigenen Status zu erhöhen, Aufsteiger zu diskreditieren25 oder aber auch die Politik des Herrschers mittelbar anhand seines Stellvertreters zu problematisieren.26 Wie Klaus OSCHEMA betont, können in den Textzeugnissen daher begründete und fingierte Vorwürfe gegen den Günstling nicht scharf voneinander getrennt werden. Je nach Dauerhaftigkeit seines Positionierungserfolgs und in Abhängigkeit von der Außenperspektive wird der Vertraute des Herrschers positiv oder negativ gezeichnet: „Nicht die Bindung unterscheidet Favoriten und Freunde, sondern ihre Wahrnehmung und Beschreibung durch andere.“27
Ausgangspunkt dieser Vorwürfe, die durch die „Sprache emotionaler Ergebenheit, die zwischen Favorit und Herrscher oder Herrscherin kultiviert wurde“ befördert wurden, bildete stets der privilegierte Zugang, den der Günstling zum Herrscher und seiner Familie genoss. Siehe: ASCH, Schlussbetrachtung, S. 527 f. Diese Nähe wurde zum einen als Homosexualität diskreditiert, häufig wurde dem Günstling – so geschehen dem als Musterritter gerühmten Guillaume le Maréchal – aber auch ein Liebesverhältnis mit der Herrscherin unterstellt. Vgl. LʼHistoire de Guillaume le Maréchal, Comte de Striguil et de Pembroke, Régent D’ Angleterre de 1216 à 1219. Hrsg. von Paul MEYER, Bd. 3, Paris 1901, hier S. 66 f. Vgl. OSCHEMA, Freund und Favorit. Vgl. zum Begriff der ‚Kippfigur‘: ISER, Wolfgang: Das Komische. Ein Kipp–Phänomen. In: Das Komische. Hrsg. von Wolfgang PREISENDANZ/Rainer WARNING, München 1976, S. 398–402, hier S: 400. Vgl. ASCH, Schlussbetrachtung, S. 528 f. sowie MORAW, Peter: König Wenzels (1378–1419) Hof, eine Günstingswirtschaft? In: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Hrsg. von Jan HIRSCHBIEGEL/Werner PARAVICINI, Ostfildern 2004 (Residenzenforschung 17), S. 163–175, hier S. 171. Vgl. ZANKE, Drama! Favoriten in Zeiten der Krise. OSCHEMA, Freund und Favorit. Von hier ausgehend liest OSCHEMA dann auch die von den Zeitgenossen für den Gunstempfänger gebrauchten Begrifflichkeiten: „Empfinden diese eine Bezie-
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Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Verbindung von Neid mit den Bewertungsprozessen der Gunst präzisieren: Während die wertende Perspektive auf den Günstling in vielen der historischen Quellen nur implizit deutlich wird und von der Geschichtswissenschaft mühsam rekonstruiert werden muss,28 rückt das Erzählen von Neid die Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse der Gunst gezielt in den Fokus: Die Emotion des Dritten ist ursächlich dafür, dass der Günstling am Hof kritisiert wird und ins Zwielicht gerät. Was aber bedeutet das für die Bewertung der Günstlingsfigur? Ignorieren die literarischen Erzählungen die zeitgenössische Kritik am Günstling oder stellen sie sich ihr entgegen? Dieser Frage wird in Form von Close Readings nachgegangen. Auf diese Weise sollen nicht nur unterschiedliche Verbindungen von Neid und Gunst vorgestellt werden. Im Vergleich mit dem referierten Forschungsstand der Geschichtswissenschaft lässt sich das Potential des Erzählens von Neid für die Analyse mittelalterlicher Vorstellungen von Gunst und vom Günstling ausloten.
hung als standesgemäß und legitim, so tendieren sie dazu, sie als Freundschaft oder Vertrautheit zu fassen und damit positiv zu deuten. Soll sie dagegen als problematisch dargestellt werden, dann liegt der Griff zur Bilderwelt des Favoriten, mignon oder Günstlings nahe, denn schon die Begriffe drücken Disqualifizierung aus (zumindest ab der Zeit, in der sie zur Verfügung stehen).“ Siehe: Ebenda. So fordert Klaus OSCHEMA dazu auf, die in der Geschichtswissenschaft übliche Trennung von ‚Freund‘ und ‚Favorit‘ angesichts der ihnen eingeschriebenen Perspektivität zu überdenken. Indem sich die Geschichtswissenschaft – wie zum Beispiel im Fall des Sammelbands Der Fall des Günstlings geschehen – weiterhin an dieser Unterscheidung orientiere, würden die Urteile der mittelalterlichen Zeitgenossen fortgeschrieben: „Schon im Mittelalter machten die Umstehenden mit ihren Einschätzungen die betreffenden Personen zu Freunden oder Favoriten – und heutige Historiker laufen Gefahr, dasselbe zu tun, wenn sie eine Person der adäquaten Kategorie zuzuweisen versuchen.“ Siehe: OSCHEMA, Freund und Favorit.
4.2 Herzog Ernst B – Problematisierung der Gunst im Personenverbandsstaat
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4.2 Herzog Ernst B – Problematisierung der Gunst im Personenverbandsstaat Eine der eindrucksvollsten Inszenierungen des Aufstiegs eines Günstlings findet sich im Herzog Ernst B.29 Die wahrscheinlich Ende des zwölften Jahrhunderts entstandene Fassung der Herzog-Ernst-Dichtung30 schildert die Vergabe von Gunst an den bayerischen Herzog so detailliert, dass der Text als Vorbild für andere Beschreibungen dieses Handlungsmusters hätte dienen können:31 Nach der Hochzeit des Kaisers mit Ernsts verwitweter Mutter Adelheid wird Ernst von Otto an den Hof berufen. Er wird mit Lehen bedacht (HEb 586 f.), ihm werden reiche Geschenke (Heb 602–604) gemacht und die Gunst auf sein Gefolge ausgedehnt (HEb 603). Die neuerworbene Nähe zum Kaiser wirkt sich nicht zuletzt für alle sichtbar auf seinen Rang im Reich aus: Der König lässt Ernst nicht nur regelmäßig in den Rat der Fürsten kommen. Er wird zum bevorzugten Ratgeber des Herrschers (HEb 632–534), sodass die Forschung bisweilen von einer „Art ‚Mitregentschaft‘ Ernsts“ gesprochen hat.32 Wird die Zusammenarbeit zwischen Herrscher und Vasall anfangs als Stabilitätsfaktor für das Reich (HEb 637–639) charakterisiert, so wird der Frieden wenige Jahre nach der Hochzeit Ottos mit Adelheid in Folge eben jenes Gunstverhältnisses gestört. Ottos neve, der Pfalzgraf Heinrich, neidet Ernst den Aufstieg in Ottos Gunst.
Der Herzog Ernst B wird der Chansons-de-Geste-Tradition zugerechnet. Vgl. KASTEN, Ingrid: Emotionalität und der Prozeß männlicher Sozialisation. Auf den Spuren der Psycho–Logik eines mittelalterlichen Textes. In: Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Ingrid KASTEN/Gesa STEDMAN/Margarete ZIMMERMANN, Stuttgart u. a. 2002 (Querelles Jahrbuch für Frauenforschung), S. 52–71, hier S. 54. Alternativ wurde der Herzog Ernst B als „Versuch eines politisch–historischen Romans“ bzw. als „Staatsroman“ gedeutet. Siehe: WEHRLI, Max: Herzog Ernst. In: DU 20, 2 (1968), S. 31–42, hier S. 42 u. SIMON-PELANDA, Hans: Schein, Realität und Utopie. Untersuchungen zur Einheit eines Staatsromans (Herzog Ernst B), Frankfurt a. M. u. a. 1984 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 8), S. 178. Zitiert wird der Herzog Ernst B nach der Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl BARTSCH mit den Bruchstücken der Fassung A. Hrsg., übers., mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard SOWINSKI, Stuttgart 21979. Auf den Herzog Ernst B wird im Folgenden mit der Sigle ‚HEb‘ verwiesen. „Die schulbuchartige Huld-Vergabe von Kaiser Otto an Herzog Ernst in der Redaktion B hätte geradezu als Quellentext zur Erarbeitung dieses Beschreibungsmusters dienen können [...].“ Siehe: EBEL, Kai–Peter: Huld im ‚Herzog Ernst B‘. Friedliche Konfliktbewältigung in der Reichslegende. In: Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 187–212, hier S. 190. MEVES, Uwe: Studien zu ‚König Rother‘, ‚Herzog Ernst‘ und ‚Grauer Rock‘ (Orendel), Frankfurt a. M. 1976 (Europäische Hochschulschriften: Reihe I, Deutsche Literatur und Germanistik 181), S. 152.
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Er verleumdet Ernst gegenüber Otto als Usurpator und weckt so den Zorn des Kaisers auf seinen Favoriten. Nachdem Otto Ernsts bayrisches Herzogtum hat angreifen lassen und alle Vermittlungsversuche gescheitert sind, dringt Ernst nun seinerseits in die kaiserliche Kemenate ein und tötet den Pfalzgrafen. Der Herrscher entkommt dem Mordanschlag nur knapp und verfolgt Ernst mit Hilfe der Fürsten mit noch größerer Härte, sodass dieser schließlich aus dem Reich fliehen muss. Die folgende Orientfahrt des gefallenen Günstlings invertiert und reflektiert das Geschehen im Reich im Raum des Fremden, bevor Ernst im Rahmen einer deditio am Ende die Huld des Kaisers wiederlangt.33 In der bislang differenziertesten Gesamtdeutung des Herzog Ernst B wird Heinrichs Neid auf die Gunst vor allem im Hinblick auf die Funktionen, die er innerhalb der narrativen Konstruktion übernimmt, beschrieben. Laut Markus STOCK initiiert der neidische Heinrich mit seiner Intrige nicht nur den zentralen Konflikt zwischen dem Kaiser und seinem Vasallen, er funktioniert in der Narration auch als „Sündenbock“ für denselben. Indem seine Intrige als Auslöser des Konfliktes und diese als vom Teufel eingegeben präsentiert werde, werde die Schuld für den Huldkonflikt außerhalb der Hauptfiguren verortet. Stellvertretend für Ernst besetze nun der neidische Heinrich die Position der untriuwe in den feudalen Bindungen.34 Warum dieser narrative Mechanismus so wichtig für STOCKs Interpretation ist, zeigt dessen Lektüre des lügnerischen maere Heinrichs. STOCK setzt dieses explizit in Bezug zu Ernsts Angriff auf Heinrich und den Kaiser. „Der gescheiterte Mordversuch am Kaiser und der gelungene Mord am Pfalzgrafen Heinrich macht Ernst zu dem, als den ihn der Ermordete verleumdet hat“,35 stellt Stock fest und bekräftigt wenig später: „Das macht Ernst des versuchten Königsmords schuldig und bestätigt damit, wie bereits gesagt, im nachhinein die Verleumdungen Heinrichs.“36 Dadurch, dass Heinrichs Neid für ihn den feudalen Konflikt motiviert und den Protagonisten entlastet, kann STOCK das maere zugleich als Lüge lesen und die darin referierte Bedrohung dennoch als den Punkt, auf den die Handlung zusteuert, ausmachen: Der feudale Konflikt im Herzog Ernst B stellt sich für STOCK als strukturelle Konkurrenz eines gleichermaßen idealen Herrschers und Partikularfürsten dar.37
Vgl. zur Beziehung zwischen dem Reichsteil und dem Orientteil des Herzog Ernst B: STOCK, Markus: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst‘ und im ‚König Rother‘, Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 123), S. 149–303. Ebenda, S. 182. Ebenda, S. 181. Ebenda, S. 183–184. Ebenda, S. 183.
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Die narratologische Analyse der Figur deckt ihre Bedeutung für die Gunstund Huldkonflikte am Hof jedoch nicht ganz ab. Da Heinrichs Funktion auf die Rolle des Sündenbocks für die eigentlichen Konfliktparteien reduziert wird, rückt bei STOCK in den Hintergrund, dass Heinrichs Neid aufs Engste mit den für den Personenverbandsstaat zentralen Huld- und Gunstbindungen verknüpft ist und das Erzählen von der Emotion auf diese Weise einen eigenen Beitrag zur Diskussion der personalen Bindungen leistet. Früh hat die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung auf den politischen Charakter der Emotionen im Herzog Ernst hingewiesen. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Herzog Ernst B Emotionen von einem Moment zum anderen umschlagen, konstatiert Ingrid KASTEN für den im Reich spielenden ersten Teil, dass Emotionen als „Manövriermasse der Politik in einem sich stets verändernden Machtgefüge“ inszeniert werden.38 Emotionen und ihre Zurschaustellung funktionieren als Mittel, Machteinbußen wieder auszugleichen, sie dienen dazu – wie Thorsten W. MARTINIs 2009 erschienene Studie über Zorn bestätigt – „hierarchische Positionen zu gewinnen wie zu verteidigen“.39 Ähnliches lässt sich auch vom Neid auf die Gunst sagen. In seiner Studie zur Huld im Herzog Ernst B arbeitet Kai-Peter EBEL heraus, dass Heinrichs Neid nicht nur aus Veränderungen in der Rangordnung der Vasallen hervorgeht, sondern diese auch selbst beeinflussen will. Heinrich beabsichtigt mit seinen Handlungen, die Gunst des Herrschers für sich zu gewinnen und attackiert daher gezielt die Huldbindung zwischen Herrscher und Favorit.40 Ich möchte diese Analyse der sozialen und politischen Dimension von Neid im Folgenden vertiefen und fortführen, um sie abschließend mit der STOCKS zu vergleichen. Indem nacheinander verschiedene Verbindungen von Neid mit Huld und Gunst in den Blick genommen werden41 soll zum einen geklärt werden, wie das Erzählen von der Emotion konkret zur Verhandlung der personalen Beziehungen im Personenverbandsstaat
KASTEN, Emotionalität und der Prozeß männlicher Sozialisation, S. 57. MARTINI, Thorsten W. D.: Facetten literarischer Zorndarstellungen. Analysen ausgewählter Texte der mittelalterlichen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der Gattungsfrage, Heidelberg 2009, S. 160. Vgl. EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst Bʻ, S. 192 f. Vgl. zu diesen Verbindungen die Ausführungen zu den sozialen Funktionen von Neid im Methodenkapitel 3.4.
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beiträgt. Zum anderen soll in dieser ersten Textanalyse über die Konquenzen des methodischen Zugriffs auf Neid nachgedacht werden: Inwiefern verändert sich die Deutung des zentralen politischen Konflikts, wenn Heinrichs Neid nicht mehr nur – wie so häufig in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu dieser Emotion42 – als narrative Funktion, als Motivation und Stellvertretung, sondern als Teil des Huldkonflikts gelesen wird?
4.2.1 Der neidische Zorn Heinrichs als (un-)soziale Emotion Das Band zwischen Herrscher und Günstling wird im Herzog Ernst B als so fest geknüpft geschildert, dass dessen Riss zunächst unmöglich erscheint. Otto erweist Ernst Huld, umgekehrt ist Ernst Otto holt: des wart im ouch der werde degen/ holt ze manigen jâren/ diu si bî ein ander wâren,/ daz sie nie wurden gescheiden (HEb 642–645). Damit die Handlung in Gang gesetzt werden kann, muss der störende Einfluss also von außen kommen. Gerade die Idealität des gegenseitigen Huldverhältnisses, seine Beständigkeit, ist es, die einen Dritten gegen dieses einnimmt und handeln lässt: daz begunde leiden/ einem Heinrîche/ der vil mortlîche/ die friuntschaft under in geschiet (HEb 646–649). Die Emotionen Heinrichs werden durch diese Einführung als unsoziale Emotionen gezeichnet, die discordia stiften und dabei gesellschaftliche Regeln (vil mortlîche) missachten.43 Nicht von ungefähr wird an dieser Stelle der christliche Diskurs im Text aufgerufen. Der Erzähler führt den Angriff Heinrichs gegen die friuntschaft auf den irreleitenden Rat des Teufels zurück (HEb 650 f.), sodass die durch Heinrich entstandene Zwietracht als Werk des Teufels, des großen Unfriedenstifters unter den Menschen, und Heinrich als dessen Instrument erscheint. Schon die nächsten Verse differenzieren jedoch die Beschreibung von Heinrichs Leiden. Mittels einer Analepse und interner Fokalisierung ermöglicht der Erzähler dem Rezipienten, die Entstehung der zerstörerischen Intrige im Detail nachzuvollziehen. Der Hörer/Leser erfährt nicht nur, was Heinrich aus Hass plant, er erfährt auch, warum er leit und zorn angesichts der Huld zwischen Ernst und dem Kaiser empfindet. Derart leistet die Darstellung der Emotionen Heinrichs mehr, als nur das Unwahrscheinliche zu erklären, den Bruch zwischen Herrscher
Vgl. den Forschungsüberblick im Kapitel 3.2. Heinrichs Leid stiftet eine Zwietracht, deren Ausmaße – wie der weitere Verlauf der Handlung zeigen wird – weit über das persönliche Zerwürfnis zwischen dem Kaiser und seinem Günstling hinausgehen. Stellt sich Ernst als Ratgeber des Kaisers in dessen und des Reiches Dienst, wird durch den Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Herzog von Bayern der Frieden zerstört und das Reich über mehr als fünf Jahre in Krieg verwickelt (HEb 1724).
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und Favorit zu motivieren. Durch die einen Blick auf die Gründe für Heinrichs leit freigebende interne Fokalisierung wird für den Rezipienten sichtbar, was bisher außerhalb des Erzählfokus lag. – Die Huld zwischen Heinrich und dem Kaiser hat Auswirkungen auf Andere, sie funktioniert als Exklusionsmechanismus, bei dem alle, die vor Ernst die Gunst innehatten, außen vor bleiben. Andeutungen auf diesen Verdrängungsprozess finden sich schon in der auf Ernst fokussierten Aufstiegsnarration des Erzählers. Hier heißt es von Ernsts Ratgebertätigkeit für den König: sîn name stuont in allen obe/ die ze manigen jâren/ des keisers rât wâren (HEb 632– 634). In der Analepse wird das, was vorher beiläufig erzählt wurde, nun aus Sicht eines der Ratgeber als Problem reformuliert. Er intrigiert gegen Ernst, wan man in ze hove niht vernam/ sô wol alse dô vorn (HEb 666 f.). Sein leid und zorn sind Folge einer Reorganisation der höfischen Hierarchien und in ihrem Negativbezug auf die größere Gunst Heinrichs für diejenigen, die mit den zeitgenössischen Diskursen über die invidia vertraut sind, leicht als Neid erkennbar. Anders als heute wird Neid damit als Verlustemotion konzeptionalisiert. Dies hat Folgen für das Verständnis des Neids. Heinrichs Aggression wird nicht mehr monokausal dem äußeren Einwirken des Teufels zugeschrieben. Sein Entstehen verweist auch darauf zurück, dass die Verleihung der Gunst an Ernst sich mit der bisherigen Praxis der Gunstvergabe im Reich reibt. Die widerstreitenden Ansprüche auf die Gunst des Herrschers treten im Herzog Ernst B umso stärker hervor, als das Aufbegehren Heinrichs gegen die neue Rangordnung am Hof auch eine familiäre Komponente hat. Blickt man zurück, dann verwirklicht sich in Heinrichs leid und zorn eine Drohung, welche die Eheschließung des Kaisers und der Herzogin von Bayern von Beginn an begleitet: Der keiser und diu künigin wârn in der minne under in, sie hâten freude âne nît dar nâch mit êren lange zît daz in dehein ungemach von ir vetern nie geschach an keiner slahte dingen. (HEb 545–551)
Indem der Erzähler die Feindschaft Dritter gegenüber Adelheid und Otto explizit verneint, wird nicht nur die anfängliche Sorglosigkeit der Bindung herausgestellt. Die Verse enthalten zugleich eine präzise Angabe, um wen es sich bei den Missgünstigen handeln könnte. Auch im Rahmen der Huldvergabe an Ernst lässt der Erzähler die Gruppe der Verwandten nicht aus den Augen. Schließen sie sich hier noch den kaiserlichen Hulderweisen an und tragen dazu bei, dass Ernsts Ansehen am Hof weiter steigt (HEb 614 f.), enthüllt die Analepse, dass das Einvernehmen zwischen dem Kaiser, seinen Verwandten und Ernst brüchig ist. Die bei der Hei-
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rat verneinte Aggression der vetern wird nun zumindest in einem Fall Realität: Mit Ernst attackiert des keisers neve (HEb 652) denjenigen, der vom Kaiser nach der Heirat mit seiner Mutter als Ausdruck besonderer Huld als sun bezeichnet und behandelt wird (HEb 584 f.).44 Zwischen den Zeilen entfaltet sich so eine Konkurrenzgeschichte zwischen alter und neuer, genealogisch verbürgter und über Heirat konstruierter Verwandtschaft.45 Stellt die als Vater-Sohn-Verhältnis konzipierte Günstlingsrelation insofern das Ideal des Textes dar, als sie sowohl die Lücke des Vaters im Falle Ernsts als auch die Leerstelle des Sohnes im Falle Ottos ‚heilt‘,46 so machen der Zorn und das Leid des kaiserlichen Neffen die Brüche im Verwandtschaftssystem sichtbar, die durch die Neuverheiratung des Kaisers und die Integration neuer Mitglieder in den innersten Kreis der Herrscherfamilie entstanden sind. Die in der internen Fokalisierung aufscheinende Verlustgeschichte entwirft so ein komplexeres Bild der Soziabilität des Zorns und Leids Heinrichs, als die im religiösen Diskurs verhaftete Verurteilung Heinrichs durch den Erzähler zunächst erwarten lässt. Sind Heinrichs Handlungen unsozial, insoweit sie sich gegen die für das Wohlergehen des Reiches zentrale Huldbeziehung zwischen dem Kaiser und Ernst richten, so erfüllen sie auf der dem Reich untergeordneten Ebene der Graf Ob es sich bei der Anrede als sun um einen Ausdruck besonderer Huld des Kaisers gegenüber dem Sohn seiner Frau oder um eine förmliche Adoption handelt, ist im Text schwer auszumachen. Zur Abgrenzung der Adoption von der an das Konzept der geistlichen Verwandtschaft angelehnten Patenschaft im Mittelalter vgl. JUSSEN, Bernhard: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des Max-Planck–Instituts für Geschichte 98), S. 16–20. Die familiäre Komponente des Konfliktes hat in der jüngeren Forschung mehrfach psychoanalytische Interpretationen des Herzog Ernst B angeregt. So hat Ingrid KASTEN 2002 eine Interpretation vorgelegt, in der sie den Konflikt zwischen Ernst und dem Kaiser als ödipalen Konflikt liest und in den Rahmen der Sozialisations- und Identitätskonstitution des Helden einordnet. Hans-Jürgen SCHEUER hat 2007 untersucht, inwiefern der im Text verdeckte Vater-Sohn-Konflikt trotz fehlender moderner Bewusstseinsprozesse mit Hilfe des Freudschen Konzepts der ‚Verneinung‘ beschrieben werden könne. Vgl. KASTEN, Emotionalität und der Prozeß männlicher Sozialisation; SCHEUER, Hans-Jürgen: Vatermord in der Kemenate. Freuds ‚Verneinung‘ und die Arbeit an den inneren Bildern im Spiegel des vormodernen Erzählens (‚Herzog Ernst‘). In: Erinnern und Entdecken. Zur Aktualität Sigmund Freuds. Hrsg. von Wolfgang HEGENER u. a., Gießen 2007, S. 93–121. Heinrich setzt sich auch in der von ihm aufgrund seines Neides initiierten Intrige als Teil der kaiserlichen Familie in Szene. Er beglaubigt seine Treue, seine Sorgen um das Wohlergehen des Herrschers u. a. damit, dass er als Angehöriger Ottos im Falle eines Angriff Ernsts zusammen mit dem Kaiser vertrieben würde (HEb 709–711). Vgl. BAISCH, Martin: Anerkennung und Vertrauen. Günstlingsdiskurse in der Vormoderne. In: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext. Hrsg. von Ingrid KASTEN/Laura AUTERI, Berlin, Boston 2017, S. 145–160, hier insbesondere S. 153–156.
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schaft dennoch soziale Funktionen. Das Leiden unter dem Verlust der Gunst wird am Hof als kollektives Leiden Heinrichs und seiner familia beschrieben (HEb 668 f.), sodass Heinrich auch als Herr derjenigen handelt, die mit ihm gemeinsam von der Degradierung betroffen sind. Trotz der eindeutigen Sympathieverteilung macht der Erzähler des Herzog Ernst B so die politische Dimension der Handlungen Heinrichs im Personenverbandsstaat sichtbar. Wie Thorsten MARTINI hervorhebt, ist die Aggression Heinrichs „Instrument der Machtbewahrung und Positionsverteidigung“.47 Als solche ist sie – wie das für Neid verwandte Emotionsvokabular zeigt – zunächst einmal Teil des den Text durchziehenden Diskurses über den Zorn. Wie auch im Falle von Ottos Herrscherzorn und Ernsts Vergeltungsbedürfnis werden über die Emotion hierarchische Positionen im Personenverbandsstaat behauptet. Zugleich unterscheidet sich Heinrichs Zorn jedoch von anderen Formen des Zorns im Text dadurch, dass er als ungefüeg[er] haz (HEb 723) charakterisiert und so klar außerhalb der gesellschaftlichen Normen verortet wird. Warum ihn der Erzähler an dieser Stelle trotzdem nicht eindeutig als Neid benennt, soll das nächste Kapitel klären.
4.2.2 Das neidische Sprechen und die Erkennbarkeit der triuwe In einem 2015 veröffentlichten Überblicksartikel zur Emotionsforschung in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik beleuchtet Elke KOCH unter anderem die Frage, wie in der Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten der Eindruck eines Gefühlsempfindens der Figuren erzeugt wird. Sie betont, dass die Emotionszuschreibung an Figuren nicht allein von der Vergabe expliziter Textinformationen abhänge, sondern auch von der „Maßgabe kultureller Voraussetzungen“, die auf die Produktion der Erzählung einwirken und diese an den Horizont des Rezipienten zurückbinden.48 Zu diesem jeweils kulturspezifischen „emotions- und personenbezogenen Weltwissen“, das in Erzähltexten produktiv gemacht wird, gehören ihr zufolge insbesondere Kenntnisse darüber, wie Emotionen zum Ausdruck kommen oder mitgeteilt werden.49 Im Herzog Ernst B geht dieses Wissen nicht nur implizit in die Figurengestaltung ein, es wird durch die Art und Weise der narrativen Emotionsdarstellung regelrecht ausgestellt. Zwar werden Heinrichs Leid und Zorn angesichts seines Abstiegs am Hof im Erzählerdiskurs genau beschrieben. In Abweichung von der
MARTINI, Facetten literarischer Zorndarstellungen, S. 141. KOCH, Emotionsforschung, S. 81. Ebenda, S. 82.
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Fassung A des Herzog Ernst identifiziert jedoch nicht der Erzähler, sondern eine Figur der erzählten Welt den Neid,50 sodass der Augenblick und die Gründe für das Erkennen der Emotion für den Rezipienten sichtbar werden: Als Heinrich an der triuwe des Favoriten des Königs zweifelt, weist Otto die Anschuldigungen zunächst mit den Worten zurück: ez ist durch nît ûf in geleit/ und durch vil ungefüegen haz (HEb 722 f.). Otto bringt die Emotion des nit folglich als Motivation einer Handlung ins Spiel. In seiner Reaktion auf Heinrichs Anklage zeigt sich ein präzises Wissen darüber, dass Neid eine spezifische Form des aggressiven, herabsetzenden Sprechens hervorruft. Anders gesagt: Heinrich bzw. derjenige, für den er vorgeblich als Vermittler auftritt, wird für Otto durch die Art und Weise, wie er von jemandem spricht, der alle Qualitäten eines Vasallen in Perfektion besitzt, als Neider erkennbar. Tatsächlich weist Heinrichs Art der Argumentation im Gespräch mit dem Herrscher bei genauerer Betrachtung einige Besonderheiten auf. Seine Rede lässt sich als Kombination zweier unterschiedlicher Sprechakte beschreiben: Sie funktioniert zum einen als auf die Beziehung zwischen Ernst und dem Kaiser zielende Anklage und zum anderen als auf die Beziehung zwischen Ernst und Heinrich bezogener Vergleich. Zusammengehalten werden beide Sprechakte durch die Frage der triuwe im Dienst für den Kaiser. Als Ankläger unternimmt Heinrich gleich zweimal den Versuch, den Kaiser davon zu überzeugen, dass Ernst ihm nur zum Schein untertan sei und die Herrschaft in Wahrheit selbst übernehmen wolle (HEb 678 f.). In der Narration des Erzählers wird dieses Sprechhandeln als Verwirklichung eines Planes präsentiert, der direkt aus dem Leid und Zorn über Ernsts Aufstieg zum Favoriten des Herrschers hervorgeht. Von Heinrich wird berichtet, er begunde denken alle tage,/ wie er den helt maere,/ dem keiser machte unmaere,/ daz er im wurde gehaz. (HEb 654–657) Bedenkt man, dass die Anklage Ernsts einige Verse später ebenfalls als maere bezeichnet wird, entfaltet sich hier ein Wortspiel, welches das Funktionieren des neidischen Sprechakts über die dreifache Wiederholung des Wortstamms illustriert: Angesichts des Ansehens, das Heinrich beim Herrscher genießt (maere), will Heinrich den Held in den Augen des Herrschers unliebsam machen (unmaere) und tut dies schließlich durch eine Geschichte (maere) über seine angebliche untriuwe.51 Im Sprachsün-
Vgl. hierzu schon: EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst B‘, S. 192. LEXERs mittelhochdeutsches Handwörterbuch übersetzt das Adjektiv maere mit „das, wovon gern u. viel gesprochen wird“ sowie „bekannt, berühmt, berüchtigt, der rede wert, herrlich, gewaltig, lieb, von wert“. Seine Verneinung unmaere wird mit „unlieb, unwert, gering geachtet, zu schlecht, verhasst, zuwider, gleichgültig“ wiedergegeben. Das Substantiv maere wiederum kann „kunde, nachricht, bericht, erzählung, gerücht“ bedeuten. Vgl. Maere u. Unmaere. In: LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier
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dendiskurs wird diese Art des Sprechens – wie ich in Kapitel 2.4 erläutert habe – als detractio bezeichnet: Heinrich wählt eine Form der Kommunikation, die Ernst in seiner Abwesenheit der Ehre und der Gunst des Herrschers berauben soll.52 Auf horizontaler Ebene hingegen verknüpft Heinrich den Zweifel an der triuwe Ernsts geschickt mit seiner eigenen Position in der Rangordnung am Hof. Im Rahmen der ersten Anklage fragt er ‚woldest du dir, herre, kiesen/ einn getriuweren trût‘ (HEb 690 f.). Bleibt hier noch offen, wer den Vergleichspart einnehmen soll, präsentiert er seine Ersetzung als Favorit und Ratgeber des Königs in der zweiten Anklage als Produkt der Intrige Ernsts (HEb 752–755) und nimmt dies zum Ausgangspunkt, um sich mit Ernst zu messen. Er stellt sich ihm in einem ersten Schritt gleich. ‚[...] [I]ch bin ouch sô wârhaft/ dem rîche und iu, herre, gewesen [...]‘ (HEb 758 f.), betont er, und fügt hinzu: ‚[...] ich hân ouch lant unde guot,/ ich bin ouch fürste und fürsten sun [...]‘ (HEb 762 f.). Seine Anklage wird so immer mehr zu einem Verhandeln von Hierarchien. Die zwei Reden Heinrichs zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Abstände in der Rangordnung zunächst konstatiert und über die rhetorische Figur der comparatio – wie im Folgenden sichtbar wird – neu entworfen werden. Nachdem Heinrich über das, was er mit Ernst gemeinsam hat, einen ebenbürtigen Anspruch auf die Huld des Kaisers formuliert hat, stellt er in einem zweiten Schritt heraus, was sein Handeln als Fürst von dem Ernsts unterscheidet.53 Bei gleichem äußeren Anschein differiere die Motivation ihres Herrschaftshandelns; im Gegensatz zu Ernst verhalte er sich gegenüber dem Kaiser treu und dem Recht gemäß (HEb 764 f.), sodass Otto suggeriert wird, dass Heinrich der einzig richtige Ratgeber und Vertraute für ihn ist. Damit fällt der Erfolg der beiden Sprechakte Heinrichs zusammen: Otto, der in Heinrichs an die forensische Rhetorik angelehnter comparatio zum Richter über die triuwe ernannt wird, entscheidet gleichzeitig über den casus von Ernsts angeblich fehlender triuwe und über die Rangfolge von Ernst und Heinrich. Über die Nennung der Emotion ‚Neid‘ durch den Kaiser wird dem Rezipienten eine Deutungsmöglichkeit dieser Art des Sprechens nahegelegt. Er kann sein Wissen darüber aufrufen, dass die detractio im zeitgenössischen theologischen Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid= T01796 [31. Januar 2023]. Vgl. die Ausführungen im Kapitel 2.4. ‚Sprechende Neider‘. Heinrich nutzt für seine Argumentation die bei Quintilian wie später bei Thierry von Chartres gegebene Möglichkeit, mit Hilfe der Feststellung gradueller Ähnlichkeitsverhältnisse Gegenstände zu gruppieren und Differenzierungen vorzunehmen. Heinrich beschreibt, in welchen Punkten er und Ernst einander ähneln, um von hier aus den maßgeblichen Unterschied zwischen sich und Ernst zu benennen. Vgl. zu diesem Gebrauch der comparatio zusammenfassend RENZ, Tilo: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied, Berlin, Boston 2012 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 71), S. 74–78.
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Diskurs meist mit invidia verbunden wird,54 er kann Heinrichs rhetorikgestützte Vergleiche auf die Distinktionsemotion zurückführen und sie als Versuch des Zurückgesetzten lesen, wieder mit Ernst die Rollen zu tauschen. Kai-Peter EBEL führt in seinem Aufsatz jedoch noch einen weiteren Grund an, warum die Emotion in Abweichung von der Fassung A mit der Anklagerede Heinrichs verbunden wird. Neid dient so nicht allein der Figurenzeichnung Heinrichs, die Emotion wird unmittelbar in die von diesem angestoßene Diskussion über die triuwe mit einbezogen:55 In seiner Anklage hinterfragt Heinrich die öffentlichen Zeichen der Huld Ernsts und schreibt sich allein die einem Reichsfürsten angemessene triuwe gegenüber dem Kaiser zu. Gleichzeitig stellt der Herrscher die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen gegen Ernst, die er nicht als Ausdruck von triuwe, sondern als Produkt des Neids des im Hintergrund verbleibenden Anklägers ‚liest‘. Mit Hilfe der Emotionsnennung wird so ein Gegeneinander konkurrierender Zuschreibungen von triuwe inszeniert. Um die Funktion, die die Emotion in diesem Kontext übernimmt, genauer zu beschreiben, wird wiederum auf Überlegungen zurückgegriffen, die Elke KOCH in ihrem Handbuchbeitrag vorgestellt hat. „Da Emotionen [jeweils] ein [bestimmtes] Verhältnis von Innen und Außen konfigurieren“, geht sie davon aus, dass diese in der höfischen Sichtbarkeitskultur „Funktionen in Kommunikationszusammenhängen übernehmen, in denen es um Identität, Glaubwürdigkeit oder Erinnerung geht.“ In Erzähltexten könne „das Sichtbarwerden von Emotionen an den Figuren [so] dazu beitragen, entsprechende soziale oder politische Problemzusammenhänge narrativ zu konstituieren oder zu reflektieren.“56 Im Fall des huld-Verhältnisses zwischen Herrscher und Vasall im Herzog Ernst B rückt durch Heinrichs Anklage die Frage, wie wahre triuwe erkannt werden kann, ins Zentrum des Textes. Zwar werden für das Verhältnis zwischen Otto und Ernst eine Vielzahl von Termini wie minnen (HEb 755), holde[r] muot[...] (HEb 588) und herzesêr (HEb 746) verwendet, die eine Innerlichkeit der Beziehung zwischen Otto und Ernst vermitteln, dennoch ist „die Sphäre der moralischen und gefühlsmäßigen Innerlichkeit des Verbündeten weiterhin nur am äußeren Prinzip der Gegenleistung erkennbar.“57 Damit bleibt ein Rest Unsicherheit über die Intentionen hinter den öffentlichen Huldbeweisen immer
Vgl. hierzu das Kapitel 2.4. ‚Sprechende Neider‘. Vgl. EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst B‘, S. 192. KOCH, Emotionsforschung, S. 83. EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst B‘, S. 191–192. Otto weist die Vorwürfe gegen Ernst mit der Begründung zurück, ‚[...] [er] hât mit grôzer liebe kraft/ beide mir und dem rîche/ gedienet sô wille-
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erhalten,58 welcher durch den Neid des ehemaligen Favoriten nicht nur handlungstragend, sondern auch reflektiert und aufgelöst wird: Das potentielle Missverhältnis zwischen äußeren Hulderweisen und versteckten Intrigeplänen korrespondiert mit dem Missverhältnis zwischen Heinrichs äußerer Selbst-Inszenierung als besorgter Vasall und seinem versteckten Handeln als Neider. Das Erkennen der Huld wird hier an das Erkennen der neidischen detractio gekoppelt. Derart arbeitet der Text im Zusammenspiel von histoire und discours mit der Standortgebundenheit der Erkenntnis der wahren triuwe. Während der Herrscher angesichts der möglichen Gefahren, die von Ernst für seine Herrschaft ausgehen, Heinrich am Ende Glauben schenkt,59 können die Rezipienten durch die Führung des Erzählers die Rede des Neiders bis zuletzt durchschauen. Der Erzähler leitet die Anklagen Heinrichs mit einer Charakterisierung Heinrichs ein, die durch die zweifache Verwendung des Wortes valsch die Vorwürfe der falschen Vorspiegelung von triuwe ihrerseits als detractio und mendacio transparent machen: Dô gienc der ungetriuwe mit valsch âne riuwe, da er des rîches herren vant und sagte im alzehant ein lügenlîche maere, daz im der herzoge Ernest waere in grôzem valsche undertân. (HEb 673–679)
Gewinnt Heinrich auf der Ebene der histoire zunächst den Wettbewerb um die größere Treue und darf die Funktion des Ratgebers, die im Herzog Ernst B als größter Ausweis von Gunst eingeführt wird, wieder einnehmen, nimmt er auf der Ebene des discours die Rolle des ungetriuwen Gegenspielers des Helden ein. Mehr noch: Betrachtet man die hier entworfene Figurenkonstellation vor dem Hintergrund der beginnenden Diskussion um den Günstling, dann lassen sich ab diesem Zeitpunkt zwei Günstlingsfiguren im Text über die Tätigkeit des Ratgebens vonei-
clîche/ mit triuwen unz an disen tac,/ daz ich niht gelouben mac/ von im sô starker maere. [...]‘ (HEb 728–733). Schon, weil sie um seine Gunst werben, kann der Herrscher damit rechnen, dass die Fürsten ihm nicht immer ihr wahres Gesicht zeigen. Vgl. zur Rolle des Herrschers: PINCIKOWSKI, Scott E.: Wahre Lügen: Das Erkennen und Verkennen von Verstellung und Betrug in ‚Herzog Ernst Bʻ, ‚Kudrun‘ und ‚König Rother‘. In: Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Matthias MEYER/Alexander SAGER, Berlin 2015 (Aventiuren 7), S. 175–193. Anders als in dem im Folgekapitel analysierten Exempel De Rege Portigalensi steht die Diskussion um das Erkennen des Neids durch den Herrscher im Herzog Ernst B jedoch, wie die geringe Anzahl von Erzählerkommentaren zu Ottos Verhalten zeigt, nicht im Zentrum.
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nander unterscheiden: Wird Ernst während seines Aufstieges am Hof als positive Günstlingsfigur des guten Ratgebers des Herrschers inszeniert (HEb 622–624), so verkörpert Heinrich in seinem Wiederaufstieg zur Gunst den schlechten Ratgeber, der den Herrscher bewusst mit falschen Informationen versorgt und selbst auf den Rat des schlechtesten aller Ratgeber am Hof hört: auf den Rat des Teufels (HEb 650).60
4.2.3 Übertragungen Was aber ist es, was den Herrscher in Erschrecken (HEb 717) versetzt? Wie funktioniert die Rede des Neiders als propositionaler Sprechakt, dass sie den Herrscher trotz seines Huldversprechens an Ernst von der Notwendigkeit unmittelbaren Handelns überzeugt? Heinrichs Vorwurf gegen Ernst lautet im Wortlaut: sô wizzet waerlîche, daz er iuch von dem rîche vil gerne wil verstôzen. er wil sich dir genôzen in adel und an rîcheit. (HEb 681–685)
Heinrich verbindet in seiner Anklage die zwei Ebenen des Personenverbandsstaats, die horizontale zwischen den Fürsten und die vertikale zwischen adeligen Vasallen und Kaiser, indem er den seinen Neid hervorrufenden Machtzuwachs Ernsts gegenüber anderen Fürsten radikal weiterdenkt: Die Hervorhebung des Favoriten durch die Gunst – so seine Argumentation – führe zugleich zu einer Gefährdung der Herrschaft des Kaisers. Als erster der Fürsten, ausgestattet mit den exorbitanten Gaben des Kaisers, könne dieser nun selbst Gunstverhältnisse eingehen und andere Fürsten an sich binden: ‚[...] ez hât gemachet dîn golt./ die fürsten sint im alle holt.[...]‘ (HEb 687 f.) Sein Vorwurf gegen Ernst, dass dieser sich dem Herrscher genôzen (HEb 684), d. h. ‚gleichstellen‘, wolle, beinhaltet so auch eine Kritik an der Praxis der Gunstvergabe des Kaisers: Die von Otto verliehene Macht an Ernst verleihe dem Günstling umgekehrt auch Macht über Andere.61 Die Probleme, die Heinrich auf horizontaler Ebene mit der Emporhebung
Die Tätigkeiten Ernsts, Heinrichs und des Teufels werden über das Wortfeld des Ratgebens miteinander in Beziehung gesetzt. Vgl. HEb 650, 617, 622–624 u. 854. Anders als MARTINI beziehe ich den Vers ez hât gemachet dîn golt nicht zurück auf er wil sich dir genôzen in adel und an rîchheit, sondern auf den Vers die fürsten sint im alle holt, mit dem er über den Reim verbunden wird. Vgl. MARTINI, Facetten literarischer Zorndarstellungen, S. 141. Dem-
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Ernsts in der höfischen Hierarchie hat, werden in der Argumentation Heinrichs auf vertikaler Ebene zu Problemen des Kaisers. Markus STOCK beschreibt den Mechanismus von Heinrichs Anklage dementsprechend als „Umpolung eigener Rivalität Ernst gegenüber in Rivalität Ernsts Otto gegenüber“.62 In diesem Prozess spielen, wie die Forschung angemerkt hat, Emotionen eine zentrale Rolle. Sie sind zum einen Teil der Strategie Heinrichs, seine triuwe gegenüber dem Herrscher zu bewahrheiten. Heinrich deutet das neidische Leid seiner Zurücksetzung (HEb 668 f.) in das Leid über die Gefährdung des Herrschers um (HEb 686).63 Während die Einzelemotionen die gleichen bleiben, wechselt ihr Ursprung: Aus Neid wird Sorge um den Herrscher. Emotionen spielen zum anderen, wie Thorsten MARTINI gezeigt hat, im Rahmen einer aristotelischen Affektrhetorik, die die Emotionen des kaiserlichen Zuhörers beeinflussen soll, eine Rolle: Mittels Interjektionen, der Verstärkung des Bedrohungsszenarios und der Selbstinszenierung als Verteidiger des Reiches soll der Kaiser gegen Ernst affiziert werden.64 Dabei besteht die Besonderheit der Affektrhetorik im Herzog Ernst B darin, dass sie – wie es MARTINI ausdrückt – als ‚Transfer‘ der Emotion des Sprechers auf den Zuhörer funktioniert. Heinrichs aus dem zorn über seine Zurücksetzung (HEb 668) heraus entwickelte Intrige zielt darauf, dass der Kaiser gegen seinen Favoriten zu zurnen (HEb 813) beginnt.65 In dieser Übertragung verändert der Zorn seinen Charakter: Aus dem neidischen Zorn des Verlierers im rangkonstituierenden Kampf um die Gunst am Hof wird Herrscherzorn angesichts des vermeintlichen Angriffs des Rangniederen auf die eigene Herrschaftsstellung, sodass der Kaiser als Resultat der Rede Heinrichs selbst gegen seinen Favoriten vorgeht. Von diesem Punkt an folgt in der Erzählung eine Aggression auf die andere. Handelte es sich bei der Affektrhetorik Heinrichs noch um eine kalkulierte Form der Weitergabe von Emotionen, geht der Zorn im Folgenden im Rahmen einer Vergeltungslogik von Schlag und Gegenschlag über Handlungen und ihre Effekte von einer Figur auf die andere über: Nachdem Otto in Sorge um mögliche Usurpationspläne befohlen hat, Burgen und Städte unter Ernsts Herrschaft anzugreifen und die Vermittlungsbemühungen seiner Frau und der Fürsten scheitern, sinnt Ernst auf Vergeltung (HEb 1202) für die unberechtigten Angriffe auf seine Länder und attackiert Otto und den Pfalzgrafen seinerseits auf dem Hoftag. Am Ende
entsprechend wirft Heinrich Ernst in meinen Augen auch nicht Goldgier vor, er beschreibt den Mechanismus, der die Fürsten an Ernst bindet. So auch schon: EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst Bʻ, S. 193. STOCK, Kombinationssinn, S. 179. Beide werden in der Erzählung mit denselben Emotionstermini muen und leit belegt. Vgl. MARTINI, Facetten literarischer Zorndarstellungen, S. 143. Ebenda, S. 141.
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muss der Kaiser die Ehre seines Hauses verteidigen und den Tod seines Familienangehörigen rächen (HEb 1398–1417). Für Markus STOCK bilden diese Ereignisse eine thematische Einheit. Wie anfangs erwähnt, wird Ernst für ihn mit dem Angriff auf den Kaiser zuletzt der, „als den ihn der Ermordete verleumdet hat.“66 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Übertragungsdynamiken lässt sich der Angriff auf den Herrscher jedoch auch anders verstehen. Im Reichsteil des Herzog Ernst B wird ein Spektrum unterschiedlicher Formen der Herrschaftsverteidigung gezeigt. Indem jede einzelne von ihnen vom Erzähler jeweils ohne Differenzierung der Motive mindestens an einer Stelle als zorn bezeichnet wird,67 werden sie als Teil einer Verlaufskette gezeigt, an deren Beginn der neidische Zorn Heinrichs über seine Zurücksetzung steht: – Es ist ein Neider, der die Günstlingsproblematik ausformuliert und ihr Bedeutung verleiht. Was folgt hieraus? Wie verändert sich die Deutung des zentralen Huldkonflikts, wenn der Angriff auf den Kaiser nicht mehr als Verwirklichung einer durch den neidischen „Sündenbock“ kaschierten Konkurrenz zwischen Ernst und dem Herrscher, sondern im Rahmen der Handlungsdynamik als Produkt von Neid- und Neidhandlungen gelesen wird?
4.2.4 Neid und die Bruchstellen des Personenverbandsstaats Anders als im Straßburger Alexander geht es im Herzog Ernst B nicht um eine korrigierbare Defizienz des Herrschers, sondern um ein grundsätzliches und unlösbares Problem der Herrschaftsform. Diese Herrschaftsform ist die auf personale Bindung, also auf die feudale triuwe gegründete Machtausübung, die durch die Brüchigkeit und mögliche fehlende Dauer ihres fundierenden Elements, der triuwe, gefährdet ist.68
Darin, dass der Herzog Ernst B die Bruchstellen des Personenverbandsstaats aussstellt, stimmt die hier vorgelegte Analyse mit Markus STOCKs Lesart überein. In dem Punkt, wie diese Fragilität im Text ausgedeutet wird, kommen die gewählten methodischen Ansätze jedoch zu anderen Ergebnissen. Je nachdem, ob der Neid Heinrichs schon als Teil des Huldkonflikts oder lediglich als seine Vorbereitung, je nachdem, ob er als soziale Emotion oder als narrative Funktion wahrgenommen
Noch stärker wird dieser Zusammenhang in Hans–Jürgen SCHEUERs psychoanalytischer Lektüre gemacht. SCHEUER liest Heinrichs Vorwürfe gegen Ernst mit FREUDs Konzept der ‚Verneinung‘ „losgelöst von seiner Wertung als Lüge als Artikulation des realen Problems.“ Siehe: SCHEUER, Vatermord in der Kemenate, S. 97. Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 181. STOCK, Kombinationssinn, S. 227.
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wird, ergibt sich eine andere Perspektive auf die Krise der personalen Bindungen. Indem STOCK die Figur des Pfalzgrafen Heinrich auf seine motivationale und stellvertretende Funktion für den Hauptkonflikt reduziert, gelangt er zu einem statischen Verständnis desselben. Das „grundsätzliche und unlösbare Problem der Herrschaftsform“ besteht für ihn darin, dass Ernst und der Kaiser „für sich genommen so gute Allein-Herrscher sein sollen, dass es kaum möglich scheint, daß sie konfliktfrei als Herrscher-Gemeinschaft koexistieren.“69 Im Mit- und Nebeineinander von Herrscher und Partikularfürst, des rîche und seinen Gliedern, sei strukturell immer auch die Möglichkeit der untriuwe gegeben. Demgegenüber lenkt die Analyse der sozialen und politischen Dimensionen von Neid, wie sie EBEL angefangen und wie sie hier fortgeführt wurde, den Blick auf die Dynamiken von Gunst und Huld: auf den Wechsel von Gunstverhältnissen, die Folgen des Aufstiegs des Günstlings für den Herrscher und die im Krisenfall abrufbaren Korrekturmechanismen. Als Reaktion auf den Verlust der Gunst verweist die Emotion – wie bereits Konrad EBEL und MARTIN BAISCH ausgeführt haben – darauf zurück, dass jede Veränderung in der Verteilung von Gunst zu Konflikten zwischen den Vasallen führt. Neid erscheint im Herzog Ernst B als Problem einer höfischen Ordnung, die in ihren Funktionsweisen nicht nur auf Ausgleich angelegt ist, sondern immer auch Konkurrenz und Unruhe produziert. Als derjenige, der das Neidobjekt, die Gunst vergibt, bleibt der Herrscher in diesen Konflikten zwischen seinen Vasallen nicht lange außen vor. Um die Gunst wiederzuerlangen, buchstabiert der Neider in seinen Handlungen die Folgen des Machtzuwachses Ernsts durch die Gunst im Extrem aus. Die von ihm erdachte detractio wirft ein Schlaglicht auf das intrikate Verhältnis von Asymmetrie und Symmetrie im Günstlingsverhältnis: Im Gegensatz zur Freundschaft ist – wie Martin BAISCH jüngst noch einmal betont hat – das Günstlingsverhältnis eines zwischen Ungleichen;70 zwar wird der Favorit durch die Gunst aus der Reihe der untergebenen Fürsten emporgehoben und die Asymmetrie zwischen Herrscher und Günstling durch „Akte der Anerkennung“71 temporär eingeebnet, anderseits darf er sich dem Herrscher in „adel“ und „rîchheit“ (HEb 685) nicht gleichstellen. Auch Heinrichs detractio berührt insofern einen neuralgischen Punkt des auf Huld und Gunstverhältnissen beruhenden Personenverbandsstaats: Sie stellt heraus, dass der Günstling dem Herrscher durch seine Hervorhebung, die Überschreibung von Macht und Gold, nicht nur immer ähnlicher, sondern auch immer gefährlicher werden kann. Sie zeigt, dass die Asymmetrie auf der einen hierarchischen Ebene in Sym-
Ebenda, S. 183. Vgl. BAISCH, Anerkennung und Vertrauen, S. 153. Ebenda.
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metrie auf der anderen hierarchischen Ebene kippen und der durch die Gunst an den Herrscher herangerückte Günstling zum Usurpator werden kann. Mit dieser Rede verschiebt der Neider den Fokus der Erzählung von der Gunst des Herrschers auf die wechselseitige Huldbeziehung zwischen Herrscher und Günstling. Angesichts des Gewichts der Vorwürfe steht Otto vor der Frage, wie er sich der triuwe seines Günstlings versichern kann. Da sich triuwe nur an äußeren Kennzeichen, die trügen können, erkennen lässt, muss der Herrscher im Falle, dass sein Vertrauen missbraucht wird, auf die Informationen Dritter zurückgreifen. Diese Schwachstelle des Gunstsystems macht sich der Neider für seine Intrige zunutze. Als Emotion, die sich durch ein auffälliges Missverhältnis von Innen und Außen auszeichnet, korrumpiert der Neid die Korrekturmechanismen der Gunst. Während Markus STOCK die Krise im Herzog Ernst B auf eine Ursache, die gleichwertigen Herrscherqualitäten von Kaiser und Partikularfürst, zurückführt, ist der Huldkonflikt von der Neidhandlung aus besehen folglich multikausal. Die Krise am Hof Ottos erscheint als Produkt unterschiedlicher Schwachpunkte des Personenverbandsstaats, die über die Emotion ‚Neid‘ miteinander verknüpft und aktiviert werden. In diesem Sinne lässt sich zuletzt auch eine alternative These zu STOCKs funktionaler Deutung des Neiders als Auslöser des Huldkonflikts formulieren. Nimmt man Neid als politische und soziale Emotion ernst, dann fördert die Emotion nicht bereits bestehende Konflikte zutage. Vielmehr adressiert das Erzählen von der Distinktionsemotion neuralgische Stellen im Gunstsystem. Neid wird im Herzog Ernst als Emotion gezeichnet, die aus den Schwachstellen des gunst- und huldbasierten Personenverbandsstaats hervorgeht, diese ausbuchstabiert, ausnutzt und so auf der Ebene der Handlung produktiv macht.
4.3 Die huld des Herrschers und die huld Gottes in der Crescentia-Legende Die in der Kaiserchronik das erste Mal überlieferte Crescentialegende72 nimmt ihren Ausgang von einem genealogischen Problem: Nachdem die Ehe des Kaiserpaares Jahre lang kinderlos geblieben ist, gebiert die Kaiserin Zwillinge, welche beide Dietrich genannt werden. Um das Problem, wer dem Kaiser auf den Thron folgen soll, zu lösen, legt der Senat fest, dass derjenige Herrscher wird, der zuerst Ich zitiere aus der Kaiserchronik entsprechend der Ausgabe: Deutsche Kaiserchronik. Hrsg. von Edward SCHRÖDER. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Hannover 1892, Dublin, Zürich 3 1969 (Monumenta Germaniae Historica 1.1). Auf die Crescentialegende wird im Folgenden mit der Sigle ‚Ck‘ und den entsprechenden Versangaben verwiesen.
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heiratet. Die antiochische Prinzessin Crescentia, die beide Brüder umwerben, entscheidet sich für den hässlicheren der beiden. In Abwesenheit ihres Ehemanns versucht daraufhin der schöne Dietrich Crescentia zu verführen, scheitert und verleumdet sie in Umkehrung der Tatsachen als Ehebrecherin. Die Kaiserin wird zur Strafe im Tiber ertränkt, jedoch durch einen Fischer gerettet. Körperlich entstellt gelangt sie unerkannt als Dienerin an den Hof eines der Herzöge des Kaisers und steigt dort zur Lehrerin des Sohns des Adeligen und zu seiner Ratgeberin auf. Dort wiederholt sich das Geschehen in Variation. Der vicedominus des Herzogs ist neidisch auf die Gunst der neuen Favoritin des Herzogs. Nachdem er vergeblich versucht hat, Crescentia zu verführen, tötet er das ihr anvertraute Kind und schiebt ihr das Verbrechen unter, sodass sie zur Strafe erneut unschuldig im Tiber ertränkt wird. Dieses Mal wird sie durch Petrus selbst gerettet, der ihr die Fähigkeit verleiht, jeden kranken Sünder, der ihr seine Sünden bekennt, zu heilen. Crescentia macht von dieser Gabe zunächst in Bezug auf den erkrankten Herzog und seinen vicedominus und dann in Bezug auf den Kaiser und seinen Bruder Gebrauch. Die Erzählung endet mit einer Moniage: Crescentia nimmt die Position der Kaiserin nicht dauerhaft wieder ein, gemeinsam mit ihrem Ehemann zieht sie sich ins Kloster zurück, während der schöne Dietrich die Herrschaft übernimmt. Betrachtet man diesen Handlungsverlauf, vermag das Vorhaben, den Neid auf die Gunst in der Crescentia-Legende zu diskutieren, zunächst Erstaunen hervorrufen. In der Erzählung kommt die Emotion nur an einer Stelle – und zudem durch einen Schreibfehler entstellt – zur Sprache. Vom Aufstieg der am Hofe unbekannten Crescentia zur ersten Ratgeberin des Herzogs wird berichtet: Des erbunde ir alsô harte/ ain gotes widerwarte,/ des herzogen vizzetuom (Ck 12103–12105). Maßgeblich für die Erzählung erscheinen hingegen andere Themen als die Rivalität. Schon früh hat die Forschung hervorgehoben, dass sich in der Geschichte der fiktiven Herrscherin Roms der spätantike Familienroman mit der Heiligenlegende verbindet.73 Jüngere Publikationen gehen der Frage nach, wie die Erzählung über ein komplexes System von Wiederholungen und intratextuellen Verweisen74 „aus den Krisen der irdischen Ordnung die Evidenz einer überirdischen“ entwickelt.75 In Bezug auf das Verhältnis
Vgl. z. B. WEHRLI, Max: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung, Zürich 1969, S. 155–176, hier S. 157–164. Vgl. hierzu im Besonderen: PÉZSA, Tibor Friedrich: Studien zur Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ‚Kaiserchronik‘, Frankfurt a. M. 1993 (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 1378), S. 176–187. KIENING, Christian: Versuchte Frauen. Narrative Muster und kulturelle Konfigurationen. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Jan-Dirk MÜLLER unter Mitarbeit von Elisabeth MÜLLER–LUCKNER,
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von weltlicher und göttlicher Ordnung wird festgestellt, dass das am Anfang stehende genealogische Problem der Zwillingsgeburt durch die Aufspaltung der Herrscherfamilie in einen klerikalen und einen weltlichen Zweig gelöst und Herrschaft in der Kaiserchronik über diese Episode an die Transzendenz rückgebunden wird.76 In diesen auf Genealogie und Heiligkeit konzentrierten Analysen bleibt der Neid auf die Gunst meist unerwähnt. So macht Christian KIENING ausgehend von der Opfertheorie René GIRARDs77 in den Wiederholungen des ersten Teils zwar ein Paradigma von Gewalt und Begehren aus, welches im Erzählvorgang die Heiligkeit hervorbringt. Die Motivation beider auf Crescentia zielenden Verhaltensweisen über Emotionen betrachtet er indes nicht eigens. Für seine semiotische Definition von Heiligkeit ist allein wichtig, dass über das Begehren und die Zurückweisung des Begehrens, über die Gewalt und ihre Bestrafung die Differenz zwischen ‚heilig‘ und ‚unrein‘, der Unterschied zwischen Crescentia als Instrument der göttlichen Heilung und den Aussätzigen geschaffen wird. Er schlussfolgert daraus für die syntagmatische Sinnebene des Textes, dass durch die Gewalt gegen die Unschuldige und ihre freiwillige Unterwerfung unter diese wieder Unterschiede im Ununterschiedenen eingeführt werden und die Zwillingskrise durch das Opfer und die Heiligung Crescentias bewältigt wird.78 Markus STOCK ist einer der wenigen Forscher, der Neid explizit in seine Interpretation einbezieht. Im Unterschied zu KIENING charakterisiert er die Crescentiafigur in seiner Studie Kombinationssinn nicht als verfolgte Unschuld.79 Vielmehr zeigt er sie
München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 77–98, hier S. 93. Eine auf dieser Studie aufbauende Interpretation der Crescentialegende findet sich in KIENINGs zwei Jahre später erschienenen Monographie zum Zusammenhang von Familie und Heiligkeit in mittelalterlichen Erzählungen. Vgl. KIENING, Christian: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzberg 2009 (Philologie der Kultur 1), S. 92–98. Vgl. z. B.: KIENING, Versuchte Frauen, S. 92 f.; BIESTERFELDT, Corinna: Moniage – Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu ‚Kaiserchronik‘, ‚König Rother‘, ‚Orendel‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Prosa–Lancelot‘, Stuttgart 2004, S. 34. Vgl. insbesondere GIRARD, René: Das Heilige und die Gewalt, Düsseldorf, Zürich 2006 [1972]. Vgl. KIENING, Versuchte Frauen, S. 90–92; KIENING, Unheilige Familien, S. 95–97. Ähnlich argumentiert auch Gesine MIERKE, wenn sie auf der Basis des Interpassivitätstheorems betont, dass Crescentia durch ihre Passivität gegenüber der Gewalt in der Erzählung als Sündenbock für die genealogische Krise fungiere. Vgl. MIERKE, Gesine: Der Sündenbock und andere Stellvertreter. Überlegungen zum Theorem der Interpassivität am Beispiel der Crescentia–Erzählung, der Sionpilger und der Fabel Vom Wolffe, Fuchß und Esel. In: Interpassives Mittelalter? Interpassivität in mediävistischer Diskussion. Hrsg. von Silvan WAGNER, Frankfurt a. M. u. a. 2015 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 34), S. 113–135, hier S. 119–121. KIENING versteht die ‚verfolgte Unschuld‘ nicht nur als Motiv, sondern als Erzähltypus, den er auch in der Crescentia–Legende verwirklicht sieht. Vgl. KIENING, Versuchte Frauen, S. 81–85; KIENING, Unheilige Familien, S. 87–90.
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als „Person, die in Machtpositionen rückt oder gerückt wird und deswegen ungerechtfertigte Verfolgung erleiden muss.“80 Derart kristallisiert sich für ihn in der Wiederholungstruktur des ersten Teils ein anderes Paradigma als für KIENING heraus. STOCK versteht auch den von Crescentia als Ehemann abgelehnten schönen Dietrich als Neider, sodass sich in seinen Augen im ersten Teil nicht Begehren und Gewalt, sondern Neid, Verführung und Rache jeweils wiederholen.81 Im Zentrum des Erzählens darüber, wie Crescentia heilig wird, steht für ihn dabei der Wechsel von Identitätskonzepten und Machtlegitimationen, welcher über die Lesbarkeit der Körper inszeniert wird. Neid macht in diesem Rahmen zum einen sichtbar, dass Crescentia am Kaiserhof über Machtpositionen entscheidet bzw. am Herzogenhof wieder in Machtpositionen vorrückt. Zum anderen stellen sich die Neider quer zu christlichen Identitätskonzepten, die sich, wie es Crescentia in ihrem Handeln tut, allein auf Gott und seine Akzeptanz berufen. In STOCKs Interpretation wird Neid folglich insofern Bedeutung zugesprochen, als er auf die konfligierenden Bedeutungszuweisungen im ersten Teil hinweist, von der sich im zweiten Teil die Anerkennung von Crescentia als Heilerin und Heilige durch alle Figuren absetzt.82 Die folgende Interpretation versucht die Tatsache, dass es sich bei Neid um eine Distinktionsemotion handelt, welche weltliche Unterscheidungen in den Blick nimmt und zu verändern sucht, mit dem Erzählen von Heiligkeit in Bezug zu setzen. Dafür wird der Bereich der Untersuchung der Emotion im Vergleich sowohl zu STOCK als auch zu KIENING ausgeweitet: Fokussiert KIENING die gewaltsamen Handlungen, die vom Neider ausgehen, ohne den Neid als motivierende Emotion sichtbar zu machen, gibt STOCK die Figurenperspektive des Neiders wieder, ohne die Auswirkungen der neidischen Handlungen auf Crescentia zu reflektieren. Ich möchte in meiner Analyse die von Stock herausgearbeitete Thematik des Erkennens und Verkennens mit den Reflexionen KIENINGs über den Zusammenhang von Gewalt, Begehren und Heiligkeit zusammenbringen und danach fragen, welche Funktion dem Wandel Crescentias von der Position der Verteilerin des potentiellen Neidobjekts ‚Thronfolge‘ am Kaiserhof zu der der Beneideten am Herzogenhof für das Geschehen der Heiligung und die Lösung der Herrschaftskrise zukommt. Von hier ausgehend soll erörtert werden, wie sich der Wechsel des Bezugsrahmens auf die Konzeption des Neids und die Rivalität um den Vorrang am Hof auswirkt.
STOCK, Kombinationssinn, S. 63. Ebenda, S. 62. Ebenda, insbesondere S. 66–69.
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4.3.1 Maisterîn Bleibt der Neid des schönen Dietrich am Kaiserhof unausgesprochen, so lässt sich anhand des Verbs verbunnen die Konfrontation zwischen dem vicedominus und Crescentia am Hof des Herzogs als klassische Neidsituation lesen: Der aufgrund seines Amtes zum Ratgeber des Herrschers prädestinierte vicedominus83 reagiert mit Missgunst darauf, dass die neu an den Hof gekommene Crescentia in die Rolle der Favoritin des Herzogs vorrückt. Tatsächlich stehen der Aufstieg Crescentias und der Abstieg des vicedominus in unmittelbarer Beziehung zueinander. Dies wird auf der Handlungsebene nirgends so deutlich wie in der Nacht, in der Crescentia von diesem verleumdet wird. Als der vicedominus den Herrscher weckt, um seine Intrige in Gang zu setzen, wird er von diesem mit der Antwort weggeschickt, dass allein Crescentia die Aufgabe zukomme, ihn zur Morgenmesse zu rufen: ‚der metten dû mich vermît/ unz es mîne maisterîn dunche zît [...]‘ (Ck 12253 f.). Der vicedominus wird mit diesen Worten in seine Schranken gewiesen, die Gunst, die der Herzog Crescentia erweist, in ihrer Ausschließlichkeit offenbar: Dort, wo Crescentia als Ratgeberin tätig ist, dort wird niemand anders mehr Vertrauen geschenkt. Die hier sichtbar werdende Konkurrenz um die Vorrangstellung am Hof spiegelt sich nicht zuletzt in der Form, in der vom Neid des vicedominus erzählt wird: An den Vers, der des herzogen vizzetuom (Ck 12105) als Neider enthüllt, schließen sich die Verse daz diu frowe den ruom/ in dem hove habete (Ck 12106 f.) an, sodass im Endreim der vicedominus durch die adelige Frau und das höfische Amt durch einen Rang jenseits der höfischen Ämterhierarchien ersetzt wird.84 Die Verse, die von der Emotion erzählen, spiegeln so zugleich den Grund des Neids. Die Emotion wird als Reaktion auf den Verlust von Gunst und Einfluss konzipiert. Da der Neid durch den Aufstieg Crescentias ausgelöst wird, soll letzterer für die Analyse der Emotion genauer in den Blick genommen werden. Wie Markus STOCK hervorgehoben hat, wird der Wiederaufstieg Crescentias in den höfischen Als ‚vicedominus‘ wird ursprünglich derjenige Kleriker bezeichnet, dem die Wirtschaftsverwaltung der Diözese oblag. Die Amtsbezeichnung wird seit karolingischer Zeit zunehmend auch im weltlichen Bereich verwendet; so nennen fränkische Quellen Beamte kleiner weltlicher Herrenhöfe sowie den maior domus am Königshof vicedominus. Zur Zeit der Abfassung der Kaiserchronik fungiert der vicedominus in Kurmainz als Stellvertreter des Landesherrn mit weitreichenden administrativen, jurisdiktionellen und militärischen Kompetenzen. Vgl. KREIKER, Sebastian: Vicedominus. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München, Zürich 1997, Sp. 1621–1622. Auf den Kontrahenten Crescentias wird nur über seine Amtsbezeichnung referiert, er bleibt – wie alle Personen am Herzogenhof – über die gesamte Erzählung hin namenlos. Insofern erscheint in der Rezeption auch sein Neid weniger als Charakteristikum einer Einzelperson denn als Folge seines Hofamtes, dessen Bedeutung durch Crescentia bedroht wird.
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Hierarchien zunächst als Folge ihres Geblütsadels inszeniert. Zwar ist Crescentia als Kaiserin nach ihrer versuchten Ertränkung im Tiber nicht mehr identifizierbar, der Herzog erkennt an den Gebärden der neuen Hofdame jedoch den adeligen Körper, der gewohnt ist zu herrschen. Mit dem Ziel, die Fremde in ihrem Stand zu restituieren und ihren Verlust an Herrschaftsrechten auszugleichen, betraut er sie mit der Aufgabe, seinen Sohn zu unterrichten.85 Worum es bei diesen Unterweisungen geht, zeigt der Titel, den der Herrscher der Frau verleiht: Als maisterîn, einer Kurzform von magistra, ist sie dafür zuständig, dem Kind lateinisch-klerikales Wissen zu vermitteln. Passend zu den Lehrinhalten tritt an dieser Stelle nun auch Crescentias Tugendadel zu Tage und setzt einen zweiten Aufstiegsprozess am Hof in Gang: Als Lehrerin des Erben des Herzogs wird sie nach und nach zur maisterîn des ganzen Hofes: er bat si sînen sun lêren. si hête michelen sin. der hêrre hiez si maisterîn durch des chindes triute. sô nanten si alle des herzogen liute. Diu frowe was biderbe unde guot, harte kûske gemuot, êrhaft unt milte. der hêrre niene wolte in sînem hove zechen, erne wolte sich mit der frowen ê besprechen. (Ck 12092–12102)
In engem Zusammenhang mit der Erzählerbeschreibung der höfischen und moralischen Qualitäten Crescentias wird in diesen Versen die Lehrsituation schrittweise verallgemeinert: Die triute, die Liebe des Kindes,86 veranlasst den Herrscher dazu, Crescentia zu vertrauen und die Unterweisung des Erben wird zur Unterweisung aller Mitglieder des Hofes einschließlich des Herrschers.87 Die als Fremde und Un-
Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 60 f. Lexers Handwörterbuch übersetzt triute mit ‚Liebe, Liebkosung‘, ‚Hang, Neigung‘. Vgl. LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer? lemid=T01796 [31. Januar 2023]. Die Syntax ist an dieser Stelle doppeldeutig. Der Vers ‚durch des chindes triute‘ kann nicht nur mit ‚wegen der Liebe des Kindes‘, sondern auch mit ‚aus Liebe zum Kind‘ übersetzt werden. Da die triute an dieser Stelle am Beginn der gesellschaftlichen Anerkennung Crescentias als Vorbild und Lehrerin steht, habe ich mich bei der Interpretation für die erste Variante entschieden. In auffälliger Weise wird hier die triute des Kindes zur emotionalen Grundlage des wenige Verse später vom Erzähler explizierten Tugendadels.
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bekannte an den Hof des Herzogs gekommene Crescentia steht am Ende dieses Prozesses im Mittelpunkt des Hofes: Der Herrscher entscheidet nichts mehr, ohne ihren gelehrten Rat einzuholen. Indem diese Schilderung der Vorbild- und Lehrfunktion Crescentias dem Neid vorangeht, wird nicht nur der Gegenstand der Emotion expliziert, die Ordnung der Erzählung macht zugleich deutlich, dass der vicedominus aus der geschilderten Gruppendynamik herausfällt und sein Neid als Abweichung und Ausnahme von der sozialen Norm erzählt wird: Unter den Angehörigen des Hofes ist der Neider der einzige, der Crescentia nicht maisterîn nennt. Er beschimpft sie im Verlauf der Handlung nacheinander als vil unrainez wîp (Ck 12162), als ubeliu hornplâse (Ck 12184), als vâlandîn (Ck 12268). Das in diesem Text entworfene Bild der verbunst lässt sich vor diesem Hintergrund in zweifacher Hinsicht konkretisieren: Neid erweist sich erstens als Emotion, die Vorbildrelationen verunmöglicht. Die Vorbildbeziehung, die sich über Zuneigung und Rat aufbaut, wird beim vicedominus durch eine der Rivalität ersetzt.88 – Anstatt wie alle anderen Mitglieder des Hofes Schüler Crescentias zu sein, möchte der Neider ihre Position am Hof wieder einnehmen, ihren Platz in der Gunst des Königs für sich zurückgewinnen. Damit unterscheidet sich der Neider zweitens durch seine andere Wahrnehmung und Beurteilung der Figur Crescentias vom Herzog und dessen Gefolge. Vermögen Herrscher und Hof an Gesten und Verhalten den Geburts- und Tugendadel der kaiserlichen Protagonistin zu erkennen, so bleibt der Neider aufgrund der Rivalität um die Gunst blind für ihre Überlegenheit in Status und Rang. Die Crescentia-Legende reiht sich so ebenso wie das noch zu analysierende Exempel De contrarietate Parii et Lausi ein in eine Diskurstradition, die Neid mit Wahrnehmungs- und Urteilsdefiziten assoziiert. In der Crescentia-Legende wird diese Problematik des Neids als kunstvolles Gegeneinander von Wahrnehmungsund Deutungsperspektiven erzählt: Zum einen kann der Neider seine Beobachtungen bezüglich Crescentia im Unterschied zu den anderen Figuren nicht richtig einordnen, den schönen Körper und die Gelehrtheit nicht als Verweis auf ihren hohen Adel ‚lesen‘. Zum anderen macht die Distinktionsemotion – wie Markus STOCK hervorhebt – den Wiederaufstieg Crescentias in den höfischen Hierarchien für den Rezipienten erst sichtbar. Nicht der Erzähler berichtet davon, dass Crescentia nach ihrer anfänglich dezidierten Ablehnung jeglichen äußerlichen Schmuckes erneut Gold trägt, dem Rezipienten wird dies allein durch die Augen und die Beschimpfungen des Neiders mitgeteilt.89 Indem die Distinktionsemotion jene Veränderungen in
Zu Neid als Störfaktor in Vorbildrelationen vgl. ROSENFELD, Envy and Exemplarity. „Der Text lässt den Hörer oder Leser diese Veränderung, genau wie die Veränderung des Aussehens Crescentias gegenüber dem ersten Teil der Episode, erst durch die Augen eines anderen –
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der Identität Crescentias, gegen die sie Stellung bezieht, zugleich auch hervorhebt, rückt sie ins Zentrum der von Markus STOCK identifizierten Macht- und Identitätsthematik der Heiligenlegende: Ist Crescentia nach ihrer Errettung aus dem Tiber schon nicht mehr als Kaiserin kenntlich (Ck 12055–12060), so spitzt der Neid auf die Gunst die textinterne Diskussion um ihre adelige Identität noch einmal zu. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, transformiert er die Frage, wer Crescentia sei, in einen handlungstragenden Konflikt.
4.3.2 Neid und die Identität der Heiligen Am Anfang seiner Analyse von Hartmanns Gregorius beschreibt Peter STROHSCHNEIDER die Heiligenvita als erzähltechnisches Problem. Ausgehend von LUHMANNs Charakterisierung der Rede vom Heiligen als ‚Einschließen des unvertrauten Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenes ins Vertraute‘ liegt für ihn die Herausforderung legendarischen Erzählens darin, den kategorialen Bruch zwischen Immanenz und Transzendenz als Prozess zu narrativieren. Laut STROHSCHNEIDER stellt dies ein paradoxes Unterfangen dar, denn so „muß als Übergang gezeigt werden, was eigentlich nur Sprung sein kann.“90 Dies gilt auch für die Crescentia–Legende, in der die Schwierigkeiten des Erzählens von der Heiligung strukturell aufgelöst werden. Der Wandel Crescentias wird über die Wiederholung der Episodenstationen inszeniert, ihre Identität als Heilige in Form der strukturellen Parallelität des zweiten mit dem ersten Teil zugleich an Crescentias höfische Identität zurückgebunden und mit dieser kontrastiert. Die Heiligung wird auf diese Weise in ihren Wirkungen – und folgt man STOCKs Interpretation – vor allem über die Deutung der Körperbilder durch die Figuren erzählt: Crescentia wird kraft ihrer Fähigkeit, durch Beichte zu heilen, am Herzogenhof nicht mehr zuerst als weltliche Adelige, sondern als hailige chunigîn (Ck 12461) erkannt.91 Daraus den Schluss zu ziehen, mit dem zweiten Besuch des Herzogenhofs komme es zu einer „umfassenden Konversion“92 der Erzählwelt, stellt jedoch eine Vereinfachung dar. Zwar ruft die Figurenzeichnung Crescentias als magistra am
hier des vizzetuoms – sehen, sie ist ansonsten nicht thematisiert.“ Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 63. STROHSCHNEIDER, Peter: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ‚Gregorius‘. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph HUBER/Burkhart WACHINGER/Hans–Joachim ZIEGELER, Tübingen 2000, S. 105–133, hier S. 105. STOCK, Kombinationssinn, S. 67. Ebenda, S. 69.
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Herzogenhof einen bekannten weiblichen Heiligentypus auf: den der gelehrten Frau.93 Jedoch ist auch der Neid ihres Kontrahenten daran beteiligt, den Wandel zur Heiligen vorzubereiten. Wird Crescentia durch ihre Gelehrsamkeit aus der Gruppe der anderen Adeligen ein Stück weit herausgehoben, macht der Neid auf ihren Aufstieg umgekehrt ihre Zugehörigkeit zum Adel zum Thema. Bereits der Wunsch des Neiders, Crescentia zu seiner Geliebten zu machen, zielt auf deren höfische Identität. Entgegen KIENINGs Charakterisierung ist das Begehren des vicedominus nicht vom sexuellen Verlangen her motiviert.94 Bedenkt man, dass die Werbung um Crescentia direkt auf die Schilderung seines Neides auf ihren Rang folgt, muss diese auch im Lichte ihrer Bedeutung für die höfischen Hierarchien gedeutet werden. Insofern ist die Lesart der schwer übersetzbaren Verse Ck 12108–12110 von BAASCH und STOCK die überzeugendere: alse gerne sô er lebete wolt er si behuoren daz er die frowen edele mit minnen hôrte vuoren. (Ck 12108–12110) Er wollte sie für sein Leben gern außerehelich beschlafen, um dann [sagen] zu hören, die adelige Frau habe gemeine Liebschaften.95
Folgt man dieser Übersetzung, dann reagiert der Neider an dieser Stelle nicht auf die Attraktion der körperlichen Erscheinung Crescentias, die nach der ersten Er-
Vgl. die Legende von Katharina von Alexandrien, welche den Heiligentypus der gelehrten Frau mitbegründet. Für KIENING umfasst der Begriff des Begehrens „Fragen nach Sexualität und Keuschheit, Ehe und Ehelosigkeit, männlichen und weiblichen Verhaltensmustern.“ Vgl. KIENING, Unheilige Familien, S. 89. Damit vertritt KIENING einen weiten Begriff des Begehrens, der die Gier nach Gunst und Rang – und damit den Neid – jedoch nicht einschließt. Übersetzung zit. n. STOCK, Kombinationssinn: S. 62. BAASCH erläutert die Textstelle im Vergleich mit dem Marienmirakel, das der Crescentia-Legende wahrscheinlich als Quelle diente, folgendermaßen: „Im Gegensatz zum Marienmirakel ist der Peiniger der Frau nicht ein Bruder des Herzogs, sondern nur dessen Untergebener. Diesem niedrigen sozialen Rang entspricht das Motiv, aus dem heraus er Crescentias Liebe zu gewinnen sucht: Er will sie nicht heiraten, wie der Bruder im Marienmirakel, der erst aus Liebesraserei zum Mörder und Verleumder wird, sondern will Crescentia nur zu seiner Geliebten machen, um so ihren guten Ruf zu zerstören und sie der Gunst des Herzogs zu berauben, die er ihr missgönnt (Ck 12103 ff. und Ck 12176 ff.).“ Siehe: BAASCH, Karen: Die Crescentialegende in der deutschen Dichtung des Mittelalters, Stuttgart 1968, S. 105.
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tränkung im Tiber schon deutlich gemindert ist (Ck 12055 f.). Der Körper Crescentias funktioniert in den Augen des Neiders vielmehr als Distinktionsmerkmal: Der vicedominus will nachweisen, dass die Frau, die als biderbe unde guot,/ harte kûske gemuot,/ êrhaft unt milte (Ck 12097–12099) hervorgehoben wird, nicht das Vorbild ist, das Herrscher und Hof in ihr sehen. Keuschheit und Ehre, die sie laut Erzähler auszeichnen, sollen widerlegt und Crescentia so in ihrem Rang herabgewürdigt werden. Gilt der Verführungsversuch letztlich dem Tugendadel der Protagonistin, stellt der Neider in der darauffolgenden mündlichen Konfrontation mit Crescentia ihren Geburtsadel in Frage. Er kritisiert die Position, die sie am Hof innehat, dieses Mal direkt: Crescentia sollte nicht die Macht haben, die Mägde zu beaufsichtigen – was sie gerade vor seinen Augen tut (Ck 12183–12188). Dass sich sein Blick am Goldschmuck der Favoritin des Königs festhakt, lässt sich mit STOCK als Vorwurf verstehen, Crescentia maße sich unzutreffende Standeszeichen an.96 Und es ist kein Zufall, dass die Zaubereivorwürfe gegen Crescentia, die sich durch die gesamte Argumentation des vicedominus ziehen, hier eine ständische Konnotation haben: Mit den vieldiskutierten Worten ‚[...] dû soltest pillîcher dâ ze holze varn [...]‘ (Ck 12185) fordert der vicedominus die Verbannung vom Hof als Strafe für Crescentias angeblichen Schadenzauber ein. Zugleich lassen sich seine Worte im soziologischen Sinne der Opposition ze hove – ze holze97 als Aufruf verstehen, Crescentia solle zurückkehren zu ihren unhöfischen, bäuerlichen Wurzeln. Aufgrund seines Neides auf den Vorrang Crescentias fokussiert der Neider in seiner Rede in dieser Textstelle die Brüche in der Identität Crescentias. Vor dem Hintergrund ihrer unbekannten Herkunft und ihres Aufstiegs von einer Zofe zur Herrin der Zofen implizieren seine Anklagen, dass Stand und Rang sich im Falle der maisterîn nicht decken. Berichtet wird von dem Gespräch durch die Augen der Protagonistin und ihrer Umgebung. Nachdem der vicedominus die Kemenate verlassen hat, klagt Crescentia, ‚[...] er hât mir manige hônde verwizzen.‘ (Ck 12210)98 Die Mägde raten ihr, das Vorgefallene dem Herzog zu berichten: ‚der riht ez nâch dîn êren [...].‘ Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 63. Vgl. zu dieser Grundopposition höfischen Denkens: WENZEL, Horst: Ze hove und ze holze – offenlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied. In: Höfische Literatur und Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von Gert KAISER/Jan–Dirk MÜLLER, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 277–300, hier S. 278–281. Das Wort hônde kann hier als Synonym von hôn mit ‚Schmähungen‘ oder ‚Schmach‘ übersetzt werden. Vgl. LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuch netz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023].
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(Ck 12214) Wie an den Reaktionen abzulesen ist, bleiben die Vorwürfe des vicedominus nicht ohne Wirkung. Allein dadurch, dass er seine Zweifel öffentlich vor den Mägden äußert, schädigt er das Ansehen, das Crescentia am Hof genießt. Auf diese Weise attackiert er zuletzt den Crescentia aufgrund ihres Geburts- und Tugendadels zugesprochenen Rang in der Hofgesellschaft, der seinen Neid ausgelöst hat. Da Crescentia darauf verzichtet, sich gegen den Vorwurf zu wehren, ist sie auf Gottes Wissen um ihre wahre Identität zurückgeworfen, auf welches sie sich im Gespräch mit dem Neider beruft (Ck 12193–12195).99 Betrachtet man die Neidhandlung in Gänze, wird deutlich: Über die Aktionen des vicedominus werden in veränderter Reihenfolge einzelne Aspekte der Aufstiegsgeschichte Crescentias wieder aufgegriffen und diskutiert. Die körperliche Gewalt, die ihren adeligen Körper am Ende des zweiten Durchgangs zerstört und den heiligen hervorbringt, ist nicht – wie es KIENING in seiner Analyse darstellt – ein einzelner Akt. Sie steht am Ende eines längeren Prozesses der Beschäftigung mit der Identität der Protagonistin und lässt sich nicht unabhängig vom Neid des Gewalt Ausübenden ‚lesen‘. Dies macht insbesondere die Konzeption des Schlusses der ersten Erzählsequenz am Herzogenhof deutlich: Indem der Neider das Kind des Herrschers umbringt und Crescentia in die Hände legt, ist der Sieg des Neiders über die Favoritin und Ratgeberin des Königs als exaktes Gegenstück zur Ausgangssituation ihres Aufstiegs entworfen: Standen Crescentias Ernennung zur Lehrerin für das Kind und dessen triute am Anfang ihres Einflusses am Hof, so wird Crescentia die Funktion der maisterîn von Herrscher und Hofgesellschaft durch den Tod des Kindes und ihre augenscheinliche Schuld an diesem genommen. Wurde Crescentia am Beginn der Sequenz nach und nach wieder eine höfische Identität zugesprochen, macht der Neid diese hier gewissermaßen ‚rückgängig‘.100 Die drastische Behandlung, die der vicedominus Crescentia als Vergeltung für den angeblichen Kindsmord angedeihen lässt, setzt die in der kreisförmigen Logik der Handlung angedeutete Reversibilität höfischer Identität dann auch in Szene: Mit dem Ziel, sie zu ertränken, schleift der vicedominus die maisterîn den Burgfried hinunter zum Fluss101 und kehrt in der „räumliche[n] Abwärtsbewegung“ den vorangegangenen sozialen Aufstieg Crescentias um.102
Vgl. ausführlicher: STOCK, Kombinationssinn, S. 66. Auf der Handlungsebene geht der Plan des Neiders zunächst auf, auch die ursprüngliche Verteilung der Gunst wird wiederhergestellt. Im selben Moment, in dem Crescentia mit dem toten Kind in den Händen gefunden wird, nimmt der vicedominus die ihm noch unmittelbar zuvor verweigerte Position des Ratgebers wieder ein und unterweist den Herrscher in der richtigen Bestrafung der angeblichen Kindsmörderin. Er zôch si bî dem baine/die vil herten staine,/ den hôhen burcgraben ze tale. (Ck 12345–12347). STOCK, Kombinationssinn, S. 64.
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Obwohl die verbunst nur einmal erwähnt wird, verliert der Text dabei die emotionale Komponente der Handlungen des vicedominus nie aus den Augen. In auffallender Weise bleiben im Anschluss an die erste Erwähnung des Neids alle Emotionen des vicedominus auf Crescentia bezogen: Er reagiert mit zorne darauf, dass sein Werben abgewiesen wird und Crescentia nach wie vor eine Vorzugsstellung beim König genießt. Dementsprechend ist er unfrô, dass ihn die Mägde daran hindern, Crescentia zu schlagen (Ck 12199) und freut sich über den von ihm am folgenden Tag begangenen Mord an der Rivalin (Ck 12358). Ausgehend von der verbunst entwickelt die Erzählung eine emotionale Dynamik, an deren Ende die Tötung Crescentias – und damit die Beseitigung der Konkurrentin um die Gunst – als Erfüllung des Anliegens des Neiders ausgewiesen wird. Von hier aus lässt sich das von KIENING vorgestellte Paradigma, das der Heiligkeit zu Grunde liegt, präzisieren. Zwar lassen sich in der Legende Gewalt und Begehren als strukturelle Bedingungen beschreiben, die den Unterschied zwischen rein und unrein, aussätzig und heilkräftig, erlösungsbedürftig und heilig, konstituieren.103 Es ist in der Legende jedoch nicht irgendeine Gewalt, die Crescentias höfische Existenz in die einer Heiligen überführt, es ist die neidische Gewalt. Als Distinktionsemotion104 richtet sich der Neid des Vicedominus gegen die Über- und Unterordnungen am Hof und bereitet, indem er die weltlichen Unterscheidungen attackiert, zugleich die Unterscheidung zwischen ‚weltlich‘ und ‚heilig‘ vor: Indem der Neid auf der Handlungsebene daran arbeitet, die höfische Identität Crescentias zu zerstören, macht er die Figur frei für neue Semantisierungen jenseits des höfischen Ideals. Auch das Begehren des vicedominus ist ein neidisches. Der Neid auf die maisterîn kann hier als Ringen um die Geschlechterrollen am Hof verstanden werden. In ungewöhnlicher Weise entfaltet sich die Emotion in der Legende über Geschlechtergrenzen hinweg und zeigt so an, dass Crescentia am Herzogenhof in ihrer Rolle als maisterîn und Favoritin des Königs in klassische Männerrollen vorgerückt ist. Über die Zerstörung des guten Rufes der Beneideten hinaus lässt sich das Verführungsvorhaben des vicedominus als Versuch deuten, mit Hilfe der Sexualität Geschlechtsunterschiede wie- hierarchien im sozialen Raum wiederherzustellen: Würde Crescentia zur Ehefrau oder Geliebten, so wäre sie zugleich innerhalb der hegemonialen Geschlechterordnung wieder als Frau kodiert und einem Mann zu- und untergeordnet. Das legendentypische Motiv der Keuschheit wird über die Distinktionsemotion auf die ihm eingeschriebene Gender- und Machtdimension hin transparent.105 Indem sich Crescentia dem Werben des Nei Vgl. KIENING, Versuchte Frauen, S. 92; KIENING, Unheilige Familien, S. 97. Zum Terminus der Distinktionsemotion vgl. das Kapitel 3.1.2. Vgl. die Überlegungen Ingrid KASTENs zur Keuschheit als Negation der weiblichen Reproduktionsfähigkeit in: KASTEN, Ingrid: Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers. In:
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ders widersetzt, schreitet die Umbesetzung ihrer Geschlechtsidentität, die sich schon in ihrem Wirken als gelehrte Frau, als maisterîn, am Hof spiegelt, weiter voran. Der Tugendadel der gelehrten Frau wird auf die Probe gestellt und durch den Beweis ihrer Keuschheit weiter zur Heiligkeit gesteigert. Versteht man die neidischen Handlungen im Einklang mit den bisherigen Überlegungen als Griff nach der Deutungsmacht über die Identität der Beneideten, so werden über Crescentias Abwehr der Verführungsversuche des vicedominus diejenigen Aspekte ihrer Identität verstärkt, die sich klassischen Frauenrollen am Hof entziehen. Neid ist an der Heiligung in der Crescentialegende folglich sowohl durch die neidischen Aktionen als auch über die Art und Weise, in der Crescentia auf diese reagiert, beteiligt. Die Heiligung wird sowohl über die vom Neider ausgehende Zerstörung der höfischen Identität Crescentias als auch über eine Bewährung und Steigerung ihres Tugendadels in Auseinandersetzung mit dem Neid erzählt.
4.3.3 Herrschaftskrisen Die Heiligung ist jedoch nicht das alleinige Thema der Erzählung, die weltliche Sphäre des Hofes wird in der Erzählung nie vollständig durch die geistliche Sphäre abgelöst. Laut KIENING verhandelt die Erzählung das Verhältnis von Weltorientierung und Heilsorientierung in Form einer Dialektik, in der die „Eigenart weltlicher Gewalt gerade im Blick auf das ‚eingeschlossene Ausgeschlossene‘ des Heiligen profiliert wird.“106 Parallel und verbunden mit der Geschichte der Heiligung wird die Geschichte einer Krise weltlicher Herrschaft am römischen Hof erzählt, die sich ausgehend von der erst ausbleibenden Geburt eines Thronfolgers und der dann folgenden Geburt von Zwillingen immer weiter zuspitzt.107 KIENING liest die Zwillingsgeburt im Anschluss an René GIRARD als ‚Krise der Unterschiede‘,108 die die Träger der Herrschaft erst zu Gewalttätern mache und dann dazu führe, dass sie sich in Form der göttlichen Strafe des Aussatzes mit der eigenen Gewalt ansteckten und regierungsunfähig würden.109
Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid BENNEWITZ/Ingrid KASTEN, Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 199–219. KIENING, Unheilige Familien, S. 90. Ebenda, S. 93. Zur Vorstellung von Kultur als organisiertes System von Unterschieden und zur Zwillingsgeburt als Krise der Unterschiede vgl. GIRARD, Das Heilige, S. 76–78 u. S. 88–103. KIENING, Unheilige Familien, S. 96.
4.3 Die huld des Herrschers und die huld Gottes in der Crescentia-Legende
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Von der Forschung unbeachtet berichtet die Erzählung streng genommen zwei Mal von einer genealogischen Krise: Ist die Nachfolge am Kaiserhof in Rom durch die Zwillingsgeburt gefährdet, so wird am Herzogenhof der Sohn des Herrschers und damit der Erbe110 ermordet aufgefunden. Der neidische vizzetuom spielt in diesem Geschehen eine Hauptrolle: Er ist zum einen derjenige, der den Herzogensohn kaltblütig ermordet. Er reißt zum anderen die Kontrolle über die Deutung der Ereignisse an sich. Angetrieben durch seinen Neid präsentiert er am Herzogenhof eine Interpretation der Herrschaftskrise, in der falsch vergebene Gunst, Zauberei und der Mord am männlichen Erben miteinander verwoben sind. Diese Anklagen des Neiders wurden bisher nie gesondert analysiert. In diesem Kapitel soll zunächst die neidische Deutung der Herrschaftskrise aus den einzelnen Äußerungen des vicedominus rekonstruiert werden, um dann auf der Handlungsebene den Stellenwert von Neid und Neidhandlungen innerhalb der genealogischen Problematik zu bestimmen. 4.3.3.1 Der Günstling als Zauberer, die Gunst als Verzauberung? Neidische Günstlingskritik In der Geschichte des Neiders ist Crescentia nicht Opfer von Gewalt, sondern Täterin. Folgt man seinen Worten, dann mündet die für den Favoriten typische Nähe zum Herrscher, der Zugang zu den herrschaftlichen Gemächern, hier in die größtmögliche Katastrophe für die Herrschaft: Er beschuldigt Crescentia, den tot in ihren Armen liegenden Erben ermordet zu haben (Ck 12268 f.). Auf diese Anklage lässt der vicedominus, als der Herzog ankündigt, auf eine Bestrafung der Kindsmörderin verzichten zu wollen, eine zweite folgen: Crescentia sei eine Zauberin und das Vorhaben des Herzogs Ausdruck seiner fortgesetzten Fremdbestimmung. Er warnt: jâ hât si dich bestanden/ mit zouberlîchen dingen. /dû wil von ir grôzen scaden gewinnen. (Ck 12318–12320) Die Relation des Herrschers zur Favoritin – und damit Gunst, Wohlwollen, Schonung – werden so als Folge einer Verzauberung gezeichnet. Damit weicht die Deutung des vicedominus von der des geschädigten Herzogs in auffälliger Weise ab. Dieser diskutiert die angebliche Ermordung des Kindes als Treuebruch und damit in Termini der rechtlichen Definition von Huld. Crescentia habe seine Treue nicht erwidert, er habe ihre Treue vil luzzel genozzen (Ck 12283). Der Herzog schlägt dementsprechend eine Strafe vor, die sich am Prinzip der wechselseitigen Pflichten von Herrscher und Dienstmann orientiert: Crescentia solle den Hof verlassen (Ck 12306–12312), d. h. ihr solle die Gunst entzogen werden.111
Die Erzählung berichtet nur von sîne[m] sun (Ck 12092), von einem zweiten männlichen Nachkommen ist an keiner Stelle die Rede. Zum Entzug der Gunst vgl. wiederum: ALTHOFF, Huld, hier S. 263–271.
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Der neidische vizzetuom hingegen problematisiert nicht allein die Performanz des Huldverhältnisses, sondern schon das Zustandekommen der Gunst selbst. Der Schaden des Herrschers erscheint als Resultat einer falschen Verteilung von Gunst (Ck 12318–12320). Ähnliche Vorwürfe gegen Crescentia finden sich in der Erzählung bereits früher, sodass sich aus seinen Einzeläußerungen ein einheitliches Negativbild der Favoritin herauskristallisiert. Nachdem Crescentia sein Werben abgelehnt hat, beschuldigt der vicedominus sie gegenüber der Kupplerin, den Schatz, der allen zukomme, für sich allein zu beanspruchen und in einer Kammer verschlossen zu halten (Ck 12173–12175). Indem er im nächsten Schritt ankündigt, Crescentia die Gunst ihres Herrn zu nehmen (Ck 1217 f.), wird der von Crescentia gehortete Schatz erst als Metapher für die Position des Günstlings kenntlich, um dann einige Verse später wieder eine reale Materialität in der Geschichte zu gewinnen. Der vizzetuom wirft Crescentia vor, goldenen Schmuck zu tragen und bezichtigt sie im gleichen Atemzug der Zauberei (Ck 12187 f.). In der Diskussion über die Favoritin werden Gunst, Reichtum, Adelszeichen und Zauberei derart überblendet. Auf vielerlei Weise wird ausgedrückt, dass Crescentia ihren Rang am Hof unrechtmäßig erworben hat, die Position des Günstlings ins Zwielicht gerückt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der vicedominus zuletzt auch die Bestrafung Crescentias für den angeblichen Kindsmord in den Kontext der Günstlingskritik rückt. Der vizzetuom begleitet seine Gewaltakte gegen Crescentia mit den Worten ich wil mich sô gerechen/ an dir vil unreinen/ daz dû niemer neheinen/ bezouberst noch betriugest [...] (Ck 12340–12343). Der Emotion und Handlung der rache, die herkömmlicherweise auf eine vorangegangene Gewalttat reagiert, wird hier zugleich ein vorbeugender Charakter zugesprochen. – Verhindert werden soll, dass Crescentia je wieder durch Manipulation eine Günstlingsposition einnehmen kann. Die genealogische Krise am Herzogenhof wird in der Strafrede des Vicedominus derart als Krise der Gunstbeziehungen interpretiert. Im Gegensatz zur in Fürstenspiegeln, historiographischen und hofkritischen Texten verbreiteten Günstlingskritik ist es in der Crescentia-Legende jedoch nicht die vom Herrscher begünstigte Person – zumindest nicht die aktuelle –, die den Herrscher bedroht. Vielmehr schädigt der Urheber der Klagen gegen die Favoritin den Herrscher, um die beneidete Favoritin zu treffen. Indem der vicedominus den Erben tötet, geht seine Intrige noch über die des Neffen im Herzog Ernst B hinaus: Der Neider täuscht eine Bedrohung der Herrscherposition durch den Favoriten nicht nur durch seine Rede vor, er selbst sorgt auch dafür, dass das Herrscherhaus tatsächlich Schaden erleidet.
4.3 Die huld des Herrschers und die huld Gottes in der Crescentia-Legende
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4.3.3.2 Neue Unterscheidungen Am Ende der Crescentia-Legende wird eine Lösung für die Herrschaftskrise im römischen Reich präsentiert. Diese ist symmetrisch auf deren Ursachen bezogen: Stellte die Zwillingskrise eine Krise der Unterschiede dar, so funktionieren Heiligung und Moniage des Herrscherehepaars als Differenzierung, durch die die Herrscherfamilie in einen weltlichen und einen geistlichen Teil gespalten wird.112 In dieser Deutung spielt die Heiligung Crescentias eine zentrale Rolle auch für die weltliche Ordnung: Sie stellt in der Geschichte das Element dar, das die Konkurrenz zwischen den Brüdern auflöst, die Gewalt stoppt und in der Kaiserchronik Herrschaft mit Transzendenz verbindet. Kontur gewinnt diese neue Art der Unterscheidung nicht allein durch Rekodierung der Identität Crescentias. Für die Heiligung sind ebenso die Taten ihrer Gegner und ihre Bewertung innerhalb des Figurenarsenals wichtig. Christian KIENING hat diesen Mechanismus in seiner Interpretation der Crescentia-Legende präzise erklärt. Im Einklang mit STROHSCHNEIDERs Definition von Heiligkeit als Distanz- und als Relationskategorie fasst er die Charakterisierung Crescentias und die ihrer Feinde als wechselseitige Dynamik. Die Semiotik des Heiligen beruht ihm zufolge auf einer Kontrastbeziehung: „Indem sie [Begehren und Gewalt] sich als unrein erweisen, profilieren sie zugleich die Reinheit derer, die beides schließlich aufhebt und die Krise überwindet.“113 Wie diese Dialektik zwischen rein und unrein konkret erzeugt wird, bleibt in KIENINGs von GIRARD beeinflusster Lektüre der Crescentialegende teils jedoch skizzenhaft. Betrachtet man die Erzählung über die Favoritin mit dem Wissen um den Neid des vicedominus, so ist ihre legitimatorische Funktion für sein Handeln unmittelbar ersichtlich. Indem der Vertraute des Königs selbst das Kind umbringt und Crescentia des Schadenzaubers beschuldigt, imitiert er jene Vergeltungslogiken, von denen er gegenüber Crescentia spricht: Die angebliche Gewalt Crescentias gegen das Kind ermöglicht die Gewalttaten gegen Crescentia. Eine Gewalttat erzeugt die nächste. Die von KIENING im Anschluss an GIRARD in der Crescentialegende beobachtete ‚Ansteckung‘ der Gewalt114 ist in diesem Fall also ein Werk der Inszenierung. Dabei verrechnet sich ihr neidischer Regisseur jedoch in Bezug auf einen Faktor. Er hat die höhere Gewalt – die göttliche Strafe für sein Tun – nicht mit einberechnet. Am Ende der Kettenreaktion der Gewalt steht dementsprechend nicht nur die Ertränkung seiner Rivalin, sondern sein Aussatz, der ihn als
Vgl. wiederum: KIENING, Versuchte Frauen, S. 92 f.; BIESTERFELDT, Corinna: Moniage – Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu ‚Kaiserchronik‘, ‚König Rother‘, ‚Orendel‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Prosa-Lancelot‘, Stuttgart 2004, S. 34. KIENING, Unheilige Familien, S. 97. Ebenda, S. 89.
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Sünder – in KIENINGs und GIRARDs Worten als ‚unrein‘ – markiert.115 Crescentia hingegen wird über die neidische Gewalt als das unschuldige Opfer inszeniert. Im Gegensatz zur Vergeltung weist der Neid nicht auf eine vorherige Tat des Angegriffenen, sondern allein auf die Unterlegenheit des Neiders im Kampf um die Gunst des Herrschers zurück. Damit erscheinen die von KIENING und von STOCK vorgetragenen Interpretationen von Crescentia als ‚verfolgter Unschuld‘ und als ‚Spenderin und Trägerin von Macht‘ nicht mehr als Gegensätze.116 Der Neid auf die Gunst ist am Zustandekommen der Opposition von ‚unrein‘ und ‚rein‘ beteiligt und bringt so die Heiligkeit Crescentias auf Ebene der Handlung mit hervor. Blickt man auf die Bewertung des vicedominus in der Legende, so werden im Erzählerdiskurs anhand der Emotion selbst Unterscheidungen getroffen. So fällt auf, dass der Erzähler den vicedominus, der Crescentia an den Hof gebracht hat, erst in Zusammenhang mit seinem Neid als gotes widerwarte (Ck 12104), als Feind Gottes, bezeichnet.117 Diese Kombination von Neid und Gottesfeindschaft weckt beim Rezipienten die Erinnerung an den ersten Feind Gottes, den gefallenen Engel Lucifer, der ebenfalls ein Neider war.118 Die Emotion Neid ist Ausgangspunkt zweier Beziehungen. – Als Neider ist der vicedominus zugleich Feind Crescentias wie Feind Gottes. Im Feld der sich überschneidenden Oppositionsbeziehungen liegt es nahe, sie für die Semiotik des Heiligen auch parallel zu deuten. Steht auf der einen Seite der neidischen Relation gotes widerwarte, so liegt es nahe, auf der anderen Seite Gottes Auserwählte zu suchen. Über die Opposition von Neider und Beneidetem wird die Heiligkeit greifbar. Der Neid am Herzogenhof spielt folglich auf zweierlei Weise eine Rolle bei der Auflösung der Krise der Unterschiede. Die Intrige des Neiders ruft zum einen die genealogische Problematik am Kaiserhof in Rom in Erinnerung und variiert diese. Bestand das Problem in Rom zunächst darin, dass ein Thronfolger fehlte und dann darin, dass mit den Zwilllingen gleich zwei Anwärter auf den Thron geboren wurden, wird am Herzogenhof einer adeligen Familie der vorgesehene Erbe durch Mord entrissen. Aufgrund des Status des Herzogenhofs als Nebenschauplatz bilden die Folgen des Mordes für die Herrschaft in der Erzählung zwar einen blinden Fleck. Festhalten lässt sich jedoch, dass Crescentia durch den
Ebenda, S. 96 f. Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 55. Es fällt auf, dass der vicedominus im Gegensatz zu Dietrich nicht mehr durch den Teufel zu seinen Taten angestiftet wird, sondern im Zusammenhang mit seinem Neid selbst als gotes widerwarte erscheint. Vgl. BIESTERFELDT, Moniage, S. 34. Damit unterscheidet der Text sorgfältig zwischen der Bewertung der Taten des potentiellen Neiders im ersten Zyklus und des tatsächlichen Neiders im zweiten Zyklus. Vgl. die Ausführungen zum Neid Lucifers im Kapitel 2.5.2 ‚Die heilsgeschichtliche Perspektive‘.
4.3 Die huld des Herrschers und die huld Gottes in der Crescentia-Legende
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Neider eine neue Position innerhalb genealogischer Krisen zugeschrieben wird: Ist sie in Rom diejenige, die die Zwillingskrise durch ihre Heiratswahl lösen soll und dies aufgrund der Aggression des zurückgewiesenen Bruders nicht dauerhaft vermag, wird sie in der verleumderischen Anklage des Neiders als diejenige gezeichnet, die selbst eine genealogische Krise verursacht. Dadurch, dass Crescentia ins Zentrum der genealogischen Krise rückt, wird zum anderen die Handlung dynamisiert. Die Mordanklage gegen die Favoritin des Herzogs setzt eine Kettenlogik der Gewalt in Gang, die die Heiligung Crescentias weiter vorantreibt und so dabei hilft, die Moniage des Kaiserpaares als Lösung der genealogischen Krise im Reich zu offenbaren.
4.3.4 Göttliche und weltliche Strafe Im Unterschied zum Herzog Ernst B spricht der Neider in der Crescentia-Legende direkt über sein Vorhaben, die Beneidete der Gunst des Herzogs zu berauben. Im Gespräch mit der als Kupplerin angeworbenen Magd formuliert er als gemeinsames Ziel: nû grîfe wir alle zesamene/ unt verliesen ir mînes hêrren hulde. (Ck 12176 f.) Der von ihm für das Neidobjekt verwandte Begriff der huld findet sich im zweiten Teil der Erzählung in anderen Zusammenhängen: So deutet der Herzog die Verbrechen des vicedominus als Vergehen wider gotes hulden (Ck 12258) und beschreibt die Beziehung zwischen Gott und Mensch auf diese Weise mit denselben Worten, die er zuvor für das Verhältnis zwischen Herr und Gefolgsmann verwendet hat.119 Auch am römischen Hof wird die göttliche Gnade (gratia) über den Begriff der Huld verhandelt: Crescentia verheißt dem Kaiser für seine öffentliche Beichte gotes hulde und damit die Heilung von der göttlichen Strafe des Aussatzes (Ck 12621–12624). Im Wechsel der mit huld bezeichneten Beziehungen des Wohlwollens wird der veränderte Werthorizont des zweiten Teils der Legende sichtbar. Die übereinstimmende Bezeichnung für die Gunst des Fürsten und die Gnade Gottes legt nahe, dass die göttliche und die weltliche Gunst in der Erzählung miteinander verbunden sind. Die Frage ist: Wie? Zum Abschluss der Analyse der Crescentialegende soll daher un-
Einen Zusammenhang zwischen beiden hat bereits Gert ALTHOFF hergestellt, indem er darauf hinweist, dass sowohl bei der Wiedererlangung der Huld des Herrschers und der Huld Gottes Mittlerfiguren notwendig sind. Vgl. ALTHOFF, Huld, S. 267. Im literarischen Diskurs über die Huld identifiziert Kai-Peter EBEL im Herzog Ernst B noch weitgehendere Bezüge zwischen beiden Verhältnissen der Huld: In Ernsts Vorstellung decken sich seine Kreuzzugspläne mit der Rückgewinnung der kaiserlichen Huld, die politische Konzeption der Huld wird als Teil der göttlichen Huld verstanden. Vgl. EBEL, Huld im ‚Herzog Ernst B‘, S. 202.
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4 Der Neid auf den Günstling
tersucht werden, wie die vom Neider begehrte Gunst und die Gnade Gottes im Erzählen von Neid relationiert werden. Der vicedominus begegnet Crescentia im zweiten Teil der Legende als für seine Gewaltakte mit Aussatz bestrafter Sünder wieder. Nachdem vor ihm bereits sein Herr von der Heiligen durch ein Beichtwunder geheilt worden ist, soll nun auch er – so will es der Herzog – durch die Beichte genesen. Da das Sündenbekenntnis öffentlich erfolgen muss, um wirksam zu sein, stellt die Beichte den vicedominus vor ein Dilemma: Kann er, wenn er beichtet, zwar auf Gottes Gnade hoffen, muss er gleichzeitig damit rechnen, die Huld seines weltlichen Herrn zu verlieren. Und so geschieht es. Dem Neider werden die Sünden, die zu seinem Aussatz geführt haben, vergeben, denn unmittelbar auf die Beichte folgt die Heilung.120 Der mithörende Herzog aber, der den vicedominus kurz zuvor noch als seinen treusten (Ck 12494) und wertvollsten Vasallen (Ck 12537) bezeichnet hat, kündigt an, dass dieser die Vorspiegelung falscher Treue bereuen werde (Ck 12546–12550). In der Situation der Beichte werden die Gnade Gottes und die Gunst des Herrschers gegeneinander ausgespielt. Die Crescentialegende erzählt von Huld jedoch nicht nur in Form eines Tauschs, in welchem der vicedominus die Gunst seines weltlichen Herrn verliert und dafür die seines himmlischen Herrn gewinnt.121 In der auf das Beichtwunder folgenden Diskussion, ob der Übeltäter bestraft werden dürfe oder nicht, werden die weltliche und religiöse Huldbeziehung argumentatorisch ineinander verschränkt. Auf Crescentias Einwand hin, dass er ihr versprochen habe, das ihm zugefügte Leid nicht zu rächen, unterscheidet der Herzog zwischen der Gewalt gegen seine Familie und der Gewalt gegen Crescentia: [...] verkorn hân ich mîne sculde. daz er wider gotes hulden hât getân an dem ellendem wîbe, daz wil ich an sînem lîbe vil tiure gerechen. (Ck 12557–12561)
Sein Zorn richte sich nicht auf die ihn selbst betreffenden Verbrechen, d. h. den Mord an seinem Sohn sowie den Treuebruch im Verhältnis von Herrscher und adeligem Gefolgsmann, sondern auf das, was der vicedominus Crescentia angetan habe. Diese Argumentation ist zum einen strategisch, da sie es dem Herzog
Vgl. BIESTERFELDT, Moniage, S. 30. In diese Richtung weist die Deutung von Markus STOCK, der betont, dass der vizzetuom durch die Heilung Gnade vor Gott, jedoch nicht vor der weltlichen Macht des Herzogs finde. Vgl. STOCK, Kombinationssinn, S. 67.
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ermöglicht, das Crescentia gegebene Versprechen zu umgehen. Zum anderen signalisieren seine Worte: Ist der Huldverstoß des Neiders gegen den Herrscher verzeihbar, so ist es jener gegen die göttliche Huld nicht. Der Herzog veranlasst, dass der vicedominus wie schon zuvor Crescentia mit gebundenen Händen und Füßen ins Wasser getaucht und so ertränkt wird. Setzt man die Strafe in Bezug zu dem Verhalten, das dieser vorangegangen ist, lässt sich die Beschreibung des Neids nunmehr präzisieren: Die Crescentia-Legende zeigt den Neid des vicedominus als einseitige Konzentration auf weltliche Huld. Im Gegensatz zu Crescentia, die selbst angesichts ehrverletztender Beleidigungen darauf vertraut, dass Gott um ihre wahre Identität weiß (Ck 12193–12195), verortet sich der vicedominus allein in weltlichen Gunsthierarchien und bleibt so gleich doppelt blind: Er übersieht aufgrund seines Neides nicht nur, dass Crescentia ihm an Adel überlegen ist. Er nimmt auch als einziger den Tugendadel der gelehrten Frau und damit die Vorzeichen der Heiligkeit nicht wahr. Da der Neider getötet wird für seine Vergehen gegen die göttliche Huld, erscheint die Konkurrenz um die weltliche Huld schlussendlich als falsche Rahmung der Wirklichkeit. – Die Distinktionsemotion ‚Neid‘ konzentriert sich auf die falschen Unterschiede.122 Zu beachten ist, dass der Text dennoch keiner ‚einsinnig‘ religiösen Interpretation von Huld Vorschub leistet. Auffälligerweise ist es der Herzog und nicht Gott, der den Neider für seine Vergehen gegen Crescentia bestraft. Der im Beichtwunder gewährten Gnade Gottes steht hier die Härte eines Herrschers gegenüber, der der Rechtslogik, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, folgt und dabei zuletzt auch die göttliche Strafgewalt (in Bezug auf die Vergehen gegen die göttliche Huld) usurpiert. Dieses eigentlich unerhörte Vorgehen – und hierin besteht das für die Deutung Verwirrende – wird im Text nicht kritisiert. Stattdessen wird über die vom Herzog befohlene Spiegelstrafe erneut eine Tun-Ergehen-Logik entfaltet: „[A]nders als Crescentia geht er [der vicedominus] im Wasser auch tatsächlich unter“, er wird als ‚unrein‘ markiert, während Crescentias ‚Reinheit‘ und Heiligkeit durch ihre Rettung hervorgehoben wird.123 Mit Blick auf das Gegen- und Miteinander göttlichen und herrschaftlichen Strafens sind die Hulddynamiken in der Crescentialegende folglich differenziert zu beschreiben: Huld wird in der Crescentia-Legende nicht in Form eines einfachen Ablöseprozesses verhandelt, in welchem die vom Neider begehrte weltliche
Ähnlich schon MARKUS Stock: „Nicht die soziale Identität ist entscheidend, sondern die Stellung vor Gott. Der ‚gotes widerwarte‘, der die vermeintlich Identitätslose mit äußerster Brutalität dahin befördert, wo sie hergekommen ist, ist Gottesgegner nicht zuletzt deshalb, weil er diese in der Figur Crescentias am Herzogenhof vertretene christliche Position ablehnt.“ Siehe: STOCK, Kombinationssinn, S. 66. KIENING, Unheilige Familien, S. 97.
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Gunst durch die Crescentia zukommende göttliche Gunst ersetzt wird. Typisch für die Kaiserchronik verlieren Herrschaftslogiken auch im legendarischen Erzählen nie ganz an Bedeutung. Hat Crescentia neben der göttlichen gleichfalls die Huld des Herzogs erworben, so ist der Neider bis zuletzt und auch in Bezug auf seine religiösen Sünden abhängig von der Gunst seines Herrschers. Von diesem Ende aus lässt sich das neidische Verkennen noch einmal genauer bestimmen: Die Distinktionsemotion ‚Neid‘ konzentriert sich auch deshalb auf die falschen Unterschiede, weil sich die Herrschaftsordnung in der Crescentia-Legende selbst nicht mehr nur an weltlichen Rangfolgen und Herrschaftsprinzipien orientiert.
4.4 Verdoppelungen. Der falsche und der wahre Günstling in De Contrarietate Parii et Lausi Der angevinische Hof, für den der Hofbeamte und spätere Archidiakon Oxfords Walter Map erzählte und schrieb, war aufgrund der Machtfülle Heinrichs II. vielleicht noch stärker als andere Höfe von Gunstbeziehungen geprägt. Thomas ASBRIDGE beschreibt die Atmosphäre am umherziehenden Hof in seiner Biographie des Ritters Guillaume le Maréchal als eine, in der alle darum wetteifern, das Gehör des Herrschers zu erlangen. Mit Thomas Beckets Aufstieg zum Lordkanzler in den 1150er Jahren existierte für die Höflinge ein wirkmächtiges Beispiel dafür, dass es der König in der Hand hatte, einen Mann niedriger Herkunft durch seine Gunst zu einer der mächtigsten Gestalten des Königsreichs zu machen.124 Angesichts dieses Produktions- und Rezeptionskontextes überrascht es nicht, dass die Gunst und der Kampf um diese auch in Walter Maps Erzählsammlung De nugis curialium thematisiert werden. Die Erzählung De contrarietate Parii et Lausi125 erzählt nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal vom Neid auf die Gunst. Zunächst erfreuen sich die Freunde Parius und Lausus am babylonischen Hof beide der königlichen Huld. Als Kammerdiener des Ninus sind sie aus der Masse der Höflinge hervorgehoben. Ihre Eintracht zerbricht jäh, als Parius auf Vgl. zum Ringen um die königliche Gunst am angevinischen Hof: ASBRIDGE, Thomas: Der größte aller Ritter und die Welt des Mittelalters. Aus dem Englischen von Susanne HELD, Stuttgart 2015, S. 220 f. Alle Zitate folgen der Ausgabe: Map, Walter: De Nugis Curialium. Courtiers’ Trifles. Edited and translated by M. R. JAMES. Revised by C. N. L. BROOKE/R. A. B. MYNORS, Oxford 1983. Auf die Erzählung wird im Folgenden mit der Sigle ‚NC‘ und den dazu gehörigen Seitenzahlen verwiesen. Die deutsche Übersetzung folgt: Map, Walter: Die unterhaltsamen Gespräche am englischen Königshof. De nugis curialium. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Elmar WILHELM, Stuttgart 2015 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur 12). In einigen Fällen wird von dieser Übersetzung abgewichen, wenn auf eine eigene Semantisierung Wert gelegt wurde.
4.4 Verdoppelungen. Der falsche und der wahre Günstling
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Lausus’ Vorrang beim König neidisch wird. Er bringt seinen Freund mit Hilfe in Gift getränkter Betttücher auf so heimtückische Weise ums Leben, dass der Mord unentdeckt bleibt. Jedoch kann er sich nur kurz der ungeteilten Aufmerksamkeit des Herrschers erfreuen. Nach dem Tod von Lausus wendet sich Ninus dessen Sohn zu. Auf diese Weise wiederholt sich das anfängliche Szenario. Parius bemerkt, dass der Junge, als dessen Ersatzvater und Lehrer er fungiert, häufiger als er zum Herrscher berufen wird, und wird erneut neidisch. Anstatt mit Gift geht er dieses Mal mit einer Lügengeschichte gegen den Günstling vor, die er in zwei unterschiedlichen Versionen erzählt: Zum einen macht er seinen Pflegesohn Glauben, dass dieser unter einem faulen Atem leide, der seine Nähe dem König unangenehm mache. Dementsprechend hält sich der Günstling fortan vom Herrscher fern. Zum anderen erzählt er Ninus, dass der Sohn des Lausus ihn eines faulen Atems beschuldige und ihn deshalb meide. Zornentbrannt plant der König die Bestrafung seines undankbaren Günstlings. Scheinbar als Zeichen seiner Gunst beauftragt er den Sohn des Lausus, bei den alljährlichen Spielen als sein Stellvertreter aufzutreten. Parius, der nicht in die Pläne des Herrschers eingeweiht ist, überzeugt seinen Schüler, mit ihm die Rollen zu tauschen und wird so irrtümlich anstelle des Günstlings ermordet. Nach seinem Tod kommt die Intrige des Parius ans Licht, der Sohn des Lausus wird wieder in die Huld seines Herrn aufgenommen. Die Geschichte ist wie die Erzählsammlung, aus der sie stammt, unikal in einer Handschrift aus dem vierzehnten Jahrhundert überliefert. Dennoch kann man sie nicht als randständig zur Seite legen. Zum einen war Walter Map, wie die vielen ihm später fälschlicherweise zugeschriebenen Werke zeigen, als Autor bekannt.126 Wahrscheinlich waren seine laut Zeitgenossen ursprünglich in der Volkssprache für den Vortrag verfassten und erst später ins Lateinische übertragenen Texte als mündliches Erzählgut verbreitet.127 Zum anderen brachte der Kleriker und Hofmann Walter Map in seiner zwischen den Gattungen, Stoffen und Tonlagen hin- und herspringenden Erzählsammlung seinen gesamten Bildungshorizont ins Spiel, sodass sie dem heutigen Rezipienten – wie es Christopher Nugent Lawrence BROOK formuliert hat – als „rough inventory of the mental furniture of a learned and witty 12th-century clerk, a marvellous guide to a fascinating lumber-room“128 dienen können.
Walter Map wurden verschiedene weltliche lateinische Dichtungen des zwölften Jahrhunderts ebenso wie der altfranzösische Prosa–Lancelot (1215–1249) sowie eine Sammlung witziger dicta zugeschrieben. Seine Autorschaft wird heute jedoch als widerlegt angesehen. Vgl. hierzu: BEYER, Kathrin: Witz und Ironie in der politischen Kultur Englands im Hochmittelalter. Interaktionen und Imaginationen, Würzburg 2012 (Religion und Politik 2), S. 229. Ebenda, S. 230 f. Vgl. BROOKE, Christopher Nugent Lawrence: Introduction. In: Map, De Nugis Curialium, S. xiii–l, hier S. xix.
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Diese Eigenschaft wird in der Erzählung De contrarietate Parii et Lausi insbesondere in der Rahmung der Handlung deutlich. Gekonnt verknüpft Walter Map in seiner Einleitung zwei Stoffe miteinander: Die biblische Geschichte des Engelssturzes wird mit der bei Justinus und Augustinus überlieferten Geschichte des herrschsüchtigen babylonischen Königs Ninus verbunden, um ein vorgeblich historisches Exempel zum zeitgenössischen Problem des Neids auf die Gunst zu kreieren und dieses zugleich in eine epochenübergreifende und noch andauernde Geschichte des teuflischen Neids einzuordnen. Blickt man auf die bisher in diesem Kapitel vorgestellten Konstellationen des Neids auf die Gunst, so steht dieser bei Walter Map das erste Mal selbst im Zentrum der Erzählung und wird explizit moraldidaktisch und sündentheologisch perspektiviert. Welche Folgen diese Sichtweise für die Konzeption der Emotion und der mit ihr verbundenen Rivalität um die Gunst hat, ist Thema der folgenden Analyse.
4.4.1 Teuflische Ansteckungen In Walter Maps De contrarietate Parii et Lausi wird der Neid auf die Gunst als Teil einer Geschichte (historia) des Neides erzählt, an deren Beginn der Teufel steht. Dieser ist nicht nur der erste Neider. In Walter Maps Erzählung des Engelssturzes wird die invidia aus Lucifers Herzen geboren,129 sodass die Distinktionsemotion an seinem Beispiel erklärt wird. Zum einen richtet sich der Neid Lucifers bei Map zuallerst auf Gott und dann erst auf den Menschen.130 Auch nach Lucifers Sturz und der Vertreibung aus dem Paradies behält der Neid seinen blasphemischen Charakter. Indem er sich jeweils gegen das Hohe und Gute wendet, attackiert er das, was Gott nahe ist: et cum obtusa sit in Deum audere, sublimia queque, quasi que Deo proxima videntur, blasphema decerpit (NC 246).131 Zum anderen ist der Neid des Teufels nach dem Engelssturz immer auch Verlustreaktion. Im Neid bleibt die Erinnerung an Lucifers früheren Status erhalten, Neid zielt darauf, das Verlorene zurückgewinnen, die Hierarchien hinaufzuklettern, ganz so, als ob die alte Heimat noch einmal wiedergewonnen werden könnte (NC 246).
Vgl. zum Neid als teuflische Emotion in der mittelenglischen Tradition: DIEKSTRA, The Art of Denunciation, S. 437. Damit knüpft Walter Map an die Mehrheitsdeutung des Engelssturzes an. Abweichend von Origenes, Chrysostomos und Hieronymus identifiziert er als Ursache des Aufbegehrens Lucifers gegen Gott jedoch nicht mehr dessen superbia, sondern dessen invidia, sodass der Neid zur ersten Sünde wird. „[...] und nachdem er in seinen Wagnissen gegen Gott zurückgeschlagen worden ist, greift er blasphemisch nach all dem in der Höhe, was anscheinend Gott am nächsten ist“ [eigene Übersetzung].
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Die Erzählung vom Teufel funktioniert in De contrarietate Parii et Lausi indes nicht nur als Herkunftsgeschichte des Neids.132 Walter Map verknüpft die Geschichte vom Engelssturz mit einer Geschichte der Ausbreitung der teuflischen Emotion und betont insbesondere die Anpassungsfähigkeit des Neids an verschiedene Milieus. Im Gegensatz zu allen anderen Sünden lasse sich Neid nicht örtlich begrenzen, sondern tauche gleichermaßen bei Reichen und bei Armen, auf der Erde, im Meer oder in der Luft auf. Jede Kreatur auf der Welt bis hinab zu den Würmern könne beim Neiden beobachtet werden. Dabei entfaltet sich die emotionale Dynamik jenseits bekannter Vorbild- und Nachahmungsrelationen.133 Indem der teuflische Neid über die gesamte Erzählung hinweg personifiziert wird, tritt dieser selbst als Handelnder auf, der eine Neidkonstellation mit der nächsten verbindet. Der vom Erzähler verwandte Terminus inficit (NC 246)134 suggeriert eine vom Neid – und damit implizit vom Teufel ausgehende – Ansteckungslogik, welche am historischen Beispiel des babylonischen Königs Ninus vorgeführt wird. Da Ninus als vorbildlicher Herrscher beneidenswert ist, wird er mit Neid infiziert und seiner Vorbildlichkeit beraubt: regem eius Ninum in singulis invidiosum invenit, invidum reddidit [...] (NC 246).135 Neid folgt so aus dem gegen alles Erhabene gerichteten Neid des Teufels. Über die emotionale Ansteckung wird das Hohe ins Niedrige verwandelt; was Gott nahe und ähnlich ist, wird durch Neid zum Ebenbild des Teufels. Damit liefert die Geschichte der Infektion des Ninus das Verlaufsmodell für die nachfolgende Konstellation des Neids auf den Günstling. Diese Kontinuität wird in den sprachlichen Strukturen zum Ausdruck gebracht: Die für die Ansteckung des Ninus gebrauchte Wortkette hec, latenter und pervertit (NC 246) kehrt leicht variiert als hec, latenter und perversus (NC 248) wieder. Die Ansteckung mit dem über das Demonstrativpronomen hec personifizierten Neid wird durch den Parallelismus in beiden Fällen als Perversion sozialer Beziehungen gezeigt: Ist Ninus vor seiner Ansteckung mit Neid ein Garant für den Frieden zwischen dem babylonischen Reich und seinen Nachbarländern, so wird er danach zum Tyran Vgl. zur dieser Einschätzung der Geschichte Maps: BLOCH, Howard R.: The Anonymous Marie de France, Chicago 2003, S. 156: „Walter Map offers in De Nugis Curialium a general theory of envy and an origin in the genealogy of the gods.“ Analog zur imitatio Christi der Heiligen hätte beispielsweise das teuflische Intrigieren als Vorbild für den einzelnen Neider dargestellt werden können. Für inficere finden sich im Lexikon die Wortbedeutungen: mischen, vermischen; benetzen, tränken, färben, bemalen; überziehen, entweihen, beflecken; anstecken/ vergiften. Vgl. den Eintrag Inficio. In: Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch–deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Hannover 81918 (Nachdruck Darmstadt 1998), Sp. 238–239. „[Er] fand dessen König Ninus in allem beneidenswert und machte ihn neidisch [...].“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163.
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nen, der gegen seine Nachbarländer Krieg führt und diese unterjocht. Ist Parius vor dem Neid ein treuer Freund des Lausus, wird er danach zu seinem Mörder. Die Erzählung betont auf diese Weise die soziale und performative Seite der Emotion. Der abwechselnd mit invidia und livor bezeichnete Neid wird inszeniert als Emotion, die bestehende soziale Relationen angreift, auflöst und umkehrt. Die Exposition perspektiviert die Haupterzählung in zweierlei Weise. Erstens wird die Günstlingsdebatte mit einer Analyse der zerstörerischen sozialen Auswirkungen von Neid verbunden. Nachdem König Ninus mit der negativen Emotion infiziert wurde, werden diejenigen neidisch, die diesem in der Hierarchie nachfolgen.136 Ausgehend von der aggressiven Missgunst des Herrschers wird eine Kette von Neidsituationen entwickelt, von denen jede eine andere soziale Bindung repräsentiert. Mit dem Neid des Ninus auf die ihm benachbarten Herrscher, dem Neid des Parius auf den anderen Kammerdiener Lausus und seinem Neid auf den vom König begünstigten Schüler und Pflegesohn schreitet die Neid-Erzählung von der Ebene der zwischenstaatlichen über freundschaftliche zu familienähnlichen Beziehungen am Hof fort. Die für den Neid auf den Günstling typische LACANsche Neidstruktur wird auf diese Weise in besonderer Weise konkretisiert: Nicht erst das Ringen um die Gunst des Dritten setzt den Neider und den Beneideten in Beziehung. Der Neid auf die Gunst des Herrschers tritt jeweils in Konflikt mit einer anderen sozialen Beziehung und den für diese vorgesehenen Verhaltensweisen. Zweitens wird der Neid auf den Günstling durch den Erzählanfang in die Tradition des teuflischen Neids gestellt. Als vermittelnde Figur des Neids bleibt der Teufel über den gesamten Verlauf der Erzählung präsent.137 Die Entstehung des Neids des Parius auf Lausus wird als körperlicher Kontakt, als Weitergabe der teuflischen Verfehlungen an die Menschen erzählt: [...] quia pociori non potuit, peiori fucum malediccionis affricuit (NC 248).138 Gleich dem Hass auf Lausus leitet sich der Neid auf dessen Sohn nicht allein aus der Tatsache ab, dass Parius einen Vorteil des Anderen in der Gunst des Königs erkennt. Als auctor scelerum (NC 252),139 als
Das biblische Verbot der Tischgemeinschaft mit dem Neider (Proverbia 23, 6) erhält hier eine weitere Konnotation: Gefährlich ist die Nähe zum Neider nicht nur, weil man dem nicht offen gezeigten Hass des Anderen zum Opfer fallen kann, sondern auch, weil der Teufel Menschen aufgrund ihrer Nähe zum Neider als nächste Neider auswählt. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Peter VON MATT zum Teufel als vermittelnde Gestalt der Intrige. Wo von Intrigen erzählt wird, werden diese meist unmittelbar auf den ersten Intriganten zurückgeführt. Vgl. VON MATT, Peter: Ästhetik der Hinterlist. Zur Theorie und Praxis der Intrige in der Literatur, München 2002, S. 29. „[...] und weil es ihm gegenüber dem Besseren nicht gelang, [machte er es] gegenüber dem Schlechteren: Er strich ihm seine rote Schminke der üblen Nachrede an“ [eigene Übersetzung]. „der Urheber der Verbrechen“; für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 166.
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Ideengeber des Parius, bleibt hinter dem menschlichen Neider der Teufel als Akteur sichtbar. Parius erscheint in der Erzählung so gleichsam als Opfer und als Werkzeug des teuflischen Neids. Wie sehr die Emotion ihn beherrscht, zeigt das Verb instruire (NC 252) in diesem Kontext: Ist Parius eigentlich der Lehrer des Sohnes von Lausus, wird er in seinem Neid auf den Günstling nun umgekehrt als Schüler des Teufels beschrieben, der seine Handlungen gegen den Pflegesohn lenkt und ihm Intrigen eingibt. Der Konflikt zwischen Neider und Günstling lässt sich derart auch im Rahmen des fortgesetzten Kampfes zwischen Gott und Lucifer lesen. Neid ist die Emotion, die auf die Seite des Teufels zieht, Neid ist die Sünde, bei der durch den Neider zugleich der Teufel agiert.
4.4.2 Contrarietas Mit dem Titel seiner Erzählung charakterisiert Walter Map die Beziehung zwischen Parius und Lausus als Opposition. Worin der Gegensatz, die contrarietas, zwischen beiden Figuren besteht, ist zu Beginn der Geschichte jedoch nicht ersichtlich. Parius und Lausus existieren als amici zunächst nur als Kollektivsubjekt: Sie sind nicht nur beide Kämmerer des Königs und nehmen auf diese Weise gemeinsam die erste Position hinter dem Herrscher ein, sie bilden – wie der Erzähler durch die Formulierung per omnia concordes (NC 248) betont140 – auch in allen anderen Dingen eine Einheit. Ihre Freundschaft entspricht somit der klassischen Definition aus dem Laelius, des auch im Mittelalter einflussreichen Freundschaftstraktats Ciceros: Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio.141 Die Anlage der Ausgangssituation wirft die Frage auf, was diese beiden Freunde zu trennen vermag: Wie entsteht aus Ähnlichkeit und Verbundenheit die titelgebende contrarietas? Angesichts der Tatsache, dass Lausus in der Gunst des Königs rascher aufsteigt (NC 248), müsste die Antwort eigentlich auf der Hand liegen. Der Dritte in ihrem Verhältnis, der König, bevorzugt einen der beiden, was wiederum den Neid des anderen erregt. Der Erzähler jedoch beantwortet die Frage anders. ‚Neid‘ wird nicht als Reaktion auf vorhandene Hierarchien er-
„in allem ein Herz waren“; für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163. Cicero: Laelius VI, 20; „Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als die Übereinstimmung in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe.“ Text und Übersetzung zit. n. Cicero, Marcus Tullius: Cato der Ältere. Über das Alter. Laelius. Über die Freundschaft. Lateinisch–Deutsch. Hrsg. von Max FALTNER. Mit einer Einführung und einem Register von Gerhard FINK, Düsseldorf, Zürich 42004, S. 132–135, hier S. 132 f.
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zählt.142 Vielmehr ist ‚Neid‘ bei Map Distinktionsemotion in dem Sinne, dass die Emotion selbst Differenzen in die Freundschaft einführt. – Die Freunde unterscheiden sich darin, dass der eine mit Neid infiziert werden kann, der andere hingegen nicht: [...] quia pociori non potuit, peiori fucum sue malediccionis affricuit (NC 248).143 In der Schilderung des Erzählers erhält die Infektion mit Neid so den Charakter einer Probe. Die vom Erzähler verwandten Komparative pocior und peior messen Parius und Lausus zum einen aneinander. Durch die negative Emotion wird erkennbar, wer der bessere und wer der schlechtere von ihnen ist. Die Komparative signalisieren zum anderen Inhalt und Reichweite der durch Neid eintretenden Differenz: Neid bzw. der fehlende Neid trennt die Freunde nicht punktuell, sondern umfassend als Menschen. Pocior und peior beziehen sich dabei nicht auf ihre Tüchtigkeit im Dienste des Königs, die Unterschiede in der höfischen Rangfolge werden durch die ethische Distinktion von iustus und perversus verdeckt: Invidet ergo latenter Lauso Parius, iusto nequam, miti perversus [...] (NC 248).144 Im Unterschied zu psychologischen Neidnarrativen, in denen Neid aus einer kognitiven Vergleichsoperation des Neiders hervorgeht,145 ist in De contrarietate Parii et Lausi der Erzähler somit derjenige, der Parius und Lausus einander als erster gegenüberstellt. Deutlich wie selten wird bei Walter Map sichtbar, wie stark das Erzählen von Neid zugleich immer auch selbst Setzung ist. In De Contrarietate Parii et Lausi ordnet die Emotion die Figuren in moralische Hierarchien ein, versieht die bisher als Einheit auftretenden Freunde mit sie differenzierenden Eigenschaften und weist ihnen Rollen des Protagonisten und des Antagonisten zu. – Parius ist derjenige, der seinen Freund beneidet, Lausus ist derjenige, der seinen Freund liebt.146 Daraus ergibt sich die Frage, wie diese titelgebende
Bezeichnenderweise orientiert sich der personifizierte Neid in seinen Ansteckungsversuchen an der höfischen Rangfolge. Erst nachdem sein Versuch, den höhergestellten Lausus mit der Emotion zu infizieren, gescheitert ist, wendet er sich Parius zu. „[...] und weil es ihm gegenüber dem Besseren nicht gelang, [machte er es] gegenüber dem Schlechteren: Er strich ihm seine rote Schminke der üblen Nachrede an“ [eigene Übersetzung]. „Jetzt auf einmal war Parius heimlich neidisch auf Lausus, der Verkommene auf den Gerechten, der Böse auf den Sanftmütigen [...].“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163. So beschreibt Hilge LANDWEER in ihrer Zusammenfassung neuzeitlicher Zugriffe auf die Emotion Neid als Folge eines Vergleichs mit dem Anderen: Spielt der Vergleich mit sich selbst keine Rolle, dann führten die schätzenswerten Eigenschaften und Güter eher zu Achtung oder Bewunderung. Erst der Vergleich mit sich selbst verursache die Verstimmung und den Schmerz über den Vorteil des Anderen. Vgl. LANDWEER, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart 2007, S. 195–217, hier S. 197–198. Der Erzähler drückt diesen Gegensatz über das Gegensatzpaar amor et livor aus (NC 248).
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contrarietas im Verhältnis der vormals gleichen Freunde ausgestaltet und semantisch für die Deutung von Freundschaft und Rivalität produktiv gemacht wird. 4.4.2.1 Rivalität als Wahrnehmungsfehler Die Tatsache, dass der Teufel die Menschen mit seinem Neid ansteckt, beeinflusst nicht zuletzt seine Konzeptionalisierung. Wird Neid zumeist als Reaktion auf Unterschiede des Erfolgs, des Ansehens oder des Besitzes gedacht,147 geht er hier dem Augenblick voraus, in dem der Vorteil des Anderen wahrgenommen wird. Die Emotion selbst strukturiert Wahrnehmung wie Interpretation der Vorzüge des Anderen und führt zu einem radikalen Wandel der Sicht auf den Freund: Quicquid ante Lausi placuit in moribus horret, totum in suam interpretatur pessimus augur iniuriam [...] (NC 248).148 Diese Worte offenbaren eine neue Form des Selbstbezugs im Verhältnis zum Freund. Wenn Parius das Gute an Lausus infolge seiner Infektion mit Neid nun als Verletzung (inuria) bewertet, so setzt er die Qualitäten des Lausus in Beziehung zu sich selbst und seiner eigenen Stellung; die von ihm wahrgenommene iniuria lässt sich mit Notger SLENCZKA als „Leiden unter dem Anderen im Verhältnis zum Selbst“149 beschreiben. Was dieses Leiden ausmacht, lässt sich anhand der auf die iniuria folgenden Zeilen noch genauer fassen. Sie beinhalten eine Aufzählung all dessen, was Parius an Lausus ehemals gefiel und nun missfällt: quod ille domino suo devotus assistit, quod dispensanter et provide ministrat, quod fideliter famulatur, quod feliciter acceptatur a dimino, quod eciam ipsius amator est verus et promocionis adiutor, duplicitatem dicit, beneficiique fidum auctorem fraudis arguit (NC 248). [...] dass jener ehrerbietig neben seinem Herrn stand, dass er ihm sparsam und klug aufwartete, dass er ihm treu diente, dass er bei seinem Herrn in hoher Gunst stand, sogar, dass er sein treuer Freund war und ihm half, zu Ehrenstellen zu koInmmen – das alles nannte er arglistiges Verhalten und beschuldigte den, der ihm treue Freundschaftsdienste erwies, der Hinterlist.150
Diese Lesart des Neids lässt sich beispielsweise anhand Bertholds von Regensburg Predigt Wie man die werlt in zwelfiu teilt nachvollziehen. Berthold wendet sich in seiner Predigt direkt an den Neider und kritisiert diesen: Wan swie lîhte einer baz mac danne dû, dar umbe sô tregest dû im iesâ haz unde nît. Siehe: Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, Bd. 1, S. 464. „Alles, was ihm vorher an den Sitten des Lausus gefallen hatte, verabscheute er jetzt; als schlimmster Augur deutete er allles als Unrecht gegen sich [...].“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163. SLENCZKA, Vom theologischen Ertrag einer Phänomenologie negativer Selbstverhältnisse, S. 181. Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163.
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Es sticht ins Auge, dass alle Teile der Enumeration sich auf die Beziehung zu einem Dritten beziehen: Angefangen bei Lausus’ Hingabe und Treue im Dienst für den Herrscher, über die ökonomische und weise Verwaltung der Güter desselben, den Aufstieg in der königlichen Gunst hin zu Laususʼ Bemühungen darum, dass der Freund die gleiche Bevorzugung erreiche, werden jeweils jene Teile von Lausus’ Identität fokussiert, die ihn in Bezug zu König Ninus zeigen. Fasst man Freundschaft mit Cicero als Beziehung der Übereinstimmung wie als gemeinsame Liebe zur Tugend, lässt sich hieraus schlussfolgern, dass das Band zwischen Parius und Lausus im gemeinsamen Dienst für den Herrscher bestand: Sie teilen jene mores (NC 248), die für den Herrscherdienst qualifizieren. Durch die neidische Wahrnehmung wird dieses Gemeinsame der Freundschaft nun jedoch zu dem, was sie voneinander trennt. Der gemeinsame Dienst am Herrscher wird zu einer Konkurrenzsituation151 umgedeutet, in der der Erfolg des Einen den Anderen notwendigerweise in dessen Gunst zurücktreten lässt.152 Von hier aus lässt sich das neidische „Leiden unter dem Anderen im Verhältnis zum Selbst“ konkretisieren: Die Infektion mit Neid unterlegt soziale Beziehungen mit einer Logik der Rivalität. Neid deutet die der Freundschaft zu Grunde liegenden Gemeinsamkeiten in Anlässe von Konkurrenzkämpfen um.153 Die Besonderheiten der so entworfenen Relation von Neid und Agonlassen sich noch schärfer herausarbeiten, wenn man sie mit der modernen Theoriebildung vergleicht. Die Evolutionspsychologie setzt den Überlebenskampf um knappe Ressourcen als Naturzustand voraus, auf welchen die Emotion des Neids als biologische Anpassung reagiere. Neid signalisiere, dass der ihn Fühlende im Kampf um
Der Begriff des ‚Nullsummenspiels‘ lässt sich für die Beschreibung des Neids auf die Gunst nicht verwenden, da bei der herrschaftlichen Gunstvergabe nicht ökonomisch Gewinn gegen Verlust aufgerechnet wird, sondern die Akteure um ein nicht von ihnen disponiertes Gut konkurrieren. Interessanterweise ändert auch die Tatsache, dass Parius vom Aufstieg des Lausus profitiert, nichts an seinem Neid. Dieses Phänomen des Neids auf den eigenen Wohltäter beschreibt bereits Basilius von Cäsarea in einer seiner Predigten am Beispiel der Beziehung zwischen David und Saul. Vgl. Basilius von Caesarea: Homilia de Invidia, 1 (PG 31, 371–386). In: Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen Bischofs von Cäsarea ausgewählte Homilien und Predigten. Aus dem griechischen Urtext, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Anton STEGMAN, Bd. 2, Kempten, München 1925 (Bibliothek der Kirchenväter 47), S. 289–300, hier S. 292 f. Dass Parius die Gleichheit mit dem Freund in dieser Weise als Problem des Teilens von Gunst auffasst, darauf verweist nicht zuletzt der Ausgang seiner Intrige gegen Lausus. Nachdem er Lausus umgebracht hat, tritt er voll Stolz als alleiniger Günstling des Königs und als sein Stellvertreter auf: sublimi solus alta ceruice superbit solio, sine consorte locum omnem obtinens. (NC 250; „[...] und saß allein stolz mit erhobenem Haupt auf hohem Thron. Niemanden hatte er neben sich, der ganze Platz gehörte nur ihm.“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 165.)
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die Ressourcen unterlegen ist und motiviere ihn dazu, größere Anstrengungen zu unternehmen, um den Nachteil im Wettbewerb auszugleichen.154 De contrarietate Parii et Lausi hingegen setzt die Rivalität nicht an den Anfang, sondern an das Ende des Neidnarrativs. Walter Map erzählt eine Geschichte, in der Neid nicht aus dem Kampf um die Gunst hervorgeht, sondern diesen umgekehrt erst hervorbringt. Indem die Rivalität als Folge der Infektion mit dem (teuflischen) Neid geschildert wird, wirft die Erzählung vom Standpunkt der christlichen Ethik aus einen kritischen Blick auf den höfischen Wettbewerb um Gunst. Am deutlichsten wird diese Kritik im Bild der falschen Vogelschau. Der Neider – so der Erzähler – weiß gleich dem pessimus augur (NC 248)155 die Zeichen nicht richtig zu lesen.156 Wenn die Vorzüge des Freundes in seinen Augen zur Verletzung, die aufrichtige Hilfe des Freundes zur Täuschung werden, dann verzerrt sein später auch als einfältig charakterisierter Verstand (mente infrunita NC 248) den Blick auf den Anderen. Die titelgebende contrarietas lässt sich so nicht zuletzt in der Perspektive des Neiders selbst verorten. – Anstelle freundschaftlicher Liebe nimmt Parius Aggression wahr. Eine solche Darstellung des Neids ist nicht neu: De contrarietate Parii et Lausi knüpft an die bereits beschriebene Deutungstradition des Neids als Form des falschen Wahrnehmens und Urteilens an: Item invidia pervertit iudicium.157 Neu ist jedoch die Art und Weise, in der der Erzähler diese Tradition mit der in der Rahmenerzählung etablierten Idee der neidischen Infektion verknüpft. Indem die Ansteckung mit Neid selbst als grundlegende Unterscheidung zwischen Parius und Lausus inszeniert wird, treten hierarchische Unterschiede als Ursache für den Neid zunächst in den Hintergrund, sodass die Rivalität als Form der neidischen Wahrnehmung ausgewiesen und verurteilt werden kann.
HILL, Sarah E. u. BUSS, David M.: The Evolutionary Psychology of Envy. In: Envy. Theory and Research. Hrsg. von Richard H. SMITH, Oxford 2008, S. 60–70. „als schlimmster Augur“ [eigene Übersetzung]. Bemerkenswert ist die Verwendung des antiken Motivs im christlichen Text. Die Technik der Vogelschau war zwar im Mittelalter noch bekannt, im religiösen Diskurs, der in der Exempelerzählung stark ist, hat die Charakterisierung des Parius als Augur jedoch an sich schon einen kritischen Unterton. Pseudo-Vinzenz von Beauvais: Speculum Morale Lib. III, 1, 4; „Ebenso verkehrt Neid das Urteil“ [eigene Übersetzung]. Text zit. n. Vincentius Bellovacensis Speculum Quadruplex sive Speculum Maius. Naturale/Doctrinale/Morale/Historiale, Teil 3, S. 1142. Vgl. die Ausführungen im Kapitel 2.5.
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4.4.2.2 Täuschende Gleichheit Laudet lector et amet auditor, quod Galonis et Sadii serena fuerit et sine nube societas, mirenturque Parii pariter et Lausi nubem in amiciis et fraudem. (NC 246) Der Leser lobe es und der Hörer liebe es zu vernehmen, dass das Bündnis zwischen Galo und Sadius heiter und ohne dunkle Wolken war, aber gleichermaßen sollen sie staunen über die Wolken und Tücken in der Freundschaft zwischen Parius und Lausus.158
De contrarietate Parii et Lausi geht in De Nugis Curialium eine zweite Freundschaftsgeschichte (NC 211–247) voraus. Mit den beiden Rittern Sadius und Galo präsentiert Walter Map ein Idealbild der amicitia: Die beiden Protagonisten gleichen einander nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, sie wollen jeweils das Beste für den Anderen und stehen in Form des aus der Tradition der Amicus-etAmelius-Geschichten bekannten Identitätstausches füreinander ein: Sadius will einen Entscheidungskampf mit einem Riesen in Verkleidung des Anderen für Galo kämpfen und ihm im Falle eines Sieges den Ruhm zukommen lassen, Galo hindert ihn daran und kämpft den Kampf mit dem Riesen in den Kleidern des Sadius, um diesem nun umgekehrt den Triumph zuzueignen.159 Indem der Erzähler zu Beginn von De contrarietate Parii et Lausi auf die Freundschaft von Sadius und Galo zurückverweist, setzt er beide Freundschaftsdarstellungen explizit miteinander in Bezug. Über das Wolkenbild wird die Freundschaft zwischen Sadius und Galo und Parius und Lausus als Kontrast angelegt; durch ihre Anordnung in De Nugis Curialium wird, wie es Caroline KRÜGER formuliert, „wahre“ „falsche[r] Freundschaft“ gegenübergestellt.160 Caroline KRÜGER liest diese Kontrastbeziehung vor allem in Bezug auf die erste Erzählung. Die Geschichte von Parius und Lausus relativiere aus hofkritischer Perspektive das in der Geschichte von Sadius und Galo idealisierte Beziehungskonzept der Freundschaft: „Der loyalen Freundschaft folgt der Verrat auf dem Fuße und gerade am Hof kann man sich seiner Freunde nicht sicher sein.“161 Vor dem Hintergrund der Rezeptionsanweisungen lässt sich die Abfolge der Er-
Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 162. R. E. BENNETT, der die Bezüge zur Amicus- und Amelius- Tradition herausarbeitet, referiert auf die Erzählung von Sadius und Galo daher als „eulogy of loyalty and friendship“. Siehe: BENNETT, R .E.: Walter Mapʼs Sadius and Galo. In: Speculum 16, 1 (1941), S. 34–56, hier S. 56. KRÜGER, Freundschaft in der höfischen Epik um 1200, S. 192. Ebenda, S. 194.
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zählungen jedoch auch in die andere Richtung lesen. Die Geschichte von Sadius und Galo stellt den normativen Bezugsrahmen her, vor dessen Hintergrund die sich in De contrarietate Lausi et Parii entfaltende Rivalität zu bewerten ist. Der Neid auf die Gunst wird nicht nur als Verstoß gegen die in der Freundschaft geltenden Regeln inszeniert, in Form der ersten Freundschaftserzählung wird ihm eine Ethik gegenübergestellt, in der sozialen Bindungen der Vorrang gegenüber Ehre und Gunst eingeräumt werden.162 Dieser Rahmen bleibt in der Erzählung stets sichtbar. Selbst nach der Infektion des Parius mit Neid bleibt das Verhältnis zwischen Parius und Lausus stets auf die anfängliche Identität, die anfängliche Gemeinsamkeit bezogen: Die Ideen von idemptitas (Gleichheit NC 248) und similitudo (Ähnlichkeit NC 248) werden erneut, nun jedoch unter negativen Vorzeichen aufgegriffen. Indem Parius sein äußeres Verhalten trotz differenter Gefühle nicht ändert, wird aus der Freundschaft ein Vor-Spielen, eine Inszenierung: Par utrique vultus et in verbis idemptitas aperta, dispar affectus et opposicio cordium operta (NC 248).163 Der Neid produziert bei Map – analog zu Jessica ROSENFELDs Definition von Neid als Problem der Identifikation mit dem Nächsten164 – Trugbilder, degenerierte Zwillinge des Sozialen. Wahrnehmung und Handeln des Neiders erweisen sich dabei als eng miteinander verzahnt. Nimmt der Neider die Bemühungen seines Freundes um sein Fortkommen im von ihm gesetzten Deutungsrahmen der Rivalität als Täuschung (duplicitatem NC 248) wahr, so will er der duplicitas des Anderen nun dadurch beikommen, dass er ebenfalls seine wahren Absichten und Gefühle vor dem Freund verbirgt. Aus seiner Sicht zieht er mit diesem Schritt im Kampf um die Favoritenposition gleich. Für den Rezipienten, der über die bona simplicitas („edle Einfalt“ NC 248) von Lausus‘ Freundschaftsbekundungen weiß, zerstört Parius hingegen das Gleichgewicht in der Beziehung. Der Neider produziert jene duplicitas selbst, die er dem Anderen anlastet. Mit dieser Anordnung stellt die Erzählung einen expliziten Zusammenhang zwischen der verzerrten Wahrnehmungs- und Urteilskompetenz des Neiders und seinen Handlungen her: Der
Dies gilt insbesondere, als der Neid auch in der ersten Freundschaftsgeschichte als Möglichkeit präsent ist. Obwohl Sadius der Neffe des Königs und dessen Liebling ist, wird Galo nicht auf dessen Vorrang beim König neidisch. Sadius begründet sein Vorhaben, Galo im Falle eines Sieges über den Riesen den Triumph zuzueignen, mit dem Ziel, keinen Neid in ihrer Freundschaft aufkommen zu lassen (NC 233 f.). „Gleich war beiden der Ausdruck ihrer Mienen, gleich die offen geäußerten Worte, ungleich ihre Gefühle, und die Gegensätzlichkeit der Herzen war versteckt.“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163. Zur sozialethischen Definition des Neids vgl. das Kapitel 2.5.3 ‚Die sozialethische Perspektive‘.
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verzerrten Wahrnehmung des Neiders entspricht die Täuschung als Handlung des Neids. Infektion, Wahrnehmungsstörung und Täuschung bilden in Walter Maps Freundschaftserzählung eine inhaltliche Einheit, sodass das Potential der Emotion ‚Neid‘, Narrative auszubilden,165 hier besonders deutlich wird. Vor dem Hintergrund der intensiven narratologischen Forschungsdiskussion über Neid lohnt es sich an dieser Stelle den Blick kurz von der Verhandlung von Neid weg und auf die Konstruktion der ‚Geschichte166‘ zu lenken. Anders als im Herzog Ernst B und auch anders als in der Crescentia-Legende wird diese in De Contrarietate Parii et Lausi nahezu durchgängig durch die Emotion strukturiert. Anknüpfend an das Narrativ von Neid und Freundschaft beginnt mit der duplicitate des Neiders ein Intrigennarrativ, das seine Erzählspannung vor allem über den Wissensvorsprung der Rezipienten generiert: Am Hof des Ninus kann niemand eine Differenz im Betragen der Freunde feststellen. In Worten und Gebärden, par utrique vultus et in verbis (NC 248), gleichen der falsche und der echte Freund, Liebe und Neid einander weiterhin. Beim Rezipienten der Erzählung hingegen verstärkt gerade die sprachliche Beschreibung der Täuschung den Eindruck der grundsätzlichen Differenz der Figuren. Equis placere certabant obsequiis amor et livor, et tam bene caritati est hec adulacio simillima, quod expresse nemo deprendit vim similitudinis (NC 248),167 Nimmt der textinterne Beobachter Ähnlichkeit, similitudo, wahr, stehen für den Rezipienten mit amor und livor, echter caritas und geheuchelter adulatio auf beiden Seiten des Vergleichs jeweils Gegensätze. Die Erzählung enthüllt durch die interne Fokalisierung des Neiders hier das, was dem textinternen Beobachter verborgen bleibt. Im Rahmen des Intrigennarrativs ist die contrarietas zwischen den beiden Freunden nicht mehr nur ein moralisches Problem, sondern vor allem eines des Erkennens. – Der Neider schreitet unentdeckt zur Tat. Auch diese wird aus der Emotionslogik heraus entwickelt. Der Neid auf die Gunst konkretisiert sich im Hass auf den Freund, der nicht lange zurückgehalten werden kann und zur Aktion drängt. Der Text fasst die dadurch entstehende Dynamik im Bild des Ofens, den der Neider zwar selbst entzündet (inciderat), dessen Flammen er jedoch nur schwer standhalten kann (suffert), sodass schließlich
Zum Begriff des ‚Narrativs‘ vgl. das Kapitel 3.5. ‚Untersuchungsschwerpunkt und Vorgehen‘. Gemeint ist damit entsprechend der Erzähltheorie Gérard GENETTEs „die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse“ und „ihre unterschiedlichen Beziehungen untereinander“. Siehe: GENETTE, Die Erzählung, S. 15. „Liebe und Hass wetteiferten darin, gleiche Dienste zu leisten, und diese schmeichelnde Verstellung war der Liebe so ähnlich, dass niemand die wahre Bedeutung der zur Schau gestellten Ähnlichkeit entdeckte.“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 163 f.
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Feuer auflodert und der Hass zum Ausbruch kommt (erumpunt) (NC 248).168 Diese Verse im Sinne von ELIAS und HUINZIGA als Zeichen sich unmittelbar äußernder Emotionen und einer mangelnden Affektkontrolle des Neiders zu verstehen,169 würde ein Missverständnis darstellen. Am Ende der Metaphernkette stehen Bilder des Kochens (decocta) und des Überkochens (sudore), die mit dem Umschlag von meditacio in accio assoziiert werden (NC 248). Offenkundiger als im Herzog Ernst B und der Crescentia-Legende wird die Entwicklungsgeschichte des neidischen Hasses derart mit einzelnen Bausteinen der Intrige gekoppelt: Die Zeit, in der der Neider seinen Hass für sich behält, wird als Vorbereitungsphase erkennbar, in der die Idee der Ermordung des Günstlings reift, welche nun der Ausführung170 harrt: Wie soll er Lausus ums Leben bringen? Im Einklang mit seinem bisherigen Vorgehen wählt Parius unter allen möglichen Todesarten diejenige aus, die am wenigsten bekannt ist und im Geheimen ohne Hinweis auf ihren Urheber wirkt. Nachdem er Lausus mit Hilfe in Gift getränkter Bettlaken ermordet hat, kann er allein die Gunst des Königs genießen. Gleichwohl kommt die nach den beiden Freunden benannte Geschichte nicht an ihr Ende. Da in De Contraritate Parii et Lausi zwei Narrative aufeinandertreffen, bezieht das Exempel seine narrative Dynamik auch aus unterschiedlichen Fragen: Wie wirkt sich die Infektion mit Neid auf die Freundschaft aus? Und wann werden die für den Rezipienten schon
Ähnliche Verlaufsformen des Neids finden sich in der mittelalterlichen Literatur häufig, so beispielsweise in Hugo von Trimbergs moraldidaktischem Lehrwerk Der Renner. Hier wird Neid zusammen mit Zorn und Hass aus der gîtekeit, der Habgier, abgeleitet. In der Metapher eines auflodernden Feuers werden die drei Emotionen aufeinander bezogen und kausal miteinander verkettet. Der Neid, der verborgen in einem Fass glimmt, wird durch Zorn zu Hass, der in seiner Gewalt das Fass zersprengt und das Feuer sichtbar macht. Vgl. Hugo von Trimberg: Der Renner, D. 5, V. 13995–14013, Bd. 2, S. 192 f. Vgl. die in den Forschungen von HUINZIGA und ELIAS entworfenen Bilder einer kindlichen Unmittelbarkeit des Gefühls beziehungsweise einer ursprünglichen Wildheit des ungefiltert zum Ausdruck kommenden Gefühls: HUINZIGA, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebensund Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden [1941]. Hrsg. von Kurt KÖSTER, Stuttgart 111975, S. 2 sowie ELIAS, Nobert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd 1. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes [1939], Frankfurt a. M. 201997, S. 359. Zur Kritik an der Interpretation mittelalterlicher Emotionen über ein ‚hydraulisches‘ Emotionsmodell vgl. ROSENWEIN, Barbara H.: Worrying about Emotions in History. In: The American Historical Review 107, 3 (2002), S. 821–845, hier S. 834. Vgl. zu den Phasen der Intrige Peter VON MATTs Versuch einer literarischen Modellbildung: 5 VON MATT, Peter: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München u. Wien 2006, hier insbesondere: S. 118–121. Zur Anwendbarkeit dieses anhand antiker und frühneuzeitlicher Quellen entworfenen Modells auf mittelalterliche Texte vgl. LAUER, Claudia: Die Kunst der Intrige. Studien zur höfischen Epik des 12. Jahrhunderts, Heidelberg 2020, S. 56–63.
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zu Beginn sichtbaren Unterschiede zwischen den beiden Günstlingen für die textinternen Beobachter erkennbar? Endet das Neidnarrativ der Freundschaft mit der Tötung des Freundes und der Inbesitznahme des Neidobjekts, folgt im Intrigennarrativ auf die Planungs- und Aufführungsphase der verdeckten Operation herkömmlicherweise die Entdeckung der Intrige.171 Lausus jedoch stirbt, ohne dass Parius als Neider geschweige denn als Mörder entlarvt wird. Die fehlende Anagnorisis, die ausbleibende Bestrafung des neidischen Intriganten, bietet so einen Anlass, weiter zu erzählen. Mit dieser Plotkonstellation ist De Contrarietate Parii et Lausi ein Beispiel dafür, dass in einem Großteil der narratalogischen Beschäftigung mit der Emotion die Bedeutung von Neid für den Aufbau von Erzählungen noch zu gering veranschlagt wird. Neid funktioniert nicht nur als kausale Motivation und damit als Bindeglied zweier von diesem unabhängiger Ereignisse wie Freundschaft und Mord, vielmehr bilden sich ausgehend von der Verlaufslogik des Neids eigenständige erzählerische Einheiten heraus, die von zeitgenössischen Diskursen und Konzeptionalisierungen der Emotion geprägt sind.172 Das Exempel De Contrarietate Parii et Lausi bezieht seine Erzählspannung aus der Verknüpfung zweier solcher Narrative.
4.4.3 Gesteigerte Wiederholung Die Fortsetzung bedient sich der in Exempeln und Mären häufig verwandten Erzähltechnik der ‚gesteigerten Wiederholung‘. Im Gegensatz zur Crescentia-Legende bringt der Erzähler die Geschichte nicht einfach zu Ende, er lässt die Geschichte von Neid und Intrige in der nächsten Generation von Neuem beginnen: Parius beneidet den namenlosen Sohn des Lausus, welcher in der titelgebenden Zweierbeziehung an die Stelle seines ermordeten Vaters tritt. Das Narrativ des Neids erhält somit im zweiten Teil eine neue Funktion: Die Verlaufsanordnung des Neids wird zur intratextuellen Vorlage, auf die in wörtlichen Wiederaufnahmen173 zurückgegriffen wird, um in der Variation das Problem des Neids auf die Gunst noch einmal anders zu entwickeln, zuzuspitzen und zum Abschluss zu führen.
Vgl. VON MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, S. 121. Erste Ansätze für eine über die kausale Motivation hinausgehende narratologische Betrachtung von Emotionen finden sich im Konzept des ‚Moduls‘ von Harald HAFERLAND, das im Kapitel 5.4. genauer vorgestellt wird. Wieder aufgenommen werden u. a. die duplicitas (Zweideutigkeit, Doppelzüngigkeit, Arglist NC 248, NC 252), der Einsatz der Beneideten für die promocio des Parius (Beförderung zu Ehrenstellen NC 248, NC 258) und das venenum (Gift NC 250,NC 256).
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Dies macht sich schon in der Ausgangskonstellation bemerkbar. Der Sohn des Lausus ist mit allen wünschenswerten Gaben ausgestattet: Sein Äußeres und seine Sitten machen ihn liebenswürdig; er lernt schnell und erfüllt seine Aufgaben am Hof bald so gut, dass er die Gunst des Königs gewinnt. Schnell genießt er das Wohlwollen des Herrschers in so großem Umfang, dass er sowohl Parius als auch seinen Vater Lausus in der Gunst des Königs übertrifft. Wird Lausus im ersten Teil dem anderen Kammerdiener Parius vorgezogen, so wandelt sich die Liebe des Herrschers zum Günstling nun in eine ausschließliche: Ninus ruft allein den Sohn des Lausus zu sich: Puer felix eruditur in modico, et proficit in officio decenter; iam in conspectu Nini tantam habet graciam, ut tam Lauso preferatur quam Pario. Iam omne consiliium habet cum puero rex, nichil ei dum Pario [...]. (NC 252) Der vielversprechende Junge machte schnell Fortschritte in seiner Bildung und wuchs geziemend in seine Pflichten hinein; vor Ninus‘ Augen fand er bald so viel Gefallen, dass er höher geschätzt wurde als [einst] Lausus und höher als jetzt Parius. Schon bald beriet sich der König mit dem Jungen, nicht mit Parius.174
Mit dieser Exposition rücken im zweiten Teil der Erzählung anstelle der moralischen die hierarchischen Unterschiede zwischen Neider und Beneidetem, Günstling und Nachgeordnetem ins Blickfeld. Für Parius steht das zweite Mal ungleich mehr auf dem Spiel: Er muss die Gunst des Königs nicht nur teilen, er hat die nach dem Mord sicher geglaubte Position des secundus a rege an Lausus’ Sohn verloren. Zugleich konterkariert die Gunst des Herrschers die Hierarchien in seiner eigenen Beziehung zu Lausus’ Sohn. Ist Parius aufgrund seines Alters und seiner Erfahrung Lehrer und Ziehvater des Jungen, so fungiert dieser dennoch an seiner Stelle als Ratgeber des Herrschers. Im Zuge der veränderten Ausgangssituation verändert sich nicht zuletzt der Neid des Parius, der angesichts der Vorrangstellung des Jungen wieder aufflammt. Im zweiten Teil der Erzählung verschieben sich gleich mehrere Parameter des ursprünglichen Neid- und Intrigennarrativs. Zum einen wandelt sich die Form der gegen den Günstling gerichteten Intrige, die faccio (NC 248). Zwar beschreibt der Erzähler das Werkzeug des Intriganten weiterhin als venenum. Er konstatiert, dass der Neider gegen den Jungen mit einem Gift operiere, das an Heimtücke schwerlich überboten werden könne: Que nequiora vel a quibus excogitata vel audita sunt venena? (NC 256)175 Im Gegensatz zum ersten Teil ist sein
Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 165 f. „Welch ruchloseres Gift ist jemals ersonnen oder vernommen wurden, oder von wem?“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 168.
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Sprachgebrauch hier jedoch ein metaphorischer. Das Wort venenum, ‚Gift‘, charakterisiert nun die Lügengeschichte, mit der Parius sowohl den Sohn des Lausus als auch Ninus in ihren Handlungen manipuliert.176 Diese wird von ihm je nach Adressat in zwei unterschiedlichen Versionen erzählt: Seinen Pflegesohn macht er glauben, dass dieser unter einem faulen Atem leide, sodass seine Nähe dem König unangenehm sei. Dementsprechend hält sich der Günstling fortan vom Herrscher fern. Dem König erzählt er umgekehrt, dass der Sohn des Lausus ihn eines faulen Atems beschuldige und ihn deshalb meide. Parius kreiert so einen perfekten Mechanismus der Täuschung, in welchem die eine Lüge durch die Wirkungen der anderen bestätigt wird. Der Erzähler verurteilt dieses Vorgehen klar als iniquitas (NC 252), als Maßlosigkeit. Dabei betont er weniger den Verstoß gegen die Wahrheit, als die verhängnisvollen Folgen, die das Handeln des Neiders für seine Nächsten nach sich zieht. Die Wirkungen der Lüge werden über die Metaphorik mit dem Mord des ersten Teils parallelisiert: An die Stelle in Gift getränkter Tücher treten Sprechhandlungen; nicht mehr der Körper des Günstlings, sondern der Geist dessen, der die Gunst vergibt, wird vergiftet. Zum anderen gibt der Neider mehr über seine Emotion preis. Bleibt sein Hass auf den Günstling weiterhin verborgen, so enthüllt er dem Jungen sein Begehren: Als König Ninus den Sohn des Lausus bittet, bei den alljährlichen Spielen als sein Stellvertreter aufzutreten, überzeugt Parius seinen Schüler, heimlich mit ihm die Rollen zu tauschen. Mit dem gewandelten Handeln des Neiders ergeben sich neue Perspektiven sowohl auf das Verhältnis von Wahrheit und Täuschung als auch auf die Figur des Günstlings. Ich möchte ihnen in den folgenden zwei Teilkapiteln nachgehen, um zu prüfen, inwiefern sich dadurch der Diskurs über Neid und Gunst verändert. 4.4.3.1 Dissimulation, Simulation, Begehren Der Beginn der Erzählung von Parius und Lausus zeigt Neid als Emotion, die Gefühl und Gefühlsausdruck voneinander trennt. War die Liebe des Parius zu Lausus ehemals echt, so wird sie nach der Infektion mit Neid zur simulierten Emotion. Indem die nicht mehr zum Inneren passenden Gesten und Worte der Zuneigung beibehalten werden, werden sie in den Augen des Erzählers zur adulacio (NC 248) und damit – folgt man dem im Text wichtigen religiösen Diskurs – zur Sünde. Worin diese besteht, macht die Deskription des Verhaltens des Parius deutlich. Der
In der zeitgenössischen pastoralen Literatur wird Lucifer nicht nur als erster Neider gezeichnet, sondern auch als erster Lügner. In der Sündenfallgeschichte geht er mittels der Lüge gegen die von ihm beneideten Menschen vor. Vgl. zum Teufel als Lügner: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 202.
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Erzähler grenzt das Handeln des Parius deutlich von der caritas (NC 248) des Lausus ab und greift damit auf zeitgenössische Deutungstraditionen der Sprachsünde zurück: Die Schmeichelei stellt ein falsches Lob dar, da mit ihr falsche Intentionen verfolgt werden.177 Im Unterschied zur caritas agiert der Schmeichler nicht im Interesse des Anderen, sondern gegen den Nächsten.178 Zugleich bleiben in Walter Maps Darstellung der adulatio Spuren älterer Deutungstraditionen der Sprachsünde sichtbar. Die adulatio ist hier wie in der das frühe Mittelalter prägenden Definition des Augustinus ein Lob, das nicht mehr der Wahrheit entspricht, eine Täuschung.179 Der unveränderte Emotionsausdruck wirkt zugleich als Dissimulation anderer Emotionen: Der Hass des Neiders bleibt in der zur Schau gestellten Zuneigung verborgen. Dass der Neider Gefühle vor allem zeigt, um andere zu verhüllen, wird im Folgenden auch im Erzählerdiskurs reflektiert. Der Mörder vergießt angesichts von Lausus‘ Tod so viele Tränen wie sonst kein Anderer und setzt so vor aller Augen nicht nur seine Trauer, sondern mit dieser zugleich seine freundschaftliche Liebe zu Lausus in Szene.180 Der Erzähler gewährt mittels Nullfokalisierung Einblick in diese Inszenierung und informiert den Rezipienten gleichzeitig über den nach außen vermittelten Gefühlsausdruck der Liebe wie den hinter diesem verborgenen Hass: sub amoris pretextu veritatem avertit odii (NC 250).181 Mit diesen Worten bezieht der Erzähler den Diskurs über Wahrheit und Täuschung nun auch auf die Emotionen. In ähnlicher Weise wird einige Zeilen später die Freude des Parius perspektiviert. Über den Moment, als ihm der Sohn des toten Freundes zur Aufzucht übergeben wird, heißt es: et contra mentis arbitrium exultacionem exhibet in vultu. (NC 250, 252)182 Auf den anfänglich fehlenden Ausdruck veränderter Emotionen folgt, so vermittelt es der Erzählerdiskurs, das gezielte Vortäuschen neuer, vom Neider so nie gefühlter Emotionen.
Für Raoul Ardens, Jean de la Rochelle und Thomas von Aquin zeichnet sich die adulatio durch eine falsche Intention des Sprechers aus, nämlich den Willen, dem Anderen zu gefallen. Vgl. zur intentionalen Definition der adulatio: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 256. Zur Sichtweise der adulatio als sozialer Sünde vgl. ebenda, S. 258 f. Zu Augustinus’ Definition der adulatio als Täuschung vgl. z. B. Augustinus, Enarrationes in Psalmos 49, 26. Dazu: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 254 f. Vgl. zur Demonstration von Trauer als Kommunikation sozialer Bindung: KOCH, Trauer und Identität. „unter dem Deckmantel der Liebe lenkte er von der Wahrheit seines Hasses ab“ [eigene Übersetzung]. „[...] und zeigte in seinen Mienen große Freude, anders als er wirklich dachte.“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 165.
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Im Verlauf der Erzählung wird der Einsatz des Emotionsausdrucks durch den Neider zunehmend strategischer. Parius nutzt die kommunikativen Eigenschaften von Emotionen im Rahmen seiner Intrige, um Andere in ihren Handlungen zu beeinflussen. Nicht Worte allein, vor allem die Mitleid suggerierenden Tränen seines Lehrers überzeugen den jungen Sohn des Lausus von der Wahrheit der Geschichte seines faulen Atems: [...] et simul oborte lacrime licet infideles fidem distallant puero (NC 252).183 Der Neider erweist sich in dieser Situation als jemand, der die interaktive Wirkung des Emotionsausdruckes kennt und auf diese Weise Menschen zu manipulieren weiß. Dies gilt umso mehr, als er gerade solche Emotionen simuliert, mit denen Menschen in mittelalterlichen Texten einander Bindung mitteilen: Liebe, Trauer und Mitleid.184 Die für die Intrige typische Täuschung der nicht Eingeweihten funktioniert so vor allem als Täuschung über die Emotionen des Neiders. Die Dynamik der Intrige und mit ihr die der Erzählung entwickelt sich im zweiten Teil aus der schrittweisen Veränderung des Emotionsausdrucks des Neiders: Dissimuliert und simuliert Parius infolge des aufbrechenden Neides zunächst erfolgreich Emotionen, leitet am Ende gerade das Zutagetreten echter Emotionen seinen Untergang ein. Als der König den Sohn des Lausus dafür bestimmt, ihn bei den jährlichen Festspielen als sein Günstling zu vertreten, weichen die bisher fingierten Tränen (NC 252) angesichts der Möglichkeit, erneut hinten angestellt zu werden, wahren Tränen (cum lacrimis [...] veris NC 256, 258). Vom Neid wird jedoch nicht nur der Schmerz sichtbar. Wenn Parius den Sohn des Lausus dazu bewegt (sollicitat NC 256), ihm die Würde der Stellvertretung des Königs abzutreten, dann verdeckt er seine Wünsche zum ersten Mal nicht. In der dringenden Bitte drückt sich das neidische Begehren nach der Günstlingsposition unvermittelt aus. Neid wird in der Erzählung folglich nicht mehr nur von seiner zerstörerischen Seite her beschrieben. Er konkretisiert sich in diesem Moment als Wunsch, der Andere zu sein. Die Relation zwischen Neider und Beneidetem wird so noch einmal neu konfiguriert. Wollte Parius den Sohn des Lausus in der Logik der Rivalität bisher aus der Gunst des Königs verdrängen, um selbst das Neidobjekt zu erringen, genießt er die Position des Günstlings nun in Gestalt eben jenes Anderen. Walter Map präsentiert derart ein Zerrbild des in der vorherigen Erzählung
„[...] und seine gleichzeitig vergossenen Tränen – waren sie auch geheuchelt – träufelten dem Knaben Glauben an ihre Wahrheit ein.“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 167. Die Täuschungsmanöver des Parius beinhalten so zugleich eine Aussage darüber, was der Neider fühlen und was er nicht fühlen kann. Es sind die Emotionen der Identifikation mit dem Nächsten, die Parius nachahmt und in der Nachahmung zum Zwecke der Intrige pervertiert. Zu Neid als Perversion von Mitgefühl vgl. wiederum: ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 84.
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von De Nugis Curialium anzitierten Amicus-et-Amelius-Motives. Stellt der Identitätstausch in dieser Tradition stets eine Hilfeleistung dar, in der der Freund die Identität des Anderen zu dessen Vorteil annimmt,185 nutzt der Neider die Identität des Beneideten hier, um sich selbst in die Position des Anderen aufzuschwingen. Der Identitätstausch signalisiert auf diese Weise nicht mehr länger die für die Freundschaft definitorische Einheit von Interessen und Zielen. Ähnlich wie es Sianne NGAI für den Akt der neidischen Nachahmung beschrieben hat, verhindert der Neid auch im Rahmen des Identitätstauschs eine Identifikation mit dem, dessen Rolle man spielt. Der neidische Wunsch, an die Stelle des Anderen zu treten, bringt vielmehr eine neue Form der Übervorteilung hervor: – Der Neider okkupiert die gesellschaftliche Identität – und damit zugleich die Favoritenposition – des Beneideten.186 Für die Handlung bedeutet dies aber auch, dass der Neider selbst Teil der Täuschungsmaschinerie wird und nicht mehr als ihr Regisseur außerhalb steht. Indem Parius anstelle seines Pflegesohns – und damit in der für den Favoriten vorgesehenen königlichen Ausstattung – beim Ritual auftritt, bringt ihn gerade die Erfüllung seines neidischen Begehrens zu Fall. Der König lässt ihn in dem Glauben ermorden, er töte seinen undankbaren Günstling, sodass sich die Intrige zuletzt gegen ihren Urheber wendet. Der Regisseur so vieler Täuschungen stirbt an seinen eigenen mechanema, deren Auswirkungen er nicht mehr bis ins letzte durchschauen kann. Stehen in diesem Fazit Verwechslung und Täuschung auf der Ebene der Handlung im Vordergrund, könnte man das Geschehen mit Blick auf die Figur auch anders beschreiben: Parius stirbt daran, dass er die Verstellung – Dissimulation ebenso wie Simulation von Gefühlen – punktuell hinter sich lässt und sein neidisches Begehren im Identitätstausch mit dem Günstling verwirklicht. Daraus folgend verändert sich der mit Neid verbundene Diskurs über Wahrheit und Täuschung. In der Schlusskonstellation sind Wahrheit und Täuschung ebenso wie die gerechte und die falsche Strafe nicht mehr wie bislang im Erzählerdiskurs als Gegensätze angeordnet, sie werden stattdessen miteinander verschränkt: Der Neider zeigt sein wahres Begehren in der Verkleidung. Der Richtige wird durch die Verwechslung getötet. Und die vom Neider fälschlicherweise eingeforderte Belohnung für seine Güte wird durch den Identitätstausch so ausgegeben, dass sie den Handlungen des Parius gegenüber Lausus und seinem Sohn gerecht wird. Die Logik der neidischen Intrige wird damit auch auf der Ebene des discours
Vgl. zur Funktion des Identitätstauschs in der Amicus- et-Amelius-Tradition: WINST, Silke: Amicus et Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition, Berlin und New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57), S. 5. Vgl. Sianne NGAIs Analyse der Emotion ‚Neid‘ im Film Single White Female (Weiblich, ledig, jung sucht ...) in: NGAI, Ugly Feelings, S. 126–173.
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gegen diese selbst gekehrt. Die mit dem Identitätstausch vorgenommene Verdoppelung der Täuschung bringt wiederum Wahrheit und Gerechtigkeit hervor. Betrachtet man die narratio in Gänze, so lässt sich Maps Exempel damit auch als rhetorisches Experiment mit der Distinktionsemotion begreifen. Der klassisch gebildete Kleriker variiert das Motiv der durch Neid getrennten Freunde in immer neuen der Rhetorik entlehnten Anordnungen: Die anfängliche Einheit der Freunde wird durch Neid zunächst in eine Opposition überführt, die in Form antithetischer Formulierungen bis auf Wortebene nachzuverfolgen ist. In der nächsten Generation wird die neidische Personenkonstellation wiederholt (iteratio), um den Neider am Ende in der inversio der Positionen von Günstling und Nachgeordnetem sowie von Täuschung und Wahrheit seiner gerechten Strafe zuzuführen.187 Mit diesem Wechsel der Konstellationen einher geht eine Komplexitätssteigerung, die das neidische Problem von Ähnlichkeit und Differenz hervortreibt und ausstellt und auf diese Weise, wie das nächste Kapitel zeigen wird, auch den Diskurs über die Gunst verändert. 4.4.3.2 Der falsche Günstling et in quo certissime novi mendacem, michi contra meam iuravit sentenciam se multas in cultu capitis et vultus regii perpessum angustias, et os vestrum (quod odore prenobili pomis estivis et balsamo recenti precellere non est dubium) sentine comparavit. (NC 256) Was, wie ich ganz genau weiß, eine Lüge war, hat er mir mit einem Eid versichert (wiewohl ich weiß, dass es nicht stimmt): Er habe bei der Pflege des königlichen Hauptes und Gesichts größten Widerwillen empfunden. Euren Mund, der an vornehmen Duft ganz ohne Zweifel die Früchte des Sommers und frischen Balsam weit übertrifft, hat er mit einer Kloake verglichen. [...]188
Damit erweist sich De Contrarietate Parii et Lausi als weiteres Beispiel für die von Udo FRIEDRICH an zahlreichen Mären nachgewiesene rhetorische Signatur mittelalterlicher Exempel–Literatur. Im Gegensatz zu den meisten von FRIEDRICHs Analysen ist hier das rhetorische Element jedoch nicht in den Redebeiträgen der Figuren zu finden, sondern in der Varianz der Figurenkonstellationen, die sich als rhetorisches Spiel mit der titelgebenden contrarietate beschreiben lassen. Vgl. zur Bedeutung der Rhetorik für die Exempelliteratur: FRIEDRICH, Udo: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate KELLNER/Peter STROHSCHNEIDER/Franziska WENZEL, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 227–249 u. FRIEDRICH, Udo: Topik und Rhetorik. Zu Säkularisierungstendenzen in der Kleinepik des Strickers. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von Susanne KÖBELE/Bruno QUAST, Berlin 2014, S. 87–104. Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 168.
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Im Gegensatz zum Mordanschlag des Neiders auf Lausus zielt die Intrige gegen dessen Sohn direkt auf das Verhältnis zwischen Herrscher und Günstling. Es geht dem Neider nicht mehr allein um die Ausschaltung des Rivalen. Mittels der oben zitierten Vorwürfe soll der Herrscher dazu gebracht werden, selber gegen seinen Günstling zu zürnen und seine Huld von diesem abzuziehen. Damit rückt im zweiten Teil des Textes die Frage nach der Stellung und der Bewertung des Günstlings ins Zentrum. Der Vorwurf des faulen Atems entfaltet auf der Ebene der Handlung eine Sprengkraft, die erklärungsbedürftig ist: Welche Implikationen sind mit der Zuschreibung eines faulen Atems an den Herrscher verbunden? Was sagt die neidische Erzählung aus über das Verhältnis von Günstling und Herrscher? Gunst definiert sich im Falle des Sohnes des Lausus vor allem über die körperliche Nähe zum König. Wird diese bei seinem Vater noch in Form des Hofamtes des Kammerdieners abstrahiert, rückt der Erzähler im Falle seines Sohnes nun konkrete Dienstleistungen für den Herrscher in den Fokus. Der Sohn des Lausus genießt nicht nur das Privileg des ständigen Gesprächs mit dem Herrscher. Er wird zum König gerufen, um Kopf, Hände und Füße des Herrschers zu pflegen und herzurichten (NC 252). Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der ersten an den Jungen gerichteten Version der Erzählung vom faulen Atem ersichtlich. Die bei dem Sohn des Lausus ausgelöste Scheu vor der körperlichen Nähe zum Herrscher betrifft in diesem Fall den Kern herrschaftlicher Gunst und muss von König Ninus als Zurückweisung verstanden werden. Damit jedoch nicht genug. Parius gibt in seiner Unterredung mit dem König dem zurückhaltenden Verhalten des Günstlings einen geheimen Sinn. Indem er die Scheu des Sohnes des Lausus auf die Vorstellung eines faul riechenden Atems des Königs189 zurückführt, wird die körperliche Dimension der Gunst zum peinlichen Sachverhalt. Der Günstling nimmt den Körper des Königs nicht mehr in seiner dignitas als Körper des Herrschers, sondern als menschlichen und überdies als abstoßenden Körper wahr.190 Aus der verschmähten Gunst wird so eine Beleidigung der Majestät des Herrschers, dessen Idealität der Günstling in Frage stellt. Die vom Neider ersonnene Intrigengeschichte entwirft den Günstling als jeman Zu anderen Erzählungen, die dieses im Spätmittelalter sehr bekannte Motiv verwenden vgl. LEE, A.C.: The Decameron. Its Sources and Analogues, New York 1972, S. 231–236. Wie die dignitas des Königs hier genau konturiert wird, lässt sich aufgrund der Komplexität der Struktur der Erzählung nicht sicher feststellen: Geht man von der christlichen Rahmung aus, dann bezieht sich die Würde des Königs zu diesem Zeitpunkt zumindest immer noch teilweise auf seine Christus nachempfundene Funktion als Mittler zwischen Gott und den Menschen. Vgl. KANTOROWICZ, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990 [1957], S. 106–115. Berücksichtigt man, dass Ninus in der Geschichte als heidnischer, babylonischer Herrscher imaginiert wird, so könnte man auf antike Vorstellungen der Göttlichkeit des Kaisers verweisen.
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den, der gerade aufgrund seiner besonderen Nähe zum König selbigen nicht als Herrscher (an)erkennt. Für den Rezipienten ist diese Zuschreibung deutlich als ‚Lüge‘, verisimilitudo (NC 256), kenntlich. Das führt jedoch nicht dazu, dass die Gunst in Umkehrung des Neiddiskurses automatisch als unproblematisch gekennzeichnet wird. Brisanz wohnt insbesondere dem Ritual inne, das der Herrscher als Rahmen für die Bestrafung des undankbaren Favoriten wählt. Die Erzählung führt den vom Neider eröffneten Diskurs über die Gunst hier auf symbolischer Ebene fort: Der Günstling trägt an Stelle des Königs die Herrschaftsinsignien, Zepter und Krone, er ist in dessen Kleider gekleidet und reitet auf dessen Pferd. Die Stellvertretung des Königs durch den Günstling auf den jährlichen Spielen suggeriert so zumindest als Subtext die Möglichkeit einer Usurpation königlicher Macht durch den Favoriten. Wenn ihm für das folgende Jahr die Regalien für das gesamte babylonische Reich übertragen werden, dann tritt er für den eingegrenzten Zeitraum auch ganz real an die Stelle des Königs. Dass das, was als Maximum an Gunst gedacht wird, selbst Probleme birgt, zeigt sich nicht zuletzt in der Doppelfunktion des Stellvertretungsrituals. In der hier entworfenen Tradition der Spiele stellt die Möglichkeit, den König zu vertreten, die höchste Auszeichnung für einen Günstling dar und wird auch als solche von Parius verstanden. Aktualisiert wird das Ritual von Ninus jedoch als Strafe für den (vermeintlich) untreuen, die Majestät des Königs missachtenden Günstling. Vor diesem Hintergrund erscheint es kein Zufall, dass die Ermordung genau auf jenen Moment getaktet ist, in dem Parius durch das Palasttor in die Stadt einreitet und durch künstliche Langsamkeit die Wirkung seines Auftritts zu steigern versucht.191 Wenn das Attentat exakt in dem Augenblick erfolgt, in dem die Aufmerksamkeitsregie ihren Höhepunkt erreicht, Majestät (maiestatemque NC 258) und Würde (digniori NC 258) sichtbar werden sollen, dann liegt es nahe, die vom König angeordnete Tötung zugleich als Strafe für die Verkörperung des Königs zu verstehen. Für die Interpretation zu bedenken ist jedoch der Identitätstausch zwischen Pflegevater und Sohn, dem in der Gunst Zurückgestellten und dem Günstling. Dieser perspektiviert das Ritual noch einmal anders. Im Wissenshorizont des Erzählers wie des von ihm über den Tausch informierten Rezipienten verbindet sich die aufgezeigte Günstlingsproblematik nun mit der des Neids. Die Bewertung des Mordes im Erzählerkommentar als gerechtfertigte Missachtung einer indigne maiestati (NC 258), einer unwürdigen Hoheit, erweist sich so als mehrdeutig: Das ab-
Vgl. die Bemerkungen zur agonalen Dramaturgie von Raum und Zeit im höfischen Roman bei HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 100–109.
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wertende Attribut indignus kann zugleich auf das Anmaßen der Stellvertretung des Königs durch einen Niederen, den ohne Einverständnis des Königs vorgenommenen Identitätstausch wie die der Stellvertretung nicht würdige Natur des Neiders verweisen. Indem diese drei Deutungsoptionen in der Figur des Parius zusammenfallen, denkt Walter Map über die Frage des Günstlings noch einmal in komplexerer Weise nach, als es zunächst den Anschein hat. Es geht nicht mehr – wie noch im Herzog Ernst B – um die Abwehr einer aus Neid erfundenen Lügengeschichte, vielmehr wird die in ihr vorgetragene Problematik der königlichen Gunst im Verlauf der Handlung auf den Neider selbst verschoben. Dieser begehrt durch den Identitätstausch zum einen auf gegen die Ordnung des Königs, gegen dessen Auswahl des Günstlings, und entzieht der Huld so ihre Grundlage: Um echte Huld zu sein, muss sie vom König als Gabe gegeben und darf nicht okkupiert werden.192 Zum anderen verleiht das Stellvertretungsritual der triangulären Neidkonstellation der Gunst eine neue Dynamik. Der Neider nimmt nicht allein die Position des Günstlings ein, er begehrt in Fortführung und Ausweitung seines ursprünglichen Neids zugleich die des Königs. Das Ende der narratio fügt der in der Exposition beschriebenen Unbegrenztheit des neidischen Begehrens auf diese Weise eine weitere Facette hinzu und differenziert den Diskurs über die Gunst aus: Es ist der neidische Günstling, der den König in seiner Stellung bedroht.
4.4.4 Neid-Didaxe und Rhetorik Mit dem Tod des Parius hört die neidische Dissimulation und Simulation auf zu wirken. Nachdem König Ninus Parius anstelle des Jungen ermordet aufgefunden hat, kommt er dem Intriganten auf die Spur. Er nimmt den Sohn des Lausus wieder in seine Gunst (gratia) auf, den Körper seines neidischen Lehrers lässt er hingegen als Zeichen seines schlechten Lebens für alle sichtbar am Galgen aufhängen. Mit Bezug auf die von Parius angestoßene Debatte über den Favoriten kann man dieses Handeln auch als Wiederherstellung der Ordnung verstehen: Die Verwechselbarkeit des guten und des schlechten Günstlings hat hier ein Ende. Die aufgrund von triuwe und Tugend erworbene Gunst wird abgegrenzt von der durch Lügen und Überredung angemaßten Gunst, dem auch für den Herrscher gefährlichen Begehren nach Einfluss. Zugleich wird die Handlung an dieser Stelle wieder auf ihren religiösen Horizont hin transparent. Beginnt die Erzählung mit dem Teufel als erstem Neider, so schließt die Handlung mit einem Gottesurteil über den Neider Parius. – Ninus in-
Vgl. zur Gunst als Herrschaftsinstrument: ALTHOFF, Huld, S. 280.
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terpretiert den Tod des Parius als Strafe Gottes für dessen Neid und macht in der Verächtlichmachung des Körpers des Neiders die göttliche Bestrafung für alle sichtbar. Obwohl hier ein Heide spricht und handelt, funktionieren seine Aussagen auch im christlichen Diskurs: Über die gesamte Länge der Erzählung ordnet der Erzähler die Handlungen des Parius, des Lausus und dessen Sohnes in das Laster- und Tugendschema ein. Am Beginn steht der Neid des Parius in Nachfolge der teuflischen blasphema (NC 246), der Gotteslästerung. Indem sich sein Neid gegen das Höhere, ihm Überlegene richtet, richtet er sich auch gegen das, was Gott näher ist. Im Rahmen der Freundschaftsgeschichte wird sein Neid hingegen in Opposition zur Nächstenliebe präsentiert. Damit folgt der Erzähler der mit der pädagogischen Programmatik des vierten Laterankonzils erstarkten Konvention, den Sünden Tugenden gegenüberzustellen.193 Wenn die Liebe (caritas) des Lausus auf den Neid (livor) des Parius trifft, dann stehen sich die Hauptsünde und die ihr als Heilmittel zugewiesene konträre Tugend direkt gegenüber.194 In der Beziehung zwischen Parius und dem Sohn des Lausus wird der Neid schließlich mit einem weiteren Sünde-Tugendpaar assoziiert. Als der Junge seinem Lehrer für die guten Ratschläge bezüglich seines schlechten Atems dankt und dafür auf die Knie geht, charakterisiert ihn der Erzähler als Verkörperung der humilitas und stellt diese der superbia des Parius gegenüber (NC 254). Bedenkt man, dass Hochmut traditionell diejenige Sünde ist, aus welcher Neid hervorgeht,195 wird das Bemühen erkenntlich, den Neid möglichst exakt im Sündenschema zu verorten. Der Tod des Parius funktioniert im Epimythion folglich als Exempel dafür, was passiert, wenn der Sünde des Neids nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Gleich einem Kommentator vollzieht der Erzähler den Plot in seinen einzelnen Stationen noch einmal nach und erläutert jeweils die Folgen der Handlungen des Neiders für diesen selbst. Die Beschreibung des Neides als Sünde des Teufels in der Exposition wird nun weitergedacht: Indem sich Parius dem Neid ganz überlässt und Lausus ermordet, wendet er sich von Gott ab und liefert seine Seele an den Teufel aus. In dem Moment, indem er beschließt, auch dessen Sohn zu töten, übergibt ihn Gott zur Rache an seinen Widerpart. Um diesen Vorgang zu beschreiben, greift der Er-
Vgl. hierzu: NEWHAUSER, Preaching the contrary virtues, S. 149 f. Auf ein Versagen des Neiders im Bereich der Nächstenliebe weist auch der Erzählerausruf angesichts der falschen Tränen des Parius über den angeblich faulen Atem seines Schützlings hin: Quam dura nequicia que non miseretur et resipiscit! (NC 254; „Was für eine harte Bösartigkeit, die weder Erbarmen kannte noch Einsicht!“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 167.) Der Erzählerkommentar kritisiert den Mangel des Parius an tätigem Mitgefühl (misericordia) und aktiviert beim idealen Hörer/Leser gleichsam die dem Neider fehlenden Gefühle. Vgl. hierzu das Kapitel 2.3 ‚Definitionen‘.
4.4 Verdoppelungen. Der falsche und der wahre Günstling
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zähler auf das Bild der hungrigen Löwen aus den Psalmen zurück, die von Gott ihre Beute verlangen.196 Die Sünden des Neiders gleichen der Mast, an deren Ende der Neider wie das Beutetier notwendigerweise getötet wird (NC 260). Das Epimythion entwickelt auf diese Weise eine der Handlung gegenläufige Dynamik: Gerade die Erfolge des Neiders führen diesen ins Verderben. Steigt Parius durch seine Intrigen in den Hierarchien des Hofes zwar kurzfristig auf, so verspricht sein Neid auf die Gunst keinen dauerhaften Gewinn. Dem höfischen Wettbewerb um die Gunst wird die Entwicklung des Seelenheils gegenübergestellt. Von hier aus überrascht es nicht, dass die Erzählung in einen Aufruf zur Reue an Walter Maps höfisches Publikum mündet: Audiant hec et resipiscant lividi [...] (NC 260),197 fordert der Erzähler. Wie diese Umkehr erfolgen soll, wird an dieser Stelle jedoch nicht expliziert. Sie geht nicht von den im Text vorgestellten Tugenden des jeweiligen Gegenübers des Neiders aus. Caritas, misericordia und humilitas werden zwar durchgängig gelobt, jedoch an keiner Stelle als Heilmittel gegen den Neid ausgegeben.198 Vielmehr wird die Sünde selbst noch einmal neu in den Blick genommen. Es fällt auf, dass die Beschreibung von Neid gegenüber der narratio erweitert wird. Wurde bisher vor allem der Hass des Neiders (odium) hervorgehoben, fokussiert der Erzähler nun das Leid angesichts der Bevorzugung des Anderen. Der Blick des Erzählers richtet sich auf die Rückschläge des Neiders durch den Aufstieg des Anderen, auf seinen Kummer (depressiones NC 260) über die Förderung desselben und seine Ängste (angustias NC 260) im Angesicht von dessen Glück. Auf diese Weise ordnet sich der Text in die anfangs skizzierte Tradition des Nachdenkens über die Sonderstellung der Sünde des Neids ein: Gilt im religiösen Diskurs Neid als einzige Sünde, die keine Lust bereitet, so wird auch der Neid auf die Gunst mit Gefühlszuständen des Unwohlseins verbunden. Walter Maps Deutung der auf den ersten Blick paradoxen Struktur der Sünde ähnelt der von Thomas in De Malo. Dieser präsentiert Neid als diejenige Sünde, die ihre eigene Strafe schon in sich beinhaltet.199 Im Gegensatz zu Thomas gibt Walter Map dem viel diskutierten Paradox jedoch einen didaktischen Sinn. Zu Beginn des Epimythions wird Gott als Vater porträtiert, der seine Kinder aus tätigem Mitleid (misericors)200 mit Rute (virga) und Stock (baculo) auf den rechten Weg bringt (cor-
Vgl. Psalm 103 (104), 21. „Dies sollen alle Neider hören und dadurch zur Besinnung kommen [...].“ Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 172. Zu den Konträrtugenden als Heilmittel gegen den Neid vgl. u. a. Cyprian: De zelo et livore, 16–17. In: Cyprien de Carthage: La jalousie et l’envie, S. 104–111. Vgl. hierzu das Kapitel 2.3 ‚Definitionen‘. Vgl. zur begrifflichen Unterscheidung von compassio als innerem Gefühl des Leidens und misericordia als tätigem Mitleid wiederum STÖRMER-CAYSA, Uta: Mitleid als ästhetisches Prinzip.
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rigit). Das Leiden des Parius ist folglich nicht schon Strafe und Verdammung, sondern vielmehr Zurechtweisung (castigaciones) und Mahnung zur Besserung: Qui quot toleraverit ex Lausi prosperis adversa, vel ex provectibus depressiones, ex augustis angustias, tot intelligere debuit castigaciones (NC 260).201 Ist Neid die originäre Emotion des Teufels, so wohnen dieser doch gleichfalls Elemente inne, die zu Gott zurückführen. Das richtige Verständnis des neidischen Leids wird hier zum Schlüssel der Umkehr. Interpretiert der Neider das Leid seiner Zurückstellung, wie es Parius angesichts der Erfolge des Lausus beim König tut, als Schuld des Anderen und reagiert mit Hass, so gerät er in die Fänge des Teufels. Daraus folgt umgekehrt die Option, die Parius hätte wählen sollen: Versteht der Neider sein Leiden als Warnung und Korrektur Gottes, so wird er gerettet. Am Negativbeispiel des Parius formuliert De contrarietate Parii et Lausi eine Lehre, wie der Neid auf die Gunst zu verstehen und wie mit ihm umzugehen ist. Für die Zuhörer und Leser Walter Maps bietet diese vor dem Hintergrund der personalisierten Herrschaft Heinrich II. am angevinischen Hof Anlass zur Reflexion und Diskussion: Der Rivalität um die Huld des Herrschers wird in der Erzählung eine christliche Perspektive entgegengestellt, welche die Wahrnehmung des höfischen Miteinander als Gegeneinander problematisiert, die zerstörerische Kraft der Rivalität für die sozialen Beziehungen am Hof darstellt und den Neid auf die Gunst mit dem Tod des Sünders enden lässt. Dabei setzt Walter Map auf geschickte Weise sein eigenes Schreiben am Hof mit der Neid-Didaxe in Relation. Der oben anzitierte Aufruf, Neid hinter sich zu lassen, lautet vollständig: Audiant hec et resipiscant lividi, nec spernant quomodocunque rem eis masticaverim, si quid utilitatis subesse videbitur. (NC 260)202 Dadurch, dass Walter Map die potentiellen Kritiker seiner Erzählung am angevinischen Hof mit den ermahnten Neidern gleichsetzt, wird die Frage der rechtzeitigen Reue und des richtigen Verständnisses des neidischen Leids mit der gutwilligen Rezeption seiner Erzählung verknüpft. Die Neid-Didaxe geht bruchlos über in eine Unterweisung seines höfischen Publikums
Überlegungen zu Romanen Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach. In: Höfische Literatur & Klerikerkultur. Wissen-Bildung–Gesellschaft. Xth Triennial Conference der Internationalen Gesellschaft für höfische Literatur (ICLS). Hrsg. von Ingrid KASTEN/Andrea SIEBER, Berlin 2002, S. 64–93, hier insbesondere: S. 66–78. „Er hatte viel Unglück ertragen infolge des Glücks, das Lausus zuteil geworden war, Niedergeschlagenheit wegen des Aufstiegs, und Bitterkeit aufgrund seines Erfolgs; aber all das hätte er als Züchtigung [durch Gott] verstehen müssen.“ Für die Übersetzung siehe: MAP, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 171. „Dies sollen alle Neider hören und dadurch zur Besinnung kommen; auch sollen sie nicht gering schätzen, wie ich ihnen diese Angelegenheit vorgesetzt habe, mag dem auch nur ein kleiner Nutzen abzugewinnen sein.“ Für die Übersetzung siehe: MAP, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 172.
4.5 Literarische Günstlingsdiskurse
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darin, wie sie aus Literatur moralischen Nutzen (utilitas) ziehen können.203 Im Rückblick gewinnt die Erzählung über den Neid des Parius auf diese Weise eine performative Dimension: Indem Walter Map von den verderblichen Folgen des Neids auf die Gunst erzählt, wehrt er zugleich die eigenen Kritiker ab. Die Exempelerzählung schlägt eine letzte Volte: Map nutzt die Rhetorik nicht nur, um in der narratio den Neid auf die Gunst in all seinen Spielarten auszuloten; die moralisatio, die die Neider zur Umkehr aufruft, wird selbst als captatio benevolentiae rhetorisch funktionalisiert.204
4.5 Literarische Günstlingsdiskurse Su descripsero curiam, ut Porphyrius diffinit genus, forte non mentiar, ut dicam eam multitudinem quodammodo se habentam ad unum principium. Multitudo certe sumus infinita, uni soli placere contendens. (NC 3) Wenn ich den Hof beschreibe, wie Porphyrius die ‚Art‘ definiert, habe ich bestimmt Recht, wenn ich sage, er sei ‚eine Menge, die sich in einer bestimmten Weise auf ein Prinzip bezieht‘. Wir Hofleute sind sicherlich eine zahllose Menge, die sich nur darum bemüht, einem Einzigen zu gefallen [ ... .].205
Wenn es, wie es Walter Map in berühmter Prägnanz formuliert hat, stimmt, dass der mittelalterliche Hof nur durch ein Prinzip, nämlich den gemeinsamen Fokus auf die Gunst des Herrschers, zusammengehalten wird, dann erweist sich in den drei Narrationen das, was den Hof eint, zugleich als das, was diesen spaltet. Unter die direkten und indirekten Nachwirkungen des Neides auf eben jene Gunst fallen: ein toter Herzogssohn, ein nur knapp dem Mordanschlag entkommener Kaiser und ein Günstling, der Herrschaftsfunktionen übernimmt. In diesem Sinne funktioniert der so entstandene Neid auf die Gunst nicht einfach nur als Beiprodukt der Gunst. Wie anfangs vermutet, geraten zusammen mit
MAPs Aufruf folgt eine Reflexion über das richtige Lesen. Den in der narratio anhand von Neid getroffenen Unterscheidungen zwischen dem richtigen und dem falschen Freund, zwischen dem richtigen und dem falschen Günstling wird in der moralisatio die Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leser an die Seite gestellt. Walter Maps Exempel stellt ein interessantes Beispiel für das Nebeneinander von Ethik und Rhetorik in Exempelerzählungen dar. Die narratio wird nicht nur doppelt – auf moralischer Ebene und auf rhetorischer Ebene – ausgewertet. Das Epimythion zeigt auf, wie die Moral, ohne an Gehalt zu verlieren, der Rhetorik dienstbar gemacht werden kann. Zur Verschränkung von Ethik und Rhetorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen vgl.: FRIEDRICH, Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen, hier insbesondere S. 229–230. Für die Übersetzung siehe: Map, Die unterhaltsamen Gespräche, S. 3.
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dem Neid auf die Gunst zugleich auch die Funktionsweisen und Problematiken letzterer in den Blick. Was es bedeutet, wenn von Neid als Kehrseite der Gunst erzählt wird, lässt sich am deutlichsten am Herzog Ernst B nachvollziehen. Dadurch, dass Neid hier als Reaktion eines für Gefolgsleute verantwortlichen Vasallen auf den eigenen Bedeutungsverlust und damit als politische Emotion gezeichnet wird, rücken die mit der Gunstvergabe verbundenen Dynamiken in den Fokus. Dass die Neuvergabe von Gunst immer auch Neid und daraus folgend Intrigen mitproduziert, wird im Herzog Ernst B – wie auch Joachim BEHR und Martin BAISCH in ihren Interpretationen herausgestellt haben – als systemimmanente Instabilität des Personenverbandsstaats gezeigt,206 welche für den Fortgang der Handlung die Frage aufwirft, wie Huld dauerhaft gemacht werden kann. Aber auch dort und insbesondere dort, wo die Emotion nicht direkt aus der politischen Situation abgeleitet wird, treffen die Erzählungen Aussagen über die Gunst. In De Contrarietate Parii et Lausi wird der laut Map für den Hof definitorische Wettkampf um die Gunst vor dem Hintergrund einer auf Nächstenliebe basierenden Sozial- und Freundschaftsethik selbst schon als Folge der neidischen Wahrnehmung des Anderen gezeigt. Das Exempel kritisiert so zusammen mit dem Neid die Idee rangkonstituierenden Agons. In der Crescentia-Legende erweist sich die Wahrnehmung der Protagonistin als Rivalin um die Gunst als falsches ‚Framing‘ der Situation. Die Emotion des Neids wird angesichts Crescentias Heiligung als Konzentration auf die falschen Distinktionen erzählt; in der Bestrafung des Neiders wird deutlich, dass der vicedominus neben der weltlichen der göttlichen Huld bedarf und dass beide miteinander zusammenhängen. Mit dem Neid auf die Gunst steht – wie die Übersicht deutlich macht – in den Erzählungen folglich auch der Status herrschaftlicher Gunst und die Konkurrenz um diese zur Diskussion und die jeweilige Darstellung des Neids ist nicht unwesentlich daran beteiligt, die gattungsbedingt unterschiedlichen Werthorizonte, innerhalb derer die Erzählungen operieren, zur Geltung zu bringen. Gemeinsam ist allen drei Erzählungen die Art und Weise, wie sie Neid konzipieren. Indem Neid im Gegensatz zu modernen Definitionen der Emotion in jeder der Narrationen zumindest phasenweise als Verlustemotion207 gestaltet ist, wer-
Vgl. BEHR, Hans–Joachim: ‚Herzog Ernst‘. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst BRUNNER, Stuttgart 22004, hier S. 64 u. im Anschluss an ihn BAISCH, Anerkennung und Vertrauen, S. 156. In vielen modernen emotionsphilosophischen und emotionspsychologischen Studien markiert die Frage, ob sich die Emotion auf den Verlust oder den Nichtbesitz eines Gutes konzentriert, die Grenzlinie zwischen Neid und Eifersucht. Während der Eifersüchtige wertgeschätzte Güter und Beziehungen verteidige, begehre der Neider Güter, um im Vergleich mit dem Anderen einen höheren Status zu erlangen. Vgl. z. B. NUSSBAUM, Political Emotions, S. 339 f.
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den Übergänge und Bruchstellen in der Gunstvergabe sichtbar. An die Stelle des Blutsverwandten tritt im Herzog Ernst B der ‚Wahlverwandte‘, an die Stelle des altgedienten in De Contrarietate Parii et Lausi der junge Vertraute und an die Stelle des den Herzog beratenden vicedominus in der Crescentia-Legende eine Frau ohne Hofamt und von ungeklärter Herkunft. Das Verhältnis zwischen ehemaligem und aktuellem Günstling ist derart nicht nur als Kontrastrelation angelegt, in allen drei Narrationen erfolgt die Neuvergabe der Gunst – zumindest dem Augenschein nach – in Konflikt mit etablierten Rangfolgen. Im Spannungsfeld zwischen herrschaftlicher Macht und festgelegten Hierarchien am Hof kann Neid – wie es Gerd ALTHOFF getan hat – so auch als Zeichen dafür gelesen werden, dass Rangordnungen bei der Gunstvergabe verletzt wurden.208 Lässt sich Neid dergestalt auf der Handlungsebene als Teil der Verhandlung über Spielregeln für die Gunstvergabe interpretieren, so gilt dies in modifizierter Weise auch für das Erzählen von diesem: Dadurch, dass geltende Rangfolgen durch neue feudale, moralische und religiöse Hierarchien außer Kraft gesetzt und überformt werden, beteiligen sich der Herzog Ernst B und die Crescentia-Legende – ohne, dass dies explizit formuliert wird – an der Diskussion um die richtige Vergabe und Ausrichtung von Gunst. Wendet man den Blick weg von der evaluativen hin zur motivationalen Funktion von Neid, lädt die Emotion jedoch nicht nur ein zur Reflexion über die Kriterien der Gunstvergabe, sondern auch über die Bindung zwischen Herrscher und Günstling selbst. Um den neuen Günstling seiner Position zu berauben, buchstabieren die Neider in ihren Reden Schwachpunkte der Gunst- und Huldbeziehung aus und attackieren dabei den Kern dieser Form der asymetrischen Freundschaft: Aus der für die Gunst konstitutiven Nähe wird ein ‚zu nah‘. So prognostiziert der Neider im Herzog Ernst B radikale Konsequenzen der Gunstvergabe für die Hierarchien im Reich. In seinen Usurpationsvorwürfen verwandelt sich der Favorit, der aus der Reihe seiner Standesgenossen hervorgehoben wird, im selben Moment in einen Rivalen des Herrschers. Der Neider in der Crescentia- Legende führt vor Augen, was passiert, wenn eine Person in die Position des Günstlings vorrückt, die dem Herrscherhaus nicht wohlgesonnen ist. Indem er Crescentia Schadenzauber vorwirft, weist er darauf hin, dass der Günstling dem Herrscher aus seiner Position der Nähe heraus zu schaden vermag und es – wie die Ermordung des herzoglichen Erben nahelegt – anscheinend auch tut. Die von Parius ersonnene Erzählung vom faulen Atem in De contrarietate Parii et Lausi entwirft schließlich einen Favoriten, der sich der Gunst nicht nur entzieht, sondern die herrschaftliche Autorität selbst missachtet. Dem Günstling wird vorgeworfen, dass er die für die Gunst definitori-
Vgl. ALTHOFF, Gerd, S. 274.
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sche Nähe des Herrschers als Übel, als Peinlichkeit – besagten faulen Atem – diskreditiert und so den Wert der Gunst selbst in Frage stellt.209 Rücken die Vorwürfe gegen den Günstling diesen auf der Ebene der histoire ins Zwielicht und verunsichern so das Verhältnis der Figuren zueinander, so kommt ihnen im Rahmen des discours eine andere Bedeutung zu. Nicht nur ist der Hörer/ Leser im Gegensatz zu den Figuren jederzeit über den lügnerischen und neidischen Charakter der Vorwürfe informiert.210 Indem die Narrationen bekannte Topoi der Günstlingskritik aufgreifen und Neidern in den Mund legen, lassen sie sich selbst als Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Günstlingsdiskurs begreifen: Während die Anklagen gegen den Günstling als Produkte der Emotion Neid dekonstruiert werden, entwerfen die Texte abweichend von Fürstenspiegeln und Hofkritik ideale Günstlingsfiguren, die allenfalls aufgrund der Not, in die sie aufgrund der falschen Vorwürfe geraten, zu unrechtmäßigen Handlungen greifen. Mehr noch: Dadurch, dass Neid in allen drei Erzählungen zumindest phasenweise als Verlustemotion konstruiert wird, ist die Figur des Günstlings doppelt besetzt. Während diese Konstellation in der Crescentia-Legende dazu dient, das alleinige Streben nach weltlicher Gunst von dem nach göttlicher Gnade abzugrenzen, nutzen sie die beiden anderen Texte, um den feudalen Gunstdiskurs auszudifferenzieren: Im Herzog Ernst B wird das aus der Hofkritik bekannte Bild des Günstlings als falscher Ratgeber aufgenommen, jedoch wird mittels der Erzählerbewertungen triuwe und ungetriuwe dem falschem Ratgeber der unschuldig verleumdete gute Ratgeber gegenübergestellt.
Glaubhaft werden diese Vorwürfe dadurch, dass sie sich für ihr Funktionieren zugleich eine andere Schwachstelle gunstbasierter Herrschaft nutzbar machen: Triuwe ist nur an äußeren Kennzeichen erkennbar und diese Zeichen leicht manipulierbar. Mal reicht hierfür angesichts der Dringlichkeit der Vorwürfe die Andeutung aus, dass der Günstling in Anwesenheit des Herrschers anders spricht, als in dessen Abwesenheit. Mal werden die die detractio bestätigenden Tatsachen vom Neider – wie der Kindsmord in der Crescentialegende – selbst geschaffen. Mal wird der Günstling vom Neider dahingehend beinflusst, dass dieser selbst nach außen alle Zeichen der ihm vorgeworfenen untriuwe zeigt. Die von der Geschichtswissenschaft konstatierte Negativwahrnehmung des Günstlings wird in den Narrationen so mit der Schwierigkeit, in der vom Neider gedeuteten und fingierten Wirklichkeit, die Zeichen der triuwe richtig zu lesen, verbunden. Vgl. zur wirklichkeitskonstruierenden Seite von Neid und Intrige: LAUER, Claudia: Die Emotionalität der Intrige. Variationen im höfischen Roman. In: Rache ‒ Zorn ‒ Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin BAISCH/Evamaria FREIENHOFER/Eva LIEBERICH, Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 187–207. Hierin könnte eines der Spezifika mittelalterlichen Erzählens von Neid und Intrige liegen. Im Gegensatz zum modernen Erzählen wird der Rezipient noch nicht selbst Teil der Unsicherheiten des Intrigenspiels. Vgl. zu epistemologischen Aspekten von Intrige und Verschwörung in der modernen Literatur: HORN, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007.
4.5 Literarische Günstlingsdiskurse
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Elaborierter noch ist die Rollenteilung in Walter Maps didaktischer Erzählung De contraritate Parii et Lausi. Indem der Sohn des Lausus den König bei den alljährlichen Spielen mitsamt Zepter und Krone vertreten soll, verweist gerade dasjenige Ritual, das als besonderer Ausweis von Gunst gilt, auf die Gefahr der Usurpation: Der Günstling steht dem Herrscher nicht nur am nächsten, er kann diesen – so der Subtext dieses Rituals – in seinen Herrschaftsfunktionen auch ersetzen. Die Erzählung löst diese Situation auf, indem sie die Problematik der Gunst mit der des Neides auf die Gunst verbindet. Im Gegensatz zur CrescentiaLegende und im Gegensatz zum Herzog Ernst B bleibt die Emotion Neid hier nicht auf ihre zerstörische, missgünstige Seite beschränkt. Sie äußert sich zugleich als Begehren des Neiders, der Andere zu sein, in Gestalt des Anderen die Gunst des Herrschers zu genießen. Für die Bewertung der Figur des Günstlings bedeutet dies, dass es der Herrscher wie auch der Rezipient gleichzeitig mit zwei Versionen des Favoriten zu tun bekommt, deren Handeln über den Identitätstausch direkt aufeinander bezogen und voneinander geschieden wird: Nicht der Sohn des Lausus missachtet und gefährdet die Macht des Herrschers. Da der Neider ohne Einwilligung des Königs mit dem Jüngling im Ritual die Rollen tauscht, ist er es, der in Ausweitung und Fortsetzung seines ursprünglichen Neides als Günstling zuletzt auch die Position des Königs einnehmen möchte. Damit expliziert die Erzählung das, was alle hier analysierten Erzählungen über den Neid auf den Günstling als Erkenntnis miteinander gemein haben: – Neid wird in ihnen nicht allein als Verbrechen am Günstling, sondern auch als Vergehen gegen denjenigen, der die Gunst verleiht, gezeigt. Der falsche, der dem Herrscher gefährliche Begünstigte ist der Neider, meinen sie und leisten so einen eigenen Beitrag zur Debatte um den Günstling.
5 Die Vielen und der Eine [...] Ouch haustu, herr, dinen muot also ser an in gelaussen. daß dunckt mich ain unmasse, daß du umb ainen man unß all fúr nicht wilt han: daß dunckt mich unmuglich. (ETR 3305–3311)1
So beklagt sich in Eilharts Tristrant und Isalde der Anführer der neidischen Herzöge und Grafen bei seinem Herrscher. Seine Kritik richtet sich auf ein Missverhältnis: Um eines einzelnen Mannes willen stelle der König die traditionellen Eliten in seiner Gunst hinten an. Dem auserwählten Einen stünden – so Antret – die nicht erwählten Vielen als Benachteiligte gegenüber. Damit ergibt sich am Hof eine neue Situation. Im Gegensatz zu der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen NeidKonstellation sind Kummer und Hass angesichts des Vorteils des Anderen bei Eilhart nicht mehr Emotionen eines Einzelnen, es sind Kollektivemotionen, die die Differenz zwischen Selbst und Anderem – wie das von Antret verwandete Pronomen unß zeigt – überbrücken.2 Diese Vorstellung gemeinschaftlichen Neidens ist in der Moderne wenig verbreitet. Zwar wird Neid als gesellschaftliches Problem begriffen.3 Im Unterschied zu mittelalterlichen Darstellungen neidischer Bündnisse4 wird die Emotion selbst jedoch als isolierende Erfahrung beschrieben. So betont der Soziologe Rainer PARIS, dass sich auf Basis der negativen Emotion keine „wertmäßigen Übereinkünfte“ schließen ließen: „Der Modus der Beziehung zwischen Menschen, die jeweils Neid auf andere empfinden ist die Serie. Im Nebeneinander der Serie sind
Eilharts Tristrant wird hier und im Folgenden zit. n. Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346). Hrsg. von BUSCHINGER, Danielle. Berlin 2004 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4). Diakritische Zeichen wurden, wo sie den Lesegewohnheiten widersprechen, aufgelöst. Vgl. zu dieser Definition kollektiver Emotionen: KOCH, Emotionsforschung, S. 86. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Methodik im Kapitel 3.4. Die Darstellung von Neid als Kollektivemotion ist vor allem im Kontext der Sprachsündendiskussion verbreitet. Vgl. z. B. Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica Canticorum. Sermo XXIV, 3. In: Ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch. Hrsg. von Gerhard B. WINKLER, Bd. 5, Innsbruck 1996, S. 350–365, hier S. 354–357. Hier wird Neid als Ursprung einer Vergemeinschaftung der Neider gezeigt. Die Neider schließen sich aufgrund der von ihnen geteilten Emotion zu einem Bündnis zusammen, das mittels Schmähungen und Verleumdungen auf die Herabsetzung der Beneideten abzielt. https://doi.org/10.1515/9783111202105-006
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die Menschen isoliert und kapseln sich ab. Jeder neidet für sich.“5 Auch die berühmteste Theorie des Gruppenneids hebt zunächst den solitären Charakter der Emotion hervor: In seinem 1921 erschienen Essay Ich-Analyse und Massenpsychologie zeichnet Sigmund FREUD die Urgesellschaft der Herde als eine neidische. Für FREUD stellen die Neider jeweils Einzelpersonen mit eigenen Interessen dar. In ihrem rivalisierenden Begehren nach dem alleinigen Besitz des Neidobjekts gefährden sie einander gegenseitig, erst der gemeinsame Verzicht auf das Neidobjekt mache Gruppenbildung möglich.6 Beide Einwände lassen sich auch für mittelalterliche Neidkonzeptionen geltend machen. Wenn Neid aber weder überindividuelle Wertzusammenhänge noch positive affektive Bindungen zu stiften vermag, wie lässt sich dann der Zusammenschluss der Magnaten am Hof König Markes erklären? Die Aussage Antrets lässt vermuten, dass die Neider in Eilharts Tristrant die Position des Favoriten nicht für sich selbst anstreben, sondern über die gemeinsame Opposition gegen Tristants Vorrang zusammenfinden. Missgunst7 verschärft derart die im vorangegangenen Kapitel beschriebene Gunstproblematik. An die Stelle der Diskussion um den richtigen und falschen Günstling tritt nun das Nachdenken über das Verhältnis von Günstling und Gemeinschaft: Darf einer aus der Gemeinschaft heraustreten und das besitzen, was vorher allen gebührte? Oder anders gefragt: Darf sich eine Gemeinschaft dagegen wehren, dass einer okkupiert, was vorher kollektives Eigentum war? Für den modernen, an liberal-demokratischen Gesellschaftstheorien geschulten Leser zielen diese Fragen auf Probleme gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Im Anschluss an RAWLS diskutiert die politische Philosophie über das (Miss)verhältnis von Masse und gesellschaftlicher Teilhabe und legt Kriterien fest, ab wann der Neid auf den Mehrbesitz der Wenigen gerechtfertigt sei.8 Aber geht es bei der
PARIS, Rainer: Neid. Von der Macht eines versteckten Gefühls, Waltrop und Leipzig 2010, S. 22–23. Rainer PARIS mahnt präzise Begrifflichkeiten an. Die Häufigkeit des Neids sei nicht zu verwechseln mit Kollektivität. Der Neid der Vielen begründe keine Gemeinschaft der Neider. Trotz der Verbreitung des Neides, neide jeder für sich, sodass man anstatt von einem ‚kollektiven Gefühl‘ von einer ‚seriellen Isolation‘ sprechen müsse. Vgl. FREUD, Massenpsychologie und Ich–Analyse, S. 78–83. Die Beschreibung von FREUDs Theorie des Gruppenneids beschränkt sich hier auf die wesentlichen Grundzüge. Eine ausführliche Erläuterung seiner Vergemeinschaftungsidee findet sich im Kapitel ‚Neidische Minnefeinde‘. Zum Begriff der ‚Missgunst‘ vgl. DEMMERLING u. LANDWEER, Philosophie der Gefühle, S. 197. So plädiert der Politikwissenschaftler Jeffrey Edward GREEN 2016 für eine ‚plebeianische‘ Neuausrichtung liberaler Demokratien. In seinem in den USA als Choice Outstanding Academic Title ausgezeichneten Werk The Shadow of Unfairness argumentiert GREEN dafür, dass Neid als Grund für eine stärkere Belastung der gesellschaftlichen Elite dann legitim ist, wenn die folgenden der drei von Rawls genannten Kriterien erfüllt sind: „excessive inequalities, inequalities not bound
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Gegenüberstellung der Vielen und des Einen auch in vordemokratischen Kulturen und Literaturen schon um Fragen der (Verteilungs)Gerechtigkeit? Um dies zu klären, soll Gruppenneid in diesem Kapitel als eigenständige Neidkonfiguration am Hof behandelt werden. Es wird untersucht, wie das in Antrets Kritik formulierte Missverhältnis zwischen dem einen Besitzer des Neidobjekts und den vielen Nichtbesitzenden konstruiert und semantisiert wird: Wie wird gemeinschaftlicher Neid in Narrationen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts hergeleitet? Welche Themen und Diskurse treten im Erzählen vom Hof in den Vordergrund, wenn dem Günstling nicht mehr ein Einzelner, sondern eine Gruppe von Neidern gegenübertritt? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, werden Walter Maps De Rege Portigalensi aus De Nugis Curialium (zwischen 1181–1193) sowie die Tristan-Romane Eilharts (ca. 1170) und Gottfrieds (um 1210) analysiert.9 Die drei Texte eint, dass Gruppenneid in ihnen nicht allein Teil der Handlung ist, sondern im Verlaufe des Erzählens selbst zum Gegenstand der Reflexion wird: Bei Walter Map werden die in der Erzählung entfalteten zerstörerischen Emotionen am Hof im Epimythion erneut aufgerufen und eingeordnet, bei Eilhart deutet der Erzähler den Neid der graven und hertzogen in einem der wenigen Erzählerexkurse des Textes, bei Gottfried diskutieren die Figuren Marke und Tristan darüber, was für den Beneideten aus der kollektiven Emotion seiner Gegner folgt. Diese Besonderheit der Texte macht sich die Analyse zu Nutze, um der Semantik des Neides der Vielen auf den Einen nachzugehen. Zugleich wird im Nacheinander von Exempel, Spielmannsliteratur und höfischem Roman überprüft, inwiefern sich die Deutungsmuster kollektiven Neidens in komplexeren Erzählformen verändern und von der Moraldidaxe lösen können.
5.1 Hof- und Herrschaftskritik – Der betrogene König Die Erzählsammlung De Nugis Curialium beginnt mit einer Negativdefinition des Hofes, die ihresgleichen sucht: Die curia wechsele zwar ständig Ort und Mitglieder, sie bleibe in ihren Merkmalen jedoch immer gleich. Anstelle an die Würdigen verteile der Hof seine Gunst an die Unwürdigen. Vor dem Hintergrund der am Hof herrschenden Gier gelte die sich auf ein gutes Gewissen stützende Freude als
by the difference principle, and inequalities founded on an unjust basic structure that does not properly respect fair equality of opportunity“. Siehe: GREEN, Jeffrey Edward: The Shadow of Unfairness. A Plebeian Theory of Liberal Democracy, New York 2016, S. 95. Für Eilharts Tristrant wird im Folgenden die Sigle ‚ETR‘ und für Gottfrieds Tristan die Sigle ‚GTR‘ verwendet.
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unlauter, die Traurigkeit aufgrund eines schlechten Gewissens werde hingegen wertgeschätzt. Mit der Metapher des Knoblauchs, der gut schmecke, den Essenden nach dem Genuß jedoch stinken lasse, veranschaulicht der Erzähler, wie Lucifer die Menschen am Hof mit seinen Angeboten zur Sünde verleitet und so ins Verderben führt. Die zahlreichen Bilder der verkehrten Welt münden in einen Vergleich des Hofes mit der Hölle, die Map entsprechend der antiken Mythologie als Hades gestaltet: Wie die Hölle sei auch der Hof ein Platz der Strafe; vom nie endenden Durst des Tantalus über die Rastlosigkeit des Sisyphus bis hin zum ständigen Wechsel des Glücks des an ein Rad gebundenen Ixion seien alle Höllenqualen am Hof präsent (NC 2–11). Der Forschung gilt die Hofkritik des Anfangs als wegweisend für die Interpretation der ersten zwölf Kapitel von distinctio 1: „All these episodes work to satirically explain and define the twelth-century court.“10 De Rege Portigalensi11 ist die letzte Erzählung in dieser Reihe, bevor sich der Fokus auf die Unordnung in der Welt außerhalb des Hofes verschiebt. Anders als in den bislang untersuchten Texten stellt die Figur des Favoriten am Hof des titelgebenden Königs12 eine Neuerung dar: Als der König von Portugal von seinen Feinden derart bedrängt wird, dass sein Reich in höchster Gefahr schwebt, kommt ihm unerwartet ein iuvenis13 zur Hilfe und funktioniert als deus ex machina: Als Einzelner entscheidet der junge Mann den Kampf zu Gunsten des Königs. Damit beginnt für den homo novus, dessen Herkunft der Text nie ganz erhellt, ein steiler Aufstieg am Hof: Er gelangt, wie das Verb ingredi markiert, als Außenseiter in den Kreis des Königs und genießt fortan direkten Zugang zum Herrscher. Letzterer ruft ihn zu sich, sucht ihn selbst auf und belohnt ihn für seine Dienste reichlich. Dieser Überschwang königlicher Affektbeweise bleibt nicht unbemerkt: Die Magnaten des Hofes reagieren mit einem furor invidiae auf die dem Kämpfer gewährte Gunst. Walter Map nutzt diese Konstellation, um die Auswirkungen des Gruppenneids in Form eines Intrigennarrativs zu untersuchen. Um den eigenen Wiederaufstieg zu ermöglichen, arbeiten die Neider daran, die hohe Stellung des Favoriten des Königs zu mindern. Sie nutzen ihr Wissen um die Eifersucht des Königs und beschul-
Zur Funktion der distinctio 1 als „definition of the court“ vgl. SMITH, Joshua Byron: Walter Map and the Matter of Britain, Philadelphia 2017, S. 52. Für die Textinterpretation verwandt wird wiederum die jüngste englischsprachige Edition des Textes: Map, Walter: De Nugis Curialium. Courtiers’ Trifles. Edited and translated by M. R. JAMES. Revised by C. N. L. BROOKE/R. A. B. MYNORS, Oxford 1983. Die Erzählung lässt offen, welcher König von Portugal gemeint ist. Vermutet wird, dass der erste König von Portugal, Alfons I., gemeint ist. Abweichend von der Schreibweise in der englischen Edition wird entsprechend deutschen Herausgebergewohnheiten /u/ durch /v/ ersetzt.
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digen den Favoriten des Königs des Beischlafs mit der Königin.14 Damit verwendet Map eine Variante des dem Leser bereits aus dem Herzog Ernst B bekannten Intrigenmusters der Emotionsmanipulation: Der furor invidiae mag die Magnaten zwar blind für die eigenen Motive machen, umso genauer beobachten sie jedoch die Emotionen Anderer und planen und kalkulieren mit ihnen.15 – Erliegen sie selbst dem furor invidiae (NC 32), so sorgen sie dafür, dass der Herrscher dem furor [zelotipiae] (NC 32) anheimfällt. Beide Emotionen werden vom Erzähler über den Terminus des furor miteinander in Beziehung gesetzt, sodass sich dem Leser/Hörer die Mechanik der Intrige enthüllt: Insofern auch mit der Eifersucht Raserei, Wahnsinn, Verblendung und Rachsucht16 einhergehen, agiert der König in der Intrige als unwissendes Werkzeug der neidischen Aggression. Er wendet sich gegen seinen Favoriten und beauftragt die Magnaten mit dessen Tötung. Mit dem Tod des Favoriten ist die narratio bei Walter Map jedoch noch nicht am Ende angelangt. Im Unterschied zum Herzog Ernst B ‚übertragen‘ die Neider in Walter Maps Intrigenerzählung ihre Probleme mit dem Günstling nicht direkt auf den Herrscher. Die im mittelhochdeutschen Diskurs nicht übliche Unterscheidung zwischen Neid und Eifersucht, invidia und zelotipia,17 markiert bei Walter Map eine qualitative ‚Verschiebung‘ und ‚Ausweitung‘ des Konflikts: Indem die Neider der Intrigenkonstellation mit der Ehefrau des Herrschers eine weitere Person hinzufügen, verlagert sich der Konflikt von der Gunst weg und ins Innere des Herrscherhauses: Der eifersüchtige Herrscher bestraft den vermeintlichen Ehebruch, – er tötet die Königin und sein ungeborenes Kind. Abgeschlossen wird die narratio entsprechend dem Intrigennarrativ durch die Anagnorisis. Als dem König die Gerüchte über die wahren Vorkommnisse am Hof zu Ohren kommen, beginnt er um seinen guten Namen zu fürchten und gesteht sich den Fehler ein. Gleichermaßen traurig wie zornig bestraft er die Intriganten. In den Augen des Erzählers ist es dieser königliche Zorn, der am Hof wieder ein geringes Maß an Ordnung herstellt. Glaubt der eifersüchtige König nur fälschlicherweise, dass der dreifache Mord tanquam iuste sei, so wird seinem
Der Erzähler greift in der Schilderung der Anklage der Königin auf biblische Muster zurück: In dem aus der Gruppe lediglich zwei vor den König treten, wird die Anklagesituation derjenigen von Susannah im Buch Daniel (Dan. 13, 1–64) angenähert und das Schicksal der portugiesischen Königin explizit mit dem der biblischen Ehefrau verglichen: Beide sind des Ehebruchs unschuldig. Vgl. zur Manipulation von Emotionen innerhalb der Intrige: DEITERS, Heinz–Günter: Die Kunst der Intrige, Hamburg 1966, S. 126. So lauten die möglichen Übersetzungen im Lateinischen für furor. Im Gegensatz zur modernen Emotionstheorie (vgl. hierzu das Kapitel 3.1.2) wird die Grenze zwischen ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘ hier nicht über die Entgegensetzung von Begehren und Verlust gezogen. Deutlicher als die Eifersucht wird der Neid hier als Verlustemotion gezeichnet.
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Zorn gegen die Magnaten vom Erzähler nun die dem Herrscherhandeln angemessene Qualität der Gerechtigkeit zugesprochen: et iram tunc primo iustam in ipsos inventores et executores scerelis ultus (NC 34).18 Den anhand des furor negativ bewerteten Emotionen des Neids und der Eifersucht wird so der gerechte Zorn19 als Korrektiv gegenübergestellt. Betrachtet man von hier aus die narratio in Gänze, wird offensichtlich, in welchem Ausmaß Emotionen das Erzählen von der Intrige strukturieren:20 Die ‚Planszene‘ wird vom Neid dominiert. Die ‚Durchführung‘, der ‚Vollzug‘, bedient sich der Eifersucht. In den für diese Phase typischen Simulations- und Dissimulationshandlungen werden Anlässe für Eifersucht erfunden, hingegen die Gefühle der Intriganten verschleiert. Gemäß dieser Anlage funktioniert die ‚Anagnorisis‘ dann vor allem als Entdeckung der negativen Emotion der Ankläger, die vom Erzähler an dieser Stelle das zweite Mal explizit als invidia (NC 34) benannt wird. Die auf die Enttarnung folgende Bestrafung der Intriganten schließlich korrigiert die Fehleinschätzungen mithilfe einer dritten Emotion. An die Stelle von Eifersucht auf Favorit und Königin tritt beim König der Zorn auf die Neider, die im Folgenden ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Jedem Schritt der höfischen Intrige und ihrer Aufdeckung ist so nicht nur eine Emotion zugeordnet, jeder Schritt ist auch auf die die Intrige auslösende Emotion des Gruppenneids rückbezogen, sodass vor den Augen des Lesers/Hörers im Verlauf der Erzählung ein Panorama höfischer Emotionen entsteht. Die Zusammenfassung der Handlungsstruktur macht deutlich, in welcher Weise die Erzählung vom Gruppenneid die Hofkritik des Anfangs der distinctio aufnimmt und abrundet. Nachdem in den vorangegangenen Erzählungen anhand von Maps eigenem Haushalt und dem Hof von König Herla die Unregierbarkeit und Rastlosigkeit eines Reisehofs vorgeführt wurden,21 lässt sich De Rege Portigalensi lesen als Reflexion über die Zerstörungsgewalt am Hof verbreiteter negativer Emotionen. Das Intrigennnarrativ definiert den Charakter und die Beziehung der am Hofe vorkommenden Emotionen der Agression und weist ihnen einen festen Ort innerhalb und außerhalb des moralischen Wertesystems zu. Welche Aus „Er rächt sich in erstmals gerechtem Zorn an den Urhebern und Vollstreckern des Verbrechens“ [eigene Übersetzung]. Zur Konzeptionalisierung von Zorn als Voraussetzung von Herrschaft vgl. FREIENHOFER, Verkörperungen von Herrschaft, S. 41–46. Die folgenden Ausführungen folgen in ihren Begrifflichkeiten dem von Peter VON MATT anhand von literarischen Analysen antiker und neuzeitlicher Texte entwickelten Intrigenmodell. Vgl.: VON MATT, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. Zu dieser Deutung der beiden De Rege Portigalensi vorangehenden Erzählungen vgl. BIHRER, Andreas: Selbstvergewisserung am Hof. Eine Interpretation von Walter Maps De Nugis Curialium. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, 1 (2002), S. 227–258, hier S. 240.
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sagen auf diese Weise konkret über den Hof getroffen werden, soll im Folgenden analysiert werden: Ausgehend von einer Analyse des in der Figurenkonstellation entworfenen Verhältnisses der Vielen und des Einen werden die in der narratio beschriebenen Wirkungen der Kollektivemotion auf den Hof untersucht, um am Ende mit Blick auf die hofkritische Einleitung der distinctio sowie das Epimythion der Erzählung zu bestimmen, welche Lehren sich aus der Dominanz des Neids bezüglich des Hofs als Herrschaftszentrum und als sozialem Knotenpunkt ziehen lassen.
5.1.1 Ökonomien der königlichen Gunst Können das, was der Eine besitzt, alle gleichermaßen besitzen? Warum besitzt der Eine, was die Vielen nicht besitzen?
Die Gruppe der Neider und der Erzähler geben auf diese Fragen unterschiedliche Antworten. Einblick in das Denken der in der Erzählung nur als Kollektivsubjekt greifbar werdenden Neider erhält der Hörer/Leser durch die interne Fokalisierung, die direkt auf die Beschreibung der Vorzugsbehandlung des jungen Kämpfers folgt. In auffälliger Weise schweigt sich die Erzählung an dieser Stelle über das Leid des Neids aus. Die vom Erzähler für den Neid gebrauchte Vokabel furor verweist hier nicht auf eine Affektdynamik, die von außen an die Magnaten herangetragen wird, stattdessen wird der neidische Furor gedanklich erzeugt. Folgt man der Ordnung der Erzählung, dann schließt er direkt an ökonomische Verrechnungsoperationen der Neider an. Mit der zwei Mal wiederholten Formel tantum – quantum eröffnen die Neider eine gedankliche Gleichung, in der ihr Verlust an Gunst und Ehre auf den Aufstieg des homo novus zurückgeht und dessen Gewinn an Liebe des Herrschers die exakt gleiche Einbuße an Zuneigung auf ihrer Seite bewirkt. In diesem eingebildeten Substraktionsprozess fungiert der Beneidete als Dieb, der die Großen des Hofs der nur begrenzt vorhandenen Güter honor, favor und affectio beraubt.22 Betrachtet man diese Gedankenlogiken, unterliegt die Gunst des Königs einer klaren Ökonomie: Macht am Hof wird als Konkurrenzsituation konzipiert, in der der Aufstieg des Einen zugleich den Abstieg der Vielen bedeutet. Damit orientiert sich Walter Map an Interpretationsmustern aus dem ihm in seiner Tätigkeit als Säkularkleriker am Hof bekannten religiösen und hofkritischen Diskurs. Maps Zeitgenosse, John of Salisbury, betont in seinem Entheticus
Ihr Verständnis des Aufstiegs des homo novus als Substraktionsprozess lässt sich auch an dem in der internen Fokalisierung verwendeten Vokabular ablesen: Es werden Verben der Beraubung und Verringerung wie detrahere, auferre, deprimere verwandt.
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die Relevanz der Denkfigur des Wettbewerbs für den Neid. Jede Vorrangstellung des Anderen bedeutet für den Neider eine Zurückstellung der eigenen Person. Jeder Gewinn des Anderen ist für den Neider ein Verlust.23 Map erweitert Johns Ausführungen zum neidischen Denken auf den Gruppenneid. Für die Magnaten okkupiert der Beneidete für sich das, was vorher allen zukam.24 Diese Deutung des Ungleichgewichts zwischen den Vielen und dem Einen bleibt in der Erzählung nicht unwidersprochen. Wo die Magnaten von Raub sprechen und so die traditionelle Machtverteilung zur Geltung bringen, redet der Erzähler von einem Aufstieg durch meritum und konstatiert auf diese Weise eine Deckungsgleichheit von gesellschaftlichem Rang und gesellschaftlichem Verdienst. Ausgehend vom Kriterium des meritum präsentiert die Erzählung eine alternative Rechnung für die Ökonomie der Macht am Hof. Zwar bleibt die Charakterisierung des iuvenis aufgrund ihrer Detailarmut notwendigerweise skizzen- und typenhaft, der Erzähler schreibt ihm als Einzelsubjekt jedoch die Wiederherstellung des vom König und Reich erwünschten Friedens zu. Dem Rezipienten wird mitgeteilt, dass er virtute bellica tam preclarus apparuit, ut non viderentur eius opera possibilia viro uni (NC 30).25 In dieser Beschreibung scheint nun ein anderes Verhältnis des Einen zu den Vielen auf: Der eine vollbringt mehr, als man einem Einzelnen zutraut. Weitergedacht bedeutet dies: Er vollbringt als vir unus das, was die Vielen nicht vollbringen, das, woran sie scheitern. Der Erzähler rechtfertigt den Aufstieg des homo novus dementsprechend über seine außerordentlichen Fähigkeiten: quem summa virtus extulit in graciam (NC 32).26 Über den Superlativ wird der iuvenis gegenüber der Gruppe ausgezeichnet. Bezeichnenderweise trauen sich die Neider auch in ihrer Gesamtheit nicht, den überlegenen Kämpfer offen anzugreifen (NC 32). Im Selbstbild der Neider und in der externen Analyse des Neids konfrontiert die Erzählung derart in kurzer Folge zwei miteinander konkurrierende Deutun-
Alterius misera gaudet mens invida sorte,/cunctaque vicini commoda damna putat (John of Salisbury: Entheticus Minor, 19, Bd. 1, S. 303 f.; „Ein neidischer Geist erfreut sich am unglücklichen Los des Anderen, alle Vorteile des Nachbarn zählt er als Verlust“ [eigene Übersetzung].). Betrachtet man diese Klage eines Kollektivs von Magnaten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entwicklungen am normannischen Hof, dann lässt sich in ihr auch eine Reaktion auf den Bedeutungsverlust der klassischen Hofämter im Zuge der personal rule Heinrichs II. lesen. Anstelle des Amtes wird unter Heinrich II. immer mehr die Gunst des Herrschers das alleinige Kriterium für Einfluss und Macht am Hof. Das Bild des Hofes von Portugal, das in den Vorwürfen der Neider entwickelt wird, kann so als verstecktes Spiegelbild der normannischen Herrschaft funktionieren. Vgl. zum Aufbau der normannischen Herrschaft zu Zeiten Walter Maps zusammenfassend: BIHRER, Selbstvergewisserung am Hof, S. 237–238. „Durch seine kriegerische Tugend erschien er so sehr hervorstechend, dass seine Taten unmöglich die eines einzelnen Mannes sein konnten“ [eigene Übersetzung]. „den höchste Tugend in der Gunst emporgehoben hat“ [eigene Übersetzung].
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gen der Ökonomie der königlichen Gunst. Diese werden über die Emotion klar gewertet. Während die Entmachtung der Gruppe der Magnaten als Entmachtung der Mittelmäßigen legitimiert wird, setzt sich der Günstling von der Gruppe nun gänzlich unabhängig von seiner Herkunft durch seine Exzeptionalität ab. In der Gegenüberstellung des Einen und der Vielen entsteht ein neues Bild des Günstlings. Der Günstling wird bei Walter Map zum verfolgten Besten des Hofs, – eine Deutung des kollektiven Neids, die – wie im Verlauf des Kapitels gezeigt werden soll – in anderen Erzählungen vom Gruppenneid ebenfalls präsent ist und noch stärker akzentuiert wird.
5.1.2 Der gespaltene Hof De Rege Portigalensi erzählt zweimal von einer Bedrohung für König und Reich. Bereits die Exposition entwirft eine Situation höchster Gefahr: Nicht ein Feind, multi hostes greifen den König gleichzeitig an, sodass eine formale Unterwerfung, eine deditio, als einziger Ausweg erscheint. Die Rettungstat des jungen Kämpfers verhindert dieses Szenario, zugleich erzeugt sie jedoch ein noch unheilvolleres: Auf die multi hostes, denen gegenüber sich der iuvenis als Kämpfer auszeichnet, folgen als Gegner des jungen Kämpfers die Magnaten des Hofs, die sich durch jenen in der höfischen Hierarchie zurückgesetzt fühlen. Das Ergebnis dieses neuen Antagonismus von Einzelnem und Kollektiv könnte den Hof kaum mehr erschüttern: Die Königin und mit ihr ein möglicher Thronfolger sind am Ende der Erzählung tot. Der tatkräftigste aller Kämpfer für das Reich liegt, den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, erschlagen im Wald. Die Ehre des Herrschers ist beschädigt. Durch die Eckpunkte der Handlung wird Gruppenneid als Emotion entworfen, welche die zunächst äußere Bedrohung ins Innere des Hofes verlagert und radikalisiert. Walter Map hebt in De Rege Portigalensi auf diese Weise die Auswirkungen der Kollektivemotion für die höfische Gemeinschaft hervor. Der Gruppenneid der Magnaten, so legt es der skizzierte Plot nahe, destablisiert die höfische Ordnung in Gänze. Dies lässt sich nicht nur anhand der für den Hof desaströsen Folgen der Intrige, sondern auch anhand der durch den Neid in Gang gesetzten Dynamiken am Hof selbst belegen. Die folgende Analyse zeigt auf, wie in De Rege Portigalensi über das Zusammenspiel sozialer, sprachlicher und räumlicher Dynamiken Gruppenneid als umfassendes Ordnungsproblem entworfen und diskutiert wird. Durch den Neid auf den iuvenis scheiden die Magnaten als Gruppe aus der Einheit des vorher im Kampf gegen die hostes vereinten Hofes aus. Wie schon in Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi ist das Mittel ihrer Wahl gegen den Machtverlust die accusatio des Beneideten. Diese vereinigt in dieser Erzählung
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gleich zwei der mit Neid verbundenen Sprachsünden in sich.27 Sie ist zum einen Lüge. Der Vorwurf der Affäre zwischen Königin und Favorit weicht von der Wahrheit ab, er zielt darauf ab zu täuschen.28 Die accusatio ist zum anderen detractio, Herabwürdigung des Anderen in seiner Abwesenheit. Da die Magnaten gegen den jungen Kämpfer in offener Auseinandersetzung nicht bestehen können, klagen sie diesen heimlich beim König an, mit dem Ziel, dessen Emotionen gegenüber dem Favoriten zu verändern. Miteinander kombiniert verzerren die beiden neidischen Sprechhandlungen die Wahrnehmung des Königs von der höfischen Realität und verschieben die Gruppenbildungen am Hof erneut: Indem es den Neidern gelingt, die Eifersucht des Königs zu wecken, bilden König und Neider von nun an eine gegen Günstling und Königin gerichtete Einheit. Neid und die aus ihm folgenden Handlungen erzeugen so im Innersten des Hofes die später im Epimythion bemängelte discordia (NC 34). Sie erzeugen eine auf Trug und Täuschung beruhende Strukturierung des Hofes, wie sie von der Hofkritik immer und immer wieder beanstandet wird.29 Die hiermit verbundene Auflösung der Ordnung am Hof wird zum einen räumlich als Überschreiten von Grenzen inszeniert. Im eifersüchtigen Wahn dringt der König in Räume im Inneren des Hofes ein, die er bisher selten gesehen hat. Bevor er die körperliche Integrität der Königin versehrt, verletzt er so schon die räumliche Integrität des thalamus, des vornehmlich Frauen und weiblichen Arbeiten vorbehaltenen Wohngemachs (im Sinne von Kemenate) beziehungsweise des
Abweichend von der Mehrheitsmeinung, die die Sünden der Falschheit mit der Hauptsünde der avaritia verbindet, wird mendacium in Einzelfällen auch mit Neid verbunden. So werden in der Summa confessorum des Thomas de Chobham mendacium und periurium sowohl auf superbia wie auf invidia zurückgeführt. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 187. Vgl. die für das Mittelalter prägende zweiteilige Definition von Augustinus. Dieser definiert mendacium als Sprachäußerung, deren Sinn falsch ist und die darauf abzielt zu täuschen: Mendacium est quippe falsa significatio cum voluntate fallendi. Siehe: Augustinus, Contra Mendacium XII, 26. Zit. n. Augustinus, Aurelius: Contra mendacium. In: Ders: De mendacio- Contra mendacium- Contra Priscillianistas. Neu übersetzt und kommentiert von Alfons STÄDELE/Volker Henning DRECOLL, Paderborn u. a. 2013 (Augustinus Opera–Werke 50), S. 183–277, hier S. 244–255. Zur mittelalterlichen Diskussion um die Sprachsünden der Falschheit vgl. das Kapitel ‚Mendacium, Periurium, Falsum Testominium‘ bei: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 187–212. Vgl. zum hofkritischen Topos der dissimulatio die Ausführungen von Rüdiger SCHNELL, der adulatio und dissimulatio als Kehrseite der affabilitas deutet und so das Höfische als Kipphänomen präsentiert. Vgl. SCHNELL, Rüdiger: Curialitas und Dissimulatio im Mittelalter. Zur Interdependenz von Hofkritik und Hofideal. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 161 (2011), S. 77–138, hier S. 87–104.
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Schlafgemachs des Palas.30 Das eifersuchtsgetriebene Handeln des Königs wird so als Missachtung der Geschlechter- bzw. ehelichen Ordnung erkennbar. In umgekehrter Bewegungsrichtung treten die Neider nicht in höfische Räume ein, sondern verlassen diese. Um ihren Mordplan zu verwirklichen, begeben sie sich mit dem Günstling des Königs – vorgeblich zur Jagd – hinaus in den Wald. Der heimtückische Mord wird durch die Beschreibung in nemoris densitatem et secreta deserti (NC 32)31 in der Dichotomie Natur – Kultur ganz auf der Seite der Natur, in der Wildnis, verortet. Mehr noch als über die Bewegungen im Raum machen sich die neidischen und eifersüchtigen Transgressionen jedoch im Verhältnis von höfischer Öffentlichkeit und heimlichem Intrigegeschehen bemerkbar. Wie das Wortfeld der Abgeschlossenheit und Heimlichkeit zeigt (archanus, densitas, secretus, desertus, seorsus),32 bleiben zunächst alle Taten des Königs und seiner Helfer verborgen: Der König schickt alle Zeugen aus den Gemächern der Königin, bevor er sie und mit ihr das ungeborene Kind erschlägt. Der Mord am Günstling findet im Wald statt, wo niemand ihn finden wird. Der König lässt die Neider heimlich zu sich rufen, er brüstet sich im Verborgenen der gerechten Rache an der Königin und ihrem Liebhaber. Die Tatsache, dass die aus Neid und Eifersucht begangenen Taten im höfischen Raum nicht repräsentierbar sind, impliziert, dass sie nicht mit den höfischen und christlichen Normen übereinstimmen.33 Im Gegeneinander von öffentlich und heimlich wird erstmals auch auf der Ebene der histoire ein Wertesystem sichtbar. Von hier aus überrascht es wenig, dass der Hof als sozialer Verband genau in jenem Augenblick in eine Krise gerät, in dem die Trennung von öffentlich und heimlich kollabiert. Dieser Moment wird im Text nicht auserzählt. Indem der Erzähler eine Sentenz benutzt, greift er auf das Alltagswissen der Rezipienten zurück: Mord lässt sich nicht verheimlichen, er kommt immer ans Tageslicht.34 Je
Vgl. für die Übersetzung von thalamus: GEORGES, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch–deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Hannover 81918 (Nachdruck Darmstadt 1998), Sp. 3098–3099. „in die Tiefe des Waldes und an einen abgelegenen, verlassenen Ort“ [eigene Übersetzung]. NC 32; „geheim“, „Dichte“, „abgeschiedener/heimlicher Ort“, „verlassen/einsam“, „abgesondert“ [eigene Übersetzungen]. Heimliches Herrschaftshandeln bedarf im Mittelalter der Ergänzung durch den sichtbaren und von allen vollzogenen Akt. Vgl. MÜLLER, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 272. Wo dieser – wie hier – ausbleibt oder schlicht nicht möglich ist, fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz. Der Herausgeber vom De Nugae Curialium, M.R. JAMES, verweist in seinem Stellenkommentar auf einen Zusammenhang mit dem Sprichwort murder will out, das seit dem vierzehnten Jahrhundert in mittelenglischen Wörterbüchern erscheint. Vgl. WILSON, F.P.: Oxford dictionary of English proverbs, Oxford 1970, S. 551.
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mehr man versucht, ihn zu verbergen, desto mehr werden die Leute über ihn reden. Im Redeakt der susurratio35 wird auf diese Weise eine neue Gruppe Menschen am Hof sichtbar, die bislang unsichtbar blieb und im Text auch keinen Namen erhält. Sie lässt sich am ehesten über das beschreiben, was sie tut und fühlt: Sie macht das Heimliche offenbar – und zwar sowohl die Untaten von König und Neidern wie später auch die das Verhängnis auslösende Emotion selbst. Sie fürchtet den Herrscher, der ihnen nun nicht mehr als rechtmäßiger Herrscher, sondern als Tyrann (NC 34) erscheint. Auf die Disruption der höfischen Ordnung durch Neid und Eifersucht folgt so in Reaktion auf die neidischen und eifersüchtigen Taten eine dritte Neustrukturierung der höfischen Gesellschaft: Dem König und der Gruppe der Neider steht die Gruppe der miteinander flüsternden Kritiker gegenüber.36 Die Hofgesellschaft ist endgültig gespalten. Ausagiert wird der Konflikt in der neu entstandenen Dreieckskonstellation von König, Neidern und Hofgesellschaft wiederum über das Sprechen. Dreimal in drei unterschiedlichen Lautstärken, mit drei unterschiedlichen Intentionen und drei unterschiedlichen Adressaten thematisiert die Erzählung die sprachlichen bzw. die ausbleibenden sprachlichen Äußerungen der Höflinge: Flüsternd nur kommunizieren die Höflinge zunächst die Nachricht vom Doppelmord. Die in der Erzählung verwandten Begriffe susurracio und rumor rücken ihr Tun ins Zwielicht, da beide im zeitgenössischen Sprachsündendiskurs negativ belegt sind.37 Tatsächlich löst das Sprechen der Höflinge, wie es Raoul Ardent, Albertus Magnus
Der Terminus susurratio bezeichnet im Mittelalter das leise Gerede, das Flüstern miteinander an der Grenze der Verständlichkeit. Vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 245. Vgl. BIHRER, Selbstvergewisserung am Hof, S. 254: „Und auch an diesem Hof finden sich die beiden Gruppen der Höflinge wieder: Durch die negativ gezeichneten Magnaten, die den König täuschen, ihn hintergehen und belügen, um ihn für ihre Interessen einspannen zu können, wird der Hof als Ort der Intrige inszeniert. Ihnen werden die guten Höflinge gegenübergestellt, repräsentiert vor allem durch den Jüngling, der durch hervorragende Taten aufsteigt und durch seine persönliche Leistung seinen Rang am Hof erwirbt.“ Die susurratio ist im Sprachsündendiskurs sogar doppelt belegt: Zum einen werden susurratio und rumor als besondere Tonalität der versteckten Verleumdung und somit als spezielle Form der detractio konstruiert. Ein Beispiel für eine solche Verwendung findet sich in der Moralia in Job Gregors des Großen. Hier werden susurratio und rumor neben der detractio als Begleitsünde des Neids charakterisiert. Vgl. Gregor der Große: Moralia in Job, Liber 31, 45. In: Gregorii magni. Moralia in Iob. Libri XXIII–XXXV. Hrsg. von ADRIAEN, Marci. Turnhout 1985, S. 1610. Bei Raoul Ardent, Albertus Magnus und Thomas von Aquin wird die susurratio hingegen als eigenständige Sprachsünde definiert, die unabhängig von der Tonalität des Sprechens Zwietracht und Streit stiftet. In der Summa des Thomas von Aquin wird die susurratio in einer eigenen Quaestio behandelt. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica II, II, q. 74. In: Thomas von Aquin: Summa theologica. Recht und Gerechtigkeit. II–II, 57–79, S. 318–323. Zum Status der susurratio vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 245 f.
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und Thomas von Aquin für die Sprachsünde der susurratio beschreiben, Bindungen auf und sät Zwietracht: Sobald der Hof über die Tat des Herrschers Bescheid weiß, machen sich Zeichen der Entfremdung bemerkbar. Der Lissabonner Hof schweigt gegenüber dem Herrscher. Die an den Hof angrenzende Hauptstadt bemitleidet den Hof. Aus der Kommunikation untereinander wird in der silencio eine Nachricht an den Herrscher, die dieser zu lesen versteht: Die höfische Freude ist verloren, seine Ehre ist bedroht. Zugleich ist der Punkt der tiefsten Krise der Punkt der Umkehr. Während die accusatio der Magnaten den Herrscher zum monströsen Doppelmord anstachelte, wird dem König durch das Flüstern und nachfolgende Schweigen der Höflinge das Ausmaß seiner Taten und ihre richtige Bewertung bewusst. Auf Basis dieser veränderten Haltung des Herrschers geht auch das Schweigen wieder in Sprechen über: Der letzte Schritt in der entfalteten Dreierkette sprachlichen Handelns besteht darin, dass ihn die Höflinge über die Emotion der Ankläger von Königin und Günstling informieren. Damit wird die falsche accusatio der Neider durch eine Enthüllung ihrer Emotion gekontert. Der auf den Niedergang von Favorit und Königin abzielenden Lüge steht das Wahrheit sichtbarmachende Sprechen gegenüber. Als Produkt der nun wieder erreichten Transparenz von öffentlichem und heimlichem Geschehen erfolgt wenig überraschend eine erneute Umstrukturierung des Hofes. Herrscher und Kritiker bilden nun eine kommunikative Gemeinschaft, die sich gegen die neidischen Intriganten richtet. In genauer Umkehrung des anfänglichen Intrigegeschehens steht am Ende der Kette Hören – Emotion – Handeln ein zorniger Herrscher, der sich von den Neidern distanziert und sie ihrer gerechten Strafe zuführt: et iram tunc primo iustam in ipsos inventores et executores sceleris ultus, occulis / privatos et genitalibus, inflictaque nocte perpetua resectaque voluptate de cetero vivere dimisit in mortis ymagine (NC 34).38 Der Erzähler ist in seiner Deutung klar. Die Magnaten werden zwar am Leben gelassen. Genauso wie die Magnaten den Hof seiner Freude beraubt haben, wird ihr Leben jedoch aller weltlichen Freuden beraubt und so dem Tode angeähnelt. In der scheinbar milden Strafe scheint so ein weltliches Purgatorium geschaffen. Auf einer zweiten Ebene werden durch das Urteil jedoch auch die Emotionen gestraft, die die Unordnung am Hof hervorgerufen haben. Die Kastration weist metonymisch zurück auf die gezielt erzeugte Eifersucht des Königs und die von den Magnaten behauptete Affäre der Herrscherin mit dem Günstling. Die Blendung hin „Er rächt sich in erstmals gerechtem Zorn an den Urhebern und Vollstreckern des Verbrechens. Nachdem er ihnen Augenlicht und Genitalien genommen und sie so mit ewiger Nacht bedacht und von jeder Lust abgeschnitten hatte, schickte er sie in ein Leben gleich dem Tod“ [eigene Übersetzung].
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gegen nimmt das im Mittelalter neben der Verleumdung verbreitete Neidmotiv des bösen Auges auf. Zwar funktioniert der Neid, wie gezeigt, im Text vor allem über das Sprechen, die für den Neid verwandte Vokabel invidia verknüpft den Neid jedoch auch mit der antiken Tradition der Definition des Neides über das Sehen bzw. Nicht-Sehen. Gemäß der antiken fascinatio-Idee kann der Neider es nicht ertragen, das Glück des anderen wahrzunehmen, er zerstört es mit seinem Blick. Betrachtet man unter dieser Perspektive noch einmal die letzten Sätze der narratio, dann wird ein Mindestmaß an sozialer Ordnung am Ende der Erzählung nicht nur dadurch hergestellt, dass die für die Morde verantwortlichen Personen bestraft werden. Indem die Strafen auf Eifersucht und Neid zurückverweisen, werden auch die destruktiven Emotionen selbst getroffen.39 Sowohl in der Umkehrung neidischer Kommunikationsformen als auch in den Strafen für die Intriganten erzählt De Rege Portigalensi eine Geschichte der Bewältigung von den Emotionen, die den Hof in Unordnung stürzen. Die durch die Emotionen entstandene genealogische Herrschaftskrise bleibt hingegen unbewältigt. Das weniger von moralischen Maximen als von Erfahrungswissen geprägte Exempel bietet im Gegensatz zu De Contrarietate Parii et Lausi keine Perspektive für eine intakte höfische Ordnung. Welche Erkenntnisse aber lassen sich dann aus dem Exempel mitnehmen, dessen Autor im Epimythion angibt, mit seinen Geschichten im Anschluss an Horaz sowohl erfreuen als auch belehren (Map NC 36) zu wollen?
5.1.3 Der Herrscher im Fokus In der die Erzählsammlung einleitenden distinctio I, 1 kritisiert der Erzähler den Hof nicht nur, er beschreibt auch die Ursachen für dessen inhärente Problematik: multitudo certe sumus infinita, uni soli placere contendens (NC 2)40. Er fährt fort, indem er die wechselnde Gunst des Herrschers in diesem System beschreibt. Die gracia sei dem Rad der Fortuna unterworfen, Machtverhältnisse im steten Wandel (NC 2). Eben jene Struktur des Hofes wird in der Erzählung De Rege Portigalensi
Damit greift De Rege Portigalensi auf Augustinus’ Auffassung zurück, dass die Seelen in der Weise gefoltert werden, in der sie gesündigt haben. Vergleichbare Motive sind in der Literaturgeschichte gut belegt. Guillaume de Digulleville imaginiert den an seinen Augen aufgehängten Neider, bei Arvieux ist es der Teufel, der dem Neider mit einem Speer ins Auge sticht, Dante schließlich präsentiert den Neider in der Unterwelt mit zugenähten Augen. Vgl. zum Motiv der Bestrafung des Neids als Augensünde: VINCENT- CASSY, Mireille: Lʼenvie au Moyen Âge. In: Annales. Economies, Sociétés, Civilisations. 35e année, N 2, 1980, S. 253–271, hier S. 255. „Wir sind gewiss eine unendliche Vielzahl, darum wetteifernd, einem einzigen zu gefallen“ [eigene Übersetzung].
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aufgegriffen und problematisiert. Die als Magnaten des Hofes gekennzeichneten Neider reagieren auf den Verlust fester, ererbter Machtpositionen. Zugleich wirft die neidische Intrige die Frage nach dem Urteilsvermögen des Herrschers auf: Wem schenkt der Herrscher in diesem personalisierten Machtsystem Gehör? Vermag er zwischen echten und vorgetäuschten Freundschaftsdiensten zu unterscheiden? Betrachtet man den Verlauf der Handlung, dann sind der Neid und die aus ihm folgende Intrige nicht generell unsichtbar. Eine Szene der Anagnorisis gibt es nur für einen: Die niederen Mitglieder des Hofes wissen um den Neid der Magnaten, sie können ihre Anklage als Verleumdung deuten. Hingegen macht der furor zelotipiae den Herrscher blind für den Neid. Aufgrund seiner eigenen emotionalen Affiziertheit verliert er die Fähigkeit, die Emotionen Anderer wahrzunehmen und zu deuten. Über das Thema des Erkennens des Neids wird so nicht zuletzt auch die Fähigkeit des Herrschers analysiert, die Vorgänge an seinem eigenen Hof zu verstehen und zu lenken. Andreas BIHRER sieht in der zwölften Erzählung von De Nugis curialium die Erzählung, die alle vorangegangenen Motive der Hofund Herrscherkritik noch einmal aufgreift: „Alle wichtigen Themen Walter Maps sind in dieser Geschichte vereint: Der unübersichtliche Hof, den der Herrscher nicht durchschaut, der König als zentrale Person, der Auf- und Abstieg am Hof durch herrscherliche Gunst.“41 Bei diesem Versuch der Zusammenfassung werden jedoch nicht einfach vorhandene Topoi übernommen, vielmehr wird an und mit neuen hofkritischen Metaphern gearbeitet. De Rege Portigalensi weist in auffälliger Weise Parallelen zu einem Bild der Hof- und Herrscherkritik auf, welches Walter Map in einer der Handschrift beigefügten früheren Fassung42 (dist.v.c.7) der ersten sieben Kapitel von distinctio 1 verwendet. Nachdem Walter Map den Hof als Vorhof der Hölle beschrieben hat, analysiert er die Verantwortung des Herrschers für diesen Zustand. Als Oberhaupt des Hofes kommt dem Herrscher die Aufgabe zu, den Hof und seine Fehler zu korrigieren. Wenn die Höflinge den Herrscher jedoch hintergehen und ihre Untaten verschleiern, so ähnelt der Herrscher dem Ehemann, der
BIHRER, Selbstvergewisserung am Hof, S. 254. Der Status der von einem späteren Kompilator ans Ende von De Nugis Curialium gesetzten distinctio V, c. 7 ist umstritten. Mit Blick auf ihre Zusammenfassung hofkritischer Elemente galt sie der älteren Forschung als geplanter Abschluss des Werkes. Die jüngere Forschung sieht in ihr mit Blick auf die vielen wörtlichen und inhaltlichen Übereinstimmungen mit dem Höllenvergleich in distinctio I c. 1 hingegen einen Entwurf für die spätere schriftliche Ausarbeitung beziehungsweise aufgrund der vielen ‚nähesprachlichen‘ Elemente eine zum mündlichen Vortrag bestimmte Parallelversion des Anfangs. Vgl. für einen Einblick in die jüngere Forschung das Kapitel Works Frozen in Revision in SMITH, Joshua Byron: Walter Map and the Matter of Britain, Philadelphia 2017, S. 37–62 sowie BIHRER, Selbstvergewisserung am Hof, S. 231–233.
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als letzter vom Betrug seiner Ehefrau erfährt: Hinc autem rex in curia sua marito similis est qui novit ultimus errorem uxoris (NC 510). 43 Der in der frühen Fassung von distinctio I, 1 verwandte Vergleich und die Erzählung De Rege Portigalensi thematisieren beide den Betrug des Hofes am Herrscher im Zusammenhang mit dem Betrug in der Ehe. Dabei legen sie jedoch andere Akzente. Ein Vergleich mit der hofkritischen Metapher soll an dieser Stelle verdeutlichen, wie die Herrscherkritik in Bezug auf den Rex Portigalensis funktioniert. In beiden Fällen werden die Herrscherfamilie und die curia entsprechend des engen persönlichen und rechtlichen Zusammenhangs von ‚Haus‘ und ‚Herrschaft‘ miteinander in Beziehung gesetzt. Während die hofkritische Metapher jedoch eine Analogie zwischen der Beziehung von Herrscher und Ehegattin und der Beziehung zwischen Herrscher und Hof in der Erzählung herstellt, erhält der Bildträger in der Erzählung einen anderen Status. Er wird zum Kern des Betrugs umfunktioniert: Der Ehebruch findet hier nicht mehr wirklich statt, er ist Inhalt der Intrige, Teil des Betrugs der Neider. Anstelle der Verweisbeziehung der Metapher wird so eine Ersetzungsbeziehung initiiert: Der Betrug der Ehefrau verweist nicht auf den Betrug des Hofes am Herrscher, vielmehr betrügt anstelle der Ehefrau der Hof den Herrscher. Durch diese Konstellation kommt es in der Erzählung zu einer Zuspitzung der in distinctio I, 1 und ihrer Variation formulierten Hof- und Herrscherkritik.44 Der als Kennzeichen des Hofes dargestellte Betrug der curia am Herrscher erstreckt sich hier bis in die Fundamente höfischer Ordnung hinein. Indem der Intrige in Gestalt der schwangeren Königin selbst die Personen zum Opfer fallen, die den Hof repräsentieren und seinen Fortbestand garantieren, stellt die Intrige den Hof in seinem Bestand als Ganzes in Frage. Zugleich macht sich der Herrscher mitschuldig, nicht nur durch seine Schwäche, seine völlige Ahnungslosigkeit als Herrscher.45 – Aufgrund seiner Eifersucht wird er selbst zum Instrument der Intrige, sodass er, der eigentlich Korrektor und Vorbild des Hofs sein soll, selber korrigiert werden muss. Bedenkt man, dass der normannische König Heinrich II. „Daher aber ist der König an seinem Hof mit einem Ehemann zu vergleichen, der als Letzter von der Täuschung seiner Ehefrau erfährt“ [eigene Übersetzung]. Zu dieser Metapher als Kritik an politischer Korruption und Täuschung am Hof vgl. LEVINE, Robert: How to read Walter Map? In: Mittellateinisches Jahrbuch 23 (1988), S. 91–105, hier S. 105. Damit widerspricht die Analyse von De Rege Portigalensi der Annahme SMITHs, dass Walter MAP die Herrscherkritik dadurch abmildert, dass er sie in seiner Überarbeitung von distinctio I, 1 nicht mehr direkt ausspricht. Vgl. SMITH, Walter Map and the Matter of Britain, S. 53. Indem die Herrscherkritik – wie schon in der Erzählung von der eigenen Haushaltung MAPs – vom Diskurs in die Erzählung verlagert wird, muss sie vom Leser zwar erst entschlüsselt werden, gewinnt jedoch an Schärfe. BIHRER, Selbstvergewisserung am Hof, S. 252.
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selbst zu Maps Publikum gehörte, lässt sich dem exemplum folglich eine didaktische Funktion zuschreiben:46 Das in De Rege Portigalensi entfaltete Panorama höfischer Emotionen führt dem Herrscher vor Augen, welche Verantwortung er für das eigene und für das kollektive Emotionsmanagement trägt.
5.1.4 Huiusmodi sunt lusus curie Während der Konflikt auf Ebene der Erzählung beigelegt wird, bleiben die begangenen Gewalttaten im Epimythion präsent. Der Erzähler folgert aus dem erzählten Intrigegeschehen huiusmodo sunt lusus curie, et tales ibi demonum illusiones (NC 34)47 und markiert auf diese Weise den Status der Erzählung als Summe der Hofkritik von distinctio 1. Die in der Erzählung geschilderten Täuschungstechniken werden als Charakteristikum aller Mitglieder des Hofes vorgeführt. Ebenso ist der durch die Magnaten angezettelte Doppelmord keine Ausnahme an der – so ein Wortspiel Walter Maps – curia potentum (NC 34)48, dort sei immer Ungeheures, portentum (NC 34)49, zu sehen. In diesem mit Erfahrungswissen gesättigten exemplum verkörpert der Hof somit nicht das Ideal höfischen Verhaltens, zu dem man strebt, um sich selbst als Ritter zu vervollkommnen. Vielmehr wird die Bewegung hin zum Hof als Schaulust am Grausamen, als curiositas auf das Grausame, Abnorme, diskreditiert: et quincunque delectatur aliquod videre portentum, ingrediatur curias potentum (NC 34).50 Zentral für die Bewertung des Hofes im Epimythion sind – wie schon in der Erzählung – Emotionen. In der für den normannischen Hof verwandten Metapher der mater affliccionum et irarum nutrix werden sowohl die Emotion des Opfers als auch die des Täters der höfischen Intrige wieder aufgerufen. Dabei werden jedoch die in der Erzählung gemachten terminologischen Differenzierungen zwischen den Emotionen der Täter aufgelöst. Invidia, zelotipia und ira werden nun unter dem Sammelbegriff der ira zusammengefasst und dem Leiden am Hof gegenübergestellt. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass Neid wie auch die ihm strukturell verwandte Emotion der Eifersucht in den mittelalterlichen Texten als Emotionskomplexe funktionieren, zu denen immer auch aggressive
Zum Adressatenkreis von De Nugis Curialium vgl. ebenda, S. 231–235. „Derartig sind die Ränkespiele des Hofs, und so sind dort die Täuschungen der Teufel“ [eigene Übersetzung]. „Hof der Mächtigen/Machthaber“ [eigene Übersetzung]. „Ungeheures/Ungeheuerlichkeiten“ [eigene Übersetzung]. „Und wem auch immer es gefällt, Ungeheuerlichkeiten zu sehen, der möge an den Hof der Mächtigen gehen“ [eigene Übersetzung].
5.1 Hof- und Herrschaftskritik – Der betrogene König
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Tendenzen gehören. Zugleich lässt sich anhand der Metapher die Funktion der Beschreibung kollektiver Emotionen für die Hofkritik nachvollziehen. Da Neid im Gegensatz zu De Contrarietate Parii et Lausi nicht als Merkmal einzelner verurteilenswerter Personen, sondern als Merkmal höfischer Eliten beschrieben wird, ist die Verantwortung für dessen zerstörerische Wirkungen eine kollektive. In der Metapher der mater affliccionum et irarum nutrix (NC 34) erscheint der Sozialund Herrschaftsverband ‚Hof‘ nun selbst als Akteur, der die negativen Emotionen hervorbringt. Angesichts dieser vernichtenden Charakteristik höfischen Lebens verwundert es nicht, dass De Rege Portigalensi entgegen Maps Selbstaussage, sowohl unterhalten als auch belehren zu wollen, nicht mit einem fabula docet endet. An die Stelle des moraltheologischen Appells an den Einzelnen, wie ihn Map in De Contrarietate Parii et Lausi formuliert, tritt am Ende der Erzählung vom Gruppenneid die Systemkritik. Typisch für Maps Schreiben wird diese selbstreflexiv und poetologisch gewendet: Die Erzähler-Persona beklagt sich über die an sie herangetragene Aufgabe, über den Hof zu schreiben: Wie soll ich angesichts der Monstrositäten am Hof den Dichter spielen, fragt die Erzähler-Persona ihren (fiktiven) Auftraggeber und illustriert die Unsinnigkeit dieses Ansinnens mithilfe der biblischen Geschichte von Balaam, der seinen Esel sprechen lassen wollte. Hinter diesem – so der Map-Herausgeber Elmar WILHELM – gleichermaßen „sarkastische[n] und elegische[n] Fazit“51 verbirgt sich zum einen ein rhetorischer Kunstgriff. In Anbetracht der Monstrositäten am Hof verteidigt Map sein an den Realitäten geschultes Schreiben höfischer Exempel. Wo nichts Schönes zu sehen ist, kann naturgemäß auch nicht schön erzählt werden: „Fiam tamen asinus pro te“ (NC 34).52 Indem Map seine Situation des Schreibens abschließend mit der erfolgreicher jenseits des Hofes schreibender Kirchenmänner vergleicht, wird zum anderen eine neue Form des Neids angedeutet: ein auf den römischen Topos vom ‚Glück des
WILHELM, Elmar: Einleitung. In: Map, Walter: Die unterhaltsamen Gespräche am englischen Königshof, S. XV. „Ein Esel werde ich sein, wie Du es Dir wünschst“ [eigene Übersetzung]. Wie in der Freundschaftsgeschichte von Parius et Lausus rückt auch in der rahmenden Reflexion von De Rege Portigalensi das Schreiben selbst in den Vordergrund. Die Interpretation der anspielungsreichen Textstelle steht im Zentrum der von EDWARDS als the metacritical approach charakterisierten Forschungsrichtung, die Walter Maps autoreflexive Kommentare und seine Inszenierung von Autorschaft als bestimmendes Strukturprinzip der Nugae Curialium sieht. Vgl. zur Interpretation des Sprechens des Esels im Rahmen dieser Forschungsrichtung: EDWARDS, Robert: Walter Map. Authorship and the Space of Writing. In: New Literary History 38, 2 (2007), S. 273–292, hier S. 276 f. sowie: LEVINE, How to read Walter Map?, S. 94–95.
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Landlebens‘ referierender Neid auf Ruhe und Frieden (NC 37), welche für den Schriftsteller am Hof nicht zu finden sind.53
5.2 Der Neid der maugen – Gruppenneid als Sorge um den Herrschaftserhalt Schon als der Protagonist des um 1170 von Eilhart von Oberg verfassten Tristrant– Romans54 noch ein junger Ritter am Hof König Markes ist, gibt es nur eine Sprachform, die sein Sein und Tun ädaquat beschreibt: den Superlativ. Von den 60 Knappen bei der Schwertleite ist er allaine zuo dem schönsten erkorn (ETR 561 f.) Nach dem Kampf gegen Morold bewährt er sich auf Turnieren weiter im Kampf und wird zum besten aller Ritter durch daß gantz Kurwälsch land (ETR 1395) Die dritte Steigerungsform weist Tristrant jeweils die alleinige Spitzenposition in der Gruppe zu. Dennoch bleibt der Neid der unterlegenen Ritter in beiden Fällen aus. Wie der Erzähler betont, wird Tristrants Überlegenheit nicht durch Affekte der Aggression begleitet.55 Stattdessen ist der Superlativ hier selbst Teil der Figurenrede. Er bildet den Kern von Sprechakten der Anerkennung – durch ihn werden die Errungenschaften Tristrants gelobt, göttliche Auswahl bestätigt und Rang definiert.
Der Wunsch des Autors nach Frieden und Ruhe ist – wie Robert LEVINE herausgearbeitet hat – ein wiederkehrendes Motiv in De Nugis Curialium. Vgl. LEVINE, How to read Walter Map?, S. 94–95. Da der Text von Eilharts Tristrant abgesehen von vier Fragmenten aus dem 12. und 13. Jahrhundert zeitgenössisch nicht erhalten ist, greifen die Tristrant–Analysen in diesem Kapitel notgedrungen auf die Überlieferung des fünfzehnten Jahrhunderts zurück. Sie stützen sich auf die Heidelberger Handschrift (Cod. Pal. Germ. 346), da die Dresdener Handschrift (M 42) nach Forschungsmeinung eine gekürzte Fassung bietet und damit Eilharts Dichtung unvollständiger bezeugt. Vgl. Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch von BUSCHINGER, Danielle und SPIEWOK, Wolfgang. Greifswald 1993 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 12), S. 15. Vgl. zur Überlieferungssituation des Eilhart zuletzt: HÜBNER, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 284–285 sowie für einen detaillierten Vergleich der Handschriften die die verschiedenen Textträger als Paralleldruck gegenüberstellende Ausgabe BUßMANNs: Eilhart von Oberg: Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung. Hrsg. von Hadumod BUßMANN, Tübingen 1969 (Altdeutsche Textbibliothek 70). daß liessen sie all one zorn. (ETR 563) Zorn wird hier im Sinne von Neid gebraucht. Dementsprechend lesen auch die BUSCHINGER und SPIEWOK in ihrer Übersetzung von 1993: „Alle gaben dies neidlos an.“ Siehe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch von BUSCHINGER, Danielle und SPIEWOK, Wolfgang, S. 15.
5.2 Der Neid der maugen – Gruppenneid als Sorge um den Herrschaftserhalt
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Um so erstaunlicher ist es, dass Tristrant nur wenige Verse nach dem letzten Lob zum Gegenstand kollektiven Neids wird: deß ward ane schuld/ Trÿstrand ser genidet (ETR 1411 f.). Was hat sich verändert? In Eilharts Erzählung findet sich auf diese Frage eine genauso einfache wie klare Antwort: Tristrant wurde zum Thronfolger zu ernannt. Als der Einspruch der maugen des Königs gegen Markes Vorhaben scheitert, reagieren diese mit Neid. Durch die so beschriebene kausale Abfolge wird die Thronfolge für den Rezipienten als Wendepunkt im Verhältnis zwischen Tristrant und den Verwandten Markes markiert. Anders als bei Walter Map wird das Neidgeschehen somit von einem konkreten politischen Ereignis hergeleitet, zu dem die maugen als mächtige Akteure am Hof Stellung beziehen.56 Indem Eilhart die Diskussion über die Thronfolge in seinem Roman ausführlich beschreibt, setzt er auch thematisch andere Akzente als Map. Eilhart fokussiert nicht mehr allein die Auswirkungen der kollektiven Aggression, sondern die diagnostische und wertende Dimension kollektiven Neids: Hat Tristrant die Thronfolgeregelung in unlauterer Weise beeinflusst, fragen die Neider, sodass die Bewertung der Thronfolgeregelung unmittelbar an die Bewertung ihres Neids geknüpft erscheint. Zu welchen Ergebnissen Eilharts Tristrant dabei kommt, will die folgende Analyse des Gruppenneids klären. Sie orientiert sich dabei an der Beobachtung der Forschung, dass Eilhart in seinem Spielmannsroman stärker als andere Tristanromane die politische und herrschaftliche Dimension des Stoffs ins Zentrum rückt.
5.2.1 Gleichheitsstreben und Herrschaftssicherung Mit den maugen (ETR 1404) wird in Eilharts Tristrant eine Gruppe unter den Großen des Hofes vom Erzähler genauer in den Blick genommen. Tristrant ist der Neffe Markes; insofern neiden mit den maugen diejenigen, die wie Tristrant Königsnähe beanspruchen können. Die Emotion ist dergestalt als ‚Ähnlichkeitsphänomen‘57 konstruiert. Im Unterschied zu De Rege Portigalensi gehören die Vielen und der Eine der gleichen Gruppe an. In welchem Ausmaß die maugen und Tristrant einander ähneln, lässt der Erzähler hier noch offen. Erst später erfährt der
Darin, dass die maugen angesichts der Thronfolgeregelung tätig werden, spiegelt sich auch die Rechtssituation. Die Thronfolge ist im Mittelalter nicht allein Sache des Königs, sie ist Teil eines Aushandlungsprozesses mit den Großen des Hofes. Damit ist gemeint, dass sich die Emotion des Neids jeweils auf den Nahen und Ähnlichen richtet. Diese Idee ist in den mittelalterlichen Diskursen nicht allein durch die Aristoteles–Rezeption verbreitet, die erst nach Eilharts Tristrant einsetzt, sondern auch durch den religiösen Diskurs. Vgl. das Kapitel 2.3 ‚Definitionen‘.
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Hörer/Leser, dass es mit Antret einen weiteren Schwestersohn Markes (ETR 3281 f.), d. h. einen Verwandten Markes, gibt, der exakt über denselben Status verfügt wie Tristrant.58 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Neid als Reaktion auf ein mögliches Ausscheiden Tristrants aus der Gruppe, auf seinen Statuswechsel von der Kategorie des statusgleichen maugen zum übergeordneten Herrscher deuten. Wie in der Einleitung schon als Besonderheit des Gruppenneids hervorgehoben, strebt keiner der Verwandten die Thronfolge für sich an; dennoch soll Tristrant nicht zum Thronfolger aufsteigen. Gruppenneid funktioniert auf diese Weise – wie von modernen Gerechtigkeitstheorien postuliert – als Einforderung von sozialer Gleichheit. Er fragt: Warum kann einer der Verwandten mehr sein als die anderen? Das Aufkommen des Neids markiert den Sprung, den Tristrant als einer der ihren tut. Band der bis hierhin verwandte Superlativ Tristrant bei aller Überlegenheit immer noch an jene Gruppe zurück, deren schönster und bester er ist, nähme er mit der Thronfolge eine Position ein, die ihn klar von der Gruppe trennt. Würde sich Marke mit seiner Nachfolgeregelung durchsetzen, dann wären Tristrant rich (ETR 1403) und maugen untertan (ETR 1464). Er träte der Gruppe als ihr Herrscher gegenüber. Dies bleibt im Text jedoch nicht die einzige mögliche Deutung des Neids der Verwandten. Ihr nîden ist insofern ambivalent, als es die Differenz Tristrants von der Gruppe in zweierlei Richtung zu thematisieren und problematisieren vermag. Folgt man den Aussagen der maugen, dann richtet sich ihr Unwohlsein bezüglich des Statuswechsels Tristrants nicht auf sein Heraustreten aus der Gruppe der Verwandten, sondern auf sein gleichzeitiges Eintreten in die Herrscherfamilie. Die hasserfüllten Klagen der Verwandten thematisieren jeweils Tristrants Beziehung zum König. Sie sehen durch die Änderung der Thronfolge die Ehre des Reichs bedroht und steigern sich von der Vermutung, Tristrant habe Marke zu ihr geraten (ETR 1415–1417), hin zum Vorwurf, eß wär Trystrandß schuld, der wär im nit hold, deß hett er groß súnd, daß er im nit guotteß gúnd siner eren und sinß fromen. (ETR 1490–1494)
Ann TRINDADE hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei um ein Spezifikum der Eilhartʼschen Fassung der Tristanstoffes handelt. Bei Béroul fehlt der Hinweis auf eine verwandtschaftliche Relation Markes und Audrets. Vgl. TRINDADE, W. Ann: The Enemies of Tristan. In: Medium Aevum 43 (1974), S. 6–21, hier S. 7.
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Eilhart greift an dieser Stelle den bereits vorgestellten Topos vom Günstling als Rivalen des Herrschers auf. Indem die maugen Tristrant das Attribut hold verweigern, unterstellen sie ihm, gleich auf mehrfache Weise59 die Bindungen, in denen er sich befindet, zu verraten: Er zeige sich dem König gegenüber weder als vriunt noch als dienestmann. In dieser Perspektive verweist das nîden der Verwandten weiter auf Tristrants angebliche Missgunst. Die Verwandten gönnen Tristrant den Aufstieg nicht, aber nur, weil Tristrant dem König seine singuläre Stellung missgönne, mit der Thronfolge Anteil an Ehre und Gut der Königsfamilie beanspruche. Da für die Neider mit der Kritik an der Thronfolgeregelung kein eigener Vorteil verbunden ist, liest sich ihr Insistieren auf der Verheiratung des Königs ̶ anders als die lügnerische Günstlingskritik des Pfalzgrafen im Herzog Ernst B – als Einsatz für den Herrscher. Die von den maugen geforderte Wahrung der Gleichrangigkeit der Gruppe der Verwandten bewahrt hier zugleich die Integrität des Königshauses. In Eilharts Text erhält Neid so als diejenige Emotion, die auf Unterschiede in sozialen Relationen reagiert, Veränderung existierender Hierarchien über negative Gefühle wie Schmerz und Zorn anzeigt, eine ordnungsbewahrende Dimension: Den Aussagen der Neider wohnt ein Urteil über Tristrants Aufstieg inne, welches das Herausfallen aus ihrer eigenen Gruppe zugleich in seiner Bedeutung für die höfischen Hierarchien insgesamt beleuchtet:60 Die Verwandten wenden mit ihren Anklagen den Blick des Rezipienten auf das, was der Erzähler an dieser Stelle verschweigt: wie problematisch der Verzicht Markes auf eigene Kinder und direkte Erben innerhalb der genealogischen Ordnung des Hoch- und Spätmittelalters ist. War eine Weitergabe des Throns an den weiteren Verwandtenkreis nur vorgesehen, wenn die Ehe des Herrschers kinderlos blieb, so wird die Thronfolge hier weiter dadurch verkompliziert, dass Tristrant Neffe Markes nur über die mütterliche Linie ist61 und es einen statusgleichen Verwandten gibt. Eine Herrschaft Tristrants in Cornwall würde folglich nur über eine unsichere Legitimation verfügen, sie wäre stets in Gefahr und angreifbar. Gruppenneid proble Nach LEXERs Mittelhochdeutschem Handwörterbuch kann hold bzw. holde sowohl ‚Freund‘ und ‚Geliebter‘, als auch ‚Diener‘, ‚Dienstmann‘ bedeuten. Das Wort deckt beide Formen der sozialen Bindung ab. Vgl. LEXER Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www. woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023]. Vgl. zur Funktionsweise von Emotionen als kognitive Urteile: NUSSBAUM, Martha: Upheavals of thought. The intelligence of emotions, Cambridge u. a. 2001. Blanscheflur stirbt bei der Geburt Tristants, noch bevor sie Riwalin heiraten kann (ETR 93–112). Im Gegensatz zu Gottfrieds Tristan wird Tristrants uneheliche Geburt jedoch an keiner Stelle problematisiert. Sie ist insofern auch als Hintergrund für die Diskussion um die Thronfolge in Cornwall nachrangig.
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matisiert die Thronfolge durch seine Ambivalenz in eben dieser zweifachen Weise: Zum einen deuten die Neider Tristrants Aufstieg um den Preis der Ehelosigkeit Markes als Beraubung des Herrschers. Zum anderen weist der Neid in seiner auf Ähnlichkeit basierenden Struktur darauf hin, dass von der Ebene des Status‘ her gesehen die Gemeinsamkeiten Tristrants mit der Gruppe der anderen Verwandten größer sind als die Unterschiede zu ihnen. Die auf den Mehrbesitz Tristrants gerichtete Kollektivemotion übt folglich anders als in De Rege Portigalensi eine soziale Funktion aus. Über den Neid der Verwandten wird diskutiert, inwiefern Tristrants Ernennung zum Thronfolger eine Störung der genealogischen Ordnung darstellt. Gleichzeitig bleibt die Emotion über den Terminus nîden jedoch in einen gesellschaftlichen Kontext eingefügt, in welchem Neid negativ belegt ist und seine schädlichen sozialen Wirkungen betont werden. Es stellt sich die Frage nach der Rezeption: Wird das kritische Potential der den Mehrbesitz Tristrants reflektierenden Emotion – wie Sianne NGAI annimmt62 – null und nichtig, sobald sie als Neid ausgewiesen wird? Um zu eruieren, welches Bild vom Gruppenneid Eilharts Tristrant seinen Hörern und Lesern an dieser Stelle vermittelt, werden im folgenden Unterkapitel die Stimmen im Text, die im Kontext der Thronfolge auf den Gruppenneid Bezug nehmen, in den Blick genommen. Ausgangspunkt des Kapitels ist die Annahme, dass Erzähler und Figuren, indem sie den Gruppenneid beschreiben, bewerten und ihm im Kontext der Handlung Bedeutung zuschreiben, für den Rezipienten Deutungsangebote der Emotion bereitstellen.
5.2.2 Gruppenneid in der Diskussion [...] after a personʼs envy enters a public domain of signification, it will always seem unjustified and critically effete – regardless of whether the relation of inequality it points to [...] has a real and objective existence.63
In der Einleitung ihrer berühmt gewordenen Studie zu den hässlichen Gefühlen beschreibt Sianne NGAI, worin sie das Besondere der von ihr analysierten Emotionen tone, animatedness, envy, irritation, anxiety, stuplimity64 und paranoia sieht. Dazu gehört ein spezifisches Verhältnis dieser Emotionen zu den Situationen und
Vgl. NGAI, Ugly Feelings, S. 21–22. Ebenda, S. 21. Mit dem aus ‚stupefaction‘ und ‚sublimity‘ zusammengesetzten Neologismus ‚stuplimity‘ beschreibt Sianne NGAI ein ambivalentes Gefühl, das in Reaktion auf die Begegnung mit der Ungeheuerlichkeit künstlicher Systeme zugleich Staunen und Langeweile umfasst. Vgl. NGAI, UGLY FEELINGS, S. 36.
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Objekten, die sie auslösen, auf die sie referieren. Ihr Bezug zur Realität ist unsicher. Aufgrund der ihnen eigenen dialektischen Beziehung zwischen Innen und Außen oszilliert ihr Status zwischen subjektiv und objektiv. Ngai hat diese subjective/objective problematic neben der Paranoia am ausführlichsten am Beispiel von Neid beschrieben: Neid sei die einzige Emotion, die sich konkret auf Situationen der Ungleichheit beziehe, zugleich negiere das Gefühl jedoch den objektiven Grund seines Daseins, indem Neid im öffentlichen Raum immer als Teil des subjektiven Empfindens der Figur gelte und auf deren Mangel zurückgeführt werde. Sobald die Emotion in einem öffentlichen Bedeutungsgebungsprozess sichtbar werde, erscheine sie so als ungerechtfertigt, unabhängig davon, ob die Ungleichheit, die sie kritisiert, existiere oder nicht.65 In Eilharts Tristrant wird Neid gleich auf mehreren Ebenen im öffentlichen Raum diskutiert: Neben dem Erzähler, der den Neid der maugen als solchen benennt und für den Leser/Hörer beschreibt, beziehen sich auf Handlungsebene die Figuren Tristrant und König Marke auf die Kritik der Neider an der Thronfolge. Ihre Reaktionen lassen sich als Hinweise darauf lesen, welche inhärenten Deutungsmuster mit Neid in einem mittelalterlichen Text einhergehen können. Ist jede Kritik der Neider an der Heraushebung von Einzelpersonen aus der Einheit der Gruppe automatisch falsch und wertlos oder lassen sich auch andere Muster der Deutung für den Gruppenneid finden? Der Erzähler leugnet die Problematik der Thronfolgeregelung Markes nicht. Anstelle mit Hilfe der Darstellung der Verwandten als Neider ihre Kritik an der Thronfolgeregelung zu diskreditieren, richtet er im einzigen direkten Kommentar zum Gruppenneid auf die Thronfolge den Blick auf den Protagonisten selbst: deß ward ane schuld/ Trÿstrand ser genidet (ETR 1411 f.). In vielen der religiösen und literarischen Texte des Hochmittelalters wird Neid über das Motiv des unverschuldeten Hasses, dem keine eigene verletzende Tat vorausgeht, beschrieben und so die Perfidität der Emotion sichtbar gemacht.66 Hier hingegen bildet der Topos die Folie, um zu bekräftigen, dass Tristrant an Markes Neuordnung der Thronfolge unschuldig ist: Der Beneidete hat die auf ihn gerichtete negative Emotion nicht verursacht, das heißt zugleich, er hat nicht willentlich auf eine Abänderung der Thronfolge hingearbeitet. Die Vorwürfe der Verwandten entbehren der Grundlage. Damit nähert sich der Erzähler Tristrants Perspektive an. So wie der Erzähler darum bemüht ist, Tristrant, den guot (ETR 1506), vom Vorwurf des Machthun-
Ebenda, S. 21–22. Vgl. zum Motiv des Neides als unverschuldeter Hass wiederum die Predigt Wie man die werlt in zwelfiu teilt. In: Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, S. 464 f.
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gers zu entlasten, ist es auch dieser selbst. Es ist die von den Neidern formulierte Kritik, die Tristrant dazu bringt, auf die Suche nach der Braut zu gehen. Er will dem Hof beweisen, dass er wie die maugen die Ehelosigkeit Markes ablehnt und seinem Königtum nicht schaden will. Tristrant leitet den Vorschlag der Brautfahrt gegenüber Marke daher mit den Worten ein nun will ich laussen werden schin/ daß ich eß úch nie geriet (ETR 1515 f.) und äußert sein Erstaunen und seine Besorgnis über die Thronfolgeregelung: wie tuond ir, lieber herr, so?/ daß ir nicht niempt ain wib,/ dar umb sorgt min lib. (ETR 1509–1511) Die neidische Kritik an der Thronfolgeregelung bleibt auf diese Weise unwidersprochen, zurechtgerückt wird nur Tristrants Position im Thronfolgestreit: Auf Ebene des discours betont der Erzähler Tristrants Unschuld, indem er auf das Neidmotiv des unverschuldeten Hasses verweist, auf Ebene der Handlung setzt sich der Protagonist an die Spitze der Kritiker am Hof, indem er auf Brautfahrt für Marke geht und so zugleich die Gleichheit der Verwandten wie auch die dynastische Thronfolge wiederherstellt. König Markes Reflexion über die Forderung der maugen entzieht sich dieser Logik. Zwar nimmt er die Vorwürfe der Verwandten auf und reflektiert darüber, ob Tristans Thronfolge ihm schaden könne, gleichzeitig rückt in seiner Rede die negative Emotion der Verwandten gegenüber Tristrant in den Vordergrund. Erstmals im Text wird Neid nicht nur als Opposition zur Thronfolge, sondern auch als Emotion, als Hass, konkretisiert. die sind minem nefen gehaß, dar umb daß er biderb ist. doch bin ich selb gewiss, er ist getrúw und gefüg, daß er mir ouch nit schaden múg, so sie im werden underton. (ETR 1459–1464)
Auffällig ist, dass sich der Hass der Verwandten in den Augen Markes nicht auf die Thronfolge, sondern auf Tristrants Tüchtigkeit bezieht. In die Diskussion um die Thronfolge wird so ein neuer Diskurs einbezogen, der die Legitimierungsfrage mithilfe einer einfachen Axiologie überschreibt: Indem Marke den Neid der Verwandten zusammen mit der Frage von Tristrants Treue ihm gegenüber behandelt, werden die Beziehungen der Neider zu Tristrant und Markes eigene zu Tristrant parallelisiert. Wenn sich der Neid der Verwandten nun darauf richtet, dass Tristrant biderb ist, liegt es nahe, dass dieser Marke gegenüber auch getrúw und gefüge ist und die Thronfolge Tristrants Markes Königtum nicht zum Schaden gereichen wird. Ausgehend vom Neid auf den biderben verschieben sich in der Deutung Markes Schritt für Schritt die Relationen von Treue und Macht, bis sich am Ende der Kreis schließt, die Verwandten ihre Rolle als Kritiker einer nicht dy-
5.2 Der Neid der maugen – Gruppenneid als Sorge um den Herrschaftserhalt
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nastischen Thronfolgeregelung gegen die der Untergebenen Tristrants eingetauscht haben.67 In dieser Deutung verändert sich nicht nur das Neidobjekt, die Beziehung zwischen Gruppe und Beneideten wird neu definiert. Im Fokus steht nicht mehr Tristrants Statuswechsel und damit die Struktur von Herrschaft und Gemeinschaft. An die Stelle der Thronfolge tritt nun ein statisches und personalisiertes Kriterium der Differenz: Tristrant ist biderbe, die Gruppe nicht. Markes Rede lässt sich so als spezifische Form des von Sianne NGAI beschriebenen Subjektiv-Objektiv-Problems der Emotion ‚Neid‘ beschreiben: Indem die Kritik der Verwandten als Hass der Verwandten auf Tristrants Qualitäten gezeichnet wird, büßt der Gruppenneid seine strukturell angelegte Hinweisdimension auf die ihn auslösenden hierarchischen Konflikte ein. Die Emotion hat zwar nach wie vor mit der Thronfolge zu tun. In Markes Augen wird der Neid jedoch zum Hass auf jene Exzellenz, die Tristrant gerade für die Thronfolge qualifiziert. In der Vielstimmigkeit von Erzählerstimme und Figurenäußerungen werden in Eilharts Tristrant so zwei unterschiedliche Bilder des Gruppenneids und der Thronfolgeregelung entworfen. Folgt der Rezipient Erzähler und Protagonist, dann ist der Gruppenneid Ausdruck berechtigter Kritik an Markes Thronfolgeregelung; behält er Markes Deutung im Ohr, dann ist der Gruppenneid in ein wettbewerbsorientiertes Verständnis der Thronfolge eingebunden: Dem von den Anderen beneideten biderben gebührt die Thronfolge. Ist Markes Deutung des Gruppenneids als Hass auf den biderben hier noch eine unter mehreren, gewinnt sie in einer zweiten von Eilhart erzählten Situation des Gruppenneids an Deutlichkeit. Der Erzähler greift auf sie zurück, um den Neid der graven und hertzogen auf Tristrant zu erklären. Da der kollektive Neid dieser Personengruppe in andere Diskurse und Themen eingebunden ist als der der maugen, wird ihr Neid in einem eigenen Kapitel verhandelt.
Die Handschrift D gestaltet den Neid auf den biderben noch expliziter als Rechtfertigungsund Ermächtigungslogik. Der Verweis auf den möglicherweise durch Tristrants Thronfolge für Marke entstehenden Schaden bleibt aus. Stattdessen ist der Neid in eine direkte Kausallogik eingebunden. Er stellt für Marke den Grund dar, warum er Tristrant das Reich anvertrauen will: dar umme bin ich deß gewiß,/ daß ez im nicht möge geschadin./ he sal doch myn riche habin,/ und sie müßin im sin undirtan. (D 1462–1465) Die Belohnung Tristrants mit der Thronfolge ist für Marke logische Folge der durch den Neid bewiesenen Tüchtigkeit. Siehe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch von BUSCHINGER, Danielle und SPIEWOK, Wolfgang, S. 40.
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5.3 Die zagen und der vrume – Neid als Übereinkunft einer schwachen Elite dar umb musste he genedin68 sin von den herren, die ich nant. kain untugent er nie erkant, wann er ÿe nach eren rang und allweg ze vorderost drang, wann man manhait solt tuon. umb brÿß und umb raÿm zuo allen ziten er gern warb, so lang biß er starb. dar umb waren sie im gehaß. ouch waß er geminnet baß von dem kúng wann ir kain. da wurden sie úber ain, daß sie on zwÿfel wölten schaiden von sineß herren hulden und daß geschach schier. (ETR 3259–3274)
Die zweite Gruppe, von deren Neid Eilhart erzählt, existiert als sozialer Verbund erst durch die Emotion. Dieses Mal sind es die herren, die gegen Tristrant aktiv werden.69 Im Gegensatz zu den maugen ergreift jedoch nicht der Adel in seiner Gesamtheit gegen Tristrant Partei.70 In der Handschrift H sind es genau drei hertzogen und vier graven, die sich gegen ihn verschwören. In der Erzählung steht die gemeinsame Emotion auf diese Weise am Beginn der Gruppenbildung: Die sieben fühlen dasselbe, sie treffen untereinander eine Übereinkunft über Ziele und Aktionen, sie formieren sich als Gruppe mit einer klaren Spitze, einem Sprecher.
BUSCHINGER und SPIEWOK emendieren mit Hilfe der Handschrift D genand zu genidin und übersetzen mit ‚Hass‘. Vgl. Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch von BUSCHINGER, Danielle und SPIEWOK, Wolfgang, S. 85. Angesichts der Erwähnung des nids auf die guotten (ETR 3256 f.) einige Verse vorher tendiere ich ebenfalls zu der Lesart von genand als irreguläres Partizip von nîden. Monika SCHAUSTEN sieht beide Neidkonstellationen von Beginn an als Einheit, in denen gleiche Akteure agieren. Dabei vernachlässigt sie jedoch, dass zunächst differente Begriffe für die Akteure gebraucht werden. Vgl. SCHAUSTEN, Monika: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1999 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 24), S. 71. Ausgenommen vom Neid ist zum Beispiel der Truchsess Tynaß, Tristrants treuer Freund und Helfer, sowie ain fúrst von dem lande (ETR 343).
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Was also ist dieses Gefühl, das sie zusammenhält, als Gruppe definiert? Der Erzähler definiert ihren Neid als Hass; dieser richtet sich nicht allein gegen Tristrants Ehre, sondern auf sein Streben nach Ehre, das sich darin zeigt, dass er stets dort hervortritt, wo es gilt, Tapferkeit zu zeigen. Er fügt dieser Charakterisierung in einer kurzen Nachbemerkung ein zweites Neidobjekt hinzu: Der König liebe Tristrant mehr als all die anderen. Tristrant wird in den Augen der Neider nicht nur durch seine Taten, sondern auch durch die herrschaftliche Gunst aus der Gruppe emporgehoben. Allein gegen letztere richten sich die Aktionen der graven und hertzogen. Sie wollen Tristrant der Huld seines Herren berauben. Die Verknüpfung beider Neidobjekte miteinander erscheint im Rahmen der höfischen Leistungslogik nur logisch. Dort, wo ein Ritter stets das Beste tut, dort wird er die Gunst seines Herrschers erwarten dürfen. Aus dem Neid der graven und hertzogen auf die Emporhebung Tristrants durch Markes Gunst lassen sich jedoch auch andere Schlüsse ziehen. Der Gruppenneid problematisiert das Vertrauen, das der König in Tristrant legt, an einer pikanten Stelle des Textes. Er geht in der histoire Markes Entdeckung der Liebenden Tristrant und Isolde beim Kuss voraus. Neid macht auf der Ebene der höfischen Hierarchien somit auf das aufmerksam, was an Tristrants Position am Hof für die Rezeption problematisch ist – Markes Liebe zu Tristrant, Tristrants Verrat an Marke.71 Von Erzählerseite wird diese dem Neid innewohnende Verweisdimension nicht gestützt. Allein die Beziehung zwischen Tristrant und den Neidern – und damit das erste Neidobjekt – steht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Der zitierten Beschreibung der zweiten Gruppenneidsituation bei Eilhart ist ein Erzählerexkurs vorgeschaltet, in dem ähnlich ausgiebig wie im Gespräch zwischen Marke und Tristrant bei Gottfried über die Semantik des Gruppenneids reflektiert wird. Noch bevor also die graven und hertzogen gegen Tristrant das erste Mal in Aktion treten, wird für die Rezeption festlegt, wie der kollektive Neid zu verstehen ist.
Die Interpretation folgt mit dieser Formulierung der Einschätzung Jan-Dirk MÜLLERs, dass die Liebe Tristrants und Isaldes in Eilharts Fassung des Tristran-Stoffes nicht mit der gesellschaftlichen Ehe- und Sexualmoral und damit im Bereich der Ethik kollidiert, sondern vielmehr der Widerspruch zu feudalen Werten wie Treue und Ehre ausformuliert wird. Für die genaue Argumentation vgl. MÜLLER, Jan-Dirk: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe? In: II romanzo di Tristrano nella letteratura del Medioevo. Der ‚Tristran‘ in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Paola SCHULZE–BELLI/Michael DALLAPIAZZA, Triest 1990, S. 19–37, hier insbesondere S. 23–24 und S. 35–36.
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5.3.1 Gruppenneid als Mangelerscheinung In einem Text, in dem Erzählerkommentare rar sind,72 zieht die ausführliche Bewertung des Neides auf Tristrant Aufmerksamkeit auf sich. Das erste Mal in der Reihe der skizzierten Situationen des Gruppenneids wird nicht nur erzählt, worauf die Gruppe neidisch ist, sondern der Blick zurück auf die Neider selbst gewendet und erklärt, warum gerade diese neidisch sind: dar umb hetten sie den nid,/ wann sie waren selb nicht fromm (ETR 3217f.). Der Erzähler fokussiert in seiner Beschreibung den Nichtbesitz des Neidobjektes. Die hertzogen und graven hassen Tristrant, weil sie selber nicht tapfer und tüchtig sind. Die Emotion des Neids wird so aus einer Situation des grundsätzlichen Mangels hergeleitet. Dieser scheint auch in ihrer Feindschaft zu Tristrant auf. Die Aggression erstreckt sich nicht nur auf den aus der vrumikeit folgenden Ruhm, sondern auch auf das Begehren nach Ehre selbst (ETR 3213–3218). Welche Deutungspotentiale und Bewertungen sich daraus ergeben, soll dieses Teilkapitel zeigen. Mit der Opposition von vrum und niht vrum greift der Erzähler auf ein Deutungsmuster zurück, das auf der Handlungs- und Diskursebene bereits etabliert ist. Zur Disposition stand die Tapferkeit, die Tüchtigkeit der Fürsten schon einmal, nämlich als Morold seine Tributforderung gegenüber Marke erhob und sich anstatt der zu Hilfe und Rat verpflichteten adeligen Vasallen73 allein der junge Ritter Tristrant traute, gegen den gefürchteten Kämpfer anzutreten.74 Auf jene Situation referiert Marke in seiner Verteidigung Tristrants gegenüber den Anklagen der
Das reflexionsarme Erzählen in Eilharts Tristrant ist von der Forschung vielfach thematisiert worden. Jan-Dirk MÜLLER beschreibt Eilharts Erzähldiktus folgendermaßen: „Er gibt seine Deutung nicht wie spätere Tristran–Dichter im Kommentar, sondern ausschließlich im szenischen Arrangement.“ Siehe: MÜLLER, Die Destruktion des Heros, S. 21. Peter STROHSCHNEIDER konstatiert die „pure Faktizität des epischen Handlungsablaufs“. Siehe: STROHSCHNEIDER, Peter: Herrschaft und Liebe. Strukturprobleme des Tristranromans bei Eilhart von Oberg. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 122 (1993), S. 36–61, hier S. 39. Vgl. zur Problematik des Verhaltens der Versallen die Ausführungen von Volker MERTENS, der schlussfolgert, dass sich an dieser Stelle des Textes die Sippenbindung als stärker als die vasallistische Bindung erweist. Vgl. MERTENS, Volker: Eilhart, der Herzog und der Truchseß. Der ‚Tristrant‘ am Welfenhof. In: Tristran et Iseut. Mythe européen et mondial. Actes du Colloque du Centre dʼEtudes médiévales de lʼUniversité de Picardie, Amiens, 10, 11 et 12 janvier 1986. Hrsg. von Danielle BUSCHINGER, Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 474), S. 262–281, hier S. 267. Zu bedenken ist einerseits die ständische Aufgabenteilung, die an Markes Hof herrscht. Die Fürsten am Markehof selbst kämpfen nicht, nur die ihnen als dienstmannen untergebenen Ritter ziehen in den Kampf (ETR 593–596). Vgl. BUSCHINGER, Danielle: Les structures sociales dans le Tristrant dʼEilhart von Oberg. In: Romania 108 (1987), S. 109–120. Andererseits erfüllen nur die Fürs-
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Neider und misst Tristrants Treue an ihr. Marke stellt Tristrants Taten denen der Gruppe gegenüber. Tristrant hat mit dieser einen Handlung mehr für seine Ehre getan, als sonst ein anderer der Gruppe je für ihn getan hat: sust mag er mir beschain/ trúw und gunst me/ dann sid oder e/ úwer kainer ie getet (ETR 3327–3330). Vor dem Kampf Tristrants mit Morold formuliert Marke den Mangel seiner Vasallen und ihrer Kämpfer noch deutlicher aus. Er spricht von der Gefahr, dass man hett die fúr zagen/ die in dem land weren (ETR 689f.). Der Konjunktiv ist in diesem Kontext auf zweifache Weise deutbar. In der ersten Lesart macht er deutlich, was passiert, falls Tristrant nicht gegen Morold kämpfen würde: Sein Hof würde als zage gelten. In der zweiten beschreibt er die Folgen, falls Tristrant doch gegen Morold kämpft: Indem Tristrant als Außenstehender für Markes Hof agiere, beweise er zugleich die Mängel der Gruppe, ihre zagheit. Indem zumindest ein Teil der damals am Thronrat teilnehmenden Fürsten hier als Neider erneut in Erscheinung tritt, kann der Rezipient in dem Attribut niht vrum einen Rückverweis auf die mangelnde Kampfbereitschaft der Magnaten des Hofes erkennen. Dass er dies vielleicht auch soll, zeigt das Attribut mit der der Wortführer der graven und hertzogen kurz darauf eingeführt wird. – Es ist der zage Antret,75 der die Anklagen gegen Tristrant vorbringt. Der Neid der hertzogen und graven knüpft so an den die Handlung schon länger durchziehenden Gegensatz zwischen den feigen, untätigen Vasallen und dem tapferen, immer nach Ehre strebenden Tristrant an und überführt ihn in Aggression und Konfrontation. Ausgehend vom Neid aus Mangel entfaltet der Erzählerexkurs eine binäre Semantik des sozialen Lebens am Hof. Die Emotion wird nicht mehr als Vergleichsrelation, sondern als Relation von Parteien mit diametral entgegengesetzten Eigenschaften entworfen. Indem der Erzähler das Gegensatzpaar vrum/biderbe – niht vrum/zage im Exkurs durch das Gegensatzpaar vrum/gut – böse austauscht, macht er den religiösen und moralischen Rahmen der ritterlichen Leistungsethik transparent: Es sind die böß, die Tristrant keine Ehre gönnen (ETR 3221), es sind die bösen, die die guoten darum beneiden, dass sie fromkait begand. (ETR 3257f.) Mit der Gegenüberstellung von guot und böse wählt Eilhart eine Konzeption des Neids, die an die in Augustinus’ De civitate Dei entwickelte Opposition zwischen Kain und Abel als Vertreter des Gottes- und des Menschenstaats erinnert. Zur Erinnerung: Augustinus grenzt Kains Neid auf Abel von der Rivalität zwischen den beiden Gründungsvätern Roms, Romulus und Remus, ab. Während im weltlichen Bereich die Herrschaft des einen Bruders durch die Mitherrschaft des
ten die Bedingung der Standesgleichheit, die Morold für den Kampf stellt (ETR 438–442). Der Text weist so allein Tristrant, der zugleich junger Ritter und Fürst ist, als den richtigen Kämpfer aus. Ich lese zage hier im engen Sinne von ‚feige‘, nicht im verallgemeinerten Sinn des Schimpfwortes.
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Anderen immer gemindert wird, sind diese Gesetze im göttlichen Staat außer Kraft gesetzt.76 Kains Neid erklärt sich aus keinem Nullsummenspiel heraus, in dem ein Anderer bei gleichem Streben den Vorteil erringt. Er verweist allein zurück auf seinen eigenen Mangel, nämlich darauf, dass er das Neidobjekt nicht wahrhaft und genug begehrt hat, sich selbst Gott nicht hingegeben hat.77 Von hier aus wird Neid für Augustinus zur Eigenschaft des Bösen, die Differenz zwischen Neider und Beneidetem zur Feindschaft zwischen Gut und Böse selbst: [...] qua invident bonis mali, nulla alia causa, nisi quia illi boni sunt, illa mali.78 Eilharts Erzähler greift in seinem Exkurs auf ähnliche Gedankenmodelle zurück. So wie bei Augustinus Kain sich gegen den die Nachahmung (emulatio) des von Gott belohnten Abels entscheidet,79 bemühen sich die Neider angesichts Tristrants Vorrang nicht selbst darum, biderbe, vrum zu werden. Neid wird stattdessen verhandelt als Ausdruck der grundlegenden Feindschaft zwischen den oppositionellen Paaren biderbe und niht vrum/zage. Der Hass auf den biderben wird nicht mehr situativ aufgebaut und vom Mehrbesitz des Anderen abhängig gemacht, er wird zur Regel: Die bösen niden stets den guoten, die niht vrumen den biderben (ETR 3240–3246). Der Erzähler weist ‚Neid‘ so als Habitus des Minderwertigen aus, er zeigt ihn als Eigenschaft der Figur. Folgt man Sianne NGAI, dann wird er damit aussage- und gehaltlos. Die Situation des königlichen Vertrauensmissbrauchs, auf die er hinweisen könnte, wird unsichtbar.80
Im Gegensatz zu materiellen Besitztümern verringert sich der Besitz der Gutheit nicht, sondern er vermehrt sich, wenn er Allgemeingut wird. Vgl. Augustinus, De civitate Dei, XV, 5. In: Augustinus: Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 12–13. Datur intelligi propterea Deum non respexisse munus eius, quia hoc ipso male dividebat, dans Deo aliquid suum, si autem se ipsum. (Augustinus, De civitate Dei, XV, 7; „Damit wird zu verstehen gegeben, daß Gott deshalb Kains Gabe nicht angesehen hat, weil Kain sie auf üble Art getilgt hat; er hat Gott von dem Seinen gegeben, sich selbst aber nicht.“ Text u. Übersetzung zit. n. Augustinus: Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 16–17.) Augustinus, De civitate Dei, XV, 5; „[...] es war der Neid, mit dem die Bösen die Guten beneiden, aus keinem andern Grund als dem, weil die einen gut, die anderen böse sind.“ Text und Übersetzung zit. n. Augustinus: Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 12–13. Cognito itaque Cain quod super eius germani sacrificium, nec super suum respexerat Deus, utique fratrem bonum nutatus imitar, non elatus deuit aemulari. (Augustinus, De civitate Dei, XV, 7; „Kain hätte sich also in dem Bewußtsein, daß Gott das Opfer seines Bruders angesehen hatte, das seine aber nicht, jedenfalls ändern und seinen guten Bruder nachahmen müssen, nicht aber stolz und eifersüchtig sein müssen.“ Text und Übersetzung zit. n. Augustinus: Der Gottesstaat, Bd. 2, S. 18–19.) Vgl. NGAI, Ugly Feelings, S. 29–21.
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5.3.2 Der vrume Rezipient Wie Augustinus kennt auch Eilharts Erzähler Alternativen zum Neid und seinen Handlungsweisen. Mitten in seinem Exkurs über die neidischen graven und hertzogen unterbricht der Erzähler seine Beschreibung und Analyse des Neids für eine Ansprache des Rezipienten: wend ir eß recht mercken, wann mit sölichen wercken selten und nie kain man brÿß und er gewan. nu gedenkt an die frúmkait, daß böß land úch wesen laid. (ETR 3228–3233)
Indem der Erzähler seine Hörer/Leser direkt adressiert und ihnen in Form des Imperativs Ratschläge erteilt, wechselt er in den Modus des lehrhaften Sprechens. Neid und die ihm zu Grunde liegende Opposition werden nun zum Gegenstand der Didaxe.81 Mittels der sentenzartigen, regelhaften Formulierung präsentiert der Erzähler die Erfolglosigkeit der Neider auf dem Gebiet der Ehre als allgemeines Wissensgut, zugleich verleiht er diesem Wissen die für die Didaxe typische pragmatische Dimension.82 Er appelliert an den Rezipienten einen anderen Weg als die Neider, nämlich den der frumkait, einzuschlagen.83 Folgt der implizite Hörer/Leser diesem Rat, so wird er selbst Teil der neidischen Opposition von vrum und bös, biderbe und zage. Die nachfolgenden Sentenzen sind insofern auch dort noch auf den Rezipienten beziehbar, wo die direkte Erzähleransprache fehlt. Eilhart entwickelt über die Verallgemeinerung eine Verhaltenslehre, bei der das Schicksal Tristrants Ausgangspunkt für eine Reflexion über Lohn und Leiden des biderben, vrumen Mannes am Hof wird. Gemäß des didaktischen Ansatzes präsentiert der Erzähler brÿß und er (ETR 3231) zunächst als Tun-Ergehen-Zusammenhang:84 Wer nach Ehre strebt, dem werden saelde und heil zuteil. Auch die Verteilung der Güter wird der ritterlichen Leistungsethik unterworfen: Der biderbe ist alleß guotteß wert (ETR 3239), er sollte gewinnen, Zur Didaxe rechnet den Erzählerexkurs bereits Monika SCHAUSTEN, ohne jedoch die didaktischen Elemente genauer darzulegen. Vgl. SCHAUSTEN, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter, S. 86. Zu den Merkmalen lehrhaften Erzählens vgl. LÄHNEMANN, Henrike u. LINDEN, Sandra: Einleitung. In: Dies.: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der Deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2009, S. 1–10. Der religiöse Diskurs bleibt auch in der Didaxe präsent. Gerd HÜBNER weist darauf hin, dass Eilhart Psalm 33,15 zitiert: deverte a malo et fac bonum („Wende dich ab und tue Gutes“ [eigene Übersetzung].). Siehe: HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 292. Vgl. HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 292.
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daß sin hertz gert (ETR 3238). Vor dem Hintergrund dieser Logik erscheint Neid zunächst als Störung der Ordnung: Der biderbe hat die Aggression des Neiders nicht verdient, er sollte dementsprechend von ihr verschont bleiben. Wie Monika SCHAUSTEN bereits in ihrer Dissertation andeutet, ohne ihre Äußerung jedoch genauer auszuführen, argumentiert Eilhart hier in „bester hofkritischer Manier“:85 Expliziter als in De Rege Portigalensi wird hier der hofkritische Topos des Hasses auf den Besten, den Tüchtigen am Hof aufgegriffen86 und darüber reflektiert, wie der Neid zu deuten ist und was aus ihm für die Beneideten folgt. Der Erzähler widmet sich der Problematik von zwei Seiten. Er stellt zum einen die Bedrohung für den biderben am Hof heraus. Gemäß der geschilderten Opposition von zage und vrum, guot und böse erhält Neid bei Eilhart den Status eines Naturgesetzes: Die bösen können nicht anders als den biderben zu neiden, als im unwillig sin (ETR 3246). Sie trachten nach seinem Leben (ETR 3254). Leidet der vrume am Hof so unabänderlich unter dem Neid der bösen, kann er von anderer Seite jedoch auf Ausgleich hoffen. Eben jene Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Neid auslösen, führen zu Gottes Wohlwollen und Gnade: sie mögen eß nit vermiden, sie müssend im unwillig sin. so ist aber got von himeln im und allen guotten lútten hold. (ETR 3245–3248).
Die hier beschriebene Dialektik aus menschlicher Aggression und göttlicher Belohnung sorgt dafür, dass die Hofkritik bei Eilhart im Gegensatz zu Walter Maps De Rege Portigalensi nie ins rein Negative kippt und ihren didaktischen Impetus behält. Dadurch, dass der Gegensatz zwischen vrumen und niht vrumen in Eilharts Neidinterpretation zur immerwährenden Feindschaft von guot und böse ausgestaltet sind, bedingen das Beneidetsein und die göttliche Huld einander: Neid zeigt an, welcher Gruppe man am Hof angehört, den vrumen oder den zagen, den guoten oder den bösen.
SCHAUSTEN, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter, S. 72. Zum Topos des Neids auf den Besten vgl. mit Bezug auf die zu Beginn des Kapitels zitierte Stelle aus dem siebten Buch des Policraticus JAEGER, C. Stephen: The Court Criticism of MHG Didactic Poets. Social Structures and Literary Conventions. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 74,4 (1982), S. 398–409, hier S. 401. Auf die Beschreibung des Hofes als Ort, wo Neid überhand nimmt, lässt John of Salisbury folgende Angaben zu den Beneideten folgen: Ubique tamen qui illustrioribus clarescunt meritis, acrius invidiae toxicato dente roduntur (John of Salisbury: Policraticus, VII, 24; „Dennoch werden überall die, welche durch etwas glänzendere Verdienste hell erstrahlen, etwas heftiger vom vergifteten Zahn des Neides benagt“ [eigene Übersetzung].). Zit. n. Ioannis Saresberiensis Opera Omnia, Bd. 4, S. 191.
5.4 Exzeptionalität – Tristan und die neidische Hofgesellschaft
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5.4 Exzeptionalität – Tristan und die neidische Hofgesellschaft künec unde hof die wâren dô ze sînem willen gereit, biz sich diu veige unmüezekeit, der verwâzene nît, der selten iemer gelît, under in begunde üeben, der hêrren vil betrüeben an ir muote und an ir siten [...]. (GTR 8316–8327)
Genau wie in Eilharts Erzählung des Tristan-Stoffes tritt der Neid bei Gottfried das erste Mal nach Tristans Rückkehr aus Irland auf. Mit wenigen Versen beschreibt der Erzähler in Gottfrieds Tristan87 eine Kippbewegung, die die Emotionen eines Teils der Hofgesellschaft umschlagen lässt. Waren Tristans Erzählungen vorher Objekt glücklichen Staunens, wenden sich die herren nun gegen ihn. Auslöser für diese Veränderung ist der verwâzene nît, dem durch die Personifikation Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Der Erzähler charakterisiert ihn als böse Kraft, die nie zum Erliegen kommt, und dort, wo sie wirksam wird, Unruhe in sozialen Gefügen schafft. Einziger Akteur der wirkmächtigen Veränderung ist so zunächst die Emotion selbst. Der Erzähler lastet ihr an, das Herz, das Gemüt der Barone zu betrüeben, zu ‚verdunkeln‘. Mittels der Lichtmetaphorik88 lässt er Neid wie einen Nebel erscheinen, der sich über die Emotionen der Tristan zugeneigten Gruppe legt und kollektive Faszination von einem Augenblick zum anderen in kollektiven Hass verkehrt. Mit dieser Einführung des Gruppenneids unterscheidet sich Gottfrieds Tristanerzählung deutlich von Eilharts früherer Bearbeitung des Stoffes. Wird das Entstehen des Neids bei Eilhart als Reaktion auf die neue Thronfolgeregelung plausibel gemacht, wird die Kollektivemotion bei Gottfried von außen an die Personen herangetragen.89 Wie die Verwendung der grammatikalischen Modi anzeigt, sind die
Zit. n. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter HAUG/Manfred Günter SCHOLZ. Mit dem Text des Thomas, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Walter HAUG, 2 Bde., Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10–11). Die Lichtmetaphorik in Bezug auf Neid findet sich auch in einer der berühmtesten Predigten über den Neid. Im Anschluss an die Worte des Apostels Johannes, dass derjenige, der Hass gegenüber seinem Bruder empfinde, im Dunklen wandele, werden Neid und Eifersucht als Blindheit und Rückkehr in die Dunkelheit gedeutet. Vgl. Cyprian: De zelo et livore, 11. In: Cyprien de Carthage: La jalousie et lʼenvie, S. 90–93. Markes Entscheidung für Tristan als Thronfolger ist dem Leser/Hörer bei Gottfried bereits über 3000 Verse (GTR 5156–5161) lang bekannt.
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hêrren zunächst passiv, Gegenstand der sie überwältigenden Emotion; erst in Folge werden sie zu eigenständigen Akteuren. Die Personifikation ist so nicht nur Stilmittel, die Emotion selbst wird zur verändernden Macht stilisiert, die soziale Beziehungen um- und verformt. Entgegen der lange in der Forschung vorherrschenden These vom Tristan als psychologisch erzählendem Roman90 wird Gruppenneid hier nicht als Phänomen der Innerlichkeit, sondern als Umbruchstelle sozialer Interaktionen erzählt. Versuche, „die Protagonisten und andere Gestalten als ‚psychologisch‘ kohärente Figuren“ zu verstehen, führen daher in Bezug auf die Neider in die Irre.91 Zurecht hat Harald HAFERLAND den Gruppenneid in Gottfrieds Tristan als ad-hocMotivation identifiziert. Er wird laut HAFERLAND genau in dem Moment eingeführt, indem er eine narrative Funktion erfüllen soll, nämlich die die Brautfahrt und die aus ihr folgende ehebrecherische Liebe zu motivieren.92 Mit dieser Analyse will HAFERLAND die Bedeutung der Emotion für den Handlungsfortgang keineswegs schmälern. Im Rahmen seiner Analyse modularen Erzählens hebt er im Gegenteil hervor, dass das mittalterliche Erzählen weniger durch psychologische wie raum-zeitliche Wahrscheinlichkeit als durch konzeptuelle, thematische Leitideen, die sich häufig in Form von Affekthandeln verdichten, gelenkt werde.93 Als solches Konzept ‚überschreibt‘ Neid ihm zufolge die Erzählung der Brautfahrt und bestimmt deren Verlaufslogik.94 HAFERLANDs Analyse lässt die Frage noch unbeantwortet, welche Bedeutung dem Gruppenneid im Rahmen dieses Moduls zukommt. Die Forschung hat ausgehend von WARNINGS und MÜLLERs einflussreichen Aufsätzen über das Konzept der ‚Transgression‘ Anfang der 2000er Jahre95 Tristans Exzeptionalität, die Tatsache, dass er den höfischen Normen in äußertem Maße ent-
Für eine Kritik der Forschung, die im Tristan psychologisierende Tendenzen sieht, vgl. KOCH, Trauer und Identität, S. 210–213. So beschreibt Susanne FLECKEN-BÜTTNER in einem Aufsatz zu Tristans Exzeptionalität ihre Analysemethodik. Siehe: FLECKEN-BÜTTNER, Susanne: Exzeptionalität. Zu Narration, Deskription und Reflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium. Hrsg. von Elke BRÜGGEN/Franz–Josef HOLZNAGEL/Sebastian COXON/Almut SUERBAUM, Berlin 2012, S. 105–142, hier S. 107. Vgl. HAFERLAND, Konzeptuell überschriebene Module, S. 126–129. Ebenda, S. 135–141. Ebenda, S. 137. Vgl. MÜLLER, Jan–Dirk: Gottfried von Straßburg: Tristan. Transgression und Ökonomie. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von Gerhard NEUMANN/Rainer WARNING, Freiburg im Br. 2003 (Litterae 98), S. 213–242 u. WARNING, Rainer: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im ‚Tristran‘. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von Gerhard NEUMANN/Rainer WARNING, Freiburg im Br. 2003 (Litterae 98), S. 175–212.
5.4 Exzeptionalität – Tristan und die neidische Hofgesellschaft
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spricht und diese zugleich immer wieder übertritt, als zentrales Thema bei Gottfried ausgemacht.96 Das folgende Unterkapitel soll der Frage nachgehen, wie diese Exzeptionalität durch den Neid der Vielen auf den Einen sichtbar gemacht, problematisiert und mit dem hofkritischen Diskurs verknüpft wird.97
5.4.1 Einebnung von Unterschieden Wie in Walter Maps De Rege Portigalensi entfaltet Neid in Gottfrieds Tristan eine das Sozialgefüge dissoziierende Wirkung: Aus dem vorher als Einheit agierenden Hof separiert sich die Gruppe der Mächtigen. Tristan stellen sich die herren entgegen, welche ihn der êren beniten/ unde der werdekeite,/ die der hof an in leite/ und al daz lantgesinde (GTR 8324–8327)98 Die Neidobjekte êre und werdekeite legen offen, worum es ihnen in der kollektiv gegen Tristan gerichteten Emotion geht: um die Rangfolge am Hof. Diese wird durch Tristans unerwartete Rückkehr erneut durcheinander gebracht. Mit dem Protagonisten kehrt nicht nur der Favorit Markes,99 sondern auch der von Marke ernannte Thronfolger zurück. Zugleich gewinnt Tristan durch seine Erfolge in Irland weiter an Ruhm. Seinen Erlebnissen auf der Reise wird der Status des Wunderbaren zugesprochen, sodass sich der Hof zuhörend um ihn sammelt (GTR 8234–8247). Analysiert man die soziale Situation, die Tristans Rückkehr am Hof schafft, erscheint Tristan der Hofgesellschaft zu diesem Zeitpunkt uneinholbar überlegen. Êre und werdekeit konzentrieren sich in seiner Person, alle anderen Mitglieder der Hofgesellschaft werden als Teil einer uniformen Masse beschrieben, aus der keiner namentlich hervorsticht.100
Vgl. beispielsweise FLECKEN–BÜTTNER, Exzeptionalität. Eine frühere Fassung dieses Unterkapitels ist 2014 unter dem Titel ‚Ậ Tristan, waere ich alse duo!‘ Tristan und die neidische Hofgesellschaft erschienen. Vgl. LIEBERICH, Eva: ‚Ậ Tristan, waere ich alse duo!‘ Tristan und die neidische Hofgesellschaft. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin BAISCH/Evamaria FREIENHOFER/Eva LIEBERICH, Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 209–237. „Gruppen- und Einzelinteressen drängen die Geltung der Gemeinschaft zurück [...]“. Siehe: FLECKEN-BÜTTNER, Exzeptionalität, S. 114. Zu Tristans Vorrangstellung an Markes Hof vgl. Rainer GRUENTERs gleichnamige Studie, die jedoch ohne überzeugende Begründung die Beziehung zwischen Marke und Tristan homoerotisch auflädt: GRUENTER, Rainer: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids Tristan und Isold. In: Ders.: Tristan–Studien. Hrsg. von Wolfgang ADAM, Heidelberg 1993 (Beihefte zum Euphorion 27), S. 141–158. Vgl. die Ankunftsszene nach der ersten Irlandfahrt. Hier fällt auf, dass außer Tristan und dem König keiner der Anwesenden namentlich erwähnt wird.
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Letzteres wollen die Neider jedoch auch nicht ändern. Wie schon bei Map und Eilhart treten die Neider an keiner Stelle als ernstzunehmende Rivalen Tristans in Erscheinung. Ihr Ansinnen richtet sich weder darauf, selbst höhere Anerkennung zu erwerben noch darauf, Tristan die Thronfolge streitig zu machen. So wie die Hofgesellschaft den Kampf mit Morold meidet und ihn stattdessen durch Tristan ausfechten lässt, so wenig bemüht sie sich darum, die Neidobjekte êre und werdekeit selbst durch Taten zu erlangen. Bezeichnenderweise fürchten sich die Barone bei Gottfried vor dem, womit sie Tristan im Text neu beauftragen, der Brautfahrt nach Irland. Ihr Neid ist demzufolge nicht einfach, wie ihn Harald HAFERLAND am Beispiel von Keie in Höfische Interaktion beschrieben hat, die Position der Verlierer im Wettstreit am Hof.101 Gruppenneid wird hier gezeigt als die Emotion derer, die in den Wettstreit erst gar nicht eintreten. Dies spiegelt sich auch in den Handlungen der Neider. Anstatt den Besitz der Neidobjekte selbst anzustreben, gehen die Neider unmittelbar gegen das vor, was Tristan über sie erhebt. Die erste Aktion der Neider richtet sich gegen den Ruhm, den Tristan durch den Kampf gegen Morold und die Irlandfahrt erworben hat. Die Neider versuchen zu beweisen, dass Tristans Siege und Listen das Werk von Zauberei seien. Ihr Sprechen lässt sich wiederum als Form der Sprachsünde der detractio beschreiben. Das Gute wird ins Negative verkehrt. Das, was Anlass zur Bewunderung bietet und Tristan auszeichnet, wird zu Tristans öffentlicher Diskreditierung genutzt.102 Ähnlich ausgerichtet ist auch die zweite Aktion der Neider: Um sich gegen die mögliche Thronfolge Tristans zur Wehr zu setzen, wird die Verheiratung Markes forciert. Von dieser profitieren die Neider nicht selbst, sie verhindert jedoch den weiteren und endgültigen Aufstieg Tristans am Hof. Anders als bei Map und Eilhart dienen die Intrigenversuche folglich dazu, Unterschiede innerhalb der Hofgesellschaft einzuebnen. Thematisiert und problematisiert wird im Gegensatz zu den Verrechnungslogiken bei Map und zur anfänglich zitierten Gerechtigkeitsklage Antrets nie die eigene Position des Nichtbesitzes, stattdessen steht die Differenz zwischen Tristan und der Gruppe im Fokus der Neider: Die Neider räumen
Vgl. HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 31 und S. 87. Hier konstatiert HAFERLAND: „Zum Stolz gehören, wenn er gekränkt wird, Zorn und verbissene Verweigerung. Daneben halten sich aber auch Neid, Groll und Eifersucht bereit, wenn es nicht gelingt, dem eigenen Stolz zu entsprechen.“ Haferland illustriert dies am Beispiel Keies: „Wo immer Keie in einen Kampf mit einem anderen Ritter der Tafelrunde gerät, wird er vom Pferd befördert. Jeder Versuch, sich hervorzutun, schlägt fehl. So muß der Neid an ihm nagen, umso mehr, als er keine Scham kennt.“ . CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 239. Gottfried greift hier auf das ältere, aber in der Diskussion des dreizehnten Jahrhunderts noch präsente Verständnis der detractio zurück.
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keinen Rivalen aus den Weg (Map), sie argumentieren nicht anlassbezogen gegen eine Veränderung der Thronfolge (Eilhart), sie wollen, dass Tristan so ist wie sie.
5.4.2 Neidlektüren Traditionell spricht der Neider nicht über seine Emotion und er versucht sie – wie schon der Kirchenvater Basilius in einer Predigt darlegt – aus Scham nicht zu zeigen.103 Dieses Sprech- und Zeigehemmnis besteht auch im Tristan. Angesichts der Bekräftigung der Thronfolge Tristans verlieren die Neider im höfischen Miteinander jedoch die Kontrolle über ihre Außendarstellung. Der Neid der Barone wird so groß, dass sîʼz in [Tristan] dô nie mêre/ vor verhelen kunden (GTR 8371 f.). Mit Augustinus lässt sich dieser unbeabsichtigte Emotionsausdruck der Neider als signum naturalium fassen.104 Worte und Gebärden der Neider (GTR 8373) offenbaren dem Betrachter ihre Emotion, ohne dass diese es beabsichtigt hätten. Zeichencharakter kommt den Worten und Gebärden der Neider jedoch nicht in Bezug auf das zu, was Neid für die ihn Fühlenden bedeutet. Die anderorts so präsente Mimik und Gestalt des Neiders – die trockenen, glanzlosen Augen, die zitternden Lippen, die eingefurchten Wangen, die Bleiche, Hagerheit und Magerkeit – bleiben hier unerwähnt,105 sodass auch das Leid, die selbstzerstörerischen Qualitäten der Emotion unsichtbar bleiben. Im Vergleich mit den klassischen Neidbeschreibungen bei Ovid und Cyprian nennt der Erzähler hier nur solche äußeren Merkmale des Neids, die auch den Beneideten betreffen. Dementsprechend
Basilius von Caesarea: Homilia de invidia, 1 (PG 31, 371–86). Für eine deutsche Übersetzung vgl. Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen Bischofs von Cäsarea ausgewählte Homilien und Predigten, S. 289–300, hier S. 290 f. Augustinus definiert als signum naturalium diejenigen Zeichen, die ohne die Intention, sie als Zeichen zu verwenden, doch zum Wissen von etwas Anderem führen: Naturalia sunt, quae sine voluntate atque ullo appetitu significandi praeter se aliquid aliud ex se cognosci faciunt [...] (Augustinus, De doctrina christiana II, 2; „Natürliche [Zeichen] sind die, welche bewirken, – ohne die Absicht oder irgendeine Bestrebung etwas über sich hinaus zu bezeichnen – dass etwas durch sie erkannt/verstanden wird“ [eigene Übersetzung].). Text zit. n. Sancti Aureli Augustini Opera. Sect. VI, Pars VI, De doctrina christiana libri quattuor. Hrsg. von William M. GREEN, Wien 1963 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 80), S. 34. Zu Augustinus‘ Zeichenbegriff vgl. MEIER-OESER, Stephan: Medieval Semiotics. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2011 Edition). Hrsg. von Edward N. ZALTA. http://plato.stanford.edu/archives/sum2011/entries/ semiotics–medieval/ [31. Januar 2023]. Zur Deutung des Emotionsausdrucks bei Augustinus als signum naturalium vgl. auch KOCH, Trauer und Identität, S. 51. Vgl. hierzu das Kapitel 2.3 ‚Definitionen‘.
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verwundert es nicht, dass Neid auch im folgenden Gespräch zwischen Tristan und König Marke vor allem in seinen Auswirkungen auf Tristan diskutiert wird. In Szene gesetzt wird hier der Moment der Lektüre und Deutung der Emotion selbst. Tristan und Marke fragen: Was bedeutet die negative Emotion des Kollektivs für den Beneideten? Der Protagonist nimmt am Neid nur das wahr, was in den auf ihn verweisenden Worten und Gesten unmittelbar zum Ausdruck kommt: die Bedrohung, die Aggression. Marke hingegen stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Größe des Neids und der Würde eines Menschen her. In vier aufeinanderfolgenden Satzpaaren nähert der cornische König im Gespräch mit Tristan Neid und Ansehen einander an. Seine Rede soll hier in Grundzügen nachvollzogen werden, um dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, mit welch argumentativer Präzision auch in literarischen Texten über das Verhältnis von Neid und Ansehen nachgedacht wird. Marke stellt zunächst nüchtern fest, dass Neid und Hass eine nicht zu vermeidende und leidvolle Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Ansehens sind (GTR 8395 f.), um beide in ihrer Relation zueinander im nächsten Satz neu zu gewichten. Laut Marke nimmt Anerkennung nur so lange zu, wie Hass und Neid sie begleiten: ‚[...] der man der werdet al die vrist,/ die wîle und er geniten ist.‘ (GTR 8397 f.) Mit diesen Worten setzt er eine wechselseitige Beziehung an, die im nächsten Satzpaar über den Vergleich mit der Elternschaft auf bildlicher Ebene weiterentwickelt wird: ‚[...] wirde unde nît diu zwei diu sint/ rehte alse ein muoter unde ir kint [...]‘ (GTR 8399 f.). Die Relation zwischen Neid und Anerkennung wird nun in den Rang eines Naturgesetzes erhoben. Neid geht, wie Marke betont, ähnlich dem biologischen Prozess der Geburt stets – alle zît (GTR 8401) – aus dem gesellschaftlichen Ansehen hervor.106 Eine Erklärung für diese Engführung folgt im letzten Satzpaar. Indem Marke fragt, wer mehr Hass auf sich ziehe, als ein saelige[r] man (GTR 8404), markiert er die Einzigartigkeit der Beziehung zwischen Ansehen und Neid. Seine Antwort auf die rhetorische Frage nimmt von hier aus eine Neubewertung des Neides vor: Da die Bindung zwischen Neid und Ansehen so stark ist, sei, [...] diu saelde [...] arm unde swach,/ diu nie dekeinen haz gesach [...] (GTR 8405 f.). Stephen JAEGER deutet diese Verse im Sinne der antiken Haltung zum Staatsdienst als Bewährungsprobe für die Qualitäten des Helden. Neid und Hass seien für den Hofmann „die Flammen, die die Tugend testeten und eine nicht gehärtete
Diese erstaunliche Nähe wird auch grammatikalisch umgesetzt. Im ersten Glied des Satzpaares bilden die beiden Wörter wirde und nît das Subjekt, darauf folgend werden sie im Relativpronomen diu zusammengefasst, so dass ihre Zusammengehörigkeit auch durch den Satzbau unterstrichen wird.
5.4 Exzeptionalität – Tristan und die neidische Hofgesellschaft
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Tugend sei wertlos.“107 Im Kontext der Argumentation bietet sich jedoch eine weitere und naheliegendere Interpretation an. Gottfried greift auf den ebenfalls in der römischen Literatur verbreiteten Topos von invidia als Bekräftigung von virtus zurück.108 Er gibt dem von JAEGER als konventionell charakterisierten Grundmotiv von Markes Rede – ‚Neid trifft immer die Besten‘109 – auf diese Weise eine neue Wendung. Die negative Emotion wird als indexikalisches Zeichen gelesen, das auf die Größe des Beneideten hinweist. Deshalb soll Tristan auch keine Angst mehr vor dem Neid der Hofgesellschaft haben; deshalb dürfen die negative Emotion und die Tugend in Markes Rede nebeneinander stehen.110 Für die Neider produziert der Verlust der Kontrolle über ihre Außendarstellung folglich allein nachteilige Deutungsmuster: Als Beleg der Vorzüge Tristans markiert Neid in Markes Rede die Differenz zwischen Tristan und der Hofgesellschaft. Wie die von Marke in seiner Rede verwandten Termini biderbe (‚der Tüchtige‘, GTR 8396), wirde (‚Ansehen‘, GTR 8399) und saelig (‚begnadet‘, GTR 8404) zeigen, deutet Marke den Neid der Barone als Auszeichnung Tristans, die seine Besonderheit, seine Tugenden gerade in Abgrenzung vom Rest der Hofgesellschaft unterstreicht. Dass die Hofgesellschaft als Gegenpol zu Tristans Vorzügen immer mitgedacht wird, zeigt der Fortgang von Markes Rede. Hier wird Tristan nicht nur davor gewarnt, dass ein Leben der Harmonie mit den Neidern nur dann erreicht Für JAEGER folgt Markes Argument der Logik, dass, je größer die Übel des Hofes seien, desto größer und bewunderswerter auch die Tugenden der Männer, die ihnen standhalten, ausfallen. Marke bezieht laut JAEGER somit eine im Zeitalter der Hofkritik seltene Position, die erst in der Renaissance mit Castigliones Il Cortegiano wieder an Prominenz gewinnt. Vgl. JAEGER, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 127–129. Zum römischen Topos der invidia als Beweis von virtus vgl. das Kapitel 2.5.4 ‚Die hofkritische Perspektive‘. JAEGER, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 128. Die von Tomas TOMASEK gesammelten Sentenzen zum Neid zeigen die Vielfalt der zeitgenössischen Verbindungsmöglichkeiten von Neid und Ehre. Charakterisiert der Ausspruch Virtus semper invidiae patet („Tugend ist immer dem Neid ausgesetzt“ [eigene Übersetzung]) aus Otlohs von St. Emmeram Liber proverbiorum invidia als leidvolle Begleiterscheinung der virtus, finden sich im Deutschen Cato Gottfried ähnelnde Formulierungen, die Würde und Neid direkt aufeinander beziehen: Doch muoz der vrume liden/hazzen unde niden/der man ist wert alle vrist/ die wile er genendec ist (Otloh von St. Emmeram: Liber proverbiorum, 336 B; Der Deutsche Cato, 253–260). Reinmar von Zweter fordert das Erleiden von Neid als Gewähr für die Überlegenheit der Angesehenen und Tüchtigen in der Gesellschaft sogar explizit ein: die werden müezen immer nîden lîden./ die werden suln sîn nîtlîdaere,/ nîtlîden zimt den werden wol,/ sô sint die boesen nîdes vol: / nîtlîdaer sint bezzer dan nîdaere (Reinmar von Zweter, 202, 1–12). Siehe: TOMASEK, Thomas: Sentenzverwendung im höfischen Roman des 12. und 13 Jahrhunderts. Vom ‚Diskurs‘ zur ‚Konvention‘. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001. Hrsg. von ECKART CONRAD LUTZ/Johanna THALI/René WETZEL, Tübingen 2005, S. 47–63, hier S. 56 f.
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werden könne, wenn man sich an sie und ihre Verderbtheit anpasse. Auch die Ermahnung, seine Vorbildhaftigkeit, seinen hôhe[n] muot (GTR 8417), zu bewahren, erfolgt in expliziter Abgrenzung von den Taten Anderer. Der hôhe muot wird als Kontrast gedacht zu dem, wie sich die Anderen verhalten (GTR 8415). Tristan und die Hofgesellschaft treten so weiter auseinander, das Sprechen über Neid ordnet sie in eindeutigen Hierarchien der Unter- und Überlegenheit. Die soziale Dynamik der Gruppenneidszene in Gottfrieds Tristan lässt sich insofern wie folgt zusammenfassen: Zum einen werden die Neidobjekte nicht begehrt, sodass sie allein als Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Vielen und dem Einen fungieren. Neid geht in Missgunst über und zielt so auf die Zerstörung des Vorteils desjenigen, der von der Gruppe abweicht. Zum anderen markiert Neid – wie Markes Rede deutlich macht – aufgrund seiner topischen Ausrichtung auf das Neidobjekt ‚Ansehen‘, Tristans Ausnahmeposition und Überlegenheit noch stärker. Neid wird zur Profilbildung der Figur in Abgrenzung von der Gruppe genutzt, sodass an dieser Stelle deutlich wird, welche Funktion der Emotion innerhalb des Tristan zukommt: Über den kollektiven Neid wird im Tristan die Exzeptionalität der Hauptfigur markiert: „Besser sein, anders sein und einzig sein – was das in der Welt, was das in der Kunst bedeutet, diese Fragen bewegen den Tristan Gottfrieds von Straßburg.“111
5.4.3 Kehrseite der Bewunderung Neid ist versteckte Bewunderung. Ein Bewunderer, welcher spürt, daß er durch Hingabe nicht glücklich werden kann, er erwählt es, auf das neidisch zu werden, das er bewundert.112
Tristans Rückkehr aus Irland ist in Gottfrieds Tristan indes nicht die erste Situation, in der der Protagonist im Zentrum kollektiver Aufmerksamkeit steht. Bereits bei seiner ersten Ankunft in Cornwall richtet sich die Aufmerksamkeit der Adeligen auf Tristan als vollkommenen Musiker und Sprachkünstler. Der Vergleich beider Ankunftssituationen gibt Aufschluss über die Entwicklung der Exzeptionalitätsthematik. Wie Stephen JAEGER und Martin BAISCH herausgearbeitet haben, bestaunen die Höflinge Tristan zunächst als menschliches Wunder,113 Tristans Vorführung FLECKEN–BÜTTNER, Exzeptionalität, S. 105. Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen von Emanuel HIRSCH. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Emanuel HIRSCH/Hayo GERDES, Abt. 24/25, München 41992, S. 85. Vgl. JAEGER, C. Stephen: Wunder und Staunen bei Wolfram und Gottfried. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin BAISCH u. a. Königsstein 2005, S. 122–139, hier S. 128.
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fremdländischer Musik und die Mannigfaltigkeit der von ihm beherrschten Sprachen bannt das höfische Publikum während eines geselligen Zusammenseins derart, dass Ohr und Herz „aus dem Takt“ geraten, die Attraktion des Gehörten den eigenen Namen vergessen macht.114 Im Anschluss an die Vorführung künstlerischer Perfektion wird eine Distinktionsemotion beschrieben, die auf den ersten Blick viel mit Neid gemein hat. Tristan ist durch seine vuoge aus der übrigen Hofgesellschaft hervorgehoben, die Gruppe begehrt die von ihm besessenen Fähigkeiten: dâ begunde sich manc herze senen nâch Tristandes vuoge. dâ wolten genuoge vil gerne sîn gewesen als er. im sprach vil maneges herzen ger suoze und inneclîche zuo: ‚â Tristan, waere ich also duo! [...]‘ (GTR 3704–3710)
Anders als Neid bricht die Emotion des senen über den Hof in Cornwall nicht von außen herein. Das Problem des Erzählens kollektiver Gefühle wird durch eine schrittweise Annäherung der höfischen Akteure aneinander gelöst: Aus dem synchronen senen vieler Einzelner nach den Fähigkeiten Tristans entsteht der identische Wunsch so wie dieser zu sein, sodass die Hofgesellschaft Tristan am Ende als Kollektivsubjekt Anerkennung zollen kann: Was Tristan tut und spricht daz dûhte und was ouch alse guot,/ daz ime diu werlt holden muot/ und inneclîchez herze truoc (GTR 3747–3749). Ausgangspunkt für diesen Zusammenschluss ist die Anziehungskraft, die von der vuoge ausgeht. Traditionell wird senen in Wortverbindungen verwandt, die ein schmerzliches Verlangen bezeichnen, was bei BENECKE, MÜLLER und ZARNCKE zur Übersetzung als ‚seelenschmerz‘ führt.115 Nach LEXER kann es jedoch auch ein aktives Verlangen bezeichnen, das nicht in jedem Fall von Leiden geprägt ist.116 Wie das in Christoph HUBERs Studie zur Sehnsucht und Autonomie der Liebe angeführte Textkorpus zeigt, wird das Emotionswort im Tristan meist im Kontext der
BAISCH, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid KASTEN, Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 139–166, hier S. 152. Senen. In: BENECKE, Georg F./MÜLLER, Wilhelm/ZARNCKE, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866, Bd. 2, Hildesheim 1963, Sp. 250. In LEXERs Handwörterbuch finden sich die Bedeutungen „sehnen, härmen, liebendes oder schmerzliches Verlangen empfinden“. Siehe: Senen. In: LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023].
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Minneerfahrung verwandt.117 Folgt man HUBER, dann besitzt das senen an dieser Stelle eine erotische Komponente. ̶ Tristan ziehe das Publikum mit seiner Musik an sich.118 Das senen lässt sich folglich als Liebe zu Tristans künstlerischen Fähigkeiten deuten. Im Anschluss an die Erfahrung absoluter Perfektion überträgt sich die Faszination des Publikums in den Wunsch, wie Tristan zu sein. Dabei bleibt, wie das im Kontext der Begierde verwendete Vokabular suoze und inneclîche zeigt, der während der Aufführung aufgebaute Zustand des Berührtseins durch die vuoge erhalten. Die Emotion richtet sich nicht direkt auf Tristan, vielmehr konzentriert sich die Emotion ganz auf seine Kunstfertigkeit: ‚[...] Tristan, dir ist der wunsch gegeben/ aller der vuoge, die kein man,/ ze dirre werlde gehaben kann.‘ (GTR 3712–3714) Von hier aus lässt sich auch das Verhältnis Tristans zum um ihm herum versammelten Hof als Bewunderung deuten. Einerseits stellt die Distinktionsemotion des senen Tristans Überlegenheit aus. In den Reden der Hofgesellschaft über ihn – er selbst spricht zu diesem Zeitpunkt bezeichnenderweise nicht – häufen sich die hyperbolischen Überbietungsfiguren. Tristan verfüge über aller der vuoge (GTR 3713), er beherrsche al die liste, die nu sint (GTR 3720). Selbst der König sucht seine Freundschaft mit der Begründung: ‚[...] dû kanst allez, daz ich wil:/ jagen, sprâche, seitspil [...].‘ (GTR 3723 f.) Gemeinsam ist diesen Äußerungen, dass sie Tristan die Gesamtheit höfischer Fähigkeiten in Perfektion zusprechen. Andererseits „verlässt“ Tristan, wie Annette GEROK-REITER in ihrer Analyse betont, mit seiner Kunstfertigkeit nie die Normen der höfischen Gesellschaft. Tristans Einzigartigkeit beruhe nicht darauf, dass Tristan über ungewöhnliche Fähigkeiten verfüge, sondern darauf, dass er traditionell anerkannte Fähigkeiten in einer ungewöhnlichen Weise beherrsche.119 Das senen lässt sich demnach als Kollektivemotion charakterisieren, die Tristan zugleich aus der Gruppe hervorhebt und ihn im besonderen Maß „gesellschaftsfähig“120 macht. Der Protagonist dient in der ersten Hälfte von Gottfrieds Tristan als höfisches Ideal, zu dem alle hinstreben: ‚Â Tristan, waere ich alse duo!‘ Vergleicht man diese Schilderung der Bewunderung mit der von Neid erscheinen die beiden Emotionen in Gottfrieds Tristan als spiegelbildlich zueinander angelegt: Sowohl der Neid als auch die Bewunderung werden in Situationen verortet, in denen Tristan im Gegensatz zur Hofgesellschaft über begehrenswerte
HUBER, Christoph: Sehnsucht und Autonomie der Liebe. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago di Compostela 2000. Hrsg. von Christoph HUBER/Victor MILLET, Tübingen 2002, S. 339–356, hier S. 343–349. Ebenda, S. 356. GEROK–REITER, Individualität, S. 155 f. Ebenda.
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Güter121 verfügt. Es handelt sich in beiden Fällen um Distinktionsgefühle, in denen Situationen der Unterlegenheit thematisiert werden.122 Die Hofgesellschaft reagiert auf die Differenz aber nicht auf dieselbe Art und Weise. Während die Rede der Bewunderer der Vergrößerung des Ansehens Tristans gilt, sprechen die Neider, um das Ansehen Tristans zu beschneiden. Wirken die herausragenden Fähigkeiten Tristans in der Bewunderung zunächst anziehend, so stellt der Vorwurf der Zauberei gegen den Protagonisten, wie Susanne FLECKEN-BÜTTNER herausgestellt hat, nun das Beunruhigende an Tristans Fähigkeiten heraus.123 Nicht zuletzt differieren die emotionalen Reaktionen. Charakterisiert der Erzähler die Emotion der Bewunderer als senen, ist die der Neider von haz bestimmt, sodass die Exzeptionalität Tristans die den Hof ehemals zusammenführte, diesen nun spaltet. Die gegensätzliche Anlage beider aufeinanderfolgender Emotionen legt es nahe, dass Neid im Tristan als Negativ, als Kehrseite der Bewunderung dargestellt wird. Für den zu Beginn des Kapitels zitierten dänischen Philosophen und Schriftsteller Søren KIERKEGAARD ist eine solche Verknüpfung beider Emotionen nur natürlich. Er geht davon aus, dass Neid stets Bewunderung zugrunde liegt. Was beide Distinktionsemotionen in KIERKEGAARDs Augen voneinander unterscheidet, ist das Gefühl und das Verhalten gegenüber der Person, die das begehrte Objekt besitzt. Neid impliziert laut KIERKEGAARD ein Scheitern positiver Identifikation: ̶ An die Stelle von Hingabe gegenüber dem Anderen tritt Aggression, an die Stelle von Glück Schmerz. Indem bei Tristans erster Ankunft in Cornwall von Bewunderung und bei seiner zweiten Ankunft von Neid erzählt wird, wird bei Gottfried eine ähnliche Abfolge von Bewunderung und Neid inszeniert. Anders als bei Eilhart, der die Neuordnung der Thronfolge an den Beginn der Neidszene setzt, gehen das Staunen über die Erzählungen Tristans und der Neid auf diesen bei Gottfried jedoch ohne psychologische Motivation ineinander über: In einem Moment ist Tristan Objekt der Bewunderung. Im nächsten Moment ist Tristan Objekt des Neids. Dies legt eine strukturelle Lesart im Sinne HAFERLANDs nahe. Die Abfolge der Emotionen markiert im Vorfeld der Beziehung mit der Königin einen Wandel in der Wahrnehmung von Tristans Exzeptionalität. Mittels der Aneinanderreihung zweier Emotionen, die sich auf unterschiedliche Weise auf seine herausragende Position in der Gesellschaft richten, wird zum einen der Ausnahmestatus‘ Tristans weiter hervorgehoben. Indem Gottfried Neid auf Bewunderung folgen lässt, zeigt er jedoch auch, dass Tristans Exzeptionalität in der höfischen Gesellschaft problematisch wird. Aus dem ‚Â
Der Terminus ‚Güter‘ wird hier nicht im materiellen Sinne gebraucht, sondern analog zum Terminus ‚Neidobjekt‘ für die Objekte der Bewunderung. Vgl. BURKART, Distinktionsgefühle, S. 162–166. FLECKEN–BÜTTNER, Exzeptionalität, S. 114.
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Tristan, waere ich alse duo!‘ (GTR 3710) wird bei den missgünstigen herren der Wunsch, dass Tristan so sei, wie sie selber sind.
5.4.4 Gestörte Hierarchien Tristan hat drei verschiedene Väter, und damit ist er verpflichtet auf drei verschiedene Identitäten, auf drei Manifestationen aristokratischen Rechts, denen er Kontinuität verschaffen soll. [...] Tristan ist nicht mehr eindeutig definiert durch einen einzigen gesellschaftlichen Ort; er ist im herkömmlichen Sinne nicht mehr fraglos einzuordnen.124
Ein gewöhnlicher Adeliger ist Tristan jedoch mitnichten. Drei Väter werden Tristan im Laufe der Erzählung zugeordnet, drei verschiedene Identitäten werden für ihn entworfen. Jede davon impliziert, wie Horst WENZEL ausführt, einen anderen Status mit anderen Verpflichtungen und Zielen.125 Die Folgen, die diese ‚Vater-Verwirrung‘126 – die Aufspaltung genealogischer Identität in die Faktoren Abstammung und Sippenbindung, Besitz und Herrschaft, Initiation und Erziehung – für den Protagonisten hat,127 wurden in der Forschung ausführlich diskutiert. So geht Monika SCHAUSTEN davon aus, dass Tristan keine stabile soziale Identität besitzt, sondern sein Ich erzählend immer wieder neu in Anpassung an die äußeren Erfordernisse konstruiert.128 Elke KOCH betont, dass Genealogie nicht mehr unmittelbar Identität hervorbringt, sondern als solche erst von Tristan „angeeignet“ werden muss.129 Beide Forschungsbeiträge erhellen, was die ‚Vater-Verwirrung‘ für den Protagonisten und seine Identität bedeutet. Die Frage, wie sich Tristans unklarer gesellschaftlicher Status auf die höfische Gesellschaft auswirkt, die ihn von außen beobachtet, bildet hingegen in der Forschung einen blinden Fleck. Dies ist angesichts der späteren Konflikte zwischen Tristan und den Baronen erstaunlich. Um zu prüfen, ob und wie der kollektive Neid mit Tristans schillernder Identität zusammenhängt, soll hier probeweise versucht werden, eine Außenperspektive auf die von WENZEL, SCHAUSTEN und KOCH beschriebene Identitätsproblematik zu rekonstruieren. Ziel dieses Vorhabens ist es nicht, die in Gottfrieds im Gegensatz WENZEL, Horst: Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Wege in die Neuzeit. Hrsg. von Thomas CRAMER, München 1998 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 8), S. 229–251, hier S. 238. Ebenda, S. 238. So der Begriff, den Elke KOCH für die Episode wählt. Vgl. KOCH, Trauer und Identität, S. 249. Ebenda, S. 257. Vgl. SCHAUSTEN, Monika: Ich bin, alse ich hân vernomen, ze wunderlîchen maeren komen. In: PBB 123, 1 (2001), S. 24–48. KOCH, Trauer und Identität, S. 257.
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zu Eilharts Tristan–Roman fehlenden Kausalitäten des Gruppenneids aufzuzeigen. Wie bereits dargestellt wurde, wird dieser nicht psychologisch entwickelt. Ziel ist es vielmehr, den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sich die kollektive Emotion entfalten kann, offenzulegen: ̶ Worauf könnte das Entstehen des Gruppenneids verweisen? Was steht mit der Exzeptionalität Tristans zur Debatte? Tristans Status befindet sich bei Gottfried in steter Veränderung: Lernt die Hofgesellschaft Tristan aufgrund seiner Täuschung als Kaufmannssohn kennen (GTR 3097–3123), wird er durch seine herausragenden Fähigkeiten Teil des königlichen Gefolges (GTR 3394 f.), Marke macht ihn zum Jägermeister (GTR 3370) und zu seinem persönlichen Harfner (GTR 3652–3654). Bald schon nennt ihn der König geselle (GTR 3725), er will seinen Favoriten wie einen ebenbürtigen Freund nun stets an seiner Seite wissen (GTR 3721–3741) und vertraut ihm seine Waffen an (GTR 3737–3739). Mit der Ankunft Ruals am Hof und der Aufklärung seiner Herkunft steigt Tristan dann zum zukünftigen Herrscher Parmeniens auf (GTR 4457–4459, 5186–5199), ein Erbe, das er aufgibt, um Marke auf den Thron zu folgen (GTR 5152–5161, 5782–5811). Mit den Veränderungen des persönlichen Status‘ Tristans geht ein ebenso rascher Wechsel der Hierarchien am Hof von Cornwall einher: Als Kaufmannssohn ist Tristan den Baronen unterlegen; als Favorit des Königs genießt er Anerkennung und Bewunderung (GTR 3745–3750); als hêrre (GTR 5286) Parmeniens verfügt er schon über einen den Baronen überlegenen Adelstitel,130 bis er schließlich durch Markes Erbfolgeregelung ihr zukünftiger Herrscher wird und sie aus dieser Position heraus ihrer Feigheit im Widerstand gegen Morold wegen tadelt (GTR 6063–6134). Tristan durchbricht auf diese Weise die Ordnung des Ständesystems. Seine gesellschaftliche Position wird aus der Perspektive der Außenstehenden ständig neu bestimmt. Status und Rang klaffen zunächst auseinander und lassen sich erst am Schluss in Einklang bringen.131 Wie die Hofgesellschaft die Veränderungen der höfischen Hierarchien wahrnimmt, bleibt zunächst im Dunkeln. Die für die Identitätsdiskussion bei Gottfried zentralen Verse, in denen Rual Tristan seine Herkunft offenbart, Tristan seinen vaterwân (GTR 4372) verliert und Marke sich als Ersatzvater Tristans anbietet, werden in Form eines Gesprächs zwischen Tristan, Rual und Marke erzählt. Der Hof spielt dabei eine das Geschehen zwischen den Dreien bekräftigende und legitimierende Rolle: Er rätselt mit Marke über Tristans Identität (GTR 41654–170), vollzieht die Liebesgeschichte von Tristans Eltern mitleidend nach (GTR 4218 ff. u. GTR 4264 f.), lobt Über Tristans Vater, den Herrscher Parmeniens, heißt es, er sei an gebürte künege genôz,/ an lande vürsten ebengrôz (GTR 249 f.). Die Barone sind hingegen lediglich Vasallen Markes. Vgl. zum ständigen Wechsel von Tristans Status: WENZEL, Horst: Negation und Doppelung, S. 238.
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die Vasallentreue Ruals (GTR 4280–4282) und unterstützt Marke in seinem Drängen auf die Ritterschaft Tristans (GTR 4399–4401). Nirgends wird der Umbruch der höfischen Hierarchien von der Hofgesellschaft reflektiert oder gar Tristans neue Position kritisiert. Vielmehr wirkt die Hofgesellschaft, wie Elke KOCH in ihrer Studie zur Trauer gezeigt hat, durch den Nachvollzug von Ruals Trauer über den Tod von Riwalin und Blanscheflur an der Rehabilitation der Eltern Tristans und damit auch an der dynastischen Reintegration Tristans mit.132 Erst als Tristan, den man tot geglaubt hatte, geheilt und mit neuem Ruhm aus Irland zurückkehrt, wendet sich mit den Fürsten ein Teil der Hofgesellschaft gegen ihn. Vor dem Hintergrund der stetigen Veränderung von Tristans Status lässt sich der Neid der Barone auf Tristans Ansehen am Hof nicht allein als Eingriff einer äußeren Macht verstehen. Dass die Barone trotz Markes rechtlich bindender Herrschaftsübertragung133 die Erbfolge diskutieren, zeigt darüber hinaus, dass sich Status und Rang in der Außenwahrnehmung Tristans nach wie vor nicht bruchlos ineinander fügen. Der Vorschlag der Barone an Marke, sich zu verheiraten und auf diese Weise einen Erben zu zeugen (GTR 8350–8357), verweist auf Tristans formale Mängel als Thronfolger: Nicht nur ist Tristan im Gegensatz zu dem anvisierten Thronfolger nicht das Kind Markes, sondern einer weiblichen Nebenlinie, sein Erbrecht ist durch die fehlende Heirat seiner Eltern zum Zeitpunkt seiner Zeugung bei Gottfried auch strittig.134 Der neidische Vorschlag kehrt folglich heraus, dass Tristans Position am Hof nicht gefestigt ist. Im Nachhinein wird Kritik an Tristans Status am Hof geübt, seine Thronfolge als verhandelbar begriffen. Die unverhoffte Wiederkehr stellt in einem vom Prinzip der Wiederholung geprägten Text folglich den Anlass dar, Tristans genealogische Identität noch einmal neu und wie in der Rual-Episode wiederum über den Einsatz von Emotionen zu perspektivieren und zu reflektieren. Wie die Emotion des Neides anzeigt, haben nun umgekehrt die Fürsten Probleme mit Tristans sozialer Identität. Dass Tristans
KOCH, Trauer und Identität, S. 252–255. Marke fordert Tristan nach seiner Ankündigung, für ihn der „erbevâter“ (GTR 4301) sein zu wollen, zum Friedenskuss auf. Er verstärkt seine Aussage so durch ein Ritual, das rechtlich bindende Wirkung hatte. Vgl. GREULICH, Markus: Waz hân wir zuo gesinde? Vom Erscheinen Tristans in Gottfrieds von Strassburg Tristan. In: Héros épique et héros romanesque au Moyen Âge. Actes du Colloque d’ Amiens. Hrsg. von Peter Hvilshøj ANDERSEN/Danielle BUSCHINGER, Amiens 2004, S. 12–21, hier S. 16. Dass sein Erbrecht durch die Umstände seiner Geburt strittig ist, wird bei Gottfried im Gegensatz zu Eilhart eingehend thematisiert und problematisiert. Der Widersacher seines Vaters, Morgan, wirft Tristan vor, unehelich geboren zu sein und spricht ihm das Recht auf das Lehen Parmenien ab (GTR 5397–5413).
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Status als Thronfolger trotz des Erbfolgeversprechens überhaupt zur Debatte steht, offenbart, dass die Hierarchien am Hof unsicher geworden sind. Wer welche Position am Hof innehat, ist nicht mehr durch die Tradition vorbestimmt. In Tristan tut sich ein Aufsteiger als Bester im höfischen Wettbewerb hervor,135 bei dem Rang und Status für den außenstehenden Beobachter lange auseinanderfallen. Das, was in der Forschung als Identitätsproblem Tristans beschrieben wird, kann man aus der Perspektive von Markes Hof so auch als Krise höfischer Hierarchien lesen. Durch die komplizierte Lebensgeschichte von Tristans Eltern existiert zum einen kein klarer Übergang von einer Generation zur nächsten, die genealogische Ordnung ist gestört und muss – wie Gottfrieds Erzählung im Gegensatz zu Eilharts deutlich macht ̶ erst performativ wiederhergestellt werden. Zum anderen verfügt Tristan durch seine Fähigkeiten innerhalb der höfischen Hierarchien über eine Mobilität, die keiner anderen Figur zugestanden wird. Wo alternative Identitäten wie die des Thronfolgers Parmeniens denkbar sind, wo Positionen am Hof ständig wechseln, da werden einfache Vorstellungen über das Verhältnis von durch die Geburt festgelegtem Status und dem diesen repräsentierenden, aktualisierenden Rang verunsichert. Der Neid der Hofgesellschaft verweist so auf die Krise eines Hofs, in der das Aushandeln von Rang, das nach Harald HAFERLAND als Teil der agonal strukturierten höfischen Gesellschaft immer mitgedacht werden muss,136 ins Extrem geführt wird: Tristans Position im höfischen Gefüge erscheint erst radikal veränder- und dann im gleichen Maße verhandelbar. Der kollektive Neid der Barone lässt sich dementsprechend als Folge der Brüche lesen, die Tristan als Ausnahmefigur der höfischen Ordnung zufügt. Die Emotion macht die vorher verborgene Störung der gesellschaftlichen Hierarchien als Dissoziation der Gesellschaft sichtbar.
5.4.5 Exzeptionalität ohne Neid? Muss sich, damit der Konflikt zwischen ihm und der Hofgesellschaft an ein Ende kommen kann, Tristan dementsprechend wieder in die Hofgemeinschaft einordnen? Diese Frage stellt sich bei Gottfried im Anschluss an die Entdeckung des Neids. Im Unterschied zu Walter Map wird die Bedrohung des Besten durch die kollektive Emotion nicht allein auf Handlungsebene ausagiert, sondern auf Figurenebene reflektiert, sodass der richtige Umgang mit Neid bei Gottfried das erste Mal selbst zum Thema wird. Das Gespräch zwischen Tristan und Marke ermöglicht einen Blick darauf, welche der mit Gruppenneid verbundenen Diskurse in
Vgl. zum Neid als Folge von Tristans Aufstieg: HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 87. Vgl. den Forschungsüberblick im Kapitel 3.2.
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der Entscheidung für die Brautfahrt zum Tragen kommen und wie diese miteinander im Text verbunden und gewichtet werden. In der Diskussion zwischen Marke und Tristan stehen sich – hierin besteht die Besonderheit der Textstelle – zwei Perspektiven auf die Folgen des Neids gegenüber. Marke entwirft wie Map in De Rege Portigalensi das Bild einer Neidgesellschaft als Normalfall. Anders als bei Map wird diese Beobachtung jedoch positiv gewendet. In der durch Neid erzeugten Isolation von der Gruppe spiegele sich Tristans Überlegenheit. Tristan hingegen betont die Macht der Neider. Sie seien es, die die Handlungsgewalt hätten, da sie ihn mit dem Tod bedrohten (GTR 8379–8385, GTR 8426–8432). Er entwirft so eine alternative Interpretation des neidischen Dreiecks, die den Neidern die Handlungsgewalt in die Hand legt und die destruktive Macht des kollektiven Neids betont. Im Anklang an den in Hofpolemiken klassisch gewordenen Rat für die Tugendhaften Exeat aula, ‚Fliehe den Hof‘, aus Lucans Bellum civile137 erscheint für Tristan ein Leben in der neidischen Atmosphäre des Hofs unmöglich. Er will von dem hove varn. (GTR 8425) Wie Stephen JAEGER in seinen wegweisenden Arbeiten zur Sozial- und Diskursgeschichte des Tristan herausgearbeitet hat, legt Gottfried Tristan hier Argumente der klerikalen Hofkritik in den Mund.138 In der Rede des königlichen Favoriten finden sich die Erfahrungen der persönlichen Gefährdung, der Ränkespiele, der üblen Nachrede und der Doppelgesichtigkeit am Hof wieder, von denen unter anderem Petrus’ von Blois berühmte Epistola 14, Johannes’ von Salisbury Policraticus und auch Walter Maps De nugis curialium berichten.139 Marke wiederum greift – wie bereits ausgeführt – auf die im Anschluss an Ovid im zeitgenössischen intellektuellen Diskurs beliebte Interpretation der invidia als Zei-
Lucan: De bello civili 8, 493–94. Text und Übersetzung zit. n. Lucanus, Marcus Annaeus: De bello civili. Der Bürgerkrieg. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Georg LUCK, Stuttgart 2009, S. 446–449. Diese Worte, die als Leitspruch der Hofkritik immer wieder zitiert wurden, sind Opfer eines rezeptionsgeschichtlichen Missverständnisses. Der Kontext des Rates, der auf zynische Weise den hilfesuchenden Pompeius verhöhnt und in der römischen Kultur gerade keinen für einen ehrbaren Mann gangbaren Weg darstellt, wurde in seinen mittelalterlichen Adaptionen zumeist ausgeblendet. Vgl. JAEGER, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 101–103. Vgl. JAEGERs Tristananalysen in: JAEGER, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 146–157 u. JAEGER, C. Stephen: The Baronʼs Intrigue in Gottfriedʼs Tristan. In: The Journal of English and Germanic Philology 81,1 (1984), S. 46–66, hier S. 56–66. Stephen JAEGER hebt insbesondere die Parallelen zur berühmten Epistola 14 des Pierre de Blois hervor. In dieser beschreibt der vom Hof Heinrich II. geflohene Kleriker das ehrgeizgetriebene und auf Schmeicheleien angewiesene Leben am Hof als Tod der Seele. In seinem Brief warnt er die ehemaligen Gefährten vor den Intrigen am Hof und betont, dass der Kleriker am Hof ständig in Lebensgefahr schwebe. Vgl. zur Epistola 14 und den Argumentationsmustern der Hofkritiker im Allgemeinen: JAEGER, Stephen: Die Entstehung höfischer Kultur, S. 88–104.
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chen der virtus des Beneideten zurück. Beide Redetraditionen weisen dem Neid unterschiedliche Funktionen zu: Einmal wird Neid als integraler Teil der Gesellschaftsordnung geduldet, er unterstreicht und bekräftigt die rechtmäßige Rangordnung. Sodann ist Neid dasjenige, was unbedingt ausgeschlossen und verhindert werden muss. Mit der Entscheidung für die Brautfahrt scheint es zunächst, als dominiere bei Gottfried wie schon bei Map der hofkritische Diskurs in Bezug auf Neid: Anders als bei Eilhart und in allen anderen Versionen des Tristan-Stoffs ist die Brautfahrt bei Gottfried durch Furcht motiviert.140 Aus Angst vor den Neidern verzichtet der Beste des angevinischen Hofs auf die Thronfolge und verlässt den Hof – wenn auch nur zwischenzeitlich – , um zu überleben. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Interpretation jedoch als inkonsistent: Interessanterweise verlässt Tristan zwar den Hof, nicht aber die Neider. Indem sich Tristan dafür entscheidet, in Irland gemeinsam mit den Baronen um Isolde zu werben, wird eine Situation geschaffen, in der die Neidobjekte êre und werdekeit ihre Relevanz verlieren und Neider und Beneideter durch die äußere Bedrohung aneinander gebunden werden. Auf diese Weise kommt es zu einer Neustruktuierung der Gruppe. – Tristan steht nun zusammen mit dem Hofrat den potentiell gefährlichen Iren gegenüber: ‚hêrre, zewâre diz muoz wesen./ suln si sterben oder genesen,/ daz muoz ouch mir mit in geschehen [...].‘ (GTR 8561–8563) Auf die Genialität dieses auf die Neider zielenden Plans Tristans hat bereits JAEGER hingewiesen: Their urge to kill him is transformed into the urge to preserve him; their own survival now depends on his. Now it is the turn of the barons to taste „vil michel angest unde not“ (V. 8637). Here there is a lucid dramatic structure, based on the ironic reversal in the economy of fear inspired and fear suffered.141
Deutet JAEGER die Machtverschiebung zwischen Neider und Beneideten hier von den Emotionslogiken her, lässt sich diese jedoch auch im Kontext der Neiddiskurse verstehen: Trotz des Verzichts auf die Thronfolge hat die Brautfahrt keine allgemeine Einebnung von Hierarchien zur Folge. Überraschenderweise erscheint der Vergleich explizit sprachlich ausformuliert dort, wo der Neid bekämpft werden soll. Tristan begründet sein Einverständnis in den Vorschlag, ihn als Führer der Brautwerbungsgruppe nach Irland zu entsenden, mit seiner Überlegenheit über andere:
Vgl. JAEGER, The Baronʼs Intrigue, S. 47. Ebenda, S. 48.
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[...] ez ware wol gevüege, swâ iuch der muot zuo trüege, griffe ich es beltlîcher an und bereiter danne ein ander man. und ist ouch reht, daz ich ez tuo. herre, ich bin harte guot dar zuo. [...] (GTR 8547–8552)
Mittels der Komparative beltlîcher und bereiter betont Tristan seine einzigartigen Kämpferqualitäten. Er muss sich nun trotz seiner herausgehobenen Position nicht mehr vor Neidern fürchten. Dadurch, dass die Barone auf seine Führung angewiesen sind, ruft seine Größe keine Aggressionen bei ihnen mehr hervor. Am Ende zahlreicher Umgruppierungen des Hofpersonals steht mit Tristans Aufbruch nach Irland somit eine Rangordnung, die den höfischen Neid hinter sich gelassen hat, ohne dass Tristan seine Exzeptionalität aufgeben und sich in die Gruppe der Magnaten einordnen muss. Damit entscheidet sich Tristan für keine der von ihm und Marke diskutierten Umgangsformen mit Neid. Anders als in der hofkritischen Exempelliteratur, in der die Auswirkungen des kollektiven Neids am Hof gezeigt und im Epimythion beklagt werden, findet der Protagonist im höfischen Roman Gottfrieds erstmals eine Lösung für das Problem. Für den mit der Hofkritik vertrauten Leser/Hörer wird Tristans Status als Ausnahmetalent auf diese Weise erneut bekräftigt. Der mit Neid bei Gottfried verbundene Exzeptionalitätsdiskurs wird auch durch Tristans Sieg über die Neider fortgeführt. Die Art und Weise, wie die neue Ordnung bei Gottfried strukturiert ist, weist diese jedoch – anders als in FREUDs Gruppenneidmodell – als fragil aus: Nicht nur fällt Marke als derjenige, der Gunst und Rang verteilt, aus ihr heraus, sie ist auch fernab des Hofes angesiedelt, also des Ortes, der durch die Hofkritik als Ort definiert wurde, an dem Neid und Missgunst und Intrigen herrschen. Der neidfreie Raum erweist sich – und hierin lassen sich auch im Tristan Gottfrieds erneut hofkritische Ankläge finden – als der nicht-höfische Raum. Tristan kann seine Exzeptionalität nur so lange ohne Neid unter Beweis stellen, wie er nicht am Hof ist.
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5.5 Schlaglichter auf einen Hof in Aufruhr – Gruppenneid zwischen Hofkritik und Herrschaftsverteidigung Caeterum detractores et invidos sic in curia videbis abundare, ac si in eam, quasi totius orbis sentinam, confluxerint. Übrigens wirst du die Verleumder und Neider am Hof in einem solchen Überfluss vorfinden, als flössen sie dort wie die Abwässer der ganzen Gegend zusammen.142
Ausgehend von der Performanz- und Ritualtheorie wurde in der mediävistischen Emotionsforschung eindrücklich beschrieben, dass Emotionen selbst zur Vergemeinschaftung beitragen, dass sich auf der Basis von Emotionen Kollektive bilden und stabilisieren.143 Die drei hier analysierten Texte wählen jedoch bis auf eine Ausnahme andere Wege, um zu plausibilisieren, dass die Neider als Gruppe auftreten. De Rege Portigalensi von Walter Map beginnt mit einer Situation kollektiver Zurücksetzung: Der König Portugals zieht einen jungen Kämpfer der Gruppe der Magnaten des Hofes vor, worauf diese ohne Ausnahme gleich reagieren. Sie deuten den Gewinn des Aufsteigers als Beraubung, sie interpretieren höfische Ordnung im Rahmen einer ökonomischen Verrechnungslogik. Der sich in der Geschichte so fatal auswirkende furor invidiae wird so als Produkt eines falschen Denkens sichtbar gemacht, welches das Kollektiv als Ganzes prägt und aus ehrwürdigen curie magnates im Text proditores macht. Wird die kollektive Aggression hier fast schon psychologisch aus der Situation und aus dem Denken der Gruppe abgeleitet, beschreibt Gottfried Neid in Tradition der Sünden- und Moraltraktate als Einwirken einer äußeren, dämonengleichen Macht auf die Gruppe. Die für die Emotion verwandte Personifikation diu veige unmüezekeit, der verwâzene nît erweist sich hier als mehr als bloßes Stilmittel. Sie zeigt Neid als Kraft, die fähig ist, in Kollektive einzugreifen und die Emotionen der Tristan zugetanen herren von einem Augenblick zum anderen von kollektiver Faszination in kollektiven Hass zu verkehren. Eilhart von Oberg, der in seinem Tristrant gleich zwei Mal vom Entstehen des Gruppenneids erzählt, wählt unter den drei Autoren das einfachste Beschreibungsmodell. Er leitet den Gruppenneid der maugen kausal aus feststehenden Gruppenidentitäten und Interessen ab. Sie wollen die Thron-
John of Salisbury: Policraticus VII, 24. Text und Übersetzung zit. n. Ioannis Saresberiensis Opera Omnia, Bd. 4, S. 191. John of Salisbury reformuliert in dieser Textstelle Sallust, Cat. xxxvii. 5, der vom verderblichen Einfluss der Neider auf die civitas berichtet. Die Übersetzung stammt von mir, E. L. Vgl. zur vergemeinschaftenden Funktion von Emotionen die Ausführungen Elke KOCHs zur Identifikation stiftenden Rolle der Trauer unter Verwandten in: KOCH, Trauer und Identität, hier insbesondere S. 135–144 u. S. 249–258.
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folge eines der ihren verhindern. Als sie mit ihrem Plan scheitern, stellt sich bei ihnen automatisch Neid ein. Gruppenneid wird so zwar rationalisiert, dem Rezipienten jedoch kein Einblick in seine Entstehung gewährt. Trotz dieser Differenzen fügen sich die drei Texte zu einem einheitlichen Bild des Gruppenneids. Neid verbreitet sich in ihnen nicht gemäß einer Logik der Ansteckung allmählich. In erstaunlicher Einmütigkeit schildern die Texte, wie Neid ganze Statusgruppen der höfischen Hierarchie erfasst. Erzählt wird von der Emotion so nicht mehr als einer Rivalität Einzelner, die Distinktionsemotion rückt die Verfasstheit des Hofes in Gänze in den Blick. Gruppenneid wird als Konflikt inszeniert, der das Sozialwesen spaltet und in Gefahr bringt. Die Bedeutung, die die Texte der geschilderten Entgegensetzung von Hof und Protagonist verleihen, erweist sich in den Texten zwar nicht auf den ersten, aber auf den zweiten Blick als vielschichtig. Der Neid der Vielen auf den Aufsteiger ist zum einen Anlass der Bewertung und Einordnung der Figuren. In den Texten wird sowohl die Identität der Neider als auch die des Beneideten in ähnlicher Weise durch die von der Emotion hergestellte Relation zueinander definiert, sodass man von einem Topos höfischen Neids sprechen kann. In Gottfrieds Tristan entwickelt Marke aus der antiken Verknüpfung von invidia und virtus eine abstrakte Theorie des Neids. Er versieht den Gruppenneid mit einer Semantik, die nît jeweils auf die wirde des Beneideten verweisen lässt, die den Neid der Vielen als Zeichen der Größe des Einen versteht. Bei Eilhart markiert der Gruppenneid der graven und hertzogen umgekehrt die Mängel der Neider. Da diese in ihrer Missgunst nicht selbst nach dem vrumikeit und ere streben, unterlegt der Erzähler dem Gruppenneid ein binäres Gut-Böse-Schema. Er deutet die kollektive Emotion als feststehendes Verhältnis der zagen zu dem vrumen, der boesen zu dem guoten. Mit diesen Deutungsangeboten präzisieren Figurengespräch und Erzählexkurs eine Eigenschaft des Gruppenneids, die auf der Handlungsebene bereits angelegt ist. Die Texte erzählen nicht vom Neid auf einen Emporkömmling, sondern von der Bedrohung und Angst der biderben am Hof: Fällt bei Walter Map derjenige dem Gruppenneid zum Opfer, der im vorangegangenen Krieg das Land vor den äußeren Feinden gerettet hat, so fürchtet bei Gottfried und Eilhart derjenige um sein Leben, der die für Cornwall schandhafte Tributforderung im Zweikampf gegen Morold abgewendet hat. Im Einklang mit dem bekannten Motiv, dass Neid immer die Besten am Hof trifft, gewinnt die Kritik am Gruppenneid auf diese Weise eine hofkritische Dimension.144 Wenn Tristan aus Furcht vor der Übermacht der vielen Neider von dem hove varn (GTR 8425) will, spiegelt sich für den Rezipienten in seinem Vorhaben
Vgl. wiederum: JAEGER, The Court Criticism of MHG Didactic Poets, S. 401.
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der aus der klerikalen Hofkritik bekannte Rat Exeat aula. Wird der Hof bei Gottfried so als Ort des Neides skizziert, bindet Walter Map den Hof und die negative Emotion noch enger aneinander. Als mater iram et afflicionem nutrix bringt der Hof – wie der Erzähler im Epimythion des Exempels expliziert – selbst die für Neid typischen negativen Gefühle hervor. Die von der Hofkritik immer wieder kritisierten Dissimulationen und Intrigen der Neider werden in ihren schlimmsten Folgen imaginiert: Der auf die Einflüsterungen der Magnaten hörende König tötet neben seinem tapfersten Kämpfer die schwangere Herrscherin und einen möglichen Thronfolger. Blickt man auf diese Folgen des Neids für die höfische Ordnung, dann muss die anfänglich geäußerte These noch einmal erweitert und präzisiert werden. Über das Erzählen vom Gruppenneid werden nicht nur der Aufsteiger und seine Gegner, sondern auch die zeitgenössische höfische Realität und nicht zuletzt der Herrscher bewertet. Die literarischen Texte – insbesondere De Rege Portigalensi – nähern sich auf diese Weise der ‚politischen Theorie‘ ihrer Zeit an. Die durch Neid erzeugten Missstände am Hof, die Johannes von Salisbury und Vinzenz de Beauvais analysieren und kritisieren, werden in den Narrationen mit Leben gefüllt und konkret greifbar. Das Entstehen des Gruppenneids kann zum anderen aber auch als Verweis auf Probleme in den Hierarchien der Höfe und damit im Hinblick auf seine Ursachen gelesen werden. Der Soziologe Sighard NECKEL hat kollektiven Neid als Phänomen von Gesellschaften ohne klare Hierarchien beschrieben. Große soziale Distanz lasse den auf Ähnlichkeiten beruhenden „Neid ebensowenig entstehen wie die legitime Zuordnung verschiedener Personen und Klassen zu unterschiedlichen Anspruchskategorien.“145 Diese Annahme ist – wie anfangs gezeigt wurde – als historisches Verlaufsmodell fragwürdig.146 Sie lenkt jedoch den Blick auf ein wichtiges Charakteristikum des Erzählens vom Gruppenneid. Mehr noch als der Neid eines Einzelnen kann kollektiver Neid herausstellen, dass Hierarchien unsicher geworden sind; verglichen wird, wo der Vergleich mit dem Anderen ursprünglich nicht vorgesehen war und Legitimationsmodelle der Über- und Unterordnung nicht mehr oder noch nicht funktionieren. In Eilharts Tristrant wird Neid auf diese Weise in Diskussionen um die Legitimität der irregulären Thronfolgeregelung eingebunden. Der Gruppenneid der maugen hat zwei Seiten. In ihrem Widerwillen gegen das Heraustreten des Statusgleichen aus der Gruppe der Verwandten, problematisieren die Neider zugleich
NECKEL, Sighard: Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle. In: NESighard. Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt, New York 2000, S. 116. Zum Ausbleiben von Neid in einer anhand fester Gruppen geordneten Gesellschaft vgl. auch: RAWLS, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 582. Vgl. die Diskussion des Narrativs von Neid als ‚moderner Emotion‘ in der Vorbemerkung. CKEL,
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Tristrants neue Identität als Thronfolger. Das missgünstige Insistieren auf der Gleichheit der Gruppe der Verwandten lässt sich derart auch als Form der sozialen Kontrolle des Günstlings, als Eintreten für die genealogische Ordnung und die Unversehrtheit des Herrscherhauses verstehen. Eilharts Tristrant steht mit dieser Darstellung kollektiven Neidens modernen Debatten über soziale Gleichheit von den untersuchten Texten am nächsten. Anders als in den Reflektionen von RAWLS und GREEN über den gerechten Neid wird die soziale Gleichheit jedoch nicht im Namen der (Verteilungs-)gerechtigkeit eingefordert, vielmehr dient sie bei Eilhart der Verteidigung etablierter Hierachien. Das Beispiel der maugen zeigt, dass Neid als immanent soziale Emotion trotz gleicher Struktur und Ausrichtung je nach Gesellschaftsform unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen erhält. Zusammengefasst lassen sich in der Darstellung des Gruppenneids im dreizehnten Jahrhundert folglich zwei konkurrierende Deutungstraditionen ausmachen: Paradoxerweise kann kollektiver Neid sowohl dazu genutzt werden, hofkritische als auch die Ordnung des Hofes konservierende Anliegen zu formulieren. Fokussieren Walter Map und Eilhart in ihren Schilderungen des Gruppenneides jeweils eine der beiden alternativen Ausdeutungen stärker, so stehen diese bei Gottfried weitgehend gleichberechtigt nebeneinander. Hier rückt die Frage, wie der exzeptionelle Protagonist in Relation zur Hofgesellschaft einzuordnen ist, thematisch ins Zentrum. Entsprechend Markes Ausdeutung verweist der Gruppenneid der Barone darauf, dass der Beste am Hof nie lange vor Verfolgung sicher sein kann. Die Emotionsregie des Textes legt hingegen noch ein anderes Verständnis des Gruppenneids nahe: Tristans Exzeptionalität wird durch den Wandel der Einstellungen der Hofgesellschaft gegenüber Tristan von Bewunderung zu Neid problematisiert. Die Ambivalenz des Textes verstärkt sich dadurch, dass der Neid der Barone an dieser Stelle nicht nur auf Tristans Aufstiegsgeschichte zurückverweist. Er lässt sich – wie das erneute Auftauchen eines neidischen Barons nach Tristans Rückkehr von der Brautfahrt147 zeigt – auch im Kontext der Liebe Tristans zu Isolde lesen, die die sozialen Hierarchien in noch radikalerer Weise herausfordert: Wenn dem Besten am Hof die schönste Frau zukommt, dann kann sich auch der König seiner Frau nicht sicher sein.148 Welche Rolle die Emotion Neid konkret im Kontext der Minnefeindschaft spielt, wird das folgende Kapitel zur Figur des ‚neidischen Minnefeinds‘ untersuchen.
Die beiden Neidsituationen werden auf doppelte Weise – sowohl über die Figur des Neiders wie über ihren strukturellen Ort in der Erzählung – aufeinander bezogen: Zum einen gehört Marjodô als edeler barûn (GTR 13462) vom Status her der Gruppe am Hof an, die Tristan schon zuvor beneidet hat, den lanthêrren (GTR 8380), an deren Spitze die Barone stehen (GTR 8591). Zum anderen tritt der Neid Marjodôs wiederum kurz nach der Rückkehr Tristans aus Irland auf. Für den Hinweis auf diese Funktion des Neids danke ich Ingrid KASTEN.
6 Neidische Minnefeinde 6.1 Das Motiv der neidischen Minnefeinde ich muoz leider unde sol durch der liute nîden dich ze sehene mîden1
Im Minnesang ist nît die Emotion des Dritten, der sich zwischen den Ritter und seine Dame stellt. Im Wechselspiel oder auch im Verbund mit dem merkaere und der huote stellt der nîdaere eine Figur dar, die das Liebesverhältnis überwacht und stört. Als Merkmale des neidischen Minnefeinds werden in der einschlägigen Studie Winfried HOFMANNs drei Tätigkeiten aufgeführt: Der nîdaere nimmt das Liebesverhältnis wahr, er spricht darüber und er versucht, die Bindung aufzulösen.2 HOFMANN identifiziert diese Konstellation nicht nur im Minnesang. Die Situation, von der Ruodolf von Rotenburc in Form der Minneklage berichtet, wandelt sich in der Langform der höfischen Epik zum handlungstragenden und -antreibenden Konflikt. In Eilharts Tristan (um 1170) leitet Antret als Anführer der neidischen Barone und Grafen Überwachungsmaßnahmen gegenüber Tristan und Isolde ein. In Gottfrieds Tristan (um 1210) ist es der nîdege Marjodô (TR 13637), der König Marke das erste Mal auf die Liebesbeziehung seines Neffen zu seiner Ehefrau aufmerksam macht und zusammen mit dem Zwerg Melot wiederholt versucht, das Verhältnis nachzuweisen.3 Wie Wolfgang ACHNITZ dargelegt hat, thematisiert auch der mehr als 80 Jahre später entstandene Minne- und Abenteuerroman Reinfried von Braunschweig4 (Ende des dreizehnten Jahrhunderts) nît im Kontext der Minnefeindschaft.5 Hier wird die Figur des Dritten erst über das Sehen, die Wahrnehmung des Minnepaars, in den Text eingeführt. Der oberste rât am Hof des Königs von Dänemark beobachtet, wie der Protagonist und die Königstochter Yrkane einen vor den Augen
Ruodolf von Rotenburc: LD XI, V. 4,5–7. Zit. n. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl KRAUS. Zweite Auflage durchgesehen von Gisela KORNRUMPF, Bd. 1, Tübingen 1978, S. 387. Vgl. HOFMANN, Winfried: Die Minnefeinde in der deutschen Liebesdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. Eine begriffsgeschichtliche und sozialliterarische Untersuchung, Coburg 1974, S. 1 u. S. 27. Vgl. HOFMANNs Analysen beider Figuren als neidische Minnefeinde. Vgl. ebenda, S. 36–50. Der Analyse liegt die folgende Textausgabe zugrunde: Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. von Karl BARTSCH, Tübingen 1871 (Bibliothek des literarischen Vereins 59). Auf den Reinfried wird mit der Sigle ‚R‘ verwiesen. Vgl. ACHNITZ, Wolfgang: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ‚Reinfried von Braunschweigʻ und im ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002, S. 73–74. https://doi.org/10.1515/9783111202105-007
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6 Neidische Minnefeinde
der höfischen Öffentlichkeit geschützten Ort nacheinander verlassen und reagiert sowohl mit arcwân (R 4028) als auch mit verbunst (R 4057). Obwohl mit den hier beschriebenen Neidsituationen andere Begehrensobjekte verbunden und die sozialen Relationen daher nicht direkt mit den zuvor analysierten Konstellationen vergleichbar sind, wird Neid wiederum genutzt, um die höfische Ordnung zu reflektieren. Wie an den drei Texten deutlich wird, tritt der nîdege bzw. der verbunstige Minnefeind an Stellen auf, in denen gegen die gesellschaftlichen Normen verstoßen wird.6 Tristans/Tristrants und Isoldes/Isaldes Liebe steht die eheliche Bindung Isoldes/Isaldes und Markes gegenüber; der nach dem Prinzip der hohen Minne gestaltete Dienst Reinfrieds für Yrkane ist ein heimlicher und kommt zunächst ohne Eheschließung aus. Ingrid KASTEN fasst die gesellschaftliche Funktion des Minnefeinds folgendermaßen zusammen: „Die Liebesfeinde [...] erscheinen als Repräsentanten der Sitte und Moral, gegen die Mann und Frau gleichermaßen, jedenfalls zunächst noch, ihren Anspruch auf ‚freie Liebe‘ verteidigen.“7 Die Figur des Minnefeinds ist insofern ambivalent. In narrativen Texten hängt ihre Bewertung sowohl von der über die Fokalisierung eingenommenen Figurenperspektive wie auch von der jeweiligen Ausgestaltung der Minnefeindschaft ab. Beschreibt der Erzähler diese als huote,8 betont er stärker den beschützenden und ordnungsbewahrenden Charakter der Überwachung des Minnepaars.9 Der merkaere hingegen ist von seiner Semantik als ‚Aufpasser‘ we-
Vgl. CAIN VAN DʼELDEN, Stephanie: The Dark Figures of Minnesang. The ‚merkaere‘ and the ‚huote‘. In: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Hrsg. von Edward R. HAYMES/Stephanie CAIN VAN D’ELDEN, Göppingen 1986, S. 66–88, hier S. 71. KASTEN, Ingrid: Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts, Heidelberg 1986 (Germanisch-Romanische Monatsschrift Beiheft 5), S. 225. Siehe mit Bezug auf die sozialen Realitäten auch CAIN VAN DʼELDEN, The Dark Figures of Minnesang, S. 71: „In the love lyric, for example, it is possible that the dark figures represent the proper order, the order that holds society together, for one of their duties is to protect unmarried girls and to prevent married women from entering adulterous relationships.“ In LEXERs Mittelhochdeutschem Handwörterbuch wird huote als ‚schaden verhindernde aufsicht und vorsicht, bewachung, behütung, fürsorge‘ übersetzt. Vgl. LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023]. Winfried HOFMANN betont dementsprechend die positive Grundbedeutung der huote. Soll diese negativiert werden, dann muss der Erzähler dies eigens begründen. Vgl. HOFMANN, Die Minnefeinde, S. 153.
6.1 Das Motiv der neidischen Minnefeinde
209
niger genau bestimmt.10 Am interessantesten ist im Spannungsfeld der Ordnungen der hier diskutierte Sonderfall des nît. Es stellt sich die Frage, wie sich die Ordnungsfunktion des Minnefeinds wandelt, wenn dieser primär über eine (negative) Emotion definiert wird. Hierauf findet sich in den vorliegenden Forschungen keine Antwort. Die bisher ausführlichsten Arbeiten von HOFMANN und CAIN VAN D’ ELDEN bemühen sich zwar um eine differenzierte Beschreibung der Minnefeinde und diskutieren Unterschiede auf der Ebene der Wertungen. Beide analysieren nît jedoch nicht unter dem Fokus der Emotionsdarstellung: Winfried HOFMANN siedelt die nîdaere auf gleicher Ebene wie die huote und die merkaere an. Es handelt sich für ihn um „Begriffe“, deren Bedeutungsgehalt über semantische Kontextanalysen zu klären ist.11 Stephanie CAIN VAN DʼELDEN hingegen wählt eine funktionale Perspektive, für sie beschränkt sich die Rolle von nît auf seine Auswirkungen für die Liebenden.12 Aufgrund der gewählten Beschreibungsmodelle bleiben beide Studien im Großen und Ganzen blind dafür, dass der Neider dem Minnepaar nicht nur als Störenfried gegenübertritt, sondern über seine Emotion eine eigenständige Relation zu dem Liebespaar entwickelt. Um zu klären, inwieweit sich die Interpretationen des neidischen Minnefeinds verändern, wenn nît und verbunst explizit als soziale Emotionen in den Blick genommen werden, werden in diesem Kapitel die beiden ersten mittelhochdeutschen Tristan-Romane und der Reinfried von Braunschweig einer Relektüre unterworfen. Die Einzeltext-Analysen sollen herausarbeiten, welche unterschiedlichen Konfigurationen von Minnefeind und Liebespaar über nît und verbunst erzählt werden. Dabei bleibt die Frage nach den konfligierenden Ordnungen virulent: Je nachdem, ob der nidaere/der verbunstige sich mit dem männlichen Partner des Minnepaars vergleicht oder ob er ihn nachahmen und ersetzen will, je nachdem, ob sich die emotionale Konstellation auf den Beobachter und die Liebenden beschränkt oder ob weitere Personen hinzukommen, treten die Ordnung des Minnepaars und die vom Minnefeind repräsentierte gesellschaftliche Ordnung in ein anderes Verhältnis zueinander. Eine Besonderheit dieser über nît und verbunst gestalteten Beziehungen besteht darin, dass im Mittelhochdeutschen – wie anfangs erläutert – zumeist
Merkaere. In: LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerter buchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023]. HOFMANN, Die Minnefeinde, S. 5. Vgl. CAIN VAN DʼELDEN, The Dark Figures of Minnesang, S. 75–77. Noch radikaler verfolgt diesen Ansatz Ann TRINDADE in ihrer strukturalistischen Analyse der Feinde Tristans. Sie analysiert die Minnefeinde der verschiedenen Fassungen des Tristranstoffes als Aktanten mit narrativen Funktionen in der Tiefenstruktur des Textes. Vgl. TRINDADE, The Enemies of Tristan, S. 6–21.
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6 Neidische Minnefeinde
nicht terminologisch und konzeptionell zwischen ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘ differenziert wird.13 Wenn, wie in Gottfrieds Tristan und im Reinfried von Braunschweig, eine Figur die Position des ‚Neidobjekts‘ in der triangulären Neidrelation einnimmt, verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was wir modern ‚Neid‘ und dem, was wir ‚Eifersucht‘ nennen.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote In Eilharts Tristrant und Isalde wird der Neid zum Gesprächsthema zwischen den Liebenden. Nachdem Marke Tristrant vom Hof und damit aus Isaldes Nähe verbannt hat, tauschen die beiden über Brangaene geheime Nachrichten miteinander aus: Isalde wünscht nicht nur, Tristrant wieder direkt sprechen zu können. Das ihr zugefügte groß laid der Trennung von Tristrant soll an seinen Verursachern, den Neidern, gerächt werden (ETR 3445–3451). Tristrant antwortet ebenfalls mit Bezug auf die Emotion. Er lasse sich durch keinerlei Drohungen davon abhalten, Isalde zu sehen. Auch der womöglich erneut auftretende Neid könne sein Vorhaben nicht behindern: wer will, der mag eß niden,/ ich will sie noch hinnacht sehen (ETR 3457–3458). Beide, Tristrant wie Isalde, zitieren in ihren Positionen klassische Topoi des Minnesangs. Neid wird als Hindernis ihres Minneglücks wahrgenommen, welches entsprechend Tristrants Auffassung jedoch durch List überwunden werden kann und wird.14 Am Schluss der Erzählsequenz liegen die beiden Liebenden im Baumgarten wieder beinander: die huot sie zerbrachen,/ deß nachteß sie sich besprachen (ETR 3494 f.). Diese erste aus vielen paradigmatisch aneinander gereihten Überlistungsepisoden15 zeigt die Emotion nît in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Aufsicht über die Liebenden, mit der huote.16 Auch in den folgenden Auseinandersetzungen mit den Liebenden übernehmen die Neider die Rolle der Aufpasser: Die Neider planen die Minne-Beziehung aufzulösen (ETR 3504–3506), Isalde hat Angst, die Neider könnten Briefe zwischen ihr und Tristrant abfangen und sie so der Liebe überführen (ETR 7343–7354). Trotzdem kann der Neid nie ganz – wie in CAIN VAN D’ELDENs Analysen – auf die Funktion der Minnefeindschaft reduziert
Vgl. hierzu das Kapitel 3.1.1 ‚Probleme der historischen Semantik‘. Für Beispiele zum Motiv der freudvollen Überlistung der huote im Minnesang vgl. CAIN VAN D’ELDEN, The Dark Figures of Minnesang, S. 81 f. Vgl. zum Begriff des paradigmatischen Erzählens im Kontext der Tristran-Tradition: WARNING, Die narrative Lust an der List, S. 179–184. Vgl. zu den Neidern als Ausübenden der huote schon: RUH, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Erster Teil. Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967, S. 46.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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werden. Denn, was im Gespräch zwischen Tristrant und Isalde als Einheit dargestellt wird, wird erst im Verlauf der Handlung zusammengefügt: Nît und huote entstehen in Eilharts Tristrant und Isalde nicht zur selben Zeit. Wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat, zielt der Neid der Barone zunächst auf das Ehrstreben und den höheren Rang Tristrants am Hof. Aus dem sich auf die höfischen Hierarchien richtenden Neid geht die Aufpasserrolle gegenüber den Liebenden hervor. Daraus folgt für die Analyse, dass in der Minnefeindschaft immer auch der Neid auf den biderben und vrumen Tristrant mitgelesen werden muss. Im Zentrum des folgenden Teilkapitels steht die Frage, wie sich der vorgängige Neid auf die Deutung und Bewertung der gesellschaftlichen Aufsicht auswirkt. Um sie zu beantworten, wird zunächst die Person, die die huote ausübt und die Liebenden anklagt, in den Blick genommen und untersucht, wie die im Text entwickelten Modelle von Neid das Bild der Minnefeinde beeinflussen.
6.2.1 Antrets doppelter Neid Die Geschichte der illegitimen Liebe und die Geschichte der Neider verlaufen zunächst parallel zueinander. Auf der Ebene der histoire treten sie erst in dem Moment miteinander in Kontakt, in dem die Neider Tristrant der Minne zu Isalde anklagen. Dabei wird die Anzahl der am Sprechakt beteiligten Personen in der Handschrift H Schritt für Schritt reduziert. Scheint es zunächst so, als würde eine Gruppe von sieben Herzögen und Grafen Tristrant beschuldigen, attestiert der Erzähler vieren der sieben, dass sie Tristrant waren [...] täglich gran (ETR 3276).17 Als Sprecher der vier tritt schließlich eine Person hervor, die vom Erzähler erst an dieser Stelle als neue Figur in den Text eingeführt wird: Der zage Antret (ETR 3278), hoptman der Grafen und Herzöge (ETR 3277) und deß kúngß schwester sun (ETR 3281). Mit ihm werden in einer Person alle bisher in Eilharts Tristrant entwickelten Neidkonstellationen und Neiddiskurse zusammengezogen: Antret gehört zur Gruppe der Verwandten Markes, die Tristrants Thronfolge beneidet und verhindert haben und er ist der Anführer der Fürsten, die Tristrant seine Ehre und seine Vorrangstel-
Die Handschriften differieren in ihrer Anordnung der Personengruppen. In der Handschrift D fehlt der Zwischenschritt von sieben auf vier. Antret tritt als Sprecher von sieben Herzögen und Grafen hervor. Vgl. den Apparat zu der Textstelle in: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346), S. 96. Im Fragment Rr wird Antret von vornherein aus der Gruppe hervorgehoben. Die Gruppe besteht aus einem Herzog, Antret, und vier Grafen (Rr 3085–3088). Vgl. BUßMANN, Tristrant, S. 17a. Gemäß dem Leithandschriftenprinzip folgt diese Interpretation der Fassung des Textes, die H bereitstellt.
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6 Neidische Minnefeinde
lung beim König missgönnen. Auf diese Weise überblendet der Text die differenten Neidkonstellationen und ihre Themen. Der Text wirft im Rückblick die Frage auf, ob es sich bei den beiden als neidisch qualifizierten Gruppen schon immer um ein und denselben Personenkreis gehandelt hat.18 Zugleich produziert die Erzählung einen Überschuss an Neidassoziationen, die es dem Rezipienten unmöglich macht, Antrets Wesen falsch einzuschätzen: Er ist nicht nur einfach, er ist doppelt Neider. Diese Mehrfachkodierung erhält im Rahmen der Charakterisierung Antrets eine Funktion. Ausgehend von der Figurenzeichnung Antrets verknüpft der Erzähler die jeweils mit der Emotion des Gruppenneids verbundenen Neiddiskurse und nutzt sie, um denjenigen, der die Anklage äußert, als Person zu diskreditieren. Dabei bleiben im Vergleich zur vorherigen Schilderung des Gruppenneids die Rollen nicht immer gleich verteilt: Ließ sich der Gruppenneid der Verwandten auf die Thronfolge Tristrants auch als Plädoyer für die Gleichheit, die Einheit der Gruppe der nahen Verwandten Markes verstehen, betont der Erzähler – wie schon JanDirk MÜLLER hervorgehoben hat – hier umgekehrt die ordnungsstörende Wirkung des Neids im System der Verwandtschaft.19 Die Verwandtschaft zwischen Tristrant und Antret wird im gesellschaftlichen Kontext des Personenverbandsstaats als soziales Regelwerk sichtbar gemacht, welches ein freundschaftliches, solidarisches Verhalten gegenüber dem frúnd erfordert.20 Der Erzähler macht diese Kluft zwischen den sozialen Anforderungen an den derselben Gruppe zugehörigen Verwandten und dem tatsächlichen Verhalten des Neiders in Form einer chiastischen Formulierung explizit: baß wann er waß sin frúnd,/ frúntschaft tet er im nicht kund (ETR 3284 f.). Antrets soziales Fehlverhalten erlaubt es dem Erzähler, ihn moralisch
Die Überblendung geht in der Handschrift H so weit, dass die für die beiden Neidkonstellationen verwandten Personenbezeichnungen abwechselnd verwandt werden. War bisher allein vom Gruppenneid der graven und hertzogen die Rede, so treten nun Antret und sin maugen vor den König (ETR 3289–3292) und klagen Tristrant an. „Dann verletzen sie Grundlagen feudaler Ordnung wie frúntschaft, sipp (V. 3164/66) und stellen die Gleichsetzung von ‚Gut-sein‘ und ‚Ehre‘ in Frage. Der Ehebruch wird zum vernachlässigenswerten bloßen Vorwand solcher Treulosigkeit.“ Siehe: MÜLLER, Die Destruktion des Heros, S. 24. Vgl. zu Aufbau und Bedeutung der Verwandtschaft im mittelalterlichen Personenverbandswesen: ALTHOFF, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 31–84. ALTHOFF fasst die Pflichten des Verwandten gegenüber seiner Gruppe folgendermaßen zusammen: „Als Verwandtenpflichten kann man allgemein den friedfertigen Umgang miteinander und die Unterstützung in allen Lebensbereichen bezeichnen. Konkretisiert wurden diese Pflichten – und so im politischen Kräftefeld wirksam – vor allem in der Waffenhilfe und in der Rache für angetanes Unrecht und im nichtkriegerischen Bereich vor allem durch Unterstützung und Begünstigung in allen Lebensbereichen.“ Siehe: Ebenda, S. 78.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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zu verurteilen und ihm den Tod zu wünschen: der túfel senck in in den Rin! (ETR 3283) Bezüglich Antrets Rang als hoptman der grave und hertzogen wird hingegen ein anderer Neiddiskurs geltend gemacht. Indem ihn der Erzähler als zag charakterisiert, ordnet er Antret in die zuvor für den Gruppenneid entwickelte Opposition von vrum und niht vrum ein.21 Entsprechend der Vorlage fehlt auch das zweite mit dem Mangel verbundene Attribut nicht: [B]oßhait waß im lieb on pflicht (ETR 3286), charakterisiert der Erzähler die Vorlieben des hoptmans. Im Rückgriff auf den Erzählerexkurs wird Antret hier anhand eines auf Dichotomien beruhenden Bewertungsrasters beurteilt, das über seinen moralischen Status keinen Zweifel lässt: Antrets Funktion als Ankläger Tristrants und als Minnefeind wird von seinem Neid her geprägt und bewertet.22 Am Beispiel des zagen und bösen Antret wird sichtbar, wie der der Anklageszene vorgeschaltete Exkurs des Erzählers über den Gruppenneid funktioniert: Das dort entworfene Verständnis der Emotion stellt die Deutungs- und Wertungsmuster für die Anklage bereit. Dies gilt, wie das folgende Teilkapitel zeigt, nicht nur für denjenigen, der die gesellschaftliche Aufsicht ausübt, sondern auch für den von ihm verfolgten Liebenden.
6.2.2 Kain untugent er nie erkant Damit bietet sich den Lesern und Leserinnen ein eigenartiges Bild: Derjenige, der doch offenbar durch sein Handeln seit seiner Liebesbeziehung zur Königin der höfischen Gesellschaft, in der er selbst lebt, großen Schaden zufügt, wird als Verkörperung aller positiven höfischen Ideale geschildert, während die Vertreter dieser Gesellschaft selbst diesen nicht im Ansatz entsprechen können.23
Vor dem Hintergrund der ehebrecherischen Minne zwischen Tristrant und Isalde problematisiert Monika SCHAUSTEN in ihrer Dissertation die Widersprüche, mit denen Eilharts Text seine Rezipienten angesichts der Anklage gegen Tristrant konfrontiert. Sie zeigt sich darüber verwundert, wie Tristrant dem Rezipienten gegenüber als höfisches Ideal gepriesen werden kann, obschon der Hörer/Leser
Vgl. hierzu das vorausgegangene Kapitel 5 ‚Die Vielen und der Eine‘. Auf die Relevanz der Erzählerkommentare zum Neid für die Sympathielenkung weist in ihrer Analyse des Intrigeerzählens in Eilharts Tristrant auch Claudia LAUER hin. Vgl. LAUER, Die Kunst der Intrige, S. 226 f. SCHAUSTEN, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter, S. 72. Ähnlich schon Kurt RUH, der von einer „Umwertung der Werte“ spricht. Siehe: RUH, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, S. 46.
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6 Neidische Minnefeinde
weiß, dass Tristrant mit der Frau des Königs ein Verhältnis unterhält.24 In ihrer Analyse löst sie das Rätsel nur teilweise: Zwar betont sie die oben skizzierte Rolle des Neids für die Diskreditierung der Neider,25 sie erklärt jedoch nicht, wie der Neid zugleich Tristrants Status mitprägt und deutet. Tristrant wird im Erzählerexkurs über den Gruppenneid als „Musterbeispiel eines richtig Handelnden“26 etabliert, allein – wie gelingt dem Erzähler dies? Gert HÜBNER hebt in seinen Ausführungen zur Fokalisierung in Eilharts Tristrant die zirkuläre Struktur der Argumentation hervor. Der Erzähler bleibe nicht dabei, den Neid auf Tristrant zu generalisieren. Er beziehe das ausgehend vom Neid der graven und hertzogen entwickelte Neidmodell auch auf Tristrant zurück:27 Diese von HÜBNER als „Spiel der generalisierten und spezifisch normativen Urteile“28 gekennzeichnete Form der Rezeptionslenkung bezieht moralische Wertungen mit ein: Da der Erzähler ‚Neid‘ allgemein definiert als Hass der bösen auf die guoten, gehört auch Tristrant als Beneideter zur Gruppe der guoten. Unabhängig von seiner Beziehung zur Königin wird Tristrant allein über die dem Neid eingeschriebene Opposition von guot und böse im moralischen Kosmos der Erzählung verortet, sodass der Erzähler im Übergang von Erzählerexkurs zur histoire von ihm behaupten kann: kain untugent er nie erkant (ETR 3261). Dabei wird das, was Vorbildlichkeit ausmacht, in der Handschrift H29 im Einklang mit dem Neid auf Tristrans Streben nach Rang und Ehre von dessen ritterlichen Taten aus gedacht. Tristrant besitzt tugent, wann er ÿe nach eren rang/ und allweg ze vorderost drang,/ wann man manhait solt tuon (ETR 3262–3264). Mit diesen Worten wird der im Bereich der Ritterschaft erworbene Vorrang verallgemeinert, aus Tapferkeit und Ehrstreben wird tugent im Ganzen. Wie HÜBNER treffend analysiert, zeigt sich Eilharts Erzähler als Dialektiker, „der noch in schwierigster Weise zu argumentieren vermag.“30
Wie Monika SCHAUSTEN in ihrer Analyse zeigt, werden die „bedrückenden Konsequenzen, die das Verhalten der Liebenden für ihre Umwelt hat, durchaus beim Namen genannt [...].“ Siehe: SCHAUSTEN, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter, S. 85. Der Erzähler kennzeichnet die Unterschiebung Brangaenes in der Hochzeitsnacht deutlich als Betrug (ETR 2853, 2961). Vgl. ebenda, S. 83. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 87. HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 292. Ebenda. Die Handschrift D kennt mit der milte noch eine weitere Qualität Tristrants: und he waß milde, biß daz he starp (D 3268). Siehe den Apparat der Ausgabe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346), S. 96. HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 292. Ähnlich bereits KECK, Anna: Die Liebeskonzeption der mittelalterlichen Tristranromane. Zur Erzähllogik der Werke Bérouls, Thomas’ und Gottfrieds, München 1998 (Beihefte zu Poetica 22), S. 88.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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Zu dieser ‚Argumentationskunst‘ trägt nicht zuletzt die im vorangegangenen Kapitel beschriebene didaktische Anlage des Erzählerexkurses31 bei. Wenn der Erzähler den Rezipienten dazu anhält, er solle nicht den Weg der Neider wählen, sondern selber nach vrumheit streben, dann fordert er ihn implizit dazu auf, Tristrants Position im Oppositionsschema Neider/Beneideter, niht vrum/vrum, böse/ guot einzunehmen. Die Didaxe funktioniert hier als Prozess der ‚Anähnelung‘, der es dem Rezipienten in der Anklagesituation schwer macht, sich von dem Protagonisten zu distanzieren: In der Generalisierung der Didaxe sind sowohl er als auch Tristrant Beneidete. Wird Tristrant also von den Neidern angeklagt, so liegt es nahe, dass der Rezipient für ihn Partei ergreift. Strukturiert der Neid derart das Verständnis sowohl der als gesellschaftliche Aufsicht agierenden Ankläger wie des von ihnen angeklagten Liebenden, erstaunt es nicht, dass auch der Akt der Anklage selbst durch die negative Emotion geprägt ist. Ausgehend von dem allen Anschuldigungen vorausgehenden Neid der Minnefeinde zeigt der Erzähler, wie sich die Minnefeinde durch die Art und Weise ihres Sprechens an Tristrant versündigen.
6.2.3 Verrautten und verlogen [D]ar nach in kurtzen stunden/ do ward one wunden/ Trÿstrand ser verschnitten (ETR 3204–3206), mit diesen Worten leitet der Erzähler den der Anklage Tristrants vorausgehenden Erzählerexkurs ein. Das Partizip verschnitten ruft zunächst ein dem Rezipienten bekanntes Motiv auf. Tristan wird von seinen Feinden wiederholt lebensgefährlich verletzt: Die vergiftete Lanze Morolts verwundet ihn so schwer, dass ihn allein die mit ihm verfeindete heilkundige Isalde heilen kann (ETR 908–913). Bei der Belagerung einer gegen seinen Schwager Kehenis rebellierenden Stadt trifft ihn ein Stein der Verteidiger mit solcher Wucht, dass er ein Jahr daniederliegt (ETR 8851–8855). Nampetemis schließlich verletzt ihn mit seinen zwei vergifteten Wurfspießen derart schwer, dass er – als Isalde (scheinbar) nicht zu seiner Rettung erscheint – entkräftet und liebeskrank stirbt (ETR 9423–9598). Die Verletzung, von der hier berichtet wird, ist durch das verwendete Vokabular in diese Reihe eingeordnet, zugleich unterscheidet sie sich deutlich von den drei anderen durch Menschen zugefügten Verletzungen: Es handelt es sich um eine Verletzung one wunden. Körperlich unversehrt, ist Tristan dennoch ser verschnitten. Worin diese wunderliche Verletzung besteht, konkretisiert der Erzähler wenige Verse später: Tristrant werde verrautten und verlogen (ETR 3208), ihn verfolge eine
Vgl. das Kapitel 5.3.2 ‚Der vrume Rezipient‘.
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6 Neidische Minnefeinde
Gruppe von Neidern, die ihm nit eren gan/ und sinen briß zerstört, wo immer sie jemanden in loben hört (ETR 3221–3223). Als Gegenstand der Verletzung wird so Tristrants Ehre enthüllt und als Waffe der Neider die Sprache. – Die graven und hertzogen reden, um den Sprechakt des Lobs zu unterbrechen und seinen Erfolg zu verhindern.32 Damit entspricht die Rede der Neider der Definition von detractio im Wortsinn: Will das Lob erhöhen, Ehre mehren und festschreiben, so wollen die Neider Tristrant eren und briß entziehen (detrahere). Anders als in den bisher diskutierten Texten und anders als im ersten Teil des Tristrant lehnt sich die Erzählung hier nicht mehr nur implizit an den Sprachsündendiskurs an. Im Erzählerexkurs wird die detractio und die für sie typische Kommunikationssituation selbst zum Thema. Der Erzähler kritisiert, dass die Neider in Abwesenheit Tristrants reden,33 sodass sich dieser nicht gegen die Vorwürfe wehren könne: wie mag er eß widerreden,/ so er nicht ist engegen? (ETR 3224 f.)34 Was folgt hieraus für die Bewertung der Minnefeinde? Indem der Erzähler die detractio als Verletzung beschreibt, stellt er den neidischen Sprechakt in seiner Gefährlichkeit körperlichen Angriffen gleich: So wie Morold, die Verteidiger und Nempetemis Tristrant verwunden, so fügt auch die Rede der graven und hertzogen Tristrant Schaden zu. Zugleich wird deutlich, wie der Erzähler ihre Anklage fokalisiert: Indem er sie als detractio und als Verletzung Tristrants beschreibt, übernimmt er dessen Sichtweise, sein Leiden unter der Anklage steht im Fokus der Erzählung. Die Kritik des Erzählers beschränkt sich indes nicht nur auf die Art und Weise, wie Antret und seine Gefolgsleute ihre Anklage vorbringen. Die inquitFormel enthüllt, dass Antret und seine Gefolgsleute Tristrant auch durch das, was sie sagen, unrecht tun:
So auch schon: RUH, Höfische Epik des Mittelalters, S. 46. Hierin liegt ein deutlicher Unterschied zur ersten Konstellation des Gruppenneids in Eilharts Tristrant. Die maugen drücken ihre Kritik an der Thronfolge, ihren Argwohn bezüglich Tristrants Beteiligung an der Neuregelung dort noch offen und in seiner Hörweite aus (ETR 1413 f.). Im direkten Vergleich rückt die zweite Anklage Tristrants so schon aufgrund der Kommunikationssituation ins Zwielicht. Danielle BUSCHINGER und Wolfgang SPIEWOK setzen in ihrer Ausgabe den Punkt hinter und sinen briß zerstört (ETR 3222), sodass sich die Verse ETR 3223–3225 in ihrer Übersetzung folgendermaßen lesen: „Wo er hören muß, daß man den Geneideten rühmt, wie kann er widersprechen, wenn er ihm gegenüber ein Nichts ist?“ Siehe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde. Hrsg. von Danielle BUSCHINGER u. Wolfgang SPIEWOK, S. 84. Diese Deutung kann jedoch im Gegensatz zur Sprachsünde der detractio auf keine Tradition in den mittelalterlichen Diskussionen über Neid zurückgreifen.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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er gieng zuo dem kúng her, baid er und sin maugen begunden dem kúng sagen nidisch lugenmer: ‚[...] Trÿstrand hat gehönet dich. daß ist sÿbenen laid. wir wissen wol die wahrhait, das er minnet din wib. [...]‘ (ETR 3289–3300)
In den zitierten Versen stellt der Neid das Gesagte selbst in Frage. Während die graven und hertzogen von sich behaupten, wir wissen wol die warhait (ETR 3229), charakterisiert der Erzähler das, was sie dem König mitteilen, als nidisch lugenmer. Zur detractio wird im Erzählvorgang auf diese Weise eine zweite Sprachsünde des Neids, die mendacio, hinzugefügt. Die Emotion – so suggeriert es das Kompositum – unterminiert den Wahrheitsgehalt der Anschuldigungen. Warum sie dies jedoch tut, verschweigt der Text an dieser Stelle. Eine mögliche Antwort findet sich in der zeitlichen Anordnung von Neid und huote. Beginnt die Minnefeindschaft in den anderen analysierten Romanen jeweils mit der Entdeckung der Liebenden, fehlt hier das zu dem von den Fürsten behaupteten Wissen gehörige Äquivalent in der Handlung.35 Wie der Erzähler beim zweiten Versuch der graven und hertzogen, bei Marke Gehör zu finden, betont, geht ihre Anklage sicheren Kenntnissen um das Verhältnis von Tristrant und Isalde voraus: ob Trÿstrand mit der kúngin/ verholen möcht sin,/ daß westen sÿ nicht recht (ETR 3344–3346). Erst nachdem Marke die Anschuldigungen gegenüber Tristrant erneut zurückgewiesen hat, versuchen die Fürsten, die Liebenden zu überführen (ETR 3338–3343). Blickt man auf diese Abfolge von nît, Anklage und huote, kann der Erzähler folglich in Bezug auf beide vor Marke erhobenen Anklagen behaupten, sie seien erlogen: Was ohne eigenes Wissen, allein aus Neid vorgebracht wird, ist ein lugenmer (ETR 3292), beziehungsweise – wie es der Erzähler in Bezug auf die zweite Anklage formuliert – ain gedicht unschlecht (ETR 3347). Indem die Anklage auf Ebene der Handlung ausschließlich als Produkt des Neides gezeichnet wird, bricht Eilharts Tristrant die moralische Perspektive auf den Ehebruch auf. Die graven und hertzogen können trotz des Wahrheitsgehalts ihrer Anklage, trotz
Das an dieser Stelle verwendete Verb vernemen (ETR 3295) ist mehrdeutig. Entweder haben die Ankläger im Sinne von audire, ein Gerücht gehört oder sie haben im Sinne von percipere die Minne zwischen Tristrant und Isolde, nicht jedoch den Liebesakt, wahrgenommen.
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6 Neidische Minnefeinde
Tristrants und Isaldes Verrat an Marke nicht für sich in Anspruch nehmen, gesellschaftliche und rechtliche Normen zu vertreten. In der Heidelberger Handschrift präzisiert der Erzähler, worin er die Verfehlung der Ankläger sieht: er [Tristrant] ward verrautten und verlogen (ETR 3208). Abweichend von anderen Redaktionen des Tristrant36 werden die unterschiedlichen Argumentationsstränge hier begrifflich differenziert und nebeneinander gestellt. Der Erzählerkommentar eignet sich insofern dazu, die Vorwürfe gegen die neidischen Minnefeinde noch einmal im Zusammenhang zu betrachten und zu reflektieren. In ihrer Uneinheitlichkeit bildet die Charakterisierung verrautten und verlogen die schillernde, zwischen Wahrheit und Lüge alternierende Natur der Anklagen gegen Tristrant und Isolde ab. Sie verdeutlicht zugleich, dass beide Seiten des neidischen Sprechens gleichbleibend negativ zu bewerten sind: Während verrautten darauf verweist, dass eine verborgene Wahrheit ans Licht kommt, Informationen aus einer geschützten Beziehung – hier der Verwandtenrelation – in unstatthafter Weise in Form der detractio an Dritte weitergegeben werden, verweist verlogen auf das mangelnde Wissen, das der Anschuldigung zugrundeliegt. Noch bevor die Magnaten als Minnefeinde tätig werden, stellt der Erzähler auf diese Weise in seinem Exkurs klar, dass jegliche Vorwürfe gegenüber Tristrant aufgrund des Neids seiner Kontrahenten ihrer Legitimation beraubt sind. Zum einen diskreditiert die Art und Weise des neidischen Sprechens die Anklage gegen die Liebenden als Verfehlung auf der Ebene der sozialen Bindungen. Zum anderen überlagern die der huote vorgängigen neidisch-aggressiven Intentionen der Aufpasser den Wahrheitsanspruch ihrer Anklagen. Die Vorwürfe gegen Tristrant erscheinen sowohl als Instrument wie auch als Erfindung des Neids, sodass die negative Emotion die kritischen Fragen, die die graven und hertzogen in Bezug auf den Verrat Tristrants an seinem Gönner Marke aufwerfen, unterbindet. Inwiefern der Neid auch den Blick auf die huote, die Überwachung der Liebenden, prägt, untersucht das folgende Kapitel.
So verwendet die Handschrift D anstatt verrrauten das Partizip besait. Vgl. den Apparat der Ausgabe: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346), S. 94.
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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6.2.4 Das Lachen der und das Lachen über die huote In Eilharts Tristrant ist der nît der Minnefeinde mehr als nur ein bekannter Topos. Die graven und hertzogen empfinden, nachdem Marke ihre Anklagen zurückgewiesen hat, Leid und Zorn über Tristrants Ehre und Rang am Hof. Es sind diese Gefühle, die sie auf die Spur der Liebenden setzen: Nun ward den nideren ser laid, daß er kúng so ser strait, nach Trÿstrandß eren. die begunden dannen keren in zornigem muot und schuoffend ir huot [...]. (ETR 3338–3343)
Neid konkretisiert sich in der ersten Reihe der Überlistungsepisoden jeweils in den Momenten als Emotion, in denen die Überwachung der graven und hertzogen missglückt oder Erfolge feiert. Im Nachgang ihrer gescheiterten List im Baumgarten bereitet den nider[n] Tristrants Rückkehr an den Hof Kummer (ETR 3928–3930), der wiederum in Freude umschlägt, als Tristrant nach den Enthüllungen der Mehlprobe gefangengenommen wird: [D]o geschach nie so lieb/ dem bösen nider (ETR 4101 f.). In beiden Fällen werden die Gefühle der graven und hertzogen auf ihren Neid zurückgeführt, der somit als ‚zusammengesetzte Emotion‘ definiert wird: Er äußert sich einerseits als Leid über das Wohlergehen des Beneideten, den fehlenden Nachweis der Liebesbeziehung zwischen Königin und Günstling, andererseits als Freude über Tristrants Niedergang, die Entdeckung des Liebesverhältnisses. Die Aufsicht über die Liebenden lässt sich in diesen Textpassagen nicht mehr vom Neid trennen. Neid bleibt – so wie ihn Jessica ROSENFELD im Anschluss an Paulus’ Gebot gaudere cum gaudentibus, flere cum flentibus beschrieben hat – als der Nächstenliebe entgegengesetzte Haltung, als Opposition zu den Gefühlen des Beneideten, in der huote immer präsent.37 Die Geschichte (histoire) macht den Neid in den wiederholten Versuchen, das Liebespaar zu überführen, jedoch nicht nur sichtbar. Sie verbindet die huote auch mit den im Erzählerexkurs entwickelten Deutungsmustern für Neid. Diese werden über die Semantik der im Beweisführungsprozess auftauchenden Namen aufgerufen: Die graven und hertzogen suchen einen sternenkundigen Zwerg, der ihnen die Wahrheit über das Verhältnis Tristrants und Isaldes offenbaren soll. Derjenige, der ihnen den Weg zu seinem gesellen, dem Zwerg, weist, hört auf den Rufnamen Sathanaß (ETR 3515–3526). Auf diese Weise assoziiert der Text den Vgl. ROSENFELD, Compassionate Conversions, S. 104.
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6 Neidische Minnefeinde
Zwerg, der den Fürsten dabei hilft, das Liebesverhältnis nachzuweisen, mit dem ersten aller Neider, dem gefallenen Engel.38 Zugleich lässt sich der Name des Wegweisers als Personifikation der Motive der graven und hertzogen verstehen: Das, was sie zum Zwerg führt, ist der Neid, der über die Personifikation als Emotion des Bösen, des Gegners Gottes, gekennzeichnet wird. Der vom Erzähler in seinem Exkurs eröffnete religiöse Diskurs wird somit wieder aufgenommen und die huote durch ihre Assoziation mit dem Neid diskreditiert. In den Wiederkehrabenteuern der zweiten Episodenreihe wird die Emotion schließlich zum Deutungsmodell des Scheiterns der huote. Dabei erweisen sich – entgegen der vorherrschenden Forschungsmeinung39 ̶ sowohl der Autor als auch seine Hauptfigur als Meister der Inszenierung. Nachdem der Neid als Emotion der Minnefeinde zunächst über die Spanne vieler Episoden in den Hintergrund des Erzählten gerückt wurde,40 spielt die Emotion im letzten aller Wiederkehrabenteuer eine umso größere Rolle. Tristrant beschuldigt die Hofgesellschaft bei seiner Rückkehr an den Hof das erste Mal offen, ihn zu beneiden: [I]r sind nÿder (ETR 9062). Bedeutung erlangen seine Worte erst vor dem Hintergrund der Situation, in der sie geäußert werden: Tristrant tritt der Hofgesellschaft durch eine Krankheit bis zur Unkenntlichkeit abgemagert, als Narr verkleidet, den Kopf mit einem Gugel bedeckt und den Knüppel in der Hand allerlei äffische Possen und Vgl. zur Assoziation des Neids mit Lucifer das Unterkapitel zur heilsgeschichtlichen Perspektive auf Neid (Kapitel 2.5.2). Winfried HOFMANN zeigt sich darüber verwundert, dass gerade der Zwerg, der ohne negativ gezeichnete Emotionen wie Machthunger, Missgunst und Feigheit handelt, mit dem Teufel assoziiert wird. HOFMANN führt dies zum einen auf die Tradition der Abwertung der körperlichen Missgestalt zum anderen auf den nichtadeligen Status des Zwergen zurück. Vgl. HOFMANN, Neidische Minnefeinde, S. 132–133. Gert HÜBNER wiederum verweist darauf, dass das astrologische Können des Zwergs im Text als Teufelswerk verstanden werde. Vgl. HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 293. Im Gegensatz sowohl zu HOFMANN als auch HÜBNER geht diese Interpretation davon aus, dass der Text zumindest an dieser Stelle weniger eine Aussage über den Helfer der graven und hertzogen intendiert als über diese selbst. Dass man Eilhart zwar nicht als Erzähler aber als Regisseur von Intrigehandlungen durchaus mehr Kunstfertigkeit zutrauen darf, hat die Habilitationsschrift von Claudia LAUER gezeigt. LAUER kommt abweichend von der bisherigen Forschungsmeinung zu der Bewertung, dass Eilhart „trotz aller ‚Holzschnittartigkeit des Erzählens‘ ein überaus abwechslungsreiches fiktionales Spiel klugen Handelns entfaltet.“ Was die Forschung bislang übersehen habe, sei Eilharts Erfindungskunst, die die ‚Intrige‘ als ein betont ambivalentes Kernstück fiktionalen Erzählens und Dichtens etabliere und sich ein eigenes Unterhaltungsrecht verschaffe. Siehe: LAUER, Die Kunst der Intrige, S. 251 und S. 259. Zwar treten die vorher als Neider charakterisierten Personen in nahezu allen Episoden auf. Ihre Emotionen spielen dabei jedoch eine untergeordnete Rolle. Dies fällt insbesondere am Beispiel des aussätzigen Herzogs auf, der Marke dazu rät, Isalde den Leprakranken auszuliefern. Seine Standeszugehörigkeit assoziiert ihn mit der Gruppe der Neider, die Emotion wird an dieser Stelle jedoch nicht auserzählt (ETR 4428).
6.2 Antret, der zag, und die verspätete huote
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Albernheiten vollführend gegenüber. Er unterstellt der Hofgesellschaft also in einem der wenigen Momente Neid, in der Antret und seine Standesgenossen ihn ohne allen Zweifel nicht beneiden. Wie ist diese Inszenierung des Widerspruchs zu deuten? Die Gründe für den angeblichen Neid seines höfischen Publikums legt der Narr ausführlich dar: ich [...] bin wÿser wann ir all (ETR 9059 f.), sagt der verkleidete Tristrant und beschreibt auf diese Weise seine Klugheit als Einzelperson als der der ganzen Gruppe überlegen. Im Einklang mit den vorherigen Beschreibungen der emotionalen Qualitäten des Neides charakterisiert er das Gefühl im Folgenden als schwer (ETR 9063), ‚leidvoll‘, und führt den Kummer der Hofgesellschaft zurück auf seine die Anderen überstrahlende vuoge.41 Ein so konzipierter Neidvorwurf spielt mit der Verkleidungssituation und der durch sie erzeugten Diskrepanz von Wissen und Unwissen. Verschiedene Rezeptionsmodi werden an dieser Stelle kunstvoll gegeneinander in Stellung gebracht:42 – Vom Standpunkt des höfischen Publikums Tristrants aus erscheint in diesem Moment nichts unwahrscheinlicher als den sich als tor (ETR 9007) gebärdenden Narren um seine Klugheit zu beneiden. Deshalb kann sich Tristrant auch sicher sein, dass ihn niemand als ungewollten Gast am Hof von Cornwall angreifen und gefangen nehmen wird. – Vom Wissenshorizont des Protagonisten sowie der textexternen Rezipienten aus hingegen ist der Neid in der Relation zwischen Tristrant und der Hofgesellschaft zum einen schon bewiesen. Zum anderen manifestiert sich in ihm Tristrants Überlegenheit. Über die Behauptung des Neids werden in der Situation Hierarchien sichtbar, die den offensichtlichen zuwiderlaufen. Dank seiner größeren Klugheit gelingt es Tristrant, sich in Verkleidung vor den Augen der Hofgesellschaft Isalde zu nähern und seine Liebe kundzutun: sü liebt mir in rechter lieb geschicht./ wie sü eß wil gelouben nicht,/ ich gan och niemen guotteß bass (ETR 9042–9044).43 Betrachtet man dieses Zusammenspiel von Neidvorwurf und Kontext erschließt sich die Bedeutung, die der Protagonist der negativen Emotion gibt: Wenn Tristrant Weisheit und Geschicklichkeit als Neidobjekte nennt und Isalde gleichzeitig in aller Öffentlichkeit seine Aufwartung macht, dann wird zuletzt das Überlisten der huote selbst als Gegenstand des Neids konstruiert. Auf der Figurenebene werden Neid und Minnefeindschaft so noch einmal neu miteinander ver-
Vgl. ETR 9064. Vgl. zur Erzähltechnik dieser Szene: HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 290–292. Wie schon Gert HÜBNER hervorgehoben hat, fällt diese Szene aus der von MÜLLER behaupteten Abwärtsbewegung in den Rückkehrabenteuern heraus. Vgl. MÜLLER, Die Destruktion des Heros, S. 30–34. Der ‚Heros‘ tritt zwar in Narrenkleidern auf und seine Schönheit ist durch Krankheit zerstört. Im Zusammenspiel von Maskerade und Neidvorwurf manifestiert sich hier jedoch noch einmal seine Überlegenheit. Insgesamt bleibt in MÜLLERs Argumentation die Rolle des Neids für die Konstitution des Helden unterbeleuchtet.
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6 Neidische Minnefeinde
knüpft und die huote über den Neidvorwurf als unterlegen ausgewiesen. Dem Lachen der Tristrants Spiel durchschauenden Rezipienten44 preisgegeben, stimmen Bewertung und Misserfolg der huote am Ende der Geschichte des Kampfes der Liebenden gegen die Gesellschaft überein.
6.3 Der nîdege Marjodô – cumpanjûn Tristans, Verehrer Isoldes und truhsaez Markes Anders als in Eilharts Tristrant wird bei Gottfried die Minnefeindschaft aus den Beziehungen der beteiligten Figuren zueinander hergeleitet. Nachdem Tristan Isolde aus der Hand ihres Entführers Gandîn befreit hat, bringt er die Königin zu Marke zurück. In der Erzählung wird der Einschnitt dazu genutzt, um am Beginn der neuen ‚Episode‘ einen genaueren Blick auf Tristans Situation am Hof zu werfen: Tristandes lob und êre diu bluoten aber dô mêre ze hove und in dem lande. si lobeten an Tristande sîne vuoge und sîne sinne. er und diu küniginne si wâren aber vrô unde vruot, si gâben beide ein ander muot, sô si iemer beste kunden. In den selben stunden haete Tristan einen cumpanjûn, der was ein edeler barûn, des küneges lantsaeze, sîn oberster truhsaeze, und was geheizen Marjodô. der selbe was Tristande dô gevriunt unde geminne durch die süezen küniginne. der troug er tougenlîchen muot, als manec man maneger vrouwen tuot, dâ si sich lützel kêret an. (GTR 13451–13471)
Gert HÜBNER stellt heraus, dass „die narrative Technik [...] den Rezipienten zum Komplizen von Tristrants kognitiven Privileg über Marke [macht]; man kann nicht anders, als seinen Triumph mit ihm auszukosten.“ Siehe: HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 291.
6.3 Der nîdege Marjodô – cumpanjûn Tristans, Verehrer Isoldes und truhsaez Markes
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In der Textpassage wird Tristan in drei unterschiedlichen Personenkonstellationen gezeigt: Er genießt am Hof aufgrund seiner Klugheit Ruhm und Ansehen. Er unterhält eine Liebesbeziehung zu Königin Isolde. Er hat im obersten Truchsessen des Königs einen cumpanjûn (GTR 13461) gefunden. Die Aufzählung deckt für die mittelalterliche Identität eines hohen Adeligen wichtige Relationen in Bezug auf die Gesellschaft, das andere Geschlecht und die Standesgenossen ab. Es fehlt in ihr jedoch in auffälliger Weise die Beziehung, die im ersten Teil des Textes grundlegend für Tristans Aufstieg war: Tristans Beziehung zu seinem Onkel und Herrscher, König Marke. Die Leerstelle fällt umso mehr auf, als diese Beziehung aufgrund von Tristans Verhältnis zu Isolde zur Disposition steht. Die einzige Person, die zwischen Tristan und Marke eine Verbindung herstellt, ist Tristans Freund Marjodô. Marjodô ist nicht nur der Truchsess des Königs. Da er die Königin ebenfalls begehrt, stellt er auch ein Bindeglied zu Isolde dar. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass es Marjodô ist, der im Verlauf der Episode den Anstoß dazu gibt, die Frage der Beziehung Markes zu Tristan und Isolde zu klären. Indem er König Marke von dem angeblichen Gerücht über das Liebesverhältnis berichtet, bringt er Marke auf die Spur der Liebenden und setzt die Beziehungen zwischen allen dreien in Bewegung. Um Marjodôs Funktionieren als Ordnungshüter herauszuarbeiten, möchte ich von hier ausgehend eine Lesart der Minnefeindfigur Marjodô vorschlagen, die sowohl seine Freundschaft als auch seinen nît im Lichte seiner Funktion als Schnittstelle zwischen Marke und dem Liebespaar interpretiert. Hierfür knüpft die Analyse an die Forschung zur Freundschaftsthematik in Gottfrieds Tristan an.
6.3.1 Bedingungen der Freundschaft Innerhalb einer kurzen Nacht verwandelt sich Marjodô vom Freund zum Neider, vom Vertrauten zum Verräter von Geheimnissen. Waltraud FRITSCH-RÖßLER hat diesen radikalen Bruch in ihrem Aufsatz Falsche Freunde, Markes Ohren und der Autor als Intimus als Freundschaftskrise gedeutet. Für sie ist Marjodôs Verrat an Tristan die „emotive Reaktion eines durch mangelndes Vertrauen (und das heißt hier: Partizipation an Wissen) gekränkten Freundes.“45 Damit verortet sie Marjodôs nît auf der Ebene der persönlichen Beziehungen. Er kann in ihren Augen
FRITSCH-RÖßLER, Waltraud: Falsche Freunde, Markes Ohren und der Autor als Intimus. Zweifelhafte amicitia im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: „Von Mythen und Mären“ – Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler-Biographie. Fs. für Otfrid-Reinald EHRISMANN zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Gudrun MARCI-BOEHNCKE/Jörg RIECKE, Hildesheim 2006, S. 80–93, hier S. 87.
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6 Neidische Minnefeinde
gleichzeitig als Neid/Eifersucht auf Tristans Besitz Isoldes wie auch als Neid/Eifersucht auf die größere Vertrautheit Isoldes mit Tristan verstanden werden.46 Um ihre These von der Freundschaftskrise zu belegen, verweist FRITSCHRÖßLER auf das zuvor intime Verhältnis zwischen den Freunden. Tristan erscheint erstmals in einer ebenbürtigen Beziehung zu einem Mitglied der Hofgesellschaft. Im Gegensatz zu der anfangs skizzierten Gruppe der Bewunderer ze hove und in dem lande (GTR 13453) bleibt Marjodô nicht in der Distanz des Lobens stehen, als ranghohes Mitglied der Hofgesellschaft wird er vom Erzähler als cumpanjûn (GTR 13461) Tristans beschrieben.47 Dies drückt sich auch in der räumlichen Nähe der beiden aus. Die Tatsache, dass sie sich zum Schlafen eine Kammer teilen, zeugt davon, dass ihnen ungefähr derselbe Rang am Hof zukommt. Mit der gemeinsamen herberge verbinden sich nicht zuletzt gemeinsame Praktiken: Tristan und Marjodô sind gern beisammen, sie reden bis spät in die Nacht, Tristan erzählt Marjodô bettemaere (GTR 13472–13479). Waltraud FRITSCH-RÖßLER fasst die persönlichen wie gesellschaftlichen Aspekte der Freundschaft folgendermaßen zusammen: „Das ‚gevriundet‘-Sein zwischen Tristan und Marjodô stellt sich dar als eine horizontal strukturierte, reziproke, das Herrschaftssystem (Hofämter!) stabilisierende ‚amicitia‘ zweier annähernd gleich adliger, vermutlich halbwegs gleich alter und gleich sozialisierter Männer, die sich festigt durch persönliche Sympathie, körperliche Nähe und kommunikative Zweisamkeit.“48 So genau FRITSCH-RÖßLER die Merkmale von Tristans und Marjodôs Freundschaft herausarbeitet, bleibt ihre Charakterisierung dennoch lückenhaft. Sie klammert die Bedingungen, unter denen die Freundschaft entsteht, aus.49 Tristans und Marjodôs Band beruht ursprünglich nicht auf der behaupteten gegenseitigen Sympathie. Ihre Freundschaft verfügt über eine exzeptionelle Geschichte, die sie aus den bekannten höfischen Mustern herausfallen lässt.50 Denn die Beziehung zwi-
Ebenda, S. 86. Das vom Erzähler zur Charakterisierung der Beziehung Tristans zu Marjodô verwendete Wort cumpanjûn deutet allerdings bereits eine erste Distanzierung Tristans von Marjodô an. Während Marjodôs Beziehung zu Tristan als gevriunt unde geminne (GTR 13467) bezeichnet wird, wird für Tristans Beziehung zu Marjodô das schwächere Wort cumpanjûn (GTR 13461) benutzt. Insofern gibt es trotz aller Intimität bereits zu Beginn Anzeichen der späteren Störung der Freundschaft durch die Heimlichkeiten Tristans. FRITSCH-RÖßLER, Falsche Freunde, Markes Ohren und der Autor als Intimus, S. 86. FRITSCH-RÖßLER verzichtet mit dem Argument, dass die besonderen Entstehungsbedingungen keinerlei Auswirkung auf die spätere Gestaltung der Freundschaft hätten, auf ihre Ausdeutung. Vgl. ebenda, S. 81. Zu literarischen Freundschaftskonstellationen im Mittelalter vgl. u. a. ERTZDORFF, Xenja: Höfische Freundschaft. In: Der Deutschunterricht 14 (1962), S. 35–61; HYATTE, Reginald: The Arts of Friendship. The Idealization of Friendship in Medieval and Early Renaissance Literature, Leiden
6.3 Der nîdege Marjodô – cumpanjûn Tristans, Verehrer Isoldes und truhsaez Markes
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schen den Freunden wird gestiftet durch die gemeinsame Beziehung zur Königin, die als Dritte, als das verbindende Glied zwischen beiden, fungiert: der selbe was Tristande dô/ gevriunt unde geminne/ durch die süezen küniginne (GTR 13466–13468). Welcher Art diese trianguläre Beziehung ist, bleibt in dieser Beschreibung im Dunkeln. Der nächste Satz konkretisiert nur das Verhältnis zwischen Marjodô und der Königin. Marjodô verehrt die Königin heimlich, wird von ihr jedoch nicht erhört (GTR 13469–13471). Warum die Beziehung Marjodôs zur Königin in dessen Augen auch die zu Tristan bestimmt, bleibt hingegen offen.51 Kausale Erklärungsversuche führen in die Irre: Zwar ließe die Handlungsfolge die Deutung zu, dass Marjodô Tristan dankbar ist, weil dieser die Königin aus den Händen Gandîns befreit und der höfischen Gesellschaft zurückgebracht hat (GTR 13275–13450). Eine solche Interpretation würde jedoch dort Abfolgen herstellen und psychologische Logiken entwickeln, wo im Text jeder Hinweis darauf fehlt. Christoph HUBER deutet die hier entworfene trianguläre Beziehung instrumentell aus: „Marjodô hängt Tristan freundschaftlich an im Hinblick auf dessen Nähe zur Königin, die er schwärmerisch verehrt. Die Konfidenzen, die ausgetauscht werden, gehorchen so verdeckten Sonderinteressen.“52 In seiner Analyse der verschiedenen Freundschaftskonstellationen im Tristan schließt sich Stefan SEEBER dieser Interpretation an und stellt ausgehend von Ciceros und Aelreds Abgrenzung der amicitia von rein interessegeleiteten Bindungen die Freundschaft selbst in Frage.53 Für HUBERs und SEEBERs Lesart spricht auf den ersten Blick viel: Als Neffe König Markes ist Tristan über diesen mit Isolde verwandt und genießt in dieser Eigenschaft vor den Augen des Hofes ihre Zuneigung (GTR 12976–13002). Tristan stellt für Marjodô insofern einen Berührungspunkt mit der Königin dar. Ihm nahe zu sein, bedeutet, der Königin näher zu sein. Auch diese Deutung kann jedoch keine umfassende Erklärung bieten. In der sich an den interpretationsbedürftigen Satz anschließenden Beschreibung der Freundschaft findet sich kein Hinweis darauf, dass Marjodô die Freundschaft Nützlichkeitserwägungen unterzieht. Vielmehr führt der Erzähler dem Rezipienten an dieser Stelle eine andere Logik von Freundschaft vor:
u. a. 1994 (Brillʼs Studies in Intellectual History 50) sowie KRÜGER, Freundschaft in der höfischen Epik um 1200. Der Erzähler bemüht sich auf der Ebene der Handlung sehr darum, die Entdeckung der Liebenden durch Marjodô plausibel zu motivieren. Nur weil Brangaene versehentlich die Tür zur Kemenate offengelassen hat, kann der Truchsess das Liebespaar überraschen. Im Vergleich mit diesem Überschuss an Motivation, bleibt die Herleitung der Emotionen Marjodôs erstaunlich diffus und deutungsbedürftig. HUBER, Gottfried von Straßburg, S. 84. SEEBER, Stefan: ‚Ein vriuntlîches zornelîn‘. Zu den Freundschaftsdarstellungen in den deutschen Tristanbearbeitungen des 12. und 13 Jahrhunderts. In: Oxford German Studies 36, 2 (2007), S. 268–283, hier S. 277 f.
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Die Intimität der Freunde Tristan und Marjodô baut sich darüber auf, dass sie Dinge teilen – Räume und Geschichten (GTR 13472–13479). In diesem Sinne kann man die trianguläre Beziehung zu Isolde im Kontext der Symmetrie und Reziprozität der Freundschaft deuten. Die Argumentation sähe dann folgendermaßen aus: Wenn die Freundschaft über Gemeinsamkeiten, über das Teilen von Raum und von Erzählungen funktioniert, dann muss an ihrem Beginn strukturell gesehen auch eine erste, allen anderen zugrundliegende Gemeinsamkeit stehen. Der Satz der selbe was Tristande dô/ gevriunt unde geminne/ durch die süezen küniginne (GTR 13466–13468) formuliert als Bedingung der Freundschaft eine gemeinsame Relation zur Königin. Letztere zeichnet sich – überträgt man die spärlichen Marjodôs Situation beschreibenden Erzählerinformationen auf Tristan – weniger durch Besitz als vielmehr über das gemeinsame Nichtverfügen aus: Als Voraussetzung der Freundschaft lässt sich – aus Marjodôs Perspektive – zum einen das gemeinsame Begehren der Königin,54 vor allem aber die gemeinsame Erfahrung ihrer Unerreichbarkeit vermuten. So interpretiert lässt sich die hier skizzierte Freundschaftskonzeption bei aller Eigenwilligkeit dann doch auch wieder einem der klassischen Kriterien der amicitia zuordnen. Aufgrund ihres gemeinsamen Bezugs auf Isolde herrscht zwischen Marjodô und Tristan – wie es Cicero von der wahren Freundschaft fordert – eine weitreichende „Übereinstimmung der Absichten, Interessen und Meinungen.“55 Gestützt wird diese neue Interpretation durch eine vierte Figur, die der Erzähler in der Beschreibung des Verhältnisses Marjodô – Isolde – Tristan zunächst im Verborgenen belässt. Die Bezeichnung küniginne (GTR 13468) verweist zurück auf Isoldes Ehemann König Marke, der ihr durch die Heirat den Status der Königin von Cornwall und England verliehen hat. Mit ihm gibt es eine Figur, deren bloße Existenz die Erfolglosigkeit aller auf Isolde gerichteten Liebeswünsche verbürgen sollte. Dadurch, dass dieser Vierte von Rechts wegen fest und unveräußerlich über das Objekt der Begierde verfügt, kann das unerfüllte Begehren als Bedingung der Identifikation zwischen Marjodô und Tristan funktionieren. Die Gemeinschaft der Freunde konstituiert sich in Differenz zu König Markes Besitz.56 Diese Interpretation wird vom Rezipientenwissen um Tristans Liebe zur Königin gestützt. Jedoch verkompliziert sie das Spiel mit Wissen und Nichtwissen noch einmal. Während sich die hier angenommene Einsicht Marjodôs in das Begehren Tristans nach der Königin mit Erzählerund Rezipientenwissen deckt, bleibt Marjodô Tristans real existierendes Verhältnis mit Isolde zunächst verborgen. Er wird erst im Verlauf der Erzählung auf den Wissensstand gebracht, über den Erzähler und Rezipient bereits zu Beginn der Episode verfügen. Cicero: Laelius IV, 15. Übersetzung zit. n. Cicero: Laelius. Über die Freundschaft, S. 126–127. Das nicht auf Trieberfüllung ausgerichtete Begehren Marjodôs ähnelt insofern der hohen Minne. Im Gegensatz zur hohen Minne befeuert das Begehren Isoldes hier aber nicht die Konkurrenz zwischen den Rittern, sondern stiftet Gemeinschaft.
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Interpretiert man die Textstelle in dieser Weise, dann lässt sich präzisieren, warum Marjodô am Ende der Erzählsequenz als nîdege (GTR 13637) charakterisiert wird und worauf sich sein nît richtet. Marjodôs Verrat an Tristan signalisiert nicht nur – wie FRITZSCH-RÖßLER behauptet – ein Zerbrechen des gegenseitigen Vertrauens, der Intimität der Freunde. In dem Moment, in dem Marjodô Tristan nachts zusammen mit Isolde in eindeutiger Situation sieht, wird zugleich die für die Freundschaft grundlegende Bedingung der Gleichheit im Nichtbesitz aufgekündigt: Betrachtet man die der Textpassage zugrundliegende Raumsemantik, dann verlässt Tristan die gemeinsame Kammer und tritt in für ihn und die Königin bereitete Räume ein, in die Marjodô nicht eingeladen wird. Formuliert man die Veränderung auf der Ebene personeller Strukturen, dann verfügt Tristan über Isoldes Minne, während Marjodô die Erfüllung seines Begehrens versagt wird. Nît wird so – wie in Eilharts Tristrant in Bezug auf die Thronfolge – hier im Feld der Minne als Emotion eingeführt, die auf Unterschiede reagiert. 6.3.1.1 Neid, Verzicht und Identifikation In seinem 1921 erschienen Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse skizziert Sigmund FREUD eine auf den ersten Blick verblüffend ähnliche Dynamik von Neid/ Eifersucht,57 um den Zusammenhalt in modernen Massen zu erklären. Ausgehend von der Geschwisterrivalität beschreibt er im bereits zitierten Kapitel ‚Herdentrieb‘, wie sich erst im Zuge der Bewältigung von Neid/Eifersucht soziale Gefühle und gemeinschaftliche Strukturen ausbilden. In FREUDs Deutung tauscht das ältere Geschwisterkind seine neidische Aggression gegenüber dem hinzugekommenen jüngeren Kind gegen das Gefühl der Identifikation ein, da es erkennt, dass es die elterliche Liebe nie allein besitzen kann und sich im Kampf gegen den Rivalen selbst Schaden zufügt. Die Identifikation mit dem Anderen erfolgt jedoch auf Basis der Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit. In FREUDs Worten: „Wenn man schon selbst nicht der Bevorzugte sein kann, dann soll doch wenigstens keiner von allen bevorzugt werden.“58 Dieser frühkindlich eingeübte Umgang mit Neid setzt sich nach FREUD in der Schule fort, er ist paradigmatisch für das Verhältnis der Mitglieder in Armee und Kirche. Einprägsamstes Beispiel für die skizzierte Dynamik von Neid, gemeinsamen Verzicht und Identifikation ist bei FREUD der moderne Starkult, verkörpert in der
FREUD differenziert in seinem Entwurf nicht klar zwischen Neid und Eifersucht. So spricht er in den Analysen der Geschwisterrivalität und des Starkults zwar von Eifersucht. Wenn er beschreibt, wie die negative Emotion wider Erwarten soziale Strukturen hervorbringt, verwendet er jedoch den Begriff ‚Neid‘. Vgl. FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 82. FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 82.
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„Schar von schwärmerisch verliebten Frauen und Mädchen, die den Sänger oder Pianisten nach seiner Produktion umdrängen.“59 Jede der Schwärmerinnen tauscht den Besitz des Liebesobjekts gegen die Befriedigung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ein, die sich über die gemeinsame Verehrung des Stars definiert:60 Gemeinschaft ergibt sich hier aus der gleichen Ausrichtung des Begehrens wie aus dem Verzicht auf den alleinigen Besitz. Eben jene Verbindung von gemeinsamem Begehren und gemeinsamem Nichtverfügen entfaltet ihre gruppenbildende Wirkung auch in Marjodôs Freundschaft zu Tristan. Während für FREUD die Gemeinschaft aber erst im Zuge der Neidbewältigung entsteht und aus dem gemeinsamen Verzicht hervorgeht, stellt der beiden versagte Besitz für Marjodô die Bedingung von Gemeinschaft dar. Diese wird durch den Besitz des Anderen aufgebrochen und zerstört. Damit unterscheiden sich der mittelalterliche Text und FREUDs von psychoanalytischen Prämissen ausgehende Theorie nicht nur in der Reihenfolge von Neid und Gemeinschaft, dem Nichtbesitz des Liebesobjekts kommt auch eine andere Bedeutung zu. Bei FREUD ist er Verwirklichung einer ursprünglich aus dem Neid hervorgegangenen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit: „Was man dann später in der Gesellschaft als Gemeingeist, ‚esprit de corps‘ u.s.w. wirksam findet, verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen Neid. [...] Soziale Gerechtigkeit will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen oder, was dasselbe ist, es nicht fordern können.“61 Den Begriff der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ auf eine mit den Konzepten Status und Rang operierende Literatur zu übertragen wäre – wie im Kapitel zum ‚Gruppenneid‘ gezeigt wurde – ahistorisch. Wenn der von Marjodô angenommene Nichtbesitz über seine eherechtliche Notwendigkeit hinaus weitere Bedeutungsdimensionen hat, dann sind diese im historischen Umfeld anders konturiert. FREUDs Neidtheorie wurde hier jedoch nicht eingebracht, um Differenzen zwischen modernen und mittelalterlichen Formen von Gemeinschaft zu diskutieren, sondern um im Vergleich mit einer ähnlich funktionierenden Neiddynamik zu präzisieren, worin das Spezifische der Freundschafts- und Neidstrukturen im Tristan besteht. Hierbei hilft insbesondere der erste Teil von FREUDs Argument. Für FREUD ergibt sich die Gemeinschaft der Mitglieder der Herde erst durch die gemeinsame libidinöse Bindung an den, dessen Liebe ursprünglich das Objekt
Ebenda. „Gewiss läge es jeder von ihnen nahe, auf die andere eifersüchtig zu sein, allein angesichts ihrer Anzahl und der damit verbundenen Unmöglichkeit, das Ziel ihrer Verliebtheit zu erreichen, verzichten sie darauf, und anstatt sich gegenseitig die Haare auszuraufen, handeln sie wie eine einheitliche Masse, huldigen dem Gefeierten in gemeinsamen Aktionen und wären etwa froh, sich seinen Lockenschmuck zu teilen.“ Siehe: Ebenda, S. 82. Ebenda.
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von Eifersucht und Neid darstellte. Diese Person ist im Gegensatz zu den Mitgliedern der Masse nicht an die Gleichheitsforderung gebunden; sie zeichnet sich vielmehr durch ihre Überlegenheit aus und wird von FREUD als „Führer“ bezeichnet. Identifikation und Gleichheit der Herde werden in FREUDs Theorie der Masse so mit dem uneingeschränkten Narzissmus und der Vorherrschaft eines Führers – sei es der Vater, die Mutter, der Lehrer, Gott, ein General oder auch abstrakt eine Idee – verschränkt. Für FREUD ist die Herde notwendigerweise eine Horde.62 Zieht man dieses Modell vergleichend für die Analyse des Tristan heran, wird die Komplexität der Neidkonstellation rund um Isolde vollständig sichtbar. Wo bei FREUD der Fixpunkt des libidinösen Begehrens mit der Figur des Machthabers zusammenfällt, werden bei Gottfried Begehren und Herrschaft auf unterschiedliche, jedoch miteinander verbundene Figuren verteilt. Marjodôs Neid auf Tristan zielt nicht wie im Falle des im ersten Kapitel analysierten Neids im Herzog Ernst B auf die Anerkennung durch den Herrscher. Da Marjodô und Tristan als Angehörige des Hofes beide die Frau des Königs lieben, gestaltet sich das Verhältnis von Libido und hierarchischer Ordnung weit komplexer. Es stellt sich konkret die Frage, welche Rolle Marke als Ehemann und Herrscher in der Dynamik zwischen gemeinsamem Nichtbesitz und neidischer Aggression spielt. Im Folgenden soll dementsprechend die Rolle Markes für Marjodôs Neid weiter herausgearbeitet werden. 6.3.1.2 Marjodô als Neider und Truchsess des Königs [...] solche nämlich werden Neid empfinden, denen irgendwelche Leute ähnlich sind oder ähnlich zu sein scheinen.63
Im Unterschied zur modernen Schwester des Neids, der Eifersucht, richtet sich Marjodôs nît nicht allein auf den Besitz von Isoldes Minne.64 Auf der Ebene der Emotionen wird zwischen unterschiedlichen Formen des Besitzes differenziert. Während Tristans Verhältnis mit der Königin Neid auslöst und zu einer Störung der Freundschaft führt, bleibt die Beziehung Marjodôs zu Marke trotz dessen ehelicher Verfügungsgewalt über Isolde intakt. Neidlogiken setzen im Tristan folglich nicht einfach dort an, wo einer besitzt, was der andere begehrt, sie offenbaren auch die gültigen Hierarchien: Verhindert Markes Position als König Neid, ruft der Besitz des Gleichrangigen diesen hervor. Um das Umschlagen von Freundschaft in Neid im Tristan verstehen zu können, lohnt es sich, das Verhältnis von
Ebenda, S. 83. Aristoteles: Rhetorik 2, 10, Erster Halbband, S. 95. Damit widerspricht diese Deutung HÜBNER, Erzählform im höfischen Roman, S. 328.
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Marjodô zu Tristan gemeinsam mit Marjodôs Relation zu Marke in den Blick zu nehmen. Tristans Beziehung zu Isolde untergräbt eine soziale Bindung, die sich erst durch Markes Besitz und die gemeinsame Distanz zu Isolde herausbilden kann. Ihre Gemeinschaft ist nicht, wie bei FREUD, Ergebnis einer Gerechtigkeitsforderung, sie spiegelt und stabilisiert die hierarchische Ordnung. Vor dem Hintergrund dieser Freundschaftskonzeption wiegt Tristans heimliche Liebesbeziehung zu Isolde umso schwerer. Tristan ist nicht nur dort erfolgreich, wo sein Gefährte abgewiesen wurde. Als Besitzer von Isoldes Minne tritt er an die Stelle, die König Marke vorher gegenüber den Freunden innehatte. Er hat Zutritt zu Räumen, zu denen nur der König Zutritt haben sollte. Auch Marjodôs Neid verfügt insofern über eine persönliche wie über eine Ordnungskomponente. In Marjodôs Neid äußert sich zum einen der Hass des Unterlegenen, des vergeblich Begehrenden. Er verweist zugleich aber darauf, dass Tristan aus den etablierten Hierarchien ausschert. Neid wird hier mit Aristoteles‘ Ähnlichkeitskriterium als Emotion gezeigt, die klare Unterschiede macht, wer besitzen darf und wer nicht. Insofern lässt sich Marjodôs Neid durchaus in Einklang mit seiner Funktion als Truchsess Markes bringen. Er kann als Empörung desjenigen verstanden werden, der über die Normen und Hierarchien am Hof wacht. Dieser ambivalente Charakter des Neids findet sich im Tristan nicht in den Erzählerkommentaren wieder. Hinweise darauf, dass in dieser Textstelle auch die höfische Ordnung verhandelt wird, findet der Rezipient hingegen in einem weder klar der Erzähler- noch einer Figurenperspektive zuzuordnenden Textteil: dem Ebertraum Marjodôs (GTR 13511–13536), der sich als Binnenerzählung ‚lesen‘ lässt. Mittels einer polar strukturierten Raumsemantik, die Wald und Hof einander gegenüberstellt, zieht der Traum normative Grenzen. Diese werden durch die geschilderte Handlung herausgefordert. Zeitgleich mit Tristans und Isoldes Zusammenkunft sieht Marjodô im Traum einen Eber, der die Tür zu Markes kemenâte durchbricht und das Bett des Königs besudelt. Im Rahmen der Traumlogik wird Tristans und Isoldes Liebesnacht so als Transgression höfischer Ordnung entworfen.65
Vgl. zur Einordnung des Ebertraums MÜLLER, Jan Dirk: Gottfried von Straßburg: Tristan. Transgression und Ökonomie, S. 227: „Höchste Sublimierung und Animalität liegen in der Tristan-minne nahe beieinander, und deshalb ist Marjodôs Traum vom Eber, der das Bett des Königs verwüstet, nicht nur die Projektion eines eifersüchtigen Rivalen, denn Tristan ‚ist‘ tatsächlich dieser Eber – den er bekanntlich im Wappen trägt – ‚ indem er die Ehe des Königs besudelt.“ Bis auf wenige Ausnahmen beziehen fast alle Deutungen das ‚Besudeln‘ des königlichen Bettes auf die Zerstörung von Markes Ehe durch Tristan. Vgl. den Stellenkommentar von Walter HAUG. In: Tristan und Isold, Bd. 2, S. 578–580.
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Damit füllt der Traum zugleich die in der Anfangskonstellation geschilderte Leerstelle inmitten der identitätsbildenden Beziehungen des Protagonisten. Er stellt die Beziehung Tristans und Isoldes als Gefährdung von Markes Position als König dar. Auf der Handlungsebene wird diese Deutung mit Marjodôs Gang zum König virulent. Marjodô informiert Marke über das Geschehen mit dem Hinweis, dass sowohl Markes ê wie seine êre (GTR 13648) auf dem Spiel stehen und tut damit seiner Pflicht als Truchsess Genüge. Auch in diesem Moment bleibt Marjodô ein Neider. Der Erzähler nutzt den Gang zum König, um Marjodôs Emotion für den Rezipienten sichtbar zu machen: Der nîdege Marjodô der nam den künec verholne dô und seite im, daz ein maere dâ ze hove ensprungen waere von Îsolde und Tristande, daz liute unde lande harte sêre missezaeme [...]. (GTR 13637–13643)
Blickt man auf die Anfangskonstellation zurück, dann zielt Marjodôs Reden nicht nur darauf, den König zu schützen und die Hierarchien wiederherzustellen. Marjodô trifft gleichzeitig den von ihm Beneideten. Sein Reden stellt alle am Beginn der Episode aufgezählten Bindungen Tristans in Frage: Die von Marjodô beneidete Beziehung Tristans zu Isolde wird durch den entzündeten arcwân Markes (GTR 13717) gestört und gefährdet. Tristans auf lob und êre gegründeter Rang in der Hofgesellschaft steht, sobald das Gerücht öffentlich wird, zur Disposition. Marjodôs eigene Freundschaft zu Tristan existiert ab diesem Zeitpunkt nur noch als Täuschung. Wie schon in der Vorgeschichte der Brautfahrt erweist sich Neid auch hier als Motor, der die sozialen Beziehungen um den Protagonisten herum in Aufruhr versetzt und neu ordnet. Im zweiten und dritten Teilkapitel zum Tristan rückt dieser Aspekt des Neids weiter in den Fokus. Es wird analysiert, wie der Erzähler die Wirkung des Neids auf das soziale Gefüge der Freundschaft deutet.
6.3.2 Freundschaft als Täuschung Nachdem aus dem Freund Tristans der nîdege Marjodô wurde, kommt dieser nicht mehr zur Ruhe. Marjodô trägt das Gesehene nicht nur an Marke weiter, er unterstützt diesen dabei, Tristan und Isolde Liebesbezeugungen zu entlocken (GTR 13853–13859, GTR 14016–14026). Als diese Versuche scheitern, geht Marjodô ein Bündnis mit dem Zwerg Melot ein, welches nur einen Zweck verfolgt: Es soll dabei helfen, wâren künde, d. h. Beweise, dafür zu erbringen, was Marjodô bisher
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allein wahrgenommen hat (GTR 14235–14260). Marjodôs Funktion als Störer des Minnepaars verfestigt sich so und wird im Text folgendermaßen gedeutet: Marjodô will den Liebesvollzug nicht verhindern, er versucht, das zufällig Entdeckte absichtsvoll und vor den Augen des Königs zu reinszenieren. Annette GEROK-REITER sieht in Marjodô daher die Figur, die die Dissoziation der Räume, in denen das Liebespaar bisher lebte – den öffentlichen der êre und den heimlichen der minne – kollabieren lässt und beide als erster in Kontakt miteinander bringt.66 Dies führt in ihrer Argumentation jedoch nicht zu einer Negativbewertung der minne vom Standpunkt der êre aus, vielmehr funktioniere Marjodôs Bericht vom Gerücht am Hof als Anlass, den Denk- und Wertungshorizont der Minne zu überdenken und neu zu konstruieren. Gottfried nutze den Nullpunkt, um die „starre Opposition êre – Betrug der Liebenden“ aufzulösen, in ein neues „System von changierenden Bezügen und Interferenzen“ zu übersetzen und schließlich die „tradierten Wertungen in einem neuen Relationsdiskurs in das narrative Geschehen ein[zu]rasten“,67 sodass im Text nun die minne definiere, was als êre gelten kann.68 Diesen Prozess bezeichnet GEROK-REITER in ihrem Aufsatz als ‚Umcodierung‘ und führt ihn das erste Mal anhand der Entdeckung des Liebespaars durch Marjodô vor. Schon die Mitteilung des maere an Marke führe zu einer „Ambivalenz der Wertigkeiten“69, in der der Betrug sowohl bei den Liebenden als auch bei ihrem Gerüchte verbreitenden Ankläger verortet werden könne. Indem Marjodôs Beweggründe für den Bericht an den König als Missgunst, Neid und Eifersucht70 offenbart und die Intrigen gegen die Liebenden ausführlich thematisiert und kommentiert werden, verkehre sich die ursprüngliche Zuordnung des Betrugs.71 Nicht der Betrug der Liebenden werde vom Erzähler dezidiert als solcher benannt, vielmehr rückten nun Marjodôs, Melots und Markes vallen und stricke in den erzählerischen Fokus.72 Anhand der Betrugsthematik weist GEROK-REITER überzeugend nach, dass der Erzähler im Tristan einen Prozess der ‚Umcodierung‘ in Gang setzt. Ihre Beschreibung der Minnefeinde konzentriert sich jedoch auf die aus dem Erzählen von
GEROK-REITER, Annette: Umcodierung. Zum Verhältnis von minne und ere in Gottfrieds „Tristan“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 121, 3 (2002), S. 365–389, hier S. 374. Ebenda. Ebenda, S. 387. GEROK-REITER, Umcodierung, S. 374. Damit schöpft GEROK-REITER alle Möglichkeiten der Übersetzung von nît aus, ohne sich für eine zu entscheiden. Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 375–376.
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Neid resultierende Sympathielenkung im Text, sodass unklar bleibt, welche Rolle Missgunst, Neid und Eifersucht genau im Wechsel der Codierungen spielen. Blickt man auf den einzigen Erzählerkommentar zu den Aktionen der Minnefeinde, dann erscheint die Wertung des Minnefeindes als Wahrer gesellschaftlicher Normen oder als gefährlicher Gegner des Minnepaars hier vor allem als eine Frage der Rahmung des Erzählten. Der Erzähler fokussiert Marjodô nicht als Truchsess Markes, sondern in seiner Rolle als Vertrauensperson Tristans. In seinem Kommentar bemüht er sich um eine präzise Definition dessen, was unter valschheit (GTR 15053) in der Freundschaft zu verstehen ist und was nicht. Valsch sind die sozialen Beziehungen der amicitia immer dort, wo der vriunde vriundes bildes treit und in dem herzen vînt ist (GTR 15054 f.). Das Wort valsch bezeichnet somit ein Verhältnis der Diskrepanz zwischen Außen und Innen und formuliert das Missverhältnis als Problem für das Lesen von Zeichen: Die Gefahr in nächster Nähe wird nicht erkannt. Da der Andere als Feind unsichtbar ist, kann man sich nicht vor ihm schützen (GTR 15064). Hierauf aufbauend beinhaltet das Wort auch eine Wertung auf der Ebene der Freundschaft. Marjodôs Verhalten gegenüber Tristan konfligiert mit den klassischen Definitionen der amicitia bei Cicero und Aelred. Er verstößt gegen die Grundbedingung jeder Freundschaft, dass es in ihr „keine Verstellung und keine Heuchelei geben darf.“73 Damit schlägt der Erzähler in seinem Kommentar ein Deutungsmuster vor, das Marjodôs vallen und stricke gegen das Liebespaar allein in ihrer Bedeutung für die Freundschaft zu Tristan ‚liest‘ und die beschriebenen Implikationen für die Herrschaft Markes ausspart. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung gegen den politischen und für den freundschaftlichen Werthorizont wird die von GEROK-REITER behauptete Umcodierung des Betrugs in Bezug auf Marjodô einsichtig. Im Hinblick auf seine Funktion als Truchsess Markes handelt Marjodô in seiner Simulation der Freundschaft politisch klug: Er muss nach wie vor den Beweis für das illegitime Liebesverhältnis Tristans mit der Königin führen, dies kann er umso besser, verbleibt er als Freund Tristans in seiner Nähe. Im Freundschaftsdiskurs hingegen wird die Simulation von Freundschaft zur valschheit und diese zu einem Wertungskriterium, über das der Minnefeind auf der Seite von Trug und Aggression verortet und negativ bewertet werden kann.
Cicero: Laelius VIII, 65. Übersetzung zit. n. Cicero: Laelius. Über die Freundschaft, S. 182–183. Ähnlich: Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch-deutsch. Ins Deutsche übertragen von Rhaban HAACKE. Eingeleitet von Wilhelm NYSSEN, Trier 1978, S. 62–63 (V. 171–178).
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6.3.3 Die Rekonfiguration des nît Marjodôs Neid bleibt im Erzählerkommentar als Emotion nahezu unsichtbar. Allein die Worte eiterîne nît (GTR 15060) verweisen auf die Beweggründe Marjodôs. Der kurze Rückverweis auf Marjodôs Gefühle angesichts der ersten Entdeckung der Liebenden erweist sich jedoch als zentral für die beschriebene Umcodierung. Wie in der Brautfahrt stellt der Erzähler die Emotion durch das Stilmittel der Personifikation als Agens dar. Neid bewirkt die Aggression gegen den Freund und verkehrt so die Zielrichtung jeder Freundschaft: Anstatt dem Freund Gelingen zu wünschen, arbeitet der Neider auf das misselinge des ihm Nahestehenden hin:74 daz ist ein vreislîch mitewist; wan der treit alle stunde daz honec in dem munde, daz eiter, dâ der angel lît; dâ blaet der eiterîne nît dem vriunde misselinge an iegelîchem dinge, daz er gehoeret unde gesiht, und enhüetet nieman vor im niht. (GTR 15056–15064)
Betrachtet man die Beschreibung des Erzählers näher, dann wird die valschheit in der Freundschaft als Eigenschaft des Neids sichtbar gemacht. Es ist der eiterine nît, der das Trugbild der Freundschaft erzeugt, der den nach außen sichtbaren Gebärden der Zuneigung ein hasserfülltes Inneres entgegensetzt und so die Kongruenz von Außen und Innen aufbricht. Um diese Abweichung von der höfischen Norm beschreiben zu können, greift der Erzähler auf Metaphern zurück: Er fasst die Diskrepanz zwischen Innen und Außen im Bild der Biene, die Honig im Mund sammelt, im Stachel jedoch gefährliches Gift, besagten nît,75 trägt. Das in der antiken und mittelalterlichen Tradition meist positiv besetzte Bild der Biene76 wird Vgl. hierzu die Erläuterung der Freundespflichten in Aelreds De spirituali amicitia, V. 119–121: „Der wahre Freund macht die Sache des Freundes zu seiner eigenen. Er lacht mit dem Fröhlichen und weint mit dem Weinenden.“ Siehe: Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft, S. 10–11. Zur Übersetzung von eiterîne als ‚Gift‘ vgl. den Eintrag ‚eiter‘ in: LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemid=T01796 [31. Januar 2023]. Im Anschluss an Aristoteles und Vergil findet sich in zeitgenössischen religiösen Texten die Vorstellung, dass Bienen ihre Brut nicht gebären, sondern von Blüten sammeln. Die Biene wurde dementsprechend als Exempel der Jungfräulichkeit und als Bild für Maria gebraucht. Darüber
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im Kontext des Neids neu bewertet und auf das Sprechen des Neiders bezogen.77 Erneut steht damit das Sprechen des Neiders zur Disposition; dieses Mal nicht als der Wahrheit unkundige Verleumdung, sondern als Sprechen, das dienest und heinlîch (GTR 15079) anbietet, das smeichende umwirbt (GTR 15090), während der Sprecher auf Schaden sinnt. Neid ist jedoch nicht nur ursächlich für die Diskrepanz von höfischem Sein und Schein. Wenn der Erzähler die Bedrohung durch die valschheit beschreibt, dann tut er dies regelmäßig in Termini, die die Nähe der sozialen Beziehung betonen: Neben der Bezeichnung vriund (GTR 15054) verwendet er teils in Form von Sentenzen die Begriffe nâchgebûr (GTR 15050), hûsgenôz (GTR 15052), mitewist (GTR 15056).78 Auf diese Weise greift er eine der Grundlagen von Neid heraus und beschreibt diese für das Zusammenleben am Hof als besonders gefährlich: Neid richtet sich, wie schon im ersten Teil der Analyse ausgeführt wurde, nicht auf
hinaus steht der wohlorganisierte Bienenstaat für die katholische Kirche, der Fleiß der Biene für die christliche Lebensführung. Vgl. STAUCH, Liselotte: Biene, Bienenkorb. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 2 (1939), Sp. 545–549. http://www.rdklabor.de/w/?oldid=88878 [31. Januar 2023]. Gottfried arbeitet hier mit einem Bild des Neids, das zwar selten, jedoch nicht singulär ist. In seiner Analyse der Darstellungstradition von Neidhart als Herr über die Bienen verweist Stefan MATTER auf den um 1330 entstandenen Sündentraktat der Etymachia, der Neid ebenfalls mit dem Bild der Bienen verknüpft und anhand der Gegenüberstellung des Honigs im Mund und des Stachels im Schwanz in ganz ähnlicher Weise das falsche Sprechen des Neiders vorführt: Danach furt der nyd uff dem helm ain nest mit bynnen. Der bynn haut das honig in dem mund und den angell in dem schwantz, da er mit hecket. Also tůnd die nydigen und die nachreder: wan die lüt by in sind, so hănd si gar suͤ sse wort, aber alsbald man in den ruggenn kert, so sind ire wort sch(dlich, und heckent und verwundent vast. Davon spricht David in dem Salter: ‚Herr, mich habend umbgeben die bynen. Als daz feür in den dorn habent si gebrent, und in dem namen dez allmechttigen Gotz binn ich ann inn gerochen‘. (Etymachia (Fassung B), Z. 1020–1027) MATTERs zweites Beispiel legt nahe, dass das Neid-Bild aus der Verknüpfung der Hauptsünden mit bestimmten Sprachsünden hervorgeht: In der deutschen Übersetzung des Fiore di virtu (zwischen 1313–1323), den Pluemen der Tugend von Hans Vintler, findet sich das Bild der Bienen im Kapitel über die bisweilen auch mit Neid verbundene Sprachsünde der Schmeichelei (V. 2466 f.). Siehe: MATTER, Stefan: Neidhart und die Bienen. Überlegungen zur Text- und Bildtradition des Faßschwankes. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001. Hrsg. von Eckart Conrad LUTZ/Johanna THALI/René WETZEL, Tübingen 2005, S. 435–455; The Latin and German Etymachia. Textual History, Edition, Commentary. Hrsg. von Nigel HARRIS, München 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 102), S. 211 u. Vintler, Hans: Die Pluemen der Tugent. Hrsg. von Ignaz V. ZINGERLE, Innsbruck 1874 (Ältere tirolische Dichter 1). Vgl. zu den Sentenzen in Eilharts und Gottfrieds Tristan: TOMASEK, Sentenzverwendung im höfischen Roman des 12. und 13 Jahrhunderts, S. 47–63. Die Sentenz von den sûre nâchgebûr (GTR 15050) wurde in der Berliner Handschrift N bereits von einem mittelalterlichen Benutzer als besonders wichtig wahrgenommen und angestrichen. Vgl. ebenda, S. 54.
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den Fernen, sondern auf den Nahestehenden. Der hier geschilderte Neid in der Freundschaft stellt insofern eine besondere Zuspitzung der im Neid schon immer definitorisch angelegten Eigentümlichkeit des Hasses auf den Ähnlichen dar. Zusammengefasst isoliert der Erzähler in seiner Definition der valschheit in der Freundschaft also drei Aspekte des Neids: Die Aggression, die Verstecktheit der Emotion und die Nähe zwischen Neider und Beneidetem. Bemerkenswerter als die genannten sind aber die aus der Diskurstradition der Emotion bekannten Merkmale, die in der kurzen Skizze fehlen. Der Erzähler spart das Neidobjekt aus. Er erwähnt weder, worauf sich der Neid richtet, noch worin der emotionsauslösende Unterschied zwischen Marjodô und Tristan besteht. Damit schweigt er sich nicht zuletzt über die Transgression der höfischen Hierarchien durch Tristan aus, auf die Marjodôs Neid als Emotion strukturell verweist. Von hier aus wird vollends deutlich, worin die Rolle des Neids in der von GEROK-REITER konstatierten Umcodierung des Betrugs besteht: Lässt sich der Neid zum Zeitpunkt seines Entstehens als Reaktion auf den die Freundschaft verunsichernden Besitz Isoldes lesen, stehen im Erzählerkommentar nun allein seine Folgen für die Freundschaft im Mittelpunkt. Indem im Wechsel von der ersten zur zweiten Szene, in denen das Liebespaar bei Gottfried entdeckt wird, jeweils andere Aspekte des nît in der Freundschaft fokussiert werden, lässt sich ein fließender Übergang von der Unaufrichtigkeit des Liebespaars gegenüber seiner Umgebung zur valschheit Marjodôs inszenieren. Die Umcodierung des Betrugs ist insofern zumindest in Teilen auch eine Rekonfiguration des nît. Mit diesem Prozess einher geht zugleich eine Entdifferenzierung der Emotion. Dort, wo der Neid nicht mehr als Hierarchien verhandelnde Distinktionsemotion behandelt wird, lässt er sich auch verallgemeinern. Der Erzähler bezieht seine Aussagen über die valschheit in der Freundschaft nicht nur auf Marjodô, sie werden auf dessen Partner im Aufspüren des Minnepaars ausgeweitet: Melot und Marjodô sind nicht nur über den gemeinsamen Anfangsbuchstaben M miteinander verbunden,79 die Figur des Melot zeichnet sich im Anschluss an den Erzählerexkurs auch durch die gleiche Ambivalenz von öffentlichen Freundschaftsbekundungen und heimlichen Intrigen gegen das Liebespaar aus (GTR 15073–15079). Für den Neid typische Verhaltensmerkmale werden auf diese Weise auf eine Figur übertragen, die im vorherigen Textverlauf nicht als Neider gekennzeichnet wurde. Gleiches lässt sich auf der Ebene der Metaphern beobachten: Um Isolde vor der von den Minnefeinden ausgehenden Gefahr zu warnen, verwendet Tristan sowohl in Bezug auf Zur Verknüpfung der beiden Figuren über den gemeinsamen Anfangsbuchstaben ‚M‘ vgl. WILLSON, H. B.: ‚Vicissitudes‘ in Gottfriedʼs Tristan. In: The Modern Language Review 52, 2 (1957), S. 203–213, hier S. 211 sowie WILLSON, H. B.: Gottfriedʼs ‚Tristan‘. The Coherence of Prologue and Narrative. In: The Modern Language Review 59,4 (1964), S. 595–607; hier S. 602.
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Marjodô als auch in Bezug auf Melot das im Erzählerkommentar mit Neid assoziierte Bild des eiters, des Gifts (GTR 15088).
6.3.4 Jener slange, dirre hunt Imagery is a potent weapon in the art of denunciation.80
Metaphern übernehmen eine zentrale Rolle in der sich an den Erzählerkommentar anschließenden Überleitung zur Bettsprungepisode: Melot und Marjodô werden von Tristan zunächst beide als eiterslangen in tûben bilde (GTR 15088 f.) bezeichnet, wenig später spricht Tristan von der slange Melote (GTR 15100) und vom hunde Marjodô (GTR 15101), der Erzähler schließlich bestätigt diese Zuordnung und übernimmt sie: si beide wâren ouch alsô:/ jener slange, dirre hunt (GTR 15102 f.). Die Metaphern wiederholen zum einen die Diskrepanz zwischen freundlichen Gebärden und heimlichen Intrigen, zum anderen treiben sie die Deutung der valschen Freundschaft weiter voran. Tristan bebildert seine Gegner als hybride Doppelwesen – ausgestattet vorne mit dem Anlitz einer Taube und hinten mit dem Schwanz der Schlangenbrut – und charakterisiert das Verhalten der Minnefeinde auf diese Weise als besonders perfide. Wie das Beispiel der eiterslangen in tûben bilde zeigt, zielen die Metaphern auf eine denunzierende Wirkung: Sie geben vor, im Bild den wahren Charakter des Minnefeindes zu enthüllen und präsentieren Marjodô und Melot als gefährliche Aggressoren. Die Schlange verletzt sowohl durch ihr eigenes Gift als auch durch das ihrer zahlreichen Brut. Der Hund kann jeden Moment beißen. Mit der Auswahl dieser Bilder reiht sich Gottfried ein in eine lange Bildtradition. Diese erschöpft sich nicht in der Assoziation der Schlange mit Lucifer in der Schöpfungsgeschichte. Schlange und Hund sind, wie Frans N. M. DIEKSTRA und Harold Bernard WILLSON gezeigt haben, beides Bilder für die mit invidia im Sündendiskurs verbundene Sprachsünde der detractio.81 Insofern verwundert es nicht, dass der Erzähler am Ende einer Sequenz, die mit einer durch nît gestörten
DIEKSTRA, The Art of Denunciation, S. 442. So schildert Peraldus in seiner Summa de vitiis den neidischen Verleumder ebenfalls als Schlange. Der Verleumder ähnele der Schlange in dreierlei Weise: 1. Wie die Schlange hinterhältig still beißt, schmeichelt der Verleumder öffentlich dem Gegner, um ihm zu schaden, wenn er ihm den Rücken zugedreht hat. 2. Wie die Schlange sich mit schmeichelnden Bewegungen nähert, schmeichelt der Verleumder seinem Gegner, bevor er ihn erledigt. 3. Wie die Schlange Schmutz frisst, beschmutzt der Verleumder seinen Mund, indem er vom Anderen das Gemeinste annimmt. Vgl. Peraldus: Tractatus IXb. De peccato linguae, 5, 395. In: Peraldus: Summa de vitiis, Lyon 1668. https://www.public.asu.edu/~rnewhaus/peraldus/ [31. Januar 2023]. Allein könnte das Bild der Schlange noch in anderen Kontexten gedeutet werden. Zusammen mit dem Bild des
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Freundschaft beginnt, die für die detractio typische Kommunikationskonstellation vor dem Rezipienten entfaltet: si triben vruo unde spâte mit rüege und mit râte ir archeit wider Marken an, biz daz er aber wider began an sîner liebe wenken, die gelieben aber bedenken und aber ir tuogenheite lâge unde ursuoche leite. (GTR 15109–15116)
Marke tritt hier als weitere Figur in das vom Erzähler skizzierte Konfliktfeld zwischen Tristan und seinen valschen Freunden ein. Er funktioniert in dieser Darstellung als Dritter, dessen Meinung über Tristan und Isolde die Minnefeinde durch rüege und râte zu verändern und negativ zu beeinflussen versuchen. Das Liebespaar hingegen ist abwesend, es wird nicht mit, sondern über Tristan und Isolde gesprochen. Mit dieser Anordnung der beteiligten Personen ruft der Erzähler das wichtigste Erkennungszeichen der detractio auf: Die Sprecher legen ihre Kritik nicht offen, sondern reden gegenüber Dritten heimlich und verdeckt schlecht über den Anderen. Im Unterschied zu Eilharts Tristrant verringert sich hier indes nicht die Ehre der Abwesenden, sondern die Verbundenheit Markes zu seiner Frau und seinem Neffen Tristan. In der Vielfalt der Definitionen der Sprachsünde der detractio bis zum dreizehnten Jahrhundert kommt Gottfrieds Darstellung der detractio so der des Bernhard von Clairvaux oder des Pseudo-Anselmus am nächsten: Das Sprechen der Neider beeinflusst die Emotionen des Dritten gegenüber dem Beneideten, es bewirkt den Verlust von Liebe und Achtung.82 Diese Darstellung hat Folgen für die Rezeption der Aufpasserfiguren in Gottfrieds Tristan. Melot und Marjodô sind nicht nur valsche Freunde, bei der Planung ihrer Intrigen greifen sie auch auf unlautere Formen der verdeckten Rede zurück.
Hundes jedoch wird es eindeutig. Der Hund ist, wie Diekstra ausführt, das am häufigsten verwandte Bild für die detractio. Vgl. DIEKSTRA, The Art of Denuncation, S. 443. WILLSON weist darauf hin, dass Gottfried in dieser Textstelle wahrscheinlich auf Bernhard von Clairvaux zurückgreift. Vgl. WILLSON, The Coherence of Prologue and Narrative, S. 602–603. In seinen Predigten über das Hohelied verbindet Bernard das Bild des Hundes mit der detractio in der einprägsamen Warnung: Videte detractores, videte canes! Vgl. Bernard von Clairvaux: Summa canticorum LXVI, 9. In: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch. Hrsg. von Gerhard B. WINKLER, Bd. 6, Innsbruck 1996, S. 378–389. Vgl. Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica Canticorum XXIV, S. 154 f. u. Liber de S. Anselmi simil. PL 176, 1000. Vgl. zu dieser Interpretation der detractio: CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 240.
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Liest man die Handlungen gegen das Liebespaar vor dem Hintergrund der detractioTradition, dann werden rüege und rate Melots und Marjodôs unabhängig davon, ob sie die Wahrheit wiedergeben oder dazu dienen, eine die Herrschaft und Ehe des Königs gefährdende Situation aufzudecken, negativiert. Die implizite Wertung erstreckt sich nicht allein auf die Sprecher, auch derjenige, der ihnen zuhört, macht sich schuldig.83 Die kirchlichen Autoren raten dazu, die Ohren gegenüber der üblen Nachrede zu verschließen und ihr keinen Glauben zu schenken.84 Im Wechsel vom Freundschafts- zum detractio-Diskurs weitet sich der Fokus der Erzählerrede so noch einmal aus: Indem Marke den über Metaphern und Kommunikationssituation als detractio markierten Ratschlägen folgt, rückt er für den aufmerksamen Rezipienten schon vor dem huote-Exkurs ins Zwielicht.85 Zu den zwei über den Anfangsbuchstaben ‚M‘ als malum markierten Minnefeinden, tritt in Folge des detractio-Diskurses nun Marke als Dritter hinzu.86 Blickt man von diesem Ende des Erzählerkommentars noch einmal zurück auf seinen Anfang, dann lässt sich ausgehend vom Neid ein schrittweiser Wandel in den Beschreibungsmustern der Minnefeinde beobachten. Über die Emotion und ihre Deutungstraditionen entfaltet sich eine Dynamik, in deren Verlauf sich verschiedene Diskurse miteinander verschränken und die gesellschaftliche Aufsichtsfunktion immer stärker negativieren: Ausgehend von Marjodôs Neid auf Tristan eröffnet der Erzähler zunächst eine Diskussion über falsches und richtiges Verhalten in der Freundschaft, um die Verdecktheit der valschen Freundschaft kurz darauf als Heimlichkeit der neidtypischen detractio zu charakterisieren und so im Diskurs der Sprachsünden zu verorten. Direkt bevor die Minnefeinde das illegitime Minnepaar des Beischlafs überführen können, verliert ihr Handeln auf diese Weise jede Legitimität. Damit jedoch nicht genug. Mit jeder kleinen diskursiven Verschiebung diskreditiert der Kommentar auch eine größere Anzahl von Gegnern des Liebespaars. Ist Marjodô im Text zunächst ein einzelner Neider, erlaubt es die weite Neiddefinition des Erzählerkommentars Melot ebenfalls als valschen Freund zu bezeichnen. Indem Marjodôs und Melots Aktionen gegen das Liebespaar als detractio beschrieben werden, macht sich schließlich auch Marke als Zuhörer schuldig. Zugespitzt könnte man also sagen: So unsichtbar und unspezifisch der Neid an dieser
Zur Sündhaftigkeit des Hörers der detractio vgl. die Ausführungen im Unterkapitel 2.4. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 249. Von diesem Verhalten hebt sich das Verhalten des Königs in Strickers Der junge Ratgeber deutlich ab. Was dies für die Deutung der Herrscherfigur bedeutet, darauf geht das nächste Kapitel genauer ein. Bereits WILLSON verknüpft alle drei Figuren als „unholy trinity“ über den geteilten Anfangsbuchstaben. Vgl. wiederum WILLSON, The Coherence of Prologue and Narrative, S. 602.
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6 Neidische Minnefeinde
Stelle als Emotion geworden ist, als Instrument der Diskreditierung der Kritik an den Liebenden funktioniert er genau in dieser Unschärfe.
6.4 Der neidische Rivale als Alter Ego des Protagonisten den frouwen herren allen was mit fröuden alsô wol, daz ir herzen wunne vol sich nihtes hinderkâmen noch nie kein ahte nâmen ûf diz noch daz, sus oder sô, ân ein ritter, der was dô, der hâte von geschiht gesehen, als noch dicke moht beschehen, der juncfrouwen gebaerde. (R 3922–3931)
Im ca. 80 Jahre später entstandenen Reinfried von Braunschweig steht die Person der gesellschaftlichen Aufsicht noch einmal vor anderen Schwierigkeiten als im Tristan: Nicht der Beweis für die illegitime Liebe erfordert größte Klugheit und List, schon die Erkenntnis, ob die Liebenden überhaupt eine Grenzverletzung begehen, bereitet Probleme. Inmitten des Festes, das als Abschluss eines zweitägigen Turniers am Königshof von Dänemark veranstaltet wird, sieht ein Ritter die Hofdame der Königstochter aus einer Laubhütte heraustreten und prüfend um sich schauen, ob sie beobachtet wird. Ihr folgen in länger werdenden zeitlichen Abständen zunächst die Königstochter selbst und dann der Turniersieger Reinfried. Der aufmerksame Beobachter weiß so, dass sich Reinfried und die Königstochter zusammen in der Laubhütte aufgehalten haben, er weiß jedoch nicht, was sich darin zugetragen hat. Die der höfischen Öffentlichkeit verborgene Situation bedarf der Ausdeutung. Innerhalb dieses Spiels mit Wissen und Nichtwissen, höfischer Öffentlichkeit und Heimlichkeit wird die Figur des Beobachters im Reinfried ganz auf ihre Funktion reduziert87: Er muss das Verborgene aufdecken und auf seine Verträglichkeit mit den gesellschaftlichen Normen abgleichen. Wer er ist und welchen Rang er innerhalb der Hofgesellschaft einnimmt, steht im Erzählprozess hinter dieser Aufgabe zurück. In auffälliger Weise bleibt der anonyme Ritter in dieser Szene sowohl namen- als auch körperlos, er wird ohne einführende Beschreibung allein anhand seiner Beobachtung eingeführt. Im Gegensatz zu den anderen Mitglie-
Zur gleichen Schlussfolgerung kommt bereits ACHNITZ: Babylon und Jerusalem, S. 73.
6.4 Der neidische Rivale als Alter Ego des Protagonisten
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dern der Hofgesellschaft, die kein ahte nehmen (R 3926), tritt er aus der Masse als Einzelfigur heraus: Er ist derjenige, der von geschiht („zufällig“ R 3929) sieht. Dies bedeutet im Vergleich mit Antret und Marjodô auch, dass hier ein zunächst unbefangener Beobachter dem Minnepaar gegenübertritt. Weder Neid noch Minne präfigurieren seine Beziehung zu Reinfried und Yrkane. Stattdessen konzentriert sich die Narration auf die Art und Weise, wie der Ritter das Geschehen wahrnimmt und wie er das Wahrgenommene deutet. Dieses Erzählinteresse wird insbesondere über die Fokalisierung sichtbar. In dem Augenblick, in dem sich die Minnedame nach möglichen ungewollten Zuschauern umsieht, verschiebt sich die Fokalisierung vom Minnepaar auf den Beobachter, sodass der Rezipient Schritt für Schritt nachvollziehen kann, welche Sinnesdaten der Ritter sammelt und welche Schlüsse er aus diesen zieht. Damit wird zugleich den von der Hofdame sorgsam choreographierten Verheimlichungsstrategien eine neue Bedeutung verliehen. Sie schlagen im Falle des Ritters fehl und entfalten in Umkehrung der intendierten Wirkung eine sich steigernde Spirale der Aufmerksamkeit: Würdigt der Ritter die seltsame Gebärde der Hofdame zunächst keines Gedankens, löst das Sehen der vom Küssen zerzausten Königstochter bei ihm Fragen aus. Die Struktur der sich steigernden Wiederholung macht das Erkennen als zweistufigen Prozess sichtbar: Bei jedem Neuauftritt einer Figur auf der Bühne des höfischen Festes wird terminologisch sorgfältig zwischen dem Wahrnehmungsprozess, dem sehen, und der Verarbeitung der Sinnesdaten durch Verstand und Herz, sinne (R 3987) unde herze (R 3975), unterschieden.88 So rückt die Interpretation der Sinnesdaten, der Sprung von der Wahrnehmung zum Urteil, selbst in den Fokus und wird zum Problem: nu zêh er sî der minne, nu lât er sî unschuldic. sîn sinne ungeduldic sint umb ein jâ und umb ein nein. (R 4006–4009)
Der Ritter fällt nach langem Zweifel ein falsches Urteil. Zwar liest er die Zeichen der Minne an den beiden Verliebten richtig, seine Folgerung, jâ sî twanc der minne pîn/daz sî sich zemen flâhten (R 4012 f.) ist jedoch ein Produkt des arcwân (R 4028) und wird dementsprechend vom Erzähler als falsches Urteilen, als moralische Verfehlung im Urteilsprozess charakterisiert. Der arcwân hindert ihn daran, das rich-
Der abwechselnde, nicht unterscheidende Gebrauch von sinne und herzen weist zurück auf die frühscholastische Verortung der anima rationalis im Herzen. Vgl. hierzu schon: GEWEHR, Wolf: Hartmann‘s ‚Klage-Büchlein‘ als Gattungsproblem. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 91, 1 (1972), S. 1–16, hier S. 12–13.
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tige Urteil zu fällen, nämlich die dem Rezipienten bekannte unschulde (R 4029) zu erkennen. Über den Fehltritt des arcwân verliert die Figur der gesellschaftlichen Aufsicht im Text ihre Glaubwürdigkeit, sie kann gegenüber dem Liebespaar nicht mehr die gültige Ordnung vertreten. Zwar weist der Blick des Ritters richtigerweise darauf hin, dass Reinfrieds und Yrkanes Minne – wie auch in der Laubhüttenszene – über lange Zeit der Gesellschaft entzogen ist. Wie Wolfgang ACHNITZ gezeigt hat, orientiert sich Reinfried in seiner Liebe zu Yrkane am Konzept der hohen Minne. Die Liebenden streben keine Ehe an, vielmehr tritt Reinfried heimlich in Yrkanes Minnedienst, er zieht als Minneritter für seine Dame durch das Land.89 Indem der Ritter die Liebenden in seinem arcwân fälschlicherweise des Beischlafs verdächtigt, wird mögliche Kritik der Rezipienten an dieser Variante der hohen Minne jedoch diskreditiert. Im Gegensatz zu Eilharts und Gottfrieds Tristan bedarf es hier keines Neides, um den Gegner der Liebenden ins Zwielicht zu rücken. Seine Opposition gegenüber dem Liebespaar geht von Beginn an von falschen Prämissen aus. Trotzdem wird auch im Reinfried die Figur der gesellschaftlichen Ordnung als Neider gekennzeichnet. Aus dem arcwân geht im Text verbunst hervor.90 Dies wirft die Frage auf, welche Funktionen jenseits der Sympathielenkung Neid im Verhältnis von Liebenden und gesellschaftlicher Ordnung übernimmt. Wie wird der Neid im Anschluss an den vorangegangenen Urteilsfehler konfiguriert? Das folgende Teilkapitel nähert sich dieser Frage zunächst von Seiten der mit dem Neid verbundenen kognitiven und emotionalen Inhalte.
ACHNITZ: Babylon und Jerusalem, S. 69–70. Die Gesellschaftsferne der Liebe zwischen Reinfried und Yrkane bleibt über den gesamten Zeitraum des ersten Romanteils erhalten. Nachdem er den Gerichtskampf gewonnen hat, entführt Reinfried Yrkane zunächst, anstatt den König um die Hand seiner Tochter zu bitten. Vgl. hierzu die Deutung von Gunda DITTRICH-ORLOVIUS, die die Entführungsszene im Kontext der nicht gesellschaftlich begründeten Liebe aus nâtûre liest: DITTRICHORLOVIUS, Gunda: Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion im ‚Reinfried von Braunschweig‘, Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 34), S. 167–168. Interessanterweise ist dies nicht die erste Erwähnung von Neid im Reinfried. Im Kontext des Turniergeschehens betont der Erzähler, dass der erwartbare nît der Ritter auf Reinfrieds Sieg am ersten Turniertag ausbleibt (R 1336 f.). Indem der Erzähler unterschiedliche Formen des Neids mit unterschiedlichem Vokabular adressiert, zieht er nicht nur eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem agonalen Neid der Ritter (nît) und dem Missgönnen der Liebesbeziehung (verbunst) ein. Indem der nît ausbleibt und die verbunst nicht, wird zugleich die Minnefeindschaft als Thema des ersten Teils des Reinfried etabliert. Zum Topos des ausbleibenden Neids vgl. das Abstract zu folgendem bisher unveröffentlichten Konferenzbeitrag: LIEBERICH, Eva: Semiotics of Envy and Recognition (Abstract zur Konferenz Literature and Social emotions, Bristol 22.06.2018). https://literatureandsocialemotions.wordpress.com/abstracts/ [31. Januar 2023].
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6.4.1 Verbunstes gir Über zweihundert Verse91 steht im Reinfried die Handlung in Form einer narrativen Pause still. Die Geschichte der Liebenden wird angehalten, aber auch ihr Beobachter bleibt tatenlos. Wovon also wird erzählt, wenn die erzählte Zeit nahezu vollständig ausgeblendet wird, Erzählzeit und erzählte Zeit beginnen deckungsgleich zu werden? Zum einen werden in Form interner Fokalisierung alle Gedanken und Emotionen des anonymen Ritters aufgezeichnet, zum anderen erklärt der Erzähler in einem Exkurs, wie diese miteinander verknüpft sind. Auf diese Weise rückt das mit der Beobachtung des Minnepaars verbundene Denken und Fühlen selbst in den Fokus des Erzählens. Der Erzähler zeigt, wie sich beides Schritt für Schritt verändert. Während die Handlung stillsteht, entfalten Kognition und Emotion an dieser Stelle eine erstaunliche Eigendynamik: Dô er kam in die sinne daz er diu zwei der minne bewaenen wolte unde zêch, der gedenke er sô vil lêch und gap dâ zuo, daz im der sin dur ein verbünnen viel dâ hin daz sich sîn herz vergâhte, zehant er dô gedâhte, ‚ei war umb würbe du niht vor? [...]‘ (R 4085–4093)
Nachdem der Ritter sich aufgrund seines arcwân von der Schuld der beiden Liebenden überzeugt hat, verliert er sich weiter in Gedanken über das Geschehen. Sein Nachdenken gerät dabei außer Kontrolle: Dadurch, dass er sich ihm im Übermaß hingibt (R 4088) und sich übereilt (R 4091), führt es ihn auf neue Irrwege: Das Nachsinnen über die vermeintliche Transgression des Protagonisten und der Königstochter, das alsô groze[...] dinc (R 3985), setzt nun ein verbünnen in Gang. ‚Neid‘ wird im Reinfried auf diese Weise als Produkt falschen Urteilens, falschen Denkens ausgewiesen. Vergleicht man das beschriebene Verhältnis von Neid und Liebe mit dem bei Eilhart und Gottfried, fallen schon hier Unterschiede in der Konzeption auf. Der Neid geht der Beobachtung des Liebesverhältnisses nicht wie bei Eilhart voran, er ist auch keine Folge eigenen Begehrens92 wie bei Gottfried. Vielmehr wird er als Die Erzählpause dauert von R 3975 bis R 4194 an. So deutet Walter HAUG in seiner strukturalen Deutung des REINFRIED die Minnefeindschaft des Ritters und blendet dabei den Prozess aus, der zur konkurrierenden Werbung des Ritters um Yrkane führt. Vgl. HAUG, Walter: Von ‚aventiureʻ und ‚minne‘ zu Intrige und Treue. Die Subjekti-
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Folge der falschen Ausdeutung von Sinnesdaten, also als Resultat einer irregegangenen Aufsicht über die Liebenden, inszeniert. Der neidische Minnefeind erscheint insofern als Abweichung der huote-Figur. Wie nahtlos die Übergänge zwischen gesellschaftlicher Aufsicht und verbunst gestaltet werden, beweist ein Blick auf die gleichbleibend negative Bewertung des Minnepaars. Das von gesellschaftlichen Normen geprägte Negativurteil wird in der Logik des Neids personalisiert und in ein Missfallen am Besitz des Anderen überführt: Die verbunst, übersetzt als Missgunst,93 richtet sich nun darauf, dass der Andere etwas besitzt, was der Ritter nicht besitzt. Gesellschaftliche Kritik und soziale Verfehlung gehen so unmittelbar ineinander über. Neid wird im Reinfried jedoch nicht nur als Produkt eines falschen Urteils, sondern auch als Fortsetzung des falschen Denkens inszeniert. Im Gegensatz zur modernen Auffassung von Missgunst als vornehmlich auf die Person ausgerichteter Form des neidischen Vergleichs ist von der verbunst der Schritt zum eigenen Begehren des Neidobjekts nicht weit. Was der Andere dem Ritter als Besitz voraus hat, das will dieser selbst besitzen. Er denkt: ‚ei war umb würbe du niht vor? [...]‘ (R 4093) Damit entwickelt sich hier aus dem Neid heraus eigenes Begehren: Der Ritter beobachtet nicht mehr nur die vermeintlich unstatthafte Minne zwischen Reinfried und der Königstochter, er möchte selbst die Königstochter minnen. Wolfgang ACHNITZ hat in seiner Studie zur Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und Apollonius von Tyrland bereits auf die doppelte Funktion des Ritters im Text hingewiesen und sie im Rahmen verschiedener literarischer Traditionen verortet. Der Ritter ist auf der einen Seite eine Personifikation der huote aus dem Minnesang94 und agiert zugleich doch auch als Rivale, wie er aus dem Figureninventar von Brautwerbungserzählungen bekannt ist.95 Gemäß seines Fokus auf die literarischen Traditionen des Reinfried sind für ACHNITZ diese Rollen statisch. Dabei übersieht er, wie differenziert über das Erzählen von Emotionen Veränderungen initiiert werden. Blickt man auf die beschriebene Abfolge
vierung des hochhöfischen Aventürenromans im ‚Reinfrid von Braunschweig‘. In: Liebe und Âventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1988. Hrsg. von Paola SCHULZE-BELLI/Michael DALLAPIAZZA, Göppingen 1990, S. 7–22, hier S. 14–15. Verbunst. Vgl. für diese Übersetzung LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1878, Sp. 85. Als Belege für das Funktionieren des anonymen Ritters als Figur der gesellschaftlichen Aufsicht führt ACHNITZ die im weiteren Erzählverlauf mitgeteilten Informationen über den Ritter an: Er gehört der innersten Hofgesellschaft von kindes beinen an (R 4127), trägt des künges kleider und ist dessen oberster Rat (R 5594). Insofern agiere er, wenn er das Liebesverhältnis beobachte und aufzudecken drohe, auch als Repräsentant gesellschaftlicher Normen. Vgl. ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 73–74. Ebenda, S. 73.
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von arcwân, nît und minne, dann entfaltet die Emotion ‚Neid‘ an dieser Stelle eine grenzüberschreitende, performative Dynamik. In der Trias von arcwân, nît und minne kommt ‚Neid‘ die Rolle des Bindeglieds, des ‚Umschalters‘ zu: Die verbunst kodiert das gesellschaftliche Missfallen in das einer Einzelperson um. Sie überführt Kognition in Emotion. Und sie verwandelt Distanz in Begehren. In Abweichung von den bisher analysierten Beziehungen zwischen Neid und Gesellschaft wird durch die Emotion nicht die Position des Beneideten in Frage gestellt und dynamisiert. Vielmehr wird die Position des anonymen Ritters von arcwân zu verbunst, von verbunst zu Minne Schritt für Schritt innerhalb der höfischen Ordnung verschoben.96 Aus dem Vertreter der höfischen Ordnung wird durch die Emotion eine Gefahr für die höfische Ordnung. Diese Variation klassischer Neidschemata macht sich gleichfalls auf der Handlungsebene bemerkbar. Typische Neidhandlungen wie die Verleumdung des Beneideten beim Herrscher verzögern sich derart, dass sie kaum mehr als Folgen von Neid erkennbar sind.97 Erst am Ende des ersten Teils des Romans verteidigt Reinfried die Ehre der Königstochter gegen die Anschuldigungen des Ritters. Über weite Strecken des Romans steht hingegen die Position des Neiders selbst zur Debatte. Es ist der aus Neid Liebende, der aus der Ordnung herausfällt und der zwei Mal in Folge den Hof verlassen muss:98 Weil er der Königstochter seine Minne anträgt, verliert er ihre Gunst und darf ihr nicht mehr vor Augen treten. Als er sie mit der angeblich illegitimen Liebesbeziehung zu Reinfried zu erpressen sucht (R 5154–5156), weist sie ihn außer Landes (R 5268–5278). Die zweite Verbannung steigert die Bedrängnis des Ritters weiter und macht ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter. Der Fokus des Erzählens liegt dieses Mal ganz auf der Stellung des Ritters am Hof und seiner Bezie Insofern kann auch der Deutung von Gunda DITTRICH-ORLOVIUS nur teilweise zugestimmt werden: Im Vergleich mit dem Tristan und dem Engelhard beobachtet sie richtig, dass die Konfrontation zwischen Liebenden und Gesellschaft für den Autor an Interesse verliert. Der Gegenspieler der Liebenden repräsentiere nicht mehr die Gesellschaft, sondern die unminne, die die wahre minne bedrohe. Dabei verliert sie jedoch aus dem Blick, dass die Gesellschaft als Kritiker des Liebespaars nicht einfach ausgeblendet wird, sondern die fehlgeleitete Liebe des anonymen Ritters erst aus der gesellschaftlichen Aufsicht hervorgeht. Inszeniert wird somit ein Veränderungs- und Umdeutungsprozess, in dessen Zentrum die verbunst steht. Vgl. DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 47–48. Vgl. zur späten Verleumdung: DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 46–47. Die Forschung betont einhellig, dass der dänische Ritter an sich als vorbildliche Figur dargestellt und erst durch seine falsche Liebe zum negativ besetzten Gegenspieler Reinfrieds wird. Vgl. zum Beispiel: OHLENROTH, Derk: ‚Reinfried von Braunschweig‘. Vorüberlegungen zu einer Interpretation. In: Positionen des Romans im Spätmittelalter. Hrsg. von Walter HAUG/Burghart WACHINGER, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 67–96, hier S. 89–90 oder ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 89.
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hung zum König. Die Königstochter lässt seine Rückkehr an den Hof zu, weil ihn König und Hof als obersten Rat, als besten aller Ritter, vermissen (R 5408–5413). Als die Königstochter den Ritter erneut aus den bekannten Gründen verbannt, kann sie nicht umhin, ihrem Vater alles zu erzählen. Der König sendet dem Ritter daraufhin einen Absagebrief, indem er ihm seine Huld versagt und ihm die Verfolgung durch ihn und alle seine Lehensleute androht. Mit diesem Brief ist der soziale Rang des Ritters vernichtet. Aus dem höchsten aller Ritter am Hof ist durch verbunstes gir (R 4845) ein Geächteter am Hof geworden. Indem er sich auf die Auswirkungen des Neids auf den Beneideten konzentriert, nimmt der Text in der volkssprachlichen Behandlung von Neid eine seltene Perspektive ein. Er kehrt zur patristischen und theologischen Tradition des Redens über die invidia zurück und fragt ähnlich wie Walter Map in De Contrarietate Parii et Lausi danach, was die Emotion für den sie Fühlenden bedeutet, wie sie ihn verändert. Im nächsten Teilkapitel soll nun die soziale Struktur der Emotion – und damit das Verhältnis zwischen dem Ritter als Neider und Reinfried als Beneideten – stärker in den Blick rücken.
6.4.2 Beobachten, nachahmen, ersetzen Im Prolog des Reinfried entwirft der Erzähler einen Tun-Ergehen Zusammenhang: Wer ehrenvoller Gesinnung sei und nicht zulasse, dass Schande in seinem Herzen den Sieg davontrage, dem werde zuletzt hohe Glückseligkeit zuteil (R 1–5).99 Als Beispiel für diesen Zusammenhang führt der Erzähler im prologus ante rem (R 65–146) den Protagonisten ein. Der Erzähler schreibt ihm alle höfischen Tugenden zu: Er zeichnet sich aus durch ritterlîche[.] tât (R 77), staete triwe (R 86), mâze (R 95, R 97) in seinen Entscheidungen und Klugheit in der Auswahl seiner Ratgeber (R 98–100). Insofern eignet er sich als Vorbild für Adel und Jugend. Der Erzähler fordert dazu auf, sich an ihm ein Beispiel zu nehmen:100 sîn wirde billich sol gespreit für alle herren werden, daz sî bî sîn geberden nemen bezzerunge war. (R 90–93)
Die freie Übersetzung folgt ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 42, da Elisabeth MARTSCHINIS Übersetzung von unfuoge mit ‚Unanständigkeiten‘ m. E. zu stark modernisiert. Vgl. zu dieser Strukturierung und Deutung des Prologs: ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 42–53.
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Vor diesem Hintergrund könnte man die Minne des anonymen Ritters zu Yrkane mit René GIRARD als verfehlte Nachahmung des Vorbilds interpretieren. Der Ritter ist sich sicher, dass Reinfried, der das Turnier gewonnen hat, Reinfried, der vom Hof als Inbegriff des ritterlichen Ideals gepriesen wird, in der Laubhütte mit Yrkane geschlafen hat. Wenn sich sein Begehren nun ebenfalls auf Yrkane richtet, dann folgt sein Begehren nicht nur zeitlich auf das des ihm überlegenen Helden. Es wird, wie der Erzähler in seinem erklärenden Exkurs zu den Gedanken und Emotionen des Ritters deutlich macht,101 von seiner Missgunst hinsichtlich Reinfrieds vermeintlicher Transgression erst ausgelöst. In kurzer Abfolge betont der Erzähler, dass die verbunst erst an das denken lasse, wozu sein Herz ohne das Vorbild des Anderen nimer noch niht ouch gewan/ sin dâ zuo (R 4041 f.), dass die verbunst Leid wegen Dingen auslöse, an die er vorher gedâhte nie (R 4051) und ihn dort lieben lasse, woran er vorher niemer het gedâht/ noch gedaehte (R 4058 f.). Die Art und Weise, in der der Erzähler verbunst und minne miteinander verknüpft, lässt Neid hier als mimetische Emotion erscheinen. Als Reinfried die minne der Königstochter noch nicht errungen hatte, verwandte der Ritter keinen Gedanken auf die minne der Königstochter. Ganz im Sinne René GIRARDs wird Begehren nicht als etwas Spontanes und Ursprüngliches, sondern als etwas Vermitteltes, imaginiert.102 Die Emotion der verbunst funktioniert auch auf der Ebene der personellen Beziehungen als Punkt der Neuorientierung von einer sozialen Emotion zur anderen: Die ursprünglich auf Reinfried gerichtete Emotion des Missgönnens löst ein eigenes Begehren nach dem von diesem besessenen Minneobjekt aus. Auf diese Weise treffen verschiedene Beziehungslogiken aufeinander: Der anonyme Ritter gleicht sich zum einen durch die verbunst in seinem Begehren an Reinfried an. Zugleich tritt er durch sein Begehren nach Yrkane in Konkurrenz zu diesem.103 In den Textanalysen René GIRARDs signalisieren die hier beschriebene Nachzeitigkeit und Vermittlung der Liebe, dass das Vorbild des Anderen bis in die Be-
Im Exkurs sticht die Art und Weise, wie der Erzähler erklärt, hervor. Der Erzähler expliziert die Gedanken und Emotionen des Ritters am eigenen Beispiel und verleiht den vorgeführten Emotionslogiken so allgemeine Gültigkeit. Zu dieser erzähltechnischen Besonderheit vgl. auch die Ausführungen Derk OHLENROTHs, der Vorbilder für eine solche Funktionsweise des Erzählers in Hartmanns Iwein (V. 3097–3100) und Wolframs Parzival (V. 287, 11–18) findet: OHLENROTH, ‚Reinfried von Braunschweig‘, S. 89. Vgl. GIRARD, Figuren des Begehrens, S. 11–19. Die mimetische Struktur des Begehrens des anonymen Ritters betont im Anschluss an René GIRARD auch Britta WITTCHOW. Vgl. WITTCHOW, Britta: Der (Stimmen-)Spalter – Die Figur des neidischen Nebenbuhlers im ‚Reinfried von Braunschweig‘. In: Figuren des Dritten im höfischen Roman. Hrsg. von Margreth EGIDI, Oldenburg 2020 (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung Themenheft 4), S. 51–100, hier S. 63.
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gehrensstrukturen hinein wirkt. Auch dort, wo wie beim Neid Konkurrenz und Aggression die Beziehung zum Besitzer des begehrten Objekts prägen, lässt sich die Hinwendung zum Objekt für Girard stets als versteckte Hinwendung zum Mittler entziffern.104 In diesem Punkt differieren der mittelalterliche Text und Girards Neidlektüren zum neunzehnten Jahrhundert. Beide arbeiten mit ähnlichen Elementen, diese werden jedoch unterschiedlich kombiniert, kontextualisiert und mit Bedeutung aufgeladen. So löst der Protagonist im Reinfried über die verbunst zwar das Begehren des anonymen Ritters aus; nach dem Turnier verlässt der Protagonist jedoch den dänischen Hof und verabschiedet sich damit für lange Zeit aus der Erzählung. Dieser Wegfall des Mittlers tut dem Begehren des anonymen Ritters nach Yrkane jedoch keinen Abbruch. Sein Begehren ist nicht vom Vorbild abhängig, vielmehr bleibt Reinfried in den Gedanken des Ritters nur präsent, weil er mit seiner Abreise den Zugang zur Königstochter erleichtert: [...] sô er den hof gerûmet nu, er komet niemer mê. wie ez dann ze hove ergê hie, daz ist im wilde. sô manic verre gevilde scheidet diz und Sahsen lant, daz im iemer unbekant ist swaz ich hie trîbe. (R 4131–4139)
In dieser wie auch allen anderen Innenansichten des anonymen Ritters fehlt mimetisches Vokabular wie ‚bilde nemen‘.105 Das Interesse des anonymen Ritters richtet sich nicht, wie Girard in seiner mimetischen Theorie postuliert, über Yrkane auf Reinfried. Vielmehr hofft der Ritter, wie das Zitat zeigt, nach Reinfrieds Abreise unbemerkt dessen Stelle bei Yrkane einnehmen zu können.106 Welche Rolle spielt Reinfrieds Vorbild aber dann, wenn es das Begehren beim anonymen Ritter zwar auslöst, für dessen Aufrechterhaltung jedoch kurz darauf schon nicht mehr notwendig ist? Mittels welcher Logik verbindet die verbunst die drei Personen miteinander? Es ist wiederum der Erzähler, der für den
Zu dieser bei GIRARD als ‚interne Vermittlung‘ bezeichneten Konstellation des mimetischen Begehrens vgl. GIRARD, Figuren des Begehrens, S. 19–26. Thomasîn fordert seine Rezipienten in Der Welsche Gast dazu auf, sie sollten sich an den Artushelden nemen bilde (V. 1030 f.). Siehe: Thomasin von Zirclaria: Der Wälsche Gast, S. 28–29. Die dem Handeln des Ritters innewohnende Ersetzungslogik hebt schon DITTRICH-ORLOVIUS hervor, allerdings ohne genauer zu analysieren, wie diese im Text über die verbunst hergeleitet wird. Vgl. DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 45.
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Rezipienten im Exkurs Emotionen und Gedanken erklärt, die über die interne Fokalisierung des Ritters lediglich erfasst und beschrieben werden können. Ins Auge fällt in der Erzählerrede zunächst der Konjunktiv in seiner Funktion als Möglichkeitsform. Der Konjunktiv mir möhte sîn gelungen (R 4047) signalisiert in diesem Fall, dass das, was man für unverfügbar gehalten hat, nun in den Bereich des Erreichbaren gerückt ist: waer ich komen ê dâ hin, mir möhte sin gelungen. die gedenke stungen kunnent zuo dem herzen, daz ich dâ nâ smerzen trage des ich gedâhte nie. (R 4046–4051)
Die Emotion der verbunst verweist hier paradoxerweise auf Erreichbarkeit. Wo einer schon erfolgreich war, kann ein zweiter Erfolg haben. Verbunst, so wie der Erzähler sie beschreibt, ist aber auch eine Emotion der verpassten Chance. Verwandt wird hier der Konjunktiv der Vergangenheit. Der Andere hat das Objekt bereits in seinen Besitz gebracht, sodass dieses zwar prinzipiell verfügbar gewesen wäre, nun jedoch vergeben ist. Über den Konjunktiv II bettet der Erzähler die verbunst folglich in eine widersinnige Logik ein: Auf der einen Seite signalisiert der Besitz des Anderen Erreichbarkeit und schürt Begehren, auf der anderen Seite versperrt genau dieser Besitz den Zugang zum begehrten Objekt. In Folge dieses Paradoxes bleibt die genaue Reihenfolge von arcwân, verbunst und minne unbestimmt. Die Missgunst hinsichtlich Reinfrieds Besitz löst die minne beim anonymen Ritter aus, sie ist dieser also vorgängig, zugleich definiert die verbunst die Situation des Verlierers im Wettkampf um die minne. Wenn der Erzähler wenige Verse später das Entstehen der minne als Folge einer neidischen Vergleichung beschreibt, dann bezieht er diesen Vergleich nicht nur auf die Zeit vor der minne, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft: alsus hât ze minnen verbunst mir dick die sinne brâht des ich niemer het gedâht noch gedaehte, waere daz eim andern niht gelunge baz. und wirt mir doch niemer niht. (R 4056–4061)
Für den Erzähler steht der negative Ausgang des Vergleichs für alle Zeiten gleichermaßen fest. Er betont das ungemach, welches mit dem nachgeahmten Begehren einhergeht. Der anonyme Ritter hingegen glaubt an die durch den Besitz des
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Anderen demonstrierte Erreichbarkeit des Minneobjekts. Damit wird der im Erzählerexkurs schon abgeschlossene Vergleich auf der Ebene der histoire weiter ausagiert: – Der anonyme Ritter wirbt um Yrkane. Nachdem er von der Königstochter zum zweiten Mal abgewiesen worden ist, wirft er ihr mit folgender Begründung vor, sich für den falschen Liebhaber entschieden zu haben: sît iuch iuwer herze lît dâ den ir gesâhent nie, und mich lânt der iuch hie dienet und gedienet hât [...]. (R 5120–23)
Der Ritter unterzieht Reinfried und sich hier einem direkten Vergleich: Er kontrastiert die Ferne des Anderen mit der eigenen Anwesenheit, die Kürze des Kennenlernens zwischen Reinfried und Yrkane mit seinem dauerhaften Dienst für Yrkane. Seine Rede lässt sich somit als Versuch deuten, den ersten seine verbunst auslösenden Vergleich zwischen Reinfried und sich durch einen zweiten zu überschreiben. An die Stelle des zeitlichen Vorrangs tritt nun als Vergleichsgegenstand die Frage nach dem rehten Minnedienst: Wer hat durch seinen Dienst das größere Anrecht auf Yrkane erworben? Von hier aus erhält die Funktionsweise des Neids im Rückblick noch einmal genauere Konturen. Die Verbindung von Vorbild, Neid und Begehren bewirkt keine Nachahmung Reinfrieds im Sinne des Prologs. Das vermittelte Begehren nach Yrkanes Minne setzt keinen Eifer, so wie Reinfried zu werden, in Gang. Vielmehr erschafft die verbunst und die in ihr eingeschriebene Logik der Erreichbarkeit des Minneobjekts einen Alter Ego des Protagonisten. Parallel zu Reinfried strebt der anonyme Ritter keine feudale Ehe an, er agiert abseits der höfischen Öffentlichkeit und versteht sein Verhältnis zu Yrkane als persönliches Dienstverhältnis.107 Zugleich setzt sich der Ritter in seiner Werbung um Yrkane deutlich von Reinfried ab. Er wertet Reinfrieds Abwesenheit vom dänischen Hof als unstaetekeit (R 5112). Reinfried habe Lohn ohne Dienst erhalten, während er Yrkane am dänischen Hof stets und unmittelbar gedient habe. Der anonyme Ritter im Reinfried ist so ein weiteres Beispiel dafür, dass auch in mittelalterlichen Texten Sianne NGAIs Unterscheidung zwischen Identifikation und Nachahmung108 für den Neid relevant sein kann: Der anonyme Ritter richtet in Folge seiner verbunst zwar sein Begehren am Vorbild Reinfrieds aus und ordnet sich in die gleiche
So begründet er seine Bitte um eine wohlwollende Aufnahme seiner Werbung mit den Worten sit daz ir ze trost geborn/ ir sint und ich ze dienest iuch. (R 5085) Vgl. zu dieser Differenzierung das Kapitel ‚envy‘ in: NGAI, Ugly Feelings, S. 126–173.
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Logik des Minnedienstes ein, er kritisiert im Wettbewerb mit diesem jedoch dessen Art des Dienstes für Yrkane und betont so die Differenz in der Parallelität. Die von NGAI gepriesene kritische Kraft des Neids wird hier jedoch negativiert. Betrachtet man den Kontext, in dem der anonyme Ritter seine Kritik an Reinfried vorbringt, dann wird sichtbar, dass er den Vergleich mit Reinfrieds Minnedienst dazu nutzt, der Königstochter zu drohen. Soll der von ihm angeblich zweifelsfrei deduzierte Beischlaf der Königstochter mit dem Protagonisten nicht öffentlich werden, so muss sie ihm dasselbe gewähren (R 5149–5156). Lohn in der Minne wird vom Ritter nicht mehr durch Dienst, sondern durch Erpressung eingefordert, sodass sein Handeln kein überzeugendes Gegenmodell zu Reinfrieds Werbung darstellen kann. Zugleich werden an dieser Stelle die Differenzen zwischen Reinfried und seinem verbunstigen Nachfolger erstmals ausformuliert. In dem Moment, in dem die Königstochter klarstellt, dass Reinfried und sie nicht miteinander geschlafen haben, wird offenbar, dass der anonyme Ritter durch einen Fehler in der Deduktion über seinen Vorgänger hinausgegangen ist. Es handelt sich gerade nicht um eine identische Nachahmung: – Wo Reinfried im Einklang mit dem Ideal der hohen minne auf Triebbefriedigung verzichtet, fordert der Ritter die Erfüllung seiner Wünsche unmittelbar ein. Der durch die neidische Erreichbarkeitslogik erschaffene alternative Protagonist funktioniert so – wie von ACHNITZ herausgearbeitet wird – als Kontrastfigur zu Reinfried.109 Damit erweist sich Neid im Reinfried als zentrales Instrument der Sinngebung. Über den Neid wird hier nicht nur die gesellschaftliche Aufsicht negativiert. Indem der Neider den Protagonisten in seinem Begehren nachahmt und sich mit ihm vergleicht, trägt er zur Diskussion über den richtigen Minnedienst bei. Erst im Vergleich und in Abgrenzung zu ihm wird deutlich, worin die Idealität des Liebespaars besteht.
6.4.3 keiner slahte gunterfeit Trotz der offensichtlichen Verfehlungen des anonymen Ritters bleibt eine scharfe Verurteilung durch den Erzähler zunächst aus. Stattdessen fokussiert dieser die Konsequenzen der verbunstes gir; der Ritter gewinnt als unglücklich Liebender seine Sympathien und Fürsprache. Immer dann, wenn Yrkane den Ritter erneut zurückweist oder wenn diesem gegen Reinfried eine Niederlage droht, wendet
ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 74: „Das Bemühen des namenlosen Ritters um Irkane ist in deutlichem Kontrast zur Werbung Reinfrieds gestaltet, die Parallelführung der Handlung dient zur Explikation der Unterschiede.“
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sich der Erzähler anklagend an frô Minne und fordert für den Dienst des Ritters Lohn ein.110 Auf diese Weise kommt es zu einer Aufspaltung der Bewertungsinstanz auf der extradiegetischen Kommentarebene,111 in ihren Gesprächen entwickeln der Erzähler und frô Minne konkurrierende Deutungen des Dienstes des Ritters für Yrkane. Emotionen stehen dabei im Zentrum der Diskussion. Sie werden nun nicht mehr nur wie im ersten Erzählerexkurs über das Verlieben aus Neid in ihrer Funktionsweise erklärt, vielmehr wird in den ersten beiden der insgesamt vier112 Gespräche mit frô Minne darüber nachgedacht, in welchem Verhältnis die Emotionen minne und verbunst zueinander stehen. Der Erzähler ordnet die Liebe aus Neid der minne zu und leitet daraus Ansprüche des Ritters gegen frô Minne ab. Frô Minne hingegen beurteilt das Begehren im Lichte seiner Herkunft. Das Gefühl der minne wird von ihr anhand seiner Entstehungsgeschichte in zwei voneinander geschiedene Emotionen ausdifferenziert und erstmals auch begrifflich unterschieden: waz mag ich des? verbunstes gir truoc in dar er wolte mir niht volgen mit dem sinne. daz ist niht rehtiu minne, ob sich ein herze bindet dar dâ ez vor bevindet daz man mit liebe ist behaft. (R 4845–4851)
Mit dieser Unterscheidung verbinden sich Wertungen. Die verbunstes gir wird über das Attribut niht rehtiu als negative Abweichung von der Minne markiert. Wenn sich jemand bewusst dort bindet, wo er schon fremde Liebe vorfindet, bewegt er sich außerhalb der normativen Grenzen, die für die Liebe gelten. Um die Struktur der Gespräche zu verstehen, lohnt ein Blick auf das Vokabular in den Antworten der frô minne. Sie sind durchzogen von einer Semantik des
Vgl. zur Tradition des Dialogs mit Frau Minne als personifizierte Emotion: SABLOTNY, Antje: Frau Minne im Dialog. Zum poetologischen Potenzial einer sprechenden Allegorie. In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hrsg. von Marina MÜNKLER, Bern u. a. 2011 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 21), S. 157–183, hier S. 157–161. SABLOTNY interpretiert Frau Minne als Abspaltung der Erzählerfigur und führt die Tradition der literarischen Gespräche mit ihr zum einen auf die Dialogisierungstendenz im Minnesang, zum anderen auf das lateinische und volkssprachliche Streitgespräch zurück. Zur Aufspaltung der Erzählperspektive im Reinfried vgl.: WITTCHOW, Britta: Der Stimmenspalter. WITTCHOW liest den anonymen Ritter als Figur des Dritten, die Unschärfen in die Bewertung der minne einführt. Die ‚dialogische‘ Erzählweise stellt ihr zufolge eine Reaktion auf diese Unschärfen dar. R 4826–4930, R 6310–6367, R 8687–8718, R 8752–8860
6.4 Der neidische Rivale als Alter Ego des Protagonisten
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Täuschens, Fälschens und Betrügens. Der minne wird in der ersten Antwort Betrug vorgeworfen (R 4924 f.). In der Darstellung der frô Minne stellt diese jedoch eine Verbindung sunder triegen dar (R 4895), während derjenige, der den sin die Führung übernehmen lässt, nicht nur das herze betrügt (R 4867), sondern auch sich selbst (R 4925). Die zweite Antwort der frô Minne konkretisiert, worin der Betrug besteht: Es ist eine Fälschung der Minne, keiner slahte gunterfeit (R 6363) im Umlauf, die dem Ritter Leid bereitet.113 Das Wortfeld triegen, waenen, gunterfeit weist auf das Problem hin, das hier diskutiert wird: Zum einen referieren sie auf den Schaden, der aus der verbunstes gir für den von ihr Betroffenen erwächst. Zum anderen zeigen sie an, dass die verbunstes gir in ihrer Erscheinung kaum von der minne zu unterscheiden ist. Sie gibt vor, minne zu sein, sodass Betroffene und Erzähler der minne fälschlicherweise negative Auswirkungen unterstellen. Von hier aus lassen sich die Antworten der frô Minne auch als Versuch lesen, minne und verbunstes gir voneinander zu scheiden: Im ersten der vier Gespräche steht die beiden Emotionen gemeinsame Fixierung auf die andere Person im Vordergrund. Der Erzähler wirft frô minne vor, dem Ritter sinne und herze mit Stricken gebunden zu haben (R 4828–4831). Damit ruft er ein klassisches Motiv der Liebe auf,114 welches frô minne in ihrer Antwort im Wortlaut aufgreift und neu kontextualisiert: Nicht die minne, sondern verbunstes gir habe den Ritter in diese Situation gebracht und somit der Freiheit beraubt.115 Die Vorgangsbeschreibung soll diese These beweisen, durch ihren Ort in der Argumentation lässt sie sich zugleich als erneute Ausdeutung der verbunstes gir lesen. Als maßgeblich für die falsche Bindung wird in Analogie zur vorausgehenden Beschreibung auf der Ebene der histoire eine Verselbstständigung des sin ausgemacht, wobei der Text an dieser Stelle das gesamte Deutungsspektrum des mittelhochdeutschen Wortes zwischen Kognition, Emotion und Sinneswahrnehmung ins Spiel bringt. Bei der verbunst richten sich des herzen sinne mit girdeclîch[en] Gedanken wiederholt
Auch über den ausbleibenden Lohn für den anonymen Ritter wird im vierten Gespräch zwischen Erzähler und frô Minne in Termini der Täuschung und Fälschung diskutiert. Da der Ritter sich durch Betrug in die minne hineingezwungen habe, sei der Lohn für seinen Dienst gerechterweise nicht rôtez golt von Arâbî (R 8831) sondern das ihm äußerlich ähnliche kupher (R 8830). Vgl. zum Beispiel die Vorstellung der Gefangennahme durch die Liebe bei Ovid. Eine Zusammenstellung der für die mittelalterliche Ovidrezeption relevanten Textstellen findet sich bei: KERN, Peter: Beobachtungen zum Adaptionsprozess von Vergils ‚Aeneis‘ im Mittelalter. In: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hrsg. von Joachim HEINZLE, Berlin 1996 (Wolfram-Studien 14), S. 109–133, hier S. 118. die sinne ez mügent trîben/ sô vil und alsô dicke/ daz sî mit dem stricke/ ze etelîchen stunden/ werden sô gebunden/ daz sî niemer dannen kon/ mügent, ob sî went dâ von/ daz schaffet niht diu minne. (R 4858–R 4865)
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auf einen Punkt, dorthin müssen auch die Augen mit ihren Blicken folgen, sodass sie dort hängen bleiben (R 4852–4857). Indem der sin das Begehren anfeuert, wird die Verantwortung für die unerfüllte Liebe in die Hände des Ritters selbst gelegt. Schon die Art und Weise, wie verbunst und minne in dem Exkurs beschrieben werden, zeigt die unterschiedliche Konzeption beider Emotionen im Text an. Über das Stilmittel der Personifikation wird die minne im Text nicht nur als Movens, sondern auch als Agens des Begehrens installiert. Sie erscheint als äußere Kraft, der sich diejenigen, die einander aufgrund ihrer gelîch [...] nâtûre (R 8787) zugeordnet sind, beugen müssen.116 Gleiches lässt sich für den Neid nicht behaupten. Im Gegensatz zur personifizierten minne wird er nicht als äußere Kraft gedacht, die den Ritter verführt. Die Antwort der frô minne konstruiert letzteren vielmehr selbst als Akteur: Es ist sîn wille (R 4889), der ihn in die Unfreiheit führt, er twinget sich mit sinnen dorthin, wo er nicht mehr leicht entfliehen kann (R 4907–4911). Damit wird die neidische Verwirrung der sinne im Einflussbereich des Ritters selbst verortet. Sein neidisches Denken entspringt ihm selbst.117 Diese Eigenverantwortung wird innerhalb der Argumentation über zwei naturkundliche Bilder veranschaulicht. Das Tun des Ritters wird verglichen mit dem in der Luft allen natürlichen Feinden entzogenen Vogel, der seine Gefangennahme
Zur Bedeutung der nâtûre für die Konzeption der Minne im Reinfried vgl. u. a. ACHNITZ, Babylon und Jerusalem, S. 59 u. 64; DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 159–168 sowie RIDDER, Klaus: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman. ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘, Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12), S. 19–23. DITTRICH-ORLOVIUS bestimmt die nâtûre als „statisches Prinzip der inneren Zugehörigkeit“ (S. 162), Ridder als „naturhafte Gesetzmäßigkeit“ (S. 21), die unabhängig von ethischen, ständischen und höfischen Qualitäten funktioniere. Während DITTRICH-ORLOVIUS jedoch davon ausgeht, dass über die Idee der naturgemäßen Zuordnung der Liebespartner im Roman höfische Logiken von Dienst und Lohn abgelöst werden, differenziert ACHNITZ dahingehend, dass nur Reinfrieds, nicht aber Yrkanes Liebe vollständig als Liebe gemäß der nâtûre gestaltet sei. Auf der Ebene der histoire müsse sich Reinfried die Liebe Yrkanes im Turnier erst verdienen. (S. 60) Insofern verschränken sich im Reinfried das vornehmlich auf der Ebene des discours entfaltete Konzept der nâtûre und der auf der Ebene der histoire stattfindende Minnedienst miteinander. Damit unterscheidet sich die Darstellung des Neids im Reinfried deutlich von der des Neids der Hofgesellschaft in Gottfrieds Tristan. Wird der Neid dort als äußere Kraft imaginiert, die die Gefühle radikal verändert, wird die Emotion hier im Innern der Person verortet und prozesshaft entwickelt. Die Neiddarstellung im Reinfried liefert so ein Beispiel dafür, dass Figuren und ihre Motivationen psychologisiert werden können, ohne dass ihnen deshalb automatisch auch der Status eines Individuums zukäme. Zur Bedeutung der Figurenpsychologie im Reinfried vgl. OHLENROTH, ‚Reinfried von Braunschweig‘, S. 89–90.
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selbst verschuldet (R 4876–4889).118 Sein Tun wird des Weiteren verglichen mit dem eines tumben Huhns, welches das leblose Ei erst durch eigenes Brüten in ein lebendiges Huhn verwandelt (R 4912–4921).119 Die in den Bildern entfaltete Dynamik der Gegensätze frei–unfrei, tot–lebendig fügt der theologischen Tradition des Neids als paradoxer Sünde insofern eine neue Komponente hinzu: Das neidische Begehren führt dazu, dass der Ritter selbst seine Freiheit aufgibt, indem er mit tôten sinnen (R 4915) jene minne künstlich kreiert, die ihn nie wieder davon kommen lässt. Das für den Brütvorgang beim Huhn unverständliche Attribut tumbe (R 4912) kann so auch als Aussage über den Referenzbereich, als Bewertung der verbunstes gir gelesen werden: Das dem Neid hier zugeschriebene Erreichbarkeitsdenken wird durch die Bildauswahl als Torheit sichtbar gemacht. Auch das zweite Gespräch mit frô Minne führt Differenzierungen zwischen minne und verbunst ein: Bewegte zuvor die feste Bindung des Ritters an Yrkane den Erzähler dazu, von frô Minne trost für diesen einzufordern, ist es dieses Mal das Leid des Ritters. Der Erzähler versteht sein trûren (R 4709) als Folge der minne. Betrachtet man klassische Beschreibungen der Minnekrankheit, ist diese Herleitung nur schwer von der Hand zu weisen. Nicht allein die Emotionen entsprechen denen des Minnekranken, der Ritter zeigt auch körperliche Symptome der Krankheit – Schwitzen bei Kälte und Zittern bei Hitze (R 4705, R 4719f., R 4728 f.)120 – ‚ sodass er den Tod befürchtet, sollte Yrkane ihn nicht erhören. Trotz dieser offenkundigen Parallelen weist frô Minne die Deutung des Erzählers zurück, sodass sich das Gespräch zwischen dem Erzähler und frô Minne ‚lesen‘ lässt als Reflexion über die Verbindung von minne und Leid. Frô Minne definiert das Wesen der minne in Opposition zum Leiden des
Vgl. zum in der Bildtradition ungewöhnlichen Gebrauch des Vogels als Bild für die wahnhafte, selbstverschuldete anstelle der wahren Minne: DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 83–84. Zu diesem Bild und seiner mittelalterlichen Tradition vgl. ebenda, S. 84. Beide Symptome sind schon aus der Antike bekannt. In seiner Fassung der auch im Mittelalter beliebten Geschichte von Antiochos und Stratonike, schildert Lukian, dass der von Selekeus I. gerufene Arzt die Liebeskrankheit des Königsohns sofort anhand dessen Schweißausbruchs und Zitterns erkenne (Lukian: De dea Syria 17 f.). Vgl. hierzu: FUNKE, Hermann: Liebe als Krankheit in der griechischen und römischen Antike. In: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters. Hrsg. von Theo STEMMLER, Tübingen 1990, S. 11–30, hier S. 25–28. In der mittelalterlichen Literatur liefert Veldekes Eneasroman das Paradigma für die Liebespathologie. Sowohl bei Dido als auch bei Lavinia und Eneas wird der Gegensatz von ‚heiß‘ und ‚kalt‘ als typisches Symptom der Minnekrankheit aufgeführt. Vgl. hierzu: HOFMANN, Werner: Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik. In: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters. Hrsg. von Theo STEMMLER, Tübingen 1990, S. 221–257, hier S. 221–226.
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Ritters. Für denjenigen, der der minne in ihrem Willen und das heißt auch in ihrer Zuordnung von Minnepartnern folge, sei diese der fröuden wünschelruot/ diu alle sorge kürzet (R 6352 f.). Das Leiden des Ritters ist für sie gemäß dieser Definition nur dadurch erklärbar, dass der minne ein fremdes Element beigemischt worden sei: swer mischet und ze minne tuot keiner slahte gunterfeit, ob ir süeze dâ bî treit sûrer sorgen angel, des muoz er fröuden mangel hân, swer sî dâ mischet. (R 6362–6367)
Zwar lässt der Text selbst an dieser Stelle offen, worum es sich bei dem fremden Mischelement handelt; dass der Erzähler auf die verbunst referiert, markiert jedoch schon die Einleitung der Rede von frô Minne deutlich (R 6319–6329). In dieser werden nicht nur die Ursprünge der minne des Ritters wieder aufgerufen. Die Paradoxie der Liebe aus Neid wird nun in ihrem ganzen Ausmaß enthüllt, denn ein blinde und ein stumbe/ minnet daz in minnet (R 6330 f.), nur der Neider tut dies nicht. Für den zeitgenössischen Rezipienten funktioniert die Neudeutung des leides angel (R 6325) aus zweierlei Gründen. Betrachtet man die patristischen und theologischen Redetraditionen, dann gleichen sich die Selbstzerstörung des Neiders und die höfische Minnekrankheit in ihrer Symptomatik.121 Nicht nur ist – wie im Kapitel 2.3 dargestellt – Trauer über das Gut des Anderen bei Thomas die vorherrschende Emotion des Neiders.122 Auch die Darstellung des Neids als Krankheit ist verbreitet. Neben der medizinischen Analyse des Neids als größerer Ansammlung von Galle in der Brust und als Form der Melancholie123 sind in diesem Zusammenhang sprachliche Bilder belegt, die die Autoaggression des Neiders als gleichzeitiges Verbrennen Auf die Verwandtschaft von Neid und Minnekrankheit weist bereits Sarah SPENCE hin. Jedoch parallelisiert die amerikanische Literaturwissenschaftlerin nicht das Leiden des Neiders und das des Minnekranken, sondern das Leiden der vom neidischen Blick getroffenen Person mit dem ebenfalls über die Augen infizierten Minnekranken. Vgl. SPENCE, ‚Lo Cop Mortal‘, S. 307–318. Eine solche Parallelität findet sich an dieser Stelle nicht. Dass verbunst und minne Bildtraditionen teilen, zeigt sich jedoch an späterer Stelle, wenn Yrkane den Blick ihres Liebhabers Reinfrieds mit dem tödlichen Blick des Basilisken vergleicht (R 1682–1689). Auch in diesem Text wird der Neid explizit als Emotion des Leids eingeführt. Im Kontext des Turniers berichtet der Erzähler vom Ausbleiben des der fröuden beraubenden nît (R 1336–1341). Zur Assoziation von Neid mit Melancholie im humoralpathologischen Diskurs vgl. DIEKSTRA, The Art of Denunciation, S. 437–441 sowie MINOU, Mina: Envyʼs pathology. Historical contexts (Version 2), S. 8–11. In: Wellcome Open Research 2,3 (2017), S. 8–11. https://wellcomeopenresearch. org/articles/2–3/v2 [31. Januar 2023].
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und Erkalten von Innen ausdeuten. Gregor der Große beschreibt die invidia folgendermaßen: Während der Geist entflammt ist, erkalten alle anderen Glieder des Leibes.124 Ausgehend von diesen Parallelen zwischen Minnekrankheit und neidischem Leid wird die Bezeichnung des Neides als gunterfeit noch einmal verständlicher. Minne und Neid überschneiden sich in Teilen ihrer Darstellungstraditionen. Dementsprechend lässt sich die Art und Weise, in der frô minne sich gegenüber den Anschuldigungen des Erzählers rechtfertigt, auch als Form didaktischer Belehrung des Erzählers, als Minnelehre,125 deuten: Die frô minne unterweist den Erzähler in der richtigen Kategorisierung, der richtigen Zuordnung emotionaler Ausdrucksweisen zu den ihnen zugrundeliegenden Emotionen. Zwar nimmt frô Minne dabei nicht auf anerkannte Autoritäten Bezug, die Struktur der Gespräche zwischen dem Erzähler und frô Minne erinnert jedoch in vielen Punkten an die scholastische Methode der quaestio:126 Zunächst spürt der Erzähler eine Inkohärenz, eine Ungerechtigkeit, im Handeln der minne auf und legt ihr diese in Form einer Frage zur Stellungnahme vor. In ihrer Antwort löst die Angesprochene dann den vermeintlichen Widerspruch auf, indem sie jeweils die Folgen von minne und verbunst voneinander trennt. In ähnlicher Weise überführt die scholastische determinatio Widersprüche in den Aussagen von Autoritäten in begriffliche Distinktionen. Parallelen finden sich auch im weiteren Aufbau des Gesprächs: Wie in vielen quaestiones nimmt die Begründung der Antwort einen großen Teil der Argumentation ein. Das Bemühen darum, die Differenz von verbunst und minne nicht nur zu behaupten, sondern auch rational zu begründen, wird dabei explizit zum Ausdruck gebracht. So stellt frô minne im zweiten Gespräch in Bezug auf das Leid des Ritters fest: das kunt niht von minnen (R 6329). Im nächsten Schritt kündigt sie an: und tuon iuch kunt war umbe (R 6330). Am Schluss der ersten beiden Gespräche werden dann zwar nicht – wie in der scholastischen quaestio – strukturiert die objectiones der Gegenposition, also des Erzählers, entkräftet. Die Begründung bezieht sich jedoch über den metaphorischen Wortgebrauch des stricke binden (R 4860–4863) und des sûren (R 6365) auf die Erzählerbeschreibung zurück, kontextualisiert Bindung und Leid neu als Folge des Neids und widerlegt auf diese Weise die Vorwürfe gegen frô minne. Verbindlichkeit verleihen der Argumentation Gregor der Große: Moralia in Job 5, 46, 85 u. Rabanus Maurus PL 112, col. 1350–60. So bereits OHLENROTH, ‚Reinfried von Braunschweig‘, S. 68. Wolfgang ACHNITZ sieht den Reinfried wie andere späthöfische Romane in engem Zusammenhang mit dem lehrhaft-erörternden Typus der zeitgleich entstehenden Gattung der Minnerede. Vgl. ACHNITZ, Wolfgang: Was ist keine Minnerede? Versuch einer Gattungsdefinition durch Exklusion. In: Zwischen Anthropologie und Philologie. Beiträge zur Zukunft der Minneredenforschung. Hrsg. von Iulia-Emilia DOROBANƫU/ Jacob KLINGNER/Ludger LIEB, Heidelberg 2014, S. 31–50, hier S. 42–44. Vgl. zur Methode des Quaestionenkommentars:HOYE, William J.: Die mittelalterliche Methode der Quaestio. In: Philosophie. Studium, Text und Argument. Hrsg. von Norbert HEROLD/Sibille MISCHER, Münster 1997, S. 155–178.
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6 Neidische Minnefeinde
dabei anstelle von Zitaten von Autoritäten u. a. die schon erwähnten naturkundlichen Bilder, die Einzelbeobachtungen zu allgemein menschlichen Logiken ausweiten.127 Die von der Forschung vielfach festgestellte Tendenz zur Rationalisierung und Verwissenschaftlichung im höfischen Roman des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts128 bezieht also Emotionen mit ein. Dabei integrieren die vielen Exkurse, die die histoire unterbrechen und kommentieren, nicht nur vorhandenes anthropologisch-psychologisches Wissen in den Text, um – wie Klaus RIDDER es formuliert – „das Erzählte auf einer allgemeinen und abstrakten Ebene zu reflektieren“.129 Die Gespräche des Erzählers und der frô Minne generieren aus der Handlung heraus und mittels einer an die Scholastik erinnernden Methodik auch eigenes Emotionswissen. Mittels dieses Wissens kann nicht nur der Erzähler, sondern mit ihm auch der Rezipient130 minne von verbunst unterscheiden und darüber entscheiden, welcher der beiden Ritter auf der Ebene der Handlung Lohn für Dienst verdient hat.
6.5 Neid und huote Envy, as the instantanous recognition that someone else is more fortunate than you, registers inequality in such a way as to threaten fellow feeling; envy, as the recognition of a deviation from a norm, registers disparities between one personʼs situation and anotherʼs in such a way as to insist upon social cohesion.131
Wie die Literaturwissenschaftlerin Frances FERGUSON darlegt, ist Neid in Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung eine ambivalente Emotion. Indem der Neider sich und den Anderen als Wettbewerber wahrnimmt, verweigere er eine Identifi-
Vgl. DITTRICH-ORLOVIUS, Zum Verhältnis von Erzählung und Reflexion, S. 81–82. Vgl. z. B. RIDDER, Klaus: Rationalisierungsprozesse und höfischer Roman im 12. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 2 (2004), S. 175–199. Ebenda, S. 187. Antje SABLOTNY interpretiert das Gespräch des Erzählers mit Frau Minne im Iwein als Vorwegnahme des Rezeptionsvorganges. Sie deutet das Gespräch mit Frau Minne als Selbstgespräch, in welchem die Erzählinstanz durch die Verdoppelung der Erzählerfigur zugleich als Belehrender wie Belehrter auftrete: Während Frau Minne den ‚richtigen‘ Umgang mit literarischen Aussagen vermittle, liefere der irritierte Erzähler ein Identifikationsangebot für den Rezipienten. Vgl. SABLOTNY, Frau Minne im Dialog, S. 164–165. In ähnlicher Weise funktionieren die beiden die Handlung kommentierenden Figuren auch hier: Der Erzähler bringt mögliche Verwirrung bezüglich der Identifizierung des richtigen Minnedienstes zum Ausdruck. Indem ihn Frau Minne über die Unterscheidung von minne und verbunstes gir belehrt, wird Unsicherheiten im textinternen wie textexternen Rezeptionsvorgang vorgebeugt. FERGUSON, Envy Rising, S. 890–891.
6.5 Neid und huote
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kation mit dem Nächsten und gefährde in seinem Hass den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zugleich sichere die Emotion jedoch – so die provokante These FERGUSONs – den Bestand der sozialen Ordnung. Er richte sich auf denjenigen, der von der sozialen Norm abweicht, der sich von den anderen Mitgliedern der Gruppe unterscheide. Neid ist bei FERGUSON insofern strukturell von jeher mit Abweichungen von der gesellschaftlichen Ordnung verbunden – zum einen stellt er selbst die Bedrohung dar, zum anderen verweist er auf diese.132 FERGUSON entwickelt ihr Deutungsmodell des Neids ausgehend von der Philosophie des Utilitarismus. Sie will mit ihm die Neiddarstellungen der englischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts verstehen. Die Figur des ‚neidischen Minnefeinds‘ lässt sich insofern als Testfall dafür lesen, ob und wie die hier skizzierte Beziehung des Neides zu kollektiven Normen in mittelalterlichen Texten wirksam und ausgedeutet wird. Der Vergleich Antrets, Marjodôs und des anonymen Gegners Reinfrieds zeigt, dass der neidische Minnefeind nicht als feststehender Figurentypus existiert. Die Emotion ‚Neid‘ und die Aufsichtsposition gehen in den drei analysierten Texten jeweils unterschiedliche kausale und zeitliche Verbindungen miteinander ein: Einmal geht die huote des Minnefeindes aus seinem Neid hervor, sie ist Produkt des Neides (Eilharts Tristrant), einmal entstehen Neid und gesellschaftliche Aufsicht über die Liebenden zeitgleich und bedingen einander gegenseitig (Gottfrieds Tristan), einmal geht der Neid aus der Überwachung der Liebenden hervor und löst diese durch eigenes Begehren ab (Reinfried von Braunschweig). Kein neidischer Minnefeind aus der Dreierkette gleicht dem Anderen. Verbunden mit diesen unterschiedlichen Verknüpfungen ist jeweils ein anderes Verhältnis des Neids zur gesellschaftlichen Ordnung des Hofs. Im Feld der konfligierenden Ordnungen vermag Neid den Minnefeind sowohl diesseits als auch jenseits der gesellschaftlichen Normen zu verorten. Bei Eilhart weist Antrets Neid auf den Gruppenneid der Höflinge zurück. In Antret, dem Cousin Tristrants und dem Anführer der Herzöge und Grafen, werden alle Konflikte, die Tristrants Vorzugsstellung beim König unter Standesgleichen ausgelöst hat, noch einmal zusammengeführt. Die Position der huote, die er einnimmt, ist somit ein Instrument des Neides mit dem Ziel, Tristrant seiner Ehre zu berauben; seine Anschuldigungen gegen Tristrant und Isalde gehen einem sicheren Wissen um ihr Verhältnis zueinander voraus. Derart über die zeitliche Anordnung entkoppelt von rechtlichen und gesellschaftlichen Einwänden gegen Tristrants und Isoldes Liebe überlagert der neidische Hass im Falle Antrets die gesellschaftliche Aufsichtsfunktion, die die Minnefeinde innehaben. In Eilharts Tristrant werden polare Vorstellungen von der höfischen Ordnung auf der Ebene der Figuren aufgelöst: Wenngleich
Für eine ausführlichere Diskussion vgl. das Kapitel 3.4 ‚Methode‘.
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6 Neidische Minnefeinde
die Liebenden die gesellschaftliche Ordnung immer wieder herausfordern, so kann der Minnefeind ihnen kein funktionierendes Normenkonzept entgegensetzen. Die Feindschaft der Neider gegenüber dem Liebespaar erscheint gleichermaßen als Transgression. In Gottfrieds Tristan zeigt der Neid hingegen an, dass sich der Beneidete der gesellschaftlichen Ordnung entgegenstellt. Schon die Gemeinsamkeit, auf die sich Marjodôs Freundschaft zu Tristan gründet, spiegelt die gesellschaftliche Ordnung: Beide begehren Isolde (scheinbar) vergeblich, da sie gegenüber dem König als Ehemann Isoldes zurückstehen müssen. Mit der Entdeckung von Tristans heimlicher Beziehung zu Isolde findet sich dieser Ordnungsaspekt dann in der Emotion gegenüber dem ehemaligen Freund wieder. Indem sich Marjodôs Neid nie auf Marke als Ehemann Isoldes, sondern allein auf Tristans Beziehung zu Isolde richtet, weist er in seiner Struktur auf die gültigen Hierarchien am Hof hin und macht deutlich, wer besitzen darf und wer nicht. Marjodôs Position als Truchsess und seine Emotion ergänzen einander auf diese Weise. Im Reinfried von Braunschweig wiederum verursacht Neid den Wechsel des Minnefeindes von einer Seite der Ordnung zur anderen. Versucht der namenlose Ritter zunächst ganz im Sinne einer gesellschaftlichen Aufsichtsinstanz zu eruieren, ob Yrkane und Reinfried heimlich miteinander geschlafen haben, führt ihn sein arcwân zur verbunst und von dort aus schließlich zum eigenen Begehren. Bei der Verwandlung des Ordnungshüters in einen Ordnungsbrecher kommt der Emotion die Rolle des Bindeglieds und Umschalters zu: Sie personalisiert zum einen die negative Sicht der Gesellschaft auf die Liebenden, zum anderen setzt der neidische Vergleich mit dem vermeintlichen Erfolg Reinfrieds ein Erreichbarkeitsdenken in Gang, das den anonymen Ritter selbst um ein illegitimes Verhältnis zu Yrkane werben lässt. Über die negative Emotion wird so die Transgression, derer Reinfried und Yrkane verdächtigt werden, auf die Aufsichtsperson verschoben. Diese Darstellung des Neids verkompliziert die Frage nach seinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung noch einmal. Im Minnediskurs wird der anonyme Ritter als Parallel- und Gegenfigur zu Reinfried gestaltet: Der gesellschaftlich nicht abgesicherten hohen minne des Liebespaars wird als Zerrbild das körperliche Begehren des anonymen Ritters nach Yrkane gegenüberstellt. Betrachtet man diese sich aus dem Neid heraus entwickelnden Konstellationen, dann lässt sich der neidische Minnefeind nicht mehr einfach über die Perspektive des Liebespaars als ‚Störenfried‘ und ‚Hindernis‘ beschreiben. Der neidische haz und das neidische Begehren nach dem Besitz des Anderen bestimmen maßgeblich, wie die gesellschaftliche Aufsicht in den Texten konturiert ist. Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern auch in den Erzählerkommentaren. Die emotionale, strukturelle und diskursive Anlage des Neids ist zentral für die Interpretation, die die Erzählinstanzen für das Verhältnis von Minnefeind und Minnepaar
6.5 Neid und huote
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anbieten. Die ungewöhnlichste Referenz auf Neid findet sich dabei in den Dialogen zwischen dem Erzähler und frô Minne im Reinfried. Angesichts der ähnlichen Symptomatik von trûren und Minnekrankheit unterweist frô Minne den Erzähler und mit ihm den Rezipienten in der Unterscheidung zwischen rehtiu minne und unminne. Die verbunstes gir wird dabei in ihrer Eigenschaft als willentlich, durch neidisches Denken erzeugtes Begehren zum Unterscheidungskriterium beider und Reinfried als der richtige Empfänger des Lohns für Minnedienst gekennzeichnet. Dient der Neid hier dazu, den gesellschaftlichen Ordnungsrahmen sichtbar zu machen und zu stärken, wird die gesellschaftliche Aufsicht in den Erzählerkommentaren in Eilharts und Gottfrieds Tristan über den Neid der Minnefeinde diskreditiert. In den beiden Tristan-Dichtungen hebt der Erzähler auf die die sozialen Bindungen zerstörenden Qualitäten der Emotion ab: Der Neid Antrets wird als Verstoß gegen die sozialen Gebote der Verwandtschaft gewertet, der Erzähler stellt den Neid Marjodôs als Verrat an der Freundschaft dar. Auf diese Weise wird bei Gottfried die geschilderte ambivalente Beziehung der Emotion zur gesellschaftlichen Ordnung voll ausgespielt: Während auf der Ebene der histoire Marjodôs Neid auf Tristans die höfischen Hierarchien negierende Liebe zur Frau des Königs verweist, bezieht sich der Erzähler auf das soziale Gebilde der Freundschaft und kodiert durch den Wechsel des sozialen Rahmens den ordnungsliebenden Minnefeind zum Ordnungsbrecher um. Gestützt wird die in beiden Erzählerkommentaren entfaltete negative Sicht auf die Minnefeinde durch den Rückbezug auf klassische Neiddiskurse. Die Anklagen gegen die Liebenden werden jeweils als Sprachsünde der neidischen detractio dargestellt und – dies ist neu an der ausgiebigen Kommentierung der detractio – auch diskutiert, kritisiert und ins Bild gesetzt. Der Erzähler versucht auf diese Weise auf die Deutung der illegitimen Liebe Tristans und Isoldes Einfluss zu nehmen und die Anklagen gegen sie zu entwerten. Diese Form der Rezeptionslenkung über Neid soll im nächsten Kapitel genauer in den Blick genommen werden. Anhand der Gerichtsverhandlungen in Strickers Der junge Ratgeber und Konrads Engelhard wird untersucht, wie Neid die Interpretation der histoire beeinflusst.
7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht 7.1 Der Neidvorwurf als rhetorische Strategie Hinc calamitatum mearum, quae nunc usque perseverant, coeperunt exordia, et quo amplius fama extendebatur nostra, aliena in me succensa est invidia. Hier nahm die Serie meiner Schicksalsschläge, die bis heute andauert, ihren Anfang. Je mehr sich mein Ruhm ausbreitete, desto stärker loderte der Neid anderer.1
Petrus Abaelard spricht in seiner Historia calamitatum wiederholt vom Neid seiner Gegner. Invidia wird – wie das Zitat zeigt – von ihm von Beginn an als Strukturprinzip seines Lebens inszeniert: Er berichtet vom Neid sowohl seines Philosophieals auch seines Theologielehrers, vom Neid auf seine intellektuelle Brillanz wie auf seine große Zahl an Schülern. In dieser steten Variation der Neidszenarien werden bei Abaelard zwei Muster des Redens von invidia offenkundig. Zum einen entkräftet der Vorwurf des Neids die Argumente von Abaelards Kontrahenten, denn Abaelard charakterisiert immer dort, wo er in intellektuelle Auseinandersetzungen verwickelt ist, seine Gegner als Neider.2 Zum anderen führt Abaelard den Neid entsprechend des invidia-virtus-Topos als Beweis seiner eigenen intellektuellen Größe an. [S]umma petit livor, perflant altissima venti,3 zitiert Abaelard aus Ovids Remedia Amoris und etabliert mit diesen Worten eine Hierarchie, in der er als Beneideter seinen vorgeblich neidischen Kritikern überlegen ist. Neid spielt für Abaelards Historia insofern eine doppelte und schillernde Rolle: Das Erzählen von der Emotion ist nicht einfach nur Teil der calamitas, Teil des Berichts unangenehmer Episoden seines Lebens. Das Erzählen von seinem Leiden als Beneideter ermöglicht es ihm, sein Werk zu verteidigen und die eigene Reputation zu steigern. Abaelard war nicht der einzige und er war auch nicht der erste, der Neid in dieser Weise instrumentalisierte. Unter dem Einfluss der Aitia des Kallimachos4
Abaelard, Petrus: Historia calamitatum, V. 36–38. Zit. n. Abaelards „Historia calamitatum“. Text-Übersetzung-literaturwissenschaftliche Modellanalysen. Hrsg. von Dag Nikolaus HASSE, Berlin, New York 2002, S. 1–104, hier S. 4–5. Die Übersetzung folgt der Edition. So versteht Abaelard Kritik an seiner fehlenden Ausbildung zum Theologen (V. 190) wie an der Argumentation seines Traktats Über die göttliche Einheit und Dreifaltigkeit (V. 701) gleichermaßen als Folge der invidia. Vgl. Abaelards „Historia calamitatum“, S. 14–15 u. S. 49–50. Ovid: Remedia Amoris, V. 369; „Der Neid trifft immer das Höchste, wie die Winde die Gipfel.“ Siehe: Abaelard, Peter: Historia Calamitatum, V. 105. Zit. n. Abaelards „Historia Calamitatum“, S. 8–9. Zur Rechtfertigung der eigenen Dichtung über Neid in der Aitia vgl. KÖHNKEN, Adolf: Darstellungsziele und Erzählstrategien in antiken Texten. Hrsg. von Anja BETTENWORTH, Berlin 2006, https://doi.org/10.1515/9783111202105-008
7.1 Der Neidvorwurf als rhetorische Strategie
263
verbanden bereits Vergil, Horaz, Martial und besonders kunstvoll der von Abaelard zitierte Ovid5 in ihren Werken Apologie und Angriff auf die Neider. Mit der Wiederbelebung der römischen Literatur in den Kathedralschulen fand diese Tradition Eingang in die akademischen Diskussionen des Hoch-und Spätmittelalters.6 In den Prologen vieler Lehrbücher der ars dictandi wird im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ausgiebig über Neid geklagt.7 – Nicht nur, weil Rhetoriklehrer besonders häufig Opfer von Neid wurden.8 Vielmehr wird am konkreten Beispiel vorgeführt, wie der Neidvorwurf zu verwenden ist: als captatio benevolentiae, als rhetorische Strategie, um Kritik abzuwehren und den guten Willen des Publikums herzustellen.9 Diese Form der Neidrhetorik verbreitete sich im zwölften und dreizehnten Jahrhundert in unterschiedlichen Medien und Formen. In der Literatur begegnet dem Hörer/ Leser der Neidvorwurf zuerst in der gelehrten lateinischen Literatur. Hildebert von Lavardin, Balderich von Bourgueil, Johannes von Salisbury und Marbord von Rennes – sie alle inszenieren sich als Opfer neidischer detractio.10 Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts greift auch die volkssprachliche Literatur
S. 210–225. Zur Rezeption dieser Erzählstrategie in Ovids Remedia Amoris vgl. CONTE, Gian Biagio: Love without Elegy. The Remedia amoris and the Logic of a Genre. Übers. v. Glenn MOST. In: Poetics Today 10,3 (1989), S. 441–469, hier S. 441. Ovid nutzt den Neidvorwurf an seine Kritiker, um sich in eine Reihe mit den großen antiken Schriftstellern einzuordnen. Indem er den Neid der Unwürdigen auf Homer und Vergil beschreibt, setzt er sich mit ihnen über seine Eigenschaft als Beneideter gleich. Aus dem Neidvorwurf als Schutzmechanismus wird so ein selbstbewusstes Manifest schriftstellerischer Größe. Vgl. Ovid, Remedia Amoris, V. 361–368. Referiert nach: Ovidius Naso, Publius: Remedia Amoris. Heilmittel gegen die Liebe. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Niklas HOLZBERG, S. 34–35. Vgl. BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 51. Albert von Samaria (Praecepta dictaminum zwischen 1111 u. 1115), Hugo von Bologna (Rationes dictandi zwischen 1119 u. 1130), Henricus Francigena (Aurea gemma zwischen 1119–1124), Guido Faba (Summa dictaminis 1228/1229), Boto von Vigevano (Liber florum) sowie Boncompagno von Signa (u. a. Rhetorica novissima 1235) beschweren sich in den Prologen ihrer Schriften über den Neid ihrer Gegner. Diese Form der Neidrhetorik ebbt auch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert nicht ab, sie wird von den Humanisten fortgeführt. Vgl. KANTOROWICZ, Ernst H.: An Autobiography of Guido Faba, New York 1965, S. 202 f. Ebenda, S. 203. Vgl. SHOAF, Matthew: Giovanni Pisanoʼs Marble Wounds. Beholding Artistic Self-Defense in the Pisa Cathedral Pulpit. In: Beholding violence in medieval and early modern europe. With a foreword by W.J.T. MITCHELL. Hrsg. von Allie TERRY-FRITSCH/Erin Felicia LABBIE, Burlington 2012 (Visual culture in early modernity), S. 39–59, hier S. 49 f. Vgl. BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 47–55. Gemäß des anderen Mediums inszenierten sich die Skulpteure in der bildenden Kunst hingegen, wie Matthew SHOAF anhand eines oberitalienischen Kanzelensembles Giovanni Pisanos zeigen konnte, gezielt als Opfer des bösen
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
zunehmend auf den Neidvorwurf als Mittel der Rezeptionslenkung zurück. Insbesondere die Diskussion um das Verhältnis zwischen Autor und Rezipient in den Prologen und Epilogen hat vielfach die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen.11 Ob und wie die Rhetorik des Neids jenseits dieses Metadiskurses für die Konstruktion und Sinngebung der Narrationen selbst funktionalisiert wurde, ist hingegen kaum erforscht. Die bisher existierenden Publikationen lassen offen, ob der Neidvorwurf – wie es sich in Gottfrieds und Eilharts Tristan-Romanen andeutet – auch für das Verständnis der Handlung wirksam werden kann. Um dies genauer zu untersuchen, wurden bewusst zwei narrative Texte aus dem dreizehnten Jahrhundert ausgewählt, die die detractio zum Prozess ausgestalten und von Neid im Rahmen des Rechtsganges von Vergehen, Klage, Parteienrede, Urteilsfrage, Urteilfinden bzw. Gerichtskampf und Urteilgebieten erzählen.12 Sowohl das StrickerMäre Der junge Ratgeber13 als auch Konrads Engelhard14 berichten von fragwürdigem Verhalten der Protagonisten und neidischen Anklägern und entwerfen so ein Szenario, in dem nicht nur der Richter, sondern auch der Rezipient implizit aufgefordert ist, Stellung zu beziehen. Diese Zuspitzung auf eine Urteilssituation soll hier genutzt werden, um die Texte in Form eines narratologischen Close Readings daraufhin zu befragen, wie das Thematisieren von Neid die Interpretation des Geschehens lenken und modifizieren kann. Ausgehend von TODOROVs klassi-
Auges, um das Mitleid ihrer Betrachter zu erregen und sich ihrer Anerkennung zu versichern. Vgl. SHOAF, Giovanni Pisanoʼs Marble Wounds, S. 39–51. So zeigt beispielsweise Howard BLOCH, dass Marie de France die Gefahren verzerrender oder falscher Rezeption in Gestalt des Neides thematisiert. Vgl. BLOCH, The Anonymous Marie de France, S. 11–13. Walter HAUG führt in seiner Literaturtheorie des Mittelalters den Topos des missgünstigen Rezipienten auf die Rezeption der Vita des Hieronymus zurück und konstatiert in Folge des Neidtopos im Prolog von Gottfrieds Tristan eine Verwischung ethischer und ästhetischer Perspektiven bei der Beurteilung des Kunstwerkes. Vgl. HAUG, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 56 u. S. 200–209. Für einen Überblick zu Funktionen des Metadiskurses über Neid in den Prologen und Epilogen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts vgl. wiederum BALINT, Envy in the intellectual discourse, S. 53–55. Bis auf die Urteilsfindung, die im Engelhard durch den Gerichtskampf ersetzt wird, folgen beide Texte dem typischen mittelalterlichen Prozessverlauf, wie er von Götz LANDWEHR beschrieben wurde. Vgl. LANDWEHR, Götz: „Urteilfragen“ und „Urteilfinden“ nach spätmittelalterlichen, insbesondere sächsischen Rechtsquellen. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 96 (1979), S. 1–37, hier besonders S. 5–8. Zit. n. Der Stricker: Verserzählungen. Hrsg. von Hanns FISCHER, Bd. 2, Tübingen 31984 (Altdeutsche Textbibliothek 53), S. 12–23. Auf das Märe wird im Folgenden mit der Sigle ‚JR‘ verwiesen. Zit. n. Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Ingo REIFFENSTEIN, Tübingen 31982. (Altdeutsche Textbibliothek 17). Auf den Engelhard wird im Folgenden mit der Sigle ‚E‘ verwiesen.
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber
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scher Unterscheidung zwischen histoire15 und discours16 sollen dabei plot- und erzählerorientierte Formen der Rezeptionslenkung unterschieden werden.17
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber Das zwischen 1220 und 1250 entstandene Stricker-Märe Der junge Ratgeber basiert auf dem Motiv der Weisheitsprobe.18 Der titelgebende junge Ratgeber eines Königs muss seine wîsheit nicht nur in einer dilemmatischen Entscheidungssituation beweisen. Da er sich für sein Handeln vor Gericht verantworten muss, wird seine wîsheit auch von Anderen beurteilt. Um zu erfahren, ob und wie das Erzählen von Neid am Ausgang dieser Weisheitsprobe partizipiert, wird methodisch zunächst rekonstruiert, wie die Erzählung ohne die negative Emotion funktionieren würde. Zu welcher Entscheidung würde der Leser/Hörer bezüglich der Weisheitsprobe kommen?
Die histoire wird von TODOROV beschrieben als „pragmatischer Bericht von dem, was sich abgespielt hat“ (S. 265). Sie besteht aus den Geschehnissen, den Personen, ihren Beziehungen und schließlich den diese strukturierenden Gesetzen der erzählten Welt. Im Gegensatz zum discours ist sie nicht Teil des Textes, sie existiert nur hypothetisch, als Abstraktum einer Geschichte vor ihrer Vermittlung durch den Erzähler, vor ihrer Perspektivierung durch die Figuren (S. 265–266). TODOROV, Tzvetan: Die Kategorien der literarischen Erzählung. (Les catégories du récit littéraire. In: Communications 8 (1966), S. 125–151.) Übersetzt von Irmela REHBEIN. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz BLUMENSATH, Köln 1972, S. 263–294, vgl. besonders S. 264–278. TODOROV definiert den discours als die Art und „Weise, wie der Erzähler sie [die Geschehnisse] uns vermittelt.“ (S. 265). Der Begriff discours bezieht sich folglich auf die Beziehung zwischen Erzähler und Rezipient. Der discours ist der Text, der dem Rezipienten vorliegt mit seiner zeitlichen Ordnung der Erzählung (Erzählzeit), seiner Fokalisierung (Erzählaspekte), der Distanz bzw. Nähe der Darstellung (Erzählmodi). Vgl. ebenda, besonders S. 278–289. Für Diskussion und Anregungen zu diesem Kapitel danke ich dem Sewanee Medieval Colloquium (Medieval Emotions 2014) sowie dem Mediävistischen Kolloquium an der HumboldtUniversität zu Berlin. Die Textanalyse zum Engelhard erschien bereits 2016 online in der Zeitschrift DIEGESIS. Vgl. LIEBERICH, Eva: Von und durch Neid erzählen. Rhetoriken des Neids in Konrads ‚Engelhard‘. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 5,2 (2016), S. 1–20. Vgl. zur Anlage des Märe Der junge Ratgeber als Weisheitsprobe: RAGOTZKY, Hedda: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981, S. 138.
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
7.2.1 Prekäre Ökonomien – das Dilemma der Weisheitsprobe Die Exposition des Märe entwirft ein Ideal: Weisheit und Ratgebertätigkeit werden in der Figur des alten râtgeben des Königs enggeführt. Die höfische Hierarchie beruht auf dem Gleichklang von Status und Rang, von gesellschaftlicher Bedeutung und Verdienst. Mit dem Tod des alten Ratgebers und der Ernennung seines Sohnes zum neuen Ratgeber des Königs wirft das Märe die Frage auf, ob Weisheit vererbbar oder vielmehr ein Produkt von Alter und Erfahrung ist. Der Vater äußert sich vor seinem Tod kritisch zu einer möglichen Weitergabe des Amtes an seinen Sohn: neine herre, er hât ze grôze jugent (JR 68). Nichtsdestotrotz ist der König von den Qualitäten des Sohnes überzeugt19 und vertraut ihm das Amt des schaffaere (JR 203) an, die Gewalt über seine Korn- und seine Schatzkammer. Diese Entscheidung – und mit ihr die Weisheit des jungen Ratgebers – wird im Mittelteil des Märe überprüft: Angesichts einer zwei Jahre andauernden Hungersnot verteilt der junge Ratgeber nicht nur das Korn, sondern auch den Schatz des Königs an die Besten des Landes, damit sie nicht gezwungen sind auszuwandern. Der hohe Adel missbilligt dieses Verhalten und plant den als tumben tôren (JR 160) bezeichneten Ratgeber beim König zu verklagen. Im Schlussteil des Märe wird die Weisheitsprobe auf diese Weise in ein Gerichtsverfahren überführt: Die Ankläger argumentieren in der Parteienrede, dass dem König im Falle eines gegnerischen Angriffs nun schande und laster (JR 186) drohen. Der junge Ratgeber bekennt zwar seinen Mangel an Weisheit, hält seinen Anklägern jedoch entgegen, dass er mit der Vergabe des Schatzes dem König diejenigen als Untertanen erhalten habe, die weiser seien als er selbst (JR 211–218).20 In seiner Funktion als Richter entscheidet der König die Weisheitsprobe daraufhin zu seinen Gunsten und sagt voraus, dass der noch junge Ratgeber im Alter noch an wîsheit gewinnen werde (JR 273). Damit verhandelt der Text ökonomisch kluges Handeln in Krisenzeiten. Der junge Ratgeber lässt sich lesen als Reflexion über Sinn und Unsinn ökonomischer Rücklagen. Hedda RAGOTZKY setzt ihn dementsprechend in Bezug zu anderen Texten des Strickers, die den richtigen Umgang mit guot thematisieren. Wie das Bis-
Dessen Ernennung zum Ratgeber „lässt sich vor einem feudal-genealogischen Übertragungsmodell als Vertrauen des Königs in die Fähigkeiten des alten Ratgebers verstehen.“ Siehe: NOWAKOWSKI, Nina: Sprechen und Erzählen beim Stricker. Kommunikative Formate in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen, Berlin, Boston 2018 (Trends in Medieval Philology 35), S. 86. RAGOTZKY interpretiert dieses Verhalten als Zeichen der gevüege kündikeit des jungen Ratgebers. Er schafft es geschickt, dem König sowohl seine triuwe als auch seine wîsheit so zu verdeutlichen, dass dieser selbst „die Rechtmäßigkeit seines Handelns“ erkennt und das „Unrecht der falschen Kläger.“ Siehe: RAGOTZKY, Gattungserneuerung, und Laienunterweisung, S. 139.
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber
267
pel Der Schalk und die beiden Könige erinnert Der junge Ratgeber ihr zufolge daran, dass die Vermehrung von guot niemals Selbstzweck werden darf und sich materielles guot nur dann vermehrt, wenn es gering geschätzt wird.21 Mit Blick auf die Handlung ist diese Lehre jedoch nicht einfach zu vermitteln, insbesondere der Vergleich mit der mittellateinischen Vorlage aus Alfonsis Disciplina Clericalis wirft Fragen auf. Beim Stricker verfügt die Position des jungen Ratgebers über wesentlich weniger Gewicht. In De prudenti consiliarii regis filio handelt der junge Ratgeber aus Mitleid, er kann dem Leiden seiner Mitmenschen nicht zusehen und gibt all seinen Reichtum zur Versorgung der Hungernden auf. Das Handeln des jungen Ratgebers basiert durch den Rückbezug auf die christliche Tugend der caritas auf einer starken ethischen Grundlage, die sich erzähllogisch für den Rezipienten wie folgt darstellt: Der junge Ratgeber tauscht den irdischen in einen himmlischen Schatz ein.22 Diese ethische Grundierung fehlt im Stricker. Seine Hauptfigur handelt, wie Maryvonne HAGBY gezeigt hat, aus politischer und ökonomischer Vernunft. Dementsprechend setzt der junge Ratgeber nicht, wie in der Vorlage, den eigenen Besitz zur Linderung der Not der Armen ein. Er handelt als schaffaere, als maior domus, mit dem Vermögen des Königs und bietet dem Herrscher erst am Ende die eigenen Lehen als Kompensation für dessen Verluste an.23 Der Ausgang der Weisheitsprobe wird durch diese Änderung unsicher. Es stehen sich zwei zunächst wertneutrale Konzepte des Regierungshandelns gegenüber: Der junge Ratgeber definiert das Wohl des Reiches über den Erhalt der Untertanen. Die Ankläger betonen hingegen die Notwendigkeit einer stets gefüllten Schatzkammer für eine starke Herrschaft.24
Vgl. RAGOTZKY, Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 139–140. Zur literarischen Diskussion um den richtigen Umgang mit guot allgemein vgl. RAGOTZKY, Hedda, Die Thematisierung der materiellen Bedeutung von „guot“ in den Texten des Strickers. In: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters. Hrsg. von Albert ZIMMERMANN, Berlin, New York 1980, S. 498–516 sowie für die mittelenglische Literatur: SMITH, Vance: The Arts of Possession. The Middle English Household Imaginary, Minneapolis 2003. Vgl. Petrus Alfonsi: Exemplum de prudenti consiliarii regis filio. In: Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi. Nach allen bek. Hss.. Hrsg. von Alfons HILKA/Werner SÖDERHJELM, Heidelberg 1911 (Sammlung mittellateinischer Texte 1), hier S. 45–47. HAGBY, Maryvonne: man hat uns fur die wahrheit ... geseit. Die Strickersche Kurzerzählung im Kontext mittellateinischer narrationes des 12. und 13. Jahrhunderts, Münster 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 2), S. 71. Auch in der zeitgenössischen Diskussion findet dieses Argument Rückhalt. Die wenig später entstandenen ersten ökonomischen Schriften des Mittelalters, betonen die Notwendigkeit des Sparens, des Haushaltens. In Vinzenz‘ von Beauvais Doctrinale wird der Fähigkeit, das Erworbene zu bewahren, zu erhalten, größeres Gewicht beigemessen als der Fähigkeit, Güter zu erwerben: „Maior in conservandis rebus, quam inveniendis adhibenda est cautela.“ Vinzenz von Beauvais: Speculum
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
Vor dem Hintergrund der Vorlage gewinnen die Vorwürfe gegen den jungen Ratgeber im Stricker-Märe neue Brisanz. Während bei Alfonsi über die angebliche Verschwendungslust eines Vasallen debattiert wird, betrifft die Anklage nun den Besitz der Krone selbst.25 Die Kritiker argumentieren mit der Bedrohung, die das Vorgehen des Ratgebers für die königliche Herrschaft bringt: Was passiert, wenn das Königreich angegriffen wird? Womit können Soldaten bezahlt und ernährt werden? Im Kriegsfall wären, wie die Adeligen hervorheben, sowohl das Reich wie auch die êre seines Herrschers in Gefahr.26 Nimmt man diese Vorwürfe ernst, dann bleibt nicht nur das Handeln des jungen Ratgebers strittig. Die Schutzlosigkeit des Landes im Falle eines Angriffes zieht die Regierungsführung des Königs selbst in Zweifel. Er ist es, der den neuen schaffaere trotz seiner Jugend und der Zweifel des alten Ratgebers ernannt hat. Hinzu kommt die Unwissenheit des Regenten über Probleme der Haushaltung. Die Selbstständigkeit, mit der der junge Mann über das Reichsgut verfügt, lässt den König als Souverän zeitweise völlig in den Hintergrund treten. Die Weisheitsprobe des jungen Ratgebers ist in den Augen des Rezipienten so nicht zuletzt eine Weisheitsprobe für den König.27 Fraglich ist nicht nur die Verständigkeit des jungen Ratgebers, sondern auch, ob der König in seinem Vertrauen auf den jungen Ratgeber klug regiert.
7.2.2 Topisches Erzählen Dieses Unbehagen vermag erst der Neid der Magnaten zu zerstreuen. Gemäß des Sprachsündendiskurses werden die als boese charakterisierten nîdaere (JR 152) anhand ihrer Sprechhandlungen in die Handlung eingeführt: si sprâchen: ‚nu muge wir geleben, daz den künic muoz geriuwen,
Doctrinale, 6, 15. Zit. n. Vincentius Bellovacensis Speculum Quadruplex sive Speculum Maius. Naturale/Doctrinale/Morale/Historiale, Teil 2, S. 491. HAGBY, man hat uns fur die wahrheit ... geseit, S. 71. Von der jüngeren Stricker-Forschung werden die riskanten Entscheidungen des jungen Ratgebers als Reaktion auf kontingente Ereignisse behandelt. Entsprechend der Topoi von vorsorgendem Alter und risikofreudiger Jugend würden zwei differente konsiliarische Strategien im Text vorgeführt. Vgl. NOWAKOWSKI, Sprechen und Erzählen beim Stricker, S. 87–88. Da sich die Forschung darauf konzentriert, was der Stricker in Der junge Ratgeber erzählt und nicht darauf, wie er es erzählt, werden die Argumente der Neider als Deutungsoption mehrheitlich nicht in Betracht gezogen. Ähnlich: RAGOTZKY, Gattungserneuerung und Laienunterweisung, S. 138.
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber
269
daz er uns viel getriuwen des lêhens alle verzêch, und ez einem tumben tôren lêch, der im verlorn hât sîn korn. [...].‘ (JR 156–161)
Die Beschwerde der Adligen darüber, dass der König dem jungen Ratgeber die Güter zuweist und ihnen versagt, legt nahe, dass sie den jungen Ratgeber um das Lehen beneiden. Sie verweist auf die Struktur höfischer Hierarchien, die notwendigerweise darauf beruht, dass jede Gunstbezeugung des Herrschers für den Einen zugleich eine Zurückweisung und Zurückstellung aller Anderen bedeutet. Der Weg, den die Gruppe im Anschluss an ihre Erzählung des Geschehens einschlägt, führt dementsprechend über die Figur des Herrschers. Wie schon im Herzog Ernst und in Walter Maps De Nugis Curialium wird Neid auf der Ebene der Handlung (histoire) nicht als Affekt, als spontane ‚Emotionsentladung‘ erzählt.28 Die vom Stricker als neidisch charakterisierten Kritiker des jungen Ratgebers handeln planvoll, kalkuliert, abwartend. Während der Neider seine Gefühle unter Kontrolle hat, rechnet und arbeitet er mit den Gefühlen der Anderen. Zielen die Adeligen angesichts der Ausgabe des Kornes aus der Kornkammer zunächst auf die riuwe des Königs, einen so jungen Ratgeber ernannt zu haben, so entscheiden sie sich dann fürs Abwarten, um die größere und mächtigere Emotion gegen den jungen Ratgeber zu erzeugen: den königlichen Zorn. Dieses Taktieren mit Zeit, um Emotionen zu steigern, qualifiziert ihr Handeln als Intrige.29 Beschreibt man das neidische Vorhaben mithilfe der lacanschen Terminologie des Blickes, dann können die Neider den Blick des Königs auf den Ratgeber zwar nicht auf sich selbst wenden, sie wollen ihn aber umdeuten, auf die Begrenzungen des Anderen lenken. – Aus dem wohlwollenden Blick des Königs soll ein zerstörerischer werden.30 Hierfür nehmen die Kritiker des jungen Ratgebers auch größeren Schaden für den Herrscher in Kauf. Indem sie ihr Wissen zurückhalten, bis auch der Schatz des Königs verloren ist, verstoßen sie gegen das von ihnen selbst formulierte Ideal der triuwe gegenüber dem Herrscher (JR 158). Für den Rezipienten wird die Emotion ‚Neid‘ so indirekt charakterisiert. Das neidische Intrigieren weist die Kritiker des jungen Ratgebers als pflichtvergessen und schrankenlos in ihrer Aggression aus. Folgerichtig endet die Neidhandlung mit einer verspäteten
Zur Abgrenzung von Affekt und Emotion vgl. EMING, Emotion und Expression, S. 44. Zur Kalkulation und Manipulation der Emotionen Anderer als Merkmal der Intrige vgl. wiederum DEITERS, Die Kunst der Intrige, S. 10. Vgl. zur Lacan’schen Terminologie des Blicks das Kapitel 3.1.3 ‚Konzeptionalisierungen von Neid‘.
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Enthüllung, die man von ihrer Struktur her als detractio verstehen kann: Die Neider erzählen dem König in Abwesenheit des jungen Ratgebers von dessen ökonomischen Verfehlungen. Nichts an dieser Plotkonstellation ist neu. Mit der Verknüpfung von Sprachsündendiskurs, Günstlingsthematik und Intrigennarrativ greift der Stricker, wie im Rahmen dieser Studie deutlich geworden ist, auf bekannte Topoi des Neids zurück. Sie ermöglichen es dem literarisch versierten Hörer / Leser, die Handlungen der Magnaten, auch ohne dass das Neidgeschehen in detaillierter Weise ausgestaltet wird, zu imaginieren und zu bewerten. Anders als in De Rege Portigalensi ist das neidische Intrigieren dabei nicht der zentrale Gegenstand der Kurzerzählung, sondern die Weisheitsprobe, mit der der Handlungsstrang des Neids, wie im Folgenden gezeigt werden soll, geschickt verknüpft wird.
7.2.3 Erzählen als Kombinationskunst: Nît und wîsheit Nu hoeret ein ander maere, wes die boesen nîdaere in ir untriuwe jâhen [...]. (JR 151–153)
Die Aufmerksamkeit einfordernden Worte des Erzählers markieren einen Bruch in der Erzählung: Nachdem der junge Ratgeber Korn und Schatz herausgegeben hat und die Hungerkrise im Reich im dritten Jahr beendet ist, springt die Narration zum Augenblick der Ausgabe des Korns zurück und setzt hier neu an. Erzähltechnisch dient die ‚komplette Analepse‘31 der kausalen Motivation der Anklage. Zugleich unterbricht der Aufmerksamkeitsmarker – es handelt sich um die erste von nur zwei Stellen, in denen sich der Erzähler direkt an sein Publikum wendet – die Haupterzählung der Weisheitsprobe und führt sowohl neue Akteure als auch Themen in die Handlung ein: Indem die Genese der Anklage aus dem Neid heraus erzählt wird,32 verschiebt der Stricker das Augenmerk des Lesers/Hörers von den Handlungen und Motiven des jungen Ratgebers auf die seiner Ankläger. Die Weisheitsprobe wird nun mit einer Erzählung von Neid kombiniert, die wie gezeigt wurde, konventionalisierten Handlungs- und Deutungsmustern unterliegt. Dies wirft die Frage nach den Funktionsweisen dieser Verknüpfung auf: Welche Rolle
Zum narratologischen Begriff der ‚kompletten Analepse‘ vgl. GENETTE, Die Erzählung, S. 34. Für den Fortgang der Weisheitsprobe ist die Neidhandlung nicht zwingend notwendig. Es wären andere Verläufe denkbar, in der der König selbst auf die leeren Korn- und Schatzkammern stößt und den jungen Ratgeber zur Rede stellt.
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber
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kommt dem Topos der boesen nidaere für die die Weisheitsprobe abschließende Beurteilung des ökonomischen Handelns des jungen Ratgebers zu? Auf Ebene des discours nimmt Neid Einfluss auf die Bewertung der Kritik am jungen Ratgeber. Noch bevor der Erzähler zum ersten Mal die Vorwürfe der Neider wiedergibt, legt er den Deutungsrahmen fest, innerhalb dessen ihr maere zu rezipieren ist. Mögliche Kritik am ökonomisch risikoreichen Handeln des jungen Ratgebers wird so zugleich benannt und gemäß des Topos von den boesen nidaere diskreditiert. Auch die offizielle Anklage beim König bleibt vom Erzähler nicht unkommentiert. Er erinnert an die Ziele, die die Neider mit ihrer Anklage verfolgen. Die Neider treten nicht an den König heran, um Gefahren für den königlichen Haushalt abzuwenden, sie zielen auf die Vernichtung des Günstlings: die grimmen wâren ouch alsô, die im schaden wolden füegen die begunden in alle rüegen. zuo dem künige si giengen. nu hoeret, wie siz aneviengen. (JR 178–182)
Die Anklage der Veruntreuung des Guts des Königs steht auf diese Weise nicht für sich, der zweite Aufmerksamkeitsmarker in Vers 182 macht sie für die Rezipienten lesbar als Ausführung der neidischen Pläne, als Verwirklichung der geplanten Intrige.33 Auch auf Ebene der histoire beeinflusst der Neid das Urteil. Zwar wird die Emotion von den Figuren nicht erwähnt, sie macht sich jedoch im Handeln der Neider bemerkbar. Die Entscheidung des Herrschers beruht nicht allein auf der Parteienrede des jungen Ratgebers, sie ist auch als Vergleich zwischen den Ratgeberqualitäten des Angeklagten und der Ankläger angelegt. Die Weisheitsprobe wird, wie sich im Text anhand des leitmotivischen Gebrauchs des Vokabulars der wîsheit nachvollziehen lässt, auf die Antagonisten des jungen Ratgebers ausgeweitet. Die Neider werfen dem jungen Ratgeber vor, wie ein tumbe[r] tôr (JR 160), das Korn verloren zu haben. Hingegen kommt der Herrscher nach der Anhörung sowohl der Ankläger als auch des Angeklagten zu einem anderen Schluss: Er qualifiziert das späte Ratgeben der Adligen, das den wirtschaftlichen Schaden nicht mehr verhindern, jedoch dem Günstling in Misskredit bringen will, als unwîse (JR 196), während er die Schädigung materiellen Guts, um ihm die Leute und ihre Huld zu erhalten, als kluges Ratgeberhandeln erachtet und erwartet, sein Günstling werde mit dem Alter noch wîser werden (JR 273). Im Einklang mit diesen
Durch die Anordnung der Narration wie den Erzählerkommentar übernimmt der Neid für den Rezipienten die Funktion einer kausalen Motivation.
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
Wertungen orientiert sich das Urteil des Königs über den jungen Ratgeber an dessen guten Absichten: swer wol ze rehte geben kan,/der kan ouch wol ze rehte sparn (JR 276 f.). Nicht das Eingehen oder das Vermeiden des Risikos wird hier per se als richtige Strategie mit ökonomischen Unsicherheiten umzugehen, ausgemacht, sondern das richtige Geben und Sparen. Mit der Einführung des Neids wird die Intention als Differenzkriterium zwischen richtigem und falschen Ratgeberhandeln virulent. Der Handlungsstrang des Neids läuft so der Logik der Weisheitsprobe entgegen und sichert sie dennoch auch ab. Obwohl der junge Ratgeber im Gegensatz zur Vorlage allein aus politischer Vernunft und nicht aus christlicher Nächstenliebe handelt, wird er durch den Neid seiner Ankläger ethisch ins Recht gesetzt. Der Vorwurf, dass die leere Schatzkammer das Königreich gefährdet, wird hingegen nie ausgeräumt. Das Stricker-Märe macht derart deutlich, der Topos des höfischen Neids in der Literatur des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ist so etabliert, dass er ohne Diskussion über die Bedingungen höfischer Ordnung eingesetzt und strittige Fragen entscheiden kann.
7.2.4 Die Weisheitsprobe des Königs Neid beeinflusst jedoch nicht nur die Kriterien, mittels derer geurteilt wird, mit ihm verändern sich zugleich die Personen, über die geurteilt wird. Dort wo der Erzähler ganz das Wort hat, im Epimythion, verwandelt sich die Entscheidung über das Verhalten des Ratgebers unversehens in eine Entscheidung über das Verhalten der kritischen Adeligen. So wie der Erzähler den Rezipienten durch seine Kommentare das Erkennen neidischer Rede lehrt, so soll auch der Herrscher die Fähigkeit besitzen, lôsen unde liegen (JR 301) aufzudecken und richtig zu beurteilen (JR 300–302). In dieser Schilderung steht der Kläger anstelle des Angeklagten am Ende des Märe nun selbst vor dem ‚Gericht‘ des Herrschers. Der Fokus liegt dabei auf seinen neidischen Sprechhandlungen. Als lôsen unde liegen werden sie im Kontext der Diskussion um die Sprachsünden thematisiert. Während dort jedoch nur das liegen, in Form der detractio34, mit Neid assoziiert wird, wird hier verallgemeinernd auch die oppositionelle Sprachsünde der Schmeichelei35, der adulatio, in die Diskussion
Zum Verständnis der detractio als Lüge vgl. das nächste Teilkapitel zum Engelhard, in dem dieses strategisch genutzt wird. Zur Oppositionsbeziehung von detractio (Verleumdung) und adulatio (Schmeichelei) vgl. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 244.
7.2 Die doppelte Weisheitsprobe in Strickers Der junge Ratgeber
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über das Verhalten der Kritiker eingebunden.36 Mit Neid assoziiert wird hier – unabhängig von den konkreten ökonomischen Vorwürfen der Neider – dementsprechend eine Verkehrung der Wirklichkeit und der an diese angelegten Bewertungsmaßstäbe. Der Neider wendet durch sein Sprechen zum einen die triuwe und vrümikeit (JR 290) des Beneideten ins Negative, durch übermäßiges Lob beeinflusst er zum anderen das Urteil des richtenden Königs (JR 296) Die Beschreibung der Sprachsünden mündet zunächst in eine Zeitenklage. In Form einer laudatio tempores acti wird die Fähigkeit zwischen guot und valsch, zwischen richtiger und falscher Rede zu differenzieren, im Epimythion zur Herrschertugend deklariert, der die herren der Gegenwart des Erzählers nicht mehr gerecht würden: Taeten noch die herren daz,/ ir lop erhülle deste baz. (JR 293–294) Mit diesen Worten positioniert sich der Erzähler typisch für eine Gruppenneiderzählung im hofkritischen Diskurs seiner Zeit: Wie in Walter Maps De Rege Portigalensi erscheinen die Höfe hier von Schmeichlern und Lügnern bevölkert, deren Ordnungsverstöße von den Herrschern nicht genügend bekämpft werden. Von diesen Fehlentwicklungen setzt sich das im Märe beschriebene Verhalten des Königs deutlich ab. Indem der Herrscher dem neidischen Sprechen keinen Glauben schenkt, wird er für den Erzähler zum nachahmenswerten Vorbild für seine Zeit. Es handele sich um einen Herrscher der beide lôsen unde liegen niht hâte wan vür triegen; der truoc den biderben vriundes muot und nam ie vrümikeit vür guot. den boesen was er traege, unwillic und unwaege. swelch herre noch daz taete, des lop waere immer staete. (JR 301–308)
Der König widersetzt sich, wie hier deutlich wird, den Wirkungen neidischen Sprechens; er lässt sich in seiner Wahrnehmung nicht täuschen, ordnet vrümikeit richtig guot zu und stellt dieser Art die richtigen sozialen Beziehungen zu den biderben und den boesen her. Aus einem Märe über ökonomische Rücklagen wird so zuletzt ein Märe über die Relevanz der Unterscheidung neidischer und richtiger Rede.37 Im Metadiskurs
Es fällt auf, dass der Stricker im Epimythion in verallgemeinernder Weise Versatzstücke aus dem Sprachsündendiskurs zitiert, die nur grob zur vorher erzählten Situation passen. So wird die Sprachsünde der adulatio traditionellerweise dem Günstling zugeschrieben. Diese Verschiebung spiegelt sich auch auf Ebene der Wortsemantik. Wie Nina NOWAKOWSKI herausgearbeitet hat, wird „die Semantik von guot (V. 299), die in der Erzählung zuvor vor allem
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
des Epimythions wird die Verknüpfung der Weisheitsprobe mit dem Handlungsstrang des Neides auf diese Weise ein letztes Mal produktiv gemacht. Anstatt die Einsetzung des jungen Ratgebers und die vollständige Übergabe der Hofführung an ihn zu problematisieren, deklariert der Erzähler den König aufgrund seines Misstrauens gegen die Kritiker zum idealen Herrscher. Auch die Weisheitsprobe des Königs wird in diesem Märe folglich über den Neid entschieden: Die Weisheit des Herrschers konstituiert sich über seinen Umgang mit den Neidern.
7.3 Ethische Aporien. Die Transgressionen des Helden und des Neiders in Konrads Engelhard In Konrads Engelhard greift das Erzählen von Neid noch tiefgreifender in die Deutung ein. Im Zentrum der ersten 5000 Verse von Konrads Engelhard steht ein unerhörtes Geschehen: Ein Fremder am Hof steigt – obwohl er beim Geschlechtsverkehr mit der Tochter des Königs ertappt und für die Tat vor Gericht angeklagt wurde – zum Thronfolger auf. Sein Ankläger hingegen wird im Gerichtskampf wie ein Meineidiger mit dem Verlust einer Hand38 bestraft und muss fortan ehrlos und in Schande leben. Der erste Teil der Handlung des Engelhard hat in der germanistischen Forschung früh Irritationen hervorgerufen.39 Obwohl die darin thematisierte Ethik im Kontext der Amicus-Amelius-Tradition als Dominanz der triuwe in Freundschaft und Liebe40 über andere Bindungen beschrieben werden konnte, blieb doch stets ein Unbehagen angesichts der Vielzahl traditionell höfi-
in Bezug auf den ökonomischen Bereich bezogen war, [...] nun ins Ethische erweitert.“ Siehe: NOSprechen und Erzählen beim Stricker, S. 87. Allerdings handelt es sich bei der linken Hand nicht um die Schwurhand, sodass der Text bezüglich der Ausdeutung des Geschehens eine Unsicherheit belässt. Vgl. u. a. RUPP, Heinz: Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg. Das Problem des Epigonentums. In: Der Deutschunterricht 17, 2 (1965), S. 5–17, hier besonders S. 15 sowie EHRISMANN, Gustav: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil, zweiter Abschnitt, zweite Hälfte, München 1966, S. 50 und DE BOOR, Helmut: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Tl. 1: Zerfall und Neubeginn 1250–1350, München 51997, S. 31. Zur Dominanz des auf triuwe basierten Liebes- und Freundschaftsmodells vgl. z. B. HERZMANN, Herbert: Die alte Ordnung und der neue Mensch. Zum ‚Engelhard‘ Konrads von Würzburg. In: Sprache-Text-Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964–1979 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, Hrsg. von Peter K. STEIN, Göppingen 1980, S. 385–407, hier S. 406; KESTING, Peter: Diu rehte wâhrheit. Zu Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 99, 4 (1970), S. 246–259, hier S. 255–259; VON BLOH, Ute: „Engelhart der Lieben Jaeger“. „Freundtschafft“ und „Liebe“ im Engelhart. In: Zeitschrift für Germanistik, NF II (1998), S. 317–334, hier S. 323–328 und zuletzt WINST, Amicus et Amelius, S. 146.
WAKOWSKI,
7.3 Ethische Aporien in Konrads Engelhard
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scher Werte, welche hinter diesem triuwe-Ideal zurücktreten müssen, bestehen. Ute von BLOH spricht von nicht aufgelösten „Widersprüchen“, einer „haltlosen Geschichte41“, Silke WINST von „Ambivalenzen“42, Jan-Dirk MÜLLER von „ethischen Aporien“43. Damit stellt sich im Hinblick auf die Rezeption die folgende Frage, die Rüdiger SCHNELL für das Gottesurteil pointiert formuliert hat: „Wie konnte Konrad seinem Publikum eine moralisch so zwiespältige Szene vorsetzen, ohne mit Entrüstung rechnen zu müssen?“44 Die Forschung hat für den Engelhard mehrere Entlastungsstrategien beschrieben, die das Handeln des Protagonisten legitimieren beziehungsweise die Drastik seiner Handlungen abmildern.45 Auf Ebene der Figurenmotivation wird die Liebeskrankheit Engelhards hervorgehoben, welche die Beziehung zur Tochter seines Dienstherren als lebenserrettende Maßnahme lesbar macht und so die sexuelle Vereinigung als nicht intentional und darum weniger schuldhaft erscheinen lässt.46 Auf rechtlicher Ebene verschiebt der Identitätstausch zwischen Engelhard und seinem Freund Dietrich im Gerichtskampf die Wahrheitsverhältnisse, sodass der Ankläger unwissentlich einen Meineid schwört.47 Wichtiger jedoch als diese formale, als „Automatismus“48 funktionierende Lösung der Gottesgerichtsproblematik
Vgl. von BLOH, Ute: „Engelhardt der Lieben Jäger“, S. 329: „Liebe und Freundschaft geraten, unabhängig von der kollektiven Werteordnung, zu öffentlichkeitsabgewandten Bindungen. Die daraus resultierenden Widersprüche werden nicht aufgelöst. Ausgeglichen wird die Unentschiedenheit des Erzählten durch die strenge Konzeption mit ihren Kontrast-, Oppositions- und Referenzbildungen, die den exaltierten Entwurf insgesamt organisieren. Dadurch erhält die haltlose Geschichte zugleich eine feste Stütze.“ Vgl. WINST, Amicus et Amelius, S. 145: „Die Amicus-Amelius-Texte reflektieren Aporien gesellschaftlicher Ordnung, wenn sie zum einen – dem narrativen Programm gemäß – die Dominanz des Freundschaftsmodells voraussetzen, zum anderen aber die sich daraus ergebenden Ambivalenzen mehr oder minder explizit diskutieren.“ Siehe: MÜLLER, Höfische Kompromisse, S. 135: „In diesen extremen Versuchsanordnungen einer öffentlichen Bewahrheitung des Unwahren führt das Festhalten an einer spezifisch höfischen Lebensordnung in ethische Aporien, die nur noch narrativ aufgezeigt, aber nicht mehr bewältigt werden können.“ SCHNELL, Rüdiger: Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils. Eine rechtsgeschichtliche Interpretation von Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘. In: Poetica 16 (1984), S. 24–60, hier S. 27. Gegenüber Positionen, die Konrad ein Problembewusstsein absprechen, betont Rüdiger BRANDT die zahlreichen Versuche Konrads zumindest den betrügerischen Ausgang des Gottesurteils zu legitimieren. Diese Motivationsversuche lassen sich für ihn als Resultat einer „gezielten Hinwendung zu diesem Problem“ verstehen. Vgl. BRANDT, Rüdiger: Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke, Berlin 22009 (ESVbasics 2), S. 136. Vgl. WINST, Amicus et Amelius, S. 144. Vgl. SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, besonders: S. 39–41 und S. 55–57. Ebenda, S. 57.
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ist für die meisten Deutungen das Verhältnis zwischen Engelhard und Dietrich auf der einen und dem Ankläger Ritschier auf der anderen Seite, welches der Erzähler als Gegensatz von triuwe und untriuwe konzipiert (E 472, 4687, 4710). Hier werde der Anklage und dem Gottesurteil eine ethisch-moralische Lesart untergelegt:49 Während die Freunde durch ihr Eintreten füreinander zum Ideal stilisiert würden, impliziere Ritschiers Neid auf das Freundespaar auf der Ebene des Erzählerdiskurses eine Negativbewertung. Der Ankläger und seine Motivationen erschienen demnach durch die Emotion diskreditiert, der Ausgang des Gottesurteils hingegen als legitimiert.50 Trotz der Bedeutung, die dem Neid hier für die Erklärung der ‚ethischen Aporien‘ des Textes zugesprochen wird, werden der Emotion in der Forschungsliteratur zum Engelhard jeweils nur wenige Sätze gewidmet. Eine genauere Untersuchung des Neids als Legitimations- und Entlastungsmechanismus für das Handeln des Protagonisten blieb bislang aus. Dies soll in der folgenden Analyse nachgeholt werden. Angesichts des irritierenden Handlungsverlaufs wird hierfür der für den Stricker entwickelte methodische Ansatz variiert und weiterentwickelt: Um die Funktionsweise von Neid herauszuarbeiten, möchte ich zunächst isoliert betrachten, wie sich das Vergehen des Protagonisten auf der Ebene der histoire darstellt und in einem zweiten Schritt fragen, wie die Thematisierung von Neid durch den Erzähler auf discours-Ebene die Interpretation und Bewertung dieser Taten verändert.
Eine Ausnahme von der moralisch-ethischen Deutungstradition des Gegensatzes zwischen dem Freundespaar und dem Ankläger stellt Silke WINSTs Interpretation dar. Hier ist der Neid Ritschiers nicht ethisch falsch, untriuwe. Sein Neid macht Ritschier zum „Störfaktor im exklusiven Freundschaftsmodell“. Siehe: WINST, Amicus et Amelius, S. 143–146. Diese Interpretation ist jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen wird sie der Überhöhung der triuwe als Bedingung von êre und christlicher Nächstenliebe im Prolog nicht gerecht. Zum anderen kann sie den Rückgriff auf die Emotion des Neids nicht folgerichtig erklären. Zeigt Neid lediglich die Opposition zum Freundespaar an, dann ist seine Wahl hier beliebig. Er könnte durch jede andere negative Emotion ersetzt werden. Dass der Neid für die Erzählung jedoch spezifische Funktionen erfüllt, dies wird die folgende Interpretation zeigen. Vgl. zum Beispiel SCHNELL, Die Wahrheit eines manipulierten Gottesurteils, S. 28–29, S. 52–55; BRANDT, Konrad von Würzburg, S. 137; KARNER, Daniela: Täuschung in Gottes Namen. Fallstudien zur poetischen Unterlaufung von Gottesurteilen in Hartmanns von Aue ‚Iwein‘, Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ und Konrads von Würzburg ‚Engelhard‘, Frankfurt a. M. 2010 (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 5), S. 131 u. OETTLI, Peter H.: Konrad von Würzburg. Engelhard, In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst BRUNNER, Stuttgart 1993 (Reclams Universal-Bibliothek 8914), S. 373–390, hier S. 384.
7.3 Ethische Aporien in Konrads Engelhard
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7.3.1 Im Baumgarten – Rechtliche, soziale und politische Dimensionen des Liebesakts Was also hat sich zugetragen? Der Protagonist Engelhard kommt an den Hof König Fruotes von Dänemark, um als Sohn eines armen, aber kinderreichen Adeligen sein Glück im Dienst des Herrschers zu suchen (E 280–319). Zusammen mit seinem Freund Dietrich gewinnt er aufgrund seiner Schönheit, seiner höfischen Manieren und Ausbildung bald die Gunst des Königs und des gesamten Hofes (E 747–851). Als Dietrich den Hof verlässt, um seinem Vater in Brabant auf den Thron zu folgen, steigt Engelhard zum alleinigen Favoriten des Königs auf und wird von ihm zum Kämmerer der Königstochter Engeltrud ernannt (E 1629–1861). Beide verlieben sich ineinander und nutzen nach anfänglicher Scham, Liebesleiden und einer ritterlichen Bewährungsprobe Engelhards die Mittagsruhe des Königs, um in dem durch eine Mauer geschützten Baumgarten miteinander zu schlafen. Liebestrunken vergisst Engelhard das Gartentor zu schließen, sodass der Neffe des Königs, Ritschier, das Paar durch Zufall überrascht und ihr Fehlverhalten dem König meldet (E 1862–3544). Dass sich Engelhard mit seinem Verhalten außerhalb „des Geltenden“51, also außerhalb der höfischen Ordnung bewegt, wird schon durch die Raumordnung des Liebesakts markiert. Im Baumgarten, zu dem man nur durch eine einzige Tür von Engeltruds Zimmer aus gelangen kann, wird er den Blicken der Gesellschaft entzogen und vor die Burg in einen eigens ummauerten Bereich ausgelagert.52. Wie schwer Engelhards Vergehen wiegt, lässt sich an den Reaktionen der Hofgesellschaft auf Ritschiers Bericht ablesen. Der König, zugleich Leidtragender wie Richter, ist über Engelhards Verrat erschüttert. Er klagt Engelhard der Undankbarkeit (E 3576–3579) und Untreue (E 3582 f.) an. Besonderes Augenmerk liegt in der Szene auf den emotionalen und physiologischen Wirkungen, die die Nachricht auf Fruote hat. Der Rezipient erfährt, dass Fruote in Folge von leide und ouch von zorne (E 3561) erbleicht und sein Herz auf ungemüete swal unde ûf bitterlichen haz (E 3564 f.). Der sich Bahn brechende Herrscherzorn ist nicht allein Ausdruck persönlicher Enttäuschung oder Verletzung; wie Rüdiger SCHNELL herausgearbeitet hat, stellt Fruotes Zorn eine Reaktion auf schwerwiegende Rechtsverstöße dar: Aufgrund von Engelhards Dienstverhältnis fällt sein Vergehen unter den strafrechtlichen Tatbestand der „Unzucht mit Bruch des Treueverhältnisses“53. Engelhard hat nicht nur mit der Tochter des Herrschers geschlafen, er hat das besondere Ver von BLOH, „Engelhart der Lieben Jaeger“, S. 326 u. 329. Ebenda, S. 325. SCHNELL: Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 31 mit Bezug auf HIS, Rudolf: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 2, Die einzelnen Verbrechen, Leipzig 1935, S. 148.
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trauen, das mit der Position des Kämmerers einhergeht, missbraucht. Im Hinblick auf Fruotes Beschreibung Engeltruds als tougenlichiu[...] brût (E 3715) erwägt SCHNELL sogar noch ein weiteres Verbrechen. Nimmt man die Bezeichnung ernst, dann machen sich Engelhard und Engeltrud der „heimlichen Eheschließung bzw. Eheschließung ohne Einwilligung des Muntwalts“ schuldig.54 Fruotes Vorwürfe gehen sogar noch über die rechtliche Ebene hinaus. Seine Klage, si was ze friuntschaft iu ze hôch (E 3714), wiederholt die anfänglichen Zweifel Engelhards hinsichtlich des Standesunterschieds zwischen ihm und der künegin (E 2055–2059). Im Gegensatz zu seinem Freund Dietrich ist er kein Sohn eines Königs, sondern der Sohn eines einfachen Adeligen mit wenig Landbesitz. Jegliche über ein Dienstverhältnis hinausgehende Verbindung der Königstochter mit ihm muss folglich als klare Mesalliance bewertet werden. Engelhards Vergehen ist somit nicht nur ein rechtliches, in den Figurenreden wird deutlich, dass der Sexualakt die soziale Ordnung des Hofes stört.55 Als solche Störung wird Engelhards Verhalten nicht zuletzt auch von seinem Ankläger, Ritschier, interpretiert. Der Neffe des Königs stellt Engelhards Vergehen darüber hinaus in einen politischen Kontext. Für ihn steht der widerrechtliche Beischlaf mit der Königstochter am Ende des unstatthaften Aufstiegs Engelhards in der höfischen Hierarchie. Er wirft dem König vor, dass er ûz einem swachen knehte/ hât [...] gemachet einen voget (E 3530 f.), dass er einen Fremden in den Mittelpunkt höfischen Lebens gerückt hat (E 3534–3540). Engelhards Fehltritt bekommt so eine politische Dimension. Aus der Perspektive des einzigen männlichen Mitgliedes der Königsfamilie in der zweiten Generation56 stellt Engelhards rascher Aufstieg die hö-
Für dieses Vergehen spricht nach SCHNELL vor allem die Engeltrud angedrohte Strafe: „Nach weltlichem Recht wurde das Mädchen, das heimlich, ohne Einwilligung der Verwandten eine Ehe eingegangen war, mit dem Verlust des Erbes bestraft.“ Siehe: SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 31 f. mit Bezug auf HIS, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 2, S. 161. Vgl. zur sozialen Problematik im Engelhard: HERZMANN, Die alte Ordnung und der neue Mensch, S. 394. Unklar ist, ob Ritschier gemäß damaligen Recht selbst als potentieller Thronfolger in Frage kommt. Dass sich Konrad der Problematik weiblicher Erbfolge bewusst war, zeigt der Schwanritter, in dem der Antagonist die Erbansprüche der Witwe und Tochter des Herrschers mit folgenden Worten in Frage stellt: wîp unde tohter erbent niht/ die selben hôhen hêrschaft. (Schwanritter V. 512) Vgl. den Kommentar zum Engelhard von Klaus Jörg SCHMITZ in: Konrad von Würzburg: Engelhard. Nach dem Text von Ingo REIFFENSTEIN ins Neuhochdeutsche übertragen. Mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Klaus Jörg SCHMITZ, Göppingen 1989 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 501), hier S. 41–42. Mit Eleonore von Aquitanien und Matilda von England existierten im zwölften Jahrhundert jedoch auch namhafte Ausnahmen von der männlichen Erbfolge. Vgl. ANDERSSON, Bonnie U. ZINSSER, Judith P.: A history of their own, Bd. 1, New York 1988, S. 297–304.
7.3 Ethische Aporien in Konrads Engelhard
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fischen Hierarchien in Frage. Der Beischlaf mit der Königstochter ist nur der finale Ausdruck der Unordnung im Verhältnis von Status und Rang, die Engelhards Kommen am Hof verursacht hat. Die Vorwürfe gegen Engelhard umfassen somit das ganze Spektrum der sozialen Beziehungen am Hof. Die Figuren verstehen Engelhards und Engeltruds Liebesakt als rechtliches, soziales und politisches Vergehen. Diese dreidimensionale Normüberschreitung wird jedoch nicht nur durch Worte angezeigt. Sowohl die Raumordnung als auch der Herrscherzorn markieren, dass der Protagonist die geltenden Grenzen der höfischen Ordnung überschritten hat. Wie sich die Erzählung (discours) zur Transgression des Protagonisten verhält, wird im folgenden Kapitel näher untersucht.
7.3.2 Normüberschreitung versus Normüberschreitung Der Erzähler preist Engelhard trotz seiner Schuld weiterhin als idealen Ritter: Engelhart, der Êren kneht und der Triuwen dienestman, hier under schône sich versan daz er schuldic waere. (E 4122–4125)
Ehre und Schuld, Treue und Verrat werden über den Reim zusammengebracht, jedoch bleibt die Spannung zwischen der positiven Erzählerbeschreibung des Helden am Anfang und der kritischen Selbstreflexion der Figur am Schluss unaufgelöst. Dies wirft Fragen hinsichtlich der Rezeption der Hauptfigur auf. Wie kann die paradoxe Gleichzeitigkeit von Ehre und Schuld vermittelt, mit welchen erzählerischen Mitteln kann der Vorbildcharakter des Protagonisten trotz seines Vergehens für den Rezipienten aufrechterhalten werden? Parallel zur Kurzerzählung des Strickers kommen an dieser für die Bewertung des Protagonisten prekären Stelle des Textes die Emotionen des Antagonisten zum Tragen. Unmittelbar bevor die Liebesgeschichte zwischen der Königstochter und Engelhard beginnt, führt der Erzähler seinen Gegenspieler und späteren Ankläger als Neider ein: ir aller sin was lûter engegen dem vil reinen, zewâre biz an einen, der neit in hôher êre sô vaste und alsô sêre daz er in arges niht erliez.
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
Ritschier von Engellande er hiez und was des küneges swestersun. (E 1662–1669)
Obwohl Engelhard schon längere Zeit am Hof lebt, waren weder Ritschier noch sein Neid zuvor Gegenstand der Handlung oder des Erzählerdiskurses. Ritschiers Neid wird an dieser Stelle nachgeliefert, sein Neid in Form einer Analepse in die Vergangenheit verlängert und auf Engelhards Freund Dietrich ausgeweitet (E 1676 f.). Dies hat Folgen für die Wahrnehmung von Engelhards Vergehen. Indem der Neid abweichend von der Chronologie der Ereignisse erzählt wird, geht der Normüberschreitung des Helden in der Narration die Verfehlung seines Anklägers direkt voraus. Der Erzähler schenkt der Charakterisierung Ritschiers als Neider an dieser Stelle große Aufmerksamkeit. Ich möchte kurz auf die textinterne Konzeption der Emotion eingehen, um zu zeigen, wie Neid den angeklagten Protagonisten und seinen ihn anklagenden Gegenspieler in Relation zueinander setzt. Noch ehe der Rezipient Ritschiers Namen kennt, erscheint dieser aufgrund seiner negativen Gefühle gegenüber Engelhard bereits von der höfischen Gemeinschaft isoliert. In der Erzählerrede funktioniert der Neid als dasjenige Differenzkriterium, das Ritschier zuerst eine eigene, herausgestellte Identität verleiht. Ritschiers Rolle als Neider überdeckt sogar seine soziale Identität. So wird Ritschier zunächst nur in seiner neidischen Beziehung zu Engelhard eingeführt; dass es sich bei ihm um einen engen Verwandten des Königs handelt, erfährt der Rezipient erst am Ende der Textpassage. Folgt man dem Erzähler, muss der Rezipient von Ritschier zunächst also nur eines wissen: Ritschier (der Neider) beneidet Engelhard (den Beneideten) um sein hohes Ansehen am Hof (das Neidobjekt) und versucht ihm darum auf jede erdenkliche Weise zu schaden (neidische Aktion). Die mit dieser Konstellation verbundenen Emotionen werden in den folgenden Versen konkretisiert. Dem Rezipienten wird ein seltener Einblick in das Innere des Neiders gewährt, der Engelhards Anwesenheit am Hof nur mit Schmerzen sehen und seine Aggressionsgefühle selbst nicht rationalisieren kann: der selbe enweste rehte waz/ sîn herze an dem getriuwen rach. (E 1672 f.) Der Erzähler beschreibt die neidische Aggression hier in Termini der Rache, notiert zugleich aber, was fehlt, um den Neid zur Rache werden zu lassen: das begründende ‚was‘, der explizite Rückbezug auf eine Anfangstat. Die neidische Emotion wird so gleichermaßen in Bezug und in Kontrast zur benachbarten Emotion der Rache definiert. Beide implizieren Hass, Zerstörung. Im Gegensatz zum Rachesuchenden fehlt dem Neid jedoch
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die Legitimation einer Folge- oder Reaktionshandlung;57 das heißt, der Neider hasst, ohne dass ihm etwas getan wurde und wird so als Aggressor sichtbar gemacht. Es überrascht dementsprechend nicht, dass der Erzähler den neidischen Hass als Sünde auffasst. Die Anrufung Gottes als Richter – got herre, nû verwîze dun/ der werden liuten sî gehaz! (E 1670 f.) – nimmt das Urteil über den Neider vorweg: Durch die Aussage wird Neid als Objekt göttlicher Strafe konstituiert, wobei der Verstoß gegen ethisch-religiöse Normen zwar nicht direkt ausgesprochen, aber in der Bitte um die Maßregelung des Neiders vom Erzähler vorausgesetzt wird und impliziert ist. Die unbegründete Aggression des Neids bereitet so den Boden, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten im Folgenden weg von der sexuellen Normüberschreitung Engelhards hin zu der Normüberschreitung seines Anklägers, seines Gegenspielers, zu lenken. Zugleich führt das Erzählen vom Vergehen des Neides Unterscheidungen zwischen den Figuren ein. Mit dem Topos des ‚Neides auf die werden liute‘ etabliert der Erzähler eine moralische Hierarchie, die für die Relation von Engelhard und Ritschier immer wieder neu aufgerufen werden kann. Diese ‚Rangordnung des Neides‘ wird in den Erzählerkommentaren auch von anderer Seite her konstruiert. Der Hörer / Leser erfährt nicht, auf welche Weise Ritschier Engelhard attackiert und schädigen will, er wird lediglich über Engelhards Reaktion informiert. Engelhard bemerkt den Neid Ritschiers und entscheidet sich, nicht gegen diesen vorzugehen, sondern die Aggression geduldig zu ertragen: sîn herze rein und ûz erkorn dar umbe was niht ungemuot. er tete alsam der wîse tuot der smaehen haz vil gerne treit durch vollekomene werdekeit. vil senften haz er lîdet, swen man der êren nîdet. (E 1684–1690)
Der Erzähler interpretiert diesen Umgang Engelhards mit der Aggression als Beweis seiner Weisheit und Verständigkeit. Zur werdekeit des Beneideten gehört hier das Erleiden neidischen Hasses. Das heißt, alle drei Aspekte – das Beneidetwerden, die Nachsicht gegenüber dem Neider und die Überlegenheit des Beneideten – sind miteinander verbunden, indem sie einander bedingen: Der Weise erträgt um sei-
Vgl. zum Motiv des unverschuldeten Hasses das Kapitel 4.4.2 ‚Contrarietas‘. Zur zeitlichen Struktur der Rache vgl. BERNHARDT, Fabian: Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin BAISCH/Evamaria FREIENHOFER/Eva LIEBERICH, Berlin 2014 (Aventiuren 8), S. 49–71, hier S. 55–56.
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ner Würde willen smaehen haz gerne und nur der aufgrund seiner Ehre Beneidete kann Hass leicht und freundlich (er-)dulden.
7.3.3 Der angeklagte Ankläger. Das intentionale Verständnis der detractio Funktioniert der Neid hier noch als Mittel der Figurengestaltung, bezieht ihn der Erzähler im weiteren Verlauf auf die Handlung. Er thematisiert den Neid das zweite Mal direkt vor der Anklage gegen Engelhard. Anstatt Ritschiers Vorwürfe lediglich zu reproduzieren, adressiert der Erzähler die Hörer / Leser in direkter Rede und reaktiviert ihr Wissen um den Hass des Neiders: als iu dâ vorne wart bekant, sô truoc er dem getriuwen haz, durch anders niht wan umbe daz daz er ze hove was sô wert. (E 3484–3487)
In diesen Versen wiederholt der Erzähler Fakten, die den Rezipienten bereits bekannt sind. Für die Entwicklung des Plots überflüssig verbinden sie die Anklage in der Erinnerung der Hörer / Leser mit Ritschiers vorangegangenem Neid. Ritschiers Vorwürfe werden derart in das Syntagma des Neids eingefügt. Sie werden Teil der Geschichte jener negativen Emotion, die zuvor als unbegründet und verurteilenswert eingeführt wurde. Damit legt der Erzähler den Deutungsrahmen für die folgende Figurenrede fest. Er suggeriert dem Rezipienten, dass Ritschiers Anschuldigungen in der Kontinuität missgünstigen Hasses einer tieferen Grundlage entbehren. Es lohnt sich dementsprechend, die Rolle des Neids vor und während des Gerichtsprozesses eingehender zu untersuchen. Als Engelhard während der Parteienrede leugnet, mit der Königstochter sexuell verkehrt zu haben, weiß der Rezipient bereits, dass er lügt. Nichtsdestotrotz weist der Erzähler Ritschiers Kritik an Engelhard zurück. Er betont, dass Ritschier nicht allein berichtet, was er im Garten beobachtet hat. In den Augen des Erzählers gewinnt seine Anklage eine zusätzliche pragmatische Dimension: Indem Ritschier die Wahrheit darüber sagt, was er gesehen hat, will er die Rangordnung umkehren. Die Aussage vor dem König ermöglicht ihm das zu tun, was er schon lange begehrt, nämlich daz er im al sîn êre verdrücken möhte sêre mit ernestlichen sachen. er wolte in gerne machen an sîner starken wirde kranc. (E 3489–3493)
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Ritschiers Aussage wird vom Erzähler in Form eines neidischen Sprechakts präsentiert. Ritschier spricht nicht, um die Wahrheit zu enthüllen, er spricht, um einen Akt des Neids auszuüben; er spricht, um Engelhard des Neidobjekts zu berauben, – seiner Ehre, seines Ansehens bei Hof. Diese Darstellung fällt auf, zumal schon die Anklage selbst einen Sprechakt im Sinne John L. AUSTINs darstellt:58 Im Rahmen der rechtlichen Konventionen vollziehen Ritschiers Worte eine klar definierte Handlung. In dem Moment, in dem Ritschier Engelhard vor dem König und dem versammelten Hof – und somit im Raum der höfischen Öffentlichkeit – des Beischlafs mit der Königstochter bezichtigt, verändert sich der Status Engelhards am Hof. Engelhard wird durch Ritschiers Worte zum Angeklagten, der sich von der ihm vorgeworfenen Schuld reinigen oder die Todesstrafe hinnehmen muss. Der Erzähler macht mit seiner Beschreibung neben diesem ersten illokutionären Sprechakt einen zweiten perlokutionären der Ehrabschneidung sichtbar. Er verknüpft beide Sprechakte miteinander, um mittels des zweiten den ersten für die Rezipienten zu deuten. Für den Erzähler sind – wie schon im Stricker-Märe – die Intentionen maßgeblich für die Interpretation der Anklage. Er leitet Ritschiers Aussage vor dem König mit den Worten er tet ûf sînen falschen munt/ vil ungetriuwelîche alsô (E 3498–3499) ein. Im Kontext neidischer Rede erlangen die Worte falsch und ungetriuwe hier eine andere Bedeutung als im Alltagsdiskurs. Bezeichnen sie in Bezug auf Aussagen die falsche, verzerrte Wiedergabe der Fakten, weiß der Rezipient, dass es nicht der Sprecher, sondern der Angeklagte ist, der durch den heimlichen Beischlaf mit der Königstochter das Vertrauen des Königs missbraucht hat und bei seiner Aussage lügt. Die Verknüpfung der Anklage mit dem perlokutionären Sprechakt der Ehrabschneidung ermöglicht es, den Fokus von dieser Faktenlage weg und hin zu den Intentionen des Sprechers, zu den von ihm gewünschten Wirkungen seines Sprechens zu verschieben.59 Das Attribut ‚falsch‘ wird nun nicht mehr länger als fehlende Korrespondenz mit den Fakten, sondern als Phänomen
Neben dem Akt der Äußerung beschreibt John Langshaw AUSTIN in seiner berühmten Vorlesungsreihe How to do things with words zwei Handlungsdimensionen des Sprechens: Im perlokutionären Sprechakt will der Sprecher mittels seines Sprechens bestimmte Effekte beim Zuhörer erreichen. Er will den Anderen mit seinen Worten überzeugen, überreden, irreführen. Ist die Handlung hier gewünschte Folge des Sprechens, ist das Sprechen im sogenannten illokutionären Sprechakt selbst schon ein Tun. Der Sprecher vollzieht, während er spricht, eine Handlung: Er warnt, er schwört oder er klagt an – wie in diesem Fall Ritschier. Grundlage für solche Sprechakte im eigentlichen Sinn sind Konventionen. Damit sie gelingen, muss sich eine Gemeinschaft vorab über ihre Form verständigt haben. Vgl. AUSTIN, John Langshaw: How to do things with words, Cambridge/Mass. 21975, S. 94–132. Vgl. AUSTIN, How to do things with words, S. 145–146.
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der Ethik des Sprechers begriffen. Ob eine Rede falsch, unredlich ist, entscheidet sich für den Erzähler durch die Absichten, die der Sprecher mit ihr verfolgt. Den heutigen Leser mag dieses Gegeneinander von Wahrheit und Intention befremden, dem damaligen Rezipienten60 hingegen dürfte Konrads Beschreibung des neidischen Sprechens vertraut geklungen haben: Der Erzähler greift für seine Darstellung auf zeitgenössische Lesarten der mit invidia traditionell verbundenen detractio zurück: Wird bis ins zwölfte Jahrhundert – und so auch noch in Eilharts Tristrant – die Ehrabschneidung vor allem als inhaltliche Verzerrung diskutiert, rückt im Verlauf des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts das Verhältnis des Sprechers zum Zuhörer und damit seine Intention in den Fokus.61 Die detractio wird nun konzipiert als gezielte Herabwürdigung des Ansehens des Anderen; der Verleumder will dem Zuhörer die gute Meinung (fama) über seinen Nächsten entziehen.62 Der Erzähler des Engelhard folgt dieser Akzentverschiebung in der Sprachsündendiskussion nicht nur im Allgemeinen. Begreift man die Anklage Ritschiers entsprechend der ihr zu Grunde liegenden Kommunikationsstruktur als detractio,63 dann beschäftigt sich der Erzähler mit einem spezifischen Problem ihrer Kasuistik: Wie ist eine Rede zu bewerten, wenn sie auf die Herabwürdigung des Anderen zielt, der Sprecher jedoch die Wahrheit sagt? Die Antwort hierauf ist umstritten. In der monastischen, seelsorgerischen und theologischen Literatur fixiert sie die Grenze zwischen notwendiger Korrektur des Nächsten und seiner Diffamierung. Intention und Wahrheit werden hier einander gegenübergestellt, d. h. in ihrer Relevanz gegeneinander abgewogen.64 Während Hieronymus und St. Benedikt das Wahrheitskriterium hochhalten,65 gewichten die meisten Theologen des Hochmittelalters die Rolle
Ute von BLOH meldet mit Recht Bedenken gegen eine alleinige Lesart des Engelhard als Text des dreizehnten Jahrhunderts an. Angesichts der Überlieferung des Engelhard als Druck aus der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts ist davon auszugehen, dass druckspezifische Konventionen Eingriffe in den Text nach sich gezogen haben und dass sich dem Text auch spätere Überzeugungen eingeschrieben haben. Vgl. von BLOH, Ute: „Engelhardt der Lieben Jäger“, S. 317–318. Es wäre jedoch umgekehrt vereinseitigend anzunehmen, dass zeitgenössische Bezüge wie hier der auf den detractio-Diskurs überhaupt keinen Eingang in die letzte Textgestalt gefunden haben. Für eine genauere Erläuterung im Rahmen der Sprachsündendiskussion vgl. das Kapitel 2.4 ‚Sprechende Neider‘. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 240. Ritschier begibt sich sofort zum König, sodass Engelhard und Engeltrud sich noch im Baumgarten befinden, als er seine Anklage erstmals vor den König bringt. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 242. Hieronymus betont, dass das Aussprechen der Wahrheit nie Verleumdung sein könne. Vgl. Hieronymus, Epistula CXVII. Ad matrem et filiam in Gallia commorantes, 1. In: Hieronymus, Sophronius Eusebius: Epistulae. Hrsg. von Isidorus HILBERG, Bd. 2, Wien 21996 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 55), S. 422–444, hier 423–424. Eine ähnliche Argumentation findet
7.3 Ethische Aporien in Konrads Engelhard
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der Intention höher. So unterscheiden Pseudo-Anselm, Petrus Cantor und Radulfus Ardens Verleumdung und korrigierende Anzeige anhand der schlechten bzw. tugendhaften Intention. Die Scholastik systematisiert diese Argumentation schließlich.66 Thomas stellt in der Summa Theologica fest: [D]icendum quod aliquis dicitur detrahere non quia diminuat de veritate, sed quia diminuit famam ejus.67 Der Erzähler des Engelhard orientiert sich an dieser Lösung: Bei völliger Übereinstimmung mit den Fakten ist es die Intention, die Ritschiers Anklage falsch und untriuwe macht.68 Mit dem Rückgriff auf das Konzept der detractio wird in der Beschreibung des Gerichtsverfahrens der Diskurs des weltlichen Rechts durch den religiös-moralischen Diskurs überlagert. Die Beweislast im Prozess wird für den Rezipienten in der Narration ersetzt durch die Frage nach den Motivationen des Anklägers.69
sich im Kommentar des Smaragdus zur Regel des Benedikt. Derjenige, der ein existierendes Übel aufdeckt, wird hier nicht als Verächter, sondern als Freund der Wahrheit beschrieben: Nam qui dicit malum esse quod malum est, non auctor detractionis sed amicus dicendus est veritatis. Siehe: Smaragdus: Expositio in regulam S. Benedicti IV, 40. Zit. n. Smaragdi Abbatis Expositio in regulam S. Benedicti. Hrsg. von Pius ENGELBERT/Alfred SPANNAGEL, Siegburg 1974 (Corpus Consuetudinum Monasticarum 8), S. 121. CASAGRANDE u. VECCHIO, Les péchés de la langue, S. 242–244. Thomas von Aquin: Summa theologica II, II, q. 73, 1, 3; „Einer heißt nicht Ehrabschneider, weil er die Wahrheit schmälert, sondern weil er den Ruf des anderen schmälert.“ Text und Übersetzung zit. n. Thomas von Aquin: Summa theologica. Recht und Gerechtigkeit. II-II, 57–79, S. 305. Diese Interpretation ähnelt von der Grundidee her derjenigen von Peter KESTING, der die Bedeutung des Faktums im Engelhard gegenüber den Handlungsmotivationen der Figuren, ihrer „habituelle[n] und aktuale[n] triuwe“ relativiert sieht. Während KESTING seine Interpretation jedoch, wie Rüdiger SCHNELL kritisiert, allein auf die Diskussion um den Begriff der rehtiu wârheit (E 4037, E 4042) stützt, ohne eine eingehende Verortung im zeitgenössischen Denken vorzunehmen, wird hier vom historischen Diskurs um die mit Neid verbundene Sprachsünde der detractio her argumentiert. Siehe: KESTING, Diu rehte wârheit, S. 250–251. Für die Kritik an dieser Deutung vgl. SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 27–28. Damit stützt die Analyse die von BENZ und REUVEKAMP formulierte These, dass „theologisches Wissen und theologische Reflexion das volkssprachliche Erzählen nicht nur auf der Ebene der Inhalte, sondern auch in ihren narrativen Praktiken stärker und konkreter beeinflusst haben, als bisher gemeinhin vermutet.“ Siehe: BENZ, Maximilian u. REUVEKAMP, Silvia: Mittelhochdeutsche Erzählverfahren und theologisches Wissen. Bausteine einer historisch spezifischen Narratologie. In: Poetica 50 (2019), S. 53–82, hier S. 61. Auch wenn Konrad auf den religiösen Diskurs zurückgreift, kann indes nicht von einer bruchlosen Übertragung religiöser Ideen gesprochen werden. Im Gegensatz zum religiösen Anliegen nach Korrektur und Besserung des Täters führt hier der detractio-Vorwurf gegen seinen Ankläger dazu, dass Engelhards Tat gerade keine Korrektur erfährt, sondern Teil seines Aufstiegs wird.
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
Der Erzähler bleibt im Verlauf der Handlung indes nicht der einzige, der Ritschiers Sprechen interpretiert. Der Sprechakt der Anklage fordert bei zuhörenden Figuren Reaktionen der Akzeptanz, Zurückweisung oder Überprüfung heraus. Im folgenden Kapitel sollen ihre Deutungen mit der Konzeption der neidischen detractio auf der Erzählerebene verglichen werden. Um zu verstehen, wie der Neidvorwurf des Erzählers mit der Handlung interagiert, ihr Verständnis verändert und lenkt, werden die Erzählerkommentare auf der Ebene des discours und die Figurenäußerungen auf der Ebene der histoire einander gegenübergestellt.
7.3.4 Zwei Deutungen der Sünde des Neiders Über den Erfolg von Ritschiers Sprechakt entscheidet wiederum: Neid. Wird Ritschiers Anklage in den Erzählerkommentaren mit einem Rückgriff auf dessen neidischen Hass eingeleitet, so schließt die Passage mit dem Neidvorwurf auf der Handlungsebene. Als der König Engelhard in Reaktion auf Ritschiers Anklage ohne Prozess wutentbrannt hinrichten will, mahnen ihn seine Ratgeber, eine vorschnelle Bestrafung zu vermeiden. Sie wenden ein, uns allen ist daz wol bekannt/ daz manic man ze maneger zît/ verlogen wirt durch argen nît (E 3648–3650) und bewegen den König auf diese Weise dazu, Engelhard anzuhören und mittels der Parteienrede ein ordentliches Gerichtsverfahren einzuleiten.70 Dieser Vorbehalt vereitelt so für den Moment die Ritschier zugeschriebene Sprechhandlung. Anstatt dass die Klage Engelhard endgültig aller Ehre am Hof beraubt, sorgt allein der Verdacht der Sprachsünde dafür, dass Engelhard eine Chance bekommt, die Anklage abzuwehren. Die verdeckte Kommunikationssituation der detractio wird durch den Neidvorwurf aufgehoben, im folgenden Gerichtsgespräch werden konkurrierende Urteilsvorschläge an den König als Richter unterbreitet. Es steht Aussage gegen Aussage, Anklage gegen Verteidigung. Auf den ersten Blick nähern sich Erzählerkommentare und Handlung nun einander an und werden zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Nachdem der Erzähler Ritschier bereits für den Rezipienten als Neider charakterisiert hat, wechselt der Neidvorwurf von der Diskurs- auf die Figurenebene und wird handlungstragend. Im Kontext der Anklage verstärken und bestätigen die Neidvorwürfe auf unterschiedlichen Ebenen einander wechselseitig: Beschreibt der Erzähler mit Hilfe interner Fokalisierung Ritschiers Emotionen und Gedanken als neidisch, nehmen Die Rede und Gegenrede der Parteien steht nach Götz LANDWEHR am Beginn des mittelalterlichen Prozesses. Die Prozessgegner formulieren hier ihre jeweiligen Positionen, erst im Anschluss an ihren Vortrag wird eine Urteilsfrage formuliert und zur Beurteilung gestellt. Vgl. LANDWEHR, „Urteilfragen“ und „Urteilfinden“, S. 7.
7.3 Ethische Aporien in Konrads Engelhard
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die Ratgeber des Königs Ritschier von außen wahr und analysieren seine Aussage in Relation zu Engelhard. Da Engelhard, der guote (E 3661), dem König in Liebe zugetan sei und nie gegen ihn handeln würde, müsse sein Ankläger neidisch sein. Innen- und Außenblick produzieren so jeweils das Bild Ritschiers als Neider und lassen die Anklage vom Neid her jeweils als ungültig erscheinen. Trotz der inhaltlichen Nähe beider Vorwürfe bleiben die Nahtstellen dieses Zusammenfügens von Erzählerrede und Handlungsebene sichtbar. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Neidvorwürfe nicht identisch funktionieren, sondern auf einem unterschiedlichen Verständnis der detractio beruhen. Im Einklang mit dem zeitgenössischen Diskurs des dreizehnten Jahrhunderts interpretiert der Erzähler die Sprachsünde von der Intention des Sprechers her. Die Ratgeber Fruotes hingegen haben Angst, dass Engelhard aufgrund von Neid verlogen (E 3650) wird. Sie deuten das neidische Sprechen gemäß der alten Auffassung der detractio als Verzerrung der Wirklichkeit. Engelhard schließt sich ihrer Argumentation im Gerichtsgespräch listigerweise an, indem er Ritschiers neidischen Hass für das maere swach (E 3778) verantwortlich macht. Erzähler und Figuren argumentieren folglich auf unterschiedlichen Ebenen. Dass, was sich dem Rezipienten zunächst als einheitlicher Neidvorwurf präsentiert, entpuppt sich als raffiniert zusammengefügtes Stückwerk: Die neidische detractio im Engelhard ist doppelt und widersprüchlich besetzt. Welche Folgen hat dies für die Rezeption? Wie lässt sich Konrads Engelhard dennoch als kohärenter Text interpretieren? In die Lektüre führt die Sprachsünde zunächst eine grundsätzliche Ambivalenz ein. Den von Jan-Dirk MÜLLER angesprochenen ‚Aporien‘ des Textes entspricht nun eine Vervielfältigung der Lektüren: Auf der Wahrheitsebene versagen die Vorwürfe der detractio. Die Vorwürfe neidischer Verleumdung der Ratgeber und Engelhards sind leicht als Irrtum beziehungsweise als Lüge identifizierbar, in ihrer offenkundigen Umkehrung der Fakten rücken sie den Protagonisten und seine Handlungen ins Zwielicht. Zugleich knüpfen sie jedoch an den Neidvorwurf des Erzählers an, indem sie die verdeckte Kommunikationssituation der ersten Anklage beim König aufheben und vereiteln, dass der Neider seine zerstörerischen Sprechabsichten verwirklichen kann. Derart mit dem Erzählerdiskurs verwoben, wird unklar, welcher Bewertungsmaßstab an die Vorwürfe der Verleumdung gelegt wird. Sind sie faktisch falsch, so halten sie doch die Erinnerung an den vom Erzähler beschriebenen Neid Ritschiers und der damit verbundenen moralischen Hierarchie von Neider und Beneidetem präsent. Führen die Neidvorwürfe der Ratgeber und Engelhards zur Beschuldigung eines Unschuldigen, dessen Körper im Gerichtskampf zudem versehrt wird, so funktionieren sie im Sinne des Erzählerdiskurses als Korrektur und Bestrafung vorausgegangener unlauterer Sprechsituationen und -handlungen. Als Brücke zwischen discours und histoire macht es der Neidvorwurf möglich, zwischen Bewertungskriterien zu wechseln, das
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
intentionale Verständnis der detractio beim Lesen auf die Handlungsebene zu übertragen. Kohärenz und Sinn werden so selbst dort möglich, wo der Held lügt und sein Gegner die Wahrheit sagt.
7.3.5 Hierarchiekonflikte als Subtext Abschließend soll nun der Ausgang des Prozesses gegen Engelhard in den Blick genommen werden. Auf der Ebene der Handlung endet der Prozess gegen Engelhard entgegen aller Erwartungen. Da Ritschier seine Klage nicht beweisen kann, nutzt er das Rechtsinstrumentarium des Gerichtskampfes.71 Gemäß mittelalterlicher Vorstellungen vom Gottesgericht entscheidet so Gott selbst als Richter über die in Zweifel stehenden Taten.72 Mit der Hilfe seines Freunds Dietrich, der den Kampf an seiner Stelle antritt,73 gewinnt Engelhard diese Prüfung. Während Ritschier im Kampf seine linke Hand verliert und von nun an ein schamvolles Leben am Rande der höfischen Gesellschaft leben muss, wird Engelhard in Folge des Kampfes zum Thronfolger erhoben. Als Verteidiger von Engeltruds Ehre erlaubt ihm der König nicht nur seine Tochter zu heiraten, in einer Ausnahme von der männlichen Erbfolge macht ihn die Heirat mit Fruotes Tochter auch zum Erben. Wie Hartmut KOKOTT hervorgehoben hat, erzählt der Engelhard im Kern also eine Aufsteigergeschichte.74 Ritschiers Neid legitimiert eine Veränderung der Erbfolge, die andernfalls als Verkehrung höfischer Hierarchien hätte verstanden werden können. Auf der einen Seite wird Ritschiers Abstieg vom wichtigsten männlichen Mitglied der Königsfamilie nach dem König75 zum Außenseiter am Hof durch Neid erklärt. Für die Rezipienten verliert er aufgrund seines moralischen Versagens als
Rüdiger SCHNELL erklärt die rechtshistorischen Hintergründe der Sonderrechtsform des Gerichtskampfes. Dort, wo über die Zeugenaussage kein endgültiger Beweis erbracht werden kann, ist eine Entscheidung über den gerichtlichen Zweikampf möglich. Vgl. SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 37–38. SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 25. Rüdiger SCHNELL sieht hierhin die Lösung der Problematik des Gottesurteils. Indem Dietrich und nicht Engelhard gegen Ritschier antritt, verschiebe sich die Bedeutung des Zweikampfs. Ritschiers Vorwurf treffe auf Dietrich nicht mehr zu, sodass anstelle der Wahrheit des Vorwurfes die moralischen Qualitäten der Kämpfer den Ausgang entscheiden. Vgl. SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 29. Vgl. KOKOTT, Hartmut: Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, S. 46. Für die anfängliche Bedeutung Ritschiers innerhalb der königlichen Familie spricht unter anderem, dass der König ein Turnier für die Schwertleite seines Neffen ausrichtet (E 2417).
7.4 Von und durch Neid erzählen
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Neider seine Ehre und damit seinen Rang am Hof. Auf der anderen Seite wird der Aufstieg eines einfachen landlosen Adeligen nicht zuletzt durch dessen Rolle als Objekt der negativen Emotion verständlich gemacht. Über den Neid entwirft der Erzähler eine moralische Hierarchie, in der der Beneidete dem Beneideten in jeder Situation überlegen ist. Konrads Engelhard entwirft so eine zugespitzte Version des höfischen Romans, dessen Ideologie nach Harald HAFERLAND folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Status muss immer repräsentiert und als Rang vergegenwärtigt werden.76 Der Roman ergreift mittels des Erzählens von Neid gegen das einflussreiche Mitglied der königlichen Familie Partei und schreibt dem Aufsteiger einen höheren Rang zu.77 Dabei bleiben für den Rezipienten die politischen Implikationen im Verborgenen. Vom Erzähler geleitet stellen sich für ihn die Konflikte zwischen Engelhard und Ritschier als Folge sozial destruktiver Emotionen dar. Fragen der Verteilung von Macht und Einfluss stehen hingegen nicht im Mittelpunkt des Erzählvorgangs, sondern werden zum Subtext. Dies macht sich auch in der heutigen Rezeption des Engelhard bemerkbar. KOKOTTs Studie ist eine der wenigen, die sich den politischen Dimensionen der Geschichte Engelhards widmet.
7.4 Von und durch Neid erzählen Die ‚Rhetorik des Neids‘ erreicht im zwölften und dreizehnten Jahrhundert nicht nur in den Gelehrtendebatten und in den Metadiskursen literarischer Pro- und Epiloge einen Höhepunkt. Sie wird in volkssprachlichen Narrationen auch dazu genutzt, die Rezeption der Handlung zu lenken. Mit Rückgriff auf die zeitgenössische Diskussion um die Hauptsünde und die mit ihr verbundene detractio betätigen sich die Erzählerfiguren in Strickers Der junge Ratgeber und Konrads Engelhard als ‚Anwälte‘ des Protagonisten. In den geschilderten Gerichtsprozessen konzipieren die Erzähler Neid sowohl als moralisches, soziales wie sprachliches Vergehen, sodass der Leser / Hörer als aktiv am Prozess Partizipierender am Ende nicht nur über die Schuld des Protagonisten, sondern auch über die seines Anklägers urteilt. Erkennbar wird diese Form der Rezeptionslenkung zum einen in der ‚Ordnung‘ der Erzählung. Im Engelhard weicht der Erzähler von der Reihenfolge der Geschehnisse ab, um im direkten Zusammenhang der Normüberschreitung des Helden vom Neid seines Gegenspielers zu berichten. In Der junge Ratgeber ordnet
HAFERLAND, Höfische Interaktion, S. 29–30. Ähnlich sieht es auch Ute von BLOH, die betont, dass im Engelhard der Tugendadel gegenüber dem Geburtsadel den Vorzug erhält. Vgl. von BLOH, „Engelhart der Lieben Jaeger“, S. 333.
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7 Der Protagonist und der Neider vor Gericht
der Erzähler die beiden Handlungsstränge so an, dass der Anklage des Protagonisten die Erzählung vom Neid seiner Ankläger unmittelbar vorangeht. In beiden Narrationen unterbricht der Erzähler die Handlung zum anderen immer wieder durch Erzählerkommentare, die die negative Emotion definieren, kommentieren und bewerten. Indem der Erzähler den Rezipienten vor der Anklage des Protagonisten jeweils direkt anspricht, um an die neidischen Intentionen der Ankläger zu erinnern, verbindet er die Neidhandlung kausal mit dem juristischen Geschehen. Neid gibt den Deutungsrahmen für die Anklage vor. Inwieweit es sich dabei nicht mehr allein um Regie, sondern bereits um eine Manipulation der Rezeption handelt, in diesem Punkt differieren die Texte. Während sich in Der junge Ratgeber der Neid der Adeligen auch auf Handlungsebene in ihren Intrigen spiegelt, ist Neid im Engelhard nur in Form nachgewiesen falscher Vorwürfe zu finden. Die Ebene der Geschehnisse und Figuren (histoire) und die dem Rezipienten vom Erzähler vermittelte Narration (discours) klaffen somit auseinander. Ist die Interpretation des Prozesses als Neidgeschehen in Der junge Ratgeber noch eine Frage der Kombinatorik, so deutet ihn der Erzähler im Engelhard schlichtweg um: – Für das urteilende Publikum verwandelt er die Normüberschreitung des Protagonisten in den moralischen Fehler des Antagonisten. Er verwandelt wahrheitsgemäße Anklagen in neidische Sprechakte. Er verwandelt Lügen in Vehikel der Strafe für illegitimes, neidisches Sprechen. Die vergleichende Untersuchung beider Texte eignet sich insofern, um schwächere, plotzentrierte von stärkeren, erzählerzentrierten Spielarten der Rezeptionslenkung abzugrenzen. Was beide Texte eint und was sie voneinander trennt, lässt sich am besten anhand des unterschiedlichen Umgangs mit den Intentionen der Neider veranschaulichen. Sowohl in Strickers Der junge Ratgeber als auch in Konrads Engelhard wird das Gerichtsverfahren anhand der falschen Motivationen der Ankläger entschieden. So kann der Herrscher beim Stricker anhand der verspäteten Offenlegung des Schadens für den König auf die fehlende Weisheit der Ankläger schließen und den richtigen von den falschen Ratgebern unterscheiden. Mittels der Verknüpfung der Handlung der Weisheitsprobe mit einer Neidhandlung werden, wie im Epimythion ersichtlich ist, Kriterien für die Wertung eingeführt, wo in der Diskussion über die Relevanz ökonomischer Rücklagen vorher Unklarheit und Diskussionsbedarf herrschte. Hingegen wird in Konrads Engelhard mittels des intentionalen Verständnisses der detractio die Wahrheit der Anklage des Protagonisten überblendet. Die falschen Motivationen der Ankläger führen auf Ebene des discours zu einem Wechsel der Normen, die für die Bewertung von Verhalten angewandt werden: Anstatt Engelhards sexuelles und feudalrechtliches Vergehen zu reflektieren, wird der weltliche Rechtsdiskurs dem ethisch-moralischen Diskurs untergeordnet. Aus einem geschickten Einbau von Neidtopoi in die Handlung wird derart ein ‚strategisches Erzählen‘, das auf Ebene des discours dem Verlauf der Handlung wi-
7.4 Von und durch Neid erzählen
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dersprechende Wertungsparamenter installiert. Konrad erzählt nicht mehr eine Geschichte von Neid. Er erzählt seine Geschichte durch d. h. mithilfe von Neid. Für die innerhalb des Textes geführte Ordnungsdebatte erweist sich dieses ‚Erzählen durch Neid‘ als gleichermaßen subversiv wie ordnungsstiftend. An die Ambivalenzen der Tristantradition anknüpfend und diese steigernd zeigt der Engelhard auf, wozu die Neidrhetorik in der Lage ist: Während die moralische Transgression des neidischen Antagonisten mit dem Verlust der Ehre geahndet wird, macht Neid die Transgressionen des Protagonisten auf Ebene des discours unsichtbar und legitimiert den gesellschaftlichen Aufstieg eines Rechtsbrechers und Lügners. Diese Gleichzeitigkeit von Subversion und Ordnungsstiftung erreicht das ‚Erzählen durch Neid‘ zum einen durch die doppelte Ausrichtung der Emotion. Indem Neid in ovidscher Tradition sowohl den Status des Beneideten als auch den des Neiders definiert, lassen sich mittels der negativen Emotion Ordnungssysteme in den Texten gleichzeitig untergraben, verrücken und neu justieren. Neid strukturiert das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und dem Antagonisten jedoch nicht nur auf Ebene der Figurenkonstellation, sondern auch thematisch. Konrads Engelhard nutzt die zeitgenössische Diskussion über die Sprachsünden, um die Gegenstände der Anklage und damit die Grenzen zwischen falschen und richtigen Vorwürfen neu zu bestimmen. Diese beiden Verfahren bergen – wie Konrads Roman zeigt – produktive und Literatur innovierende Potentiale. Die Neidrhetorik erweist sich im zwölften und dreizehnten Jahrhundert als Instrument, um über Ordnung und Normüberschreitung jenseits von Konventionen zu diskutieren und riskante Erzählstoffe zu Gehör zu bringen
8 Der Neid und die höfische Ordnung – Überlegungen zum Schluss In den bisherigen Entwürfen einer Literatur- und Kulturgeschichte des Neids gilt das späte achtzehnte Jahrhundert als Wendepunkt, an dem sich die Art und Weise, diese Emotion zu denken und darzustellen, von Grund auf ändert: Verurteilten die mittelalterlichen Theologen Neid als die Sünde des Teufels, diskutiere die Moderne die Emotion als Produkt wie Ausgangspunkt gesellschaftlicher Dynamiken. Diente das Erzählen von Neid im Mittelalter dazu, die bestehende Ständeordnung zu stützen und zu legitimieren, partizipiere Neid als ‚demokratische Emotion‘ in der Moderne am Imaginären der Gleichheit. Dieses auf dem Gegensatz von Mittelalter und Moderne beruhende Narrativ wurde in dieser Studie erstmals umfassend auf die Probe gestellt und das Potential von Neid zur Reflexion von Gesellschaft auch in mittelalterlichen Erzähltexten offengelegt. Als Stärke des gewählten methodischen Ansatzes hat sich im Vergleich zu den wenigen früheren mediävistischen Arbeiten zu Neid insbesondere seine Offenheit erwiesen: Da die Emotion allein anhand ihrer sozialen Struktur identifiziert wurde, konnten in den Narrationen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts unterschiedliche mit ihr verbundene Dynamiken herausgearbeitet werden. Das Spektrum der mit nît, verbunst, livor und invidia bezeichneten Neidkonstellationen reicht von der Reaktion auf den Verlust eines Gutes an einen Anderen über das Begehren nach dem Gut des Anderen bis hin zum missgünstigen Wunsch, der Andere solle nicht mehr besitzen als man selbst bzw. die Gruppe. Damit erwies sich das mittelalterliche Verständnis von Neid als weiter als das moderne. Die Narrationen sprengen die für Neid heute definitorische Abgrenzung zur Eifersucht1 nicht nur durch die bereits bei Thomas von Aquin beobachtete Inklusion von Verlustlogiken, sondern auch strukturell und thematisch: In Gottfrieds Tristan und im Reinfried von Braunschweig richtet sich der Neid auf die Minne zwischen dem Protagonisten und der Königin bzw. der Königstochter und in den anderen Narrationen auf die diesem gewährte herrschaftliche Gunst, sodass sich Neid nicht – wie in der modernen Emotionstheorie – als dyadische, sondern als trianguläre Relation beschreiben lässt.2
In den untersuchten Narrationen wurden allein in Walter Maps De Rege Portigalensi Neid (invidia) und Eifersucht (zelotipia) voneinander unterschieden. Allerdings greift der Text hierfür auf antike Konzepte und Begrifflichkeiten zurück. Vgl. das Kapitel 5.1. Da bisher keine umfangreichen historischen Studien zu Neid und Eifersucht vorliegen, kann über die Frage, warum die damalige und heutige Konzeptionalisierung von Neid in dieser Weise differieren, nur spekuliert werden. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Abgrenzung von Neid https://doi.org/10.1515/9783111202105-009
8.1 Neid als negative Emotion?
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Des Weiteren neigten bisherige literaturwissenschaftliche Untersuchungen dazu, jeweils nur einen Aspekt des zeitgenössischen Diskurses über Neid herauszugreifen und für die Deutung der Emotion im Text zu verabsolutieren: Ist Neid bei Harald HAFERLAND die Emotion des Verlierers im höfischen Wettbewerb um Ehre und Gunst, so beschreibt ihn Jessica ROSENFELD als verfehlte Relation zum Nächsten. Bewusst wurde in dieser Studie auf solche Einschränkungen verzichtet. Indem die Emotion sowohl in ihrer evaluativen, relationalen und motivationalen Dimension analysiert wurde, konnte die Produktivität des Erzählens von Neid für höfische Ordnungsfragen gezeigt werden: Mittels Neid lassen sich – wie die Textanalysen zeigen – unterschiedliche Ebenen der höfischen Ordnung gleichzeitig ansprechen: höfische Rangfolgen, soziale Normen des Zusammenlebens und nicht zuletzt die Funktionsmechanismen, die den Hof als ‚sozialen Organismus‘ am Leben erhalten. Den größten Fortschritt gegenüber dem vom Sündendiskurs dominierten Neidnarrativ erzielte jedoch eine dritte methodische Entscheidung. Die Funktionen, die Neid auf der Ebene der histoire übernimmt, und die Art und Weise, wie die Emotion auf Ebene des discours dargestellt ist, wurden nicht mehr als Einheit, sondern getrennt voneinander und in ihrem Zusammenspiel betrachtet. Auf diese Weise waren die zumeist negativen Kommentare des Erzählers nicht mehr allein erkenntnisleitend. Anstatt Neid global als Ordnungsstörung zu qualifizieren, konnte zum einen differenziert nach dem Verhältnis der Emotion zur gesellschaftlichen Ordnung gefragt und zum anderen analysiert werden, wie das Erzählen von Neid in die Deutung dessen, was als Ordnung gilt und was als Gefährdung der Ordnung gesehen wird, eingreift. Im Einklang mit dieser methodischen Anlage möchte ich zunächst Einzelergebnisse für verschiedene Felder der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung formulieren und diese dann zur Beantwortung der übergeordneten Frage nach der ‚Verhandlung‘ höfischer Ordnung zusammenführen.
8.1 Neid als negative Emotion? Auf den ersten Blick fügen die analysierten Narrationen dem aus dem religiösen Diskurs bekannten Bild der Emotion wenig Neues hinzu. Sie erzählen von der
und Eifersucht auch deswegen für mittelalterliche Texte nicht greift, weil sie sich an den Konzepten des modernen Individuums und der romantischen Liebe orientiert. In diese Richtung verweist u. a. die zunehmende Bedeutung der Unterscheidung von Neid und Eifersucht in der englischen Romantik beispielweise in Coleridges Shakespeare-Vorlesungen. Vgl. hierzu: FERGUSON, Envy Rising, S. 892–893. Hingegen erscheint die Unterscheidung zwischen Eifersucht als triangulärer und Neid als dyadischer Emotion dort noch nicht relevant, wo die Frau im Rahmen der Munt-Ehe auch als Besitz gedacht werden kann.
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8 Der Neid und die höfische Ordnung – Überlegungen zum Schluss
Trauer über den Besitz des Anderen, jedoch im Vergleich mit dem biblischpatristischen Diskurs häufiger von Hass, verbalen Attacken oder sogar von Mord. Als Emotion, die Personen miteinander ausschließlich in negativer Weise miteinander verbindet, zeichnen die Texte Neid als Verstoß gegen die soziale Ordnung des Hofes. Diesem Eindruck arbeitet insbesondere die Rahmung der Emotion zu. Oft wird von Neid am Hof im Kontext sozialer Bindungen wie Freundschaft oder Verwandtschaft berichtet, sodass die Emotion – wie beispielsweise in Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi – auch an den Regeln dieser sozialen Gefüge gemessen wird. Interessanterweise wird hier wie in anderen Texten die antike Entgegensetzung von Neid und Freundschaft mit dem sozialethischen Diskurs des Mittelalters verschränkt: Da der Hass des Parius die caritas seines Freundes Lausus kontrastiert, lässt sich Neid mit Jessica ROSENFELD als falsche Identifikation mit dem Nächsten bestimmen. Indem die Emotion nicht mehr als Einheit, sondern jeder Teil der emotionalen Dynamik einzeln analysiert wurde, wurden jedoch auch andere Seiten von Neid sichtbar. Betrachtet man Neid anstatt in seiner relationalen in seiner evaluativen Funktion, bekommt die Emotion ordnungskonservierende Züge. Da Neid auf Rang- und Besitzunterschiede antwortet, registriert er präzise jede Verschiebung innerhalb der höfischen Ordnung: Er weist darauf zurück, dass die Beneideten entgegen dem Gleichheitsgebot der Artusrunde als Einzelne Ehre erringen, als soziale Aufsteiger dem etablierten Geburtsadel vorgezogen werden oder als Frauen oder junge Männer höchste Ratgeberpositionen am Hof einnehmen. In den Fällen, in denen diese Veränderungen mit sozialen Normen und Rangfolgen konfligieren, gewinnt die Emotion so gesellschaftlich produktiven Charakter. Dies wurde insbesondere an den mittelhochdeutschen Tristran-Romanen deutlich: In Eilharts Tristrant agieren die Neider als Verteidiger einer regulären Thronfolge. Bei Gottfried tritt Tristans Freund Marjodô dem sowohl das Ehesakrament als auch die triuwe zum Herrscher verletzenden Minnepaar als Figur der huote entgegen. Insofern Marjodô, der Isolde selbst begehrt, König Markes Besitz Isoldes achtet, Tristan hingegen um sein Verhältnis zu Isolde beneidet, ergänzen seine politische Funktion als Truchsess und seine Emotion einander. Um diese regulative Seite von Neid genauer zu analysieren, hat sich Francis FERGUSONs Deutung von Neid als Emotion, welche auf sozialer Kohäsion insistiert, als hilfreich erwiesen. Da Neid bei aller Differenz auf einer grundsätzlichen Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit von Neider und Beneidetem – in den Tristan-Romanen betont durch die Verwandtschaft Antrets mit Marke und die Freundschaft zwischen Tristan und Marjodô – beruht, signalisiert er sowohl, dass Neider und Beneideter zur selben Gruppe gehören als auch, dass der Beneidete von den Normen dieser Gruppe abweicht. Im Vergleich mit FERGUSONs auf die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zugeschnittener Interpretation konnte in den Narrationen vom Hof jedoch eine zu-
8.1 Neid als negative Emotion?
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sätzliche Bedeutungsebene dieses sozialen Kontrollmechanismus von Neid festgestellt werden: In einem hierarchisch strukturierten Feudalwesen tendiert das Abweichen des Beneideten von der sozialen Gruppe in Form einer doppelt ausgerichteten Dynamik zugleich dahin, die Rechte und Privilegien der nächst höheren hierarchischen Ebene zu beschneiden. Nicht von ungefähr erweist sich Neid in der TristanTradition, in der der exzeptionelle Protagonist die Grenzen und Kategorisierungen des Feudalwesens sprengt, als ordnungskonservierende Kraft. Anteil an dieser regulativen Dynamik haben auch die Reaktionen der Beneideten. Stören die neidischen Gesten, Blicke und verbalen Angriffe in Gottfrieds und Eilharts Tristan-Romanen den höfischen Frieden, rufen sie den Beneideten zugleich zur Ordnung. Stellt man die hier einzeln beschriebenen Funktionsweisen des Neids abschließend nebeneinander, wird deutlich, dass der laut WEBER die mittelalterliche Literatur dominierende Sündendiskurs nicht ausreicht, um alle Wechselwirkungen der Emotion mit der höfischen Ordnung in Gänze zu beschreiben. Als Ergebnis der Analyse der Emotion und ihrer Wirkungsweisen lässt sich festhalten: Entgegen der Verurteilung des Neids als Sünde gegen den Nächsten lassen sich in narrativen Texten des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts gesellschaftlich produktive Funktionen von Neid ausmachen. Der Neider kann die höfische Ordnung sowohl stören und zerstören als auch sie stützen und verteidigen. Mehr noch: Indem Neid teilweise sogar in ein und demselben Text sozial destruktive und sozial produktive Funktionen wahrnimmt, wird die in der Emotionswissenschaft übliche Unterscheidung zwischen negativen und positiven Emotionen unterlaufen. Mit diesem Befund trägt die Studie nicht nur zur aktuellen Debatte um die Neubewertung der sogenannten ‚negativen‘ Emotionen bei. Über dieses allgemein emotionswissenschaftliche Fazit hinaus wirft sie Licht auf das literarische Funktionieren von Neid als Deutungs- und Bewertungsmechanismus. Denn trotz der geschilderten ordnungskonservierenden und regulativen Funktionsweisen von Neid wird dieser in keinem der untersuchten Texte von den Figuren oder vom Erzähler je positiv bewertet. Im Gegenteil: In der Handlungs- und Figurenkonfiguration der neidischen Minnefeindschaft wurde deutlich, dass die gesellschaftliche Aufsichtsfunktion der huote, sobald sie erzählerisch mit Neid verknüpft wird, selbst ins Negative kippt. Unabhängig davon, ob der Neid der Figur ihrer Aufsichtsfunktion vorausgeht, beide unmittelbar miteinander verwoben sind oder das neidische Begehren der Beobachtung der Liebenden folgt – in jedem der aufgezählten Fälle bewirkt die Emotion eine Negativierung der huote.
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8 Der Neid und die höfische Ordnung – Überlegungen zum Schluss
8.2 Neid als Deutungs- und Bewertungsmechanismus Die Studie konnte die am Iwein entwickelte Hypothese, dass Neid dazu herangezogen wird, Handlungs- und Figurenkonstellationen aus- und umzudeuten, insofern an anderen literarischen Texten der Zeit erhärten. Im Rückgriff auf den Sündendiskurs sowie die Hofkritik des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts wurden vier verschiedene Varianten dieser Funktionsweise von Neid identifiziert. Dabei erwiesen sich die neidtypischen Anklagen gegen den Protagonisten als Testfall dafür, inwiefern die Emotion Konzepte von Schuld und Unschuld, wahr und falsch, vorbildlich und verabscheuenswert, bestimmt und formt. In ausgiebigen Kommentaren referieren die Figuren und Erzähler sowohl auf die Struktur der Emotion als auch auf neidische Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, um Interpretationsangebote für die Anklage gegen den Protagonisten zu unterbreiten. Neid stellt erstens einen Deutungsrahmen für die Figurenkonstellation bereit: In Erweiterung von Günter BURKARTs Beschreibung von Neid als Distinktionsemotion ist Neid in den ihn kommentierenden Passagen nicht mehr nur eine Reaktion auf hierarchische Unterschiede, er wird zugleich als Zeichen dieser Unterschiede gedeutet und dies – wie der Tristanstoff zeigt – in zweifacher Weise: Gottfried knüpft an die römische Lesart von invidia als Verweis auf virtus (Tugend) an. Für Marke belegt der Neid der Barone die wirde Tristans, sodass das Gefühl, das dem Anderen die Anerkennung seines gesellschaftlichen Ranges verweigert, in den Augen des Außenstehenden zum Ausweis größter Anerkennung wird. In der mediävistischen Forschung wurde dieser auch in anderen Texten hergestellte Zusammenhang von nît und werdekeit bislang vor allem als feststehender Topos in Studien zu mittelhochdeutschen Sprichwörtern und literarischen Sentenzen erwähnt.3 Angesichts der Tatsache, dass die Erwähnung von ‚Neid‘ im Reinfried von Braunschweig selbst dann noch auf die Größe des Beneideten verweist, wenn die Emotion selbst ausbleibt, wäre jedoch weiter zu untersuchen, ob im Kontext der höfischen Literatur, in der Ehre nicht nur über Kämpfe erlangt, sondern immer auch von anderen Rittern bestätigt werden muss, nicht vielmehr eine umfassende Semiotik von Neid und Anerkennung entwickelt wurde. Sicher ist: Der beneidete Antagonist und der Protagonist lassen sich auf der Ebene der Figurenkonzeption nicht mehr strikt voneinander trennen. Der Neid
Hierfür sei erneut auf die Studien Tomas TOMASEKS zu Sentenzen im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts sowie zusätzlich auf den Abschnitt ‚Neid/envie/envy‘ im Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi verwiesen. Vgl. Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel SINGER, Bd. 8, Berlin u. New York 1999, S. 447–460, hier insbesondere S. 455 f. u. 457 f.
8.2 Neid als Deutungs- und Bewertungsmechanismus
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des Antagonisten definiert in Form einer indirekten Charakterisierung den Protagonisten mit. In Eilharts Tristrant verweist Neid umgekehrt auf den Mangel derer, die neidisch sind. Indem der Erzähler die Neider als zage und niht vrum beschreibt und diese den biderben und guoten gegenüberstellt, werden die die Emotion auslösenden Unterschiede nicht mehr primär als qualitative Abstufung, sondern – wie in Augustinus’ De civitate Dei – als moralische Opposition interpretiert. Im Vergleich mit Gottfried wird auf diese Weise noch deutlicher, in welchem Ausmaß Neid in die Deutung der Anklagesituation einzugreifen vermag: Da die Emotion sowohl den Status des Beneideten als auch den des Neiders und beide in Abhängigkeit voneinander bestimmt, ermöglicht es Neid, die Figuren unabhängig von ihren sonstigen Aktionen auf Ebene der histoire zu bewerten. Neid strukturiert das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und Antagonisten indes nicht allein auf Ebene der Figurenkonstellation; er legt zugleich fest, was zwischen ihnen zur Debatte steht. Im theologischen Diskurs gilt Neid als Wahrnehmungs- und Urteilsproblem. Diese Deutungstradition nehmen – wie in der Eingangspassage des Iwein deutlich wurde – die literarischen Texte auf und nutzen sie für neue Ziele: Im Iwein sorgt das Wissen um die Eigenarten des neidischen Wahrnehmungs- und Urteilsvermögens als Lektüreschlüssel dafür, dass den Vorwürfen Kalogrenants jeweils die umgekehrte Bedeutung zugesprochen wird. Die Rede über die neidische Wahrnehmung erweist sich hier als wirkungsvolles Instrument, Bedeutung zu eruieren und festzulegen – eine Technik, welche aufgrund der hier nur kleinen Stichprobe von einem Text weiter im Hinblick auf ihre Relevanz für das Erzählen von Neid zu erforschen wäre. Noch häufiger als die falsche Wahrnehmung des Neiders wird in den untersuchten Texten die neidische Redehandlung kommentiert und damit der Akt der Anklage selbst aus sozialethischer Perspektive beurteilt. Das Funktionieren der neidischen Rede als detractio wird in der Narration durch Wortspiele herausgestellt, die Rede der Ankläger durch der religiösen Sprachsündendiskussion zugehörige Metaphern wie ‚Schlange‘ und ‚Hund‘ diffamiert, das ehrabschneiderische Sprechhandeln des Neiders als regelwidrige Aggression und Verletzung des Angeklagten entworfen und somit die Perspektive des Protoganisten übernommen. In diesem Rahmen wird die detractio – wie die beiden Tristan-Texte, insbesondere aber Konrads Engelhard gezeigt haben – nicht mehr nur verurteilt, wenn sich die erhobenen Vorwürfe als unwahr erweisen. Diese Wende von einem inhaltlichsemantischen hin zu einem intentionalen Verständnis der Sündhaftigkeit der detractio im theologischen Sprachsündendiskurs des dreizehnten Jahrhunderts wird im Engelhard in eigenwilliger Weise rezipiert. Im Fall, dass der Protagonist lügt und sein neidischer Ankläger die Wahrheit sagt, fallen für den Erzähler die ehrabschneiderischen Intentionen der Anklage stärker ins Gewicht als die in dieser vorgetragenen Fakten.
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8 Der Neid und die höfische Ordnung – Überlegungen zum Schluss
Damit zeigt sich im Engelhard in extremster Form ein Umgang mit Neid, der mit zunehmender Komplexität der untersuchten Neidkonfigurationen immer häufiger beobachtet werden konnte: Neid funktioniert auch dann noch als Bewertungs- und Deutungsmechanismus der Anklagesituation, wenn die Vorwürfe gegen den Protagonisten zutreffen oder zumindest nicht mehr eindeutig zurückgewiesen werden können. Eine wichtige Erkenntnis dieser Arbeit besteht darin, dass das Erzählen von Neid als Form des strategischen Erzählens zur Rezeptionslenkung eingesetzt wird. Ist der Rückgriff auf Neid als captatio benevolentiae in den Prologen mittelalterlicher Texte lange bekannt und ansatzweise erforscht, konnte im Rahmen dieser Studie erstmals nachgewiesen werden, dass Neid auch dafür eingesetzt wird, das Figurenhandeln in den Narrationen selbst auszudeuten. Mit dieser Erkenntnis ergänzt diese Arbeit neuere Studien zur Rezeptionsund Sympathielenkung in der Vormoderne nicht allein um eine weitere Technik, sie beschreibt eine der stärksten Formen der Rezeptionslenkung.4 Mittels Neid lassen sich auf Ebene des discours dem Handlungsverlauf widersprechende Wertungsparameter installieren. Dieses Wissen verändert den Blick auf die Texte. Dort, wo die Neiddiskurse des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts erstmals in die Analyse mit einbezogen wurden, konnten neue Ergebnisse zu alten Interpretationsproblemen gewonnen werden. In Eilharts Tristrant half die Analyse der Erzählerkommentare zum Neid dabei, die von Monika SCHAUSTEN aufgeworfene Frage zu beantworten, wie Tristan vom Erzähler als Ideal gepriesen werden kann, wenn er doch mit der Frau des Königs ein Verhältnis hat. In Gottfrieds Tristan machte die Analyse von Neid deutlich, wie die von GEROK-REITER angesprochene ‚Umcodierung‘ des Betrugs des Liebespaares im Detail funktioniert. Und in dem an die Tristantradition anknüpfenden Engelhard Konrads trug der Blick auf Neid und die mit ihm verbundene detractio dazu bei, Rüdiger SCHNELLs Frage zu klären, wie der Erzähler dem Rezipienten eine „moralisch so zwiespältige Szene“5 wie den Gerichtskampf vorsetzen konnte.
So fehlt im Inventar der Sympathiesteuerungsverfahren, das Friedrich Michael DIMPEL und Hans Rudolf VELTEN ihrem einschlägigen Sammelband voranstellen, das Erzählen von Neid in auffälliger Weise. Vgl. DIMPEL, Friedrich Michael u. VELTEN, Hans Rudolf: Sympathie, Engagement und suggnómé. In: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme. Hrsg. von Dies., Heidelberg 2016 (Studien zur historischen Poetik 23), S. 9–29, hier besonders S. 11–13. Trotz der Bezugnahme auf die in der Gerichtsrede verwurzelte Rhetorik wurden auf der von DIMPEL und VELTEN dokumentierten Konferenz keine Fälle verhandelt, in denen die Sympathie- und Rezeptionslenkung dem Handlungsverlauf entgegenarbeitet. Vgl. wiederum: SCHNELL, Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils, S. 27.
8.3 Verhandlungen höfischer Ordnung
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8.3 Verhandlungen höfischer Ordnung Begreift man Ordnung als Sollvorstellung, die nicht zuletzt über ihr Gegenteil – den Ordnungsverstoß – definiert und mitkonstruiert wird, lassen sich von hier ausgehend zwei Stränge des Erzählens von Neid am Hof unterscheiden: Wurde in den zuerst betrachteten Texten die höfische Ordnung dadurch zum Thema, dass die Neider mit verleumderischen Anklagen Normen missachten und dadurch die Sozialstruktur destabilisieren, bemühten sich die in der zweiten Hälfte der Studie analysierten Narrationen mehrheitlich darum, die Vorwürfe gegen den Beneideten zu entkräften und seine Grenzüberschreitungen mit Hilfe der Emotion zu kaschieren. Aus dem Erzählen von Neid wurde so ein Erzählen durch Neid. Unklar bleibt in dieser Beschreibung noch, welche unterschiedlichen Perspektiven auf die höfische Ordnung die Texte auf die eine oder die andere Weise entwerfen. Entlang des skizzierten argumentatorischen Leitfadens sollen abschließend unterschiedliche Formen der Verhandlung von Ordnung beschrieben werden. Es fiel auf, dass auch die Texte, die zum ersten der beiden beschriebenen Stränge gehören, kein einfaches Oppositionsverhältnis von Neid und höfischer Ordnung zeichneten. Weil Neid zugleich Störfaktor wie elementarer Bestandteil gunstbasierter Herrschaft ist, kann er erzählerisch dazu genutzt werden, die höfische Ordnung und die ihr zu Grunde liegenden Werte und Ordnungsprinzipien zu reflektieren und zu problematisieren. So berichten der Herzog Ernst B, die Crescentia-Legende und Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi nicht allein von der Perfidität der neidischen Angriffe auf die Günstlinge. Indem Neid in ihnen als direkte Folge der höfischen Gunstdynamiken gezeigt bzw. umgekehrt die Konkurrenz um die Gunst aus der falschen Wahrnehmung des Neiders abgeleitet wird, entwickeln sie zugleich differenzierte und kritische Perspektiven auf den zentralen Herrschaftsmechanismus der Gunst. Diese Skepsis nimmt in der Konstellation des Gruppenneids hofkritische Züge an: Indem negative Emotionen wie der Neid am Hof nicht mehr nur Einzelne, sondern ganze Gruppen ergreifen, können sie – so macht es der Erzähler in Walter Maps De Rege Portigalensi deutlich – diesem selbst zugeschrieben und angelastet werden. Als Verhandlung immanenter Probleme der höfischen Ordnung ließen sich die Neid-Narrationen jedoch noch in einer weiteren Hinsicht begreifen: Wurden die Inhalte der neidischen Verleumdungen von der Forschung bislang entweder ignoriert oder psychoanalytisch als Ausdruck latenter Konflikte zwischen Günstling und Herrscher interpretiert, legte eine Analyse der Emotionsdynamiken folgende Lesart nahe: Um den Beneideten der Gunst des Herrschers zu berauben, attackieren die Neider in ihren verbalen Attacken gezielt Bruchstellen der asymmetrischen Freundschaft zwischen Herrscher und Günstling und machen diese auf Handlungsebene produktiv. Das Erzählen von Neid lenkt derart die Aufmerksamkeit im Herzog Ernst B, in der
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Crescentia-Legende und in Walter Maps De Contrarietate Parii et Lausi gleich zweifach auf die Fragilität höfischer Gunstmechanismen. Zum einen akzentuieren die Anschuldigungen des Neiders die Gefahren, die vom Günstling für den Herrscher ausgehen können. Zum anderen machen sich die Neider zu Nutze, dass triuwe nur schwer von außen erkennbar ist und der Herrscher im Falle, dass man sein Vertrauen missbraucht, auf Beobachtungen Dritter zurückgreifen muss. Die neidische Anklage ist in den Texten dementsprechend immer auch als Bewährungsprobe für den Herrscher gestaltet, was einige Texte in Form von Erzählerkommentaren explizieren: In Strickers Der junge Ratgeber wird die Unterscheidung zwischen rehter und valscher rede als Herrschertugend gepriesen, umgekehrt wird der König in De Rege Portigalensi dafür kritisiert, dass er dieser Aufgabe nicht gerecht wird. Beide Texte nutzen das Erzählen von Neid, um Anforderungen an den Herrscher und damit Ordnungsprinzipien zu formulieren. Als produktiv erwies sich dieser genaue Blick auf die Verleumdungen der Neider jedoch auch in diskursgeschichtlicher Hinsicht. Wie die inhaltliche Analyse der Vorwürfe zeigt, verwenden die Neider in ihren Anklagen typische Topoi der Günstlingskritik. Damit ließ sich eine intensive Debatte um den Günstling, die in der Geschichtswissenschaft zumeist erst nach der Epochengrenze 1500 angesetzt wird, für die Literatur schon früher nachweisen.6 Die mittelalterlichen Narrationen vom Neid differenzieren den Günstlingsdiskurs im Vergleich mit Hofkritik und Fürstenspiegeln sogar noch aus: Da Neid in den Texten als Verlustemotion funktioniert und der Neider die Gunst seines Herrschers durch seine Intrigen zumindest kurzfristig wieder erwirbt, ist die Handlungsposition des Favoriten stets doppelt besetzt. Der unschuldig verleumdete Protagonist wird als idealer Günstling gezeichnet, während sich alle negativen Aspekte der Günstlingsfigur im Neider konzentrieren. Wie an der Debatte um den Günstling deutlich wird, eignet sich das Erzählen von Neid drittens dazu, Ordnungsmuster zu entwerfen: Insbesondere in den Narrationen, in denen der Neider die Position des Beneideten unmittelbar – sei es durch Nachahmung oder Identitätstausch – einnehmen will, erscheint er als Alter Ego desselben und kann mit diesem verglichen werden. Da die Emotion in die binäre Figurenkonfiguration der Gunst einen Rivalen einführt, böte es sich für
Die geschichtswissenschaftliche Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass eine breite Debatte um den Günstling erst dann aufkommt, als „es bereits ein Verwaltungssystem mit festen dauerhaften Kompetenzen gibt“ und „zahlreiche Entscheidungsprozesse verrechtlicht sind.“ Siehe: ASCH, Der Fall des Günstlings, S. 530. In der englischsprachigen Forschungslandschaft wird die Günstlingsdiskussion – ausgehend sowohl von der Tacitusrezeption als auch von einem vermehrten Auftreten dieses Teilnehmers am politischen Geschehen – sogar erst im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert angesetzt. Vgl. ELLIOT, J.H.: Introduction. In: The World of the Favourite. Hrsg. von J.H. ELLIOT/L. W. B. BROCKLISS, Yale 1999, S. 1–10.
8.3 Verhandlungen höfischer Ordnung
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zukünftige Forschungen an, den Neider als Figur des Dritten zu analysieren. Im Unterschied zur modernen Theoriebildung werden binäre Unterscheidungen durch die Einführung des Dritten jedoch nicht primär aufgebrochen und problematisiert.7 Als Emotion, die zugleich Ähnlichkeit und Differenz signalisiert, wird Neid vielmehr dazu genutzt, überhaupt erst Unterscheidungen in Ordnungsdiskurse einzuführen. Neben dem Günstlingsdiskurs wird so im Reinfried von Braunschweig auch die höfische Minne über das Erzählen von Neid ausdifferenziert und wahre minne von unminne unterschieden. Wird der Neid hier dazu genutzt, eine klare Grenze zwischen Norm und Normverletzung am Hof zu ziehen, trägt er in den Tristan-Erzählungen hingegen dazu bei, diese zunehmend zu verunklaren. Schon in der Konstellation des Gruppenneids überlagern sich auf der Ebene der histoire zwei unterschiedliche Erzählmotive: Einerseits rufen die Aggressionen der Neider gegen Tristan den hofkritischen Topos auf, dass der Beste am Hof stets angefeindet und verleumdet wird. Andererseits weist der Gruppenneid darauf zurück, dass Tristans Exzeptionalität die hierarchische Ordnung des Hofes sprengt. Das Erzählen von Neid markiert – so ein zentrales Ergebnis der Tristananalysen – folglich schon früh die Ambivalenz der Ausnahmefigur. In den Tristan-Romanen zeigt sich somit besonders deutlich die überraschende Polyvalenz der scheinbar einseitig negativen Emotion, welche diese flexibel dafür macht, Ordnungsdiskurse auf verschiedenen Ebenen der Narration zu führen. Stehen regulative und ordnungsstörende Funktionen der Emotion in der Konstellation des Gruppenneids noch unverbunden nebeneinander, werden sie im weiteren Romanverlauf überblendet. Als diejenigen, die Tristans illegitimes Verhältnis zu Isolde als Minnefeinde offen anklagen, sind die neidischen Barone und Verwandten eigentlich Figuren der gesellschaftlichen Aufsicht. Indem der Erzähler sowohl bei Eilhart als auch bei Gottfried allein ihre neidischen Handlungen fokussiert und diese als Verstoß gegen die soziale Ordnung der Verwandtschaft und der Freundschaft inszeniert, spielt er eine Normverletzung gegen die andere aus: – Dem Transgressor steht in seinem Ankläger kein Ordnungshüter mehr gegenüber. Mit diesem Befund bestätigten und ergänzten die Analysen von Neid zum einen die These JanDirk MÜLLERs und Rainer WARNINGs, dass die Tristan-Narrationen die binäre Opposition von Norm und Transgression immer wieder durchkreuzen.8 Zum anderen
Zur theoretischen Hinwendung zum Dritten als Problematisierung von binären Unterscheidungen vgl. KOSCHORKE, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva EßLINGER u. a., Berlin 2010, S. 9–31. Vgl. MÜLLER, Jan-Dirk: Gottfried von Straßburg: ‚Tristan‘. Transgression und Ökonomie. u. WARNING, Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im ‚Tristan‘.
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wurde an dieser Stelle erstmals das ordnungsunterlaufende Potential strategischen Erzählens von Neid sichtbar.9 Für die Analyse dieser vierten und radikalsten Form, höfische Ordnung mittels Neid zu verhandeln, hat sich ein narratologischer Ansatz bewährt. In Konrads Engelhard wurde das Handeln der beneideten Protagonisten, so wie es sich auf Ebene der histoire darstellt, mit der Art und Weise, wie dieses im discours präsentiert wird, verglichen. Anhand der Diskrepanzen konnte gezeigt werden, dass das Erzählen von Neid die höfische Werteordnung zu verrücken und neu zu justieren vermag: Der rechtliche Kasus des unehelichen Bleischlafs und Treuebruchs wurde in ein ethisches Problem des falschen Sprechens verwandelt. Die Analyse des Romans Konrads unterstreicht insofern James PHELANs These, dass in literarischen Narrationen „ethics as part and parcel of rhetorics“10 zu interpretieren sind. Der Einfluss von Neid auf das, was als Norm und das, was als Transgression gilt, ist hier um so klarer zu erkennen, als die neidtypischen Anklagen in ein formales Gerichtsverfahren münden. Das Erzählen vom Neid lässt sich – dies unterstreicht seinen rhetorischen Charakter – als Versuch verstehen, das Urteil des (impliziten) Rezipienten zu beeinflussen. Indem die Emotion sowohl den Status der Figuren als auch das, was zwischen ihnen zur Diskussion steht, festlegt, verändern sie die Perspektive des Hörers/Lesers: – Aus neidischen Anklägern werden angeklagte Neider. Dies hat für den Ordnungsentwurf des Romans Konsequenzen. Auf normativer Ebene weckt das Erzählen von Neid Verständnis für einen Prozessausgang, der ansonsten als Skandalon wahrgenommen werden könnte. Auf hierarchischer Ebene legitimiert es Veränderungen – genannt sei hier die Thronfolge eines landlosen Adeligen –, welche die traditionelle Rangfolge am Hof nach Prozessende verkehren. Die Studie konnte das gängige Emotionsnarrativ folglich in zweifacher Hinsicht korrigieren und differenzieren. Die Textanalysen zu Beginn der Studie machten deutlich, dass Neid auch im zwölften und dreizehnten Jahrhundert als Reflexionsmedium des Sozialen funktioniert. Indem von der Emotion erzählt wird, werden im literarischen Diskurs inhärente Probleme der höfischen Ordnung verhandelt und orientierende Ordnungsmuster geprägt. In den zuletzt analysierten Texten untergräbt und transformiert der Rekurs auf Neid hingegen die höfische Ordnung.
Inwiefern die Tristan-Romane, in deren Tradition auch Konrads Engelhard steht, zur Verbreitung dieser Form strategischen Erzählens über Neid beigetragen haben, wäre weiter zu untersuchen. PHELAN, James: Rhetorical Literary Ethics and Lyric Narrative. Robert Frostʼs „Home Burial“. In: Poetics Today 25,4 (2004), S. 627–651, hier S. 630. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem analytischen Potential des ethical criticism steht in der germanistischen Mediävistik noch aus.
8.3 Verhandlungen höfischer Ordnung
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Anders als es Fabrice WILHELM für das Mittelalter behauptet, wirkt die Rede von Neid zumindest in der Literatur nicht nur systemstabilisierend. Erscheinen beide Stränge des Erzählens von Neid einander zunächst entgegengesetzt, so sind sie doch auch miteinander verbunden. Das strategische Erzählen durch Neid stellt ein Extrem dessen dar, was die Emotion in allen analysierten Texten leistet. Betrachtet man die Neid auslösenden Situationen reagiert die Emotion fast durchgängig auf Verschiebungen innerhalb der höfischen Ordnung: Die Beneideten – ich rufe die Aufzählung vom Beginn noch einmal in Erinnerung – erringen entgegen dem Gleichheitsgebot der Artusrunde als Einzelne Ehre, sie werden als soziale Aufsteiger dem etablierten Geburtsadel vorgezogen, sie nehmen als Frauen oder junge Männer höchste Ratgeberpositionen am Hof ein. Wo die Texte von der Entdeckung und Überwindung des Neiders erzählen, etablieren sie folglich unter der Hand zugleich auch Veränderungen und sorgen dafür, dass die höfische Ordnung eine dynamische bleibt. Ob dies eine Besonderheit des Erzählens von Neid am Hof ist, wäre anhand anderer prominenter Orte der mittelalterlichen Topographie des Neids wie dem Kloster oder der Universität weiter zu untersuchen.
9 Literaturverzeichnis 9.1 Wörterbücher und Lexika ASHDOWNE, R. K./HOWLETT, D. R./LATHAM, R.: Dictionary of Medieval Latin from British Sources, 3 Bde., Oxford, New York 2013–2018. BENECKE, Georg F./MÜLLER, Wilhelm/ZARNCKE, Friedrich: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866, 3 Bde., Hildesheim 1963. GEORGES, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde., Hannover 8 1913–1918 (Nachdruck Darmstadt 1998). GLARE, P. G.: Oxford Latin Dictionary, Oxford 1982. GRIMM, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1854–1984, 33 Bde., München 1984. KURATORIUM SINGER der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften: Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel SINGER, 13 Bde., Berlin, New York 1995–2002. LEXER, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer? lemid=T01796 [31. Januar 2023]. WILPERT, Gero: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 82001. WILSON, F.P.: Oxford dictionary of English proverbs, Oxford 1970.
9.2 Textausgaben Abaelard, Petrus: Historia calamitatum. In: Abaelards „Historia calamitatum“. Text-Übersetzungliteraturwissenschaftliche Modellanalysen. Hrsg. von Dag Nikolaus HASSE, Berlin, New York 2002, S. 1–104. Aelred von Rieval: Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch-deutsch. Ins Deutsche übertragen von Rhaban HAACKE. Eingeleitet von Wilhelm NYSSEN, Trier 1978. Ambrosius: De paradiso. Übersetzung mit Erläuterungen zum Inhalt und zum literarischen Hintergrund. Hrsg. von Wolfgang BIETZ, Hamburg 2013 (Studien zur Kirchengeschichte 17). Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und hrsg. von Ursula WOLF, Hamburg 2006. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof RAPP, 2 Halbbde., Berlin 2002 (Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4). Augustinus, Aurelius: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Übersetzt von Wilhelm THIMME. Mit einer Einführung von Norbert FISCHER, Düsseldorf, Zürich 2004. Augustinus, Aurelius: Contra mendacium. In: Ders: De mendacio – Contra mendacium – Contra Priscillianistas. Neu übersetzt und kommentiert von Alfons STÄDELE/Volker Henning DRECOLL, Paderborn u. a. 2013 (Augustinus Opera-Werke 50), S. 183–277. Augustinus, Aurelius: Der Gottesstaat. De civitate Dei. In deutscher Sprache von Carl Johann PERL, 2 Bde., Paderborn u. a. 1979. [Augustinus, Aurelius]: Sancti Aurelii Augustini Enarrationes in Psalmos CI-CL. Hrsg. von E. DEKKERS/ I. FRAIPONT, Turnhout 1956 (Corpus Christianorum, Series Latina 40).
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Register Aglauros 25, 30 Agon 11, 62–64, 128–129, 148 – Rivalität 146–147 – Wettbewerb 46, 159 Ähnlichkeit 27, 45, 67, 71, 171, 174, 205, 230, 294, 301 Alter Ego 250, 300 Anerkennung 13, 36, 59, 63, 170, 190, 193, 296 Begehren 3, 43, 57–58, 64, 66, 102, 108, 111, 138–140, 153, 226, 228–229, 243–248, 252, 260, 292 Bewertungs- und Deutungsmechanismus 23, 74, 296–298 böser Blick 31, 65, 165 caritas 44, 62, 67–68, 132, 137, 144, 148, 219, 294 demokratische Emotion 2, 292 detractio 29, 32–36, 75, 77, 93–96, 161, 188, 216, 218, 237–239, 261, 263–265, 270, 284–288, 290, 297 discordia 88, 161 Distinktionsgefühl 22, 55, 68, 94, 103, 106–107, 111, 119–120, 126, 193, 236, 296 Ehre 11, 15, 36, 55, 60, 62 Eifersucht 54, 56, 155–157, 161–162, 164–165, 167–168, 210, 227, 229, 232, 292 Engelssturz 38–40, 122–123 Erbsünde 6, 32, 40–41 evaluative Funktion 74, 149, 293–294 Figur des Dritten 84, 88, 100, 207, 300–301 Freundschaft 45, 68, 125, 128, 130, 139, 148, 223, 233, 239, 260–261, 294, 301 Gerechtigkeit 28, 153, 172, 188, 206, 227, 230 Gleichheit 1, 6, 11–12, 22, 72, 131, 172, 176, 206, 212, 227–229, 292, 294, 303 Gunst 19, 77, 79, 84–85, 87, 96, 99–100, 117, 141, 147–149, 299
https://doi.org/10.1515/9783111202105-011
Günstling 15, 77, 82–84, 95–96, 99, 114, 124, 142–143, 149–151, 160, 173, 206, 270, 300 Gut-und-Böse-Schema 42, 182, 204, 214, 271, 297 Hauptsünde 24, 29–30, 46 Herrscherkritik 166–168 Hof 17–21 Hofkritik 16, 48–49, 130, 150, 155, 157, 168–170, 184, 200–202, 205, 296, 300 huote 208, 210, 220–222, 244, 259–261 Identifikation mit dem Nächsten 13, 45–46, 62, 65, 67, 70, 131, 138–139, 195, 226–227, 250, 259, 294 Identitätstausch 130, 139, 142, 151, 275, 300 Infektionslogiken 35, 123–124, 126, 129 Intrige 48, 124, 133–134, 138, 148, 150, 156–157, 220, 269 invidia 31, 37, 52–53, 65, 122, 156, 165, 168, 292 Kain und Abel 42, 181 Kollektivemotion 152, 160, 185, 194 Konfiguration 6, 15, 77, 154, 209, 298 konträre Tugenden 144 Leid/Trauer 11, 25–26, 28–29, 52, 91, 97, 127–128, 145–146, 158, 189, 219, 221, 247, 253, 255–258 Leid/Trauer 88 livor 25, 52, 124, 292 Lucifer/Teufel 5, 32, 37–38, 40–41, 86, 88, 96, 116, 122, 124–125, 136, 143–144, 146, 155, 165, 168, 220, 237, 292 Lüge 136, 142, 161, 217–218, 272, 287 Missgunst 57, 104, 124, 153, 192, 204, 232, 244, 247, 249 motivationale Funktion 74, 99, 149 Nachahmung 68, 139, 250, 300 – emulatio 28, 182, 250 – mimetisches Begehren 59, 247–251
326
Register
Nachahmung – emulatio 30, 63 Narrativ 76, 132, 134 – Epochennarrativ 2, 292 – Freundschaftsnarrativ 132 – Genesisnarrativ 40 – Intrigennarrativ 132, 134–135, 155 narrative Motivation 61, 88, 134, 186 Neffe 90, 277 negative Emotion 14, 70–71, 126, 174, 176, 205, 209, 218, 260, 265, 295, 299 Neid-Didaxe 145–147, 168, 183–184, 215, 257–258 Neidvermeidung 47, 200 nemesis 28 nît 51–54, 292 Nullsummenspiel 27, 42, 128, 182 paradoxe Sünde 27, 145, 255 Physiognomie 25, 189 Ratgeber 79, 82, 85, 93, 96, 101, 104, 150, 266, 272, 290, 294, 303 Rezeptionslenkung 214, 265, 298 – Neid-Rhetorik 140, 147, 169–170, 263–265, 289–291, 302 – Sympathielenkung 213, 233 Romulus und Remus 42, 181 Schadenfreude 29, 44, 53, 219 Schmeichelei 82, 137, 235, 272–273 soziale Emotion 6, 55, 98, 206, 209 Sprachsündendiskussion 34, 75, 152, 270, 273, 291, 297
superbia 39, 122, 144 susurratio 29, 32, 163–164 Todsünde 45 trianguläre Beziehung 54, 56–58, 210, 225, 292 Truchsess 13, 223, 231–233, 260, 294 Tugendadel 105–106, 109–110, 112, 119, 289 Übertragungen 97 Umcodierung 232, 236, 298 vana gloria 29 Vergleich 58–59, 126, 201, 244, 249–251, 260, 271, 294 vergunst/verbunst 52–53, 104, 208, 244, 247, 249, 292 Verlustdynamiken 27, 41, 57–58, 89–91, 99, 104, 122, 148, 150, 158–159, 166, 292, 300 versteckte Emotion 26, 30, 75, 95, 166, 189, 236 Verwandtschaft 68, 90, 212, 261, 294, 301 vicedominus 101, 104, 149 virtus 48, 74, 159, 191, 201, 204, 262, 296 Wahrnehmungs- und Urteilsproblem 131, 165, 273, 297 – Blindheit 37, 106, 119 – Urteilsproblem 12, 38, 127–129, 243, 299 Zorn 53, 63, 86–87, 90–91, 97, 164, 269 – furor 155 – Herrscherzorn 97, 277 – ira 29, 168 zusammengesetzte Emotion 54, 219