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German Pages 421 [424] Year 2019
Stefan Voß Männlichkeit und soziale Ordnung bei Gottfried Keller
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger, Barbara Picht und Meike Werner
Band 147
Stefan Voß
Männlichkeit und soziale Ordnung bei Gottfried Keller Studien zu Geschlecht und Realismus
ISBN 978-3-11-062499-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063099-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063091-6 ISSN 0174-4410 Library of Congress Control Number: 2019936556 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
| Meinen Eltern gewidmet.
Inhalt Danksagung | XIII 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Einleitung | 1 Vorbemerkungen: Männlichkeit zwischen Macht und Krise | 1 Zur Epoche: Bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert | 5 Literarischer Realismus: Real, aber nicht realistisch | 15 Zur Männer- und Geschlechterforschung | 20 Methodologische Vorüberlegungen | 33
2
Abweichende Männlichkeitsentwürfe zwischen Läuterung und Liquidation | 49 Der Schmied seines Glücks: Der Homo oeconomicus und das Zeichen | 49 Erste Zeichenoperationen: Von Wiedertaufe und ‚Vaterlandsverrat‘ | 50 Von kreditpolitischen Namensverlängerungen und der Rache des Zeichens | 53 Zeichenhafte Anziehung: Ortswechsel und Adoption auf Basis falscher Zeichen | 59 Ein Zeugungsroman: Der Phallus und sein Federspiel | 64 Der Sündenfall: Von weiblichen Höhlen und männlicher Hybris | 69 Menschlicher Mehrwert: Von Frauenhandel und Samenraub | 78 Eine hellwache Schläferin als Katalysator eines systeminternen Selbstreinigungsprozesses | 81 Das Ende: Eine verständige ‚Schlange‘ und zwei Taugenichtse ohne Erbe(n) | 88 Kapitalismus – Konformismus – Dehumanisation: Die drei gerechten Kammmacher | 94 Die Gerechtigkeit des ökonomisierten Subjekts: Subordination, Konformität und grenzenlose Selbstentäußerung | 94 Von der Ökonomisierung der Ehe und einer modernen Kapitalistin | 100 Gescheiterte Landnahme: Die Konterrevolution narzisstischer Weiblichkeit | 103 Anschlag und Gegenschlag: Sexualität als Kampf um Selbstbestimmung | 111
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
VIII | Inhalt
2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8 2.3.9
Eine Eheherrin gemäß kapitalistischer Gesetzlichkeit | 118 Abweichung, Degeneration und Männergeschichte(n) in Der Narr auf Manegg | 120 (Ein) Geschlecht im Zeichen des Niedergangs: Von destruktiver Weiblichkeit und der Dialektik des Mannseins | 120 Die Tagseite: Historisierung und Genealogisierung mustergültiger Männlichkeit | 123 Die Schatten der Tagseite: Idealität als Erblast und eine Figurenpsychologie an den Grenzen realistischen Erzählens | 130 Schweinejagd: Männliche Bindungsangst und die Negation des Lustprinzips | 134 Buz Falätscher: Von Degenerationsphantasien und der Stigmatisierung des ‚Anderen‘ | 139 Das ‚Andere‘ als Legitimation des Eigenen | 148 Heterosexuelle Fronten: Sexualität und Partnerschaft als Bewährungsfelder männlicher Herrschaftsansprüche | 152 Illegitime Okkupationsakte: Die Pathologisierung des ‚Anderen‘ und männliches Erinnern als identitätsstiftendes Moment | 155 Eine ‚unechte‘ Existenz: Von der Anomalisierung und Vernichtung normfremder Männlichkeit | 159
Männervergleich und Männerselektion | 166 Die Geisterseher: Wahlpflicht und Pflichtwahl | 166 Pferde – Fechten – Kant: Von Körper- und Verstandespraxis | 168 Ein ‚fixer Kerl‘: Eine Bürgerstochter und ihr Hofstaat | 172 Liebe zu dritt: Von Polyandrie und der Frau als ‚Ort‘ der Begegnung | 177 3.1.4 Infanterie oder Kavallerie? Krieg als Katalysator männlicher Reifungsprozesse | 181 3.1.5 Das männliche Subjekt als Objekt der Begierde | 186 3.1.6 Hexentheater: Eine Geisterprüfung als Geistesprüfung | 188 3.1.7 Eine Nacht mit dem Kan(t)zler: Ein Rendezvous mit (der) Vernunft | 192 3.1.8 Wahlrecht? Wahlpflicht? Pflichtwahl? Zur Männerselektion einer Epoche | 195 3.1.9 Die Namen und die Dinge: Zur Imaginierung des Weiblichen | 199 3.1.10 Augenkur und Ohnmacht: Der männliche Blick im Zeichen von Defizienz | 201 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Inhalt | IX
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
4
Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken | 203 Mannwerdung zwischen Misogynie und matronenhafter Weiblichkeit | 204 Vom Sammler zum Fetischisten: Abweichende Figurenpsychologie und eine problematische Zeichensetzung | 207 Eine neue Welt nach alter Tradition: Kolonialphantasien von der Annexion des ‚Anderen‘ und der Versöhnung des ‚Selbst‘ | 212 Das Zeichen sucht sich seinen Träger: Zur Wirkmächtigkeit des phallischen Mannes | 217 Exkurs 1: Bis an die Grenzen des Darstellbaren. Die männliche Lust am phallischen Mann in Sacher-Masochs Venus im Pelz | 225 Exkurs 2: Kraft vs. Masse. Leibesattribute bürgerlicher Männlichkeit in Das Fähnlein der sieben Aufrechten | 235
Männliche Sozialisation zwischen protegierender und destruktiver Weiblichkeit | 242 4.1 Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen | 242 4.1.1 Ruechenstein: Hysterisierung von Sexualität und Misogynie als kollektive Praxis | 242 4.1.2 ‚Zeichensetzung‘ nach Seldwyler Art: Von der Markierung der Unlesbarkeit | 246 Dietegen: Das subversive Potential der Sinnlichkeit | 248 4.1.3 4.1.4 Ortswechsel, Wiedergeburt und Einkehr unter das ‚Mutterrecht‘ | 252 Vaterhaus und ‚Vater Tag‘: Die männliche Ordnung der 4.1.5 Dinge | 256 Autonomie und Dominanz: Von der männlichen ‚Natur‘ | 260 4.1.6 4.1.7 Eine unruhige Maifeier: Von Besitzansprüchen und Pflichtverletzungen | 264 4.1.8 Die Machtübernahme narzisstischer Weiblichkeit | 270 4.1.9 Sommersonnenwende: Weibliche Sexualität am Pranger | 274 4.1.10 Die Läuterung der Hexe durch das ‚Vaterrecht‘ | 279 4.1.11 Dominoeffekt: Männlicher Orientierungsverlust durch den ‚Verrat‘ des weiblichen Geschlechts | 285 4.1.12 Zwischen Hinrichtung und Abrichtung: Die Wiederherstellung geschlechtlicher Ordnung | 287 4.2 Vaterlose Männlichkeiten | 294 4.2.1 Pankraz, der Schmoller: Scheitern mit Ansage | 295
X | Inhalt
4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.2.5 4.2.2.6 4.2.2.7 4.2.2.8 4.2.3
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Frau Regel Amrain und ihr Jüngster: Eine Hybridfigur als Interimslösung | 302 Regula Amrain: Die bessere Vaterfigur | 302 Die Austreibung weiblicher Sexualität als vertrauensbildende Maßnahme | 304 Fritz Amrain: Sozialisation als Konfiguration | 307 Geschlechtertausch und ‚gender trouble‘: Ein Sohn im Kleid der Mutter | 309 Autonomieverlust und Ohnmachtserfahrung als mütterliche Erziehungsmaßnahmen | 314 ‚Maschinenkunde‘: Die Bewährung des Mannes im öffentlichen Raum | 317 Die Heimkehr des Defizitären: Neuordnung und Korrektur | 320 Rücktritt und Kostenabrechnung: Das Ende weiblicher Selbstbestimmung | 323 Exkurs: Ein Kauz. Ein Husar. Ein Marschall. ‚Entweiblichung‘ als Preis weiblicher Selbstversorgung in Der Landvogt von Greifensee | 326 Männliche Schöpfungsphantasien: Zur Modellierung des weiblichen Geschlechts | 330 Vom Drachen zum ‚Tierchen‘: Die arme Baronin | 330 Der Drachenkampf: Weibliche Selbstversorgung als Provokation | 330 Entsagung als Selbstverleugnung des weiblichen Geschlechts | 332 Die Geburt des ‚Tierchens‘: Krankheit und Todesnähe im Zeichen männlicher Schöpfungsphantasien | 334 Bewusstseinstilgung und Ehe(an)bindung: Ein männliches Gemeinschaftsprojekt von Vater und Sohn | 337 Eine fast vergessene Braut: Männerrituale auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts | 340 Ein Bildungsprojekt aus deutschen Landen: Regine | 342 Der Frauenkundler und sein phantastisches Gepäck | 342 Eine gutmütige Magd und das Licht der Aufklärung: Zur Konfiguration eines Bildungsprojekts | 344 Bildung als Neubildung: Die Modellierung der Frau als Spiegelung männlicher Kulturarbeit | 346
Inhalt | XI
5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.2.8 5.2.9 5.3 5.3.1 5.3.2
6 6.1 6.2
Unautorisierte Fremdzugriffe: Das vergesellschaftete weibliche Objekt | 349 Exkurs: Das Irritationspotenzial weiblicher Bildung | 353 Eine sich selbst inszenierende Venus? Pygmalions Deutungshoheit in Gefahr | 355 ‚Mannsbilder‘ unter sich: Der ‚Südländer‘ als Bedrohung sexueller Verfügungsansprüche | 358 ‚Frachtüberführung‘ auf den Wassern des Hades: Ortswechsel, Isolation und Pathologisierung | 361 Vergebliche Flucht: Der weibliche Freitod als Stimulus einer männlichen Imaginationsmaschinerie | 364 Die Malerin: Totalverweigerung und ihre Folgen | 367 Die Abwehr des männlichen Blicks als Verrat an der weiblichen ‚Natur‘ | 367 Das Ende der ‚Kröte‘: Vernichtungslüste gegen eine abweichende Frauenfigur | 370 Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten | 374 ‚Die breite Brust zerschmettert‘: Männliches Sterben und männlicher Tod | 375 ‚Gattentreue‘ und Reinheit: Weibliches Sterben und weiblicher Tod | 379
Schlussbemerkungen | 383 Literaturverzeichnis | 389 Personenregister | 405
E1
Erratum zu: 3. Männervergleich und Männerselektion | 409
Danksagung Der vorliegende Band stellt nicht nur das Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsarbeit dar – er ist zugleich Zeugnis eines persönlichen Bildungs- und Werdegangs, den der Verfasser dieser Zeilen ohne das Zutun anderer nicht hätte beschreiten können. So ist diese Arbeit zu jeder Zeit in dem Bewusstsein entstanden, die Handschrift einer Vielzahl von Menschen zu tragen, die, angefangen in Kindertagen, die Voraussetzungen für das Zustandekommen dieser Studie geschaffen haben, indem sie Neugierde und Phantasie förderten, Widerspruch herausforderten – und nicht selten auch der Einsicht den Weg bereiteten. Es ist folglich nicht zierende Bescheidenheit, sondern tiefste Überzeugung, dass diesen Menschen mein erster und innigster Dank gebührt. Für die wissenschaftliche, insbesondere aber auch menschliche Begleitung meines Dissertationsprojekts danke ich von Herzen Prof. Dr. Claus-Michael Ort, der mit seiner stets zugewandten Art, seinem Zutrauen und seiner Herzlichkeit einen kaum zu beschreibenden Anteil an der Entstehung dieser Arbeit hat. Ebenso herzlich danke ich Prof. Dr. Franziska Bergmann für ihre Bereitschaft, die Mühen eines Zweitgutachtens auf sich genommen und eigens für meine Disputation eine Reise buchstäblich quer durch die Republik angetreten zu haben. Danken möchte ich ebenfalls Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich, der sich zur Übernahme des Drittgutachtens bereit erklärt und wichtige Anmerkungen gegeben hat. Nicht zuletzt danke ich Joanna Zygo dafür, dass sie mir als Ansprechpartnerin in Prüfungsangelegenheiten mit ihrer freundlichen und gewissenhaften Art stets zur Seite stand. Was schließlich die hier nun in Form einer Monographie vorliegende Publikation meiner Arbeit angeht, danke ich den Herausgebern der Reihe ,Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur‘ ganz herzlich für die Aufnahme in die Buchreihe. Auf Seiten des Verlags möchte ich zudem Dr. Anja-Simone Michalski für ihre Unterstützung danken, ebenso wie ich Dr. Marcus Böhm für seine Hilfsbereitschaft und Expertise in inhaltlichen wie formalen Angelegenheiten danke. Gleiches gilt für Laura Burlon, die in Vertragsfragen stets ein offenes Ohr für meine Anliegen hatte. Besonderer Dank gebührt Katja Schubert und Stella Diedrich, die mit Geduld und Akribie maßgeblich dazu beigetragen haben, den vorliegenden Band ,in Form‘ zu bringen. Abschließend sei dem Land Schleswig-Holstein und der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel für die Förderung dieser Arbeit durch ein Landesgraduiertenstipendium herzlich gedankt.
https://doi.org/10.1515/9783110630992-203
1 Einleitung 1.1 Vorbemerkungen: Männlichkeit zwischen Macht und Krise „Männer haben keine Zukunft. Männlichkeit ist offenbar eine Idee von gestern.“1 Wer sich mit dieser zweifelsohne rhetorisch zugespitzten Eröffnung eines digitalen Feuilletonbeitrags des Jahres 2017 konfrontiert sieht, dürfte angesichts der gegenwärtigen Konjunktur von Debatten zu Geschlecht und geschlechtlichen Zuschreibungen nicht zwingend versucht sein, diese vermeintlich ‚zeitgeistige‘ Kontroverse auf gesellschaftliche Umbrüche eines vorvergangenen Jahrhunderts bzw. dessen kulturelle Deutungsmuster zurückzubeziehen. Und in der Tat steht das angeführte Zitat im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht etwa für eine feuilletonistische Provokation ohne Breitenwirkung, sondern im Gegenteil beispielhaft für eine gesellschaftlich-mediale Diskussion,2 die zunehmend den Konstruktionscharakter einer lange Zeit zur Naturwahrheit (v)erklärten und somit hermetisch abgeriegelten Idee von ‚Geschlecht‘ in den Blick nimmt. Insbesondere infolge der in den 1960/70er Jahren in akademischen Milieus formulierten, inzwischen jedoch gleichermaßen in außeruniversitären Bereichen etablierten Position, Geschlecht nicht einfach mit Biologie gleichzusetzen, sondern als einen komplexen, kulturell geprägten Diskurs zu begreifen, werden mittlerweile selbst in massenmedialen Kontexten die sozialen Aspekte von ‚Geschlecht‘ diskutiert – was immer dann besonders kontroverse Züge anzunehmen scheint, wenn das männliche Geschlecht samt seiner geschlechtsexklusiven Privilegien ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Es zeichnet sich gar ab, dass mehr als zweihundert Jahre nach Entstehung erster Frauenrechtsbewegungen und einer jahrzehntelangen Tradition akademisch-feministischer Geschlechterforschung nunmehr das als privilegiert beschriebene Geschlecht selbst zum Gegenstand einer Debatte wird,3 die nicht mehr nur männliche Vorherrschaft pro|| 1 Walter Hollstein: Männer haben keine Zukunft. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (26.03.2017); online abrufbar: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/maenner-habenkeine-zukunft-14942443.html (letzter Zugriff am 02.03.2019). 2 Vgl. hierzu etwa Thomas Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. In: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. (Geschichte und Geschlechter 14) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 7–30. Kühne stellt bereits für die 1990er Jahre fest, dass „in der Presse, im Fernsehen oder in den Buchhandlungen“ über Phänomene wie „Neue Väterlichkeit“, über „Image Guides“ für Männer oder auch über die Frage der „Zukunft des Mannes“ verhandelt wird. (S. 7) 3 Als eine erste organisierte (Massen-)Demonstration weiblicher Forderungen nach einer gleichberechtigten Teilnahme am öffentlichen Leben wird in der Forschung der sog. ‚Marsch der https://doi.org/10.1515/9783110630992-001
2 | Einleitung
blematisiert, sondern das Konzept ‚Männlichkeit‘ schlechthin in moralischen Rückzugsgefechten begriffen sieht. Die diesbezüglich ausgemachten Symptome reichen von einer männlichen Selbstinszenierung „als Opfer gesellschaftlicher Diskriminierung“4 bis hin zu Beschreibungen einer strukturellen Krisenhaftigkeit, die weit über jedes „Stahlarbeiterproblem“5 hinausreicht. Entsprechend wird in populären Publikationen vermehrt das Bild einer ‚toxischen Männlichkeit‘ entworfen,6 die unter dem Eindruck einer kritischen Reflexion von Geschlechter- und Machtbeziehungen den eigenen Vormachtsanspruch nicht anders aufrechtzuerhalten weiß als in der Rückbesinnung auf eine zum Fundament männlicher Herrschaft stilisierten permanenten Gewaltbereitschaft. Angesichts dieser Abwehrreflexe eines im Zuge stetig komplexer werdender Lebens- und Erwerbsbedingungen um Orientierung ringenden Geschlechts, registrieren sozialwissenschaftliche Studien eine Tendenz zur ‚Remaskulinisierung‘ in Teilen männlicher Lebenswelten,7 die sich vorrangig über den Widerstand gegen eine als feministisch-intellektualistisch dominiert erfahrene Gegenwart definiert. Wo folglich bis dato geradezu habituell eingeforderte Privilegien unerwartet infrage gestellt werden, lautet die ‚maskulinistische‘ Parole zur Wiedererlangung von Orientierung und Deutungshoheit offenbar auf Archaisierung
|| Pariserinnen‘ vom 5. Oktober 1789 gesehen, der bis zu 10.000 Frauen von Paris nach Versailles führte, um die dort ansässige Königsfamilie wie auch die in Versailles tagende Nationalversammlung in die Hauptstadt der Revolution zu zwingen. Vgl. hierzu bzw. für eine umfassende Darstellung der europäischen Frauenbewegung: Ute Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. München 2009, S. 10ff. 4 Julian Dörr: Der Mann in der Krise. In: Süddeutsche Zeitung (06.06.2017); online abrufbar: http://www.sueddeutsche.de/kultur/maennlichkeit-in-der-krise-warum-viele-maenner-sichheute-als-opfer-fuehlen-ein-schwerpunkt-1.3476657 (letzter Zugriff am 02.03.2019). 5 Dörr: Der Mann in der Krise; online abrufbar: http://www.sueddeutsche.de/kultur/maenn lichkeit-in-der-krise-warum-viele-maenner-sich-heute-als-opfer-fuehlen-ein-schwerpunkt-1.34 76657-2 (letzter Zugriff am 02.03.2019). 6 So etwa Jack Urwin: Man Up. Surviving Modern Masculinity. London 2016. 7 Der Terminus ‚Remaskulinisierung‘ geht zurück auf die Historikerin Susan Jeffords, die in einer Analyse der US-amerikanischen Filmproduktion infolge der Niederlage der Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg (Susan Jeffords: The Remasculinisation of American Culture. Gender and the Vietnam War. Bloomington/Indianapolis 1989) zu dem Ergebnis kommt, dass angesichts „der geschlagenen amerikanischen Soldaten in Vietnam [...] Remaskulinisierungsinitiativen inszeniert worden [seien], um das demolierte Männerbild wieder aufzurichten. Die Rambo-Filme sind ein typisches Produkt daraus.“ Zit. n. Olaf Blaschke: Krise der Männlichkeit um 1900? Die Monatsblätter für die katholische Männerwelt. In: Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. – Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich. Hg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner. Bern u. a. 2010, S. 133–152, S. 149. Remaskulinisierung meint insofern die Inszenierung betont heroischer, viriler und archaischer Männlichkeitsentwürfe.
Vorbemerkungen: Männlichkeit zwischen Macht und Krise | 3
statt Modifizierung, so dass „Krieger-Männer als Antwort auf Verdiener-Frauen“8 in Erscheinung treten, um in Zeiten progressiver Debatten zu Geschlecht und geschlechtlichen Hierarchien die Restitution männlicher Vormachtsansprüche anzuleiten. Dass die oben skizzierten, vorzugsweise als Symptome einer Krise ‚moderner Männlichkeit‘ gewerteten Phänomene an dieser Stelle nicht den Ausgangspunkt einer sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeit markieren,9 sondern stattdessen der Einleitung einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Untersuchung dienen – deren Fokus zudem auf dem z. T. vor über 150 Jahren entstandenen Werk des Schweizer Realisten Gottfried Keller liegt –, erklärt sich mit Blick auf die eingangs zitierte ‚Idee von gestern‘. Der darin formulierte Gedanke nämlich, Männlichkeit resp. Geschlecht als eine Idee von rekonstruierbarer Geschichtlichkeit zu begreifen, führt in Bezug auf den ‚modernen‘ Geschlechterdiskurs europäischer Prägung zurück in die Lebenswelten des 19. Jahrhunderts, das mit seinen tief greifenden politischen, sozialen und auch denkgeschichtlichen Umbrüchen als Geburtsstunde heutiger Vorstellungen zu Geschlecht und geschlechtsspezifischen Codierungen gilt. Der Ansatz der vorliegenden Arbeit besteht nun darin, am Beispiel ausgewählter Erzählungen Gottfried Kellers literarische Darstellungen dieser Zeit in Bezug auf Imaginationen und Konstruktionen von Geschlecht – insbesondere von ‚Männlichkeit‘ – zu untersuchen, wobei als Leitmotiv die These verhandelt wird, dass jene gegenwärtig diagnostizierte Krise von Männlichkeit ihre Ursachen nicht etwa in emanzipatorischen Tendenzen der ‚Moderne‘ hat, quasi ein geschlossenes System männlich-patriarchaler Vorherrschaft von außen unter Druck gesetzt wird, sondern dass im Gegenteil das Konzept ‚Männlichkeit‘ durch die eigenen Grundannahmen, folglich von innen her, von einer inhärenten Krisenanfälligkeit bestimmt ist. Dieser Frage wie im Folgenden auf Grundlage ‚realistischer‘ Literatur, somit unter literaturwissenschaftlicher Perspektive nachzugehen, liegt dann umso näher, wenn man die Fiktionalität von Literatur nicht
|| 8 Frank Meyer: Krise der Männlichkeit – „Krieger-Männer als Antwort auf Verdiener-Frauen“. In: Deutschlandfunk Kultur (08.03.2017); online abrufbar: http://www.deutschlandfunkkul tur.de/krise-der-maennlichkeit-krieger-maenner-als-antwort-auf.1270.de.html?dram:article_ id=380746 (letzter Zugriff am 02.03.2019). 9 Die vorherrschende mediale Definition dieser ‚Krise moderner Männlichkeit‘ fasst Meuser wie folgt zusammen: „[V]on seiner angestammten hegemonialen Position mehr und mehr verdrängt, als ‚Auslaufmodell‘ einer längst zu Ende gegangenen Epoche karikiert, verstrickt er [der Mann, S.V.] sich in ein Gewirr von Zweifeln, Verunsicherungen und Ängsten, denen nur wenige Hoffnungen entgegenstehen.“ Aus: Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. 3. Auflage. Wiesbaden 2010, S. 319.
4 | Einleitung
verwechselt mit ihrer Fähigkeit, Zeugnis zu legen von den Diskursen ihrer Zeit. Denn gerade weil Literatur fiktional ist, muss (und kann) ihre Verweisfunktion nicht auf direkte, in einem deskriptiven Sinne ‚realistische‘ Weise erfolgen, sondern allein auf eine poetisch vermittelte, so dass etwa die Schauerliteratur der Romantik oder auch das Science-Fiction-Genre der Mitte des 20. Jahrhunderts sehr wohl Rückschlüsse auf ihre Zeit und deren Mentalität erlauben, ohne dass ihre Sujets dabei in irgendeiner Weise als ‚real‘ im Sinne einer Abbildung außersprachlicher Realität vorauszusetzen sind. Durch seine Praxis einer zeichenhaften Bedeutungsvermittlung eröffnet sich dem literarischen Text somit in besonderem Maße die Möglichkeit, in uneigentlicher (z. B. metaphorischer) Weise Sinn zu transportieren, folglich auch Konstellationen oder Ideen durchzuspielen, die außerhalb literarischer Welten aufgrund sozialer Konventionen oder dominanter Deutungstraditionen schwerlich umsetzbar wären. Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, inwieweit und auf welche Weise moderne Konzepte von ‚Männlichkeit‘ bereits zu Zeiten ihrer Entstehung innerhalb der Textwelten Gottfried Kellers als widersprüchlich oder auch von Diskontinuitäten durchzogen dargestellt werden. Das Werk Gottfried Kellers empfiehlt sich hierbei auch deshalb auf besondere Weise, weil kaum ein anderes dieser Epoche die Bedeutung ökonomischer Prinzipien bzw. die Folgeerscheinungen kapitalistisch-industrieller Neuerungen für das Individuum wie das Gemeinwesen an ähnlich prominenter Stelle verhandelt. Da das ‚moderne‘ Geschlechtermodell in seiner Systematik nicht ohne Bezug auf das 19. Jahrhundert und dessen soziale Umbrüche zu verstehen ist, zugleich insbesondere das Erzählwerk Kellers als eine durchaus kritische Auseinandersetzung mit bürgerlichen Lebenswelten gilt und hierbei dem Zusammenspiel von Geschlecht und Ökonomie eine zentrale Ordnungsfunktion einräumt, entsteht auf diese Weise eine gedankliche Klammer, die einen Feuilletonbeitrag der Gegenwart als Konsequenz oder auch Reaktion auf kulturelle Denkmuster insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts transparent macht und entsprechend das ‚rückwärtsgewandte‘ Vorgehen der vorliegenden Arbeit erklärt. Vor diesem Hintergrund sollen in erster Linie die literarischen Konstitutionsbedingungen des männlichen Subjekts untersucht werden, wobei zwingend auch die Darstellung des weiblichen Geschlechts in den Fokus rückt, da in einem bipolar codierten Geschlechtermodell eine isolierte Betrachtung männlicher oder auch weiblicher Figuren zentrale Aspekte geschlechtlicher Zuschreibungen unberücksichtigt ließe bzw. nicht auf adäquate Weise systematisieren könnte. In Bezug auf ein zu beschreibendes Normensystem ‚Mann‘ gilt es zudem, Modifikationen ebenso wie Kontinuitäten aufzuzeigen und Grenzüberschreitungen etwa sozialer oder auch sexueller Natur in einen übergeordneten Kontext zu stellen.
Zur Epoche: Bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert | 5
Entsprechend werden zwischengeschlechtliche resp. gleichgeschlechtliche Interaktionen wie Paarbeziehungen, Initiationsprozesse oder auch homosoziale Figurenkonstellationen in Erwartung einer vergleichenden Polarisierung divergenter Männlichkeitsentwürfe untersucht, um anhand eines ungeschriebenen Anforderungskatalogs von ‚Geschlecht‘ moralische, soziale, politische oder auch sexuelle Implikationen geschlechtlich motivierten Figurenhandelns herauszuarbeiten. Körperpraxis und Körperbild der dargestellten Figuren werden hierbei in ihrer vorrangigen Funktion als textinterne Projektionsflächen von Idealisierung, Sexualisierung, Stigmatisierung oder auch Pathologisierung beschrieben, wobei insbesondere in Bezug auf das männliche Geschlecht das vergleichende, sprich hierarchisierende Moment von Körpern bzw. körperreflexiven Praktiken im Vordergrund stehen wird. Die beschriebenen gesellschaftlichen, ökonomischen und auch politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts mit ihren weitreichenden Folgen für Sozialund Familienstrukturen werden im Folgenden ebenso in einem kurzen Überblick beschrieben wie die literarische Epoche des poetischen Realismus und die theoretischen Grundlagen der Geschlechter- bzw. Männerforschung. Auf eine Reflexion des theoretischen Fundaments dieser Arbeit und ihrer Methoden folgen abschließend einige Bemerkungen zur Gliederung der vorliegenden Untersuchung und zur Bestimmung des Textkorpus.
1.2 Zur Epoche: Bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert Angesichts einer Vielzahl von Forschungsbeiträgen verschiedenster Fachrichtungen, die von umfangreichen Übersichtsstudien bis zu punktuellen Mikroanalysen Zeitgeschehen und Folgewirkung des 19. Jahrhunderts aus je fachspezifischer Perspektive in den Blick nehmen, ist es mehr als geboten, die folgenden Ausführungen dahingehend einzuschränken, dass diese keinen anderen Anspruch erheben, als einen schlaglichtartig komprimierten Einblick in Lebenswirklichkeit und Geisteshaltung dieser Zeit geben zu wollen. Zudem begründen Fachgebiet und Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit eine räumliche Fokussierung innerhalb dieses Jahrhunderts der weltpolitischen Dominanz Europas auf zeitgeschichtliche Entwicklungen insbesondere im deutschsprachigen Raum,10 die jedoch nichtsdestotrotz von exemplarischer Bedeutung für die historischen Vorgänge auch im übrigen Europa der Zeit sind.
|| 10 Vgl. zur ‚Zentralität Europas‘ im 19. Jahrhundert: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe 2011. München 2011, S. 20f.
6 | Einleitung
Neben geografischen Aspekten stellt sich hinsichtlich der Periodisierung von Epochen zuvorderst das Problem, bei der „Bildung von historischen Sinneinheiten“11 bzw. der Bestimmung von Anfang und Ende geschichtlicher Perioden naturgemäß nicht auf „objektiv feststehende[], quasi geschichtsimmanente[] Sachverhalte[]“12 zurückgreifen zu können, sondern in der Regel auf eine Kontextualisierung historischer Ereignisse angewiesen zu sein. Dies führte in Bezug auf das 19. Jahrhundert zur Etablierung der Idee eines über einhundertzwanzig Jahre umspannenden ‚langen‘ Jahrhunderts. Anders nämlich als nach rein kalendarischen Maßstäben bemessen, wird der ‚epochale‘ Beginn des 19. Jahrhunderts zumeist auf die Geschehnisse rund um die Französische Revolution von 1789 datiert, während das Ende dieses überlangen Jahrhunderts „in dramatischer Koinzidenz [zum, S.V.] Ende der weltpolitischen Dominanz Europas“13 im Jahre 1917, dem Jahr des Eintritts der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und der zur Gründung der Sowjetunion führenden Oktoberrevolution, gesehen wird. Die Jahre zwischen den historischen Zäsuren von 1789 und 1917 – die zudem nicht punktuell, sondern als Kumulationspunkte langjähriger Entwicklungen zu verstehen sind – zeigen sich geprägt von einer Vielzahl zeitgeschichtlicher Ereignisse, die von der Entstehung des politischen Liberalismus und erstarkender Nationalstaatsbewegungen über den Höhepunkt imperialistischer Ideologien bis hin zu technischen Neuerungen oder dem Siegeszug des Kapitalismus reichen – und maßgeblich von Angehörigen der bürgerlichen Schicht getragen werden. Geistesgeschichtlich der aufklärerischen Kritik an erstarrten weltlichen wie kirchlichen Strukturen verpflichtet, beflügelt von den Erfolgen der Französischen Revolution und des nordamerikanischen Unabhängigkeitskampfes gegen das britische Mutterland, zeichnet sich das 19. Jahrhundert durch einen rationalistischen Gegenwartsbezug aus, der einem wissenschaftlich fundierten Fortschrittsdenken nicht nur den Weg bereitet, sondern den „Erfolg des wissenschaftlichen Spezialistentums“14 gar zu einem Signum der Epoche werden lässt. Die Säkularisierung der Perspektive auf die eigene Existenz und die Welt als || 11 Winfried Schulze: Einführung in die Neuere Geschichte. 3. Auflage. Stuttgart 1996, S. 32. Zit. n. Franz J. Bauer: Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert (1789–1917). Profil einer Epoche. 3., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2010, S. 10. Dieses Werk dient zugleich als Grundlage der folgenden sozial-historischen Einführung. 12 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 7. 13 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 14. 14 Ernst Troeltsch, (1925): Das 19. Jahrhundert. In: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hg. von Hans Baron. Tübingen 1925, S. 625. Zit. n. Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 40.
Zur Epoche: Bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert | 7
Ganzes ist das folgerichtige Resultat dieses epochalen Rationalitätspostulats, das als „Grundprinzip der bürgerlich-kapitalistischen Welt“15 sämtliche gesellschaftliche, staatliche und auch rechtliche Bereiche durchdringt und trotz der gescheiterten Revolution von 1848/49 der zunehmenden Bedeutung eines wirtschaftlich wie kulturell erstarkenden Bürgertums den Boden bereitet. Die Idee von Emanzipation – der „Lossprechung, Entlassung und Freilassung aus väterlicher oder vormundschaftlicher Gewalt“16 – wird demgemäß zu einem Leitbegriff der Epoche und führt bereits um die Jahrhundertmitte dazu, dass große Teile der bürgerlichen Gesellschaft existenzielle Wahrheiten nicht länger in religiösen Heilslehren suchen, sondern sich einem populären Materialismus zuwenden, der konsequent allem Metaphysischen entsagt. Auf politischer Ebene führt die Kritik an überkommenen Verhältnissen, insbesondere an absolutistischen Herrschaftsformen, zum Entstehen einer bürgerlich-liberalen Verfassungsbewegung, die das Volk – genau genommen dessen bürgerliche Schicht – als Souverän aller staatlichen Gewalt begreift und einen politischen Liberalismus proklamiert, der sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zunehmend als eine exklusive Idee zu erkennen gibt, die Emanzipations- und Partizipationsforderungen von nichtbürgerlichen Schichten weitaus verhaltener sieht. Zugleich führt die „Auflösung traditionaler Sozial- und Herrschaftsverbände“17 zu einer Desintegration großer Bevölkerungsschichten, so dass es neue Konzepte „überindividueller Vergemeinschaftung“18 braucht, die das 19. Jahrhundert zu einer Epoche nicht zuletzt auch „von Nationsbildung und Nationalstaatsgründung“19 werden lässt und entsprechend Begrifflichkeiten von Volk und Nation ins Zentrum politischer Diskurse rückt. Neben dem rasanten Aufstieg der nationalen Idee als Bezugsgröße für die politische wie soziale Partizipation des Einzelnen sind es vor allem technische Neuerungen in Produktion und Verkehr, die dieses ‚lange‘ Jahrhundert prägen und es rückblickend als das Jahrhundert industrieller Revolutionen und kapitalistischer Heilslehren ins kollektive Gedächtnis eingehen lassen. Diese Umbrüche „von geradezu menschheitsgeschichtlicher Dimension“20 bleiben nicht ohne Folgen auch für andere Lebensbereiche, so „daß die überlieferten Wertesysteme, Lebensformen, Wahrnehmungsweisen, Denkhaltungen und Einstellungen infrage gestellt, neue Orientierungen || 15 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 44. 16 Christian Friedrich Schwan: Nouveau dictionnaire de la langue allemande et françoise. 2. Auflage. Mannheim 1787. Zit. n. Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 51. 17 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 62. 18 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 63. 19 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 63. 20 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 78.
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erzwungen werden und damit neue Bedürfnisse der Daseinsdeutung und Sinnstiftung entstehen […].“21 Der Technisierung von Wirtschaft, Verkehr und Kommunikation korrespondiert die Disziplinierung des Individuums, das sich in das Regelwerk einer industriellen Wirtschaftsweise einzupassen und fortan den eigenen geistigen wie moralischen Horizont an den Rationalitäts- und Funktionalitätspostulaten einer Ideologie von Wachstum und Fortschritt auszurichten hat. Mehr und früher noch als in anderen Bereichen gesellschaftlichen Lebens zeigt sich am Beispiel des ökonomischen Sektors die Kehrseite eines auf vollumfängliche Gültigkeit pochenden Rationalitätsprinzips, das „in letzter Konsequenz […] ein System allseitiger Abhängigkeit des Individuums von anonymen Strukturen“22 begünstigt und insbesondere unter dem Eindruck kapitalistischer Wachstums- und Renditeerwartungen einem „Durchorganisieren der Lebensverhältnisse“23 den Weg bereitet, das geradewegs in jene viel zitierte Selbstentfremdung des Menschen mündet, die in zeitgenössischer Hinsicht vor allem Karl Marx als Konsequenz einer kapitalistisch-arbeitsteiligen Produktionsweise beschrieben hat. So vielschichtig sich die epochalen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts darstellen, so heterogen zeigt sich auch das maßgeblich hierfür als Träger identifizierte Bürgertum, dessen Angehörige zwar „ein in der Substanz von allen geteiltes System moralischer, politischer, weltanschaulicher und ästhetischer Werte“24 verbindet, das darüber hinaus jedoch von durchaus divergenten lebensweltlichen Erfahrungen geprägt ist. So koexistieren ein aus der mittelalterlichen Stadtkultur Europas hervorgehendes Stadtbürgertum, das sich im Laufe der Zeit in ein durch Handel und Finanzgeschäfte aufgestiegenes Patriziat und ein eher zünftisch orientiertes Handwerker- und Gewerbebürgertum ausdifferenziert, eine zunehmend einflussreiche Beamtenschaft und etwa auch bürgerliche Intellektuelle, die durch literarische Produktion und publizistischen Fleiß maßgeblich zum Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit beitragen. Gezeichnet wird das Bild eines – freilich männlich zu denkenden – Bürgers, dessen „erforderliche Qualität […], außer der natürlichen (daß er kein Kind, kein Weib sei), die [ist, S.V.]: daß er sein eigener Herr (sui juris) sei, mithin irgendein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wis-
|| 21 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 76. 22 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 44. 23 Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx. In: Karl Löwith: Sämtliche Schriften. Bd. 5: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber. Hg. von Klaus Stichweh. Stuttgart 1988, S. 356. Zit. n. Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 45. 24 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 82.
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senschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt.“25 Das Gebot ökonomischer Unabhängigkeit ist zugleich von einiger politischer Bedeutung, da die Zugehörigkeit zu bürgerlichen Gesellschaftsschichten nicht dynastisch reglementiert wird, sondern dem bürgerlichen Selbstverständnis nach allen Tüchtigen offensteht. Besonders in der ersten Hälfte des Jahrhunderts entspricht diese Auffassung den gesellschaftspolitischen Ideen eines Frühliberalismus, der eine bürgerliche Gesellschaft, in der ein „jeder sein gesichertes Auskommen haben sollte ohne allzu große Unterschiede des Vermögens“26, anstrebt, sich jedoch angesichts des kapitalistischen Siegeszugs der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend als Utopie erweist. Überhaupt ist das 19. Jahrhundert nicht trotz, sondern gerade wegen des beschleunigten Fortschritts in allen Bereichen des privaten wie gesellschaftlichen Lebens für große Bevölkerungsteile auch ein Jahrhundert der Desillusionierung, des Traditions- und Orientierungsverlusts und nicht zuletzt diffuser Zukunftsängste. So hat etwa auf deutschem Gebiet die Ablehnung der von der Frankfurter Nationalversammlung formulierten Reichsverfassung durch Friedrich Wilhelm IV., dessen „Selbstverständnis als Monarch […] sich mit einem demokratisch fundierten Kaisertum nach Frankfurter Muster nicht vereinbaren ließ“27, das Scheitern der Revolution von 1848 besiegelt und die Hoffnungen des liberalen Bürgertums auf politische Partizipation in Resignation umschlagen lassen. Neben konkret datierbaren Ereignissen ist es vor allem ein allgegenwärtiger Modernisierungsdruck, der dem Individuum eine „rationalisierte und sozial disziplinierte Lebensführung“28 abverlangt und dafür sorgt, „daß die ‚objektiven‘ Verhältnisse sich seit der Mitte des Jahrhunderts rascher und radikaler [ändern, S.V.], als die Menschen dies in ihren subjektiven Einstellungen, ihren mentalen Prägungen, ihren Verhaltensnormen und Wertekanones […] auffangen und nachvollziehen“29 können. Besonders zum Ende des Jahrhunderts hin führt das
|| 25 Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch. Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. [1793] In: Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1977, S. 151. 26 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 92. Bauer verweist an dieser Stelle auf Lothar Gall: Liberalismus und ‚bürgerliche Gesellschaft‘. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324–356. 27 Dieter Hein: Die Revolution von 1848/49. 5., durchgesehene und aktualisierte Auflage. München 2015. S. 123. 28 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 96. Bauer verweist diesbezüglich auf Ulrike Vogel: Einige Überlegungen zum Begriff der Rationalität bei Max Weber. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 25 (1973), S. 532–550. 29 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 99.
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weitverbreitete Gefühl, den Weg in die Moderne mit einer überrationalisierten Gegenwart bezahlt zu haben, zu anti-modernistischen Reflexen wie z. B. der nicht zuletzt auch von literarischer Seite befeuerten Konjunktur einer Agrarromantik, die mit idealisierten Vorstellungen vom dörflichen Leben und einer naturverbundenen, bäuerlichen Existenzweise die hektische und vor allem anonyme Lebenswirklichkeit der Städte kontrastiert.30 Nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern in ganz Europa greifen zudem fatalistisch-düstere Zukunftsängste innerhalb der bürgerlichen Elite um sich, befeuert dadurch, dass durch den „gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozeß“31 des 19. Jahrhunderts neue soziale Schichten entstehen, die zunehmend selbstbewusst ihren Anteil an den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Errungenschaften der Zeit einfordern. Die Angst traditioneller Eliten vor dem Aufstieg ‚unterbürgerlicher‘ Schichten, vor den Instinkten und Affekten einer ‚niederen‘ Masse, die nach Kräften als triebgesteuert und ungebildet stigmatisiert wird, schlägt sich in einer nervösen Untergangsstimmung nieder, die unter dem Signum des ‚Fin de siècle‘ gleichfalls literarisch verarbeitet wird.32 Insbesondere die Neuausrichtung der modernen Arbeitswelt an industriellen Fertigungsmethoden, deren fabrikmäßige Produktionsweise eine Trennung von Erwerbs- und Familienleben unumgänglich macht, wirkt sich auf die privaten Lebensverhältnisse der Menschen aus und führt zu einem grundlegenden Wandel innerhalb von Familienstrukturen und Geschlechterverhältnissen. Zwar sind je nach Geschlechtszugehörigkeit zugewiesene Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die Idee jedoch, dass ein ganzheitliches Menschsein (sprich: ‚Mannsein‘) allein durch die Verschmelzung zweier von ‚Natur‘ aus auf gegenseitige Ergänzung angelegten Geschlechter zu verwirklichen
|| 30 Zu denken wäre hier etwa an das zeitgenössisch populäre Genre der ‚Dorfgeschichte‘, dessen Erfolg und Geschichte nachgezeichnet wird bei Bettina Wild: Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus. Mit Exkursen zur englischen Literatur. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften 723) Würzburg 2010. 31 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 96. 32 „Fin de siècle war zunächst der Titel eines überaus erfolgreichen Bühnenstücks auf dem Pariser Boulevardtheater 1884 [...] und avancierte schnell und über Frankreich hinaus zum Namen für eine Haltung: Der Ausblick auf das Jahrhundertende versetzte, allem wissenschaftlichen und industriell-technischen Fortschrittsoptimismus zum Trotz, in eine Endzeit- oder Untergangsstimmung [...].“ Aus: Benedikt Jeßing: Neuere deutsche Literaturgeschichte. Eine Einführung. 3., durchgesehene Auflage. Tübingen 2015, S. 193.
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sei, stellt eine Neuerung des ausgehenden 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts dar.33 Waren Aussagen über die Verschiedenheit der Geschlechter bis dato in erster Linie Aussagen über die soziale Stellung der Geschlechter innerhalb der Hausgemeinschaft, etwa dass eine „Frau oder [ein, S.V.] Weib eine verehelichte Person [ist], so ihres Mannes Willen und Befehl unterworfen, die Haushaltung führet, und in selbiger ihrem Gesinde vorgesetzt ist“34, werden solche Standesdefinitionen von Geschlecht sukzessive abgelöst durch geschlechtlich bestimmte Charakterdefinitionen, die nicht länger auf Tätigkeit, sondern ‚Biologie‘ verweisen. Entsprechend setzt mit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Wandel des Bezugssystems geschlechtlicher Zuschreibungen ein, der analog zur Ablösung der vorherrschenden Sozialform des ‚ganzen Hauses‘ durch das Modell der bürgerlichen (Klein-)Familie verläuft und bislang relevante Bezugsgrößen wie ‚Hausvater‘ oder ‚Hausmutter‘ durch ein „universales Zuordnungsprinzip“35 ersetzt, das Mann und Frau durch ‚geschlechtstypische‘ Eigenschaften definiert. Um angesichts der Erosion traditioneller Ordnungs- und Orientierungsmodelle das Verhältnis der Geschlechter zueinander auch weiterhin im Geiste männlicher Vorherrschaft organisieren zu können, dient das Konzept der ‚Geschlechtscharaktere‘ als Fundament einer nunmehr biologisch legitimierten Ungleichheit, so dass mit Blick auf die sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen „ein die Verhältnisse stabilisierendes neues Orientierungsmuster an die Stelle des veralteten“36 rückt. Dies scheint aus patriarchaler Perspektive umso nötiger, als dass im Zuge der revolutionären Umbrüche in Frankreich weibliche Forderungen laut werden, die eine Emanzipation der Frau von ihrer angestammten Rolle im Hausvatertum des 18. Jahrhunderts und eine gleichberechtigte Teilhabe in sozialen wie politischen Angelegenheiten verlangen. Die Ausgrenzung der Frau von gesellschaftlicher wie politischer Macht bedurfte entsprechend einer modifizierten Grundlage, woraufhin um die Jahrhun-
|| 33 Die folgenden Erläuterungen zu den historischen Bedingungen einer Neuausrichtung traditioneller Geschlechtermodelle im 19. Jahrhundert beziehen sich, soweit nicht anders markiert, auf: Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit. Neue Forschungen. Hg. von Werner Conze. (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte 21) Stuttgart 1976, S. 363–393. 34 Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 9: F. 2., vollständig photomechanischer Nachdruck [der Ausg.] Halle u. Leipzig 1735. Graz 1994, Sp. 1767. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 370. 35 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 370. 36 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 371.
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dertwende die Existenz eines Naturprinzips nebst verschiedener Naturzwecke von Mann und Frau proklamiert wird, wodurch die Aufspaltung des aufklärerischen Ideals des vernunftbegabten Individuums in eine speziell weibliche Vernunftvariante und eine ausdrücklich männliche betrieben wird, so dass die geschlechtliche Vereinigung beider als die Vollendung von Humanität schlechthin erscheint. Wenig überraschend besteht der diesem Leitbild nach ‚vernünftige‘ Naturtrieb des weiblichen Geschlechts zuvorderst darin, „einen Mann zu befriedigen“37, nämlich im Großen wie im Kleinen einer Männerwelt zu assistieren, die zum Erhalt des eigenen Vorteilssystems und unter Berufung auf vermeintliche Naturgesetze von der „dreifachen Bestimmung des Weibes – der zur Gattin, zur Mutter und zur Vorsteherin des Hauswesens –“38 kündet. Im Zuge eines epochalen Orientierungsbedürfnisses, das Geschlecht noch vor Klasse, Alter oder Beruf zur zentralen Kategorie des 19. Jahrhunderts werden lässt,39 findet diese neue Geschlechterpsychologie ebenfalls Eingang in die Philosophie und Anthropologie der Zeit, so dass sich Vorstellungen von der biologischen Bestimmung der Frau auf breiter Ebene durchsetzen und das weibliche Geschlecht im Geiste eines sakrosankten Familialismus zu einer ‚bürgerlichen Reproduktions- und Edukationsinstanz‘ werden lassen. Die Konstruktion antagonistischer, nach einem bestimmten Muster aufeinander bezogener Geschlechtscharaktere eignet somit in erster Linie „der ideologischen Absicherung von patriarchaler Herrschaft“40, da eine derartige Geschlechtercharakterologie das moralische Fundament bereitet, um Frauen auf legitime, weil nur ‚natürliche‘ Weise innerhalb der Grenzen von Ehe und Familie zu situieren und damit von männlichen Vorteilswelten auszuschließen. Als ein Orientierungsmuster von umfassendem Geltungsanspruch schlägt sich die Geschlechtercharakterologie sogar in explizit liberalen Rechtsdiskursen nieder, die sich ungemein bemüht zeigen, die ungleichen „Rechtsverhältnisse
|| 37 Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. 1. Anhang: Familienrecht. In: Johann Gottlieb Fichte: Werke. Auswahl in 6 Bänden. Mit mehreren Bildnissen Fichtes. Hg. von Fritz Medicus. Leipzig 1908, S. 319. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 373. 38 Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet. Braunschweig 1791, S. 85. 39 Vgl. Antje Harnisch: „Die Sucht, den Mann zu spielen“ in Gottfried Kellers Realismus. In: The German Quarterly 68.2 (1995), S. 147. 40 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 375.
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[von Mann und Frau als, S.V.] schon durch die Natur selbst bestimmt“41 darzulegen, um auf diese Weise liberale Gleichheitsideale mit der systematischen Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts in Einklang zu bringen und die Geschlechterungleichheit innerhalb des bürgerlichen Rechts festzuschreiben. Die rechtliche wie auch gesellschaftliche Bescheidung weiblicher Kompetenz auf den Erhalt von Heim und Familie erscheint somit nicht als Diskriminierung, sondern im Gegenteil als Anerkennung der weiblichen ‚Natur‘, welche entsprechend mit Vehemenz gegen emanzipatorische Begehrlichkeiten erster Frauenbewegungen verteidigt wird und etwa Forderungen nach gymnasialer oder universitärer Bildung für Frauen als eine schwerwiegende „Gefährdung der Mutterschaft […] angesichts des ‚physiologischen Schwachsinns des Weibes‘“42 begreift. Die beschriebene Ausgrenzung der Frau aus dem öffentlichen Bereich korrespondiert einer ideologischen Festlegung der Geschlechter auf eine weibliche Disposition zur Pflege der Familie und eine männliche Prädestination zur Auseinandersetzung mit der Welt. Folglich ist die ‚Disjunktheit‘ der Geschlechter – die physiologische wie charakterliche Eindeutigkeit von Frau und Mann – um des Erhalts einer solchen Geschlechterordnung willen unbedingt und jederzeit zu wahren, so dass jegliche Vermischung der Geschlechtscharaktere rigoros als ein „Herabsinken der Humanität“43 stigmatisiert wird. Für den alleinverdienenden Mann des 19. Jahrhunderts nämlich, der seiner Erwerbsfunktion nicht mehr in bäuerlicher Tradition, sondern in der arbeitsteiligen Industrieproduktion seiner Zeit nachgeht und hierfür Heim und Familie während des Tages verlassen muss, wird das weibliche Geschlecht zu einem unentbehrlichen Regulativ der eigenen Innerlichkeit, da „[o]hne Weib […] für jede feinfühlende Seele das heutige Leben nicht zu ertragen [wäre]“44. Gerade weil die Frau als „die poetische Seite der
|| 41 Carl Welcker: Geschlechtsverhältnisse [Art.]. In: Staats-Lexicon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften. Bd. 6: F bis G. Hg. von Carl von Rotteck und Carl Welcker. Altona 1838, S. 629–665, S. 630. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 375. 42 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 376. Hausen bezieht sich auf das zeitgenössische Werk Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes von Paul Julius Möbius (Halle 1900), das sie in eine Reihe antifeministischer Polemiken einordnet, die sich allesamt gegen eine erstarkende Frauenbewegung richten. 43 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 378. Hausen verweist bezüglich der Stigmatisierung geschlechtlicher Uneindeutigkeit auf Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber: Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste. 1. Sect.: A–G. Theil 63: Geschlechtsapparat – Gesen. Leipzig 1856, S. 39f. 44 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. Erster Band. Fünfte völlig umgearbeitete Auflage, Leipzig 1871, S. 500. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 378.
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Gesellschaft“45 in ihrer häuslichen Isolation „den gemeinen Berührungen des Lebens entzogen“46 ist, wird sie zur Versöhnungsutopie für den von der Arbeitswelt und seinen öffentlichen Pflichten ermattet heimkehrenden Mann, der in seiner fürsorglichen Gattin die erhoffte Aussöhnung mit einer als unwirtlich wahrgenommenen Außenwelt findet. Um die Funktionalität des weiblichen ‚Komplementärgutes‘ dauerhaft sicherzustellen, gilt es somit, kontraproduktive Einflüsse etwa durch Erwerbsarbeit oder Bildung vom weiblichen Geschlecht fernzuhalten, damit der emotionale Hort in Haus und Ehe keinesfalls „aufgeklärt, […] herzenskalt, […] [oder, S. V.] bewußt“47 wird. Entsprechend verfestigt sich im 19. Jahrhundert – selbst innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung – die Idee, „daß es die ‚Kulturaufgabe‘ der Frauen sei, in der inhumanen Männerwelt durch Weiblichkeit mehr Humanität zu verwirklichen“48, so dass sich die allseits gepflegte Polarisierung der Geschlechter als „Reaktion auf und zugleich Anpassung an eine Gesellschaftsentwicklung“49 erklärt, der angesichts sich ausdifferenzierender Lebens- und Arbeitswelten Ganzheitlichkeit nurmehr in der geschlechtlichen Vereinigung innerhalb der Ehe vorstellbar scheint. Dass diese zur Begründung männlicher Versöhnungsutopien und Vorzugsrechte stark polarisierte Geschlechterlogik eine maßgeblich bürgerliche Erfindung ist, zeigt ein Blick auf jene Erwerbswelten, in die das neue Alleinverdienertum des Mannes noch nicht Einzug gehalten hat, so dass etwa eine offensichtlich bürgerlichen Geschlechtervorstellungen verpflichtete Enzyklopädie von 1878 mit Blick auf bäuerliche Bevölkerungsteile zu beobachten meint, „daß Stimme, Gesichtszüge und Benehmen der beiden Geschlechter in dieser niederen Schicht sich sehr ähnlich sind […].“50 Da zudem auch in der neu entstehenden Schicht der Lohnarbeiter Frauen und Töchter weiterhin ihren Anteil am Einkommen durch Erwerbsarbeit beisteuern, beschränkt sich die Praxis einer vollständigen Entkoppelung von Erwerbsund Familienleben historisch gesehen vorrangig auf das Beamtenbürgertum, in
|| 45 Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung, S. 500. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 378. 46 Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung, S. 500. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 378. 47 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2. Auflage. Berlin 1912, S. 197. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 380. 48 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 380. 49 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 381. 50 Karl Adolf Schmid: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bearb. von einer Anzahl Schulmänner und Gelehrten. Bd. 2: Dankbarkeit – Globus. 2., verbesserte Auflage. Gotha 1878, S. 1018. Zit. n. Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 382.
Literarischer Realismus: Real, aber nicht realistisch | 15
welchem allein der im exklusiv männlichen Staatsdienst tätige Mann den Unterhalt der Familie sichert. Aufrechterhalten bzw. reproduziert wird diese bürgerliche Praxis polarisierender Geschlechterzuschreibungen maßgeblich durch Bildung und Erziehung. So bringt das Modell der ‚Geschlechtscharaktere‘ nicht zuletzt ein detailliertes bürgerliches Bildungsprogramm hervor, das seine männlichen Adressaten in mathematisch-rationalen Denkungsarten auf die anstehende Berufsausübung vorbereitet, während den Töchtern der Zeit bevorzugt jene Bildungsinhalte vermittelt werden, die der weiblichen Emotionalität als angemessen und folglich geeignet erscheinen, um gesellschaftsfähige junge Frauen für den „Ehe- und Familienzweck“51 zu konfigurieren. Analog hierzu etabliert sich innerhalb der patriarchalisch organisierten Bürgersfamilie „eine effiziente Form der generationsweisen Durchsetzung“52 dieses Geschlechtermodells, indem die frühkindliche Sozialisation bzw. die emotionale Stabilisierung des Nachwuchses ausschließlich von weiblicher Seite praktiziert wird, während insbesondere für die Söhne die Zeit der mütterlichen Obhut endet, sobald „das Training zur sozialen Durchsetzungsfähigkeit […] auf dem Erziehungsplan steht.“53 Weil dieses Programm wiederum eine exklusiv männliche Angelegenheit ist, verfestigt die Vermittlung von Gehorsam und Triebkontrolle durch den Vater das Bild einer grundlegenden Verschiedenheit der Geschlechter. Was sich folglich schon früh einprägt, ist die Idee männlich-väterlicher Disziplinierung auf der einen und eines weiblich-mütterlichen Lustprinzips auf der anderen Seite, so dass das Konzept polarisierter ‚Geschlechtscharaktere‘ bereits im Moment der Vermittlung als von einem unleugbaren, weil sich stets aufs Neue (selbst) bestätigenden Realitätsbezug internalisiert wird.
1.3 Literarischer Realismus: Real, aber nicht realistisch Die Frage nach der Verfasstheit bzw. dem rechten Bezug (von Literatur) zur Realität ist es auch, die den poetischen Diskurs insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt. Gemeinhin als Epoche des bürgerlichen oder auch poetischen Realismus bekannt,54 etabliert sich in den Nachwehen der Märzrevo|| 51 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 388. 52 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 392. 53 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 392. 54 Die Problematik des literaturgeschichtlichen Epochenbegriffs wird an dieser Stelle bewusst nicht dezidiert erörtert. Auf eine Differenzierung etwa von Periodisierung, Epochenklassifikation und Epochenbeschreibung wird zugunsten eines vereinfachten Epochenbegriffs verzichtet,
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lution von 1848 ein Literaturprogramm,55 das nicht zuletzt unter dem Eindruck einer gescheiterten Revolution als „eine ästhetische und literarische Antwort auf die Entzauberung der Welt“56 durch eine als prosaisch empfundene ‚Moderne‘ zu verstehen ist. Eine literaturwissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage „Was ist Realismus?“57 ist jedoch nicht so einfach zu geben wie es die Geläufigkeit zentraler Begriffe zunächst vielleicht vermuten lässt. Vielmehr bedarf es gerade angesichts der alltagssprachlichen Vertrautheit von Begriffen wie ‚Realismus‘ oder auch ‚realistisch‘ einer terminologischen Bestimmung, da diese nicht nur in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen, sondern auch in kunst- und literaturtheoretischen Diskursen begegnen, wo sie etwa zum Zwecke einer poetologischen Standortbestimmung oder auch als Beschreibungskategorie einer rückblickend den literarischen Bestand ordnenden und systematisierenden Literaturwissenschaft Verwendung finden. Gemein ist diesen unterschiedlichen Verwendungsweisen von ‚Realismus‘ „der Bezug auf eine je epochenspezifische Konzeption von ‚Realität‘, die eine unabhängig vom Beobachterbewusstsein existente Außenwelt annimmt, deren natürliche und kulturelle Wirklichkeit Kunst und Literatur nachzuahmen oder darzustellen beanspruchen.“58 Ein dergestalt konzipierter Realitätsbegriff verweist unweigerlich auf die soziale Konstruiertheit von ‚Wirklichkeit‘, so dass jeglicher || der jedoch ausdrücklich impliziert, dass „aufgrund neuer Überlegungen und Ergebnisse [...] eine bislang Konsens findende Epochenklassifikation durch einen abweichenden Vorschlag“ aktualisiert werden kann. Aus: Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Hg. von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 119) Berlin u. a. 2012, S. 31–65, S. 33. 55 Zu beachten ist die „im Vergleich zu Deutschland radikal andere „nachrevolutionäre Konstellation“ in der Schweiz“, die hinsichtlich „der politischen Verfassungswirklichkeit [...] einen ungleich avancierteren Stand im Rahmen des Modernisierungsprozesses“ aufweist als das nachrevolutionäre Deutschland. Aus: Michael Böhler: „Fettaugen über einer Wassersuppe“ – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller. Die Diagnose einer Verselbstständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe. In: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Hg. von Thomas Koebner und Sigrid Weigel. Opladen 1996, S. 292–305, S. 293. 56 Wolfgang Riedel: Das Wunderbare im Realismus (Droste, Gotthelf, Keller, Storm). In: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Sabine Schneider u. Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 73–94, S. 74. 57 Soweit nicht anders markiert, orientiert sich die folgende Einführung an: Claus-Michael Ort: Was ist Realismus? In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hg. von Christian Begemann. Darmstadt 2007, S. 11–26. 58 Ort: Realismus, S. 11.
Literarischer Realismus: Real, aber nicht realistisch | 17
Verweis auf ‚Realität‘ zu einem Verweis auf das zeitgenössische Wissen über ‚Realität‘ wird, welches „die fundamentalen ontologischen Annahmen der Kultur“59 spiegelt und damit den Rahmen der möglichen Realitätskonstruktionen dieser Kultur absteckt. Abgesehen von philosophischen Reflexionen des Realitätsbegriffs besteht Einigkeit zwischen Autoren und Literaturkritikern des 19. Jahrhunderts darin, dass unabhängig vom Grad der poetischen Gestaltung einzig und allein „die ganze wirkliche Welt“60 Gegenstand und „unbestrittene[r] Referenzraum aller realistischen Kunst und ihrer poetischen Fiktionen“61 zu sein hat. Unter explizit ästhetischer Perspektive propagiert der zeitgenössische ‚Realismus‘ „das Konzept einer poetisch überformten Wirklichkeits- beziehungsweise Naturnachahmung“62, dessen Ziel es sei, „die auch in der Moderne noch nicht ganz verschwundene Spur des Schönen im Realen [zu, S.V.] enthüllen oder aber den Widerspruch zwischen Tatsächlichkeit und Ideal in einer Art ästhetischen ‚Synthese‘“63 aufzulösen. Der Anspruch des Realismus, die (außerliterarische) Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft ‚realistisch‘ abzubilden, dabei jedoch zugleich den „ästhetischen Mehrwert“64 der poetischen Darstellung zu reflektieren, führt, wenn nicht zu einem Widerspruch, so doch zumindest zu der Maßgabe, Nachahmung (Mimesis) und Gestaltung (Poesis) in ein harmonisches Verhältnis zu setzen. Das Problem der Beziehung von außerliterarischer Realität und literarischer Zeichenproduktion, das bereits lange vor der Formulierung realistischer Programmatik als solches erkannt wurde,65 erweist sich für die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gar als ungemein inspirierend, zumal eine zentrale Forderung der zeitgenössischen Literaturtheorie lautet, die eigene Gegenwart nicht einfach „ungefiltert abzubilden mitsamt ihren unerquicklichen ‚Roheiten [!] und Miss-
|| 59 Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von Michael Titzmann. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 33) Tübingen 1991, S. 395– 438 , S. 408. Zit. n. Ort: Realismus, S. 12. 60 Friedrich Theodor Vischer: Overbecks Triumph der Religion. In: Friedrich Theodor Vischer.: Kritische Gänge. Bd. 5. Leipzig 1841, S. 24f. Zit. n. Riedel: Das Wunderbare im Realismus, S. 74. 61 Riedel: Das Wunderbare im Realismus, S. 74. 62 Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848–1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009 , S. 42. 63 Riedel: Das Wunderbare im Realismus, S. 74. 64 Riedel: Das Wunderbare im Realismus, S. 74. 65 Ort verweist diesbezüglich auf Aristoteles’ Poetik und deren Rezeption durch die Literaturtheorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Vgl. Ort: Realismus, S. 13.
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bräuche[n]‘“66, sondern mit den Mitteln der Poesie herauszuarbeiten, „was ihr als ‚Anlage‘, als Möglichkeit, als ‚reale Utopie‘ gleichsam, innewohnt, um ‚in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift‘.“67 Die bürgerliche Gesellschaft, die den Autoren und Kritikern der Zeit in vielerlei Hinsicht als eine real erfahrbare „Wirklichkeit der Idee“68 gilt, bestimmt folgerichtig die Sujets der literarischen Produktion und prägt einen bürgerlichen Realismus, der das Schöne und Ideale nicht allein ästhetisch definiert, folglich der Kunst bzw. dem Können des Autors in die Hände legt, sondern das wahrhaft Schöne als der bürgerlichen Welt inhärent begreift. Auf diese Weise wird der realistische Autor zu einem Archäologen, der seine Wirklichkeit hoch selektiv in Augenschein nimmt und alle Erscheinungen, die per ‚realistischer‘ Definition nicht zum Schönen fähig sind, von der Darstellung ausschließt. So hat etwa der „Wahnsinn […] ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazareth und die Folter“69 und gerät entsprechend ebenso unter einen programmatischen Bann wie eine Darstellungsweise, die sich im Individuellen oder Zufälligen verliert und darüber das Allgemeingültige und Essenzielle der Wirklichkeit aus den Augen verliert. Eine bloß fotografische Abbildung von Realität wird als Ausdruck eines seelenlos kopierenden Naturalismus zudem mit der gleichen Entschiedenheit zurückgewiesen wie ein unreflektiert idealistischer Realitätsbezug, der in seiner Fixierung auf das Ideal in die Fantastik abzugleiten droht. Folgerichtig kommt einem im Geiste einer „ideale[n] Verklärung des Realen“70 sich programmatisch verstehenden Realismus eine Mittlerposition zu, die je nach Akzentuierung einen mehr außerliterarisch-fremdreferentiell fokussierten bürgerlichen Realismus oder einen verstärkt auf die eigene Kunstproduktion abhebenden poetischen Realismus hervorbringt.
|| 66 Christian Begemann: Ein weiter Mantel, doktrinäre Physiognomisten und eine grundlose Schönheit. Körpersemiotik und Realismus bei Gottfried Keller. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans Peter Ecker. Passau 1997, S. 333–354, S. 351. 67 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 351. 68 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke, Bd. 12. Hg. von Johannes Hoffmeister. Leipzig 1955. Zit. n. Ort: Realismus, S. 16. 69 Julian Schmidt: Georg Büchner. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Bd. 2: Manifeste und Dokumente. Hg. von Max Bucher u. a. Stuttgart 1981, S. 87–88, S. 87. Zit. n. Ort: Realismus, S. 17. 70 Robert Prutz: Realismus und Idealismus (1859). In: Theorie des bürgerlichen Realismus: eine Textsammlung. Hg. von Gerhard Plumpe. Stuttgart 1992, S. 130–132, S. 130.
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Je prominenter das Konzept der Verklärung als vorherrschendes künstlerisch-ästhetisches Prinzip der Epoche des Realismus hervortritt, umso konsequenter erscheint die Tendenz realistischer Texte das eigene Textsein bzw. die Beziehung von Zeichen und außerliterarischer Realität innerhalb der dargestellten Welt (mindestens) implizit zu problematisieren. Die vergangene Realität etwa von historischen Sujets kann in diesem Sinne „überhaupt nur explizit thematisiert werden, wenn zugleich ihr zeichenhafter Präsenzmodus, d. h. ihre je gegenwärtige Repräsentanz zumindest implizit thematisch wird.“71 Dieses selbstreferenzielle Moment ‚realistischer‘ Darstellung tritt beispielhaft dort zutage, wo auf der Ebene des Dargestellten in Gestalt etwa von erzählten Erinnerungen oder innerdiegetischen Lektüreakten eine nicht (mehr) gegenwärtige Realität allein durch (sprachliche) Zeichen repräsentiert wird und somit den Text in seinem Textsein erfahrbar macht. Indem folglich Zeichen „zeigen, dass sie zeigen“72, erbringen sie als „Signale fingierter Authentizität“73 den Nachweis der poetisch verklärenden Qualität eines im besten (programmatischen) Sinne ‚realistischen‘ Textes und ermöglichen als Repräsentanten absenter ‚Realität‘ zugleich die Ausweitung der darstellbaren Sujets auch auf ‚unpoetische‘ Stoffe wie Tod, Wirklichkeitsverlust oder raum-zeitliche Absenz. Gleichwohl bleiben das „Vertuschen der Künstlichkeit“74 und die Rückkopplung von ‚Realität‘ an „zeitgenössische[] Wahrscheinlichkeitsnormen und Motivierungsstandards“75 die zentralen Prinzipien einer realistischen Schreibweise, die den eigenen künstlerischen Wert vor allem in der Fähigkeit zur „Aufdeckung der von einer inessentiellen Schale eingehüllten Essenz“76 der Wirklichkeit sieht. Ein solcher ‚poetisierender‘ Realismus, der zur „Kompensation einer desorientierenden Erfahrung der Moderne […] die literarische Präsentation einer harmo-
|| 71 Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 64). Tübingen 1998, S. 2. 72 Arne Klawitter: Schriften zur Literatur [Art.]. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2014, S. 105–117, S. 108. 73 Ort: Realismus, S. 23. 74 Rosmarie Zeller: Realismusprobleme in semiotischer Sicht. In: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. 3., erweiterte Auflage. Hg. von Richard Brinkmann. Darmstadt 1987, S. 561–587, S. 570ff. Zit. n. Ort: Realismus, S. 25. 75 Ort: Realismus, S. 25. 76 Ulf Eisele: Realismus-Theorie. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit. Realismus 1848–1880. Hg. von Albert Glaser. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 36–46, S. 41. Zit. n. Begemann: Ein weiter Mantel, S. 352.
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nischen, überschaubaren, in sich kohärenten Lebensweltfiktion“77 entwirft, ist vom „Feindbild“78 des literarischen Idealismus oberflächlich betrachtet nurmehr insofern zu unterscheiden, dass er seine Vorstellung vom Schönen oder auch Idealen als den wirklichen Dingen inhärent – und somit als (potenziell) ‚real‘ begreift. In Anbetracht dieses ‚Realitätsideals‘ gibt sich der literarische Realismus folglich ausgerechnet dort, wo er den eigenen Ansprüchen am nächsten kommt, faktisch „als eine objektivistisch sich generierende Form der Realitätsvermeidung“79 zu erkennen. Dabei sind innerhalb der Autorenschaft der Epoche durchaus Unterschiede festzustellen, weniger hinsichtlich der Bestimmung des Realitätsbezugs, wohl aber in Fragen der Umsetzung ‚realistischer‘ Programmatik. Mit Blick auf die literarische Praxis Gottfried Kellers etwa wird angemerkt, dass dieser anders als mancher Zeitgenosse die als defizitär erfahrene Gegenwart seiner Epoche nicht ausblendet, gar annulliert, sondern ihr die „poetische[] Präsenz einer anders gearteten Welt“80 entgegenhält. Es ist – um beim Beispiel Keller zu bleiben – nicht der Entwurf einer alternativen Ideal-Realität, innerhalb derer die Utopie einer (Wiederherstellung der) Lesbarkeit der Welt Gestalt annimmt, sondern im Gegenteil die Darstellung strauchelnder Figuren in einer unlesbar gewordenen Gegenwart, deren beispielhaftes, geradezu paradigmatisches Scheitern eine „semiotische[] Transparenz“81 generiert, die zumindest im Rahmen der Poesie die ersehnte Lesbarkeit der Welt restituiert.
1.4 Zur Männer- und Geschlechterforschung „Kehre die [Organe] der Frau nach außen, kehre die des Mannes gleichsam zweifach gewendet nach innen, und du wirst entdecken, daß sie beide in jeder Hinsicht gleich sind.“82
So ungewöhnlich sich die Vorstellung von der Existenz nur eines Geschlechts, das anatomische Geschlechtsunterschiede als Folge eines mehr oder weniger || 77 Gerhard Plumpe: Einleitung. In: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart 1985, S. 9–40, S. 29. 78 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 351. 79 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 352. 80 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 352. 81 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 353. 82 Galenos von Pergamon (ca. 129–200). Zit. n. Franziska Schößler: Das ungewählte Geschlecht? Oder: Warum Anatomie kein Schicksal sein muss. In: ‚Geschlecht‘ in Literatur und Geschichte. Bilder – Identitäten – Konstruktionen. Hg. von Heinz Sieburg. Bielefeld 2015, S. 9–17, S. 10.
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fortgeschrittenen Entwicklungsstandes begreift, für heutige Augen auch ausnimmt, so wirkmächtig war diese Idee über zwei Jahrtausende hinweg bis hinein ins 18. Jahrhundert. Nicht Biologie wurde als Ursache unterschiedlicher Geschlechter angenommen, sondern die mangelnde Perfektion des weiblichen Geschlechts, das nach herrschender Lehrmeinung im Vergleich zum männlichen Geschlecht nicht die nötige ‚Hitze‘ hervorbringe, um das perfekte Geschlechtsorgan – nämlich einen nach außen gestülpten Penis – zu entwickeln und stattdessen eine mangelhaft-inverse Ausformung desselben in sich trage. Dieses vormoderne ‚Ein-Geschlecht-Modell‘83 mit seiner simplen, aber bildhaft-einprägsamen Analogiebildung und seinem Fokus auf den ‚wissenschaftlichen‘ Nachweis „des defizienten Entwicklungsstands der Frau“84 soll denn auch nicht seiner Thesen zur Entstehung unterschiedlicher Geschlechtskörper wegen zitiert sein,85 sondern als Beleg für die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit von Vorstellungen zu ‚Geschlecht‘. Inwieweit die Dominanz dieses Konzept „von der prinzipiellen Gleichförmigkeit des männlichen und weiblichen Körpers“86 wissenschaftsgeschichtlich belegt werden kann, ist durchaus umstritten – unbestritten und zentral für die vorliegende Untersuchung ist allein die Tatsache, dass ‚Geschlecht‘ ganz offenkundig eine Geschichte hat, folglich nicht einfach Biologie ist. Diese Erkenntnis wiederum geht zurück auf die 1970er Jahre, in denen sich im US-amerikanischen Universitätsbetrieb eine feministisch orientierte Geschlechterforschung etabliert, die eine Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht in den wissenschaftlichen Diskurs einführt. Insbesondere
|| 83 Vgl. hierzu Thomas Walter Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Aus dem Englischen von H. Jochen Bußmann. Frankfurt am Main u. a. 1992. 84 Schößler: Das ungewählte Geschlecht, S. 10. 85 Diese Thesen verweisen auf das Erkenntnisprinzip der Analogiebildung, das als eines der Hauptkriterien antiker Erkenntnislehre selbst „in anatomischen Dingen […] den Ähnlichkeitsbegriff als Grundlage für ein Erfahrungsurteil gelten ließ.“ Mit der Folge etwa, dass ein hypothetischer Analogieschluss der Zeit lautet, „daß die anatomische Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch so groß sei, daß man den Bau des letzteren aus dem des ersteren ohne weiteres erschließen könne.“ Aus: Hugo Magnus: Kritik der medicinischen Erkenntnis; eine medicin-geschichtliche Untersuchung. (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin, Heft 10) Breslau 1904, S. 52f. 86 Ulrike Klöppel: XXOXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld 2010, S. 146. Klöppel bietet ab S. 143ff (‚Metamorphosen‘: Hippokratisch-galenische und aristotelische Geschlechtermodelle) einen Überblick zu den gegen Laqueurs ‚Ein-Geschlecht-Modell‘ angeführten Einwände.
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die Formulierung des sex-gender-Konzepts87 bereitet das Fundament dafür, dass sich in der Folgezeit eine Vorstellung von ‚Geschlecht‘ durchsetzt, die auf der „Entkoppelung von körperlichem Geschlecht und sozialer Rolle“88 beruht und entsprechend die gedanklichen Grundlagen schafft, um das soziale Geschlecht als eine historisch veränderliche Kategorie zu begreifen. Eine solche dekonstruktivistische Lesart lässt „die besonders im 19. Jahrhundert verbreitete Ableitung ‚weiblicher‘ psychischer und kognitiver Charakteristika aus dem biologischen Geschlechtsunterschied“89 als eine diskursmächtige Strategie zur Sicherung patriarchaler Vorherrschaft transparent werden und begründet mit dem Konzept der Patriarchats- bzw. Herrschaftskritik einen zentralen Gegenstand akademisch-feministischer Theoriebildung innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften. Die wohl prominenteste – wenngleich selbst wiederum kontrovers diskutierte – Kritik erfährt das sex-gender-Modell durch den poststrukturalistischen Diskursbegriff Judith Butlers, die in Anlehnung an die diskurstheoretischen Schriften des französischen Philosophen Michel Foucault allein „die Sprache als den Ort, an dem soziale Wirklichkeit organisiert wird“90, begreift und im Zuge einer radikalen Dekonstruktion der Terminologie von sex und gender zu der Folgerung gelangt, dass dieses bis dato maßgebliche Konzept erkenntnistheoretisch unproduktiv sei, da auch das biologische Geschlecht (sex), „das vermeintlich Natürliche am Geschlecht, […] keine gegebene, objektive, unveränderliche Tatsache, sondern Effekt diskursiver Praxen“91 ist. Mit der gleichen Konsequenz, mit der Butler die ‚Materialisierung‘ der anatomischen Geschlechtskörper in ein weibliches und ein männliches Geschlecht als Ergebnis regulierender Normen erfasst,92 begegnet sie auch dem feministischen ‚Ideal‘ des weiblichen Subjekts und
|| 87 „I call that part of social life the „sex/gender system“, for lack of a more elegant term. As a preliminary definition, a „sex/gender system“ is the set of arrangements by which a society transforms biological sexuality into products of human activity, and in which these transformed sexual needs are satiesfied.“ Aus: Gayle S. Rubin: Deviations. A Gayle Rubin Reader. Durham/ London 2011, S. 34. 88 Eva von Redecker: Zur Aktualität von Judith Butler. Einleitung in ihr Werk. Wiesbaden 2011, S. 67. 89 Redecker: Zur Aktualität von Judith Butler, S. 67. 90 Paula-Irene Villa: Judith Butler. Eine Einführung. 2., aktualisierte Auflage. Frankfurt am Main/New York 2012, S. 20. 91 Villa: Judith Butler, S. 85. 92 Die Wirkungsmacht eines solchen Diskurses beschreibt Villa wie folgt: „Wenn Biologie und Medizin, aber auch andere Wissenschaften wie Sozialwissenschaften und Philosophie (zumindest seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) immer wieder postuliert haben, dass es von Natur aus zwei körperliche Geschlechter gibt, und wenn dieser Diskurs insofern hegemonial geworden ist, als er die Position des einzig Denkbaren eingenommen hat, dann werden sämtliche wissen-
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fordert im Zuge ihrer ‚genealogischen‘ Kritik eine „Abkehr von der Suche nach der eigentlichen, inneren, natürlichen oder sonst wie ontologischen Wahrheit einer Kategorie wie der des Subjekts.“93 Dabei steht nicht die Abschaffung des Subjekts,94 sondern vielmehr die Reformulierung eines nunmehr postsouverän zu denkenden Subjekts an, das in Bezug auf seine Subjektivation (Subjektwerdung) die Abhängigkeit von machtvollen Diskursen (an-)erkennt und sich gewahr wird, dass „[a]uch kritische, feministische Subjekte […] durch diejenigen Strukturen hervorgebracht [sind], die sie kritisieren.“95 Der Konflikt mit einer um ihr ‚Subjekt‘ gebrachten feministischen Forschungstradition, die zudem erfahren muss, dass, wollen „Frauen […] zu Subjekten werden, […] ihr Emanzipationsversuch bereits deshalb zum Scheitern verurteilt [ist], weil Subjektsein prinzipiell Unterwerfung bedeutet“96, liegt auf der Hand, soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Wichtiger nämlich – zumal in Bezug auf das (Selbst-)Verständnis der in den zu untersuchenden Texten dargestellten bürgerlichen Lebenswelten – ist die am Beispiel Butlers aufgezeigte Problematisierung eines Subjektbegriffs, der als ein zentraler philosophischer Begriff seine neuzeitliche Definition maßgeblich durch die Schriften René Descartes‘ erfährt und infolgedessen den sich selbst reflektierenden, autonomen Geist zu einem Subjekt bestimmt, das in einer dualistischen Setzung vom materiell erfahrbaren Körper getrennt wird. Die in der Tradition Descartes sich etablierende Bestimmung des Subjekts als „eine selbsttransparente, selbstbestimmte, souveräne Instanz des Erkennens und Handelns“97 geht folglich einher mit einer Aufspaltung des Individuums in Körper und Geist auf Grundlage einer binären Codierung, die „niemals neutral, sondern immer schon hierarchisiert ist, insofern stets ein Term des Oppositionspaares gegenüber dem anderen privilegiert wird, sodass die eine Seite immer als das Negative des
|| schaftliche Untersuchungen und unser aller Blick auch immer nur zwei von Natur aus unterschiedene Geschlechtskörper wahrnehmen.“ Villa: Judith Butler, S. 86. 93 Villa: Judith Butler, S. 40. 94 Wichtig ist hierbei der Hinweis Villas, dass ‚Subjekt‘ nicht mit Individuum gleichzusetzen sei, „sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur.“ Aus: Villa: Judith Butler, S. 39. 95 Villa: Judith Butler, S. 159. 96 Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008, S. 95. 97 Elisabeth Sattler: Die riskierte Souveränität. Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität. Bielefeld 2009, S. 9.
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anderen erscheint (Mann/Frau, Geist/Körper, Kultur/Natur […]).“98 Die Fest- bzw. Fortschreibung dualistischen Denkens ist ein zentraler Aspekt des ‚modernen‘ Geschlechterdiskurses, der Zuschreibungen von ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ systematisch hierarchisch auflädt und auf diese Weise der Legitimierung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Macht assistiert. Weil zudem nach neuzeitlicher Definition allein das erkennende Subjekt die Welt und ihre Erscheinungen unterwerfen, nämlich auf die Gesetze der eigenen Erkenntnis verpflichten kann, ist Macht untrennbar mit einem Subjektbegriff verknüpft, der männliche Vorherrschaft als eine logische Konsequenz aus der Überwindung alles Stofflichen durch den autonomen (männlich konnotierten) Verstand begreift. Die hieraus resultierende Forderung nach Zweigeschlechtlichkeit und strikter Geschlechtertrennung begründet in der dekonstruktivistischen Geschlechtertheorie das Fundament männlich-patriarchaler Vorherrschaft, indem auf diese Weise ein jedes Subjekt in eine sog. ‚heterosexuelle Matrix‘ integriert wird, die über die Intelligibilität von Geschlecht bzw. geschlechtlichem Erleben wacht. Butlers Idee einer heterosexuellen Matrix beschreibt somit die Art und Weise, wie [d]ie Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität […] die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung [erfordert und reguliert], in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet. Diese Differenzierung vollendet sich durch die Praktiken des heterosexuellen Begehrens.99
Als „strukturierende Logik für die Konstitution intelligibler Subjekte“100 verpflichtet dieses Geflecht aus Normen, Beziehungen und Kohärenzen das mit der eigenen Geschlechtlichkeit konfrontierte Individuum zur Identifikation mit einer als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ normierten Geschlechtsidentität, die in unauflöslicher Weise an einen geschlechtlich als eindeutig anzuerkennenden Körper gekoppelt ist und eine heterosexuelle Fixierung auf das jeweils andere Geschlecht impliziert. Für die vorliegende Arbeit ist das beschriebene Modell vor allem seiner impliziten ‚Gesetzeskraft‘ bzw. unausgesprochenen Sanktionsdrohungen wegen von Interesse: || 98 Anna Babka/Matthias Schmidt: Binarität [Art.]. In: Anna Babka/Gerald Posselt: Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie. Unter Mitarbeit von Sergej Seitz und Matthias Schmidt. Wien 2016, S. 45–46, S. 45. 99 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. 17. Auflage. Frankfurt am Main 2014, S. 46. 100 Gundula Ludwig: Hegemonie, Diskurs, Geschlecht – Gesellschaftstheorie als Subjekttheorie, Subjekttheorie als Gesellschaftstheorie. In: Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven. Hg. von Iris Dzudzek, Caren Kunze u. Joscha Wullweber. Bielefeld 2012, S. 105– 126, S. 107.
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Als ein solcher Diskursapparat erzeugt die heteronormative Matrix eine spezifische, von einem ontologischen Geschlechterdualismus ausgehende Epistemologie, so dass Abweichungen von eindeutigen Weiblichkeits- und Männlichkeitsmustern automatisch als widernatürlich begriffen werden, als unintelligibel erscheinen und Sanktionierungen anheimfallen.101
Das Modell der Zweigeschlechtlichkeit repräsentiert demgemäß ein „wesentliches symbolisches Ordnungssystem“102, welches durch seinen vorreflexiven Geltungsanspruch Sexualität dahingehend reguliert, dass nur „jenes Geschlecht […] zum Objekt des Begehrens werden [kann], das nicht auch gleichzeitig Identifikationsobjekt ist.“103 Da es kein ‚Außerhalb‘ dieser das abendländische Denken dominierenden Vorstellung von Geschlecht gibt, eignen sich die skizzierten Theoreme der Geschlechterforschung folglich ebenso für eine Untersuchung literarischer Figurenentwürfe, um auf diese Weise vermeintlich ‚natürliche‘ Eigenschaften von Geschlecht wie Zweigeschlechtlichkeit oder heterosexuelles Begehren als durch Naturalisierungsstrategien in ihrem Konstruktionscharakter ontologisch verklärt dekonstruieren zu können. Von dieser Geschlechterideologie ausgehend brachte und bringt der abendländische Diskurs zudem eine Vielzahl von Weiblichkeitsimaginationen in Kunst und Literatur hervor, die in eklatantem Widerspruch zur ‚Schattenexistenz‘ realer Frauen steht und durch Silvia Bovenschens ‚Schlüsselwerk‘104 Die imaginierte Weiblichkeit105 eine akademische Sichtbarkeit erfuhr, die auch für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist.
|| 101 Franziska Bergmann: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten. Würzburg 2015, S. 34. In Ergänzung Butlers verwendet Bergmann den Begriff der heteronormativen Matrix, „um der Annahme vorzubeugen, jede Form von heterosexuellem Begehren korreliere unweigerlich mit normativen Vorstellungen." (S. 33) 102 Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – Heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. (Geschlecht und Gesellschaft 36) Opladen 2003, S. 105. 103 Hänsch: Individuelle Freiheiten, S. 105. 104 Vgl. Inge Stephan: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. In: Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. Hg. von Martina Löw u. Bettina Mathes. Wiesbaden 2005, S. 120–134. Stephan stellt fest, dass mit dem Buch Bovenschens „die an den Universitäten sich langsam entwickelnde und etablierende ‚feministische Literaturwissenschaft‘ ihr erstes ‚Schlüsselwerk‘ erhielt, […] [das, S.V.] zusammen mit Theweleits Männerphantasien eine ganze Generation von Studierenden prägte […].“ (S. 126f.) 105 Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main 1979.
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Trotz Kontroversen innerhalb der Forschung etwa über „die zugespitzt konstruktivistische Variante der Gender-Theorie, wie sie namentlich von Judith Butler in die feministischen Debatten eingeführt wurde“106, bleibt die Auseinandersetzung mit Macht bzw. Vorherrschaft generierenden Diskursen und ihrer gesellschaftlichen Reproduktion ein zentrales Anliegen sowohl feministischer als auch dekonstruktivistisch inspirierter Geschlechterstudien, wobei durch die Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes über ‚klassisch‘ feministische Ansätze hinaus wichtige Impulse für die Entstehung einer kritischen Männerforschung in den späten 1980er Jahren in den USA gegeben wurden.107 Während sich die (akademische) Männlichkeitsforschung in Deutschland über viele Jahre hinweg vor allem auf die 1980 erschienene, psychoanalytisch inspirierte Arbeit Männerphantasien108 als „die vielleicht wichtigste, sicherlich aber wirkungsvollste Publikation auf dem Gebiet der deutschen Männer- und Männlichkeitsforschung“109 konzentrierte, entwickelte sich in den 1990er Jahren allmählich ein neuer, interdisziplinär ausgerichteter Blick auf Männlichkeit(en), der Männlichkeit nicht länger als Synonym für patriarchale Herrschaftsansprüche versteht, sondern als ein soziales Konstrukt, das von Historizität, Pluralität und auch Widersprüchlichkeit kündet. Fernab des ‚Widersachermodells‘110 der frühen feministischen Forschung wird Männlichkeit nunmehr als ein relationales Konzept verstanden, das durch schlagwortartige Bestimmungen zwischen ‚Herrschaft‘ und ‚Krise‘ nicht zu fassen ist und stattdessen unter Gesichtspunkten wie der „Spannung zwischen männlicher Dominanz und männlicher Verfügbarkeit“111 beleuchtet wird. Nachdem noch bis zum Ende der 1990er Jahre bemängelt wurde, dass es der deutschsprachigen Männerforschung „sowohl an theoretischer wie
|| 106 Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: ‚Es ist ein Junge!‘ Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit. (Historische Einführungen 11) Tübingen 2005, S. 58. 107 Erhart verknüpft den Beginn der akademischen Männerforschung in den USA mit dem Erscheinen des Sammelbandes ‚The Making of Masculinities‘ (1987). Vgl. Walter Erhart: Deutschsprachige Männlichkeitsforschung. In: Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Stefan Horlacher, Bettina Jansen und Wieland Schwanebeck. Stuttgart 2016, S. 11–25, S. 14. 108 Gemeint ist das in den 1970er Jahren an der Universität Freiburg als Dissertation (‚Freikorpsliteratur‘) entstandene und anschließend in zwei Bänden publizierte Werk: Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bände. Frankfurt am Main 1977. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Sven Reichart: Klaus Theweleits „Männerphantasien“ – ein Erfolgsbuch der 1970er-Jahre. In: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), S. 401–421. 109 Erhart: Deutschsprachige Männlichkeitsforschung, S. 13. 110 Vgl. Susan Faludi: Männer – das betrogene Geschlecht. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 632. 111 Lothar Böhnisch: Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit. Bielefeld 2018, S. 141.
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an empirischer Substanz mangelt“112, institutionalisiert sich die Forschungslandschaft um die Jahrtausendwende durch den Arbeitskreis AIM GENDER (Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung, gegründet 1999 von Martin Dinges) und entsprechende Konferenzen.113 Als eines der zentralen theoretischen Konzepte der kritischen Männerforschung hat das Modell der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ der australischen Soziologin Raewyn Connell sich in kurzer Zeit zu einer bzw. der „Leitkategorie“114 der Männerforschung entwickelt.115 Entstanden im Zuge eines bereits in frühen feministischen Arbeiten geforderten Paradigmenwechsels innerhalb der Forschung von einem Geschlechterrollenmodell, das die „Geschlechtsrolle […] als psychologische Entsprechung des biologischen Geschlechts“116 begreift, hin zu einem Verständnis von Geschlecht als Ergebnis diskursiver Zuschreibungen, bietet das Konzept Connells der noch jungen Männerforschung einen theoretischen Rahmen und ergänzt die Patriarchatskritik um eine interne Betrachtung des männlichen Geschlechts, wodurch eine „doppelte Dominanz- und Distinktionsstruktur“117 hervortritt, die das monolithische Verständnis männlicher Herrschaft dahingehend auflöst, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer durch das System des ‚Patriarchats‘ unterdrückt [werden, S.V.], und […] dass die bloße Untersuchung der Erfahrung der Unterdrückten immer nur unzulängliche Erkenntnisse über Herrschaftsstrukturen zeitigt, wenn sie nicht gleichzeitig auch die Perspektive der Herrschenden […] ausleuchtet.118
|| 112 Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 95. 113 Vgl. Erhart: Deutschsprachige Männlichkeitsforschung, S. 17. 114 Michael Meuser/Sylka Scholz: Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffserklärung aus soziologischer Perspektive. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hg. von Martin Dinges. (Geschichte und Geschlechter 49) Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 211–228, S. 211. Begründet wird die begriffliche Wahl der ‚Leitkategorie‘ damit, dass nach Auffassung der Autoren „die gesamte sozial- und geisteswissenschaftliche Männerforschung [...] von diesem Konzept mehr oder minder geprägt [ist].“ 115 Meuser sieht innerhalb der Männerforschung hauptsächlich zwei Ansätze vertreten: das Konzept des ‚Patriarchats‘ und das Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘. Vgl. hierzu Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 96. 116 Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 51. 117 Michael Meuser: Wettbewerb und Solidarität. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften. In: Koordinaten der Männlichkeit. Orientierungsversuche. Hg. von Sylvia von Arx, Sabine Gisin, Ita Grosz-Ganzoni, Monika Leuzinger u. Andreas Sidler. Tübingen 2003, S. 83–98, S. 86. 118 Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 10.
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In Abgrenzung wiederum zu diskurstheoretischen Ansätzen – zumal in Anbetracht einer eher sozialwissenschaftlich begründeten, denn philosophischen Tradition – gehen zentrale Arbeiten der Männerforschung „nach wie vor von einer vergleichsweise stabilen ‚sex‘/‚gender‘ Dichotomie“119 aus, wobei dem (Geschlechts-)Körper „als Bezugspunkt vergeschlechtlichter Praxis“120 eine prominente Stellung zukommt, von der aus die „wunderbare[] Produktivität“121 konstruktivistischer Verfahren problematisiert wird – denn wo „dem Bezeichnenden so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, geht das Bezeichnete fast verloren.“122 Von anwendungsbezogenem Interesse für die anstehenden Textanalysen ist hierbei insbesondere die von Connell eingeführte Systematisierung männlicher Handlungsmuster, die eine Typisierung bzw. Hierarchisierung von Männlichkeit(en) erlaubt, indem sie „Männlichkeit nicht als eine Eigenschaft der individuellen Person, sondern als in sozialer Interaktion – zwischen Männern und Frauen und von Männern untereinander – (re-)produzierte und in Institutionen verfestigte Handlungspraxis“123 begreift. Zum Zwecke einer solchen Strukturierung von Beziehungen und Bezugnahmen unter Männern wird in Anlehnung an das Konzept der ‚Hegemonie‘124 eine hegemoniale Form von Männlichkeit ausgehandelt, die „als ‚regulatorisches Ideal‘ für das Handeln des Mannes“125 funktioniert und dabei je nach kultureller Setzung diejenige Variante von Männlichkeit repräsentiert, „welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert“126. Ihrer Funktion als wehrhafte Autorität „an der vordersten Frontlinie des Patriarchats“127 entsprechend zum Leitbild erhoben, definiert die hegemoniale Männlichkeit das Nonplusultra ihres Geschlechts, zu dem alle anderen Erscheinungen von Männlichkeit in ein Verhältnis von Abhängig-
|| 119 Martschukat/Stieglitz: Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten, S. 58. 120 Martin Dinges: ‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – Ein Konzept auf dem Prüfstand. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hg. von Martin Dinges. (Geschichte und Geschlechter 49) Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 7–33, S. 9. 121 Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Übersetzt von Christian Stahl. Herausgegeben und mit einem Geleitwort versehen von Ursula Müller. Opladen 1999, S. 71. 122 Connell: Der gemachte Mann, S. 71. 123 Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 102. 124 Connell verweist in ihren Arbeiten auf das Hegemoniekonzept nach Gramsci. Vgl. diesbezüglich etwa: Ines Langemeyer: Antonio Gramsci. Hegemonie, Politik des Kulturellen, geschichtlicher Block. In: Schlüsselwerke der Cultural Studies. Hg. von Andreas Hepp, Friedrich Krotz und Tanja Thomas. Wiesbaden 2009, S. 72–82. 125 Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 213. 126 Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 127 Connell: Der gemachte Mann, S. 100.
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keit oder Unterordnung gesetzt werden. Weil jedoch der überwiegende Teil der Männer diesem Ideal von Männlichkeit aufgrund etwa der Einbindung in Familien- und Eheleben einschließlich entsprechender Kompromisslinien nur bedingt entsprechen kann, gleichwohl aber von der sog. „patriarchalen Dividende […], dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst“128, profitiert, verortet Connell dieses moralisch-ideologische Unterstützertum als eine Form der Komplizenschaft zum Zwecke der eigenen Vorteilssicherung. Im Unterschied zu dieser strukturellen Begünstigung können sog. ‚marginalisierte‘ Männlichkeiten zwar durchaus Attribute einer betont maskulinistisch-dominanten Erscheinung an den Tag legen, bleiben jedoch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozial untergeordneten Klasse oder auch unterprivilegierten ethnischen Gruppe im gesamtgesellschaftlichen Diskurs von der Definition hegemonialer Männlichkeit ausgenommen. Mehr noch als diese zumindest innerhalb des eigenen Milieus privilegiert auftretenden Männlichkeitsentwürfe dienen ‚untergeordnete‘ Männlichkeiten bzw. deren ausdrückliche Ausweisung aus dem Bereich des Mannseins als Definitions- und Legitimationsgrundlage der herrschenden Dominanzverhältnisse. Wenngleich auch heterosexuelle Männer aus dem Kreis legitimierter Männlichkeit(en) ausgestoßen werden können, kommt dem Ausschluss homosexueller Männer hierbei eine Schlüsselfunktion zu, da ihr systeminkompatibles Begehren vom herrschenden Geschlechterdiskurs nicht anders als durch eine „symbolische Nähe zum Weiblichen“129 begriffen werden kann, so dass eine Integration in die geltende Geschlechterlogik nur durch eine Verweiblichung der Betroffenen mit dem Resultat des Entzugs einer legitimen männlichen Geschlechtlichkeit möglich ist. Entsprechend scheint die Maßgabe der Ausgrenzung und Unterdrückung homosexueller Männlichkeit(en) weniger von einer grundlegenden Aversion gegen gleichgeschlechtliche Akte oder Lebensweisen motiviert, als vielmehr von einer männlichen Angst vor dem Verlust von Identität und Vorherrschaft angesichts geschlechtlicher Irritationen. Die Angst vor der Aufweichung konventioneller Geschlechtergrenzen – vor einem Übergriff weiblich konnotierter Attribute oder Verhaltensweisen auf die exklusive Idee ‚Mann‘ – impliziert zudem die Sorge um den Verlust männlicher Versöhnungsutopien, so dass die Ausgrenzung von Homosexualität die logische Konsequenz einer Idee von ‚Mann‘ beschreibt, die zum Selbsterhalt die strikte Trennung der Geschlechter nicht zuletzt zur Aufrechterhaltung männlicher Kompensationsphantasien braucht: || 128 Connell: Der gemachte Mann, S. 100. 129 Connell: Der gemachte Mann, S. 100.
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In den abendländisch verbreiteten ‚Frauenbildern‘ haben Männer ihre eigenen (unbewußten) Sehnsüchte und Ängste zum Vorschein gebracht und ‚verarbeitet‘; die Doppeldeutigkeit dieser Bilder […] offenbart den paradoxen Zustand der Männlichkeit zwischen (regressivem) Wunsch nach Wiedervereinigung mit der ursprünglichen Weiblichkeit (dem Mutterkörper, der Erde, dem Heim, dem Tod) und der Aufrechterhaltung einer davon gewaltsam abgespaltenen männlichen Identität.130
Ein gleichgeschlechtliches, mann-männliches Begehren unterliefe somit auf symbolische Weise die für die patriarchale Ordnung so zentrale Subjekt-ObjektIdee, die nicht zuletzt im sexuellen Begehren zum Ausdruck kommt und das Fundament bereitet, auf dessen Grundlage zwei vermeintlich von Natur aus aufeinander fixierte Geschlechter sich in explizit hierarchischer Weise miteinander verbinden. Die Überlegungen Connells zur praxisbezogenen Generierung männlicher Geschlechtsidentität werden häufig in einen ergänzenden Zusammenhang mit den soziologischen Forschungen Pierre Bourdieus gerückt, da sich mithilfe des Habitus-Konzepts des französischen Sozialwissenschaftlers „einige theoretische Unschärfen des Konzepts hegemonialer Männlichkeit beseitigen“131 lassen. Zugleich ist es gerade die Flexibilität des Ansatzes Connells, die empirisch orientierten Wissenschaftsbereichen methodische Schwierigkeiten bereitet, den Kultur- und Geisteswissenschaften hingegen zusätzliche Analysekategorien eröffnet und eine differenziertere Perspektive auf Männlichkeit(en) ermöglicht.132 Da auch Connell selbst das Konzept der hegemonialen Männlichkeit eher als einen „begrifflichen Rahmen“133 versteht, soll das von Michael Meuser zur Ergänzung bzw. Erweiterung dieses Rahmens vorgeschlagene Habitus-Konzept Bourdieus in vorliegender Arbeit dazu dienen,134 literarische Darstellungen der Sozialisation von
|| 130 Walter Erhart/Britta Hermann: Der erforschte Mann? In: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Hg. von Walter Erhart u. Britta Hermann. Stuttgart 1997, S. 3–34, S. 8. 131 Martschukat/Stieglitz: Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten, S. 57. Auch Meuser/Scholz verweisen auf die „Verknüpfung der theoretischen Ansätze von Bourdieu und Connell [...], gehen doch beide von einer Theorie der Praxis aus.“ Aus: Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 212. 132 Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle die Gefahr einer populärwissenschaftlichen Rezeption wenig konkretisierter Begrifflichkeiten im Sinne eines „catch all“-Begriffs, der geradezu inflationäre Verwendungs- und Anschlussweisen erfährt. Vgl. hierzu Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 211. 133 Connell: Der gemachte Mann, S. 111. 134 „Hegemoniale Männlichkeit ist der Kern des männlichen Habitus, ist das Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus generierten doing gender bzw. ‚doing masculinity‘ […]. Wer
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Männern in exklusiv-homosozialen Räumen auf Grundlage dieses Modells adäquat beschreiben zu können, denn „[k]onstruiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen.“135 Diesen strikt gleichgeschlechtlichen Raum braucht es, um im Zeichen des Wettbewerbs die „kompetitive Struktur von Männlichkeit“136 einzuüben, wobei „das Bemühen, einem anderen Mann – in welcher Weise auch immer – überlegen zu sein“137, nicht allein der Unterscheidung bzw. Hierarchisierung zwischen Männern dient, sondern in Gestalt von ritualisierten, entpersönlichten Wettbewerbsstrukturen zugleich ein zentrales Motiv männlicher Vergemeinschaftung darstellt. Beispielhaft für dieses Rivalitätskonzept, das nicht länger bloß der Bezwingung eines konkreten Gegenübers, sondern der Idee des Wettbewerbs an sich verpflichtet ist, lassen sich in historischer Perspektive die „Institution des Duells oder [die, S.V.] Fecht- und Trinkrituale[] studentischer Verbindungen“138 anführen, die maßgeblich das kompetitive Gegeneinander als Voraussetzung für ein gleichgeschlechtliches Miteinander kultivieren. Weil jedoch – abschließend angemerkt – literarische Texte soziologische Kategorien nicht einfach abbilden, sondern im Geiste einer ästhetisierten Vermittlung auf vielfältige Weise (re-)inszenieren, ist eine Übertragung des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit auf Literatur dahingehend einzuschränken, dass keineswegs ein genuin soziologischer Anspruch auf Grundlage literarischer Texte eingelöst werden soll.139 Vielmehr soll es angesichts literarischer ‚Realitäten‘ in erster Linie darum gehen, „den geschlechtlichen Status individueller literarischer Figuren“140 zu klären und hieran anknüpfend „Männlichkeit in ihren einzelnen Gestalten, in ihrer Polyperspektivik und in ihrer ganzen Ambiguität wahrnehmbar werden“141 zu lassen.
|| sich dem Habitus zu entziehen versucht, wird von den anderen an dessen Gültigkeit erinnert.“ Aus: Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 118f. 135 Pierre Bourdieu: Männliche Herrschaft. In: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Hg. von Irene Dölling u. Beate Krais. Frankfurt am Main 1997, S. 153–217, S. 203. 136 Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 218. 137 Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 218. 138 Meuser/Scholz: Hegemoniale Männlichkeit, S. 221. 139 Vgl. Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Bielefeld 2015, S. 15. 140 Tholen: Männlichkeiten in der Literatur, S. 15. 141 Tholen: Männlichkeiten in der Literatur, S. 15.
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Dass andererseits auch Männlichkeit selbst als eine ‚Erzählung‘ – „als eine Abfolge von Erzählmodellen und ‚narrativen Konfigurationen‘“142 – verstanden bzw. ‚gelesen‘ werden kann, zeigt Walter Erhart, der moderne Männlichkeit „als ein Ensemble von Geschichten (die der einzelnen Männer und Männlichkeit)“143 interpretiert und demgemäß vorschlägt, „Männlichkeit als eine in erster Linie narrative Struktur zu rekonstruieren.“144 Dieser Lesart zufolge internalisieren Männer die Idee Männlichkeit, „indem sie eine Geschichte darstellen, indem sie in eine Geschichte gezwungen werden, indem sie performativ eine Geschichte vollziehen“, woraufhin Männlichkeit und auch Geschlecht „als ebenso narrativ konstruiert wie […] Realität, zumindest wie zahlreiche andere Bestandteile des kulturell und sozial konstruierten Wissens“145 erscheinen. Die Idee, dass sich Männer auf Grundlage von „narrativen Verfahren, Strukturen und Prozessen […] auf die ihnen historisch und sozial vorgegebenen ‚Männlichkeiten‘ hin orientieren“146, eignet sich offenkundig insbesondere für literaturwissenschaftliche Arbeiten, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese ‚Geschichten‘ von Männlichkeit nicht außerhalb der soziologisch beschreibbaren Geschlechterordnung stehen und von daher die Fokussierung auf die Narrativität von Männlichkeit in literarischen Texten nicht ohne Beachtung der inkorporierten Herrschafts- und Machtverhältnisse, wie sie durch Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit und Bourdieus/Meusers Konzept des männlichen Habitus angezeigt werden, erfolgen kann.147
Wie eingangs erwähnt, sind die obigen Ausführungen zu Geschichte und Theorie der Geschlechter- bzw. Männerforschung als von stark komprimierter und selektiver Natur zu verstehen, allein dem Zwecke dienlich, diejenigen Aspekte von Geschlecht (Zweigeschlechtlichkeit, binäres Bezugssystem, Innenperspektive auf Männlichkeit) zu skizzieren, die dem Untersuchungsgegenstand der Arbeit als konkrete Analysekategorien eignen und in einem darüber hinausgehenden Sinne die Perspektive der vorliegenden Studie auf Geschlecht und Geschlechtlichkeit begründen.
|| 142 Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 54. 143 Erhart: Familienmänner, S. 10. 144 Walter Erhart: Das zweite Geschlecht. ‚Männlichkeit‘ interdisziplinär. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 30.2 (2005), S. 156–232, S. 207. 145 Erhart: Das zweite Geschlecht, S. 215. 146 Erhart: Das zweite Geschlecht, S. 207. 147 Tholen: Männlichkeiten in der Literatur, S. 17.
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1.5 Methodologische Vorüberlegungen Zuvorderst sei angemerkt, dass die vorliegende Arbeit durchweg in dem Bewusstsein verfasst wurde, als eine diskurstheoretisch fundierte Untersuchung literarischer Einzeltexte auf einem theoretisch wie methodisch äußerst komplexen Fundament zu fußen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Theorien oder Ansätze fachfremder Disziplinen nicht bloß als Referenznennung, sondern in ihrer teils grundverschiedenen Programmatik – bisweilen gar ‚ideologischen‘ Inkompatibilität – verstanden werden, so dass spätestens an dieser Stelle ein entsprechender Klärungs- bzw. Anpassungsbedarf offenkundig wird. Dieser lässt zwar – wie im Folgenden gezeigt wird – zunächst eine Reihe von Problemen hervortreten, stellt zugleich jedoch die einzige Möglichkeit dar, ein wenn nicht homogenes, so doch methodisch reflektiertes Analyseverfahren zu formulieren. Wie erwähnt versteht sich die vorliegende Untersuchung einer diskurstheoretischen bzw. diskursanalytischen Tradition verpflichtet, wobei sie sich einerseits auf die Schriften Michel Foucaults bezieht, andererseits jedoch die teils nicht unerheblichen Schwierigkeiten einer Übertragung der Ideen des französischen Philosophen auf die Analyse literarischer (Einzel-)Texte nicht unterschlagen will. So scheint Übereinkunft hinsichtlich des Werks Foucaults vor allem darin zu bestehen, dass eine regelgeleitete Auslegung desselben schon deshalb schwerlich denkbar ist, weil sich sein Urheber als ein dem Poststrukturalismus verpflichteter Denker der Idee von Regelhaftigkeit und einer geschlossenen Systematik per Definition widersetzt. Entsprechend hat sich disziplinübergreifend die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für Forschende ein methodisch sicheres Terrain in Bezug auf Foucaults Theorien und deren Anwendbarkeit nicht gibt. Vielmehr erinnern die Schriften des Philosophen und Psychologen an ein „verwirrendes Labyrinth, […] [einen, S.V.] vielstimmigen, veränderlichen und diskontinuierlichen Prozeß offenen theoretischen Experimentierens“148, der jeglichen Versuch einer Beschreibung des Foucaultschen Oeuvres als „ein einheitlich integriertes oder gar geschlossenes System“149 ins Leere laufen lässt, so dass der Verweis auf Widersprüche und Brüche innerhalb dieses Werks beinahe obligatorisch zu einer jeden Bezugnahme auf dasselbe gehört. Für die Literaturwissenschaft als eine die Ideen Foucaults umfangreich adaptierende, nicht jedoch je im Zentrum seines Interesses stehende Disziplin beschreibt die Tatsache, „dass Foucault kein einheitliches Theorieangebot vorgelegt hat, das sich unter dem Namen der Diskursanalyse zusammenfassen und auf
|| 148 Hinrich Fink-Eitel: Michel Foucault. Zur Einführung. Hamburg 1997, S. 19. 149 Fink-Eitel: Michel Foucault, S. 19.
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Literatur applizieren“150 ließe, ein Problem, welches nur durch eigene theoretische ‚Anpassungsarbeit‘ angegangen werden kann – eine Anleitung hierzu gibt es innerhalb des Werks jedoch nicht. Dass Foucault dennoch in unzähligen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zusammen mit dem Etikett der ‚Diskursanalyse‘ in Erscheinung tritt bzw. hinzuzitiert wird, liegt daran, dass gerade die programmatische Unbestimmtheit seines Werks es leicht macht, sich in mehr oder weniger konkreter Weise auf Foucault zu berufen, denn „[w]ie die Vermittlung von literaturwissenschaftlicher Interpretation und Diskurstheorie genau auszusehen hätte, bleibt […] eines der Geheimnisse, das Foucaults Theorie bis heute bereithält.“151 Anstatt nun in den kritischen Chor derer einzustimmen, die anmahnen, „dass nicht überall, wo Foucault drauf steht, auch Foucault drin sei, kann man heute eher sagen, dass nicht überall, wo Foucault drin ist, auch Foucault drauf steht“152, so dass Erfolg und Kritik an der Rezeption der Diskursanalyse durchaus nahe beieinander liegen. Die dahinterstehende Kritik, dass ein allzu vage interpretierter ‚Foucault‘, insbesondere die unspezifische und inflationäre Verwendung zentraler Begrifflichkeiten wie ‚Diskurs‘ oder ‚Diskursanalyse‘ kaum mehr der Komplexität des zugehörigen Theoriegebäudes entspricht, sondern bestenfalls lose Referenzbezüge statuiert, gehört entsprechend ebenso zur Rezeptionsgeschichte seines Werks. Wohlwissend um seine nach ‚klassischem‘ Wissenschaftsverständnis unorthodoxen, weil jeglichen Systematisierungsversuchen sich widersetzenden Gedankengebäuden hat Foucault selbst seine Schriften des Öfteren als eine ‚Werkzeugkiste‘ beschrieben, die analytisches Gerät bereitstellt, jedoch weder Einsatzzweck noch Anwendungsart vorgibt: [E]in Buch ist dazu da, zu Verwendungen zu dienen, die von dem, der es geschrieben hat, nicht festgelegt wurden. […] Alle meine Bücher […] sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie öffnen und sich […] einer Idee oder einer Analyse wie eines
|| 150 Achim Geisenhanslüke: Michel Foucault (1926–1984). In: Klassiker der modernen Literaturtheorie. Hg. von Matías Martínez und Michael Scheffel. München 2010, S. 259–280, S. 272. 151 Achim Geisenhanslüke: Literaturwissenschaft. [Art.] In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 331–340, S. 337. 152 Jürgen Martschukat: Geschichtswissenschaften. [Art.] In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 320–330, S. 321.
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Schraubenziehers oder einer Bolzenzange bedienen wollen, um die Machtsysteme kurzzuschließen […], umso besser!153
Werk und Auslegung stehen somit ausdrücklich nicht unter Denkmalschutz, vielmehr lädt Foucault dazu ein, eine adäquate Methodik vornehmlich am Untersuchungsgegenstand selbst zu entwickeln. Darüber hinaus bleibt das grundsätzliche Problem bestehen, dass eine literaturwissenschaftliche Einzeltextanalyse, die diskursanalytische und somit poststrukturalistische Theorien aufgreift, die Frage nach der Vereinbarkeit von ‚Interpretation‘ und den Statuten anti-hermeneutischer Modelle, deren zentrales Anliegen es gerade ist, die „Literatur vor den Interpreten zu schützen“154, zu beantworten hat. Wenngleich ‚Interpretation‘ nach heutigem Verständnis längst nicht mehr die Idee eines kunstvollen Herauspräparierens in der Tiefe der Texte verborgender und sich nur dem umfänglich gebildeten Auge des Literaturwissenschaftlers preisgebender Sinnstrukturen meint,155 stellt selbst das Hervorheben und Analysieren von Bedeutungs- bzw. Sinnstrukturen nach radikal strukturalistischer Auffassung einen Akt impliziter Interpretation dar. Dieses Spannungsverhältnis wird die vorliegende Arbeit nicht auflösen können. Sie wird sich vielmehr darin einrichten und sich bewusst hermeneutischer, strukturalistischer wie auch poststrukturalistischer bzw. dekonstruktivistischer Lesarten gleichermaßen bedienen. So ist die Kluft zwischen hermeneutischen und anti-hermeneutischen Modellen in der Theorie zwar nicht zu schließen, wohl aber in einem auf den Untersuchungsgegenstand hin konzipierten methodischen Rahmen durchaus produktiv handhabbar, zumal die poststrukturalistische Absage an jegliche Deutung in der Praxis dahingehend zu relativieren ist, dass fernab theoretischer Überlegungen „jeder Leser, wenn es nicht um den alltagssprachlich seltenen Texttypus mit eindeutiger Aussage geht, zu einer Deutung gezwungen ist.“156 Denn wenngleich unbestritten ist, dass das ‚moderne‘ Ver|| 153 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II: 1970–1975. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main, 2002, S. 887f. 154 Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen/Wiesbaden 1999, S. 28. 155 Emil Staiger etwa verweist in seinem Buch „Die Kunst der Interpretation“ gar auf die Erfordernis einer speziellen Disposition, ohne die ein ‚Interpret‘ das Wesen eines Textes nicht zu ergründen vermag: „Nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht.“ Aus: Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955, S. 13. 156 Bogdal: Historische Diskursanalyse, S. 20.
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ständnis von Literatur plurale Konglomerate an die Stelle hegemonialer Positionen hat treten und jegliche Konsensbildung in Bezug auf die Deutung von Texten damit nahezu unmöglich hat werden lassen,157 bleibt der Deutungsskepsis des Poststrukturalismus der grundlegende Einwand entgegenzuhalten, ob denn „selbst ein so genanntes einfaches Entziffern der Schrift ohne Interpretieren [überhaupt, S.V.] möglich ist“158. Die ‚Lesbarkeit von Texten‘ kann und muss die vorliegende Untersuchung entgegen anders lautender poststrukturalistischer Forderungen auch deshalb nicht aufgeben,159 weil ihr Anwendungsbezug von Diskursanalyse auf eine Analyse konkreter, diskursiv geformter ‚Gegenstände‘ (Geschlecht, Sexualität, Ökonomie) innerhalb der Textwelten zielt – und damit andere Schwerpunkte setzt als etwa eine Analyse des literarischen Diskurses ‚an sich‘. Ähnlich der doppelten Verwendung von „Literaturwissenschaft als Analyse konkreter Texte […] und Literaturwissenschaft als Theorie des literarischen Systems [Hervor.: S.V.]“160, verhält es sich folglich mit der Anwendung diskursanalytischer Perspektiven in literaturwissenschaftlichen Arbeiten: in der überwiegenden Zahl auf die Analyse des literarischen Systems ausgerichtet, ist unter zuvor festgelegten Voraussetzungen dennoch auch eine Übertragung diskursanalytischer Fragestellungen auf einzelne Texte möglich. Die Tatsache, „daß es eine genuin Foucaultsche Literaturwissenschaft nicht gibt und nicht geben kann, da es in jedem Fall spezifischer Verfahren zur Analyse literarischer Diskurse bedarf“161, bleibt bestehen, wohl aber werden literarische Darstellungen von ‚Wirklichkeit‘ in Anlehnung an Foucault als literarische Spiegelungen diskursiver Praktiken der Realitätshervorbringung fassbar, wodurch diskurstheoretische Beobachtungen auf innerdiegetischer Ebene möglich werden. Konkret sind die in Foucaults ‚Werkzeugkiste‘ enthaltenen Instrumente mit Blick auf die Analyse literarischer Einzeltexte dazu geeignet,
|| 157 Vgl. Bogdal: Historische Diskursanalyse, S. 26. 158 Bogdal: Historische Diskursanalyse, S. 20. 159 Derrida etwa formuliert eine grundlegende Kritik an der Auffassung einer ‚Verstehbarkeit‘ von Schrift: „Die Schrift liest sich, sie gibt, ‚in letzter Instanz‘, keinen Anlass zu einem hermeneutischen Dechiffrieren, zur Entzifferung eines Sinns oder einer Wahrheit […].“ Aus: Jacques Derrida: Signatur – Ereignis – Kontext. In: Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Gerhard Ahrens. Wien 1988, S. 350. 160 Sabine Schmidt: Das domestizierte Subjekt. Subjektkonstitution und Genderdiskurs in ausgewählten Werken Adalbert Stifters. (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 32) St. Ingberg 2004, S. 18. 161 Clemens Kammler: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. 3. Auflage. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 32–56, 51.
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herauszuarbeiten, „welche Diskurse in dem einzelnen Text thematisiert werden bzw. sich in ihm nachweisen lassen […] [und, S.V.] wie die nachweisbaren Diskurse im Text zur Sprache kommen: ob der Text sie reproduziert oder ob er sie – explizit oder implizit – unterläuft.“162 Diese Zielsetzung vor Augen, lassen sich konkrete methodologische Überlegungen für eine Anwendung diskursanalytischer Verfahren auf literarische (Einzel-)Texte anstellen. Wenngleich per Definition einer ‚nach-strukturalistischen‘ Perspektive verpflichtet,163 impliziert eine methodisch reflektierte Diskursanalyse in Anlehnung an Foucault strukturalistische Grundannahmen, da insbesondere mit Blick auf Texte „Strukturalität (also die Bezugnahme auf vorgängige Strukturen) […] die Bedingung für die Analyse des Ereignishaften [ist]“164. Denn „ohne einen zunächst strukturalen Rahmen zu rekonstruieren“165, entfiele jede Möglichkeit, das Ereignishafte innerhalb der Texte überhaupt als solches analysieren zu können, es fehlte dann schlicht „jeglicher Bezug, jegliche Struktur als analytischer Kontext.“166 So sind die Ideen Foucaults, der in zentralen Punkten dem strukturalistischen Systemgedanken treu bleibt,167 trotz umfänglicher Kritik am Strukturalismus und dessen ‚abendländischer Metaphysik‘ nicht als gänzliche Absage an strukturalistische Annahmen zu verstehen, sondern vielmehr als eine „Öffnung des System- bzw. Strukturkonzepts“168 mit dem Ergebnis einer „Aufwertung der Praxis gegenüber der Struktur sowie […] der Einbeziehung einer (nicht zielgerichteten Sicht) auf die (geschichtliche) Herkunft der Struktur.“169
|| 162 Simone Winko: Diskursanalyse, Diskursgeschichte. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. 3. Auflage. München 1999, S. 463– 478, S. 472. 163 Kammler bezeichnet den Diskursbegriff wie ihn Foucault etwa in der ‚Geburt der Klinik‘ verwendet denn auch als „neostrukturalistisch“, „da er den Versuch darstellt, das strukturalistische Grundprinzip der differentiellen Analyse auf eine im Vergleich zu den Phonemen, Morphemen und Syntagmen der Sprachwissenschaft komplexere Ebene anzuwenden: die der Aussagen.“ Kammler: Historische Diskursanalyse, S. 34. 164 Rainer Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse. In: Weltund Globalgeschichte in Europa. Hg. von Matthias Middell. (Historical Social Research 31 (2006) No. 2) Köln 2006, S. 243–274, S. 266. Nicht als bloße Negation, sondern vielmehr radikale Erweiterung strukturalistischer Annahmen definiert Diaz-Bone poststrukturalistische Analysemodelle: „Die Strukturalität verschwindet nicht mit dem Öffnen des Strukturmodells.“ (S. 266) 165 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 266. 166 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 266. 167 Vgl. etwa Kammler: Historische Diskursanalyse, S. 33. 168 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 251. 169 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 251.
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Um folglich diskurstheoretische Beobachtungen innerhalb der Textwelten methodisch gesichert anzustellen, empfiehlt sich zuallererst eine strukturale Erkundung derselben. So kann eine an strukturalistischen Positionen ausgerichtete „systematische Rekonstruktion der einem Objekt zugrundeliegenden Ordnungen“170 die nötigen Textbefunde liefern, auf deren Grundlage anschließend die angestrebte „strukturalistisch […] [fundierte, S.V.] Rekonstruktion von Diskursstrukturen“171 in Angriff genommen werden kann. Da zudem im Zuge einer Übertragung von Fragestellungen und Theoremen der Geschlechterforschung auf Erzähltexte zwangsläufig diskursanalytisch bzw. dekonstruktivistisch inspirierte Ideen auf narratologische Analysekategorien treffen, ergibt sich an dieser Stelle die Möglichkeit einer Allianz zwischen einer auf die „systematische und rationale Beschreibung von Textstrukturen“172 zielenden strukturalistischen Erzähltheorie und der kontextorientierten Lesart der Gender-Forschung: Ziel einer solchen erzähltheoretischen und kontextorientierten Erzähltextanalyse ist es, über die Untersuchung der Erzähl- und Repräsentationsformen literarischer Texte Einsicht in kulturwissenschaftlich relevante Problemstellungen wie Geschlechterkonstruktionen zu gewinnen, die im Zentrum des Interesses der Gender Studies stehen.173
In der Auseinandersetzung mit den Texten steht für die vorliegende Arbeit somit insbesondere die Analyse derjenigen (oppositionellen) Strukturen und Codierungen im Vordergrund, die – explizit oder implizit – geschlechtliche Konnotationen abrufen, wobei nicht nur Figuren und Figurenkonstellationen, sondern etwa auch räumliche Bezüge oder kulturelle Deutungsmuster unter entsprechender Perspektive analysiert werden. Auf das Potenzial strukturalistischer Zugänge sollte eine ‚diskursanalytisch‘ ausgerichtete Textanalyse folglich nicht verzichten, vielmehr gerade im bewussten Zusammenspiel von Rekonstruktion und Dekonstruktion einen eigenen Ansatz finden,174 um aller poststrukturalistischen
|| 170 Michael Titzmann: Struktur, Strukturalismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Bd. 4: SI–Z. Hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser. Berlin/New York 1984, S. 256–278, S. 263. 171 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 244. 172 Ansgar Nünning/Vera Nünning: Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. von Vera Nünning u. Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, S. 1–32, S. 5. 173 Nünning/Nünning: Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse, S. 13. 174 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 243. Wörtlich beschreibt Diaz-Bone diese Anwendungsweise „as a reflexive coupling of deconstruction and reconstruction in the material to be analyzed.“
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Deutungsskepsis zum Trotz zu einer „systematischen und reflektierten Form des ‚Lesens‘ von Diskursen“175 zu finden. Ihren konstruktivistischen Grundannahmen gemäß wird sich die vorliegende Arbeit der Foucaultschen ‚Werkzeugkiste‘ entsprechend in einem Verständnis von „Diskursanalyse als reflektierte Rekonstruktion“176 von diskursiven Phänomenen bedienen und hierfür die dargestellten Textwelten zunächst unter strukturaler Perspektive betrachten. Diese an strukturalistischen Prinzipien orientierte ‚Ersterkundung‘ der Texte stellt notwendigerweise das Fundament gerade auch eines diskursanalytischen Zugangs dar, da dieser zwar unterstellt, „dass diskursive Praktiken vorliegen, aber […] anfänglich die Gestalt dieser Regeln nicht [kennt] und […] (abduktiv) aus dem Material auf die das Material hervorbringende Praxis schließen [muss].“177 Die zentralen ‚Gegenstände‘ der Untersuchung wie Geschlecht, Sexualität oder auch Macht werden folglich zunächst auf Darstellungsebene unter primär semantischen Vorzeichen analysiert, wobei das Augenmerk der (An-)Ordnung bzw. oppositionellen Codierung der Figurenoder auch Raumkonstellationen gilt. Entsprechend werden die Darstellungen der Texte dahingehend zu untersuchen sein, welche wiederkehrenden Kategorisierungen oder auch Wertungen sie formulieren, inwieweit zu diesem Zwecke Verknüpfungen oder oppositionelle Vorstellungen (re-)produziert werden und ob in Bezug auf die Darstellung durchweg Kohärenzen oder auch Widersprüchlichkeiten identifiziert werden können. Da für literarische Texte die Existenz verschiedener semiotischer Ebenen charakteristisch ist, vereinfacht gesagt ‚Bedeutetes‘ und ‚Gemeintes‘ im Unterschied zu nicht-literarischen Texten nicht zwingend kongruent sein müssen, besteht ein Ziel der hier praktizierten Variante von ‚Diskursanalyse‘ darin, ohne allzu aufklärerischen Duktus den Versuch zu unternehmen, grundlegende Denkmuster und Ordnungsstrategien innerhalb der dargestellten Welt durch einen Blick hinter die semantische Oberfläche der Texte zu beschreiben.178 Entsprechend kann und will die vorliegende Arbeit „den hermeneutischen Charakter des Lektürevorgangs“179 nicht leugnen, sie vertritt im Gegenteil die Auffassung, dass unter den gegebenen Voraussetzungen diskursanalytische Perspektiven durch-
|| 175 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 245. 176 Diaz Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 255. 177 Diaz-Bone, Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 257. 178 Andreas Gardt: Diskursanalyse. Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten. In: Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Hg. von Ingo. H. Warnke. (Linguistik – Impulse & Tendenzen 25) Berlin 2007, S. 27–52, S. 33. 179 Gardt: Diskursanalyse, S. 43.
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aus als in einer „hermeneutisch-interpretative[n] Tradition“180 stehend begriffen werden können, wodurch ein methodisch reflektierter Mittelweg gangbar wird, der die „formal-genetische Betrachtungsweise“181 der Diskursanalyse mit „hermeneutisch-rekonstruktiven und inhaltsanalytischen Zugängen“182 zu verbinden sucht.183 An dieser Stelle wird die zuvor beschriebene Not einer diskursanalytisch ausgerichteten Untersuchung literarischer Einzeltexte zur Tugend selbiger, da eine Analyse innerdiegetischer (diskursiver) Praktiken der Sinngenerierung durch Einbeziehung zeitgeschichtlicher oder auch historischer Kontexte einen zusätzlichen, nämlich um außerliterarische Bezüge erweiterten Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Strategien literarischer Zeichenproduktion erfährt. Die in den Texten tradierten kulturellen Deutungsmuster werden auf diese Weise als eine Spiegelung zeitgeschichtlicher Diskurse greifbar, so dass im Zuge der praktischen Textarbeit diskursanalytische, sozialgeschichtliche bzw. wissenssoziologische und nicht zuletzt auch hermeneutische Perspektiven durchaus produktiv kombiniert werden können. Das meint konkret, dass etwa mit Blick auf das in den ausgewählten Texten angeführte Wissen – das ausdrücklich nicht mit dem Wissen deren Entstehungszeit zu verwechseln ist – eine Vielzahl außerliterarischer (Wissens-)Diskurse mit dem Text interagieren. Hierzu zählen insbesondere ‚intertextuelle‘ Verweise,184 die in expliziter oder impliziter Weise auf vorherrschende wissenschaftliche Paradigmen oder auch literarische Texte referieren und in den untersuchten Novellen Gottfried Kellers z. B. auf die Thesen Charles Darwins (On the Origin of Species, 1859) oder auch auf Das Mutterrecht (1861) Johann Jakob Bachofens verweisen, bei dem es sich aus heutiger Sicht „um eines der wirkmächtigsten Bücher des 19. Jahrhunderts handel[t].“185 Aus diskurstheo|| 180 Ruth Wodak/Rudolf de Celia/Martin Reisigl/Karin Liebhart/Klaus Hofstätter/Maria Kargl: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt am Main 1998, S. 43. 181 Johannes Angermüller: Diskursanalyse: Strömungen, Tendenzen, Perspektiven. Eine Einführung. In: Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Hg. von Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann und Martin Nonhoff. Hamburg 2001, S. 7–22, S. 8. 182 Angermüller: Diskursanalyse, S. 8. 183 Auch Angermüller hält mit Blick auf literaturwissenschaftliche Perspektiven fest, „dass die formal-technische Qualität des Diskursbegriffs der französischen Linguistik von poststrukturalistischen Literaturwissenschaftler-Innen in der Regel nicht geteilt wird.“ Angermüller: Diskursanalyse, S. 18. 184 Zum hier zitierten Begriff der „Intertextualität im engeren Sinne“ vgl. Moritz Baßler: Texte und Kontexte. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Sonderausgabe. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar 2013, S. 355–369, S. 362. 185 Meret Fehlmann: Zwischen nostalgischer Sehnsucht und matriarchalen Gesellschaftsentwürfen. Bachofen-Rezeption in Lebensreform und Jugendbewegung. In: Avantgarden der
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retischer Perspektive wäre folglich zu untersuchen, inwiefern die in den Texten nachweisbaren Bezugnahmen auf prominente Paradigmen der Zeitgeschichte – die immer auch ‚Ideologie‘ der jeweiligen Zeit sind – vereinfacht gesagt die Zustimmung der Texte erhalten und entsprechend reproduziert oder im Gegenteil kritisch bis ablehnend rezipiert werden. Weil literarische Texte aus diskursanalytischer Perspektive betrachtet folglich nicht außerhalb von ‚Ideologien‘, von Weltanschauungen und Wertungen, existieren können, sind literarische Welten gerade nicht uneingeschränkt fiktional und vollständig entkoppelt in ihrer Darstellung, sondern notwendigerweise immer auch ideologische bzw. ideologisierte Welten. Die ideologisierte Darstellung sozial konstruierter Gegenstände als „ahistorische Universalien“186 steht hierbei exemplarisch für eine Vielzahl von Naturalisierungsstrategien, die allesamt darauf hinauslaufen, den Diskurs nicht als Diskurs, sondern als Konsequenz vorgängiger (Natur-)Wahrheiten zu etablieren. Begrifflichkeiten wie ‚krank‘ oder ‚abnorm‘ oder auch Phänomene wie ,Wahnsinn‘ und ‚Perversion‘, die der Beschreibung vermeintlich „vordiskursive[r] Sachverhalte[]“187 dienen, sind entsprechend keine Abbildungen einer außersprachlichen Wahrheit, sondern im Gegenteil Ergebnis vielschichtiger Diskursprozesse, die anhand von Wertungen, Bezugnahmen, Klassifikationen und begrifflichen Verknüpfungen den ‚Sinn‘ einer Sache erst erschaffen – nämlich durch Sprache greif- und erfahrbar werden lassen. Dass diese ‚Dinge‘– wie am Beispiel des ‚Wahnsinns‘ besonders eindrücklich zu sehen – ihren Sinn bzw. ihre Funktion erst durch die Integration in einen übergeordneten Rahmen erfahren, zeugt von „einer Ordnung unter den Dingen“188. Ausgehend von den „vorreflexiven Wahrnehmungsstrukturen“189 einer Epoche (‚Episteme‘), die zugleich „das Grund-
|| Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer ‚Aufrüstung‘. Hg. von Karl Braun, Felix Linzner und John Khairi-Taraki. (Jugendbewegung und Jugendkulturen 13) Göttingen 2017, S. 139–152, S. 139. 186 Peter Ullrich: Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie: Ein- und Überblick. In: Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik. Hg. von Ulrike Freikamp, Matthias Leanza, Janne Mende, Stefan Müller, Peter Ullrich und Heinz-Jürgen Voß. Berlin 2008, S. 22. 187 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 252. 188 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1971, S. 22. 189 Rainer Diaz-Bone: Sozio-Episteme und Sozio-Kognition. Epistemologische Zugänge zum Verhältnis von Diskurs und Wissen. In: Diskurs – Sprache – Wissen. Interdisziplinäre Beiträge zum Verhältnis von Sprache und Wissen in der Diskursforschung. Hg. von Willy Viehöver, Rainer Keller u. Werner Schneider. Wiesbaden 2013, S. 79–96, S. 82.
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raster für eine Wissensordnung“190 darstellen, tritt an dieser Stelle eine struktural-differenzlogische Bestimmung bzw. (Ein-)Ordnung von Dingen auf Grundlage von Similarität und Differenz hervor: Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen. […] Tatsächlich gibt es selbst für die naivste Erfahrung keine Ähnlichkeit, keine Trennung, die nicht aus einer präzisen Operation und der Anwendung eines im voraus bestehenden Kriteriums resultiert. […] Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt […]. Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.191
Die ‚Dinge‘, um die es der vorliegenden Untersuchung geht, sind zwar zunächst einmal ‚nur‘ Konstrukte einer fiktionalen (Text-)Realität – die nicht Abbildung, sondern literarische Produktion ist –, wohl aber lassen sie als eine literarische Spiegelung gesellschaftlicher Wahrheitsproduktion Rückschlüsse darüber zu, auf welche Weise soziale Wahrheiten produziert bzw. wie die Ordnungen und Gesetze, die ihrer Konstituierung zugrunde liegen, aufrechterhalten und gegen alternative Modelle verteidigt werden. Die im Fokus der Arbeit stehenden Diskurse beschreiben folglich „im Sinne Foucaults keine neutralen Instrumente der Wissensvermittlung, sondern dienen der Naturalisierung der Herrschaft bestimmter Partikularinteressen“192, so dass ein wichtiges Anliegen dieser Untersuchung in der Sichtbarmachung dieser ‚Macht‘ bzw. der Ausübung von Herrschaft auf Basis einer auf ‚Geschlecht‘ fokussierten sozialen Ordnung liegt. Zum Versuch einer Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse gehört zudem die bislang ausgeklammerte Frage einer genauen Begriffsbestimmung, da nicht nur die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen höchst unterschiedliche Definitionen zentraler Termini hervorgebracht haben,193 sondern auch Foucaults Schriften selbst eine diesbezüglich durchaus uneinheitliche Verwendungsweise erkennen lassen. Es ist gerade diese relative Unbestimmtheit – von Foucault mehr befeuert, denn aufgelöst –, die den wissenschaftlichen wie medialen Erfolg seines Werks begründet, wobei insbesondere mit Blick auf den Diskursbegriff schon früh Mahnungen gegen „eine massenhaft gewordene und
|| 190 Diaz-Bone: Epistemologische Zugänge, S. 82. 191 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 22. 192 Angermüller: Diskursanalyse, S. 19. 193 Winko: Diskursanalyse, Diskursgeschichte, S. 468.
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modische Verwendung, vor allem unter Literaturwissenschaftlern“194, laut wurden, die jedoch der insbesondere in medialen Debatten anhaltenden Konjunktur des ‚Diskurses‘ keinen Abbruch tun konnten. Im Rahmen der anstehenden Textanalyse wird der Terminus vorrangig in einem operativen Verständnis als Bezeichnung für ein „kulturell/epochal relevantes System des Denkens und Argumentierens“195 verwendet, das nach historisch veränderlichen Regeln festlegt, was über einen bestimmten ‚Gegenstand‘ gesagt bzw. gedacht werden kann und auf diese Weise die Hervorbringung von Wissen und somit die Konstruktion sozialer Realitäten innerhalb der Texte anleitet. Für eine Arbeit wie die vorliegende, in deren Fokus nicht (bzw. weniger) der Diskurs ‚über‘ Literatur als vielmehr die Darstellung spezieller Diskurse ‚innerhalb‘ von Literatur steht, meint ‚Diskurs‘ somit in erster Linie die Auseinandersetzung mit einem Thema, die […] von mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen getragen wird, das Wissen und die Einstellungen dieser Gruppen zu dem betreffenden Thema sowohl spiegelt als auch aktiv prägt und dadurch handlungsleitend für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf dieses Thema wirkt.196
Die Bezugnahme auf Foucault ist hierbei bisweilen expliziter, bisweilen impliziter Natur und verfolgt den für ‚Diskursanalysen‘ charakteristischen Anspruch, „Prozesse der sozialen Konstruktion […] und Legitimation von Sinn, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren.“197 Es gilt folglich, den Versuch einer methodisch fundierten Rekonstruktion jener Praktiken zu unternehmen, die im Sinne Foucaults soziale Gegenstände auf Basis sprachlicher Prozesse überhaupt erst ‚intelligibel‘ werden lassen. Entsprechend wird der ‚Diskurs‘ als ein || 194 Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988, S. 25–45, S. 25. Auch Winko attestiert, dass der Begriff des Diskurses „seit den achtziger Jahren ein literaturwissenschaftlicher Modebegriff und insofern oft unspezifisch gebraucht worden“ ist. Aus: Winko: Diskursanalyse, Diskursgeschichte, S. 464. 195 Michael Titzmann: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilband. Hg. von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok. Berlin/New York 2003, S. 3028–3103, S. 3092. 196 Gardt: Diskursanalyse, S. 30. 197 Rainer Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. In: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2006, S. 115–146, S. 115.
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ausdrücklich produktiver Machtfaktor verstanden – „nicht primär als eine Kraft, die repressiv ist, Druck ausübt und zur Unterordnung zwingt, sondern […] bildet und formt, wovon Individuen und ganze Bevölkerungen abhängen“198, indem sie in „jener ‚zone du non-pensé‘ [situiert ist, S.V.], die die Bedingungen und die Umrisse des Denkens festlegt.“199 Die Idee einer in den vorgängigen Strukturen des Denkens begründeten Unfreiheit desselben formuliert somit insbesondere für eine an diskurstheoretischen Ansätzen sich orientierenden Arbeit den Anspruch, nicht nur das in den Texten Gesagte zu analysieren, sondern ebenso das den Texten Sagbare zu rekonstruieren und damit die Wahrheitsbedingungen der Texte offenzulegen – denn in einem legitimen „Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.“200 Mit Blick auf Untersuchungsgegenstände wie Geschlecht, Sexualität oder Macht meint ‚Diskursanalyse‘ für die vorliegende Arbeit somit konkret den Versuch einer systematischen Rekonstruktion der „Prozess[e] der sprachlichen Erzeugung von Realität“201 innerhalb der Texte. Denn als eine „die Wissensordnung generierende und in sich systematische Praxis“202 strukturiert und organisiert die „machtbestimmte[] Regelgeleitetheit des Diskurses“203 zwangsläufig auch die Darstellung literarischer Welten, die zwar per Definition fiktiver Natur sind, wohl aber in Relation zu den jeweiligen Grundannahmen ihrer Zeit stehen. Da folglich Diskurse im Sinne einer allgegenwärtigen ‚Denkaufsicht‘ die je nach Systemkontext zulässigen Perspektiven auf einen bestimmten Sachverhalt oder Gegenstand regeln,204 gehen vermeintlich ‚vordiskursiven‘ Wahrheiten vielfältige diskursive Praktiken voraus, so dass aus konstruktivistischer Perspektive der Grundsatz gilt, „dass es sich bei sozialen Phänomenen um Konstruktionen handelt, die auf konstruierende Praxisformen zurückzuführen sind.“205
|| 198 Hannelore Bublitz: Macht [Art.]. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr u. Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2008, S. 273–277, S. 274. 199 Ralf Konersmann: Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L’ordre du discours. In: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 9. Auflage. Frankfurt am Main 2003, S. 51–94, S. 77. 200 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 9. Auflage. Frankfurt am Main 2003, S. 25. 201 Ullrich: Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie, S. 22. 202 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 252. 203 Ullrich: Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie, S. 22. 204 Vgl. Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 252. 205 Diaz-Bone: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, S. 255.
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Entsprechend werden soziale Phänomene in vorliegender Arbeit als kontingente Erscheinungen verstanden, die keineswegs zwingend in der zu beobachtenden Art und Weise in Erscheinung treten müssen, sondern aus einer gleichermaßen strukturierten wie strukturierenden Praxis hervorgehen. Die Macht dieser Praxis, die „als ein produktives Netz […] weit stärker durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht als eine negative Instanz, die die Funktion hat zu unterdrücken“206, vollzieht sich maßgeblich „über raffinierte Strategien der Verschleierung“207, nämlich der Ausblendung der Tatsache, dass auch „Wissensordnungen das Resultat diskursiver Praktiken [sind] und damit nicht einfach Abbildungen oder reine Beschreibungen einer vorgängigen sozialen Welt.“208 Angesichts der Polyvalenz zentraler Begriffe bei Foucault und der allenthalben hervorgehobenen Tatsache,209 dass er selbst keinerlei „methodisch abgesichertes Verfahren zur Rekonstruktion diskursiver Prozesse“210 entwirft, kann die vorliegende Arbeit sich nicht auf eine klar definierte Methode stützen, sondern allein auf eine am Untersuchungsgegenstand ausgerichtete Methodologisierung von diskursanalytischen Zugängen.211 Damit sei zum einen Foucault mit Blick auf seine ‚Werkzeugkiste‘ beim Worte genommen und zum anderen darauf verwiesen, dass gerade weil „Foucault selbst nie den Anspruch erhoben hat, ein homogenes Theoriegebäude zu entwickeln, sondern darin eher die Gefahr einer Dogmatisierung sah, […] es nur legitim [ist], wenn ihn die Literaturwissenschaft in einer selektiven und teilweise eklektizistischen Weise rezipiert.“212 Dies wiederum geschieht auf Grundlage einer präzisen Textlektüre (close reading), die in einem positiven Sinne in geradezu ‚kleinlicher‘ Weise den Texten verpflichtet ist, um gerade dort, wo ‚realistische‘ Texte andeuten, aber nicht ausführen, zwar das
|| 206 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band III: 1976–1979. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main 2002, S. 197. 207 Schößler: Einführung in die Gender Studies, S. 93. 208 Diaz-Bone: Epistemologische Zugänge, S. 79. 209 Kammler etwa weist darauf hin, dass Etiketten wie „Diskurstheorie“, „Diskursanalyse“ oder „Genealogie“ in ihrer Bedeutung bei Foucault durchaus schwanken. Vgl. Kammler: Historische Diskursanalyse, S. 45. 210 Michael Schwab-Trapp: Diskursanalyse [Art.]. In: Hauptbegriffe Qualitative Sozialforschung. Ein Wörterbuch. Hg. von Ralf Bohnsack, Winfried Marotzki und Michael Meuser. Opladen 2003, S. 35–40, S. 38. 211 In diesem Sinne versteht auch Andersen die Diskursanalyse nach Foucault als „always defined in relation to a specific research question, a specific problem, and hence the question is wether they thereby allow for simple generalisation.“ Aus: Niels Åkerstrøm Andersen: Discursive analytical strategies: understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luhmann. Bristol 2003, S. 2. 212 Kammler: Historische Diskursanalyse, S. 45.
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explanative Potenzial fachfremder Deutungsmuster (Bsp.: Psychiatriediskurs, Matriarchatsforschung) zu nutzen, nicht aber darüber hinaus in Spekulationen zu verfallen. Abschließend ist die einflussreiche Subjektkritik des Poststrukturalismus hervorzuheben, die das vermeintlich autonome Subjekt im Zuge einer rigorosen Absage an „die aufklärerische These des ‚souveränen und konstituierenden Subjekts‘, das in seiner erkenntnistheoretischen wie praktischen Vorrang- und Vormachtstellung seine eigene Autonomie begründet“213, negiert. Diese Absage findet in vorliegender Untersuchung ihren unmittelbaren Widerhall darin, dass der Bruch Foucaults „mit der Grundannahme, es gäbe autonome, selbstbestimmte Identitäten“214die für das Selbstverständnis dieser Arbeit maßgebliche Parole vom ‚Tod des Autors‘215 fundiert. Konkret meint dies, dass die Analyse der ausgewählten Texte ausdrücklich ohne jede Bezugnahme auf Biographie, Korrespondenzen oder literaturtheoretische Äußerungen des historischen Autors Gottfried Keller erfolgt. Dieser Ausschluss ist umso bedeutsamer, als dass Keller zum einen in literaturtheoretischen Debatten regen Anteil an der literarischen Produktion und Programmatik seiner Zeit nahm, während andererseits das gut erforschte und dokumentierte Privatleben des Autors einen autobiographisch-psychoanalytischen Blick auf das Oeuvre des Schweizers beförderte,216 der lange Zeit die
|| 213 Norbert Ricken: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs. Würzburg 1999, S. 160. Des Weiteren führt Ricken an dieser Stelle die dekonstruktivistische Kritik Foucaults am Subjektdenken vermittels eines Zitats an, das seinerseits den an Foucault bzw. die poststrukturalistische Theorie gerichteten Vorwurf des ‚Antihumanismus‘ verdeutlichen mag: „All diese Untersuchungen löschen nicht nur das traditionelle Bild, das man sich vom Menschen gemacht hatte, aus, sondern sie laufen meiner Meinung nach alle darauf hinaus, sogar die Idee vom Menschen in der Forschung und im Denken überflüssig zu machen.“ Aus: Michel Foucault: Absage an Sartre. In: Günther Schiwy: Der französische Strukturalismus. Mode, Methode, Ideologie. Reinbek bei Hamburg 1969, S. 209. 214 Schößler: Einführung in die Gender Studies, S. 93. 215 Zur literaturwissenschaftlichen Autorschaftsdebatte um den metaphorischen Tod oder auch die Wiederkehr des ‚Autors‘ vgl. Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin/New York 2007. Hier insbesondere: Der „Tod“ des Autors und seine „Rückkehr“ als „Autorfunktion“ (11ff.). 216 Thomé etwa spricht von einer ‚Psychowelle‘, die die literaturwissenschaftliche Diskussion in den 1970er Jahren erfasst hat und dazu führte, dass obgleich sich „die neueste Forschung der Naivität einer solchen Vorgehensweise bewußt geworden [ist], [...] [sie, S.V.] nicht mit dem Rückgang auf historische Kontexte reagiert, sondern unter wechselnden methodischen Ansätzen die psychoanalytische Auslegung der Texte betrieben“ hat. In Bezug auf die Keller-Forschung führt Thomé die besonders einflussreichen Monographien von Gerhard Kaiser und Adolf Muschg als entsprechende Beispiele an. Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien
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Keller-Forschung dominierte und zum Teil bis in die Gegenwart hinein die Beschäftigung mit seinen Texten im Zeichen von Mutterbezug und Bindungsangst anleitet.217 Wenn nun in dieser Untersuchung auf jegliche Analyseverfahren, die einen Autorbezug herstellen, verzichtet wird, so nicht aus modischen bzw. ideologischen Gründen,218 sondern in der Überzeugung, dass eine reale Autorpersönlichkeit keineswegs die alleinige ‚Herrschaft‘ im Sinne einer Intentionshoheit über das Geschriebene innehat. Es braucht an dieser Stelle keine Fortführung einer polarisierenden Debatte zwischen Biographismus auf der einen und der Kritik Foucaults an einer „barbarisch[en]“219 Verwendung des Autorkonzepts auf der anderen Seite, vielmehr vertritt die vorliegende Arbeit die Ansicht, dass die ausgewählten Texte als ‚realistisch‘ konzipierte Texte nachweislich von einer entsprechenden Intention künden, dieser jedoch keineswegs ‚sklavisch‘ entsprechen müssen. Diese Studie vertritt im Gegenteil die Auffassung, dass Texte von Sinnstrukturen durchzogen sind, die sich nicht nur außerhalb der Autorintention konstituieren, sondern sich zudem potenziell widersprechen, gar gegenseitig aufheben können. In dem Maße nämlich, in dem das einen Text hervorbringende Bewusstsein nicht als ein autonomes (Autor-)Subjekt verstanden wird, sondern als eine den Diskursen ihrer Zeit verpflichtete Instanz, verliert der Text seine intentionale Kontrollierbarkeit und verweigert sich der geradezu berüchtigten Frage, was mit ihm gesagt bzw. was durch ihn zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein Text verliert – zumindest nach Überzeugung dieser Arbeit – deswegen jedoch nicht seine Fähigkeit, Bedeutung zu konstituieren bzw. zu vermitteln. Vielmehr eröffnet die Loslösung von der Idee einer den Text beherrschenden Instanz gerade in Bezug auf die Darstellung von ‚Geschlecht‘ bzw. die Verfahrensweisen, mit Hilfe derer ‚Geschlecht‘ im literarischen Kontext konstruiert und in der Folge als ‚Wahrheit‘ postuliert wird, die Möglichkeit, den Text in seinen Widersprüchen zur eigenen (Geschlechter-)Politik wahrzunehmen. Damit wird schließlich eine bestimmte ‚Haltung‘ dieser Arbeit deutlich, die in der Tradition derjenigen diskurstheoretischen Ansätze steht, die in ihrem „analytischen Zugriff eine Offenlegung der Art und Weise sehen, wie in und || über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). (Hermaea. Germanistische Forschungen, N.F. 70) Tübingen 1993, S. 19. 217 So etwa Christian Tanzmann: Im Windschatten der Mutter. Beziehungsstrukturen und Beziehungsprobleme in Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“. Marburg 2009. 218 Im Sinne einer polarisierenden Debatte zwischen ‚naivem‘ Biographismus und ‚antihumanem‘ Poststrukturalismus/Dekonstruktivismus. 219 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main 1988, S. 7–31, S. 9. ‚Barbarisch‘ heißt hier ‚naiv‘: „Allerdings habe ich durch den ganzen Text hindurch naiv, und das heißt barbarisch, Autorennamen verwendet.“
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durch Sprache öffentliches Bewusstsein und damit gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen wird“220 – und damit eine primär ideologie- oder auch machtkritische Perspektive einnehmen. Da trotz vielfacher Diskussionen um Theorie und Methoden der Diskursanalyse in der Sprach- und auch Literaturwissenschaft ein grundlegendes Verständnis derselben im Sinne eines kulturwissenschaftlichen, nämlich auf sprachliche Prozesse abzielenden Paradigmas herrscht, kann „von der Diskursanalyse auch als einer wissenschaftlichen Haltung“221 gesprochen werden. Ob sich hierin „eine vielleicht sogar philosophische Haltung“222 spiegelt oder, nüchterner formuliert, die „grundsätzliche Einstellung einer Gruppe oder Schule von Wissenschaftlern […], eine intellektuelle Disposition, ein Gerichtetsein des wissenschaftlichen Denkens“223, bleibt eine Frage der eigenen wissenschaftlich-disziplinären Selbstverortung. Wohl aber scheint es mit Blick auf die Diskursanalyse und die orthodoxieskeptischen Äußerungen ihres Begründers mehr als legitim, festzustellen, dass das Foucaultsche Werk „Methode, Theorie und Haltung zugleich“224 ist – gerade weil keine dieser drei Fokussierungen sich auf eine den anderen beiden vorrangige Autorisierung berufen kann. Die Gliederung der folgenden Arbeit orientiert sich an übergeordneten Forschungsaspekten der kritischen Männer- bzw. Geschlechterforschung und ist unterteilt in vier Hauptbereiche: defizitäre Männlichkeitsentwürfe, selektierende Männervergleiche, männliche Initiations- bzw. Sozialisationsprozesse und männliche Kompensationsstrategien im Zeichen der Einverleibung des weiblichen Geschlechts. Innerhalb der verschiedenen Kapitel erfolgen bisweilen kürzere Exkurse zu anderen literarischen und nicht-literarischen Werken der Zeit, um die kulturellen oder auch sozialgeschichtlichen Implikationen der herausgearbeiteten Befunde in einem übergeordneten Kontext zu reflektieren. Hinsichtlich der ausgewählten Texte wurde die kurzepische Gattung der Novelle als die dominierende Erzählform des bürgerlichen Realismus wie auch ihrer straffenden Erzählführung wegen als bevorzugte Textform gewählt, wobei das Textmaterial den Novellenzyklen Die Leute von Seldwyla, Das Sinngedicht und den Züricher Novellen entstammt und hier wiederum in Bezug auf die oben skizzierten Analysekategorien ausgewählt wurde. || 220 Gardt: Diskursanalyse, S. 24. 221 Gardt: Diskursanalyse, S. 36. 222 Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2003, S. 8. 223 Gardt: Diskursanalyse, S. 23. Hierzu weiter: „Eine solche wissenschaftliche Haltung besteht aus einer Reihe grundlegender Annahmen und Überzeugungen, die denen, die sie eignen, nicht einmal im ganzen Umfang bewusst sein mögen, die aber die Basis für das Hervorbringen von Theorien, ihren Hintergrund gewissermaßen, bilden.“ (S. 23) 224 Gardt: Diskursanalyse, S. 40.
2 Abweichende Männlichkeitsentwürfe zwischen Läuterung und Liquidation 2.1 Der Schmied seines Glücks: Der Homo oeconomicus und das Zeichen Wenn sich in Gottfried Kellers 1873/74 erschienenen Novelle Der Schmied seines Glücks1 ein selbst ernannter ‚Hans im Glück‘2, ein Zeichenakrobat mit Großmannssucht, als ein vom Schicksal auserkorenes Sonntagskind inszeniert, um schließlich auf gleichermaßen didaktische wie rigorose Weise auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt zu werden, stellt sich insbesondere für realistische Texte auf gleich mehrfacher Ebene die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein. Die von der Forschung hervorgehobene Verschränkung volkstümlicher Schwankmotive mit „kontrafaktisch hereingespielten Märchenmotiven“3 wird hierbei in einen Erzählgang eingebettet, der in durchaus kritisch-selbstreferenzieller Weise den permanenten ‚Etikettenschwindel‘4 seines Helden auf das ‚realistische‘ Grundproblem, „wie nämlich ‚faktische Kontingenz‘ und ‚poetische Sinnstiftung‘ als ambivalentes Verhältnis zu artikulieren sind“5, bezieht und anbei auf
|| 1 Im Folgenden zitiert nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe, Bd. 5: Die Leute von Seldwyla (Zweiter Band). Hg. von Peter Villwock, Walter Morgenthaler, Peter Stocker, Thomas Binder, unter Mitarbeit von Dominik Müller. Basel u. a. 2000. Angegeben als HKKA plus Bandangabe und Seitenzahl. 2 Zur Stofftradition des Hans im Glück und insbesondere den Bezügen zum Schwank- und Dummlingsmärchen vgl. Hans-Jörg Uther: Hans im Glück [Art.]. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begr. von Kurt Ranke. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich und Hermann Bausinger. Bd. 6. Berlin/New York 1990, Sp. 487–494. 3 Wolfgang Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken in Gottfried Kellers ‚Der Schmied seines Glücks‘. (Konstanzer Universitätsreden 170) Konstanz 1989, S. 24. Auf die märchenhaften Elemente der Novelle verweist ebenfalls Rolf Selbmann: Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Berlin 2001, S. 82. 4 Selbmann betitelt seine Analyse der Novelle mit „Etikettenschwindel“. Vgl. Selbmann: Gottfried Keller, S. 82ff. 5 Ulrike Vedder: „einige sonderbare Abfällsel“. Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben. In: Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur. Hg. von Elke Brüns. München 2008, S. 143–156, S. 154. Vedder verweist hier ebenfalls auf Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 24 und S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110630992-002
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moraldidaktischer Ebene eine deutliche „Sozialkritik an einer diskriminierenden und auf Exploitation gründenden Wirtschaftseuphorie“6 formuliert. Ergänzend – oder auch in Kontrast – zu den oben skizzierten Forschungsperspektiven soll der Fokus im Folgenden auf der Diskursivierung der Kategorie Geschlecht und insbesondere der Systematik eines zwischen den Zeilen agierenden Ordnungssystems männlich-patriarchalen Anstrichs liegen, um hiervon ausgehend eine zentrale, auf Erzählebene jedoch meist indirekt das Geschehen justierende Ordnungsideologie aufzuzeigen. Aus dieser Perspektive besehen sind es nicht primär märchenhafte, biblische oder auch moraldidaktische Implikationen, die das Geschehen vorantreiben, sondern in erster Linie geschlechtsspezifische Phänomene, die den Erzähltext strukturieren und zunächst seltsam oder gar grotesk anmutende Handlungsläufe als ‚geschlechterpsychologisch‘ betrachtet ungemein stringent plausibel machen.
2.1.1 Erste Zeichenoperationen: Von Wiedertaufe und ‚Vaterlandsverrat‘ Die Geschichte des Johannes Kabis, eines nicht mehr ganz jungen Seldwylers von fast vierzig Jahren, weist ihren Titelhelden schon in den ersten Zeilen als einen Mehrwertgläubigen aus, der, ausstaffiert mit dem entsprechenden Credo, dass ein jeder sein Glück in wenigen, dafür umso versierteren Meisterschlägen zu schmieden habe, seine gesamte Existenz bereits im Knabenalter am Prinzip des maximalen Outputs bei minimalem Input ausrichtet. Pointiert wird in Erwartung nicht „bloß des Notwendigen, sondern überhaupt alles Wünschenswerten und Überflüssigen“7 die Ideologie eines ‚Homo oeconomicus‘8 zitiert, in dessen Geiste der Knabe schon früh seinen ersten Meisterstreich ins Werk setzt und den frommen Beiklang seines Taufnamens Johannes für den kaufmännisch-unternehmerischen Nimbus des angelsächsischen ‚John‘ hergibt. Was vordergründig als orthographische Korrektur zur Profilierung der eigenen Marke daherkommt, ist eine zeichenhafte Absage an eine väterliche || 6 Diana Schilling: Kellers Prosa. (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 27) Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 128. 7 HKKA 5, 63. 8 Der ‚Homo oeconomicus‘ wird in den Wirtschaftswissenschaften charakterisiert als „Modell eines ausschließlich ‚wirtschaftlich‘ denkenden Menschen, das den Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zugrunde liegt. [...] Handlungsbestimmend ist das Streben nach Nutzenmaximierung, das für Konsumenten, oder Gewinnmaximierung, das für Produzenten angenommen wird.“ Aus: Gabler Wirtschaftslexikon. 15., vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. Wiesbaden 2000, S. 1457.
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Namenstradition, wie sie „allen übrigen Hansen“9 ins Stammbuch geschrieben steht, bei gleichzeitiger Hinwendung zum ‚Mutterland‘ kapitalistischer Ideologien. Nicht allein, dass John auf diese Weise Vaterland gegen Mutterland bzw. die vorindustrielle Behaglichkeit der Schweiz gegen die kapitalistische Aufbruchsstimmung angelsächsischer Couleur verpfändet,10 seine metaphorische Wiedertaufe ist neben aller markenspezifischen Selbstoptimierung auch von einiger theologischer Relevanz, wenn er in einem von christlicher Lehre strikt abgelehnten Wiedertaufungsakt die Namenstradition Johannes des Täufers dem weltlichen Mammon opfert.11 Der ‚Heiligen Schrift‘ nach als Täufer und Wegbereiter Jesu von Nazareth bekannt, wird die sakrale Instanz des Namenspatrons dem Gebot der „‚Zivilisierbarkeit des Menschen‘ im maschinellen System“12 geopfert, so dass John gleich durch seinen ersten Meisterstreich alle jenseitigen Verheißungen zurückweist und stattdessen in das Räderwerk eines maschinenähnlichen Mehrwertsystems eintritt. Dass er schließlich als ein vormaliger Johannes tatsächlich einem sehnlichst erwarteten Jesuskind den Weg bereiten wird, ist eine ironisch-bittere Reminiszenz an eben diesen ersten Meisterstreich. Derart gerüstet für das ‚Glück‘13 der Welt, entwirft die Erzählung das Bild eines frühkind-
|| 9 HKKA 5, 63. 10 Vgl. hierzu Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 74ff. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts beschreibt Bauer als „säkulare[n] Prozeß wirtschaftlichen Wachstums unter den Bedingungen zunehmender Mechanisierung, Arbeitsteilung und Intensivierung des Kapitaleinsatzes, ein Prozeß, in dessen Verlauf es zu den skizzierten tiefgreifenden strukturellen Wandlungen in allen Bereichen der Gesellschaft kommt.“ (S. 77). 11 Johannes’ Selbsttaufe ist zwar von bloß zeichenhafter Relevanz, die kirchenoffizielle Ablehnung der Wiedertaufe (Gläubigentaufe im Anschluss an eine vollzogene Kindestaufe) fügt sich dennoch in das weitere Erzählgeschehen, denn „1. Gemeindeglieder, die sich unter Missachtung einmal geschehener Taufe zum zweiten Mal taufen lassen, haben sich selbst aus der Gemeinde und ihrem Leben ausgeschlossen. 2. Sie können wieder aufgenommen werden, wenn sie ihre zweite Taufe als Versündigung erkannt haben und bereit sind, mit der Gemeinde zu bekennen: ‚Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‘ (Eph. 3, 5).“ Entnommen aus: Bekanntmachung betr. Verbot der Wiedertaufe vom 28. August 1947. Gesetz- und Verordnungsblatt (GVBl.) der Evangelischreformierten Kirche. Bd. 13, S. 115. 12 Bauer: Das lange 19. Jahrhundert, S. 77. In Anlehnung an Freyer macht Bauer die „Organisierbarkeit“ von Arbeit und die „Zivilisierbarkeit des Menschen“ als zwei von vier großen Trends des Jahrhunderts aus. Vgl. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1967, S. 44. 13 Dem Phänomen des Glücks kommt besonders in der deutschsprachigen Tradition einige Komplexität zu, zumal „das Deutsche unter ‚Glück‘ sowohl ein intensives inneres Erleben verstehen kann als auch ein zufälliges äußeres Zusammentreffen oder eine schicksalhafte Fügung“. Aus: Sascha Kiefer: Sonntagskinder, Taugenichtse und ein Papst. Über die Glücklichen in der deutschen Literatur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41 (2011), H.163,
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lichen ‚Erwartungsnutzenmaximierers‘14, der tradierte Sinnstiftungskonzepte wie Nation oder Glaube bereitwillig der Idee des Privateigentums unterordnet, mit seinen nüchtern kalkulierten Operationen jedoch nicht nur den erhofften Mehrwert, sondern auch die Gesetze einer ebenso nüchtern agierenden Verwertungslogik beschwört. Bedeutend weniger komplex ist das Fundament dieser Mehrwertbeschaffung, das allein auf die Integrität Dritter setzt und nichts anderes meint als die Instrumentalisierung eines konventionalisierten Zeichensystems, dessen Autorität darauf beruht, dass eine Referenz erwartet werden kann, wo ein entsprechendes Zeichen auf diese verweist. Dieses Stellvertreterprinzip spannt John kurzerhand für seine Zwecke ein und setzt in der Tradition des Seldwylschen Scheinverkehrs seine onomasiologischen Taschenspielertricks ins Werk, um von Renditeerwartung und erfolgreicher Spekulationstätigkeit zu künden,15 wo faktisch nichts ist als das „Vorausschauen auf einen noch nicht greifbaren Gewinn“16 und somit „Bilder von der Welt, hinter denen nichts mehr steht, Bedeutungen ohne Bedeutetes“17. Prinzipientreu liefert John einen weiteren Beleg für sein Wissen um die Verwertbarkeit von Zeichen und führt in ähnlicher Weise eine Optimierung am Familiennamen durch, der vom allzu prosaisch anmutenden Kabis zum poetischen Kabys umgelautet wird − wodurch „dies Wort [...], welches Weißkohl bedeutet, einen edlern fremdartigern Anhauch“18 erhält und endlich die ersehnte „Berechtigung“19 innerhalb des Seldwyler Kreditwesens bringen soll. Dass John
|| S. 175. Darin weiter zum Glücksbegriff der (realistischen) Literatur: „Ein Kunstwerk, das vom Glück spricht, behauptet keineswegs im Sinne eines naiven Mimesis-Konzeptes, dass es eine reale, glückliche Welt abbilden würde, sondern es bringt eine eigene Welt hervor, in der unter den Bedingungen der ästhetischen Eigengesetzlichkeit ein Bild, eine Chance, vielleicht auch nur eine Phantasie oder eine Utopie vom Glück zur Anschauung gelangt.“ (S. 177). Zum Glücksbegriff im Seldwyla-Zyklus vgl. ebenfalls Alan Corkhill: Good Fortune Maketh the Man? Notions of ‚Glück‘ in the Seldwyla Novellas. In: Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja. Oxford u. a. 2007, S. 25–45. 14 Die sog. ‚Erwartungsnutzentheorie‘ beschreibt aus verhaltensökonomischer Perspektive das Entscheidungsverhalten bei Risiko. Vgl. hierzu: Bernoulli-Prinzip [Art.]. In: Gabler Wirtschaftslexikon, S. 382. 15 Für eine zeichentheoretische Analyse des Seldwyler Scheinverkehrs vgl. Jörg Kreienbrock: Das Kreditparadies Seldwyla. Zur Beziehung von Ökonomie und Literatur in Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla. In: Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja. Oxford u. a. 2007, S. 117–134. 16 Böhler: Moderne-Kritik, S. 300. 17 Böhler: Moderne-Kritik, S. 300. 18 HKKA 5, 63. 19 HKKA 5, 64.
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hierbei eine gefühlte ‚Berechtigung‘ anführt, sein Glückserwarten gegen die Welt folglich als Geltendmachung legitimer Ansprüche versteht, pervertiert die Idee von ‚Glück‘ vollends und postuliert ein Recht auf (kapitalistische) Glückseligkeit, das ganz dem (Selbst-)Gerechtigkeitsempfinden Johns entspricht. Die Ansichten Johns scheinen dabei keineswegs rein illusorischer Natur, fallen seine sprachmalerischen Manöver doch auf einen äußerst fruchtbaren Boden in einem Ort wie Seldwyla, in dem es gängige Mode ist, klangvolle Namen als Bürgschaft für erfolgreiche Kreditabschlüsse anzuführen. Die fortgeschrittene Seldwyler Variante dieser onomasiologischen Mehrwertschöpfung geht indes weit über bloß lautmalerisch-kosmetische Korrekturen am eigenen Namen hinaus und bedient sich gar des Instituts der Ehe, um geldwerte Substanz aus der charakteristischen Substanzlosigkeit des Ortes zu generieren.
2.1.2 Von kreditpolitischen Namensverlängerungen und der Rache des Zeichens Die Affinität zu wohlklingenden Doppelnamen „war einst plötzlich aufgekommen, man wußte nicht wie und woher; aber genug, sie schien den Herren vortrefflich zu den roten Plüschwesten zu passen“20 – und führt anbei ganz ungeniert die Ungleichheit der Geschlechter vor, da nämlich der Ertrag der „geschlechterhafte[n] Namensverlängerung“21 einzig den Herren der Schöpfung zugutekommt, während den lapidar zur „anderen Ehehälfte“22 verdinglichten Gattinnen keinerlei Vorteil erwächst. Die geschlechterhafte Namensverlängerung durch Inkorporation des Weiblichen mag zwar ein typisches Seldwyla-Phänomen sein, das zugrunde liegende, am Beispiel standesamtlicher Namensverwertung zitierte Herrschaftsmodell ist hingegen universeller Natur. So erinnert die ‚Längung‘ des Familiennamens zum Zwecke maximaler Kreditwürdigkeit nicht zuletzt an phallisch konnotierte Bildlichkeiten bzw. Prinzipien, die männliche Machtansprüche zumeist durch Assoziationen von Wuchs und Streckung dokumentieren. Zugleich zeichnen sich hinsichtlich der Ökonomisierung der Ehe hierarchische Strukturen auch innerhalb des männlichen Geschlechts ab, denn wenngleich besagtes Renditeprinzip grundsätzlich einem jeden (heterosexuellen) Mann aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit und seiner im patriarchalen
|| 20 HKKA 5, 64. 21 HKKA 5, 64. 22 HKKA 5, 64.
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Gesellschaftsgefüge garantierten Ehehoheit offen steht, zeigen sich dort Grenzen, wo die soziale Achse innerhalb der Kategorie ‚Mann‘ verläuft. Die allgemeine Partizipation an dieser ‚patriarchalen Dividende‘23 wird unter den Geschlechtsgenossen nämlich keineswegs als milieuübergreifendes Privileg betrachtet, sondern von den ökonomisch Bessergestellten allenfalls zähneknirschend akzeptiert, „denn wenn etwa ein schwärzlicher Schuster oder sonst für gering Geachteter durch Führung solchen Doppelnamens an der allgemeinen Respektabilität teilnehmen wollte, so wurde ihm das mit Naserümpfen übel vermerkt, obgleich er im legitimsten Besitze der anderen Ehehälfte war“24. Wie als eine weitere Warnung an den Protagonisten artikuliert der Text somit auf beiläufige Weise, dass anatomische Merkmale allein nicht hinreichen, um einen uneingeschränkten Zugang zu einer sozial privilegierten Personengruppe und deren Vorzugsrechten zu legitimieren. Dennoch macht sich der „Unbefugte“25 die Seldwyler Doppelnamenstrategie für seine Zwecke zu Eigen und kreiert in gedanklicher Vermählung mit einer ehrenwerten Jungfer den wohlklingenden Geschäftsnamen ‚Kabys-Oliva‘. Die neologistische Mehrwertbeschaffung mag zwar zu den „zartesten Maschinenteilchen jenes Kreditwesens“26 gehören, wird aber wörtlich als Teil einer umfassenden Maschinerie genannt, deren Zuständigkeit erwartbar nicht allein auf das örtliche Kreditwesen beschränkt ist und John abermals an die Existenz eines im Verborgenen waltenden Kontrollsystems mahnt. Die Figur des Glücksritters John wird dergestalt zur Karikatur eines kapitalistischen Parvenüs, eines permanenten Eindringlings, der unentwegt die Aufnahme in privilegierte Räume und Ränge anstrebt und hierfür gesellschaftliche Gepflogenheiten zu unterlaufen bereit ist, wann immer es den eigenen Zielen zuträglich erscheint. Bezeichnenderweise gerät ausgerechnet die vermeintlich trickreiche Namenverlängerung zu einem schmachvollen Lehrstück in puncto Zeichenkunde, wenn die nicht geliebte, aber um ihres Nachnamens willen begehrte Jungfer sich als ein uneheliches Kind entpuppt, das in amtlichen Angelegenheiten den väterlichen Familiennamen Häuptle trägt und das geplante Ich-Unternehmen ‚John KabysOliva‘ – denn „[m]it einer solchen Firma ein bescheidenes Geschäft begründet, mußte in wenig Jahren ein großes Haus daraus werden“27 – rigoros auf seine Sub|| 23 Zum Konzept der ‚Patriarchalen Dividende‘ vgl. Connell: Der gemachte Mann, S. 103: „Männer profitieren vom Patriarchat durch einen Zugewinn an Achtung, Prestige und Befehlsgewalt. Sie profitieren aber auch materiell.“ 24 HKKA 5, 64. 25 HKKA 5, 64. 26 HKKA 5, 64. 27 HKKA 5, 65.
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stanzlosigkeit hin transzendiert, so dass der Zeichenakrobat schließlich als ein buchstäblicher „‚John Kabys-Häuptle‘, zu deutsch: ‚Hans Kohlköpfle‘“28 dasteht. Was als linguistischer Meisterstreich erdacht war, zerschellt folglich am väterlichen Namenserbe der Jungfer und entpuppt sich als bloßes Wunschdenken eines mit den eigenen Waffen geschlagenen Aufschneiders. Das durch die standesamtliche Ordnung in die Geschichte eingreifende patriarchale Ordnungsprinzip lässt Johns Experiment beispielhaft scheitern, beschreibt nämlich die rigide Absage eines männlichen Renditesystems an jegliches parasitäre Nutznießertum, welches zwar sehr genau die eigene Geschlechtszugehörigkeit zur Gewinnmaximierung einzusetzen weiß, im Gegenzug jedoch einen Beitrag zur Stabilisierung des besagten Mehrwertsystems schuldig bleibt. Wenngleich auf Erzählebene als groteske Pointe markiert, deutet das Malheur des Namenjongleurs unverkennbar an, dass eine über die Verteilung von Privilegien wachende Instanz sich derart einfach nicht korrumpieren lässt. Zudem ist es von tiefer Ironie, dass John eines Rendite verheißenden (Namen-)Zeichens wegen die realen Unzulänglichkeiten seiner zukünftigen Braut, „deren einziger Fehler ein etwas unverhältnismäßig großer Kopf war“29, hintanstellt und erfahren muss, wie seine semiotische Volte unter umgekehrten − und nunmehr ‚korrekten‘ − Vorzeichen auf ihn zurückfällt. Denn während die Doppelnamenstrategie der Seldwyler nicht auf Realien, sondern auf referenzfreier, lautlich-rhetorischer Schönfärberei beruht, gerät ausgerechnet der selbst ernannte Meister derartiger Operationen an ein unerwartet ‚echtes‘ Zeichen. Das körperliche Stigma der unehelichen Jungfer nämlich, das zunächst in Kontrast zur lautmalerischen Schönheit ihres vermeintlichen Familiennamens zu stehen scheint, erweist sich zum Entsetzen Johns als wahrhaftiger Referent ihres Vaternamens: „Und mit einem solchen Hauptkopfschädel kann man Häuptle heißen!“30 An eben dieser Stelle, an der Zeichen und Bezeichnetes unerwartet zusammen finden, weisen sie auf ihren Manipulatoren zurück und offenbaren das Bild eines Taugenichts, der zum Leidtragenden des eigenen Zeichendiskurses wird, indem er an eine nicht minder versierte Witwe gerät, die ihre per ‚Großkopfigkeit‘ als Produkt einer Sittenwidrigkeit stigmatisierte Tochter unter falschem Etikett zu Markte trägt. Die Hintersinnigkeit aller Beteiligten entzündet sich allein an den materiellen Vorzügen des Ehegelöbnisses, welches als profundes Mittel zur Besserung einer gegenwärtig als prekär empfundenen Lage (v)erklärt wird, sich
|| 28 HKKA 5, 68. 29 HKKA 5, 67. 30 HKKA 5, 68.
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allerdings gegen seine Verwirtschaftung erfolgreich zu verteidigen weiß und die vermeintliche Klugheit des ‚eheschändenden‘ Dreigestirns in deren selbst „ausgespannten Netze[n]“31 aus täuschenden Zeichen versiegen lässt. Die Skrupellosigkeit, mit der die Idee der Ehe von den Verhandlungspartnern zur Geschäftsgrundlage degradiert wird, konvergiert in der unglückseligen Figur der Jungfer Häuptle, deren körperliche Normabweichung auf buchstäblich ‚bezeichnende‘ Weise einer standesamtlichen Erblast korrespondiert, so dass die den väterlichen Familiennamen tragende junge Frau nicht nur von den sittlichen Grenzüberschreitungen der Mutter kündet, sondern zugleich für deren Sünden büßt. Der nicht zufällig zum Stigma der jungen Frau auserkorene ‚Hauptkopfschädel‘ verdankt seine Wahl somit nicht allein der Exponiertheit dieses Körperteils, sondern seiner unerwartet wehrhaften Verweiskraft, die inmitten eines undurchsichtigen Zeichenwirrwarrs die Autorität des Zeichens restauriert. Zudem fungiert der Großkopf als ein männlich-patriarchaler ‚Fußabdruck‘, der das Erbe einer verleugneten Väterlinie mit Verweis auf das väterliche (konkret: standesamtliche) Recht auf eine physiologisch unübersehbare Weise anmahnt. Das Blut des Vaters ist folglich weder im, noch durch den Namen der Mutter zu tilgen. Das patronymisch-physiognomische Erbe der ‚Großkopfjungfer‘ erscheint folglich als Mahnmal einer nicht korrumpierbaren männlichen Ordnung amtlicher wie genealogischer Natur und droht bei Missachtung entsprechender Statuten mit dem langen Arm des väterlichen Rechts, das in vorliegendem Fall das Treiben der renditefixierten Akteure auf geradezu groteske Weise der Lächerlichkeit preisgibt. Es ist dies auch eine erste Warnung an den Glücksschmied aus Seldwyla, dass das Zeichen an sich einem unlauteren Gebrauch zwar recht leidenschaftslos gegenübersteht, das dahinterstehende System jedoch, welches für die Autorität dieser Zeichen bürgt, hingegen sehr wohl „die ordnungswidrige Nichttransparenz der ausgesandten Zeichen“32 zu sanktionieren weiß. Paradoxerweise findet John just in dem Moment, in dem seine zeichentheoretische Verwertungsstrategie an der aus dem gleichen Holz geschnitzten Mutter der unglückseligen Jungfer zerschellt, eine Partnerin im Geiste, so dass sein Versuch, den linguistischen Turmbau zu Seldwyla doch noch zu retten, indem er kurzentschlossen die Witwe selbst zum Traualtar bittet, so konsequent wie entlarvend ist. Denn dieser neuerliche Winkelzug, mit dem er seine Schwiegermutter
|| 31 HKKA 5, 67. 32 Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997, S. 484. Von Wagner-Egelhaaf bezogen auf die narzisstische Lydia aus ‚Pankraz der Schmoller‘, trifft das Prinzip einer absichtlich gestifteten ‚Zeichenverwirrung‘ gleichsam auf den Glücksschmied John Kabys zu.
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in spe zur Ehefrau und die „unselige“33 Verlobte zur eigenen Stieftochter zu machen gedenkt, ist endlich derart bizarr, dass selbst die berechnende Witwe nicht länger an ihrer fixen Idee festhalten mag, „sein geregelter Müßiggang deutete auf einen behaglichen und sichern Zinsleinpicker oder Rentier, der seine Werttitel gewiß in einem artigem Kästchen aufbewahrte“34. Mit der Hinwendung Johns zur Witwe Oliva als letztem Fluchtpunkt seines vermeintlichen Meisterschlags, tritt zudem einmal mehr der Objektcharakter des Weiblichen zu Tage, da sich Johns Begierde nicht auf die individuelle Erscheinung ‚Frau‘, sondern allein auf eine generelle Nutzbarmachung des weiblichen Geschlechts richtet und allein die Funktion, nicht das Individuum begehrt. Durch das falsche Spiel mit dem anderen Geschlecht fällt der Blick unweigerlich auch auf die geschlechtliche Reputation des Taugenichts selbst, der sich, prächtig geschmückt mit den Attributen des ‚gemachten Mannes‘, den weiblichen Figuren in kühler Gewinnerwartung nähert, an den Statuten eines solchen gemessen jedoch mehr als dürftig dasteht. Denn das einzig Greifbare im Leben des Mittdreißigers ist das stoische Festhalten an einer passiven Existenz in Lauerstellung, die trotzig auf die immer wieder ins Feld geführte Phrase des einen Meisterschlags verweist, „daß jeder der Schmied seines eigenen Glückes sein müsse, solle und könne, und zwar ohne viel Gezappel und Geschrei. […] Ruhig, mit nur wenigen Meisterschlägen schmiede der rechte Mann sein Glück!“35 Dieser parolenartige Appell an die Eigeninitiative verkommt in der verqueren Logik Johns freilich zur Karikatur, zur unproduktiven Huldigung des Müßiggangs. Die Meisterschläge entpuppen sich entsprechend mehr als Meisterstreiche, die sich in bloßer Zeichenarbeit erschöpfen und die sprichwörtliche Schmiedearbeit Johns als eine Reihung zeichenkosmetischer Operationen demaskieren. Dabei wird nicht nur die Ausführung dieser Meisterstreiche, sondern der gesamte Lebensfluss auf betont ruhige Weise gestaltet, so dass das Bild eines Mannes entsteht, dessen Bezug zur Welt nicht durch Eigeninitiative, sondern das Vertrauen „auf den ausgeworfenen Köder“36 bestimmt ist. Dieser Köder kann sprachlichlautmalerischer Natur sein, schlägt sich aber besonders anschaulich in der kunstvollen Präsentation eines ‚Zeichenkörpers‘ nieder, wenn es etwa darum geht, die mütterliche Wächterin eines vermeintlichen Renditeobjekts mit Insignien von Status und Mannhaftigkeit zu umgarnen. An dieser Stelle zeigt John seine wahre Meisterschaft in der geschmeidig-undogmatischen Auslegung semiotischer Leh-
|| 33 HKKA 5, 68. 34 HKKA 5, 67. 35 HKKA 5, 63. 36 HKKA 5, 63.
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ren, als deren Kern er die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem erkennt und diese Differenz als mögliche Sollbruchstelle des Systems für sich auszunutzen weiß. Folgerichtig ist es die Verweisfunktion des Zeichens – Existenzberechtigung wie Achillesferse zugleich – an der John den Hebel ansetzt, um sich in jener ‚Wundstelle‘ einzunisten, die notwendigerweise entsteht, wo das Zeichen die Anwesenheit eines Abwesenden behauptet, ohne selbst jedoch dieses Abwesende zu sein. In dieses zeichenbasierte Referenzsystem klinkt sich John als Nutznießer ein, indem er sein Unwesen in der Grauzone zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem treibt, nämlich – bevorzugt soziale – Zeichen für sich sprechen lässt, auf deren Referenzialität nicht länger vertraut werden kann. Auf Erzählebene erweist sich seine Meisterschaft in der opulenten Inszenierung des eigenen (Zeichen-)Körpers, dessen kostbarer Zierrat einer konventionalisierten Lesart zufolge von Macht und Status kündet, tatsächlich aber auf nichts weiter verweist als die eigene Zeichenhaftigkeit, somit jedwede Referenz im Windschatten von „automatisierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern“37 erschleicht. Verweiskraft meint eben nicht Beweiskraft – und so bricht John „mit allen seinen Attributen“38 zu einer Werbetour in eigener Sache auf, trägt allerlei Signifikantes wie Uhren, Brillen, Hemdknöpfe oder Kettchen vor sich her und vertraut darauf, dass sich der zeichenschwere Popanz als über alle Zweifel erhaben erweist. Auf diese Weise werden die inhaltsleeren Zeichen des Taugenichts zu profunden Zeichen seiner selbst und erfahren als solche gar eine Restauration ihrer Verweiskraft, da sie nicht länger auf eine zwar abwesende, aber existente Realität verweisen, sondern nurmehr auf Johns charakteristische Substanzlosigkeit. Indem die sorgsam aufgereihten Zeichen nur noch auf die eigene Zeichenhaftigkeit referieren, tritt das selbstreferenzielle Moment dieser Zeichenpiraterie zutage, das seinen Träger in dialektischer Weise als gleichermaßen verhüllt wie entblößt zu erkennen gibt.
|| 37 Martin Stingelin: „es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Oceans [...] herein.“ Gottfried Keller und die Neue Welt. In: Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Hg. von Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig. Bielefeld 2009, S. 225–236, S. 233. In Bezug auf das Peircesche Zeichenmodell resümiert Stingelin: „Bei Keller können wir auf der Erzählebene der Protagonistinnen und Protagonisten also beobachten, wie sie jeweils am Sprung von der ersten oder zweiten zur dritten Interpretationsstufe des Zeichens, vom Begriff oder der Aussage zum Argument scheitern. Sie werden durch falsche abduktive Schlußfolgerungen zu Opfern ihrer forciert ikonischen oder indexikalischen Interpretationen, zu denen sie von automatisierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern verführt werden“. (S. 233). 38 HKKA 5, 65.
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Wenn John als ein „semiotischer Betrüger, der mit leeren Begriffshülsen handelt“39, die Prinzipien des Scheinverkehrs auf den zwischenmenschlichen Bereich überträgt, eine verheißungsvolle Zeichenfassade sozusagen als den kürzesten Weg zum großen Glück begreift, erscheint seine Brautschau endgültig in Analogie zum Seldwyler Kreditwesen und zeigt einen Mann, der souverän „über die Mechanismen modernster Warenästhetik, die jeden Wahn zur Zweifellosigkeit erheben, dass das, was auf der Verpackung draufstehe, auch wirklich drin sei“40, zu verfügen weiß. Entsprechend verweist Johns Existenz bzw. das Leben zu Seldwyla generell auf eine einzige große Spekulationsblase, auf eine sich permanent im Kreise drehende ‚Zeichenpolonaise‘, die zu einer gesteigerten, gleichermaßen gegenwärtigen wie ‚gegenwertslosen‘ Betriebsamkeit am Orte führt und das Prinzip der Referenzialität als die systematische Nullstelle des Seldwyler Zeichenbetriebs offenbart.
2.1.3 Zeichenhafte Anziehung: Ortswechsel und Adoption auf Basis falscher Zeichen Die vom Kreditkünstler zur Stilfrage (v)erklärte Verwaltung des persönlichen Stillstandes schlägt sich folgerichtig in einer auch lokalen Fixierung des Helden nieder, so dass erst eine Bewegung auf räumlicher Ebene nach Vorbild einer klassischen ‚Junggesellenwanderschaft‘41 einen entsprechenden entwicklungspsychologischen Impuls auslöst und den Enddreißiger in Aufbruchsstimmung versetzt. Wiederum sind es verheißungsvolle Zeichen, die nunmehr aus dem fernen Augsburg an John herangetragen werden und von einem alten, reichen Kauz künden, „welcher öfter versicherte, seine Großmutter sei eine geborene Kabis von Seldwyla in der Schweiz gewesen, und es nehme ihn höchlich wunder, ob da noch Leute dieses Geschlechtes lebten.“42 Zur Aufwartung im fremden Hause hüllt sich der Seldwyler Glücksschmied abermals in einen opulenten Zeichenmantel, der diesmal mit „einer gewaltigen Busennadel, welche als Miniaturgemälde eine Darstellung der Schlacht von Waterloo enthielt“43, und „einem großen Rohrstock, dessen Knopf ein kleiner Opern|| 39 Selbmann: Gottfried Keller, S. 83. 40 Selbmann: Gottfried Keller, S. 83. 41 Zur Figur des Junggesellen vgl. Marianne Schuller: Junggesellen. Zu einer Textfigur bei Keller und Walser. In: Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser. Hg. von Ursula Amrein, Wolfram Groddeck und Karl Wagner. Zürich 2012, S. 83–93. 42 HKKA 5, 69. 43 HKKA 5, 65.
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gucker bildete“44, gar kriegerisch-phallische Assoziationen weckt und einen regelrechten Beutezug in Richtung Augsburg erwarten lässt. Seine sprichwörtliche ‚Weste‘ – sein „blankes Vorhemdchen“45 – ist hierbei wie üblich schneeweiß, „um seine Knöpfe, Kettchen und Nadeln auf weißem Grunde zu zeigen“46. Derart weiß, dass bei so viel demonstrativer Reinheit das zu Verhüllende, nämlich der weit weniger ‚saubere‘ Bereich unterschwellig-erotischer Körperlichkeit umso klarer hervortritt.47 Dass neben der Darstellung des Untergangs bei Waterloo zugleich das ‚Mazeppa-Motiv‘48 zum mitgeführten ‚Zeichengepäck‘ gehört, lässt das Zeichensammelsurium als eine bedrohliche Synthese aus Sexualität und Untergang erscheinen. Die zeichenhaften Mahnungen seiner „flunkernde[n] Ziergeräte“49, deren Bedeutung sich im beschriebenen Zusammenhang als nicht ohne Weiteres kontrollierbar, sondern kontextabhängig erweist, bleiben John freilich unzugänglich, so dass nicht Historisches, sondern er selbst als Referenzobjekt der gleichermaßen prunk- wie unheilvollen Bildzitate erscheint. Wieder ist es die Infinität des Zeichens, die John zwar einerseits gern und häufig für seine Zwecke einsetzt, die – wie am Beispiel seiner symbolschweren, ‚überzeichneten‘ Reisetoilette zu sehen – allerdings auch jederzeit in einer kaum kontrollierbaren Weise auf den selbst ernannten Meister der Zeichenkunst zurückzufallen droht. Zunächst jedoch scheint der Lebenskünstler vor den Toren des Verwandten endlich eine den eigenen Ansprüchen und vor allem dem eigenen Selbstbild gerecht werdende Behausung gefunden zu haben: Über einem ansehnlichen Portale türmten sich mehrere Stockwerke mit hohen Fenstern empor, deren starke Gesimse und Profile ein senkrechtes Meer von kühnen Verkürzungen || 44 HKKA 5, 65. 45 HKKA 5, 66. 46 HKKA 5, 66. 47 „Das den Körper umhüllende Linnen deckt ihn zu, aber es berührt ihn unmittelbar und ist damit selbst vom Körperlichen kontaminiert: Die Wäsche ist zugleich Zeichenträgerin und Zeichentilgerin des Körperlichen, ihre makellose Reinheit verweist paradoxerweise immer zugleich auf die trübe Sphäre des Körperlich-Erotischen.“ Aus: Elsbeth Dangel-Pelloquin: Weiße Wäsche. Zur Synthese von Reinheit und Erotik bei Keller und Stifter. In: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 143–156, S. 147. 48 Zum Bildmotiv des ‚Mazeppa‘ vgl. Christa Pieske: Lord Byrons Held Mazeppa. Wanderungen eines Bildmotives durch die Trivialgraphik. In: Kunst & Antiquitäten. Zeitschrift für Kunstfreunde, Sammler und Museen. Bd. IV. Hannover/München 1979, S. 58–69. Zum Leben des historischen Iwan Stepanowitsch vgl. Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 13. 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig/ Wien 1908, Sp. 491–493. 49 HKKA 5, 74.
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vor dem Auge des armen Glückssuchers ausbreiteten, so daß es ihm fast bänglich wurde und er befürchtete, eine zu großartige Sache unternommen zu haben; denn er stand vor einem förmlichen Palast.50
Dieser imposante, von Macht und Wehrhaftigkeit kündende Prachtbau, dessen dominierendes architektonisches Merkmal ein beständig zitierter phallischer Wuchs in die Höhe ist, erweist sich wenig überraschend im Inneren von gleicher Natur. So erscheint das Treppenhaus als eine ordentliche Rüstkammer, da es behangen war mit Rüstungen und Waffen aus allen Jahrhunderten; rostige Panzerhemden, Eisenhüte, Galakürasse aus der Zopfzeit, Schlachtschwerter, vergoldete Luntenstäbe, alles hing durcheinander, und in den Ecken standen ziervolle kleine Geschütze, grün vor Alter. Kurz, es war das Treppenhaus eines großen Patriziers und Herren.51
Alle Zeichen, mit denen John sich konfrontiert sieht, lassen nur auf eines schließen: Mannhaftigkeit – und zwar in der großbürgerlichen Variante eines patrizischen Patriarchen. Doch ebenso wie das vorgefundene Arsenal an Kriegsgerät allem einstigen Glanz zum Trotz weder Rost noch Patina verbergen kann, erweisen sich auch die selbstbewusst dem Himmel entgegenstrebenden Gemäuer als trügerisch, denn im Inneren des androzentrischen Tempels residiert „ein winziges eisgraues Greischen, nicht schwerer als ein Zicklein, in einem Schlafrock von scharlachrotem Sammet“52. Dieses „Männchen“53 – ein Hausherr „im Zeichen hyperbolisch-grotesker Disproportion“54 – muss zudem ausgerechnet angesichts eines der frühesten Rituale des Mannseins kapitulieren und so „strampelte [es, S.V.] vor Ungeduld, schrie weinerlich und rief: ‚Ich kann mich nicht mehr rasieren! Ich kann mich nicht mehr rasieren! Mein Messer schneidt nicht!‘“55. Dass der Ankömmling aus Seldwyla dieses Ritual kurzerhand an sich zieht, gar „lächelnd dem Männchen das Messer aus der Hand“56 nimmt, lässt erahnen, dass eine neue (sexuelle) Potenz das Hause Litumlei betreten hat. Die Infantilisierung des Greises, dessen Problem nicht etwa eine stumpfe Messerklinge, sondern ein Mangel an Geschicklichkeit ist, geht einher mit einer konsequenten Diminuierung des
|| 50 HKKA 5, 71. 51 HKKA 5, 72. 52 HKKA 5, 72. 53 HKKA 5, 73. 54 Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 8. 55 HKKA 5, 72. 56 HKKA 5, 73.
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„Alterchen“57 und einer entsprechenden Verwendung des Personalpronomens „es“58, so dass die Kinderlosigkeit des Adam Litumlei niemanden zu überraschen vermag außer ihn selbst: Aber ein hartnäckiger Unstern verfolgt mich! Schon habe ich die dritte Frau, und noch hat mir keine ein Mädchen, geschweige denn einen Sohn und Stammhalter geschenkt. Die beiden früheren Weiber, von denen ich mich scheiden ließ, haben seither mit andern Männern aus Bosheit verschiedene Kinder gehabt, und die gegenwärtige, welche ich auch schon sieben Jahre besitze, würde es gewißlich gerade so machen, wenn ich sie laufen ließe.59
Die Botschaft ist eindeutig: Der ausbleibende Zeugungserfolg des Mannes kann nichts anderes sein als Ausdruck wahrhafter Boshaftigkeit des weiblichen Geschlechts. Neben dieser unverhohlenen Misogynie des Hausherrn fällt erneut der manifeste Objektstatus des Weiblichen auf, der die Männer als zwei Seelenverwandte zu erkennen gibt, deren jeweiliges Interesse am weiblichen Geschlecht allein der Aufwertung der eigenen Existenz gilt. Die nur entfernt blutsverwandten Männer stehen sich somit hinsichtlich ihrer überzeichneten Selbstbilder umso näher, was Adam Litumlei eindrucksvoll unterstreicht, wenn er John in eine prächtige Ahnengalerie führt, deren ausgestellten Bildnisse jedoch offensichtlich umetikettiert wurden, wovon „Inschriften in lateinischer Sprache [zeugen, S.V.] , welche mit den angehefteten Papierchen nicht übereinstimmten“60. Wieder stimmen Bezeichnendes und Bezeichnetes nicht überein. Im konkreten Fall wird eine ganze Ahnenreihe einfach gekauft – „dieses sind nämlich nicht meine Ahnen, sondern die Glieder eines ausgestorbenen Patriziergeschlechtes dieser Stadt“61 − und durch Anbringung neuer Etiketten zur Vorfahrenreihe eines an überlieferter Herkunft armen Greises umgedeutet. So werden „Inbegriffe erinnerungsträchtiger Subjektbezogenheit“62 rigoros verwirtschaftet und auf dilettantische Weise der „erinnerungsfeindlichen Fungibilität“63 einer auf Verwert|| 57 HKKA 5, 73. 58 HKKA 5, 73. 59 HKKA 5, 77. 60 HKKA 5, 74. 61 HKKA 5, 76. 62 Vedder: Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben, S. 152. Vedder weist darauf hin, dass John auf seiner ökonomisch ausgerichteten Kreditsuche maßgeblich auf „Eigennamen, charakteristische ‚Zierstücke‘ und eine familiale Genealogie setzt – also auf Inbegriffe erinnerungsträchtiger Subjektbezogenheit“, die von seinem Geistesvater Adam Litumlei in ähnlicher Weise verwirtschaftet werden. 63 Theodor W. Adorno: Über epische Naivität. In: Adorno.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt 1958, S. 34–40, S. 37. Zit. n. Vedder: Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben, S. 152. Laut Vedder führt die erinnerungsfeindliche Fungibilität
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und Austauschbarkeit getrimmten Mehrwertideologie geopfert. Die Signa des Alten sind folglich ebenfalls nichts weiter als ungedeckte Schuldscheine, so dass es nur konsequent ist, wenn im Folgenden zwei Zeichenpiraten einen Pakt zum Zwecke der Substanziierung ihrer bis dato inhaltsleeren Zeichenarbeit schließen: Schließlich umarmten sich der künstlich-natürliche Sohn und der geschlechter-gründende Erzvater; aber es war nicht wie eine warme Umarmung von Fleisch und Blut, sondern weit feierlicher, eher wie das Zusammenstoßen von zwei großen Grundsätzen, die auf ihren Wurfbahnen sich treffen.64
Der feierlichen Vereinigung großer Grundsätze folgt nichts anderes als ein Tauschgeschäft unter Mängelexemplaren, ein gegenseitiges Umklammern zweier Ohnmächtiger, das einen ökonomisch privilegierten, aber impotenten Greis zum zahlenden Wirt eines mittellosen Glücksritters macht. Wenngleich die Szene im fernen Augsburg situiert ist, zeigt sich, dass wo immer sich ‚Scheinverkehrer‘ auf ihren Umlaufbahnen treffen, stets auch ein Stück Seldwyla zugegen ist. Denn Seldwyla ist überall dort, wo eine entsprechende Geisteshaltung zu finden ist, so dass sich in der Umarmung der Wahlverwandten das „Wesen Seldwylas als eines der Ortlosigkeit“65 zeigt und die Expedition Johns nach Augsburg ironisch unterläuft, da diese ihn zu keinem Zeitpunkt über die geistigen Grenzen Seldwylas hinausführt. Damit nun der heimische Fremde endlich zu jenem stattlichen Herren werden kann, auf dessen Lebenswandel er sich zeitlebens vorbereitet hat und im Gegenzug der stammlose Alte den ersehnten Stammhalter zur nachträglichen Beurkundung des eigenen Geschlechts erhält, ersinnen die beiden Zeichenkünstler die Idee „einer künstlichen Nachhilfe“66 in Zeugungsangelegenheiten.
|| eines allgegenwärtigen Ökonomisierungsdekrets dazu, „alles in eine allgemeine Tauschbewegung zu integrieren, über alles unterschiedslos zu disponieren [...], so dass kein Erinnerungswert, keine historische Markierung der umfassenden Verfügung im Wege stehen.“ (S. 152) 64 HKKA 5, 79. 65 Kreienbrock: Das Kreditparadies Seldwyla, S. 122. Kreienbrock beschreibt das Überschüssige, den typischen ‚Mehrwert‘ der Scheinproduktion zu Seldwyla als (örtlich) nicht fixierbar, so dass das Phänomen ‚Seldwyla‘ überall in Erscheinung treten kann: „Das Inkommensurable, das sich der vollständigen Integration in einen geregelten Warentausch widersetzt, hat keinen bestimmten Ort. Es kann sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen Seldwylas auftauchen und verhindert jede klare Trennung von Eigenem und Fremden, Eigentlichem und Uneigentlichem.“ (S. 122) 66 HKKA 5, 77.
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2.1.4 Ein Zeugungsroman: Der Phallus und sein Federspiel Diese ‚Nachhilfe‘ meint nichts anderes als einen neuerlichen Anschlag auf das Wesen des Zeichens, zu dessen Ziel die beiden Männer konkret die aller Dichtkunst innewohnende Problematik des Realitätsbezugs erwählen, um beim Verfassen eines eigenen ‚Romans‘ Fiktion und Faktizität hemmungslos ineinander zu verweben. Das geschriebene Wort wird entsprechend nicht dazu verwendet, eine vergangene Realität zu dokumentieren, sondern eine fiktive Vergangenheit zu Papier zu bringen, so dass im Folgenden ein Vater-Sohn-Roman aufgesetzt wird, der intime Rückschlüsse auf das Seelenleben zweier Männer zwischen sozialen Ansprüchen und persönlichen Defiziten zulässt – und zugleich auf poetologischer Ebene Produktionsbedingungen und Wirklichkeitskonzeptionen von Literatur problematisiert. Der die eigene Abstammung und Geschichte bereitwillig preisgebende Ziehsohn aus Seldwyla beginnt das Schriftstück seinem unternehmerischen Selbstbild gemäß denn auch mit einer wenig poetischen Reihung nüchterner ‚Fakten‘, maßgeblich einer quälend langen Auflistung fiktiver Ernteerträge nebst der hieraus resultierenden Preise, um einmal mehr seiner geradezu pathologisch auf Rendite fixierten Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen.67 Das impotente ‚Greischen‘ wiederum wächst in seiner Phantasie zu einem den Text und die Regeln der Orthographie penetrierenden Maskulinum heran:68 Nun kam Er und hieß Adam Litumlei. Er verstand keinen Spaß und war geboren anno 17… Er kam daher gestürmt wie ein Frühlingswetter. Er war einer von denjenigen. Er trug einen || 67 Sautermeister führt am Beispiel von Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe an, wie die textintern praktizierte Literaturproduktion zum Spiegel einer „wachsende[n] Selbstvermarktung des Menschen“ (Gert Sautermeister: Nachwort. In: Gottfried Keller: Liebesgeschichten. München 1994, S. 331–355, S. 342.) wird – was in vorliegender Szene gleichermaßen für John Kabys Bereitschaft, Herkunft und Identität einem fiktiven Zeugungsroman zu opfern, gilt. 68 Als Anredepronomen (‚Höflichkeits- bzw. Distanzanrede‘) wird die 3. Person Singular in der ‚Frühen Neuzeit‘ durch „die allmähliche Ausbildung (Ende 17. Jh.) und dann die Konventionalisierung (18. Jh.) der Sie-Anrede in der 3. Person Plural“ abgelöst. (Aus: Werner Besch: Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel [Art.]. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger. 3. Teilband. Berlin/New York 2003, S. 2599–2628, S. 2610.) Die hier anzutreffende Großschreibung des Personalpronomens ‚er‘ – die nicht Anrede ist und somit auch nicht Zitat früherer Hoheitsanreden sein kann – widersetzt sich folglich bewusst den zur Entstehungszeit des Textes geltenden Rechtschreibkonventionen und unterläuft orthographische Grundsätze, um auf diese Weise den phallischen Charakter des fiktiven Stammvaters ‚grammatisch‘ zu untermauern.
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roten Sammetrock, einen Federhut und einen Degen. Er trug eine goldene Weste mit dem Wahlspruch: Jugend hat keine Tugend! Er trug goldene Sporen und ritt auf einem weißen Hengst […].69
Das nicht bloß am Satzanfang großgeschriebene ‚Er‘ prasselt auf die fiktive Ahnenschrift in einem kaum zu überbietenden Stakkato nieder. In Analogie zu archetypischen Vorstellungen von der phallischen Potenz viriler Männlichkeit, die wie eine Naturgewalt über die Frauenwelt hereinbricht, zeigen sich die Sätze des Alten kurz, schnörkellos und von parataktisch dicht gereihter Abfolge. Umso mehr jedoch gibt sich die Darstellung der Darstellung (Niederschrift) – welche freilich „starkes und schönes Papier haben müßte“70 – als ein geradezu spöttischer Kommentar auf die Diskrepanz zwischen Sein und Schein zu erkennen. Die Fantastereien des Alten nämlich, seine Hirngespinste jugendlichen Draufgängertums, lassen angesichts der offenkundigen Kluft zwischen Selbstbild und Fremdbild kaum eine andere Lesart zu, als dass hier einer ein kompensatorisches Kartenhaus ohne jegliche Substanz buchstäblich sich zusammenreimt. Konsequenterweise fällt dieser Männerphantasie denn auch umgehend ein zur Demonstration des eigenen phallischen Selbstverständnisses geeignetes weibliches ‚Objekt‘ zum Opfer: „Komm, Du holdes Liebchen, Du taugst mir besser als Wein und Braten, als Silber und Gold! Was kümmere ich mich darum? Denke was Du willst, was sein muß, muß sein!“71 Was hier mehr noch als Wein und Braten begehrt wird, ist die Idee eines jederzeit verfügbaren weiblichen Sexualobjekts, das per ‚Roman‘ zur Empfängerin der Litumleischen Zeugungsarbeit und somit zur fiktiven Mutter des adoptionswilligen Glücksritters aus Seldwyla bestimmt wird. Mit der Beschreibung dieser Mutterfigur, der imaginären Jungfrau ‚Liselein Federspiel‘72, die als fiktionale Schöpfung einer Schreibfeder zugleich literarische Selbstreferenz ist, führt John den gemeinsamen Meisterstreich ganz im Sinne seines geistigen Vaters fort und fabuliert von einer ‚wildlebenden‘ Jungfrau,
|| 69 HKKA 5, 83. 70 HKKA 5, 81. 71 HKKA 5, 83. 72 Das ‚Federspiel‘ wird gemeinhin als „Anliegen des Textes, sich selbst auf das Zusammenspiel von Kontingenz und Sinnstiftung durchsichtig zu machen“ (Vedder: Kellers verlustreiches Schreiben, S. 153, Anm. 17), gelesen und entsprechend als poetologisch reflektierte und reflektierende „Spielfigur einer Autorfeder“ (Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1981, S. 356.) gewertet, womit zugleich sämtliche Akteure des Ahnenromans als fiktive „Ausgeburten eines ‚Federspiels‘“ (Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 12) markiert werden.
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welche in den äußersten Häusern der Stadt wohnte, wo die Gärten sind und bald ein Wäldchen oder Hölzchen kommt. Diese war eine der reizendsten Schönheiten, welche die Stadt je hervorgebracht hat, mit blauen Augen und kleinen Füßen. Sie war so schön gewachsen, daß sie kein Corsett brauchte […].73
Diese Naturfrau lebt erwartungsgemäß im Grenzbereich zwischen Zivilisation und Wildnis. Hier waltet sie zwar weitgehend frei von einem ‚Korsett‘, bezahlt für diese Isolation jedoch mit einer „allgemeine[n] Traurigkeit“74, welche beinahe wie der Preis für eine selbstbestimmte Frauenexistenz anmutet, die „ihr Wohl und Wehe, ihre Tugend und ihren Fall in der eigenen Hand“75 hält. Der fiktive Zeugungsakt, nunmehr wieder aus der Feder des „kleinen Gebieter[s]“76, fällt entsprechend ruppig und schonungslos aus: Da ist nichts zu lachen! [...] denn ich verstehe keinen Spaß! Kurz, es kam, wie es kommen mußte; wo das Wäldchen auf der Höhe stand, saß mein Federspiel im Grünen und lachte noch immer; aber schon sprang der Ritter auf seinen Schimmel und flog [...] in die Ferne [...]; denn er war ein Teufelsbraten!77
Was die zwei frauenverachtenden Taugenichtse, berauscht von maskulinistischen Phantasien und übersteigerten Selbstbildern, hier auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts (rhetorisch) durchexerzieren, ist faktisch nichts anderes als die arbeitsteilige Schwängerung der fiktiven Mutter des neuen Ziehsohns im Hause. Dass die Urheber dieses „grotesken Unfug[s]“78 wahrhaftig ‚potent‘ einzig mit Blick auf den eigenen Einfallsreichtum sind, gibt der Text mit unverkennbarer Ironie zu erkennen, wenn er etwa den alten Litumlei unmittelbar nach dem papiernen Zeugungsakt als ‚sexuell‘ ganz verausgabt verhöhnt: „Ha, nun ist’s geschehen! […] nun habe ich das meinige gethan, führe du nun den Schluß herbei, ich bin ganz erschöpft […].“79 Die völlige Erschöpfung infolge eines rein fiktiven Fortpflanzungsakts verballhornt den Zeugungsbericht als selbst in Anbetracht seiner Fiktionalität noch grotesk überzogen und entlarvt den ‚Roman‘ als literarische Denkmalpflege eines verdorrenden Greises, der von der polykarpischen Vitalität seines Taufnamens („Johann Polykarpus Adam Litumlei“80) offenkundig
|| 73 HKKA 5, 83. 74 HKKA 5, 84. 75 HKKA 5, 84. 76 HKKA 5, 74. 77 HKKA 5, 85. 78 Ulrich Kittstein: Gottfried Keller. Stuttgart 2008, S. 123. 79 HKKA 5, 85. 80 HKKA 5, 86.
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übergangen wurde.81 Die phallische Gewalt geht in vorliegendem Fall folglich allein von einer Schreibfeder aus und bringt nichts weiter hervor als ein Bündel Papiere, das neben dem halluzinativen Selbstbild des Alten vor allem das fragile Fundament dieser Wahlverwandtschaft bezeugt und in Johns Plänen nach Ableben des Ziehvaters denn auch „ohne weiteres zu verbrennen“82 ist. Wenn der Glücksritter zudem sein persönliches Credo postnatal dem Mutterleib der imaginären Jungfer einschreibt, um diesen schließlich als „ein munteres Knäblein, welches so recht darauf angewiesen war, der Schmied seines eigenen Glückes zu werden“83 zu verlassen, zeigt sich einmal mehr, welch zentrale Funktion die ‚Verdinglichung‘ des weiblichen Geschlechts innerhalb eines komplexen Systems männlicher Projektions- und Subjektwerdungsprozesse einnimmt. So dient das weibliche ‚Objekt‘ in diesem Zeugungsroman lediglich als Feigenblatt für eine Laudatio auf den Phallus, der nicht nur in Architektur und Inneneinrichtung des Litumleischen Anwesens zitiert ist, sondern auch die aggressiven Fortpflanzungsphantasien des impotenten Hausherrn bedient. Dabei ist es gerade die übersteigerte Rigorosität dieser zwanghaften Unterwerfungsphantasie, die die plakativ-triebhafte Fixierung auf das weibliche Geschlecht in den Hintergrund treten lässt und sich stattdessen als eine auch für den heterosexuellen Mann legitime Form der Huldigung phallischer Männlichkeit erweist. Tatsächlich nämlich erregt die phallische Selbstvergewisserung auf dem Rücken der Frau den unfruchtbaren ‚Adam‘ – in biblischem Verständnis ironischerweise Stammvater aller Stammväter − weit mehr als die fiktive Jungfer. So entlarvt das ‚Federspiel‘ seinen Autor bzw. dessen ‚phallozentrischen‘84 Blick auf die Welt als einen im Grunde gleichgeschlechtlich Begehrenden, dem es mit seinem papiernen Zeugungsakt nicht um das weibliche Geschlecht, sondern allein um die glorifizierende Darstellung einer bestimmten Erscheinung von Männlichkeit zu tun ist. Nachkommen zeugen die beiden Taugenichtse auf diese Weise nicht, wohl aber reflektiert der literarische Unfug in aller Deutlichkeit die Verfassung seiner Skribenten, so dass ausgerechnet eine groteske Fantasterei innerhalb eines program-
|| 81 „polykarp, polykarpisch (Bot.): in einem bestimmten Zeitraum mehrmals Blüten und Früchte ausbildend“. Aus: Duden. Bd. 5: Das Fremdwörterbuch. 11., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Hg. von der Dudenredaktion. Berlin 2015, S. 848. 82 HKKA 5, 81. 83 HKKA 5, 86. 84 „Phallozentrismus (gr. phallos: männliches Glied) kennzeichnet die patriarchalisch-hierarchische Struktur einer sowohl gesellschaftlichen als auch sprachlich-symbolischen Ordnung, die den Phallus als dominierendes männliches Herrschaftszeichen im Zentrum jeglicher Macht sieht.“ Aus: Mario Grizelj: Phallozentrismus [Art.]. In: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Hg. von Achim Trebeß. Stuttgart/Weimar 2006, S. 239.
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matisch ‚realistischen‘ Textes im Ergebnis eine äußerst treffliche Darstellung zweier defizitärer Charaktere vorstellt. Die selbstreferenzielle Dimension der Romanepisode zeugt nicht nur von der zeichentheoretischen Versiertheit eines Textes, der die eigene Fiktionalität am Beispiel einer grenzwertigen Literaturproduktion ‚mise-en-abyme‘ thematisiert,85 sie verweist zugleich auf das soziale Zeichensystem ‚Mann‘, das der Zeichenpiraterie der beiden Taugenichtse auf den ersten Blick ähnlich schutzlos ausgeliefert zu sein scheint wie das unbeschriebene Papier. Weil jedoch bei dem Unterfangen, die eigene Geschlechtlichkeit phantastisch überhöht zu dokumentieren, ‚Realität‘ allenfalls auf dem Papier entsteht – wie die ‚außerliterarische‘ Gegenrealität (in diesem Fall freilich auch Fiktion) der beiden Zeichenkünstler eindrucksvoll zeigt –, weist die pointierte Fiktionalität des Geschriebenen über einen rein literarischen Kontext hinaus. Das ‚Federspiel‘ ist entsprechend ein mehrfaches: Es ist der Name einer Jungfer, die auf diese Weise als das phantastische Spiel einer Autorfeder markiert wird, und es ist eine Referenz an männliche ‚Beutephantasien‘86. Als ein Köder nämlich reizt die fiktive Jungfer die vom weiblichen Geschlecht vorzugsweise verschmähten Protagonisten zu bizarren Überreaktionen, wodurch sich der fiktive Zeugungsakt endgültig als ein simpler Kompensationsversuch verrät und die Jungfer Federspiel zu einer literarischen Transparenzfigur wird, auf deren Rücken dann schließlich doch ein – mit Blick auf die Urheber – ungemein realistischer ‚Männerroman‘ entsteht.
|| 85 Auch Schmitt verweist darauf, dass die dargestellte ‚Textproduktion‘ den Kunstcharakter des Textes selbst reflektiert. Vgl. Christian Schmitt: Glücksschmiede. Kontingenz und Selbstbestimmung bei Adalbert Stifter und Gottfried Keller. In: Ästhetik des Zufalls. Ordnungen des Unvorhersehbaren in Literatur und Theorie. Hg. von Christoph Pflaumbaum, Carolin Rocks, Christian Schmitt und Stefan Tetzlaff. Heidelberg 2015, S. 209–226, S. 223f. 86 Wenngleich naheliegend, markiert das ‚Federspiel‘ nicht nur den in ihm transparent gemachten literarischen Schaffensprozess, sondern ist auch als Terminus der Beizjagd bekannt, wo es als Bezeichnung einer Beuteattrappe bei der Abrichtung von Greifvögeln dient. Hier wie da reizt das Federspiel seinen Adressaten zum Angriff – und lässt den Jäger zur eigentlichen Beute werden. Schon im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm heißt es hierzu: „federspiel ist spielvogel, der die falken lockt, mit dem sie spielen, und wurde gern figürlich gebraucht“. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1854, Sp. 1407– 1409.
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2.1.5 Der Sündenfall: Von weiblichen Höhlen und männlicher Hybris Als das neue „Kind im Hause“87 und in Erwartung eines großen Erbes scheint die spekulative Zeichenarbeit Johns zwar „durch die Fülle des Glückes nun vollkommen gedeckt“88, doch bahnt sich bezeichnenderweise just auf der Stolz geschwellten Brust des Seldwylers das Unheil an, wenn das Bild des Mazeppa ‚Realität‘ zu werden droht und sich nunmehr „hell rötlich, beinahe fleischfarbig“89 zeigt. Das Schicksal des Mazeppa, der der Überlieferung nach von einem gehörnten Ehemann nackt aufs Pferd gebunden und in die Wälder getrieben wurde,90 kehrt somit gerade im Moment der nahenden ‚Kredittilgung‘ als eine eindringliche Mahnung gegen den allzu selbstgewissen „John im Glücke“91 in die Erzählung zurück. So lauert hinter der phallischen Fassade des Palastes noch eine unerwartete Herausforderung auf dem Weg ins Erbparadies: die weibliche Sexualität. Diese schlummert als Inkarnation männlicher Lustphantasien unter allen verschlossenen Türen des mächtigen Palastes bezeichnenderweise hinter der einzigen, die stets halb offensteht und zieht die Aufmerksamkeit des Neuankömmlings geradezu magisch an. Der „Eindringling“92, der hierin „eine ziemlich hübsche Frau auf einem Ruhebette ausgestreckt“93 vorfindet, sieht sich unvermittelt in einen höhlenartigen Gegenraum versetzt, der in Kontrast zur phallischen Architektur des patriarchalen Bauwerks seinen Betrachter nicht mit Vertikalismus, sondern seiner Tiefe wegen beeindruckt. In eben diese schwer ergründbare Höhle dringt John wie von unsichtbarer Hand geleitet ein, was den Neuankömmling zu einem ‚Eindringling‘ nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern implizit auch in einem sexuellen Verständnis werden lässt. Intuitiv greift er auf seinen „großen Rohrstock“94 zurück, um durch das Perspektiv die Kraft seines eindringenden Blickes
|| 87 HKKA 5, 77. 88 HKKA 5, 80. 89 HKKA 5, 80. 90 Für Kaiser stellt das auf den russischen Kosakenführer Iwan Stepanowitsch Masepa (ca. 1645–1709) zurückgehende Mazeppa-Motiv eine klassische Empörerfigur dar, „die nach Anfangserfolgen doch am Legitimitätsprinzip“ (Kaiser: Gottfried Keller, S. 359) scheitert. Preisendanz weist zudem darauf hin, dass im Bilde des Mazeppa eine exil-schweizerische „Polenbegeisterung“ infolge der Niederwerfung des Aufstandes von 1830 zum Ausdruck kommt. Vgl. Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 18. 91 HKKA 5, 80. 92 HKKA 5, 71. 93 HKKA 5, 71. 94 HKKA 5, 65.
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zu potenzieren und unter Erregung tiefer in den Raum vorzudringen: „Mit klopfendem Herzen hielt John Kabys, da das Zimmer sehr tief war, seinen Stock ans Auge und betrachtete die Erscheinung.“95 Der metaphorisch im Bilde der visuellen Penetration eines weiblich konnotierten Raums zitierte Geschlechtsakt beschreibt ein für den Reisenden bis dato unbekanntes Terrain und versetzt ihn unversehens auf das ‚Schlachtfeld‘ zwischengeschlechtlicher Sexualität. Die „Schläferin“96, die John durch ihre „rundlichen Formen“97 zu beeindrucken weiß, weckt in ihrem Beobachter Assoziationen an ein „verzaubertes Schloß“98, so dass der Bezug auf das ‚Dornröschenmotiv‘99 die Vorstellung des Eindringlings spiegelt, dass eingedenk des greisen Hausherren die Sexualität der jungen Frau in einem ähnlich tiefen Schlaf sich befinden muss. Da sich Fragen nach der sexuellen Vitalität eines Hausherren, der als Grund seiner Kinderlosigkeit die Boshaftigkeit des weiblichen Geschlechts anführt, das sich in fremder Obhut alsbald umso reproduktionsfreudiger zeigt, erübrigen, welkt hinter der halb offenen Tür nach ‚männlicher‘ Lesart eine seit Jahren sexuell brach liegende und um ihren biologischen ‚Sinn‘ betrogene Weiblichkeit vor sich hin. Ebenso wie Dornröschen ist dieses schlummernde ‚Weiblichkeitspotenzial‘ im Hause jedoch nicht gänzlich dahin, sondern lediglich inaktiv, zumal die Hausherrin bei aller charakteristischen Schläfrigkeit von einer stillen Gegenwärtigkeit beseelt ist, denn „sie war bei aller Trägheit neugierig.“100 Kaum dass diese Dame, „noch gerötet von ihrem Schläfchen und mit halb offenen Augen“101, dem entfernten Verwandten vorgestellt wird, „that sie dieselben ganz auf, neugierig und vergnüglich“102, so dass Schläfrigkeit und Neugierde gleichermaßen auf eine Wartende verweisen, die ihre (Lebens-)Lust zwar notgedrungen durch eine gesteigerte ‚Schlaflust‘ kompensiert, erstere jedoch keinesfalls vergessen hat. In diesem Sinne sind etwa „ein halb aufgegessenes Himbeertörtchen in der Hand“103 der schlafenden Dame oder auch die Beobachtung, dass das Ehepaar beim Verzehr von Speisen eine Leidenschaft an den Tag legt „wie Kinder, die zu jeder
|| 95 HKKA 5, 72. 96 HKKA 5, 72. 97 HKKA 5, 72. 98 HKKA 5, 72. 99 Vgl. hierzu Hans Wysling: Und immer wieder kehrt Odysseus heim. Das „Fabelhafte“ bei Gottfried Keller. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. Zürich 1990, S. 151–162. Darin: „Im Hause Litumlei schläft Dornröschen.“ (S. 156) 100 HKKA 5, 87. 101 HKKA 5, 74f. 102 HKKA 5, 75. 103 HKKA 5, 87.
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Stunde Eßlust haben“104, als weitere Hinweise auf eine ungelebte Sexualität zu verstehen, die im oral-erotischen Akt der Nahrungsaufnahme ihre Ersetzung findet. Weit weniger verklausuliert kündigt sich das Unglück Johns an, der wie sein fiktiver Romanvater eine sexuelle Inbeschlagnahme des weiblichen Geschlechts für das Gebot der Stunde hält und damit unwissentlich zum Hauptdarsteller eines sehr viel handfesteren Zeugungsromans wird. Die bizarren Dominanz- und Zeugungsphantasien des Alten, seine literarischen Projektionen von phallischaggressiver Männlichkeit, die Sexualität allein als Kampf und Okkupation begreift, verklären die Kompensationsstrategien des Greises kurzerhand zu einem männlichen Gesetz, das auf die sexuelle Unterwerfung eines jeglichen frei verfügbaren weiblichen Objekts lautet, denn „was sein muß, muß sein!“105 Zugleich gründet in der beinahe zwanghaften Sexualisierung des weiblichen Geschlechts bzw. verschiedengeschlechtlicher Begegnungen, von deren Alternativlosigkeit ein permanentes ,Müssen‘ kündet, das Machtpotenzial des ‚Weibes‘, das angesichts der eigenen Reize und geltender sexueller Gesetzmäßigkeiten dem männlichen Subjekt keine andere Wahl lässt, als sich der sexuellen Herausforderung zu stellen – eine neutrale, ‚unbeeindruckte‘ Haltung gegenüber erotisch konnotierten Frauenfiguren scheint männlichen Figuren offenkundig nicht möglich. Diesem im vorliegenden Falle buchstäblich ‚väterlichen‘ Gesetz folgt John mit dem unbeholfenen Versuch einer ‚Erweckung‘ der Schläferin, deren stoische Schläfrigkeit ihn jedoch mehrmals irritiert in sein Zimmer flüchten lässt, wo die Mannhaftigkeit des Glücksschmieds auch räumlich ihrem Nullpunkt entgegenstrebt und jener „in der Ecke seiner Kammer“106 kauernd als Karikatur männlichen Raumgriffs erscheint. Beim dritten Anlauf endlich bringt der sich abermals „in die Höhe“107 aufrichtende Eindringling den nötigen phallischen Impetus auf, um nunmehr mit Entschlossenheit den sinnbildlichen Abstieg „die Treppe hinunter“108 in Angriff nehmen und sich mit der dort in der Horizontalen auf ihn wartenden ‚Schläferin‘ zu vereinigen – sie folglich in jeder Hinsicht zu ‚wecken‘. Die Zwanghaftigkeit mit der sich die beiden Zeichenkünstler dem weiblichen Geschlecht auf ausschließlich sexuelle Weise nähern, zeugt von Überkompensation und Narzissmus, während der Text die Motive Johns geradezu komplizenhaft als
|| 104 HKKA 5, 75. 105 HKKA 5, 83. 106 HKKA 5, 88. 107 HKKA 5, 88. 108 HKKA 5, 88.
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schlichte Langeweile ausgibt,109 da es für das Glückskind nun „gar nichts mehr zu hoffen und zu fürchten, zu schmieden und zu spekulieren gab“110. Vielmehr zeigt sich an dieser Stelle ein sexualisiertes männliches Handlungsmuster, das vom Text angeführte Motivationsstränge konterkariert und Vorstellungen von dominanter Männlichkeit bevorzugt über die Inbesitznahme des weiblichen Geschlechts hervorbringt, wodurch entsprechende männliche Handlungsweisen als ‚Zwangshandlungen‘ erkennbar werden. Bloße Langeweile sieht anders aus. Befeuert wird dieser auf sexueller Ebene ausagierte männliche Kontrollzwang von der Seelenlage eines (vermeintlich bald) Besitzenden, der von einer permanenten Verlustangst getrieben ist und als Ventil dieser Angst wie selbstverständlich die sexuelle Bezwingung der schläfrigen Frau Litumlei begreift, da zu fürchten steht, dass eine ‚unbeschlafene‘ – und damit unkontrollierte – Hausherrin „ihm irgend eine nachteilige Wandlung der Dinge bereiten [könnte], ihren Mann umstimmen u. dgl.“111 Es sind ‚klassische‘ männliche Statusmarker (Stellung, Besitz), die als von einer ungezähmten Frauenfigur bedroht wahrgenommen und durch einen sexuellen Unterwerfungsakt symbolisch verteidigt werden. Die obligatorische sexuelle Inbeschlagnahme der namenlosen Hausherrin ist eingedenk der beschriebenen männlich-patriarchalen Geschlechterlogik von gleichermaßen zwingender wie zwanghafter Natur und erklärt, warum der ansonsten so versiert agierende Taugenichts gar nicht anders kann, als die relative Stabilität seines semiotischen Kartenhauses ohne offensichtliche Not aufs Spiel zu setzen. Ironischerweise wird die inaktive ‚Reproduktionsvorrichtung‘ des Greises von John just in dem Augenblick einer vermeintlich „unbestimmten Vorstellung“112 wegen reaktiviert, in dem der Alte seinen stammlosen Stammsitz verlässt, „um im stillen an der Ausmittelung einer zweckmäßigen Gattin für seinen Stammhalter thätig zu sein“113. Dass der Hausherr eine Frau für den Ziehsohn sucht, während dieser die Gattin des Hausherrn für sich entdeckt, belegt einmal mehr, dass der Alte wahrhaftig einen Sohn im Geiste gefunden hat, der genau wie sein Adoptivvater geradezu zwanghaft darauf fixiert ist, das eigene Selbstbild auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts zu stabilisieren. Dieser nunmehr hinter verschlossenen Türen begangene Ehebruch vollzieht sich zugleich auf eine räumlich-metaphorische Weise, wenn der Körper der Hausherrin in Analogie zu
|| 109 Selbmann: Gottfried Keller, S. 84. 110 HKKA 5, 86. 111 HKKA 5, 87. 112 HKKA 5, 87. 113 HKKA 5, 87.
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dem von ihr dominierten Raum von John erobert wird: denn der Eindringling „huschte hinein und blieb nun dort, bis der Patriarch nach Hause kehrte“114. Auch auf Erzählebene bleibt der sexuelle Akt der beiden nicht ohne Folgen, denn kaum dass die beiden den Alten regelmäßig hintergehen, erwacht die brachliegende Sexualität der Hausherrin zu neuem Leben und „[d]ie schläfrige Frau wurde auf einmal munter in ihrer Weise“115. Der sexuelle Meisterstreich Johns, selbstredend „immer in der Absicht, seine Stellung zu befestigen und das Glück recht an die Wand zu nageln“116, markiert erwartbar den Anfang vom Ende seines unerwarteten Aufstiegs, zumal das spätere kathartische Finale der Novelle maßgeblich auf dieses in den Gemächern der schläfrigen Hausherrin aufgespannte Netz aus Sexualität und Macht zurückweisen wird. So erscheint dieser höhlenartige, beinahe ‚uterale‘ weibliche Raum rückblickend weniger als Symbol weiblicher Fruchtbarkeit, sondern mehr als ein Ort symbolischer Vernichtung von Leben.117 Dass sich Johns Scheitern abermals am weiblichen Geschlecht entzündet, welches jedoch wie schon zuvor nicht eigentlich ursächlich für das Unheil des Glücksritters ist, sondern erst als Projektions- bzw. Betätigungsfeld männlicher Eitelkeit eine unheilvolle Wirkung entfaltet, verleiht der Erzählung den Anstrich einer ‚Männerballade‘, die vorzugsweise männliche Befindlichkeiten reflektiert. Das relativ schlichte Geschlechterverständnis der handelnden Protagonisten, die an den Frauenfiguren der Erzählung allein der Stabilisierung des eigenen Egos wegen interessiert scheinen, trägt zusätzlich dazu bei, dass angesichts dieser eindimensionalen Perspektive auf das weibliche Geschlecht verstärkt binnengeschlechtliche Aspekte des Mannseins in den Fokus rücken. Als andersgeschlechtliche Reproduktionseinheiten sind Frauen dem Verständnis der beiden Zeichenpiraten nach „durch Brutpflege definierte Geschlechtswesen“118, die einzig dem || 114 HKKA 5, 88. 115 HKKA 5, 88. 116 HKKA 5, 88. 117 Vgl. Hans-Joachim Hahn: Die ‚Tücke des Objekts‘ – ein Strukturmerkmal in den Seldwyler Novellen? In: Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja. Oxford 2007, S. 47–69, S. 66. 118 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 377. Hausen verweist an dieser Stelle darauf, dass insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weibliche Emanzipationsbestrebungen unter Verweis auf Mutterschaft und Mütterlichkeit vehement abgelehnt wurden, wobei sich nicht zuletzt auch Mediziner hervortaten: „Die Unfähigkeit, ohne Umschweife seinen Willen kund zu geben […], der Mangel an Gerechtigkeitsgefühl und an Scham […], die subjektive Auffassung und Behandlung aller Dinge, sind weiblich und amerikanisch." Aus: Adam Ander: Mutterschaft oder Emancipation. Eine Studie über die Stellung des Weibes in der Natur und im Menschenleben. Berlin 1913, S. 170f.
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Zwecke biologischer bzw. zeichentheoretischer Zeugungsakte und damit der Aufrechterhaltung männlicher Herrschaftsansprüche dienen. Da nämlich männlichgeistige Herrschaftsprinzipien zur Sicherung des eigenen Fortbestehens notwendigerweise auf das ‚Fleisch‘ bzw. den weiblichen Körper angewiesen sind, erscheint die Frauenverachtung der beiden neurotischen Männerfiguren als ein nur konsequenter Reflex auf die als eine narzisstische Kränkung empfundene biologische Tatsache, in Ermangelung einer parthenogenetischen Reproduktionsoption in Zeugungsangelegenheiten an das weibliche Geschlecht gebunden zu sein. Die Degradierung des weiblichen Novellenpersonals zur bloßen ‚Brutstätte‘ wird somit als ein Vergeltungsakt männlicher Hybris erfahrbar, wobei insbesondere die aggressiv-misogynen Penetrationsphantasien des zeugungsunfähigen Greises als eine Kompensation männlichen Gebärneids erscheinen. Vorgeblich wird das Phänomen ‚Frau‘ freilich von beiden Männern über die Maßen begehrt, fungiert es doch nicht nur als Projektionsfläche der eigenen Eitelkeit, sondern überdeckt zuverlässig die gleichgeschlechtliche Fixierung eines phallozentrischen Theaters um männliche Potenz und Herrlichkeit, wodurch es sich als in jeder Hinsicht obligatorisch für die Konstitution eines entsprechend ‚phallischen‘ Selbstverständnisses erweist. Die Abhängigkeit ausgerechnet vom ‚schwachen Geschlecht‘ kann folglich bestenfalls kompensiert, nicht aber überwunden werden, so dass unweigerlich die Frage nach dem Umgang mit dieser als misslich empfundenen Lage im Raum steht, deren Beantwortung erwartungsgemäß auf Unterwerfung und Kontrolle weiblicher Einflussnahme lautet. In diesem Sinne beschreibt die Sexualität bzw. Sexualisierung der schläfrigen Hausherrin nicht zuletzt eine disziplinarische Herausforderung an den Neuankömmling, der abzuwägen hat zwischen dem destruktiven Potenzial einer Liaison mit der Gattin des eigenen Gönners und den Verheißungen einer sinnlichen Frauenfigur. Auf entsprechend trickreiche Weise geht die Figur der augsburgischen ‚Eva‘ denn auch das Postulat männlicher Triebbeherrschung an, indem sie das für männliche Subjektivationsprozesse nicht weniger maßgebliche ‚Gebot‘ der sexuellen Unterwerfung des weiblichen Geschlechts als Angriffspunkt in eigener Sache erkennt, so dass die Höhle der Schläferin absehbar zur Stätte der eigentlichen (Meister-)Prüfung Johns wird. Im Gemach der Adoptivmutter nämlich gerät das Ideal des autonomen männlichen Subjekts in arge Bedrängnis, da die Schläferin das immerwährende Spannungsverhältnis zwischen männlicher Affektkontrolle und psychosexuellen männlichen Phantasien von der Widererlangung einer ganzheitlichen Identität durch die (sexuelle) Vereinigung mit dem weiblichen Geschlecht zu ihren Gunsten zu nutzen weiß. Die sexuelle Interaktion zwischen Hausherrin und Adoptivsohn erweist sich folgerichtig als gänzlich frei von gegenseitiger Zuneigung. Sie ist ein Politikum,
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ein einziges Machtspiel, das am Beispiel eines alles andere als unmotivierten Beischlafs einen Einblick in die Statuten bürgerlicher Geschlechterideologie gewährt und das Fundament männlicher Vorherrschaft als ein Geflecht aus Macht, Geschlecht und Sexualität zu erkennen gibt. Die macht- bzw. ‚geschlechterpolitische‘ Dimension dieser nunmehr regelmäßig vollzogenen Geschlechtsakte wird verstärkt durch den vollständigen Verzicht auf eine über Metaphorisches hinausgehende Darstellung, wodurch der Fokus des Geschehens allein auf dem finalen Resultat – nämlich der Schwangerschaft der Dame Litumlei – liegt. Die moralischen Implikationen des Ehebruchs sind demgemäß ebenso knapp, aber unmissverständlich beschrieben, wenn der Text in Anspielung an den Ursprung aller Sündhaftigkeit selbst in diesem Augsburgischen „Paradies, in welchem kein Sündenfall möglich schien“119, zwei geradezu prototypische „Sünder“120 ihr Unwesen treiben lässt. Diese sich anbahnende Reifeprüfung des Reisenden aus Seldwyla in einem fernen ‚Paradies‘ erinnert stark an Kellers wohl bekannteste Taugenichtsfigur, den ewig schmollenden Pankraz, der ebenfalls das Jugendalter längst verlassen hat, ein ausgewachsenes Mannsbild darstellt und dennoch auf sexueller Ebene symbolisch an seinem mangelnden Verständnis für die Komplexität der Welt scheitert. Dem unheilvollen Schmollen des Pankraz korrespondiert die jungmännliche Hybris des Glücksschmieds, deren schwelgerischer Potenz sich offenkundig nicht einmal Flora und Fauna entziehen können, denn sogar Blütengewächse „äugelten ihn höflich an und huldigten ihm als ihrem Herren“121 – ebenso wie die Verzierungen eines Brunnens, „dessen steinerne Tritonen ihn mit den Augen ergebenst anzwinkerten“122. Die überall ausgemachten Huldigungen der eigenen Person parodieren Johns Verehrung von Status- und Machtsymbolen und versetzen den Enddreißiger in einen Rauschzustand, der keinerlei Raum für Momente kritischer Reflexion und etwaige Korrekturen der eigenen Perspektive lässt. Entsprechend unbefangen entfacht John mit jenem Feuer, das es zum Schmieden eines heißen Eisens braucht − denn „[h]ier dürfte es geraten sein, dem Werke noch die letzte Feile zu geben!“123 –, die Sexualität der Schläferin, die nicht nur munter in ihrer Art wird, sondern derart erfolgreich zu ihrer ‚Biologie‘ zurückfindet, dass alsbald ein leibhaftiger Nachkomme im Hause Litumlei geboren wird. Ausgerechnet der stets versiert Abwartende, der Weiblichkeit bislang
|| 119 HKKA 5, 75. 120 HKKA 5, 88. 121 HKKA 5, 78 122 HKKA 5, 78. 123 HKKA 5, 87.
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allein unter rationalen Aspekten verwertet hatte, verfällt nun auf dem Rücken einer Frauenfigur einem Eros, der sich zwar an den Reizen des anderen Geschlechts entzündet, tatsächlich jedoch gelebte Eigenliebe ist und den schleichenden Kontrollverlust eines übermütigen Narzissten markiert. Johns Siegesgewissheit angesichts des zum Greifen nahen Lebensglücks verkehrt sich somit zum taktischen Nachteil und lässt seinen qua Geschlechtszugehörigkeit vermeintlich fest abonnierten Vorteil innerhalb des Geschlechterkampfes auf die Seite der Hausherrin wechseln, die, anders als der Erzeuger ihres außerehelichen Kindes, Ratio und Eros klug miteinander zu verbinden weiß.124 Während Verstand und Verlangen angesichts von Johns Abhängigkeit dem ziehväterlichen Wohlwollen gegenüber in seinem Fall kaum auf eine kluge Weise zu kombinieren sind, bedient sich die Schläferin eines gewieften Arrangements von Begehren und Kalkül, um ihrer sexuellen Lust zu frönen, ohne deswegen zwingend um ihre durch den Ehestand garantierten Privilegien im Hause fürchten zu müssen. Das destruktive Potenzial der fortgesetzten Sittenlosigkeit entfaltet seine Wirkung nämlich allein in der Biographie Johns,125 während die Schläferin nicht nur von Sanktionen verschont bleibt, sondern gar als erste Figur der Erzählung den von John unablässig proklamierten Meisterschlag in die Tat umsetzt und sich als wahre Schmiedin persönlichen ‚Glücks‘ erweist. Dieser Umstand trägt indes weniger einer emanzipatorischen Stellungnahme des Textes Rechnung als vielmehr der defizitären Verfassung seiner männlichen Hauptfiguren, die nicht in der Lage sind, zu verhindern, dass die Gesetze eines hinter den Kulissen agierenden männlich-patriarchalen Systems von einer raffinierten Frauenfigur korrumpiert werden. Die Kunst dieser längst nicht mehr im Zeichen von Müdigkeit stehenden ‚Schläferin‘ besteht darin, die Befindlichkeiten zweier hybrider Männlichkeits|| 124 Vgl. Caroline von Loewenich: Gottfried Keller. Frauenbild und Frauengestalten im erzählerischen Werk. Würzburg 2000, S. 113. Die von der Autorin darüber hinaus vorgenommene Übertragung dieser speziell weiblichen ‚Klugheit‘ auf das gesamte weibliche Novellenpersonal erscheint indes fraglich. Ebenso wie eine kurative Wirkung jener Frauenfiguren auf den Glücksschmied. Das, was John schlussendlich wesentlich zur ‚Desillusionierung‘ zwingt, ist vielmehr der lange Arm eines Patriarchats, das seine weiblichen Akteure stets im eigenen Interesse agieren lässt. 125 Was Tebben hinsichtlich der „Entsittlichung“ und „Verwilderung der Leidenschaften“ am Beispiel von Romeo und Julia auf dem Dorfe anmerkt, gilt zeichenhaft – nämlich mit ‚bloß‘ metaphorischer Todesfolge – auch für den illegitimen Liebesakt des Schmieds in Augsburg: „Da der Weg in die Gesellschaft durch die sittenlose Tat endgültig verwehrt ist, bleibt danach nur noch ‚Tod und Untergang‘“. Aus: Karin Tebben: Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe. Geschlechterbeziehungen – Realismus – Erzählkunst. (Neues Form für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 45) Heidelberg 2011, S. 167.
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entwürfe, von denen der eine sein Glück im Bett der Stiefmutter zu packen meint, während der andere sich in Phantasien von einer phallischen Parallelidentität versteigt, exakt zu vermessen. Damit wird die ‚Höhle‘ – die Sexualität – der Dame Litumlei für beide Protagonisten zu einem Ort der Konfrontation mit ihren jeweiligen Bewährungsaufgaben. Diese sind der Stellung der Männer im vorliegenden sozialen Gefüge gemäß in diametralem Gegensatz ausgerichtet, so dass der eine sich hier vergeblich müht, Status und Potenz endlich auf handfeste Weise zu dokumentieren, während der andere diesen Ort gänzlich meiden sollte, um sein Glück nicht leichtfertig zu riskieren. Gemein sind den Prüflingen psychosexuell überformte Vorstellungen vom Geschlechtsakt, der symbolisch für die Erringung und den Erhalt männlicher Privilegien steht und beide Männer als entsprechend motiviert zu erkennen gibt, während die moralische Einordnung des Treibens in der Höhle der Hausherrin völlig unterschiedlich ausfällt. Mit Blick auf die herrschende bürgerliche Ordnung nämlich, die nicht zuletzt mit der Wahrung zentraler Institutionen wie der Ehe betraut ist, lässt sich das Dilemma der Dreierkonstellation auf einen schlichten Nenner bringen: Der eine sollte, kann aber nicht – der andere könnte, darf aber nicht. ‚Müssen‘ tun sie eingedenk ihrer zwanghaften Psychologie beide und so erweist sich das Wissen um diesen Umstand als das eigentliche Kapital einer Hausherrin, die sich geschickt in die Grauzone zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen männlicher Phantasie und sozialer Realität einklinkt. Wie nun der Alte eine Braut für den Ziehsohn sucht, während der künstliche Sohn im Gegenzug der sehr realen Frau seines Gönners beiwohnt, entspinnt sich ein regelrechter Wettbewerb zwischen den Männern, der sich an der produktivsten Verwertung des weiblichen Geschlechts entzündet und die Taugenichtse zu Höchstleistungen anstachelt, „so daß man nicht unterscheiden konnte, welcher von beiden Herren mehr mit sich zufrieden war.“126 Dass der „Sieg“127 in diesem Feldzug zweier Männer gegen das weibliche Geschlecht und schließlich gegeneinander sich mal mehr auf die eine, mal mehr auf die andere Seite neigt, ist eine trügerische Randnotiz, denn faktisch gibt es für John in diesem Spiel nichts zu gewinnen. Er ist es, der einen eindeutigen Normverstoß begeht, welcher ganz in der Tradition der zu Seldwyla – und offenkundig auch in Augsburg – gepflegten zeichenhaften Mittelbarkeit zwar nicht umgehend ersichtlich, folglich auch nicht sanktioniert, wohl aber nicht folgenlos bleiben wird. In einer Erzählung, in der die männlichen Akteure permanent um das eigene Selbstbild kreisen und dieses maßgeblich auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts konstruieren, verwun|| 126 HKKA 5, 88. 127 HKKA 5, 88.
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dert es nicht, dass die Entscheidung über Sieg oder Niederlage nicht nur metaphorisch auf Kosten des anderen Geschlechts geht, sondern buchstäblich im weiblichen Körper ausgefochten wird, wodurch dieser in aller Deutlichkeit als ein von Konventionen und Imaginationen durchzogener ‚Diskurskörper‘ hervortritt. Von der nachweislich erfolgreichen ‚Unterwerfung‘ des weiblichen Körpers in einem vertraulichen Ehegespräch unterrichtet, bewirkt die Schwangerschaft der Gattin eine Revitalisierung des Greises, die sich erwartungsgemäß durch einen phallischen Wuchs in die Höhe ankündigt, denn „[e]r schien um mehrere Zoll gewachsen zu sein über Nacht, kurz, er war der Inbegriff der Selbstzufriedenheit.“128 Die Frage, ob der vielleicht unwissende, „vielleicht überschlaue Lustgreis“129 um die genauen Umstände der Schwangerschaft weiß, verliert hinsichtlich der beschriebenen Figurenpsychologie der beiden Männer gänzlich ihre Relevanz, da sowohl Ziehvater wie auch Ziehsohn zeitlebens „das problematische Verhältnis von Schale und Kern, Anschein und Wirklichkeit, Erscheinungsbild und Substanz“130 stets zugunsten des persönlichen Nutzens, niemals aber mit Blick auf die ‚Wahrheit‘ gehandhabt haben. Mag die biologische Abkunft des Stammhalters auch zweifelhaft sein, ist er dank seiner standesamtlichen Stellung als ‚offizieller‘ und zugleich lang ersehnter Nachfahre des Adam Litumlei über alle berechtigten Zweifel erhaben und lässt seinen abwesenden Erzeuger schlagartig von einem einst wohlgelittenen Adoptivsohn zu einem ‚filio non grato‘ werden.
2.1.6 Menschlicher Mehrwert: Von Frauenhandel und Samenraub In Unkenntnis dieser Neuigkeiten tritt der Titelheld – vom alten Litumlei insgeheim bereits mit einer Alternativverwendung als Kindeserzieher bedacht – eine vom Ziehvater finanzierte Bildungsreise an, die als eine Reise in der Reise einerseits den Gaststatus des Seldwylers in Augsburg in Erinnerung ruft, während sie dem Text dazu dient, seinem Antihelden auf wiederum metaphorische Weise zu bedeuten, dass und vor allem warum er nicht im ersehnten Paradies ankommen wird.
|| 128 HKKA 5, 88. 129 Kaiser: Gottfried Keller, S. 356. Kaiser deutet mit der Titulierung des Lustgreises als ‚überschlau‘ ebenfalls an, dass die phallische Kränkung des gehörnten Ehemannes hinter dessen strategische Schläue zurücktritt und durch die Aussicht auf eine lang ersehnte Stammhalterschaft versöhnt wird. 130 Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 6.
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Die vom alten Litumlei bezahlte Reise zum Zwecke der Erkundung pädagogischer Methoden höherer Stände zeigt denn auch einen mehr als selbstzufriedenen und sich seiner Sache ungemein sicheren ‚Paradieserben‘, der sich angesichts seines vermeintlich fest fixierten Glücks kaum zwischen den verschiedenen Todsünden entscheiden kann: „Keinem Bettler gab er etwas, keinem armen Kinde kaufte er je etwas ab, den Dienstbaren in den Gasthäusern wußte er beharrlich mit dem Trinkgelde durchzugehen [...].“131 Das „Vexieren und Foppen der verlorenen Wesen“132 bereitet dem mit reichlich Taschengeld versehenen Reisenden eine solche Freude, dass er voller Selbstsicherheit schließlich gar im heimatlichen Seldwyla Einkehr hält. Ausgerechnet in Seldwyla, dem Vorzeigeörtchen von Schein und Uneigentlichkeit, überträgt der Text Johns Strategie einer zeichenhaft-mittelbaren ‚Frauenverwertung‘ in die Realität der beginnenden Industrialisierung und installiert eine äußerst handfeste Variante der Ökonomisierung des weiblichen Geschlechts. Fernab aller Zeichenhaftigkeit entsteht hier eine professionelle und sehr konkrete Art von Frauenhandel, wozu die gesamte weibliche Nachkommenschaft des Ortes zu Erzieherinnen hergerichtet wird, um diese anschließend in alle Winkel der Welt exportieren zu können: „Kluge und unkluge, gesunde und kränkliche Kinder wurden in dieser Weise zubereitet in eigenen Anstalten und für alle Bedürfnisse.“133 Der in kurzer Zeit zurückgelegte Weg von der eher lautmalerischen Namensverwertung des weiblichen Geschlechts hin zum Export desselben als bloßes Stückgut („Forellen“134), lässt die Ankunft einer neuen Zeit erahnbar werden, deren kapitalistischer Geist die Seldwyler derart infiziert, dass selbst bei zweifelhaften Verwendungszwecken der zu erwartende Mammon über moralische Bedenken gestellt wird. Nicht angekommen scheint zu Seldwyla ein Verständnis von Nachhaltigkeit und so wird den Statuten des Raubtierkapitalismus gemäß die gesamte weibliche Nachkommenschaft „nach den russischen Steppen oder in andere unwirtliche Gegenden verbannt, wo sie in ferner Trostlosigkeit schmachteten“135, denn die „Hauptsache war, daß die wackeren Bürger die armen Wesen so bald als möglich mit einem Reisepaß und Regenschirm versehen hinausjagen und mit dem heimgesandten Erwerbe derselben sich gütlich thun konnten.“136 Die kapitalistische Wirtschaftsweise wird hier zeichenhaft auf die Kategorie Geschlecht losgelassen,
|| 131 HKKA 5, 89. 132 HKKA 5, 89. 133 HKKA 5, 90. 134 HKKA 5, 90. 135 HKKA 5, 91. 136 HKKA 5, 91.
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um den Heimaturlauber zu mahnen, dass vermeintlich kluge Verwertungsstrategien nicht zwingend lehrbuchmäßige Erträge abwerfen, sondern sich im Gegenteil als gänzlich kontraproduktiv erweisen können. Auch die standesgemäße Zubereitung des Seldwyler Exportschlagers in einem „Fabriklein“137 fügt sich in das Bild eines ökonomisch-sozialen Klimawandels und ist Ausdruck eines in den menschlichen Bereich Einzug haltenden Verwertungsdenkens,138 das am Beispiel des Seldwyler Mädchenhandels zu einem Lehrstück für den Glücksschmied wird. Der Abverkauf der ortsansässigen Weiblichkeit folgt zwar ebenfalls dem Profitgedanken, steht aber insofern dem bis dato präferierten Modell weiblicher Reproduktionshilfe entgegen, als dass in der neuen Zeit nicht Neues geschaffen, sondern im Gegenteil die Grundlage für eine nachhaltige Schaffung des Neuen veräußert wird. So verpfändet der Ort seinen eigenen Fortbestand zugunsten einer flüchtigen Verheißung und wandelt damit auf den gleichen Pfaden, die zuvor John in die Höhle der Schläferin führten. Die Versklavung und Entäußerung des weiblichen Geschlechts wird dergestalt zu einer Parabel auf Johns sexuellen Meisterstreich im Hause Litumlei, da sich in beiden Fällen die vermeintlichen Profiteure jener spontanen ‚Mehrwertstreiche‘ faktisch ihrer eigenen Geschäftsgrundlage berauben. Doch genau wie die Mahnungen seines funkelnden Zierrats bleibt ihm auch diese zeichenhafte Warnung unzugänglich, so dass der von seiner Vaterschaft nichts ahnende John vor dem Hintergrund des Seldwyler Mädchenexports als ein so unbedachter wie unfreiwilliger Samenspender erscheint, der sich durch seinen Meisterstreich erwartbar die eigene Existenzgrundlage entzieht. Als Beischläfer der Stiefmutter von der Genialität seiner sexuellen Glücksfixierung überzeugt, hat er sich durch die Aktivierung der ‚Reproduktionsvorrichtung‘ seines Ziehvaters tatsächlich längst entbehrlich gemacht, so dass seine misogynen Meisterstreiche nunmehr spiegelbildlich auf ihn zurückfallen und ihn am eigenen Leib erfahren lassen, was es bedeutet, in den Rang einer bloßen Zeugungsmaschine verwiesen zu sein. Zugleich bestätigt sich die männliche Angst vor dem destruktiven Potenzial weiblicher Sexualität – nicht jedoch, weil John sich durch den Beischlaf unter weibliche Herrschaft begeben hätte, sondern weil || 137 HKKA 5, 91. 138 Der Erzählzyklus selbst thematisiert den Wandel seines Handlungsortes Seldwyla in der Vorrede zum zweiten Band. Zehn Jahre nach der ersten Bekanntschaft mit dem sonderbaren Orte keimen nun erste Zeichen einer ‚Neuen Zeit‘ auf, die sich als Abwendung vom handwerklichen Wirtschaften hin zur industriellen Produktion zu erkennen geben. Der sich ankündigende Siegeszug der fabrikmäßig hergestellten ‚Ware‘, die daran anknüpfenden neugeordneten Besitzverhältnisse und das aufkommende Spekulantentum, wie Keller es im Vorwort des zweiten Bandes eindrücklich darstellt, verändern nicht nur das Erwerbsleben der Seldwyler, sondern mehr noch die Seldwyler selbst.
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er im Gegenteil gegen die Gesetze eines patriarchalen Wertekanons verstößt. Als destruktiv erweist sich somit weder das Geschlecht der Schläferin noch der sexuelle Akt an sich. Das destruktive Potenzial entsteht allein durch die Missachtung bürgerlicher Normen, welche den Zugriff auf eine verheiratete Frau ausschließlich dem Eheherren zugestehen und von allen Nichtlegitimierten strikte Affektkontrolle bzw. die Achtung fremden ‚Eigentums‘ verlangen. Als Strafe für seinen Angriff auf das Legitimitätsprinzip der Ehe ereilt John im übertragenden Sinne das gleiche Schicksal wie die verkauften Mädchen Seldwylas, deren Produktivkraft systematisch zur Vorteilssicherung Dritter missbraucht wird. Sein vermeintlicher Geniestreich nämlich verkehrt sich im Gemach der Stiefmutter regelrecht zu einem Akt männlicher Prostitution, da der selbst ernannte Meisterschmied die moralische bzw. soziale Dimension des außerehelichen Beischlafs nicht begreift und dadurch unwissentlich vom Ausbeuter zur Ausgebeuteten wird. Dabei markiert der illegitime Geschlechtsakt nicht nur einen nachweisbaren Übergriff Johns auf die herrschende Ordnung, er ist zugleich eine garstig-ironische Abrechnung des Textes mit dem inhaltsleeren Zeichenfetischismus seiner Hauptfigur – die ausgerechnet an diesem völlig falschen Ort und unter gänzlich unangebrachten Umständen erstmals etwas wirklich Substantielles hervorbringt. Denn ebenso wie die vermeintlich clevere Ausweitung der Geschäftsgrundlage in Seldwyla letztlich die Existenz des Ortes untergräbt, ‚produziert‘ auch John im Übermut einen handfesten ‚Mehrwert‘, der seine Zukunftspläne schließlich vernichten wird.
2.1.7 Eine hellwache Schläferin als Katalysator eines systeminternen Selbstreinigungsprozesses So gerät Johns Rückkehr nach Augsburg zu einer Konfrontation mit den Fliehkräften einer auf den bloßen Schein fixierten Warenästhetik,139 welche nun mit ganzer Wucht auf ihren eifrigsten Verfechter zurückfällt, da ein in seiner Abwesenheit eingetroffenes ‚Sein‘ das Problem des Litumleischen Hauses mit dem ‚Schein‘ umfänglich kuriert hat. Denn die Frucht der eigenen Lenden hat noch
|| 139 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Überarbeitete Neuauflage. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Frankfurt am Main 2009. Was Haug über den ‚Scheinwert‘ der Ware schreibt, charakterisiert gleichermaßen den Zeichenhandel des John Kabys: „Schein wird für den Vollzug des Kaufaktes so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ‚Sein‘ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft.“ (S. 29)
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vor dem Heimkehrer das (Adoptiv-)Elternhaus erreicht und weckt im alten Litumlei eine Vitalität, wie er sie zuvor nur auf dem Papier zuwege gebracht hatte: Er „sang, rief, lachte und krakehlte [...], blasend, pustend, die Augen rollend und ganz rot vor Freude, Stolz und Hochmut“140. Johns hausinterne Legitimation auf das Erbe des Alten ist damit zunichte, „das Testament umgestoßen und verbrannt, sowie jene[r] lustige[] Roman, dessen [man, S.V.] nun nicht mehr [bedarf, S.V]“141. Das ‚Fleisch‘ triumphiert folglich über den literarisierten Schein und sorgt dafür, dass der ‚Kuckucksvater‘ vom eigenen Kinde zur Neuordnung der Verhältnisse gerufen wird. Zugleich führt das groteske Treiben um die Zeugungsvorgänge im Hause Litumlei den Text an die Grenzen realistischen Erzählens,142 wenn der „per fictionem zum natürlichen Sohn gemachte Adoptivsohn [...] sich selbst durch einen per naturam außerehelich gezeugten, aber als ehelich geltenden Sohn“143 verdrängt und dabei realistische Plausibilitätskriterien neu definiert. Auf Erzählebene per Haus- und Ehestand zur Vaterschaft qualifiziert, würzt der alte Litumlei seine Freude über die ‚eigene‘ Nachkommenschaft mit blasphemisch-deftigen Bildzitaten von adventistischer Euphorie und animalisch-prosperierender Leiblichkeit („Ei, Herr Jesus! [...] ein Sohn ist uns allendlich geboren, ein Stammhalter, so munter wie ein Ferkel, liegt uns in der Wiege!“144), so dass die Position des Erben durch einen performativen Akt des ‚Stammvaters‘ Adam neu besetzt wird.145 Blasphemisch sind die Einlassungen des Alten auch deshalb, weil heilsgeschichtlich-sakrale Bildlichkeiten benutzt werden, um die wenig traditionelle ‚Bewirtschaftung‘ der Ehefrau durch einen fremden Aushilfsparadiesgärtner zu überdecken. Da in der aus theologischer Sicht schwergewichtigen Trias aus Adam, Johannes und dem kleinen ‚Jesus‘ nunmehr einer zu viel ist,
|| 140 HKKA 5, 92. 141 HKKA 5, 93. 142 Vgl. Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 14: „In alldem tritt eine groteske Überschreitung empirischer Wahrscheinlichkeitskriterien hervor, an welche die Erzählung gleichwohl zurückgebunden bleibt. Die Formel ‚künstlich-natürlich‘ betrifft die Novelle selbst, sofern es darin auf höchst künstliche Weise ganz natürlich zugeht“. 143 Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 13. 144 HKKA 5, 92. 145 Die Ankunft (lat. adventus) des Stammhalters wird überhöht mit den Verkündigungen biblischer Propheten: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter [...]“ (Jesaja 9,5), oder auch: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ (Lukas 2,10–12). Vgl. hierzu Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 21f. Ebenso: Kaiser: Gottfried Keller, S. 358.
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scheint Johns Schlafzimmerwissen, dass es sich bei dem „Vogel“146, der in den Ohren des Alten so lieblich zu singen weiß, genau genommen um ein Kuckuckskind handelt, sein letzter Trumpf zur Rückeroberung des Paradieses zu sein. Der unbeholfene Versuch jedoch, gegenüber dem Alten Zweifel an der Treue der Gemahlin und somit an dessen Vaterschaft zu säen, scheitert erwartungsgemäß am wiedererwachten phallischen Selbstverständnis des Hausherren, denn „[s]obald ihn das kleine Männchen ganz verstand, fuhr es wie besessen in die Höhe, stampfte auf den Boden, schnaubte und schrie [...].“147 Die vertikale Streckbewegung des alten Litumleis erinnert an Johns Höhenwuchs unmittelbar vor der sexuellen Vereinnahmung der Hausherrin und verweist demgemäß auf die Rückkehr des Phallus in einen phallischen Zeichenpalast, der lange schon sehnlichst auf diese Referenz gewartet hat. Bezeichnend ist, dass sich die Gattin des Alten nach Ausschüttung der längst überfälligen Dividende bereits wieder in die Horizontale verabschiedet hat und sich in ihrem Gemach auf den Früchten eines in exzellenter Kenntnis patriarchaler Ordnung ruhig ausgeführten Meisterschlags ausruht. Dass ausgerechnet die weibliche Hälfte dieser außerehelichen Zeugungsgemeinschaft ihre Zukunft durch einen illegitimen Fortpflanzungsakt sichern kann, während selbiger der männlichen Zeugungshälfte zum Verhängnis wird, scheint auf den ersten Blick der üblicherweise einseitigen Privilegierung des männlichen Geschlechts zuwider zu laufen. Die Überlegenheit der Hausherrin gründet denn auch in ihrem durch und durch rationalen Wirklichkeitsbezug, der sie erkennen lässt, dass die Liaison der beiden ‚Sünder‘ sich trotz der räumlichen Abseitigkeit ihres Liebesreservates so wenig in einem luftleeren Raum abspielt, wie der weibliche Uterus neutrales Gebiet ist. Entsprechend kühl kalkuliert sie von vornherein ein, dass die Inbeschlagnahme einer verehelichten Frauenfigur in die Gerichtsbarkeit eines gesellschaftlichen Ordnungsgefüges fällt, das unverkennbar männlich-patriarchalen Zuschnitts ist. So stigmatisiert die moralische Bewertung des Zeugungsaktes zwar beide ‚Sünder‘ zu gleichen Teilen, auf einer sozialen Ebene hingegen erweist sich die Arithmetik der vorliegenden Dreierkonstellation als für den Eindringling am ungünstigsten. Zunächst gilt für beide männlichen Hauptfiguren, dass diese als erklärte Taugenichtse eine permanente Provokation, nämlich eine Verhöhnung derjenigen Männlichkeitsentwürfe darstellen, deren Autorität der inhaltsleeren Zeichenkultur der beiden Dissidenten als Vorbild dient. Als Störfaktoren mit zunehmendem Irritationspotenzial lösen die beiden Männer schließlich einen systeminternen Selbstreinigungsprozess || 146 HKKA 5, 92. 147 HKKA 5, 94.
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aus, der über die weibliche Sexualität vermittelt wird und das in Bedrängnis geratene Legitimationsprinzip männlicher Ordnung wiederherstellt. Denn in der archetypischen Konfrontation mit der weiblichen Sexualität erweisen sich sowohl das alternde ‚Zicklein‘, welches als Eheherr für die Reproduktion der herrschenden Machtverhältnisse verantwortlich ist, als auch John, der an der Disziplinierung der eigenen Triebe scheitert, als untauglich. Dass ein und derselbe sexuelle Akt für den einen Mann den sozialen Abstieg, für den anderen jedoch die Beurkundung der eigenen ‚Männerehre‘ markiert, gründet in der Systematik der herrschenden Ordnung, die den Greis als impotenten, aber doch rechtmäßigen Besitzer der in seinem Hause schlummernden Gattin anerkennt, während der sexuell vitale Adoptivsohn als Angreifer auf die Grundfeste der Institution Ehe wahrgenommen wird. Die differenzierte Bewertung des sexuellen Aktes bzw. die eindeutig aufseiten des Greises verortete territoriale Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper belegt, dass männliche Vorherrschaft nicht einfach die Vorherrschaft eines monolithischen Blocks von gleichberechtigten Geschlechtsgenossen meint, sondern im Gegenteil ein äußerst komplexes System darstellt. So erweisen sich die freischaffenden ‚Selbstbildner‘ zwar als zwei Taugenichtse vom gleichen Schlag, sind jedoch hinsichtlich ihres ökonomischen wie sozialen Ranges von gänzlich unterschiedlichem Gewicht, was auf Textebene am Beispiel von Ehe- und Besitzstand dokumentiert wird. Denn in Kontrast zur eigenen Leibesgröße ist das alternde ‚Zicklein‘ verglichen mit dem Seldwyler Gast, der nichts besitzt außer einige kunstvolle Taschenspielertricks, ein ökonomisches Schwergewicht, das sich aller grotesken Selbstbeweihräucherung zum Trotz aufgrund seiner wirtschaftlichen Prosperität auf den Rückhalt durch das herrschende Ordnungssystem verlassen kann. Das Konzept ‚hegemonialer Männlichkeit‘ findet sich folglich auch in vorliegender Novelle, wenn am Beispiel der Verstoßung Johns aus dem Hause Litumlei gezeigt wird, dass hierarchische Strukturen nicht bloß auf verschiedengeschlechtlicher Ebene installiert werden, sondern zugleich der binnengeschlechtlichen Differenzierung des männlichen Geschlechts dienen. Innerhalb dieses komplexen Systems männlicher Vorherrschaft greifen verschiedene Subsysteme wie die Institution der Ehe oder auch der Bereich von Ökonomie ineinander und führen im konkreten Fall dazu, dass die nicht von der Hand zu weisende ökonomische Macht des Alten („Denn ich besaß ein großes Vermögen [...].“148) seiner skurrilen Erscheinung dennoch eine veritable Machtposition sichert. Die Autorität, die dem Greis innerhalb eines entsprechend ge|| 148 HKKA 5, 76.
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ordneten Gesellschaftssystems zufällt, resultiert aus der für den Geschlechterdiskurs der Novelle offenkundig zentralen Problematik der „Produktionsbeziehungen“149, namentlich der Frage, wer wie viel Kapital besitzt und davon ausgehend welche Ansprüche auf privilegierte Positionen geltend machen kann. Der Besitz des Alten stellt somit ein persönliches Machtkapital dar, das der patriarchalen Logik zufolge unbedingt in die Hände des Erstgeborenen zu übergeben ist, der es dann seinerseits zur Aufrechterhaltung und Reproduktion männlicher Vormachtsansprüche einzusetzen hat. Da die männliche Dominanz im kapitalistischen Wirtschaftssystem über diverse ins Ökonomische übertragene Unterdrückungsstrategien gesichert und etwa die „patriarchale Kontrolle der Geldmittel über ein Erbschaftssystem aufrechterhalten“150 wird, erklärt sich sowohl das ökonomische Gewicht des vormals als ‚Zicklein‘ verspotteten Greises wie auch dessen traumatische Bringschuld angesichts einer männlich-dynastischen Erbideologie. Dass bei der Kür dieses Stammhalters Geschlechtszugehörigkeit und standesamtliche Anerkennung von größerem Gewicht sind als die wahren verwandtschaftlichen Hintergründe des ‚Kuckucks‘, belegt, dass ein unehelicher Zeugungsakt dann vertretbar scheint, wenn er sozial unentdeckt bleibt und durch die Installation eines männlichen Stammhalters verhindert, dass „auch einzelne Frauen zu Besitzerinnen eines Vermögens“151 werden. Weil der Greis folglich genau dort auf einen Vertrauensvorschuss bauen kann, wo John jeglicher Kredit verwehrt bleibt, scheitert dessen unbeholfener Versuch, den eigenen Verbleib im Paradies zu sichern, indem er Zweifel an der Legitimität des Kuckuckskindes streut, geradezu fulminant: „Aus den Augen mir, undankbares Scheusal, verleumderischer Schuft! Warum sollte ich nicht imstande sein einen Sohn zu haben?“152 Da John als eine „Schlange“153 am Busen des Alten und als ein ‚Ödipus‘ in den Gemächern seiner Stiefmutter jeglichen Kredit für das Vorbringen derartiger Zweifel verspielt hat, findet die herrschende Ordnung nun endlich eine handfeste Möglichkeit für einen direkten Zugriff und lässt den Taugenichts umgehend von zwei herbeigerufenen Ordnungshütern − „bürgerlichen Paradieswärtern“154 − aus dem Hause Litumlei heraus eskortieren. Dass die Institutionen der erzählweltlichen Ordnungsmacht sich so eindeutig zugunsten des Greises positionie-
|| 149 Connell: Der gemachte Mann, S. 106. 150 Connell: Der gemachte Mann, S. 106. 151 Connell: Der gemachte Mann, S. 106. 152 HKKA 5, 94. 153 HKKA 5, 94. 154 Kaiser: Gottfried Keller, S. 357.
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ren, dieser gar einem „strafenden Gottvater“155 gleich die verzweifelte „Wahrheit des Poeten zur Lüge“156 erklärt, stellt jedoch mitnichten eine Sympathiebekundung zugunsten des Greises dar. Vielmehr müssen in einem System gegenseitiger Abhängigkeit die Kontrollinstanzen eines Renditesystems einem Berechtigten, dem keine eklatanten Regelverstöße anzulasten sind, Schutz und Gewähr zukommen lassen, zumal in vorliegendem Fall insbesondere das Ansehen der Ehe gewahrt werden will. So verwundert es nicht, dass ein zugereister Taugenichts, der die Ehrbarkeit einer gewieften Ehefrau nebst der Potenz ihres neurotischen Gatten anzweifelt („Ist das der Dank für meine Wohlthaten, daß Du die Ehre meines Weibes und meine eigene Ehre begeiferst mit Deiner niederträchtigen Zunge?“157), einen Sturm der Entrüstung entfacht und damit einen gegen ihn gerichteten innerdiegetischen Selbstreinigungsprozess auslöst. Weit umsichtiger als der törichte Glücksschmied, der sich auf Kosten einer Ordnung etabliert, zu deren Erhalt er keinerlei Beitrag leistet und auf deren Vorteilsgewährung er gar noch zu klagen gedenkt, verhält sich die namenlose Gattin des alten Litumlei. Als eine in einem männlichen Hoheitsgefüge systematisch Unterdrückte verfügt sie über ein profundes Wissen um die Strukturen und Mechanismen ihrer Unterdrückung und kann auf diese Weise den nötigen Handlungsspielraum erlangen, um ihre Lage zum eigenen Vorteil zu nutzen. Klug nutzt sie ihre Kenntnisse männlicher Ordnungsstrukturen und feilt unbemerkt an der Transformation eines namenlosen Objekts zu einem zumindest temporär relativ autonom agierenden weiblichen Subjekt. Einen Vornamen muss die Hausherrin zwar auch weiterhin entbehren, sie wird jedoch als eine am Konvergenzpunkt männlicher Befindlichkeiten lauernde Schläferin zu einem handlungsbestimmenden Faktor. In dieser Grauzone nämlich kann sie den äußerst fragwürdigen Versuch Johns, die Gattin des Gönners mittels Beischlaf als etwaigen Störfaktor zu eliminieren, zu ihren Gunsten parieren, wohl wissend, dass dieser Plan allein deswegen niemals aufgehen kann, weil der junge Mann zum Vollzug des sexuellen Aktes in keiner Weise autorisiert ist. Der Gunst der Stunde gewahr, spannt die Schläferin kurzerhand die Hybris des Neuankömmlings für ihre Zwecke ein, nutzt ihn als einen Samenspender in eigener Sache und muss bei alledem kaum Angst vor möglichen Konsequenzen haben, ist sie doch angesichts der Eitelkeit ihres beständig zur Überkompensation neigenden Gatten im Falle einer Schwangerschaft über alle Zweifel erhaben. Die Destruktivität dieses Geschlechtsakts ver-
|| 155 Kaiser: Gottfried Keller, S. 357. 156 Kaiser: Gottfried Keller, S. 357. 157 HKKA 5, 94.
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weist somit auf die neuralgischen Punkte eines männlich-patriarchalen Ordnungssystems und zeigt ein bislang fest fixiertes weibliches Objekt, das durch die gezielte Stimulation männlicher Befindlichkeiten nunmehr auf eigene Rechnung zu wirtschaften beginnt. So gelingt es der längst hellwachen ‚Schläferin‘, das Figurentableau der Novelle in ihrem Sinne neu zu sortieren, zumal das Zeugungsgeschenk ihres selbst ernannten Bezwingers erwartbar dessen Ende im Hause Litumlei besiegelt. In diesem existenzvernichtenden Akt der Adoptivmutter spiegelt sich nicht zuletzt Johns ruchloser Umgang mit der Jungfer Häuptle, die er seinerzeit durch die eigene Mutter zu ersetzten beabsichtigte, wie er nun umgekehrt durch die eigene Nachkommenschaft ersetzt wird. Darüber hinaus hat die namenlose Hausherrin mit der Schwangerschaft ihre eherechtlichen Privilegien gesichert, wollte John doch nach dem Tod des Alten den Ahnenroman verbrennen, so dass die Witwe weder in einem Verwandtschafts- noch Eheverhältnis zum neuen Hausherren gestanden hätte und folglich als fiktive Stiefmutter gänzlich auf dessen Gnade angewiesen wäre. Dass der neue Stammbaum statt auf Künstlichkeit nunmehr auf List beruht, muss die Systemkennerin nicht beunruhigen, zumal die standesamtlich verbriefte Vaterschaft nur um den Preis einer Bloßstellung des Eheherren öffentlich angefochten werden kann. Diese Gefahr bleibt schon deshalb theoretischer Natur, weil die bloße Erwägung unlauterer Umstände nach zwei kinderlosen Ehen als ultimativer Beleg für die mangelnde Potenz des neurotischen Alten zu werten und damit als offizielle Aberkennung seiner Männlichkeit zu gelten hätte. Somit bürgt ausgerechnet das übersteigerte Selbstbild eines neurotischen Egomanen für den Erfolg dieser weiblichen Subversion und untermauert das Bild einer hellwachen Frau, die geschickt Testosteron gegen Testosteron auszuspielen weiß, um am Ende des Tages als eine versierte Kennerin männlicher Befindlichkeiten ihre angesichts von Kinderlosigkeit unsichere Position zu festigen und hierfür „das Äußerste, was auf diesem Gebiet möglich ist“158, in die Tat umsetzt. Dies muss auch John am Tage seines unfreiwilligen Abschieds bitter erkennen, wenn er wie einst dem phallischen Wuchs des Palastes gegenübersteht, nun jedoch nicht mehr innerhalb dieses steinernen Bollwerks residiert, sondern sein Schicksal zeichenhaft durch die Perspektive eines Außenstehenden betrachtet. Wo er sonst von der Höhe seiner Herrlichkeit hinab in die Höhle des Weiblichen stieg, zeigen sich die räumlichen Verhältnisse nun unter umgekehrten Vorzeichen: Er steht ‚vor‘ den Toren des Paradieses, ist buchstäb-
|| 158 Kaiser: Gottfried Keller, S. 355. Von Kaiser in Bezug auf das inzestuös-ödipale Dreigestirn einer fiktiven Vater-Mutter-Kind Konstellation gemünzt, verdient die hellwache Schläferin diese Anerkennung gleichermaßen hinsichtlich ihrer Kenntnisse patriarchaler Gesetzmäßigkeiten.
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lich ‚draußen‘ und ‚unten‘ angekommen und muss, aus dem Zentrum des Geschehens in die Peripherie der Erzählung verbannt, miterleben, wie sein eigen Fleisch und Blut ihn ersetzt. Als ein moralischer Filou, dessen Verständnis von Zwischenmenschlichem stets der Logik ökonomischer Verwertbarkeit folgte, rationalisiert er sich nun selbst aus dem Erbparadies hinfort. Wie beschränkt sein Sinn für die Gesetzmäßigkeiten der herrschenden Ordnung ist und wie viel versierter stattdessen die Schläferin zu Werke geht, zeigt sich ein letztes Mal angesichts seines hanebüchenen Versuchs, das ihn des Hauses verweisende Rechtssystem ausgerechnet auf juristischer Ebene anzugehen, um das Kuckuckskind doch noch als solches zu entlarven. Entlarvend ist indes allein die absurde Idee, gerade jene Ordnung zur Renditeausschüttung zwingen zu wollen, die ihn zuvor als erwiesenen Taugenichts davon gejagt hatte und auch diesmal in Person eines vertretungsberechtigten Advokaten eine unmissverständliche Botschaft für den verzweifelten Glücksritter hat: „Machen Sie, daß sie fortkommen, Sie Esel, mit Ihrer einfältigen Erbschleicherei [...]!“159 Der zuvor so oft zitierte Sieg ist damit vor allem aufseiten der listigen Hausherrin zu suchen, die – bedenkt man das hohe Alter des Greises – schon bald allein für das Wohl des Zöglings und die Belange des Hauses zuständig sein wird und insofern das eigene Glück in jedweder Hinsicht im rechten Augenblick zu schmieden wusste. Die Schlange, die der alte Litumlei in Person des in Misskredit geratenen Ziehsohnes an seinem Busen genährt zu haben meint, räkelt sich tatsächlich längst wieder in ihrer Höhle tief im phallischen Palast und hat durch die Potenz des einen ihre lebenslange Versorgung durch den anderen gesichert. Gleichwohl bleibt sie ein ‚Federspiel‘, ein Köder, der von höherer Instanz ins Spiel eingebracht wird, um mit der Anstiftung zur Regelwidrigkeit die Substanzlosigkeit der Protagonisten endlich auf konkrete Weise greif- und damit sanktionierbar werden zu lassen.
2.1.8 Das Ende: Eine verständige ‚Schlange‘ und zwei Taugenichtse ohne Erbe(n) Was bleibt, ist ein leidlich wiederhergestelltes, teilkorrumpiertes Herrschaftssystem, das anhand der eigenen Statuten unterwandert wurde und, gebunden an das eigene Recht, die Urheberin dieses subversiven Aktes gar noch in Ehren halten muss. Der Sieg der Schläferin ist denn auch keine Sympathiebekundung für emanzipatorische Ideen, sondern der Versuch einer Schadensbegrenzung, bei || 159 HKKA 5, 95.
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der in Ermangelung alternativer Optionen das kleinere Übel in einem zeitlich befristeten Umfang geduldet wird. Die bald wieder in der Horizontalen ruhende Nutznießerin männlicher Befindlichkeiten wird folglich zum Zwecke eines größeren Kehraus toleriert, da von den beiden männlichen Hauptfiguren der Novelle für ein auf die Integrität seiner Repräsentanten angewiesenes Modell männlicher Hegemonie weit größere Verwerfungen ausgehen. Das System kehrt dementsprechend zuvorderst vor der eigenen Haustür, zumal die listig-sexuelle Subversion der Hausherrin aufgrund ihres Geschlechts ein Problem von überschaubarer, wenn auch schmerzhafter Dauer darstellt, während das Treiben der beiden Männer den Kern der herrschenden Doktrin berührt. Zur Einhegung dieses Treibens wird sogar ein begrenzter weiblicher Handlungsspielraum akzeptiert, der nicht nur der Initialisierung bereinigender Maßnahmen dient, sondern wiederum selbst Ausdruck männlichen Versagens ist. Die sexuelle Emanzipation der Hausherrin erscheint somit als ein Resultat defizitärer Männlichkeit und entsprechend eher als Ausdruck tiefer Skepsis gegen die Idee weiblicher Selbstbestimmung als denn eine Parteinahme zugunsten derselben. Eine solche Ideologie, die feminine Eigeninitiative als einen Indikator für männliche Schwäche begreift, richtet seine Aufräumarbeiten konsequenterweise zuallererst gegen das eigene Personal und begrenzt das Irritationspotenzial seiner defizitären Vertreter mit Blick sowohl auf Gegenwart wie Zukunft. Der illegitime sexuelle Akt wird somit zum Ausgangpunkt eines Restaurationsaktes, durch den sowohl das inhaltsleere Zeichentheater der Protagonisten als auch das in der Höhle des Weibes entstehende Machtvakuum gesühnt wird. Die Unzulänglichkeit der beiden Männer, die auf die ‚Schlange‘ im Paradiese Litumlei wie eine Einladung zur Korrumpierung der herrschenden Ordnung wirkt, kann keinesfalls toleriert werden, so dass beide Taugenichtse schließlich in Spiegelung ihres ruchlosen Treibens mit den eigenen Waffen geschlagen, nämlich ausgerechnet durch einen Akt vermeintlicher ‚Frauenverwertung‘ ins Abseits geraten. Zwar mag das alternde ‚Zicklein‘ noch einige Zeit an der Spitze des Hauses Litumlei residieren, dies jedoch als groteske Karikatur des eigenen Selbstbildes, zumal die Blutlinie des impotenten Greises, der allenfalls „standesamtlich Stammvater“160 ist, durch ein in keinerlei blutsverwandtschaftlichem Grade zu ihm stehendes Kuckuckskind endgültig ausgelöscht wird. Nicht besser ergeht es dem gefallenen Ziehsohn aus Seldwyla, der sein Leben bis dato allein im Zeichen des Scheins fristete und nun als eine bittere Replik auf seine Existenzgrundlage eines permanenten Etikettenschwindels miterleben muss, wie er durch die Um- bzw. Fremdetikettierung seiner Leibesfrucht zu einem Samen|| 160 Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 13.
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spender ohne vaterschaftliche Ansprüche degradiert wird. Als gleichwohl biologischer Stammvater wird er auf dem Papier als der letzte seines Geschlechts isoliert, so dass sich die fragile Natur des Zeichens an ihrem einst engagiertesten Manipulanten rächt, indem sie ihn durch einen behördlichen Zeichenakt zu einer gescheiterten Männerfigur ohne (standesamtlich legitimierte) Nachkommenschaft erklärt. Das soziale Zeichen (Geburtsurkunde) wiegt hier bezeichnenderweise deshalb schwerer als biologische Wahrheiten, weil sich innerhalb der dargestellten Welt als ‚wahr‘ offenkundig allein dasjenige behaupten kann, was von privilegierter Stelle als solches akzeptiert wird. Die Pauschalreise ins Paradies − Sündenfall und Vertreibung inklusive – führt John schließlich zurück ins heimatliche Seldwyla, wo er nach einem schmerzhaften Damaskuserlebnis wenngleich nicht den ursprünglich erhofften, so doch endlich einen legitimen und vor allem sozial verträglichen Weg zur Sicherung der eigenen Existenz findet. Voraussetzung hierfür ist jedoch die Bereitschaft zur vollständigen Läuterung, zur Lossagung von allen falschen Zeichen, folglich zur Aufgabe allen Scheins zugunsten einer validierten Lebensrichtigkeit,161 wofür dem zwecks Schuldentilgung von allem substanzlosen Zierrat befreiten Heimkehrer eine alte Nagelschmiede überlassen wird.162 Dergestalt seiner falschen Zeichenhaut entblößt, kehrt John der Welt des Scheinverkehrs endgültig den Rücken und fügt sich in eine realwirtschaftliche Existenzweise frei von jeder Großmannssucht. Seine Rückkehr in die Heimat erscheint zwar auf den ersten Blick als die konsequente Rückführung eines Reisenden dahin, wo er vermeintlich hingehört, doch zeigt sich bald, dass die frühere Wesensverwandtschaft von Ort und Figur nicht mehr existiert, dass der Geläuterte im Gegenteil Seldwyla trotz räumlicher Heimkehr ein für alle Mal verlassen hat. Sein Weg führt ihn folglich nach Seldwyla zurück, nur weht der Geist von Seldwyla nicht mehr da, wo John ist. Verloschen sind die Irrlichter vom schnellen Glück durch falsche Vater-
|| 161 Vgl. hierzu Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848–1898. 4., mit neuem Vorwort und erweitertem Nachwort versehene Auflage. Stuttgart 1981, S. 576: „Schein, Maske, Illusion – das ist nur das Phantastische, Verwirrte, Künstliche, Närrische und Selbstzerstörerische. Es ist der Gegensatz zu allem Natürlichen, Ursprünglichen und Lebensrichtigen.“ In der Korrektur eben dieses Irrweges erkennt Martini Grundzüge des Kellerschen Erzählwerks: „Der gleiche Grundriß wie im ‚Grünen Heinrich‘ zeichnet sich ab: die Demaskierung des Abenteuerlichen, Verstiegenen, Törichten, Überschwänglichen, des Phantastischen oder Engherzigen, deren Korrektur oder Vernichtung durch Natur und Vernunft der rechten Lebensordnung.“ (S. 575) 162 „In ironischer Weise korrespondiert die nun tatsächliche Nagelschmiede mit seinem Bestreben, das Glück an die Wand zu nageln [...].“ Aus: Christian Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers. Frankfurt am Main 1998, S. 144.
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und verführende Mutterfiguren, stattdessen findet sich nun die gutmütige Väterlichkeit eines alten Gesellen an Johns Seite, woraufhin der Heimkehrer schon bald „in ganzer Zufriedenheit so dahin hämmerte, als er das Glück einfacher und unverdrossener Arbeit spät kennen lernte, das ihn wahrhaft aller Sorgen enthob und von seinen schlimmen Leidenschaften reinigte.“163 Das unverkennbar kathartische Finale der Novelle lässt John in beinahe heilsgeschichtlicher Manier mit geläuterten Sinnen wiederauferstehen und weist ihm fernab aller trügerischen Zeichen einen sicheren Weg in das „anstrengende[] Idyll handwerklicher Zufriedenheit“164. Diese Handwerkeridylle entbehrt zwar den Pomp des Litumleischen Pseudoparadieses zu Augsburg, will zudem verdient und beständig aufrechterhalten werden, entlohnt dafür aber mit einer autonomen Existenzweise, die nicht länger vom Wohlwollen anderer abhängig ist. Im Bild des zufrieden vor sich hin hämmernden Schmiedes hat zugleich auch die auf Erzählebene propagierte Idee von ‚Glück‘ eine Korrektur erfahren, der zufolge wahres Glück mehr ist als das Resultat einer schicksalhaften Begünstigung – nämlich ein innerlicher Zustand von tiefer Zufriedenheit. Johns letzte Reise vom Saulus zum Paulus gerät folglich in dem Moment zu einer unerwarteten Reise ins Glück, in dem sein Glücksempfinden auf ein neues Fundament gestellt wird und auf zeichenhafte Weise eine Abwendung von flüchtigen Äußerlichkeiten hin zur Erfahrung von innerer Seligkeit vollzieht. Dieses unverhoffte Glück befreit neben allen Sorgen allerdings auch von jeglichen Leidenschaften, da sich die Läuterung des einstigen Egomanen als total erweist und allen Heilsversprechen zum Trotz auf eine Auslöschung des Subjekts bzw. die radikale Reduktion desselben auf ein gesellschaftlich kompatibles Maß hinausläuft. Einen Ort der sozialen Integration gibt es für den Geläuterten außerhalb seiner kleinen Schmiede in Seldwyla entsprechend ebenso wenig wie im fernen Augsburg, denn wo immer „er gesellschaftlichen Anschluss zu finden glaubt, bleibt er letztlich allein.“165
|| 163 HKKA 5, 96. 164 Ulrike Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg 2011, S. 147. Auch Tanzer beschäftigt sich mit dem Phänomen des Glücks bzw. dessen literarischer Verarbeitung und resümiert zum Treiben des Glücksschmieds: „Die Geschichte des John Kabys, die hier ausgefaltet wird, ist gleichsam die ironische Kontrafaktur auf ein individuelles Streben nach Glück mit seinem Anspruch auf Autonomie und Planbarkeit“. (S. 147) 165 Helmut Alexander/Andreas Fischnaller: Zunftromantik und Handwerkerrealität. In: Literatur und Ökonomie. Hg. von Sieglinde Klettenhammer. (Angewandte Literaturwissenschaft 8) Innsbruck 2010, S. 75. Alexander/Fischnaller verweisen hinsichtlich des ‚Nischendaseins‘ des Taugenichts zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Veronika Beci: Joseph von Eichendorff. Biographie. Düsseldorf 2007, S. 107–110.
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Im Gegenzug kehrt seine verlorene Autonomie, die der Taugenichts im Schlafgemach der Adoptivmutter symbolisch an die eigene Nachkommenschaft verpfändet hatte, in beschränktem Umfang in die bescheidenen vier Wände der Schmiede zurück. Diese Schmiede, die allein „ihren Mann nährte“166, fungiert als ein Gegenentwurf zur gynäkokratischen Unterwelt im Hause Litumlei, zumal sie ein zwar sicheres Auskommen garantiert, dieses jedoch als zu schmal für die Versorgung einer Lebenspartnerin bemessen ist, so dass das neue Idyll auf ökonomische Weise ‚schlangensicher‘ verriegelt wird.167 Der vom Text betriebene Ausschluss des weiblichen Geschlechts bewahrt den einstigen Gernegroß zwar vor entsprechenden Wirrungen, fordert im Umkehrschluss jedoch einen dauerhaften Verzicht auf Sexualität und verrät damit einen Rest von Skepsis hinsichtlich der Integrität des geläuterten Helden, da Ruhe und Frieden offenbar nur in Abwesenheit des weiblichen Geschlechts garantiert werden können. Das Angstbild des unheilbringenden Weibes ist somit gerade durch die Vehemenz, mit der es auf Erzählebene angegangen wird, allgegenwärtig und wird in vorliegender Erzählung nicht überwunden, sondern allenfalls umgangen. Hinter dem Prinzip von Vermeidung statt Konfrontation verbirgt sich nicht zuletzt das Misstrauen der Textautorität gegenüber der menschlichen – sprich ‚männlichen‘ – Triebnatur, so dass diese vorsorglich ihre strenge Hand über den Heimkehrer bzw. dessen Sexualität hält und damit einen vielsagenden Einblick in die eigene Geschlechterideologie gewährt. Das ökonomische Fundament der geläuterten Existenz ist indes weit schneller gelegt als eine vollständige Korrektur früherer Verhaltensmuster nachfolgen kann, so dass der angestrebte Seelenfrieden anfangs noch von nächtlichen Grübeleien über das in Augsburg leichtfertig verspielte Erbe heimgesucht wird. Abhilfe gegen die Einflüsterungen der Nachtseite schafft die tägliche harte Arbeit bzw. die in der Folge erworbene handwerkliche Meisterschaft, welche die psychologischen Reste des Taugenichtsdaseins vollends aus dem Wesen des Schmieds tilgt. Im Gegensatz zu seinem einstigen Credo von der Anlockung und Fixierung eines zufälligen Glücks erwächst ihm selbiges nun nicht durch die Gunst des Moments, sondern durch die selbstbestimmte Lebensweise eines sich von eigener Hand ernährenden Mannes. Als ein einstmals sprichwörtlicher und
|| 166 HKKA 5, 95. 167 Selbmann weist ebenfalls darauf hin, dass die Schmiede ihren Mann, „aber nur diesen“ (Selbmann: Gottfried Keller, S. 85) zu ernähren vermag. Ebenso Corkhill: Good Fortune Maketh the Man, S. 43: „However, the compensatory happiness of a simple and honest, though archaically pre-industrial trade is not rewarded with conjugal bliss. Like Pankraz he appears destined for bachelorhood.“
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nunmehr buchstäblicher Schmied ist John semiotisch ganz bei sich angekommen und wird für die späte Anerkennung des zuvor von ihm verhöhnten Legitimitätsprinzips mit einer neuen Existenzgrundlage entlohnt. Das im Gegensatz zum phallischen Gepränge des Litumleischen Palastes in einfacher Weise gehaltene Häuschen des Schmiedes zeugt ebenfalls von der „Entlarvung und desillusionierende[n] Enttäuschung“168 eines übersteigerten Selbstbildes, zugleich aber auch vom „Wiedergewinnen eines gewandelten und eingeschränkten, jedoch verläßlichen Wirklichkeitsbezugs“169. Es ist zudem von einiger Zeichenhaftigkeit, dass das neue Heim einerseits von Kürbisstauden – „Sinnbild rascher Vergänglichkeit und kurzlebiger Überheblichkeit“170 – umwuchert sich zeigt, während andererseits das gesamte Anwesen unter dem Schutz eines großen Holunderbaums, der Überlieferung nach „ein altes Abwehrmittel gegen Hexen und Zauberer“171, steht. Die Mahnung an narzisstische Irrwege verbindet sich in der Flora dieses Garten Eden mit dem Versprechen von Schutz vor falschem Zauber, worin die Erinnerung an eine beschwerliche Läuterungsprozedur zitiert ist, die den Bekehrten schließlich in einem versöhnlichen Licht sein Glück finden zu lässt. Ob dieses kathartische Finale vorrangig darauf abzielt, die charakteristische „Substanzlosigkeit des Helden“172 zu überwinden oder aber der vollständigen „Annihilierung
|| 168 Hans Joachim Schrimpf: Das Poetische sucht das Reale. Probleme des literarischen Realismus im 19. Jahrhundert. Zum Beispiel Gottfried Keller. In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf. Bonn 1998, S. 154. 169 Schrimpf: Das Poetische sucht das Reale, S. 154. Ebenso wie Martini wähnt auch Schrimpf in diesem kathartischen Modell „die Grundkonzeption Kellerscher Novellistik. Sie zielt auf die Darstellung musterbildlicher sittlich-sozialer Tüchtigkeit, die sich im Verwinden und Bewältigen enttäuschter Hoffnungen und Ideale bewährt.“ (S. 154) 170 Kaiser: Gottfried Keller, S. 359. Gemeint ist Jona 4,5–11 in der Originalübersetzung Luthers von 1545, wohingegen moderne Ausgaben der Bibel nach Luther von Kürbis in Stauden oder Rizinusstrauch (Vgl. hierzu Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 26, Anm.11) korrigiert haben: „Gott der HERR aber verschafft einen Kürbis, der wuchs vber Jona, das er schatten gab vber sein Heubt, vnd errettet jn von seinem vbel, vnd Jona frewet sich seer vber dem Kürbis.“ 171 Kaiser: Gottfried Keller, S. 359. Kaiser selbst führt keinen Verweis hierzu an, stattdessen siehe: Holunder [Art.]. In: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Hg. unter besonderer Mitwirkung von E. Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hans Bächtold-Stäubli. (Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde, Abt. 1: Aberglaube, Bd. 4) Berlin 1931/1932, Sp. 261–276. Hierin unter Punkt 3: „Als Schutzbaum des Hauses hat der Holunder ganz allgemein apotropäische Eigenschaften. […] Als hexenabwehrende Pflanze dient der Holunder auch zum Erkennen der Hexen.“ (Sp. 264f). 172 Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken, S. 16. Zit. n. Vedder: Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben, S. 154. Vedder sieht im Gegensatz zu Preisendanz nicht
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eines grotesken Subjekts“173 dient, ist aus Perspektive der vorliegenden Arbeit zweitrangig, da das frühere Treiben des Glücksritters in jedweder Hinsicht eine permanente Irritation der herrschenden Ordnung darstellt – was die Vernichtung dieser ‚verfehlten‘ Existenz offenkundig allemal legitimiert. Die Not einer normgerechten Existenz zwingt den Protagonisten folglich auf einen allegorischen Pfad, der sich zwischen Kürbisstauden und Holunderbäumen, zwischen Versuchung und Abwehr, Trieb und Kontrolle hindurchschlängelt und damit nicht zuletzt auch eine Referenz des Textes auf die Bürden eines Mannseins ist, das auf einem denkbar schmalen Grat zwischen Wunsch und Wirklichkeit den Ansprüchen eines komplexen Ordnungssystems zu genügen hat.
2.2 Kapitalismus – Konformismus – Dehumanisation: Die drei gerechten Kammmacher 2.2.1 Die Gerechtigkeit des ökonomisierten Subjekts: Subordination, Konformität und grenzenlose Selbstentäußerung Dass der substanzlose Scheinverkehr Seldwylscher Prägung die stete Gefahr birgt, durch eine übersteigerte Virtuosität in eben diesem Spiel vom Nutznießer zum nützlichen Narren diskreditiert zu werden, demonstriert die Geschichte vom Zeichenhändler John Kabys. Dass hingegen auch grundehrliche Erwerbsarbeit den Mann entbehrlich machen kann, bekundet die Erzählung von den drei gerechten Kammmachern, deren aufstiegsfixierte Folg- und Genügsamkeit einen derart „düstern Schluß“174 nach sich zieht, dass diese „modernste der Seldwyler Geschichten“175 ebenfalls von unverkennbar grotesken Momenten durchzogen ist,176 zugleich aber „zu den sozialhistorisch interessantesten Texten des 19. Jahr-
|| einen durchgängig substanzlosen Helden beschrieben, sondern vielmehr die finale Annihilierung einer grotesken Figur. 173 Vedder: Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben, S. 154. 174 Erika Swales: Gottfried Kellers (un)schlüssiges Erzählen. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. Zürich 1990, S. 91–108, S. 105. 175 Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers, S. 125. Stotz’ Etikettierung der Erzählung als die ‚modernste‘ des Erzählzyklus betont den kapitalismuskritischen Akzent der Novelle, welcher maßgeblich auf das „durch das Streben nach Geld entmenschlichte Wesen der Kammacher“ (S. 125) abzielt. 176 Zur Einordnung des Darstellungsstils der Kammmachernovelle als ‚grotesk‘ vgl. etwa Schrimpf: Das Poetische sucht das Reale, S. 160. Ebenso Kittstein: Gottfried Keller, S. 114.
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hunderts“177 gerechnet wird. Die Gerechtigkeit nämlich, die von diesen Dreien propagiert und schließlich parabelhaft an sie zurückverwiesen wird,178 ist die Gerechtigkeit einer neuen, umfänglich ökonomisierten Zeit – und damit ausdrücklich nicht die himmlische Gerechtigkeit […] oder die natürliche Gerechtigkeit des menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergieb uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat […].179
Unter der Ägide einer zur Tugend erhobenen duckmäuserisch-kritiklosen Konformität findet das Prinzip von Angebot und Nachfrage seinen Weg nicht nur in den Waren- und Arbeitsmarkt, sondern wie selbstverständlich auch Verwendung als Bemessungsgrundlage für den sozialen Stand einer Person, was sich exemplarisch im saisonalen Umgang mit den Arbeitskräften niederschlägt: Im Sommer, wenn die Gesellen gern wanderten und rar waren, wurden sie mit Höflichkeit behandelt und bekamen guten Lohn und gutes Essen; im Winter aber, wenn sie ein Unterkommen suchten und häufig zu haben waren, mußten sie sich ducken, Kämme machen, was das Zeug halten wollte, für geringen Lohn.180
Die Lehrmeister, welche die Verrichtung ihrer Meisterschaft gänzlich den Gesellen überlassen – „denn die Meister arbeiteten nie“181 –, spielen ihre majestätische Position innerhalb eines kapitalistischen Systems insbesondere des Winters aus, wenn die tägliche Portion Sauerkraut in einem Akt gottesgleicher Realitätsbeugung zu einem Festmahl („[D]as sind Fische!“182) verklärt und jedweder Widerspruch mit einer Kündigung quittiert wird. || 177 Bernd Neumann: Gottfried Keller. Eine Einführung in sein Werk. Königstein im Taunus 1982, S. 150. 178 Nicht selten wird das Parabelhafte der Erzählung hervorgehoben, etwa als eine „Parabel von den Fährnissen auf dem Weg zur ökonomischen und bürgerlichen Etablierung“ (Thomas Koebner: Der Erfolglose bezahlt mit seiner Existenz. Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammacher. In: Thomas Koebner: Zurück zur Natur. Ideen der Aufklärung und ihre Nachwirkung. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 121) Heidelberg 1993, S. 328–339, S. 330) bzw. als eine „Parabel über das Arbeitsleben in der kapitalistischen Gesellschaft“ (Schilling: Kellers Prosa, S. 122). 179 HKKA 4, 215. Zitiert nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe, Bd. 4: Die Leute von Seldwyla (Erster Band). Hg. von Peter Villwock, Walter Morgenthaler, Peter Stocker, Thomas Binder, unter Mitarbeit von Dominik Müller. Basel u. a. 2000. Im Folgenden verkürzt angegeben als HKKA plus Bandangabe und Seitenzahl. 180 HKKA 4, 216. 181 HKKA 4, 216. 182 HKKA 4, 216.
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Als immun gegen diese Widrigkeiten des Gesellenlebens erweist sich allein der Sachse Jobst, welcher schuftet „wie ein Tierlein“183, durch keinerlei Entbehrungen in die Flucht zu schlagen ist und es obendrein versteht, sämtlichen Lohn zu horten. Das soziale Miteinander innerhalb der Handwerkszunft ist ihm dabei ebenso fremd wie eine wirkliche Leidenschaft für sein Handwerk, denn „wenn es nicht unzweifelhaft vorgeschrieben war, so wandte er nicht die kleinste Mühe an eine Sache“184. Seine nüchterne Arbeitsmoral korrespondiert einem nicht minder prosaischen Wesen, immer auf die Idee von dem einen, „große[n] Plan“185 fixiert: der Anhäufung eines eigenen Vermögens zur Übernahme des Handwerksbetriebs seines Meisters. Die Idee, sich „selbst zum Inhaber und Meister zu machen“186 und alsdann rein gar nichts mehr zu unternehmen, „was nicht seinen Wohlstand mehre, nicht einen Deut auszugeben, aber deren so viele als möglich an sich zu ziehen“187, verweist auf den ökonomistischen Wirklichkeitsbezug eines jungen Mannes, der selbst im Angesicht des weiblichen Geschlechts, dem gegenüber er durchaus „tausend und ein Gelüste“188 verspürt, einer streng wirtschaftlichen Prüfung des Lustprinzips Vorrang einräumt. Sexuelle Impulse werden demgemäß auf rein zeichenhafter Ebene artikuliert und vor allem umgehend reguliert, indem offenkundig existierende Triebanteile durch eine sinnlich überhöhte, letztlich jedoch von banalem Ökonomismus verzerrten Idee von Askese sublimiert werden.189 Der Bereich von Erotik und Partnerschaft unterliegt entsprechend einem streng mehrwertfixierten Kalkül und gibt den Sachsen als einen lustfeindlichen Prosaiker zu erkennen, dessen Trieb(er)leben allenfalls metaphorisch sich zu erkennen gibt, wenn er etwa beim Obstkauf „mit der größten Aufmerksamkeit die Verhandlung mit führte, die hübschen Kirschen und Pflaumen streichelte und betastete und zuletzt die Weiber, welche ihn für den eifrigsten Käufer genommen, verblüfft || 183 HKKA 4, 217. 184 HKKA 4, 218. 185 HKKA 4, 220. 186 HKKA 4, 220. 187 HKKA 4, 220. 188 HKKA 4, 222. 189 Die Kammmachersche Variante von ‚Askese‘ erweist sich eingedenk der Fixierung auf rein ökonomische Prinzipien als sinnentleerte Profanisierung und Banalisierung asketischer Lehren. Als eine zweckgebundene Askese zur Erlangung des Überflusses nämlich, konterkariert das Askese-Verständnis der Kammmacher die Idee der Askese wie sie sich etwa bei Schopenhauer findet. Thomé resümiert hierzu: „Im 4. Buch der Welt als Wille und Vorstellung wird die Askese auf die Abkehr vom Willen zum Leben zurückgeführt, die ihrerseits aus der Einsicht in den unaufhebbaren Leidenscharakter des Lebens resultiert.“ Aus: Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 140.
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abziehen ließ, sich seiner Enthaltsamkeit freuend“190. Dass er anschließend seinen Mitgesellen „mit zufriedenem Vergnügen“191 beim Verzehr des Obstes zuzusehen vermag, ohne jegliche Regung angesichts der sexualsymbolisch konnotierten Früchte zu verraten, untermauert die Dominanz seiner ökonomistischen Weltsicht, die entsprechend nicht bloß auf sexuellem Gebiet, sondern auch in politischen Angelegenheiten zu beobachten ist. Folgerichtig sind gesellschaftliche oder auch politische Belange dem jungen Mann genauso (zweck)fremd wie Heimatgefühle, was den Text dazu veranlasst, den Sachsen unverwandt mit „jenen niederen Organismen“192 zu vergleichen, „die zufällig an ein Saugröhrchen des guten Auskommens gerieten“193 und sich fortan in freudloser Selbstgenügsamkeit, „ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande“194, daran gütig tun.195 Wo die anderen Gesellen an den erotisierten Früchten zeichenhaft „ihre Gelüste befriedigten“196, beschränkt sich der Sachse folglich auf die Rolle eines Voyeurs, so dass die radikale Enthaltsamkeit des Gesellen angesichts der üppigen Bildlichkeit vorliegender Szene unweigerliche die Frage aufwirft, welche Konsequenzen eine derart marginalisierte Triebnatur für die Genese einer männlichen Geschlechtsidentität hat. Das Spannungsverhältnis zwischen individueller Geschlechtlichkeit und soziokulturellem ‚Geschlechternormalismus‘197 wird potenziert, indem der Text dem entbehrungsverliebten Gesellen in jeweils kurzem Abstand zwei weitere Männlichkeitsentwürfe von identischer Natur zur
|| 190 HKKA 4, 223. 191 HKKA 4, 223. 192 HKKA 4, 222. 193 HKKA 4, 222. 194 HKKA 4, 222. 195 Die Bereitschaft zur Emigration aus wirtschaftlichen Gründen, die weder Liebe zur alten, noch Interesse an der neuen Heimat kennt, stattdessen von rein ökonomischen Prinzipien gelenkt wird, lässt Kontje die Kammmachergesellen als Beispiel eines „schwachen Typus“ (in Abgrenzung zum vaterlandsliebenden Martin Salander) und als Ausdruck eines bloß „Lauwarmen“ bezeichnen. Aus: Todd Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus in Werken Gottfried Kellers. In: Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Hg. von Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig. Bielefeld 2009, S. 191–209, S. 198f. 196 HKKA 4, 222. 197 Zur Frage, wie das ‚Normale‘ entsteht und auf welch vielfältige Weise ein als systematisch zu begreifender ‚Normalismus‘ sämtliche Bereiche der Wissensproduktion und somit auch der gesellschaftlichen Interaktion durchdringt, vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen, 1997. Stark verkürzt meint ‚Normalismus‘ nach Link „das Ensemble aller ‚Normalitäten‘ einschließlich der dazu ‚passenden‘ Subjektivitäten produzierenden Diskurse, Verfahren, Instanzen und Institutionen“. (S. 341)
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Seite stellt,198 die, versehen mit der gleichen Genügsamkeit und den gleichen Hintergedanken, gar als dessen „vollkommene[] Doppelgänger“199 geführt werden. Wenn diese drei Männer es vollbringen, die Nächte in einem schmalen Bett auf eine Weise gemeinsam zu verbringen, „daß immer noch ein bißchen Raum zwischen jedem der Gesellen blieb und das Deckbett auf ihnen lag wie ein Papier auf drei Heringen“200, gerät das ‚Heringszitat‘ zum Menetekel eines schleichenden Entindividualisierungsprozesses.201 Es gibt denn auch weder nächtliche Rippenstöße, wie unter anderen Handwerksgesellen üblich, noch einen Kampf ums Deckbett, denn hier liegen drei so „strack und ruhig“202, so gänzlich ohne Ecken und Kanten beieinander, dass der geteilte Traum vom ökonomischen Heil offenkundig die Aufgabe eigener Konturen rechtfertigt. So befeuert die Bereitschaft der drei Männer, jedwede Entbehrlichkeit auf sich zu nehmen, um eines Tages selbst an den Schaltstellen eines Systems rigorosen Vorteilsdenkens zu thronen, die eigene Verwertbarkeit und weil auch dem Meister nicht entgeht, „daß diese drei Käuze sich alles gefallen ließen, um nur da zu bleiben, brach er ihnen am Lohn ab und gab ihnen geringere Kost; aber desto fleißiger arbeiteten sie und setzten ihn in den Stand, große Vorräte von billigen Waren in Umlauf zu bringen.“203 Getrieben von ihrer zweckgerichteten „Weisheit und Ausdauer und von sanfter schnöder Herz- und Gefühllosigkeit“204 verleben die drei Kammmacher ihre Tage in einem permanenten Überbietungskampf gegen sich und die Welt, ringen sich in der Hoffnung, die eigene Unentbehrlichkeit zu dokumentieren, gar eine unverlangte Produktivitätssteigerung ab und bescheren schließlich dem Eigentümer der Kammmacherei einen regelrechten Goldrausch,205 da „er ein Hei-
|| 198 Vedder erkennt in der zunehmend kürzeren Erzählzeit vermittels derer der zweite und der dritte Kammmachergeselle in die Handlung eingeführt wird, das (schreibökonomische) Abbild einer Verlusterfahrung, die als Allegorie auf den Bedeutungsverlust des Einzelnen in einer umfänglich ökonomisierten Welt gedeutet wird. Vgl. Vedder: Gottfried Kellers verlustreiches Schreiben, S. 149. Ebenso Selbmann, der in der Verdreifachung der Gesellen das „Prinzip der Steigerung“ (Selbmann: Gottfried Keller, S. 69) abgebildet sieht. 199 HKKA 4, 225. 200 HKKA 4, 227. 201 Kittstein verweist auf die Häufung von Tiermetaphern innerhalb der Novelle als Ausdruck einer schleichenden Entmenschlichung der Kammmachergesellen. Vgl. Kittstein: Gottfried Keller, S. 112. 202 HKKA 4, 227. 203 HKKA 4, 227. 204 HKKA 4, 223. 205 Auch Stotz erinnert daran, dass „die Mehrproduktion [...] ohne ausdrücklichen Druck des Meisters“ erfolgt; „die drei Gesellen unterwerfen sich selbst den größten Strapazen, in der Hoff-
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dengeld durch die stillen Gesellen verdiente und eine wahre Goldgrube an ihnen besaß.“206 Weil Besitz im ‚modernen‘ Seldwyla als Kitt einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung fungiert, deren Moral und einziges Streben dem Mammon gilt, bewirkt der verzweifelte Fleiß der drei Kammmacher, dass allein der Meister „sich den Gurt um einige Löcher weiter [schnallte] und eine große Rolle in der Stadt [spielte], während die thörichten Arbeiter in der dunklen Werkstatt Tag und Nacht sich abmühten und sich gegenseitig hinausarbeiten wollten.“207 Die Tatsache, dass die drei allen Verknappungstendenzen zum Trotz weiterhin so konfliktfrei und genügsam wie abgepackte Ware beieinanderliegen, zeugt nicht bloß von den dehumanisierenden Konsequenzen ihrer „soziale[n] Aufsteigermentalität“208, sie negiert zugleich auf zeichenhafte Weise den obligatorischen Raumanspruch eines sich über physische wie akustische ‚Landnahme‘ definierenden Männlichkeitsbildes. Die angestrebte Übernahme der Kammmacherei wirkt sich somit unwillkürlich auch auf die Geschlechtsidentität der jungen Handwerksgesellen aus, die bereitwillig tradierte Attribute ihres Geschlechts der Verwirklichung wirtschaftlicher Interessen unterordnen. Ihr klagloses Ducken angesichts einer steigenden Arbeitsbelastung und eines stetig (einfluss-)reicher werdenden Meisters ist zwar vorgeblich der Idee einer stillen Kapitalanhäufung geschuldet,209 lässt aber ebenso auf eine geistige Genügsamkeit schließen,210 die auf eine Reflexion der herrschenden Prinzipien verzichtet und stattdessen in der strikten Befolgung des geltenden Regelwerks ihr Heil sucht. Diese uneingeschränkte Autoritätshörigkeit zum Zwecke der eigenen Nachteilsminimierung
|| nung, so ihrem Ziel größerer Ersparnisse und der späteren Übernahme des Betriebes näherzukommen.“ Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers, S. 125. 206 HKKA 4, 227. Die negative Konnotation des ‚Heidengeldes‘ bzw. der Art seiner Erwirtschaftung liegt auf der Hand. Vgl. Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers, S. 126. 207 HKKA 4, 227. 208 Richard R. Ruppel: Gottfried Kellers Ethik im Zusammenhang mit ästhetischen, religiösen und historischen Aspekten seiner Kunst. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. Zürich 1990, S. 61–76, S. 73. 209 Kittstein verweist angesichts der sinnesfeindlichen Askese der drei Gesellen auf Max Webers Schriften zur calvinistischen Erwerbsmoral (Vgl. Kittstein: Gottfried Keller, S. 112) und auch Koebner attestiert den Kammmachern Tendenzen einer Lebensführung, die nach Weber „Arbeit und Askese verknüpf[t] und so kapitalistische Produktivität freisetz[t]“, so dass im Sinne Freuds „Kulturleistung [...] durch Sublimation der Triebe erbracht oder erreicht“ wird. Aus: Koebner: Der Erfolglose bezahlt mit seiner Existenz, S. 331. 210 Martini sieht am Beispiel der emsigen Kammmachergesellen und ihrer Definition von Gerechtigkeit die Pedanterie des unteren Mittelstandes zitiert – als „Typenspiegel des Kleinbürgerlichen und seiner Entfremdung in das Mechanische, Lebenswidrige“. Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 582.
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bzw. Vorteilsmaximierung dient faktisch jedoch weniger dem Einzelnen als vielmehr der Aufrechterhaltung eines Systems von Abhängigkeit und Gehorsam. In der Produktivitätsoffensive der Kammmacherei zeigt sich folglich die Janusköpfigkeit eines Abhängigkeitssystems, in welchem die Minderprivilegierten durch ihren Traum vom Aufstieg die Vorherrschaft der Privilegierten fortschreiben, das Räderwerk der Unterdrückung hingegen unangetastet lassen – freilich in der immerwährenden Hoffnung, dass sich dieses eines Tages auch zu ihren Gunsten dreht. Der Versuch einer Eigenkapitalsteigerung durch Fleiß, der allein fremdes Kapital wachsen lässt, schlägt sich im Falle der drei Gesellen entsprechend nicht nur kontraproduktiv hinsichtlich des eigenen Beschäftigungsverhältnisses nieder – „Sie hatten nämlich des Guten zu viel gethan und so viel Ware zuweg gebracht, daß ein Teil davon liegen blieb […]“211 –, er vermag auch keinem der Handwerksgesellen einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinen nicht minder fleißigen Doppelgängern zu bringen. Sie befeuern vielmehr durch ihre Überproduktion die eigene Vertreibung aus dem zu einem „himmlische[n] Jerusalem“212 verklärten Kammmacherbetrieb, woraus nicht zufällig der gleiche Hang zur Sakralisierung ökonomischer Heilsversprechen spricht wie ihn der Glücksritter John im Angesicht des Hauses Litumlei zeigt. So erweist sich die Profanierung religiöser Bezüge durch übersteigerte oder auch ignorante Figurenentwürfe als ein sicheres Indiz für nachfolgende Sanktionsakte, die offenkundig immer dann auf den Plan treten, wenn die Idee vom Paradies in banaler Weise auf allzu weltliche, meist ökonomische Verheißungen projiziert wird.
2.2.2 Von der Ökonomisierung der Ehe und einer modernen Kapitalistin Nachdem sich realwirtschaftliche Erwerbsarbeit als ungeeignet erweisen hat, um unter drei Konformisten einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu generieren, besinnt sich der jüngste und zugleich kapitalschwächste der drei Männer auf das Institut der Ehe, das kurzerhand zum alternativen Finanzmarkt erklärt wird, um auch ohne nennenswertes Eigenkapital eine stattliche Rendite erwirtschaften zu können. Entsprechend beschließt der Schwabe Dietrich, die Jungfer Züs Bünzlin, eine der vielen Verschmähten des Seldwyler Heiratsmarkts, der bevorzugt die „lustigen und hübschen Wesen“213 in den Stand der Ehe hebt, zwecks Kapitalaufstockung zu ehelichen und auf diese Weise in die eigenen Pläne zu integrieren.
|| 211 HKKA 4, 239 212 HKKA 4, 239. 213 HKKA 4, 228.
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Der Reiz der beinahe dreißigjährigen Jungfer, deren Äußeres durch „dünne rötliche Haare und wasserblaue Augen“214 beschrieben ist, gründet maßgeblich in ihrer Funktion als Verwalterin des väterlichen Erbes und führt auf Erzählebene dazu, dass der Fokus des Geschehens von händischer Erwerbsarbeit auf die wirtschaftlichen Aspekte einer Eheschließung übergeht. Denn wenngleich dem weiblichen Geschlecht bzw. dem Bereich von Sexualität und Erotik bislang nicht sonderlich zugetan, registrieren alle drei Gesellen die Bedeutung des siebenhundert Gulden schweren ‚Finanzplatzes‘ Bünzlin und verlagern ihren Eifer von einer gleich- bzw. binnengeschlechtlich akzentuierten Rivalität auf nunmehr sexuelles Terrain.215 Wer genau hier in den Fokus des Geschehens rückt, zeigt der Text anhand von kleinen Besitztümern auf, die als erklärte Kostbarkeiten der Jungfer der Charakterisierung einer Frau dienen, die sich durch ein Sammelsurium frömmlerisch-profanen Nippes wie „ein Vaterunser mit Gold auf einen roten durchsichtigen Glasstoff gedruckt […], einen Kirschkern, in welchen das Leiden Christi geschnitten war“216 oder auch „eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter Glas lag“217, auszeichnet.218 Dass sich zugleich „Goldene Lebensregeln für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter […], fünf oder sechs Liebesbriefe“219 und auch ein „Schnepper zum Aderlassen“220 im Besitz der Jungfer finden, lässt eine in weltlichen Dingen nicht unkundige Frau erwarten, zumal der Text das Jungfrauenethos der Achtundzwanzigjährigen mit kurzen Anekdoten gescheiterter Liebschaften konterkariert. Und obwohl ihr geistiger Horizont von der Erzählinstanz als eine „kleine Gelehrsamkeit“221 von Schulbuchwissen, Katechismus und Kalenderweisheiten verspottet wird, sie zudem „unaufhörliche Reden aus
|| 214 HKKA 4, 230. 215 Die Idee der Eheschließung verfolgt hierbei nicht nur Ziele der Kapitalakkumulation, sondern betrifft auch rechtliche Sachverhalte, als dass etwa „die Eheschließung eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung des Meisterrechts war [...].“ Aus: Christine Werkstetter: Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert. Berlin 2001, S. 349. 216 HKKA 4, 228. 217 HKKA 4, 228. 218 Dass all diese Belanglosigkeiten fein geordnet in Schachteln, Kästen und Schränken verwahrt werden, interpretiert Koebner als Indiz einer „geizigen, bigotten und philiströsen Seele“, die zudem „die Welt mit einem Netz aus Lexikon-Phrasen überspannt“ und auf diese Weise ein metaphorisches Bollwerk „gegen die Impulse der Unordnung, der Anarchie, des Unbewußten“ errichtet. Aus: Koebner: Der Erfolglose bezahlt mit seiner Existenz, S. 333. 219 HKKA 4, 229. 220 HKKA 4, 229. 221 HKKA 4, 231.
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ihrem Munde“222 hervorbringt und in selbstverfassten Aufsätzen „die sonderbarsten und unsinnigsten Sätze anreihte […], wie sie ihrem seltsamen Gehirn entsprangen“223, ist die Erbin den drei Kammmachern in ihrer ökonomischen Versiertheit weit überlegen. Eine Rückschau auf ihre früheren Liebschaften erscheint entsprechend wie ein Lehrstück aus dem Rechts- bzw. Rechnungswesen, wenn sie etwa das unredlich erworbene Geschenk eines gleichermaßen unaufrichtigen Verehrers allen Widerständen zum Trotz in einem „tapfern und heftigen kleinen Prozeß“224 als ihr rechtmäßiges Eigentum zu verteidigen und dabei manch offene Rechnung des flüchtigen Liebhabers zu ihren Gunsten anzuführen weiß. Besitz währt in der Welt der Jungfer augenscheinlich länger als Herzensangelegenheiten und so verwundert es nicht, dass die Perspektive einer Paarbeziehung wie selbstverständlich mit dem zu erwartenden ökonomischen Ertrag der Verbindung verknüpft wird, wodurch ein Buchbindergeselle mit ernsthaften Absichten als Heiratskandidat ausfällt, weil er sich als „arm wie eine Maus und ungeschickt zum Erwerb“225 erweist. Die Verwertungsethik der Züs Bünzlin weiß indes auch diese von vornherein perspektivlose Verbindung zu einer Angelegenheit von beiderseitigem Nutzen zu stilisieren und so verbarg sie sich keinen Augenblick die Unmöglichkeit einer Vereinigung und suchte nur seinen Geist auf alle Weise an ihrer eigenen Entsagungsfähigkeit heranzubilden und in einer Wolke von buntscheckigen Phrasen einzubalsamieren.226
Steht eine Heirat auch gänzlich außer Frage, wird doch der ‚Restwert‘ des Verehrers von der Jungfer dankend angenommen, um einen von vermeintlich selbstloser Enthaltsamkeit verhüllten Narzissmus zu befriedigen, der in der charakterlichen Verfeinerung anderer die eigene Vorzüglichkeit spiegelt. Die Liebesepisoden aus der Vergangenheit der Jungfer Bünzlin, in denen Kategorien von Geschlecht und Ökonomie systematisch in Bezug zueinander gesetzt werden, erweitern das Bild einer selbstverliebten Rabulistin von naiver Gelehrsamkeit um den Eindruck einer kompromisslosen Ökonomin, die sich den eigenen als auch fremden Gefühlswelten erst nach einer eingehenden Wirtschaftlichkeitsprüfung öffnet. Dieses strikte Ertragsdenken, das alle irrationalen, weil unökonomischen Triebanteile des eigenen Wesens leugnet, stellt sie in eine Reihe mit den drei
|| 222 HKKA 4, 232. 223 HKKA 4, 232f 224 HKKA 4, 231. 225 HKKA 4, 233. 226 HKKA 4, 233.
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Kammmachergesellen und lässt sie als vierte Doppelgängerin im Bunde ins Geschehen treten. Der Plan der Kammmacher, den entscheidenden Vorteil nicht durch Erwerbsarbeit, sondern innerhalb einer Geschlechter- bzw. Paarkonstellation zu erringen, fällt erwartbar auf seine Urheber zurück, denn der strikte Ökonomismus der Jungfer Bünzlin taugt nicht zur Aushebelung konventioneller Kapitalbeschaffungsmodelle, sondern bestätigt im Gegenteil deren Gültigkeit. Die versierte Erbin kann entsprechend unmöglich als ein Instrument zur Überwindung bzw. Korrumpierung des herrschenden Systems genutzt werden – sie ist im Gegenteil eine leibhaftige Inkarnation desselben. So erwachen in den Männern zwar erwartungsgemäß „ungewohnte Erregungen der Eifersucht“227, diese gelten allerdings weniger den Reizen der Jungfer als vielmehr der Verheißung eines einträglichen Renditeobjekts, das insbesondere in Zeiten eines durch Überproduktion drohenden Stellenverlusts ungemein verlockend ist. Ebenso wie sich das Konkurrenzgebaren der drei Gesellen von der Erwerbsarbeit auf die Verehrung der selbstverliebten Erbin verlagert, verliert auch der Handwerksbetrieb seine Relevanz als bevorzugter Austragungsort eines Männerwettbewerbs, der sich zunehmend auf dem Rücken der Frau abspielt. Züs wird dergestalt zum Veranstaltungsort einer ökonomisch akzentuierten Verdrängungsrivalität unter Männern, denn der seiner spärlichen Barmittel bewusste Schwabe hatte mit der Jungfer „ein Land entdeckt, welches alsobald Gemeingut wurde, und teilte das herbe Schicksal aller Entdecker; denn die zwei andern folgten sogleich seiner Fährte und stellten sich ebenfalls bei Züs Bünzlin auf […].“228
2.2.3 Gescheiterte Landnahme: Die Konterrevolution narzisstischer Weiblichkeit Die angepeilte Territorialisierung der Jungfer verläuft allerdings nicht im Sinne der Eroberer, vielmehr übernimmt das ‚Objekt‘ der Begierde in Kenntnis der Intention seiner Verehrer selbst die Regentschaft. Die Erbin nämlich bleibt ihrem renditefixierten Partnerschaftsbegriff treu, taxiert ihre Verehrer entsprechend nüchtern und schließt den jüngsten, wenngleich reizvollsten Kammmachergesellen wegen seines geringen Kapitalstocks insgeheim aus, macht ausgerechnet ihm jedoch
|| 227 HKKA 4, 238. 228 HKKA 4, 236.
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durch manche stille Zeichen noch am ehesten einige Hoffnung und spornte durch die Freundlichkeit, mit welcher sie ihn besonders zu beaufsichtigen und zu regieren schien, die anderen zu größerm Eifer an, so daß dieser arme Columbus, der das schöne Land erfunden hatte, vollständig der Narr im Spiele ward.229
Dieses nach Seldwyler Geschmack bestenfalls leidlich attraktive ‚Land‘ übernimmt seiner wirtschaftlichen Reize wegen auf sexueller Ebene die hierarchische Funktion des Meisters und dirigiert ebenso wie dieser die drei abermals in einem Abhängigkeitsverhältnis sich wiederfindenden Gesellen durchweg mit Blick auf den eigenen Vorteil. Das von Renditeverheißungen getrübte Bewusstsein der drei Männer vermag die Konterrevolution der Erbin freilich nicht zu erkennen, so dass die Verkündung von Gefahr Angelegenheit des Unterbewusstseins bleibt und das hoffnungsfrohe „Kleeblatt“230 eines Nachts von einem derart lebendigen Angsttraum heimgesucht wird, „daß alle sechs Beine sich ineinander verwickelten und der ganze Knäuel unter furchtbarem Geschrei aus dem Bette purzelte“231, wie im Wahn fürchtend, „der Teufel wolle sie holen“232. Die stets vollkommen reglose Nachtruhe der „drei Bleistifte“233 ist somit dahin, nicht jedoch aufgrund eines neuen, zeichenhaft nach Raum verlangenden Selbstbewusstseins, sondern als ängstliche Reaktion auf das Phänomen weiblicher Sexualität. Das „Weib im Spiele“234 wird damit zum Zerrbild einer durch und durch auf Verwertbarkeit und Rendite fixierten Geisteshaltung, die in Gestalt der Jungfer Bünzlin den Kammmachern nunmehr fast buchstäblich an den Kragen geht, denn diese „rieben sich in Arbeit und Sparsamkeit beinahe auf und magerten sichtlich ab“235. Die Rivalität um die Gunst der Frau steht folgerichtig in Analogie zum Überbietungswettbewerb innerhalb des Handwerksbetriebs, zumal beide Konkurrenzen das alleinige Ziel des sozialen Aufstiegs eint, für dessen Erreichung die Strategie einer akkumulierenden Kapitalanhäufung verfolgt wird, um derentwillen sich die drei mittellosen Gesellen allzu bereitwillig in eine ruinöse Abhängigkeit gegen ihre jeweiligen ‚Kapitalgeber‘ begeben. Die inhumane Effizienz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu Seldwyla potenziert sich somit in der Figur der Züs Bünzlin um den Faktor einer vom Text als destruktiv stigmatisierten, narzisstischen Frauengestalt. Für beide Regime
|| 229 HKKA 4, 237. 230 HKKA 4, 238. 231 HKKA 4, 238. 232 HKKA 4, 238. 233 HKKA 4, 238. 234 HKKA 4, 238. 235 HKKA 4, 238.
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konstitutiv ist die Logik von Abhängigkeit und Fremdbestimmung, welche den drei (kapital-)schwachen Männern physisch wie zeichenhaft zunehmend an die Substanz geht und drei ausgemergelte Männerkörper zurücklässt, die nicht nur an Gewicht und – innerer wie äußerer – Statur einbüßen, sondern auch eine bis dato ungekannte Schwermut an den Tag legen. Das Treiben der narzisstischen Erbin dient entsprechend der Akzentuierung des grundlegenden Konflikts zwischen männlichen Autonomiepostulaten und den Anforderungen bzw. Fremdbestimmungstendenzen einer immer komplexer werdenden Umwelt. Durch die Synthese von Sexualität und Ökonomie erscheint die Erbin als eine geradezu toxische Steigerung des Seldwyler Raubtierkapitalismus, so dass ihre ruinöse Wirkung auf die Gesellen, die mental und körperlich völlig überfordert gar den leibhaftigen Teufel auf ihrer Spur wähnen, sie als den eigentlichen Widersacher in diesem Spiel verrät. Ihre roten Haare reihen sich denn auch nahtlos ein in ein prototypisches Angstbild von dämonisch-destruktiver Weiblichkeit, das auf sexueller Ebene vollzieht, was das kapitalistische Wirtschaftssystem auf ökonomischem Terrain leistet: eine durch systeminhärente Gesetzmäßigkeiten forcierte Unterdrückung von Minderprivilegierten. Diese nimmt im Falle der drei vom Stellenverlust bedrohten Kammmacher derart existenzielle Züge an, dass die Abhängigkeit der Gesellen einen infantilunterwürfigen Anstrich erfährt, wenn etwa die selbstverliebten Predigten der Jungfer als Ausdruck von Verständigkeit umgedeutet werden, denn „je schnöder, herzloser und eitler Züsens unsinnige Phrasen wurden, desto gerührter und jämmerlicher waren die Kammmacher“236, oder man sich dem Meister wie einem gekrönten Haupt unterwirft: „sie fielen ihm zu Füßen, sie rangen die Hände, sie beschworen ihn und jeder bat insbesondere für sich, daß er ihn behalten möchte“237. Die Unterwerfungsgesten der Kammmacher erweisen sich als eine verzweifelte Reaktion auf die ihnen verwehrte Teilhabe an einem exklusiven ökonomischen Verteilungssystem, das im Umkehrschluss zugleich über Art und Umfang sozialer Partizipation entscheidet. Dabei wird sowohl der regelwidrige Zugriff auf dieses Vorteilssystem als auch eine allzu willfährige Unterwerfung unter selbiges als gleichermaßen inadäquat markiert und im Zeichen intellektueller, beinahe regressiver Hilflosigkeit verhöhnt. Wenn nämlich diese „Schwachköpfe“238 fortan „in verwirrten Gedanken“239 und „wie vom Tode hingestreckt“240
|| 236 HKKA 4, 255. 237 HKKA 4, 239. 238 HKKA 4, 255. 239 HKKA 4, 243. 240 HKKA 4, 243.
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ihre Nächte verbringen, gesellt sich zur körperlichen Erschöpfung der Eindruck einer ‚ganzheitlichen‘, gleichermaßen geistigen wie emotionalen Kapitulation vor einer als überkomplex erfahrenen Welt.241 So ist ein jeder der Kammmacher abgesehen von der körperlichen Plackerei im Lichte eines unhinterfragten Aufstiegsversprechens grundlegend lethargischen Gemüts, weshalb der Text diese nicht zuletzt auch intellektuelle Erschöpfung seiner Protagonisten durch die Zuschreibung infantiler Verhaltensweisen spöttisch untermauert. Insbesondere die devote Verehrung der drei Gesellen gegenüber der narzisstischen Phrasendrescherin Züs wird als Beleg geistigen Rückzugs gebrandmarkt,242 so dass es nicht verwundert, wenn die Männer in letzter Konsequenz erscheinen „wie […] Kinder, welche nach allem greifen, was ihnen in die Augen glänzt, von allen bunten Dingen die Farben abschlecken und ein Schellenspiel ganz in den Mund stecken wollen, statt es bloß an die Ohren zu halten.“243 Die zweifelsohne elektrisierten, jedoch auf sexuellem Gebiet ihrer „Erfahrungs- und Praxisdefizienz“244 wegen || 241 Stingelin liest die Novelle vor dem Hintergrund einer frühen Globalisierung „nicht zuletzt als Begegnung zwischen der deutschsprachigen Literatur und dem amerikanischen Pragmatismus im Zeichen des Realismus beziehungsweise im Zeichenrealismus“ (S. 226) und sieht das Scheitern der Kammmacher in ihrer Apathie angesichts der eigenen Entindividualisierung begründet, denn mit dieser konfrontiert „müssten sie einen abduktiven Schluss ziehen und eine neue Hypothese aufstellen. Doch sie [...] verweigern sich der Abduktion und verharren auf der indexikalischen Ebene der Rückschlüsse [...]. Keiner der drei gerechten Kammacher wechselt auf die symbolische Ebene, von der er seine Situation semiotisch erst durchschauen könnte. Darin besteht ihre Selbstgerechtigkeit, in der sie orientierungslos erstarren wie in einem Spiegelkabinett.“ Stingelin: Gottfried Keller und die Neue Welt, S. 233. 242 Deborah Holmes hat sich in ihrer Arbeit über die österreichische Pädagogin und Philantropistin Eugenie Schwarzwald mit dem Einfluss des Kellerschen Werkes auf deren Ideen der ‚Frauenerziehung‘ beschäftigt und stellt hinsichtlich des Negativbeispiels der ‚Pädagogin‘ Züs Bünzlin eine Infantilisierung der Zöglinge fest: „The comb makers are not enlightened by her continuous moralising and speechifying, which dulls rather than sharpens their wits: ‚ihnen [verging] Hören und Sehen‘.“ – Sie kommt entsprechend zu dem Schluss: „Keller relates this to the educative process by comparing the comb makers to children who do not have the self-knowledge to judge wheter something is beneficial, or how to use it. Instead, they make a grab for everything that attracts them [...].“ Deborah Holmes: Keller’s pedagogy in practice – A Viennese reading of Frau Regel Amrain und ihr Jüngster and Die drei Gerechten Kammacher. In: Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja. Oxford 2007, S. 213–229, S. 221. 243 HKKA 4, 255. 244 Gerhard Plumpe: Die Praxis des Erzählens als Realität des Imaginären. Gottfried Kellers Novelle „Pankraz der Schmoller“. In: Wege der Literaturwissenschaft. Hg. von Jutta KolkenbrockNetz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf. Bonn 1985, S. 163–173, S. 168. Plumpe führt hier die Defizienz des schmollenden Pankraz auf einen Mangel an Praxis und Erfahrung zurück, was in gleicher Weise für die drei Kammmachergesellen gilt.
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nicht sonderlich versierten Ökonomen werden folglich zur leichten Beute für die Jungfer, da das Objekt ihrer Begierde das Konzept einer ökonomisierten Partnerwahl längst perfektioniert hat. Für die Kammmachergesellen bedeutet dies, dass der Plan, den ruinösen Verdrängungswettbewerb um den Verbleib in der Schmiede durch das Plazet der Erbin möglichst schnell für sich zu entscheiden, schlicht nicht aufgehen kann, weil ein solcher Vorentscheid aus Sicht des narzisstischen Subjekts auf eine leichtfertige Aufgabe von Anerkennung hinauslaufen würde und entsprechend mit der Drohung belegt wird, dass die Jungfer in diesem Fall allen dreien „ihre Freundschaft auf immer entziehen würde.“245 Was der Text seine Protagonisten erfahren, aber nicht begreifen lässt, ist die Systematik von Abhängigkeit und Ausbeutung. Sie gilt in der Werkstatt des Kammmachergeschäfts ebenso uneingeschränkt wie in der Welt der Züs Bünzlin und erweist sich somit nicht nur als allgegenwärtig, sie knebelt gar insbesondere den, der in kritikloser Artigkeit ihren Regeln gehorcht und auf diese Weise nicht etwa den persönlichen Lebensstandard, sondern allein den eigenen Nutzwert steigert. Diese kapitalistische Eigengesetzlichkeit erweist sich als ungemein stabil, da sie, egal, in welchem Bezugsrahmen sie auftritt, offenkundig in die für die Kammmachergesellen immer gleiche Konstellation von drei Bittstellern und einem Profiteur bzw. einer Profiteurin mündet. Soziale Beziehungen konstituieren sich im gleichermaßen säkularisierten wie profanisierten Seldwyla demgemäß vorrangig auf Grundlage ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, welche ein Verwertungsdenken von beinahe nihilistischer Totalität hervorbringen und Seldwyla zu einem Ort inhumaner Profitlogik werden lassen. Der allenthalben zelebrierte Ökonomismus bringt entsprechend Szenen von stupider Idolatrie hervor, die zwar den Narzissmus einer kapitalstarken Erbin beflügeln, Verstand und Verständigkeit ihrer Bewunderer jedoch nachhaltig in Zweifel ziehen. So kommt es einer mentalen Bankrotterklärung gleich, wenn die drei Männer sich den selbstverliebten Phrasen der Jungfer bereitwillig ergeben und ihrer maßlosen Selbstüberhöhung widerspruchslos assistieren: „Stellt euch doch recht lebhaft vor, um jeden von euch buhleten drei Jungfern Bünzlin und säßen so um euch her, [...] so daß ich gleichsam verneunfacht hier vorhanden wäre [...].“246 Da die Platzverhältnisse im Universum des Narzissmus bekanntermaßen knapp bemessen sind, funktioniert die Erhöhung der Erbin freilich nur um den Preis der Reduzierung anderer, so dass die Kammmacher wie im Schlafgemach nun auch im Angesicht der Erbin die eigene ‚Statur‘ in vorauseilendem
|| 245 HKKA 4, 243. 246 HKKA 4, 249.
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Gehorsam marginalisieren und sich nicht entblöden, die Autophilie der Erbin als Ausdruck von „Geist und Beredsamkeit“247 zu verklären. Der Minnedienst im Hause Bünzlin ist folglich ein Abbild der Erwerbsarbeit in der Kammmacherei. Er folgt den gleichen Gesetzen, implementiert die gleichen Abhängigkeiten und postuliert in gleicher Weise die Gottesgleichheit der Besitzenden – vom Text persifliert in der Figur eines arbeitsscheuen Meisters, der Sauerkraut zu Fisch werden lässt und einer in Eigenliebe entflammten Erbin, die sich der Welt in gleich neunfacher Ausführung empfiehlt. Dies alles erdulden die Kammmacher derart widerspruchslos, dass sie körperlich wie metaphorisch an ‚Gewicht‘ verlieren und zur Lösung des Konflikts schließlich in einen finalen Wettbewerb überwiesen werden, in dem ausgerechnet körperliche Vitalität über Sieg oder Niederlage entscheiden soll. Ein Wettrennen, ersonnen vom Meister, gutgeheißen von der Jungfer und gefürchtet von den Gesellen, steckt den Rahmen dieses letzten Konkurrenzkampfes ab, der einer Archaisierung der vorangegangenen Wettbewerbsmodelle entspricht und durch den Ausschluss handwerklicher oder sozialer Fertigkeiten auf einen unmittelbaren Vergleich von Körperkräften hinausläuft. Das einzige, was wiederum unangetastet bleibt, ist das Prinzip ‚Wettbewerb‘. Denn dadurch, dass nun ausgerechnet ein weiterer Wettbewerb veranstaltet werden soll, um zwei vorangegangene Wettbewerbe zu entscheiden, deren Gewinner bezeichnenderweise in beiden Fällen nicht aufseiten der Wettbewerber zu finden war, rückt vor allem die Idee des Wettbewerbs selbst in den Fokus. So scheint der Wettbewerb um den sozialen Aufstieg in erster Linie eine systeminhärente Verwertungsspirale zu befeuern, die sich beharrlich steigert, je mehr menschliches ‚Kapital‘ (Körperkraft, Lebenszeit) in sie investiert wird, dabei jedoch offenkundig nicht der Aufweichung, sondern allein der Verfestigung bestehender Strukturen dient. Weil nämlich alles in Seldwyla – Sexualität, Soziabilität, Ökonomie – an kapitalistischen Prinzipien ausgerichtet ist, dirigiert von „Virtuosen, welche viele Instrumente zugleich spielen“248, bedeutet eine Teilnahme an diesem Spiel unweigerlich die vollumfängliche Anerkennung der geltenden Spielregeln. Unfähig, diese unheilvolle Systematik des Wettbewerbsprinzips zu ergründen, fügen sich die Kammmacher der Idee des Meisters und wappnen sich in ihrer Hilflosigkeit demonstrativ mit phallischen Insignien für den bevorstehenden Kampf: Jobst stütze sich auf einen ehrbaren Rohrstock, Fridolin auf einen rot und schwarz geflammten und gemalten Eschenstab und Dietrich auf ein abenteuerliches Stockungeheuer
|| 247 HKKA 4, 255. 248 HKKA 4, 256.
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[…]. Er schämte sich aber beinahe dieses prahlerischen Dinges, da es noch aus der ersten Wanderzeit herstammte, wo er bei weitem noch nicht so gesetzt und vernünftig gewesen wie jetzt.249
Die Wanderstöcke aus Zeiten noch vor der gemeinschaftlichen Selbstverwirtschaftung erscheinen wie eine Reminiszenz an eine verlorene Heterogenität, wie eine zeichenhafte Erinnerung an eine frühere Individualität. Sie erinnern an die vorhandenen Unterschiede in Lebenszeit, Erwerbsdauer und Vitalität, kontrastieren die Ehrbarkeit des Alters mit dem Elan der Jugend und nehmen auf diese Weise das zu erwartende Ergebnis des finalen Wettlaufs vorweg. Denn der Sieg in diesem Körpervergleich stünde unter regulären Bedingungen zweifelsohne dem jüngsten und vitalsten der drei Kammmacher zu, wäre da nicht der Chiasmus des Erwerbslebens, dass nämlich die Jugend zwar voller Kraft, aber ohne bedeutenden Besitz ist, während dem Alter allmählich die Kräfte schwinden, derweil das eigene Vermögen kontinuierlich wächst. Da für die Jungfer Bünzlin ebenso wie für ihre Verehrer ausschließlich eine renditesichere Anlage zählt, verknüpft die Erbin das Rennen um den Arbeitsplatz kurzerhand mit dem Rennen um ihre Gunst, so dass der jugendliche Favorit auf den Sieg angesichts seiner altersbedingten Kapitalschwäche zur Gefahr für die Renditemaximierung der versierten Kapitalistin wird. Die von allen Beteiligten gleichermaßen ruchlos praktizierte Verschränkung von Renditedenken und Partnerwahl bestätigt nicht bloß die Allgegenwart ökonomischer Prinzipien, sie bringt zugleich die Subjekt-Objekt-Fixierung traditioneller Geschlechtermodelle durcheinander, wenn nunmehr die Autorität des Kapitals diese Ordnungsfunktion übernimmt und ausgerechnet jene Frau, die in der Rechnung der Kammmacher als bloße Finanzspritze gedacht war, zum handlungsbestimmenden Faktor aufsteigen lässt. Züs erinnert dergestalt an die ewig schläfrige Dame Litumlei,250 die als ein namenloses Objekt ihren wetteifernden Beischläfern einzig zur Bestätigung des eigenen Selbstbildes dient, die Regeln des Systems jedoch im rechten Moment klug für ihre eigenen Ziele zu nutzen weiß und ihren Meisterstreich im Schutze der Institution Ehe und des übergroßen Egos ihres Gatten ins Werk setzt. Diese Schutzfunktion, welche die Schläferin vor einer folgenlosen sexuellen Verfügbarkeit bewahrt, übernimmt im Falle der unverhei-
|| 249 HKKA 4, 246f. 250 Motivische Parallelen bzw. einen ‚zyklischen‘ Zusammenhang der beiden Novellen führt auch Tanzers Untersuchung zum Glücksbegriff in der Literatur unter Verweis auf Kaiser an: „Die vierte Novelle des ersten Bandes, Die drei gerechten Kammacher (4), und die zweite des Fortsetzungsbandes, Der Schmied seines Glücks (7) zeigen beide „betrogene Betrüger“ und „arme Junggesellen“. Aus: Tanzer: Fortuna, Idylle, Augenblick, S. 144.
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rateten Jungfer Bünzlin das Kapital des verstorbenen Vaters, das als Referenz an eine väterliche Autorität eine gewisse Autonomie innerhalb einer patriarchal geordneten Welt garantiert. Durch die Korrelation von kapitalistischen und patriarchalen Ordnungsstrukturen (Wettbewerb, Hierarchisierung, Legitimationszwang) kommt dem Pfandbrief der Jungfer neben dem bloß monetären Wert ein nicht geringes soziales Gewicht zu, so dass die Kammmachergesellen die Spielregeln der Narzisstin schon deshalb zu akzeptieren haben, weil ihr als Sachwalterin des väterlichen Erbes eine entsprechende Autorität zukommt. Während die Jungfer einst als ein Instrument persönlicher Ertragsmehrung ins Erzählgeschehen eingeführt wurde, agiert sie nun als eine autonome Größe, deren Streben sich konsequenterweise gegen den jüngsten der drei Gesellen richtet, der in Anbetracht seiner geringen Ersparnisse unbedingt als Sieger des Rennens verhindert werden muss. Dabei ist ihr Anliegen so wenig von persönlicher Antipathie getragen wie die Zuneigung ihres einstigen Entdeckers von übermäßiger Sympathie – hier wie da dominieren allein wirtschaftliche Überlegungen. Zu tief ist der Ökonomismus mit seinen Heilsbotschaften von Rendite und Verwertbarkeit in der Lebenswirklichkeit Seldwylas verankert, als dass eine unparteiische Wettbewerbskonstellation tatsächlich dazu berechtigt wäre, einen der Läufer ohne Rücksicht auf Partikularinteressen zum Sieger zu küren. So erscheinen die auf Darstellungsebene egoistisch motivierten Sabotagepläne der Jungfer auf der Metaebene des Textes als eine Allegorie auf die prinzipielle Unmöglichkeit von (Chancen-)Gleichheit in einem Vorteilssystem, das maßgeblich auf der Ungleichheit der Beteiligten aufbaut. Der Unwille der Erbin, ihren Verehrerkreis freiwillig zu reduzieren – denn „sie vermochte ein tüchtiges Lob zu ertragen, ja sie liebte den Pfeffer desselben um so mehr, je stärker er war“251 –, arrangiert sich notgedrungen mit der Idee des Meisters, die eigene Nachfolge auf sportliche Weise zu entscheiden, und führt zu einer Wettbewerbsanordnung, die einen offenen Ausgang suggeriert, tatsächlich aber vor allem den Interessen Dritter dienlich ist. Denn wo die Frage von Fisch oder Sauerkraut eine Sache von (ökonomischer) Macht und nicht Erkenntnis ist, erscheint die interessengeleitete Beeinflussung eines Wettstreits ohnehin nur konsequent. Die Jungfer Bünzlin wird auf diese Weise zum Synonym einer vollumfänglich ökonomisierten Gegenwart, deren Gesetze indes von weitaus resistenterer Natur sind als ihre jeweiligen Nutznießer, denn während die Imperative von Egomanie und Narzissmus überdauern, werden die Verfechter derselben allzu leicht selbst zu Opfern der eigenen Listigkeit. So verfängt sich auch die stets planvoll agierende Erbin in der Logik des eigenen Narzissmus, wenn sie die eige|| 251 HKKA 4, 236.
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ne Sexualität auf berechnende Weise zu instrumentalisieren meint, um einen gleichgeschlechtlichen Wettbewerb durch sexuelle Interventionen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Ihr Ziel, die Vitalität des Jüngsten vom eigentlichen Wettlauf auf eine sexuelle Ebene umzuleiten und dort zu sabotieren, scheitert nämlich am nicht minder ausgeprägten Vorteilsdenken des jungen Schwaben, der ein zur Leistungssteigerung heimlich mitgeführtes Fläschchen Kirschgeist spontan zweckentfremdet und seiner Saboteurin zur Erquickung reicht. Auf diese Weise enthüllt der Text eine hintersinnige Gemengelage von gegenseitigen Sabotageabsichten und zweckgerichteter Sexualität, die zwei ‚Virtuosen‘ gleichen Schlags aufeinanderprallen lässt – denn „Züs schmunzelte falsch und freundlich, Dietrich schmunzelte schlau und süßlich“252. Sexualität und Alkohol bilden somit den Ausgangspunkt einer Rochade, die auf die Beugung der Autonomie der Gegenseite abzielt. Während somit die beiden anderen Gesellen die Regeln des Männerlaufs artig befolgen und sich mit dem Startschuss nach Leibeskräften in Richtung Ziel aufmachen, verlagert die Novelle das eigentliche Wettbewerbsgeschehen von einem gleichgeschlechtlichen Dreikampf hin zu einem heterosexuellen Zweikampf. Die zynischen Abschiedsworte der Jungfer („So ziehet denn dahin und kehret die Thorheit der Schlechten um in Weisheit der Gerechten!“253) verspotten folgerichtig die Torheit jener Gerechten, die sich allzu willig dem Diktat der ‚Schlechten‘ unterwerfen und eine Rivalität akzeptieren, die keine Sieger, sondern allenfalls eine Rangfolge von Verlierern produziert. Der Wettlauf von der Anhöhe hinab ins Tal ist denn auch eine metaphorische Todesdrohung gegen zwei minderbemittelte, aber moralisch agierende ‚Gerechte‘, deren Schicksal in Seldwyla nur bergab führen kann, während zeitgleich zwei gewiefte Manipulanten den (ge-)rechten Weg verlassen und ganz im Geiste des Ortes um den wirklichen Sieg ringen. Kirschgeist und Erotik stehen folglich nicht länger im Dienste von Sinnesfreuden, sondern werden zu Instrumenten einer absichtsvollen Verstandestrübung, wodurch der Text die über allem schwebende kapitalistische Ideologie als ein Prinzip permanenter gegenseitiger Übervorteilung markiert.
2.2.4 Anschlag und Gegenschlag: Sexualität als Kampf um Selbstbestimmung Den Anschlag der Erbin auf die Autonomie ihres Widersachers inszeniert der Text im Zeichen männlicher Angstlustphantasien und entwirft eine entsprechend un|| 252 HKKA 4, 256. 253 HKKA 4, 258.
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heilvolle weibliche Topografie, wenn er die Jungfer „am Eingange eines engen schattigen Waldpfades“254 warten lässt, von wo aus diese ihr Opfer immer „tiefer in das Holz hinein“255 lockt. Das „Dickicht“256, in dem der Mann „verraten“257 werden soll, ist ein Zerrbild des weiblichen Schoßes und steht damit in einer Reihe mit den uneinsehbaren Gemächern der Frau Litumlei. Hier wie da lauert die Gefahr weiblicher Sexualität im räumlich Abseitigen, in der destruktiven Finsternis einer die männliche Erkenntnis buchstäblich hinters Licht führenden urweltlichen Eigengesetzlichkeit. Abermals werden Verstand und Autonomie gegen Triebhaftigkeit und Fremdbestimmung in Stellung gebracht, doch anders als im Falle der versierten Schläferin entpuppt sich die Eigenliebe der phrasendreschenden Erbin als Achillesferse in dieser heterosexuellen Zweierkonstellation, die Sexualität als legitime Waffe in einem immerwährenden Geschlechterkampf versteht. Die Betörung der Sinne, die eigentlich zur Ausschaltung des Verstandes ihres männlichen Gegenübers erdacht war, wird nun gegen die vom Alkohol erhitzte Narzisstin selbst ins Feld geführt und öffnet der Virilität des jungen Mannes Tür und Tor. Geschickt weiß er die Erbin „mit den feurigsten Liebeserklärungen“258 zu bestürmen, wobei er „bald ihrer Hände, bald ihrer Füße sich zu bemächtigen suchte und ihren Leib und ihren Geist“259 schließlich auf eine Weise bezwingt, die Züs gänzlich ihren „Kompaß“260 verlieren lässt. Dieser ‚Kompass‘ markiert das Koordinatensystem einer durch und durch zweckgerichteten Persönlichkeit und dient im Falle der Jungfer Bünzlin als Mahnung an die Zweischneidigkeit eines übersteigerten Ökonomismus, dessen finaler Siegeszug ausgerechnet von der „kurze[n] Natur“261 der Erbin ausgebremst wird, wenn diese – obgleich sie nicht „etwa eine besonders verliebte Person war“262 – im entscheidenden Moment über die eigene Triebnatur stolpert.263 Möglich macht dies nicht
|| 254 HKKA 4, 260. 255 HKKA 4, 260. 256 HKKA 4, 260. 257 HKKA 4, 261. 258 HKKA 4, 260. 259 HKKA 4, 260. 260 HKKA 4, 260. 261 HKKA 4, 261. 262 HKKA 4, 261. 263 Auch Neumann wertet das Hervorbrechen unterdrückter Triebhaftigkeit als Aufbegehren des Eros: „Hier rächt sich die von Züs verachtete Natur, indem sie, in Form von Züs’ aufbrechender Sinnlichkeit, den Sieg über deren ökonomisches Kalkül davonträgt.“ Neumann: Gottfried Keller, S. 154. Ebenso Holmes, die anmerkt, „that Züs’s downfall is the result of repressed sensuality; the impression she gives of ideal courtship and marriage here is coloured by a seemingly
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zuletzt auch gerade jene Art der Liebe, die Subjekt und Objekt in Personalunion vereint und hier als Einfallstor für die Eroberung der ansonsten so „listige[n] Person“264 fungiert, die angesichts der Liebesschwüre ihres Gegenübers alle Vorsicht fahren und sich wie ein „Käfer, der auf dem Rücken liegt“265, besiegen lässt. Der Text straft seine narzisstische Protagonistin auf spiegelbildliche Weise für ihr Komplott gegen das männliche Autonomiegebot, indem er das Vorhaben auf die Urheberin selbst zurückfallen lässt, diese in unerwarteter Metamorphose von einer gefühlsbefreiten Ökonomin zur seligen Verlobten wandelt und ihr obendrein das Regiment der Ehe in Aussicht stellt, denn noch im Dickicht von Intrige und Gegenintrige beschließt man, „sich zu heiraten auf alle Fälle“266. Der beschriebene Strafakt erweist sich nicht nur deshalb als ungemein perfide, weil er im denkbar ungünstigsten Moment über die Jungfrau hereinbricht, sondern weil er sich gegen eine wenngleich nicht sonderlich sympathische, so doch betont autonom agierende Frauenfigur richtet. Ihr streng ökonomisch ausgerichtetes Wesen, das die Erbin für männliche Ganzheits- und Versöhnungsphantasien gänzlich ungenießbar macht, kann offenkundig nur gefasst werden, indem dieser abweichende Weiblichkeitsentwurf zu einem Schreckensbild von Gefühlskälte und Narzissmus erklärt wird. Aus diesem Bild einer von der eigenen verdrängten Sinnlichkeit überrumpelten Rationalistin spricht ein biologistisch verklärtes, unverkennbar von männlicher Hand gezeichnetes Weiblichkeitsideal, das die ‚Natur‘ der Frau, ihre irreduzible ‚Biologie‘, über Emotionalität und Triebhaftigkeit definiert – und nicht über Vernunft und Selbstdisziplin. So wird die sexuelle Intriganz zwar von beiden Geschlechtern gleichermaßen befeuert, der Fokus der Darstellung jedoch liegt auf dem weiblichen Geschlecht, worin sich die Anthropologie einer bürgerlichen Epoche spiegelt, die Intellekt und Triebhaftigkeit antipodisch begreift und mit Vorliebe Frauenfiguren heranzieht, um die
|| undiluted romanticism which can only be found in Keller’s novellas by processes of omission and distortion.“ Holmes: Keller’s pedagogy, S. 227. 264 HKKA 4, 260. 265 HKKA 4, 260. 266 HKKA 4, 261. Die ‚realweltlichen‘ Auswirkungen der angestrebten Hochzeit gehen dabei weit über eine bloße Kapitalakkumulation zweier Einzelpersonen hinaus, denn im bis ins 19. Jahrhundert in Teilen zünftig organisierten Handwerk ist die Hochzeit mit einer Meistertochter insbesondere für minderbemittelte Gesellen die einzige Möglichkeit für den Erwerb des Meistertitels: „Die allgemeine Regel, daß der Meister verheiratet sein muß, wird sinnfällig in der identischen Verwendung der Begriffe ‚Bräutigam werden‘ und ‚Meister werden‘.“ Aus: Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982, S. 146.
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Idee zu untermauern, dass „[o]rganisch gesehen […] die Genitalien der ‚Brennpunkt des Willens‘ und damit der Gegenpol der interessenlosen Intellektualität des Gehirns“267 sind. So wie das Handeln der Jungfer Bünzlin in kapitalistischer Hinsicht als überaus rational und konsequent zu werten ist, so erscheint auch die Eigenliebe der jungen Frau unter diesem Aspekt betrachtet als eine effektive Schutzvorkehrung gegen unerwünschte emotionale Affekte. Denn die Verehrung der eigenen Person birgt weit weniger Abhängigkeitspotenzial als die Liebe zu Dritten, so dass der Text den Narzissmus der Erbin als das Resultat einer klugen, aber für das weibliche Geschlecht ‚ungesunden‘ Verständigkeit ausgibt. Die nüchterne Kalkulation des eigenen Vorteils ist für den Mann folglich Ausweis einer rationalen Lebenseinstellung, im Falle einer Frauenfigur jedoch ein sicheres Indiz für eine in Schieflage geratene weibliche ‚Natur‘. Entsprechend entfaltet der Geschlechterkampf zwischen den beiden Manipulanten ein fast schon subversives Potenzial, wenn die ‚klassische‘ Konstellation eines von weiblichen Verführungskünsten bestürmten männlichen Subjekts (temporär) ins Gegenteil sich verkehrt und stattdessen eine verstandesfixierte Frauenfigur den Reizen eines jungen Mannes erliegen lässt. Wo jedoch ein Mann mit seiner Sinnlichkeit zu betören weiß und eine Frauenfigur ihre Triebnatur zu disziplinieren versucht, enthüllt sich die vermeintlich ontologische Wahrheit der Kategorie Geschlecht als ein soziokulturelles Konstrukt. Indem folglich die Protagonisten in vorliegender Szene ein abweichendes Geschlechterverhalten an den Tag legen – der Mann verführt, die Frau ringt um ihre Autonomie –, fallen biologisches (sex) und soziales (gender) Geschlecht auf eklatante Weise auseinander, wodurch diese als zwei verschiedene Phänomene markiert, nämlich in spiegelbildlicher Verkehrung konventioneller Geschlechtervorstellungen in einem archetypischen Geschlechterkampf transparent gemacht werden. Diese Umbzw. Unordnung währt erwartungsgemäß nicht lange und wird denn auch im Lichte der Überwältigung der Protagonistin durch die eigene Biologie umgehend relativiert, genügt aber allemal, um aufzuzeigen, dass nicht Biologie, sondern allein Ideologie für die vermeintlich naturgegebene Normierung von Geschlecht verantwortlich ist.
|| 267 Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 36. Thomé führt unter Verweis auf Schopenhauer aus, dass mit diesem „die geistesgeschichtlich folgenreiche Auszeichnung der Sexualität als des stärksten Triebes [beginnt], der sich auch noch über den ubiquitären Egoismus hinwegsetzt, da die Liebesleidenschaft bedenkenlos das Leben des leidenschaftlichen Subjekts opfert, und der demgemäß auch am schwersten der kulturellen Domestizierung zu unterwerfen ist“. (S. 36)
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Weit weniger schützenswert scheinen die beiden eigentlichen Laufteilnehmer, die zum Gegenstand einer großen „Belustigung“268 werden und selbst mit ihrem erbitterten Kampf ums Überleben noch dafür sorgen, dass sich zu Seldwyla das ökonomische Rad kräftig dreht, wenn in den vollen Wirtshäusern Wetten auf den Ausgang des Rennes abgeschlossen werden und „die Mägde genug zu laufen hatten“269, um die vergnügungssüchtige Gesellschaft zu bewirten. Damit wird sogar dieser letzte Kampf der Kammmachergesellen zu einem Triumph des Konsums und lässt keinen Zweifel daran, dass es unter den gegebenen Voraussetzungen selbst für den Gewinner dieses Wettlaufs wenig zu gewinnen gibt. Die kapitalistische Ideologie des Ortes verwirtschaftet schlicht alles und zementiert anbei die bestehenden Hierarchien von abhängig Beschäftigten und Kapitaleignern, denn die „Herren in den Gärten standen auf den Tischen und wollten sich ausschütten vor Lachen“270, während den Wettläufern „dicke Thränen […] über die Gesichter“271 laufen. Jene eingangs als blutleer und autoritätshörig skizzierte Gerechtigkeit der Gesellen erweist sich in der Rückschau als Wegbereiter eines selbst verschuldeten Niedergangs und treibt die drei Selbstgerechten in einen Überbietungswettbewerb von „lebensfeindlicher Bedürfnisverleugnung“272, der vom finalen Wettrennen gespiegelt wird. Die, die ihr Leben lang ohne jede Leidenschaft Konsumgüter angefertigt haben, werden schlussendlich selbst zu welchen und bescheren den Seldwylern ein Fest, das Konsum als ein gesellschaftliches Ereignis inszeniert und selbst im Negativen noch die soziale Relevanz des Festes bestätigt. Die Unmenschlichkeit des Rennens wird dementsprechend zu Seldwyla nicht problematisiert, sie wird sozialisiert. So dient die Aufführung zweier Existenzvernichtungen – denn zwei Verlierer wären allemal zu erwarten gewesen – letztlich gar dem Zusammenhalt des Ortes und damit einer bizarren, wechselseitigen Legitimationsstrategie, denn das Rennen mit seiner Vergnügungsrendite bestätigt das Prinzip ‚Seldwyla‘, während dieses wiederum das ruinöse Rennen legitimiert. Auch die beiden unglückseligen Läufer fügen sich schließlich ins Unvermeidliche und nehmen die Lebensfeindlichkeit der herrschenden Verwertungslogik an, so dass sie in ihrer Verzweiflung als nunmehr egoistische Ungerechte übereinander herfallen. Die Fixierung auf den Sieg, auf den Traum vom ökonomischen Glück, die einst zu passiver Genügsamkeit zwang, entfesselt nun eine
|| 268 HKKA 4, 261. 269 HKKA 4, 261. 270 HKKA 4, 262. 271 HKKA 4, 262. 272 Koebner: Der Erfolglose bezahlt mit seiner Existenz, S. 329.
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Rivalität, die in Inhumanität und Brutalität umschlägt und die Kontrahenten am Ziel vorbei vor die Tore der Stadt – und damit zeichenhaft außerhalb des Bereichs der Zivilisation führt. Die Bereitschaft der beiden älteren Kammmachergesellen zur Brachialisierung des Wettkampfs, zur Dehumanisierung des Leidgenossen und auch der eigenen Person – derweil sie „weinten, schluchzten und heulten wie Kinder“273 – , ist nur vordergründig Resultat eines ruinösen Wettkampfs, vielmehr ist es die moralische Vorbedingung für eben diesen. Der Weg am Ziel vorbei ist auf der Darstellungsebene zwar dem allgegenwärtigen Chaos geschuldet, tatsächlich aber die logische Konsequenz aus der Unfähigkeit der Gesellen, die „Daseinsverfehlung“274 einer Existenzweise, die sich bereitwillig jedem noch so ruinösen Aufstiegsszenario ergibt, zu begreifen. Das räumliche wie moralische Abseits, in das sich die beiden Gesellen manövrieren, ist in diesem Sinne kein Irrweg, sondern das von vornherein absehbare Resultat einer (Wettbewerbs-)Ideologie, die dem Einzelnen zwischen Fremd- und Selbstverwirtschaftung wenig Raum lässt und folglich nicht der Überwindung, sondern der Verfestigung eines inhumanen Renditedenkens dient. Die vor Beginn des Rennens unter den Kammmachern verhandelte Frage, ob man „denn wirklich das Thorenwerk beginnen“275 solle, erweist sich somit rückblickend als eine allenfalls rhetorische, da sich die Gesellen längst selbst als aktive Räder in diesem ‚Torenwerk‘ angediehen haben und dafür in gleich mehrfacher Hinsicht mit ihrer Existenz bezahlen. Zeichenhaft verlieren Jobst und Fridolin mit „Hut und Stock“276 denn auch zentrale Ausweise einer bürgerlichmännlichen Identität während des Rennens und werden als ‚Ausgebürgerte‘, die willfährig die eigene Reputation opfern, von der „Damenwelt“277 mit „silberne[m] Gelächter“278 bedacht. Dabei verlieren sie jedoch nicht nur Kopfbedeckung und Gehhilfe, sie streifen nach und nach sämtliche zivilisatorische Korsetts ab. So streifen die beiden Läufer mit den Insignien ihrer bürgerlichen Männlichkeit sinnbildlich jedweden zivilisierten Überbau ab und degenerieren zu raubtierartigen Einzelkämpfern, die völlig entfesselt angesichts ihrer Verzweiflung eine re-
|| 273 HKKA 4, 263. 274 Koebner: Der Erfolglose bezahlt mit seiner Existenz, S. 331. Den Begriff der ‚Daseinsverfehlung‘ verweist Koebner zurück auf den Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger (1881–1966), der diesen als Begründer der sog. ‚Daseinsanalyse‘ prägte. 275 HKKA 4, 257. 276 HKKA 4, 263. 277 HKKA 4, 263. 278 HKKA 4, 263.
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gelrechte ‚Lust‘ am existenziellen Zweikampf erkennen lassen.279 Es ist entsprechend von bitterer Ironie, dass ausgerechnet die „Tapferkeit, mit welcher sie gedacht hatten, die Torheit der Welt zu benutzen, nur dazu gedient hatte, dieselbe triumphieren zu lassen und sich selbst zum allgemeinen Gespött zu machen“280. Die symbolische Vernichtung der Reputation zweier Männer, die als heulende Kinder vorgeführt und ihrer bürgerlichen Ehrbarkeit beraubt werden, führt schnurstracks zur Vernichtung der beiden auf Darstellungsebene und lässt den einen den Freitod wählen, während der andere dem Wahnsinn verfällt und somit einen zeichenhaften Tod stirbt.281 Zugleich erscheint die Wandlung der Läufer ins Animalische, die weniger an eine Metamorphose als vielmehr an eine Befreiung erinnert, nicht zuletzt auch als eine Metapher auf die Zwänge des Mannseins. Da nämlich dieser Wettlauf den Abstieg von der Höhe hinab ins (moralisch) Bodenlose, von der Zivilisation ins Tierische, schließlich gar vom Leben in den Tod, nachzeichnet, ist er aus dieser Perspektive besehen auch ein Akt der finalen Loslösung von allen zivilisatorischen Zwängen. Freiheit erwächst aus dieser Art der Befreiung indes nicht, denn weder fühlen sich die düpierten Männer im Ziele befreit, noch können sie irgendeinen Gewinn für sich verbuchen – der einzige Zufluchtsort für die vom Vernichtungsrennen ‚Entblößten‘ ist in einer bürgerlichen Welt offenkundig der Tod bzw. Wahnsinn. Als zunächst überregulierte, schließlich regelrecht implodierende Naturen spiegeln die beiden die Zwiespältigkeit bzw. zivilisatorische Last bürgerlichen Mannseins und scheitern dabei in jeder Hinsicht, da weder der enthemmte Zweikampf ihrer Sache nützt, noch der im modernen Seldwyla naiv anmutende Glaube an eine moralisch verbürgte Wechselbeziehung zwischen Fleiß und
|| 279 Von Matt hat unter Verweis auf Norbert Elias’ Theorie der „Wandlungen der Angriffslust“ das Motiv des Zweikampfes bei Gottfried Keller untersucht und für die Kammmacher festgestellt, dass hier „die Übergerechten und Überkorrekten, die gierigen Asketen und seelisch eingedorrten Karrieristen“ (S. 126) sich im finalen Zweikampf aller regulierenden Instanzen entäußern und „Brachialität als Lust und Elend, Lust oder Elend, Lust im Elend“ (S. 127) zelebrieren. Aus: Peter von Matt: Gottfried Keller und der brachiale Zweikampf. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. Zürich 1990, S. 109–132. 280 HKKA 4, 234. 281 Zum Wahnsinn als Todesäquivalent in Texten des Poetischen Realismus vgl. Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 77f. In ähnlicher Weise Wünsch, die für realistische Erzähltexte resümiert, dass „in der Logik dieses Literatursystems alle Wertverluste Todesäquivalente sind und Tod alle Wertverluste repräsentieren kann.“ Aus: Marianne Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘. In: Wünsch: Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. (LIMES – Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien 7) Kiel 2007, S. 233– 248, S. 240.
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Lohn.282 Und auch der jüngste Kammmachergeselle hat allenfalls einen Pyrrhussieg errungen, denn allen Eroberungskünsten zum Trotz ist und bleibt die Erbin das finanzielle Kraftzentrum der neuen Ehegemeinschaft, so dass sie zur Inhaberin des Kammmachergeschäfts wird, während der gelernte Kammmacher lediglich als Mieter auftritt. Das sozioökonomische Gewicht des väterlichen Pfandbriefs wirkt somit konsequent bis in die eheliche Rollenverteilung hinein, weswegen der vermeintliche Gewinner des Rennens nicht sonderlich viel Freude in Leben und Partnerschaft findet, „denn Züs ließ ihm gar nicht den Ruhm, regierte und unterdrückte ihn und betrachtete sich selbst als die alleinige Quelle alles Guten.“283
2.2.5 Eine Eheherrin gemäß kapitalistischer Gesetzlichkeit Zu guter Letzt empfiehlt sich – abgesehen von der vergnügungssüchtigen Seldwyler Ars Vivendi – allein Züs Bünzlin als (relative) Gewinnerin des Wettlaufs. Zwar verfehlt sie ihr Ziel der profitabelsten Eheschließung, findet zugleich jedoch einen adäquaten Ehemann, der bewiesen hat, dass er genau aus dem Holz geschnitzt ist, welches es zu Seldwyla braucht. Dass die Jungfer auch als Gattin des Schwaben Dietrich ihre eigene Agenda verfolgen kann, gründet wie zuvor beschrieben auf ihrem väterlichen Erbe, das Kreditwürdigkeit und soziale Anerkennung garantiert und der Erbin ähnlich wie zuvor der Gattin Litumlei einen nicht alltäglichen Handlungsspielraum zugesteht. Die männlichen Figuren hingegen zählen allesamt zu den Verlierern dieser Erzählung, denn obwohl von Geschlechts wegen zur Vorteilsnahme durchaus berechtigt, verrennen sie sich in einen Überbietungswettbewerb, der sie nicht zu Besitzenden, sondern zu modernen Leibeigenen macht. Ihr dumpfer Aufstiegswille befeuert eine sich beständig steigernde Selbstverwertungsspirale, die geradezu prostitutive Assoziationen weckt und in einem ruinösen Finale vorführt, auf welch komplexe Weise Ökonomie, Geschlecht und Begehren im kapitalistischen || 282 Alexander/Fischnaller verorten das Aufstiegsrezept der Kammmacher als anachronistisch, zumal jene versuchen, „ihre Berufslaufbahn und Lebensplanung nach den im Zunfthandwerk geltenden, altüberlieferten und bisher bewährten Normen und Prinzipien zu realisieren. Jedoch haben sich die Rahmenbedingungen seit dem 18. Jahrhundert nachhaltig geändert und der goldene Boden eines zünftigen Handwerks, der ein standesgemäßes Auskommen durch die Garantie eines sicheren Einkommens gewährleistete, stellt nicht mehr selbstverständlich und bei Beachtung bestimmter Regeln beinahe von selbst eine solide Existenzgrundlage dar.“ Aus: Alexander/Fischnaller: Zunftromantik und Handwerkerrealität, S. 76. 283 HKKA 4, 265.
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System Seldwylas miteinander verwoben sind. Dieses Geflecht entscheidet über die Verteilung von politischer und auch gesellschaftlicher Macht und ist im Falle der Kammmachergesellen dafür verantwortlich, dass die vorindustrielle Arbeitsmoral der drei Männer angesichts der rücksichtslosen Seldwyler Mehrwertfixierung kollabiert. In einer sich hin zu industrieller Fertigung und Renditedenken wandelnden Ökonomie dient das Leistungsprinzip offenkundig nicht länger der Existenzsicherung der Leistungserbringer, sondern in erster Linie der Gewinnmaximierung der ‚Leistungsverwerter‘ – nämlich derjenigen, die als unproduktive Besitzende die Produktivkraft Dritter günstig einkaufen, um deren Hände Arbeit anschließend umso gewinnbringender zu veräußern. Gerade die lebensfeindliche Leistungsbereitschaft der Kammmacher lädt folglich so manchen ‚Virtuosen‘ dazu ein, die drei vor den jeweils eigenen Karren zu spannen, wobei die Männer nicht einfach als Opfer der herrschenden Logik erscheinen, sondern diese durch ihren kurzsichtigen Gerechtigkeitsbegriff, der in der Praxis zu Konformismus und Selbstverwirtschaftung führt, maßgeblich von eigener Hand befeuern. Die sagenhafte Gerechtigkeit der drei Gesellen übersetzt sich in eine selbst verschuldete Unmündigkeit, die kritiklos den Statuten der herrschenden Ordnung folgt und bereitwillig sämtliche Lebensbereiche ökonomischen Prinzipien unterwirft. So führt der Text zwar drei auf den ersten Blick untadelige Männlichkeitsentwürfe vor, die sich zudem durch Fleiß, Bescheidenheit und Ehrbarkeit auszeichnen, lässt diese jedoch allesamt in verschieden drastischen Varianten scheitern, da ausgerechnet der Raubtierkapitalismus des „wonnigen und sonnigen Ort[es]“284 wie ein Brennglas wirkt und die Genügsamkeit der Gesellen als Selbstverzwergung, die kritiklose Artigkeit als Einfältigkeit entlarvt. Anders als für den nach Seldwyla zurückkehrenden John Kabys gibt es für die in Seldwyla Scheiternden kein Exil, keinen anachronistischen Fluchtpunkt,285 stattdessen ist der Verlust von Ansehen und Mannhaftigkeit derart öffentlichkeitswirksam inszeniert, dass nur Tod und Wahnsinn bleiben. Erfolgreich (fort-)bestehen kann am Ende nur ein profitorientiertes, auf Mittellose destruktiv sich auswirkendes Verwertungssystem, in dessen Zentrum der Text eine narzisstische – und insofern beispielhaft renditefixierte – Frauenfigur setzt, um zu dokumentieren, dass Unterdrückung nicht losgelöst von den Unterdrückten funktioniert, sondern im Gegenteil auf Komplizenschaft und (unfrei-
|| 284 HKKA 4, 7. 285 Die Rettung für John Kabys markiert eine auf das persönliche Schaffen des Antihelden beschränkte Renaissance des vorindustriellen Handwerks, die ihn zweifelsohne vor dem tiefen Fall der drei Kammmacher bewahrt, allerdings auch eine Art „Purgatorium“ (Selbmann: Gottfried Keller, S. 86) darstellt, das nicht zufällig vor den Toren Seldwylas situiert ist.
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willige) Partizipation angewiesen ist. Insbesondere für männliche Figuren stellt sich somit das Problem der Vereinbarkeit von männlicher Selbstbestimmung und abhängiger Erwerbsarbeit, so dass sich insbesondere das männliche Geschlecht in einem Spannungsfeld von Ökonomie und Geschlecht beständig neu zu positionieren bzw. bewähren hat. Folgerichtig werden die so konturlosen wie verwertbaren Kammmachergesellen, die keine Heimat, sondern nur ein Auskommen kennen, zu Lakaien eines Systems von autonomer Eigengesetzlichkeit, welches das Prinzip Wettbewerb als ein Instrument der Selektion und Vernichtung begreift und dabei ganz Seldwyla in einen hochzufriedenen Konsumentenkreis verwandelt, für den sich der ruinöse Wettlauf dank seiner kurzweiligen Vergnüglichkeit allemal gelohnt hat.
2.3 Abweichung, Degeneration und Männergeschichte(n) in Der Narr auf Manegg 2.3.1 (Ein) Geschlecht im Zeichen des Niedergangs: Von destruktiver Weiblichkeit und der Dialektik des Mannseins Im Gegensatz zu den Erzählungen rund um das metaphorisch ortlose Seldwyla und seinen Bürgern sind die 1877 erschienenen Züricher Novellen286 „Teil der Flut von historischen Romanen und Erzählungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere in den siebziger Jahren ihre Konjunktur hatten“287 und ihr ‚realistisches‘ Selbstverständnis mit Daten von lokaler wie zeitgeschichtlicher Fixierbarkeit belegen. Eingebettet in die Rahmenhandlung vom jungen Herrn Jacques, der „[g]egen das Ende der achtzehnhundert und zwanziger Jahre“288 das nostalgische Originalitätskonzept des Novellenbandes für sich entdeckt, führt das von seinem Onkel vorgetragene Lehrstück über den Narren auf Manegg zurück ins Zürich des ausgehenden 14. Jahrhunderts, um den Niedergang eines einst vorbildlichen Geschlechts als einen generationsübergreifenden, maßgeblich geschlechtlich konnotierten Abstieg mit kulturellen Nachwehen zu beklagen. Wie als Referenz an die Idee einer „Dialektik der Kulturbewegung“289 wird der kulturellen Blütezeit || 286 Im Folgenden zitiert nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe, Bd. 6: Züricher Novellen. Hg. von Walter Morgenthaler, Peter Villwock, Thomas Binder, Peter Stocker. Basel u. a. 2000. Verkürzt angegeben als HKKA plus Bandangabe und Seitenzahl. 287 Bernd Neumann: Nachwort. In: Gottfried Keller. Züricher Novellen. Stuttgart 2004, S. 401. 288 HKKA 6, 7. 289 Neumann: Nachwort. Züricher Novellen, S. 404.
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des Manessischen Geschlechts ein ‚antagonistischer Reflex‘290 eingeschrieben, der als ein persönliches Scheitern im Schatten eines mustergültigen Stammbaums inszeniert und auf dem Rücken eines nervösen Ritters und eines stigmatisierten Außenseiters ausgehandelt wird.291 Denn wenngleich Namensgeber der Novelle, ist der Narr auf Manegg nicht der alleinige Totengräber derer zu Manesse, vielmehr nur der jüngste Spross einer von zwei Erblinien, welche der Text dezidiert aufzugliedern weiß in eine männlich-weltlich dominierte Blutslinie und einen weiblich-mystisch verklärten Zweig. Die im Zeichen eines Natur-Kultur-Dualismus markierte geschlechtliche Verschiedenheit der beiden Abstammungslinien verknüpft anatomisches mit genealogischem ‚Geschlecht‘ und rückt auf diese Weise – anders als etwa die Mär vom Glücksschmied, dessen Normverletzungen ohne Verweis auf familiäre Erblasten inszeniert werden – Denkkategorien von Biologie, Vererbung und Degeneration in den Fokus. So erscheint Fortpflanzung mit Blick auf die Chronologie des ritterlich-weltlichen Erbzweigs als eine genuin männliche Angelegenheit, die unbeirrt von jedweder weiblichen Partizipation allein männliche Nachfolger der Erwähnung für wert hält und eine streng patriarchal organisierte Erbdynastie in charakteristischem Vater-SohnDuktus hervorbringt. Zu einem ersten Protagonisten dieses dynastischen Niedergangs – zu einem Sohn nämlich, der selbst nicht Vater wird – erklärt der Text den jungen Ital Manesse, dem zwar Position und Potenzial in die Wiege gelegt sind, denn „[g]leich seinen Vorfahren war Ital Manesse ein anmutender und begabter Mann“292, dessen psychische Verfasstheit jedoch als von der Norm abweichend markiert wird. Dem nervösen Ritter gegenüber erhebt sich eine auch äußerlich maximal abweichende Blutslinie, da „einer der Söhne des liedersammelnden Ritters Rüdiger, || 290 Was etwa Valk für die Systematik literarhistorischer Überblicksdarstellungen resümiert, gilt auch für das Konzept von Kultur in der ‚Narren-Novelle‘: Dieses nämlich vermittelt Fortschritt oder auch Geschichtlichkeit „als fortwährenden Widerstreit konkurrierender Tendenzen“ und vermittelt die Abfolge kultureller Entwicklung(en) „als antagonistischen Dauerreflex.“ Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. (Studien zur deutschen Literatur 168) Tübingen 2002, S. 6. 291 Zur Bedeutung bzw. Definition des Rittertums in den Züricher Novellen vgl. Reichert, der darauf hinweist, dass der Dichter Bezeichnungen wie ‚Adel‘ oder ‚adlig‘ im Zusammenhang mit dem Rittertum vermeidet, stattdessen etwa am Beispiel der Hadlaub-Erzählung darlegt, „daß diese Ritter schon weitgehend an die bürgerliche Lebensform angeglichen sind.“ Aus: Karl Reichert: Die Zeitebenen der historischen Dichtung. Dargestellt am Beispiel einer Interpretation von Gottfried Kellers ‘Züricher Novellen‘. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36 (1962), S. 364. In diesem Sinne eines bürgernahen bzw. ‚eingebürgerten‘ Rittertums wird der Begriff im Folgenden verstanden. 292 HKKA 6, 125.
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der ebenfalls ein geistlicher Stiftsherr in Zürich gewesen, […] von drei Nachtfrauen, wie die alten Schriften sich ausdrücken, vier uneheliche Töchter hinterlassen“293 hat, die unkontrolliert das Blut derer zu Manesse in einem weiblich konnotierten Geflecht aus Polygamie und Sittenlosigkeit weitergeben. Die Skepsis des Textes gegen eine genealogische Tradition weiblicher Prägung schlägt sich in der Stigmatisierung der Nachtfrauen nieder und stilisiert die eigenen Vorbehalte im Zeichen des Unsagbaren,294 denn „[w]as es mit solchen Nachtfrauen für eine Bewandtnis hatte, kann nicht näher beschrieben werden, da nichts Schönes dabei herauskäme“295. Ihrer vorzivilisatorischen Natur entsprechend erweisen sich die sittenfernen Zustände als äußerst fruchtbar, so dass aus dieser Gemengelage ein Sohn „entsproß“296, der gleich der Saat eines wuchernden Gewächses nichts besseres mit sich anzustellen weiß, als sich ebenfalls mit „nicht minder […] nächtlichem Volk“297 zusammenzutun, um „an dem wilden Geschlechte“298 weiter zu zeugen, so dass dieses schließlich „ein volles Jahrhundert an der Sonne herum briet“299. Statt eines Wissens um die eigene Abkunft bzw. um die Annalen des eigenen Geschlechts gesteht der Text den Repräsentanten dieses Erbzweiges in Fragen von Identität und Herkunft allein tierische Instinkte zu, denn sie „hatten von dem Blut, das zu einem Teile in ihnen floß, verworrene Kunde und kehrten daher stets dahin zurück, wo ihre dunklen Ahnfrauen geweilt hatten.“300 Am Ende dieser abseitigen Zeugungsspirale steht als ein „letzter Sprößling der Sippschaft“301 das zivilisationsferne Zwitterwesen Buz Falätscher, ein entfernter Cousin des nervösen Ritters nicht nachzuvollziehenden Grades, dessen Geschichte den zweiten Erzählstrang der Novelle bildet. Die Differenzierung der Manessischen Blutslinie in einen weltlich-männlich und einen nachtseitig-weiblich dominierten Zweig mit dem jeweils identischen Resultat einer Auslöschung des Geschlechts wirft vor dem Hintergrund der eingangs zitierten || 293 HKKA 6, 129. 294 Als Relikte mythischen Denkens können jene Nachtfrauen im realistischen Text nicht als Teil der Darstellung, sondern allenfalls als Referenz an ‚Dagewesenes‘ erscheinen. Vgl. hierzu Markus Winkler: Mythisches Denken im poetischen Realismus. Dämonische Frauenfiguren bei Keller, Fontane und Storm. In: Begegnung mit dem „Fremden“. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 11. Hg. von Eijirõ Iwasaki. München 1990, S. 147–159, S. 148. 295 HKKA 6, 129. 296 HKKA 6, 129. 297 HKKA 6, 129. 298 HKKA 6, 129. 299 HKKA 6, 129. 300 HKKA 6, 129. 301 HKKA 6, 129.
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Dialektik der Kulturbewegung die Frage auf, ob neben der als (für den Erhalt des Geschlechts) destruktiv markierten Dominanz des Weiblichen auch die männlichen Erbträger eine Erblast mit sich tragen, die ihrem Geschlecht entspringt. So werden Phänomene von Degeneration und Regression in der Darstellung des Textes zwar bevorzugt dem weiblichen Geschlecht in Rechnung gestellt, am Beispiel des Ritter Ital jedoch zeigt sich, dass Vorstellungen von männlicher Idealität bzw. die soziale Erwartungshaltung dahinter zu nicht weniger massiven Erschöpfungs- oder auch Selbstvernichtungstendenzen führen können.
2.3.2 Die Tagseite: Historisierung und Genealogisierung mustergültiger Männlichkeit Einer ‚Patriarchade‘302 gleich beginnt die Geschichte des unruhigen Ritters mit einem Exkurs in die Zeiten einer ruhmreichen Vaterfigur, die in einer historischen bzw. historisierenden Rückschau als Kontrastfigur zum Zwecke der anschließenden Demontage des Protagonisten eingeführt wird. Als nämlich der einzige dem Vorbild des Liedersammlers ebenbürtige Vertreter seines Geschlechts erweist sich der jüngere Rüdiger als ein Vorbild von Beständigkeit und Wesensruhe. Die politische Mustergültigkeit des Übervaters, die vom Text historiographisch bestätigt wird, da dieser „gegen fünfzig Jahre lang Ratsmann und Staatshaupt in Zürich gewesen ist“303, korrespondiert einer Vorbildlichkeit auch in anderen Bereichen, denn „in That und Leben mustergültig, fest und gelassen, ohne sich jedoch als Originalmensch zu geberden“304, bewährt sich das Staatshaupt wie selbstverständlich in sämtlichen Lebenslagen. Das im Züricher Novellenband problematisierte Ideal des ‚Originalmenschen‘ wird zwar als ein durch bloßen Vorsatz nicht zu verwirklichendes Ideal ausdrücklich als Handlungsmotiv des jüngeren Rüdigers ausgeschlossen, allerdings nur, um umso wirkungsmächtiger in die Erzählung zurückzukehren, wenn der jüngere Rüdiger gerade „in der Stunde der Gefahr eine wirkliche und classische Originalität“305 an den Tag legt und damit aller || 302 Der Begriff der ‚Patriarchade‘, der eine im 18. Jahrhundert entstandene epische Dichtung über biblische Ereignisse zu Zeiten der ‚Urväter‘ bezeichnet (Vgl. Julius Wiegard/Werner Kohlschmidt: Patriarchade [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 2001. S. 72–74.) wird an dieser Stelle entlehnt, um die Bedeutung der ‚Väterlichkeit‘ für den Darstellungsduktus der vorliegenden Novelle zu unterstreichen. 303 HKKA 6, 123. 304 HKKA 6, 123. 305 HKKA 6, 124.
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ritterlichen Herkunft zum Trotz einen maßgeblich bürgerlichen Heroismus definiert.306 Die Literarisierung der historischen Ereignisse von 1351 auf dem Schlachtfeld zu Dätwil dient dabei nicht allein der Darstellung männlicher Vorbildhaftigkeit, sie bildet zugleich die Folie für einen Vergleich divergierender Männlichkeitsentwürfe, in welchem ein selbsterklärter Verfechter „der neuen Ordnung“307 mit einem ritterlichen Männerbild früherer Tage konfrontiert wird. Wenn folglich den Anführer der Seldwyler Heerschar, den „Haupturheber der neuen Zustände, den klugen, listigen und energischen Führer des Volkes, der alle Ehre und Macht in dessen Namen an sich gezogen hat und ausübt, der das große Wort führt“308, angesichts eines übermächtigen Kriegsgegners „jählings jeder Mut“309 verlässt, bezeugt der Text seine Skepsis gegen ein Mannsbild, das wohl die geistige, nicht aber die körperliche Konfrontation sucht, und lässt dieses kurzerhand die Flucht vom Kriegsschauplatz antreten. Indem der Text den politischen Denker bereits zuvor „in entscheidender Stunde, als die Gefahr unmittelbar an ihn trat, das Lebensopfer eines Getreuen“310 dankbar annehmen lässt, um das eigene Leben zu erhalten – dieser somit „fremdes Blut zu vergießen wohl versteht, sein eigenes hinzugeben nie gewillt ist“311 –, beschwört er die Vorstellung eines Gewaltdefizits intellektuell geprägter Männlichkeit(en) und spricht eine Mahnung gegen alle geistigen Erneuerer aus, dass mentale Überlegenheit allein noch nicht weltliche Macht bedeutet. Entsprechend werden dem Vertreter dieses einseitig idealistisch-intellektuellen Führungsanspruchs ‚klassisch‘ männliche Tugenden wie Mut und Opferbereitschaft verweigert, wodurch der Text seine Zweifel anmeldet, ob die bloße Macht des Wortes im Angesicht gewaltbereiter Gegenentwürfe bestehen kann. In dieses als Achillesferse des Idealismus dargestellte Macht- bzw. Gewaltvakuum stößt der jüngere Rüdiger, wenn er weniger als Patriarch der alten, denn als Patron der neuen Zeit ins Zentrum des Geschehens tritt und in
|| 306 Nach Charbon definiert sich ein explizit ‚bürgerlicher‘ Held darüber, dass dieser „ohne für sich selbst Ruhm und Ehrungen zu beanspruchen, für die Nachwelt tätig“ (S. 22) ist und sich insbesondere durch „die Bereitschaft, in der Stunde der Not alles zu wagen“ (S. 26), auszeichnet. Remy Charbon: Helden in der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Hg. von Jesko Reiling und Carsten Rohde. Bielefeld 2011, S. 15–34. 307 HKKA 6, 124. 308 HKKA 6, 124. 309 HKKA 6, 124. 310 HKKA 6, 124. 311 HKKA 6, 124.
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stoischem Heldenmut die Führung übernimmt, indem er „laut und volltönig“312 den verunsicherten ‚Männerkörper‘ (‚Korps‘) in Anlehnung an väterliche Prinzipien von Fürsorgepflicht und Gefolgschaft hinter sich eint. Ideengeschichtlich betrachtet steht die vom Text betriebene Polarisierung der beiden Männlichkeitsentwürfe in der Tradition eines dualistischen KörperGeist-Konzepts,313 da das ‚Leib-Seele-Problem‘ hier auf einen anthropomorphisierten (Heer-)Körper übertragen wird, dessen Hauptakteure exemplarisch das Spannungsverhältnis von Physis und Geist abbilden. So ist der ‚Geist‘ der neuen Zeit, der eloquente Bürgermeister Brun, ohne Frage willig, das zugehörige Fleisch jedoch erweist sich als zu schwach und hinterlässt im Ergebnis einen buchstäblich kopflosen ‚Heerkörper‘. Die Charakterzeichnung der beiden Männer erinnert zudem an populäre physiognomische Lehren des 19. Jahrhunderts, da sie eine Figurenpsychologie hervorbringt,314 die in Anlehnung an die Idee einer Kohärenz von Innerem und Äußerem einen intellektuell ‘beweglichen‘ Theoretiker zeigt, der sich im Angesicht der Gefahr als auch moralisch und körperlich beweglich erweist, während sein Stellvertreter ein Paradebeispiel an physischer wie charakterlicher Unerschütterlichkeit abgibt und dies durch ein mächtiges Stimmorgan für alle Welt dokumentiert. Die breite Rittersbrust, die „[f]est und unerschüttert […] im Geschrei und Getöse der beginnenden Schlacht“315 sich behauptet, wird auf dem Schlachtfeld als Beleg moralischer Integrität interpretiert, wodurch die verlorene Ordnung einer nunmehr kopflos agierenden Männergemeinschaft wiederhergestellt werden kann. Die Gefolgschaft der Gruppe steht und fällt offenkundig mit dem Grad an Autorität bzw. Legitimität, die der ‚Kopf‘ des Ganzen für
|| 312 HKKA 6, 124. 313 Die angeführte ‚Leib-Seele-Problematik‘ wird hier (bewusst) ikonisch reduziert als ‚Bildlichkeit‘ zur Beschreibung eines Antagonismus von Intellektualität vs. Gewaltbereitschaft verwendet. Für eine umfassende, historisch reflektierte Darstellung des ‚Leib-Seele-Verhältnisses‘ vgl. Rainer Specht: Leib-Seele-Verhältnis [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. L – Mn. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel/Stuttgart 1980, Sp. 187–201. 314 Zur Rezeption des Lavaterschen Physiognomik-Konzepts bei Keller merkt Käuser an: „So konnte etwa bei Gottfried Keller keine direkte Begriffsverwendung des Physiognomischen nachgewiesen werden, wohl aber spielt das körpersprachliche Phänomen als literarisch Beschriebenes eine erhebliche, wenn nicht sogar beherrschende Rolle in seinen Erzähltexten.“ Andreas Käuser: „Die Art, das Innere aus dem Äußeren des Menschen zu erkennen“ (Kant). Physiognomik und Literaturgeschichte zwischen 1800 und 1900. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 515–542, S. 517. Ebenso Begemann: „Kellers Rückgriff auf die Physiognomik ist im diskursiven Kontext seiner Epoche keineswegs obsolet. Physiognomische Theorien gänzlich heterogener theoretischer Provenienz erfreuen sich vielmehr in der Mitte des 19. Jahrhunderts einer besonderen Konjunktur [...].“ Begemann: Ein weiter Mantel, S. 338. 315 HKKA 6, 124f.
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sich beanspruchen kann, womit der Text beiläufig zu verstehen gibt, dass im Falle einer gewaltsamen Verteidigung demokratischer Ideen hierarchische Strukturen unabdingbar sind. Der im Zeichen dominanter Männlichkeit erfolgreich intervenierende Rüdiger wirkt durch seine offenkundig als ‚natürlich‘ anerkannte Autorität, die gerade nicht von Amt oder Rang abhängt, disziplinierend auf die versammelten Männer, wodurch das soziale Prinzip von Führung und Gefolgschaft zu einem vordiskursiven Naturgesetz verklärt wird, dem zufolge sich eine jede Gruppe von ‚Natur‘ aus hinter dem stärksten ihrer Mitglieder versammelt. Der Führungsanspruch des Ritters legitimiert sich zudem durch ein männlich konnotiertes Rationalitätsprinzip, das es verbietet, sich von bloßen Affekten – hier die Angst vor einem übermächtig erscheinenden Gegner – leiten zu lassen und stattdessen eine Lagebewertung nach Maßgabe von Verstand und Vernunft verlangt. Auf gruppendynamische Prozesse übertragen, lässt das Gebot einer rational begründeten Impulskontrolle den ‚Wehrkörper‘ einmal mehr wie einen menschlichen Organismus erscheinen, der in der Hitze des Gefechts die Kontrolle eines ungetrübten Verstandes braucht, um nicht durch Kurzschlusshandlungen in Chaos und Verderbnis zu stürzen. Wenn nach bestandenem Kampf die „gefallenen Brüder“316 unter dem Banner der Stadt ehrenvoll heimführt werden, wird der erfolgreiche Zusammenhalt des Wehrkörpers in Analogie zu engsten Verwandtschaftsbeziehungen gesetzt, wodurch die Idee einer ‚Geschlechtsgenealogie‘, einer verwandtschaftsgleichen Verbundenheit unter Männern, die nicht auf Blut, sondern auf Geschlechtszugehörigkeit beruht, hervortritt. Die Rhetorik von Brüderlichkeit und Vaterlandsliebe ist Widerhall eines männlich strukturierten Gesellschaftsgefüges, in welchem zugangsbeschränkte Männergruppen sich nach außen wie nach innen dadurch definieren und legitimieren, dass männliche Gemeinschaften auf rhetorische wie metaphorische Weise als eine ‚natürliche‘ Sozialform – eine ‚Männerfamilie‘ – ausgegeben werden. Entsprechend leistet die nach der Flucht des Bürgermeisters zutiefst verunsicherte Truppe dem neuen ‚Familienoberhaupt‘ umgehend Gefolgschaft, wenn dieser die Position einer väterlichen Autorität einnimmt und die ängstlichen Männer an patriarchale Prinzipien von Fürsorge und Gehorsam erinnert. Die Heerschar wird somit nicht bloß rhetorisch zu einer Familie, sie ist auch analog zur Idee einer patriarchalen Familie strukturiert, insofern beiden Organisationsformen gemein ist, dass die einzelnen Mitglieder ihr Selbstbestimmungsrecht der Führung eines Oberhauptes unterordnen, um im Gegenzug hierfür Schutz und Orientierung zu erhalten. || 316 HKKA 6, 125.
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Als ein ‚Paterfamilias‘ bürgerlicher Gesinnung verzichtet der siegreiche Rüdiger nicht nur darauf, den fahnenflüchtigen Bürgermeister zu diskreditieren, er hält zugunsten höherer Ziele gar seine schützende Hand über diesen, indem er dafür sorgt, dass sich die Volksgunst bald nach der Schlacht wieder dem flüchtigen Oberhaupt zuwendet und diesen ironischerweise gar als einen „vorsorgliche[n] Vater“317 feiert, der angesichts seiner Bedeutung für die Gemeinschaft zuvorderst dem eigenen Schutze verpflichtet sei. Der Umstand, dass der Bürgermeister trotz seiner Feldflucht Amt und Einfluss weiterhin ausüben kann, belegt, dass nicht zwangsläufig „die jeweils offensichtlichsten Vertreter hegemonialer Männlichkeit auch die mächtigsten Männer sind“318. So ist es ausgerechnet der Vertreter einer im Kampfe erfolgreich sich behauptenden Krieger-Männlichkeit, der die Flucht des geistigen Anführers noch auf dem Kampfplatz zu einer klugen Vorsichtsmaßnahme umdeutet und sich nach bestandenem Kampf dem politischen Oberhaupt der neuen Zeit formal unterordnet. Eine historische Dimension erfährt das heroische Auftreten des manessischen Ritters mit Blick auf die zeitgeschichtliche Verortung des Geschehens, die als eine Zeit des Übergangs vom feudal regierten Patrizierstaat hin zum freien Bürgerstaat beschrieben wird und das mittelalterliche Adelsgeschlecht freiheitsliebend auf die Seite einer neuen bürgerlichen Zeit stellt. Wo neue Formen der Machtausübung bzw. neue Legitimationsprinzipien von Macht entstehen, treten offenbar auch neue oder zumindest anders akzentuierte Männlichkeitsbilder hervor, wodurch auch diejenigen zu Anführern werden können, die nicht einem militärisch überformten Männerbild vergangener Tage entsprechen, sondern stattdessen ein mentales Rüstzeug wie etwa die Kunst des überzeugenden Wortes für sich ins Feld führen können. Diese geistigen Waffen werden zwar in der körperlichen Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld als ungeeignet dargestellt, sind aber nicht per se untauglich. Denn wenngleich hegemoniale Männlichkeitsbilder das Ergebnis einer „korporative[n] Inszenierung von Männlichkeit“319 sind, die von verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen (Militär, Politik, Wirtschaft) gleichermaßen getragen wird, bleibt die Definition von Hegemonialität kontextabhängig, so dass je nach zeitgeschichtlichem Hintergrund gänzlich unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe zu gesamtgesellschaftlich akzeptierten Leit-
|| 317 HKKA 6, 125. 318 Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 319 Connell: Der gemachte Mann, S. 98. Bezeichnend ist laut Connell, dass „[d]ie Führungsebenen von Wirtschaft, Militär und Politik […] eine recht überzeugende korporative Inszenierung von Männlichkeit zur Schau [stellen], die von feministischen Angriffen und sich verweigernden Männern immer noch ziemlich unberührt scheint.“
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bildern werden können. Die Novellenhandlung bestätigt dies, wenn sie die ritterlich-militärische Männlichkeit, die noch zu Zeiten feudaler Herrschaftsformen den Männlichkeitsdiskurs dominiert, nunmehr hinter das Ideal eines demokratisch legitimierten Volkstribuns zurücktreten lässt, so dass hier ein zeitgeschichtlicher Umbruchprozess mit einem Wandel der tonangebenden Männlichkeiten synchronisiert wird. Denn wenngleich mit den beiden Hauptfiguren zwei grundverschiedene Führungspersönlichkeiten koexistieren, die durch das geschliffene Wort im Rahmen einer Bürgerversammlung oder aber körperliche Wehrhaftigkeit auf dem Schlachtfeld auf ihre je eigene Weise zu bestehen wissen, lassen die zeitgeschichtlichen Umbrüche erahnen, unter welchen Vorzeichen der machtpolitische Diskurs künftig stehen wird. Doch noch befindet sich dieser Aufbruch in ein bürgerliches Zeitalter in einem fragilen Entstehungsprozess, zumal die vom Text propagierte Koexistenz von mittelalterlich-ritterlicher und neuzeitlich-bürgerlicher Männlichkeit faktisch nichts anderes meint als einen wohlwollenden Flankenschutz der alten zugunsten der neuen Ordnung, wodurch den Vordenkern der ‚Neuen Zeit‘ ein signifikantes Gewaltdefizit unterstellt wird. Zugleich ist es kein Widerspruch, wenn die zentrale Führungspersönlichkeit des Schlachtfeldes sich nach erfolgreichem Kampfeinsatz lautlos hinter den politischen Anführer einreiht und diesem die Lenkung der gesellschaftlichen Geschicke anstandslos überlässt, denn „Hegemonie zeichnet sich weniger durch direkte Gewalt aus, sondern durch ihren erfolgreich erhobenen Anspruch auf Autorität“320. Fakt ist dennoch, dass die unerwartet schnelle Rehabilitation des flüchtigen Politikers allein dem Wohlwollen des Kriegshelden zu verdanken ist, der bewusst darauf verzichtet, dem Flüchtenden Reputation und Amt in Abrede zu stellen. Der Primat der Gewalt erweist sich somit allen politischen Neuerungen zum Trotz als über die Zeiten hinweg stabil,321 so dass selbst angesichts reformierter Machtverhältnisse bzw. neuer politischer Institutionen die Bereitschaft zur gewaltvollen Auseinandersetzung maßgeblich für die Durchsetzung politischer Machtansprüche bleibt. Der Abwägungsprozess des jüngeren Rüdigers, der nach gewonnener Schlacht zu dem Schluss kommt, „daß es gut ist, wenn ein Gründer
|| 320 Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 321 Diese explizit männliche ‚Gewalt‘ bestimmt auf gleich zweifache Weise das männliche Individuum, wobei die „älteste Verkörperung in diesem Sinne […] wohl der gepanzerte Soldatenkörper dar[stellt], der den Willen nach außen und die Abwehr nach innen seit Jahrhunderten symbolisiert. Aus: Lothar Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität – Zur Neuverortung des Mannseins in der segmentierten Arbeitsgesellschaft. In: Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung. Hg. von Doris Janshen. Frankfurt am Main 2000, S. 106–128, S. 112.
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der Freiheit bei Ehren bleibt, wenigstens so lang er sonst tauglich ist“322, enthüllt die Autorität des politischen Führers folgerichtig als eine Autorität von Gnaden Dritter. Die Duldung des Volkstribuns unter Vorbehalt konterkariert das Ideal demokratisch legitimierter Autoritäten und bezeugt zugleich die Relevanz permanenter (männlicher) Gewaltbereitschaft, die offenkundig als nach wie vor zentral für die Aushandlung von Machtverhältnissen angesehen wird, so dass schließlich doch „Autorität oft durch Gewalt gestützt und aufrechterhalten wird“323. Gerade weil es der uneingeschränkt gewaltbereite Rittersmann ist, der die demokratische Idee auf dem Kriegsplatz erfolgreich verteidigt, tritt zwischen den Zeilen ein Machtdiskurs hervor, der eine plebiszitär-demokratisch organisierte Gesellschaft, die Autorität über Wahlen und nicht Gewalt definiert, im Ernstfall vor der Brachialität der Körper zurückschrecken lässt. Die Ereignisse des Schlachtfeldes erscheinen entsprechend wie eine Mahnung an ‚moderne‘ Gesellschaftsordnungen, dass unter einer zivilisierten Oberfläche Fragen von Autorität und Macht nach wie vor unter Verweis auf das Recht des Stärkeren ausgehandelt werden. So ist die Definition von Autorität zwar durchaus nicht in Stein gehauen, physische Gewalt hingegen scheint auf zumindest mittelbare Weise – wenn es etwa um die gewalttätige Verteidigung einer gewaltfreien Idee geht – ein allgegenwärtiger Faktor zu sein, so dass durch die Gegenüberstellung von ‚Körpermann‘ und Geistesmensch ein Machtverständnis sich zeigt, das Herrschaft und Autorität in letzter Konsequenz stets an die Bereitschaft zu körperlicher Gewalt koppelt. In diesem Sinne ist die Züricher Kriegsschar eine durchaus zwiespältige Erscheinung, da sie einerseits von Volkes Willen zur Verteidigung einer freiheitlichen Ordnung legitimiert ist, andererseits jedoch durch ihren Erfolg auf dem Schlachtfeld der Affirmation archaischer Gewalt im Sinne eines letzten Mittels Vorschub leistet, wodurch der Faktor Gewalt als zwar demokratisch integrierbar, im gleichen Zuge allerdings faktisch unüberwindbar dargestellt wird. Indem ‚Autorität‘ so unausgesprochen wie selbstverständlich männliche Autorität meint, werden Männlichkeit und körperliche Gewalt auf grundlegende Weise miteinander verknüpft, wobei der Grad an Unmittelbarkeit, mit dem Herrschaft auf physische Weise erzwungen wird, zwar variiert, Gewalt wohl aber als Ultima Ratio zur Verteidigung und Aufrechterhaltung der Ordnung selbst in ‚freien‘ Gesellschaftsformen bestätigt wird. Ob folglich feudal oder demokratisch legitimiert: Der politisch-gesellschaftliche Wandel der Zeiten mag noch so tief greifend sein, er vollzieht sich in der Darstellung des Textes stets innerhalb der Koordinaten eines männlichen Gewalt- und Herrschaftsmonopols, dessen Reprä|| 322 HKKA 6, 125. 323 Connell: Der gemachte Mann, S. 98.
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sentanten sich zwar den Erfordernissen ihrer Zeit anzupassen haben, dessen Geltungsanspruch jedoch gerade dadurch unverändert fortbesteht.
2.3.3 Die Schatten der Tagseite: Idealität als Erblast und eine Figurenpsychologie an den Grenzen realistischen Erzählens Für den letzten Abkömmling der ritterlich-männlichen Linie des Manessischen Geschlechts erweist sich die Idealität des Vaters indes als eine schwere Bürde. Diesem jüngsten Spross des im Kampfe bewährten ‚Originals‘ scheinen zwar auf den ersten Blick ebenfalls alle Voraussetzungen für eine vorbildliche Lebensführung in die Wiege gelegt, doch das Seelenleben des Ital Manesse weicht so gänzlich von dem seines Vaters ab, denn „es war, als ob er den Niedergang und das Aussterben des Geschlechtes hätte ahnen und befördern müssen.“324 Als Grund hierfür weiß der Text auf psychologisch versierte Weise die Verfasstheit einer nervösen, von Angst durchsetzten Seele anzuführen, welcher es vor allem an „Geduld und Vertrauen“325 mangelt: Bei keiner Verrichtung und Thätigkeit konnte er ausharren, von jedem Geschäft trieb ihn die Unruhe, abzuspringen, und er schlüpfte allen, die ihm wohlwollten, ängstlich aus den Händen, wenn sie ihn festzuhalten glaubten.326
Wenngleich der Text auf eine Ergründung des abweichenden Seelenlebens des jungen Ritters verzichtet, beschreibt er durchaus kundig die lebensweltlichen Auswirkungen eines unruhigen Gemüts, das in sozialer wie ökonomischer Hinsicht nicht ohne Folgen bleibt, und zwar nicht zur Verstoßung, wohl aber zu einer gewissen Stigmatisierung des jungen Mannes im Zeichen seiner steten Nervosität führt. Von seinem Umfeld zudem zum „Ritter Ital, der nie zu Haus ist“327 ernannt, greift auch dieser Spitzname die psychisch bedingte Abwesenheit des jungen Ritters von der Stätte seiner Väter auf, wodurch Unruhe und Ortlosigkeit als Persönlichkeitsmerkmale einer offenkundig nicht normgerechten Figur verfestigt werden. Die explizite Darstellung der seelischen Belastungssymptome eines jungen Mannes, dessen „unruhiges Herz“328 – beständig von „neuer Unruhe“329 erfüllt –
|| 324 HKKA 6, 125. 325 HKKA 6, 125. 326 HKKA 6, 125. 327 HKKA 6, 125. 328 HKKA 6, 126. 329 HKKA 6, 126.
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„ruhelos lebte“330, richtet einerseits den Fokus auf das von Nervosität und Handlungszwängen gekennzeichnete Innenleben der Figur, verweigert sich andererseits jedoch einer ursächlichen Erforschung dieses unruhigen Seelenzustands, obgleich die angeführte Symptomatik zweifelsohne auf ein entsprechendes (Text-)Wissen um die Systematik des menschlichen Seelenlebens schließen lässt. Eine (vermeintliche) Inkonsequenz, die sich dadurch erklärt, dass das literarisch dargestellte Wissen eines Textes nicht mit dem potenziellen Wissen seiner Epoche zu verwechseln ist.331 Dies gilt insbesondere für die Literatur des bürgerlichen Realismus, die den psychopathologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts bewusst aus dem Bereich des Darstellbaren bzw. ‚Darstellenswerten‘ ausklammert, um das für das aufgeklärte Bürgertum sakrosankte Ideal des selbstbestimmten Subjekts nicht durch anderslautende Lehrmeinungen psychologischer oder auch klinisch-psychiatrischer Herkunft zu unterminieren. Das selbst auferlegte Tabu einer Darstellung psychischer Normabweichungen ist als Tribut an die liberale Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters zwar in seiner Konsequenz nachvollziehbar, stellt zugleich aber den Wirklichkeitssinn des Realismus infrage, zumal „der realistischen Schreibweise der Psychologismus inhärent ist und die Exploration komplexer psychischer Extremfälle deshalb scheinbar in der ‚Logik‘ des Ansatzes liegt“332. Die Psychologisierung des Ital Manesse zeugt auf beispielhafte Weise von der Artifizialität einer – im programmatischen Sinne – ‚realistischen‘ Schreibweise, die den Anspruch einer wirklichkeitsnahen Darstellungsweise mit der ‚Wahrheit‘ einer bürgerlichen Anthropologie in Einklang zu bringen hat. Um das epochemachende Ideal des autonomen (bürgerlichen) Subjekts nicht an die Psychiatrie zu verlieren,333 blendet der literarische Realismus die Lehren des psycho-
|| 330 HKKA 6, 125. 331 Nach Thomé stellt sich bezüglich der psychopathologischen Sachkenntnis der Erzählung die „unumgängliche Frage nach der textuellen Organisation des Wissens“ (S. 18). Eine Frage, die eine seriöse Annäherung nur unter der Maßgabe zulässt, „daß die literarischen Texte nicht als ‚Abbildung‘, sei es der ‚tatsächlichen Verhältnisse‘ oder auch nur der kulturellen Überzeugung von den tatsächlichen Verhältnissen, gelesen werden dürfen. [...] Ohnehin ist die Verbindlichkeit des kulturellen Wissens für die Konstruktion der Fiktion keine fixe Größe, sondern unterliegt der geschichtlichen Veränderung und der gattungsspezifischen Differenzierung.“ Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 17. 332 Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 21. 333 Thomé verweist hinsichtlich der Anthropologie der Epoche auf den deutschen Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) und stellt fest: „Das autonome Subjekt, das Griesingers Psychiatrie als anthropologischen Normalfall postuliert, deckt sich nicht nur mit dem selbstverantwortlichen Bürger des politischen Liberalismus, sondern auch mit dem Protagonisten, den die pro-
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pathologischen Diskurses seiner Zeit weitgehend aus und bedient sich eines Realitätsbegriffs, der das Reale hoch selektiv in Augenschein nimmt und einen von allem Unschönen bereinigten ‚Idealrealismus‘ hervorbringt. Die Weigerung des Textes, das abweichende Seelenleben seines Protagonisten ursächlich zu ergründen, während zugleich eben diese Innerlichkeit als Auslöser eines lebensweltlichen Niedergangs angeführt wird, beschreibt somit eine gattungsspezifische ‚Verweigerungshaltung‘, die nicht inkonsequent, sondern logisch im Sinne einer ‚realistischen‘ Schreibweise ist. Die Frage nach dem Warum beantwortet die Erzählung folglich nicht. Und um diese ‚Leerstelle‘ als eine der Logik des Ansatzes innewohnende zu akzeptieren, wird im Folgenden „für die semantische Explikation der Texte lediglich deren potenzielles kulturelles Wissen“334 herangezogen, um ausdrücklich nicht der Versuchung zu erliegen, „tiefenpsychologische […] Entwürfe synkretistisch zu kontaminieren, spekulativ weiterzubilden und dann auf die Texte zu übertragen“335. Der Versuch einer Annäherung an die Psychologie des Ital Manesse kann angesichts des ideologisch begründeten Schweigens des Textes somit bestenfalls im Sinne Thomés erfolgen, wonach allein jene dargestellten Verhaltensweisen als pathologisch oder auffällig zu werten sind, die vom Text als solche indiziert werden.336 Phänomene und auch Kausalitäten psychischen Erlebens werden entsprechend innerhalb der Grenzen des dargestellten Textwissens analysiert, wobei ein Rekurs auf psychopathologische Erklärungsmuster immer dann erfolgt, wenn die als Katalysator für den Niedergang eines abweichenden Männlichkeitsentwurfes angeführten Verhaltensauffälligkeiten dies legitimieren. Eine Vorgeschichte hat die Nervosität des jungen Mannes nämlich nicht. Sie ist Fakt, aber nicht Fazit, und kennt weder biographische noch organische Ursachen. Doch wenngleich weder das Prädikat ‚krank‘ verwendet, noch eine offen pathologisierende Darstellungsstrategie verfolgt wird, stellt der Text von vornherein fest, dass es maßgeblich die im Vergleich zu den Geschlechtervätern abweichende psychische Disposition des Ritters ist, die das Ende des Erbzweiges einläutet. Dabei vermögen sein harmonisches Äußeres und der Nimbus seiner Vor|| grammatischen Realisten für den Roman gefordert haben.“ Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 4. 334 Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 6. Zum Begriff des ‚kulturellen Wissens‘ verweist Thomé auf Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 1977, S. 48. Titzmann definiert das kulturelle Wissen als „die Gesamtmenge dessen, was eine Kultur, bewußt oder unbewußt, explizit-ausgesprochen oder implizit-unausgesprochen, über die ‚Realität‘ annimmt […].“ (S. 268) 335 Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 6. 336 Vgl. Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 6.
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fahren die psychischen Defizite des jüngsten Abkömmlings zunächst zu kompensieren,337 so dass der wohlgestaltete Rittersmann als letzter Vertreter eines altehrwürdigen Stammbaums durchaus der öffentlichen Achtung versichert sein kann. Er bleibt demgemäß unzweifelhaft legitimiert zur Teilnahme am Turnierwesen – der Paradedisziplin ritterlich-männlichen Selbstverständnisses –, wo ihm aufgrund „seines alten Stammes und rühmlichen Namens wegen“338 umgehend Eintritt in die „gute Gesellschaft“339 gewährt wird. Die Achtung vor dem Individuum erweist sich hierbei maßgeblich als eine Respektsbekundung gegenüber einer mustergültigen Ahnenreihe, worin sich wiederum jener genealogische Akzent spiegelt, den die Kategorie Geschlecht in vorliegender Novelle durchgängig trägt. Zugleich entspringt die Turnierteilnahme des Ital Manesse weniger dem Wunsch, die gemeinschaftsstiftende Idee des ritterlichen Wettstreits aktiv zu unterstützen, als vielmehr der eigenen Unruhe, so dass das soziale Ereignis zum Ventil einer überforderten Männerseele wird. In diesem Sinne dient das Turnier als Kulisse für die Bewältigungsstrategien eines jungen Mannes, der die soziale Teilhabe nicht eines Gefühls von Gemeinschaftlichkeit wegen sucht, sondern als einen willkommenen Anlass begreift, um „sein unruhiges Herz vom Hause weg zu tragen“340. Die ‚Andersartigkeit‘ des jungen Ritters wirkt sich somit nicht bloß auf einer persönlichen Ebene aus, sondern beleuchtet zugleich das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, zumal die Integration des Protagonisten ins Gemeinwesen maßgeblich in Anerkennung der Lebensleistung seiner Vorfahren erfolgt – und damit ebenso von Mittelbarkeit zeugt wie umgekehrt das Verhältnis des Ritters zur Gemeinschaft, dem das Soziale in erster Linie zur persönlichen Zerstreuung taugt.
|| 337 Die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts kategorisiert Unruhe bzw. Nervosität zwar als „eine meist angeborene krankhafte Veränderung des centralen Nervensystems“ (Richard von KrafftEbing: Nervosität und neurasthenische Zustände. Specielle Pathologie und Therapie. Wien 1895, S. 4. Zit. n. Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 175), schränkt aber hinsichtlich der Folgen hereditärer Anlagen ein: „Ein Hereditarier kann ein Gelehrter, ein ausgezeichneter Beamter, ein grosser Künstler, ein Mathematiker, ein Politiker, ein geschickter Staatsmann sein und dabei in moralischer Hinsicht klaffende Lücken zeigen, wunderliche Neigungen, überraschende Unregelmäßigkeiten der Lebensführung.“ Valentin Magnan: Psychiatrische Vorlesungen, 6 Hefte. Leipzig 1891, S. 6–7. Zit. n. Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 172f. 338 HKKA 6, 126. 339 HKKA 6, 126. 340 HKKA 6, 126.
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2.3.4 Schweinejagd: Männliche Bindungsangst und die Negation des Lustprinzips Zu einem Wendepunkt im Leben des jungen Ritters wird dieses Turnier, dessen Ausgang in Anbetracht seiner übergeordneten sozialen Funktion vom Text konsequenterweise gänzlich vernachlässigt wird, als eine Stätte der Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht. Denn es zeigt sich, dass eine wohlhabende thurgauische Erbin, „deren Hand ihn wohl von aller Sorge befreien konnte“341, dem verarmten Ritter aufrichtig zugetan ist. Diese weibliche Figur ist indes mehr Funktion als Person, zumal sie der Erzählinstanz einer namentlichen Kennzeichnung nicht wert scheint und stattdessen mit der ökonomischen Klassifizierung als ‚Erbin‘ vorliebnehmen muss. Sich seiner „übeln Umstände“342 bewusst, tritt Ital Manesse betont reserviert gegen die attraktive Dame auf, die sich jedoch als feinsinnig genug erweist, um „mit holder Geistesgegenwart“343 die Distanziertheit des jungen Mannes als Ausdruck von Unsicherheit, nicht von Desinteresse zu verstehen und mit der Ankündigung eines baldigen Besuches eine temporale Pufferzone für den nervösen Ritter schafft. Die Scheu des Adligen, der eigentlich allen Anlass hätte, einer solchen Verbindung mit „Hoffnung und Freude“344 entgegenzusehen, wird verstärkt durch das ökonomische und auch charakterliche ‚Gewicht‘ einer offenkundig selbstbewussten Frauenfigur. Seine Zurückhaltung gegenüber der Erbin zeugt entsprechend von den Irritationen, die eine Frauenfigur auslöst, welche konventionelle Aktiv-Passiv-Zuschreibungen345 unterläuft, indem sie die Initiative ergreift, während dem verunsicherten Objekt der Begierde beinahe wie einem überforderten Kinde noch etwas Zeit zur Besinnung eingeräumt wird. Das ökonomische ‚Übergewicht‘ der Erbin wirkt sich somit nicht nur auf einer sozialen, sondern maßgeblich auch auf einer (zwischen-)geschlechtlichen Ebene aus, wodurch die wohlmeinende Ankündigung der Erbin, den ängstlichen Ritter in seinem Heim – seinem ‚Innersten‘ folglich – aufsuchen zu wollen, für den verunsicherten Mann einen bedrohlichen Anstrich erhält und Angstbilder von weiblicher Okkupation || 341 HKKA 6, 126. 342 HKKA 6, 126. 343 HKKA 6, 126. 344 HKKA 6, 126. 345 Hausen stellt diesbezüglich fest: „Als immer wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität hervorgehoben, wobei sich das Begriffspaar Aktivität-Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld herleitet.“ Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 367.
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weckt. Folgerichtig sieht sich Ital Manesse nach dieser unerwarteten Bekanntschaft außerstande, umgehend auf den Familiensitz zurückzukehren und versucht stattdessen seiner Überspanntheit beizukommen, indem er wochenlang ziellos umherstreift, „um bei Freunden die Zeit in Zerstreuungen zu verbringen“346. Tatsächlich kann er auf diese Weise eine Konfrontation mit der Urheberin seiner wechselhaften Gefühlslage zwischen Aufgeregtheit und Angst erfolgreich vermeiden, da die nach einem gescheiterten Besuch ernüchterte Thurgauerin bei seiner Heimkehr längst wieder abgereist ist. Auf Erzählebene als ein terminliches Missgeschick ausgegeben, ist es faktisch der charakteristischen Disposition der Figur des Ital Manesse zu Angst und Unruhe geschuldet, dass das Treffen der beiden ausfällt, so dass neben einer ökonomischen Renaissance des Adligen ausdrücklich auch der Bereich von Sexualität und Partnerschaft unerschlossen bleibt. Die Flucht vor der eigenen Innerlichkeit ist somit auch eine Flucht vor dem weiblichen Geschlecht – und umgekehrt. Räumlich betrachtet bewirkt die Initiative der Frau denn auch eine Vertreibung des Mannes aus einem sicher geglaubten Umfeld, so dass seine Rückkehr ausdrücklich erst nach ‚Abzug‘ der Dame stattfinden kann. Ein zufälliges Wiedersehen der beiden, das umgehend von der Entourage der Dame genutzt wird, um einen neuen Besuch zu terminieren, bestätigt das zuvor etablierte Schema. Denn der Versuch, den „flüchtigen Menschen“347 nunmehr „auf geschickte Art […] zu künftigem Besuche zu verpflichten“348, wird abermals von der „unabhängigen Freiin“349 unterlaufen, indem diese ankündigt, sie werde ihrerseits dem Ritter in den kommenden Tagen einen erneuten Besuch abstatten. Die ‚Freiin‘ untermauert somit die von ihr justierte Rollenaufteilung in einen aktiv handelnden und einen passiv erwartenden Part, zumal sie sich wiederum als psychologisch äußerst versiert zu erkennen gibt, wenn sie die fehlende Handlungskompetenz des Umworbenen durch Eigeninitiative ausgleicht und dabei keinerlei Anzeichen persönlicher Eitelkeit zeigt, „da sie keine Zeit auf gefährliche Weise verlieren mochte.“350 Doch allem Feingefühl der gutmütigen Thurgauerin zum Trotz erweisen sich die Reizpunkte der ritterlichen Seele als hochsensibel, denn wenngleich die Reaktion des Ritters dieses Mal vordergründig „hocherfreut“351 ausfällt, jener sein Heim für die Ankunft der Dame gar verheißungsvoll
|| 346 HKKA 6, 126. 347 HKKA 6, 126. 348 HKKA 6, 127. 349 HKKA 6, 126. 350 HKKA 6, 126. 351 HKKA 6, 127.
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herausputzen lässt, kann er schließlich nicht umhin, seinem Spottnamen alle Ehre zu machen und bei Ankunft der Dame erneut durch Abwesenheit zu glänzen. Bezeichnenderweise muss die Dame aus dem Thurgau einem „Stück Schwarzwild“352 weichen, das über die Äcker des Ritters hereingebrochen ist und den jungen Mann gänzlich elektrisiert, wobei dieser auf dem Weg zur Jagd durchaus bewusst handelt, denn unter „dem Thor besann er sich, […] ob es nicht besser gethan wäre, da zu bleiben, weil die schöne Heimsuchung gerade heute eintreffen könnte.“353 Doch auch wenn das Rendezvous mit dem Borstenvieh auf Erzählebene der Zweisamkeit mit der Thurgauerin vorgezogen wird, nimmt der jüngste Manesse genau genommen beide Treffen wahr. Das Wildschwein nämlich ist von metaphorischer Qualität: Es versinnbildlicht das Angstpotenzial bzw. den für den jungen Mann zutiefst irritierenden Auftritt einer selbstbewussten Frauenfigur und wird deshalb mit aller Entschiedenheit „weit in die Forste hinauf“354 gejagt, wo es schließlich erlegt wird. So ist der Jäger bei dieser Jagd der eigentliche Gejagte, der symbolisch zum Angriff auf die ordnungsfeindliche Gewalt des Schwarzwildes bläst, um der eigenen Überforderung angesichts der Initiativen der thurgauischen Dame Herr zu werden. Denn wenngleich feinfühlig ins Werk gesetzt, wird die Entschlossenheit der Thurgauerin als eine Grenzüberschreitung gewertet, so dass ein Stück Schwarzwild zum willkommenen Anlass wird, um weibliche Begehrlichkeiten in die Schranken zu weisen. Die tiefe Skepsis dem weiblichen Geschlecht gegenüber findet zudem ihren Ausdruck in der Gewissenhaftigkeit, mit der die heimische Burg vor der Jagd verriegelt wird. Trotz der möglichen Ankunft des vermeintlich sehnsüchtig erwarteten Besuchs wird der gesamte Burgkomplex nämlich „sorgfältig“355 verriegelt, wodurch die besagte Burg − von der nicht überliefert ist, wann zuletzt eine weibliche Bewohnerin hier gelebt hat − den Anstrich eines primär männlichen Raumes erhält und beinahe wie eine Trutzburg gegen alles Weibliche erscheint. Da Ital Manesse zudem dafür bekannt ist, ausgerechnet jenen, „die ihm wohlwollten, ängstlich aus den Händen“356 zu gleiten – und dies bevorzugt dann, „wenn sie ihn festzuhalten glaubten“357 –, befeuern die Avancen der thurgauischen Dame diese diffuse Angst vor Nähe erwartungsgemäß umso mehr, so dass
|| 352 HKKA 6, 127. 353 HKKA 6, 127f. 354 HKKA 6, 128. 355 HKKA 6, 128. 356 HKKA 6, 125. 357 HKKA 6, 125.
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das Motiv der Schweinejagd gleich doppelt auf eine selbstbewusste Frauenfigur abzielt, deren Ansinnen nicht nur auf metaphorischer Ebene zurückgewiesen, sondern auch auf Erzählebene vor buchstäblich verschlossene Türen geführt wird. Weil die Dame aus dem Thurgau in der Gefühlswelt des jungen Mannes auf ähnlich chaotische Art wütet wie das Schwarzwild auf den Äckern, wird sie in übertragender Weise zum eigentlichen Gegenstand einer Jagd, deren einziges Ziel die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung ist. So wird die Verteidigung kultivierten Ackerlandes gegen ungezähmte Naturgewalten sinnbildlich zu einem Akt der Abwehr destruktiver weiblicher Einflüsse auf die innere Ordnung eines männlichen Individuums. Die beherzte Thurgauerin erweist sich mit ihrer zwar gut gemeinten, letztlich jedoch kontraproduktiven Initiative als ein permanenter Unruheherd im Leben des Ital Manesse, so dass ihre sinnbildliche ‚Erlegung‘ in Gestalt eines unkontrolliert wütenden Wildschweins sich als psychodynamisch motivierter Befreiungsschlag eines überforderten Mannes zu erkennen gibt und damit ein auf Erzählebene konstruiertes terminliches Missgeschick als Grund für ein abermals scheiterndes Treffen konterkariert. Der jüngste Spross des Hauses Manesse ist denn auch weit mehr als bloß „ein Träumer, dessen Träumerei […] in falsche Betriebsamkeit umschlägt“358. Er ist vielmehr ein Getriebener der eigenen Innerlichkeit, dessen zwanghaftes Verhalten tief greifende Ängste vor jedweder Art von Autonomieverlust verrät. Als eine Figur, an deren Beispiel „die Fragilität von Männlichkeit auf der Ebene der Psyche“359 ausagiert wird, bestätigt der junge Mann fatalerweise auf eben jene Art, auf die er seine Autonomie zu verteidigen meint, die eigenen Defizite. Denn ähnlich wie der schmollende Pankraz, der sich nach Erlegung eines Löwen als von allen Defiziten kuriert erklärt, forciert auch Ital Manesse „den Tod der Triebhaftigkeit“360 auf dem Rücken eines wilden Tieres, um in einen geordneten Gemütszustand zurückzufinden. Hierfür zieht er sich – ebenso wie Pankraz mit seiner Flucht in die Regelhaftigkeit des Militärdienstes – auf exklusiv männliche Betäti-
|| 358 Kaiser: Gottfried Keller, S. 455. 359 Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 19. Kühne bezieht sich konkret auf die Ergebnisse angloamerikanischer Männergeschichte, weil jedoch die Begrifflichkeit einer nicht näher bestimmten ‚Ebene der Psyche‘ eine Beschreibung ohne Psychologisierung ermöglicht, wird sie an dieser Stelle angeführt. 360 Renate Böschenstein: Pankraz und sein Tier. Zur Darstellung psychischer Prozesse um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles. Hg. von Jörg Thunecke. Nottingham 1979, S. 146–158, S. 154. Was Böschenstein hier in Bezug auf die Psychologie bzw. die finale Kur des schmollenden Pankraz resümiert, gilt gleichsam für den nervösen Ital Manesse, denn das „Bild des toten Tieres als Symbol für den Tod der Triebhaftigkeit gehört zu den wichtigsten psychischen Strukturen des 19. Jahrhunderts.“
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gungsfelder zurück, wo es allerdings zu einer bloß oberflächlichen Wiederherstellung des inneren Seelenfriedens kommt, da Strategien nachhaltiger emotionaler Konfliktbewältigung hier nicht von Relevanz scheinen. Die Inbesitznahme durch eine als zudringlich wahrgenommene Frauenfigur kann somit zwar erfolgreich abgewehrt werden und auch an einer stattlichen Jagdtrophäe mangelt es nicht, durch diese Meidungsstrategien jedoch geht der junge Ritter einer wirklichen Konfrontation mit dem weiblichen Geschlecht (und der eigenen emotionalen Unordnung) aus dem Weg, so dass die Chance zur Integration triebhafter Wesensanteile ungenutzt verstreicht.361 Folgerichtig bleiben Angst, Unruhe und Misstrauen die bestimmenden Faktoren im Seelenleben dieses jungen Mannes, der bezeichnenderweise insbesondere gegenüber dem weiblichen Geschlecht in einen – wiederum auf die eigene Innerlichkeit verweisenden – Meidungsmodus verfällt und diesem persönlichen Defizit beharrlich entflieht, indem ein eindimensionaler Autonomiebegriff als Legitimationsgrundlage für die rigorose Abwehr nicht-rationaler Wesensanteile angeführt wird. Dieses Muster dominiert den gesamten Lebensweg des jungen Ritters, zumal sich nach der erfolgreichen ‚Erlegung‘ der Thurgauerin keine weitere Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der eigenen ängstlich-nervösen Innerlichkeit auftut, woraufhin der junge Adelsmann in bekannter Manier und „in aller Hast“362 eine Ehe mit einer mageren Adelstochter eingeht, die erwartungsgemäß nicht geeignet ist, dem inneren wie äußeren Niedergang des Ritters abzuwenden. Entsprechend kann selbst der Eheschluss den Abstieg nicht aufhalten, zumal es der Gattin – ihres Zeichens „eine magere Adelstochter aus dem Aargau“363 – in gleich mehrfacher Hinsicht an ‚Gewicht‘ mangelt und die Ehe somit ohne positiven Effekt auf die Rastlosigkeit des Protagonisten ist. Ironischerweise sind es ausgerechnet jene Defizite, an denen einst eine Verbindung mit der thurgauischen Dame scheiterte, die nun eine Vermählung mit dem aargauischen ‚Leichtgewicht‘ möglich machen. Denn wie beiläufig in aller Hast geehelicht, geht der betont ‘mageren‘, nämlich gefahrlos konsumierbaren Weiblichkeit der Aargauerin das Angstpotenzial der selbstbewussten Thurgauerin offenkundig ab. Doch weil diese mehr als magere Beute als Beleg für die Erlangung einer ausbalancierten männlichen Geschlechtsidentität schwerlich taugt, adelt sie den ‚Jäger‘ nicht
|| 361 Ebenfalls in Bezug auf Pankraz stellt Böschenstein fest, „daß die gewaltsame Unterwerfung des Triebs anstelle der Integration die „Heilung“ unvollständig gemacht hat [...].“ Böschenstein: Pankraz und sein Tier, S. 155. In eben diesem Sinne ist auch Itals ‚Jagdglück‘ als Beleg persönlicher Defizienz zu werten. 362 HKKA 6, 128. 363 HKKA 6, 128.
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annähernd in dem Maße, wie es eine erfolgreiche Konfrontation mit der thurgauischen Erbin getan hätte. Die wenig beeindruckende Beute ist im Umkehrschluss Ausdruck der bescheidenen Jagdqualitäten eines vom eigenen Seelenleben gejagten Jägers, dessen unambitioniertes, aus der Not heraus geborenes Beuteschema vom Text als Indikator eines defizitären (männlichen) Selbstverständnisses gesetzt wird. In Kontrast „zur Männlichkeitsgeschichte seiner Vorgänger“364, namentlich zur unerschütterlichen Wesensruhe des Geschlechtervaters, erweist sich die reizbare Innerlichkeit des Urenkels somit als maßgeblich für den Untergang eines Geschlechts, dessen Wirken nicht zuletzt von gesellschaftlicher Relevanz ist. Als Nachkomme eines um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität verdienten Geschlechts kann Ritter Ital die unausgesprochen an ihn gerichteten Erwartungen indes nicht erfüllen, da er im Gegenteil als ein kinder- und mittelloser Zeitgenosse weder das Fortbestehen des eigenen Geschlechts, noch das eines Systems männlich-patriarchaler Vorherrschaft zu sichern vermag. Folgerichtig kommt der männlich dominierte Erbzweig durch den nervösen Ritter an sein Ende und dient fortan als ein Mahnmal an die Vergänglichkeit von Originalität und Mustergültigkeit. Verhandelt wird diese literarische Reflexion über Meisterschaft und Vergänglichkeit dabei durchweg anhand der Kategorie Geschlecht. So enthüllt sich die diffuse Untergangssehnsucht eines jungen Ritters gegen Ende des 14. Jahrhunderts als ein geschlechtsspezifisches Erschöpfungssymptom, als eine Reaktion auf die Last einer idealisierten Erblinie, an deren Beispiel die Dialektik von Blüte und Niedergang durchgespielt wird, welche wiederum ihrerseits als Folie für die nostalgische Weltsicht einer Erzählinstanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dient.
2.3.5 Buz Falätscher: Von Degenerationsphantasien und der Stigmatisierung des ‚Anderen‘ Der zweite Teil der Erzählung vom Niedergang des Manessischen Geschlechts verfolgt exakt das gleiche Schema – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen.
|| 364 Tholen: Männlichkeiten in der Literatur, S. 17. Auch Tholen weist darauf hin, dass mit Blick auf literarische Männlichkeiten oftmals zu beobachten ist, „dass sich die Geschichte des Einzelnen innerhalb einer weiter ausgreifenden Genealogie der Männlichkeit eingebettet wiederfindet. Insofern verbindet sich […] die Geschichte eines einzelnen männlichen Protagonisten mit der Männlichkeitsgeschichte seiner Vorgänger und Nachfolger zu intergenerationalen Erzählungen von Männlichkeit.“ (S. 17)
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Ausgehend von der Vorstellung antagonistisch angelegter Geschlechtscharaktere greift die Erzählung diese dualistische Logik auf, um den Niedergang des weiblich dominierten Erbzweiges des Manessischen Geschlechts nunmehr im Zeichen von Triebhaftigkeit und Zivilisationsferne zu problematisieren. Entsprechend zeigt sich der Stammbaum des Buz Falätscher, eines entfernten Großcousins des Ritters Ital, von gänzlich anderer Natur, denn wo der Mannesstamm des Geschlechts auf eine zwar karg beschriebene, aber positiv konnotierte Väterlinie zurückblicken kann, entspringt die Ahnenreihe des Falätschers weit trüberen Gewässern, da „einer der Söhne des liedersammelnden Ritters Rüdiger, der ebenfalls ein geistlicher Stiftsherr in Zürich gewesen, […] von drei Nachtfrauen, wie die alten Schriften sich ausdrücken, vier uneheliche Töchter hinterlassen“ 365 hat. Diese durch Polygamie, gebrochene Keuschheitsgelübde und eine abseitige Herkunft gleich mehrfach stigmatisierten Töchter bilden schon aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einen markanten Gegensatz zur ritterlich-weltlichen Linie des Geschlechts, welche sich durchweg männlich definiert und konsequent über die Existenz weiblicher Erbträger ausschweigt. So entsteht das Bild eines geteilten Familiengeschlechts, das sich in einen standesamtlich beurkundeten männlichen Zweig und in einen zivilisationsfernen, sozial stigmatisierten ‚Frauenstamm‘ aufspaltet, der unter weiblicher Vorherrschaft am Leben erhalten wird. Das „nächtliche[] Volk“366 wird zwar ausdrücklich aus dem Fokus des Erzählgeschehens herausgehalten – zumal Unschönes in einem realistischen Text ohnehin nicht näher beschrieben werden ‚kann‘ –, im gleichen Moment jedoch durch die Hervorhebung seiner Unaussprechlichkeit nicht nur in seiner Andersartigkeit, sondern auch in seiner erzählerischen Relevanz bestätigt. Denn wenn der Text vorgibt, die Grenzen des Darstellbaren erreicht zu haben, findet er eben darin eine adäquate Darstellungsform seiner Angstbilder von unkontrollierter Weiblichkeit. Das literarisch Nicht-Darstellbare,367 weil außerhalb der Grenzen realistischer Programmatik bzw. bürgerlicher Rationalität sich bewegende, findet somit gerade durch die im Erzähltext bekundete Achtung dieser Grenzen Eingang in die Darstellung. Der Verweis auf die Grenzen des Darstellbaren entpuppt sich gar als eine poetologische Stellungnahme des Textes, wenn das Phänomen der Nachtfrauen dem Erzählakt ein Stück ‚realistische‘ Transparenz abringt,
|| 365 HKKA 6, 129. 366 HKKA 6, 129. 367 Mit ‚nicht darstellbar‘ ist hier dasjenige gemeint, was „aus der Sprache – der männlichen Ordnung, der Weißen, des Wissens – ausgeschlossen“ und folglich „mit/in ihr auch nicht beschreibbar“ ist. Aus: Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 126.
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indem es deutlich macht, dass kein ‚objektiver‘ Erzählvorgang ansteht, sondern vielmehr – mit Ansage – aussortiert und verklärt wird. Das ‚Nicht-darstellen-Wollen‘ des Textes wird auf diese Weise zu einem ‚Nicht-darstellen-Können‘ umgemünzt, wodurch es faktisch die Nachtfrauen sind, die der Erzählinstanz die Grenzen aufzeigen – und nicht umgekehrt. Durch diesen Kunstgriff wird die Ausblendung der ‚unschönen‘ Wahrheit über das Geschlecht der Nachtfrauen zum Beleg dafür, dass selbiges den Geschlechterdiskurs des Textes seinem vorgeblichen Ausschluss zum Trotz maßgeblich mitbestimmt. Gemein ist diesen so unterschiedlichen Erblinien die Verquickung von Identität und geografischer Herkunft. Die (einst) wehrhafte Burg Manesse steht hierbei ebenso bildhaft für das Wesen ihrer Bewohner, wie jene unzugängliche Erdspalte, die dem letzten Spross des weiblichen Erbzweiges als Namenspatron und Behausung dient. Lage und Beschaffenheit der ‚Falätsche‘, einer „tiefen Kluft […] [mit einem, S.V.] unheimlichen kahlen Wesen“368, lassen keinen Zweifel an der Intention des Textes, im Bilde dieses „gewaltigen Erosionstrichter[s]“369 eine unliebsame ‚Realität‘ zu inszenieren.370 Denn gerade hier, wo die Natur noch immer ihre Kräfte spielen lässt, wo „bisweilen jetzt noch Gerölle, Steine und Sandmassen die steile Wand herunterkommen“371 und als Ausdruck urtümlicher Gewalt die Schutz- und Zivilisationssymbolik der Manessischen Burg konterkarieren, gedeiht die naturnahe Kreatürlichkeit des Buz Falätscher, dessen Lehmhütte durch ein „struppiges Buschwerk“372 gegen alle Gefahr geschützt ist, so dass er – metaphorisch gesprochen – im Schoße von Mutter Natur Zuflucht findet. Die standesamtliche bzw. soziale Polarisierung der beiden so unterschiedlichen Blutslinien im Zeichen von Ordnung vs. Unordnung findet folglich in der betont antagonistischen Darstellung der jeweiligen ‚Stammsitze‘ (Zivilisation/Burg Manegg vs. Wildnis/Falätsche) ihre topografische Entsprechung. Die ‚Falätsche‘ ist somit nicht bloß Namensgeberin, sie prägt zugleich das äußere Erscheinungsbild ihres Bewohners, dem die prekären Existenzbedingungen des eigenen Lebensraumes regelrecht auf den Leib geschrieben scheinen, wenn dieser als eine „dürre
|| 368 HKKA 6, 129. 369 Hans Suter/René Hantke: Geologie des Kantons Zürich. Zürich 1962, S. 42. 370 Krah weist darauf hin, dass der Realismus unliebsame Realitäten, „insbesondere die menschliche Psyche, Sexualität und Triebe, das Unbewusste, das Wilde, Animalische“, bevorzugt in die geographische ‚Tiefe‘ verlagert. Aus: Hans Krah: Die ‚Realität‘ des Realismus. Grundlegendes am Beispiel von Theodor Storms „Aquis submersus“. In: Marianne Wünsch: Realismus (1850–1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. (LIMES – Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien 7) Kiel 2007, S. 61–90, S. 80f. 371 HKKA 6, 129. 372 HKKA 6, 130.
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Gestalt“373 aufritt, bekleidet mit einem „Gewand, das von ihm selbst aus lauter Fischotterfellen zusammengenäht war; dazu trug er im Sommer ein von Binsen geflochtenes Hütchen, im Winter eine Kapuzenkappe aus der Haut eines abgestandenen Wolfshundes.“374 In diesem Sinne trägt Buz Falätscher seine ‚Wahrheit‘ auf dem Körper, denn während Protagonisten wie John Kabys sich eines falschen Zeichenmantels bedienen, um die eigene Identität zu verschleiern, versöhnt des Falätschers Garderobe Zeichen und Referenz, indem sie das Wesen ihres Trägers, der bezeichnenderweise „nicht weniger einöd aus[sah] als seine Behausung“375, als deckungsgleich mit seinen Kleiderzeichen ausgibt. In ähnlicher Weise fungiert das Antlitz der Falätscher-Figur, das die Andersartigkeit des Antagonisten dadurch untermauert, dass übliche mimische Ausweise etwa von Lebensalter oder Gemütszustand fehlen, so dass man aus „seinem Gesicht nicht klug werden [konnte], ob er alt oder jung sei; doch gab es viele kleine Flächen darin, die immerwährend zitterten […] und unablässig schienen Unverschämtheit und Bekümmernis sich darin zu bekämpfen […].“376 Die Darstellung dieses ‚Kindsmannes‘, dessen unlesbares Gesicht auf sozialer Ebene ebenso irritiert wie eine Kleidungsart, die Andersartigkeit mehr ent- als verhüllt, erinnert unweigerlich an populäre physiognomische Deutungstraditionen des 19. Jahrhunderts. So werden auf Grundlage einer postulierten Analogie von äußerer Erscheinung und innerem Wesen die zitternden Gesichtszüge und der dürre Körperbau des Antihelden als Erkennungszeichen charakterlicher Unstetigkeit bzw. mangelhafter Substanz interpretiert, womit die Novelle zeitgenössische Theorien zur ‚Physiognomik‘ aufgreift, die in anderen Texten Kellers überaus kritisch reflektiert werden.377 Der Falätscher jedoch scheint wie geschaffen, um zu belegen, dass „die schönste Seele […] den schönsten Körper, und die häßlichste den häßlichsten“378 bewohnt, wodurch sein Leib unter physiognomischer Perspektive als ein „Ort der Wahrheit“379 erscheint, der das Wahn- und Aggres-
|| 373 HKKA 6, 130. 374 HKKA 6, 130. 375 HKKA 6, 130. 376 HKKA 6, 130. 377 Kritisch, weil deren Postulate auf der Textoberfläche nicht selten schlicht ins Leere laufen, wie es Begemann am Beispiel der Lydia aus Pankraz, der Schmoller und deren ‚Unlesbarkeit‘ vorgeführt hat. Vgl.: Begemann: Ein weiter Mantel, S. 338ff. 378 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Eine Auswahl. Hg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, 45–77. Zit. n. Begemann: Ein weiter Mantel, S. 342. 379 Begemann: Ein weiter Mantel, S. 338.
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sionspotenzial des Außenseiters schon früh durch eine abweichende Physis andeutet. Zudem erinnert die offenkundig durch Vererbung sich potenzierende Andersartigkeit des weiblichen Erbstammes an die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aufkommende ‚Degenerationstheorie‘, die von Psychiatern wie Bénédict Augustin Morel (1809–1873), Valentin Magnan (1835–1916) und Paul Julius Möbius (1853–1907) vertreten wird und in einer Zeit, die durch die ‚Jahrhunderttheorie‘ Charles Darwins mit Konzepten von Genetik und Selektion mehr als vertraut ist, großen Zuspruch findet.380 So ist nach Morel die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies der Grund für die Initialisierung eines Anpassungsprozesses, um notgedrungen auch unter ‚außerparadiesischen‘ Bedingungen existieren zu können. Kann der schädigende Einfluss äußerer Faktoren hierbei nicht erfolgreich kompensiert werden, setzt sich ein Kreislauf degenerativer Natur in Gang und bringt Nachkommen von defizitärer Qualität hervor: Dies wiederum erhöht die Störanfälligkeit des organischen Gebildes, so daß zusätzlich zu den bereits vorhandenen Schädigungen neue akquiriert und weiter-vererbt werden. Aufgrund der Akkumulation der Schädigungen ergibt sich die Degenerationsreihe: Auf die nervöse Reizbarkeit der ersten Generation folgen in der zweiten die Hysteriker, Epileptiker und Hypochonder, die als dritte Generation die Geisteskranken erzeugen. Deren Kinder schließlich sind unfruchtbare Idioten, so daß die Familie ausstirbt. Der Stand der Entartung kann an körperlichen und geistigen Stigmata abgelesen werden, aus denen sich schließlich die psychischen Krankheiten entwickeln.381
Der Erzähltext liefert zwar weder ein im Sinne Morels kohärentes ‚Krankheitsbild‘, noch bedient er sich einer entsprechenden Terminologie, wohl aber zeugt das Paradigma der Degenerationstheorie davon, dass zur Entstehungszeit der Erzählung ein Bewusstsein für die Vererbung bzw. die erbliche Mehrung von als defizitär markierten körperlichen wie auch nicht-körperlichen Merkmalen existiert. So werden die Vorfahren des Falätschers zwar nicht als Hysteriker oder Hypochonder benannt, unverkennbar aber wird die genetische Partizipation der Nachtfrauen mit einem negativen Akzent belegt, so dass in ideologischer Nähe zu Morel ein defizitäres Geschlecht von abweichender Äußer- wie Innerlichkeit hervortritt, das reduziert auf eine triebgesteuerte Kreatürlichkeit bildhaft an der Sonne ‚herumbrät‘. Wo das ängstlich-nervöse Wesen des Ital Manesse innerhalb
|| 380 Zu den folgenden Ausführungen zu Etablierung und Konzeption der Degenerationstheorie vgl.: Thomé: Autonomes Ich, S. 169.ff. 381 Thomé: Autonomes Ich, S. 170.
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der Darstellung als ein Phänomen ohne Geschichte erscheint, erweist sich die Normüberschreitung der weiblich konnotierten Blutslinie als eine fortlaufende genetische Destruktion, die ihren zweifelhaften Höhepunkt in der Figur des Buz Falätscher findet, dem es wenig überraschend „bei aller Zungenfertigkeit an wirklichem Verstande gebrach.“382 Wenngleich dabei „[m]it erschreckender Schärfe […] das Bild einer bösen, phantastischen Halbkindlichkeit [entsteht], die an der Dunkelseite des Mutterbereichs wohnt, eine Figur, die nur halb aus diesem Schoß herausragt: böse, chaotische Natur jenseits der Normen und Ordnungen“383, ist dieses Halbwesen dennoch soziales Wesen genug, um eine Integration ausgerechnet in jene ihn als fremdartig definierende Ordnung anzustreben. Seine als vagabundierender Kaplan vorgetragene (Wahn-)Vorstellung, „daß er gleich seinen Vorfahren als Stiftsherr an ein großes Münster gehöre, wohl gar zu einem Prälaten bestimmt sei“384, sorgt erwartbar für Irritationen, zumal sich Buz auf naive Weise in ein soziales Zeichensystem hineindrängt, für das Amt und Außenseitertum so wenig zusammenpassen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung im Falle des Falätschers, woraufhin dieser in den Augen seiner Umwelt zur bloßen Karikatur wird. Subtil diktiert der Text die Perspektive auf einen sozial Ausgegrenzten, der sein (vermeintlich) ererbtes Außenseitertum nicht akzeptieren will, sondern im Gegenteil an seinem Streben nach Integration festhält und hierfür mit dem Laster belegt wird, „immer etwas Anderes vorstellen und sein zu wollen, als man ist“385. Abstammung und Erscheinungsbild des Falätschers dienen vorrangig zur Differenzbestimmung des ‚Anderen‘386 und somit als Legitimationsgrundlage dafür, den sozialen Aktionsrahmen einer andersartigen Männerfigur zu begrenzen, indem Biologie festlegt, was auf sozialer Ebene möglich ist. Die biologistische Perspektive der Erzählinstanz gibt sich folglich einer Differenzideologie verpflichtet zu erkennen, die mit Blick insbesondere auf den weiblich dominierten Erbzweig das Abweichende in den Vordergrund stellt und auf diese Weise den ideologischen Rahmen bereitet, um die Geschichte eines Außenseiters zu erzählen, der permanent etwas anderes sein will, als er ist bzw. sein
|| 382 HKKA 6, 130. 383 Kaiser: Gottfried Keller, S. 457. 384 HKKA 6, 130. 385 HKKA 6, 129. 386 Die Strategien, mit Hilfe derer dieses ‚Andere‘ durch Konnotationen von Weiblichkeit, Infantilität und Wahnsinn im doppelten Sinne ‚ausgewiesen‘ wird, beschreibt Weigel: „Im jüngeren vernunftskritischen Diskurs wird die Reihe des durch die bürgerliche Rationalität Verdrängten und ihr Entgegengesetzten noch ergänzt durch den Traum, den Wahnsinn, die Wildnis, die Kindheit […].“ Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 118f. Eine Verfahrensweise, die sich auch in der Darstellung des Buz Falätscher spiegelt.
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darf. Abstammung und (soziale) Erscheinung dienen sowohl im Falle des Falätschers als auch mit Blick auf Ital Manesse als Legitimationsgrundlage für die Bestimmung der je möglichen Existenzweisen bzw. den Grad an sozialer Integration – wobei sich diese Limitierung auf Ital Manesse wie eine Untergrenze auswirkt, die ihn angesichts seiner privilegierten Herkunft an die Mindesterwartungen seines sozialen Umfelds mahnt, während für Buz Falätscher auf gleiche Weise das Maximum legitimer Existenzentwürfe festgelegt wird. Beide Männer tragen folglich in gleicher Weise, aber unter umgekehrten Vorzeichen eine Erblast mit sich, die dem einen auf sozialer Ebene versagt, was sie von dem anderen erwartet. Diesem Muster gemäß scheitern schließlich auch beide Protagonisten auf ähnliche Weise, indem sie die Kluft zwischen ihrer ‚biologischen‘ – und daraus folgend: sozialen – Vorbestimmung und den eigenen Sehnsüchten (oder auch Ängsten) nicht zu überwinden vermögen. Das Scheitern des Buz Falätscher entspringt demgemäß nicht einer ‚Lust‘ an Niedergang und Desintegration, wie sie der Text dem Ritter Ital mehr oder weniger offen zuschreibt, sondern im Gegenteil einem Verlangen nach Aufstieg und Integration. Da er sich zu diesem Zwecke an einer ganzen Reihe männlicher Identitäten versucht, die allesamt eine veritable Position innerhalb einer Männerwelt versprechen, ist das Scheitern des Außenseiters nicht zuletzt ein Scheitern im Angesicht des eigenen (männlichen) Geschlechts, wodurch dem Untergang des Sonderlings einige Bedeutung hinsichtlich der Konstitution und Termination von Männlichkeit(en) zukommt. Das anatomische Geschlecht des Protagonisten zieht der Text zwar nirgends in Zweifel, wohl aber weisen die weiblich-nachtseitige Abstammung und das urweltliche Umfeld des Falätschers diesen als eine zugleich weiblich konnotierte Figur aus, so dass trotz eines unzweideutigen Geschlechtskörpers eine auf sozialer Ebene nur schwer zu verortende Zwitterfigur entsteht.387 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die beständig betonte Andersartigkeit des Falätschers kein biologisches Diktum ist, sondern das Ergebnis textinterner Diskursstrategien, die ein dichtes Netz aus Differenzbestimmungen knüpfen, um die präzivilisatorische ‚Antikultur‘ der Falätscher-Figur von der positiv konnotierten Normkultur seiner Umwelt abzugrenzen. Die Antikultur des Zwitterwesens dient zugleich der Legitimation der Normkultur, denn gerade weil
|| 387 Zur Strukturanalogie von Wildheit und Weiblichkeit erklärt Weigel, dass die „Beschreibung der Wilden als ewige Kinder, als unbekümmerte Wesen, die ihr Leben ziel- und planlos und ohne Reflexion verbringen“, zu einem zentralen Diskursmerkmal wird, um „Wilde und Frauen [...] im Vergleich zum ‚Zivilisierten‘, zum Mann“, als „(noch) nicht Zivilisierte [...] − Wesen, die der Natur nahe stehen und deren Bestimmung sich aus ihrer ‚Natur‘ ableitet“ − auszusondern. Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 122f.
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die Andersartigkeit des Falätschers ein diskursives Phänomen ist, verweist die Deklassierung dieser offenkundig schwer verdaulichen Variante von Männlichkeit zur diskursiven ‚Ausschussware‘ auf ein Grundprinzip männlicher Vorherrschaft, wonach zu „jeder Zeit […] eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu den anderen kulturell herausgehoben“388 wird. So zeugen in einem Jahrhundert, in dem handwerkliche Produktion längst zum Alltag gehört, Kleider aus Otterfellen und Wolfshaut von einem befremdlichen Anachronismus und obgleich der Sonderling zweifelsohne mancherlei Jagdfertigkeit besitzt, jagt er aus sozialer Perspektive besehen eindeutig die falsche Beute: Er spürte Dächse aus, fing fette Hamster in den Wiesen und Fischottern in den Wassern, auch allerlei Vögel im Unterholz, und erwarb eine große Geschicklichkeit, allen diesen Tieren nachzustellen, nicht wie ein gelernter Jäger, sondern wie ein Raubtier, und aus den Fellen machte er sich seine Bekleidung.389
Während die Jagdleidenschaft des anverwandten Ital Manesse sich auf höheres Wild richtet, jener seine Beute in einer zeichenhaft-räumlichen Aufwärtsbewegung in die Wälder hinauf jagt, spürt der Falätscher „instinctiv im Wasser und am Boden herum“390 und sucht sein Überleben somit auf äußerst erdnahe Art zu sichern. Die textinterne Bewertung dieser unterschiedlichen, für sich genommen jedoch gleichermaßen erfolgreichen Jagdakte fällt zwar grundverschieden aus, die in beiden Fällen betriebene Identifizierung des jeweiligen Männlichkeitsentwurfes mit seinem Beuteschema hingegen erweist sich als ein durchgängiges Schema. Egal folglich auf welchem Gebiet der Falätscher als andersartig markiert wird, stets verrät sich diese Andersartigkeit als eine soziale Zuschreibung, die der Abgrenzung vom ‚Normalen‘ dient, worin sich das vom Text arrangierte Spiel um Integration und Isolation als ein zeit- bzw. kulturabhängiges zu erkennen gibt. Denn wenngleich nicht weniger erfolgreich als andere Jäger taugen seine Jagdmethoden offenkundig nicht als Ausweis prestigeträchtiger Männlichkeit, woraus ersichtlich wird, dass der Hegemonialanspruch bestimmter Männlichkeitsbilder der sozialen Aushandlung unterliegt und infolgedessen eine „historisch bewegliche Relation“391 beschreibt. Der von der Norm abweichende Lebensentwurf des Antagonisten wird entsprechend vehement auf genetische Faktoren zurückgeführt, um den Konstruktionscharakter von Männlichkeit(en) zu verschleiern und die hieran beteiligten sozialen Hierarchisierungs- und Selektionspro-
|| 388 Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 389 HKKA 6, 135. 390 HKKA 6, 135. 391 Connell: Der gemachte Mann, S. 98.
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zesse von jedweder relativierenden Kritik auszunehmen. Die Novelle des Narren auf Manegg, vom Ich-Erzähler als eindrückliche Parabel auf die Folgen eines verfehlten Wirklichkeitsbezugs intendiert,392 spiegelt somit auf exemplarische Weise die ‚Wahrheitsbedingungen‘ eines literarischen Textes als eine Verflechtung von literarischen und außerliterarischen Diskursen. So gibt sich die ‚Wahrheit‘ des Textes mit Blick auf die zuvor skizzierten Erklärungsmodelle des 19. Jahrhunderts (Physiognomie, Degenerationstheorie) als Resultat einer Vielzahl zeitgenössischer außerliterarischer Diskurse zu erkennen, die auf nunmehr literarische Weise reproduziert werden. Folglich werden die Integrationsversuche des Falätschers im Folgenden nicht allein unter der Perspektive der literarischen Darstellung von Normabweichung betrachtet, sondern insbesondere auch Prozesse der Normierung im Mittelpunkt stehen. Der Fokus liegt daher nicht allein auf dem (vermeintlich) Andersartigen, sondern vorrangig auf jenen, die die Ausgrenzung dieses Andersartigen bewusst oder unbewusst überhaupt erst möglich machen, indem sie an der Aufrechterhaltung sozialer Normen mitwirken. Denn wie zuvor beschrieben, ist der Falätscher kein asoziales Geschöpf, sondern im Gegenteil ein Individuum mit auffällig ausgeprägten kommunikativ-sozialen Bedürfnissen, die der Text nicht leugnet, wohl aber negativ gewichtet, denn „ob es Tag oder Nacht, ob er satt oder hungrig war, sobald er auf ein menschliches Wesen stieß, redete er auf dasselbe ein und wollte ihm etwas aufbinden, es zu einem Glauben zwingen und ihm einen Beifall abnötigen.“393 Die verzerrt zum Ausdruck kommende Sehnsucht eines Außenseiters nach sozialer Integration und der Norm(alität) der Anderen, die mehr ist als ein „zwanghafte[s] Streben nach Ansehen und Bewunderung“394, die mehr darstellt als bloß „das Schauerliche des wahnhaften und fruchtlosen Epigonentums“395, wird vom Text als ein im Falle des Falätschers per se illegitimer Akt gebrandmarkt || 392 Wenngleich Fragen der Erzähltechnik nicht Thema vorliegender Abhandlung sind, ist erwähnenswert, dass die realismusspezifische Darstellung psychischer Extreme bevorzugt mit einer bestimmten Erzähltechnik einhergeht, die als „Konsequenz der ‚anthropologischen Verunsicherung‘“ einen Ich-Erzähler installiert, „der gar nicht oder nur am Rande in die Geschehnisse verwickelt wurde“ und „in Bezug auf das Geschehen über den Innenstandpunkt, in Hinsicht auf die Seelenbewegungen der zentralen Figur aber lediglich über einen Außenstandpunkt“ verfügt. Thomé: Autonomes Ich, S. 131. 393 HKKA 6, 130. 394 Kittstein: Gottfried Keller, S. 153. Wenngleich vom Orginalitätskonzept der Novelle legitimiert, sind die sozialen Grenzüberschreitungen des Narren mehr als bloß Ausdruck eines zwanghaften Aufmerksamkeitsdefizits. Löst man sich von der Perspektivierung durch die Erzählautorität, werden einigermaßen hilflose, jedoch umso rigider zurückgewiesene Integrationsbestrebungen erkennbar. 395 Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 594.
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und episodenhaft dem Scheitern preisgegeben. So zeugt etwa sein Ansinnen, als eine in jeder Hinsicht kirchenferne Kreatur ausgerechnet zur Vertretung selbiger berufen zu sein, von einer eklatanten ‚Leseschwäche‘ in Bezug auf soziale Zeichensysteme. Als Spross einer düster-matriarchalen Gegenkultur erscheint er der kirchlichen Lehre geradezu als Verhöhnung der trinitarischen Idee und begreift folglich nicht, dass er als Ausgegrenzter unmöglich Teil bzw. Repräsentant des Ausgrenzenden sein kann, so dass sein Wunsch nach sozialer Integration Verballhornung und Isolation nach sich zieht. Seiner zeichenspezifischen Leseschwäche zum Trotz erfasst der Narr jedoch sehr genau, dass die geistlichen Instanzen von Vater, Sohn und Heiligem Geist im Grunde sehr weltliche Machtstrukturen abbilden, zumal im Himmel wie auf Erden in erster Linie die männliche Geschlechtszugehörigkeit zu zählen scheint, um einen privilegierten Zugang zu Macht und Status für sich zu reklamieren. Da der Halbweltler aus der Erdscheide offenkundig nicht so systemfremd ist, dass er nicht auch die ihm von Geschlechts wegen potenziell zustehende Rendite eines Systems männlicher Vorherrschaft wittert, führt der Text folgerichtig Legitimationsprinzipien von Macht und Männlichkeit an, um die Vernichtung des Falätschers zu ‚legitimieren‘.
2.3.6 Das ‚Andere‘ als Legitimation des Eigenen Als Kaplan verlacht, ist die folgende Kehrtwende vom selbst ernannten Kirchenmann zum bewaffneten Krieger für das moralferne Zwitterwesen kein Widerspruch,396 zumal das Schlachtfeld einige Respektabilität verspricht, und so „verwandelte [er] sich demgemäß in einen Soldaten und lief bei allen Händeln hinzu“397, stets in dem „unbezwinglichen Drang, sich auszuzeichnen und überall
|| 396 Der Text schreibt dem in einem moralischen wie lebensweltlichen Sinne ‚geschlechtlich‘ uneindeutigen Wesen eine wertespezifische Orientierungslosigkeit zu, welche nicht zuletzt auf die Idee eines (vermeintlich) naturgegebenen Nexus von Weiblichkeit und Amoralität rekurriert – und selbst unter aufgeklärten Geistern Anklang fand: „O Frauen, ihr seid merkwürdige Kinder! ... aber vergessen Sie nicht, daß seine Unfähigkeit zu Überlegung und Grundsätzen nichts bis in eine bestimmte Tiefe des weiblichen Verstandes dringen läßt. Die Ideen von Gerechtigkeit, Tugend, Laster, Güte, Bosheit schwimmen an der Oberfläche ihrer Seele. Eigenliebe und Egoismus dagegen haben sie in ihrer ganzen natürlichen Kraft erhalten […]. Die Frauen sind selten systematisch, immer dem Augenblick unterworfen.“ Aus: Denis Diderot: Über die Frauen. In: Diderot: Erzählungen und Gespräche. Frankfurt am Main 1981, S. 171ff. Zit. n. Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 122f. 397 HKKA 6, 130.
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die Gefahr aufzusuchen und im vordersten Gliede zu stehen“398. Wenig überraschend jedoch kollidieren auch an der Frontlinie Selbst- und Fremdbild des Falätschers, wenn dieser im Angesicht der realen Gefahr zuverlässig Reißaus nimmt, um anschließend „mit grimmigen Blicken seinen bewiesenen Mut zu rühmen“399 und auf diese unfreiwillig komische Weise den Schauspielcharakter seines tapferen Soldatentums entblößt. Indem das Verhalten des Falätschers zudem als „unwillkürlich“400 und somit als Reflex und gleichermaßen Beleg einer instinktgesteuerten Wesensart beschrieben wird, dient die groteske Vorstellung des Halbweltlers dem Text als Bestätigung seiner affektgesteuerten Natur. Die Diskrepanz von Sein und Schein konterkariert nicht nur des Falätschers Selbstbild, sie beleuchtet zugleich das Zusammenspiel von (Text-)Macht und Diskurs, da über die Beurteilung des Kriegsmuts des Soldaten einzig die Textautorität entscheidet, die zwar das Kriegsverhalten des Falätschers der Lächerlichkeit preisgibt, zugleich jedoch die eigene Diskurshoheit reflektiert, indem sie ihrem Antagonisten immerhin eine eigene ‚Wahrheit‘ zugesteht, „da er den Mut wirklich empfunden hatte“401. Zweifelhaft erscheint sein Mut folglich erst in einem sozialen Kontext, in welchem der Falätscher als ein Fremdkörper fungiert, dem es an einem geeigneten Sensorium mangelt, um die Normen und Perspektiven seiner Umwelt zu begreifen. Die ritterliche Ordnung der dargestellten Welt lässt die Integrationsbestrebungen eines Fellträgers von dürrer Körperlichkeit und verstörendem Antlitz somit von vornherein aussichtslos erscheinen, zumal dieser sein Vorhaben ausgerechnet in einem besonders prestigeträchtigen Bereich ins Werk setzt, hier allerdings eine Darbietung abliefert, die trotz ihres martialischen Habitus in keinster Weise konsensfähig ist und den Fronteinsatz zu einer grotesken Revuenummer verkommen lässt. Das umstehende Männerkollektiv aus kampferprobten Soldaten, „die sonst keine Feigheit duldeten“402, konterkariert zwar einerseits auf maximale Weise die Aufführung des Falätschers, eröffnet gerade durch seine demonstrative Mannhaftigkeit allerdings einen Zufluchtsort für den ‚Narren‘, in dessen Grenzen sein entrücktes Selbstbild innerhalb des Wehrkörpers geduldet werden kann. Als soldatische Männlichkeit gescheitert, bestätigt seine Flucht vollends die Erwartung seiner Umwelt, dass nämlich eine Kreatur von dürrer Körperlichkeit und unstetem Wesen ohnehin nicht zum Kampf taugt. Auch dass sein
|| 398 HKKA 6, 131. 399 HKKA 6, 131. 400 HKKA 6, 131. 401 HKKA 6, 131. 402 HKKA 6, 131.
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unsoldatisches Verhalten keine weiteren Folgen für ihn hat, ist weniger ein Zeichen von Milde als vielmehr Beleg seiner Ausgrenzung, da nur ein Soldat mit Konsequenzen zu rechnen hätte – Buz Falätscher offenkundig jedoch nicht als ein solcher geführt wird. Er schließt sich zwar einer Soldatenschar an, ist aber zu keiner Zeit Repräsentant des Soldatentums, so dass sein Schadpotenzial überschaubar bleibt. Buz ist in diesem Sinne nicht etwa das schwächste Glied dieser Kette, sondern schlicht gar keins, wodurch die Gefahr destruktiver Einflüsse auf Ordnung und Schlagkraft der Soldatengruppe gebannt wird, so dass die „wackeren Kriegsgesellen“403 den unfreiwilligen Pazifisten gar mit Wohlgefallen in ihrem Kreise dulden. So ist es gerade die Andersartigkeit des Falätschers, die zwar sein Ansinnen auf die Position eines Feldhauptmanns ad absurdum führt, ihm zugleich jedoch innerhalb einer streng hierarchisch organisierten Männergruppe ein Reservat eröffnet, in dessen Grenzen man Buz, freilich festgeschrieben auf die Funktion eines „Narren“404, gewähren lässt. Ausgeschlossen vom Soldatentum kommt dem Außenseiter somit dennoch eine gruppendynamisch zentrale, wenngleich persönlich wenig erstrebenswerte Funktion zu. Als Paradebeispiel einer nicht anerkannten Männlichkeit bzw. einer zweifelsfrei anerkannten NichtMännlichkeit kommt ihm die soziale Funktion zu, die geltenden Kriterien des Mannseins auf derart schroffe Weise zu konterkarieren, dass sich im Gegenzug das ideologische Fundament exklusiver Männerbünde allemal bestätigt sehen kann. Die Zuverlässigkeit, mit der er die ihm zugeschriebene Andersartigkeit in sämtlichen Lebensbereichen bezeugt, macht ihn zum Antipoden eines zeitgenössischen Männlichkeitsideals, dessen Leitbildfunktion sich umso eindrücklicher bestätigt, je derber die anderen Soldaten den Halbweltler als eine äußerst unterhaltsame Karikatur (von Männlichkeit) verlachen. Nachdem sich der Narr auf diese wenngleich unfreiwillige und wenig schmeichelhafte Weise um die Moral der eigenen Truppe durchaus verdient gemacht hat, erfährt er eine weitere Funktionalisierung auf dem Schlachtfeld, indem er – wiederum unfreiwillig – zum Kommunikationsmittel zweier gegnerischer Kriegsparteien wird. So führt seine großspurige Herausforderung eines feindlichen Heerführers zu einer geradezu grotesk ungleichen Zweikampfsituation, die nicht nur unverkennbar ironisch aufgeladenen ist, sondern gar zum Ausgangspunkt einer unerwarteten Verbrüderung mit dem Gegner wird, da die Kriegsparteien in der Verlachung des Sonderlings ein Gefühl von Verbundenheit erfahren: || 403 HKKA 6, 131. 404 HKKA 6, 131.
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Der feindliche Führer, ein gerüsteter Goliath, trat mit seinem Spieße hervor und stellte sich furchtbar auf. Mit mannlichen Schritten ging auch Buz ihm entgegen, von seinen Gesellen gewappnet, wie ein Vorgesetzter, mit Helm, Schild, Schwert und Lanze beladen; schnaufend und aufgeregt, aber ohne Zögern, stampfte er unter seinen klirrenden Waffen vorwärts, bis er zwei Schritte vor dem dräuenden Löwen stand und das Weiße in dessen Augen sah.405
Abermals ist es die unfreiwillig komische Selbstinszenierung des Falätschers, die diesen davor bewahrt, wahrhaftig Schaden an Leib und Leben zu nehmen, indem sie dafür sorgt, dass sich statt eines offenen Zweikampfes eine große Lustbarkeit entspinnt. Denn je offenkundiger die faktischen Kräfteverhältnisse sind, desto abwegiger, weil des Stärkeren unwürdig, erscheint die Anbahnung einer ernstlichen Fehde, wodurch die Brisanz eines Stellvertreterduells dem Spaß eines zu erwartenden Schauspiels weicht und Buz zumindest diesbezüglich alle Erwartungen erfüllt. Denn sobald sein Widersacher auch nur eine Bewegung macht, setzt sich der gewohnte Ablauf in Gang und Buz „drehte […] sich im Kreuz seines Rückens so glatt wie eine Thür in der Angel und lief mit der Schnelligkeit einer Spinne über das Feld weg“406 – mit der Folge, dass „ein brausendes Lachen […] durch beide Lager [rollte], und die wälschen Heerknechte, welche den Auftritt als einen ihnen zum besten gegebenen Spaß betrachteten, […] den Schweizern ein Faß Wein [schickten], worauf diese ein fettes Schwein zurücksandten“407. Möglich wird diese Vergnüglichkeit, weil der Feldflucht des Falätschers von beiden Kriegsparteien keine wirkliche Relevanz beigemessen wird, nämlich selbst dem Kriegsgegner bewusst ist, dass der wendige ‚David‘ kein vollwertiges Mitglied der Züricher Soldatenschar ist und ihm insofern zwar einiger Unterhaltungswert zukommt, gewiss aber keine ernsthafte Repräsentationsfunktion. Folgenlos für den Schlachtverlauf ist des Falätschers neuerliche Flucht deswegen nicht. Seine unfreiwillig komische Einlage bereitet im Gegenteil den moralischen Boden dafür, dass die verfeindeten Männerkollektive, die einst zur Liquidation des jeweils anderen ausgezogen waren, nun in der Art eines spontanen ‚male bonding‘408 das Verbindende entdecken und sich gegenseitig Zeichen der Anerkennung zukom-
|| 405 HKKA 6, 131. 406 HKKA 6, 132. 407 HKKA 6, 132. 408 Das auf den amerikanischen Anthropologen Lionel Tiger zurückgehende Konzept des male bonding (In: Men in Groups, 1969) beschreibt Strategien männlicher Gruppenbildung und verortet nach Connell das Phänomen ‚Krieg‘ als Teil einer „männlichen Ästhetik“, die „das Grundprinzip von Männlichkeit“ dahingehend definiert, „dass wahre Männlichkeit, die Männerbünden und Krieg zugrunde liegt, durch ‚hard and heavy‘-Phänomene“ gekennzeichnet ist. Connell: Der gemachte Mann, S. 120f.
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men lassen. Die abweichende Erscheinung des Narren, die zuvor bereits das Profil des eigenen Kampfverbandes schärfte, wirkt über die eigenen Reihen hinaus und forciert eine Besinnung der Kriegsparteien auf gemeinsame Werte und Normen, so dass der Rekurs insbesondere auf geltende Männlichkeitsnormen alle politische oder ideologische Gegnerschaft zumindest temporär in den Hintergrund treten lässt. Auf diese Weise wird der Halbweltler mit seiner charakteristischen Andersartigkeit zum Bindeglied zwischen zwei Männergruppen, deren Interessen zwar gegensätzlicher nicht sein könnten, die jedoch beide im Narren ein „Medium für die Selbstvergewisserung der eigenen conditio humana“409 erkennen – und hiervon ausgehend ein situationsbezogenes Verbundenheitsgefühl mit dem Gegner zulassen. Indem die normabweichende Erscheinung des Falätschers den Fokus der sich gegenüberstehenden Gruppen vom Trennenden auf das Verbindende lenkt, zeigt sich auf anschauliche Weise, dass das Orientierungs- und Handlungsmodell ‚Mannsein‘ immer auch eine kollektive, nämlich gemeinschaftsstiftende Dimension besitzt – die wiederum auf Differenzfiguren wie Buz Falätscher angewiesen ist, um Zugehörigkeit durch Ausgrenzung zu definieren. Da sich für den Sonderling in einer derart homogenen Männergemeinschaft, deren Zusammenhalt zudem nicht auf der Integration, sondern der Isolierung abweichender Männlichkeitsentwürfe beruht, keine Möglichkeit zur Profilierung bietet, verlässt die Erzählung das gleichgeschlechtliche Terrain und führt ihren Protagonisten stattdessen in die Schlacht gegen das ‚andere‘ Geschlecht.
2.3.7 Heterosexuelle Fronten: Sexualität und Partnerschaft als Bewährungsfelder männlicher Herrschaftsansprüche Beinahe mitleidig entwirft der Text das ideale „Weiblein oder Dirnlein“410 für den verlachten Kriegsmann, „das in roten Strümpfen rüstig daher wanderte“411 und ganz wie der Falätscher selbst ein „thörichtes Mensch [war], das, wie jener nach Anerkennung dürstete, sich nach einem Mann sehnte und nach einem solchen umher pilgerte.“412 Gedemütigt von der auf dem Schlachtfeld erlittenen Schmach sind es nicht zufällig sexualsymbolische Konnotationen, durch die der Text seinem desillusionierten Heimkehrer neue Zuversicht schenkt, wenn er das Weib-
|| 409 Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 73. 410 HKKA 6, 132. 411 HKKA 6, 132. 412 HKKA 6, 133.
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lein jenen Spieß, der auf dem Kriegsplatz zum Symbol der Lächerlichkeit wurde, nunmehr aufrichtig bestaunen lässt – denn warum grämen, wenn „er doch einen so langen Spieß habe, die Unbill abzuwehren?“413 Die Figur der heiratswilligen Pilgerin ist eine literarische Transparenzfigur, die nicht nur ihre eigenen Absichten unmissverständlich deutlich macht, indem sie ankündigt, dem frustrierten Manne „alles [zu, S.V.] glauben, was ihn freue“414, sondern durch ihr närrisches Angebot die Gedankenwelt des Falätschers als eine offenkundig narzisstische enthüllt, der die neue „Sachlage“415 in erster Linie dazu taugt, der Welt schließlich doch zu zeigen, „wer ich bin!“416 Vom Text als weitere Pointe eines verfehlten Wirklichkeitsbezugs gesetzt, begegnet Buz der neuen Situation nicht ohne Scharfsinn, wenn er die Strukturanalogie von öffentlicher Herrschaft und ‚Eheherrschaft‘ erfasst und zu dem Schluss kommt, „daß, wer nur erst das Haupt einer Familie sei, auch das Haupt von mehreren werden könne.“417 Dass der Text seinem Antagonisten derart tiefgründige Einblicke gewährt, dient vorrangig der Vorbereitung der nachfolgenden Versuchsanordnung, welche die Suche des Falätschers nach sozialer Anerkennung auf den Bereich von Sexualität und Partnerschaft überträgt, um das zu erwartende Scheitern der Figur als ein vollumfängliches festzuschreiben. Eine Erwartung, die nicht enttäuscht wird, zumal sich das ‚Dirnlein‘ alsbald selbst um Instandsetzung und Unterhalt des Heims zu kümmern hat, hierbei notgedrungen traditionelle Geschlechterrollen unterläuft und somit das als Empfehlung für höhere Weihen erdachte Mikro-Patriarchat des Falätschers als ein Luftschloss entlarvt. Das Einzige, was dem untätigen Hausherrn zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaftsansprüche gegen eine zunehmend desillusionierte Partnerin in den Sinn kommt, ist die Anwendung von Gewalt. Dass der Falätscher fortan auf Schläge als Grundlage seiner Hausherrschaft setzt, belegt abermals, dass ihm jegliches Gespür für soziale Konventionen bzw. die Dynamik konventioneller Rollenmodelle fehlt. So bleiben dem Pseudopatriarchen die subtilen Unterdrückungsmechanismen struktureller bzw. institutioneller Natur verwehrt, was zu dem aberwitzigen Resultat führt, dass Buz auf dem Kriegsschauplatz, also ausgerechnet dort, wo körperliche Gewalt als Beleg von Stärke gefordert ist, vor der
|| 413 HKKA 6, 132. 414 HKKA 6, 133. 415 HKKA 6, 133. 416 HKKA 6, 133. 417 HKKA 6, 133.
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Konfrontation mit den Geschlechtsgenossen zurückweicht, während ein Weiblein in seiner Obhut „Beulen und blaue Flecke“418 empfängt. Demoliert wird auf diese Weise in erster Linie das Selbstverständnis eines seine Herrschaft über das weibliche Geschlecht durch die eigene moralische Überlegenheit legitimierenden Männlichkeitsideals, das die Anwendung häuslicher Gewalt als eine unnötige Selbstentblößung versteht, da durch diese Form der körperlichen Züchtigung das Versagen subtilerer Unterdrückungsmechanismen eingestanden wird. Die Tyrannei des Falätschers ist somit Ausdruck der Hilflosigkeit eines selbst ernannten Patriarchen, der seinen Herrschaftsanspruch weder aus einem sozialen, noch ökonomischen Kontext ableiten kann. Entsprechend dokumentieren die Beulen der Partnerin einen Gewaltakt, der sich zwar vordergründig gegen eine weibliche Figur richtet, nicht weniger aber die patriarchale Ideologie von der moralischen Überlegenheit des männlichen Geschlechts destruiert. Folgerichtig motiviert der Text die Gewaltherrschaft seines Antihelden als einen Akt der Überkompensation persönlicher Defizite, wobei sich insbesondere die Kinderlosigkeit des Paares im Erzählgang niederschlägt. Die Gewalt des Tyrannen entpuppt sich denn auch als Ventil mangelnder sexueller Potenz und steigert die Frustration einer durchaus unterwerfungswilligen Frauengestalt, die sich angesichts der sexuellen und ökonomischen Untauglichkeit des einst von ihr begehrten Mannes zunehmend um die Erfüllung ihrer Vorstellung vom Frausein betrogen sieht. Gewalt ist zudem nicht gleichbedeutend mit Stärke, wodurch die eher hilflosen Aggressionen des Falätschers sich als (mittelbar) wirkungslos erweisen, zumal die sich Unterwerfende nur solange ihren Part zu spielen bereit ist, „bis das Glück, einen Mann zu besitzen, durch das Mißvergnügen, das er ihr bereitete, überwogen wurde […].“419 Somit scheitert der Gewaltherrscher sogar im Werbungsspiel einer namenlosen Heiratswilligen, die durch die bereitwillige Degradierung der eigenen Person zur bloßen Heirats- bzw. Reproduktionsware die denkbar geringsten Anforderungen an ihr Gegenüber stellt. Die Desillusionierung des paarungswilligen ‚Dirnleins‘ kündet in Anbetracht ihrer eingangs so aufbauenden Worte von der abschließenden Entzauberung eben jenes Speers, der schon auf dem Schlachtfeld mehr komödiantisches, denn phallisches Potenzial zeigte und nunmehr auch auf sexuellem Terrain zum Symbol der Untauglichkeit des Falätschers wird.
|| 418 HKKA 6, 133. 419 HKKA 6, 134.
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2.3.8 Illegitime Okkupationsakte: Die Pathologisierung des ‚Anderen‘ und männliches Erinnern als identitätsstiftendes Moment Mit dem Verlust seines „gute[n] Geist[es]“420 erfährt die „Narrheit“421 des Außenseiters einen „geregelten Bestand“422, so dass die Eskalierung von vormals gelegentlich auftretenden Narrheiten hin zu einer pathologischen Wahnhaftigkeit dem Text als Legitimation dient, um den Falätschers endgültig in eine psychische Grauzone auszuweisen. Der sich verfestigende Eindruck einer unberechenbaren Geistesverfassung wird auch deshalb in einen zunehmend pathologischen Bereich verwiesen, um endlich effektiv gegen einen Querulanten vorgehen zu können, dessen Aufstiegsphantasien mit dem geistig-moralischen Selbstbild einer privilegierten Männerwelt unvereinbar sind, der allerdings durch soziale Konventionen allein kaum aufzuhalten ist, so dass es zur handfesten Sanktionierung des Sonderlings eine Übertragung seiner sozialen Gesetzesverstöße in einen justiziablen Rahmen braucht. Um diese rechtlich belastbaren Fakten zu schaffen, lässt der Text seinen Delinquenten die verlassenen Mauern der Burg Manesse in Beschlag nehmen und ihn dort als einen selbst ernannten „Ritter Manesse von Manegg“423 sein Unwesen treiben. Denn wenngleich entfernt verwandt, taugt dieser Akt von Okkupation nicht als legitimes Fundament eines sozialen Aufstiegs, wodurch der Zugriff des Falätschers auf den weltlichen Besitz seiner Vorfahren eine zweifelsfrei rechtswidrige Inbesitznahme darstellt. Ungesühnt bleibt dieser Akt deshalb, weil das Manessische Geschlecht bereits vom nervösen Ritter Ital ökonomisch und moralisch zugrunde gerichtet wurde, so dass niemand mehr zur Verteidigung der Burg und ihrer ideellen Werte zugegen ist. Hinzu kommt, dass in Zeiten des Wandels, in denen Feudalherrschaft und Rittertum einen unaufhaltsamen Niedergang erleben, eine Burg nicht mehr der vorrangige Ort ist, an dem über politische Macht verhandelt wird. So hat der politische wie gesellschaftliche Machtdiskurs seinen zentralen Aushandlungsort verlagert und wird nicht länger in Ritterburgen, sondern zunehmend in den Stuben und Sälen des Bürgertums geprägt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Buz’ Inbesitznahme von Burg und Titel zunächst als ein neuerlicher Klamauk gewertet wird, von dem gar ein positiver Effekt für sein Umfeld ausgeht, indem der Narr als groteskes Zerrbild eines Burgherren eine ähnliche Funktion wie zuvor auf dem Schlachtfeld erfüllt,
|| 420 HKKA 6, 135. 421 HKKA 6, 135. 422 HKKA 6, 135. 423 HKKA 6, 135.
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nämlich als eine durch und durch „wunderliche Gestalt“424 seinem Umfeld auf bekannt antagonistische Weise zur Schärfung bzw. Reflexion des eigenen Selbstbildes dient. So empfinden die einen Mitleid angesichts der Narretei des Burgbesitzers, derweil andere ihr Selbstbild durch derbe Späße auf Kosten des Andersartigen bestätigen, während wieder andere gar eine „verborgene Wahrheit […] in aller Naivität […] sehen, [welche, S.V.] die Weisheit der andern nicht wahrzunehmen vermag“425 und „den Mann im Ottergewande als ein Sinnbild und Wahrzeichen der Nichtigkeit aller Dinge“426 in ihrer Mitte gewähren lassen. Zugleich jedoch deutet sich an, dass ernsthafte Grenzübertretungen unmittelbar bevorstehen, zumal der Falätscher unverkennbar sich anschickt, mitmachen zu wollen im sozialen Spiel und entsprechend dazu übergeht, sich mit Attributen sozialer, vor allem aber geschlechtlicher Natur zu schmücken, wenn er etwa das eine oder „andere rostige Waffenstück über seine Otterfelle hing und eine Hahnenfeder auf das Binsenhütlein steckte […].“427 Ob folglich als Abbild eines klassischen Narren,428 zur Belustigung einfacher Zeitgenossen oder aus bloßem Mitleid: Dass dem Narren bei all seinem Tun ein erhebliches Maß an sprichwörtlicher Narrenfreiheit zugestanden wird, liegt an der für die Gemeinschaft elementaren Bedeutung seiner Andersartigkeit, die im gleichen Maße, in dem sie ausgegrenzt wird, unabdingbar ist, um das Selbstverständnis der Übrigen zu definieren. Sein Außenseitertum ist demnach ein durchaus konstruktives Außenseitertum, da seine „närrische Extravaganz“429 zwar ne|| 424 HKKA 6, 136. 425 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 12. Zur Aussagekraft des Wahnsinns bzw. der ‚Wahnsinnigen‘ stellt Foucault weiterhin fest: „Seltsamerweise wurde in Europa jahrhundertelang das Wort des Wahnsinnigen entweder nicht vernommen oder, wenn es vernommen wurde, als Wahrspruch gehört. Entweder fiel es ins Nichts, indem es mit seinem Auftauchen sofort verworfen wurde; oder man entzifferte darin eine naive oder listige Vernunft, eine vernünftigere Vernunft als die der vernünftigen Leute.“ (S. 12) 426 HKKA 6, 136. 427 HKKA 6, 135. 428 Klassisch, weil der Außenseiter Buz dem gebildeten Bürgertum Momente der Selbstreflexion aufzwingt und entsprechend in den Stuben der Bürger nicht als bloßer Tor, sondern als Zerrbild einer tieferen Wahrheit hinter den Dingen durchaus willkommen ist. Die Narretei des Narren verweist folglich weit über die eigene Person hinaus: „Als Geschöpfe Gottes spielen sie ihre Rolle auf dem Theatrum mundi, in der man sie wohl belächeln oder bemitleiden kann, aber auch achten muß. In ihrem Defekt verweisen sie zugleich auf die Gebrechlichkeit des menschlichen Lebens, an der der Vernünftige auf seine Weise teil hat.“ Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 73. 429 Käch stellt hinsichtlich der von ihm untersuchten ‚Taugenichtse‘ fest: „Das wachsende liberale Bürgertum betrachtet ein Taugenichtsdasein nicht mehr als blosse, närrische Extravaganz, sondern beurteilt es, durch dessen Neigung sich abzusondern, als gemeinschaftszerset-
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gativ konnotiert ist, jedoch nicht unmittelbar gemeinschaftszersetzend wirkt,430 sondern sich im Gegenteil bereits mehrfach als gemeinschaftsstiftend erwiesen hat. Die stillschweigende Übereinkunft, das gelegentliche Störfeuer eines das Gesamtsystem kontrastierenden und somit legitimierenden Fremdkörpers zu tolerieren, steht und fällt mit dem Gebot der garantierten Unschädlichkeit desselben. So kann der Narr allein deshalb innerhalb dieser Grenzen unkorrigiert seinem Treiben nachgehen, weil es ihm als einem Ausgegrenzten schlicht an sozialem ‚Gewicht‘ mangelt, um als Urheber ernsthafter Komplikationen in Betracht zu kommen. Dieses gleichermaßen Schutz wie Isolation verheißende Reservat ist jedoch nicht vorbehaltlos und verliert vor allem seine Schutzfunktion in dem Moment, in dem die gesetzten Grenzen auf eine Weise verletzt werden, die nicht länger durch den identitäts- bzw. gemeinschaftsstiftenden Effekt der Narrenfigur zu legitimieren ist. Konzipiert als – bisweilen durchaus produktiver – Stachel im Fleische bzw. Geiste einer bürgerlichen Welt, addieren sich die zunehmend übergriffigen Anwandlungen des Falätschers allen selbsterkennenden Lesarten mancher Zeitgenossen zum Trotz zu einer kaum mehr zu ignorierenden Provokation, deren Beantwortung nurmehr eines triftigen Anlasses auf Erzählebene bedarf. Wie eine gänzlich unnötige Provozierung der eigenen Vernichtung aussehen kann, hat John Kabys gezeigt, der in seiner Hybris gleich mehrere bürgerliche Institutionen gegen sich aufbringt und dadurch einen umfänglichen textinternen Bereinigungsprozess auslöst. Diesem zweifelhaften Geschick steht Buz in nichts nach, wenn er statt eines Ehebruchs einen handfesten Kunstraub begeht und damit auf nicht minder verlässliche Weise das Startsignal zu einem gegen ihn gerichteten Restaurationsprozess gibt. Dass die Wahl des Diebesguts ausgerechnet auf die berühmte Manessische Liederhandschrift fällt, deren Bedeutung weit über ihren künstlerischen Wert hinausgeht, da sie die verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb einer ritterlichen Nachwelt (synchron) als auch hinsichtlich deren Ahnenreihe (diachron) bezeugt, macht aus einem einfachen Eigentumsdelikt ein symbolschweres Vergehen gegen die herrschende Ordnung. An dieser Chronik eines männlich-ritterlichen Selbstverständnisses vergeht sich mit dem Falätscher ein Wesen hetärisch-urweltlicher Herkunft, das jedoch kaum um die Aufdeckung seiner Missetat fürchten muss, „weil man den Narren für zu einfältig hielt, als daß er nach dem geistigen Schatze hätte trachten sollen.“431 Die Einfalt
|| zend und damit als untragbar.“ Rudolf Käch: Eichendorffs Taugenichts und Taugenichtsfiguren bei Gottfried Keller und Hermann Hesse. (Sprache und Dichtung. Forschungen zur deutschen Sprache, Literatur und Volkskunde 39) Bern 1988, S. 33. 430 Vgl. Käch: Taugenichtsfiguren, S. 33. 431 HKKA 6, 137.
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des Halbweltlers wird in vertrauter Manier erblich begründet, da die ‚Nachtseite‘ des Geistes offenkundig nichts von künstlerischem oder intellektuellem Wert hervorzubringen vermag, denn ohne „Verstand und Zusammenhang schrieb er mit elender Hand verschiedene Seiten aus und ergänzte sie mit Verszeilen eigener Erfindung, Verse von jenem schauerlichen Klang, der nur in der Geistesnacht ertönt und nicht nachgeahmt werden kann.“432 Diese ‚Geistesnacht‘ ist keine Nacht der Geister, sondern eine Nacht des Geistes und so erschafft der Falätscher in geistiger Umnachtung grausige Klangwelten, die ebenso wie seine Abstammung mit dem Malum des Unsagbaren belegt werden und jeglichen Eindruck eines ordnenden Geistes vermissen lassen. Die zusehends forcierte Pathologisierung des Falätschers bildet den diskursiven Unterbau für eine vollständige Ausweisung des Außenseiters in die hermetisch geschlossene Welt des Wahnsinns. In eine dem (Text-)Verstand unzugängliche Welt, die so wenig verstanden werden kann, wie sie verstanden werden darf und dennoch keiner weiteren Erläuterung bedarf, um in ihrer Konsequenz verstanden zu werden. So zwingt der ererbte Wahnsinn den Narren sukzessive unter die Herrschaft des bloßen Fleisches und konterkariert auf diese Weise jede Idee von (männlicher) Subjektivation.433 Weil es dieser Logik nach „ohne Subjektivation kein Subjekt“434 gibt, wird der ohnehin umfangreich stigmatisierte Außenseiter endgültig zu einer von Triebhaftigkeit und bloßer Stofflichkeit dominierten Kreatur diskreditiert. Und wo kein Subjekt (mehr) ist, gelten auch mit Blick auf die Wiederherstellung der Ordnung andere, ‚robustere‘ Maßstäbe, so dass die dem Diskurs der Aufklärung implizite „Äquivalenz von Wahnsinn und Tod“435 an dieser Stelle relativierend wirkt, nämlich regelrecht dazu einlädt, den geistig-moralischen ‚Tod‘ des Falätschers auf physischer Ebene nachzuvollziehen. Hierzu führt der Narr die Ideale seiner Umwelt in Gestalt der Liederhandschrift sinnbildlich hinab in einen Sumpf aus Wahnsinn, Disharmonie und bloßer Materialität. Der Weg des Kulturschatzes hinab ins Tierische – ins „Malepartus“436 – und die sich an seinem Studium offenbarenden Defizite des Falätschers belegen die regressiven Tendenzen eines Außenseiters, der sich in einer Ordnung zu etablieren hofft, die von ihren Repräsentanten im Gegenteil beständige Pro|| 432 HKKA 6, 137. 433 Butler umschreibt mit dem Begriff der ‚Subjektivation‘ „den Prozess der Subjektwerdung. Dieser Prozess ist gekennzeichnet durch die gleichzeitige Unterwerfung unter gesellschaftliche und diskursive Normen einerseits und den Glauben an individuelle Autonomie andererseits.“ Aus: Villa: Judith Butler, S. 174. 434 Villa: Judith Butler, S. 174. 435 Thomé: Autonomes Ich, S. 77. 436 HKKA 6, 138.
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gression erwartet. Es geht kurz gesagt ums ‚Werden‘, wo der Falätscher nur ‚ist‘. Folgerichtig zieht die zunehmende Vehemenz des Falätschers, Anerkennung ausgerechnet innerhalb eines ihn isolierenden Systems erlangen zu wollen, eine Eskalierung der eigenen Triebnatur nach sich, „denn er schien seine Natur geändert zu haben und vor keiner Bedrohung mehr zurückzuschrecken“437. Konnten seine Einlagen als Feldherr, Familienoberhaupt oder Rittersmann dank ihrer unfreiwilligen Komik getrost als harmloses Randphänomen gelitten werden, markiert der Beginn körperlicher Übergriffe auf Systemrepräsentanten eine eklatante Grenzüberschreitung. Die Gewalttätigkeit des Falätschers wird als Missachtung eines männlichen Gewaltmonopols gewertet, von dem der Sonderling ausdrücklich ausgeschlossen ist, so dass nunmehr die nötigen Voraussetzungen gegeben sind, um auf Darstellungsebene kurativ gegen den Fremdkörper vorgehen zu können.
2.3.9 Eine ‚unechte‘ Existenz: Von der Anomalisierung und Vernichtung normfremder Männlichkeit Ein letztes Mal eint das Zwitterwesen seine Umwelt, wenn es zum Auslöser einer kreuzzugsähnlichen Prozession wird, die sich vordergründig der Wiederherstellung von (Eigentums-)Recht und Ordnung verschrieben hat, auf der Metaebene des Textes hingegen der Verteidigung bzw. Restauration eines in seiner Autorität angegriffenen Systems männlicher Prädomination verpflichtet ist. Denn als besonders ansteckend bzw. gemeinschaftsstiftend erweist sich die Idee der Begrenzung einer abweichenden Existenz auf das Jungmännertum am Orte, welches sich „aufgeregt und vom Weine begeistert“438 kurz entschlossen auf den Weg macht, um dem Narren „eine lustige Fehde zu bereiten durch Belagerung und Erstürmung des Schlosses und Einholung des Buches.“439 Das wiederzuerlangende Buch selbst gerät angesichts der sich entfaltenden Eigendynamik des Jungmännerumzugs in den Hintergrund, denn angelockt von Fackelschein und Trommelklang wächst der Umzug schnell auf das Doppelte an, so dass schlussendlich „ein Haufe von vierzig bis fünfzig raschen Gesellen“440 durch die Nacht zieht – freilich „nicht ohne ein Faß Wein auf einem Karren mit sich zu führen“441.
|| 437 HKKA 6, 138. 438 HKKA 6, 138. 439 HKKA 6, 138. 440 HKKA 6, 138. 441 HKKA 6, 120f.
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Das junge Blut der alterstypisch ‚raschen‘ Gesellen vermengt sich mit dem Alkohol zu einem Gemisch, das nicht selten von äußerst destruktiver Qualität für die Autonomie des Mannes ist,442 im Folgenden jedoch der Erzählung als Erklärung, gar Entschuldigung für die Vernichtung des Falätschers dient, so dass dessen Tod für die Beteiligten ohne Folgen bleibt. Die „Mummerei“443 der mit Tierfellen kostümierten Jünglinge erscheint angesichts des im Zeichen von Animalität ausgegrenzten Bücherdiebes als eine zynische Referenz des Textes auf die festgeschriebene Andersartigkeit seines Antihelden, der seine psychische Labilität zudem wie auf Abruf dokumentiert, wenn er angesichts eines als Bären verkleideten Mannes jegliche Verstandesfertigkeit verliert und sich überzeugt zeigt, „die ganze Hölle sei vor der Thüre.“444 Die Aufforderung zur Kapitulation erscheint mit Blick auf den seelischen Schockzustand des Sonderlings als eine eher rhetorische Angelegenheit, zumal das eigentliche Ziel des Umzugs auf Eliminierung statt Resozialisierung lautet. Der Gegensatz zwischen dem vor der Burg zusammengerotteten Männerkörper (‚Korps‘) und der dürren Gestalt des Falätschers könnte eindeutiger nicht sein und findet seine bildhafte Ausgestaltung, wenn Buz als diminuiertes „Lichtlein“445, das „flüchtig“446 umherirrt, einer Armada von lodernden Fackeln gegenüber steht, folglich als buchstäbliches Irrlicht eines versiegenden Verstandes zum Beleg des eigenen Wahnsinns wird. Eine in männlichem Übermut geworfene Fackel – vom Text umgehend relativiert, da „mehr um […] Kraft zu erproben, als um Schaden anzurichten“447 in Richtung Burg geschleudert – markiert den Auftakt der folgenden ‚Läuterung‘, indem sie zielsicher „das warme Heulager des Narren“448 entzündet, um durch die symbolische Vernichtung dieses Ortes von Schutz und Regeneration einen unumkehrbaren Vernichtungsprozess in Gang zu setzen. Was der Text hier in Flammen aufgehen lässt, ist weit mehr als bloß ein persönlicher Rückzugsraum – es ist ein Sinnbild für die Ankunft des Wilden im Herzen der Zivilisation. Denn wo dereinst das Rittertum erblühte, liegt jetzt ein Otterjäger mit seinen Fellen auf getrocknetem Gras und verhöhnt durch seine Anwesenheit das ideelle Erbe der früheren Kulturhochburg Manegg. So hat sich || 442 Die negativen Auswirkungen des Alkohols auf die eigene Verständigkeit und deren weitreichende Folgen erfahren u. a. auch der Hofmarschall der Geisterseher-Novelle oder der Forstmeister in Dietegen. 443 HKKA 6, 138. 444 HKKA 6, 139. 445 HKKA 6, 139. 446 HKKA 6, 139. 447 HKKA 6, 139. 448 HKKA 6, 139.
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mit dem Treiben des selbst ernannten Schlossherren unter semiotischen Vorzeichen eine Pervertierung der Burg Manegg vollzogen, die einst dem Schutze und der Schöpfung kultureller Werte diente, nun aber selbst zur (Brut-)Stätte der Gefahr geworden ist. Das Heulager des Falätschers ist demnach Symbol eines verhängnisvollen Transfers weiblich konnotierter Anti-Kultur in das innere einer illegal in Beschlag genommenen männlichen (Trutz-)Burg. In sinnbildlicher Weise greift die Welt der Urmütter in der Figur des Narren nach dem einstigen Bollwerk der Väterlinie und treibt den vormals wehrhaften Mauern jede Schutzfunktion aus, indem sie die Burgfesten von einem Wahrzeichen der Ordnung zu einem Ort unberechenbarer Gefahr umcodiert. Die Vernichtung des Falätschers erfolgt angesichts der beschriebenen Grenzverletzungen unter der Überschrift eines korrigierenden Eingriffs, wobei der Text erkennbar darum bemüht ist, nicht Gewalt oder Sanktionierung in den Mittelpunkt der Darstellung zu stellen, sondern die Losung einer beinahe friedvollen ‚Heimführung‘ eines unglücklich Verirrten. Befeuert wird die Verklärung dieses ‚Gnadenakts‘ durch die konkreten Todesumstände des Halbweltlers, denn dieser stirbt formal nicht durch Feuer oder Fremdeinwirkung, sondern aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit – nämlich „von Schreck oder Schwäche entseelt“ 449. Unter „erbärmlichen Geschrei zwischen dem Feuer und dem Bären“450 umherirrend, bezeugt der Tod des Buchdiebs nicht weniger als die Auslöschung eines je nach Perspektive überforderten oder auch uneinsichtigen Verstandes. Dass der Sonderling im Sterben noch „das Buch bewußtlos mit sich schleppte“451, erscheint wie ein finaler Kniefall des Außenseiters vor der herrschenden Ordnung, denn aller geistigen Umnachtung zum Trotz erahnt der Außenseiter den ideellen Wert der geschriebenen Zeilen und belegt durch die instinktive Umklammerung derselben ein letztes Mal sein lebenslanges Streben nach Integration und Akzeptanz. Zynischerweise bedeutet die Anerkennung einer Ordnung, die die eigene Existenz permanent zur Anomalie erklärt, im Umkehrschluss eine Autorisierung der eigenen Vernichtung. Diese Tilgungslogik nimmt Text und Personal von jeglicher Diskussion um Schuld und Verantwortlichkeit aus, so dass durch die Negation jeglicher Fremdeinwirkung die moralische Last der Todesumstände von der Jungmännergruppe genommen und stattdessen dem untauglichen Männlichkeitsbild selbst aufgebürdet wird. Die unzähligen Verstöße des Falätschers gegen ungeschriebene und schließlich auch geschriebene Gesetze dominieren Wahrnehmung und Bewertung des nächtlichen Geschehens, woraufhin man wie selbst-
|| 449 HKKA 6, 140. 450 HKKA 6, 139. 451 HKKA 6, 140.
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verständlich zu dem Schluss gelangt, dass „die Burg durch Schuld eines Narren abgebrannt“452 sei. Dem Schuldverständnis des Ich-Erzählers, der mit seinem Urteil auf das „Laster“453 abzielt, sein zu wollen, was man nicht ist, schließt sich die übergeordnete Erzählinstanz des Gesamtzyklus zwar an, benennt jedoch zugleich die pathologische Dimension des dargestellten Niedergangs, die maßgeblich von einer „Krankheit“454 zeugt. Im Zuge dieser Pathologisierung wird die Tötung eines sozialen Außenseiters zu einem nachgerade humanitären Akt verklärt, durch den eine fehlgeleitete Existenz zu ihrem Ursprung zurückgeführt wird: Man legte den Toten auf grünes Moos unter den Bäumen; friedlich und beruhigt lag er da, erlöst von der Qual, sein zu wollen, was man nicht ist, und es schlummerte mit ihm ein unechtes Leben, das über hundert Jahre im verborgenen gewuchert hatte, endlich ein.455
Der eigentliche Adressat dieser einen Erlösungstod inszenierenden Befriedungszeremonie ist nicht der Verstorbene, sondern der Männlichkeitsdiskurs der Erzählung selbst, der dem Ideal männlich-väterlicher Gesetzlichkeit verpflichtet ist und mit der Vernichtung des Falätschers zugleich ein irritiertes Figurenensemble erlöst. Die raschen Gesellen fungieren in diesem Spiel als schlagkräftige Repräsentanz einer irritierten Ordnung, um derentwillen ein sozial Geächteter, dessen Exzentrik nicht zuletzt der Zurückweisung jeglicher Integrationsbemühungen entspringt – der also nicht per se ‚abnorm‘ ist, sondern dieses erst als Projektionsfläche eines entsprechenden Diskurses wird –, der Befriedung eines übergeordneten Systems geopfert wird. So ist dieses ‚unechte‘ Leben – die ‚Wucherung‘, die es auszumerzen gilt – nicht biologisches Schicksal,456 sondern Ergebnis einer in ihrer Prozesshaftigkeit rekonstruierbaren sozialen Schmähkampagne. Frieden, Ruhe und Erlösung finden nämlich allein die Umwelt des Falätschers und der Wertekanon eines Textes, der seinen Antihelden nicht einfach sterben lässt, sondern ihn des Nachts zu einem von Zufälligkeit und Chaos
|| 452 HKKA 6, 129. 453 HKKA 6, 129. 454 HKKA 6, 142. 455 HKKA 6, 140. 456 Sandberg Russels These, der Narr versuche sich „an Identitäten, die sich für ihn – mangels einer angeborenen Intelligenz – nicht realisieren lassen“, reduziert die komplexen Vorgänge sozialer Ausgrenzung auf biologische Konditionen. Aus: Kristina Sandberg Russell: Das Problem der Identität in Gottfried Kellers Prosawerk. (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur 403) Bern 1981, S. 115.
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bestimmten Todeszeitpunkt abberuft,457 um ihn in Anlehnung an seine abseitige Entstehungsgeschichte an die Welt der Nachtfrauen zurückzugeben. Die Tötung des Falätschers wird somit als Rückabwicklung eines Irrtums inszeniert, die weder Schuld noch Verantwortung für das Geschehene kennt und am Ende von einer trinkenden Männerrunde flankiert wird, die dem Schauspiel bezeichnenderweise „nicht sehr zerknirscht“458 beiwohnt. Diese Männer sind Zeugen wie Vollstrecker eines patriarchalen Reinigungsaktes, der einen zwar nicht durch Geburt, wohl aber von Geburt an Andersartigen aus einem exklusiven System männlicher Vorherrschaft entfernt. Die Tragweite dieses systeminternen Reinigungsprozesses ist mit dem Tod des Antagonisten allein jedoch nicht hinlänglich beschrieben, da in der Gestalt des Halbweltlers weiblich konnotierte Einflüsse zeichenhaft Eingang gefunden haben in männliche Domänen. Um auch diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird nicht nur der Falätscher selbst vernichtet, sondern auch die Burg Manegg bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Dahinter steht der Gedanke einer prophylaktischen Beseitigung von als kontaminiert geltendem Systeminventar, das einst von herausragender faktischer wie zeichenhafter Bedeutung war, nun aber zum Sinnbild des Niedergangs geworden ist. Unter diesen Vorzeichen wird das zum ‚Malepartus‘ pervertierte Gemäuer vom Feuer geläutert, um zumindest das erinnerungswürdige Erbe vergangener Tage zu retten. Mit der Vernichtung des Falätschers und seiner weltlichen wie geistigen Spuren wird zudem eine teils unscharf gewordene Grenzziehung zwischen Kultur und Natur restauriert, woran die Natur selbst mitwirkt, indem sie die Zerstörung der in jedweder Hinsicht gefallenen Festung „mit einem starken Föhnwind“459 unterstützt, zugleich jedoch den kulturellen Wert, für den jene Burg einst stand, gebührend honoriert – denn einige „alte Bäume, Zeugen ihrer besseren Tage, brannten mit und legten der verglühenden Nachbarin die brennenden Kronen zu Füßen.“460 Der Text inszeniert auf diese Weise einen ideologischen Tauschhandel, durch den sich ‚Vater Staat‘ eines Fremdkörpers entledigt,461 während
|| 457 Zur temporalen Situierung des Phänomens ‚Tod in der Erzählliteratur des Realismus‘ stellt Wünsch fest: „Akte von Sterben und Untergang werden gern mit Abend und Nacht bzw. mit Herbst und Winter korreliert.“ Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘, S. 242. 458 HKKA 6, 140. 459 HKKA 6, 139. 460 HKKA 6, 140. 461 Was Böschenstein über Das Verlorene Lachen bzw. zu den Seldwyler Novellen insgesamt anmerkt, gilt auch für die Erzählung des Narren auf Manegg: „Es fällt hier wie in den übrigen Novellen auf, wie jenes Grundgefühl von ‚Recht‘ [...] immer durch ein väterliches Prinzip gestiftet zu sein scheint [...].“ Renate Böschenstein: Kellers Glück. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. Zürich 1990, S. 163–184, S. 177.
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‚Mutter Natur‘ die Heimkehr eines verlorenen Kindes bestätigt. Bildlichkeit und Kommentierung der Todesszene lassen die Vernichtung des Falätschers gar als eine zynische Variante des Heimkehrermotivs erscheinen, zumal die Darstellung des Sonderlings unverkennbar „regressive Phantasien“462 verrät und in einen Akt von Euthanasie mündet, der das fremdverschuldete Ende eines ‚unechten‘ Lebens zu einer gnadenvollen Erlösung stilisiert. Die ‚Heimkehr‘ zu Mutter Natur bleibt dennoch eine unfreiwillige und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Narr in einem romantisierten Gewaltakt vernichtet wird. Im gleichen Moment bringt das Chaos rund um die Eliminierung des „Raubtier[s]“463 wie zur Kompensation einer vernichteten Existenz ein Vorzeigeexemplar an Mannhaftigkeit hervor. Ein junger Mann nämlich, dessen Geschlecht namentlich in der Liederchronik Erwähnung findet, rettet die Handschrift und den ohnmächtigen Narren auf selbstlose Weise aus den Flammen. Buch und Halbweltler sind nicht zufällig im Tode vereint, denn ein Ende des Falätschers in den Flammen würde den ‚harmonischen‘ Ausgang der Tilgungsaktion bzw. die Umdeutung derselben zum Gnadenakt unmöglich machen. So rettet das Buch den Narren (vor den Flammen), indem dieser das Buch rettet. Gemeinsam bewahren sie das umstehende ‚Kreuzzüglerkollektiv‘ vor möglichen negativen Folgen des nächtlichen Ausflugs, da ein vernichtetes Liederbuch das Unterfangen der jungen Männer die Legitimation gekostet und ein verbrannter Narr den Kreuzzug um seine moralische Exkulpation gebracht hätte. So aber umklammert der Narr selbst im Tode noch krampfhaft die gestohlene Liederhandschrift und erinnert ganz im Sinne der Textautorität im Moment seiner Vernichtung abermals an die eigene ‚Schuld‘. Doch wenngleich die rechtliche und moralische Ordnung erfolgreich wiederhergestellt werden kann – und auch die Liederhandschrift trotz Feuersbrunst und Totschlag „voll Freuden“464 an ihren rechtmäßigen Besitzer übergeben wird −, hat die Episode um den Buchraub gezeigt, dass die geschilderten Turbulenzen nicht allein auf den Falätscher zurückzuführen sind. Denn auch der rechtmäßige Besitzer der Chronik, der nervöse Ital Manesse, zählt offenkundig zu den schwächeren Gliedern der herrschenden Ordnung, zumal es ihm und seinem wirtschaftlichen Versagen anzulasten ist, dass Burg und Buch überhaupt in fremde Hände gelangen konnten. Um den Glanz und die Verdienste des Manessischen Geschlechts in Ehren zu halten, wird das Liederbuch als
|| 462 Wysling: Das ‚Fabelhafte‘ bei Gottfried Keller, S. 154. Der Narr ist anders als etwa Pankraz hier nicht Agens besagter regressiver Phantasien, sondern Adressat. An ihm vollzieht die Textautorität ihre Ideen von der erlösenden Heimkehr in den Mutterschoß. 463 HKKA 6, 135. 464 HKKA 6, 140.
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dessen zeichenhaftes Erbe von Ital Manesse an den ‚Helden‘ der vergangenen Nacht übergeben. Die Übergabe des Familienerbes, die zugleich eine Rettung desselben ist, veranschaulicht, dass männliche Individuen, gar ganze Geschlechter, stets nur temporär der Aufrechterhaltung und Legitimation von Herrschaftsgewalt dienlich sind und mit Ankunft eines tauglicheren Repräsentanten ihren Platz an diesen abzutreten haben. Die bis in den Tod erfolglosen Integrationsbemühungen des Falätschers erscheinen damit ebenso wie der psychosoziale Niedergang des Ritters Ital als Reflex auf die Bürden eines Mannseins, das seine Stellvertreter permanent auf die Verifikation und Affirmation geltender Normen einschwört. Dieses Mannsein erweist sich als ein gleichermaßen dependentes wie autonomes Ordnungsprinzip, das zwar zwingend auf die Funktionstüchtigkeit seiner einzelnen Teile angewiesen ist, sich von einem solchen im Falle einer Störung jedoch kurzfristig entkoppeln kann. Die Auslöschung des Falätschers ist schließlich nicht zuletzt von dialektischer Qualität, da die Eliminierung des Andersartigen einerseits Ausdruck einer rigiden Politik gegenüber jedweder Anomie ist, während zugleich die öffentliche Inszenierung der Tilgung dazu dient, die fatalen Folgen einer solchen Normabweichung präsent zu halten. Auf diese Weise wird zwar erfolgreich vernichtet, was stört, andererseits jedoch führen Umstände und Rigorosität der Tilgung dazu, dass die Störung – zu didaktischen Zwecken – weit über den Moment hinaus wirkt, um allen potenziellen Nacheiferern zu signalisieren, dass ein „Ausgleich zwischen dem Ich-Sein und der Gemeinschaft“465 nicht garantiert ist – zumal dann nicht, wenn dieses ‚Ich‘ einen abweichenden Identitätsentwurf darstellt. Das Leitmotiv der Novelle ist entsprechend dahingehend zu modifizieren, dass hier nicht etwa einer tot auf Moos gebettet liegt, der den Preis dafür zahlt, sein zu wollen, was er nicht ist, sondern vielmehr einer, der mit dem Leben für seine Unnachgiebigkeit zahlt, sein zu wollen, was er nicht sein darf. Das Schicksal des Falätschers eignet sich somit in besonderer Weise, um eines der zentralen Postulate des literarischen Realismus hervorzuheben: dass nämlich mit Blick auf einen umfänglich stilisierten Realitätsbegriff nicht (dargestellt) sein darf, was diesem zuwiderläuft. Da ‚Unschönes‘ somit allenfalls angedeutet, nicht aber expliziert werden kann, bezeugt die Vernichtung des Falätschers nicht bloß einen innerdiegetischen Ordnungsakt, sondern zudem ein treffliches Beispiel für die realismustypische Ausgrenzung unliebsamer Realität(en).
|| 465 Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 578. Martini nennt Kellers ‚Demokratismus‘ einen „Grundzug seiner Menschengestaltung und seiner Deutung des Universums“, der stets den Ausgleich zwischen Individuum und Kollektiv sucht, indem beide „sich gegenseitig korrigieren, bilden und zum Rechten klären“. (S. 578)
3 Männervergleich und Männerselektion 3.1 Die Geisterseher: Wahlpflicht und Pflichtwahl Wenngleich wie alle Erzählungen des Sinngedichts der Frage der richtigen Partnerwahl im Zeichen des Logauschen Epigramms verpflichtet,1 stellen Die Geisterseher2 eine Zäsur im Kontext des übergeordneten Novellenzyklus dar, als dass auf die vorangegangenen „drei Frauen-Novellen […] [nunmehr, S.V.] drei MännerNovellen“3 folgen, von denen insbesondere die Geisterseher-Novelle – zumindest vordergründig – alternative Subjekt-Objekt-Konstellationen durchspielt. Unter der Schirmherrschaft einer selbstbewussten Frauenfigur nämlich wird statt der obligatorischen Damenwahl ein Männervergleich inszeniert, dessen Akteure als Probanden einer sorgsam arrangierten ‚Versuchsanordnung‘ einbestellt werden, um sich im kompetitiven Vergleich der „Manneswahl einer übermütigen Jungfrau“4 zu stellen. Erzählt wird je nach Perspektive die Geschichte von „zwei jungen Männern, guter Herkunft, die in Freundschaft und Rivalität die gleiche Frau lieben“5 − oder auch die einer „jungen Frau, die die beiden Bewerber um ihre Gunst zum Gegenstand eines Experiments oder einer Prüfung macht“6, denn sie „muß zwischen zwei Männern wählen und kann sich nicht entscheiden“7. Dabei ist die Protagonistin „erstmals eine, die sich die Wahl leisten kann“8 und ihrer „Unentschlossenheit zwischen den beiden verschiedenen Männern“9 schlussendlich ein Ende setzt, indem sie „ihre beiden Verehrer einer von ihr arrangierten Spukgeschichte aus[setzt]“10. || 1 Literarisches Leitmotiv des Sinngedichts ist ein Sinnspruch des deutschen Barockdichters Friedrich von Logau (1605–1655): „Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? – Küss eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen.“ Für eine weiterführende Analyse der Rezeption des Logauschen Epigramms im Sinngedicht vgl. Anneliese Kuchinke-Bach: Gottfried Kellers Sinngedicht – Logaus Sinnspruch, beim Wort genommen. In: Euphorion 86 (1992), S. 39–64. 2 Zitiert nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe, Bd. 7: Das Sinngedicht. Sieben Legenden. Hg. von Walter Morgenthaler, Ursula Amrein, Thomas Binder, Peter Villwock. Basel 2000. Im Folgenden angegeben als HKKA plus Bandangabe und Seitenzahl. 3 Neumann: Gottfried Keller, S. 251. 4 HKKA 7, 207. 5 Kaiser: Gottfried Keller, S. 530. 6 Kittstein: Gottfried Keller, S. 174. 7 Neumann: Gottfried Keller, S. 252. 8 Schilling: Kellers Prosa, S. 206. 9 Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 204. 10 Selbmann: Gottfried Keller, S. 167. Die Originalversion dieses Kapitels wurde korrigiert. In einigen Fußnoten waren Jahreszahlen und Seitenangaben inkorrekt. Auf S. 212 gab es einen Rechtschreibfehler in der Zwischenüberschrift. Ein Erratum ist verfügbar unter https://doi.org/10.1515/9783110630992-010. https://doi.org/10.1515/9783110630992-003
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Die vorangehenden Zitate mögen die stoffliche Sonderstellung einer Erzählung bezeugen, die eine „romantisch-unschickliche, aber eben auch poetische Doppelliebe“11 entwirft, deren gebotene Auflösung nicht Sache zweier männlicher Kontrahenten ist, sondern nach Art einer ‚Qualitätskontrolle‘ von einem jungen Mädchen übernommen wird. Eine solche (verschieden-)geschlechtliche Dreierkonstellation unter weiblicher Vorherrschaft konterkariert maßgeblich die ‚natürliche‘ – weil zur Naturwahrheit verklärten – Subjekt-Objekt-Logik des bürgerlichen Geschlechterdiskurses, da hier nicht wie üblich das weibliche Figurenpersonal einer „Fleischbeschauung“12 unterzogen wird, sondern stattdessen männliche Akteure in ihrer (literarischen) Repräsentation als Männerbilder reflektiert werden. Für eine Analyse literarischer Inszenierung und Kommentierung von Männlichkeit(en) verspricht die Geisterseher-Novelle entsprechend vielfältige Ansatzpunkte, zumal im Zuge der Aushandlung bzw. Bestimmung des möglichen Grades von weiblicher Autonomie innerhalb einer patriarchal organisierten Erzählwelt unweigerlich Macht- und Ordnungsstrategien männlicher Vorherrschaft auf den Plan treten. Von zentraler Bedeutung ist somit die Dekonstruktion des auf Erzählebene stets betonten Autonomiestatus der Hildeburg-Figur, um auf diese Weise die Stilisierung der unabhängigen ‚Wahlfrau‘ dahingehend zu hinterfragen, ob im bürgerlichen Diskurs der vorliegenden Novelle weibliche Autonomie überhaupt denkbar ist, oder ob im Gegenteil Darstellung und Idee weiblicher Selbstbestimmung in letzter Konsequenz doch wiederum der Stabilisierung männlicher Vorherrschaft dienen. Hervorzuheben ist außerdem die besondere Erzählsituation der GeisterseherNovelle, die sich nicht als auktorial vermittelt erweist, sondern einen Ich-Erzähler in das Geschehen installiert, der als gealtertes Ego einer der beiden männlichen Hauptdarsteller Rückschau auf das Erlebte hält. Wenn dieser in autobiographischem Duktus sich folglich selbst ‚erzählt‘, zeigt sich ein von persönlichen Verstrickungen geprägtes Erzählverhalten, das zwar bemüht ist, angesichts seiner retrospektiven Ausrichtung eine Perspektive von räumlicher wie zeitlicher Distanz einzunehmen, dennoch aber nicht zu unterschätzende Verzerrungsfaktoren in die Textvermittlung einfließen lässt.13 Zugleich eröffnet die autobiogra|| 11 Neumann: Gottfried Keller, S. 253. 12 Adolf Muschg: Gottfried Keller. München 1977, S. 84. Muschg identifiziert das didaktisch verklärte Kussexperiment Reinharts bzw. das Brautschaumotiv des Erzählbandes als eine „Art von Fleischbeschauung“ (S. 84), die der „Prüfung einer Auswahlsendung von Frauen-Ware“ (S. 84) dient. 13 Vgl. Antje Pedde: ‚Große Dichtung redet von der Frau oft nicht anders als der Biertisch‘? Untersuchung der Wechselbeziehung von Narration und Geschlechterdiskurs in Gottfried Kellers „Sinngedicht“ und „Eugenia“-Legende. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften.
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phisch gefärbte Sichtweise des Ich-Erzählers, dessen Perspektivierung des Geschehens maßgeblich von der eigenen Sicht auf Sexualität und Geschlecht zeugt, der Analyse des Männlichkeitsdiskurses eine zusätzliche Dimension, wenn – wie in vorliegender Untersuchung – davon ausgegangen wird, dass ein Text, zumal wenn dieser autobiographisch vermittelt ist, sich aufgrund seines diskursiven Eigenlebens der alleinigen Kontrolle der Erzählautorität entzieht und teils unintendierte, teils gar widersprüchliche Bedeutungspotenziale aufweist.
3.1.1 Pferde – Fechten – Kant: Von Körper- und Verstandespraxis Besagter Ich-Erzähler, von der jungen Hildeburg zu ihrem ‚Marschall‘ ernannt, präsentiert sich seinem Selbstbild und Kosenamen getreu als vorrangig der Körperpraxis verpflichtet, insofern er „[n]ichts [ganz] verstand […] als die körperlichen Uebungen, Fechten, Reiten und Trinken, letzteres nicht im Uebermaß, aber doch genug, um zuweilen empfindsam zu werden und die moralischen Leiden der Zeit in erhöhtem Maße zu fühlen.“14 Rituale körperbezogener Natur wie der Vergleich mit Fechtkameraden oder der Nachweis der eigenen Trinkfestigkeit bilden augenscheinlich die Vergemeinschaftungsgrundlage eines studentischen Männerkollektivs,15 das sich als identitätsbildend für den Ich-Erzähler darstellt. Doch wo derart obsessiv Leiblichkeit propagiert wird, lässt der Text den Geist im Zweifel zurücktreten und den Marschall eingestehen, dass er eigentlich zum Studium der Jurisprudenz angehalten sei, hierfür aber nicht sonderlich viel Muße aufzubringen weiß, „da [er, S.V.] einen Anführer unter den Rauf- und Zechbrüdern vorstellte und sonst allerlei Verworrenes zu treiben hatte.“16 Die intellektuelle Auseinandersetzung dieses jungen Mannes mit dem Zeitgeschehen stellt sich
|| Reihe Literaturwissenschaft 682) Würzburg 2009, S. 242. Zum ‚Eigenleben‘ des Erzählten merkt Pedde an: „Der Erzähler betrachtet sich selbst und die anderen agierenden Figuren durch den zeitlichen und räumlichen Abstand aus einer anderen Perspektive heraus. Jedoch lässt die dem Novellenzyklus übergeordnete Erzählinstanz den Onkel mehr erzählen als diesem bewusst und womöglich auch lieb ist.“ (S. 243) 14 HKKA 7, 178f. 15 Die Regularien studentischer Fecht- und Trinkrituale wurden im 19. Jahrhundert sogar schriftlich fixiert und „glichen ausgeklügelten Gesetzescodices“ (S. 122). Aus: Lynn Blattmann: „Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören ...“ Schweizerische Studentenverbindungen als Männerbünde 1870–1914. In: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. (Geschichte und Geschlechter 14) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 119–135. 16 HKKA 7, 178.
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entsprechend verworren dar: Es wird gefühlt, nicht analysiert, so dass angesichts der politischen Unruhen um das Jahr 1813 nicht der Verstand Orientierung bietet,17 sondern allein die Flucht in vertraute Körperrituale, die den Studenten nervliche „Erleichterung in aufgespannten Kraftgesinnungen und verzweifelt heroischem Dasein“18 finden lassen. Entsprechend hat der junge Fecht- und Reitersmann auch nur vage Vorstellungen vom geistesgeschichtlichen Hintergrund seiner Gegenwart, woraufhin er die Wirrungen seines jugendlichen Seelenlebens als ein stetes Pendeln zwischen „halbkatholische[m] Romanzentum“19 und „grübelnde[r] Geisteskälte“20 zu fassen versucht. Die weltanschaulichen Konsequenzen jener anzitierten Geisteshaltungen sind ihm nur in groben Zügen vertraut, so dass die von ihm angeführten Begrifflichkeiten lediglich einem schlagwortartigen Beschreibungsversuch der eigenen Gefühlswelt dienen, ohne freilich „die entsprechenden Kenntnisse zu pflegen, die mit solchen Richtungen damals verbunden wurden.“21 Die daraus resultierende Selbstverortung als ein „aufgeklärter Mystiker“22 oder „gläubiger Freigeist“23 entspringt unverkennbar dem Bedürfnis, das zeitgenössische Ideal eines aufgeklärten bürgerlichen Geistes mit dem persönlichen Hang zum Mystizismus in Einklang bringen zu wollen, bestätigt den Urheber dieser widersinnigen Selbstauskunft aber lediglich ein weiteres Mal als einen Dilettanten in denkgeschichtlichen Dingen. Die Vorliebe des jungen Mannes „für das Unerklärliche und Uebersinnliche, das [dieser, S.V.] fortwährend in allen Dingen herbeizog“24, vervollständigt das Charakterbild eines impulsiv-abergläubischen Fechtfreundes und forciert anbei die gegensätzlichen Pole eines das Textgeschehen erwartbar bestimmenden, geistesgeschichtlich akzentuierten Konflikts von Mystizismus vs. Aufklärung.
|| 17 Den historischen Hintergrund bildet die sog. ‚Mediationszeit‘ von 1803–1813, in der die Schweiz im Zuge des Übergangs in eine föderalistische Eidgenossenschaft durch französische Vermittlung (médiation) quasi den Status eines Vasallenstaats innehatte. Zu den konkreten Folgen der sog. ‚Mediationsakte‘ vgl. Gabriele B. Clemens: Napoleonische Transformationen der Nachbarstaaten. Die rheinischen Départements und die Schweiz. In: Napoleonische Expansionspolitik. Okkupation oder Integration? Hg. von Guido Braun, Gabriele B. Clemens, Lutz Klinkhammer und Alexander Koller. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 127) Berlin/Boston 2013, S. 63–82, S. 80. 18 HKKA 7, 178. 19 HKKA 7, 178. 20 HKKA 7, 178. 21 HKKA 7, 178. 22 HKKA 7, 178. 23 HKKA 7, 178. 24 HKKA 7, 179.
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Seinen Gegenpart findet der Sensualist in einem anderen Studenten der Jurisprudenz, der indes „weder focht noch ritt, noch viel trank“25 und sich „immer ruhig, meistens fleißig“26 zeigt. Konstitutiv für diesen Charakter, der „schon von seinem Vater her ein geübter Kantianer [war] und […], was darüber hinausging, sich nicht anfechten [ließ]“27, ist eine durchweg aufgeklärte Weltsicht. Die Anziehungskraft, die diese Kontrastfigur auf den Ich-Erzähler ausübt, wird unverkennbar im Zeichen der eigenen Defizienz vermittelt und manifestiert sich auf Erzählebene in der korrigierenden Funktion eines aufgeräumten Geistes, der den „gewünschten vernünftigen und kühlen Zuspruch“28 gerade dort zu erteilen vermag, wo der Rauf- und Zechbruder andernfalls seinen Affekten hilflos ausgeliefert wäre. Doch weil es das Prinzip einer Anziehung zwischen Ungleichem bedingt, dass die konstitutive Gegensätzlichkeit der Pole gewahrt bleibt, lässt der Text neben den beschriebenen Anziehungskräften zugleich Abgrenzungsstrategien zwischen den jungen Männern walten. Die Art der Grenzziehung gegen den ungleichen Freund belegt einmal mehr den auf Körper- und Sinnlichkeit abzielenden Fokus des Ich-Erzählers, wenn dieser den aufgeklärten, ausdrücklich nicht fechtenden Denker mit dem „altdeutschen Spitznamen Mannelin“29 versieht. Der junge Kantianer wird als ein nicht (primär) über Affektivität und Leibesbezug definierter Männlichkeitsentwurf – zumindest zeichenhaft – von der Gruppe der Reit- und Fechtfreunde abgesetzt, indem er mit einem Diminutiv (ahd. mannilîn: Männlein, Menschlein, kleiner Mann)30 versehen wird, das wenn nicht der Ausgrenzung, so doch der Abgrenzung dient. Entsprechend weist die Diminuierung des Kantianers zum ‚Männlein‘, die mit der steten Betonung dessen Intellektualität einhergeht, zurück auf den Wirklichkeitsbezug ihrer Urheber, worin Züge eines Antiintellektualismus hervortreten, die jedoch als eine offenkundig gängige Praxis der Polarisierung von Körper und Geist vom Text nicht weiter problematisiert werden. Die antipodische Verortung der Mannelin-Figur durch den Erzähler ist zudem nicht ohne Hochachtung, denn der junge Denker „war doch kein Spielverderber, […] nahm […] an den allgemeinen Versammlungen und Hauptsachen teil und sah mit einer fast gelahrten und feinen Haltung schon als Jüngling in die
|| 25 HKKA 7, 179. 26 HKKA 7, 179. 27 HKKA 7, 180. 28 HKKA 7, 179. 29 HKKA 7, 179. 30 Vgl. Gerhard Köbler: Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes. Paderborn u. a. 1993, S. 759.
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Welt und war gern gesehen.“31 Das von beiden Männern im Zeichen einer wechselseitigen Ergänzung von Geist und Gefühl gepflegte Miteinander – das im bürgerlichen Diskurs üblicherweise erotischen Paarkonstellationen vorbehalten ist – bringt eine Innigkeit hervor, die selbst vom wenig reflektierten Ich-Erzähler auf diese gegenseitige Ergänzungsfunktion zurückgeführt wird. So wird denn auch das Verlangen des Reiters, die „Lustbarkeiten und Waffenthaten häufiger zu unterbrechen und den ruhigen Genossen aufzusuchen“32, von diesem unter umgekehrten Vorzeichen erwidert, denn der Verstandesmensch „liebte wirklich […] das Widerspiel [in diesem, S.V.] harmlosen Kerl“33, dessen Impulsivität durchaus zu beeindrucken weiß. Dass die innerhalb der Freundschaft propagierte Ebenbürtigkeit von Ungleichem, aber Gleichrangigem, ausgerechnet auf dem hierarchisch konzipierten Dualismus von Körper vs. Geist aufbaut, lässt einiges Konfliktpotenzial erwarten, zumal selbst der Ich-Erzähler nicht umhinkann, die gedankliche Schärfe des jungen Kantianers als Bemessungsgrundlage für die eigene intellektuelle ‚Harmlosigkeit‘ anzuerkennen. Dieser Antagonismus schwelt beständig als eine Art Unwucht in der Beziehung der beiden Männer mit und versetzt die Freunde bisweilen in eine entsprechende Subjekt-Objekt-Beziehung, die etwa der Marschall problematisiert, wenn er mutmaßt, dem Verstand des Freundes gegenüber eine eher zweckdienliche Objektfunktion einzunehmen: Zuweilen wollte es mir allerdings vorkommen, als ob ich dem Mannelin ein bißchen zum stillen und am Ende gar spaßhaften Studium diente, wie es auf Hochschulen ja immer solche Leimsieder giebt, [...] [die] sich allen Ernstes einbilden, [...] selbst Lektionen in der Menschenkenntnis geben zu können.34
In der Gedankenwelt des Ich-Erzählers befeuert die Verständigkeit des Freundes eine unterschwellige Skepsis, die zwar zu keiner Zeit in eine greifbare Intellektuellenfeindlichkeit umschlägt, wohl aber eine fremdelnde Distanz gegenüber der Geistesschärfe des Kantianers verrät. Das grundverschiedene Naturell der studentischen Freunde wird zunehmend vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Geisteshaltungen verhandelt und führt bereits in diesem frühen Stadium der Erzählung zu einer offenen Entgegenstellung von Sensualismus vs. Rationalität, wobei selbst der Ich-Erzähler den stillen Denker im Vorteil sieht. Denn obwohl der leidenschaftliche Fechter es genießt, den belesenen Freund durch seinen
|| 31 HKKA 7, 179 32 HKKA 7, 179. 33 HKKA 7, 180. 34 HKKA 7, 180.
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Glauben an das Übersinnliche bewusst zu provozieren, besteht auch für ihn kein Zweifel, wessen Wirklichkeitsbezug im Zweifelsfall der verlässlichere ist: Närrischer Weise freute ich mich eigentlich dessen [der vernunftgetragenen Gegenrede des Mannelin, S.V.] und war seiner Gesinnung und seines Wissens froh, während ich ihn mit phantastischen Reden bekämpfte. Es war mit mir, wie wenn jemand durch einen verrufenen Wald geht und auf seine Furchtlosigkeit pocht, im Stillen aber sich auf das gute Schießgewehr verläßt, das ein Begleiter mit sich führt.35
Bemerkenswert ist das Waldgleichnis des Marschalls auch deshalb, weil er zwar das Gewehr als ein ihm vertrautes Symbol wehrhafter Männlichkeit zitiert, dieses jedoch nicht sich selbst, sondern ausdrücklich dem aufgeklärten Verstand des Freundes zuspricht. Vom Ich-Erzähler unintendiert, für den Fortgang der Geschichte hingegen nicht ohne Bedeutung, tritt der Verteidigungsfall in diesem Gleichnis zudem ausgerechnet in einem ‚verrufenen‘ Wald ein, dessen undurchsichtiges Gehölz ideengeschichtlich an Vorstellungen von weiblich-bedrohlichen Naturräumen erinnert.36
3.1.2 Ein ‚fixer Kerl‘: Eine Bürgerstochter und ihr Hofstaat Dieser nebulös-metaphorische Ort weiblich konnotierter Gefahr findet seine realweltliche Entsprechung in den Reizen der jungen Hildeburg, einzige Tochter eines einflussreichen Bankiers, dessen sonntägliche Tischgesellschaften den sozialen Rahmen der zu verhandelnden Dreierkonstellationen spiegeln und obendrein der Inspektion des männlichen Nachwuchses dienen. Mitten in den Reihen dieser Männer, die kraft ihrer sozialen Position gesellschaftliche Diskurse prägen oder einst prägen werden, macht sich das Mädchen daran, die beiden Freunde zum Spaß, ohne nämlich „in der Denkweise dem einen oder andern entschieden beizustimmen, […] ins Gefecht“37 zu setzen, wobei sie bezeichnenderweise „unfehlbar zwischen [den, S.V.] beiden oder ganz in der Nähe Platz“38 nimmt und durch ihre Platzwahl wie ein menschlicher Keil auf die bis dato exklusive Zweisamkeit der beiden Männer wirkt.
|| 35 HKKA 7, 180. 36 Vgl. Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 127f. Weigel verweist an dieser Stelle „auf ein gespaltenes Bild von Erde und (weiblicher) Natur: einerseits Leben und Freude spendend, andererseits bedrohlich.“ 37 HKKA 7, 181. 38 HKKA 7, 181.
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Da sich das Gemeinschaftsgefühl der anwesenden Herrenrunde homosozialen Prinzipien gemäß vor allem aus der eigenen Geschlechtszugehörigkeit und der ausgrenzenden Sexualisierung des ‚anderen‘ Geschlechts ableitet,39 kann eine weibliche Figur nicht ohne Weiteres in dieses strikt asexuelle Beziehungsmodell integriert werden, so dass der Anblick der drei jungen Menschen zum Gegenstand „scherzende[r] Bemerkungen“40 wird. Aller Pläsanterie zum Trotz werden durch die offenbar alternativlose Sexualisierung des verschiedengeschlechtlichen Dreigestirns implizit bürgerliche Sexualnormen angemahnt, woraufhin die Bankierstochter ein Spiel ins Leben ruft, in welchem sie unter Anleihen an mittelalterliche Minneideale die beiden jungen Männer „als ihre lieben und getreuen Diener“41 vorstellt: den Ich-Erzähler als ihren ‚Marschall‘, den Kantianer als ihren ‚Kanzler‘. Die soziale Brisanz des anstehenden ‚Spiels‘ tritt an dieser Stelle offen zutage, denn wenn eine Bürgerstochter selbstbewusst ihre Minnephantasien vor Publikum verkündet, ist ein solcher (weiblicher) Gestaltungsanspruch nur dann formulierbar, wenn im Hintergrund die Gewissheit steht, dass die eigene Reputation derlei Spielereien legitimiert. Diese Gewissheit wird vom Ich-Erzähler auf die ökonomische wie intellektuelle Privilegiertheit einer Bankierstochter zurückgeführt, die durch einen bürgerlichen Erbtitel und ein bildungsbeflissenes Elternhaus über jene Sicherheit verfügt, die es braucht, um als eine „vielbegehrte reiche Erbin und in allen Dingen verständige und, wie der Student sagt, patente Person, ein fixer Kerl, wie sie war, […] sich durch solche Freiheiten keinerlei Mißdeutungen aus[zusetzen, S.V.].“42 Da der für eine Frauenfigur des 19. Jahrhunderts nicht alltägliche Anspruch, sich zwei junge Männer zu amouröser Dienerschaft einzubestellen, offenkundig allein im Schutze (groß-)bürgerlicher Autorität realisierbar scheint, gibt sich der soziale Handlungsspielraum der Hildeburg-Figur als Resultat eines – maßgeblich väterlichen – Protektorats zu erkennen, nicht als Ergebnis von Emanzipationshandlungen. Im privaten Raum nimmt die Geschichte dagegen ihren ‚natürlichen‘ Verlauf: Beide Männer verlieben sich in die junge Frau, ohne jedoch in Konkurrenzgebaren zu verfallen, vielmehr bleiben die Freunde „nicht nur friedlicher Gesinnung, sondern die gemeinsame Verehrung diente gar dazu, […] [die, S.V.] || 39 Der Begriff ‚Homosozialität‘ wurde maßgeblich geprägt durch Eve Kosofsky Sedgwick (Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. With a new preface by the author. New York 1985), die Homosozialität als eine Strategie männlicher Privilegiensicherung analysiert. 40 HKKA 7, 181. 41 HKKA 7, 181. 42 HKKA 7, 181.
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Freundschaft zu befestigen und den Verkehr angenehm zu beleben, weil ja ohnehin von ernsthaften Folgen […] noch jahrelang nicht die Rede sein konnte […].“43 Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die zuvor so viel gerühmte Freundschaft der beiden jungen Männer nicht zuletzt deswegen unbeirrt fortbesteht, weil die begehrte Erbin gegenwärtig schlicht für keinen der beiden verfügbar ist. Entsprechend beruht auch Hildeburgs als Minnespiel getarnte „Versuchsanordnung“44 einer weiblichen Doppelneigung maßgeblich darauf, dass beide Anwärter aufgrund sozialer Konventionen vorerst in den Wartestand verdammt sind. Doch so sehr sich die drei Liebenden auch mühen, keinerlei Konkurrenzdenken zwischen den Männern aufkommen zu lassen – zumal Hildeburg beide „vollkommen unparteiisch behandelte“45 –, so zuverlässig werden die jungen Leute von außen an sexuelle bzw. partnerschaftliche Normen erinnert. Konfrontiert mit der Frage etwa, welchen der beiden Jünglinge die Erbin angesichts des sich ankündigenden Kriegsgeschehens am unliebsten verlöre, bemüht sich die junge Frau zwar um die Aufrechterhaltung ihres vordergründig austarierten Minnedreiecks, verrät jedoch in ihrer Verzweiflung eine durchaus eindeutige Präferenz: ‚Das weiß ich wahrhaftig selber nicht!‘ rief sie; ‚erst war mir der Kanzler lieber; seit aber in seinem Umgange der wilde Marschall so gesittet und liebenswürdig geworden ist, verliere ich diesen auch ungern! Und doch ist es wieder nicht recht, wenn der andere, der die Quelle der Besserung ist, es büßen soll! Mag mir der Himmel helfen!‘46
Auf himmlische Hilfe ist die versierte Erbin indes kaum angewiesen, denn bei Lichte betrachtet skizziert die junge Frau zwei Männlichkeitsentwürfe, von denen sie den einen nur deshalb als konkurrenzfähig betrachtet, weil er im Umgang mit dem anderen vorhandene Defizite ausgleichen konnte. So kann der Fechtfreund in dieser Rechnung allein deswegen bestehen, weil sein emotional-impulsives Wesen durch den freundschaftlichen Verkehr mit dem jungen Kantianer ‚mannelinisiert‘ scheint, so dass hier weniger ein persönlicher Reifungsprozess anerkannt wird, als vielmehr die per Doppelung hervorgehobene Vorzüglichkeit des jungen Kantianers. Derartige Nuancen bleiben dem rückblickend erzählenden Marschall freilich verborgen. Stattdessen zeigt sich seine Perspektive auf das vorliegende Beziehungsdreieck von einer Wahrnehmung dominiert, die körperliche Attribute als adäquate Grundlage sexueller Paarbildung begreift und die eigene, vermeintlich unleugbare Prädestination verkündet: „Wie Mannelin im innersten
|| 43 HKKA 7, 181. 44 Neumann: Gottfried Keller, S. 252. 45 HKKA 7, 181. 46 HKKA 7, 182.
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dachte, wußte ich freilich nicht; ich dagegen kann nicht leugnen, daß ich mich heimlich für prädestiniert hielt, weil die Schöne eben so stark brünett war, wie ich selber, Mannelin hingegen der blonden Menschenart angehörte.“47 Unter Verweis auf leibliche Merkmale, die derart bedeutsam scheinen, dass hierin ganze Menschenarten identifiziert werden, erotisiert der Ich-Erzähler das begehrte Objekt nach Maßgabe des eigenen Selbstbildes und führt die Similarität von (Körper-)Zeichen an, um auf einer (selbst-)referenziellen Ebene den Nachweis einer auch charakterlichen Ähnlichkeit der beiden Figuren zu erbringen. Dieser regelrecht ‚übersinnlichte‘ Marschall – von ‚Amts‘48 wegen nicht zufällig für die Pferde bei Hof zuständig – erweist sich der Hildeburg-Figur gegenüber folgerichtig als ein Exeget, dessen Interpretationsweise der Verleiblichung bzw. Erotisierung der jungen Frau Vorschub leistet und jene nach Art konventioneller Angst-Lustbilder zwischen Verheißung und Gefahr verortet. So wird die gute, weil gefahrlos konsumierbare Sinnlichkeit Hildeburgs in „wagerechten Augenbrauen“49 erkannt, die als Ausdruck von Klarheit und Geradlinigkeit gedeutet und durch einen Rekurs auf die Heraldik („so sammetdunkel, wie der heraldische schwarze Zobel auf den alten Wappenschilden“50) in ihrer Vertrauenswürdigkeit zusätzlich bestärkt werden.51 Doch wenngleich Berechenbarkeit und Gutmütigkeit zeichenhaft garantiert scheinen,52 mischt sich in die heile Zeichenwelt des Marschalls bisweilen die Angst eines unerfahrenen Jünglings vor der weiblichen Sexualität. Denn besonders an Festtagen zieren das Haupt der jungen Frau „ein paar kleine Brillantsterne aus der nächtlichen Wildnis“53, die von sexuell undomestizierter Weiblichkeit künden und dem Rittmeister gegenüber „funkelten wie Leuchtwürmchen“54. Die fürsorglichen, gar mütterlichen Attribute der Hildeburg-Figur treten in diesen Momenten hinter Assoziationen männlicher Angstlust zurück, zumal das Lichterspiel der Glühwürmer, welches der Biologie als ein (weibliches) Instrument zur Anlockung potenzieller Geschlechtspartner gilt,55 sich auf Erzählebene spiegelt, wenn es heißt,
|| 47 HKKA 7, 181. 48 Zur Zuständigkeit für Pferde als zeichenhafte Prädestination für Sinnlichkeit und Erotik am Beispiel der Geisterseher vgl. Kaiser: Gottfried Keller, S. 530. Auch Neumann erkennt hier eine Nähe zur „Triebsphäre“. Neumann: Gottfried Keller, S. 253. 49 HKKA 7, 181. 50 HKKA 7, 181. 51 Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 241. 52 Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 241. 53 HKKA 7, 181f. 54 HKKA 7, 182. 55 Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 241.
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dass des Erzählers (männlicher) „Blick, der von dem Schimmer angezogen wurde, sogleich hinunter in den warmen Glanz der dunklen Augen, die meistens gütig ihn empfingen“56, gezogen wird. Für den Eindringling geht es bezeichnenderweise sogleich ‚hinunter‘ und ‚hinein‘ in ein wärmendes Dunkel – eine Metaphorik, die unmittelbar an die Höhle des Dame Litumlei erinnert –, wo in der Vorstellung des Ich-Erzählers ein gütiger Empfang wartet. Die sexualsymbolischen Konnotationen sind entsprechend überdeutlich: Der eindringende Blick des Mannes wird wie von Geisterhand hinein- bzw. hinabgezogen in den Schoß des Weiblichen, wo Sehnsüchte von uteraler Geborgenheit, aber auch Angstphantasien von der destruktiven Macht weiblicher Sexualität gleichermaßen bedient werden. Die geradezu mythologische Überhöhung der Hildeburg-Figur durch den Marschall dient indes nicht allein dazu,57 die vermeintlich naturgesetzliche Anziehungskraft zwischen der eigenen und der begehrten Person zu bestärken, sondern ebenso der Abgrenzung gegen den Konkurrenten. Dem Vertreter der blonden Menschenart nämlich werden in des Rittmeisters Vorstellung faunische Qualitäten und damit das Potenzial zur Eroberung einer sinnlichen Frau schlicht abgesprochen. Stattdessen wird der stille Denker in der Wahrnehmung des Fechters in Kategorien von Disziplin und Triebkontrolle erfasst, zumal jener auch deshalb stets ein wenig Zeit für gemeinsame Unternehmungen erübrigen kann, „weil er immer schon vorher etwas getan hatte und auch nachher wieder gleichmütig arbeiten konnte, wenn es notwendig war, es mochte Tag oder Nacht sein.“58 Die subjektive Vermessung der weiblichen Hauptfigur durch den Ich-Erzähler substanziiert somit die zuvor auf homosozialer Ebene etablierte Verschiedenheit der Protagonisten und zeichnet das Bild eines leidenschaftlich-impulsiven Rittmeisters, der seinen stets disziplinierten Freund als einen Verstandesmenschen von „Vernunft, Mäßigkeit und Ordnung“59 der Leidenschaftslosigkeit für verdächtig hält. Die grundverschiedene Wesensart der beiden Männer pointiert der Text bis ins kleinste, vermeintlich unscheinbare Detail, wenn etwa die Bankierstochter ihren Verehrern zum Abschied jeweils die Hälfte eines herzförmigen Zuckergebildes reicht und beobachtet, wie der Marschall die seinige „sogleich zum Zeichen [s]eines Liebeshungers“60 verschlingt, während der Kanzler seine Hälfte || 56 HKKA 7, 182. 57 Kuchinke-Bach etwa attestiert der Darstellung der Hildeburg-Figur mythologische Dimensionen und erkennt „etwas von einem elbischen oder nixenhaften Wesen“ in der Bürgerstochter. Kuchinke-Bach: Gottfrieds Kellers Sinngedicht, S. 54. 58 HKKA 7, 179. 59 Kaiser: Gottfried Keller, S. 530. 60 HKKA 7, 182.
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verwahrt, „bis er sie unbeobachtet in die Tasche schieben konnte.“61 Ein Schauspiel, das die junge Frau anschließend „thöricht“62 nennt, weil es ihr vor Augen führt, dass ein jedes Verhalten für sich genommen zwar berührt, aber eben auch auf zwei gänzlich unterschiedliche Männlichkeitskonzepte verweist und somit die Problematik weiblicher Doppelneigung bestätigt.
3.1.3 Liebe zu dritt: Von Polyandrie und der Frau als ‚Ort‘ der Begegnung Weil das fiktive Minnespiel angesichts des nahenden Kriegseinsatzes der beiden Männer ohnehin absehbar ein Ende finden wird, eröffnet die junge Frau den Kavalieren bei einem Spaziergang ihren Entschluss, die unbürgerliche Konstellation auflösen zu wollen. In einem kleinen Pavillon mit „vom Winter her noch verschlossenen Fensterläden“63 macht sich die Bankierstochter mit dem Öffnen der Fensterläden auf sinnbildliche Weise daran, Licht ins Dunkel zu bringen – das Frühjahrslicht in die verdunkelten Räume und in gleichem Maße Klarheit in eine schwelende Dreiecksbeziehung. Es ist der Moment, in welchem die Perspektivlosigkeit des Dreigestirns auf den Punkt gebracht wird: Ich bin in allem Ernste in einer so traurigen Lage, wie noch nie ein Mädchen gewesen ist; denn ich habe euch beide lieb und kann es nicht auseinanderlösen. [...] Ich werde nie die Frau eines Mannes werden, es wäre denn einer von Euch beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn beide fallen oder beide zurückkehren, werde ich ledig bleiben, als das Opfer eines heillosen unnatürlichen Naturschauspieles oder unvernünftigen Ereignisses, das in meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und daß ich vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit Schmach bedecken will! Da ich mir aber keinen von Euch tot denken kann und will, so lebt wohl auf ewig, liebste Brüder!64
Die Misere, über die der Text seine Protagonistin hier sinnieren lässt, ist die soziale Normierung weiblichen Begehrens, das der patriarchalen Ideologie gemäß allein dem einen Mann zu gelten hat und ein darüber hinausgehendes Verlangen, das sich gegen zwei oder mehr Männer richtet, als widernatürlich geißelt. Die Verzweiflung der Protagonistin zeugt denn auch weniger von emotionalen Nöten als von sozialen Zwängen und führt die Desillusionierung der Regisseurin des Minnespiels nicht etwa auf die Annahme zurück, dass eine Frau keine zwei Männer zugleich begehren kann, sondern auf die Gewissheit, dass sie es nicht darf. || 61 HKKA 7, 182. 62 HKKA 7, 183. 63 HKKA 7, 183. 64 HKKA 7, 183f.
178 | Männervergleich und Männerselektion
Die einst spielfreudige Minneherrin spricht zu den beiden Männern folgerichtig als ein vergesellschaftetes Objekt, das sozialen Konventionen unterliegt und mit Blick auf das nahende Kriegsgeschehen, das eine Behandlung zweier angehender Soldaten als Schauspielstatisten verbietet, nicht anders kann, als die Ménage-à-trois als das zu erkennen, was sie ist: eine Verzögerungs- bzw. Meidungsstrategie im Angesicht des Unvermeidbaren. Als ein sozial engmaschig normiertes Wesen, als gutbürgerliche Bankierstochter zumal, fungiert die junge Frau abseits aller Minnephantasien als Repräsentantin eines entsprechenden Wertekanons und entwirft den beiden Männern gegenüber die Aussichtslosigkeit der Dreierkonstellation in einer Klarheit, die den Pavillon zu einem widersprüchlichen Ort werden lässt. Denn einerseits kann allein an diesem intimen Ort weibliches Begehren frei artikuliert werden, andererseits zeigen sich soziale Konventionen von einer Wirkmächtigkeit, dass selbst dieser Rückzugsort nicht dauerhaft von ihrem Geltungsanspruch ausgenommen bleibt. Das Licht, das die junge Erbin in den Pavillon lässt, ist demnach – metaphorisch gesprochen – ein hartes Tageslicht, das die Dreiecksbeziehung als eine Fiktion auf Zeit enttarnt, die ohnehin nur unter der Prämisse funktioniert, dass für beide Jünglinge in ihrem gemeinschaftlichen Werben um die Bankierstochter keine realistische Option auf eine Paarbeziehung gegeben ist. Diese Folgenlosigkeit ist somit gleichermaßen Garant wie Achillesferse einer bis dato konstruktiven Männerfreundschaft, die zusehends in ein nicht länger zu leugnendes Rivalitätsverhältnis zwischen zwei äußerst gegensätzlichen Männlichkeitsentwürfen übergeht. Die ‚Gefangenschaft‘ der beiden Männer, die Hildeburg später in emotionaler Hinsicht sich selbst anlastet, gilt als Metapher ebenso für die faktisch nicht existierende Handlungsfreiheit der beiden Freunde, die in Bezug auf die Erbin bzw. das weibliche Geschlecht gemeinhin keine sozial akzeptierte Alternative haben, als in einen gegenseitigen Verdrängungswettbewerb einzusteigen. Denn in dem Moment, in dem die Erbin den eigenen Wahlzwang (an-)erkennt, konfrontiert sie auch ihre Vasallen mit den sozialen Implikationen der Kategorie Geschlecht und erinnert jene an die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der herrschenden Gesellschaftsordnung. Insofern korrespondiert das aufziehende Kriegsgeschehen in seiner Unausweichlichkeit den sozialen Zwängen des Mannseins, da sowohl die Kriegsteilnahme als auch der sich abzeichnende Verdrängungskampf unter Freunden männliche Unfreiheit aufzeigen und dergestalt die Grenzen männlicher Autonomie markieren. So scheint eine Entscheidung zugunsten des Erhalts von Freundesbanden und zuungunsten des Frauenerwerbs schlicht nicht vorstellbar, da der Geschlechterdiskurs einer bürgerlichen Welt diesbezüglich eindeutige Präferenzen setzt und die Protagonisten um der Wahrung ihres Ansehens willen in diese Konkurrenzsituation regelrecht hineinzwingt. Dieser ge-
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schlechtsspezifische Konkurrenzzwang bestätigt sich eindrücklich, wenn die Ankündigung Hildeburgs, in ihrer Not auf beide Verehrer verzichten zu wollen, von den Männern vollständig ignoriert wird. Weiblicher Verzicht nämlich ist aus männlich-patriarchaler Perspektive definitiv keine Lösung, würde dieser doch den Funktionswert des weiblichen Geschlechts zunichtemachen und entsprechend keinem der beiden Männer dienen. Zudem verlöre der anstehende Männervergleich seinen zentralen Bezugspunkt, denn um die Unterschiedlichkeit der beiden Freunde, die ausdrücklich im Zeichen der Ergänzung zueinander stehen, auf eine vergleichende Konfrontation hin zuzuspitzen, braucht es einen Stimulus für diese Rivalität. So kann Hildeburg ihren Entschluss rhetorisch noch so entschieden vortragen („[S]o lebt wohl auf ewig, liebste Brüder!“65), ihre Verehrer hierbei noch so konsequent als entsexualisierte ‚Brüder‘ ansprechen oder auch der eigenen Sexualität ganz entsagen – nichts von alledem dringt zu den beiden Männern durch. Ihre Wahlfreiheit beinhaltet folglich nicht die Möglichkeit eines Wahlverzichts und endet folgerichtig an genau dem Punkt, an dem sich die junge Frau mit der Verkündung ihrer Entsagung als Wahlfrau eigenmächtig zu suspendieren droht. Weil die sexuelle Entsagung einer vielbegehrten Frauenfigur der patriarchalen Logik nach einem Anschlag auf die Natur des Weiblichen gleichkommt, werden die Verlautbarungen des Mädchens nicht nur übergangen, sondern noch am Abend des Abschieds unbeirrt die Modalitäten des Frauenerwerbs von den Freuden ausgehandelt: „Sollte es so kommen, daß einer von uns fällt und der andere das Weib gewinnt, so soll er leben!“66 Zur Lösung des Problems eines angedrohten weiblichen Sexualitätsverzichts führt der Text auf subtile Weise die Idee einer biologischen ‚Wahrheit‘ des weiblichen Geschlechts an, die offenkundig nicht in einem Verzicht auf Sexualität und Sinnlichkeit liegt, woraufhin er die Triebkontrolle der selbst erklärten Asketin als einen Akt der Verzweiflung markiert und jene in einer Eruption weiblicher Triebhaftigkeit vor der eigenen Biologie kapitulieren lässt: „Nach diesen Worten fiel sie jedem von uns um den Hals und küsste ihn heftig auf den Mund, zuerst mich und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und endlich mich noch einmal.“67 In diesem Bild, in dem der Text seine Protagonistin von der eigenen Leidenschaft übermannt zwischen den Freunden regelrecht ‚zirkulieren‘ lässt, wird die zuvor verkündete Entsagungsabsicht nicht nur widerrufen – sie wird nachträglich zur Flause erklärt. Die Gefahr eines Totalausfalls der Bürgerstochter in
|| 65 HKKA 7, 184. 66 HKKA 7, 185. 67 HKKA 7, 184.
180 | Männervergleich und Männerselektion
Bezug auf die Inszenierung des zentralen Männervergleichs, dem sie Ansporn und Trophäe zugleich ist, wird unter Verweis auf die unkorrumpierbare ‚Natur‘ des weiblichen Geschlechts gebannt und gibt den Blick frei auf eine Textautorität, in deren Gedankenwelt Weiblichkeit und Triebentsagung einander ausschließen. Die sich per Gefühlsausbruch selbst korrigierende Weiblichkeit der Erbin verfehlt ihre Wirkung auf das männliche Personal zwar nicht, erweitert jedoch das Konfliktpotenzial einer nunmehr auch körperlich erfahrenen Dreiecksbeziehung um eine zusätzliche Dimension, da für die beiden Männer die Gefahr einer gleichgeschlechtlich-erotischen ‚Begegnung‘ auf dem Rücken der Frau hinzutritt, denn „wenn […] ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leidenschaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küssen kann, so werden diese, wenn sie das Weib lieben, niemals dazu kommen, dasselbe nun gemeinsam anzufassen und wieder zu küssen.“68 Was hier unter Verweis auf männliche Exklusivitätsansprüche als anrüchig markiert wird, beschreibt das Bild einer homoerotischen Annäherung zwischen zwei Männern aufgrund der gemeinschaftlichen ‚Benutzung‘ desselben weiblichen Objekts.69 Dabei scheint die Frage nach der Legitimität von (hetero-)sexuellen Spielarten außerhalb der Norm vorrangig von der Subjekt-Objekt-Bestimmung abhängig. Der Ich-Erzähler weist nämlich genau genommen nicht die Idee einer Dreiecksbeziehung an sich zurück, sondern die Idee einer männlichen Überzahl innerhalb dieser Konstellation. So kann denn durchaus „ein Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, […] ein guter Ritter und Kreuzfahrer sein“70, weil sein (sozialer) Subjektstatus in einem solchen Dreigestirn aus zwei weiblichen ‚Objekten‘ und einem männlichen Souverän unangetastet bleibt. Legitim oder zumindest tolerierbar scheinen alternative Beziehungskonstellationen demnach allenfalls dann, wenn es allein ‚einen‘ männlichen Part und entsprechend ‚einen‘ männlichen Führungsanspruch hierin gibt. Umso prekärer stellt sich die Lage der Studentenfreunde dar, denn anders als der in seinem Subjektstatus abgesicherte Kreuzfahrer müssen sich „zwei gute Gesellen […], die der Gegenstand der Doppelneigung eines jungen Mädchens sind, […] doch etwas zu zwiefältig, zu halbschürig vorkommen, und es ist nicht jedermanns Sache, ein siamesischer || 68 HKKA 7, 184. 69 Denn „durch die Frau, die allen gehört, verbindet sich der Mann mit seinem eigenen Geschlecht.“ Aus: Uta Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin. Zur Verfestigungsgeschichte des ‚Ewig Weiblichen‘. Bonn 1984, S. 91, Anm. 26. Die latent erotische Dimension der ‚Benutzung‘ einer Frau durch zwei Männer konkretisiert sich in der angst-lustvollen Konstellation der Venus im Pelz von Leopold von Sacher-Masoch (Vgl. hierzu Kap. 3.2.5.) ebenso wie im Besitzstandsdenken der männlichen Hauptfigur in Die arme Baronin (Vgl. Kap. 5.1). 70 HKKA 7, 184.
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Zwilling zu sein.“71 Vorsilben wie zwie- oder halb- und auch das angeführte Bild einer aus medizinischer Sicht als Fehlbildung zu diagnostizierenden Zwillingsnatur machen unmissverständlich klar, dass diese Beziehungskonstellation im Zeichen weiblicher Doppelneigung männliche Subjektivationsprozesse konterkariert. Denn statt Mannwerdung droht die Objektivation in einem Liebesdreieck, das einer sozial privilegierten Bankierserbin einen relativ großzügigen Gestaltungsfreiraum zugesteht, während die sie begehrenden Rechtsstudenten juristisch gesprochen weder anspruchsberechtigt, noch zu ernstlichen Werbungsakten gegenüber der Großerbin legitimiert sind. Hinter der von den Freunden zu respektierenden Sonderstellung der Bürgerstochter steht ein bürgerliches Wertesystem, das moralische, soziale und auch ökonomische Belange dominiert und den Konflikt der jungen Frau zwischen persönlichen Begehrlichkeiten und sozialen Erwartungen über die Partnerwahl hinaus zu einer Angelegenheit von gesellschaftspolitischer Dimension werden lässt. So ist denn die Partnerwahl einer Erbin, die zugleich Erbin bürgerlicher ‚Werte‘ materieller wie immaterieller Natur ist, unweigerlich eine Art Politikum, das einem festen Regelwerk folgt und die junge Hildeburg insbesondere unter diesem sozialen Aspekt als Schirmherrin einer bürgerlichen Männerselektion empfiehlt.
3.1.4 Infanterie oder Kavallerie? Krieg als Katalysator männlicher Reifungsprozesse Der nahende Krieg ist es schließlich, der den beiden Männern Zuflucht verheißt vor den verworrenen Liebesdingen im Hause des Bankiers und dem Gefühl der Handlungsohnmacht. Mit Eintritt in das gleichgeschlechtlich organisierte Kriegsgeschehen heißt es für die Freunde Separation statt Kooperation, wobei das unterschiedliche Naturell der beiden Studenten sich in der jeweiligen Art ihrer Kriegsteilnahme spiegelt und den Marschall „eine Stelle in einem kaiserlichen Dragonerregiment“72 annehmen lässt, während der Kanzler „als bescheidener Fußgänger in die preußische Infanterie“73 eintritt. Seinem bescheidenen Wesen gemäß definiert sich der Fußsoldat Mannelin über die buchstäbliche Bodenhaftung eines Infanteristen, wohingegen der impulsive Ich-Erzähler das anstehende Kriegsgeschehen hoch zu Ross mit der ihm eigenen Leidenschaftlichkeit verklärt und die zuvor gerühmte Wärme Hildeburgs nun dem gar noch „heißere[n]
|| 71 HKKA 7, 184. 72 HKKA 7, 182. 73 HKKA 7, 182.
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Feuer“74 des Schlachtfeldes unterordnet. Unverkennbar kompensiert die Kriegslust des Reiters die eigene Ohnmacht innerhalb einer irritierenden Beziehungskonstellation und wird entsprechend rauschhaft als eine Loslösung von emotionalen Fesseln verkündet, wenn der „Geist zu der Höhe der aufwogenden und rauschenden Vaterlands- und Kampfesfreude“75 sich aufschwingt. So flieht der Fechtfreund in räumlicher Metaphorik von den Niederungen weiblich konnotierter Liebeswirren zu den Höhen mannhafter Bewährung in einer Schlacht, die auf diese Weise zum Surrogat einer zuvor nicht aufzulösenden Konkurrenzsituation wird – zumal die daheim weilende Hildeburg als Preis für den glücklichen Heimkehrer wartet.76 Auf diesem gleichgeschlechtlichen Schlachtfeld endlich erhalten beide Männer ihre volle Handlungsautonomie zurück, denn wenngleich zur Schicksalsangelegenheit erklärt, haben die Kriegsteilnehmer anders als in der Inszenierung Hildeburgs unmittelbaren Einfluss auf ihre Situation. Der Ortswechsel von der Universitätsstadt auf das Schlachtfeld eignet denn auch insbesondere dem Marschall, der Sexualität und Krieg miteinander verschränkt und den Eintritt ins Kriegsgeschehen gar als eine Einladung „zum Tanze“77 versteht. Zwar scheint das als destruktiv empfundene Liebeswesen auf dem Schlachtfeld zunächst vergessen, doch finden sich auch hier Momente der Eifersucht gegen den abwesenden Freund, da dieser offenkundig bevorzugt zum ‚Tanze‘ gebeten wird, nämlich „mit seiner Muskete schon von Schlacht zu Schlacht“78 stürmt, während der Ich-Erzähler mit seinem Regiment noch in Wartestellung verharrt. Werbungs- und Kriegsgeschehen weisen somit in der Wahrnehmung des Reiters mancherlei Analogie auf und erinnern entfernt an allegorische Darstellungen bzw. Verkörperungen des Krieges in weiblicher Gestalt.79 Der Kriegsteilnahme der Freunde kommt zudem eine erzieherische Funktion zu, da der Krieg am Ende zwar beide lebend zurückkehren lässt, sich des einen jedoch intensiver annimmt, ihn gar „schwer verwundet“80 bis an die Grenzen seiner Existenz führt – um ihn schließlich umso gereifter und ernsthafter zu entlassen. Versinnbildlicht wird der Reifungsprozess der Studentenfreunde in einer || 74 HKKA 7, 182. 75 HKKA 7, 185. 76 Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 245. 77 HKKA 7, 185. 78 HKKA 7, 185. 79 Die Versinnlichung des Kriegsgeschehens durch den Rittmeister verweist auf eine „typische Bildfunktion des Weiblichen […]: die allegorische Verkörperung des Krieges in einer Frauengestalt.“ Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 141. 80 HKKA 7, 186.
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neuerlichen Polarisierung von Oben vs. Unten, wobei die ‚Bodenhaftung‘ des Kanzlers im Bilde eines verwundet auf dem Pflaster von Paris liegenden Fußsoldaten aufs Äußerste getrieben wird, während der Rittmeister hoch zu Ross eben diese Bodenständigkeit vermissen lässt, nämlich „über manche Blutlache hinweggesetzt hatte“81, die der Freund durchschreiten muss. Es ist folglich der Infanterist, der auf dem Schlachtfeld jene existenziellen Dinge erfährt, die für ein demütiges Wesen bürgen und auf einem bürgerlichen Parkett hochwillkommen sind, denn ungeachtet er die bedeutendsten Kriegsthaten mitgemacht und zahlreichere Gefechte und Gefahren bestanden, als […] [der Marschall, S.V.], hörte man ihn niemals davon sprechen, und wäre er nicht unfreiwillig in die zeitgemäßen Gespräche mit verflochten worden, so würde man vermutet haben, er sei die ganze Zeit über nie aus seiner Studierstube herausgegangen. Das verlieh dem liebenswürdigen Duckmäuser einen neuen Glanz […].82
Qualitäten, die für den Marschall erst durch das Beispiel des Freundes als solche erfahrbar werden, wenn er „nach eifrigem Sprechen vom Hauen und Stechen in der darauffolgenden Stille plötzlich wahrnahm, wie renommistisch“83 er sich neben dem bescheidenen Mannelin ausnimmt und unfreiwillig bestätigt, welcher der beiden Männer in bürgerlicher Hinsicht nicht nur Quell der Besserung, sondern schlicht des Besseren ist. Das dargestellte Kriegserleben verändert somit nicht etwa auf ergebnisoffene Weise das Wesen der beiden Männer, es konturiert vielmehr ohnehin vorhandene Wesensmerkmale und lässt zwei divergente Männlichkeitsentwürfe nach einer in Dauer und Intensität unterschiedlichen ‚Ausbildungszeit‘ umso unterscheidbarer voneinander heimzukehren. Zwar nimmt auch der Ich-Erzähler für sich in Anspruch, als ein „ernsthafte[r] Kriegsmann“84 zurückzukehren, doch der Wahrheit des Krieges, vom Text stilisiert als Widrigkeit aus Blut und Erde, bleibt er fern, so dass der Kriegseinsatz des Fechters, dem der Anforderungskatalog militärischer Männlichkeit geradezu auf den Leib geschneidert scheint, für selbigen ohne (Zu-)Gewinn ist. Krieg und Kampf, so scheint es, will der Text nicht bloß als Körperpraxis verstanden, sondern gleichsam als eine existenzielle Erfahrung im Inneren einer Männerseele reflektiert wissen. Denn die Aufarbeitung des Erlebten entscheidet über Wahrung oder Korrektur eigener Werte und generiert demgemäß einen gereiften Wirklichkeitsbezug, der in vorliegendem Fall als exklusiver Kriegsschatz
|| 81 HKKA 7, 190. 82 HKKA 7, 191. 83 HKKA 7, 191. 84 HKKA 7, 186.
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des stillen Kanzlers zu gelten hat, dem renommistischen Reiter hingegen vorenthalten bleibt. Der Marschall gerät entsprechend nicht deswegen ins Hintertreffen, weil er auf dem Schlachtfeld nicht zu bestehen wüsste, sondern weil die Evaluation der ‚Mannsbilder‘ auf Grundlage eines explizit bürgerlichen Wertekanons vorgenommen wird, dem die geräuschvolle Natur des Rittmeisters nicht zu vermitteln ist. So gibt es gerade für den vermeintlich zum Kriegseinsatz geborenen Reitersmann auf diesem metaphorischen Schlachtfeld wenig zu gewinnen. Allein mit „heroischem Dasein“85 ist diese bürgerliche Welt nicht zu beeindrucken, vielmehr sind es die Uneitelkeit und das Pflichtbewusstsein des in aller Stille längst „zum Lieutenant vorgerückt[en]“86 Infanteristen, die dem Umfeld Hildeburgs imponieren. Um die charakterlichen Vorzüge dieses im besten Sinne bürgerlichen Männlichkeitsentwurfes auch dem auf Körperzeichen fixierten Fechtfreund anzuzeigen, bildet die Erzählung die Reputation des Kantianers nunmehr auch auf eine für den Ich-Erzähler ‚lesbare‘ Weise ab. So erscheint das durch den Kriegsdienst veränderte Äußere des ‚Duckmäusers‘ wie ein ihm auf den Leib geschriebener ‚Text‘, der von einem respektablen Männlichkeitsentwurf kündet, welcher zwar schon vor Kriegsbeginn gemeinhin als ein solcher geschätzt wurde, im Zeichensystem des Marschalls jedoch erst durch äußere Attribute (an-)erkannt wird: Mannelin hatte durch den Kriegsdienst sich sehr vorteilhaft verändert, was das Aeußere betrifft. Ohne gerade martialisch drein zu schauen, hatte er doch an fester Haltung gewonnen. Sein leichter blonder Bart auf Wangen und Oberlippe erhielt durch den Ernst der Ereignisse und Abenteuer, der in den Augen und auf dem Munde sich gelagert hatte, eine größere Bedeutung als ihm sonst zugekommen wäre, und das militärische Wissen und Erfahren, um welches er reicher geworden, vereinigte sich vortrefflich mit seinem wissenschaftlichen Geiste.87
Die dem Kanzler attestierte Vermännlichung durch Inkorporation soldatischer Elemente bezeugt somit nicht etwa eine grundlegende Wandlung desselben,88
|| 85 HKKA 7, 178. Einer explizit bürgerlichen ‚Heldentradition‘ nach ist „Heldentum [...] Ausnahmezustand und meist Produkt einer Zwangslage“. Aus: Bettina Plett: Problematische Naturen? Held und Heroismus im realistischen Erzählen. Paderborn 2002, S. 332. 86 HKKA 7, 186. 87 HKKA 7, 191. 88 Vgl. hierzu: Ute Frevert: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. (Geschichte und Geschlechter 14) Frankfurt am Main u. a. 1996. Frevert analysiert, wie durch die Akzentuierung des männlichen Geschlechtscharakters vermittels soldatischer Elemente, „[m]ilitärische Werte und Ordnungsvorstellungen, die zu Beginn des bürgerlichen Jahrhunderts nur einen kleinen, kastenmäßig abgeschlossenen Teil der
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sondern ist Ausdruck des sinnesgesteuerten Realitätsbezugs des Ich-Erzählers, wodurch die ‚neue‘ Männlichkeit des Freundes weniger auf diesen selbst, als vielmehr auf den Urheber jener Lesart verweist. Gänzlich verändert hingegen scheint die junge Erbin, denn anders als ihre Verehrer haben Bekundungen von Gleichrangigkeit und Doppelneigung die Wirren des Krieges nicht überstanden, so dass sich der heimkehrende Marschall mit einer bis dato ungekannten Seite Hildeburgs konfrontiert sieht. Die Blässe der jungen Frau beim Anblick des Rückkehrers verweist nämlich keineswegs auf „ein weißes Tuch“89, das unvoreingenommen auf den Erstheimkehrenden wartet, sondern die angstvolle Reaktion einer in Herzensangelegenheiten nunmehr geordneten Frau, die „den armen Mannelin für tot und mich für gekommen [hielt], mein Recht geltend zu machen!“90 Das zitierte ‚Recht‘, das faktisch eine bloße Kungelei unter Studentenfreunden darstellt, entfaltet eine beachtliche Wirkung, denn offenkundig wertet auch die selbstbewusste Erbin den vermeintlichen Tod des Kanzlers als eine Art Legitimation des Marschalls, so dass hier ungeschriebene, aber ungemein wirkungsmächtige ‚Gesetzlichkeiten‘ des verschiedengeschlechtlichen Miteinanders hervortreten. Angesichts dieses informellen Rechts, das offenbar selbst von souveränen Bürgerstöchtern nicht ohne Weiteres übergangen werden kann, zeigt der sonst so ‚fixe Kerl‘ erstmals Momente eines Kontrollverlusts. Wut und Trauer entladen sich hierbei auf eine Weise, die nicht nur die semiotische Expertise des Marschalls an ihre Grenzen bringt, sondern die geschmackvoll arrangierte Oberfläche eines gutbürgerlichen Frauenideals in Gänze brüchig werden lässt, zumal sich die Erbin wie als Beleg ihres Registerwechsels nun derart „herrisch“91 gegen den Rittmeister zeigt, dass der sich „beinahe wie der Herr mit dem Diener oder der Offizier mit dem Soldaten“92 fühlt und es vorübergehend nicht wagt, die Freundin weiterhin mit dem vertraulichen ‚du‘ anzusprechen. Rhetorisch wie räumlich zeigt sich die Verunsicherung eines überforderten Mannes, der regelrecht flehend das formale „Fräulein Hildeburg“93 anruft, um die Bezeichnete auf diese Weise zur Besinnung zu bringen, während er zugleich – „einen Schritt zurücktretend“94 – intuitiv auf Distanz zu dieser ihm unbekannten Erscheinung || Bevölkerung ausgezeichnet hatten, [...] mehr und mehr zum Allgemeingut der männlichen Nation [wurden].“ (S. 76) 89 HKKA 7, 188. 90 HKKA 7, 188. 91 HKKA 7, 189. 92 HKKA 7, 189. 93 HKKA 7, 189. 94 HKKA 7, 189.
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geht. Die Dämonisierung der Hildeburg-Figur durch den Ich-Erzähler, infolge derer die junge Frau „fast wie wenn sie besessen wäre“95 erscheint und „jählings laut auf[lacht]“96, folgt einem bipolaren Weiblichkeitskonzept, das Gutmütigkeit als Voraussetzung für einen gefahrlosen Konsum weiblicher Sexualität setzt, während vom Ideal abweichende Wesenszüge der Hexerei verdächtigt werden. Beschriebenen Irritationen zum Trotz sind es gerade diese widersprüchlichen Zeichen der Hildeburg-Figur, die den Phantasmagorien des Rittmeisters in besonderer Weise eignen und insofern nicht nur die Fallstricke eines höchst subjektiven Wirklichkeitsbezuges veranschaulichen, sondern die umfängliche Funktionalisierung einer Frauenfigur bezeugen, die als Projektionsfläche männlicher Bedürfnisse insbesondere der Affirmation des eigenen Selbstbildes dient. Der Überforderung durch diese gleichermaßen zweckdienliche wie beängstigende Frauengestalt wird erwartungsgemäß nicht auf Verstandesebene begegnet, sondern durch vertraute körperreflexive Praktiken, deren kompensatorischer Charakter schwer zu übersehen ist, wenn der Marschall „in unwilliger Gemütsbewegung das Pferd in eine unruhige und heftige Gangart versetzt, ohne dessen bewusst zu sein […]“97.
3.1.5 Das männliche Subjekt als Objekt der Begierde Die Rückkehr des verwundeten Kanzlers restituiert schließlich das Minnedreieck, kündigt aber eine Neuordnung der Verhältnisse an, denn es scheint mit seiner Ankunft nicht mehr sicher, wer nunmehr die Schirmherrschaft in dieser Dreierkonstellation innehat – was sich zeichenhaft in der Frage des Ich-Erzählers zuspitzt, ob es in der Ferne Hildeburg ist, „welche einen preußischen Infanterieoffizier, oder mein Freund Mannelin, der das Fräulein Hildeburg an der Hand führt[]“98. Die Antwort hierauf beschämt den Dragoner, der sich verunsichert von den Launen der jungen Frau von dieser auf eher passive Weise „bei der Hand“99 nehmen lässt, während der Kantianer die junge Erbin ‚führt‘. Der Körper bestätigt sich auf diese Weise als zentraler Ort der Aushandlung und Abbildung hierarchischer Strukturen. Er dient als unmittelbarste Repräsentanz für Demonstrationen von Macht und Unterwerfung, die von der körperlichen Auseinandersetzung bis
|| 95 HKKA 7, 189. 96 HKKA 7, 189. 97 HKKA 7, 190. 98 HKKA 7, 190. 99 HKKA 7, 189.
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hin zum kavaliersmäßigen Ausführen einer Dame auf die immer gleiche Frage abzielen, wer die Macht besitzt, andere Körper zu konkreten Handlungen zu veranlassen oder in räumlicher Hinsicht zu dirigieren. Das erotische Alternativmodell ruht denn auch fortan auf den Schultern des Kantianers, zumal der Text erst durch seine Anwesenheit die Bankierstochter die nötige Sicherheit finden lässt, um sich auch den Reizen des sinnesbetonten Marschalls wieder zu öffnen. Hierdurch gerät der Dragoner der Erbin gegenüber in eine (im bürgerlichen Geschlechterdiskurs) klassischerweise weiblich konnotierte Ergänzungsfunktion, so dass ausgerechnet dieser betont körperorientierte Männlichkeitsentwurf eine ‚strukturelle‘ Verweiblichung erfährt. Den eigentlichen Mittelpunkt der Novelle nämlich, das zentrale ‚Objekt‘ der Begierde,100 stellt der kantische Verstand des Kanzlers dar, der in seiner Überlegenheit Rittmeister und Bürgerstochter gleichermaßen beeindruckt. Entsprechend weist die oppositionell aufeinander bezogene, asymmetrische Stellung der beiden Männer „subtile Analogien zur diskursiven Organisation des herkömmlichen Geschlechterverhältnisses“101 auf und bestätigt den Reitersmann allem kriegerischen Habitus zum Trotz als seinem stillen Freund gegenüber in einer weiblich konnotierten, weil durch Emotionalität und Objektstatus definierten Position. Bezogen auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit erscheint diese schleichende Abqualifizierung des impulsiven Reiters gegenüber einer zunehmend im Zeichen von Dominanz auftretenden Denkernatur als Ausdruck einer diskursiven Neubestimmung männlicher Vorherrschaft bzw. deren Repräsentanten. Das Bedürfnis des Textes, das Miteinander der jungen Leute wie auch das Nebeneinander zweier grundverschiedener Männer (hierarchisch) zu ordnen, spiegelt das Zusammenspiel von Macht und Männlichkeit, entspringt nämlich der Absicht, den vorgestellten bürgerlichen Männlichkeitsentwurf als gesellschaftliches Leitideal zu verankern. Hierzu wird ein letztes Mal die zwiespältige Gefühlslage einer jungen Frau – die faktisch längst nicht mehr existiert – bemüht, um im Zeichen der Überwindung einer pflichtschuldig als Krankheit erkannten Doppelneigung eine Zuspitzung herbeizuführen, die jegliche Ideen von weiblich-sexueller Selbstbestimmung diskreditiert und nach einer gewaltsamen ‚Kur‘ verlangt:102
|| 100 Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 246. 101 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 247. 102 Zeller stellt diesbezüglich die These auf, dass nicht nur Doppelneigung, sondern Leidenschaftlichkeit generell im Realismus kritisch gesehen wird und Hildeburg sich mit der Negierung ihrer eingangs behaupteten Doppelliebe „in Übereinstimmung mit der Anthropologie des realistischen Literatursystems befindet [...].“ Aus: Rosmarie Zeller: Die Reichsunmittelbarkeit der
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Sie habe, seit wir [die jungen Männer, S.V.] beide wieder in ihrer Nähe gewesen, ihre Lage nicht länger ertragen und doch auch nicht zur früheren Entsagung so ohne weiteres zurückkehren mögen, und da sie die unglückliche Doppelliebe längst als eine unwürdige Krankheit erkannt, beschlossen, sich durch gewaltsame Wahl zu heilen.103
Weil eine Fortführung des ‚Spielbetriebs‘ weder gewünscht, noch angesichts von Polyamorie – gar Polyandrie – legitim ist, eine einfache Entscheidung der Bankierstochter jedoch nicht sein kann, weil sie die Idee einer vergleichenden Männerselektion unterliefe, wird das Begehren der jungen Frau – von Entsagung ist dabei längst keine Rede mehr – pathologisiert, um die anstehende Männerkür als eine unumgängliche Frauenkur zu motivieren.
3.1.6 Hexentheater: Eine Geisterprüfung als Geistesprüfung Die Geisterprüfung, die eigentlich eine Männerprüfung ist, besteht aus einer konventionellen Spukinszenierung, die darauf ausgelegt ist, denjenigen der beiden Männer zum Sieger zu küren, der die Konfrontation mit dem Poltergeist der „alte[n] Kratt“104 besteht, ohne vor Angst sprichwörtlich den Verstand zu verlieren. Per Los zum ersten Prüfling bestimmt, ist das Schicksal des abergläubischen Marschalls, der angesichts des vermeintlichen „Unwesen[s]“105 darüber zu sinnieren beginnt, wie er „auf den nächtlichen Schlachtfeldern und zwischen Tod und Leben verlernt habe, über dergleichen zu spotten“106, längst entschieden. Eine entsprechend ernsthafte Zuwendung erfährt der Marschall in der folgenden Nacht, wenn der Spuk wie bestellt mit einem lauten Knall zur Geisterstunde seinen Anfang nimmt und den Prüfling in einer weiblich beherrschten Parallelwelt erwachen lässt, die von einer alten Hexengestalt bzw. einer selbstbewussten Bürgerstochter regiert wird. Das „sehr große[], aber niedrige[] Zimmer“107, in dem der Dragoner sich wiederfindet, zeigt einen höhlenartigen Charakter und erinnert durch seine dunklen „Wände und Decken mit hölzernem Tafel- und Leistenwerke“108 an die übliche Metaphorik (Tiefe, Dunkelheit) weiblich
|| Poesie – Zu Gottfried Kellers Sinngedicht. In: Realismus-Studien. Hartmut Laufhütte zum 65. Geburtstag. Hg. von Hans-Peter Ecker. Würzburg 2002, S. 135–154, S. 147. 103 HKKA 7, 204. 104 HKKA 7, 193. 105 HKKA 7, 193. 106 HKKA 7, 193. 107 HKKA 7, 194. 108 HKKA 7, 194.
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konnotierter ‚Gegen-Räume‘. Die Affinität des Rittmeisters zu Spiritualität und Sensualismus befeuert die Effektivität der Szenerie zusätzlich und lässt ein „schwaches Mondlicht“109 in Erwartung übersinnlicher Erscheinungen zu einem „unheimliche[n] Mondglanz“110 sich auswachsen, so dass Hildeburgs Inszenierung von eisigen Luftzügen und wehenden Bettvorhängen ein reibungsloser Ablauf garantiert ist. Wenn diese ihrem Prüfling schließlich gar „die Decke vom Leibe“111 reißt, bekommt das Spiel einen durchaus ernsten Anstrich, da diese zeichenhafte Attacke weit mehr ist als bloße Spiellust oder der Versuch einer intimen Annäherung.112 Vielmehr dokumentiert Hildeburgs Griff zur Bettdecke ihre Hoffnung, endlich auch vom Marschall auf diese übertragende Weise ‚ent-deckt‘ zu werden, indem er die gespensterhafte Fassade der alten Kratt als bloße Projektionsfläche seiner eigenen Angstphantasien erkennt.113 Die Entfernung des verhüllenden Lakens ist somit eine zeichenhafte Anleitung, die den Prüfling auffordert, hinsichtlich der hexenhaften Verkleidung der jungen Erbin genauso zu verfahren. Eine Einladung, die aufgrund des affektiven Wirklichkeitsbezugs des Rittmeisters als solche unverstanden bleibt, zumal der verängstigte Mann den Ausfall ausgerechnet jener Körperlichkeit zu beklagen hat, über die er sich stets definiert hatte, die ihn nun jedoch nicht einmal mehr eine aufrechte Position einnehmen lässt. Nicht ohne Ironie erschöpft sich der von männlichen Figuren vertraute Impuls zum phallisch konnotierten Wuchs in die Höhe in diesem Fall in einer schmachvoll gekrümmten Sitzhaltung, woraufhin der seiner Mobilität beraubte Dragoner ausgerechnet auf einem „Himmelbett“114 hingestreckt dem „Höllenhumor“115 der Inszenierung hilflos ergeben ist. Hildeburgs Verstandesprüfung bewirkt beim Marschall denn auch verlässlich die zu erwartende Reproduktion angstbesetzter Weiblichkeitsimaginationen und enthüllt dessen latent misogynes Weiblichkeitsbild angesichts einer ihm vermeintlich zu Leibe rückenden „graue[en] Weibergestalt“116 oder auch „engbrünstige[n] Alte[n]“117. So bleibt
|| 109 HKKA 7, 195. 110 HKKA 7, 195. 111 HKKA 7, 196. 112 Vgl. Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 201f. 113 Neumann verweist hier auf die Bedeutung: alte Kratt = alte Kröte (Neumann: Gottfried Keller, S. 252). Vgl. hierzu auch Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Auflage. Bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 1967, S. 408. Darin wörtlich: „obd. krott (auch als gutmütige Schelte von Mädchen)“. 114 HKKA 7, 194. 115 HKKA 7, 196. 116 HKKA 7, 196. 117 HKKA 7, 196.
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selbst die maximale räumliche Annäherung der jungen Frau an ihren Prüfling − „bis sie beinah dicht vor mir still steht und mich anschaut“118 − erfolglos und wird zum Sinnbild der geistigen Inkompatibilität der beiden, da der Dragoner selbst jetzt nicht die begehrte Frau erkennt, sondern wiederum bloß ein „infame[s] Hexengesicht“119 vor sich sieht. Ein allerletzter Wink in der Inszenierung der Erbin verweist auf das Ideal aufgeklärten Denkens: Was Hildeburg nämlich mit dem geheimnisvollen Öffnen einer Schublade und dem Hervorholen immer neuer, ineinander verschachtelter Kästchen und Papiere vorstellt, ist nichts anderes als eine Demonstration aufgeklärter Erkenntnisstrategien – und anbei poetologische Selbstreflexion eines realistischen Textes.120 Die zeichenhafte Freilegung des Kerns einer Sache, Ausdruck eines aufgeklärten Hinter-die-Dinge-Schauens, bleibt dem Adressaten dieses Schauspiels im Schauspiel unzugänglich, woran selbst humorige Brechungen der Darstellung wie der „veritable[] Nasenklemmer“121 des Gespenstes nichts zu ändern vermögen. Stattdessen folgt auf eine konventionelle Spukinszenierung eine ebenso konventionelle Deutung, wonach in diesem Zimmer einst „ein Vertrag gefälscht, ein Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück gestohlen“122 wurde – was freilich nicht der nächtlichen Botschaft entspricht, wohl aber die Lage des Marschalls treffend umschreibt. Denn wenngleich nie ein Vertrag gefälscht wurde, kommt eben auch keiner mit der vielbegehrten Erbin zustande. In diesem Sinne ist das „niederträchtige […] Gelächter“123 der vergangenen Nacht mehr als ein hämischer Kommentar der Inszenierung; es ist Ausdruck der Ablehnung eines Männlichkeitsentwurfs, der unter Männern durchaus zu bestehen weiß, sich in der Konfrontation mit dem weiblichen Geschlecht bzw. der eigenen Innerlichkeit hingegen als vollständig hilflos erweist. Ob als ‚fixer Kerl‘ oder „wesenlose[s] Scheusal“124 – es ist dieser imaginäre Ballast, der die Inszenierung Hildeburgs als eine Spiegelung von weiblicher ‚Realität‘ erfahrbar werden lässt, der zufolge eine Frau in einer von männlichen Weiblichkeitsphantasien überformten (Geschlechter-)Welt stets nur als ein
|| 118 HKKA 7, 197. 119 HKKA 7, 198. 120 Eisele etwa beschreibt die künstlerische Leistung eines realistischen Dichters „als Aufdeckung der von einer inessentiellen Schale eingehüllten Essenz, bezeugt durch die für die realistische Theorie charakteristische Metaphorik des Herausholens“. Eisele: Realismus-Theorie, S. 41. 121 HKKA 7, 197. 122 HKKA 7, 197. 123 HKKA 7, 197. 124 HKKA 7, 198.
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‚Gespenst‘ in Erscheinung tritt. Die Ohnmacht der jungen Erbin bzw. des weiblichen Geschlechts gegenüber einer übermächtigen männlichen Bildproduktion fällt im Zuge der Geisterprüfung für einen kurzen Augenblick auf einen ihrer fleißigsten Verfechter zurück und lässt den Reitersmann angesichts seiner selbst erschaffenen Bilderwelt „für einen Moment die Sehkraft und Besinnung“125 verlieren. Der kurzzeitige „Verlust der Verfügungsgewalt über den Körper“126 erscheint nicht nur als Metapher eines umfänglichen Potenzverlustes,127 er lässt vielmehr den Dragoner auf körperlicher Ebene für einen Moment erfahren, was der von ihm begehrten Frau dauerhaft widerfährt: die eigene Ohnmacht angesichts ‚Realität‘ erzeugender Bilder. Eine solche Ohnmachtserfahrung scheint dem Text in Übertragung auf das männliche Geschlecht allein im Zeichen eines vollständigen Autonomieverlusts adäquat fassbar, der Körper und Geist gleichermaßen betrifft und die gesamte ‚Maschine‘ Mann außer Gefecht setzt. Das Versagen des Marschalls greift darüber hinaus ein bereits aus anderen Novellen Kellers vertrautes, maßgeblich ‚jungmännlich‘ konnotiertes Problem auf: die mangelhafte Kommunikationskompetenz gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Auch bei der Examination des Marschalls erweist sich dieses Phänomen als entscheidender Faktor, denn die Fähigkeit zur (auf-)klärenden Ansprache des Gegenübers weist in Hildeburgs Geisterprüfung den Weg zur Wahrheit, so dass die Sprachlosigkeit des Prüflings auf einen defizitären Wirklichkeitsbezug hindeutet, der „personeninterne Gründe für das Versagen“128 des jungen Mannes bestätigt. So erweist sich der mystikaffine Reitersmann aufgrund seiner selbst ver-
|| 125 HKKA 7, 198. 126 Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 18. Kühne verweist in der Einleitung des Bandes auf die zentrale Bedeutung der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, der von Blattmann am Beispiel von Trink- und Fechtritualen von Studentenverbindungen historisch nachgezeichnet wird. Vgl. Blattmann: Schweizerische Studentenverbindungen. 127 Geht man von einer „topische[n] Analogie zwischen dem eindringenden Blick und dem penetrierenden Sexualorgan“ (Astrid Lange-Kirchheim: Zur Präsenz von Wilhelm Buschs Bildergeschichten in Franz Kafkas Texten. In: Textverkehr. Kafka und die Tradition. Hg. von Claudia Liebrand und Franziska Schößler. Würzburg 2004, S. 161–201, S. 187.) aus, dann entspricht des Marschalls kurzzeitiger Verlust von Sehkraft und Besinnung einem Verlust männlicher Potenz. 128 Zeller: Die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, S. 149. In ihrer Auseinandersetzung mit der „Rolle des Schicksals“ in Kellers Sinngedicht verweist Zeller darauf, dass im Falle der Geisterprüfung nicht das Los den Sieg des Kanzlers begründet, sondern vielmehr das Prinzip des Zufalls „ironisiert“ wird, zumal im Falle der Geisterprüfung die ästhetischen Bedingungen für den ‚Einsatz‘ des Zufalls gerade nicht gegeben sind. Dieser ist nämlich erst dann am Zuge, „wenn sich aus der Konstruktion der Handlung selbst keine befriedigende Lösung oder Fortsetzung ergibt.“ (S. 148f.)
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schuldeten Unmündigkeit – seines buchstäblichen „Mund-halten[s]“129 – als ein ungeeigneter Heiratskandidat für eine Bürgerstochter, die als Repräsentantin eines sich maßgeblich über eine aufgeklärte Denktradition definierenden Bürgertums fungiert.
3.1.7 Eine Nacht mit dem Kan(t)zler: Ein Rendezvous mit (der) Vernunft Wie man die Erwartungen eines bürgerlichen Zeitalters in einer Stellvertreterinszenierung um moderne und gestrige Männlichkeit(en) erfüllt, zeigt der Kantianer, der die Geistersichtung des Freundes, der „von förmlichen Hallucinationen geplagt“130 scheint, im Zweifel eher auf pathologische Ursachen zurückführt, als dass er das Fundament rationalen Denkens anzweifelt. In aufrichtiger Sorge um den Stand der „geistigen und körperlichen Gesundheit“131 des Kontrahenten macht der Infanterist dessen „bewegliche[s] Wesen“132 als Einfallstor derartiger Eingebungen aus und weiß zudem um die Dynamik psychischer Leiden, die nur allzu leicht dazu führen, dass der Betroffene „in dem krankhaften Wesen weiter […] Fortschritte macht[e].“133 Folgerichtig hält sich der Rationalist nicht mit Fragen von Dies- oder Jenseitigkeit auf, sondern deutet die Verlautbarungen des Freundes als Symptom einer in ihrer Gesundheit bedrohten Psyche, womit das ohnehin ungleiche Verhältnis der beiden Männer sinnbildlich um die Konstellation von Arzt und Patient erweitert wird. Die Körperstarre der Nacht wird in diesem Rahmen als eine funktionelle Störung, als Symptom eines moralisch ungefestigten Wesens interpretiert und legt nahe, dass selbst ein bewährter Körper nur so lange verlässlich funktioniert, wie das Zusammenspiel von Physis und Psyche einem gesunden, sprich autonomen Geist unterstellt ist. Dies zu demonstrieren, ist Sache des Kanzlers, der sich in wissenschaftlichem Duktus bereit erklärt, einen „zuverlässigen Bericht“134 über die Hintergründe des Spuks abzugeben. Ein Unterfangen ausdrücklich ohne Waffengewalt, „denn gegen Geister würden die Waffen nichts helfen, und wenn allenfalls lebendige Leute einen Unfug treiben, so muß man nicht gleich Blut vergießen!“135 Der Verzicht auf den Gebrauch von Waffen ist Ausdruck eines abwägenden Charak|| 129 Vgl. hierzu auch Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 247. 130 HKKA 7, 201. 131 HKKA 7, 201. 132 HKKA 7, 201. 133 HKKA 7, 201. 134 HKKA 7, 202. 135 HKKA 7, 202.
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ters von Maß und Mitte und folglich ein sicheres Vorzeichen für den Prüfungserfolg des Kanzlers. Regungslos „wie wenn er nichts merkte“136, tatsächlich aber „halb angekleidet“137, erwartet der Kanzler das nächtliche Spektakel und begegnet dem verlässlich zur Geisterstunde erscheinendem Spuk mit einem Moment innerer Besinnung, in welchem er „wie der Jäger, von einem Tiere überrascht, sein Gewehrschloß schnell in Ordnung“138 bringt, um hiernach „geschwind seine Gedanken in eine kleine Reihe [zu stellen, S.V.], als ob es Polizeileute wären, und sich selbst an ihre Spitze.“139 Die Regungslosigkeit des Kanzlers ist somit nicht Resultat einer Überforderung, sondern im Gegenteil Ausdruck eines äußerst agilen Verstandes,140 der in wissenschaftlicher Manier zunächst beobachtet und einordnet. Im Gegensatz zur angstvollen Starre des Marschalls bleibt der Blick des Kantianers damit flexibel. Er analysiert und gibt im rechten Moment die Weisung zum Körpereinsatz, so dass der symbolische Wuchs in die Vertikale problemlos gelingt und den Kantianer in die Lage versetzt, das schreibende Gespenst rückwärtig zu überraschen: „Na Frauchen, was treiben sie denn da?“141 Die Umdeutung des Poltergeistes zum ‚Frauchen‘ kündet von der Umkehrung der herrschenden Verhältnisse in dieser bis dato weiblich dominierten Parallelwelt und bereitet dem vermeintlich körperlosen Spuk ein umso körperbetonteres Ende, wenn Mannelin die verkleidete Bürgerstochter „unversehens um die Hüfte“142 packt, ihr die Wachsmaske vom Gesicht reißt und das darunter zum Vorschein kommende Gesicht mit Küssen übersät – wobei er sich schließlich „auf den Mund [beschränkte], nachdem derselbe ein unhöfliches: ‚Du lieber Kerl!‘ ausgestoßen hatte.“143 Der Kantianer also setzt seinen Mund auf gleich zweifache Weise erfolgreich ein, indem er ihn einerseits zur enthüllenden Ansprache des Irrationalen
|| 136 HKKA 7, 203. 137 HKKA 7, 202. 138 HKKA 7, 203. 139 HKKA 7, 203. 140 Der Erfolg des Mannelin, der auf die Verbindung von Willensstärke und Körperbeherrschung verweist, korrespondiert unverkennbar dem Männlichkeitsideal bürgerlicher Turnbewegungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Mannhaftigkeit nicht selten im Zeichen von Körperkontrolle definieren: „Ich liebe endlich den Mann der Kraft, den ganzen Mann, der sich zu regen und bewegen weiß in Gefahr und Nöthen [...].“ Aus: Der Turner. Zeitschrift gegen leibliche und geistige Verkrüppelung. Dresden 1848. Zit. n. Daniel A. McMillan: „… die höchste und heiligste Pflicht …“ Das Männlichkeitsideal der deutschen Turnbewegung 1811–2871. In: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. (Geschichte und Geschlechter 14) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 88–100, S. 93. 141 HKKA 7, 203. 142 HKKA 7, 204. 143 HKKA 7, 204.
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nutzt,144 um seine ‚Mündigkeit‘ zu belegen, während er ihn andererseits von einer sexuellen Vitalität künden lässt, die auf Darstellungsebene als ‚Mobilitätsschranke‘ der Hildeburg-Figur dient,145 welche regelrecht mundtot geküsst wird. Die Brüskiertheit, die der Text seiner Protagonistin zunächst auferlegt, ist dabei kein Ausdruck von Zurückweisung, sondern allein der Erhöhung des ‚Bezwingers‘ geschuldet,146 der die junge Frau auf eine derart erotische Weise übermannt, dass diese sich in topischer Bildhaftigkeit „auf seinen Knieen“147 wiederfindet und in die von Anbeginn an einzig denkbare Paarkonstellation fügt. Des Kantianers unerwartet erotische Offensive dient nicht nur der abschließenden Korrektur einer einst nach sexueller Selbstbestimmung strebenden Frauenfigur, sie ist auch ein finaler Schlag gegen den Kontrahenten, der sein Bild von der blonden Menschenart revidieren („Ich will nicht untersuchen, ob es nicht anständiger gewesen wäre, wenn sie einen zweiten Stuhl herbeigeholt hätten […].“148) und sich dem ‚Duckmäuser‘ ausgerechnet auf dem (Schlacht-)Feld von Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit geschlagen geben muss. Es ist eine deutliche Stellungnahme des Textes gegen seinen Ich-Erzähler bzw. eindimensionale Männlichkeitsentwürfe generell, wenn es in Analogie zur Kriegsteilnahme der beiden Männer wiederum der erdnahe Fußsoldat ist, der den lebenswarmen Frauenkörper hinter der Maskerade ‚be-greift‘, während der stets ‚über‘ dem Schlachtfeld schwebende Dragoner zeichenhaft an einer ‚über-sinnlichen‘ Gestalt scheitert. || 144 Was Christian Begemann am Beispiel der Lydia und ihres narzisstischen Spiels feststellt, gilt ebenso für das von vornherein auf die eigene Entdeckung ausgelegte Gespensterspiel Hildeburgs: „Erst der Eintritt der Sprache in diesen wortlosen Kosmos der Körper, der Blicke und Gesten sorgt für die entscheidende Korrektur: Der Schein zerbricht und das wahre Sein der Personen tritt hervor.“ Begemann: Ein weiter Mantel, S. 343. 145 Vgl. Michael Groneberg: „Bullenmänner“. Zur Biologisierung männlichen Begehrens. In: Der Mann als sexuelles Wesen. Zur Normierung männlicher Erotik. Hg. von Michael Groneberg. (Ethik und politische Philosophie 13) Fribourg 2006, S. 5–36, S. 21. Groneberg attestiert der Konzeption moderner Männlichkeit, sich (nach wie vor) im Bilde von Grenzüberschreitungen zu definieren, „vom Eigenen ins Andere, ins unabgeschlossen Unendliche [...] nach droben, zu den Ideen oder Gott, oder [...] nach draussen, zur Erfassung und Aneignung der Welt“, während die Frau „säkular hinter die Wände des Hauses und das Tuch ihres Gewandes verwiesen“ wird, so dass „ihr der Mann als Mobilitätsgrenze vorgesetzt“ ist. (S. 21) 146 Auch Sigrid Weigel stellt bezüglich der obligatorischen weiblichen Schamhaftigkeit gegenüber männlichen Begehrlichkeiten fest: „Die Schamhaftigkeit der Frau erweist sich damit als Funktion in einer Ökonomie von Angriff und Verteidigung, die dem Mann die Position des Eroberers bzw. Siegers stets garantiert, Medium der Kolonisierung des anderen Geschlechts.“ Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 139. 147 HKKA 7, 204. 148 HKKA 7, 204.
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3.1.8 Wahlrecht? Wahlpflicht? Pflichtwahl? Zur Männerselektion einer Epoche Das Minnespiel um Regent- und Dienerschaft, das als Tarnkonstrukt eines polyandrischen Experiments ins Leben gerufen wird, spielt unverkennbar mit männlichen Lustängsten von ungezügelter weiblicher Sexualität und wird auf Erzählebene spätestens mit der unfreiwilligen Platzierung der Minneherrin auf den Knien des Kanzlers für beendet erklärt. Die Restauration konventioneller Geschlechterverhältnisse dient indes nicht allein der Ordnung intimer Verhältnisse, sie stellt vielmehr die Bezugsgröße in einem Männervergleich von epochaler Relevanz dar, der die drei jungen Menschen zu Komparsen in einem weit umfassenderen ‚Spiel‘ werden lässt. So ist die Manneswahl der Bankierstochter weder willkürlich in ihrem Ergebnis, noch im Übermut vollzogen und schon gar nicht von der Wahlherrin allein zu verantworten. Die Idee weiblicher Wahlhoheit ist vielmehr Mittel zum Zweck, denn es braucht eine „selbstbewusste, eigenständig denkende, […] aktive Frau“149, um auf erotischer Ebene einen Männervergleich zu inszenieren, der angesichts seiner übergeordneten politischen Dimension ausdrücklich nicht im Zeichen von Emotionalität, sondern allein nach Maßgabe ‚männlicher‘ Vernunft zu verhandeln ist. Der ‚fixe Kerl‘ Hildeburg ist Ausdruck dieser komplexen Anordnung, deren Wirkungsgrad durch die konstitutive Nicht-Öffentlichkeit des Ganzen nochmals gesteigert wird, gleichzeitig jedoch mit Blick auf die soziale Brisanz der Inszenierung weiblicher Doppelneigung in verlässlich abgesteckten Grenzen sich bewegt. Die Geisterseher-Novelle hat demnach gleich zwei Spukgeschichten zu bieten, die beide ‚uneigentlich‘, nämlich nicht das sind, was sie zunächst scheinen. Beide Inszenierungen, das Minnedreieck in der Gartenlaube wie auch die Spukgeschichte im alten Schloss, künden vom spielerischen bzw. überspielten Ernst der Lage und können ausschließlich in Räumen des ‚Abseitigen‘ in Szene gesetzt werden, so dass in Bezug auf den herrschenden Geschlechterdiskurs das Spiel mit Alternativen (Gartenlaube) wie auch die Problematisierung bestehender Konventionen (Spukzimmer) allein im Verborgenen denkbar ist. Die entscheidende Voraussetzung jedoch, die sämtlichen Inszenierungen zugrunde liegt, deren Bedeutsamkeit hingegen auf Textebene nicht bzw. allenfalls mittelbar zur Sprache kommt, ist das väterliche Protektorat der Hildeburg-Figur. Konzeption wie Realisation des gesamten Spielbetriebs nämlich sind maßgeblich auf die Autorität einer im Hintergrund wirkenden machtvollen Vaterfigur angewiesen. Er bzw. seine bürgerliche Reputation ist es, welche die Bühne bereitet, auf der Hildeburgs Minne- und Geisterphantasien gedeihen. In diesem Sinne ist || 149 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 242.
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der insbesondere den Ich-Erzähler irritierende wie faszinierende Selbstbestimmungsanspruch der jungen Frau unmittelbarer Ausdruck des ökonomischen Status einer großbürgerlichen Bankiersfamilie bzw. einer sozial privilegierten Vaterautorität. Entsprechend erfolgt die Einführung der Bankierstochter ins Textgeschehen unter Bezugnahme auf die sozioökonomische Position des Vaters, die wie selbstverständlich mit der charakteristischen Autonomie der Hildeburg-Figur verschränkt wird, indem etwa diese „einzige Tochter“150 in Anlehnung an einen bürgerlichen (Erb-)Rechtsdiskurs zur „vielbegehrte[n] reiche[n] Erbin“151 gekürt wird. Die wirtschaftliche Prosperität des Vaters, der angesichts seiner exklusiven Tischgesellschaften gar als Gravitationszentrum der (groß-)bürgerlichen Klasse erscheint, beschreibt demnach den Boden, auf dem die viel zitierte Unabhängigkeit Hildeburgs gedeihen bzw. ‚akzeptiert‘ werden kann. Wie wichtig Grund und Boden in zeichenhafter und konkreter Hinsicht für Hildeburgs Gestaltungsfreiheit sind, zeigt sich auch daran, dass die Spielorte ihrer Inszenierungen allesamt dem väterlichen Besitz zugehören. Zugleich ist dieser Besitz untrennbar verbunden mit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Familie bzw. dem Siegeszug bürgerlicher Prinzipien. So steht etwa das in Kriegszeiten günstig erworbene Landschloss der Familie als ein Ort mit feudaler Vergangenheit für die Macht eines erstarkenden Bürgertums, das nunmehr einfach kauft, was noch im vorigen Jahrhundert allein durch Erbfolge oder feindliche Übernahme den Besitz zu wechseln pflegte. Die Gesetze des Marktes konterkarieren als die eigentlichen Gesetze der Macht nicht nur überkommene aristokratisch-feudale Herrschaftsformen, sie untermauern zugleich die Bedeutung des Bankiers, der qua Status als Patron seiner spielfreudigen Tochter fungiert, deren freiheitlicher Umgang mit zwei jungen Männern offenkundig einer patriarchalen Autorisierung bedarf. Dabei wird Hildeburg nicht auf eine unmittelbare Weise protegiert wie etwa die Gouverneurstochter Lydia, deren falsches Spiel mit dem Protagonisten gar die lustvolle Zustimmung ihres Vaters findet, sondern in ihrem Spieltrieb von patriarchalen Gesetzmäßigkeiten begünstigt. Von diesen nämlich werden die jungen Männer im Angesicht einer sozioökonomisch geradezu ‚übergewichtigen‘ Vaterfigur für zu leicht befunden, als dass aus der Zuneigung der jungen Menschen ein sittlich bzw. rechtlich verbindlicher Akt erwachsen könnte. Diese unsichtbaren moralischen Grenzen, die um die junge Bankierstochter gezogen sind, erkennen beide Bewerber anstandslos an, wenn sie akzeptieren, dass unter den gegebenen Voraussetzungen noch auf Jahre nicht an eine ernsthafte Verbindung zu denken ist, so dass Hildeburg anders als Lydia auf eine indirekt|| 150 HKKA 7, 180f. 151 HKKA 7, 181.
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passive Weise protegiert wird. Als einziges Kind des Bankiers ist Hildeburg zudem nicht bloß Erbin materieller Werte, sondern eingedenk des väterlichen Renommees auch einem moralischen Erbe verpflichtet, wodurch die junge Frau zur Sachwalterin bürgerlicher Ideale bestimmt wird. Hildeburg agiert insofern bei aller Eigenständigkeit stets auch als Alter Ego des Vaters und Repräsentantin eines bürgerlichen Wertekanons – beides protegiert und verpflichtet sie gleichermaßen. Zudem ist es nicht zuletzt ein aufgeklärter väterlicher Geist, der in der Gestalt einer selbstbestimmten und gebildeten Tochter zu spiegeln sich gefällt und ein entsprechendes Mitspracherecht bei der Partnerwahl einfordert.152 Folgerichtig wollen bei der ‚Pflichtwahl‘ Hildeburgs diverse externe Interessen berücksichtigt sein, die maßgeblich einer kapitalen Vaterfigur im Hintergrund geschuldet sind. Als ein ausgewiesenes Vaterkind steht die junge Frau zudem gemeinsam mit dem Bankier für eine aufgeklärte Geisteshaltung, während etwa die „alte Mama“153 mit ihren abergläubischen Tendenzen eine überholte Weltsicht repräsentiert und jene geisterhaften Phänomene fürchtet, die „der alte Herr“154 geradezu ironisch zurückweist, als „daß mit Luft und Licht und frischer Tünche […] das Unwesen sich wohl verziehen werde.“155 Die nicht zufällig zitierte Idee von Luft und Licht als Mittel gegen gestrige Gespenster beschreibt einen vertrauten Topos aufklärerischen Denkens und stellt Vater wie Tochter in eine Reihe mit dem Kantianer,156 während sich der Marschall diesbezüglich der alten Mutter zugesellt. Weil Wohlstand und Ansehen der Familie unleugbar auf rationalen Verstandesfertigkeiten, nämlich den nüchtern kalkulierten Finanzgeschäften des Familienoberhauptes beruhen, erweist sich die aufgeräumte Natur des Kanzlers als in jeder Hinsicht privilegiert, die Nachfolge des väterlichen Erbes anzutreten. All diese Faktoren schwingen in Hildeburgs Ausgestaltung der Männerwahl mit und relativieren die Idee einer wirklich unabhängigen Partnerwahl. So
|| 152 Dass selbst für die gebildete Hildeburg keine rechte ‚Idee‘ von weiblicher Autonomie abseits der Funktion einer bürgerlichen Wahlfrau zu existieren scheint, belegt, „wie wenig die gelehrte und/oder emanzipierte Frau die Phantasie männlicher Autoren angeregt hat, gibt es doch für die idealisierten Formen der weiblichen Ungleichheit ein schier unerschöpfliches Imaginationsund Bildrepertoire [...].“ Aus: Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 119. 153 HKKA 7, 192. 154 HKKA 7, 192. 155 HKKA 7, 193. 156 So formuliert etwa der Philosoph und radikale Frühaufklärer Gabriel Wagner (ca. 1660– 1717): „Luft und Licht bringen Geist hervor.“ Aus: Siegfried Wollgast: Gabriel Wagner (Realis de Vienna) als Vertreter der radikalen weltlichen Frühaufklärung in Deutschland. In: Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft. Hg. von Konstantin Broese, Andreas Hütig, Oliver Immel und Renate Reschke. Berlin 2006, S. 37–52, S. 42.
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erinnert die Repräsentantenauslese der jungen Frau angesichts dieses ungeschriebenen Regelwerks beinahe an einen bürgerlichen Verwaltungsakt: Sie ist einem klar umrissenen Zweck verpflichtet, sachgemäß auszuführen und jederzeit auf Faktenbasis zu begründen. Hildeburgs Aufgabenstellung fällt entsprechend parteiisch aus und konzentriert sich auf eine Abfrage eben jener Qualitäten, die in einer bürgerlichen Welt Autorität und Zugehörigkeit garantieren, dem Marschall jedoch offenkundig fehlen und somit den Erfolg des Kanzlers garantieren. Ein Wettbewerb etwa auf dem Fechtplatz oder zu Pferde hätte unter Umständen den falschen Mann zum Sieger gekürt, so dass die Ausführung der Männerprüfung zwar den Ansprüchen eines „technisch untadelhaften Verfahrens“157 genügt, die Konzeption derselben den Ausgang jedoch verlässlich vorwegnimmt. Eine Wahl wird während des nächtlichen Theaters folglich nicht getroffen, sie wird vielmehr auf eine für den Unterlegenen nachvollziehbare und möglichst gesichtswahrende, weil intime Weise verkündet. So dezent diese und alle anderen ‚männervergleichenden‘ Spielideen der Novelle auf Darstellungsebene auch ins Werk gesetzt sein mögen, bleibt die Fixierung des Textes auf den ‚Stärkeren‘ doch stets präsent. Hierbei wird ganz im Sinne eines „der wirkungsmächtigsten Interdiskurse des 19. Jahrhunderts“158 nicht einfach körperliche Überlegenheit als Stärke definiert, sondern die Fähigkeit zur Anpassung an die Anforderungen der jeweiligen Gegenwart. Dieses Verständnis von Stärke legitimiert des Kanzlers Überlegenheit und lässt anbei die inhaltliche Bestimmung von Dominanz als historisch variabel erscheinen – nicht jedoch das Prinzip von Dominanz und Unterordnung als solches. So bleibt denn der Text hinsichtlich seiner Männerwahl durchweg der Idee des Stärkeren verpflichtet und verfestigt mit seiner sich – im Sinne von Kontinuität durch Wandel – den Erfordernissen der Zeit anpassenden Definition von Stärke den Universalanspruch männlicher Vorherrschaft. Signifikant zeigt sich diesbezüglich das Bedürfnis des Textes, die beiden zentralen Männlichkeitsentwürfe durchgängig im Zeichen von Polarisierung und Hierarchisierung zu bestimmen. Auf diese Weise wird das Motiv der richtigen Partnerwahl von Anbeginn an begleitet von einer || 157 HKKA 7, 206. 158 Thomas Lachmann: Irritationen von Identitäten. Deutsch-amerikanische Migrationsbewegungen in Gottfried Kellers Novelle Regine. In: Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung. Hg. von Christof Hamann, Ute Gerhard und Walter Grünzweig. Bielefeld 2009, S. 211–223, S. 216. Darwins Ideen sind dem Werk Kellers durchaus vertraut und werden etwa in der Rahmenhandlung der Züricher Novellen zitiert: „Besonders zwei Löwen waren von allzu unsicherer Gestaltung; sie schienen mitten im Kampf ums Dasein, wie man jetzt sagen müßte [...].“ HKKA 6, 120.
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unterhalb der Darstellungsebene verhandelten, mentalitätsgeschichtlich akzentuierten ‚Männerbeschau‘, die die Folie für die Typisierung zweier maximal divergenter Männer abgibt und Hildeburgs Wahl als eine Angelegenheit von ‚epochaler‘ Dimension bestätigt. So gesehen agiert die Bankierstochter nur bedingt in eigener Sache,159 sondern vielmehr als Wahlfrau in einem repräsentativen System, das sie zur Ausführung ihres Wahlauftrags zwar mit weitreichenden Privilegien versieht, dies aber nicht der Befürwortung weiblicher Emanzipation wegen tut. Zu offenkundig nämlich ist die selbstbestimmte Art Hildeburgs Mittel zum (patriarchalen) Zweck, so dass die junge Frau mit Erfüllung ihres Wahlauftrags bzw. im Moment der Entzauberung des Spuks durch den Kantianer – der zugleich die Entzauberung der spielfreudigen Minneherrin bedeutet – konsequenterweise in den Hintergrund tritt.
3.1.9 Die Namen und die Dinge: Zur Imaginierung des Weiblichen Auf den Knien des erfolgreichen Prüflings wird nicht nur die alte Kratt als Hildeburg ‚enthüllt‘, sondern in einer weiteren Häutung die begehrte Hildeburg als eine bürgerliche Else offenbart. Erst zum Ende der Novelle als ‚Else Moorland‘ – so die standesamtliche Identität der Bankierstochter – zu erkennen gegeben, bestätigt sich ‚Hildeburg‘ rückblickend als ein Gemeinschaftsprojekt zweier junger Männer, deren Umbenennung der Freundin mehr über die Bezeichnenden selbst als über die Bezeichnete aussagt. So wird diese zwar offiziell als Schirmherrin des Minnespiels geführt, zugleich jedoch durch ihre ‚Diener‘ auf diese Rolle verpflichtet, wodurch die Minne- und Männerphantasie ‚Hildeburg‘ geboren ist,160 welche den jungen Männern auf sozialer wie entwicklungspsychologischer Ebene verlässlich bei der Mannwerdung sekundiert. Semantisch trägt ‚Hiltia-burg‘ das Versprechen von Schutz und Zuflucht (ahd. burg: Burg, Schloss)161 im Namen, erscheint ihres Selbstbestimmungsanspruchs wegen aber zugleich als eine Festung, deren Wehrhaftigkeit (ahd. hiltia: || 159 Wenn Schuller ein Alleinstellungsmerkmal der Geisterseher-Novelle darin sieht, dass hierin eine „Ehe unter einer weiblichen Ägide“ (Marianne Schuller: Das Sinngedicht. In: GottfriedKeller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Ursula Amrein. Stuttgart 2016, S. 117–136, S. 129) geschlossen wird, ist diese weibliche ‚Schirmherrschaft‘ allenfalls in Bezug auf die Durchführung der Geisterprüfung zu belegen – nicht jedoch hinsichtlich der hierarchischen Konstellationen zwischen den Geschlechtern. 160 Eine paradoxe Verkehrung des ‚Dienst‘-Gedankens, die konsequent in Sacher-Masochs Venus im Pelz durchgespielt wird. 161 Vgl. Köbler: Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, S. 158.
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Kampf, Kampfesmut)162 im (Geschlechter-)Kampf überwunden werden will. Ihrem „dämonischen Übernamen“163 gemäß wirkt die Phantasmagorie Hildeburg denn auch gleichermaßen Respekt einflößend wie einladend auf die Jünglinge und befeuert die Umbesetzung einer bürgerlichen Else Moorland zur „einvernehmende[n] Huldin“164. Als eine von zwei Studentenfreunden gemeinschaftlich gepflegte Männerphantasie taugt der Täufling somit schwerlich als Entwurf eines „vom männlichen Blick emanzipierte[n] Individuum[s]“165, das sich „männlichen Projektionen entzieht und als eigenständiges Individuum mit eigenen Anliegen sichtbar wird“166 − zumal die viel zitierte Eigenständigkeit der Hildeburg-Figur wie zuvor beschrieben auf das (passive) Protektorat eines bürgerlichen Patriarchen zurückzuführen ist. Ein ‚Außerhalb‘ des männlichen Blicks bzw. männlicher Diskurse zu Weiblichkeit gibt es offenkundig nicht. Denn selbst die gegenteilige Erzählung einer jungen Frau, die unter Pseudonym die Last von Weiblichkeitsimaginationen vorführt, um hinter aller Fassade als reale Frau berührt und nicht als Männerphantasie konsumiert zu werden, verweist letztlich auf männlich-patriarchale Ideen von Weiblichkeit, wenn hier einer Frauenfigur der sehnliche Wunsch zugeschrieben wird, in ihrer Geschlechtlichkeit ‚erkannt‘ zu sein.167 Die Inszenierung Hildeburgs ist somit ein äußerst zwiespältiges Unterfangen. Sie belegt zwar die Sensibilität der Protagonistin – und somit auch die des Textes – gegen Fatalität und Wirkungsmacht von Phantasiebildern, führt in der Konsequenz jedoch nicht zu einem Akt von Emanzipation, sondern dient vorrangig der Selektion des männlichen Personals im Geiste einer Konfrontation mit äußeren wie inneren Trugbildern. Folglich zeigt sich die männliche Deutungs- bzw. Diskurshoheit als komplex und äußerst immun gegen emanzipatorische Ideen – zumal, wenn diese selbst innerhalb der Grenzen eines männlich-patriarchalen Verständnishori-
|| 162 Vgl. Köbler: Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, S. 544. 163 Kaiser: Gottfried Keller, S. 533. 164 Kaiser: Gottfried Keller, S. 531. 165 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 239. 166 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 239. 167 Die Demaskierung der alten Kratt als Befreiungsphantasie einer nicht auf Sexualität und Sinnlichkeit verzichten wollenden Frau zu lesen, ist ein nicht unproblematisches Unterfangen, weil ein solcher, vermeintlich emanzipatorischer Akt auf ein zutiefst androzentrisch strukturiertes Erweckungsschema rekurriert, das die Idee geschlechtlicher, künstlerischer oder auch intellektuell-moralischer Schöpfung allein aus männlicher Perspektive definiert: „Er schenkt ihr damit nicht nur das Leben – mit seinem Erkennen erweckt er sie von den Toten zur lebendigen Frau −, sondern ihre Identität und mit dieser Hoffnung und Lebenszuversicht.“ Aus: Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 205.
Die Geisterseher: Wahlpflicht und Pflichtwahl | 201
zonts erdacht sind. Das unfreie ‚Wahlfrauentum‘ der jungen Else wird somit zum Synonym für die bestenfalls relative Autonomie von nach bürgerlichem Verständnis ‚autonomen‘ Frauenfiguren, so dass sich an die Demaskierung der alten Kratt und die Übermannung der Studentenphantasie Hildeburg folgerichtig die finale Transformation der Erbin Else Moorland zur künftigen Frau Reinhart anschließt. Auf Idealisierung und Dämonisierung folgt somit die ‚Realisierung‘ als Ehefrau, wodurch sich bewahrheitet, dass es für die Protagonistin keinen Ort außerhalb männlicher Zuschreibungen gibt. Sie weiß zwar durch ihre Inszenierungen das Spannungsverhältnis zwischen weiblicher Realität und männlicher Phantasie metaphorisch aufzuzeigen, die Subversion dieser konventionellen Geschlechterideologie bleibt ihr jedoch verwehrt, da sich das Verständnis der Novelle von weiblicher Selbstbestimmung in einer ‚freien‘ Ehegattenwahl erschöpft.
3.1.10 Augenkur und Ohnmacht: Der männliche Blick im Zeichen von Defizienz Dass auch ein im Zeichen aufgeklärter Verstandesfertigkeiten sich bewährendes ‚Mannsein‘ seinen Preis hat, zeigt sich bei einem Blick auf die übergeordnete Rahmenhandlung der Novelle, dessen Protagonist als späterer Sohn von Else Moorland und ihrem einstigen Kanzler vorgestellt wird. In ihm nämlich scheint die siegreiche Ratio des Vaters in intellektualistische Sinnesfeindlichkeit umgeschlagen.168 Die in der Geisterprüfung hervorbrechende Leidenschaftlichkeit des Kantianers, der Rationalität und Sinnlichkeit im rechten Moment und im richtigen Maß zu vereinen wusste, ist seinem Nachfahren nicht mehr gegeben. Stattdessen zitiert der Text die romantische Skepsis gegen ein in freudlose Geisteskälte ausartendes Verstandesdiktat und entwirft die Figur des Herrn Reinhart (jr.) als ein vollständig vergeistigtes Mannsbild, dem die ganzheitliche Idealität des Vaters,169 der seine Kompetenz in intellektuellen, moralischen und auch sinnlichen
|| 168 Unter Verweis auf Horkheimer/Adorno beschreibt Treder die Ambivalenz „rationale[r] Naturbeherrschung“ als ursächlich für ‚moderne‘ (Selbst-)Entfremdungstendenzen, die im Zeichen des weiblichen Geschlechts verhandelt werden, denn „die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben“. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag. Amsterdam 1947, S. 19ff. Zit. n. Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 6. Als ein die eigene (weiblich konnotierte) Sinnlichkeit vollständig hinwegrationalisierender Wissenschaftler zahlt der jüngere Reinhart genau diesen Preis. 169 Dass Kaiser der „ganze ideale Mann“ (Kaiser: Gottfried Keller, S. 530.) bürgerlicher Prägung allein in der Symbiose von Kanzler und Marschall vorstellbar scheint, ist gerade am Beispiel der Geisterseher-Novelle nicht zu belegen. Die dieser These implizite ‚Halbwertigkeit‘ des Kantianers
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Belangen bewiesen hat, vorenthalten bleibt. Der bürgerliche Geist des Textes, der das Credo von Maß und Mitte als Wegweiser für sämtliche Lebensbereiche anmahnt, schreibt einer rein rationalen Lebensführung folglich dasselbe destruktive Potenzial zu wie einer Herrschaft der Sinne,170 so dass die sinnlichen Defizite des Sohnes in einen oppositionellen Bezug zur Leidenschaftlichkeit des einstigen Konkurrenten seines Vaters gesetzt werden. Die Defizienz dieser eindimensional fokussierten Männlichkeitsentwürfe wird durchweg in Diskursen von Partnerschaft und Sexualität verhandelt, innerhalb derer das rechte Verhältnis von Rationalität und Leidenschaftlichkeit ausgelotet wird, ohne das der ‚Stabilität‘ des bürgerlichen Mannes eine einseitige Akzentverschiebung droht – die je nach Art der Vereinseitigung auf einen Verlust von Autonomie oder auch sexueller Vitalität hinausläuft. Als vermittelndes Element der verengten Wirklichkeitsbezüge von Sensualismus und Intellektualismus führt der Text in beiden Fällen die Visualität der betroffenen Protagonisten an. Auf metaphorische Weise spiegeln deren Beobachtungen nämlich nicht die Realität einer Außenwelt, sondern die Realität des beobachtenden männlichen Geistes. Diese ist bevorzugt nach innen gerichtet und erfasst nicht die Welt außerhalb des eigenen Ichs, sondern bestimmt sie. So gerät der Reitersmann in größte Not, weil er etwas sieht, was nicht da ist – während der Naturforscher umgekehrt Gefahr läuft, die Reize zu verkennen, die ihn umgeben. Die angestrebte ‚Augenkur‘ des Wissenschaftlers korrespondiert folglich der kurzzeitigen Ohnmacht des Marschalls, da beide Phänomene den männlichen Blick auf metaphorische Weise problematisieren – und im Falle des einen eine Überprüfung des Wirklichkeitsbezugs, im Falle des anderen eine Besinnung auf die eigene Sexualität anmahnen. Eine Gesundung im Sinne einer entsprechenden Korrektur der eigenen Defizite ist in beiden Fällen zudem allein durch das weibliche Geschlecht zu erlangen. Eine weitere kurative Funktion kommt der jungen Else Moorland zudem in Bezug auf das ‚Geschlecht‘ der Bankiersfamilie bzw. dessen Fortbestand zu, wo es die Leerstelle eines klassischerweise männlich zu denkenden Stammhalters auszufüllen gilt, der Namen und Tradition der Familie fortführt. Als eine || nämlich wird vom Text ausdrücklich nicht gestützt. Vielmehr zeigt die Erzählung, dass die später für das bürgerliche Denken maßgebliche Spaltung des Subjekts in Ratio (männlich) und Sinnlichkeit (weiblich) zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters noch nicht obligatorisch war. Der Kanzler stellt insofern eine erfolgreiche, da äußerst produktive Verbindung von Verstand und Leidenschaft dar – wodurch der Marschall in jeglicher Hinsicht entbehrlich wird. 170 Neumann führt die Geisterseher-Novelle diesbezüglich als „Vorgeschichte zu der Aufspaltung des Mannes im nachromantischen Prozeß der Gesellschafts-Rationalisierung“ an. Neumann: Gottfried Keller, S. 256.
Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken | 203
merkmalsspezifisch von der Norm abweichende Frauenfigur – ein ‚fixer Kerl‘ von weiblichem Geschlecht – ist die junge Frau optimal konfiguriert, um mithilfe weiblicher Reize und männlicher Verständigkeit den einen Mann zu wählen, der als legitimer ‚Sohn‘ in die Familie eintritt und entsprechend kein geistergläubiger Reitersmann, sondern allein ein aufgeräumter Rechtsgelehrter sein kann. Bestätigt wird Hildeburgs erfolgreiche Männerwahl in einem späteren Rückblick auf das Moorlandsche Geschlecht, das zwar nicht mehr den Familiennamen der Bankiersfamilie trägt, wohl aber in deren Geiste und buchstäblich auf deren Grund gedeiht, auf dem nun ein „neuerbautes Landhaus an der Stelle des alten Gebäudes [steht, S.V.], das die Großeltern Morland gekauft hatten“171. So kann der Text seine Utopie einer bürgerlichen Gesellschaft durch die Vereinigung von Bürgersfrau und Bürgersmann erfolgreich in die Zukunft fortschreiben und anbei sein traditionelles Geschlechtermodell bestätigen, indem er den ‚Spuk‘ weiblicher Selbstbestimmung auf eine romantisch verklärte Weise beendet und seine Protagonistin, die ihm je nach Bedarf eine Else Moorland oder auch eine Hildeburg ist, schließlich als eine ehrbare Frau Professorin Reinhart in die Obhut des erfolgreichen Prüflings übergibt.
3.2 Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken Das Motiv betörender Weiblichkeit, das innerhalb einer männlich geordneten Welt herangezogen wird, um divergente Protagonisten zusammenzubringen und in einem polarisierenden Männlichkeitsdiskurs miteinander zu vergleichen, findet sich auch in der Erzählung Die Berlocken wieder. Wenngleich im Rahmen eines „Erzählduell[s]“172 zwischen den Geschlechtern als weibliche „Gegenphantasie“173 zu den latent misogynen Einlassungen des Naturwissenschaftlers Reinhart positioniert, meint Gegenphantasie nicht Emanzipationsphantasie, und so gibt die Erzählerin der Berlocken-Novelle den Helden ihrer Geschichte schlussendlich zwar der Lächerlichkeit preis, bleibt jedoch einem konventionellen Geschlechterdiskurs verpflichtet. In Problemkonstellation und Ergebnis nahezu identisch mit || 171 HKKA 7, 209. 172 Dominik Müller: Gottfried Kellers Erzählungen und Romane. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hg. von Christian Begemann. Darmstadt 2007, S. 99. Vgl. ebenfalls Schilling: Kellers Prosa, S. 213, wo die dialogische Struktur der Novellenanordnung als „Redegefecht“ innerhalb der Rahmenhandlung gewertet wird. 173 Susanne Müller-Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). (Philologische Studien und Quellen 158) Berlin 1999, S. 235.
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den Geistersehern – denn wiederum trägt das ‚stärkere‘ Mannsbild den Sieg und damit auch die begehrte Frau davon –, erfolgt die Definition von Überlegenheit in der Geschichte um den jungen Thibaut unter abweichenden Vorzeichen, so dass am Beispiel der Berlocken-Erzählung zeitgeschichtliche bzw. kulturspezifische Implikationen hegemonialer Männlichkeitsmuster hervortreten. Während nämlich die Geisterseher-Novelle ihre Protagonisten in einem mentalitätsgeschichtlich akzentuierten Diskurs auf Gegenwarts- bzw. Zukunftstauglichkeit hin abklopft, bestimmt die vorliegende Erzählung die Eignung der dargestellten Männerbilder auf einer interkulturellen Ebene, auf der männliche Idealität nicht im Zeichen einer bürgerlichen Standortbestimmung zwischen Ratio und Eros, sondern vor dem Hintergrund zivilisationsbedingter Selbstentfremdungstendenzen verhandelt wird. Die auf das Ende des 18. Jahrhunderts datierte Konfrontation von als europäisch bzw. indianisch imaginierten Männlichkeitsbildern rückt demgemäß soziokulturelle Aspekte der Konfiguration dominanter Männlichkeit(en) in den Vordergrund, so dass in Anbetracht der im Vergleich zu den Geistersehern abweichenden Definition von ‚Stärke‘ die zentrale Bedeutung von Relationalität für das Konzept hegemonialer Männlichkeit aufgezeigt werden soll.
3.2.1 Mannwerdung zwischen Misogynie und matronenhafter Weiblichkeit Als abweichend stellt sich zunächst die Jugend des Thibaut von Vallormes dar, denn während die zuvor untersuchten Männerfiguren spätestens mit Eintritt in einen geordneten militärischen Bereich beinahe ausschließlich in einem homosozialen Umfeld agieren, bewegt sich der junge Thibaut „[t]rotz seiner kriegerischen Stellung“174 als „Fahnenjunker in einer Compagnie“175 weiterhin bevorzugt in der Gesellschaft von „alten Tanten, Basen und anderen würdigen Matronen“176. Diese matronenhafte Mütterlichkeit reiferen Jahrgangs entspricht zwar dem Reifegrad Thibauts, der noch „gar nicht flügge war und keinem Menschen etwas zu Leide gethan hatte“177, vermittelt dem heranwachsenden Knaben jedoch zugleich das Zerrbild einer Weiblichkeit, deren Existenz auf die Anhäufung und Besprechung von „Putzschachteln, Galanterieschränke[n] und bemalte[n] Coffrets“178 oder auch die Verköstigung von „Crêmetörtchen, Blancmangers und
|| 174 HKKA 7, 275. 175 HKKA 7, 275. 176 HKKA 7, 275. 177 HKKA 7, 275. 178 HKKA 7, 275.
Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken | 205
Zuckerbrötchen“179 reduziert scheint. Wenngleich auch für Thibaut schließlich die Stunde des Erwachsenwerdens schlägt und er sich anschickt, „ein gefährlicher Mensch und Mann zu werden“180, wirken die Schatullen, Kassetten und übrigen Galanteriewaren, welche die Phantasie des Knaben stets beflügelten, als Metaphern einer verdinglichten Weiblichkeit in dem jungen Manne fort. Eine wertvolle Uhr etwa, die er als Anerkennung seiner Pagendienste erhält – versehen mit der Anmerkung, „die Berlocken müsse er sich mit der Zeit selbst dazu erobern“181 – befeuert seine Vorstellung von der Materialisierung einer weiblichen Existenz in weltlichen Gegenständen und dient dem Text als Ansporn seines Protagonisten, der beigefügten Anmerkung auf den Grund zu gehen. „Ganz rot vor Vergnügen“182 belegt die zu beobachtende Gesichtsfärbung Thibauts, wie sehr Sinnlichkeit und Materialität in Inneren des jungen Mannes miteinander verschränkt sind, so dass „ein Standartenjunker von der Reiterei“183 wenig Mühe hat, ihn von seiner Interpretation der Worte zu überzeugen: „[D]as ist doch klar; es bedeutet, daß Sie sich die Berlocken aus kleinen Andenken von Damen herstellen sollen, deren Herzen Sie geraubt haben! Je mehr, je besser!“184 Alternative Deutungen sind dem von Kindesbeinen an auf Dingliches fixierten Thibaut nicht vermittelbar,185 stattdessen wird das Projekt „Gentilhomme“186 in Angriff genommen und von Stund an die „Plauderstübchen der alten Tanten“187 sorgsam gemieden, um nicht die Gelegenheit zu verpassen, endlich „die schrecklichen Raubzüge zu beginnen.“188
|| 179 HKKA 7, 275. 180 HKKA 7, 275. 181 HKKA 7, 276. 182 HKKA 7, 276. 183 HKKA 7, 277. 184 HKKA 7, 277. 185 Die Sexualisierung des Berlocken-Motivs durch Thibaut ist dabei nicht willkürlich oder subjektiv motiviert, sondern durchaus zeitgenössisch, denn die Berlocken (Anhängsel), die am Hosenbund der im 18. Jahrhundert meist enganliegenden Beinkleider befestigt wurden, „[...] kündigten mit ihrem Geklimper den Träger nicht nur akustisch an, sondern umrahmten optisch das männliche Geschlechtsteil im Zentrum.“ Aus: Sabina Brändli: „... die Männer sollten schöner geputzt sein als die Weiber ...“ Zur Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit im 19. Jahrhundert. In: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hg. von Thomas Kühne. (Geschichte und Geschlechter 14) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 101–118, S. 112. 186 HKKA 7, 277. 187 HKKA 7, 277. 188 HKKA 7, 277.
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Die ersten Raubzüge jedoch zeigen einen gerade siebzehnjährigen Knaben, dessen unbeholfene Fixierung auf materielle Wertgegenstände belegt, dass er die „meta-physische Dimension der Angelegenheit“189 nicht verstanden hat und entsprechend ohne tieferes Verständnis der Dinge nach dem schmückenden Zierrat einer Frau verlangt. So erscheint der selbstberufene Herzensbrecher zunächst eher als ein verhinderter Schmuckdieb, der seine Finger in Unkenntnis semiologischer Zusammenhänge nach einem jeden Gegenstand von Wert ausstreckt, ohne dessen zeichenhaften Wert zu begreifen. Ein menschliches Herz nämlich schlägt (noch) nicht für den jungen Mann, so dass es den begehrten Schmuckstücken an entsprechender Referenz mangelt und folglich nicht das Werk eines gewieften Herzensdiebes, sondern allenfalls die „thörichten Possen“190 eines unwissenden Jünglings zu beobachten sind. Seine Fixierung auf unbelebte Gegenstände lässt zwar einerseits fetischistische Züge erkennen,191 bleibt aber zugleich auffallend leidenschaftslos und verfestigt das Bild eines jungen Mannes, dessen sexuelle Unerfahrenheit durch eine infantil-neurotische Fixierung auf Materielles kompensiert wird.
|| 189 Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2008, S. 124. 190 HKKA 7, 277. 191 Die Schwierigkeit, dem Fetischismuskonzept historisch und semantisch umfänglich gerecht zu werden, belegt Antenhofer, die darauf hinweist, „dass das alltagssprachliche Wissen und die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs heute am stärksten vom sexuellen Fetischismus à la Freud sowie vom Warenfetischismus in der marxistischen Tradition beeinflusst sind, was zu missverständlichen Aussagen führt, insbesondere wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst wiederum fetischistisch und Fetischismus in einem eher alltagssprachlichen Sinn verwenden.“ Christina Antenhofer: Fetisch als heuristische Kategorie. Geschichte – Rezeption – Interpretation. Bielefeld 2011, S. 34. In diesem Sinne werden Begrifflichkeiten wie ‚Fetisch‘ oder ‚Fetischismus‘ im Folgenden ausdrücklich nicht in einem psychopathologischen Sinne verstanden (Vgl. ICD-10-WHO, Version 2016, F65.0: Fetischismus), sondern in Anlehnung an Böhme, der das abendländische Fetischismus-Konzept auf vielfältige Weise analysiert und abschließend als die „bündigste[] Formel, die je über den Fetischismus geschrieben wurde“ (S. 401) den US-amerikanischen Psychiater Robert Jesse Stoller zitiert: „Ein Fetisch ist eine Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt.“ Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 401. Auf Böhme verweist auch Begemann, der am Beispiel Adalbert Stifters für die Literatur des 19. Jahrhunderts und ihren ‚Dingbezug‘ resümiert: „Auch die Literatur des 19. Jahrhunderts steht im Sog veränderter Dingbeziehungen, reflektiert sie und treibt sie mit voran. Die Wendung zu den res, den Dingen, sei es in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, sei es in ihrem ‚Wesen‘, gehört zu den Grundzügen insbesondere des Realismus.“ Christian Begemann: Ding und Fetisch. Überlegungen zu Stifters Dingen. In: Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten. Hg. von Hartmut Böhme und Johannes Endres. München 2010, S. 324.
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3.2.2 Vom Sammler zum Fetischisten: Abweichende Figurenpsychologie und eine problematische Zeichensetzung Die ausstehende Vermittlung der nötigen Lebens- bzw. Zeichenkunde übernimmt „ein sehr schönes Frauenzimmer“192, nämlich die adjektivisch auf das Wesentliche reduzierte „schöne Guillemette“193, die den Heranwachsenden in Alter, Körpergröße und vor allem Lebenspraxis um „eine Hand breit“194 überragt und Thibaut die Komplexität zwischengeschlechtlicher Kommunikation erfahren lässt, indem sie die Unerfahrenheit des Herzensbrechers für ihr persönliches Amüsement zu nutzen weiß. Mit einem abwesenden Offizier verlobt, lässt sich die junge Frau vom Fahnenjunker „als kleine Erheiterung“195 den Hof machen und gibt sich im Vertrauen auf die eigene Überlegenheit ihren Phantasien auf eine Weise hin, „wie wenn sie noch ein halbes Kind wäre und wenn er nicht von selbst in ihre Nähe kam, rief und lockte sie ihn herbei.“196 Dergestalt verführt, verliebt sich der gänzlich unerfahrene Jüngling in die Offiziersverlobte und lernt im Moment der Offenbarung seiner Gefühlswelt die Fallstricke des geschlechtlichen Miteinanders kennen, wenn die Selbstverliebte „ihn lachend abschüttelte und er weiter vom Ziele des Herzensraubes war als jemals.“197 Die Geschichte des Herzensräubers Thibaut beginnt folglich mit einer auf Textebene nicht weiter thematisierten Zurückweisung, die unverkennbar Racheimpulse hervorruft und Thibaut der Verlobten ausgerechnet jenes Korallenherz stehlen lässt, das ihr künftiger Ehemann als Sinnbild seiner Liebe vertrauensvoll in ihre Hände gelegt hatte. Damit ist die erste erjagte Berlocke der Erzählung nicht Zeichen eines eroberten Frauenherzens, sondern Beleg der Gefühle eines unbeteiligten Dritten und Ausdruck der gekränkten Eitelkeit eines verhinderten Herzensräubers. Dass dieser seinen Schmerz umgehend in einem raubzüglerischen Racheakt stillt, pervertiert die misogyne Berlockenidee gar noch, da den jungen Mann die Tatsache, dass der Wert der Berlocke nicht auf ihn verweist, in seiner Taxierung derselben als ein kostbares ‚Ding‘ nicht anficht. So ist das geraubte Kristallherz nicht Ausdruck eigener Verführungsqualitäten, sondern ein entkerntes Symbol der Liebe zwischen Dritten, das entwendet wird, um eine emotional unbeteiligte Frauenfigur für ihr falsches Spiel zu strafen und durch den
|| 192 HKKA 7, 277. 193 HKKA 7, 278. 194 HKKA 7, 278. 195 HKKA 7, 278. 196 HKKA 7, 279. 197 HKKA 7, 279.
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Schmuckraub doch noch unter die eigene Verfügungsgewalt zu zwingen. Es entsteht das Bild eines rachsüchtigen Adoleszenten, der auf Zurückweisung mit narzisstisch-infantiler Zerstörungswut antwortet und dadurch gerade jenes egoistische Prinzip zum Maßstab des eigenen Handelns erhebt, durch das er zuvor selbst zu Schaden kam. Statt nämlich die unheilvolle Eigenliebe seiner Verehrten als ein Lehrstück zu begreifen, labt sich Thibaut an ihrem in Gestalt des geraubten Korallenherzens verdinglichten Schmerz, wodurch zwar ein Verständnis für das zeichenhafte Gewicht einer Berlocke entsteht, jedoch in derart destruktiver Verkehrung der ursprünglichen Idee, dass der Text seinen Protagonisten entsprechend einen „Taugenichts“198 schimpft. Weitaus schlimmer endet dieser erste Berlockenraub für die Offiziersverlobte, die das ihr auferlegte Keuschheitsgelübde durch den Verlust des Korallenherzens zeichenhaft bricht und als eine entehrte Frauenfigur zur nunmehr „armen Guillemette“199 wird.200 Weil das Geschenk ihres Verlobten dessen Anspruch auf Besitz und Exklusivität symbolisiert, folglich „eine Art Fetisch zur Steigerung männlicher Potenz“201 abbildet, wird die Schöne im Lichte einer bürgerlichen (Doppel-)Moral für ihr Fehlverhalten mit der Auflösung der Verlobung bestraft und schlussendlich „arm und verlassen mitten in der Welt sitzen“202 gelassen. Thibauts erste Berlocke taugt folglich nicht als Beleg eines erfolgreichen Eroberungsaktes, sie ist vielmehr Ausdruck der Hypokrisie bürgerlicher Moralvorstellungen, welche von einem unverheirateten ‚Frauenkörper‘ Tugendhaftigkeit und Enthaltsamkeit einfordern, selbigen zugleich jedoch als Trophäe der sexuellen Eroberungslust des Mannes begreifen.203 So ist dieses erste Sammlerstück in Thibauts Besitz vor allem ein Zeichen männlicher Destruktion: als Symbol der Rache für eine kränkende Zurückweisung und als Beleg einer zeichenhaften „Vergewaltigung“204 fremden ‚Besitztums‘. Was nicht erobert werden kann, wird zumindest || 198 HKKA 7, 283. 199 HKKA 7, 279. 200 Die illegitime Aneignung der verlobten Guillemette durch Thibaut spiegelt sich im Schmuckraub wider, denn wie Pedde hinsichtlich des Symbolgehalts der Schmuckstücke der Novelle formuliert, „konstruieren sich männliche Potenz und Ehre über die Ehre, hier eigentlich den Ehrverlust, der Frau“, so dass der Ehrverlust der Offiziersverlobten unmittelbar den Ehrverlust des Offiziers nach sich zieht. Vgl. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 322. 201 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 322. 202 HKKA 7, 280. 203 Pedde spricht diesbezüglich von einer „doppelte[n] Codierung der Schmuckherzen“ (S. 323), die in der Folge „zum Stigma männlich bürgerlicher Doppelmoral“ (S. 323) werden. 204 Weil die Entwendung des sexualsymbolisch aufgeladenen Schmuckstücks ohne Wissen und Einverständnis der Betroffenen geschieht, sieht Amrein hier eine „symbolische Darstellung des Geschlechtsaktes“ vorliegen, wodurch der Schmuckraub „auf diese Weise zur Vergewalti-
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zerstört, so dass das geraubte Schmuckstück auf zynische Weise schließlich doch als Zeichen eines gebrochenen Herzens bzw. gebrochener Biographien taugt. Als eine ausdrücklich „eroberte Trophäe[]“205 eignet das Korallenherz dem Fahnenjunker somit allemal, wodurch sich das misogyne Berlockenkonstrukt der Standartenjunker tief in die Gedankenwelt des unerfahrenen Adoleszenten einschreibt und hier als ideelle Legitimationsgrundlage dient, um den Einsatz von Trug und List zur Eroberung der begehrten Anhängsel zu rechtfertigen. Der Text forciert somit das Bild einer männlichen Psyche, die von pubertärer Hybris getrieben eine Demütigung erfährt und in Ermangelung adäquater Verarbeitungsmechanismen das Prinzip der Destruktion zur Maxime des eigenen Handelns erhebt. So prägt dieses Spiel zweier narzisstischer Geister nachhaltig das Verständnis des Protagonisten vom verschiedengeschlechtlichen Miteinander, indem es den prototypischen Unterbau der nachfolgenden ‚Frauenepisoden‘ darstellt. Dass bezüglich der Frauenwahl kein bestimmtes Beuteschema zugrunde liegt, vielmehr vom kleinen „Töchterchen“206 bis zur „alte[n] Jungfer“207 alles ins Visier genommen wird, was weiblichen Geschlechts ist und kostbares Geschmeide um den Hals trägt, verfestigt die neurotische Dimension dieser Zeichenjagd.208 Denn wo das Medaillon eines jungfräulichen Mädchens, das noch leer und „ganz durchsichtig“209 ist, gleichermaßen begehrt wird wie der sorgsam verwahrte Halsschmuck einer älteren Tante, der als Symbol einer verlorenen Liebe gar die „teuerste Erinnerung“210 eines ganzen Menschenlebens vorstellt, wird deutlich, dass die jeweiligen Schmuckstücke ihren Wert für Thibaut vorrangig durch ihre Verweisfunktion auf eine intakte und wahrhaftige Emotionalität erfahren. Auf diese Weise verrät Thibauts Fetischismus kompensatorische Züge, denn die Berlocken, die er in nunmehr professioneller Manier zusammenrafft, verweisen nur noch ‚formal‘ auf die gebrochenen Herzen dahinter, tatsächlich || gung der Frau“ wird. Aus: Ursula Amrein: Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers „Sinngedicht“. (Zürcher germanistische Studien 40) Bern 1994, S. 226. 205 HKKA 7, 277. 206 HKKA 7, 280. 207 HKKA 7, 281. 208 Die Problematik einer Übertragung aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds stammender Begrifflichkeiten auf den Text, die in der Nomenklatur der Psychiatrie zudem längst ersetzt sind, liegt auf der Hand und wird in diesem Bewusstsein und in Anlehnung an Böschensteins Aufsatz zur Psychologie der Pankraz-Figur vorgenommen, um „die mechanische Natur, [...] die Bedeutung des Wiederholungszwanges“ (S. 149) für den Protagonisten zu beschreiben. Vgl. Böschenstein: Pankraz und sein Tier, S. 149. 209 HKKA 7, 280. 210 HKKA 7, 282.
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sind sie längst Ausweis der persönlichen Unzulänglichkeiten eines Mannes, der als „Fetischist eines wachsenden männlichen Gehänges vor seinem Bauch“211 ein entrücktes Bild der eigenen Person kultiviert. Seine Zweifel, „ob er eigentlich es sei, der die Schönen sitzen ließ, oder ob er von ihnen verlassen werde“212, problematisieren zwar in gewisser Weise die eigenen Strategien von Verdinglichung und Vertauschung, führen jedoch nicht zu einer kritischen Reflexion dieser Praxis. Auf die (humorvolle) Spitze treibt der Text das Verlangen seines Protagonisten nach einer emotionalen Wahrhaftigkeit, die ihm selbst unbekannt scheint, die er jedoch umso exzessiver durch die ersatzweise Inkorporation der gefühlsbetonten Integrität Dritter zu kompensieren versucht, wenn er dessen Tante auf eine derart lebensnahe Weise von ihrer Jugendliebe berichten lässt, dass die warmen Worte von „all der Liebenswürdigkeit, der männlichen Schönheit und Jugend des Verlorenen“213 den Neffen regelrecht überwältigen. Weil zudem die alte Jungfer, durch ihre lebendige Erinnerung revitalisiert, „eine neue Jugend“214 erfährt, fällt ihr Thibaut berauscht von so viel Wahrhaftigkeit und „wie wenn er selbst der verlorene Liebhaber wäre“215 zu Füßen, wobei er sich nicht „entblödete“216, „der traumvergessenen würdigen Dame“217 seine Liebe zu gestehen – in einer Weise freilich, „wie nur eine junge Seele eine andere junge Seele lieben kann!“218 Die Skurrilität dieser Szene, in der zwei Figuren sich nicht am Gegenüber, sondern an der eigenen Erinnerung bzw. Sehnsucht entzünden, gipfelt in der theatralisch-bizarren Wiederaufführung eines vergangenen Liebesglücks, das ins Zentrum einer blutleeren Inszenierung rückt und auf einen jungen Mann hindeutet, für den ‚Fühlen‘ eine Konsumierung des weiblichen Geschlechts meint. Als der „gefährlichste[] Kavalier der Armee“219 zwischenzeitlich zum Leutnant aufgerückt, wählt der Text wiederum einen soldatisch-homosozialen Kontext, um die Defizite seines Protagonisten zu konturieren. Auf gleichgeschlechtlichem Terrain von militärischen Mannesattributen kündend, reiht sich die Thibaut-Figur ein in eine Systematik männlicher Defizienz, die psychische, || 211 Kaiser: Gottfried Keller, S. 541. 212 HKKA 7, 284. 213 HKKA 7, 282. 214 HKKA 7, 282. 215 HKKA 7, 282f. 216 HKKA 7, 283. 217 HKKA 7, 283. 218 HKKA 7, 283. 219 HKKA 7, 284.
Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken | 211
moralische, oder auch emotionale Unzulänglichkeiten hinter einem betont mannhaften Erscheinungsbild verbirgt und diese erst durch die Konfrontation mit typisierten Weiblichkeitsbildern erfahrbar werden lässt. So verweisen die beschriebenen Vertauschungs- und Umbesetzungsstrategien auf ein neurotisch verzerrtes Verhältnis zu Emotionalität und Weiblichkeit, woraus eine zwanghafte Sammelleidenschaft hervorgeht, die mit zunehmender Frequenz und abnehmender Befriedigung betrieben wird. Hierbei lässt der Leutnant eine libidinöse Bindung zu den gesammelten Schmuckstücken erkennen – denn er „ging mit den Berlocken zu Bett und stand mit denselben auf“220 –, welche die substituierende Funktion seines Fetischismus untermauert und eine figurenpsychologische Komplexität andeutet, die von einem ‚realistischen‘ Text erwartungsgemäß weder kommentiert noch expliziert wird. Wenngleich es dem Text nicht darum zu tun ist, die abweichende Psychologie des Taugenichts, seinen zwanghaft-kompensatorischen Fetischismus, ursächlich zu ergründen, ist Thibauts abgehobene Sammelleidenschaft nicht ohne Vorgeschichte. Diese dient jedoch nicht der Fundierung eines psychologischen oder psychiatrischen Diskurses, sondern der Konturierung eines Männlichkeitsentwurfes, der als ein „hübsche[s] Bürschchen“221 im Frankreich der 1770er Jahre die Bühne des Geschehens betritt und fortan mit seinem gefälligen Äußeren in den Salons verschiedener Städte auf Herzens- bzw. Schmuckjagd geht. Die libidinöse Fixierung auf weibliche „Siebensächelchen“222 wird auch deshalb nicht weiter ergründet, weil die Genese der fetischistischen Sammelwut Thibauts für die Intention des Textes unerheblich ist – entscheidend ist allein die Abweichung selbst, nicht ihr Ursprung. Thibaults Jagd nach (Liebes-)Zeichen ist nämlich selbst Zeichen – und zwar das eines neurotischen Mannes, dessen kompensatorisch-mittelbarer Wirklichkeitsbezug dem Text als Kontrastfolie zur Bestimmung dominanter Männlichkeit dient. Bezeichnenderweise ist es schließlich eine Stadt wie Paris, welche eigentlich „der rechte Schauplatz seiner ferneren Thaten sein“223 sollte, die mit all ihren Salons und einer Vielzahl eroberungswilliger Damen zum Ort des Überdrusses wird. Thibauts Fetischismus gerät in den Pariser Salons in eine regelrechte Sinnkrise, da das Überangebot an begehrenswerten, sich geradezu aufdrängenden Berlocken das Selbstbild des Eroberers konterkariert und seine Sammelleidenschaft zur sinnentleerten Zwanghaftigkeit verkommen lässt.
|| 220 HKKA 7, 284. 221 HKKA 7, 276. 222 Kaiser: Gottfried Keller, S. 541. 223 HKKA 7, 283.
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3.2.3 Eine neue Welt nach alter Tradition: Kolonialphantasien von der Annexion des ‚Anderen‘ und der Versöhnung des ‚Selbst‘ Den Gegenentwurf zu den Frauengestalten der französischen Gesellschaftszimmer findet der junge Leutnant fernab der Heimat in der „vorgeblich ideologiefreien Zone“224 der „neuen Welt“225, wo er als Soldat eines französischen Heeres den nordamerikanischen Freiheitskampf unterstützt. Der tiefe Eindruck der Reisenden, im Angesicht der Ureinwohner „nun der wahren Natur und freien Menschlichkeit so unmittelbar gegenüberzustehen“226, lässt die leidenschaftslose ‚Frauensammelei‘ Thibauts rückblickend als einen auf das weibliche Geschlecht projizierten Abwehrreflex gegen das als gekünstelt und abgehoben erfahrene Gesellschaftsleben der eigenen Zeit erkennbar werden. Thibauts Überdruss „gegen das Frauengeschlecht in Frankreich“227 ist mit Eintritt des schönen Indianermädchens Quoneschi in die Erzählung folgerichtig bald vergessen und lässt das Herz des Trophäenjägers in einer bis dato ungekannten Intensität für „das rote Naturkind“228 schlagen. Verliebt ist Thibaut vor allem in die eitle Idee, die junge Indianerin als seine Gemahlin heimzuführen, um „das philosophische Paris“229 durch diesen „Inbegriff von Natur und Ursprünglichkeit“230 zu kompromittieren. Die von Thibaut vorgenommene Konfrontierung von indianischer Unverfälschtheit und europäischer Dekadenz weist zurück auf einen reichlich unreflektierten Eskapisten, der vor lauter Ursprünglichkeit den eigenen Ursprung vergisst und die Affektiertheit der Pariser Salons kritisiert, ohne sich selbst als Produkt derselben zu erkennen. Vor diesem Hintergrund wird das junge Indianermädchen im Unterschied zu den Frauengestalten der Heimat nicht – zumindest nicht in Bezug auf den Protagonisten – zur einfachen Trophäe degradiert, sondern ebenso wie die Bürgerstochter Hildeburg zum Tertium Comparationis eines anstehenden Männervergleichs. Die textinterne Konfiguration dieser ‚vergleichenden‘ Frauenfigur weist wie in der Geisterseher-Novelle auf die zentralen Kategorien des zu exerzierenden Vergleichsprozesses voraus, so dass im Gegensatz zu Hildeburgs bildungsbürgerlicher Versuchsanordnung männliche Dominanz nunmehr von einer ‚wilden‘ Indianerfrau und damit auf erwartbar handfestere Weise verhandelt wird. Als fleischgewordene Männerphantasie von ursprünglicher, nämlich || 224 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 333. 225 HKKA 7, 284. 226 HKKA 7, 285. 227 HKKA 7, 286. 228 HKKA 7, 286. 229 HKKA 7, 286. 230 HKKA 7, 286.
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zivilisatorisch unverdorbener Weiblichkeit ist das Indianermädchen offenkundig vollumfänglich präfiguriert, worauf die Erzählerin durch einen ironisch-süffisanten Kommentar Bezug nimmt:231 Ich kann es nicht wagen, eine Beschreibung von dem wunderbaren Wesen zu machen, und muß es den Herren überlassen, sich nach eigenem Geschmacksurteil das Schönste vorzustellen, was man sich damals unter einer eingeborenen Tochter Columbias dachte […].232
Entlarvender ist die diskursive Macht von Weiblichkeitsimaginationen kaum vorzuführen, wenn wie hier durch die augenzwinkernde Kungelei der Erzählenden mit ihren Zuhörern männliche Ideen von der erotischen Naturhaftigkeit des weiblichen Geschlechts verhöhnt werden, indem die Erzählerin ihre dichterische Darstellungskompetenz als nicht annähernd geeignet vorgibt, um der blühenden Phantasie des männlichen Geschlechts gerecht zu werden. Einer solchen Phantasie auf der Spur, ist ausgerechnet der Pariser Salonlöwe, der in seiner europäischen Heimat als „ein bewährter und geprüfter Mann“233 gilt, in den Weiten Nordamerikas dabei zu beobachten, wie er „einem Neuling gleich auf den Spuren einer Wilden“234 umherirrt und in diesem Bilde höchster emotionaler Involviertheit an die Umstände seiner ersten Liebschaft erinnert. Die Wiederentfachung sexueller Eroberungslust lässt auch die Berlockenidee wieder hervortreten, zumal die verdinglichten Erinnerungen an die früheren Liebschaften des Soldaten in der ‚Neuen Welt‘ nicht unbeachtet bleiben und verlässlich die Aufmerksamkeit des Indianermädchens Quoneschi auf sich ziehen. Die Reduktion des weiblichen Geschlechts auf ein in erster Linie sexuell konnotiertes Reizschema,235 das zuverlässig Leidenschaftlichkeit und Jagdinstinkte im männlichen Subjekt weckt, indem es sich wechselweise verführend und abweisend gegen selbiges zeigt, erfährt auch Quoneschi, die es geradezu „meisterhaft verstand, wie eine Libelle ihm [Thibaut, S.V.] bald über den Weg zu
|| 231 Dunker sieht in der ‚Virtuosität‘, mit der die Erzählerin das „Arsenal der Vorstellungen des ‚Wilden‘“ bedient, einen intertextuellen Verweis auf die beinahe zeitgleich zur erzählten Zeit (1771) erschienenen Reiseberichte des französischen Seefahrers und Schriftstellers Louis Antoine de Bougainville (1729–1811). Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 125. 232 HKKA 7, 285. 233 HKKA 7, 284. 234 HKKA 7, 285. 235 Eine in vielfältiger Hinsicht auf Geschlechtlichkeit fokussierte Darstellungsweise der Textautorität beschreibt auch Muschg, der in autobiographisch-psychoanalytischer Deutungstradition hinsichtlich der Autorpersönlichkeit anmerkt, dass Kellers Werk „jedenfalls darin recht männlich“ ist, „daß es auch unbewältigte, daher gewalttätige Geschlechtlichkeit“ spiegelt. Muschg: Gottfried Keller, S. 84.
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schwirren, bald sich unsichtbar zu machen, jetzt einen verlangenden Blick auf ihn zu werfen, dann spröd und kalt ihm auszuweichen […].“236 Diese ‚Libelle‘ nun fordert in unverständlicher Sprache, aber mit einer „ungeheuerlichen Keckheit“237 die Trophäen des Casanovas für sich und belegt durch ihre Unwissenheit um die Bedeutung der gesammelten Schmuckstücke den diskursiven Charakter jener ‚Berlocken‘. So sind die Berlocken zwar stofflich in der Realität der ‚Neuen Welt‘ angekommen, ihr ideeller Wert hingegen entspringt dem Zeichensystem eines entfernten Kontinents, so dass die aus europäischer Perspektive dreist bzw. naiv anmutenden Begehrlichkeiten des „gute[n] Kind[es]“238 die Grenzen kultureller Zeichensysteme aufzeigen und indirekt eine Warnung gegen den unreflektierten Import eigener (Zeichen-)Diskurse in fremde Welten aussprechen. Der europäisch-abendländischen Zeichentradition nicht vertraut, stellt Quoneschis selbstbewusstes Verlangen die Berlockenidee Thibauts zwar regelrecht auf den Kopf, bleibt aber unverdächtig, da das Unverständnis der ‚Wilden‘ kurzerhand selbst zum Zeichen eines „unschuldige[n] Wesen[s]“239, das „weder die Bedeutung noch den Wert“240 der Berlocken kennt, stilisiert wird.241 Rousseausche Ideen von der Gerechtigkeit zivilisationsferner Naturvölker vermengen sich mit einer den abendländischen Diskurs bezeichnenden Stilisierung dieser Ureinwohner zu Naturkindern und begründen eine erotische Kolonialphantasie,242 wonach sich „die unschuldige, kindliche Amerikanerin in den unwiderstehlichen Europäer“243 verliebt. Entsprechend fasst der neurotische Berlo|| 236 HKKA 7, 286. 237 HKKA 7, 288. 238 HKKA 7, 288. 239 HKKA 7, 288. 240 HKKA 7, 288. 241 Indem Quoneschi als Variante der „Kunstfigur des ‚guten Wilden‘“ außerhalb europäischer Ideologien angesiedelt wird, dient die ihr zugeschriebene „konzeptionelle Unbefangenheit“ dem Text als Mittel einer „radikalen Gesellschaftskritik“ vermeintlich zivilisationstypischer Degenerationstendenzen. Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 336f. 242 Weigel verweist in Anlehnung an Diderot auf den Topos „der Wilden als ewige Kinder, als unbekümmerte Wesen, die ihr Leben ziel-, planlos und ohne Reflektion verbringen“. Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 123. Eine Denkart, die auch in den Berlocken hervortritt und Stadien bzw. Momente der Unschuld anzeigt, welche zumindest temporär auch dem europäischen Figurenpersonal zugestanden, hier aber bezeichnenderweise als ‚halb‘ eingeschränkt werden. So wird Thibaut als „noch halb kindisch“ (HKKA 7, 275) und auch sein erstes Opfer Guillemette als „wenn sie noch ein halbes Kind wäre“ (HKKA 7, 279) beschrieben, womit diese ‚halben‘ Kinder statt eines Eintritts ins Erwachsenenalter eine teilweise Regression in Kindeszeiten erfahren, die sich jedoch als Entfremdung gegen das ursprünglich ganze (gute) Kind übersetzt und textintern entsprechend negativ konnotiert wird. 243 Müller-Zantop: Kolonialphantasien, S. 146.
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ckensammler die Idee, diesem zum Inbegriff von Reinheit stilisierten Indianermädchen seine Trophäen einer „überlebten und überfeinerten Welt“244 zu schenken, um sich im Gegenzug von der ‚Wilden‘ „eine neue Welt gebären“245 zu lassen. Diese männlich-moralische Schöpfungssehnsucht spiegelt einmal mehr die gefühlte Erschöpfung eines männlichen Subjekts,246 das, befeuert von einer Gemengelage aus traumatischen Erlebnissen, gekränkter Eitelkeit und latenter Misogynie, den Versuch unternimmt, im Bild der unberührten ‚Wilden‘ eine Aussöhnung mit einer als defizitär empfundenen Gegenwart zu erreichen, sich auf diese Weise jedoch selbst als ein Produkt eben dieser überfeinerten Welt identifizierbar macht. Durch diesen psychisch indizierten Befreiungsschlag zwischen Erschöpfung und Erschaffungslust tritt nicht zuletzt die Verstrickung einer Männerfigur in die eigene Biographie bzw. den eigenen Zeichenhorizont hervor, womit der Text die Fähigkeit eines Individuums zu objektiver Wahrnehmung grundsätzlich infrage stellt und seinen Protagonisten textinterne Warnzeichen ignorieren bzw. auf äußerst subjektive Weise ‚lesen‘ lässt. Denn obwohl Quoneschi etwas „fortwährend beschäftigte und die dunklen Augen öfters wie in banger oder zweifelhafter Erwartung“247 aufblicken lässt, erweist sich die zuvor etablierte Deutung solcher Zeichen zugunsten einer kindlich-unschuldigen Gutmütigkeit der jungen Frau als in der Wahrnehmung des erotisierten Mannes über jeden Zweifel erhaben. Kommunikative Dissonanzen werden von Thibaut entsprechend als ein rein sprachliches Phänomen bagatellisiert, so dass sein buchstäbliches Unverständnis gegen die Sprache der Fremden „eine geradezu makellose, keine störenden Widerstände bietende Projektionsfläche seines Begehrens nach der ‚edlen‘ und schönen Wilden darstellt.“248 Derart jedweder kritischen Reflexion des eigenen Realitätsbezugs enthoben, attestiert der Text seinem ‚Taugenichts‘ den Habitus
|| 244 HKKA 7, 288. 245 HKKA 7, 288 246 Groneberg etwa verweist auf die Nachrangigkeit der leiblichen Geburt im christlich-abendländischen Diskurs, welcher die „Aneignung der Gebärfähigkeit durch den Mann“ als die höchste, weil geistig-moralische Fortpflanzungsart preist. Groneberg: Bullenmänner, S. 8. Weil auch Thibaut weniger in Erwartung eigener Nachkommenschaft spricht, denn vielmehr als geistiger Schöpfervater eines neuen Menschengeschlechts, reiht sich sein Ansinnen in diese Tradition ein. Vgl. hierzu auch Weigel, die hinsichtlich dieser männlichen Schöpfungstradition ebenfalls resümiert: „Die natürliche Erzeugung, die von dem Vermögen der Frau zu gebären abhängig ist, wird verdrängt, getilgt und durch eine davon unabhängige, höher bewertete, männliche Schöpfung ersetzt.“ Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 237. 247 HKKA 7, 286. 248 Stingelin: Gottfried Keller und die Neue Welt, S. 235.
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eines „Christofor Columbus […], welchem sich der entdeckte Weltteil in Gestalt eines zarten Weibes anschmiegt.“249 Die Karikatur hedonistisch-sexueller Eroberungsphantasien impliziert nicht nur eine „Kritik des Eurozentrismus“250, sie formuliert unter Verweis auf den historischen Irrtum des Columbus zudem eine deutliche Kritik an der zweifelhaften Zeichendeutungskompetenz des jungen Leutnants. Diese nämlich zeigt auf beispielhafte Weise, „daß es nicht möglich ist, das Fremde mit den Mitteln – mit den Zeichen und Deutungskonzepten – der eigenen Kultur zu verstehen“251, ohne dabei in eine ‚phantasmagorische Ethnographie‘252 abzugleiten. In der Wahrnehmung des Protagonisten bleiben die Warnsignale einer gestörten bzw. in sprachlicher Hinsicht schlicht nicht vorhandenen Kommunikation denn auch allenfalls mittelbarer Natur. Mit Schenkung der kostbaren Berlocken an die schöne Quoneschi etwa beschleicht den Herzensbrecher „ein Gefühl, wie wenn einer ihm den schönen Zopf abgeschnitten hätte“253 – prototypischer Ausdruck unterschwelliger psychosexueller Kastrationsängste,254 die als solche jedoch unreflektiert || 249 HKKA 7, 289. 250 Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus, S. 208. 251 Gabriele Brandstetter: Fremde Zeichen – Zu Gottfried Kellers Novelle „Die Berlocken“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 310. 252 Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel in: Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, S. 97– 106. Exemplarisch für den „Gedanken einer unbeschränkten Verfügungsgewalt über das Fremde“ (S. 307) führt Brandstetter einen Bordbuchbericht Columbus‘ vom 18.12.1492, der den Besuch eines einheimischen Gesandten beschreibt: „[...] er freute sich über diese Dinge so sehr, daß es ein Wunder war; er und seine [...] Ratgeber waren tief betrübt, weil sie mich nicht verstanden und ich sie auch nicht. Trotzdem begriff ich, daß er mir sagte, wenn ich von hier etwas brauchte, so stünde die ganze Insel zu meiner Verfügung.“ Aus: Christoph Columbus: Schiffstagebuch. Aus dem Spanischen von Roland Erb. Leipzig 1980, S. 98. Zit. n. Brandstetter: Fremde Zeichen, S. 307, Anm. 8. Die Sicherheit, mit der Thibaut die sprachlichen Barrieren in der Verständigung mit dem Indianermädchen Quoneschi zu seinen Gunsten decodiert bzw. ‚phantasiert‘, zeigt auch Columbus, wenn dieser laut Bordbucheintrag den indianischen Gästen die Herrschaftsinsignien seiner Auftraggeber zeigt und daraufhin notiert, dass der fremde Gesandte (vermeintlich) anerkennt: „Welch mächtige Herrscher müssen eure Hoheiten sein [...].“ Columbus: Schiffstagebuch, S. 98. 253 HKKA 7, 288. 254 Den Akt des Zopfabschneidens beschreibt Freud unter Bezug auf den ethnologischen Diskurs seiner Zeit als kulturübergreifendes Kastrationsparadigma: „Es ist überaus interessant, daß die Beschneidung bei den Primitiven mit Haarabschneiden und Zahnausschlagen kombiniert oder durch sie ersetzt ist, und daß unsere Kinder, die von diesem Sachverhalt nichts wissen können, in ihren Angstreaktionen diese beiden Operationen wirklich wie Äquivalente der Kastration behandeln.“ Aus: Sigmund Freud: Totem und Tabu. Hg. und neu kommentiert von Hermann Westerink. Wien 2013, S. 187, Anm. 83.
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bleiben und folglich nicht zu einer differenzierteren Betrachtung des für den sprachunkundigen Europäer rätselhaften Verhaltens Quoneschis führen. Die durch die Konfrontation mit einer fordernden Frauenfigur hervortretende Angst vor dem Verlust des eigenen, sexualsymbolisch aufgeladenen ‚Zopfes‘ korrespondiert zwar unverkennbar der als Ausdruck eines umfassenden Potenzverlustes erfahrenen Ohnmacht des Rittmeisters, weicht allerdings in einem zentralen Punkt von diesem Schema ab. Denn während Hildeburg als ‚offiziell‘ Ausführende eines symbolischen Kastrationsaktes dem Prüfling sein defizitäres Mannsein auf möglichst schonende Weise vor Augen führt, fungiert Quoneschi lediglich als Vermittlerin eines solchen Aktes schmerzhafter Bewusstwerdung.255 Hinzu kommt, dass die sinnbildliche Entmannung Thibauts im wilden Amerika weit weniger subtil vermittelt wird als die des Marschalls in der semiotisch hochverdichteten ‚Alten Welt‘,256 da sie ganz im Zeichen eines leibesbasierten Männervergleichs steht, dem es zur Definition von Stärke – zumindest vordergründig – keiner moralischen bzw. denkgeschichtlichen Metaebene bedarf.
3.2.4 Das Zeichen sucht sich seinen Träger: Zur Wirkmächtigkeit des phallischen Mannes So ist es Quoneschis Verlobter, der nicht nur alle Rätsel um deren Verhalten löst, sondern als einer der „längsten und kräftigsten der Jünglinge“257 eine Körperpräsentation vorstellt, die den „baumstarken Bengel“258 unmittelbar ins Zentrum des Geschehens rückt und von der Erzählung mit einer ausführlichen Schilderung männlicher Gliedmaßen bedacht wird. Unter dem Deckmantel einer weiblich codierten Erzählinstanz verrät der Text eine regelrechte Lust am phallischen Mann bzw. an einer erotisch konnotierten Huldigung des männlichen Körpers, wenn er den jungen Indianer als „einen Komplex herrlich gewachsener riesiger Glieder
|| 255 So verweist auch Niehaus darauf, dass der Text Thibauts Ängste bezeichnenderweise darauf zurückführt, dass ihm einer, nicht etwa eine den Zopf abgeschnitten habe, denn solche zeichenhafte Akte „werden von den Frauen nur als Abgesandte eines großen Anderen verlangt, den es in der Natur nicht gibt“. Michael Niehaus: Interkulturelle Dinge. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 33–48, S. 42. 256 Vgl. Neumann, der darauf verweist, dass der Protagonist „sein Zier-Gehänge an den indianischen Rivalen“ abzutreten hat und dergestalt in der Begegnung „mit der Natur, mit einer früheren Gesellschaft“ als ein „zivilisationsgeschädigte[r] Liebhaber“ stigmatisiert und entmannt wird. Neumann: Gottfried Keller, S. 258. 257 HKKA 7, 290. 258 HKKA 7, 290.
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vom sattesten Kupferrot“259 beschreibt, der dazu „auf jeder Brust zwei kolossale Hände mit ausgespreizten Fingern abgebildet“260 trägt und obendrein ein Gesicht zeigt, das „eine malerische Welt für sich war“261. Was dieser „Donner-Bär“262, der als Ausweis permanenter Gewaltbereitschaft „ein Skalpiermesser samt einem blonden Skalp“263 am Körper trägt, den französischen Gästen mit seiner Tanzdarbietung vor Augen führt, ist weit mehr als bloß ein „ein Schatz von Schönheit und männlicher Kraft“264 – es ist eine Spiegelung der zivilisationsüberdrüssigen Phantasien jener Besucher, deren Sehnsüchte nach unverfälschter Naturhaftigkeit im Angesicht des archaischen Übermannes auf die Urheber selbst zurückprojiziert werden. Die „ästhetisierte Virilität“265 des Indianerkörpers wird kulturübergreifend als ein archaischer Ausdruck von Überlegenheit verstanden, wohingegen die ‚aufgeklärten‘ Zuschauer des Spektakels beinahe körperlos erscheinen, da sich der Text für die durch Rationalität und Affektkontrolle zivilisierten Europäer offenkundig keine ähnlich urwüchsige Leiblichkeit vorzustellen vermag. In Anbetracht des geradezu ‚überkörperten‘ Indianers zeigt sich zudem, dass die literarische ‚Entkörperung‘ der europäischen Gäste nicht etwa das männliche Geschlecht im Allgemeinen, sondern explizit die Darstellung zivilisierter Männerfiguren betrifft, worin sich die ‚Nebenwirkungen‘ einer bürgerlichaufgeklärten Verstandesfixierung spiegeln, deren Verständnis nach eine sinnlich attribuierte Leiblichkeit allein dem weiblichen Geschlecht vorbehalten ist.266 || 259 HKKA 7, 290. 260 HKKA 7, 290. 261 HKKA 7, 290. 262 HKKA 7, 291. 263 HKKA 7, 290. 264 HKKA 7, 290f. 265 Kurt Möller: Männlichkeit(en) und Konflikt. Wie Männer und Jungen ihre Konflikte untereinander austragen. In: Konflikt und Geschlecht. Dokumentation einer Tagung der HeinrichBöll-Stiftung und des „Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse“ am 15./16. November 2002 in Berlin. Berlin 2003, S. 18. Die Verheißung sexueller Potenz, die der realistischen Programmatik entsprechend hier mittelbar bzw. zeichenhaft bezeugt wird, verweist auf die Bedeutung des Erzeugens in modernen Gesellschaften: „Die Funktion des Erzeugens zielt in unserer modernen Gesellschaft freilich immer weniger auf tatsächliches Zeugen als auf das Herausstellen heterosexueller Potenz. Um anerkannte Männlichkeit zugeschrieben zu bekommen, ging es früher stärker noch um die Anzahl der (möglichst männlichen) Kinder, die man(n) in die Welt zu setzen hatte. [...] In unserer Gesellschaft hat sich dieser Maskulinitätsbeleg allerdings weitgehend abgeschwächt und ist in eine Art von Symbolkultur transformiert worden, innerhalb derer es hinreicht, heterosexuelle Potenz in Gestalt einer ästhetisierten Virilität herauszustellen [...]. Aus: Möller: Männlichkeit(en) und Konflikt, S. 18. 266 Vgl. Michael Meuser: Defizitäre Körperlichkeit? Der Männerkörper als umkämpftes Terrain. In: Körper – Geschlecht – Wahrnehmung. Sozial- und geisteswissenschaftliche Beiträge zur
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Gänzlich unbeeindruckt von diesem zivilisatorischen Regelwerk steht die Aufführung des Tänzers für die archaische Imposanz von Körperkraft und Gewaltbereitschaft und lässt insbesondere den schmucksammelnden Casanova des alten Kontinents unter dem „schreckliche[n] Gesange“267 des Indianers als Vertreter einer affektiert-exzentrischen Lebensart erscheinen. Vor diesem Hintergrund fungiert das nunmehr in aller Schärfe hervortretende Leitmotiv der Novelle von Dekadenz vs. Ursprünglichkeit als Rahmung eines interkulturellen Männervergleichs, der Überlegenheit nicht unter geistig-moralischer Perspektive, sondern auf Grundlage sexualsymbolisch aufgeladener Bilder von phallischer Mannhaftigkeit verhandelt. So trägt zwar auch der Frauenheld der französischen Salons einen „stattlich[en]“268 Zopf auf dem Rücken, muss sich aber dem eindrucksvollen „Kamm gewaltiger Geierfedern“269 geschlagen geben, der phallisch „in die Höhe“270 strebt und das Kreuz des Indianers „längs des Rückgrates […] gleich einem Drachenflügel […] aus den längsten Schwungfedern“271 ziert. Die bewusst überzeichnete Leiblichkeit des Indianers, der auf eindrückliche Weise „Fruchtbarkeit, Männlichkeit, Aggressivität [und, S.V] Kriegslust“272 in sich vereint, ist nicht nur ein persönlicher Affront gegen den neurotischen Schmucksammler, sie ist zugleich Ausdruck einer grundsätzlichen Absage an ein bis zur Selbstentfremdung überfeinertes Männlichkeitsbild, welchem zur Krönung eine „rot bemalte Axt“273 als symbolische Drohung kraftvoll über den Kopf hinweg geschwungen wird. Wenngleich als ehrerweisende Darbietung für die französischen Soldaten gemeint, ist die metaphorische Dimension des Männertanzes unzweifelhaft und lässt die „europäischen Gäste beinahe die gepuderten Haare knistern“274 fühlen, während der Text für seinen Taugenichts eine besonders schmachvolle Entdeckung bereit hält und die Nase des indianischen Übermannes ausgerechnet mit den Berlocken des Leutnants ziert. Auf || Genderforschung. Hg. von Hella Ehlers, Gabriele Linke, Nadja Milewski, Beate Rudlof und Heike Trappe. (Gender-Diskussionen 19) Berlin 2013, S. 43–64, S. 48. 267 HKKA 7, 291. 268 HKKA 7, 288 269 HKKA 7, 290. 270 HKKA 7, 290. 271 HKKA 7, 290. 272 Doerte Bischoff: Körperteil und Zeichenordnung. Der Phallus zwischen Materialität und Bedeutung. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. von Claudia Benthien und Christoph Wulf. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 293–316, S. 294. Bischoff bestimmt an dieser Stelle den ‚Phallus‘ über die genannten Attribute hinaus dahingehend, „dass er mit dem Anspruch verknüpft worden ist, symbolische Macht in einem umfassenden Sinn zu figurieren.“ 273 HKKA 7, 291. 274 HKKA 7, 291.
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diese Weise muss Thibaut „unter schallendem Gelächter“275 der anwesenden Offiziere nicht nur die Fallstricke seiner subjektiven Zeichendeutung erfahren, sondern überdies mit ansehen, wie die titelgebenden Berlocken eine regelrechte Eigendynamik zu entwickeln scheinen und sich auf Umwegen eine Referenz suchen, die ihnen würdig ist. Denn an der kräftigen Nase des Indianers „bammel[n]“276 Thibauts von Selbstbezüglichkeit und abweichender Psychologie kündenden Trophäen derart wirkmächtig, dass die toten Liebeszeichen eine Renaissance ihrer ursprünglichen Idee erfahren und fortan allein denjenigen „Helden“277 zieren, dessen Eros sie zu legitimieren vermag. Die ihren früheren Träger verhöhnende Rückführung der Berlocken auf die Idee einer Liebesgabe erweist sich als „eine Kritik an der Künstlichkeit der Zeichen, auf die der Held sein ganzes Streben ausrichtet“278 und dergestalt als Quittung für das lebensferne Begehren eines überreizten Mannes, der von seinem fetischfreien Gegenentwurf buchstäblich eine lange Nase gezeigt bekommt. Nicht ohne Ironie lässt der Text seine Erzählerin die Demontage des Casanovas auf die Spitze treiben, indem dieser erstarrend mit ansehen muss, wie der junge Donner-Bär das Indianermädchen unter „Bärengebrüll“279 ergreift, „wie ein geschossenes Reh auf seine Schulter“280 schwingt und mit ihr entschwindet. Nicht nur werden die Eroberungs- und Schöpfungsphantasien Thibauts im Angesicht des phallischen Übermannes auf schmachvolle Weise verballhornt, es kehrt zugleich die Erinnerung an die Umstände des ersten Berlockenraubs in die Erzählung zurück, indem die illegitime Aneignung des Korallenherzens der schönen Guillemette nunmehr spiegelbildlich auf den Räuber selbst zurückgeworfen wird. Denn so wie die betrogene Guillemette ihre Berlocke nicht freiwillig hergibt, so fragt auch der überpotente Indianerjüngling nicht nach Erlaubnis, wenn er dem französischen Frauenhelden sein kostbarstes ‚Anhängsel‘ – nämlich das Indianermädchen Quoneschi – entreißt, wodurch die Abqualifizierung des neurotischen ‚Salonlöwens‘ durch sein archaisches Gegenbild gewalthafte Konnotati-
|| 275 HKKA 7, 291. 276 HKKA 7, 291. 277 HKKA 7, 292. 278 Barbara Hunfeld: Zeichen als Dinge bei Stifter, Keller und Raabe. Ironisierung von Repräsentation als Selbstkritik des Realismus. In: Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Sabine Schneider und Barbara Hunfeld. Würzburg 2008, S. 129. Hunfeld wertet den schwungvollen Tanz des Indianers und der ihn zierenden Zeichen als eine bildhafte Persiflage auf die beständig um Verdinglichtes kreisende Zeichenaffinität des Helden. 279 HKKA 7, 292. 280 HKKA 7, 292.
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onen aufweist. Das bis dato unter verschiedengeschlechtlichen Vorzeichen verhandelte Prinzip der Ehrübertragung einer deflorierten Frau zugunsten des sie sexuell unterwerfenden Mannes verlagert sich nun auf eine gleichgeschlechtliche Ebene und setzt die zeichenhafte Entmannung des Berlockensammlers in Relation zur Erhöhung bzw. Bestaunung des Kontrahenten. Ausschlaggebend hierfür ist wiederum die gleichgeschlechtliche ‚Begegnung‘ auf dem Rücken des weiblichen Objekts, denn so wie Thibaut auf mittelbare Weise mit dem Verlobten der schönen Guillemette ins Gefecht gerät, indem er dessen mit der eigenen Mannesehre verschränkten Besitzanspruch gegen die Geliebte symbolisch aufkündigt,281 tritt nun ein Donner-Bär auf gleiche Weise an Thibaut heran, entreißt ihm sein letztes (und auch alle anderen) „Siegeszeichen“282 und konterkariert die sexuellen Eroberungsqualitäten des Pariser Salonlöwen. Die Schreckstarre Thibauts, der erfahren muss, dass seine Auserkorene eben keine „wilde Emanzipierte“283, „sondern schon besetztes Gebiet“284 ist, fügt sich in das Bild einer im Augenblick der Überforderung handlungsunfähigen männlichen Physis, welche als Metapher männlicher Ohnmacht der Identifizierung defizitärer Männerfiguren dient – und somit nicht nur Quoneschi, sondern auch die unterlegene Männlichkeit Thibauts zur Trophäe des wilden Indianermannes werden lässt. Da die Ehrerhaltung der Frau, die nichts anderes meint als die Sicherstellung der sexuellen Verfügungshoheit des Mannes, das ureigenste Terrain männlicher Profilierung in einer Unbedingtheit beschreibt, dass hieraus gar der Zwang resultiert, „ein betont viriles Verhalten“285 an den Tag zu legen, um „jeden Zweifel an […] Wehrhaftigkeit und -bereitschaft im Keim“286 zu ersticken, trägt dieser ‚Frauenraub‘ eine gleichgeschlechtliche Dimension in sich, die über bloße Besitzstreitigkeiten weit hinausgeht.
|| 281 Insbesondere das bürgerliche Zeitalter blähte „das Gebot sexueller Treue für Frauen zu einem aggressiven Kult auf, der die Vorbilder der Vergangenheit an Rigidität und Absolutheit weit übertraf.“ Aus: Ute Frevert: „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995, S. 209. 282 HKKA 7, 284. 283 Gabriella Rácz: Die Frau als Fremde. Interkulturelle Aspekte in Gottfried Kellers Sinngedicht und Heinrich Manns Zwischen den Rassen. In: Interkulturalität. Methodenprobleme der Forschung. Beiträge der Internationalen Tagung im Germanistischen Institut der Pannonischen Universität Veszprém 7.–9. Oktober 2004. Hg. von Csaba Foldes und Gerd Antos. München 2007, S. 204. 284 Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 126. 285 Frevert: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, S. 219. 286 Frevert: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, S. 220.
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Die zweifelsohne „genussvoll zelebrierte[] Dekonstruktion des männlichen Helden“287, dessen sexueller Imperialismus an der Unbefangenheit einer ‚Wilden‘ scheitert, die als Transparenzfigur nicht Ablehnung, sondern Absenz(!) abendländischer Konventionen anzeigt, taugt hingegen nicht, um die „bislang selbstverständliche und gewisse Einteilung der Welt in männliches Subjekt und weibliches Objekt bzw. in Täter und Opfer“288 zu überwinden. Denn dass am Beispiel Thibauts gängige „Aneignungs- und Domestikationspraxen, […] die immer mit dem Sieg [eines, S.V.] männlichen Subjekts enden, aus dessen Sicht Frauen lediglich Objektstatus beigemessen wird“289, nachhaltig, nämlich über die situationsbezogene Bloßstellung des Taugenichts hinaus infrage gestellt werden, lässt sich nicht belegen. Vielmehr projizieren und reproduzieren sich männliche Hegemonialphantasien im Bilde eines unbändigen Körpermannes, der das erlegte Sexualobjekt über seine Schultern schwingt und als Ausdruck exklusiver Verfügungsgewalt davonträgt. Der „Vision eines Ur- oder Idealzustandes des Menschen“290, literarisch verarbeitet in Kolonialphantasien von unberührten Naturvölkern, deren Geschichte freilich erst mit Entdeckung durch den europäischen Blick einsetzt,291 ist zwar eine Kritik zivilisatorischer Zustände inhärent – ein von abendländischen Diskursen emanzipiertes Alternativmodell bringt die Welt der ‚Wilden‘ hingegen nicht hervor, da sie bezeichnenderweise den gleichen Strukturprinzipien verpflichtet ist wie die als gekünstelt und selbstbezogen verschmähte ‚Alte Welt‘. Zu einer „Entmachtung der ideologischen Hegemonie“292 männlich-patriarchaler Herrschaftsmodelle ist der Text folglich nicht in der Lage, denn wenngleich der europäische „Eroberungsmythos“293 am Beispiel Thibauts ironisch gebrochen wird, bleibt der abendländisch-männliche Blick der Textautorität auf das fremde Land und dessen überraschend vertrauten Rituale und Rollenbilder konstitutiv. Eine Subversion dieser tradierten Geschlechternormen liegt offenkundig außerhalb des gedanklichen Horizonts des Textes, da es ebenso undenkbar ist, dass Quoneschi dem ‚natürlichen‘ Trieb ihres Geschlechts widersteht und sich einen
|| 287 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 339. 288 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 341. 289 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 342. 290 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 334. 291 Das Wilde wird auf diese Weise zu einer Vorstufe der eigenen Geschichtlichkeit (v)erklärt. „Das bedeutet, daß ihnen eine eigene Geschichtlichkeit nicht zugestanden wird. Amerikas Existenz zum Beispiel beginnt in diesem Diskurs erst mit dem Zeitpunkt der Entdeckung durch die Europäer, es hat keine Vorgeschichte.“ Aus: Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 132. 292 Pedde: Narration und Geschlechterdiskurs, S. 339. 293 Müller-Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, S. 236.
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‚bleichgesichtigen‘ Franzosen zum Partner wählt,294 wie es undenkbar ist, dass die selbstbestimmte Hildeburg sich für einen geistergläubigen Reitersmann entscheidet, um diesen als ein sinnesbetontes Ergänzungsobjekt an ihrer Seite zu wissen. So eröffnen sich zwar durch teils widersprüchliche Sinnsetzungen von Erzählautorität und Narration beständig Räume der Reflexion bzw. Brechung des Dargestellten, diese werden jedoch nicht bzw. nur halbherzig durchgespielt mit der Folge,295 dass sich vermeintliche Emanzipationsakte allzu oft als funktional besetzte Impulse innerhalb mann-männlicher Hierarchisierungsprozesse erwiesen. Den Reizen des Naturkindes gesellt sich somit eine auf der Metaebene des Textes vermittelte, nicht weniger große Faszination gegenüber dem potenten Räuber desselben hinzu, worin sich ein Reflex auf das Triebverbot des zivilisierten Mannes zeigt, der in der Figur des phallischen Wilden eine entsprechende Anziehungskraft wahrnimmt, die zwar nicht explizit sexuell adressiert ist, sich jedoch in einer unverkennbar phallisch-sexuellen Bildlichkeit niederschlägt. Durch seine wort- wie regungslose Bestaunung des archaischen Indianerburschen dokumentiert Thibaut die Anerkennung seiner finalen Demontage, dass nämlich die eigene Gedankenwelt als eine Phantasiewelt sich erwiesen hat, die nicht etwa eine neue Welt, sondern allenfalls ein neurotisches Männerexemplar mit fetischistischen Vorlieben hervorzubringen vermag. Gerade weil „seine rousseauhaften Phantasien über die edlen Wilden“296 nicht der Realität, wohl aber der eigenen neurotischen Innerlichkeit entsprechen, gibt es in dieser Erzählung ebenso wie in der Geisterseher-Novelle mitnichten einen ergebnisoffenen Wettbewerb um die Gunst der zentralen Frauenfigur, so dass das Motiv des Textes vielmehr im Männervergleich selbst zu suchen ist. Dieser prägt auch in den Berlocken den diskursiven Unterbau der Novelle und führt den artifiziellen Frauenbezug des Protagonisten als Kontrastfolie an, um hiervon ausgehend zwei maximal divergente Männlichkeitsentwürfe in einem interkulturellen Vergleich gegeneinander zu positionieren. Für den jungen
|| 294 Hier spiegeln sich die für die vorliegende Novelle zentralen Ideen Rousseaus, der hinsichtlich des Partnerschafts- und Sexualverhaltens des weiblichen Geschlechts meint, „daß das Weib besonders dazu geschaffen ist, dem Manne zu gefallen. Daß nun auch der Mann seinerseits dem Weibe gefallen müsse, ist jedoch nicht so unmittelbar notwendig. Sein Verdienst beruht auf seiner Macht, er gefällt allein durch seine Kraft. Freilich gibt sich hierin noch nicht das Gesetz der Liebe zu erkennen, wohl aber das Gesetz der Natur, das älter ist als die Liebe selbst.“ Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Zweiter Band. Fünftes Buch. Übersetzt von Hermann Denhardt. Vollständige Neuausgabe. Hg. von Karl-Maria Guth. Berlin: 2015, S. 397. 295 Vgl. hierzu etwa Hildeburgs wenig überzeugende, weil von ihren ‚Dienern‘ und der Textautorität beständig unterlaufene Schirmherrschaft einer amourösen Dreierkonstellation. 296 Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus, S. 208.
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Leutnant bedeutet dies, dass die kulturalistische Perspektive des Textes seine von Exaltiertheit und Übersättigung kündenden Sehnsüchte gleichermaßen befeuert wie konterkariert,297 indem sie den Bilderwelten des Taugenichts einerseits freimütig assistiert, selbigen jedoch von einer Evaluierung auf Grundlage der eigenen Idealbilder nicht ausnimmt. Dabei verdichtet sich das Bild eines jungen Mannes, der seine Reifezeit vorzugsweise in der Gesellschaft matronenhafter Weiblichkeit verbracht hat und entsprechend mit einer – auf das eigene Lebensalter bezogen – ‚überlebten‘ Weiblichkeit konfrontiert ist, die sinnliche Gelüste bevorzugt durch Zuckergebäck oder das Bestaunen von Galanteriewaren erfährt. Von dieser denaturierten Weiblichkeit fehlgeleitet, erweist sich der geschlechtliche Zugang des Protagonisten als ebenso ‚verschachtelt‘ wie die Natur seines weiblichen Umfeldes, wodurch Mittelbarkeit und fetischisierende Umbesetzungen Eingang finden in das vage Sexualitätsverständnis eines heranreifenden Adoleszenten – und dieses fortan dominieren. Verhandelt am Beispiel einer Polarisierung von ‚Alter Welt‘ und ‚Neuer Welt‘ – von Dekadenz und Selbstentfremdung auf der einen, Ursprünglichkeit und Ganzheitlichkeit auf der anderen Seite – wird der Männervergleich der Geisterseher unter geänderten Vorzeichen wiederaufgeführt, stellt jedoch nicht die Frage nach einem aufgeklärten Wirklichkeitsbezug ins Zentrum, sondern die nach der Lebensnähe und Lebenstüchtigkeit einer ins Dekadente überfeinerten Zivilisation. Die vorliegende Definition von Dekadenz bestätigt die männlich-bürgerliche Perspektive auf das Geschehen,298 die mit Blick auf die überfeinerten ‚Frauenzimmer‘ der französischen Salons vorrangig den Ausfall einer dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Versöhnungsfunktion beklagt. Solcherart Zivilisationskritik verrät sich als Abwehrreaktion auf den drohenden Verlust jener „re-
|| 297 Die interkulturelle Perspektive der Erzählung dient maßgeblich der Konturierung „des Verhaltensmodells ‚Mannsein‘“ und erklärt „bestimmte Präferenzen des exotischen wie des historischen Erzählens; nicht zufällig erzählt man im Realismus gern von nordamerikanischen Indianern und Germanen; ihnen wird unverkennbar eben dieses stoische ‚Mannsein‘ zugeschrieben, an dem sich die positiven Helden dieser Literatur generell orientieren.“ Aus: Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘, S. 248. 298 Auf die verräterisch bürgerliche ‚Typisierung‘ einer ausdrücklich ‚fremden‘ (indianischen) Weiblichkeit weist de Groot am Beispiel der Berlocken hin: „Wie sehr die dienende, haushälterische Rolle den Frauen bei Keller auf den Leib geschrieben ist [...], geht aus einer Textstelle in den „Berlocken“ hervor, wo Indianerinnen, die einem offensichtlich wenig zivilisierten Stamm angehören, im wilden Westen Amerikas sich genauso verhalten wie es Kellers Schweizerinnen tun [...].“ Cegienas de Groot: Das Bild der Frau in Gottfried Kellers Prosa. In: Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der deutschen Literatur. Hg. von Marianne Burkhard. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 10) Amsterdam 1980, S. 185–204, S. 194.
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gressiven Ganzheitsutopie“299, zu welcher die denaturierten Weiblichkeitsbilder der Pariser Salons dem Text nicht mehr taugen, wodurch Zivilisation als ein in jeder Hinsicht männliches Projekt bzw. ‚Problem‘ erscheint. Die semiotische Unzweideutigkeit des indianischen Übermannes von Potenz und Aggressionsbereitschaft rettet somit – auf selbst wiederum zeichenhafte Weise – die symbolische (Geschlechter-)Ordnung einer geographisch weit entlegenen und zugleich von sich selbst entfernten Welt. So fallen die Berlocken dem Fahnenjunker in der Ferne zwar schmachvoll vor die Füße, werden zugleich jedoch durch den neuen Träger in ihrer Zeichenhaftigkeit restauriert. Die Glorifizierung einer naturhaften, kulturell wie räumlich abseitig situierten Männerfigur erweist sich am Beispiel der Berlocken somit als Mahnung, nicht als Absage an den zivilisierten Mann – zu dem es in einer bürgerlichen Welt keine Alternative gibt. Entsprechend ist die Überhöhung des wilden Mannes unter dem Deckmantel „erotische[r] Primitivenromantik“300 Ausdruck einer ‚modernen‘ Sehnsucht nach Einfachheit und Unverfälschtheit angesichts vielfältiger zivilisatorischer Zwänge, so dass trotz des historischen Sujets der Novelle maßgeblich die Probleme einer bürgerlichen Zeit verhandelt werden.
3.2.5 Exkurs 1: Bis an die Grenzen des Darstellbaren. Die männliche Lust am phallischen Mann in Sacher-Masochs Venus im Pelz Die in der Tiefenstruktur der Berlocken angelegte reflexive Dimension, die dem Leutnant Thibaut weitgehend verborgen bleibt, ist in der ebenfalls auf die zweite
|| 299 Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 11. Die von vielschichtigen Männerphantasien befeuerte Überhöhung des Indianermädchens Quoneschi steht beispielhaft für die Domestikations- und Idealisierungsakte gegen das weibliche Personal in Kellers Sinngedicht, die Treder in einer wechselseitigen Beziehung zwischen Idealisierung und Ausgrenzung begründet sieht: „[A]uf der ästhetisch-ideellen Ebene wird das Weibliche als das Noch-Naturhafte zur Verheißung einer regressiven Ganzheitsutopie für den Mann, auf der realen Ebene schafft eben diese undifferenzierte Naturhaftigkeit der Frau das Alibi, das ihren Ausschluß aus der Wirklichkeit legitimiert und ihre passive Unterordnung unter den Mann biologisch und ontologisch festschreibt.“ (S. 11) 300 Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 604. Martini wertet die Berlocken-Novelle als tendenziell ins Schwankhafte übersteigert, die hieraus resultierende Zuspitzung jedoch wie in den übrigen Binnennovellen auch durch die übergeordnete Rahmenhandlung ins Gleichgewicht zurückgebracht.
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Hälfte des 19. Jahrhunderts datierenden Erzählung Venus im Pelz301 (1870) von vornherein Bestandteil des ‚Spiels‘. Obwohl die Hauptfiguren der beiden Novellen auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, weisen die Texte einige Strukturanalogien hinsichtlich der tradierten Männlichkeits- bzw. Geschlechterdiskurse auf, so dass eine punktuelle Analyse der Erzählung SacherMasochs einer Einordnung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse dienen soll. Während der im vorrevolutionären Frankreich den Kostbarkeiten des weiblichen Geschlechts nachjagende Thibaut von Vallormes sich zweifelsohne im Besitze aller zeitgenössischen Attribute von Mannhaftigkeit wähnt, stellt Severin von Kusiemski laut Selbstbeschreibung einen „verschraubten, schwächlichen Geistesmenschen“302 vor, der, „weder schön, noch sonst besonders anziehend“303, die selbst attestierte Unzulänglichkeit bevorzugt unter den Peitschenhieben seiner Herrin sühnt. Die lebensweltliche Diskrepanz dieser beiden Männlichkeitsentwürfe macht einen Vergleich umso aufschlussreicher, da das aller Unterschiedlichkeit zum Trotze geteilte Los eines defizitbeladenen, ‚uneigentlichen‘ Zugangs zum weiblichen Geschlecht psychosexuelle Prozesse des Mannseins bzw. von Mannwerdung in den Fokus rückt. Während etwa der heranwachsende Thibaut die Gegenwart galanterieverliebter Matronen dem Umgang mit gleichaltrigen Frauenfiguren vorzieht, verzichtet der junge Severin gleich ganz auf den realen Kontakt mit dem anderen Geschlecht und konstruiert sich ein Bild von Weiblichkeit, das einen kruden Mix bildungsbürgerlich kanonisierter Weiblichkeitsbilder vorstellt und in seiner Uneigentlichkeit eine „Scheu vor dem Weibe“304 bezeugt, die den Protagonisten „übersinnlich bis zur Verrücktheit“305 erscheinen lässt. Die Wortwahl des Ich-Erzählers verweist auf eine Präfigierung, die beide Novellen maßgeblich bestimmt, da das Präfix ‚über-‘ offenbar immer dann Verwendung findet, wenn sich jemand oder etwas von seiner ‚Natur‘ entfernt und nur noch auf mittelbarem Wege zu dieser zurückfindet. In diesem Sinne stellt Thibaut ein Exponat der „überlebten und überfeinerten Welt“306 der Pariser Salons dar – und es scheint fast so, als wolle Severin das restliche Vokabular zur Umschreibung zivilisatorischer Erschöpfungssymptome beisteuern, wenn er sich selbst als über-reizt, als über-sinnlich und schließlich von der eigenen Leiden|| 301 Im Folgenden zitiert nach: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt am Main 1980. Abgekürzt als ViP plus Seitenzahl. 302 ViP, 116. 303 ViP, 56. 304 ViP, 40. 305 ViP, 39. 306 HKKA 7, 288.
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schaft über-mannt beschreibt. Wenngleich in beiden Texten unterschiedliche Motive für das neurotische Gebaren der männlichen Hauptfiguren identifizierbar sind, verbindet beide Novellen, dass die abweichende Psychologie der Protagonisten Ausweis eines Zeitgeistes ist, der offenkundig mehr an einem Zuviel statt einem Zuwenig leidet und seine Figuren symptomatisch an Überforderung und Überreizung kranken lässt. Verwandt im Geiste begegnen beide Männer ihren Defiziten mit subtilen Meidungs- und Substitutionsstrategien, die auf Erzählebene als fetischistische Ersatzhandlungen dort zutage treten, wo der direkte Weg zum Ziel für den Betroffenen nicht mehr nachvollziehbar ist, so dass das Phänomen der Mittelbarkeit zum zentralen Signum beider Männer wird. Sichtbar gemacht werden diese sorgsam verschleierten Unzulänglichkeiten, die aufgrund des ‚realistischen‘ Tabus einer allzu dezidiert nachgezeichneten Psychogenese des Abweichenden auf Erzählebene bloß zeichenhaft dargestellt werden können, durch maximal polarisierte Gegenentwürfe. Diese entspringen in beiden Fällen zivilisatorischen Phantasien von ursprünglichen Kulturen (Ureinwohner) bzw. idealisierten Kulturstufen (Antike) und lassen Severin sein Gegenstück in einem jungen Griechen finden, der mit seiner „schlanken und doch eisernen Muskulatur“307 und den „wehenden Locken“308 einen – „bei Gott“309 – so schönen Mann vorstellt, wie der Geistesmensch „noch nie einen lebendig gesehen“310 hat. Mit der gleichen Aufgabe wie der indianische Donner-Bär betraut, vermag denn auch dieser Körpermann allein durch seine physische Präsenz zu imponieren: „seinem engen, weißen Beinkleid, seinem knappen Samtrock und […] seine[n] athletischen Glieder[n]“311. Und wenngleich das Publikum dieses Männervergleichs zahlenmäßig weit hinter dem der Berlocken zurückliegt, spiegelt sich das ehrfürchtige Schweigen der französi|| 307 ViP, 113. 308 ViP, 113. 309 Vip, 113. Die angeführte ‚christliche‘ Verbürgung für das antike Schönheitsideal fügt sich ein in einen Text, der hinsichtlich seiner Antikenverehrung insgesamt 22 Mal das Lexem ‚Gott‘ verwendet, 48 Lexeme, die auf Derivationen von ‚beten‘ zurückgehen, anführt und gleiches 15 Mal für ‚heilig‘ unternimmt. Bezüglich des Verhältnisses von Masochismus und Christentum verweist Geisenhanslüke denn auch auf die Engführung beider Begriffe bei Freud: „[D]er richtige Masochist hält immer seine Wange hin, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu bekommen.“ Aus: Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es. In: Freud: Gesammelte Werke. Bd. 13. 8. Auflage. Frankfurt am Main 1976, S. 378. Zit. n. Achim Geisenhanslüke: Infame Ereignisse. Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz. In: Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz. Hg. von Zoltán KulcsárSzabó und Csongor Lőrincz. Bielefeld 2014, S. 164. 310 ViP, 113. 311 ViP, 133.
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schen Soldaten in den umso deutlicheren Worten Severins, wenn er sich im Angesicht des phallischen Mannes „ein Gefühl von Scham seiner wilden Männlichkeit gegenüber, von Neid, von Eifersucht“312 eingestehen muss. Während folglich der Eindruck, den der ‚baumstarke Bengel‘ in den Weiten Nordamerikas hinterlässt, auf eher indirekte Weise der sprachlosen Starre einer ansonsten nicht schüchternen Soldatenschar zu entnehmen ist, geht die Textautorität der Venus im Pelz einen Schritt weiter und lässt den Protagonisten die latent sinnliche Dimension eines phallischen Mannes direkt aussprechen – denn „das Schmachvollste ist: Ich möchte ihn hassen und kann es nicht“313. Die Anziehungskraft dieses phallisch-virilen ‚Homme fatal‘314 wirkt über alle geschlechtlichen oder auch sexuellen Grenzen hinaus und lässt selbst einen heterosexuell begehrenden Mann nicht unberührt, ihn im Gegenteil unter den Peitschenhieben des Nebenbuhlers anfangs gar noch „eine Art phantastischen, übersinnlichen Reiz“315 empfinden. Die heterosexuelle Ausrichtung männlicher Figuren steht in einem realistischen Text zwar erwartbar nicht zur Disposition, der Eindruck jedoch, den ein mit allen Attributen von Mannhaftigkeit versehener Protagonist auf seine Geschlechtsgenossen macht, ist Beleg genug für den inhärenten Phallozentrismus dieser realistischen Erzählungen. So muss die ‚heikle‘ Frage nach einem latenten Homoerotismus nicht gestellt werden, um festzustellen, dass der Eros phallisch-aggressiver Männlichkeitsentwürfe dem übrigen männlichen Figurenpersonal eine bisweilen idolatrieverdächtige Anerkennung abfordert.316 Der männliche Blick der Texte offenbart sich zudem in der Ausgestaltung der weiblichen Hauptfiguren, die sich in ihrem geschlechtlichen Begehren wie von unsichtbarer Hand bzw. einem vermeintlich unnegierbaren Impuls weiblicher Natur zur Unterwerfung unter das stärkste Exemplar des anderen Geschlechts gelenkt zeigen. Hieran anknüpfend lässt der Text Sacher-Masochs seinen Flagellanten ein von männlichen Versöhnungsutopien überformtes Bild von Weiblichkeit referieren, das auch für die untersuchten Novellen Kellers uneingeschränkt Gültigkeit besitzt:
|| 312 ViP, 116. 313 ViP, 116. 314 Zum ‚Homme fatal‘ vgl. Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990, S. 15. 315 ViP, 136. 316 An anderer Stelle wird Severin diesbezüglich noch deutlicher, wenn er notiert: „Jetzt verstehe ich den männlichen Eros und bewundere Sokrates, der einem solchen Alcibiades gegenüber tugendhaft blieb.“ ViP, 114.
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Der Charakter der Frau ist die Charakterlosigkeit. Die beste Frau sinkt momentan in den Schmutz, die schlechteste erhebt sich unerwartet zu großen, guten Handlungen und beschämt ihre Verächter. […] Das Weib ist eben, trotz allen Fortschritten der Zivilisation, so geblieben, wie es aus der Hand der Natur hervorgegangen ist, es hat den Charakter des Wilden, welcher sich treu und treulos, großmütig und grausam zeigt, je nach der Regung, die ihn gerade beherrscht. Zu allen Zeiten hat nur ernste, tiefe Bildung den sittlichen Charakter geschaffen; so folgt der Mann, auch wenn er selbstsüchtig, wenn er böswillig ist, stets Prinzipien, das Weib aber folgt immer nur Regungen.317
Die zum Charakteristikum des weiblichen Geschlechts erklärte Moralferne erweist sich insbesondere in Angelegenheiten der Partnerwahl von einer amoralischen Animalität, die der Text in eine beinahe archetypische Tiermetaphorik kleidet: Wenn der Löwe, den sie gewählt, mit dem sie lebt, von einem anderen angegriffen wird, […] legt sich die Löwin ruhig nieder und sieht dem Kampfe zu, und wenn ihr Gatte unterliegt, sie hilft ihm nicht – sie sieht ihn gleichgültig unter den Klauen des Gegners in seinem Blute enden und folgt dem Sieger, dem Stärkeren, das ist die Natur des Weibes.318
Die Gleichung dahinter ist einfach, denn in dem Maße, in dem das Wesen der Frau als unkorrumpierbar, weil unzivilisierbar (v)erklärt wird, dient ihre instinktgesteuerte Amoral im Umkehrschluss der ‚naturgesetzlichen‘ Legitimation des starken bzw. stärkeren Mannes. In diesem Sinne werden sowohl Wanda von Dunajew als auch das Indianermädchen Quoneschi textintern als Bezugspunkte zweier konkurrierender Männlichkeitsentwürfe konfiguriert, um anschließend das zuvor etablierte Dreiecksverhältnis mit der Wahl des Stärkeren auf symbolträchtige Weise wieder aufzulösen. Der zitierten Löwenmetaphorik gemäß motivieren denn auch beide Texte das durch die weiblichen Figuren arrangierte, für den unterlegenen Kontrahenten überaus schmachvolle Finale ausdrücklich nicht mit Fragen persönlicher Sympathie. So ist die Demütigung durch den phallischen Indianerjüngling in den Berlocken so wenig Intention der weiblichen Hauptfigur wie die Witwe von Dunajew Antipathien gegen ihren ‚Sklaven‘ verspürt. Dass die Protagonisten schlussendlich als Verratene bzw. sich verraten Fühlende zurückbleiben, wird in den Texten nicht einem weiblichen Intrigantentum zugerechnet, sondern – weit subtiler – einem ‚Normalismus‘ des weiblichen Ge-
|| 317 ViP, 58. 318 ViP, 118.
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schlechts,319 der als animalischer Unterwerfungstrieb des ‚Weibes‘ gegenüber dem starken bzw. stärkeren Mann das Agieren weiblicher Figuren bestimmt. Weibliche Treue zeigt sich in diesem archaischen Verständnis als unbedingte Gefolgschaft gegenüber dem Stärkeren, nicht aber als moralische Qualität, so dass das insbesondere in der Venus im Pelz viel zitierte Phänomen weiblicher Grausamkeit erst durch die moralisch-zivilisatorische Einhegung des Naturwesens ‚Frau‘ hervortritt, außerhalb dieses kulturellen Korsetts hingegen als ein vordiskursives Naturprinzip erscheint. Diese Männerphantasie bestätigend, lässt der Text seine im neurotischen Spiel eines überreizten Geistesmenschen auf die Rolle der dominanten Herrin verpflichtete Protagonistin alle (Vertrags-)Treue fahren und sich im Angesicht eines phallischen Mannes ihrer wahren ‚Natur‘ besinnen, denn „das ist ein Mann wie ein Löwe, stark und schön und stolz […]. Ich muß mich ihm hingeben, wenn er mich will!“320 Der Wunsch nach Unterwerfung wird zur irreduziblen Wahrheit des weiblichen Geschlechts erklärt, wodurch sich die Inszenierung dominanter Weiblichkeit als Kompensationstheater „egoschwacher männlicher Schmerzwollust“321 entlarvt und ebenso wie die Weitergabe der Berlocken an den jungen Indianer allein der Identifizierung dominanter Männlichkeit dient. Was von der Versuchsanordnung beider Novellen am Ende bleibt, ist das Bild zweier Phantasten, die sich – von der geliebten Frau verlassen und vom phallischen Nebenbuhler gedemütigt – eingestehen müssen, dass sie nicht die reale Frau begehrt, sondern phantastisch verzerrte Wirklichkeitsbezüge hervorgebracht haben, die die eigene Unzulänglichkeit zementieren, anstatt sie zu kurieren. Das Scheitern der beiden Männer wird hierbei maßgeblich in Fragen von ‚Zeichenkunde‘ bzw. Kommunikationskompetenz reflektiert, zumal beide Frauen beständig die eigenen Begehrlichkeiten artikulieren, jedoch auf vielfältige Weise nicht verstanden werden. So erweisen sich auf Erzählebene angeführte Sprachbarrieren (Die Berlocken) als Metapher einer grundsätzlichen Inkompatibilität, werden jedoch ebenso erfolgreich ignoriert bzw. der eigenen Deutungshoheit unterworfen wie die Warnung vor realitätsfernen Traumbildern von dominanter Weiblichkeit (Venus im Pelz): „Das Weib verlangt nach einem || 319 Vgl. hierzu Hartmut Böhme: Masken, Mythen und Scharaden des Männlichen. Zeugung und Begehren in männlichen Phantasien. In: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Claudia Benthien und Inge Stephan. (Literatur, Kultur, Geschlecht – Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 18) Köln 2003, S. 118. 320 ViP, 120. 321 Gerd Stein: Vorwort. In: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 3. Hg. von Gerd Stein. Frankfurt am Main 1985, S. 11–22, S. 15.
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Manne, zu dem es aufblicken kann“322 – oder: „Das Weib braucht einen Herrn und betet ihn an.323“ Die jeweiligen Realitätsbezüge des Fraueneroberers Thibaut und des ‚schwächlichen Geistesmenschen‘ Severin eint, dass sie Brechungen der eigenen Perspektive nicht zulassen. Wandas Sehnsucht nach männlicher Stärke etwa wird kurzerhand als Angstlustreiz in die Gedankenwelt Severins implementiert, ebenso wie die bloße Erwägung, dass das Naturmädchen Quoneschi einen Naturmann von gleicher Art und nicht den französischen ‚Salonexport‘ begehren könnte, im zutiefst selbstreferenziellen Universum Thibauts verebbt. In diesem Sinne sind beide Männer Herren wie auch Opfer des eigenen Spiels: Sie sind dominant, wenn es darum geht, ihr weibliches Gegenüber dem eigenen Perspektivismus zu unterwerfen, erwachen indes umso unsanfter, sobald die begehrte Frau den berüchtigten ‚dritten Mann‘ zur Realitätsprüfung heranzieht. Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch maßgebliche Unterschiede zwischen beiden Novellen, denn während die Idolisierung des phallischen Indianers in den Berlocken durch eine als weiblich imaginierte Erzählinstanz ‚legitimiert‘ wird, ist es in der Venus im Pelz Sache des männlichen Ich-Erzählers, das Begehren gegen den Phallus in all seiner (durchsichtigen) Zeichenhaftigkeit zu vermitteln. Was der Novelle Kellers somit vorrangig Instrument einer geschlechtlichen Demütigung zum Zwecke der Korrektur eines verfehlten Wirklichkeitsbezugs ist, erweist sich in der Erzählung Sacher-Masochs als durchgängig präsent: die Glorifizierung phallischer Männlichkeit. Der die Textperspektive dominierende ‚Phallogozentrismus‘324 spiegelt sich in einem geschlechtlich akzentuierten Körper-GeistDualismus, von dem ausgehend einem verbildeten Geistesmenschen Attribute von Körper- und Willensschwäche zugeschrieben werden, derweil sein phallischer Widersacher sich durch Impulsivität und Virilität hervortut. Indem der dergestalt konfigurierte ‚Schwächling‘ von der Absenz phallischer Wesenszüge kündet, versinnbildlicht er als ein ‚Mangelcharakter‘ im Umkehrschluss die permanente Anwesenheit eines Abwesenden. Konkret meint dies, dass Severins Versuch, seiner vermeintlichen Herrin den schmerzlich entbehrten Phallus an seiner statt zuzuschreiben, die zu verschleiernden Defizite nurmehr verfestigt und beständig auf Fetischisierungen und || 322 ViP, 127. 323 ViP, 126. 324 Der Begriff des „Phallogozentrismus verweist auf die analoge Struktur von Phallozentrismus und Logozentrismus, die Privilegierung des Phallus als Ursprung und Zentrum aller Signifikanten.“ Aus: Doris Feldmann/Sabine Schülting: Phallozentrismus [Art.]. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 2003, S. 524.
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Kostümierungen angewiesen ist, um das beschriebene Kompensationsmodell als ein solches zu kaschieren. Die peitschende Domina ist demnach bloß Statistin – „zugleich erhoben und erniedrigt“325 – in der selbstbezogenen Inszenierung eines Mannes, der durch die Entkontextualisierung mythologischer Bildzitate von grausamen Frauenfiguren die eigenen sexuellen (Vollzugs-)Defizite zu einem Ausweis höchster Kunstsinnigkeit stilisiert. Dass die Frau in einem System männlich-patriarchaler Gesetzlichkeit über den symbolischen Phallus nicht verfügt, ist Vorausbedingung dieses Spiels, denn dieser Umstand garantiert dem Protagonisten Regiehoheit und Rechtssicherheit. Severins Unterwerfung wird entsprechend auf dem sicheren Boden männlicher Vorherrschaft in Szene gesetzt, so dass alles Vertragswerk über Versklavung und Misshandlung letztlich folgenloses Zeichenwerk ist – stets dem Ziel verpflichtet, sich ohne Angst vor der realen Demütigung durch den phallischen Mann von einer ersatzweise installierten weiblichen Instanz strafen zu lassen. Die vom Ich-Erzähler zum Verrat erklärte, weil eigenmächtig erfolgte Aufkündigung des Schauspiels durch die Witwe von Dunajew verortet der Text dem tradierten Geschlechterdiskurs entsprechend als Verzweiflungstat einer hilflosen Statistin, die ihrem Regisseur nicht anders zu entkommen weiß, als die ihr zugeschriebene Rolle radikal zu negieren und das Zepter des Handelns an den athletischen Griechen weiterzureichen, um unwiderruflich alle Regeln des Spiels zu brechen. In psychoanalytischer Lesart als vertraglich abgesicherte Inszenierung eines komplexbeladenen ‚Vaterfürchters‘ erdacht,326 siegt am Ende gleichwohl das väterliche Gesetz, indem es unter den Peitschenhieben des Griechen vom Sklaven Severin akzeptiert und in der Folge vom nunmehr selbst peitschenschwingenden Schlossherren Severin praktiziert wird. So heißt es denn auch gleich zweimal hintereinander: „Die Kur war grausam, aber radikal“327 – mit dem Ergebnis: „ich bin gesund geworden“328. Gesundung meint hier die endgültige
|| 325 Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 31. Bovenschen skizziert an dieser Stelle die ‚Unterwerfungsgeschichte‘ des weiblichen Geschlechts bei gleichzeitiger Idealisierung desselben. 326 Zur psychoanalytischen Perspektive auf den Masochismus vgl. Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust. Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur. Würzburg 2000, S. 57–84. In Anlehnung an Deleuze formuliert Gratzke, dass es der masochistischen Inszenierung nicht „um eine indirekte Beziehung zum Vater in den Kulissen [geht], sondern im Gegenteil um seinen Ausschluß. Der Masochist lässt nach Deleuze die Frau die Vaterähnlichkeit in ihm bestrafen, weil er die symbiotische Beziehung zur Mutter verlängern will.“ (S. 62f.) 327 ViP, 138. 328 ViP, 138.
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Abkehr von als ‚krank‘ markierten Praktiken,329 was auf entwicklungspsychologischer Ebene die Überwindung aller neurotisch-eskapistischen Realitätsmeidungsstrategien bedeutet, worauf schließlich die Annahme eines ‚realistischen‘ Wirklichkeitsbezugs folgt,330 der in Severins Fall zuvorderst auf die Anerkennung der geltenden Geschlechterordnung lautet. Im Unterschied zu Severins Phantasien von weiblicher Herrschaft findet in den untersuchten Novellen Kellers kein vom männlichen Personal initiierter Angriff auf patriarchale Gesetzmäßigkeiten statt, vielmehr wird über den Integrationserfolg der Protagonisten in einem System väterlicher Vorherrschaft verhandelt, das Kritik allenfalls auf mittelbarem Wege in der bleibenden Verlusterfahrung der angeführten Männlichkeitsbilder erfährt. Dass Thibaut „weder die Berlocken noch die Indianerin je wieder zu sehen“331 bekommt, entzeitigt die erfahrene Demütigung und spannt einen Bogen zu anderen defizitären Männlichkeiten Kellers, die als Versagende angesichts geschlechtlicher Profilierungszwänge allesamt auf die eigenen Defizite zurückgeworfen werden – und dies innerhalb der erzählten Zeit auch bleiben. Eine Bekehrungsgeschichte wie sie Sacher-Masoch mit Verweis auf die zur Erzählgegenwart herrschenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern vorlegt, bleibt Kellers defizitären Männergestalten verwehrt.332 Bezogen auf das Modell hegemonialer Männlichkeit ist sowohl der Berlocken-Novelle als auch der Venus im Pelz eine ästhetisierende Verleiblichung männlicher Dominanzfiguren zu attestieren, die Herrschaftsansprüche unmittelbar aus dem körperlichen Wuchs ableitet und einen bärenstarken Indianerjüngling bzw. athletischen Adonis allein kraft der eigenen Physis mit der Umwelt
|| 329 „Ich glaube wahrhaftig“, sagte Wanda nachsinnend, „dein ganzer Wahnsinn ist nur eine dämonische, ungesättigte Sinnlichkeit. Unsere Unnatur muß solche Krankheiten erzeugen.“ ViP, 55. 330 Denn als „Geschichte einer uneigentlichen Erkrankung und Heilung“ ist die Kur Severins eine formelhaft ‚realistische‘, da „der Text implizit geradezu idealtypisch die Zeichenkonzeption des literarischen ‚Realismus‘ repräsentiert.“ Aus: Ort: Zeichen und Zeit, S. 92. 331 HKKA 7, 292. 332 Korte wertet ausgehend von seinen Überlegungen zu ‚Ordnung und Unordnung‘ das Läuterungsmodell des Pankraz als ein desillusionierendes, das von der „latente[n] Anfälligkeit des Familialismus“ zeugt und in einer gänzlich undurchsichtigen Welt einen Bekehrten zurücklässt, der „alle Spuren der Zurücknahme, ja der Resignation“ aufweist. Gerade dieses für Pankraz’ Ende charakteristische Ausbleiben „familiärer Harmonie“ trifft in unterschiedlichem Maße auch auf andere Protagonisten Kellers zu wie etwa den selbstverliebten Fahnenjunker Thibaut oder die Kammmachergesellen. Aus: Hermann Korte: Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus. (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 381) Bonn 1989, S. 89ff.
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‚kommunizieren‘ lässt. Die Körper der beiden Männer sprechen dabei zu den Umstehenden in einer Weise, die über das klassische Verständnis von ‚Körpersprache‘ hinausgeht, da die jeweilige Botschaft der Körpermänner nicht auf bewusste Sendungsakte zurückgeht, sondern vielmehr in der von kulturellen Codes und Symbolen strukturierten Gedankenwelt der Betrachter tief verankert ist. Dass der baumstarke Indianer auf heimischem Boden als Inbegriff hegemonialer Männlichkeit zu gelten hat, beweist Quoneschis hysterische Reaktion auf den Gewalttanz des Geliebten. Dass hingegen auch der vom phallischen Indianer überrumpelte Thibaut in seiner europäischen Heimat als eine akzeptierte militärische Männlichkeit mit zumindest oberflächlich betrachtet durchschlagendem Erfolg beim anderen Geschlecht glänzen kann, bestätigt die Relationalität des Modells hegemonialer Männlichkeit. So kommt dem indianischen Bären im abendländischen Diskurs der Status einer marginalisierten ursprünglich-wilden Männlichkeit zu, die zwar eine unbestritten dominante Erscheinung vorstellt – als eine solche gar ungemein begehrt wird –, als bürgerlich-aufgeklärtes Leitbild außerhalb der Welt der ‚Wilden‘ jedoch nicht taugt. Der interkulturelle Akzent der Berlocken-Novelle verdeutlicht somit einen Aspekt, der zugleich alle anderen untersuchten Erzählungen durchzieht, dass nämlich die Konstitution der jeweils als dominant oder auch unterlegen vorgestellten Männlichkeit(en) unauflöslich verknüpft ist mit dem Verständnis der Texte von Kultur bzw. Kulturalität. Das in den Berlocken durch eine als weiblich imaginierte Erzählinstanz transparent gemachte Prinzip männlicher Selbst- und Fremdzuschreibungen bezeichnet entsprechend ein System, das zwar unverkennbar der möglichst widerspruchsfreien Legitimierung dominanter Männlichkeitsmuster verpflichtet ist, dabei aber immer wieder den Konstruktionscharakter derselben durchschimmern lässt – zu beobachten etwa, wenn ein neurotischer Schmucksammler im Angesicht eines indianischen Hünen seiner verlorenen ‚Natur‘ begegnet. Dabei ist zu beobachten, dass trotz der Verschiedenartigkeit dominanter Männlichkeitsentwürfe vom aufgeräumten Denker (‚Mannelin‘) bis zum Relikt männlicher Urgewalt (‚Donner-Bär‘) Körperbild und -praxis dieser idealisierten Männerbilder signifikante Parallelen aufweisen. Sie differiert zwar im Umfang der Verleiblichung, sprich in dem Maße, in dem die Dominanz des jeweiligen Männerbildes auf reine Körperattribute zurückgeführt wird, weist den Protagonisten jedoch durchgängig eine gesunde und attraktive Körpergestalt zu, die Krankheit oder anatomische Einschränkungen nicht kennt. Im Gegenzug reicht allein körperliche Kraft bzw. ein ansehnliches Erscheinungsbild nicht aus, um hieraus männliche Reputation abzuleiten, so dass der schöne Thibaut oder auch der impulsive Dragoner trotz eines gefälligen Äußeren im direkten Männervergleich unterliegen. Bloße Körperlichkeit legitimiert folglich allenfalls einen indi-
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anischen ‚Donner-Bären‘, zumal dieser eine isolierte Enklave im europäischen Männlichkeitsdiskurs vorstellt und allein der symbolischen Entmannung seines Kontrahenten dient. Eingebettet in einen explizit bürgerlichen Diskurs hingegen, braucht es mehr als bloße Kraftübungen, um eine wehrhafte Körperlichkeit zu definieren. So zeigen sich dominante Männlichkeiten in den untersuchten Novellen zwar durchweg von tadelloser Physis, hierbei wird allerdings stets eine Kohärenz von körperlicher und mentaler Stärke vorausgesetzt. Fällt diese kausale Wechselseitigkeit aus, ‚degeneriert‘ der stolze Körpermann zur unbürgerlichen ‚Körpermasse‘ und wird unter entsprechenden Vorzeichen ins erzählerische Abseits verwiesen. Dass die Identifizierung mental schwacher Körpermänner nicht immer derart diskret und intim verhandelt wird wie im Falle von Hildeburgs Geisterprüfung, zeigt sich in Das Fähnlein der sieben Aufrechten.
3.2.6 Exkurs 2: Kraft vs. Masse. Leibesattribute bürgerlicher Männlichkeit in Das Fähnlein der sieben Aufrechten Eingebettet in die Folgezeiten politischer Umbrüche wird auch in dieser Binnenerzählung der Züricher Novellen der Mann der „neuen Zeit“333, nämlich der ideale Repräsentant eines freiheitlich gesinnten Bürgertums gesucht. Die zu diesem Zwecke erdachte republikanische Tauglichkeitsprüfung wird zwar wiederum im Zeichen des Frauenerwerbs verhandelt bzw. entlohnt, die begutachtende Prüfungskommission allerdings besteht diesmal aus sieben gesetzten Männern, die sich ihrer politischen Ideale getreu abwechselnd als eine Gesellschaft „der Festen, oder der Aufrechten, oder der Freiheitliebenden“334 definieren. Dabei steht nicht das Streben nach sozialer Gleichheit, sondern nach politischer Freiheit auf der Agenda und so unterschiedlich die beteiligten „Handwerksmeister, Vaterlandsfreunde, Erzpolitiker und strenge Haustyrannen“335 auch sein mögen,336 zei-
|| 333 HKKA 6, 268. 334 HKKA 6, 268. 335 HKKA 6, 268. 336 Die im Kreise der ‚Aufrechten‘ deutlich hervortretende soziale Ungleichheit steht in einem Spannungsverhältnis zu deren demokratischer Theorie, denn was „mit jenem wundersamen Sieg der Demokratie begonnen hatte (ringsum scheiterten ähnliche Versuche), verwandelte sich unversehens in die schmerzende Erkenntnis, daß diese herrliche Demokratie viele Ungerechtigkeiten überhaupt nicht abschaffte, sondern sogar – ihre schönsten Vorteile nutzend – eine dem geldgierigen Kapitalismus besonders günstige Staatsform war.“ Aus: Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück. Zürich 2002, S. 183.
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gen sie sich geeint in ihrem „unauslöschlichen Haß gegen alle Aristokratie“337. Expliziter als in den Geistersehern, wo mentalitätsgeschichtliche Kontroversen (Romantik vs. Aufklärung) auf zeichenhafte Weise ausgetragen werden, lässt die Erzählinstanz in Das Fähnlein der sieben Aufrechten seine alternden Protagonisten einen politischen Diskurs pflegen, der direkter nicht sein könnte und sich gegen religiöse wie weltliche Machtinstanzen richtet, die sich permanent selbst legitimieren – gegen „Herren und Priester“338 und jene „aufgeregte[n] Volksmassen“339, die dem Herrschaftsanspruch der Erstgenannten unreflektiert Folge leisten. Zur Immunisierung gegen solcherart Fremdbestimmung werden die Ideale eines freiheitlichen Bürgertums ins Feld geführt, das unabhängig vom sozioökonomischen Status des Einzelnen allen Freiheitsliebenden die Möglichkeit gewähren soll, endlich die „Buben zu Bürgern zu erziehen, denen man kein X mehr für ein U vormachen kann.“340 Unter diesen Vorzeichen entspinnt der Text die Initiationsgeschichte des jungen Karl Hediger, jüngster Sohn des „Unbemittelste[n]“341 der Aufrechten, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Knaben zu „einem hübschen und gewandten Soldaten“342 reift und schließlich einen jungen Bürgersmann vorstellt, dessen Mustergültigkeit sich in einer von Tugend und Treue kündenden Zuneigung zur selbstbewussten Hermine Frymann, Tochter des „Wohlredenste[n] und Wohlhabendste[n]“343 der exklusiven Männerrunde, spiegelt. Die sich anbahnende Verbindung der beiden Bürgerskinder wiederum fördert Inkonsequenzen in der liberalen Lehre einiger Aufrechter zutage, denn trotz aller politischen Ideale von der Gleichrangigkeit ausdrücklich auch des Ungleichen, wird eine Übertragung dieser freisinnigen Prinzipien ins Private von den Verfechtern derselben sabotiert. Die drohende „Schwäherschaft“344 enthüllt den Liberalismus der betroffenen Vaterfiguren somit als einen durchaus restringierten Freiheitsgedanken,345 der zwar den Boden einer politischen Männerfreundschaft ohne Ansicht
|| 337 HKKA 6, 268. 338 HKKA 6, 269. 339 HKKA 6, 269. 340 HKKA 6, 279. 341 HKKA 6, 270. 342 HKKA 6, 290. 343 HKKA 6, 270. 344 HKKA 6, 281. 345 Auch Harnisch sieht hier die „bürgerliche Idee der Gleichheit [...] als Ideologie entlarvt, denn sie hat keine Geltung, wenn die Finanzen auf dem Spiel stehen oder wenn es die Frauen betrifft.“ Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane. Geschlecht, Sexualität und Familie im
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der Person bereitet, familiäre Bande zwischen sozial Ungleichen hingegen skeptisch beäugt. Dass es mit der Ehefrau des Schneiders Hediger nicht zufällig eine ‚außenstehende‘ Frauenfigur ist, die die Inkonsequenz dieser einseitigen Lesart von Libertät anprangert und hierfür als Kupplerin gescholten wird, belegt die Reziprozität von Politik- und Geschlechterdiskurs, der zufolge die Politisierung der Kategorie Geschlecht ebenso obligatorisch ist wie die geschlechtliche Codierung des politischen Diskurses. Zum Vorzeigeexemplar einer freiheitlichen, aber niemals gleichmacherischen Erziehung auserkoren, ist es an Karl, den sieben unverkennbar Alternden am Tage eines eidgenössischen Festes – einem „glücklichen Ausnahmezustand des Volkes“346 – beizuspringen, um an ihrer statt die Fahne des Männerbundes zu tragen und das öffentliche Wort für jene zu führen. Die Nothilfe Karls nimmt der Text zum Anlass, um den jungen Republikaner mit allen Attributen bürgerlicher Mannhaftigkeit auszustatten und ihn als ein Musterbild von körperlicher und mentaler Vitalität „die Fahne hoch und stattlich“347 vorantragen zu lassen. Die sexualsymbolische Zeichenhaftigkeit dieses patriotischen Fahnendienstes wird flankiert von der nicht weniger wirkungsmächtigen Redegewandtheit des jungen Mannes,348 die als Ausdruck eines unabhängigen Geistes eine „schöne, aber gefährliche Gabe“349 darstellt und in eine bürgerliche Werteordnung einzugliedern ist, die den Einsatz des wirkenden Wortes stets „mit Treue, mit Pflichtgefühl, mit Bescheidenheit“350 verbunden wissen will. Als Lohn für eine praktische Bewährung im Zeichen dieser verheißungsvollen Anlagen lobt der Text die Hand der jungen Hermine aus, deren Erwerb ausdrücklich auf eine handfeste Art stattzufinden hat, denn ein „gutes Mundwerk wird nicht gleich mit einem Weibe
|| bürgerlichen Realismus. (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 46) Frankfurt am Main 1994, S. 63. 346 Karl Pestalozzi: Sprachliche Glücksmomente bei Gottfried Keller. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hg. von Hans Wysling. München 1990, S. 185–200, S. 197. Zur Bedeutung des Festes bei Keller vgl. auch Kaiser, der im Fest „die Idee des Volkes als einer geschichtlichen Naturordnung“ verwirklicht sieht, welche „in der Zerstückelung und Unübersichtlichkeit des Alltags im Verborgenen bleibt.“ Gerhard Kaiser: Natur und Geschichte. Kellers „Ursula“ und der Aufbau der „Züricher Novellen“. In: Gerhard Kaiser/Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1978, S. 150f. 347 HKKA 6, 314. 348 Bischoff weist diesbezüglich darauf hin, dass der griechische Traumdeuter Artemidoros vier Funktionen nennt, für die der ‚Phallus‘ einstehen kann, von denen eine die „vernünftige Rede“ ist. Bischoff: Körperteil und Zeichenordnung, S. 294. 349 HKKA 6, 319. 350 HKKA 6, 319.
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bezahlt! Wenigstens in meinem Hause gehört noch eine gute Hand dazu!“351 Dergestalt zum Gegenstand eines männlichen Aushandlungsprozesses bestimmt, steht die junge Frau lebensweltlich wie auch symbolisch unter der Obhut einer einflussreichen Vaterfigur. So sitzt die von Karl verehrte und eigentlich recht couragierte Hermine in der Öffentlichkeit artig „im Schatten von ihres Vaters breiten Schultern, so bescheiden und still, als ob sie nicht bis drei zählen könnte“352, ist zugleich jedoch von einer Anmut, die eine heterosexuelle Männerwelt verlässlich stimuliert und deren Vertreter in phallischer Formation als „ein langer Zug Bursche“353 zur Aufwartung bei der jungen Frau vorstellig werden lässt. Die Sexualisierung der Handwerkertochter, deren „rosig erglühtes Gesicht“354 auf die versammelte Männerwelt des Festsaales wirkt, erweist sich als ein Kommunikationsmittel innerhalb dieser Welt, das die Anwesenden in ihrer Geschlechtlichkeit identifiziert, hieraus Zugehörigkeit ableitet und schließlich die ‚Besitzer‘ der begehrten Frauenfigur angesichts der Anerkennung ihrer Geschlechtsgenossen neue Vitalität schöpfen lässt. Die Revitalisierung der sieben Aufrechten, die ihre „Segel […] von neuem Triumphe geschwellt“355 sehen, ist somit nicht Ergebnis einer (unmittelbar) geschlechtlichen Stimulanz, die von der weiblichen Schönheit in der eigenen Mitte ausgeht, sondern vielmehr Reaktion auf eine gleichgeschlechtliche Respektsbekundung. Als ein vergesellschaftetes Zeichen dient Hermine folglich als ‚Begegnungsstätte‘ unterschiedlicher männlicher Individuen und Instanzen und lässt den Festsaal zu einer bunten Zusammenkunft von Vaterfiguren und mehr oder weniger potenziellen Schwiegersöhnen werden. Exklusiv adressieren nämlich lässt sich Hermines „Strahl weiblicher Schönheit“356 nicht, woraufhin die Tochter des „Krösus“357 auch die Aufmerksamkeit zweier weit weniger bürgerlichen Exemplaren aus dem Entlebuch erregt,358 die || 351 HKKA 6, 324. 352 HKKA 6, 328. 353 HKKA 6, 328. 354 HKKA 6, 328. 355 HKKA 6, 328. 356 HKKA 6, 330. 357 HKKA 6, 270. 358 Im Historischen Lexikon der Schweiz heißt es über das „klimatisch raue Tal Entlebuch“ vor dem Hintergrund der Entstehungszeit vorliegender Novelle: „Das E. lag verkehrstechnisch abseits und wurde erst mit der Eröffnung der Bern-Luzern-Bahn 1875 Durchgangsland. [...] Im Tal lebten die Masse der Kleinbauern und Hintersassen wie auch die wenigen Grossbauern immer auf Einzelhöfen.“ Aus: Fritz Glauser: Entlebuch (Vogtei, Amt) [Art.]. In: Historisches Lexikon der Schweiz. Hg. von der Stiftung Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Bd. 4. Basel 2005, S. 224– 225.
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analog zu ihrer geographischen ‚Abseitigkeit‘ als “ordentliche Bären mit kurzen Holzpfeifchen, […] dicken Armen“359 und „großen Köpfen“360 beschrieben werden und sich geräuschvoll ihren Weg durch die Massen bahnen. Hierbei tut sich der Jüngere der beiden, „ein Kloben von fünfzig Jahren und ziemlich angetrunken und ungeberdig“361, vornehmlich dadurch hervor, dass er permanent „mit allen Männern Kraftübungen anzustellen“362 begehrt und sich als ein Mannsbild verrät, das Dominanz allein über Körperkraft und rohe Gewalt definiert. Das mentale Rüstzeug zur Einübung von Affektkontrolle bzw. situationsadäquaten Verhaltensstrategien gesteht der Text dem ‚Bären‘ erwartungsgemäß nicht zu und begründet hiermit die Ehelosigkeit und unfreiwillige Abstinenz eines Mannes, der trotz fortgeschrittenen Lebensalters als „noch zu ungeschickt und wild“363 für ein verschiedengeschlechtliches Miteinander erklärt wird, denn „er schlägt alles kurz und klein“364. Folgerichtig lässt die Verheißung von Sexualität und Erotik die ohnehin kaum entwickelte Impulskontrolle des ‚Bären‘ beim Anblick Hermines vollends implodieren, was jedoch bezeichnenderweise nicht zu einer Annäherung an das schöne Mädchen führt, sondern zur Herausforderung des Geschlechtsgenossen an ihrer Seite. Eine anziehende Frauengestalt wird folglich selbst von einem ausgewiesenen Hinterwäldler zunächst auf etwaige anderweitige Besitzansprüche hin in Augenschein genommen, worin sich archaisch-kompetitive Gesetzmäßigkeiten spiegeln, denen zufolge männliche Besitzansprüche gegenüber dem weiblichen Geschlecht in erster Linie durch die Bereitschaft zur gleichgeschlechtlichen Eskalation legitimiert werden. Diesem unvermeidlichen Vergleichsdenken verpflichtet, werden der junge Republikaner und der grobschlächtige Bär von der Erzählinstanz zu einem Kräftemessen mit erwartbaren Ausgang einberufen, denn wenngleich „purpurrot im Gesicht“365 kann Karl den Sieg im Fingerhakeln erringen und anschließend miterleben, wie der unterlegene Bär vom „Papa“366 eine Ohrfeige erhält und daraufhin unter Tränen verkündet, dass er nun aber auch „einmal eine Frau haben“367 wolle. Da Partnerschaft im bürgerlichen Diskurs immer auch Reproduktion meint und die beiden Sennen in einer bürgerlichen Welt so wenig bestehen können, wie eine || 359 HKKA 6, 329. 360 HKKA 6, 329. 361 HKKA 6, 329. 362 HKKA 6, 329. 363 HKKA 6, 330. 364 HKKA 6, 330. 365 HKKA 6, 331. 366 HKKA 6, 331. 367 HKKA 6, 331.
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Weitergabe ihrer Sitte wünschenswert scheint, diskreditiert der Text den grobschlächtigen Bären zusätzlich, indem er ihn im Angesicht des begehrten Mädchens in eine Regression in frühkindliche Entwicklungsstadien zwingt und obendrein vom ‚Papa‘ verkünden lässt, dass der schluchzende Koloss nun „reif fürs Bett“368 sei. Maximal desavouiert wird die „wunderliche[] Erscheinung“369 von dannen geschickt und stattdessen ein bürgerlicher Held gefeiert, der seinen Sieg etwas verlegen auf die einfache Formel bringt: „Das kommt lediglich vom Turnen […].“370 Die unprätentiöse Art Karls ist dabei nicht bloß Bürgerstugend, sie verweist durchaus konkret auf ein bürgerliches Körperideal,371 das nicht Muskelmasse als Voraussetzung für Kraft setzt, sondern die Harmonie und Beherrschung der einzelnen Glieder. Denn wie schon der regungslose Rittmeister in seiner ‚Geistesnacht‘ erfahren musste, ist nicht allein das Vorhandensein eines mannhaften Körpers entscheidet, vielmehr braucht es darüber hinaus die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit desselben. So unterscheiden sich die ‚Bären‘ in Kellers Novellen an genau diesem Punkt, denn obwohl ‚Donner-Bär‘ wie ‚SennerBär‘ durch Physis und Raumanspruch das Geschehen dominieren, trennt sie ihr Grad an Körper- bzw. Selbstbeherrschung. So wird die Kraft des Einen glorifiziert, weil sein Tanz als Sinnbild mentaler Gewalt über das eigene Fleisch allen Beteiligten Respekt einflößt, während der Alkoholkonsum und die Grobschlächtigkeit des anderen das unkoordinierte Wesen einer niederen Triebexistenz bestätigen. Der etwas verlegen vorgetragene Verweis auf das Turnen, welches im 19. Jahrhundert zeit- und sozialgeschichtlich eng mit politischen Umwälzungen verwoben ist,372 steht für eine über das bloß Körperliche hinausgehende Selbstbeherrschung der ganzen Person und ist somit zugleich Metapher eines bürger|| 368 HKKA 6, 331. 369 HKKA 6, 331. 370 HKKA 6, 331. Weiter: „[...] das giebt Uebung, Kraft und Vorteil zu dergleichen Dingen, und fast jeder kann sie sich aneignen, der nicht von der Natur vernachlässigt ist.“ 371 Die Allianz aus Willensstärke und Körperbeherrschung gilt der Turnbewegung des 19. Jahrhunderts als Leitbild, denn „[d]ie Willenskraft – so dachten die Turner und ihre Vorgänger unter den Aufklärungspädagogen – sei im Fortschritt der Kultur verlorengegangen und könne nur durch die Leibesübungen wiederhergestellt werden.“ Aus: McMillan: Das Männlichkeitsideal der deutschen Turnbewegung, S. 92. 372 „Denn die öffentliche Artikulation eines bürgerlichen Zwecks, sei es politischer, wirtschaftlicher, kultureller oder eben auch körperkultureller Art, wie das Turnen, war an sich eine politische Demonstration – weg vom monarchischen Obrigkeitsstaat hin zum liberalen und schließlich auch sozialen und wie heute demokratisch verfassten Rechtsstaat.“ Aus: Michael Krüger: Sport für alle – in der Tradition der deutschen Turn- und Sportvereine. In: Sport für alle. Idee und Wirklichkeit. Hg. von Dieter H. Jütting und Michael Krüger. Münster 2017, S. 6.
Neurotische Männlichkeit und der Phallus des ‚Wilden‘ in Die Berlocken | 241
lichen Selbstverständnisses. Ein beherrschter Männerkörper, der sich durch Leibesübungen, militärische Fertigkeiten oder auch archaische Tanzkünste hervortut, ist dieser Logik nach immer auch Aushängeschild mentaler Stärke, während sich im Gegenzug ein begrenzter Verstand oder auch verstandesfeindliche Einflüsse wie Alkohol früher oder später auf die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems ‚Mann‘ auswirken. Wie in allen zuvor untersuchten Novellen auch, wird der Sieger dieser Männerselektion, der nunmehr über jeden Zweifel erhabene Fahnenträger Karl, mit der Schenkung einer „gewisse[n] Puppe“373 und der Anerkennung der sieben Aufrechten belohnt, wobei es die Schwiegerväter in spe übernehmen, die republikanische Idee in einer imaginären Vereinigung der beiden jungen Menschen fortzuschreiben: Wohlan denn, so gebe der Bürgi sein Himmelbett her, daß wir es aufrüsten! Ich lege hinein die Anmut und weibliche Reinheit! Du die Kraft, die Entschlossenheit und Gewandtheit, und damit vorwärts, weil sie jung sind, mit dem aufgesteckten grünen Fähnlein!374
Der „lebendige[] Stamm“375, den zu „stiften, pflanzen und gründen“376 sich die beiden Familienoberhäupter zwecks Weitergabe der „Grundsätze […] der sieben Aufrechten“377 berufen fühlen, belegt angesichts der unverhohlenen Intention der Schwiegerväter, dass Frauenschenkung und Aufnahme in eine Standesgemeinschaft nicht vorbehaltlos erfolgen. Kaum verklausuliert nämlich zur Aufrechterhaltung und Weitergabe der väterlichen Ideale auserkoren, wird der zertifizierte Jungrepublikaner ebenso wie die reizvolle Bürgerstochter oder auch der grobschlächtige Bürgerschreck aus dem Hinterland in einen Kontext festgeschrieben, der sämtliche Beteiligte verpflichtet – nur wenige hingegen privilegiert. Die den Figuren eingeschriebenen Funktionen reichen hierbei von der Vorstellung einer unentbehrlichen Kontrastfolie (Senner-Bär) über den Zuständigkeitsbereich der leiblichen Reproduktion (Hermine) bis hin schließlich zur Verantwortlichkeit für die geistig-moralische Schöpfungsarbeit (Karl) im Sinne der patriarchalen Idee.
|| 373 HKKA 6, 324. 374 HKKA 6, 332. 375 HKKA 6, 332. 376 HKKA 6, 332. 377 HKKA 6, 332.
4 Männliche Sozialisation zwischen protegierender und destruktiver Weiblichkeit 4.1 Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen 4.1.1 Ruechenstein: Hysterisierung von Sexualität und Misogynie als kollektive Praxis ‚Im Norden ist sie nie zu sehen‘ – so weiß ein Merkspruch den Abschluss des Sonnenlaufs zu skizzieren und so zeigt sich auch das Städtchen Ruechenstein in der historischen Novelle Dietegen, das sich „[a]n den Nordabhängen jener Hügel und Wälder, an welchen südlich Seldwyla liegt“1, regelrecht vor der Sonne zu verschanzen scheint, um „im kühlen Schatten“2 den topografischen Begebenheiten seiner Existenz in architektonischer Hinsicht nachzueifern – so „[g]rau und finster war das gedrängte Korpus ihrer Mauern und Türme“3. Beiden Städten, dem sonnigen Seldwyla wie auch dem düsteren Ruechenstein, ist gemein, dass Topographie und Witterung ihren Widerhall in der Mentalität der ortsansässigen Bürger finden, so dass im Süden das für seine Lebensfreude bekannte Seldwyla in Wonne sich übt, während im schattigen Norden ein gänzlich anderer Menschenschlag gedeiht: „[S]treng und mürrisch, und ihre Nationalbeschäftigung bestand in der Ausübung der obrigkeitlichen Autorität, […] in Erlaß und Vollzug“4, wobei ihr „höchster Stolz […] der Besitz eines eigenen Blutbannes“5 ist, den sie pflegen „wie andere Städte ihre Seelenfreiheit und irdisches Gut“6. Schon aus der Ferne einem einzigen Blutgericht gleichend, sind „[a]uf den Felsvorsprüngen rings um die Stadt […] Galgen, Räder und Richtstätten“7 errichtet und auch im ‚Herzen‘ der Stadt zeugen „eiserne Käfige […] auf den Türmen, und hölzerne Drillmaschinen, worin die Weiber gedrillt wurden“8, von der philiströsen Leidenschaft der Bewohner. Doch obwohl das bestimmende Attribut von ‚Kälte‘ durch Topographie und Mentalität allgegenwärtig scheint, will sich das Äußere der Folterfreunde nicht so recht in deren rohes Tun fügen, denn || 1 HKKA 5, 181. 2 HKKA 5, 181. 3 HKKA 5, 181. 4 HKKA 5, 181. 5 HKKA 5, 181. 6 HKKA 5, 181. 7 HKKA 5, 181. 8 HKKA 5, 181. https://doi.org/10.1515/9783110630992-004
Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen | 243
[d]ie Ruechensteiner waren nun nicht etwa eiserne, robuste und schreckhafte Gesellen, wie man aus ihren Neigungen hätte schließen können; sondern es war ein Schlag von ganz gewöhnlichem, philisterhaftem Aussehen, mit runden Bäuchen und dünnen Beinen, nur daß sie durchweg lange gelbe Nasen zeigten […].9
Die physiognomischen Lehren seiner Zeit lässt der Text am Beispiel des „kümmel-spalterischen Leiblichen“10 der Ruechensteiner verlässlich ins Leere laufen,11 da „so derbe Nerven […] als zum Anschaun der unaufhörlichen Hochnotpeinlichkeit erforderlich waren“12, ausdrücklich ohne körperliches Korrelat bleiben. Die implizite Kritik an physiognomischen Dogmen verweist auf den ‚realistischen‘ Zweifel an einer zeichenhaften Lesbarkeit der Welt und warnt vor Fehlschlüssen: „Allein sie hatten‘s in sich verborgen.“13 Die Existenz dieses der physiognomischen Lesart ‚Verborgenen‘, erweist sich als das eigentliche Politikum im düsteren Ruechenstein, denn mehr noch als beim Richten oder Foltern finden die Ruechensteiner in Akten von individueller wie kollektiver Triebnegierung zueinander. Hierbei dient die Topografie des Ortes unverkennbar der Polarisierung von Geschlechtercodes, da ausgerechnet das philiströse Ruechenstein mit seinen umliegenden Wäldern und unwirtlichen Felsvorsprüngen symbolisch in die Nähe wilder Naturhaftigkeit gerückt wird und sich somit als ein primär weiblich codierter Raum zu erkennen gibt. Zugleich ist es gerade um die Wertschätzung des weiblichen Geschlechts nicht sonderlich gut bestellt in diesem ungemütlichen „Felsennest“14, in dem man sich gegen den Zugriff von Mutter Natur nach außen hin mit Mauern absichert und im Inneren mit besonderer Vorliebe das weibliche Geschlecht in die sprichwörtliche Mangel nimmt, dieses nämlich „an allen Straßenecken“15 der „schattig dunklen“16 Gassen zu drillen und züchtigen weiß. Gefahr ist in Ruechenstein offenkundig weiblich konnotiert. Doch wenngleich sich der Ort nach außen wie im Inneren auf einem Kreuzzug gegen alles Sinnliche bzw. Weibliche befindet, erweist sich die Vehemenz mit der jegliche Sinnesfreuden negiert werden als verräterisch, sind es bei einem Besuch der
|| 9 HKKA 5, 182. 10 HKKA 5, 182. 11 „Lavaters Physiognomische Fragmente lösen, wie sein Kontrahent Lichtenberg protokolliert, nicht nur ein großes Echo in der gebildeten Welt aus, sondern geradezu eine Raserei [...].“ Aus: Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870–1930. Würzburg 2005, S. 19. 12 HKKA 5, 182. 13 HKKA 5, 182. 14 HKKA 5, 182. 15 HKKA 5, 181. 16 HKKA 5, 190.
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verhassten Seldwyler doch gerade die Männer der grauen Stadt, die sich „die Nasenspitzen an den grünlichen Glasscheiben platt[drückten], um die ungewohnte Erscheinung bloßer Frauenhälse zu beobachten.“17 Diese Hälse sind denn auch der Grund für den Besuch der verhassten Gäste, denn sie waren es, die eine Abordnung junger Ruechensteiner Männer bei einer zufälligen Gelegenheit mit der Seldwyler Trias von Wein, Weib und Gesang auf eine Weise bekannt machen, dass diese „sich selbst ganz vergaßen und ganz guter Dinge“18 eine Gegeneinladung aussprechen. Zwar tritt das weibliche Geschlecht in Ruechenstein in der Regel als bevorzugtes Foltermaterial in Erscheinung, erfüllt aber auch hier die Funktion einer Zierde männlicher Herrschaft und so entzündet sich am Bild der Seldwyler Nachbarn, die ihre prahlerisch ausstaffierten Frauen einem „Meerwunder“19 gleich vor sich hertragen, ein Wettbewerb um die Präsentation von Macht und Wohlstand – und in Ruechenstein eine stille Lust an der Repräsentation: Die Männer fanden, das dürfe man sich nicht bieten lassen, man müsse den eigenen Reichtum dagegen auftischen, der in den eisernen Schränken funkle, und die Frauen juckte es, die strengen Kleidermandate zu umgehen und unter dem Deckmantel der Politik sich einmal tüchtig zu schmücken und zu putzen. Denn das Zeug dazu hatten sie alle in den Truhen liegen, sonst wären ihnen die strengen Verordnungen längst unerträglich gewesen […].20
Auch in Ruechenstein funkelt es also, allerdings erwartbar nur im Geheimen, im Inneren von eisernen Schränken und Truhen, die als Metapher der Ruechensteiner Mentalität alles Sinnestaugliche unter Verschluss halten und von einer verdrängten Sinneslust künden. Das Ergebnis entspricht freilich nicht der Seldwyler Idee von Weiblichkeit „als höchste Steigerung lebensbejahender Sinnlichkeit“21, vielmehr zeigen sich die Ruechensteiner Ratsfrauen „in starre schwarze oder blutrote Seidengewänder gekleidet, von steifem Spitzenschmuck bis an das Kinn verhüllt“22, gezwungen unter einen Panzer aus goldenen Ketten, Gürteln, Hauben und Ringen. Die blutrote Garderobe zitiert eine Farbmetaphorik, die auf Tod und Gefahr verweist,23 dabei allerdings Frauengestalten umhüllt, die zur Überrasch-
|| 17 HKKA 5, 190. 18 HKKA 5, 185f. 19 HKKA 5, 190. 20 HKKA 5, 186f. 21 Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 117. 22 HKKA 5, 191. 23 „Schwarz und Rot, die Farben der bösen Leidenschaft und des Todes“, finden sich auch an anderer Stelle im Werk Kellers, um entsprechende Implikationen anzumahnen. Vgl. Louis Wies-
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ung der Gäste gar „nicht häßlich, sondern eher hübsch zu nennen“24 sind. Allerdings haben die hübschen Frauen den Verschlusscharakter der schweren Ruechensteiner Truhen vollumfänglich verinnerlicht und sehen trotz ihres attraktiven Erscheinungsbildes derart „unfreundlich, streng und sauer aus, daß man zweifelte, ob sie je in ihrem Leben gelacht […].“25 So ist die Unterdrückung von sinnlichen Freuden selbst dem Geschlecht, das im patriarchalen Diskurs klassischerweise Sehnsuchtsphantasien von Emotionalität und Sinnlichkeit bedient, derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass kein noch so kleines Anzeichen des (Auf-)Begehrens in den schönen Gesichtern der strengen Frauen zu finden ist. Was folglich in Ruechenstein vehement bekämpft wird, ist den benachbarten Seldwylern Primat ihres Handelns. Die Polarisierung dieser Lebensweisen, die topographisch wie geschlechtlich akzentuiert am Beispiel zweier verfeindeter Nachbargemeinden inszeniert wird, entspringt allen Unversöhnlichkeiten zum Trotz einem dualistischen Schema. Ob Nord oder Süd, Kälte oder Wärme, Finsternis oder Sonne: Die Pole der vorliegenden Differenzkonstruktion sind unverkennbar oppositionell aufeinander bezogen, was für die Nachbarorte bedeutet, dass auch die so unterschiedlichen Menschenschläge in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Unregulierte Triebnaturen treffen demgemäß auf überregulierte Philister, verbunden im beiderseitigen Bemühen, möglichst wenig des jeweils ‚Anderen‘ in den eigenen Ort bzw. ins eigene Innere hineinzulassen. Die Angst vor dem Fremden verrät sich somit als eine latente Angst vor der eigenen Selbsterkenntnis, was der Text auf wiederum bildhafte Weise belegt, wenn es heißt, dass die Ruechensteiner den Seldwylern „hinter dem Walde im Nacken [saßen], wie das böse Gewissen.“26 Zum fleischgewordenen schlechten Gewissen der vergnügungssüchtigen Triebnaturen aus dem Süden stilisiert, gilt umgekehrt auch für die Ruechensteiner, dass hinter ihrer Akribie in Fragen von Recht und Ordnung dann und wann ein Stückchen Seldwyla zum Vorschein kommt. So wird bei einem Besuch der Seldwyler Gäste im Rathaus von Ruechenstein das „Auseinanderklaffen von symbolischer Bilderwelt und Wirklichkeit“27 genüsslich kommentiert, nachdem die || mann: Nachwort. In: Gottfried Keller: Das Sinngedicht. Novellen. Mit einem Nachwort von Louis Wiesmann. Stuttgart 2006, S. 309–328, S. 321. 24 HKKA 5, 191. 25 HKKA 5, 191. 26 HKKA 5, 183. 27 Böhler: Moderne-Kritik, S. 304. In einem direkten Umkehrverhältnis zur Ruechensteiner Diskrepanz zwischen Bild und Wirklichkeit begreift Böhler auf Seldwyler Seite den Kachelofen im Haus des Totengräbers, dessen Bildwerke von der Erschaffung des Menschen und seiner Ver-
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Besucher erkennen, dass das kostbare Tafelzeug der Gastgeber durchsetzt ist mit „heitern und anmutigen Darstellungen“28 von „freien und üppigen Scenen“29 griechischer Mythologie – eine „heidnische Gräuelwelt“30 im Herzen des Rathauses. Von den verstockten Ruechensteinern schlicht nicht bemerkt, konnten die heidnischen Bilderwelten von Lust und Erotik der herrschenden Sinnesfeindlichkeit erfolgreich trotzen, so dass sie zwar aus der Wahrnehmung des Ortes verschwunden sind, nicht aber vernichtet wurden. Dementsprechend haben es die Ruechensteiner tatsächlich ‚in sich verborgen‘, nämlich in einem bewusst „beschränkten Sinne“31 unterhalb der Schwelle des Wahrnehmbaren entsorgt und ihre Verdrängungsstrategien gegen diese unliebsamen Sinnesreize dahingehend professionalisiert, „gesetzt und würdig darüber wegzusehen“32. Plattgedrückte Männernasen, metaphorisch fest verschlossene Truhen und dazu Geschirr von heidnischer Sinneslust: Das auf den ersten Blick geschlossen wirkende Charakterbild des philiströsen Ruechensteiners gerät zunehmend in Schieflage,33 was in zeichentheoretischer Hinsicht meint, dass sich das ohnehin allgegenwärtige Problem der Lesbarkeit von Zeichen ausgerechnet im geordneten Ruechenstein exponiert.
4.1.2 ‚Zeichensetzung‘ nach Seldwyler Art: Von der Markierung der Unlesbarkeit Die Tatsache, dass der gemeine Ruechensteiner so manches in sich trägt, was sich jeder äußerlichen Kennzeichnung entzieht, reflektiert die Probleme literarischer Zeichenproduktion und lässt den Text am Beispiel einer speziellen Seldwyler Zeichenstrategie vorführen, wie die Diskrepanz von Sein und Schein wenn nicht gelöst, so doch zumindest ‚markiert‘ werden kann. Die Lust der Seldwyler, das bigotte Wesen der frömmelnden Folterfreunde anzuzeigen, steht ganz im
|| stoßung in einem eklatanten Spannungsverhältnis zur kindlich-paradiesischen Existenzweise am Orte stehen. 28 HKKA 5, 191. 29 HKKA 5, 191. 30 HKKA 5, 192. 31 HKKA 5, 192. 32 HKKA 5, 192. 33 Ruechenstein ist keineswegs ein Ort der ‚Asexualität‘ wie Harnisch meint (Harnisch: Geschlecht, Sexualität und Familie, S. 59), sondern im Gegenteil einer von extrem aufwändig inszenierten Unterdrückungspraktiken gegen alle sexuellen Begehrlichkeiten.
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Zeichen des sogenannten „freundlichen Nachbar[n]“34, der aus einem großen Topf schwarzer Farbe und einem „langen ungeheuren Pinsel“35 besteht, welcher selbst im Kriegsfall die Wende zu bringen vermag, indem die gegnerischen Nasen damit geschwärzt werden und „alle, die zunächst von der verabscheuten Schwärze bedroht waren, Reißaus nahmen und keiner mehr der Vorderste sein wollte.“36 Die Ruechensteiner Panik vor der Schwärzung gerade dieses exponierten Körperteils verweist auf die grundlegende Angst des Ruechensteiners, vor der (zeichenhaften) Kenntlichmachung der eigenen Widersprüchlichkeit. Durch die unfreiwillige Hervorhebung nämlich wird der geschwärzte ‚Rüssel‘, der keineswegs allein dem Aufspüren potentieller Gesetzesverstöße dient, sondern ‚plattgedrückt‘ eben auch von unterdrückten Männerphantasien kündet, zum nicht zu verbergenden Zeichen der eigenen Bigotterie. Zumal lange, „sehr abwärts sinkende Nasen“37 wie sie zu Ruechenstein getragen werden, „nie wahrhaft gut, wahrhaft froh, oder edel, oder groß [sind, S.V.]. Immer sinnen sie Erdwärts, sind verschlossen, kalt, unherzlich, unmittheilsam, oft boshaft-witzig, übellaunig, oder tief hypochondrisch […].“38 Haben sich die Ruechensteiner Körperzeichen in physiognomischer Hinsicht bislang als bestenfalls mäßig verlässlich erwiesen, restituiert sich durch die ‚Nasenmalerei‘ der Seldwyler diesbezüglich ein Stück Lesbarkeit. Denn an der Nase kann man sie nun erkennen, die Ruechensteiner Erotikfeinde, die sich beim Anblick bloßer Frauenhälse die verräterischen Nasen platt drücken und somit im Schutze des Verborgenen ihre strengen Sittenmandate ebenso dehnen wie ihre Nasenrücken. Diese Nase, die immerzu nach Sittenverstößen forscht, von der eigenen verdrängten Sinneslust jedoch nichts wissen will, zwingt sich somit förmlich auf, um von Seldwyla aus unter Farbbeschuss genommen und vom Text als Beleg für die Problematik physiognomischer ‚Wahrheiten‘ herangezogen zu werden. Die Ruechensteiner Nase erscheint kurzum als ein Ort von zeichenhafter Wahrheit,39 an dem Philistertum und verdrängte Sinneslust ungewollt aufeinan|| 34 HKKA 5, 183. 35 HKKA 5, 184. 36 HKKA 5, 184. 37 Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik und hundert physiognomische Regeln. Hg. von Karl Riha und Carsten Zelle. Frankfurt am Main/Leipzig 1991, S. 79. 38 Lavater: Physiognomik, S. 79. 39 Die Nase als zeichenhafter ‚Ort‘ der Repräsentation von (Un-)Wahrheit erinnert unweigerlich an das Pinocchio-Motiv, das hingegen erst nach Entstehen des Erzählbandes um 1881 erstmals in einer italienischen Wochenzeitung in Erscheinung tritt. Jedoch galt bereits im Mittelalter eine
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dertreffen. Dies gilt umso mehr, als dass eine geschwärzte Nase in oder in der Nähe Seldwylas ‚erworben‘ wird, folglich Beleg für einen Besuch im offiziell verhassten Süden ist und von den Heimkehrenden mit einer besonderen Portion Scham getragen wird, zeugt doch der Gang nach Seldwyla von der Lust, auch einmal die Leichtigkeit des Lebens zu erkunden. Der Anstrich mit der „höllischen Farbe“40 markiert dabei nicht nur den denkbar schlimmsten Anschlag der gegnerischen Kriegspartei, es ist zugleich eine sexualsymbolisch konnotierte Provokation, wenn ausgerechnet ein langer Pinsel die lustfeindlichen Gegner mit Farbe bespritzt und dadurch das gepflegte Ruechensteiner Selbstbild regelrecht penetriert. Ob als schlechtes Gewissen einer hedonistischen Lebensweise oder als Mahnung an die eigene Scheinheiligkeit: Die verfeindeten Nachbarorte brauchen und bedingen einander.
4.1.3 Dietegen: Das subversive Potential der Sinnlichkeit Als ein sinnbildlicher ‚Sonnenschein‘ zu Ruechenstein provoziert „ein bildschöner Knabe von elf Jahren“41, Dietegen genannt, die gepflegte Tristesse des Ortes. Nach dem frühen Verlust der Eltern von offizieller Stelle erzogen, stellt dieser Knabe insbesondere seinem Äußeren nach einen Fremdpartikel dar, denn „das schlanke, wohlgebildete und kraftvolle Kind“42 will so gar nicht zu den dicken Bäuchen und dünnen Beinen seiner Erzieher passen. Das Alleinstellungsmerkmal des Jungen ist eine offensiv, wenngleich unintendiert zur Schau getragene Schönheit, die derart wirkmächtig ist, dass selbst die ärmliche Kleidung des Knaben, der in seinem „Jammerhabitchen“43 insbesondere an Feiertagen einer „Vogelscheuche“44 ähnlich sieht, seiner Anmut kaum etwas anhaben kann. Weil der Junge mit seiner verschwenderischen Schönheit und seinen „feurigen Augen“45 insbesondere die zu permanenter Selbstkasteiung angehaltenen Ruechensteiner
|| lange Nase als Verkörperung eines anti-göttlichen, teuflischen Prinzips, während sich zugleich Zuschreibungen von Animalität und Triebhaftigkeit finden, die den phallischen Symbolgehalt der Nase markieren. Vgl. hierzu Jörg Kraus: Metamorphosen des Chaos. Hexen, Masken und verkehrte Welten. Würzburg 1998, S. 219. Darin insbesondere das Unterkapitel 14.4.1: Die lange Nase. 40 HKKA 5, 183. 41 HKKA 5, 187. 42 HKKA 5, 187. 43 HKKA 5, 187. 44 HKKA 5, 187. 45 HKKA 5, 187.
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Frauen provoziert, wird er von diesen bei jeder Gelegenheit für sein ‚Vergehen‘ gestraft. Der Frau eines „niederträchtigen und bösen Bettelvogt[s]“46 in die Pflege gegeben, gerät der Knabe unter weibliche Verfügungsgewalt und wird seines Äußeren wegen bevorzugt dazu missbraucht, Frustration und Selbsthass zu kompensieren, wozu er „den Nachbarsweibern […] gegen Mietsgeld“47 für alle erdenkbaren „Lumpereien“48 oder „Mägdearbeiten“49 verkauft wird. Indem der Text insbesondere die Frauenwelt von Seldwyla die eigenen Begehrlichkeiten in der sinnlichen Erscheinung Dietegens strafen lässt, konterkariert er konventionelle Geschlechterstereotype und lässt den schönen Knaben zur Projektionsfläche weiblicher Sehnsüchte werden. Wie zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung soll dieser „Erbfeind“50 denn auch einer Kleinigkeit wegen bei nächstbester Gelegenheit zum Strang geführt werden. Die Gelegenheit ist dabei eine gleich doppelte, denn auf den Tag des Besuchs aus Seldwyla terminiert, dient die Hinrichtung des Knaben der ‚Zeichensetzung‘, um einerseits die wenig willkommenen Besucher zu brüskieren und andererseits die hinter den eigenen Fenstern gierig sich verbiegenden ‚Nasen‘ an herrschende Sittengesetze zu mahnen. Dietegen wird somit zum Opfer einer restriktiven Ordnung, die ihren Herrschaftsanspruch durch willkürliche Sanktions- und Prophylaxemaßnahmen aufrechterhält und die eigene Sittenstrenge als eine Hysterisierung bürgerlicher Triebkontrolle verrät. Weil Dietegen jedoch als Metapher einer in Ruechenstein permanent unterdrückten Sinnlichkeit buchstäblich nicht totzukriegen ist, wird er am Tage seiner Hinrichtung „schlecht gehenkt“51 im Sarg heimgeführt und dergestalt von einem vermeintlichen „Trumpf“52 gegen die lebensfrohen Nachbarn zu einem Beleg für die Zähigkeit unterdrückter Sinneslüste. Auf zynisch-ironische Weise führt der Text ausgerechnet die unsauber ausgeführte Hinrichtung des Jungen als Beleg für die Macht sinnlicher Gelüste an, denn Dietegen ist allein deshalb „zu früh vom Galgen genommen worden, weil die Beamteten noch etwas von der Mahlzeit zu erschnappen gedachten.“53 Es sind somit menschliche Grundbedürfnisse, die die Ruechensteiner Pedanterie metaphorisch unterlaufen und einem Knaben das Leben retten, dessen Sinnlichkeit anders als die der lebenslustigen Nachbarn aus || 46 HKKA 5, 187. 47 HKKA 5, 187. 48 HKKA 5, 187. 49 HKKA 5, 187. 50 HKKA 5, 189. 51 HKKA 5, 194. 52 HKKA 5, 193. 53 HKKA 5, 194.
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dem Süden ohne Rauschhaftigkeit ist, so dass kein Haar seinen „glänzenden bloßen Nacken“54 auf dem Weg zur Richtstätte bedeckt, während den gemeinen Seldwyler an genau dieser Stelle das schlechte Gewissen zwickt. Ähnlich wie die Sinnlichkeit am Orte ist Dietegen zwar kaum noch lebendig, aber eben auch nicht tot. Den „Blitz“55, den es braucht, um wie durch höhere Gewalt den Knaben aus seinem Sarg zu befreien und seine Lebendigkeit zu demonstrieren, stellt ein Mädchen aus den Reihen der Seldwyler Besucher vor, das mit Öffnung des Sargdeckels den Jungen auf symbolschwere Weise wieder atmen lässt. Die ‚Lebensschenkung‘ der kleinen Küngolt zeigt die positiven Seiten der Seldwyler Sinnlichkeit, zeugt nämlich von einer intuitiven Nähe zu allem Lebenden und vom Vertrauen in die eigenen Sinne, so dass auf Darstellungsebene als Motiv für Küngolts spontane Handlung allein ihr Gespür für ‚Leben‘ angeführt wird.56 Als Kritik an der Ruechensteiner Fixierung auf Recht und Ordnung, die selbst die eigenen Vollstrecker den Unterschied zwischen Leben und Tod nicht mehr wahrnehmen lässt, rettet die sensorische Sicherheit des kleinen Mädchens dem jungen Dietegen zwar das Leben, nicht aber redigiert sie dessen Status als Verfügungsobjekt des weiblichen Geschlechts. Denn allem Erweckungsgestus zum Trotz bleibt der Knabe auch nach seiner ‚Wiederauferstehung‘ ausdrücklich der Obhut eines femininen Umfeldes unterstellt. So sind es „die Frauen von Seldwyla“57, die sich um den Sarg des Jungen drängen und ihn „vollends ins Leben zurück[riefen], „indem sie ihn rieben, mit Wasser besprengten, ihm Wein einflößten und ihn auf jede Weise pflegten.“58 Sinnlichkeit, Weiblichkeit und Lebensbejahung bilden den Gegenentwurf zur Ruechensteiner Lebensfeindlichkeit, wobei insbesondere ‚Weiblichkeit‘ als Gegenpol zur Ruechensteiner Lebensweise in Stellung gebracht wird, wenn etwa der erwachende Dietegen beim Anblick seiner Henker intuitiv in einen metaphorischen Mutterschoß flüchtet, indem er „sich aufs neue in die Frauen hinein[drängt]“59. Doch ob Drangsalierung oder Fürsorge: Dietegens Verdinglichung unter weiblicher Schirmherrschaft setzt sich im Schutze der Seldwyler Frauen unbeirrt fort, denn [d]ie Seldwylerinnen konnten sich nicht satt an ihm sehen, flochten ihm einen Kranz von Laub und Waldblumen auf den Kopf, daß er in seinem langen weiten Hemde gar lieblich
|| 54 HKKA 5, 192f. 55 HKKA 5, 193. 56 So auch Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 119. 57 HKKA 5, 194. 58 HKKA 5, 194. 59 HKKA 5, 194.
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aussah, und endlich küßten sie ihn der Reihe nach, und wenn ihn die letzte aus den Armen ließ, nahm ihn die erste wieder beim Kopf.60
Dass ihm, wenn er bildhaft unter den anwesenden Frauen umhergereicht wird wie in einer gynäkokratischen Gegenwelt, im Ergebnis die gleiche Unfreiheit wie zuvor droht, ruft abermals die kleine Küngolt auf den Plan, die nicht länger als Retterin auftritt, sondern als eifersüchtige ‚Lebensspenderin‘ ihre Besitzansprüche gegen das „Männchen“61 geltend macht. Mit dem Impetus eines Konquistadoren markiert das Mädchen seinen Besitz, führt den Jungen kurzerhand aus dem Kreise der lustigen Frauen heraus und hält seine „Eroberung“62 anschließend derart fest, dass die Heiterkeit der Seldwyler („So ist es recht!“63) einmal mehr deren lustbetonten Wirklichkeitsbezug reflektiert, welcher die Szene allein unter Bezug auf einen erotisch-partnerschaftlichen Kontext zu kommentieren weiß. Die Unterbringung des von den irritierten Ruechensteinern verschenkten Jungen in Küngolts Elternhaus klärt sodann die Geschlechterverhältnisse, denn wenngleich auf einer bewaldeten Anhöhe zwischen den beiden verfeindeten Orten versteckt, steht dieser weiblich konnotierte Ort vordergründig unter väterlicher Herrschaft, so dass nicht Äußerlichkeiten, sondern allein die „sehr gute[n] Augen“64 des Geretteten ausschlaggebend für dessen Aufnahme im Heim des Forstmeisters sind. Es zeigt sich, dass das Zeichen ‚Dietegen‘ je nach Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich gelesen wird, das weibliche Geschlecht Gefallen nämlich vorrangig an der sinnlichen Erscheinung des Knaben findet, während des Forstmeisters Blick das moralische Rüstzeug eines „ehrlichen Waidmann[s]“65 erkennt. So kommt Dietegen sowohl in Ruechenstein als auch in Seldwyla die Funktion einer begehrten, weil alterstypisch unberührten Projektionsfläche zu, die ihn im Norden zur Zielscheibe des Selbsthasses werden lässt, wohingegen seine Anmut im Süden große Erwartungen weckt. Verpflanzt schließlich in die geographische Mitte dieser metaphorisch hoch verdichteten Orte dient der ‚unbeschriebene‘ || 60 HKKA 5, 195. 61 HKKA 5, 195. 62 HKKA 5, 195. Selbstbewusst führt das Mädchen mit ihrer ‚Eroberung‘ an der Hand den heimkehrenden Zug „wie ein Bild aus alter Märchenzeit“ an, wobei insbesondere die „Grün und Rot“ gehaltene Garderobe des Mädchens von prospektiver Zeichenhaftigkeit ist, steht sie doch für prototypische Phantasien von ambivalenter Weiblichkeit: für die Geborgenheit verheißende Naturnähe (grün) und Herzensgüte (rot) der ‚guten‘ Frau, zugleich aber auch für sexuell konnotierte Gefahren (rot) und die Ansprüche einer vorzivilisatorischen Naturgesetzlichkeit (grün). 63 HKKA 5, 195. 64 HKKA 5, 195. 65 HKKA 5, 195.
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Junge dem Text fortan als Projektions- und Transparenzfigur innerhalb einer mythologisch aufgeladenen Reflexion über Geschlecht, Gewalt und Gesetz.
4.1.4 Ortswechsel, Wiedergeburt und Einkehr unter das ‚Mutterrecht‘ Es ist ein „dunkler Baumgang“66, der den Weg zu Dietegens neuer Heimstätte beschreibt und in ein wohlgeordnetes Haus führt, in dem die „stille Frau des Försters“67 als ein Gegenentwurf zu den geräuschvollen Damen Seldwylas waltet. So trifft Dietegen tief im Wald auf eine ihm unbekannte Welt aus Schutz und Geborgenheit, die ihn als einen Gepeinigten zeichenhaft in eine Welt weiblicher Fürsorge einkehren lässt, in der nicht allein das weibliche Personal des Hauses, sondern die Natur selbst in ‚mutterrechtlicher‘68 Tradition das geschundene Kind umsorgt: Geraume Zeit nach Mitternacht erwachte Dietegen, weil nun erst ihn sein Hals zu schmerzen begann von dem unfreundlichen Strick. Das Gemach war ganz hell vom Mondschein, aber er konnte sich durchaus nicht entsinnen, wo er war und was aus ihm geworden sei. Nur das erkannte er, daß es ihm, vom Halsweh abgesehen, unendlich wohl ergehe. Das Fenster stand offen, ein Brunnen klang lieblich herein, die silberne Nacht webte flüsternd in den Waldbäumen, über welchen der Mond schwebte: alles dies schien ihm unbegreiflich und wunderbar […].69
Dieser geheimnisvolle Locus amoenus inmitten des Waldes bildet einen Gegenentwurf zum Ruechensteiner Locus terribilis und offenbart die Nachtseite des
|| 66 HKKA 5, 196. 67 HKKA 5, 196. 68 Die betont mystifizierende Darstellung der nächtlichen Szene naturhafter Rekonvaleszenz zeigt sich inspiriert von männlich-eskapistischen Phantasien von einer umsorgenden Urmütterlichkeit und erinnert ideengeschichtlich an die Thesen des 1861 erschienenen Werkes Das Mutterrecht, in welchem der Schweizer Anthropologe und Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen in Anlehnung an mythologische Überlieferungen vorantiker Völker die abendländische Weltund Werteordnung analysiert und zu dem Schluss gelangt, dass vor dem Siegeszug des Patriarchats, dessen ‚Recht‘ „eine juristisch strenge Form und konsequente Durchführung auf allen Gebieten des Daseins brachte“ (S. 63), gänzlich anders geordnete Gesellschaften zu denken seien, deren Selbstverständnis und Rituale auf einem der Moderne nicht mehr geläufigen, mütterlichen Prinzipat gründeten. Aus: Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. In: Johann Jakob Bachofen: Gesammelte Werke. Zweiter Band. Hg. von Karl Meuli. 3. Auflage. Basel 1948. 69 HKKA 5, 197.
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neuen Heims mit ihrem hellen Mondlicht und den naturhaften Klängen als einen Ort von geradezu uteraler Geborgenheit, der Dietegen wie neu geboren erwachen lässt, ohne ein Wissen um Gegenwart oder Vergangenheit. Dass umgekehrt die Ruechensteiner zu ihren Hinrichtungen „ein freundliches Wetter […] an recht schönen Sommertagen“70 bevorzugen, dokumentiert die Herrschaft des männlichen Gesetzes im Zeichen einer im Zenit stehenden Sonne, wodurch die „Herrlichkeit der männlichen Kraft“71 bzw. der Machtanspruch von ‚Vater Staat‘ durch dieses für das irdische Leben zentrale Gestirn symbolisiert wird. Dieser Logik zufolge ist auch die Hinrichtung Dietegens nicht zufällig zur Mittagszeit angesetzt, wenn der Zenit des Sonnenlaufs als Symbol „[p]hallisch zeugend[er], üppigste[r] Manneskraft“72 das ‚väterliche‘ Recht des Ortes bestärkt, so dass buchstäblich im Lichte des „Tagesgestirn[s] […] die Idee des Vatertums zum Siege“73 – und der sinnliche Dietegen zur Henkersstätte geführt wird. Weil es jedoch ausgerechnet die Ruechensteiner Staatsdiener sind, die den Absolutheitsanspruch des Vaterrechts zugunsten einer guten Mahlzeit hintanstellen, verdankt der errettete Knabe sein Leben genau genommen nicht der jungen Küngolt, sondern dem Lustprinzip. Folglich ist es die ‚Natur‘ – die menschliche Triebnatur nämlich –, die den Gesetzesvollzug sabotiert, den Knaben am Leben erhält und der in Ruechenstein sakrosankten Vorherrschaft von Recht und Gesetz ihre Grenzen aufzeigt. Dabei ist auch Dietegens neue Lebenswelt keineswegs ohne Gesetz.74 Es sind allerdings nicht von Menschenhand geschriebene Gesetze, in deren Hoheitsbereich der Junge die erlebten Misshandlungen sukzessive überwindet, sondern die einer Natur, welche als Leben hervorbringende Instanz ihr ‚Mutterrecht‘ gegen alles Lebendige ausübt. In dieser Art einer fürsorglichen, zugleich jedoch besitzanzeigenden Zuneigung verhält sich auch die kleine Küngolt gegenüber dem von
|| 70 HKKA 5, 182. 71 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 59. 72 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 59. 73 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 59. 74 Das mutterrechtliche Prinzip nach Bachofen ist keineswegs als ein wilder, regelloser Urzustand zu verstehen, sondern im Gegenteil als Zwischenstufe zwischen der tellurisch-regellosen Stofflichkeit hetärischer Gynäkokratie und dem im Zeichen des Solarismus sich vollziehenden Sieg paternitärer Gesetzlichkeit. Vorrangig mythologischen Anschauungen verpflichtet, wird das Bachofensche Mutterrecht im Folgenden nicht als ‚Methode‘, wohl aber als ein Modell immer dann herangezogen, wenn der Text Bildlichkeiten anführt, die matriarchale Prinzipien spiegeln – etwa wenn die kleine Küngolt einem amazonenhaft-hetärisch sich gebärenden Frauenkollektiv, welches den erretteten Knaben zum Lustgewinn untereinander herumreicht, ‚mutterrechtliche‘ Postulate von Besitz und exklusiver Bindung mahnend entgegenhält.
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ihr geretteten Knaben und lässt ihn die heilsamen Kräfte der weiblichen ‚Natur‘ erfahren: Sogleich schlang Küngolt ihre zarten Aermchen um seinen Hals und schmiegte mitleidig ihre Wangen an die seinigen, und wirklich glaubte er bald nichts mehr von dem Schmerze zu verspüren, so heilsam schien ihm dieser Verband.75
Der Verband scheint so heilsam wie die zarten Ärmchen des Mädchens harmlos – und doch trägt die Zuneigung Küngolts den Verweis auf die ‚Schlinge‘ in sich, die als Symbol eines rigiden Rechtsdiskurses dem Jungen aus Ruechenstein nur allzu vertraut ist und nun unter weiblicher Regie zeichenhaft zurückkehrt. Die kurative Umarmung Küngolts verweist auf eine durchaus zwiespältige Idee von Natur, da als Bedingung (und Konsequenz) dieses Versprechens von Geborgenheit das konstitutive Ungleichgewicht zwischen dem schützenden Part und seinem Schutz suchenden Gegenpart festgeschrieben wird. Eine Vorstellung von gynäkokratischen Herrschaftsformen bekommt Dietegen, wenn er mit offensiv vorgetragenen Besitzansprüchen („Du mußt mein Mann werden, wenn wir groß sind, du gehörst mein!“76) konfrontiert und hierdurch beinahe unmerklich vom Erretteten zum Verpflichteten im Sinne matriarchaler Gebote von der „Ausschließlichkeit der Ehe“77 wird. Das Geborgenheitsversprechen des Mädchens relativiert sich mit Blick auf die im Gegenzug von Dietegen erwartete (An-)Bindungsbereitschaft und lässt Küngolt in ihrem infantilen Verständnis gar eine Art ‚mutterrechtlicher‘ Rendite einfordern, indem sie darauf pocht, dass, wer Leben schenkt bzw. rettet, im Umkehrschluss ein natürliches Anrecht auf selbiges hat. Bezogen auf das Konzept Bachofens illustriert das Verhalten des Mädchens die Idee eines geregelten Matriarchats, dessen Ansprüche allerdings nicht allein von der Figur der kleinen Küngolt vertreten werden. So gleicht es fast einer gynäkokratischen Kungelei, wenn die Kleine mit ihrer Mutter den Schlafplatz des Knaben aushandelt und dabei auf beiden Seiten statt ‚darf‘ oder ‚kann‘ durchweg das Dietegen allzu vertraute ‚soll‘ im Vordergrund steht: „Er soll in meinem Bettchen schlafen […]!“78 – „Das soll er, mein Kind!“79
|| 75 HKKA 5, 198. 76 HKKA 5, 199. 77 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 36. Die Ehe ist es, die nach Bachofenscher Theorie die demetrisch geordnete Gynäkokratie über die regellose Welt des Hetärismus emporhebt, indem der Zivilisationakt eines eherechtlich geregelten Miteinanders dem rein Stofflichen Schranken setzt und das ‚demetrische Prinzip‘ als grundlegendes Prinzip demetrischer Gynäkokratie verankert. 78 HKKA 5, 196. 79 HKKA 5, 196.
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Obwohl zweifellos fürsorglich und wohlmeinend, erweist sich Dietegens weiblich geprägtes Umfeld als aus männlicher Perspektive betrachtet ungemein autonomiefeindlich, zumal Küngolt ihre gefühlte Vormundschaft bisweilen buchstäblich versteht und etwa das allabendliche Vaterunser für den bereits schlafenden Jungen spricht. Als Gegenmodell zu dieser Vereinnahmung Dietegens von weiblicher Seite installiert der Text mit Blick auf den Forstmeister die Idee eines alternativen Verwandtschaftsmodells männlich-moralischen Ursprungs, das die „Naturwahrheit“80 der Geburt relativiert und stattdessen die „Idee der Succession in gerader Linie“81 propagiert, folglich die „Annahme rein geistiger Zeugung“82 als Fundament einer ideellen Vaterschaft installiert. Demgemäß verweist die Bereitschaft des Forstmeisters zur Integration des Jungen ins eigene Heim auf die Idee einer geistig-moralisch begründeten Stammhalterschaft, während die Forstmeisterin den unverhofften Familienzuwachs auf eher stoffliche Weise als Kompensation für den Unfalltod des eigenen Sohnes begreift. Von Statur und Größe nämlich in der Art „jenes verlorenen Kindes“83, macht sich die Frau des Försters daran, den Knaben in die textilen Hinterlassenschaften des Verstorbenen zu hüllen, und findet Trost nicht etwa im Wesen Dietegens, sondern vor allem in seiner Stofflichkeit bzw. seiner äußeren ‚Formgleichheit‘ zur verlorenen Erstgeburt: Aber ein süßer Trost beschlich sie, da ihr das Schicksal jetzt ein so schönes, dem Tod abgejagtes Menschenkind zusandte, welches sie mit der dunklen Hülle ihres eigenen Kindes bekleiden konnte, und sie ließ nicht nur aus Eile, sondern absichtlich die helle Seide darunter, wie das verborgene Feuer ihres eigenen Herzens; denn sie meinte es viel besser und lieblicher mit allen Wesen als sie in ihrer Stille zu zeigen vermochte.84
Das ‚verborgene Feuer‘ dieser Frauenfigur, in der geheime Sehnsüchte von einem „verlorene[n] Frühling“85 aufbrechen, verweist auf eine emotionale Involviertheit, die in Widerspruch zu männlichen Vorstellungen von mütterlich-altruistischer Fürsorglichkeit steht. Vereinnahmt von der ‚dunklen Hülle‘ ihres verstorbenen Sohnes, zeigt die Forstmeisterin erste Anzeichen mütterlicher Nachlässigkeit, was zur Folge hat, dass die kleine Küngolt unbemerkt das Henkershemd Dietegens anlegt und so die Todesdrohung desselben zeichenhaft auf
|| 80 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 57. 81 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 57. 82 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 57. 83 HKKA 5, 199. 84 HKKA 5, 199. 85 HKKA 5, 199.
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die eigene Person überträgt. Die unheilvolle Bedeutung des scheinbar kindlichen Spaßes versteht allein Dietegen, der „das böse Hemd“86 kurzerhand „voll Zorn […] in zwanzig Stücke“87 reißt und damit die Tragweite dieser vermeintlich geringfügigen Unaufmerksamkeit einer ansonsten umsichtigen Mutterfigur anmahnt. So verweist das unbeaufsichtigte Verkleidungsspektakel am Morgen auf das destruktive, weil zu Pflichtvergessenheit verleitende Potenzial intimer Sehnsüchte und veranschaulicht einen innerpsychischen Prozess, für den die Forstmeisterin schließlich mit dem Leben bezahlen wird. Da zudem der unheilvolle Kleiderwechsel stattfindet „als die Sonne schon hoch am Himmel“88 steht, rückt die mütterliche Nachlässigkeit sinnbildlich in den Blick des väterlichen Gesetzes, welches selbst für eine „freundliche milde Frau“89 keine Schonung bei Vergehen gegen die eigenen Ordnungsprinzipien kennt.
4.1.5 Vaterhaus und ‚Vater Tag‘: Die männliche Ordnung der Dinge Der weiblich konnotierten Nachtseite des Forsthauses stellt der Text bei Tage eine männlich dominierte Welt gegenüber, die Dietegen sich fühlen lässt als „wenn er […] in das Vaterhaus zurückgekommen wäre“90, so dass hier Heimkehr als ‚Einkehr‘ in ein väterliches Koordinatensystem inszeniert wird, wobei der Knabe insbesondere die Waffenkammer des Försters als ‚Heimat‘ seines Geschlechts erkennt. Hier nämlich erblicken die „glänzenden Augen“91 Dietegens das Jagdgerät seines Ziehvaters, von dem insbesondere „des Forstmeisters langes Schwert“92 die Aufmerksamkeit des Knaben fesselt und eine augenblickliche Intervention Küngolts zur Folge hat, die wie aus Skepsis gegen eine die eigenen (matriarchalen) Ansprüche unterlaufende Mannwerdungslust des Jungen den phallischen Symbolgehalt des Schwertes zurückweist und Dietegen stattdessen „einen schönen kurzen Spieß in die Hand“93 gibt. Die von Küngolt skeptisch beäugte Faszination des Knaben spiegelt die (Text-)Idee einer männlich-moralischen Genealogie auf bildhafte Weise, denn „[d]er Sohn […] erhält vom Vater Speer und
|| 86 HKKA 5, 200. 87 HKKA 5, 200. 88 HKKA 5, 199. 89 HKKA 5, 200. 90 HKKA 5, 200. 91 HKKA 5, 201. 92 HKKA 5, 201. 93 HKKA 5, 201.
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Schwert, um sich sein Dasein zu gründen, mehr ist ihm nicht nötig.“94 Die Szene in der Waffenkammer kontrastiert auf zeichenhafte Weise die Idee eines männlichen ‚Werdens‘ im Kampfe mit der eines weiblichen ‚Seins‘ in der Natur, woraus ein dynamisch-prozessuales Konzept von ‚Mannsein‘ sich ableitet, das Küngolts Besitzansprüche erwartbar herausfordert. Dietegens dergestalt vorgezeichneter Weg vom Einflussbereich seiner Erretterin hin zu einer autonomen Existenz wird ebenso wie Küngolts gegenteiliges Ansinnen bevorzugt metaphorisch vermittelt. So belegt des Forstmeisters Rotwildzucht in einem „eingehegten Wildgarten“95 wie das väterliche Recht selbst mitten im Wald erfolgreich Kultivierungsmaßnahmen umzusetzen weiß, wobei der Überlegenheitsgestus männlicher Kulturarbeit in Gestalt eines besonders „stolzen Hirsch[es]“96 zum Ausdruck kommt, der Dietegen zu einem spielerischen Kräftemessen provoziert, so dass der Junge erstmals „auf diese Weise seine Glieder brauchte und seiner Lebenslust inne ward“97. Das intuitive Kräftemessen mit der stolzen Kreatur definiert einen männlichen Wirklichkeitsbezug, der Körperpraxis und Lebenslust ätiologisch miteinander verschränkt und am Beispiel des ‚Tanzes‘ mit dem Hirsch die Herausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität als eine soziale bzw. kompetitive Praxis inszeniert.98 Als Metaphern einer moralischen wie auch körperlichen Vorbestimmung des männlichen Geschlechts verweisen sowohl das Schwert des Försters als auch der Tanz mit dem Hirsch auf das Prinzip einer angeleiteten Nachahmung. Die Hirschepisode etwa belegt die Bedeutung körperreflexiver Praktiken für den anstehenden Mannwerdungsprozess, denn Körper können „als Teilnehmer am sozialen Geschehen […] den Verlauf sozialen Verhaltens mitbestimmen“99, was konkret meint, dass die Betrachtung des Hirsches zu einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit führt, die fortan ihrerseits die soziale Interaktion des Adoleszenten beeinflusst. || 94 Bachofen: Das Mutterrecht, S. 40. 95 HKKA 5, 201. 96 HKKA 5, 201. 97 HKKA 5, 202. 98 In einem anderen Zusammenhang, jedoch in einer die vorliegende Szene exakt beschreibenden Begrifflichkeit definiert Stockmeyer die „Entwicklung kindlicher Autonomie [...] über die muskuläre Bemächtigung [der, S.V.] Umgebung“. Anne-Christin Stockmeyer: Identität und Körper in der (post)modernen Gesellschaft. Zum Stellenwert der Körper/Leib-Thematik in Identitätstheorien. Marburg 2004, S. 62. 99 Connell: Der gemachte Mann, S. 80. Connell selbst definiert ihr Konzept einer körperreflexiven Praxis wie folgt: „Wenn Körper sowohl Objekte als auch Agenten der Praxis sind, und aus der Praxis wiederum die Strukturen entstehen, innerhalb derer die Körper definiert und angepaßt werden, haben wir es mit einem Muster zu tun, das von der derzeitigen sozialen Theorie nicht erfaßt wird. Dieses Muster könnte man körperreflexive Praxis nennen.“ (S. 81).
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Gedämpft wird dieser neue Mut mit Eintritt in den Hochwald, „in welchem die Tannen und die Eichen, die Fichten und die Buchen, der Ahorn und die Linde dicht ineinander zum Himmel wuchsen“100, das Licht des männlichen Tagesgestirns folglich aussperren, so dass die lautlich wie visuell unbekannte Kulisse der fremden Welt den eben noch im (Wett-)Kampfmodus begriffenen Dietegen nun „still und beschaulich“101 werden lässt. Die „tausend Geheimnisse“102 dieses Ortes, die „in den Laubkronen und im dichten Gestäude“103 sich verbergen, lassen die während des Hirschtanzes in den Hintergrund geratene Küngolt selbstbewusst hervortreten, denn hier spiegelt der Text metaphorisch seine Ideen von der ‚Natur‘ des Weiblichen. Die nunmehr auch topographisch akzentuierte Polarisierung der Geschlechter dient vorrangig dem anstehenden Initiationsprozess Dietegens, denn das geschlechtliche Miteinander im Forsthaus zeigt sich aller zeichenhaften Lagerbildung zum Trotz in harmonischer Ergänzung begriffen – zu beobachten in der freundlichen „helle[n] Stube“104 des Hauses, wo symbolträchtig „in den Fenstern […] zwei gemalte Scheiben mit den Wappen des Mannes und der Frau“105 glänzen. Überhaupt erweist sich das Forsthaus als ein Ort des Ausgleichs, der, gelegen zwischen den verfeindeten Orten, weder die maßlose Sinneslust Seldwylas noch die Lebensfeindlichkeit Ruechensteins kennt. Am Beispiel des Forsthauses und seiner Bewohner realisiert der Text somit das bürgerliche Ideal eines auf Ergänzung angelegten Miteinanders der Geschlechter, welches zugleich von der inneren Ausgeglichenheit der Beteiligten zwischen Sinnlichkeit und Vernunftbegabung kündet. Tag und Nacht, Kultur und Natur, Mann und Frau – alles steht hier in nach Textauffassung rechter Balance zueinander, wobei diese Harmonie eine Momentaufnahme darstellt, die zwar relativ stabil erscheint, aber keineswegs unverbrüchlicher Natur ist. So belegt ein Blick auf den Patron des Hauses, der als „ein Mann von etwa vierzig Jahren, groß und fest, von breiten Schultern und schöne[m] Ansehen[]“106, „goldblonde[m] Haar“107 und „blauen Augen […] voll Feuer“108, wie der leibliche Vater Dietegens erscheint, dass die vorherrschende Harmonie Resultat eines Ausgleichs ist, da eben dieser Forstmeister in seiner || 100 HKKA 5, 202. 101 HKKA 5, 202. 102 HKKA 5, 202. 103 HKKA 5, 202. 104 HKKA 5, 200. 105 HKKA 5, 200. 106 HKKA 5, 206. 107 HKKA 5, 206. 108 HKKA 5, 206.
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Jugend „der lustigste und wildeste der Seldwyler gewesen [ist, S.V.], der stets die wunderlichsten Streiche angegeben [hat, S.V.]“109, nun aber seinen Pflichten als „der gesetzteste und ruhigste Mann von der Welt“110 nachgeht. Der Grund für die wundersame Wandlung des einstigen Haudegens ist eine Frau „von äußerst zarter Beschaffenheit“111, die mit der ihr zugeschriebenen „wehrlosen Herzensgüte“112 männliche Beschützerinstinkte weckt und auf diese Weise die Verwandlung eines triebhaften Männlichkeitsentwurfes bewirkt.113 Als Voraussetzung hierfür führt der Text die „anmutige Schwäche der zarten Frau“114 an, die auf eine gefahrlos konsumierbare Sexualität verweist, im Gegenzug jedoch die Beherrschung der eigenen Person zwecks Erhalt dieses fragilen, aber existenziell wichtigen Komplementärguts anmahnt. Die Bekehrung des wilden Mannes ist Voraussetzung wie Resultat dieses Frauenerwerbs und zeigt auf symbolischer Ebene, dass die Ergänzungsfunktion des weiblichen Geschlechts einen regulierenden, weil ausgleichenden Faktor innerhalb der permanenten Prozesshaftigkeit des ‚Mannseins‘ darstellt. In Opposition zu Angstbildern von destruktiv-narzisstischer Weiblichkeit bürgt die beständig zitierte Wehrlosigkeit der Forstmeisterin für die Reinheit und Transparenz eines Wesens, dass sich per Definition stets ‚an‘ aber niemals ‚gegen‘ den Mann richtet. Als ein weiblich-mütterlich konnotiertes Prinzip kennt diese Güte keine Vorbedingung für das eigene Engagement, muss nicht erarbeitet oder verdient werden, und steht somit vaterrechtlichen Prinzipien von Vereinzelung und Hierarchisierung diametral gegenüber. Einem bürgerlichen Geschlechterdiskurs verpflichtet, erscheint die dieser Ergänzungsidee implizite Auslagerung unterdrückter Wesensanteile auf das ‚andere‘ Geschlecht mit dem Ziel einer Rückerlangung derselben durch Paarbindung als eine männliche Reaktion auf den Verlust der eigenen Ganzheitlichkeit. Dem Schutze eines sich auch räumlich gegen die Exzesse der Nachbarorte abgrenzenden Hauses unterstellt, steht die Forstmeisterin somit als „natürlicher Rehabilitationsort“115 für die rechte Balance ihres Gatten ein und ermöglicht diesem eine bisweilen gar rauschhafte Einkehr in die
|| 109 HKKA 5, 206. 110 HKKA 5, 207. 111 HKKA 5, 207. 112 HKKA 5, 207. 113 Dieser Beschützerinstinkt ist nicht zuletzt Ausweis bzw. Legitimationsmuster männlicher Herrschaft, die nämlich „Herrschaft der Starken über die Schwachen und [...] Schutz der Schwachen durch die Starken“ meint. Aus: Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 13. 114 HKKA 5, 207. 115 Bischoff: Körperteil und Zeichenordnung, S. 302.
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Wirtsstuben Seldwylas, wo der Forstmeister „mit frischer Kraft den Reigen“116 führt „und nachdem er die Alltagszecher einen um den andern unter den Tisch getrunken, [...] als der letzte aufrecht von der Ratsstube [...] fröhlich in den Wald“117 hinaufsteigt. Ein Rückfall in die Zeiten unregulierter Triebhaftigkeit ist unter diesen Umständen einer im beschriebenen Sinne funktionierenden Paarbeziehung nicht zu befürchten, wobei die immunisierende Wirkung des weiblichen Korrektivs ausdrücklich nicht die homosoziale ‚Kompetenz‘ des Gatten schmälert, sondern ihn im Gegenteil sämtliche Geschlechtsgenossen im zechenden Mannesvergleich überflügeln und anschließend aufrechten Hauptes heimkehren lässt. Das Geschlechteridyll des Hauses reflektiert das anthropologische Ideal des Textes von der harmonischen Ganzheit des Menschen als ein unverkennbar auf das männliche Geschlecht ausgerichtetes Konzept, das Ganzheitlichkeit als Ergebnis einer auf gegenseitige Ergänzung hin ausgelegten, heterosexuell organisierten Idee von Zweigeschlechtlichkeit versteht. Wo die Auswirkungen von Alkohol oder Sexualität männliche Figuren nicht selten den Verstand kosten, zeigt sich der geerdete Forstmeister „ungewöhnlich zärtlich gegen seine Frau“118, was auf eine lustvoll gelebte Sinnlichkeit innerhalb der Ehe schließen lässt. Nicht als weibliches Lockmittel zum in der Regel destruktiven Zweck, sondern im Zeichen uneigennütziger Sinnesfreude lässt die Sexualität der Forstmeisterin ihren Gatten nach einer stürmischen Jugendzeit nunmehr die „wahre Stärke“119 eines ausgeglichenen Wesens finden. Der einzige Irrtum dieser „gute[n] Mutter“120 bezieht sich ausgerechnet auf Dietegen, denn wenn jene auf ihr Gefühl vertrauend verkündet, dass der Knabe dem Forsthause „Unheil […] nicht bringen“121 werde, irrt sie auf eine durchaus bittere Weise, da gerade ihre eigene Gefühlswelt die Wurzel des nachfolgenden Unheils vorstellt.
4.1.6 Autonomie und Dominanz: Von der männlichen ‚Natur‘ Dietegens Aufbegehren gegen Küngolts Herrschaft zeigt sich in wiederum sexualsymbolisch aufgeladenen Szenen und verweist auf einen Jungen, der beherzt
|| 116 HKKA 5, 207. 117 HKKA 5, 207. 118 HKKA 5, 208. 119 HKKA 5, 207. 120 HKKA 5, 199. 121 HKKA 5, 196.
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gegen seine Mentorin einschreitet, wenn diese mit dem ihm anvertrauten Spieß eine Schlange aufzuscheuchen versucht und damit gleich zwei männlich-phallisch konnotierte Erscheinungen zu schädigen sich anschickt. Weil folglich das Mädchen das verletzliche Tier und „die blankgeschliffene schöne Waffe mißhandeln wollte“122, greift Dietegen intuitiv in das Geschehen ein, rettet die „glänzende scharfe Spitze“123 des Jagdwerkzeuges und wird hierfür von einer hinter den Kulissen wachenden Vaterautorität in Gestalt des unerwartet hinzutretenden Forstmeisters gelobt: „Das ist wohl gethan von Dir, Du wirst gut zu brauchen sein!“124 Die Verhinderung des weiblichen Anschlags auf Symbole des Mannestums wird denn auch ebenso symbolträchtig entlohnt, indem der vom Vater erlegte Auerhahn an den Ziehsohn übergeben wird, welcher „den prächtigen Vogel an seinen Spieß hängen und über der Schulter vorantragen“125 darf. Die Trophäe und das Wohlgefallen des Vaters, in Dietegen „einen rechten Gesellen“126 heranwachsen zu sehen, untermauern die Idee einer männlich-geistigen Sukzession und werden im Gegensatz zu den Besitzansprüchen des weiblichen Personals positiv konnotiert. Dass die Perspektive des Forstmeisters im Grunde ebenso explizite Erwartungen gegen den Neuankömmling formuliert wie das heimliche Matriarchat aus Mutter und Tochter, gilt dem Text offenkundig als anthropologischer Normalfall und steht somit nicht zur Diskussion. So gilt der Widerstand Dietegens vorrangig dem weiblichen Erziehungsanspruch, wobei dieser nicht einfach negiert, sondern nach Art einer Konterrevolution unterlaufen wird. Die Spöttereien der „Lehrjungfer“127 nämlich werden zunehmend aus einem Gefühl männlicher Überlegenheit heraus ertragen, zumal Dietegen bisweilen „gutmütig mit ihren Lügen zu spielen anfing und einen zierlichen Gegenunterricht begann“128. Diese Milde jedoch beschränkt sich auf eine verschiedengeschlechtliche Ebene, denn während der Knabe so manchen Spaß auf seine Kosten von Küngolt annimmt, hat die Verballhornung durch einen Geschlechtsgenossen zur Folge, dass er diesem „unverweilt ins Gesicht“129 schlägt. Es zeigt sich ein schon durch infantile Späße zu provozierendes männliches Abgrenzungsverhalten, das ‚Geschlecht‘ als zentrale Kategorie der Identitätsbildung bestätigt und folgerichtig das erwachende Geschlechtsempfinden des || 122 HKKA 5, 202. 123 HKKA 5, 202. 124 HKKA 5, 202f. 125 HKKA 5, 203. 126 HKKA 5, 203. 127 HKKA 5, 203. 128 HKKA 5, 204. 129 HKKA 5, 204.
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Jungen dazu führen lässt, dass dieser für seine Freundin zwar manche Arbeit körperlicher Natur, nicht aber weiblich konnotierte Dienste übernimmt – denn „ihr das Haar zu strählen und zu flechten […], das schlug er ab.“130 Die Emanzipation des Jungen beschwört auf weiblicher Seite Affekte von Reizbarkeit herauf, die dem Text gleichermaßen zur Stigmatisierung weiblichen Besitzstandsdenkens wie zur Stilisierung männlicher (Wesen-)Stärke dienen. Als der nunmehr bessere „Sittenspiegel“131 ist es etwa an Dietegen, die mit einer Schere nach ihm stechende Küngolt sanft aber bestimmt am Handgelenk zu packen und diese, „ohne ihr weh zu thun, ohne einen bösen Blick“132, zu entwaffnen. Die betont sanfte Art, mit welcher der Knabe seine einstige Lehrerin korrigiert, belegt das geschlechtlich fundierte Dominanzgefühl des Heranwachsenden und führt das der mütterlichen Näharbeit zugeordnete Werkzeug wie zur Korrektur eines ‚unsachgemäßen‘ weiblichen Aufbegehrens wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zu. Auf zeichenhafte Weise lässt der Text seinen Protagonisten Ordnung schaffen bzw. für eine Ordnung einstehen, deren Wahrung und Vermittlung eigentlich Sache der Forstmeisterin ist, die aber die ‚geschlechterpolitische‘ Dimension der kindlichen Streitereien verkennt („Geh‘, versöhne Dich mit ihr und mach den Trotzkopf wieder gut!“133) und hierdurch die Besitzansprüche der Tochter gar noch befeuert: „Niemand darf Dich küssen als ich! denn Du gehörst mir allein, Du bist mein Eigentum, ich allein habe Dich aus dem Sarge befreit, in dem Du auf ewig geblieben wärest!“134 Gegen die in ‚mutterrechtlicher‘ Tradition stehenden Forderungen des Mädchens nimmt der Text seinen Protagonisten räumlich wie
|| 130 HKKA 5, 204. 131 HKKA 5, 204. 132 HKKA 5, 205. 133 HKKA 5, 205. 134 HKKA 5, 205.
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ideologisch in Schutz,135 indem er ihn „von Küngolts Seite“136 nimmt und unter Führung des Forstmeisters in ein betont gleichgeschlechtliches Gefüge eingliedert, wodurch er „die meisten Tage vom Morgengrauen bis zur sinkenden Nacht mit den Männern in den Wäldern, auf Moor und Haide“137 unterwegs ist. Die Gesellschaft der erwachsenen Männer wie auch die körperlichen Anforderungen der Arbeit beflügeln die geschlechtliche Entwicklung des Jungen und aktivieren dessen körperlichen Potenziale in einer Art, „daß es eine Freude war, [denn, S.V.] rasch und gelenksam wie ein Hirsch gehorchte er auf den Wink und lief zur Stelle, wohin man ihn schickte.“138 Gehorsamkeit und Agilität zeichnen diesen jungen Mann aus, der „[s]chweigsam und gelehrig“139 seinen Dienst verrichtet, hierbei erfolgreich „ein junges Schwarzwild auf den Sauspieß rennen“140 lässt und als Honorierung seiner Anstrengungen mit einer Armbrust belohnt wird, die auf sinnbildliche Weise den kurzen Spieß aus Kindertagen ablöst. Diesem geschlechtlichen wie sozialen Reifungsprozess entsprechend nimmt der Heranwachsende nach und nach Aufgaben im Namen des „Pflegevater[s]“141 wahr und zeigt sich dabei derart mustergültig, dass der Forstmann ihn beschwört, „er müsse ihm gänzlich ein ehr- und wehrbarer Stadtmann werden.“142 Die Ausweitung von Kompetenzen kann indes nicht verbergen, dass das einst von Frauenseite gegen den Knaben angeführte ‚muss‘ nun in vaterrechtlicher Übersetzung zurückkehrt. So wird eine von allen Seiten an Dietegen herangetragene Projektionspraxis erkennbar, für die das weibliche Personal geschol|| 135 Die räumliche Trennung der beiden Kinder als Metapher einer geschlechtsspezifischen Sozialisation, die einer (vermeintlich) ‚natürlichen‘ Verschiedenheit der Geschlechter entspricht, tatsächlich aber jene erst installiert, erfährt durch die psychoanalytisch inspirierte ‚Raumtheorie‘ Eriksons gar eine ‚wissenschaftliche‘ Fundierung dahingehend, dass es nach Auffassung Eriksons „im somatischen Grundplan der Frauen einen ‚inneren Raum‘ gibt, von dessen Existenz jedes weibliche Kind (bewußt oder unbewußt) Kenntnis hat.“ Aus: Erik H. Erikson: Die Weiblichkeit und der innere Raum. In: Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Aus dem Englischen übersetzt von Marianne von Eckardt-Jaffé. 3. Auflage. Stuttgart 1980, S. 274–308, S. 280. Zit. n. Schmidt: Das domestizierte Subjekt, S. 78. Das am Beispiel von Spielanordnungen gezogene Resümee des Psychoanalytikers wiederum reproduziert traditionelle Vorstellungen von einer Innen-Außen Polarisierung der Geschlechter in Bezug auf Charakter und Zuständigkeiten, denn „die Mädchen betonen den inneren, die Jungen den äußeren Raum“ (S. 283). 136 HKKA 5, 205. 137 HKKA 5, 205. 138 HKKA 5, 205. 139 HKKA 5, 205. 140 HKKA 5, 206. 141 HKKA 5, 206. 142 HKKA 5, 206.
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ten wird, während der Forstmeister durch männliche Naturgesetzlichkeiten legitimiert scheint: „Es war begreiflich, daß Dietegen dem Forstmeister mit Leib und Seele anhing; denn nichts gleicht der Neigung eines Jünglings zu dem Manne, von welchem er weiß, daß er ihm sein Bestes zuwenden und lehren will und den er für sein untrügliches Vorbild hält.“143 Somit werden Begehrlichkeiten weiblichen Ursprungs stets im Zeichen einer destruktiven Verdinglichung des Jungen verhandelt, wohingegen Vereinnahmungstendenzen von väterlicher Seite als wohlmeinende Schützenhilfe in einem komplexen Mannwerdungsprozess dargestellt werden.
4.1.7 Eine unruhige Maifeier: Von Besitzansprüchen und Pflichtverletzungen Während das gesellschaftliche Fest in den Werken Kellers vorrangig der Beilegung von Konflikten oder der Bestätigung des Volkes als ‚Naturordnung‘ dient, ziehen die Festlichkeiten zum Maifeiertag in vorliegender Novelle für sämtliche Beteiligte katastrophale Folgen nach sich. Das Maifest, zu dem ein Spielmann und einige Leute aus der Stadt geladen werden, wird hierbei zum Katalysator tief liegender Konflikte, da die fatale Entwicklung des Abends weder dem feierlichen Beisammensein an sich, noch dem Alkoholgenuss – denn „der Würzwein, welchen die Leutchen tranken, war untadelhaft gemischt“144 – zuzurechnen ist, sondern den Verstrickungen des Individuums in die emotionalen und sozialen Bedingungen der eigenen Existenz entspringt. Das der Feier übergeordnete Motiv des Frühlingserwachens kündet zudem von erotischen Implikationen und zeigt zwei über die Jahre auf geschlechtliche Weise ausdifferenzierte Jugendfreunde, die „sich nicht mehr unbefangen“145 anzusehen wissen, wobei insbesondere der junge Waidmann seinen Blick auf die Freundin unter betont sexueller Perspektive neu ausrichtet. Der Faszination des Jünglings, in der einstigen Spielgefährtin ein heranreifendes „schönes Weib“146 zu erkennen, das trotz seiner „vierzehn Jahre fast vollbusig schien“147, sekundiert der Text, indem er die Leiblichkeit des Mädchens als eine gelungene Symbiose aus den „zarten und lieblichen Zügen“148 der Mutter und dem väterlichen Wuchs einer „junge[n] Tanne“149 beschreibt. Als || 143 HKKA 5, 206. 144 HKKA 5, 209. 145 HKKA 5, 209. 146 HKKA 5, 208. 147 HKKA 5, 208. 148 HKKA 5, 208. 149 HKKA 5, 208.
Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen | 265
Bürgen für die Vertrauenswürdigkeit der töchterlichen Sexualität taugen die körperlichen Attribute der Eltern jedoch allenfalls zeichenhaft, da Küngolt ihre Augen zwar gewohnt „offen und freundlich“150 umherschweifen lässt, zwischenzeitlich aber auch einen erotischen Besitzanspruch verrät, denn „unversehens blitzten sie [die Augen, S.V.] einmal mutwillig auf und streiften wie Pfeile über die Jünglinge hin, bis sie einen Augenblick auf Dietegen ruhten […].“151 Die ‚Pfeile‘ Küngolts korrespondieren der kürzlich erworbenen Armbrust Dietegens und zeugen von einer geschlechtsspezifischen Unterwerfungslust auf beiden Seiten, wobei der Jüngling seine Autorität im Zeichen von Gewaltbereitschaft anzeigt, während die junge Frau bei der Wahl der Waffen auf ihre sexuellen Reize setzt. Auf diesem Gebiet unerfahren, regt sich ein „neues süßes Gefühl“152 in dem jungen Mann, das als Einfallstor einer Inbesitznahme durch das weibliche Geschlecht ausgewiesen und von Küngolt auch als ein solches fixiert wird, denn sie „ging von ihm wie von einer Sache, die einem zu eigen gehört und deren man sicher ist“153. Wie zu Seldwyla üblich, erweist sich die Schwelle zwischen einem geordneten Beisammensein und dem Hervortreten erotischer Verwicklungen in dieser Frühlingsnacht auch im Umfeld des Forsthauses als äußerst niedrig. So ist die Freude der Anwesenden zwar nur „um ein kleines Maß zu warm“154, doch schon dieses kleine „bißchen zuviel Zucker“155 verschiebt die Akzente und „das Völkchen nahm sich auf den Schoß und küßte sich gelegentlich“156. Das angeführte Diminutiv weist auf die triebhaft-regressiven Tendenzen dieser Mainacht voraus, indem es die ‚Süße‘ und ‚Wärme‘ des anwesenden ‚Völkchens‘ als eine unheilvolle Gemengelage aus narzisstischer Kindlichkeit und erwachender Sexualität verrät. Die Akzentverschiebung des Festes korrespondiert dabei insbesondere der Entwicklung Küngolts, die gleichermaßen kindlich wie ‚vollbusig‘ auf sexuellem Gebiet debütiert und ihre infantilen Besitzansprüche fortan um eine erotische Dimension erweitert, wenn sie dem Jugendfreund „mit all‘ dem rückhaltlosen Ungestüm eines Kindes [begegnet, S. V.], während es doch schon die Jungfrau in ihr war, die sie bewegte“157.
|| 150 HKKA 5, 209. 151 HKKA 5, 209. 152 HKKA 5, 209. 153 HKKA 5, 209. 154 HKKA 5, 209. 155 HKKA 5, 209. 156 HKKA 5, 210. 157 HKKA 5, 210.
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Im sinnesfeindlichen Ruechenstein aufgewachsen, immunisiert der Text seinen Protagonisten gegen erotische Übersprungshandlungen und lässt ihn stattdessen den „Schatten dunkler Bäume“158 suchen, denn „obgleich er bereits verliebt war, floh er das Liebkosen, welches ziemlich allgemein begonnen hatte, wie das Feuer und hielt sich vorsichtig außerhalb der gefährlichen Linie.“159 Dass ausgerechnet einem verliebten Jüngling die Rolle des Sittenwächters zukommt, so dass es an ihm ist, der Tochter des Hauses „gönnerhaft und sanft, fast wie wenn er ihr Pate wäre“160, Einhalt zu gebieten, wirft unweigerlich die Frage nach dem formal zuständigen Korrektiv auf und lenkt den Fokus auf eine „fröhlich erregte Forstmeisterin“161. Als ein nach bürgerlichem Verständnis für die Wahrung sittlicher Konventionen zuständiges Vorbild vernachlässigt die Mutter Küngolts abermals ihre Erziehungspflichten, sieht im Gegenteil die gegen den Ziehsohn sich richtenden Liebkosungen der Tochter gar mit einigem „Vergnügen“ 162, und ist entsprechend nicht in der Lage, den „illusorischen Realitätszugang“163 eines narzisstische Verhaltensweisen einübenden Mädchens zu korrigieren. Erschwerend kommt hinzu, dass der Forstmeisterin die Gesetze eines verschiedengeschlechtlichen Miteinanders durchaus bewusst sind, sie Dietegen folgerichtig nicht als Besitzstand, sondern als „Wächter und Beschützer“164 ihrer Tochter sieht, diese Zukunftsaussichten jedoch selbst torpediert, indem sie wider besseres Wissen die Anwandlungen des jungen Mädchens unsanktioniert lässt und in Kauf nimmt, dass ihre Passivität als Beleg mütterlicher Zustimmung interpretiert wird. Erneut sind es somit Mutter und Tochter, an deren Beispiel sich Männerphantasien von gynäkokratischen Gegenwelten entzünden, zumal der Text den jungen Mann von den beiden Frauen buchstäblich in die Zange nehmen lässt, bis es „dem armen Burschen zu heiß und unheimlich zwischen Tochter und Mutter“165 wird. Das Zerrbild eines Matriarchats verfestigt sich, wenn die Forstmeisterin erstmals aktiv in das Geschehen eingreift, den fliehenden Dietegen einfängt und den in einem Mannwerdungsprozess begriffenen Jüngling als Verfügungsobjekt an die Tochter weiterreicht: „Hier hast du ihn, mein Töchterchen! Komm und halt’ ihn fest!“166 Die ‚Gefangennahme‘ durch die Forstmeisterin erinnert an Kün|| 158 HKKA 5, 210. 159 HKKA 5, 210. 160 HKKA 5, 210. 161 HKKA 5, 210. 162 HKKA 5, 210. 163 Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 120. 164 HKKA 5, 210. 165 HKKA 5, 211. 166 HKKA 5, 211.
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golts umschlingenden Arme aus Kinderzeiten, so dass der Jüngling in den Armen seiner Ziehmutter gefangen, aber durchaus „wohl geborgen“167 über die Bedingungen des Mensch- bzw. Mannseins sinniert und maßgeblich Fragen von Obhut und Autonomie aufwirft: „Er kam sich vor wie eine vom Baume des Lebens geschüttelte verlorene Seele, welche, von weichen Händen aufgehoben und gepflegt, nun für immer des eigenen freien Daseins beraubt wäre.“168 Der äußere (Geschlechter-)Kampf findet sodann sein Äquivalent im Inneren des jungen Mannes, denn da durch die „unbefangene Aufmunterung zum Kosen“169 eine „wunderlich[e] und schwül[e]“170 Situation entsteht, zeichnet sich für den Initianden eine Herausforderung der eigenen Triebkontrolle ab – zumal dieser trotz seiner „Empörung gegen die eigenmächtige Zuthulichkeit der Frauen“171 sich des Wunsches nicht erwehren kann, „das Mädchen ungestüm an sich zu ziehen und beim Kopf zu nehmen.“172 Küngolts Versuch jedoch, ihrerseits den Freund beim Kopf zu nehmen, wirkt wie ein Weckruf auf den Jüngling und lässt ihn als einen zu Sitte und Moral zurückgefundenen „jungen Sittenprediger“173 die längst fälligen Worte gegen seine Jugendfreundin richten: „Du bist noch zu jung zu diesem! Das schickt sich nicht für Dich!“174 Empört und in aller Öffentlichkeit formuliert das Mädchen daraufhin ihre von ‚mutterrechtlichen‘ Ideen kündenden Ansprüche gegen den jungen Mann: Er ist mir geschenkt worden von den Richtern, da er nichts als ein Leichnam war, den ich zum Leben erweckt habe! Drum hat nicht er über mich zu richten, sondern ich allein über ihn, und er muß thun alles, was ich will, und wenn ich ihn gern küsse, so habe ich es allein zu verantworten und er hat nur still zu halten!175
Die von weiblicher Seite „vor aller Welt“176 vollzogene Verdinglichung eines auf homosozialem Terrain hoch angesehenen Männlichkeitsentwurfes ist nicht nur eine öffentliche Bloßstellung Dietegens, sie belegt darüber hinaus die narzisstischen Schöpfungsphantasien Küngolts, da diese nicht mehr nur darauf besteht, dem Knaben einst das noch vorhandene Leben gerettet zu haben, sondern nun-
|| 167 HKKA 5, 211. 168 HKKA 5, 211. 169 HKKA 5, 211. 170 HKKA 5, 211. 171 HKKA 5, 211. 172 HKKA 5, 211. 173 HKKA 5, 212. 174 HKKA 5, 211. 175 HKKA 5, 212. 176 HKKA 5, 212.
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mehr gar für sich in Anspruch nimmt, einen ‚Leichnam‘ zu neuem Leben erweckt zu haben. Den verzerrten Wirklichkeitsbezug einer solchen „wunderliche[n] Aeußerung“177 bestätigt zwar das Gelächter der anwesenden Gäste, allerdings verfehlt die Verlachung altersbedingt ihre kathartisch-korrigierende Wirkung auf das Mädchen und hinterlässt das Bild einer grenzüberschreitenden Kindfrau auf Kollisionskurs mit patriarchalen Gesetzlichkeiten. Der Weg nämlich, den die Heranwachsende dem Geschlechterdiskurs der Novelle gemäß eigentlich einzuschlagen hat, weist in das mütterliche Ankleidezimmer, wo das schwere Brokatkleid der Mutter, das von einer Steifheit ist, dass es von „ganz allein aufrecht stehen könne, ohne daß jemand drin stecke“178, symbolisch auf die Tochter wartet. Die auf textile Weise zeichenhaft angemahnte Zurichtung einer garantiert ‚aufrechten‘, weil korsettartig eingeschnürten Weiblichkeit reflektiert gesellschaftliche Konventionen und schreibt die patriarchale Ausrichtung weiblicher Sozialisation tief in ein symbolschweres Kleidungsstück ein, in das hineinzuwachsen es mütterlicher Anleitung bedarf. Weil jedoch die Forstmeisterin am Abend der Maifeier dem eigenen Kleid sprichwörtlich nicht gewachsen scheint, stattdessen gar den jungen Waidmann zu einer Versöhnungsgeste gegen die Tochter – und damit zu einer öffentlichen Unterwerfungsgeste – auffordert, verfestigen sich unterschwellige männliche Angstbilder von weiblicher Herrschaft. Vom triumphierenden Mädchen entsprechend „herrisch bei den Locken“179 genommen, bleibt dem jungen Mann angesichts der öffentlichen Dimension der Geschehnisse allein die Flucht nach vorn, sprich eine Revision der bestehenden Dominanzverhältnisse, woraufhin Küngolt unter der „festen Hand“180 des Jünglings ungekannte Töne zu hören bekommt: „Ich lasse nicht mit mir spielen! Von heut an bist Du so gut mein Eigentum wie ich das Deinige, und kein anderer Mann soll Dich lebendig bekommen!“181 Befeuert wird die Erregung des jungen Mannes, der in seiner kurzen Erklärung explizit andere Männer erwähnt, von einem für sein Selbstverständnis offenkundig konstitutiven Konkurrenzgedanken, so dass Männlichkeit selbst in diesem heterosexuellen Kontext maßgeblich unter Verweis auf das eigene Geschlecht definiert wird. Den Ernst der Ereignisse dieser aus den Fugen geratenen Mainacht untermauert der Text, indem er selbige der Forstmeisterin in Form einer tödlich verlaufenden Erkältung in Rechnung stellt und jene auf dem Totenbett wohl ahnen
|| 177 HKKA 5, 212. 178 HKKA 5, 198. 179 HKKA 5, 212. 180 HKKA 5, 213. 181 HKKA 5, 213.
Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen | 269
lässt, dass dies „nicht die rechte Todesart für eine Hausmutter sei, die von Unvorsichtigkeit in der Freude herrührt.“182 So fällt die ‚Überhitzung‘ der Mainacht metaphorisch als moralisch indizierte ‚Erkältung‘ auf eine Frau zurück, die in einem kurzen, aber bedeutungsschweren Augenblick ihre Pflichten verletzt und daraufhin als Stabilitätsgarant in einem männlich geordneten Gesellschaftssystem ausfällt. Die Verfehlung der Forstmeisterin verweist demgemäß auf patriarchale Ideen von der ‚Urschuld‘ des weiblichen Geschlechts, wodurch sich das mütterliche Siechtum als Strafmaßnahme eines Textes zu erkennen gibt, der trotz institutionalisierter Kontrollinstanzen (Ehe) und vermeintlich garantierter Gutmütigkeit stets die Rückkehr einer als destruktiv stigmatisierten weiblichen (Trieb)Natur fürchtet. Die schleichende Entmoralisierung der Forstmeisterin belegt somit einmal mehr die biologistische Perspektive des Textes, der durch die metaphorische Wiedergeburt eines verloren geglaubten Kindes verborgene Sehnsüchte in seiner Protagonistin aufbrechen lässt und auf diese Weise Vorstellungen von einer nie vollständig zu zähmenden weiblichen Natur dokumentiert. Die dahinterstehende männliche Angst, gegen solche triebhaften Wesensanteile auch selbst nicht gefeit zu sein, wird obligatorisch auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts ausagiert und lässt die einst ‚gute‘ Forstmeisterin zu einem Schreckbild irrationaler Triebhaftigkeit werden. Der tiefe Fall der Forstmeisterin, deren Sehnsüchte ausgerechnet durch den sittenstrengen Neuankömmling aus Ruechenstein aktiviert werden, dient dem Text zur Bestätigung seiner anthropologischen Skepsis gegen unregulierte Triebhaftigkeit und straft eine bis dato mustergültige Mutterfigur mit dem Tode – weil diese sich dem Trieb überlässt, wo sie Ideal hätte sein sollen. Der korsettierten ‚Aufrichtigkeit‘ des schweren Brokatkleides verpflichtet, erklärt sich der sündenfallartige Abgesang des Textes auf seine Protagonistin als Reaktion auf den Ausfall einer zu Stabilisierung und Reproduktion einberufenen Frauengestalt, deren lebensweltlicher Bedeutung allein im Zeichen der vollständigen Vernichtung entsprochen werden kann. So wird die „stille anmuthige Leiche“183 der in Anerkennung früherer Verdienste im Tode rehabilitierten Frau mit einem „schweren Kranz“184 und unter einem „Gebirge von Waldblumen“185 zu Grabe getragen, wobei das Schicksal der Verstorbenen wie als Mahnung an die Hinterbliebenen nochmals in räumlicher Metaphorik nachgezeichnet wird, in-
|| 182 HKKA 5, 213. 183 HKKA 5, 214. 184 HKKA 5, 214. 185 HKKA 5, 214.
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dem dieser letzte Weg „von der Höhe hinunter zur Kirche“186 führt. Zugleich zeugen die als Zeichen der Ehrerweisung auf dem Sarg aufgehäuften Blumenberge von der erdrückenden Last patriarchaler Weiblichkeitsideale, die das weibliche Geschlecht in männlichen Versöhnungsphantasien permanent überhöhen, im Falle eines nicht bestandenen ‚Belastungstests‘ indes augenblicklich dämonisieren – im Falle der Forstmeisterin gar eliminieren.
4.1.8 Die Machtübernahme narzisstischer Weiblichkeit Das Prinzip des Figurenimports muss nicht zwingend destruktive Folgen haben, wie das Beispiel der einst zum Ausgleich des Forstmeisters eingeführten Mutter Küngolts zeigt, wird jedoch in der vorliegenden Erzählung bevorzugt zur Erschütterung bestehender Ordnungen eingesetzt und findet diesbezüglich in der väterlichen Cousine Violande eine würdige Repräsentantin. Nach dem Tode der Forstmeisterin mit der Besorgung des Haushalts betraut, trägt die Endzwanzigerin „nicht die Kleidung einer Zufriedenen und Glücklichen, sondern eher einer Unruhigen und Hohlherzigen“187, denn obwohl von Natur aus mit Schönheit und Anmut bedacht, kündet die „sonderbare[n] Kleidung“188 der Frau von einer verborgenen Wahrheit, aus deren Tiefen bisweilen „etwas unselig Verlogenes und Selbstsüchtiges über ihr Wesen zuckte.“189 Vom trauernden Forstmeister, der die Cousine „für eine schnurrige Person hielt“190, weitgehend unbehelligt, trägt Violande ihre innere Unordnung ins Herz des Forsthauses und räumt mit der Ordnung der verstorbenen Forstmeisterin auf, woraufhin die harmonisierende Natur ihrer auf Ausgleich und Ergänzung angelegten Vorgängerin bald vollständig aus dem Haus getilgt ist. Dabei geht es um weit mehr als nachlässig platzierte Töpfe und Teller, denn als ein Ort der Zusammenkunft und Versorgung steht der Frieden innerhalb der Küche symbolisch für die Integrität des gesamten Hauses, so dass der ‚Unruheherd‘ Violande folgerichtig auch die „menschlichen Dinge im Hause“191 in Unruhe versetzt.192 Motiviert wird der Feldzug der Unruhigen gegen
|| 186 HKKA 5, 214. 187 HKKA 5, 215f. 188 HKKA 5, 214. 189 HKKA 5, 215. 190 HKKA 5, 217. 191 HKKA 5, 217. 192 Die häusliche Unordnung Violandes konterkariert das bürgerliche Ideal einer dem Manne den Rücken stärkenden weiblichen Gefährtin, die nicht zuletzt dafür Sorge zu tragen hat, „[...]
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jedwede Erscheinung von Ordnung wie zuvor der kurzzeitige Kontrollverlust der Forstmeisterin mit unerfüllten Sehnsüchten,193 da die Cousine des Forstmeisters einst unglücklich in diesen verliebt war und sich ihr früheres Unglück nun im Lichte der eigenen Altersvorsorge zu vergelten hofft. In Intrigantentum und patriarchalen Sitten gleichermaßen visiert, erkennt die „kleine[] Hexe“194 das symbolische Verlöbnis von Küngolt und Dietegen als für die eigene Sache kontraproduktiv und kürt die drohende Stammhalterschaft Dietegens zum Hauptfeind der eigenen Versorgungspläne. Die hieraus geborene Idee, eine Trennung der Kinder herbeizuführen, um nach dem zu erwartenden Fortgang derselben den Forstmeister angesichts von Einsamkeit und haushälterischen Nöten förmlich zu einer Eheschließung zu zwingen, steht zwar in maximalem Kontrast zu dessen erster Liebesheirat, belegt jedoch die sozial wie psychologisch versierten Einblicke Violandes in reale Geschlechterpolitik. Zu Zeiten ihrer ersten Ränkespiele gegen die einstigen Freundinnen des Forstmeisters ebenfalls erst vierzehn Jahre alt, weiß die Cousine des Vaters aus „Einsicht und Erfolg“195 nur zu gut um die zersetzende Kraft von Eifersucht. Die aufkeimende Sexualität Küngolts wird somit von einer Frau instrumentalisiert, deren vermeintliche Erfolge ihr stets „eher Haß und Verachtung“196 statt Zuneigung einbringen und die nun auf den Geschehnissen jener verhängnisvollen Mainacht aufbauend den kindlichen Narzissmus der Tochter des Hauses nach Kräften fördert. Wie als Mahnung an die Amoralität von weiblicher Attraktivität lässt der Text Violande „das frühzeitige Bewußtsein dieser Schönheit und den Geist einer, wenn auch noch kindischen Buhlsucht“197 in Küngolt wecken und das Mädchen unbemerkt „zu allen jungen Leuten in ein befangenes Verhältnis“198 setzen. Das im Falle Dietegens positiv konnotierte Sozialisationsmodell gleichgeschlechtlicher Nachahmung findet in der Cousine des Forstmeisters, die „vorwitzige oder thörichte Leutchen“199 mit deren „Geschichtchen, Streitigkeiten, Geräusch und
|| daß der Mann zur materiellen und geistigen Produktion freigesetzt ist.“ Aus: Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 26. 193 Korte etwa attestiert dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts „vorherrschenden sakrosankten Familialismus“ erste ‚Anfälligkeiten‘, die sich in den literarischen Texten der Zeit bevorzugt in der Zerstörung von Ordnungsmustern spiegeln. Vgl. Korte: Ordnung und Tabu, S. 91. 194 HKKA 5, 215. 195 HKKA 5, 216. 196 HKKA 5, 216. 197 HKKA 5, 217f. 198 HKKA 5, 218. 199 HKKA 5, 218.
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Gesang“200 ins stille Haus Einzug halten lässt, seinen destruktiven Gegenentwurf. Dieser „Kreis unruhiger Gemüter“201 konterkariert das Erbe der stillen Forstmeisterin und kultiviert eine hedonistisch-narzisstische Lebensart, die das Försterkind schon bald zwanghaft prüfen lässt, ob ein jeder „seine Schönheit auch fühle und anerkenne“202. Zugleich verweist die Tatsache, dass die einst mustergültige Geschlechterharmonie des Forsthauses in Windeseile von einer selbstverliebten Frauenfigur gekapert werden kann, auf die Wehr- und Hilflosigkeit zweier Männerfiguren, deren sprachlose Passivität den Verlust der ‚guten‘ Weiblichkeit des Hauses als einen Verlust von männlicher Orientierung verrät. Etabliert zwar in Erwerb und Jagd zeigen sich Dietegen und der Forstmeister in emotionalen Belangen offenkundig auf die Vermittlungsfunktion gutmütiger Weiblichkeit angewiesen. Fällt diese aus, folgt hierauf eine (männliche) Sprach- bzw. Kommunikationsfähigkeit, die schon zu Jugendzeiten des Forstmeisters zu beobachten ist, wenn ein vierzehnjähriges Mädchen einem jungen Mann die Freundinnen der Reihe nach abspenstig zu machen vermag, ohne dass dieser das Intrigantentum erkennt. Da es erst die Bekanntschaft der unkorrumpierbaren Forstmeisterin braucht, um dem „verschlagene[n] Kind“203 Einhalt zu gebieten, verstärkt sich der Eindruck entsprechender Defizite, zumal der junge Mann zu keinem Zeitpunkt der Sache auf den Grund zu gehen fähig scheint, sondern sich das Problem mit Eintritt der ‚guten‘ Frau ins Geschehen von selbst lösen lässt. So besteht kein Zweifel, dass „besonders das weibliche Treiben“204 im Hause den Witwer stört, doch gelingt es ihm nicht, Art und Umfang dieser Störung adäquat zu erfassen, weil er nicht „recht beachtete, wie es eigentlich damit beschaffen war“.205 Der zunehmend häufiger angetretene „Weg in die Trinkstuben seiner Stadtgenossen“206 markiert als Reaktion auf die erfahrene Desorientierung den Weg des geringsten Widerstandes, nämlich jenen zurück in die vertrauten Strukturen gleichgeschlechtlicher Interaktion. Weil jedoch Emotionalität in diesem homosozialen Rahmen nicht auf adäquate Weise artikuliert werden kann, bedient sich der Text des schon bei Pankraz oder Ital Manesse zu beobachtenden Motivs einer Kompensation innerer Überforderung auf dem Rücken eines zeichenhaft zu erlegenden Wildtieres. Denn wo geschlechtsspezifische Konventionen bei Tage strikte Affektkontrolle vom Manne || 200 HKKA 5, 218. 201 HKKA 5, 218. 202 HKKA 5, 218. 203 HKKA 5, 215. 204 HKKA 5, 219. 205 HKKA 5, 219. 206 HKKA 5, 219.
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fordern – der Forstmeister spricht während des Tages denn auch „kein Wort“207 – , bleiben dem Witwer allein der Schutz der Dunkelheit und die Intimität des Ehegemachs, um in diesen nicht-öffentlichen ‚Räumen‘ „des Nachts in seinem Bette“208 den erfahrenen Verlust bzw. den eigenen „metaphorischen Tod[] bei Lebzeiten“209 zu beweinen. Außerhalb dieser abseitigen Räume ist männliche Emotionsbewältigung nur auf zeichenhafte Weise möglich und lässt den Förster seine Trauerarbeit ins Revier verlegen, wo er „einen Rehbock und zwei prächtige Auerhähne […] voll Schmerz über seinen Verlust“210 erlegt. Die kompensatorische Dimension dieser Jagd auf das (innere) Tier scheint modellbildend, Beutestücke und Motive der Jagd hingegen differieren. So erlegt Pankraz „einen ungeheuren rauen Eber“211, um sich seiner Überforderung durch erotische Wirrungen zumindest temporär zu entledigen, während Ital Manesse das in sein Revier eingedrungene Schwarzwild in gleicher Absicht tief in den Wald zurückdrängt. Im Gegensatz hierzu bedient sich der Förster zwar des gleichen Prinzips einer Kanalisierung und Überwindung schwer kontrollierbarer Emotionen auf dem Rücken des Tieres, doch weil in seinem Falle nicht Sexualität, sondern Trauer das treibende Motiv ist, zeigt sich die Jagdbeute von entsprechend anderer Natur. Nicht die Sexualsymbolik des aufwühlenden, Unordnung verbreitenden Schwarzwildes steht im Visier des Witwers, sondern die Erhabenheit anmutiger Wildtiere, wodurch sich sein Beuteschema als eine weidmännische Ehrbekundung gegen die geliebte Frau zu erkennen gibt. Die beschriebenen Jagdhandlungen unterscheiden sich somit zwar hinsichtlich ihrer Akzentuierung, verfolgen aber allesamt die Strategie einer Übertragung, die offenkundig immer dann nach tierischen Äquivalenten verlangt, wenn Affekte innerer Erregung aus psychischen oder sozialen Gründen auf andere Weise nicht angemessen artikuliert werden können.
|| 207 HKKA 5, 213. Wünsch beschreibt das ‚Verhaltensmodell Mannsein‘ als Reaktion auf die Erfahrung von Verlusten und führt hierin geschlechtsspezifische Verhaltensweisen auf, konkret etwa „die Nicht-Verbalisierung von Problemen gegenüber anderen: Das Subjekt macht sein Problem mit sich selber ab […].“ Aus: Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘, S. 247. 208 HKKA 5, 213. 209 Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘, S. 239. Wünsch weist in ihrem Aufsatz zum ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des Realismus darauf hin, dass Verluste von existenziellen Werten, etwa in Gestalt des Verlusts erotischer Partner, die betroffenen Individuen in einen Zustand des ‚Nicht-Lebens‘ versetzen. 210 HKKA 5, 214. 211 HKKA 4, 43.
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Die Erlegung der Kreatur als Metapher der Unterwerfung des eigenen Tieres bedient folglich den psychologischen Ernstfall einer unter dem Ansturm überwältigender Emotionen um Orientierung ringenden männlichen Psyche, die unter permanenter sozialer Kontrolle steht und sich zugleich ungekannten Affekten erwehren muss. So lässt nicht zufällig Dietegens Reaktion auf das unliebsame Treiben im Forsthaus das „linkische[] Schmollen“212 eines Pankraz erkennen und den jungen Waidmann ganz in dessen Tradition die Sicherheit eines streng gleichgeschlechtlich organisierten Miteinanders suchen, welches am Beispiel von Fechtschule bzw. Militärdienst Ordnung und Berechenbarkeit verspricht,213 wo im Forsthaus das weiblich konnotierte Chaos herrscht. Körperlich in seinem Zenit stehend, zu beobachten „wenn die Jünglinge sich im behenden Marsche und im festgeschlossenen Vordrange übten, an ihren langen Spießen über breite Gräben setzten und die Körper in jeder Weise sich dienstbar machten“214, konterkariert der phallisch konnotierte Vorwärtsdrang des athletischen jungen Mannes seine Defensivität auf dem verschiedengeschlechtlich strukturierten ‚Kampfgebiet‘ des Forsthauses – und relativiert die Wehrhaftigkeit des jungen Mannes somit als eine vorrangig körperliche. Wie um die Idee einer geistig-moralischen Männerverwandtschaft selbst in negativer Hinsicht zu bestätigen, zeigen sich sowohl der Forstmeister als auch sein Ziehsohn als kampferprobte Fährtenleser, nicht aber als auf verschiedengeschlechtlichem Gebiet sonderlich versierte Zeichenleser, wodurch rückblickend einmal mehr die signifikante Funktion der Forstmeisterin zum Zwecke des Ausgleichs und der Konfliktvermeidung hervortritt.
4.1.9 Sommersonnenwende: Weibliche Sexualität am Pranger Die im Zeichen von Unordnung inszenierte Revolte Violandes dominiert bald auch die ehemals unter väterlicher Vorherrschaft stehende ‚Tagseite‘ des Forsthauses und lässt ihre Vorkämpferinnen selbstbewusst die Organisation der Feierlichkeiten zum Johannistag an sich ziehen. Unter astronomischer Perspektive || 212 HKKA 5, 218. 213 Frevert versteht den exklusiv männlichen Bereich des Militärs als eine Abwehrstrategie gegen den schädlichen Charakter eines weiblichen Bannkreises, der den Mann durch Paarbeziehung oder Mutterschaft bindet und „das Risiko der Feminisierung, der Aufweichung von Differenz“ birgt, so dass die homosoziale Vergemeinschaftung durch das Militär dafür sorgt, „[...] daß solche Tendenzen wirkungsvoll blockiert und männliche Identität ohne weibliche Intervention stabilisiert wurde.“ Aus: Frevert: Soldaten, Staatsbürger, S. 84. 214 HKKA 5, 219.
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markiert der Zenit des Sonnenjahres den fortan abnehmenden Verlauf dieses mit männlicher Herrschaft assoziierten Himmelsgestirns, so dass die länger werdenden Schatten metaphorisch den nachfolgenden Niedergang des Hauses vorausdeuten. Dem textintern tradierten Schema von Triebhaftigkeit als Ursache von Unordnung und Untergang verpflichtet, zeigt sich der Johannistag durchweg geschlechtlich strukturiert und führt zwei räumlich wie sexuell polarisierte Jungmenschenkollektive zusammen. So trifft an diesem Feiertag eine dynamische Jungmännergruppe aus Ruechenstein auf das weiblich-statische, allerdings umso unternehmungslustigere Umfeld des Forsthauses, welches seinen Balzgesang in „sehnsüchtigem Ton“215 derart „lockend ins Land hinaus“216 zu tragen weiß, dass gar „die Vögel in den Linden und im nahen Walde […] wetteifernd“217 einstimmen. Den Reizen dieses Lockvogelgesangs von „Liebesglück und Herzeleid“218 augenblicklich ergeben, belegt die magnetische Anziehungskraft auf die jungen Männer aus Ruechenstein, auf welch subtile Weise geschlechtliche Implikationen jeglichen Darstellungs- bzw. Sinnstrukturen des Textes eingeschrieben sind. So bildet der vogelähnliche Gesang des Frauenkollektivs das weibliche Pendant zu Dietegens Tanz mit dem Hirsch und reflektiert körperliche oder auch (psycho-)sexuelle Reifungsprozesse unter Anführung entsprechender Tiermetaphern. Die Idee einer in beinahe sämtlichen Phänomenen der dargestellten Welt sich spiegelnden geschlechtlichen Polarisierung findet auch im Ruechensteiner Herrenkombinat ihren Niederschlag, denn während der Text dem weiblichen Gesang Wohlklang in einem stimmlichen Sinne zugesteht, werden die im Chor ertönenden Männer durch sekundäre Klangphänomene von „Geigen und Pfeifen“219 unterstützt. Wenn zudem „ein paar Spielleute an der Spitze“220 vorangehen, erweist sich die akustische Präsenz der Männergruppe als eine kultivierte, nämlich um künstlerisch-kompositorische Elemente ergänzte Variante weiblich konnotierten (Primär-)Gesangs, so dass wiederum das dualistische Verständnis von Kultur vs. Natur zitiert und geschlechtsspezifisch aufgeladen wird. Von zitierendem Charakter zeigt sich auch die Zusammensetzung der Gruppe, welche die Widersprüchlichkeit der Nachbarn aus dem Norden auf Figurenebene spiegelt, indem sie den Zug von einem „halbwegs fröhliche[n]
|| 215 HKKA 5, 220. 216 HKKA 5, 220. 217 HKKA 5, 220. 218 HKKA 5, 220. 219 HKKA 5, 220. 220 HKKA 5, 221.
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Gesell[en], der aus der Art schlug“221, anführen lässt, während das Ende desselben in bester Ruechensteiner Manier „eine buckelige, gebogene Gestalt mit einem langen Degen“222 bildet. Der charakteristischen Ruechensteiner ‚Unlesbarkeit‘ gemäß zeigt sich insbesondere der krumme Ratsschreiber, dessen ambivalentes Erscheinungsbild zwischen zeichenhafter Potenz und kümmerlicher Körperlichkeit an das zeugungsvernarrte ‚Zicklein‘ Adam Litumlei erinnert, von (erwartbar) unerwarteter Lebensfreude – denn „am gewandtesten und leidenschaftlichsten tummelte sich der Ratsschreiber herum, der trotz seines Buckels mit seinen Beinen weiter ausgriff als alle andern, da sie gleich unter dem Kinn schon sich zu spalten schienen.“223 Die abweichende Anatomie des Buckligen, die kontrastiert wird von einer auf sexuelle Begehrlichkeiten verweisenden Tanzlust, kündet von Dysfunktionalität und Wollust, so dass dieser Männerfigur das Moment der Vergeblichkeit regelrecht eingeschrieben scheint. Denn weil Leiblichkeit und Leibesdrang in der Erscheinung des Deformierten nach vorherrschender Lesart nicht zusammenpassen – der Geist zwar über die Maßen willig, das Fleisch hingegen ungeeignet ist –, finden ‚wollen‘ und ‚dürfen‘ hier nicht zusammen. Der Not dieses Männlichkeitsentwurfes gewahr, findet der Narzissmus der Förstertochter sein bevorzugtes Ziel in der die eigene Schönheit maximal kontrastierenden Erscheinung des Buckligen und tanzt mit diesem, als ob „ein Märchen“224 aufgeführt würde, in welchem die „schöne Gestalt in grünem Kleide und das Haupt mit dunkelroten Rosen geschmückt am Arme des spukhaften Schreibers dahinflog […].“225 Die groteske Darbietung, die durch die Schönheit Küngolts zusätzlich befeuert wird, wird von der jungen Frau „hoch auflach[end]“226 verhöhnt, während sie zugleich die kompensatorische Natur des „gewaltigen Tanze[s]“227 für die eigenen Zwecke instrumentalisiert und dergestalt einen waghalsigen Tanz ‚auf‘ bzw. ‚mit‘ einem Vulkan von explosiver Männlichkeit eingeht. Doch auch den anderen Männern präsentiert sich die Förstertochter nunmehr in eindeutiger Absicht, denn sie „war von einer Sehnsucht gequält, alle diese Jünglinge sich unterworfen zu sehen“228 und lässt intuitiv ihre Körperreize spielen, so dass schließlich „alle seltsam aufgeregt die Blicke an ihr haften
|| 221 HKKA 5, 221. 222 HKKA 5, 221. 223 HKKA 5, 221. 224 HKKA 5, 222. 225 HKKA 5, 222. 226 HKKA 5, 222. 227 HKKA 5, 222. 228 HKKA 5, 222.
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ließen“229. Die allgegenwärtige Erregtheit ist ‚seltsam‘, weil entweder aus Gründen des Alters oder der geographischen Herkunft den Anwesenden nicht vertraut und gilt einer Frauenfigur, die der Text gerade die andere Seite der eigenen weiblichen ‚Natur‘ entdecken lässt. Während sich Küngolt nämlich in Kindertagen durch ihre intuitive Lebensnähe hervorgetan hatte, erwacht jetzt die Sexualität der jungen Frau, die der Vorstellung der Textautorität nach einer strikten Regulierung bedarf, um nicht in narzisstisch-destruktive Bahnen abzudriften. Dahinter steht das Bild einer nicht vorsätzlich unmoralischen, wohl aber von Natur aus amoralischen Weiblichkeit, die Moralität nicht aus sich selbst heraus schöpft, sondern der Lenkung von Recht und Gesetz bedarf und im Falle eines Ausfalls geeigneter Korrektive umgehend die sittliche Orientierung verliert. Küngolts Zuhilfenahme eines Zaubertranks ist entsprechend Ausdruck prototypischer Männerängste vor weiblichen Anschlägen auf die eigene Autonomie und lässt den Text ein Hexengebräu aus Froschbeinen anführen, das der Hand einer unglücklich verliebten Nonne entstammt und als ein misogynes Gebräu von Männerphantasien an die weiblich-abseitige Genealogie eines Buz Falätschers erinnert. Programmatisch der Ablehnung jeglichen Aberglaubens verpflichtet, belegt der Text nicht die Wirkung des Elixiers, sondern die Wirksamkeit des allgemeinen Glaubens an derartige Zaubersäfte, wodurch der Trunk der Nonne zu einem faktisch wirkungslosen, symbolisch wie psychologisch allerdings hochpotenten Lockmittel narzisstischer Weiblichkeit wird. So zielt die Idee des Zaubertranks nicht auf das männliche Geschlecht ab, sondern auf die Anwenderin selbst und zeigt eine Heranwachsende, die in pubertärem Übermut die Nutzenmaximierung der eigenen sexuellen Reize betreibt. Die pharmakologische Qualität dieses Trunkes ist überdies nur dann zu beobachten, wenn es „von der Hand einer Weibsperson“230 verabreicht wird – eine geschlechtlich codierte Kondition, die sexuellen Wirrungen vorbeugen soll und anbei die faktische Unwirksamkeit des Gebräus bestätigt. Ihres Liebeselixiers von Küngolt beraubt, ist es an Violande, die Wirkungsweise des Trunkes endgültig als von bloß zeichenhafter Natur zu verraten, indem sie kurzerhand Ersatz in ihren „starken dunkeln Zöpfe[n]“231 und einer ordentlichen Portion herkömmlichen Alkohols findet. Weibliche Körperreize und Hochprozentiges sind folglich die eigentlich wirksamen Bestandteile dieses eher symbolischen Elixiers und verfehlen ihre hexenhafte, nämlich den Willen des Mannes unterwerfende Wirkung nicht, zumal unter dem Eindruck dieses Doppel-
|| 229 HKKA 5, 222. 230 HKKA 5, 222. 231 HKKA 5, 225.
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angriffs selbst der resistente Forstmeister kapitulieren muss, denn sein „großmütiges Herz stieg in das aufgeregte Hirn empor und schaffte dort in aller Eile an allerlei Bildwerk herum.“232 Die von außen initiierte Beugung des männlichen Verstandes bringt „eine dunkle Erinnerung an ein schönes Mädchenkind“233 hervor und korrespondiert somit dem schleichenden Niedergang der Forstmeisterin, die ebenfalls durch ein Wiederaufflammen von diffusen Sehnsüchten ihren Kompass verlor und deren Schicksal sich nun in ihrem Mann, der Herz und Brautring an die Cousine vergibt, zu wiederholen droht. Die von weiblicher Seite betriebene Stimulation sexueller Begehrlichkeiten erweist sich in diesem konventionell inszenierten Geschlechterkampf als eine erfolgreiche Strategie zur Unterwerfung des Gegenübers und belegt, dass ein solcher Anschlag mit Alkohol und handfester Erotik auf einen männlichen Adressaten verlässlicher und „stärker als ein [jeder, S.V.] Liebestrank“234 wirkt. In der Folgegeneration ist es Küngolt, die als eine verführte Verführerin ihr sexuelles Unterwerfungsinstrumentarium im Zeichen eines (wirkungslosen) Liebestranks erprobt. Ihr weibliches „Zaubergift“235 von „gleichmäßig und unparteiisch verteilten Blicken“236 provoziert eine gleichgeschlechtlich dynamisierte Kettenreaktion unter den jungen Männern, die sich, getrieben von einer „Selbstsucht, welche sich allaugenblicklich stets dahin wendet, wo sie ein von anderen gewünschtes oder allgemein erstrebtes Gut locken sieht“237, ganz ohne weibliches Zutun in eine Eskalationsspirale hineinmanövrieren. Dieses männliche Begehren findet seinen Stimulus vorrangig in Bezug auf das eigene Geschlecht, wodurch sich der Fokus des Geschehens von heterosexuellen Begehrlichkeiten auf neu entstehende gleichgeschlechtliche ‚Paarungen‘ verschiebt und junge Männer zeigt, die sich „schön paarweise […] an den Gurgeln gepackt hielten“238. Die leidenschaftlichste dieser ironischen Paarbeziehungen entspinnt sich dabei nicht zufällig zwischen dem lebensfrohen Schultheißensohn und dem buckligen Ratsschreiber, der wie zur Kompensation seiner deformierten Leiblichkeit kurzentschlossen den Degen zieht und einen ihn maximal kontrastierenden Männlichkeitsentwurf zu Boden streckt. Das Todesopfer markiert den Höhepunkt einer gleichgeschlechtlichen Eskalationsdynamik, der es längst nicht mehr um den (weiblichen) Stein des Anstoßes zu tun ist, zumal bereits die Teilnahme an || 232 HKKA 5, 225. 233 HKKA 5, 225. 234 HKKA 5, 225. 235 HKKA 5, 223. 236 HKKA 5, 223. 237 HKKA 5, 223. 238 HKKA 5, 226.
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diesem bizarren Schauspiel alle Beteiligten diskreditiert. Erfolgreich bestehen kann in diesem Spiel nur, wer sich nicht zur Teilnahme verleiten lässt und so ist es wie schon während Maifeier erneut Dietegen, der „mit seinen Waffen“239 – die da Besonnenheit und gedankliche Klarheit heißen – hervortritt und die „tollen Jünglinge“240 zur Raison bringt.
4.1.10 Die Läuterung der Hexe durch das ‚Vaterrecht‘ Nicht verhindern kann der junge Waidmann die weitreichenden Folgen dieser Johannisnacht, die einen textinternen Wendepunkt markiert und die bis dato unkorrigiert sich selbst überlassene Förstertochter dem unmittelbaren Zugriff des männlichen Rechts ausliefert. Weil nämlich „jedermann, in Seldwyla sowohl als in Ruechenstein, […] an die Wirkung der Zaubertränke“241 glaubt, wird die Ursache des tödlichen Streits nicht in der verhängnisvollen Verkettung von Alkoholkonsum und jungmännlicher Profilierungssucht ausgemacht, sondern in der (zeichenhaften) Wirkung eines Liebestranks aus Froschgebein. Auf diese Weise wird der Totschlag eines jungen Mannes den Hexenkünsten einer Frauenfigur in Rechnung gestellt, so dass eine gleichgeschlechtliche Kraftmeierei mit Todesfolge geradewegs zu einer Sanktionierung des weiblichen Geschlechts führt. Die herrschende Ordnung kann nun in Gestalt von Recht und Gesetz über Küngolt richten, wobei sich hinsichtlich der Bewertung ihrer Schuld Unterschiede zwischen den verfeindeten Orten zeigen, die eine enge Verflechtung von Rechts- und Geschlechterdiskurs anzeigen und das misogyne Ruechenstein erwartungsgemäß die Todesstrafe für die Förstertochter fordern lassen, während das lustbetonte Seldwyla eine einjährige Tätigkeit in einem fremden Haushalt als Maßregelung Küngolts für ausreichend hält. Wie der Tod der Forstmeisterin führt auch der Niedergang Küngolts zu einer Neuordnung des übrigen Figurentableaus und verschiebt die Gewichte zugunsten Dietegens, der als einzig Besonnener der Johannisnacht endgültig in die Fußstapfen des Forstmeisters tritt und einen Generationswechsel im Forsthaus einleitet, der ihn zur öffentlichen Vertretung der Familie bei der anstehenden ‚Versteigerung‘ der jungen Frau bestimmt. Ausstaffiert mit entsprechenden Herrschaftssymbolen zeugt Dietegens Auftritt im Rathaus von der Neuordnung der Verhältnisse, denn er „hatte sein Schwert umgethan und sah mannhaft und
|| 239 HKKA 5, 226. 240 HKKA 5, 226. 241 HKKA 5, 227.
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düster blickend aus“242 und weist seiner dereinst selbst ernannten Besitzerin nun seinerseits den Platz, wenn er „rasch einen Stuhl herbei[zog] und sie darauf sitzen [ließ], indem er sich hinter den Stuhl stellte und die Hand auf dessen Lehne stützte.“243 In paternitärem Habitus über Küngolt wachend, indem „er […] scheinbar ruhig und streng über sie hinweg [schaute]“244, wirkt die Autorität Dietegens bis ins Rathaus, wo er die Interessenten nach eigenem Ermessen selektiert und einen seiner „widerwärtigen Lüsternheit“245 wegen berüchtigten Geldwechsler vom Bieterwettbewerb ausschließt, während er das Angebot des Totengräbers, der „nach seiner Meinung […] ein geeignetes Lokal besaß“246, akzeptiert. Der sofortige Ausschluss des lüsternen Geldwechslers bezeugt Dietegens Anspruch, insbesondere die Sexualität der zu Versteigernden zu kontrollieren, so dass die Wahl des Totengräbers einer Überführung der ‚Sünderin‘ in einen Raum von zeichenhafter Todesnähe entspricht. Ihr neues Zuhause findet Küngolt fortan in einer kleinen Vorhalle in unmittelbarer Nähe zum „Totengarten“247, wo sie nur durch „ein Eisengitter von den Gräbern der Toten getrennt“248 ist und in direkter Nachbarschaft zum alten Beinhaus sich befindet, „das mit Schädeln und andern Gebeinen angefüllt war“249. Mehr symbolische Todesnähe scheint kaum denkbar, so dass zur „wohlthätigen Buße für ihren sündigen Sinn“250 die einst Lebenslustige nun „lautlos“251, „zusammengekauert“252 und „zitternd“253 inmitten der Semantik des Todes zu sich findet und erst durch einen unverhofften Besuch Dietegens aus ihrer „starren Betäubung“254 erwacht. Die wiedergefundenen Tränen nach einem langen Zustand wacher Bewusstlosigkeit sind ein Lebenszeichen einer noch nicht vollends verlorenen Seele, doch belegt Dietegens Kälte gegen die Sünderin, die er „nach seinen jugendlich spröden Begriffen und in seiner Unerfahrenheit für ein bös gewordenes Wesen“255 hält, dass der Läuterungsprozess noch längst nicht beendet ist. Die || 242 HKKA 5, 228. 243 HKKA 5, 228f. 244 HKKA 5, 229. 245 HKKA 5, 229. 246 HKKA 5, 230. 247 HKKA 5, 230. 248 HKKA 5, 230. 249 HKKA 5, 230. 250 HKKA 5, 230. 251 HKKA 5, 231. 252 HKKA 5, 231. 253 HKKA 5, 231. 254 HKKA 5, 232. 255 HKKA 5, 232.
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strikte Kommunikationsverweigerung des jungen Mannes, der seine Jugendfreundin „ihrer toten Mutter zu Liebe und weil er ihr selbst sein Leben verdankte“256 jede Nacht besucht, um ohne ein Wort mit ihr zu wechseln über sie zu wachen, zeigt an, dass nicht er als Adressat ihrer Fürbitten vorgesehen ist, sondern eine metaphysische Instanz, die allein im stillen Zwiegespräch mit dem eigenen Gewissen erreichbar scheint. So installiert der Text den nächtlichen Aufpasser weniger als einen Beschützer der körperlichen Unversehrtheit der jungen Frau, als denn vielmehr der Überwachung eines in geregelten Bahnen verlaufenden Läuterungsprozesses wegen, der weder zu früh beendet, noch von außen gestört werden darf. Nicht um das „halb verlorene Kind“257 zu trösten, erscheint Dietegen wie ein Uhrwerk Nacht für Nacht, sondern um die Schrecknisse des Totengartens zu kontrollieren und nötigenfalls zu korrigieren, weil die Eindrücke der nächtlichen Stunden für jemanden, „der kein gutes Gewissen habe und voll Furcht sei“258 von überwältigender Natur sein können und das Ziel eines geläuterten Realitätsbezugs zu unterlaufen drohen. Die nächtliche Sicherheit, die Dietegen gewährleistet, dient folglich der Absicherung eines sinnbildlichen Sterbeprozesses, der einer Resozialisierung der Sünderin vorangestellt ist und auf eine demütige Annahme des Todes angesichts der eigenen Verfehlungen abzielt. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich in diesem zeichenhaften Hexenprozess ausgerechnet Dietegen sehr viel pflichtbewusster erweist als seine einstigen Henker in Ruechenstein und weder verfrühte Erlösungshoffnungen, noch Störungen der nächtlichen Deprekation zulässt. Die dahinter stehende Angst des Textes vor einer unsachgemäß ‚gehenkten‘, weil zu früh als geläutert entlassenen Frauenfigur, die alsbald eine Wiederauferstehung im Zeichen von Destruktion und Narzissmus erfährt, wird befeuert von Küngolts (Miss-)Interpretation der nächtlichen Besuche, durch die sie sich „von einem neuen, ungeahnten Glücke umflossen“259 sieht und „ihr Anrecht an ihn wieder [zu, S.V.] erringen“260 hofft. An die Existenz der ‚alten‘ Küngolt mahnt zudem der Umstand, dass zeitgleich der bucklige Ratsschreiber die Fährte wiederaufnimmt und als Sinnbild einer nicht vollständig bewältigten Vergangenheit mitsamt all seinem unerfüllten Verlangen zur Förstertochter zurückfindet. Dietegens Weigerung, den Deformierten ohne genauere Kenntnis der Zusammenhänge für seinen Besuch zu strafen, belegt die tiefe Skepsis des jungen Mannes gegenüber der
|| 256 HKKA 5, 232. 257 HKKA 5, 233. 258 HKKA 5, 232. 259 HKKA 5, 233. 260 HKKA 5, 233.
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Jugendfreundin und spiegelt den Argwohn patriarchaler Systeme gegen das immerwährende Restrisiko einer narzisstisch-destruktiven Renaissance einmal ‚befallener‘ Frauengestalten. Entsprechend einig sind sich die männlichen Figuren in ihrer Be- bzw. Verurteilung der jungen Frau, welche von Dietegen eine „Dirne“261, vom Ratsschreiber ein „Hexenmädchen“262 und vom Forstmeister eine „Hexe“263 genannt wird, wobei die Sexualisierung der Küngolt-Figur vorrangig auf die beiden jungen Männer selbst verweist, zumal diese die Lockrufe weiblicher Sexualität sogar zwischen Totengarten und Gebeinhaus wittern und sich damit weit versierter zeigen als die vermeintliche Hexe. Der „Krummbuckel“264 aus Ruechenstein bringt diese Scheinheiligkeit auf den Punkt, wenn er zur Linderung seines heißen Blutes „statt bei den Kapuzinern, bei der Urheberin selbst“265 vorstellig wird, an Stelle der Buße folglich die verbotene Erfüllung sucht und eigene Defizite im Umgang mit Sexualität und Triebhaftigkeit kurzerhand auf das Objekt der ihn überfordernden Begierde projiziert. Wie zum Schutz gegen ein erneutes Aufflammen weiblicher Verführungslust, die in vorliegendem Fall jedoch allein in der Phantasie eines lüsternen Ratsschreibers und eines argwöhnischen Wächters präsent ist, wird Küngolt nun im Hause des Totengräbers beherbergt und an den Fuß eines Kachelofens montiert, dessen Bildwerk ganz im Sinne Dietegens von „der Erschaffung des Menschen und des Sündenfalls“266 kündet. Ein Ort der „geschützteren Lage und der Rettung“267 ist diese neue Heimstätte hingegen nicht, vielmehr markiert der Wechsel ins Innere des Totengräberhauses die nächste Stufe eines innerlichen Läuterungsprozesses, denn wenngleich das Erscheinungsbild der Förstertochter inzwischen von Demut und Bescheidenheit zeugt, diese „ein reifes, schlankes, obgleich blasses Frauenbild geworden [ist S.V.], dessen Augen in sanftem und lieblichem Feuer“268 strahlen, steht diese „neue Art von Schönheit“269 im Inneren noch aus. Weil nämlich Küngolt den Ofen seiner Annehmlichkeiten wegen als Zeichen der Erlösung und nahenden Vergebung zu interpretieren droht, sich gar „hingeschmiegt“270 an diesen zeigt, mahnt der Text seine Protagonistin an ihr
|| 261 HKKA 5, 242. 262 HKKA 5, 234. 263 HKKA 5, 233. 264 HKKA 5, 233. 265 HKKA 5, 233. 266 HKKA 5, 234f. 267 HKKA 5, 235. 268 HKKA 5, 235. 269 HKKA 5, 235. 270 HKKA 5, 235.
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‚sündiges‘ Geschlecht, indem er ein „Pfäfflein“271 zur Seelsorge einbestellt, das der jungen Frau vordergründig „die Neigung zur Zauberei und Spendierung von Liebestränken auszutreiben“272 beauftragt ist, tatsächlich jedoch Gefallen daran findet, „die getröstete Sünderin ein bißchen anzugucken und etwa bescheidentlich ihre Hand zu streicheln“273. Da es offenkundig weder Zauberei noch Liebestränke, noch überhaupt eines entsprechenden Vorsatzes bedarf, um den Geistlichen zu entzücken, offenbart der Besuch des Pfaffen die Doppelmoral einer männlich geordneten Welt, die die Sexualität der Frau unter Generalverdacht stellt, um die eigene Triebhaftigkeit zu relativieren. Dietegens harsche Reaktion auf den Anblick Küngolts und des Geistlichen („Hin ist hin!“274) ist zwar einer subjektiven Fehlinterpretation geschuldet, zielt zugleich aber auf das wiederaufkeimende Anspruchsdenken einer jungen Frau ab, die sich zusehends „einer aufwachenden, kleinen anmutigen Heiterkeit [hingibt, S.V.], indem sie bedachte, welch‘ einen prächtigen Liebhaber sie, nach ihrer Meinung, diesem Pfäfflein gegenüber in Dietegen besaß.“275 Da nämlich der Text jegliches weibliche Besitzdenken im Hause des Totengräbers unwiderruflich ausgelöscht wissen will, ist es an Dietegen, mit seiner demonstrativen Abkehr von der Jugendfreundin alle für den anstehenden Läuterungsakt kontraproduktive Hoffnung der Förstertochter zu zerstören. Seine „eisige Kälte“276 ist es, die den Weg zur Katharsis ebnet und Küngolt unter Aufgabe sämtlichen Anspruchsdenkens „erbleichend an den Ofen“277 hinsinken lässt, wo „alles Blut“278 aus ihrem Antlitz schwindet und sie „wie vergessen von den Ihrigen“279 für ihre zeichenhafte Grablegung bereit scheint. Todesnähe und Sühne dominieren fortan auch ihr häusliches Umfeld und revidieren den wärmenden Charakter des Kachelofens im Zeichen seiner nunmehr „rauhen Bildwerke“280, die von Sündenfall und Vertreibung künden und eine in todesähnlicher Starre zu ihren Füßen „installiert[en]“281 Sünderin zur inneren Einkehr drängen. Äußerlich „unbewegt“282 am
|| 271 HKKA 5, 235. 272 HKKA 5, 235. 273 HKKA 5, 235. 274 HKKA 5, 236. 275 HKKA 5, 235f. 276 HKKA 5, 236. 277 HKKA 5, 236. 278 HKKA 5, 236. 279 HKKA 5, 236. 280 HKKA 5, 239. 281 HKKA 5, 235. 282 HKKA 5, 239.
284 | Männliche Sozialisation zwischen protegierender und destruktiver Weiblichkeit
Ofen kauernd, verinnerlicht Küngolt die sie umgebende Bildlichkeit vom „Verlust des Paradieses“283 und verfällt in einen beinahe tranceähnlichen Zustand, der die Grenze zwischen seelischen und körperlichen Schmerzen verwischt, denn immer wenn „das Gesicht sie von dem Drucke schmerzte, […] lös’te sie es ab und kehrte es gegen die harten Darstellungen, dieselben immer wieder von neuem betrachtend, indessen ihr Thränen entfielen […].“284 Gestört wird dieser uhrwerkartig ablaufende Läuterungsprozess allein von einem gelegentlichen Lachreiz der Büßerin, der einer handwerklichen Nachlässigkeit des Ofenbauers mit dem Resultat einer unfreiwilligen ‚Nabelschau‘ Adams geschuldet ist und diesen vermeintlich höherinstanzlichen Bußgang ironisch bricht. Der Handwerksfehler nämlich erinnert daran, dass hier nicht etwa eine göttliche Ordnung Gericht über die Förstertochter hält, sondern eine menschliche bzw. männliche Autorität, die ihre Legitimation unter Verweis auf biblische Bildzitate als über jeden irdischen Zweifel erhaben ausweist. Was auf Darstellungsebene als eine handwerkliche Nachlässigkeit erscheint, ist neben einem poetologischen Verweis auf die Tücken ‚realistischer‘ Zeichenproduktion vor allem ein subtiles Stück Religionskritik, das den höchstrichterlichen Gestus der Szene auf seinen irdischen Ursprung zurückführt und die Frage nach der tatsächlichen Urheberschaft einer als göttlich deklarierten Idee von Recht und Ordnung aufwirft. Eine gänzlich „harmlose Erscheinung“285 ist der auffällig hervorstehende Bauchnabel Adams somit nicht, vielmehr enthüllt er den transzendentalen Überbau dieses Läuterungsprozesses als Inszenierung eines männlich dominierten Systemapparates. Die per ‚Installation‘ zu Füßen eines symbolschweren „Monument[s]“286 erzwungene Kontemplation meint nichts anderes als die unumkehrbare Auslöschung einer als illegitim gebrandmarkten weiblichen Anspruchshaltung, die konsequent auch auf lebensweltlicher Ebene vollzogen wird, indem der Sünderin jegliche familiäre und ökonomische Sicherheiten entzogen werden. Der Tod des in den Kriegsdienst geflüchteten Forstmeisters und die innere Abkehr Dietegens beschließen das Bild einer vollständig entkernten Frauengestalt, die emotional keinerlei Anrechte mehr kennt und entsprechend in jahreszeitlicher Metaphorik den Frühling als eine ‚Neugeborene‘ erlebt, die „nichts mehr [hatte] auf dieser Welt als sich selbst und die Vorsorge Dietegens“287.
|| 283 HKKA 5, 239. 284 HKKA 5, 239. 285 HKKA 5, 239. 286 HKKA 5, 235. 287 HKKA 5, 239.
Mutterrecht und matriarchale Gegenwelten in Dietegen | 285
Dass der Text selbst im für seine justizielle Milde bekannten Seldwyla rigoros diese symbolische ‚Todesstrafe‘ an der Förstertochter vollstreckt, ist aus rechtlicher Perspektive nicht zu erklären, wohl aber mit der moralischen Verantwortung Küngolts gegenüber den einst von ihr Erretteten. Denn diesem hatte ein empathisches Mädchen in Kindertagen immerwährende Loyalität und Geborgenheit versprochen, so dass der ‚Sündenfall‘ der jungen Frau als Aufkündigung jenes Versöhnungsversprechens und damit als größtmöglicher Verrat gegen den in Willkür und Lebensfeindlichkeit aufgewachsenen Dietegen gewertet wird. Die ‚Schuld‘ Küngolts erklärt sich der patriarchalen Logik des Textes zufolge als eine moralische ‚Erbschuld‘, denn sie entspringt der mütterlichen Unfähigkeit, sich selbst und somit auch die Tochter im entscheidenden Augenblick an geltende Normen zu mahnen, woraufhin eine weibliche ‚Funktionsstörung‘ hervortritt, die durch ausbleibende Korrekturmaßnahmen sodann in der Folgegeneration um sich greift und schließlich Dietegen auf ganz ähnliche Weise ins Straucheln geraten lässt wie dereinst den Forstmeister nach dem Verlust seiner Frau.
4.1.11 Dominoeffekt: Männlicher Orientierungsverlust durch den ‚Verrat‘ des weiblichen Geschlechts Der Tod der geliebten Zieheltern und das Gefühl des Verrats durch die Jugendfreundin versetzen Dietegen in einen Zustand moralischer wie emotionaler Orientierungslosigkeit, der als Ausdruck einer überwältigenden Verlusterfahrung einen Rückzug des jungen Mannes in Gefühlskälte und eine betont narzisstische Interpretation des eigenen Geschlechts provoziert. Denn obwohl zwischenzeitlich als verwilderter Soldat und ruchloser Anhänger „des thörichten Lebens“288 gefürchtet, sind es weder die Gesellschaft der „rauhen jungen Gesellen“289 noch die „Gewohnheiten des Krieges“290 allein, die „eine gewisse Wildheit“291 in den vormals strengen Sittenprediger tragen. Vielmehr ist es der „stumme[] Schmerz[] wegen des Verlorenen“292, der den moralischen Kompass des jungen Mannes erschüttert und ihn den Verlust emotionaler Sicherheit durch ein übersteigertes Selbstbild kompensieren lässt. Erbeutete „Prunkkleider“293 wie ein „Gewand von
|| 288 HKKA 5, 240. 289 HKKA 5, 240. 290 HKKA 5, 240. 291 HKKA 5, 240. 292 HKKA 5, 240. 293 HKKA 5, 240.
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blaßrotem Burgunderdamast“294 oder auch ein Hut „von wogenden Straußenfedern“295 künden von männlicher Großmannssucht und lassen Dietegen in prahlerischem Habitus „einem Abkömmling aus uraltem, reinem Volksstamme“296 gleich auftreten, worin sich der Verlust seines früheren Instinktes, sich stets außerhalb gefährlicher Linien zu halten, spiegelt. Der ‚neue‘ Dietegen, der seine „tannenschlanke breitschulterige Gestalt“297 geradezu „lässig“298 zu präsentieren weiß, es zudem liebt, zur Erheiterung „etwa eine schreiende Magd bei den Zöpfen zu packen“299, etabliert sich als ein sozial Randständiger, der unkorrigiert durch moralferne Räume (Krieg) irrlichtert und angesichts seines Treibens den Eindruck erweckt, dass Moral als eine vertragsähnliche Selbstverpflichtung des Einzelnen in renditeähnlicher Erwartung gegen eine höhere Instanz funktioniert, so dass der junge Mann sich nach dem Verrat Küngolts nicht länger an entsprechende Imperative gebunden fühlt. Wenngleich im Auftreten „kühn, sicher, stark und zugleich gelenk“300, kann das Gebaren des selbstherrlichen Kriegsherren nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ‚Sündenfall‘ Küngolts für einen durch die Harmonie des Forsthauses mit der Welt versöhnten Ruechensteiner den Verlust des Paradieses, nämlich eines Geborgenheit verheißenden Kontextes bedeutet. Wie zuvor bei Küngolt zu beobachten, lässt der Text daraufhin auch Dietegen samt seines „kalte[n] wilde[n] Lächeln[s]“301 in Gleichgültigkeit gegen andere verfallen, worin sich ein offenkundig geschlechtsübergreifendes Negativmodell verfehlter Sozialisation spiegelt, das die Protagonisten jeweils im Zeichen einer übersteigerten ‚Vergeschlechtlichung‘ sozial isoliert. Denn die Verrohung Dietegens auf den Kriegsschauplätzen seiner Zeit korrespondiert als Ausdruck einer einseitigen ‚Vermännlichung‘ den narzisstischen Anwandlungen der früheren Küngolt, wodurch das Textideal zweier sich gegenseitig ergänzender bzw. korrigierender Geschlechter sich vollständig ins Gegenteil zu verkehren droht. Beide in ihrer Geschlechtlichkeit überagierenden Protagonisten verfallen den jeweils negativ konnotierten Extremen ihres Geschlechts mit der Folge, dass ein junger Mann Gesetzlichkeit gegen Gewalt tauscht und eine junge Frau Beistand mit Besitz verwechselt. Wenngleich die allenthalben um sich greifende Abwärtsbewegung von beiden Geschlechtern paritätisch befeuert wird, benennt der || 294 HKKA 5, 240. 295 HKKA 5, 240. 296 HKKA 5, 241. 297 HKKA 5, 240. 298 HKKA 5, 240. 299 HKKA 5, 240. 300 HKKA 5, 241. 301 HKKA 5, 241.
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Text als Ursache dieser destruktiven Kettenreaktion allein das weibliche Geschlecht. Es sind die Forstmeisterin, Violande und Küngolt, die, belegt mit dem Generalverdacht einer nachgerade biologischen Disposition des weiblichen Geschlechts zu Amoralität und Konfusion, als Urheberinnen sozialer wie persönlicher ‚Gleichgewichtsstörungen‘ angeklagt werden, obwohl die konkreten Folgen jenes vermeintlich von Frauenhand angezettelten Unheils wie Totschlag oder Brandschatzung allein den männlichen Figuren zuzurechnen sind. Der Text betreibt folglich eine umfangreiche Entschuldung seiner männlichen Figuren, die zwar alles juristisch relevante Unheil selbst verursachen, hierfür aber nicht unmittelbar zur Rechenschaft gezogen werden. Die Idee einer weiblichen Primärschuld samt männlich induzierter Kollateralfolgen dominiert konsequenterweise auch die abschließenden Restaurationsmaßnahmen eines Textes, der zur Wiederherstellung einer gestörten Ordnung bevorzugt das weibliche Geschlecht in die Pflicht nimmt und dieses unter Rückgriff auf institutionalisiertes Recht ‚resozialisiert‘, nämlich seiner – dem eigenen Verständnis nach – ‚natürlichen‘ Ergänzungsfunktion wieder zuführt.
4.1.12 Zwischen Hinrichtung und Abrichtung: Die Wiederherstellung geschlechtlicher Ordnung Damit die Läuterung der Förstertochter den gewünschten Impuls zu einer wechselseitigen Stabilisierung zweier in Unordnung geratener junger Menschen geben kann, bedarf es einer Evaluation dieser inneren Wandlung auf Darstellungsebene. Dies bedeutet, dass die psychologischen Prozesse rund um die ‚Hexenaustreibung‘ im Totengräberhaus ihrer Sichtbarkeit wegen zunächst auf sozialer Ebene rekapituliert werden müssen, um eine Wiedereingliederung in die bestehende Ordnung zu legitimieren. Auf Küngolt wartet folglich ein zweiter, diesmal offizieller (Hexen-)Prozess inklusive Todesurteil, da die junge Frau einer Unachtsamkeit wegen in den Hoheitsbereich des hexengläubigen Ruechensteiner Rechts – und hier geradewegs auf den Richtblock gerät. Dass diese zweite Hinrichtung überhaupt die ihr zugeschriebene Funktion einer geschlechtlich akzentuierten, gegenseitigen Wiedereingliederung zweier Verirrter erfüllen kann, ist allein der zwischenzeitlich ebenfalls geläuterten Violande zu verdanken. Denn weil diese „in der späten Verlobung mit dem Forstmeister und seinem Tode doch noch etwas Rechtes erlebt und einigen Halt daran genommen“302 hat, spielt die einstige Intrigantin, die nunmehr „bescheiden, traurig und ziemlich ordent|| 302 HKKA 5, 240.
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lich“303 lebt, ihr Wissen um geschriebenes wie ungeschriebenes (Männer-)Recht auf konstruktive Weise aus und unterrichtet unter Anrufung seines Ehr- und Pflichtgefühls den wilden Dietegen von einem Codex des Ruechensteiner Rechts, der besagt, „daß ein zum Tode verurteiltes Weib von jedem Manne gerettet werden kann und demselben übergeben wird, der sie zu ehelichen begehrt und sich auf der Stelle mit ihr trauen läßt!“304 Der unermüdliche Einsatz Violandes für die vom Tode bedrohte Stieftochter dient dem Text als Beleg seines Ideals von der Vervollkommnung des Individuums durch partnerschaftliche Ergänzung, hat doch Violande ausdrücklich erst in der Verlobung mit dem Forstmeister zu dieser späten Größe gefunden. Denn anders als bei der jungen Violande (oder auch der ewig schläfrigen Frau Litumlei) zu beobachten, schlägt das weibliche Wissen um männliche Befindlichkeiten hier nicht in Eigennutz um, sondern dient im Gegenteil der Restauration von Ordnung. Dass gerade „die tyrannischen Ruechensteiner […] sich bei aller Erbarmungslosigkeit doch als zuverlässig in ihrer Rechtspflege“305 erweisen, ist auf eine zynische Weise konsequent und wird von Violande, die „alle möglichen Heiratsfälle im Gedächtnisse“306 trägt und sich als entsprechend rechtskundig bewährt, gegen die Tyrannen ins Feld geführt. Violandes Kenntnisse von Recht und Psychologie des Mannes sind es auch, die Dietegens Umdenken in dieser Sache provozieren, denn gegen moralische Vorhaltungen („Hast Du selbst noch nie unrecht gethan?“307) kraft seines kalten „Soldatenlächeln[s]“308 weitgehend immun, braucht es die Mahnung dieses gewalttätigen, in regelloser Selbstherrlichkeit überagierenden Männlichkeitsentwurfes an die Umstände der eigenen Existenz: „Uebrigens gedenke doch dessen, was Du ihr schuldest! Würdest Du jetzt in deiner Kraft und Schönheit dastehen, wenn sie Dich nicht aus dem Sarge des Henkers genommen hätte?“309 Die gezielte Ansprache dieser geschlechtlichen Achillesferse, deren Reizung Dietegen äußerlich sichtbar „durch das Antlitz zuckt[]“310, zeigt, dass Violandes Geschlechterpsychologie zuverlässiger als alle Moralappelle wirkt und gibt den Blick frei auf einen Mann, der wohl die Konfrontation mit Raub und Totschlag erträgt, nicht
|| 303 HKKA 5, 240. 304 HKKA 5, 242. 305 Schilling: Kellers Prosa, S. 130. 306 HKKA 5, 242. 307 HKKA 5, 243. 308 HKKA 5, 242. 309 HKKA 5, 243. 310 HKKA 5, 242f.
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aber die Erinnerung an die eigene Geburtsschuld gegenüber einer als ‚Dirne‘311 stigmatisierten Jugendfreundin. Die Bereitschaft Dietegens zur Errettung seiner einstigen Wohltäterin verdankt sich folglich Violandes Geschick, den anstehenden Rettungseinsatz als Begleichung einer alten Rechnung und damit unausgesprochen als finalen Emanzipationsakt gegen weibliche Ansprüche darzustellen, denn erwartungsgemäß will der junge Mann in seinem übersteigerten Unabhängigkeitsdrang „nichts geschenkt haben und niemandem etwas schuldig bleiben!“312 Das Novellenfinale zeigt sich folgerichtig dem Ziel verpflichtet, zwei ins soziale Abseits geratene Figuren in einen sich wechselseitig stabilisierenden Resozialisierungsprozess einzubinden, der im Bachofenschen Sinne die geschichtliche Überwindung mutterrechtlicher Strukturen im Zeichen eines siegreichen Vaterrechts nachzeichnet. Die geschlechtliche Codierung des Novellengeschehens organisiert denn auch die Lösung des übergeordneten Konflikts und zeigt eine Förstertochter, die zu Ruechenstein im „kalten Turme“313 paternitärer Gesetzlichkeit auf eine Hinrichtung wartet, die ihr stellvertretend für ein ganzes Geschlecht zugedacht ist. Ihre symbolschwere Auslöschung nämlich richtet sich gegen die Idee einer gynäkokratischen Revolte, die vom kindlichen Anspruchsdenken eines jungen Mädchens bis hin zur Provokation männlichen Totschlags durchweg der Figur Küngolts zugerechnet wird. Dass der Weg dieser – inzwischen bekehrten – Apologetin einer ‚mutterrechtlichen‘ Ordnung zurück an den Geburtsort ihres Besitzdenkens ins richtsüchtige Ruechenstein führt, ist erzählerisch konsequent, weil hierdurch der Tag der Hinrichtung zu einem Kulminationspunkt destruktiv übersteigerter Geschlechtlichkeit stilisiert wird, von dem ausgehend das anthropologische Ideal einer wechselseitigen Ergänzung der Geschlechter restauriert werden kann. Wenn also Küngolt am Tage ihrer Hinrichtung in detailgetreuer Spiegelung der Ausgangssituation wie dazumal der kleine Dietegen „barfüßig und mit nichts als dem Armensünderhemde bekleidet“314 ihren Weg vor die Tore Ruechensteins antritt, führt der Text die Geschichte eines weiblichen Irrweges am exakten Orte und unter den genauen Umständen seiner Entstehung einer Revision entgegen. Eine tatsächliche Vollstreckung der Todesstrafe indes verbietet sich, denn anstelle einer Hexe wird eine Geläuterte zum Richtblock || 311 Dass Küngolt in Dietegens begrifflicher wie moralischer Welt von einer ‚Dirne‘ alsbald zu seiner Ehefrau wird, bezeugt auf zynisch-ironische Weise, dass „das ‚Naturwesen‘ Frau [...] in bürgerlicher Zeit zwei oberflächliche Vergesellschaftungen erfahren [hat]: Die Domestizierung zur Ehefrau und die zur Dirne.“ Aus: Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 53. 312 HKKA 5, 243. 313 HKKA 5, 244. 314 HKKA 5, 244.
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geführt, die allen Narzissmus überwunden hat und im Angesicht des nahenden Endes einen explizit mütterlichen Trost in der Vorstellung findet, dass ein junger Mann „ihr sein blühendes Leben danke, und sie fühlte sich durch dieses Erinnern getröstet, so selbstlos und gut war ihr Herz geworden.“315 Die Errettung dieser mütterlich, aber eben nicht mehr ‚mutterrechtlich‘ denkenden Frau ist dem Geschlechterdiskurs des Textes entsprechend obligatorisch, denn als eine im Hause des Totengräbers Neugeborene, aus der alles Schlechte „wie vom Feuer weggebrannt“316 scheint, tritt die junge Frau das mütterliche Erbe einer über lange Zeit mustergültigen Lebensführung an, um wie dereinst die Forstmeisterin eine männliche Biographie im aufgezeigten Textsinne zu stabilisieren. Um die ihr zugedachte Ergänzungsfunktion gegen das männliche Geschlecht mit der erforderlichen sozialen bzw. (standes-)amtlichen Legitimation annehmen zu können, inszeniert der Text die dringend gebotene Rehabilitation der jungen Frau als eine äußerst öffentlichkeitswirksame Korrektur weiblicher Hybris. Da Narzissmus und Destruktion als Folge der ‚Wiedererweckung‘ Dietegens und einer im Anschluss hieran sich selbst befeuernden matriarchalen Parallelwelt Eingang in das Erzählgeschehen finden, steht Küngolts Hinrichtung ganz im Zeichen einer Rückabwicklung besagter Umstände. Somit ist es nun die Förstertochter, die, bevor sie als ‚vaterrechtlich‘ Rehabilitierte das Licht der Welt wieder erblicken darf, dieses zunächst per Augenbinde metaphorisch aufzugeben und sich im Gegenzug der Gnade einer höheren Instanz anzuvertrauen hat, „da sie sich ergeben und aller weiteren Lebens- und Glückeshoffnung entschlagen hatte.“317 Küngolts Überantwortung der eigenen Existenz an eine (vermeintlich) höhere Gerichtsbarkeit, belegt die vollumfängliche Wirkungsmacht diesseitiger Läuterungsrituale und verklärt den rigiden Vormachtsanspruch einer paternitären Ordnung zu einem überirdischen Gesetz. Die ‚Gnade‘ dieser vaterrechtlichen Ideologie, die systemisch betrachtet die bloße Nutzbarmachung eines per Kontemplation restituierten weiblichen Funktionswertes meint, verkündet nicht zufällig Dietegen selbst, der dem Text seines kriegerischen Nimbus, gar „seiner ganzen Erscheinung“318 wegen als geeigneter Bürge dient und in seiner gesetzesstrengen Heimatstadt die Wiedereingliederung einer Abtrünnigen in die rechtliche wie moralische Ordnung einer Männerwelt formal beschließt.
|| 315 HKKA 5, 244. 316 HKKA 5, 243. 317 HKKA 5, 244. 318 HKKA 5, 245.
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Was ursprünglich dem Tode übergeben werden sollte, wird nun dem Ruechensteiner Recht gemäß einem Bräutigam anvertraut und lässt die Eiferer des Ortes von erwartungsvollen Zeugen einer Hinrichtung zu unfreiwilligen Trauzeugen werden, wobei selbst die unterschwellige Ironisierung dieses nahtlosen Übergangs einer Exekution ins Eherecht nicht verbergen kann, dass beide Rechtsakte der Sicherung männlich-patriarchaler Dominanz dienen und in diesem Sinne durchaus verwandte Rechtshandlungen beschreiben. Mit der gleichen Ironie beschreibt der Text die im Anschluss an die Klärung rechtlicher Fragen angeführte Kostenbilanz der abgesagten Hinrichtung, die neben standesamtlichen Gebühren einen Regressanspruch in Gestalt einer „Hochzeitgabe“319 von Wein und neuem Rüstzeug für den Scharfrichter und seine Henkersknechte einfordert und die Errettung der Sünderin zeichenhaft als eine Vertragssache innerhalb einer männlich geordneten Welt zu erkennen gibt. Für die Errettete selbst endet mit Dietegens Ankunft formal ein Reinigungsprozess, der im Hause des Totengräbers seinen Anfang nahm und auf dem Ruechensteiner „Blutgerüst“320 die „geisterhaft[e]“321 Wiederauferstehung einer jungen Frau bestätigt, die, obwohl „wie in einen Traum hinein“322 wiedergeboren, noch im gleichen Augenblick an die sehr realen Umstände ihrer Rettung gemahnt wird und bezeichnenderweise in ihrem künftigen Eheherren das erste erkennt, „was sie nach abgenommener Augenbinde von der Welt wieder sah“323. Küngolts Metamorphose vom Angstbild destruktiver Weiblichkeit zum Inbegriff nahezu kindlicher Unschuld lässt die junge Frau, die in den Armen des Bräutigams „im Schlafe leise weinte“324, derweil bereits „ihr Atem in süßer Erlösung freier wurde“325, die Umkehrung einer verhängnisvollen Kettenreaktion weiblicher Urheberschaft einleiten. Die im Zeichen einer erstarkenden Respiration vollzogene Wiedergeburt der jungen Frau nämlich wirkt sich unmittelbar auch auf deren standesamtlich autorisierten Eheherren aus, der als ein ‚Verlorener‘ nun seinerseits in einem metaphorischen Taufakt durch die Tränen der Angetrauten zurück zu Maß und Mitte findet. Von Küngolts Tränen wie „vom seligen Glücke selbst getauft“326, kann der stilisierte Taufakt dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vor allem die unter umgekehrten Vorzeichen neu geordneten Besitzver|| 319 HKKA 5, 246. 320 HKKA 5, 245. 321 HKKA 5, 246. 322 HKKA 5, 245. 323 HKKA 5, 245. 324 HKKA 5, 246. 325 HKKA 5, 246. 326 HKKA 5, 246.
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hältnisse sind, die Dietegen eine Rückbesinnung auf eine innere wie äußere Ordnung ermöglichen, denn: „Sein war das Leben, das er trug, und er hielt es, als ob er die reiche Welt Gottes trüge.“327 Die erfolgreiche Restauration eines dem tradierten Geschlechterdiskurs gemäß ‚natürlichen‘ Geschlechterverhältnisses steht nicht nur im Zeichen von Besitz, sie impliziert zugleich eine Verantwortung für das erworbene Eigentum und leitet aus dem Rettungsakt Dietegens die moralische Verpflichtung ab, „so gut und wacker zu werden, daß er des Glückes, das ihn jetzt beseelte, auch allezeit wert sei.“328 Als eine dergestalt „reiche Last“329 von Privilegien und Pflichten verheißt Küngolt die Rückkehr eines verloren geglaubten Versprechens auf Versöhnung und verpflichtet den Adressaten um seiner selbst willen zur Bewahrung dieses weiblichen Komplementärgutes. Entsprechend kehrt mit Küngolt und Dietegen die Idee eines auf Ergänzung und Korrektur angelegten Partnerschaftsmodells in das verlassene Forsthaus zurück, wo der Kriegsherr „mit abgelegten Waffen“330 sinnbildlich einer überkompensierenden Männlichkeit entsagt und als Lohn hierfür eine geläuterte Frauenfigur zur Seite gestellt bekommt, die im Zeichen eines Brautkranzes aus „Stechpalme[n]“331 das ihr zugedachte (Ehe-)Korsett endlich akzeptiert. Überhaupt dient die Institution der Ehe dem Text als universell einsetzbares Instrument zur innerdiegetischen Reversion diverser Fehlentwicklungen. Sie bereitet das soziale Fundament für die gegenseitige Austarierung zweier Protagonisten, ist in rechtlicher wie moralischer Hinsicht die einzige Möglichkeit, das Leben einer verurteilten Sünderin zu retten, und dokumentiert den finalen Triumph vaterrechtlicher Strukturen über die Statuten des von Küngolt erprobten ‚Mutterrechts‘. Als eine „gesellschaftliche[] Festung“332 verweist die Ehe auf die ideologische Verwandtschaft von weltlich-paternitärem Recht und christlicher Sexualmoral, so dass eine ‚mutterrechtliche‘ Revolution folgerichtig durch ‚androkratische‘ Rechtsakte und Rituale (Taufe, Hochzeit) trinitarischer Prägung überwunden wird. Das Sujet von Unordnung und Neuordnung konstituiert bzw. verhandelt sich somit innerhalb der Grenzen einer von einem dualistisch angelegten Geschlechterdiskurs dominierten Textperspektive, die soziale Ordnungsprinzipien als Resultat einer ‚natürlichen‘ Idee begreift und am Beispiel des text-
|| 327 HKKA 5, 246. 328 HKKA 5, 247. 329 HKKA 5, 247. 330 HKKA 5, 248. 331 HKKA 5, 247. 332 Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 9.
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internen Sozialisationsgeschehens Genese und Überlegenheit einer väterlichen Ordnung nachzeichnet. Moralisch wie juristisch legitimiert wird der Hegemonialanspruch patriarchaler Gesetzlichkeit unter Verweis auf das biblische Motiv des Sündenfalls, das sich als Ursprung misogyner Stigmatisierungstendenzen gegen das weibliche Geschlecht bestätigt und auf Erzählebene in sozialer wie rechtlicher Hinsicht die ersehnte Handhabe gegen ein als Bedrohung empfundenes weibliches Emanzipationsgebaren darstellt. Dass Küngolt nach der zeichenhaft vollzogenen Hinrichtung ihrer ‚hexenhaften‘ Wesensanteile das eigene „Goldhaar“333 unversehrt findet, belegt die Diskrepanz männlicher Angst-Lustphantasien vom weiblichen Geschlecht, da aller christlichen Sündenmetaphorik zum Trotz die Idee einer gefahrlos, aber ausdrücklich lustvoll konsumierbaren weiblichen Sexualität sorgsam gehegt wird. Wenn zum Ende der Novelle die erstarkende „Märzensonne […] hell und warm“334 von der Überwindung gynäkokratischer Irrwege kündet, gleichwohl ein „Restchen von Schalkheit“335 in Küngolt erhalten bleibt, zeigen sich die rechtlichen bzw. lebensweltlichen (Geschlechter-)Verhältnisse in eindeutiger Weise geklärt. Die konservierte ‚Restschalkheit‘ erinnert zwar nur noch entfernt an Ideen von weiblicher Vorherrschaft, prädestiniert die junge Ehefrau jedoch in besonderer Weise zur Befriedung eines äußerst tatkräftigen Gatten, der weithin als „ein angesehener Mann durch das Kriegswesen“336 anerkannt ist, sich hierbei indes „nicht besser als andere jener Zeit, vielmehr den gleichen Fehlern unterworfen“337 zeigt. So impliziert das kriegerische Tagesgeschäft Dietegens in gleicher Weise wie die früheren Wirtshausbesuche des Forstmeisters die Gefahr einer neuerlichen moralischen Destabilisierung dieses permanenten Grenzgängers, der außerhalb seines Heimes „einen oft gewaltthätigen Einfluß übte“338 und gegen die drohende Verrohung allein deshalb immun ist, weil er in Kompensation einer oft gewalttätigen Existenz daheim „mit seiner Frau […] in ununterbrochener Eintracht und Ehre“339 lebt. In der Elterngeneration erfolgreich erprobt, restauriert der Text im Falle Dietegens und seiner „feine[n] Patrizierfrau“340 ein Ehemodell, das sich mit seinem Versprechen von Kompensation und Komplettierung vorrangig an den Eheherren wendet, indem es diesem in standesamtlich garantierter || 333 HKKA 5, 247. 334 HKKA 5, 247. 335 HKKA 5, 248. 336 HKKA 5, 248 337 HKKA 5, 248. 338 HKKA 5, 248. 339 HKKA 5, 248. 340 HKKA 5, 249.
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Exklusivität einen andersgeschlechtlichen Fixpunkt zur Regulierung und Orientierung der eigenen Innerlichkeit zur Seite stellt. Dieses maßgeblich funktionale Eheverständnis fußt auf der Idee einer institutionellen wie moralischen (Selbst-) Verpflichtung des Begünstigten gegen einen im Geiste von Versöhnungsutopien stilisierten weiblichen Gegenpart, der auf diese Weise zum Sekundanten männlicher Affektkontrolle wird. An die erfolgreiche Wiederbelebung der mustergültigen Eheführung von Forstmeisterin und Forstmeister schließt sich nicht bloß die Gründung eines „zahlreiche[n] Geschlecht[s]“341 an, sie dient zudem der Restitution eines opferbereiten Weiblichkeitsideals, das durch die Schwäche der Forstmeisterin einst infrage gestellt wurde, zum Ende der Erzählung jedoch in Gestalt ihrer Tochter wiederbelebt wird. Der spätere Kriegstod Dietegens markiert zudem keineswegs das Ende dieses „teleologischen Versöhnungstraum[s]“342, vielmehr wird die Witwe zur Aufrechterhaltung desselben an das Grab ihres Mannes entsandt, um hier „eine lange Regennacht hindurch“343 eine tödlich verlaufende Erkältung zu provozieren, der sie „noch in guten Jahren“344 im Tode mit dem Gatten vereint. So stirbt Küngolt zwar in einer Weise „gleich ihrer Mutter“345, nicht aber im Zeichen leichtfertiger Pflichtverletzung, sondern im Gegenteil einen komplexen Opfertod,346 der in genealogischer Hinsicht die Verfehlungen der Forstmeisterin sühnt und das Textideal von weiblicher Folgsamkeit über den Tod hinaus bestätigt.
4.2 Vaterlose Männlichkeiten Während dem Ruechensteiner Waisenkind Dietegen in der Figur des Forstmeisters eine positiv besetzte Identifikationsfigur zur Seite steht, müssen die im Folgenden zur Anschauung stehenden Protagonisten als ‚Vaterlose‘ ganz ohne gleichgeschlechtlichen Beistand ihren Weg zu einem gesellschaftlich akzeptierten Mannsein finden. Es sind im Gegenteil maßgeblich Mutterfiguren, die die anstehenden ‚Erziehungsgeschichten‘ anleiten und in Anbetracht herrschender
|| 341 HKKA 5, 248. 342 Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 104. 343 HKKA 5, 249. 344 HKKA 5, 249. 345 HKKA 5, 249. 346 Der Tod Küngolts bzw. die Entscheidung, ihrem Gatten in den Tod nachzufolgen, erscheint auf diese Weise als ein Wertmaßstab, der „die Tragfähigkeit sinngebender Werte“ bestätigt, da die „Bereitschaft, für etwas zu sterben, oder nicht zu sterben, [...] den Rang eines Wertes“ festlegt. Aus: Wünsch: ‚Tod‘ in der Erzählliteratur des ‚Realismus‘, S. 237.
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Geschlechterkonventionen sowohl durch hilflose Konformität als auch durch bewusste Grenzübertretungen die Biographien heranwachsender junger Männer prägen.347 Im Unterschied zu gleichgeschlechtlich organisierten Sozialisationsprozessen wie sie in der Dietegen-Novelle vorgestellt werden, lässt das beschriebene Nachahmungsprinzip verschiedengeschlechtliche Konstellationen als grundlegend problematisch, weil defizitär erscheinen, so dass es dieser Logik zufolge einer Modifizierung geschlechtlicher Statuten bedarf, um in Ermangelung einer anleitenden Vaterfigur dennoch akzeptable Resultate vorweisen zu können.
4.2.1 Pankraz, der Schmoller: Scheitern mit Ansage Welche Konsequenzen die Idee von Mannwerdung als eine Praxis der Nachahmung bzw. Kultivierung geschlechtlicher Anlagen für denjenigen hat, der einer ausdrücklich weiblichen „Oberbehörde“348 untersteht, zeigt sich am Beispiel der ‚Bildungsnovelle‘349 Pankraz, der Schmoller. Nach dem frühen Tod des Vaters räumlich wie sozial an „einem stillen Seitenplätzchen“350 situiert, lebt der Knabe in einer exklusiven Gemeinschaft mit Mutter und Schwester und steht vor der Herausforderung, die sozialen Normen seines Geschlechts ohne väterliche Anleitung oder auch der kompetitiven Konfrontation mit Geschlechtsgenossen einüben zu müssen. Der Ausfall einer ‚natürlichen‘ Projektionsfläche vermag von der namenlosen Mutter des Knaben, der eine eigenständige Erwerbstätigkeit verwehrt ist und die allein mit Hilfe öffentlicher Fürsorge die Grundbedürfnisse der Kleinfamilie notdürftig zu befriedigen weiß, nicht kompensiert werden. Den geschlechtsspezifischen Bedürfnissen des Sohnes gegenüber aus sozialen bzw. strukturellen Gründen zur Ohnmacht verdammt, entwickelt sich die zwölfjährige Schwester des Jungen, die als „ein bildschönes Kind mit langem und dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der allerweißesten Hautfarbe“ 351 bereits im Kindesalter ihrem späteren ‚Verwendungszweck‘ entgegenzustreben scheint, unter dem mütterlichen Regiment erwartungsgemäß adäquat. Weil nämlich die junge Esther eingedenk ihres Liebreizes und ihrer haushälterischen || 347 Vgl. Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 581. 348 HKKA 4, 14. 349 Als Gegenstück zum gängigen Begriff des Bildungsromans versteht Klein die Geschichte des Pankraz als eine ‚Bildungsnovelle‘. Vgl. Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle. Von Goethe bis zur Gegenwart. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 1954, S. 273. 350 HKKA 4, 13. 351 HKKA 4, 15.
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Fähigkeiten in einer männlich geordneten Welt „nicht viel brauchte und schon deshalb unterkommen würde“352, richtet sich alle Aufmerksamkeit innerhalb der Familie auf den jungen Pankraz, der im Gegensatz zu seiner Schwester einen „unansehnliche[n] Knabe[n] von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und ernsthaften Gesichtszügen“353 vorstellt und das wenige, was die Familie an Versorgungsleistung zu bieten hat, „wie ein kleiner Indianer, der die Weiber arbeiten lässt“354, entgegennimmt. Dass dieser wortkarge Nutznießer, der „nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts tat oder lernte“355, seiner Orientierungslosigkeit wegen einen prekären Wirklichkeitsbezug zu entwickeln droht, ahnt auch die Mutter, jedoch weiß sie dieser Perspektive nicht anders zu begegnen als mit einer im konventionellen Sinne verstandenen, großherzigen Mütterlichkeit, aus der heraus sie den Knaben aus „Erbarmen“356 überbehütet, da dieser ihrer eingeschränkten Möglichkeiten wegen „nichts lernen und es ihm wahrscheinlicherweise einmal recht schlecht ergehen konnte“357. Dieser von der sicheren Erwartung einer perspektiv- und mittellosen Zukunft des Knaben zeugende Protektionismus der Mutter provoziert selbigen zu reflexartigen Weltfluchten und beschreibt das symptomatische Schmollen des Adoleszenten als eine umfängliche Weigerung gegen jede Art von Kommunikation oder auch Interaktion mit einer Welt, die auf sozialer Ebene nicht einlösen kann, was auf geschlechtlicher in Aussicht gestellt scheint. So zeigt der Junge ebenso wie der überreizte Severin von Kusiemski in Kindertagen ein auffälliges Abwehrverhalten gegen weibliche bzw. mütterliche Annäherungen, denn „noch ehe das Bürschchen sieben Jahre alt gewesen, hatte es schon angefangen sich […] Liebkosungen zu entziehen, und […] sich gehütet, seine Mutter auch nur mit der Hand zu berühren“358, wodurch die „Verstockung“359 des Knaben um eine explizit (verschieden-)geschlechtliche Komponente erweitert wird. Wenn der Text den seine Unart zunehmend perfektionierenden Schmoller in einem weiblich dominierten Umfeld weder Betätigung noch Bestätigung finden lässt, zugleich jedoch einen geschlechtlichen ‚Reifungsplan‘ im Jungen anlegt, der Charakterzüge männlicher ‚Natur‘ zutage fördert, ist ein biologistisch fundierter Geschlechterdiskurs zitiert, der auf eine fernab von sozialen Dimensionen || 352 HKKA 4, 15. 353 HKKA 4, 14. 354 HKKA 4, 15. 355 HKKA 4, 15. 356 HKKA 4, 15. 357 HKKA 4, 15. 358 HKKA 4, 23. 359 HKKA 4, 23.
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verortete ‚Naturwahrheit‘ von Geschlecht sich beruft. So zeigt sich ein textintern als männlich typisiertes Verhalten von Aggressionslust und Rivalitätsdenken, wenn dem Knaben als „einzige glänzende und pomphafte Begebenheit“360 des Tages der Anblick des Sonnenuntergangs gilt, dessen Gewölk in den Augen des jungen Betrachters wie „große[] Schlachtheere[] in Blut und Feuer“361 anmuten und den konfrontativen Impetus eines Heranwachsenden erkennen lassen, der seine kargen Aufzeichnungen mit „Rauchwolken und fliegende[n] Bomben“362 verziert und in seiner Alltagspraxis entsprechend früh „einen strengen Sinn für militärische Regelmäßigkeit“363 an den Tag legt. Anders als seine Schwester, die innerhalb der engen sozioökonomischen Grenzen des Hauses wie von selbst zur lieblichen „Nachtigall“364 reift, wendet sich der Schmoller auf seiner Suche nach Identität und Akzeptanz intuitiv vom häuslichen Umfeld ab, um sich in einem selbst gewählten „Wirkungskreis“365 zu erproben, in welchem er mit „einer tüchtigen Baumwurzel oder einem Besenstiel“366 bewaffnet die körperliche Konfrontation mit anderen Heranreifenden sucht. So zeigt sich der Junge immer dann von „einer heitern Stimmung“367 beseelt, wenn seinen Streifzügen ein ‚Kriegsakt‘ auf homosozialer Ebene beschieden ist und er sich „im Ausspüren und Aufbringen des Feindes“368 bewähren oder schlicht „seine Widersacher auf das jämmerlichste“369 durchprügeln kann. Wie zuvor beim jungen Dietegen zu beobachten, installiert der Text einen ‚natürlichen‘ Wendepunkt in der Biographie seines Protagonisten, von welchem an ein bis dato kindlicher Wirklichkeitsbezug zunehmend männlich konnotierte Ausprägungen annimmt, folglich die Vorstellung eines ontologisch zu denkenden Wesenskerns von Geschlecht bestätigt, der maßgeblich in jenem Alter hervortritt, in welchem der betreffende Knabe den Zuwachs an „Gesundheit und || 360 HKKA 4, 14. 361 HKKA 4, 14. 362 HKKA 4, 14f. 363 HKKA 4, 16. Ein weiteres Element der persönlichen Ordnungs- bzw. Orientierungsstrategie des Jungen stellt dessen Vorliebe für Geschichts- und Geographiebücher dar, die im Sinne eines ‚Eins-zu-eins-Vergleichs‘ von Welt und zeichenhafter Repräsentation derselben rezipiert werden. Vgl. hierzu Christiane Arndt: Abschied von der Wirklichkeit. Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus. (Rombach Litterae 168) Freiburg im Breisgau 2009, S. 226f. 364 HKKA 4, 15. 365 HKKA 4, 17. 366 HKKA 4, 17. 367 HKKA 4, 17. 368 HKKA 4, 17. 369 HKKA 4, 17.
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Kräften […] in seinen Gliedern“370 spürt. Dieses körperorientierte männliche ‚Wuchsmodell‘ generiert Leibeskräfte, die offenkundig ausagiert sein wollen, versieht den Adoleszenten zugleich jedoch mit einer Sehnsucht nach Regelhaftigkeit und Ordnung, die im Gegensatz zu den körperlichen Prozessen einer sozialen Anleitung bedarf. Weil an genau diesem Punkt eine Leerstelle im anstehenden Sozialisationsprozess sich auftut, hinkt die moralische Entwicklung des Knaben der körperlichen hinterher und zeigt einen Heranwachsenden, der Rückschläge und Frustration nicht adäquat zu verarbeiten weiß und Gefühlen von „Scham, Verdruß und Wut“371 hilflos ausgeliefert ist. Die Gewandtheit des Jungen, „sowohl einzelne ihm an Stärke weit überlegene Jünglinge als ganze Trupps derselben“372 zu besiegen, kann entwicklungspsychologische, vom Text auf das Fehlen eines männlichen Korrektivs zurückgeführte Defizite nicht kompensieren, wodurch das Schmollen eines gleichermaßen starken wie ohnmächtigen Knaben zur Metapher einer gefühlten Diskrepanz zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein sollte, wird.373 Biologisches und soziales Mannsein werden auf diese Weise zwar implizit als zwei verschiedene Angelegenheiten behandelt, weil aber die Beziehung zwischen Geschlechtszugehörigkeit und sozial bestimmter Geschlechtlichkeit dem Textverständnis nach keineswegs arbiträrer Natur ist, sondern im Gegenteil sich innerhalb eines binär organisierten Geschlechterdiskurses wie auf von unsichtbarer Hand gelenkte Weise konstituiert, bleiben beide Phänomene durch ein ‚natürliches‘ Kohärenzprinzip untrennbar miteinander verbunden. So kennt der Text für ein Individuum von männlicher Anatomie keine Alternative zu einer biologischen wie auch sozialen Mannwerdung, allerdings auch keine Garantie für einen erfolgreichen, nämlich gesellschaftlich honorierten Sozialisationsprozess. Entsprechend weckt das anatomische Geschlecht zwar eine Vielzahl sozialer Erwartungen, erfüllt sie aber nicht mit der gleichen Zwangsläufigkeit – wie die pessimistischen Zukunftserwartungen der Mutter des Schmollers zeigen. Insbesondere vaterlose Protagonisten sind angesichts einer als kontraproduktiv und einengend empfundenen weiblichen Umwelt zur Suche nach alternativen Bezugsgrößen angehalten, woraufhin der jugendliche Pankraz die Flucht in den
|| 370 HKKA 4, 17. 371 HKKA 4, 17. 372 HKKA 4, 17. 373 Schrimpf etwa versteht das viel zitierte ‚Schmollen‘ des Knaben als „Ausdruck eines Mißverhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit“. Schrimpf: Das Poetische sucht das Reale, S. 156. Plumpe spricht in ähnlicher Weise von einem Protest des Schmollers „gegen die Umstände seiner Existenz.“ Aus: Plumpe: Die Praxis des Erzählens als Realität des Imaginären, S. 164.
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Militärapparat sucht, der „Ordnung und Pünktlichkeit“374 verspricht und das kindliche Betragen rückblickend als einen Abwehrreflex gegen eine familiäre Konstellation von Passivität und Ohnmacht bestätigt, „weil ich nichts lernte und nichts that, ja weil mich gar nichts reizte zu irgendeiner Beschäftigung […].“375 Die eskapistisch anmutende Hinwendung zu einer ausschließlich gleichgeschlechtlich strukturierten Realität verschafft dem jungen Mann zwar die ersehnte soziale Profilierung, bleibt jedoch als ein Wechsel von einem (geschlechtlichen) Extrem ins andere von latent defizitärer Natur. So zeigt die Wehrlosigkeit, mit der Pankraz später der narzisstischen Lydia erliegt, einen zwar unter seinesgleichen renommierten Männlichkeitsentwurf, der jedoch, bedingt durch den vollständigen Rückzug von verschiedengeschlechtlichen Lebenswelten, den Tücken einer einseitigen Sozialisierung verfällt und sich den Versuchungen des weiblichen Geschlechts gegenüber als entsprechend hilf- und orientierungslos erweist. Konnten nämlich die Frauen daheim noch durch Trotz und Wut ‚überwunden‘ werden, tut sich mit der schönen Kommandeurstochter eine explizit sexuelle Dimension auf,376 deren Reize von Pankraz aufgrund seiner „vollkommenen Erfahrungs- und Praxisdefizienz“377 weder eingeordnet, noch geleugnet werden können. Weil akkurate Handlungsstrategien fehlen,378 verlegt sich der wechselweise von Lust- und Angstphantasien geplagte, um seine innere Ordnung ringende Soldat auf psychologische Ausweichmanöver und geht sein psychisches ‚Tier‘ zeichenhaft in Gestalt eines Wildschweins an: „Was will sie von dir, dachte ich, und was soll das heißen? […] Diese verwünschte Ansicht that mir so weh und traf mich so unvermutet, dass ich wutentbrannt einen ungeheuren rauhen Eber niederschoß [...].“379 Diese kompensatorische Bezwingung der eigenen inneren Unordnung markiert bekanntermaßen ein nicht besonderes nachhaltiges Konzept und zeigt am Schluss der Novelle einen Heimkehrer,380 der zwar || 374 HKKA 4, 29. 375 HKKA 4, 28. 376 Dunker spricht diesbezüglich von einer „entscheidende[n] Erweiterung des Diskursfeldes“ um die Kategorie Geschlecht. Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 114. 377 Plumpe: Die Praxis des Erzählens als Realität des Imaginären, S. 168. 378 Auf Lydias Zeichen bezogen meint dies die Fähigkeit sich vom Status eines Beobachters ‚erster Ordnung‘, „der die Sprache auf einen externen Referenten“ bezieht, zu lösen und auf eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung (im Sinne der Systemtheorie) zu wechseln. Aus: Arndt: Abschied von der Wirklichkeit, S. 238f. 379 HKKA 4, 43. 380 „Wo die Wildnis der eigenen Psyche sich nicht domestizieren läßt, muß die Wildnis der fremden Kultur als Prügelknabe herhalten.“ Aus: Edith Ihekweazu: Versuch einer nigerianischen Textlektüre von Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 (1992), 465–471, S. 468. Weigel wiederum spricht diesbezüglich von einer „Inan-
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verlauten lässt, dass „er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei“381, sich faktisch jedoch vom verschiedengeschlechtlichen ‚Schlachtfeld‘ in Gänze zurückgezogen hat, um fortan an der Seite von Mutter und Schwester die Position eines alternativen Familienoberhauptes einzunehmen. In einer ödipalen Ersatzkonstellation rückt Pankraz an die Stelle seines verstorbenen Vaters, lässt seine zitternde Mutter „in scheuer Seligkeit […] in den Armen dieses wiedergekehrten Sohnes“382 Zuflucht finden und auch seine sonst so kesse Schwester kann nicht umhin, „mit klaren Thränen in den Augen“ 383 die neue Väterlichkeit im Hause anzuerkennen. Wohlstand und Ansehen sind der restaurierten Kleinfamilie zwar beschieden, Hinweise auf zukünftige Begegnungen des Protagonisten mit weiblichen Figuren nicht verwandtschaftlicher Art gibt der Text indes keine, so dass die Kur des Schmollers einen zwar korrigierten Wirklichkeitsbezug hervorbringt,384 hierfür jedoch offenkundig den Verzicht auf Sexualität und Partnerschaft einfordert. Die vermeintlich selbstlose Übernahme der Ernährerfunktion der bis dato vaterlosen Kleinfamilie dient vorrangig der Sublimierung geschlechtlicher Triebe, die dem ordnungs- und strukturaffinen Heimkehrer nach wie vor suspekt erscheinen und ihn in die sicheren Grenzen einer asexuellen Vater-Mutter-Kind-Konstellation einkehren lassen – was bezeichnenderweise wie „eine[] kleine[] Hochzeit in dem Häuschen der Witwe“385 gefeiert wird. So kann der geläuterte Taugenichts die durch den frühen Tod des Vaters benachteiligte Familie ökonomisch wie sozial durchaus erfolgreich rehabilitieren, gleichwohl ist dieses alternative Familienmodell offenkundig nur um den Preis eines Verzichts auf die Neugründung eines eigenen Geschlechts zu haben. Da defizitäre Wesensanteile an entscheidender Stelle nicht korrigiert, sondern lediglich (über-)kompensiert werden, Pankraz nämlich im finalen Löwenkampf nicht nur sein Schmollen, sondern (zeichenhaft) auch seine Ambitionen auf
|| spruchnahme des Fremden für die Stabilisierung des Eigenen“. Aus: Weigel: Topographie der Geschlechter, S. 123. 381 HKKA 4, 72. 382 HKKA 4, 23. 383 HKKA 4, 24. 384 Pankraz’ Scheitern an Lydia und in der Welt ist ein Scheitern an der ‚naiven‘ Vorstellung einer verlustfreien Abbildbarkeit der Welt durch das Zeichen. Die nicht zuletzt am Beispiel verführerischer Literatur verhandelte Misere des Schmollers ist folglich eine Misere des Zeichens und bestätigt, dass „sich die ‚realistische‘ Literatur sehr weitgehend als metasemiotisch erweist und Zeichenhaftigkeit, d. h. Zeichen und das Verhältnis zu ihren Referenten selbst ‚mise-en-abyme‘ und rekurrent thematisiert [...].“ Aus: Ort: Zeichen und Zeit, S. 1. 385 HKKA 4, 25.
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sexuellem Gebiet endgültig aufgibt, bleibt ihm angesichts dieser lückenhaften Mannwerdung in partnerschaftlicher Hinsicht nur Regression statt Reproduktion. Dabei fällt vor allem die Brutalität auf, mit der das äußere Tier als Metapher der eigenen Triebhaftigkeit ausgelöscht wird, zumal sich gleich ein ganzes Männerkollektiv in phallischer Bildsprache an diesem Triebwesen abarbeitet, bis sämtliche Spuren desselben ausgemerzt sind, denn „endlich zerschlugen wir alle drei unsere Kolben an dem Tiere, so zäh und wild war sein Leben.“386 Anders als etwa Dietegen scheitert Pankraz somit an der Bezwingung einer ihn auf zeichenhafte Weise herausfordernden Frauenfigur und verschanzt sich fortan hinter der sozial weitaus weniger offenkundigen Art eines sexuellen Schmollens.387 Verschleiert werden die kompensierten, zugleich jedoch konservierten Defizite des Rückkehrers durch die Inszenierung der eigenen Ankunft als die Heimkehr eines in der Fremde erfolgreichen Eroberers. Begleitet nämlich von „fremdartigen Gegenständen‟388, wie sie „französische Militärs aus Afrika mitzubringen pflegen‟389, führt Pankraz eine Reihe von Dingen mit sich, die einen „konkretmateriellen Zugriff auf das Fremde“390 anzeigen und allesamt von der Erkundung oder auch Unterwerfung (Löwenhaut) des Fremden künden. Die von kolonialistischen Phantasien zeugende ‚Dingparade‘ des Heimkehrers ist folglich ein durchaus geschicktes Täuschungsmanöver, das die Beherrschung des Fremden auf eine derart handfeste Weise bezeugt, dass die Tatsache, dass Pankraz das Fremde in sich – sein Tier – zwar radikal zu negieren, nicht aber zu integrieren vermag, verlässlich überdeckt. Die durch die Trophäen aus der Fremde leidlich kaschierte sexuelle Totalverweigerung des ‚Eroberers‘ verfestigt somit den Eindruck einer „Rückkehr ins Kinderparadies“391, so dass dieser defizitäre Männlichkeitsentwurf als ein Vaterloser, der selbst nicht Vater werden wird, konsequent von der geschlechtlichen Reproduktion ausgeschlossen wird. || 386 HKKA 4, 71. 387 „Das Schmollen wird auf einer anderen, der erotisch-sexuellen Ebene fortgesetzt – im (Ver-)Schweigen als nicht mehr Austragen, in der Rückkehr zu Mutter und Schwester, im Ausscheiden aus Seldwyla.“ Aus: Dunker: Kontrapunktische Lektüren, S. 119. 388 HKKA 4, 22. 389 HKKA 4, 22. 390 Franziska Bergmann: Der Glasschrank des Großvaters. Männlichkeit und Dingwelt in Thomas Manns Zauberberg. In: Homme fragile. Männlichkeitsentwürfe in den Texten von Heinrich und Thomas Mann. Hg. von Thomas Wortmann und Sebastian Zilles. Würzburg 2016, S. 321– 334, S. 331. Was Bergmann in Bezug auf Thomas Manns Zauberberg als Aneignung des „Fremden […] in Form einer privaten Ansammlung exotischer Dinge“ notiert, gilt ebenso für die kolonialistische ‚Dingparade‘ des heimkehrenden Pankraz. 391 Jost Bomers: Realismus versus Romantik. Kellers „Pankraz“ als realistischer „Anti-Taugenichts“. In: Wirkendes Wort 43, II (1993), S. 197–212, S. 199.
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4.2.2 Frau Regel Amrain und ihr Jüngster: Eine Hybridfigur als Interimslösung 4.2.2.1 Regula Amrain: Die bessere Vaterfigur Vaterlose Familienstrukturen, die aufgrund einer restriktiven Geschlechterpolitik keinen adäquaten Ersatz zur Versorgung dieser dem bürgerlichen Verständnis nach funktionsgestörten Familienarchitektur zu organisieren wissen, beschreiben ein komplexes Terrain insbesondere für männliche Heranwachsende, welche bedingt durch eine solche defizitäre Ausgangskonstellation bisweilen mit lebenslangen Einschränkungen zu kämpfen haben. Wie sich die hierin problematisierte Idee einer maßgeblich auf Nachahmung und Anleitung lautenden Sozialisationsdynamik auch dann erfolgreich umsetzen lässt, wenn die zentrale Voraussetzung eines gleichgeschlechtlichen Korrektivs ausfällt, zeigt Frau Regel Amrain und ihr Jüngster. Dieser standesamtlichen Frau ‚Regula‘ Amrain, deren intervenierende Natur bereits im Namen anklingt,392 stellt sich das Problem der Alleinversorgung nicht infolge eines vorzeitigen Ablebens des Gatten, sondern im Lichte einer kapitalistischen Zeitenwende, die den Vater ihrer Kinder erst in den wirtschaftlichen Ruin und anschließend aus Furcht vor seinen Gläubigern in die Welt hinaus treibt. Die Bedeutung von Ökonomie untermauert der Text durch die auf den wirtschaftlichen Ruin folgende soziale Vertreibung des Herrn Amrain, woraufhin dessen verlassene Frau den Totalausfall der männlichen Ernährerfigur ebenso zu bewältigen hat wie die Schulden des entflohenen Gatten. Seine Kritik an diesen neuen Verhältnissen, in denen finanzkapitalistische Heilslehren an die Stelle realwirtschaftlicher Produktion rücken, kleidet der Text in eine Allegorie auf die Raffsucht eines kapitalistischen ‚Körpers‘, denn man wird selten sehen, daß es großen schweren Männern schlecht ergeht, weil sie eine durchgreifende und überzeugende Gabe besitzen, für ihren anspruchsvollen Körperbau zu sorgen, und die Nahrungsmittel können sich demselben nicht lange entziehen, sondern werden von dem Magnetgebirge des Bauches mächtig angezogen.393
Die im Zeichen des Magnetismus angeführte Analogie zwischen beleibten Männerkörpern und kapitalistischen Wirtschaftsweisen kritisiert eine Gegenwart, in welcher der bloße Schein offenkundig für ein auskömmliches Sein sorgt, entsprechend „fraß sich der landflüchtige Amrain auch glücklich durch die Fernen; und
|| 392 „Der Name Amrain kennzeichnet sie als eine Person, die abseits der Masse steht. [...] Daneben verweist der Vorname Regula darauf, daß das Leben der Hauptfigur festgefügten Normen und Gesetzen gehorcht [...].“ Aus: Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers, S. 122. 393 HKKA 4, 162.
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[…] aß und trank […] so weidlich wie zu Hause.“394 Als ein Abbild der Moral von großen, schweren Männern beschreibt der Aufstieg und äußerst weiche Fall des Herrn Amrain den sozialen Kontext, in dem Regel Amrain sich unversehens wiederfindet und mit Erfolg den verschuldeten Steinbruch der Familie für sich reklamiert, indem sie die auf Rendite ausgerichtete Mentalität der Gläubiger zu ihren Gunsten zu nutzen, nämlich „kraft ihres herzugebrachten Weibergutes“395 insoweit zu bedienen weiß, dass soziale Geschlechterzwänge in den Hintergrund treten. Mit dem Geschlecht der Besitzerin ändert sich auch die Erwerbsweise des Unternehmens, da „zum ersten Mal die Unternehmung, statt auf den Scheinverkehr, auf wirkliche Produktion“396 gründet und entsprechend die finanzkapitalistische Männerliga des Städtchens auf den Plan ruft, um die energische Frau „nun erst recht [zu, S.V.] behindern“397. So erscheint Regel Amrains realwirtschaftlicher Ansatz als Rückbesinnung auf ein im Gegensatz zum männlichen Scheinverkehr weiblich konnotiertes Produktionsverständnis,398 das auf eine „Frau und sparsame Mutter“399 zurückgeführt wird, die in Übertragung hauswirtschaftlicher Kompetenzen die Spielregeln einer ökonomisierten Gegenwart zu beherrschen und auf diese Weise „alle Stürme abzuschlagen und alle begründeten Forderungen zu bezahlen“400 weiß. Als eine zudem erst durch Eheschluss im hedonistischen Seldwyla angelangte Importfigur, deren geräuschlose Verbindlichkeit in positivem Kontrast zur Leichtigkeit des Ortes steht, kann die verdiente Anti-Seldwylerin die zur Absicherung der Existenz ihrer Familie nötigen Grenzüberschreitungen in sozialer wie geschlechtsspezifischer Hinsicht umso eher wagen. Jedoch zeigt sich der Text auch hier der Idee oppositionell aufeinander bezogener Geschlechtscharakteristika verpflichtet, so dass der Regel Amrain zuerkannte Kompetenzbonus offenbar zwingend einer äußerlichen Markierung bedarf und eine zwar attraktive Frau zeigt, die „mit kräftigen schwarzen Haarflechten und einem festen dunklen Blick“401 unverkennbar erotische Attribute trägt, deren
|| 394 HKKA 4, 162. 395 HKKA 4, 162. 396 HKKA 4, 162. 397 HKKA 4, 162. 398 Auch Harnisch weist darauf hin, dass der Text am Beispiel der Kompetenzen Regel Amrains im wirtschaftlichen Bereich zeigt, „daß es nicht in der Natur des weiblichen Geschlechts liegt, in diesem zu versagen [...].“ Aus: Harnisch: Geschlecht, Sexualität und Familie, S. 36. 399 HKKA 4, 162. 400 HKKA 4, 162. 401 HKKA 4, 163.
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Äußeres zugleich aber eine „ernsthafte gerade lange Nase“402 und ein „streng geschnitte[r] Mund[]“403 dominieren. Die soziale Grenzüberschreitung Regel Amrains, wenngleich als Maßnahme zum Erhalt der Familie legitimiert, taugt somit nur bedingt als Ausdruck eines emanzipatorischen Akts, da wie in latenter Skepsis gegen das weibliche Geschlecht die Zuerkennung männlicher Privilegien mit einer prophylaktischen ‚Entsinnlichung‘ der betreffenden Frauengestalt durch Attribute von Strenge und Ernsthaftigkeit einhergeht. Um die geschlechtlichen Sonderkonditionen Regel Amrains und die im Titel eingeforderte Fokussierung auf den ‚Jüngsten‘ gegen destruktive Einflüsse zu immunisieren, nimmt sich der Text wiederum der weiblichen Sexualität an, die als ein Restrisiko nicht-rationaler Natur vorsorglich eliminiert wird. 4.2.2.2 Die Austreibung weiblicher Sexualität als vertrauensbildende Maßnahme Ein für den Erziehungsauftrag der Alleinerziehenden kontraproduktiver Anschlag geht von der Person des Werkführers aus, der als „ein hübscher und unternehmender Bursche von schlankem kräftigem Körperbau“404 sein erotisches Potenzial gegenüber der „Meisterin“405 versiert einzusetzen weiß, um „selber der Herr und Meister hier zu sein“406. Der Autonomieanspruch Regel Amrains, der zuvor bereits von der Seldwyler Männerwelt erfolglos torpediert wurde, wird nunmehr auf sexueller Ebene angegangen und wenngleich der klugen Frau die Absichten des jungen Mannes bewusst sind – denn „[s]ie hatte ihn wohl verstanden“407 –, scheint dieser erotische Angriff, der auf eine Ehescheidung mit anschließender Installation eines neuen Eheherren hinausläuft, nicht völlig aussichtslos. So erneuert der Text seine Skepsis der weiblichen Willenskraft gegenüber, indem er die resolute Mutter durch den unerwarteten Körpereinsatz des jungen Mannes buchstäblich wanken lässt, wohl wissend, „daß er auf diesem leidenschaftlichsinnlichen Wege nur beabsichtigte, sie sich zu unterwerfen und dienstbar zu machen, also daß ihre Selbstständigkeit ein schlimmes Ende nähme.“408 Hierbei lässt der Text den Werksführer nicht nur auf körperliche Weise an seine Arbeitgeberin herantreten, sondern ihn gar eine verklausulierte Verpflichtung des
|| 402 HKKA 4, 163. 403 HKKA 4, 163. 404 HKKA 4, 164. 405 HKKA 4, 164. 406 HKKA 4, 164. 407 HKKA 4, 164. 408 HKKA 4, 166.
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weiblichen Geschlechts zu sinnlicher Hingabe formulieren, wenn er die bedrängte Frau beschwört, „ihr Leben doch nicht so öde und unbenutzt entfliehen“409, nämlich „ihre Jugend und schöne Gestalt […] ungenossen vergehen zu lassen.“410 Vom „Feind“411 dergestalt zu einer Konfrontation mit den eigenen Sehnsüchten gedrängt, entbrennt in der stets verstandesgeleiteten Protagonistin ein Konflikt zwischen Fleischeslust und Affektkontrolle, der die moralische Fallhöhe einer im Vertrauen auf ihre Berechenbarkeit privilegierten Frauenfigur anzeigt, denn es „schwebte die brave Frau peinvoll zwischen ihrer in der Kammer dreifach schlafenden Sorge und zwischen dem heißen Anstürmen des wachen Lebens.“412 Dieser prototypische Moment, in dem etwa die Forstmeisterin den inneren Kampf gegen verborgene Sehnsüchten verliert, stellt nun auch Regel Amrain auf die Probe, denn ihr Blut floß so rasch und warm, wie eines; was Wunder, daß sie daher endlich einen Augenblick inne hielt und tief aufseufzte, und daß ihr in diesem Augenblick der Zweifel durch den Kopf ging, ob es sich auch der Mühe lohne, so treu und ausdauernd in Entbehrung und Arbeit zu sein, und ob nicht das eigene Leben am Ende die Hauptsache und es klüger sei, zu thun wie die andern und, nicht dem verwegenen und frechen Andringling, sondern sich selbst zu gewähren, was ihr Lust und Erfrischung bieten könne […].413
Das weibliche Ansinnen auf unverbindliche ‚Lust und Erfrischung‘ ist in Anbetracht der bürgerlichen Ideale der Textautorität jedoch weder darstell- noch verhandelbar, so dass als Konsequenz einer sexuellen Hingabe an den Werksführer unweigerlich dessen (Ehe-) Herrschaft droht. Dies wiederum entspräche einer gleich dreifachen Pflichtverletzung Regel Amrains, die ihren Söhnen gegenüber zum Erhalt des familiären Erbes, dem abwesenden Gatten zur ehelichen Treue und nicht zuletzt der Restaurationsidee des Textes verpflichtet ist. Da moralische Integrität und weibliche Sexualität dem Text offenbar schwerlich in dauerhaft geordneten Bahnen vereinbar scheinen, erhält die bedrängte Mutter „unerwartete Hülfe“414 vom kleinen Fritz, der wie als Verfechter einer Geschlechterideologie, die weder illegitime Zudringlichkeiten noch die Idee einer der eigenen Lust verpflichteten weiblichen Sexualität toleriert, unerwartet hinzutritt, um „mit aller erdenklichen Kraft dem aufspringenden Werkmeister auf || 409 HKKA 4, 165. 410 HKKA 4, 165f. 411 HKKA 4, 166. 412 HKKA 4, 166. 413 HKKA 4, 166. 414 HKKA 4, 167.
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den Kopf“415 zu schlagen. Dass er dies ausgerechnet mit einer „lange[n] Gardinenstange mit dickem, vergoldetem Knopf“416 tut, lässt in sexualsymbolischer Hinsicht keinen Zweifel am Auftrag des „kleinen Sankt Georg“417, der gleich „eines Kreuzfahrers“418 zur Verteidigung einer bedrohten Ordnung interveniert und angesichts des abwesenden Vaters seinen exklusiven Anspruch auf die Frau im Hause formuliert: „Mutter! Es ist ein Dieb da!“419 Wenngleich Figurenkonstellation und Bildsprache an die psychoanalytische ‚Urszene‘ erinnern – und auch entsprechende Deutungen erfahren haben –,420 bilden sich in vorliegender Szene mehr noch als narzisstisch-infantile Reflexe die subtilen Regulierungsstrategien eines männlich-patriarchal organisierten Herrschaftssystems ab, für das Vaterlosigkeit ein Ordnungsdefizit und somit ein systemisches Problem darstellt. Mit der Vertreibung des ‚Angreifers‘ nämlich zwingt der kleine Fritz seine Mutter zur Räson, was konkret heißt zur Aufgabe gegenwärtiger und auch zukünftiger sexueller Ambitionen, die durch die Verriegelung der Tür hinter dem abgehenden Werkführer auf zeichenhafte Weise ausgesperrt werden. Die Suspendierung der mütterlichen Sexualität durch den jüngsten der drei Söhne, von dem der Text zu berichten weiß, dass er mitnichten einen tatsächlichen Räuber am Werke wähnte, sondern allein von der allmählich versiegenden Gegenwehr seiner Mutter alarmiert wurde, revalidiert die Vertrauenswürdigkeit der Protagonistin und stellt die Funktionalität der Regel Amrain-Figur mit Blick auf die vor ihr liegenden Aufgaben sicher. So tritt in Gestalt einer langen Gardinenstange – obgleich ironisch verklärt – der Vormachtsanspruch einer patriarchal geordneten Welt zu Tage, die die sexuellen Anteile der Protagonistin eliminiert wissen will, um männliche Vorrechte zum Zwecke der Besetzung einer entsprechenden Leerstelle auf diese übertragen zu können, ohne hierbei die Gefahr eines Missbrauchs fürchten zu müssen. Sensibel wird diesbezüglich selbst ein „leise[s] Ringen“421 im Inneren der weiblichen Hauptfigur registriert und umgehend von stilisierten Männlichkeitsbildern (‚Kreuzfahrer‘, „Rittersmann“422) angegangen, wobei die Rigorosität dieses Vorgangs hinter dem zentralen Motiv der Erzählung, den kleinen Fritz eben „das
|| 415 HKKA 4, 167. 416 HKKA 4, 167. 417 HKKA 4, 167. 418 HKKA 4, 167. 419 HKKA 4, 167. 420 Kaiser: Gottfried Keller, S. 316. 421 HKKA 4, 168. 422 HKKA 4, 167.
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werden zu [lassen, S.V.], was der Alte eigentlich sein sollte“423, zum Verschwinden gebracht wird. 4.2.2.3 Fritz Amrain: Sozialisation als Konfiguration Das Ansinnen des Textes, den Abgang einer aparten, jedoch moralisch unsteten Vaterfigur durch die Installation eines verbesserten ‚Nachfolgemodells‘ zu kompensieren, tritt angesichts der äußerlichen Ähnlichkeit, die der Knabe mit dem Vater, nicht aber mit Mutter oder Brüdern teilt, umso deutlicher hervor. Mit seinem sinnlichen Äußeren von „trotzig aufgeworfenen Lippen“424 und „goldenen Ringellocken“425 hebt sich der kleine Fritz optisch vom Rest der Familie ab und wird zum Ausgangspunkt eines Textexperiments, das angesichts der (vermeintlich) ererbten Anlagen des Jungen die Vereinbarkeit von Sinnlichkeit und einer rationalen Lebensführung verhandelt. Was Regel Amrain nach der Intervention ihres Jüngsten als ein „geheimnisvolle[s] Spiel der Natur“426 überrascht zur Kenntnis nimmt, ist, dass ihre Erwartung einer auch moralischen Ähnlichkeit des Kleinen mit seinem Vater nicht zutrifft, sondern im Gegenteil ein „Abbild“427 von diesem hervortritt, das sich als „wachsam, einfühlend und mutvoll“428 – und somit dem Original überlegen zeigt.429 Um als eine in jeder Hinsicht adäquate Ausbildungsinstanz für diesen vielversprechenden Jungen fungieren zu können, agiert Regel Amrain – zumindest temporär – als eine Zwitterfigur, nämlich eine weibliche Vaterfigur, die einem auf Nachahmung fokussierten Sozialisationsmodell trotz abweichender Geschlechtlichkeit gerecht zu werden hat: „denn sie erzog eigentlich so wenig als möglich und das Werk bestand fast lediglich darin, dass das junge Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete.“430 Durch die Verschränkung von Erziehungspraktiken mit in Flora und Fauna zu beobachtenden Wachstumsprozessen bestärkt der Text seine auf das Individuum projizierte Idee eines natürlichen ‚Wuchsmodells‘ und legitimiert sogleich rückblickend die rigorose Zurichtung
|| 423 HKKA 4, 168. 424 HKKA 4, 163. 425 HKKA 4, 167. 426 HKKA 4, 168. 427 HKKA 4, 168. 428 HKKA 4, 168. 429 Die Polarisierung der Figuren des jungen und des alten Amrains erinnert an die in den Züricher Novellen geführte Originalitätsdiskussion – allerdings unter den umgekehrten Vorzeichen eines dem Original überlegenen Abbilds. 430 HKKA 4, 169.
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der Regel Amrain-Figur, da „ihre Manieren und ihre Denkungsart“431 nun vorbehaltlos zur Nachahmung empfohlen werden können. Der Spagat zwischen geschlechtlichen Normen und der Kompetenzerweiterung einer Frauenfigur wird auf Erzählebene entschärft, indem Regel Amrain nicht etwa traditionell weibliche Obliegenheiten vernachlässigt, sondern diese im Geiste von Rationalität und Sachlichkeit verrichtet, so dass sich die alleinerziehende Mutter demonstrativ von der geräuschvollen Art anderer Hausmütter absetzt, ohne jedoch ihre geschlechtsspezifischen Pflichten zu negieren. Die Abneigung Regel Amrains gegen „die entsetzliche Wichtigthuerei und Breitspurigkeit, mit welcher die meisten guten Frauen die Lebensmittel und deren Bereitung behandeln“432, ist denn auch keine Herabwürdigung des Hausfrauenstandes, sondern Ausdruck ihrer Politik einer „Geringschätzung“433 von Nebensächlichem, so dass die strenge, aber frei von Überhöhungen oder Verteufelungen praktizierte ‚Staatsführung‘ Regel Amrains einen sensiblen Jungen heranwachsen lässt, dem es zur Korrektur inadäquaten Verhaltens kaum mehr bedarf als eines Verweises auf die „Lächerlichkeit und Unzweckmäßigkeit“434 des eigenen Verhaltens. Die Hybridfigur Regel Amrain weiß zudem mütterliche Zuneigung und väterliche Strenge zu vereinen, wobei sie einerseits „das Söhnchen ohne Empfindsamkeit merken ließ, wie sehr sie es liebte“435, ohne dabei jedoch „dessen freie Bewegungen […] zu hindern“436, während sie zugleich „derbe Ohrfeigen“437 erteilt, wenn es um die Sanktionierung von „Zeichen des Neides, der Mißgunst, der Eitelkeit, der Anmaßung, der moralischen Selbstsucht und Selbstgefälligkeit“438 geht. Als Resultat dieser praktizierten Symbiose von Emotionalität und Strenge wächst über die Jahre ein ansehnlicher junger Mann heran, der sich ganz im Geiste seiner ‚väterlichen Mutter‘ – und im eminenten Gegensatz etwa zum ebenfalls vaterlosen Pankraz – „von einer großen Selbstständigkeit und Sicherheit in allem, was er that“439, zeigt.
|| 431 HKKA 4, 169. 432 HKKA 4, 170. 433 HKKA 4, 169. 434 HKKA 4, 170. 435 HKKA 4, 169. 436 HKKA 4, 169. 437 HKKA 4, 171. 438 HKKA 4, 171. 439 HKKA 4, 173.
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4.2.2.4 Geschlechtertausch und ‚gender trouble‘: Ein Sohn im Kleid der Mutter Abgeschlossen ist das Projekt Mannwerdung damit jedoch nicht, denn aller Mustergültigkeit zum Trotz gilt auch für den zwischenzeitlich zum Geschäftsführer aufgerückten jungen Mann das Gleiche, was für (nahezu) alle zuvor untersuchten Männerfiguren in ähnlicher Weise gilt, dass nämlich „wenn eine Gefahr für ihn vorhanden wäre, auf den breiten Weg der Stadt zu tölpeln, diese Gefahr nur von Seiten der Damen von Seldwyla herkommen könne […].“440 So registriert Regel Amrain durchaus des Sohnes „dunkles Verlangen, sich unter den lustigen Damen von Seldwyl einmal recht herumzutummeln“441 und entsprechend auch die Gefahr, dass gerade auf sexuellem Gebiet die moralische Resistenz des jungen Mannes, der „mit allen Leuten umzugehen [weiß, S.V.], ohne ihre Art anzunehmen“442, auf eine ernste Probe gestellt würde. Allerdings rührt die Gefahr nicht etwa von weiblich-narzisstischen Verführungskünsten her, sondern im Gegenteil von der Person Regel Amrains selbst. Denn ausgerechnet das Erfolgsgeheimnis der vorliegenden Mutter-Sohn-Bindung, die Überwindung konventioneller Geschlechtergrenzen zugunsten einer auf allen Gebieten kompetenten Erziehungsinstanz, erweist sich in Bezug auf die sexuelle Identitätsfindung des jungen Mannes als problematisch, da die zweckmäßige ‚Zweigeschlechtlichkeit‘ der Mutter die inhärente Gefahr birgt, vom unerfahrenen Jüngling als Beleg frei definierbarer Geschlechtergrenzen missverstanden zu wird. Konkret zeigen sich diese, der tradierten Geschlechterlogik nach erwartbaren Irritationen einer verschiedengeschlechtlichen Sozialisationsanleitung am Abend einer Hochzeitsfeier, anlässlich derer sich die jungen Leute des Ortes verkleiden und Fritz auf die Idee bringen, als ein „Frauenzimmer“443 kostümiert auf dem Fest zu erscheinen. „Ohne Schlimmes zu ahnen“444 – denn genau hier lauert die Gefahr einer geschlechtlich uneindeutigen Identifikationsfigur –, wählt er das „schönste und beste Kleid“445, die „buntesten Toilettenstücke“446 und zu allem „Ueberfluß […] noch die Halskette der Mutter“447 aus, um anschließend „seinen blonden Kopf auf das Zierlichste“448 frisieren und „seine Brust mit einem
|| 440 HKKA 4, 174. 441 HKKA 4, 175. 442 HKKA 4, 173. 443 HKKA 4, 175. 444 HKKA 4, 176. 445 HKKA 4, 176. 446 HKKA 4, 176. 447 HKKA 4, 176. 448 HKKA 4, 176.
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sachgemäßen Frauenbusen“449 ausstaffieren zu lassen. Dass Kleider Leute machen und gerade in einem Fall von Geschlechtertravestie „die Sache […] doch nicht so recht in Ordnung sein“450 möchte, ahnt Fritz mit Ankunft auf dem Ball zwar, lässt sich aber „verschämt und verwirrt […] wie ein wirkliches Mädchen“451 vom Geschehen treiben, so dass das „böse Gewissen“452 des jungen Mannes einem inneren Zwiespalt und damit dem einstigen Ringen seiner Mutter in den Armen des Werksführers entspricht, wodurch beide Szenen zueinander in Bezug gesetzt werden. Folgerichtig ist es jetzt Regel Amrain, die in der Ahnung, dass ihr Jüngster „durch diese einzige Nacht auf eine entscheidende Weise auf die schlechte Seite verschlagen werden könne“453, das Hochzeitsgeschehen im Rathaus betritt und ihren Sohn schließlich in einem „tiefe[n] Gemach“454, das zudem nur „schwach erleuchtet“455 ist, vorfindet. Ebenso wie die uneinsichtige Höhle der Frau Litumlei oder Hildeburgs Geisterzimmer erscheint dieses Gemach als ein weiblich dominierter Gegenraum innerhalb eines mit patriarchaler Macht assoziierten Gebäudes. Denn ausgerechnet hier, wo institutionelle Ordnung hergestellt und gewahrt wird, tritt die ‚Heterotopie‘456 einer weiblich-hetärischen Gegenwelt hervor, deren vorrangiges Strukturmerkmal eine wechselseitig aufeinander bezogene Geschlechteranordnung darstellt, die eine Gruppe verheirateter Frauen in „einem engen Halbkreise“457 zeigt „und vor ihnen eben so viel junge Männer, die ihnen den Hof machten.“458 Die kreisförmige Anordnung dieser Gesellschaft von „hoffnungsreichem Verlangen“459 beschreibt eine nach außen geschlossene Ordnung, die umso bedrohlicher auf die heimliche Beobachterin wirkt, als dass sich inmitten der verheirateten Frauen ein „großes prächtig gewachsenes Wesen
|| 449 HKKA 4, 176. 450 HKKA 4, 176. 451 HKKA 4, 176. 452 HKKA 4, 176. 453 HKKA 4, 177. 454 HKKA 4, 178. 455 HKKA 4, 178. 456 Foucault bestimmt den Begriff der Heterotopie einerseits als einen Diskurstyp, verwendet die Bezeichnung ‚Heterotopien‘ jedoch auch in einem räumlichen Bezug – für „Räume, ‚die vollkommen anders‘ sind als die übrigen Räume eines funktional gegliederten Raumgefüges.“ Aus: Tobias Klass: Heterotopie [Art.]. In: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart/Weimar 2014, S. 263–266, S. 264. 457 HKKA 4, 178. 458 HKKA 4, 178. 459 HKKA 4, 179.
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von amazonenhafter Haltung“460 erhebt, welches munter Küsse mit den Nachbarinnen tauscht und sich auf den zweiten Blick als ihr jüngster Sohn zu erkennen gibt. Dass Regel Amrain nun den Zeitpunkt für gekommen hält, „wo sie ihrem Sohne den Dienst, welchen er ihr als fünfjähriges Knäblein geleistet, erwidern konnte“461, untermauert zum einen die Dringlichkeit eines korrigierenden Eingriffs, zum anderen (v)erklärt der von ihr zitierte Dienstgedanke die einst durch den Sohn initiierte Stilllegung der eigenen Sexualität rückblickend als eine dankenswerte Intervention. Beide Szenen kreisen somit um einen Dienstbegriff, der bei Lichte betrachtet eine Korrektur geschlechtlich ungebührlichen Verhaltens durch die Gegenseite meint und mit der Wahrung der sozialen Reputation der betreffenden Figur deren Eignung innerhalb einer übergeordneten ‚Restaurationsgeschichte‘ sicherstellt. Die Dringlichkeit des mütterlichen Einschreitens spiegelt sich in der Sorglosigkeit, mit der Fritz die Gefahren seiner Travestie – dass nämlich „soziale Zeichen […] in der Wahrnehmung über biologische Zeichen [dominieren]“462 – verkennt und die ernsten Blicke der Mutter allein auf den Zustand ihres Seidenkleides zurückführt, denn „[a]ndere Bedenken waren noch nicht ernstlich in ihm aufgestiegen.“463 Das wahre Ausmaß des Kostümierungsakts dämmert dem „jungen Republikaner“464 denn auch erst, als Regel Amrain sich das Geleit des Sohnes verbittet, da sie nicht „von einem Weibe will begleitet sein“465, und daheim das kompromittierte „Staatskleid“466, in dem der Sohn „unter liederlichen Weibern gesessen hat, selber einem gleichsehend“467, in unzählige Stücke reißt. Durch diesen Akt der rigorosen Vernichtung eines für sich genommen ehrenwerten Kleidungsstücks bezeugt sie den destruktiven Charakter einer Kostümierung des eigenen Geschlechts und erteilt dem Schutzbefohlenen eine Lektion in Bezug auf die Wirkmächtigkeit von Zeichen. Denn der Bezeichnung des Sohnes als ‚Weib‘ geht ein semiotisch durchaus stichhaltiges, weil streng syllogistisches Interpre-
|| 460 HKKA 4, 180. 461 HKKA 4, 180. 462 Michael Titzmann: Die ‚Bildungs-‘/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2002, S. 7–64, S. 55. 463 HKKA 4, 181. 464 HKKA 4, 181. 465 HKKA 4, 181. 466 HKKA 4, 182. 467 HKKA 4, 182.
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tationsverfahren voraus,468 das ausgehend von einer Regel (Frauen tragen Kleider) einen entsprechenden Fall (Fritz trägt ein Kleid) zu einer logischen Konklusion führt (Fritz ist eine Frau). Da Regel Amrain das Geschlecht ihres Sohnes nicht tatsächlich infrage stellt, mahnt sie ihn auf diese Weise daran, dass insbesondere das soziale Zeichen ‚Kleidung‘ mehr als eine bloß indexikalische Dimension (Verhüllung, Wärme) in sich trägt, nämlich sogar geeignet ist, „ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht.“469 Die konventionalisierte Zeichenhaftigkeit des mütterlichen Kleides ist demnach derart dominant,470 dass sie das zugehörige Verweisobjekt (Weiblichkeit) wider alle äußere Evidenz (Fritz ist ein Mann) in einen unmittelbaren Bezug zum Interpretanten zu setzen und folglich die von Regel Amrain sorgsam kultivierte Integrität des Sohnes zu desavouieren droht. Da zudem im bürgerlichen Geschlechterdiskurs mit der geschlechtlichen Bestimmung eines Individuums auf unverhandelbare Weise (‚heterosexuelle Matrix‘) auch dessen sexuelle Orientierung festgeschrieben wird, nährt das Bild des amazonenhaften Fritz Amrain den unterschwelligen Verdacht von homosexuellen Begehrlichkeiten. Denn wenngleich Fritz auf Darstellungsebene ganz im Gegenteil mit seinen Nachbarinnen Küsse tauscht, bleibt seine Travestie auf semiotischer Ebene ein folgenschwerer Akt, zumal bedingt durch diesen in vorliegender Szene zwei sich leidenschaftlich küssende ‚Frauen‘ zu beobachten sind. Diese latent homoerotischen Wirrungen – die ein realistischer Text erwartungsgemäß nicht durch Darstellung, sondern Implikation anmahnt – werden von Regel Amrain vergleichbar radikal angegangen wie einst die eigene Entsexualisierung durch den kleinen Fritz, indem sie durch die Vernichtung des Kleides im Jüngling noch vorhandene infantile bzw. uneindeutige Wesensanteile auf zeichenhafte Weise tilgt und somit in semiotischer Lesart eine Mannwerdung in Zeitraffer
|| 468 Vgl. exemplarisch hierzu etwa die Übertragung der triadischen Semiotik von Peirce auf die Figur des Wentzel Strapinski: Frank Habermann: Zeichen machen Leute. Semiose und Glück in Gottfried Kellers Kleider machen Leute. In: Glück paradox. Moderne Literatur und Medienkultur – theoretisch gelesen. Hg. von Anja Gerigk. Bielefeld 2010, S. 89–114. 469 Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übersetzt von Helmut Pape. Frankfurt am Main 1983, S. 64. 470 Was Titzmann in Bezug auf die Bildungs- bzw. Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit feststellt, beschreibt die Gefahr der unbedachten Travestie für Fritz: „In der sozialen Semiotik der dargestellten Welt gilt, daß ‚Kleidung‘ für die soziale und sexuelle Identifikation das relevantere Zeichen ist als ‚Gesicht‘ und ‚Gestalt‘.“ Aus: Titzmann: Die ‚Bildungs-‘/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit, S. 55.
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nachzeichnet. Mehr noch als das ‚verratene‘471 Staatskleid vernichtet Regel Amrain folglich die aus sozial weniger streng regulierten Kindertagen übrig gebliebenen nicht-männlichen Anteile in ihrem Jüngsten, wodurch Mannwerdung als ein Akt von Merkmalsselektion definiert wird.472 Das unbedachte Spiel mit den Geschlechtern birgt dabei nicht nur seiner Öffentlichkeit wegen einige Gefahr, auch die Protagonisten selbst und ihr Verhältnis zueinander bleiben von der Travestie des jungen Mannes nicht unberührt. Bezogen etwa auf die psychoanalytische Lesart einer ödipalen Mutter-SohnKonstellation erscheint der Griff in den mütterlichen Kleiderfundus als inzestuöse Annäherung an eine exklusiv für sämtliche Bedürfnisse des heranwachsenden Sohnes zuständige Mutterfigur. Die bisherige Politik des Textes der Regel Amrain-Figur gegenüber legt indes nahe, dass die wahrhaft destruktive Dimension des Kostümierungsaktes weniger in einer libidinös interpretierten Nähe zwischen Mutter und Sohn zu suchen ist, als vielmehr in einer von Fritz unbedacht in Gang gesetzten Dynamik, die die stillgelegte Sexualität Regel Amrains zu reaktivieren droht. Denn ebenso wie die mütterlichen Kleiderzeichen das gesellschaftliche Ansehen des jungen Mannes zu diskreditieren drohen, bringt jener in umgekehrter Weise die eigene Mutter in Gefahr, indem er die abwesende Frau vertreten durch ihre Kleider zeichenhaft hinabführt in die wollüstigen Tiefen des Seldwyler Rathauses. Dadurch nämlich, dass er im Gewand einer sittsamen und von erotischen Anwandlungen ‚gereinigten‘ Frau inmitten eines sexuell aufgeregten Zirkels debütiert, zwingt er seine Mutter in eine unerwartete Konfrontation mit dem Bereich von Sexualität und Erotik. Wenn jene zudem eingestehen muss, dass der Sohn im eigenen Kleid eine „trefflich[e]“473 Figur abgibt, zudem „ganz geschickt und reizend ausgeputzt“474 erscheint, weckt der Anblick des Sohnes || 471 „Die Aussage des Kleides ist verraten worden, denn ein Kleid soll der Wahrheit des Trägers entsprechen.“ Aus: Beatrice von Matt: Die Frauen scheiternder Männer bei Gottfried Keller und Robert Walser. In: Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser. Hg. von Ursula Amrein, Wolfram Groddeck und Karl Wagner. Zürich 2012, S. 95–108, S. 107. 472 Das Prinzip von Mannwerdung als symbolisch aufgeladene Tilgung von ‚wesensfremden‘, nämlich weiblich konnotierten Attributen begegnet ebenfalls in der etwa zur gleichen Zeit (1848–1878) entstandenen ‚Ring‘-Tetralogie Richard Wagners im Bilde der ‚Härtung‘ des Schwertstahls durch Siegfried. Auch Stephan beschreibt vor der Kontrastfolie ‚empfindsamer‘ Männlichkeitsentwürfe der vorbürgerlichen Literatur das sich ändernde Männerbild als einen „Prozeß der Verdrängung sogenannter weiblicher Anteile“. Aus: Inge Stephan: „Daß ich Eins und doppelt bin…“ Geschlechtertausch als literarisches Thema. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel. (Argument-Sonderband 96) Berlin 1983, S. 153–175, S. 165. 473 HKKA 4, 180. 474 HKKA 4, 180.
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Erinnerungen an vergangene Tage, in denen die Trägerin dieses Kleides noch nicht von sexueller Entsagung bestimmt wurde. Die Vernichtung des Kleides erneuert folglich nicht zuletzt auch die Absage an eigene sexuelle Begehrlichkeiten und stellt somit auf gleich zweifache Weise sicher, das mit Beendigung dieser Travestieepisode beide Protagonisten als (abermals) „gerettet“475 gelten können. Themen von Partnerwahl und Sexualität werden jedoch nicht durchweg negiert, sondern im Gegenteil gewissenhaft ‚organisiert‘, so dass Regel Amrain ihrer Funktion einer nunmehr ‚mütterlichen Vaterfigur‘ gerecht wird, wenn sie in patriarchalischem Duktus dem Sohne ihre Pläne zur ‚Paarbildung‘ vorstellt: Lieber Fritz! Sei mir jetzt nur noch zwei oder drei Jährchen brav und gehorsam, und ich will Dir das schönste und beste Frauchen verschaffen aus meinem Ort, daß Du Dir was darauf einbilden kannst!476 Dass Gefolgschaft und Gehorsamkeit mit einem ‚Frauchen‘ belohnt werden – dies zudem keine Option ist: „Du sollst aber eine haben!“477 –, bestätigt, dass Regel Amrain nicht der Idee einer emanzipierten Frauenfigur verpflichtet ist, sondern im Gegenteil patriarchale Ordnungsmuster bzw. Bilder verdinglichter Weiblichkeit reproduziert.478 Entsprechend bleibt auch der „Schatz“479, den Fritz zwar vor Ablauf der gesetzten Frist, dafür jedoch sehr zum Wohlgefallen seiner Mutter findet, ein konsequent namenloses ‚Ding‘, das als weiblicher Prüfstein dem Text ausschließlich dazu dient, nunmehr auch die „Klippe“480 der Partnerwahl als „glücklich umschifft“481 markieren zu können. 4.2.2.5 Autonomieverlust und Ohnmachtserfahrung als mütterliche Erziehungsmaßnahmen Mit der im Zeichen des Frauenerwerbs dokumentierten sexuellen Bewährung des jungen Mannes verlegt der Text den Fokus des Mannwerdungsprozesses auf den
|| 475 HKKA 4, 182. 476 HKKA 4, 183. 477 HKKA 4, 183. 478 Die Vehemenz, mit der Regel Amrain eine Familiengründung einfordert, hat einen durchaus handfesten Hintergrund, denn ebenso wie in einem bürgerlich-republikanischen Sinne der Mann „öffentlich zum Repräsentanten der gesamten Einheit Familie [wird], bedarf [er, S.V.] ihrer [...], um überhaupt Individuum und politisches Subjekt sein zu können.“ Aus: Claudia Bruns/Claudia Lenz: Zur Einleitung. Männlichkeiten, Gemeinschaften, Nationen. Historische Studien zur Geschlechterordnung des Nationalen. In: Männlichkeiten – Gemeinschaften – Nationen. Historische Studien zur Geschlechterordnung des Nationalen. Hg. von Claudia Lenz. Opladen 2003, S. 9–21, S. 17. 479 HKKA 4, 184. 480 HKKA 4, 184. 481 HKKA 4, 184.
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Bereich von Öffentlichkeit und Politik, um bürgerlich-liberale Tugenden abzuprüfen – denn es „sei einer so tapfer und resolut als er wolle, wenn er nicht vermag freisinnig zu sein, so ist er kein ganzer Mann.“482 Weil etwa „Zaghaftigkeit und Beschränktheit“483 als Ausweis des Konservatismus dem Textverständnis nach mit „wahrer Männlichkeit“484 schwerlich zu vereinen sind, tritt Regel Amrain nunmehr als Galionsfigur eines zeitgenössischen Liberalismus hervor und kritisiert die „kindische Manier“485 des Sohnes, sich der Komplexität politischer Meinungsbildung zu entziehen und stattdessen durch bloßes „Behaupten sich selbst zu betäuben“486. Der Erfolg dieser bewährten ‚Beschämungsstrategie‘ stellt sich zwar auch diesmal ein, allerdings gibt der inzwischen verlobte Fritz erstmals als Ursprung des eigenen Schamgefühls nicht mehr die Person der Mutter an, sondern deren Geschlecht, da ihn der berechtigte Spott insbesondere deshalb trifft, weil er einem „Frauenmund“487 entstammt. Unübersehbar sucht der junge Mann die Emanzipation gegen seine weibliche ‚Oberbehörde‘ und begibt sich zum Zwecke männlicher ‚Strukturübungen‘488 bzw. der eigenen Profilierung bevorzugt auf homosoziales Terrain. Denn obgleich als ein besonnener junger Mann bekannt, dürstet es auch diesen „hübschen jungen Burschen“489 nach einer „ersten Mutesäußerung“490 unter seinesgleichen, die ihn ins Seldwylsche Freischärlertum und des eigenen Übermuts wegen geradewegs in die unfreiwillige Obhut einer gegnerischen Kriegspartei führt. Was den jungen Geschäftsführer und seine Kumpanen hier ereilt, ist ein vollständiger Autonomieverlust, denn von den Gegnern überwältigt, „wurden sie von vorn und hinten betrachtet wie wilde Tiere“491 und „hatten […] nun nichts weiter zu thun als zu stehen oder zu gehen, wo und wie man ihnen befahl,
|| 482 HKKA 4, 185. 483 HKKA 4, 185. 484 HKKA 4, 185. 485 HKKA 4, 186. 486 HKKA 4, 186. 487 HKKA 4, 187. 488 Als eine Form von Sozialisation beschreibt die ‚Strukturübung‘ nach Bourdieu ein im gleichgeschlechtlichen Kontext praktiziertes Risikohandeln, durch welches die kompetitive Logik des männlichen Geschlechtshabitus eingeübt wird. Vgl. hierzu Michael Meuser: Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer. In: Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Hg. von Nina Bauer und Jens Luedtke. Opladen u. a. 2008, S. 33–44, S. 41. 489 HKKA 4, 189. 490 HKKA 4, 189. 491 HKKA 4, 193.
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hierhin, dorthin, wie es dem vielköpfigen Souverain beliebte“492. Die erfahrene Dehumanisierung, „seinen Leib dergestalt in der Gewalt verhaßter Menschen zu sehen“493, definiert Macht als Verfügungsgewalt über die Materialität eines anderen Körpers und führt die Seldwyler Männer einer erniedrigenden Verdinglichung zu. Nicht ohne Ironie bezahlen Fritz und seine übermütigen Mitstreiter ihr pubertäres Profilierungsstreben somit ausgerechnet mit dem Verlust dessen, was sie zu demonstrieren meinten und werden zu Opfern eines selbst verursachten Autonomieverlusts mangels adäquater Selbsteinschätzung. Wenn der Sohn Regel Amrains sich nun „im höchsten Grade niedergeschlagen“494 zeigt und durch den symbolischen Verlust mannhafter Insignien wie etwa seines „Schießprügel[s]“495 eine gefühlte Regression in den Reifegrad eines „Schulknaben“ 496 erfährt, bereitet der Text den Boden für eine Katharsis seines Protagonisten, der auf dem harten Grund des gegnerischen Lagers schon bald aus aller „bedachtlosen und fieberhaften Aufregung erwacht“497. Zusammen mit der Hybris dieses jungen Mannes entlarvt die Erzählinstanz jungmännliche Profilierungssüchte als ein wohlfeiles Mitläufertum, in welchem ein „jeder tanzt, wenn seine Geige gestrichen wird“498, das nun jedoch in schmachvoller Bildhaftigkeit an einem Futtertrog endet, wo die Freischärler „wie wilde Tiere […] Habermus und Erbsenkost aus einer hölzernen Bütte gemeinschaftlich essen“499 müssen. Dass Regel Amrain selbst in diesem Fall den nötigen Handlungsspielraum besitzt, um die Misere des Sohnes zu beenden, ist der finanziellen Not der siegreichen Nachbarsregierung geschuldet, woraufhin die gekränkte Eitelkeit der Sieger hintangestellt und stattdessen eine Freikaufoption für die übermütigen Freischärler ausgerufen wird. An diesem Punkt jedoch, an dem die Erlösung des Sohnes ein Leichtes wäre, zeigt sich die bis dato strenge, aber gütige Mutter von einer unerwartet rigiden Seite. Denn nicht genug, dass Fritz durch die festgelegte Auslösesumme zur Ware degradiert wird, ist es nun ausgerechnet Regel Amrain, die sich auf die Regeln des Kapitalismus besinnt und mit ihrer Rückkaufoption zu spekulieren beginnt, indem sie ihre Hilfe in der Erwartung zurückhält, dass alsbald eine Amnestie ausgesprochen werde, da die fremde Regierung die Freischärler gewiss „nicht unnütz zu füttern gedachte und jetzt keine eingehenden || 492 HKKA 4, 193. 493 HKKA 4, 198. 494 HKKA 4, 195. 495 HKKA 4, 194. 496 HKKA 4, 195. 497 HKKA 4, 195. 498 HKKA 4, 196. 499 HKKA 4, 198.
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Gelder mehr erwartete.“500 Durch diese wenig mütterlich erscheinende Maßnahme lehrt sie den übermütigen Sohn die Vorteile einer streng rationalen Sicht auf die Dinge und kehrt rundherum bestätigt mit einem unversehrten Jüngling und einer unberührten Bürgschaft heim. Dass sich der Text der positiv konnotierten Unkonventionalität der Regel Amrain-Figur zum Trotz schwertut mit dieser Synthese aus berechnender Rationalität und mütterlicher Fürsorge, zeigt sich darin, dass die ökonomischen Überlegungen der Alleinerziehenden männliche Vorstellungen von grausamer Mütterlichkeit provozieren und in ein Wiedersehen münden, das beinahe wie ein Triumph ‚mutterrechtlicher‘ Prinzipien anmutet: „Sie speiste und tränkte ihn, gab ihm neue Kleider […].“501 Der selbst verschuldete Autonomieverlust versetzt den jungen Mann zeichenhaft zurück in eine infantile Abhängigkeit und gibt den Blick frei auf eine Mutter,502 die auf des Sohnes Frage nach dem Warum „laut und lustig“503 auflacht, „wie er sie noch nie lachen gesehen.“504 Wenn Regel Amrain ihren Jüngsten abschließend küsst und „umhalst[]“505, erinnert diese Geste unweigerlich an die kleine Küngolt, die ebenfalls im Zeichen von Kuss und ‚Umhalsung‘ weibliche Fürsorge, aber eben auch den eigenen Lenkungsanspruch auszudrücken weiß. 4.2.2.6 ‚Maschinenkunde‘: Die Bewährung des Mannes im öffentlichen Raum Seinem Selbstverständnis nach der republikanischen Idee verpflichtet, reflektiert der Text seine Männlichkeitsideale auch auf politischer Ebene und propagiert einen Machtbegriff, der partizipatorisch fundiert ist und nach Mündigkeit und aktiver Teilnahme am gesellschaftlichen wie politischen Diskurs verlangt. Erwartbar jedoch stoßen die bevorstehenden Wahlen in politisch ruhigen und wirtschaftlich prosperierenden Zeiten auf wenig Interesse in Seldwyla und lassen auch den frisch gebackenen Familienvater Fritz Amrain in Selbstzufriedenheit mit sich und seinen ökonomischen Verhältnissen einen Verzicht auf sein Wahlrecht erwägen, zumal „die Maschine […] deswegen nicht stille stehen
|| 500 HKKA 4, 198. 501 HKKA 4, 198. 502 Wenngleich diese ‚Regression‘ eine unfreiwillige, nämlich durch äußere Umstände aufgezwungene ist, findet sich auch in dieser Szene das diesbezüglich prototypische Motiv des „Gehalten- und Genährtwerden[s]“. Vgl. David D. Gilmore: Mythos Mann. Rollen, Rituale, Leitbilder. München/Zürich 1991, S. 105. 503 HKKA 4, 199. 504 HKKA 4, 199. 505 HKKA 4, 199.
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[würde], wenn er schon nicht wähle.“506 Der frühe Gang zum Steinbruch am Wahltag ist denn auch weniger Ausdruck bürgerlichen Fleißes als vielmehr der einer möglichst geräuschlosen Meidung bürgerlicher Pflichten, so dass es wiederum Regel Amrain braucht, um die von Fritz zitierte ‚Maschine‘ in ihrer Komplexität kenntlich werden zu lassen und dem jungen Familienvater auf diese Weise die öffentlich-politische Dimension des Mannseins aufzuzeigen. Der Konflikt zwischen Erzieherin und (Noch-)Zögling wird vom jungen Familienvater abermals auf einer geschlechtlichen Ebene befeuert, denn dass die „Weibsleute“507 sich nicht mehr nur um „Begräbnisse und Kindertaufen […], [sondern, S.V.] so sehr um die Politik“508 kümmern, scheint dem jungen Mann aller Anerkennung der Mutter zum Trotz doch suspekt. So erwartbar, wie das „junge Weibchen“509 an der Seite des Mannes keinen Einfluss auf dessen Entscheidung zu nehmen vermag, zumal das politische Geschäft jenes „selber nicht viel kümmerte“510, so erwartbar interveniert Regel Amrain und beschämt den Hochmütigen mit einem versierten Vortrag in politischer Bildung. Auch auf diesem politischen Terrain zeigt sich die Regel Amrain-Figur im besten Sinne ‚väterlich‘ und weder den Willen nach persönlicher Einflussnahme durch einen konkreten Wahlauftrag an den Sohn, noch hält sie eine Rede zugunsten eines Wahlrechts für ihr Geschlecht. Vielmehr führt sie ihrem Jüngsten die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaftsordnung vor Augen und bezeugt eine für das 19. Jahrhundert nicht selbstverständliche Normierung von Politik, wenn es darum geht, „alle vier Jahre ein Mal sich pünktlich und vollzählig zu einer Wahlhandlung einzufinden, welche die Grundlage [des, S.V.] ganzen öffentlichen Wesens und Regimentes ist“.511 Ihr Wissen um die Funktionsweise eines partizipatorisch organisierten Rechtsstaates lässt sie die Gefahr einer Aushöhlung desselben erkennen, die gerade in ruhigen Zeiten in der Selbstgefälligkeit seiner Träger schlummert, denn wenn einer, „der immer nach seinem Rechte schreit, […] sobald dies Recht nur ein bißchen auch nach Pflicht riecht, sein Recht darin sucht, keines zu üben“512, wird das politische Selbstbestimmungsideal einer bürgerlichen Lebensweise ad absurdum geführt. Als eine qua Geschlecht und Herkunft zweifach Außenstehende legt Regel Amrain eine gedankliche Klarheit an den Tag, mit der sie ihre männliche Umwelt bei Weitem überragt, die jedoch in Anbetracht herrschender Geschlechter|| 506 HKKA 4, 201. 507 HKKA 4, 203. 508 HKKA 4, 203. 509 HKKA 4, 202. 510 HKKA 4, 202. 511 HKKA 4, 204. 512 HKKA 4, 204.
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normen einer Rechtfertigung bedarf, so dass die Protagonistin verpflichtet ist, ihre Kompetenz als Ergebnis einer Übertragung hausmütterlichen Wissens auf politische Diskurse zu diminuieren. Indem Regel Amrain ihre politische Weitsicht als das Resultat einer Projektion hauswirtschaftlicher Prinzipien verklärt, die sich der Verwandtschaft von öffentlichen und häuslichen Strukturen verdankt und infolgedessen „weniger politisch gemeint [ist], als gut hausmütterlich“513, kokettiert die „fürsichtige häusliche Großmutter“514 mit der eigenen Verständigkeit und entschärft zugleich das Irritationspotenzial ihres umfassenden Sachverstandes. So lässt der Text seine bürgerliche ‚Ausnahmefrau‘515 vorsorglich jeglichen Anschein eines alternativen Geschlechterkonzepts einfangen, um die aus der Not heraus geborene – und bloß temporär gewährte – Kompetenzerweiterung Regel Amrains keinesfalls als ein Votum für emanzipatorische Umtriebe erscheinen zu lassen. Davon abgesehen autorisiert und provoziert die Relevanz der „öffentlichen Dinge“516 die mütterliche Erziehungsbehörde und gesteht der Alleinerziehenden den umfangreichsten Sprechakt der Novellenhandlung zu. Umgestimmt von diesem Paradeeinsatz für Selbstbestimmung und Demokratie lernt der junge Republikaner Fritz Amrain bei seinem darauffolgenden, bedingt freiwilligen Wahlgang die „Hinterstübchen“517 des Seldwyler Politikbetriebs kennen, gegen die er mit einer spontanen Rede, die in ähnlicher Weise von der Kraft des beherzten und zur rechten Zeit geführten Wortes kündet wie der Vortrag des jungen Karl Hediger, erfolgreich zu opponieren weiß. Sein lautstarker Einspruch gegen die Vetternwirtschaft der wenigen Wahlgänger durchkreuzt deren hohles Ritual und revidiert das Ergebnis der zuvor ausgeklügelten Wahl, woraufhin der junge Mann aufgrund seines bürgerlichen Mitbestimmungsanspruchs „jetzt zum ersten Male wirkliche Feinde“518 hat. Die zuvor im Bilde der ‚Maschine‘ beschriebene Systematik des Gemeinwesens erweist sich als ein machtvolles Gebilde zur Regulierung und Hierarchisierung des sozialen Miteinanders, wobei Macht zuvorderst demjenigen zukommt, der zur Teilhabe an dieser Maschinerie berechtigt ist. Die Beeinflussung des Wahlausgangs durch nur eine einzige ‚Stimme‘ treibt
|| 513 HKKA 4, 207. 514 HKKA 4, 207. 515 In Bezug auf das bürgerliche Frauenbild bestätigt die hervorgehobene Sonderstellung Regel Amrains, dass eine solche „Grenzüberschreitung – der Schritt aus dem Haus in die gesellschaftlichen Aktionsräume bei gleichzeitiger Wahrung jener in sich selbst bestimmten Potentialität des Weiblichen – [...] allenfalls durch individuelle Kraftakte einzelner ‚Ausnahmefrauen‘ gelingen [kann] [...].“ Aus: Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 40. 516 HKKA 4, 207. 517 HKKA 4, 209. 518 HKKA 4, 210.
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das in einer partizipatorischen Gesellschaftsordnung viel zitierte Gewicht des Einzelnen auf die Spitze und vollendet die Mannwerdung des Fritz Amrain im Lichte seiner öffentlichen bzw. politischen Mündigkeit, so dass der an nur einem Wahltag zu staatstragender Verständigkeit gereifte Familienvater zwar mit „ernsten Gedanken“519, dafür jedoch erstmals ausdrücklich „in sein Haus“520 zurückkehrt, sich folglich des erfolgreichen Abschlusses eines paradigmatischen Initiationsprozesses rühmen kann.521 4.2.2.7 Die Heimkehr des Defizitären: Neuordnung und Korrektur Mit Fritz’ couragiertem Debüt auf öffentlichem Parkett darf das mütterliche Erziehungswerk zwar als erfolgreich vollendet gelten, die Restaurationsidee des Textes hingegen kann ihre Einlösung allein in einer gleichgeschlechtlichen Konfrontation finden, die eine ungekannt emotionale Regel Amrain unter Tränen verkündet: „Dein Vater ist wiedergekommen!“522 In Anbetracht ihres raumgreifenden Vortrages zu politischer Mitbestimmung und Bürgerpflichten fallen die Sätze der Alleinerziehenden mit dem Augenblick der Heimkehr ihres Gatten wieder merklich kürzer aus und lassen erahnen, dass zum Finale der Novelle das bis dato handlungsbestimmende Verhältnis von Mutter und Sohn endgültig hinter den unterschwellig stets präsenten Vater-Sohn-Vergleich zurücktritt. Als ein moralisch optimiertes Abbild findet sich Fritz in einem unmittelbaren Konkurrenzverhältnis zu seinem heimgekehrten Erzeuger wieder, der dem angerichteten Zweikampftableau gemäß wie ein Angreifer auf die ohne sein Zutun neu arrangierte Familien- und Betriebsorganisation empfunden wird, wenn er in den Worten Regel Amrains „mit Geberden dahergefahren [kommt], als ob er uns in Gnaden auffressen wollte!“523
|| 519 HKKA 4, 210. 520 HKKA 4, 210. 521 Was Tebben zum Initiationsmodell in Kellers Die mißbrauchten Liebesbriefe anmerkt, gilt ebenso für Fritz Amrain: „Seine Entwicklung vollzieht sich in vier Schritten: als Individuum, als Liebender, als pater familias und schließlich als Mitglied des demokratischen Staatswesens.“ Aus: Tebben: Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe, S. 155. 522 HKKA 4, 210. Die Heimkehr des Vaters ist ausdrücklich eine Heimkehr vom nordamerikanischen Kontinent, dessen Freiheits- bzw. Aufstiegsversprechen bei gleichzeitiger ökonomischer (kapitalistischer) Härte im Sinne eines ‚Glücks der Tüchtigen‘ ein gängiges Motiv in den Erzählungen Kellers markiert, wenn es um die Läuterung von ‚Taugenichtsen‘ geht: „Je verdorbener die Charaktere sind, desto länger müssen sie sich in Amerika aufhalten [...].“ Aus: Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus, S. 201. 523 HKKA 4, 210f.
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Gegen den früheren Patriarchen und nunmehr unkalkulierbaren Unsicherheitsfaktor eines eingespielten Hauses tritt dessen „junges Ebenbild“524 an, das in seiner Funktion als Gegenbild des Flüchtigen „festen Schrittes“525 und „hoch aufgerichtet“526 auf „den Alten“527 zusteuert und sich intuitiv den erwartbaren Kompetenzstreitigkeiten zwischen einem Original und seinem (besseren) Abbild stellt. Unmissverständlich nutzt der heimkehrende Mann den ersten Händedruck denn auch, um „seine große Kraft und Gewalt“528 zu belegen und dem neuen Geschäftsführer mit einem „prahlerischen Druck“529 die Wiederherstellung einer früheren Ordnung anzukündigen.530 Doch wie zuvor in den Geistersehern oder auch im Fähnlein der sieben Aufrechten zu beobachten, erweisen sich prahlerische Kraftdemonstrationen allzu leicht als Zeichen geistig-moralischer Defizite, so dass, prädestiniert durch die Symbiose von bürgerlicher Moral und effizienter Körperlichkeit, auch in diesem Fall der bürgerliche Mann seinem „wilde[n] und leichtsinnige[n]“531 Widersacher überlegen ist. Mit einem Händedruck nämlich, „daß die Gewalt wie ein Blitz in den Arm des Alten zurückströmte und den ganzen Mann gelinde erschütterte“532, beendet Fritz Amrain alle väterlichen Illusionen einer Rückkehr in frühere Strukturen und belegt, dass er die dereinst im gegnerischen Gewahrsam gelernte Lektion, dass Macht das ‚Bewegen-Können‘ von anderen (Körpern) meint, umfänglich internalisiert hat und nunmehr selbst respektvoll, aber entschieden den Platz des Vaters bestimmt, indem er „den Alten zu seinem Stuhl zurückführte und ihn mit freundlicher Bestimmtheit zu sitzen nötigte“533. Das räumliche Diktat, welchem der per Händedruck unterworfene ‚Alte‘ widerspruchslos Folge leistet, ist sinnbildlicher Ausdruck eines Kräftevergleichs, der in einem prototypischen Generationskonflikt seine äußere Form findet, wäh|| 524 HKKA 4, 211. 525 HKKA 4, 211. 526 HKKA 4, 211. 527 HKKA 4, 211. 528 HKKA 4, 211. 529 HKKA 4, 211. 530 Der heimkehrende Amrain erscheint angesichts der (naiven) Hoffnungen, die mit seiner Heimkehr unverkennbar verbunden sind, als „ein Schön-Seher und Schön-Redner seines eigenen Heimkehrens.“ Aus: Peter Utz: ‚Der schauende und denkende Fremdling‘. Traditionslinien der literarischen Heimkehr bei Keller und Walser. In: Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser. Hg. von Ursula Amrein, Wolfram Groddeck und Karl Wagner. Zürich 2012, S. 131–146, S. 139. 531 HKKA 4, 210. 532 HKKA 4, 211. 533 HKKA 4, 211.
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rend die Frage der sozialen bzw. moralischen Tauglichkeit der beiden Kontrahenten auf den ökonomischen Sektor projiziert wird, wo Verantwortungsbewusstsein und Solidität schwarz auf weiß in den Geschäftsbüchern des Steinbruchs dokumentiert sind. Akkurat geführte „Bücher und Papiere“534, die dem Heimkehrer mit „Verstand und Klarheit“535 unterbreitet werden, stehen einem väterlichen ‚Vermögen‘ entgegen, das in der Tradition eines Glücksritters verheißungsvolle Zeichen in Gestalt eines nicht unbeträchtlichen Barvermögens vorausschickt, faktisch jedoch aus nichts weiter als aus selbigem besteht, zumal der Heimkehrer wohlweislich verschweigt, „daß er diese Habe auf einmal durch irgend einen Glücksfall erwischt“536 hat und seine Barschaft entsprechend ohne Fundament ist. Im Unterschied hierzu kann der wirtschaftliche Erfolg des Hauses Amrain eine ‚Geschichte‘ vorweisen, die Nachvollziehbarkeit und Legitimation dokumentiert und dem zufälligen Gewinn des Vaters, geschehen irgendwo in den „nordamerikanischen Staaten“537, eine grundsolide Erwerbsmoral entgegenstellt. Hinzu kommt, dass die geschäftlichen Absichten des Heimkehrers nicht ökonomischen Zielen, sondern allein seinem Racheinstinkt gegen frühere Gläubiger dienen, so dass Fritz ohne jeden Überlegenheitsgestus, nämlich „bei aller Kraft doch in Unschuld und Bescheidenheit“538, dem Vater sprichwörtlich ein ganz „anderes Glas Wein“539 einschenkt. Die Position der häuslichen Autorität gebührt somit unverkennbar Regel Amrains Jüngstem, der den seinerzeit ohne Vorkenntnisse an den Steinbruch gelangten Vater höflich, aber doch mit paternalistischer Bestimmtheit darauf hinweist, dass er „das Werk nicht gelernt“540 hat und entsprechend „nicht versteht“541. Dieser in erzieherischem Gestus vollzogenen Aufkündigung einer früheren, vom alten Amrain vergeblich angerufenen Vater-Sohn-Ordnung hat der Heimkehrer nicht nur nichts entgegenzusetzen,542 er lässt sich im Gegenteil „von seinem wohlerzogenen Sohne nachträglich noch ein || 534 HKKA 4, 212. 535 HKKA 4, 212. 536 HKKA 4, 212. 537 HKKA 4, 212. 538 HKKA 4, 211. 539 HKKA 4, 213. 540 HKKA 4, 213. 541 HKKA 4, 213. 542 Die Verhinderung einer Rückkehr des Vaters in die Position des Geschäftsführers ist aus sozial-geschichtlicher Perspektive zudem motivierbar als eine metaphorisch verkleidete Absage an die drohende Wiederkehr von „restaurativen Kräfte[n] nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution [...].“ Aus: Yomb May: Die Leute von Seldwyla als Paradigma des bürgerlichen Realismus. In: Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja. Oxford u. a. 2007, S. 71–91, S. 83.
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bißchen erziehen und leiten ohne Widerrede“543. Fritz Amrain versöhnt als das bessere Original somit nicht nur die bürgerlichen Ideale des Textes, er schafft kraft seiner Mustergültigkeit gar die Voraussetzungen für eine Korrektur und Wiedereingliederung des im Zeichen eines verlorenen Sohnes heimkehrenden Vaters. Da die Vorbildfunktion des jungen Mannes unverkennbar Resultat mütterlicher Erziehungskünste ist, ist es auf Umwegen Regel Amrain selbst, die dem Gatten den Weg zur Besserung weist, dies den herrschenden Konventionen entsprechend jedoch nicht auf direkte Weise, sondern allein als eine qua Notstand legitimierte Funktionsfigur tun darf. 4.2.2.8 Rücktritt und Kostenabrechnung: Das Ende weiblicher Selbstbestimmung Obwohl sich eine Neuordnung häuslicher Hierarchien bereits im geschlechtlich akzentuierten ‚Wahlstreit‘ zwischen Mutter und Sohn abzeichnet, ist es maßgeblich die Rückkehr des Vaters, die das Ende der temporären Sonderrolle Regel Amrains sichtbar werden lässt. Sobald nämlich von diesem nach der Unterwerfung durch den eigenen Sohn und anschließender Eingliederung in die bestehende Hausordnung keine Gefahr mehr ausgeht, gilt Regel Amrains Projekt als endgültig abgeschlossen, so dass der Text seine Protagonistin in die Grenzen einer konventionell interpretierten Geschlechtlichkeit zurückführt und eine Frau zeigt, die sich beinahe wortlos darauf verlegt, den heimgekehrten Gatten „auf seine Weise zu ehren, indem sie ihn reichlich bewirtete und sich mit dem Vorweisen und Einschenken ihres besten Weines zu schaffen machte.“544 So relativiert sich das nüchterne Verhältnis Regel Amrains zu Kost und Bewirtung im Moment der Heimkehr des Gatten, dessen Präsenz emotionale, soziale wie auch rechtliche Dimensionen neu ordnet, indem sie auf eine nach wie vor bestehende Ehegemeinschaft samt zugehöriger Rechte und Pflichten verweist. Nachdem von der einst Familie und Besitz in einer Notlage zurücklassenden Vaterfigur zudem nicht länger „Nachteile oder Unehre“545 gegenüber „dem blühenden Hausstande“546 zu erwarten sind, hebt der Text seine geschlechterpolitische Notstandsgesetzgebung auf und lässt Regel Amrain in ihrer neuen alten Rolle „erst dies und jenes zu [des Gatten, S.V.] Bequemlichkeit“547 herrichten, um „sich endlich mit ihrem Strick-
|| 543 HKKA 4, 214. 544 HKKA 4, 212. 545 HKKA 4, 214. 546 HKKA 4, 214. 547 HKKA 4, 214.
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zeug schweigend ans Fenster“548 zu setzen. Die – gemessen an ihrem vorigen Wirkungskreis – zu beobachtende Schrumpfung der Hybridfigur Regula Amrain, deren Walten nun vorrangig im hauswirtschaftlichen Rahmen zur Darstellung kommt,549 wo sie zur Versorgung des Mannes flink „in die Küche huschte“ 550, wird ihren Verdiensten entsprechend nicht als bloße Rückführung in ein geschlechtsspezifisches Normenkorsett inszeniert, sondern als der „beste Lohn und Triumph für alle Mühsal“551 vorgestellt. Dennoch ist die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse signifikant, denn wo einst eine energische Frauenfigur Aufmerksamkeit erregte, weil sie in einem bedeutungsschweren Akt Textilien vernichtete, stellt sie nunmehr selbst welche her. Und wo zuvor rhetorisch geschickt auf alle Belange nicht zuletzt auch des öffentlichen Lebens Einfluss genommen wurde, herrscht nun Schweigen. So ist der Fensterplatz nicht zufällig gewählt, sondern Sinnbild einer Entwicklung, an deren Ende die zentrale Figur der Novelle in die Peripherie der dargestellten Welt entlassen wird, um hier bereitwillig einen Zuschauerplatz einzunehmen. Die Nobilitierung der Regel Amrain-Figur im Tode, untermauert insofern nicht nur die Singularität der Titelheldin, sie kündet zugleich von den Beschwerlichkeiten eines Lebens im Zeichen umfänglicher Funktionalisierung. So zeugt die Grablegung Regel Amrains, deren „edle Leiche“552 selbst im Tode noch derart stolz gestreckt erscheint, dass „ein so langer Frauensarg“553 nie zuvor in Seldwyla gesehen wurde, gleichsam von der Last dieser Streckung, die auf ein beständiges ‚Sich-lang-machen-Müssen‘554 im Dienste eines übergeordneten Projekts verweist. Da ein solcher Wuchs in die Höhe bzw. Länge in der Regel männlichen Figuren vorbehalten ist, spiegelt sich im Moment der Grablegung ein letztes Mal der geschlechtliche Hybridcharakter der Regel Amrain-Figur, die als Vorzeigeexemplar einer lebenslangen moralischen ‚Längung‘ gleichwohl in einem ‚Frauensarg‘ beigesetzt wird. Gedankt wird hier unter Anführung größtmöglicher Ehrbekundungen für ein weibliches Lebenswerk, das eine gestörte Männerordnung unter Aufgabe eigener
|| 548 HKKA 4, 214. 549 Bezogen auf den Subjektstatus der bis dato resolut agierenden ‚Oberbehörde‘, erinnert die Neupositionierung der Regel Amrain-Figur beinahe bildhaft an die von Horkheimer und Adorno beschriebene Dialektik der Aufklärung: „Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden [...].“ Aus: Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 298. 550 HKKA 4, 211. 551 HKKA 4, 211. 552 HKKA 4, 214. 553 HKKA 4, 214. 554 Vgl. Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 97.
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Sehnsüchte moralisch wie ökonomisch stabilisiert, bis diese als durch die Folgegeneration erfolgreich restauriert gelten kann. Entsprechend steht Regel Amrain für Funktion, nicht Emanzipation – und wird von der Erzählinstanz mit einem „Geblüt“555 geehrt, das „so kräftig in diesem Hause [wucherte], daß auch die zahlreichen Kinder des Fritz vor dem Untergang gesichert blieben.“556 Geadelt durch das von einer moralisch wie ökonomisch gesicherten Existenz kündende Diktum: „Sie lebten alle zufrieden und wohlbegütert“557, beschreibt Regel Amrain das Ideal ‚realistischen‘ Heldentums, welches nicht Heroismus ehrt, sondern das einfache Mitglied der Gemeinschaft, das an einem bestimmten Punkt aus der Reihe hervortritt, eine ihm zufallende Aufgabe meisterlich und zu aller Vorteil bewältigt und anschließend wieder geräuschlos ins Glied zurücktritt. Bei alledem erweist sich die Geschlechtlichkeit der Protagonistin als das zentrale Gestaltungsinstrument eines Textes, dem zumindest insofern eine emanzipatorische Stellungnahme ‚passiert‘, als dass Regel Amrains selbstbestimmte Art zwar keinen Emanzipationsakt gegen patriarchale Strukturen darstellt – diese im Gegenteil gar durchweg stabilisiert –, wohl aber die vermeintlich ‚natürliche‘ Entsprechung von biologischem und sozialem Geschlecht widerlegt. So steht Regel Amrains Wirken in augenfälligem Kontrast zur Idee der ‚Geschlechtscharaktere‘, deren Statuten nur dadurch aufrechterhalten werden können, dass der Text die Weiblichkeit – was nichts anderes meint als die Sexualität – seiner Protagonistin zugunsten einer temporären Vermännlichung stilllegt. Logik und Absicht dieser geschlechtlichen Merkmalshygiene verraten sich dabei selbst, denn wenngleich zu einer entsexualisierten Hybridfigur zurechtgewiesen, belegt die erfolgreiche Adaption männlicher Kompetenzen durch eine alleinerziehende Mutter, dass die (sozialen) Grenzen des weiblichen Geschlechts selbst in der Darstellung eines bürgerlichen Textes nicht als Resultat geschlechtlicher Inkompetenz, sondern als Ausdruck gesellschaftlicher Normen erscheinen. Das wahrhaft subversive Potenzial der vielfach ihres (vermeintlich) emanzipierten Anspruchs wegen zitierten Regel Amrain-Figur erschließt sich folglich nicht in der zeitlich begrenzten Ausübung männlicher Befugnisse und Kompetenzen, sondern darin, dass ihre Funk-
|| 555 HKKA 4, 214. 556 HKKA 4, 214. Im ‚Wuchern‘ des Amrainschen Geblüts in der Nachfolge Regel Amrains identifiziert Kreienbrock ein metaphorisches Changieren des Textes zwischen Ernst und Ironie, von der ausgehend das erfolgreiche Wirtschaften der Familie gleichermaßen als eine wucherartige Geldvermehrung zu verstehen ist, woraus folgt, dass es im Kreditparadies Seldwyla „keinen Unschuldigen [gibt], niemand, der sich dem Schuldenverkehr entziehen könnte.“ Aus: Kreienbrock: Das Kreditparadies Seldwyla, S. 128. 557 HKKA 4, 214.
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tionalisierung Zeugnis davon legt, dass und in welchem Maße ‚Geschlecht‘ Abbild von (männlicher) Machtpolitik – und nicht Biologie ist.
4.2.3 Exkurs: Ein Kauz. Ein Husar. Ein Marschall. ‚Entweiblichung‘ als Preis weiblicher Selbstversorgung in Der Landvogt von Greifensee Konturiert werden soll das am Beispiel Regel Amrains aufgezeigte Motiv einer zwangsweisen ‚Entweiblichung‘ bzw. Entsexualisierung von Frauengestalten, die durch lebensweltliche Umstände zur Annahme männlich konnotierter Tugenden und Kompetenzen gezwungen sind, am Beispiel eines vergleichbaren Frauenschicksals aus den Züricher Novellen. Hier tritt in der Novelle Der Landvogt von Greifensee eine im Vergleich zur stets dezent agierenden Steinbruchinhaberin deutlich geräuschvollere Frauengestalt hervor, die sich ebenfalls in einer Männerwelt zu behaupten weiß und ähnlich wie Regel Amrain offenkundig einen Preis für ihre Courage zu zahlen hat – denn sie „war die seltsamste Käuzin von der Welt, wie man um ein Königreich keine zweite aufgetrieben hätte.“558 Diese „Frau Marianne“559 war indes nicht immer eine ‚Käuzin‘, sondern in Jugendtagen eine ihrer „wohlgebildeten Leibesgestalt“560 wegen vielbegehrte junge Frau, die sich entschieden gegen allzu offensive Zudringlichkeiten zur Wehr zu setzen weiß und etwa einen gestandenen Offizier in die Schranken weist, indem sie dessen Degen auf symbolträchtige Weise in zwei Teile bricht. Entsprechend selbstbestimmte Wege geht die resolute Frau auch in Bezug auf ihre Partnerwahl, die auf einen „hübschen Studenten“561 fällt, dem sie wie in Umkehrung üblicher Zuschreibungen insbesondere seines attraktiven Äußeren wegen ihre Gunst schenkt. Diesem „schönen Studenten“562 lässt der Text die junge Marianne bis an die Kriegsfront folgen, wo sie sich derart „thätig und geschickt“563 zeigt, dass sie genug Geld zu erwirtschaften weiß, „um ihrem Manne ein bequemes Leben zu bereiten“564. Doch auch Mariannes wehrhafte Natur wird auf geschlechtlicher Ebene ‚eingepreist‘, insofern der „tapfere[n] Tirolerin“565 trotz ihrer unkonventionellen Er|| 558 HKKA 6, 150. 559 HKKA 6, 149. 560 HKKA 6, 150. 561 HKKA 6, 150. 562 HKKA 6, 150. 563 HKKA 6, 151. 564 HKKA 6, 151. 565 HKKA 6, 150.
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nährerfunktion zwar ein gleich neunfaches Mutterglück beschieden ist, die Nachkommen jedoch allesamt nach kurzer Zeit sterben, so dass es scheint, als führe der Text das periodische ‚Mutterwerden‘ allein deshalb an, um das Marianne nicht vergönnte ‚Muttersein‘ umso deutlicher zu akzentuieren. Nachdem im Zuge dieses textinternen Reproduktionsverbots der resoluten Frau über die Jahre „Jugend und Schönheit entflohen waren“566, wendet sich der Nutznießer ihrer Versorgerqualitäten, dem es schlicht „zu wohl geworden [war, S.V.] in ihrer Pflege“567, verächtlich von seiner nunmehr auch äußerlich gezeichneten Gattin ab. Mit dem frühen Tod eines jeden Kindes wie auch dem Verlust des Gatten forciert der Text die Stilllegung weiblicher Geschlechtlichkeit und gliedert die verlassene Frau zum Zwecke der Selbstversorgung in eine männlich geordnete Welt ein. Hier bewährt sich das „hermaphroditische Wesen“568 als resolute Wirtschafterin in einem Junggesellenhaushalt, wo sie als eine geschlechtlich ‚entkernte‘ Figur mehr „einem alten Husaren, als einer Wirtschaftsdame“569 gleichend für Ordnung sorgt und „das Gesinde und die Ackerknechte mit unnachsichtlicher Strenge“570 führt, ganz so, als sei sie nun in jenem Kriegsgeschehen angekommen, das sie zuvor als Frontköchin nur mittelbar betreten durfte. Die Spuren ihres früheren Lebens schimmern nurmehr episodisch in nostalgisch-emotionalen Rückkopplungen hervor, da die am Beispiel ihrer „heimgegangen Kinder“571 zeichenhaft vollzogene Tilgung weiblicher Sexualität und Geschlechtlichkeit („Mein Leib schläft unten im stillen Kraut!“572) unwiderruflich ist und es in ihrem neuen Leben als Anführerin eines kleinen Arbeiterheeres keinen Raum gibt für jede noch so stille „Sehnsucht, ein Gewisses wiederzusehen“573. Die Ausradierung potenziell destabilisierender (weiblicher) Wesensanteile generiert ebenso wie im Falle Regel Amrains einen Vertrauensvorschuss innerhalb einer patriarchalisch strukturierten Welt und führt konkret dazu, dass der angesehene Landvogt seiner Wirtschafterin „bald die Führung seines gesamten Hauswesens
|| 566 HKKA 6, 151. 567 HKKA 6, 151. 568 Iris Denneler: Von Namen und Dingen. Erkundungen zur Rolle des Ich in der Literatur am Beispiel von Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Max Frisch, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, Vladimir Nabokov und W.G. Sebald. Würzburg: 2001, S. 74. 569 HKKA 6, 151. 570 HKKA 6, 151. 571 HKKA 6, 155. 572 HKKA 6, 153. 573 HKKA 6, 153.
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ohne Rückhalt überlassen konnte.“574 Die Übertragung hierarchischer Kompetenzen richtet sich nicht zufällig an eine Frauengestalt, deren Äußeres wie als Beleg einer (geschlechts-)untypischen Wesensart und in Analogie zu den strengen Gesichtszügen der Frau Amrain von einer „Hakennase“575 mitsamt einer „Oberlippe, auf welcher ein schwärzlicher Schnurrbart lag“576, dominiert wird. Weil sie zudem „fluchte wie ein preußischer Wachtmaster“577 und „wie ein Marschall“578 über Tafel und anwesende Gäste wacht, findet der Text in der herben Marianne, die nicht selten auftritt, „als ob sie die Herrin wäre“579, genau den weiblichen Gegenentwurf, den es braucht, um die zentrale Frauenwahl des Landvogts, die mehr eine Frauenschelte ist, zu konturieren. Als eine von zwei vermeintlichen Heiratskandidatinnen nämlich – von denen die ‚Andere‘ ein verkleideter Junge ist –, dient die „verwitterte Landfahrerin“580 als eine durch Alter und Schicksal ‚entweiblichte‘ Frauenfigur maßgeblich der Provokation ihrer anwesenden Geschlechtsgenossinnen.581 Als Gegenentwurf zu weiblichen Idealen von „Jugend und Schönheit“582 wird „die alte Rassel“583 einer Gruppe schöner Wahlfrauen vorgeführt, die wiederum durch ihre Reaktion auf diese absonderliche Heiratskandidatin in der eigenen Unfähigkeit, den umworbenen Landvogt zu ihrer Zeit an sich gebunden zu haben, vorgeführt werden, so dass Frau Marianne zusammen mit einem verkleideten Knaben als Katalysator einer umfassenden Frauenschelte instrumentalisiert wird. So erscheint auch Mariannes geschlechtliche Ausnahmestellung im Zeichen einer Mehrfachfunktionalisierung, die wie im Falle Regel Amrains auf eine ‚Entweiblichung‘ zugunsten eines erweiterten Kompetenz- und damit auch Funktionsumfangs verweist und die betreffende Frauenfigur ‚klassische‘ Männertugenden an den Tag legen lässt. Dem entspricht, dass Marianne nach einem auszehrenden Leben „von Arbeit und Pflichterfüllung“584 im Geiste preußischer || 574 HKKA 6, 151. 575 HKKA 6, 226. 576 HKKA 6, 226. 577 HKKA 6, 151. 578 HKKA 6, 235. 579 HKKA 6, 235. 580 HKKA 6, 245. 581 Vgl. Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 159. Hier heißt es über Marianne: „Alle weiblichen Eigenschaften, die die bürgerliche Frau bewahren soll, musste sie ablegen, um mit der Entwicklung männlicher Eigenschaften – Standfestigkeit, Entscheidungsstärke, Askese – in der Gesellschaft zu bestehen.“ 582 HKKA 6, 245. 583 HKKA 6, 242. 584 HKKA 6, 248.
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Arbeitsmoral und beständiger Selbstregulierung ein Begräbnis zu Teil wird, das wiederum eine zeichenhafte ‚Längung‘ als Ausdruck von Anerkennung, aber auch Mühsal anführt und dem Sarg der Husarin „ein Grabgeleite wie einem angesehenen Manne“585 folgen lässt. Entsprechend widerlegen beide Frauenfiguren angesichts der beschriebenen Erweiterung von Kompetenzen und Zuständigkeiten zwar die Idee eines biologischen Determinismus in Bezug auf das ‚soziale‘ Geschlecht, dürfen allerdings nur insoweit sanktionsfrei konventionelle Geschlechtergrenzen überschreiten, wie es der Stabilisierung oder auch Organisierung männlicher Lebenswelten dienlich ist. Der Übertragung entsprechender Privilegien ist zudem stets ein Akt von ‚Merkmalshygiene‘ vorgeschaltet, der eine Entweiblichung der betreffenden Protagonistin einfordert, um einem Missbrauch männlicher Attribute vorzubeugen. Auf diese Weise können männliche Charakterzüge in ihrer geschlechtlichen Exklusivität erhalten werden, da sie nur dann an Frauengestalten entliehen werden, wenn diese im Gegenzug auf eine ‚weibliche‘ Lebensführung verzichten.
|| 585 HKKA 6, 248.
5 Männliche Schöpfungsphantasien: Zur Modellierung des weiblichen Geschlechts Ausnahmslos haben sich in den bislang untersuchten Texten weibliche Figuren als primär durch in Art und Umfang differierende Funktionsbestimmungen konstituiert erwiesen. Um Praxis und Intentionalität dieser permanenten Funktionalisierung des weiblichen Geschlechts mit Blick zurück auf deren Urheber zu analysieren, werden im Folgenden drei äußerst verschiedene Frauenfiguren gezeigt, die jedoch allesamt der Profilierung und Stabilisierung männlicher Selbstwahrnehmung dienen.
5.1 Vom Drachen zum ‚Tierchen‘: Die arme Baronin 5.1.1 Der Drachenkampf: Weibliche Selbstversorgung als Provokation Die Erzählung Die arme Baronin aus dem Sinngedicht weist mit Blick auf die zuvor beschriebene ‚Nutzbarmachung‘ des weiblichen Geschlechts alle Züge einer männlichen Domestizierungsphantasie auf: In der Hauptrolle eine verarmte, aber eigenständige Adlige, die wehrhaft ihre ökonomische und auch soziale Unabhängigkeit gegenüber einer Männerwelt verteidigt. Dass einer solchen Frauenfigur innerhalb einer maßgeblich durch die männliche Versorgerfunktion sich legitimierenden Welt etwas per se Bedrohliches innewohnt,1 erlebt der junge Brandolf bei einer unachtsamen Kollision mit der Baronin, deren „zornrote[s] Gesicht“2 ebenso wie ein präzise ausgeführter Messerhieb gegen den Schuhabsatz des jungen Mannes keinen Zweifel an der Natur dieser Bekanntschaft lassen. Von den Nachbarn über Person und Geschäftsmodell dieses „Teufel[s]“3 aufgeklärt, erfährt der junge Rechtsgelehrte, dass die Baronin ihren Lebensunterhalt durch die Vermietung eines Zimmers bevorzugt an junge Männer und der anschließenden Vergällung derselben unter Berechnung einer stattlichen Summe für die vorzeitige Beendigung des Mietverhältnisses verdient. Derjenige nämlich, der „in die aufgestellte Falle dieser Miete ging, der durfte in seiner Stube nicht rauchen, nicht auf dem prunkhaften Sofa liegen, nicht laut umhergehen, […] nicht im || 1 Muschg etwa merkt diesbezüglich an: „Frauen, die sich weder versorgen lassen noch Versorgung verheißen, haben, grob gesprochen, auch keinen Bildungswert mehr.“ Muschg: Gottfried Keller, S. 82. 2 HKKA 7, 132. 3 HKKA 7, 133. https://doi.org/10.1515/9783110630992-005
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Schlafrock oder gar in Hemdsärmeln unter das Fenster liegen“4, so dass die Geschäftspraxis dieser gestrengen Frau darin besteht, jegliche Sinnesfreuden aus ihren Wänden zu verbannen, um in dieser unwirtlichen Umgebung ein „menschenfeindliches und räuberisches Wesen“5 zu kultivieren. Wenn demgegenüber der junge Brandolf, der sich durch „eine rechte Sehnsucht, sich mit schlimmen Käuzen herumzuzanken und sie ihrer Tollheit zu überführen“6, auszeichnet, einen geradezu missionarischen Gerechtigkeitseifer zeigt, ist absehbar das Tableau bereitet, um die männliche Lust, „die Dame in ihrem eigensten Wesen an der Kehle zu packen und ihr den Kopf zurechtzusetzen“7, auszuagieren. Der Eifer des jungen Rechtsgelehrten zeigt sich zudem biblisch bzw. mystische überhöht, schreitet dieser doch fortan „an der Pforte der Baronin wie an einem verschlossenen Paradiese vorbei, in welches einzudringen und mit dem hütenden Drachen zu streiten er sich herzlich sehnte.“8 Die zwanghaft anvisierte ‚Penetration‘ dieses provozierend männerfeindlichen Raumes, die dem männlichen Subjekt einen Drachenkampf verheißt,9 den zuvor so viele zwar nicht mit Leib und Leben, wohl aber mit einem tiefen Griff ins Portemonnaie bezahlen mussten, meint nichts anderes als die Okkupation eines durch weibliche Hand pervertierten Raumes, in Gestalt dessen bürgerliche Rechtsgüter (Wohneigentum) für eine moralisch fragwürdige Existenzsicherung missbraucht werden. Doch schon mit Eintritt Brandolfs in das Mietverhältnis und Haus sät der Text erste Zweifel an der Natur des dort hausenden Drachens, indem er sämtliche Räume mit einem edlen Interieur ausstattet, das von einer ehrbaren Herkunft und tadellosen Haushaltung zeugt. Die „Zerbrechlichkeiten“10, die Baronin Hedwig von Lohausen in ihren vier Wänden hütet, lassen das Bild eines Drachens wider Willen entstehen, der wie zum Schutze seines Geheimnisses stets „das verhüllende Tuch um Kopf und Hals geschlagen“11 trägt und damit nicht zuletzt auch
|| 4 HKKA 7, 133. 5 HKKA 7, 133. 6 HKKA 7, 134. 7 HKKA 7, 134. 8 HKKA 7, 135. 9 Der anstehende ‚Drachenkampf‘ als eine vorrangig von der Phantasie des Protagonisten befeuerte Bildlichkeit steht in Diskrepanz zur realweltlichen ‚Mächtigkeit‘ der Baronin. Ein Missverhältnis, das etwa Virginia Woolf in Hinblick auf die abendländische Kultur generell beschrieben hat: „Im Reich der Phantasie ist sie [die Frau, S.V.] von höchster Bedeutung; praktisch ist sie völlig unbedeutend.“ Aus: Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein. Aus dem Englischen übersetzt von Renate Gerhardt. Berlin 1978, S. 41. 10 HKKA 7, 137. 11 HKKA 7, 136.
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weibliche Signalreize vor dem männlichen Blick versteckt. Mit der Verhüllung körperlicher Attribute verschwindet in einer auf entsprechende Reize fixierten Männerwelt auch der Rest dieser Frauenfigur, die nunmehr wie ein „böser Geist“12 umherirrt und selbst ihre tadellose Haushaltung wie von einem „unsichtbaren Geiste“13 verrichtet erscheinen lässt, der in Momenten der Sichtbarkeit „an einen Nonnenkopf in einem altdeutschen Bilde, zu welchem eine etwas gesalzene und kummergewohnte Frau als Vorbild diente“14, erinnert. Je offensichtlicher der junge Rechtsgelehrte, der „ein reicher und unverheirateter studierter Mensch“15 ist, sich müht, den „Unhold“16 aus seiner „Höhle hervorzulocken“17, desto eindringlicher bestätigt sich der Eindruck einer männlichen Zähmungsphantasie, zumal „der Teil der Wohnung, wo sie haus’te, immer unzugänglich und verschlossen blieb“18 und als ein räumliches Sperrgebiet der „kapuzenähnlichen“19 Verhüllung der Frau korrespondiert. Diese Korrelation von Raum und Person schreibt der Text durchgängig fort, so dass etwa die Küche der Alleinversorgerin als Metapher einer ‚verhinderten‘ Innerlichkeit erscheint, da hier zwar alles „mit sauberem Geräte ausgestattet schien; aber kein Zeichen bekundete, daß dort gefeuert und gekocht wurde.“20 So überrascht der Text seinen kampfeslustigen Protagonisten mit der Entdeckung, dass in der Küche der Baronin alles in vorbildlicher Weise geordnet ist, wodurch die demonstrative Nicht-Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten den Eindruck einer ausgeuferten Entsagungskultur („Von was nährte sich denn die Frau?“21) befeuert und den jungen Brandolf ermuntert, seine diesbezüglichen Phantasien zu intensivieren.
5.1.2 Entsagung als Selbstverleugnung des weiblichen Geschlechts Die propagierte Unterwerfung eines vermeintlich unmoralischen und widerständigen Drachens gibt sich zusehends als ein männliches Rückführungsunterfan-
|| 12 HKKA 7, 133. 13 HKKA 7, 137. 14 HKKA 7, 139. 15 HKKA 7, 136. 16 HKKA 7, 133. 17 HKKA 7, 137. 18 HKKA 7, 139f. 19 HKKA 7, 138. 20 HKKA 7, 140. 21 HKKA 7, 140.
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gen zu erkennen, das sich darin gefällt, eine gefallene – nämlich von ihrer geschlechtlichen ‚Bestimmung‘ abgefallene – Frauenfigur in konventionelle Bahnen zurückzulenken. Folgerichtig wandelt sich die Meinung des Rechtsgelehrten, der die ständige Entbehrung als „Quelle ihres Verdrusses“22 ausmacht und sich seiner ökonomischen Vorteile bedient, um sein Projekt unter Anführung diminuierender Bildlichkeiten neu zu justieren, wenn er etwa die Reste seines Frühstücks als offenkundig einzige Nahrungsquelle der Hausherrin nach Gutsherrenart rationiert, um mit Interesse ihre Reaktion zu beobachten und anbei „die wilde Katze […] gegen ihren Willen ein bißchen zu füttern […].“23 In diesem Bilde wird der Bereich von Ökonomie unmittelbar der Realisierung persönlicher – und damit implizit auch geschlechtlicher – Autonomie vorgeschaltet und sorgt ganz ohne Kampf dafür, dass ein gefürchteter Drache zu einer „arme[n] Kirchenmaus“24 wird, die zudem wie in geheimer Sehnsucht nach ‚Erlösung‘ in unbeobachteten Momenten ein stilles „Heimweh“25 an den Tag legt, das nicht vorrangig einen Ort, sondern vielmehr die „Abwesenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung“26 betrauert. Wie bei der um ihren verunglückten Sohn trauernden Forstmeisterin oder auch der gleich neunfach um ihr Muttersein gebrachten Marianne zu beobachten, zeigt sich die ‚Wahrheit‘ auch dieser Frauenfigur in einer kurzzeitig auflodernden Sehnsucht, die von Schmerz und Entsagung kündet und demgemäß eine Einladung an den Protagonisten ausspricht, eine in Entbehrung verlorene Frauengestalt „dem Gelüste“27 ihres Geschlechts wieder anzunähern. Denn weil die „sonderbare Wirtin“28 in ihrem unwirtlichen „Malepartus“29, der sich abermals als Behausung einer abtrünnigen Figur verrät,30 aus eigener Kraft weder willens noch fähig zur Umkehr scheint, bedarf es eines umfänglichen Läuterungsprozesses, der seine Legitimation in der autoaggressiven Lebensfeindlichkeit der weiblichen Hauptfigur findet. So korrespondiert der folgende Wintereinbruch der inneren Kälte einer Frau, die eingedenk ihrer Weigerung, die
|| 22 HKKA 7, 140. 23 HKKA 7, 141. 24 HKKA 7, 141. 25 HKKA 7, 141. 26 HKKA 7, 142. 27 HKKA 7, 143. 28 HKKA 7, 143. 29 HKKA 7, 142. 30 Auch der Narr Buz Falätscher wohnt in einem ‚Malepartus‘, das von Lebensfeindlichkeit gekennzeichnet ist und zur Falle für andere wird, die nur „mit Not den Mauern und der Gefahr entrannen.“ HKKA 6, 138.
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eigenen Räume zu heizen, „ersichtlich immer blasser, spitziger und matter“ 31 wird und gar den Eindruck vermittelt, „wie wenn sie sich so recht vorsätzlich aufreiben wollte.“32 Waren die Nöte weiblicher Existenzsicherung eingangs im Zeichen unterschwelliger Männerfeindlichkeit verhandelt worden, beschreibt der Text diese nunmehr als Resultat weiblichen Selbsthasses und führt diesbezüglich eine Raummetaphorik an, die Angstbilder von destruktiver Weiblichkeit bedient – denn das „tiefe und düstere Zimmer [der Baronin, S.V.], dessen kahle Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren“33, erweist sich als ein durch und durch „vertracktes Loch!“34 Lustphantasien von in tiefen und dunklen Gemächern hausenden, sexuell herausfordernden Frauenfiguren werden hier mit dem Zerrbild einer vollständig erkalteten Weiblichkeit konterkariert, die mehr noch als das männliche Geschlecht die eigene Existenz bedroht. Die ‚Höhle‘ der Baronin dient dem Text folglich nicht als Metapher einer weiblichen Falle, sondern einer in sich selbst gefangenen Weiblichkeit, deren Abtrünnigkeit es zu korrigieren gilt. Mit Blick auf die ewig schläfrige Frau Litumlei bestätigt sich zudem, dass, egal wie unterschiedlich die betreffenden Frauenfiguren auch sein mögen, metaphorische Inszenierungen von weiblich konnotierten ‚Höhlen‘ zuverlässig eine Reaktion des männlichen Betrachters provozieren.
5.1.3 Die Geburt des ‚Tierchens‘: Krankheit und Todesnähe im Zeichen männlicher Schöpfungsphantasien Hedwig von Lohausen wird denn auch auf äußerst subtile Weise an den ihr zugedachten Platz gemahnt, indem ihre Selbstkasteiung als Beleg einer entgleisten, buchstäblich krank machenden Leugnung des eigenen Geschlechts gewertet wird, so dass diese vermeintliche Existenzverfehlung nicht mit Gewalt korrigiert zu werden braucht, sondern ihr geschwächter Körper diese Korrektur zwecks Selbsterhalt geradezu einfordert. Die der Baronin zugedachte lebensgefährliche Erkältung erfüllt dabei nicht allein die Funktion einer körperlichen Revolte gegen eine verfehlte Wesens- und Lebensart, sie entkleidet zugleich die verhärtete und stets verhüllte Frau ihres zeichenhaften Panzers und zeigt jene erstmals im weiblichen ‚Originalzustand‘, wenn nunmehr eine „schmale, feine Gestalt […] durch
|| 31 HKKA 7, 145. 32 HKKA 7, 145. 33 HKKA 7, 146f. 34 HKKA 7, 148.
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die Decke hindurch“35 sich abzeichnet und insbesondere das „nußbraune Haar“36 den männlichen Blick auf sich zieht. Der furchtlose Drachenbezwinger Brandolf, seines Zeichens „ein etwas wähliger reicher Muttersohn“37, erkennt zwar die Gunst der Stunde als unverhoffte Chance für den „Abschluß seines Abenteuers“38, fühlt sich jedoch angesichts der Schwäche der erkrankten Frau alsbald wie ein „Weibe, dem das Kind erkrankt ist“39. Die folgende Transformation eines längst als ein verborgenes „Aschenbrödel“40 erkannten Drachens in „ein sanftes Wollschäfchen“41 führt die wehrhafte Baronin in eine zeichenhafte wie konkrete Todesnähe, mit deren Hilfe als destruktiv identifizierte Wesensanteile in einem symbolischen Sterbeakt getilgt werden. Dass Hedwig vor ihrem Gang in eine todesähnliche Bewusstlosigkeit zuletzt das Gesicht Brandolfs wahrnimmt, ist dabei ebenso Teil des Reinigungsprogramms wie es die äußerlichen Zeichen eines schwindenden Lebens sind, das kaum mehr ausreicht, um „an ihrem dünnen, weißen Handgelenk den Puls zu finden“42. Die im Zeichen weiblicher Ohnmacht sich neu ordnenden hierarchischen Strukturen zwischen Hausherrin und Mieter spiegeln sich im obligatorischen, beinahe rituellen Umhertragen der Protagonistin als Ausdruck einer vom männlichen Subjekt vorgenommenen Positionierung des weiblichen Objekts im Raum – und so „nahm Brandolf das kranke Aschenbrödel, in seine Decke gewickelt, kurzweg auf den Arm und trug es so sorglich, wie wenn es das zerbrechliche Glück von Edenhall gewesen wäre […].“43 Fast wörtlich erinnert dieses in den Armen des Protagonisten sich abspielende Nahtoderlebnis an das Schicksal Küngolts („Sein war das Leben, das er trug […].“44), zumal auch die Baronin nach einer zweiwöchigen Bewusstlosigkeit erwartungsgemäß von anderer Natur erwacht als sie eingeschlafen war, denn vor allem „der Trotz schien gebrochen“45. Die Umstände von Behandlung und Genesung der kranken Frau zementieren zudem das ökonomische Ungleichgewicht zwischen den Figuren und lassen Bran-
|| 35 HKKA 7, 147. 36 HKKA 7, 147. 37 HKKA 7, 145. 38 HKKA 7, 146. 39 HKKA 7, 148. 40 HKKA 7, 149. 41 HKKA 7, 176. 42 HKKA 7, 147. 43 HKKA 7, 149f. 44 HKKA 5, 246. 45 HKKA 7, 150.
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dolf nicht nur umgehend einen Arzt, gar den „bewährten Vorsteher eines Krankenhauses“46, herbeiholen, sondern zugleich ein habituelles Besitzdenken verraten, da der wohlhabende Student „das Kleinod seiner Teilnahme nicht aus dem Hause lassen wollte.“47 Was Brandolf eignet, „um sich selber einen Hauptspaß zu bereiten“48, bedeutet für die Baronin in ihrem „reinlich weiße[n] Gewande, und mit dem vergeistert weißen Gesichte“49, einen grundlegenden Bewusstseinswandel,50 der von der Auslöschung einer widerspenstigen Natur kündet und die im männlichen Sinne zu errettende Seele in eine geisterhafte Verfassung überführt. Die „fast wesenlose blasse Hand“51 der Patientin zeugt vom ‚Erfolg‘ der vom Text verordneten Erkrankung und lässt nach zweiwöchiger Bewusstlosigkeit ein „gerettete[s] Wesen“52 erwachen, das sich wie in einem Zustand vor aller Erfahrung wiederfindet und widerspruchslos den angeordneten Pflegemaßnahmen des jungen Mieters Folge leistet, der die Genesung der Hausherrin seinerseits zu einem persönlichen Erweckungserlebnis stilisiert: „[M]eine Katze hat Junge, und als ich heut‘ eines der Tierchen in die Hand nahm, gingen ihm in demselben Augenblicke die Aeuglein auf und ich sah mit ihm die Welt zum ersten Mal.“53 Die Verzwergung des einst gefürchteten Drachen zu einem ‚Tierchen‘ ist Bestandteil einer männlichen Gebärphantasie, die wie ein eitler Gegenentwurf zur weiblichen Geburt erscheint und auf ein im Zeichen des ‚Emporhebens‘ und ‚Augenöffnens‘ stilisiertes, geistig-moralisches Schöpfungsverständnis verweist. So erscheint die moralische Zeugungslust des jungen Mannes – die Etablierung von Moral, wo diese zuvor negiert wurde – als Kompensation eines männlichen Gebärneids und lässt Brandolf sich den Anschein einer ganzheitlichen Schöpferfigur verleihen, die das „neu beginnende[] Leben“54 nicht nur moralisch anzuleiten beansprucht, sondern ganz im Sinne des skizzierten Schöpfungsaktes auch dessen weitere Lebensführung organisiert.
|| 46 HKKA 7, 147. 47 HKKA 7, 148. 48 HKKA 7, 150. 49 HKKA 7, 152. 50 In diesem Sinne ist auch die ‚reinlich‘ weiße Wäsche der Baronin gleichermaßen Zeichenträger wie Zeichentilger des Körperlichen. Sie bezeugt die wesenhafte Reinheit der Neugeborenen, deutet aber auch deren wiederkehrende ‚Weiblichkeit‘ an. Vgl. Dangel-Pelloquin: Weiße Wäsche, S. 147. 51 HKKA 7, 152. 52 HKKA 7, 151. 53 HKKA 7, 153. 54 HKKA 7, 153.
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5.1.4 Bewusstseinstilgung und Ehe(an)bindung: Ein männliches Gemeinschaftsprojekt von Vater und Sohn Weil die hyperbolisch verklärte Gesundung der Baronin dem Mieter zwar ein rauschhaftes Erlebnis beschert, in Anbetracht der Umstände nicht aber geeignet ist, dessen charakteristische „Straflust“55 auf adäquate Weise zu befriedigen, versieht der Text seine Protagonistin mit einer Vorgeschichte, die den didaktischen Impetus des jungen Mannes umso mehr zu beflügeln weiß. Die beinahe tödlich endende Lebensfeindlichkeit seines „Kätzleins“56 nämlich erweist sich als eine Nachwirkung von Taten und Tätlichkeiten anderer Männer, die „dem Behagen eines Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen sich neuerdings erholen […] sieht“57, als eine einzige Provokation erscheinen und einen neuen, gleichgeschlechtlich akzentuierten ‚Reiz‘ in das Geschehen implementieren. So erfährt der erstaunte Rechtsgelehrte, dass seine Vermieterin als eine geschiedene Ehefrau und ‚gewesene‘ Mutter aus männlicher Perspektive betrachtet bereits ‚in Gebrauch‘ sich befunden hat und schon zuvor entsprechende Besitzansprüche gegen die Person Hedwigs bestanden. Die Geschichte der Geschiedenen entpuppt sich dabei als ein regelrechtes Stelldichein parasitärer Männlichkeiten, die allesamt als ausgewiesene Taugenichtse in das seit jeher von „Frauengut“58 erhaltene Adelsgeschlecht der Baronin einheiraten, um hernach Hab und Gut zu verprassen, bis schließlich auch die junge Hedwig als letzte Aufrechte des einst stolzen Geschlechts einem Kuhhandel ihrer Brüder zum Opfer fällt und in eine dreijährige Ehe mit einem „Rittmeister“59 verkauft wird, deren Tiefpunkt der durch den prahlerischen Übermut des Vaters herbeigeführte Tod ihres einzigen Kindes markiert. Die Kunde, dass das imaginierte Kätzchen in seinen Händen bereits ein umfängliches Leben hinter sich hat, folglich aus ‚zweiter Hand‘ stammt, lässt neben der erwartbaren Straflust gegen die früheren Peiniger zugleich „eine sonderbare Eifersucht“60 gegenüber dem ersten Ehemann der Baronin in Brandolf aufsteigen. So beschwört die Erregung des Protagonisten eine Rivalitätskonstellation, die in mehrfacher Hinsicht vom üblichen Motiv des Frauenerwerbs abweicht, als dass weder eine junge, sprich jungfräuliche Frauenfigur im Zentrum des Wettbewerbs
|| 55 HKKA 7, 151. 56 HKKA 7, 153. 57 HKKA 7, 156. 58 HKKA 7, 157. 59 HKKA 7, 159. 60 HKKA 7, 151.
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steht, noch die Duellanten sich überhaupt in einer räumlichen wie zeitlichen Relation zueinander befinden. Obwohl Hedwigs frühere ‚Besitzer‘ weder vor Ort sind noch Ansprüche gegen sie erheben, sieht sich der junge Mieter in eine Konkurrenzsituation versetzt, die über moralische Ansprüche hinaus von einer emotionalen Beteiligung zeugt und die genesende Frau zum Austragungsort eines ‚territorial‘ fixierten Profilierungszwangs werden lässt. Die Leidenschaft mit der Brandolf sich den früheren Männern im Leben der Baronin widmet, belegt, dass nach erfolgter Läuterung der widerspenstigen Frau eine Reaktivierung derselben auf geschlechtlicher Ebene ansteht, wozu maßgeblich die Spuren der vorherigen ‚Nutzung‘ zu tilgen sind. Dabei ist nicht das frühere Leben an sich ein Problem, sondern die markante männliche Signatur, die dieses im Falle der Baronin trägt, so dass nach Eheende und Kindstod nunmehr auch die verbliebenen Habseligkeiten der verarmten Adligen als letzte Zeugnisse dieses vorangegangenen Lebens veräußert werden. Zum Zeichen der vollständigen Lösung familiärer Bande wird folgerichtig „der ganze Hausrat, vor allem das Porzellan und Glas mit den unzähligen Wappen, verkauft“61, um bis auf legitime Anliegen wie die Erinnerung an die Mutter „alles andere […] wo möglich aus ihrem Gedächtnisse [zu, S.V.] vertilgen.“62 Wieder ist es die ökonomische Not der Protagonistin, die dem Text als Katalysator und Legitimation einer fortgesetzten Bekehrungsgeschichte dient und eine ihrer ‚Dinge‘ entledigten Baronin zeigt,63 die nach einer in jeder Hinsicht vollständigen Entäußerung selbst zum ‚Ding‘ ihres einstigen Mieters wird, der seiner dominanten Position entsprechend dazu übergeht, „sie wie eine wohlerworbene Sache zu behandeln oder ein anvertrautes Gut, für das man verantwortlich ist, das man aber dafür nicht aus der Hand läßt.“64 Dergestalt zur Wiedereingliederung in ein patriarchales System ‚zubereitet‘, wird die in einem finalen Schritt ihrer vertrauten Umgebung entwundene Baronin dem Vater Brandolfs zur Bestellung des Haushalts übersendet, wo sie beweisen kann, dass sie „nicht nur nützlich, sondern auch angenehm“65 auf eine Weise ist, die den alten Hausherren sich „wie im Himmel“66 und deutlich „verjüngt“67 fühlen lässt. Die zu beobach|| 61 HKKA 7, 162. 62 HKKA 7, 162. 63 So auch Treder: „Erst die ökonomischen Ungereimtheiten bereiten das Feld, auf dem sich die männliche Humanität und vermeintliche Selbstlosigkeit so glänzend unter Beweis stellen können.“ Aus: Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 94. 64 HKKA 7, 162. 65 HKKA 7, 164. 66 HKKA 7, 163. 67 HKKA 7, 163.
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tende Revitalisierung des Alten lässt jenen gar in Erwägung ziehen, „noch zu heiraten, um die treffliche Person nicht mehr zu verlieren“68, woraus die Idee einer standesamtlichen Anbindung der nützlichen Frau spricht, die eine noch zusätzliche Nutzenmaximierung dadurch erfährt, dass der Gutsherr in einer VaterSohn-Kungelei seinem Nachfolger empfiehlt, „die kleine Hexe“69 doch an Stelle seiner zu heiraten, da auf diese Weise beide Männer von den Vorzügen der Frau profitieren würden. Mehr vernunftbetont als leidenschaftlich stellt der Rechtsstudent bezüglich des väterlichen Einfalls fest, „er sei es zufrieden“70, die tugendhafte Hedwig, die „gleich einem jungen Mädchen […] in ihrer schlanken und feinen Tournüre“71 bei der Nennung bloß seines Namens errötet, zu heiraten, so dass die sexuelle Reaktivierung der Errötenden auffällig unerwidert bleibt. Stattdessen führt Brandolf aus, dass seine einstige Vermieterin „ihm als Schützling lieb [sei], wie wenn sie sein Kind wäre; allein er könne sie auch als sein Frauchen lieb haben und werde sie alsdann mit einem seidenen Faden am feinen Knöchel anbinden, damit sie ihm nie mehr abhanden komme.“72 Die selbstbewusst proklamierte Anbindung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der junge Mann vom „Herr[n] Vater“73 regelrecht zum Jagen tragen lässt und entgegen seines üblichen Tatendrangs ein in sexueller Hinsicht wenig versiertes Verhalten an den Tag legt, das zwischen ‚Schützling‘, ‚Kind‘ und ‚Frauchen‘ nicht unterscheidet und in infantiler Manier den förmlichen Antrag gar an den Urheber der Heiratspolitik zurückverweist, denn „es müsse der Papa für ihn fragen und den Korb einheimsen, den es allenfalls absetze.“74 Weit eindeutiger zeigt sich die Baronin, die ihren Willen zur Vermählung nicht zufällig „auf dem Wege zu dem großen Gemüsegarten“75 erklärt, „den sie in so herrlichen Stand gebracht“76 hat, dass die einst in einem ‚vertrackten Loch‘ darbende Weiblichkeit der Protagonistin nun im Zeichen eines aufblühenden Gartenlebens vollends wiederhergestellt scheint. Analog hierzu zeigt sich auch die ‚Natur‘ der Gärtnerin von neuer Blüte, nämlich als ein unter Brandolfs Regie neugeborenes Wesen, das wie von einer „unsichtbaren Hand
|| 68 HKKA 7, 163. 69 HKKA 7, 164. 70 HKKA 7, 163. 71 HKKA 7, 163. 72 HKKA 7, 163. 73 HKKA 7, 163. 74 HKKA 7, 163. 75 HKKA 7, 163f. 76 HKKA 7, 164.
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gebändigt und geordnet“77 kaum mehr menschlichen Ursprungs, sondern vielmehr „eine Tochter der freien Luft zu sein und sich allein des gegenwärtigen Augenblickes zu erfreuen [scheint, S.V.], ohne ein Wissen um Vergangenheit und Zukunft.“78 Stofflich wie zeitlich allen früheren Kontexten enthoben, begegnet die zuvor stets verhüllte Frau ihrem ehemaligen Mieter nun im „einfachsten Sommerkleide“79 und dankt ausdrücklich für die Tilgung ihres früheren Bewusstseins: „[I]ch habe die Erinnerung nicht! Es ist mir alles neu und darum so froh und kurzweilig. Ich scheine mir überhaupt früher nicht gelebt zu haben.“80 Obwohl die männliche Erzählinstanz mit Blick auf Brandolf und die „an seinem Halse“81 hängende und von aller Widerspenstigkeit kurierten Baronin eine große Genugtuung ob der Wiederherstellung der ‚natürlichen‘ Geschlechterordnung empfindet, denn „[h]ier ist nun weiter nichts zu sagen, als daß eine jener langen Rechnungen über Lust und Unlust, die unsere modernen Shylocks eifrig aufsetzen und dem Himmel so mürrisch entgegenhalten, wieder einmal wenigstens ausgeglichen wurde“82, ist es dem Text allein mit der Zähmung des einstigen Drachen nicht getan.
5.1.5 Eine fast vergessene Braut: Männerrituale auf dem Rücken des weiblichen Geschlechts Nachdem die wehrhafte Alleinversorgerin auf eine Weise niedergerungen wurde, dass sie in eine derart assimilierte Existenz sich einfügt „wie wenn sie nicht da wäre“83, zeigt sich der Tag der Hochzeit vorrangig der Klärung gleichgeschlechtlicher Konflikte verpflichtet. So enthüllt sich die durch väterliche Nachhilfe eingefädelte Hochzeit als eine männliche Nabelschau, die Brandolf ganz nach seinem Geschmack zu inszenieren weiß, indem er das zentrale Männertrio aus Hedwigs früherem Leben, bestehend aus ihrem einstigen Ehemann und den Brüdern, in den Mittelpunkt der „symbolischen Feier“84 führen lässt, um einen Feldzug gegen jene Männergestalten ins Werk zu setzen, die zwar längst aus der Erin|| 77 HKKA 7, 165. 78 HKKA 7, 165. 79 HKKA 7, 165. 80 HKKA 7, 165f. 81 HKKA 7, 164. 82 HKKA 7, 164. 83 HKKA 7, 165. 84 HKKA 7, 164.
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nerung Hedwigs verschwunden sind – nicht aber aus den Phantasien des jungen Rechtsgelehrten. Ohne Wissen der Braut auf das Hochzeitsfest gelockt, werden die drei verarmten Gesellen zu den Hauptakteuren einer grotesken Inszenierung Brandolfs, der trotz des offensichtlichen Niedergangs der drei „verwilderte[n] Kerle mit struppigen Bärten und elenden Kleidern“85 von seinen Strafphantasien nicht lassen kann. Unter dem Vorwand eines traditionellen Schauspiels zur Weinlese offenbart sich Brandolfs eigenwilliges Unterhaltungsprogramm als ein gleichermaßen männliches wie selbstbezogenes Spektakel, das allein der maximalen Demütigung des „angeschirrten“86 Männertrios dient. So werden die „drei Herabgekommenen“87 in Ziegenfelle gekleidet und an „ihren Hinterseiten […] Kuhschwänze sehr stark befestigt“88 und miteinander verknotet, woraufhin schließlich „links und rechts an die zwanzig kräftige Jünglinge“89 die unwissenden Kontrahenten Brandolfs „rücklings über den Schauplatz“90 zerren. Diese in ihrer sexualsymbolischen Eindeutigkeit schwerlich zu übertreffende Demütigung der Männer, deren sexuelle Reputation Brandolf der Lächerlichkeit preisgibt, um die ‚Gebrauchsspuren‘ seiner Frau im Zeichen der eigenen Dominanz zu widerrufen, wird zwecks Wirkungsmaximierung in Anwesenheit des gesamten „Volkes“91 aufgeführt. Gleich dreimal wiederholt sich die groteske Prozession, die ein jedes Mal zu Füßen des Brautpaares kurz innehält, um sicher zu stellen, dass die drei „Gehörnten“92 ihren verlorenen Besitz nach all den Jahren wiedererkennen und den kraft seiner Regiehoheit sie vorführenden Bräutigam als neuen ‚Besitzer‘ identifizieren. Da Hedwig die Identität der stark verkleideten Männer verborgen bleibt, sind die intimen Bezüge dieser Erbaulichkeit allein dem Bräutigam zugänglich, der seine Inszenierung in vollen Zügen genießt, bis er schließlich den drei „armen Teufel[n]“93 einige Münzen zuwirft, nach denen diese haschen „wie drei Affen, denen man Nüsse zuwirft.“94 Auf die Entmännlichung des Männertrios folgt die Dehumanisierung der ‚Affen‘, wodurch ein Duell entschieden wird, das sich zwar
|| 85 HKKA 7, 166. 86 HKKA 7, 170. 87 HKKA 7, 170. 88 HKKA 7, 171. 89 HKKA 7, 171. 90 HKKA 7, 171. 91 HKKA 7, 171. 92 HKKA 7, 171. 93 HKKA 7, 172. 94 HKKA 7, 172.
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allein im Seelenleben des Protagonisten abspielt, zugleich jedoch eindrucksvoll die realweltlichen Dimensionen männlicher Profilierungs- und Abgrenzungszwänge belegt,95 die hier im Zeichen sexueller (Frauenerwerb) wie ökonomischer (Münzverteilung) Dominanz verhandelt werden. Ihre moralische Vollendung findet die Aufführung Brandolfs, wenn sie schließlich in einen Erziehungsplan mündet, der die drei Taugenichtse durch ein Komplott zur Ausreise in die Vereinigten Staaten und dort zu einem Neuanfang zwingt. Ausgestattet mit Bargeld und neuen Kleidern werden die früheren Männer der Braut buchstäblich außer Landes verschifft und finden in der „neuen Welt“96 ganz im Sinne ihres Erziehers auf den Weg der Besserung zurück,97 auf welchem sie „wie umgewandelt“98 und ein jeder für sich dahingehen, um schließlich „an einem bescheidenen sichern Ufer“99 eine geläuterte Existenz gründen. So lässt der Erzähler zu Ehren seines Helden das dreiblättrige „Kleeblatt“100 aus den Brüdern Lohausen und dem früheren Ehemann der Braut durch Brandolfs Lenkung schließlich doch noch zu einem vierblättrigen werden, welches allen Beteiligten ein stilles Glück beschert und den moralischen Impetus des Rechtsgelehrten vollauf bestätigt.
5.2 Ein Bildungsprojekt aus deutschen Landen: Regine 5.2.1 Der Frauenkundler und sein phantastisches Gepäck Obwohl weder Drachen noch Hexe erfährt Regine, Hauptfigur jener gleichnamigen Erzählung des Sinngedichts, die Macht von ‚Bildern‘ auf eine verhängnisvoll existenzielle Weise, wenn sie zwischen Frauenbildern und Bildern von Frauen zum Verschwinden gebracht wird. So hat der Auswanderernachfahre Erwin Altenauer sehr konkrete Vorstellungen vom weiblichen Geschlecht, wenn er sich –
|| 95 „Mann-Sein bedeutet Abgrenzung – gegen Frauen und Weiblichkeit, aber auch gegen andere Männer und anders gestaltetes Mann-Sein. [...] Mannsein ist untrennbar verbunden mit Hierarchien und Hegemonien.“ Kühne: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, S. 22. 96 HKKA 7, 174. 97 Die Ausreise der drei Männer geschieht nicht freiwillig. Sie ist entsprechend kein Geschenk Brandolfs und weder mit einem ‚romantischen Ideal‘ noch ‚Menschenfreundlichkeit‘ zu begründen – wie Loewenich meint (Vgl. Loewenich: Frauenbild und Frauengestalten, S. 198) –, sondern bezeugt allein ein gleichgeschlechtlich adressiertes Dominanz- bzw. Erziehungsgebaren. 98 HKKA 7, 174. 99 HKKA 7, 174. 100 HKKA 7, 168.
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„vorzüglich auch auf das schönere Geschlecht in den deutschen Bundesstaaten begierig“101 – auf den Weg in die ‚Alte Welt‘ macht, um nach vollendeter Mission „eine recht sinnige und mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ocean“102 in sein „altangesehenes Haus“103 heimzuführen. In mythologisch überformten Erwartungen „[v]om Glanze dieses Rheingoldes angelockt“104, dämpft der Text zunächst die Hoffnungen seines Protagonisten und lässt diesen angesichts verschiedengeschlechtlicher Kommunikationsprobleme – denn „sobald die Gesellschaft sich aus beiden Geschlechtern mischte, haperte das Ding“105 – zweifeln, ob es allein die Gegend sei, in der „die Trauben nicht ganz so süß werden“106, oder dem Besucher schlicht „die rechte Traubenkenntnis“107 fehlt. Die Qualitätsprüfung der ‚Trauben‘ bzw. die geschmacklichen Vorlieben des Importeurs aus Nordamerika werden auf einer regelrecht ‚ständischen‘ Ebene verhandelt, da „die innere Unfreiheit“108 der kleinbürgerlichen Damenwelt Erwin sich unvermittelt in einem „Meer von Putz“109 wiederfinden lässt und erst die Weiterreise in die „veredelte bürgerliche Welt“110 einer kleinen Universitätsstadt zum Verweilen einlädt. Wo Wissenschaft und Kunst zuhause sind, gefällt auch die Frauenwelt mit „ungeheucheltem Ernst“111, denn hier „schwärmten und glühten die Frauen wirklich für das, was sie für schön und gut hielten, pflegte jedes Mädchen seine Lieblingsneigung und baute dem Ideal sein eigenes Kapellchen“112. Zudem zeigen sich die Damen am Orte trotzt aller Veredelung von einem „altpoetische[n] Zauber“113 umgeben und gewöhnt daran, „tagelang in freier Luft und guter Laune“114 zu sein, zumal „der Waldduft […] ihnen von den Urmüttern her noch wohl zu behagen [schien], und selbst die Bescheidenste scheute sich nicht, einen grünen Kranz zu winden und sich aufs Haupt zu setzen.“115
|| 101 HKKA 7, 61. 102 HKKA 7, 61. 103 HKKA 7, 60. 104 HKKA 7, 61. 105 HKKA 7, 61. 106 HKKA 7, 62. 107 HKKA 7, 62. 108 HKKA 7, 62. 109 HKKA 7, 63. 110 HKKA 7, 63. 111 HKKA 7, 63. 112 HKKA 7, 63. 113 HKKA 7, 63. 114 HKKA 7, 63. 115 HKKA 7, 63.
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Vor dem Hintergrund des übergeordneten Erzählduells bringen diese „sinnigen Wesen“116, die nicht mehr ganz Naturfrau, aber auch nicht „schnöd‘ und philisterhaft“117 sind, das Weiblichkeitsideal der Erzählautorität auf den Punkt und lassen den Besucher aus Nordamerika sein persönliches Ideal in der jungen Dienstmagd Regine finden, die ganz auf dessen mythologisch überhöhtes Frauenbild zugeschnitten scheint, nämlich „von so herrlichem Wuchs und Gang [ist, S.V.], daß das ärmliche, obgleich saubere Kleid das Gewand eines Königskindes aus alter Fabelzeit zu sein schien.“118 Die ökonomischen Verhältnisse „der armen Magd“119 garantieren dabei für eine Existenz, die im besten Sinne nicht (vor-)gebildet ist, zugleich jedoch angesichts einer äußeren Erscheinung von „geschmeidige[r] Kraft und gelassene[r] Schönheit“120 die besten Anlagen für einen erfolgreichen ‚Bildungsweg‘ erkennen lässt.
5.2.2 Eine gutmütige Magd und das Licht der Aufklärung: Zur Konfiguration eines Bildungsprojekts So wird Regine in Hinblick auf Charakter und Geschlecht zum Inbegriff weiblicher Gutmütigkeit stilisiert, wozu der Text die von der armen Baronin bekannte, hierarchisch aufgeladene Treppensituation rezitiert und seine Protagonistin eben dort, wo der ‚Drachen‘ sich mit einem Messer gegen die Männerwelt zur Wehr setzt, als eine schüchterne Frau mit „bescheiden gesenktem Blicke“121 zeigt, die auf „den Stufen der untern Treppe kniete und scheuerte“122, während der auf Brautschau sich befindende Erwin zu ihr „herunterstieg“123. Die räumlichen Koordinaten zeigen die hierarchische Ausgestaltung einer Paarkonstellation an, die Erwin schon bald in die Wege leitet, wenn er die „zitternde Magd“124 aus einem Pulk zudringlicher Studenten befreit und die gegen den Zugriff der Geschlechtsgenossen verwahrte „Löwin“125 in das verschlossene Haus einlässt. Hier nun
|| 116 HKKA 7, 63. 117 HKKA 7, 63. 118 HKKA 7, 65. 119 HKKA 7, 66. 120 HKKA 7, 65. 121 HKKA 7, 65. 122 HKKA 7, 66. 123 HKKA 7, 66. 124 HKKA 7, 67. 125 HKKA 7, 67.
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entfacht „Erwin sein Licht“126 und teilt „das Flämmchen mit der aufatmenden Magd“127. Einmal entfacht, weiß das ‚Licht‘ Erwins nicht nur den Raum, sondern auch die Projektionsfläche ‚Regine‘ den eigenen Wünschen gemäß auszuleuchten, so dass die stille Magd zum Spielball männlicher Phantasien wird, die den Befreier dazu verleiten, „das Licht einer Liebesneigung, die er sich recht innig und tief, so recht im Tone deutscher Volkslieder vorstellte“128, in der verängstigten „Dienstmagd“129 zu erblicken. Die Leidenschaft Erwins entzündet sich dabei vor allem an der Aussicht auf ein großbürgerliches Bildungsprojekt, das jedoch weniger des Erkenntnisgewinns einer vermeintlich gering gebildeten Frauenfigur wegen inszeniert wird, sondern vorrangig der Adelung eigener Fertigkeiten und Wissensschätze dient. Weil Bildung für die Bedienstete im Alltag eine untergeordnete Rolle spielt („Etwas Tinte habe ich […], freilich halb eingetrocknet, und eine kratzliche Stahlfeder […].“130), zugleich aber ein Schriftbild von „schönen geraden Zeilen“131, ausgeführt in „regelmäßigen sauberen Zügen“132, vom Veredelungspotenzial eines harmonischen Geistes zeugt, bilden sich im Schein einer von Erwin entzündeten Lampe, die seinem Selbstverständnis gemäß ein „helles Licht verbreitete“133, die Konturen einer männlichen Kultivierungslust ab. Die verheißungsvollen Anlagen Regines bestätigen den Entschluss des wohlhabenden Amerikaners, „sich hier aus Dunkelheit und Not die Gefährtin zu holen“134 und dieses Kind einer armen Bauernfamilie, das mit seinen „milden klugen Augen“135 und einer Stimme von verheißungsvollem „Wohlklang“136 ungemein gefällt, als Braut heimzuführen. Bestärkt wird Erwins Evaluation des geistigen Potenzials seiner Auserwählten durch das geschriebene Wort, das in Gestalt eines Briefes als Indikator einer intellektuellen Disposition gedeutet wird und zeigt, dass Regines „Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Rechtschreibung
|| 126 HKKA 7, 67. 127 HKKA 7, 67. 128 HKKA 7, 69. 129 HKKA 7, 65. 130 HKKA 7, 69. 131 HKKA 7, 70. 132 HKKA 7, 70. 133 HKKA 7, 70. 134 HKKA 7, 75. 135 HKKA 7, 74. 136 HKKA 7, 73.
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und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache.“137 Die grundständige ‚Sinnigkeit‘ des „Actuarius“138 ist damit ebenso bestätigt wie Erwins Hoffnung, dass hier noch genügend Raum für seine Verfeinerungskünste sich findet, so dass in Anbetracht der wirtschaftlichen Misere der Bauernfamilie die Auserwählte kurzerhand als Verlobte ‚eingekauft‘ wird, denn der Amerikaner „verlangte die Tochter Regina zur Frau. Und um zu beweisen, wie er es meine, begehrte er den Stand ihrer [der Familie, S.V.] häuslichen Angelegenheiten zu erfahren und versprach, ohne Verzug zu helfen.“139 Auf Darstellungsebene zum altruistischen Akt verklärt, bezeugt die unverhoffte Schuldentilgung die sich abzeichnende Objektwerdung Regines, die, wenngleich zentrale Figur dieses Werbungsaktes, bei alledem „nicht ein Wort“140 von sich gibt – selbst dann nicht, als Erwin sie „in die Kutsche hob, mit welcher er sie unter dem Segen der Eltern entführte.“141 Dass die junge Verlobte nicht wieder an ihren vertrauten Wirkungsort zurückkehren, sondern stattdessen einer Gelehrtenwitwe anvertraut wird, stellt Regine in eine Reihe mit den zuvor behandelten Frauenschicksalen und lässt Grundsätzliches in puncto Frauenerwerb erkennbar werden. So erscheinen die Tilgung familiärer Bindungen, die Verschärfung wirtschaftlicher Nöte und schließlich die räumliche Neuverortung der Umworbenen als integrale Bestandteile männlicher Erwerbs- und Erziehungsrituale, die sich wohl hinsichtlich ihrer Akzentuierung, nicht aber ihrer Fokussierung unterscheiden.
5.2.3 Bildung als Neubildung: Die Modellierung der Frau als Spiegelung männlicher Kulturarbeit Dergestalt entwurzelt zeigt auch Regine Anzeichen einer wesenhaften Erneuerung, die sich äußerlich in aufgrund der wegfallenden Arbeit wieder „weiß“142 sich färbenden Hände der Magd manifestiert, so dass der Text von einer „wie im Traume wandelnden Regine“143 berichtet, deren obligatorische ‚Weißung‛ sie als
|| 137 HKKA 7, 75. 138 HKKA 7, 75. 139 HKKA 7, 78. 140 HKKA 7, 78. 141 HKKA 7, 78f. 142 HKKA 7, 79. 143 HKKA 7, 79.
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ein „unbetretene[s] Gebiet“144 männlicher Imagination verrät. Die „brave, schöne Regine“145 ist dabei mehr Projekt als Partnerin und wird zunehmend als ein Objekt männlicher Kultivierungsmaßnahmen erkennbar, welche die Heranbildung eines idealisierten weiblichen Pendants zwecks Spiegelung der eigenen kulturell-künstlerischen Schaffenskraft betreiben. So wird Regine zu einem „Bild verklärten deutschen Volkstumes“146 und als solches zu einem „Werk“147 Altenauers, das vor der anvisierten Heimführung noch der Veredelungskünste einer „liebevoll bildenden Hand“148 bedarf, um seinem Erschaffer den erhofften „Triumph“149 in der Heimat zu garantieren. Die von Erwin mit Leidenschaft praktizierte „Erziehungskunst“150, die auch die „kleinste Unzukömmlichkeit“151 der Verlobten auszumerzen sich berufen fühlt, erscheint als eine Spielart männlicher Profilierungslust, die das zu erschaffende ‚Werk‘ als Beleg der eigenen schöpferischen Potenz gewürdigt wissen will. Die sublime Glorifizierung männlicher Schöpfungs- und Bildungskompetenz trifft erwartungsgemäß auf ein von ‚Natur‘ aus prädestiniertes Rohmaterial, dessen unverfälschte Beschaffenheit der Text beständig hervorhebt, etwa wenn Erwin den tiefen Eindruck, den einfache Volkslieder auf gebildete Menschen machen, mit den gleichen Gründen erklärt, „warum auch sie, das Kind des Volkes, ihm so wohl gefalle und so sehr von ihm geliebt werde.“152 Naturnahe Weiblichkeit verheißt dem männlichen Individuum folglich das, was eine großbürgerliche Welt in der Idee einfachen Volkstums findet: die sehnsuchtsvolle Erinnerung an eine unverfälschte, von zivilisatorischen Zwängen unberührte Existenzweise. Die mythologisch überhöhten Phantasien Erwins von „den Schätzen des Nibelungenliedes“153 bzw. einer idealischen Weiblichkeit aus ‚alter Fabelzeit‘ zeugen von
|| 144 Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. München 1995, S. 142. Was Theweleit in seiner psychoanalytisch inspirierten Arbeit in Bezug auf männliche Imaginationen der Krankenschwester – der ‚weißen Schwester‘ – innerhalb der Freikorpsliteratur der Weimarer Republik ausführt, gilt hinsichtlich der hierin wirkenden kulturellen Farbcodes auch für die ‚geweißte‘ und somit (sexuell) gefahrlos konsumierbare Regine: „‚Weiß‘ ist das unbetretene Gebiet.“ 145 HKKA 7, 79. 146 HKKA 7, 83. 147 HKKA 7, 84. 148 HKKA 7, 84. 149 HKKA 7, 84. 150 HKKA 7, 84. 151 HKKA 7, 84. 152 HKKA 7, 85. 153 HKKA 7, 61.
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eben diesen Sehnsüchten eines sich durch Bildung privilegiert, anderseits jedoch auch von der eigenen ‚Natur‘ entfremdet fühlenden Bildungsbürgertums. Dass Altenauers Bildungsprojekt nicht gelingt und auch nicht gelingen kann, gründet in der beschränkten Perspektive dieses Unterfangens, das nicht wahrzunehmen imstande ist, dass das eigene Veredelungsstreben dem begehrten Naturphänomen den Untergang bringt. Entsprechend begreift auch Erwin trotz „aller Humanität und Freisinnigkeit“154 die ‚Natur‘ seiner Auserkorenen nicht und zeigt sich in seiner Bildungsobsession zunehmend „geiziger, ja ängstlicher“155. Für Regine bedeutet dies, dass sie wie die Witwe Dunajew zur unfreiwilligen Hauptdarstellerin einer persönlichen Pygmalionadaption einberufen und somit zum Objekt einer chiastischen Versuchsanordnung wird,156 die zur Folge hat, dass sich das phantastische Weiblichkeitsideal des Protagonisten mit Leben füllt, während im gleichen Moment die reale Frau der Versteinerung anheimfällt. Die Vernarrtheit Erwins in seine Bilder einer idealen Gefährtin geht so weit, dass selbst libidinöse Aspekte unter dieser Überschrift verhandelt und Zärtlichkeiten zwischen den Ehepartnern vorzugsweise unter Verweis auf das Altenauersche Bildungsprojekt vermittelt werden, wenn der Gemahl „die erwachenden Spuren eines neuen Geistes […] von Augen und Mund“157 seiner Angetrauten küsst und in Anbetracht dieser Fortschritte den Ich-Erzähler honorig anerkennen lässt, auf welch vielfältige Weise der Mann „dem holden Weibe das Bewusstsein zuführte“158. Dass Erwin hierbei nicht als „ein Schulmeister, sondern mehr als ein aufmerksamer und dankbarer Finder von allerlei kleinen Glücksfällen“159 auftritt, verklärt die Intentionalität und Zielgerichtetheit der männlichen Hauptfigur und verweist auf die Komplizenschaft einer männlichen Erzählinstanz, die den Besucher aus Boston zu einem Archäologen in Sachen weiblicher Bildungs- bzw. Veredelungspotenziale erklärt. (Heran-)Bildung stellt sich dem tradierten Geschlechterdiskurs der Novelle gemäß als Metapher eines bisweilen mühevollen, jedoch im Manne angelegten geistig-moralischen Reifungsprozesses dar, so dass im Umkehrschluss das Verlangen nach dieser Art von Reifung dem weiblichen Geschlecht als wesensfremd || 154 HKKA 7, 84. 155 HKKA 7, 84. 156 In diesem Sinne tritt an „die Stelle der Belebung einer weiblichen Statue durch das Eingreifen einer göttlichen Macht [...] nun die Erziehung; die Frau wird zum dankbaren Stoff, dessen Formung der liebende Mann als väterlicher Mentor und ‚neuer Pygmalion‘ übernimmt.“ Aus: Kittstein: Gottfried Keller, S. 171. 157 HKKA 7, 86. 158 HKKA 7, 86. 159 HKKA 7, 86.
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gilt und einer männlichen Vermittlung bedarf – doch selbst dann „wollte einstweilen kein rechter Zusammenhang in die Sachen kommen“160, zumal die frühere Magd „nur einige Seiten Geschichtliches oder Beschauliches hintereinander in sich aufzunehmen“161 fähig ist. Angesichts dieses geschlechtlich organisierten Bildungsbegriffs ist es nur konsequent,162 dass Regine durch den ihr aufoktroyierten Bildungsweg nicht zu einer selbstbestimmten Lebensführung findet, sondern im Gegenteil zu einem „Geschöpf“163 Altenauers wird, zu einem „Kind“164 – Altenauer wählt diese Ansprache bezeichnenderweise erstmals im Moment der Verlobung –, das mit fortschreitendem Bildungsstand an Ursprünglichkeit und Integrität einbüßt.
5.2.4 Unautorisierte Fremdzugriffe: Das vergesellschaftete weibliche Objekt Das aus männlicher Textperspektive besehen mindestens problematische Verhältnis von weiblichem Geschlecht und Bildung wird wie als Warnung an Erwin und sein ehrgeiziges Erziehungsprojekt am Beispiel der „drei Parzen“165 durchexerziert – somit ausgerechnet jener „Damen, deren Umgang ihrem Manne zweckmäßig für sie [Regine, S.V.] geschienen hatte, da sie im Rufe einer großen und schönen Bildung standen […].“166 Die Referenz an die Schicksalsgöttinnen der römischen Mythologie ist nicht zufällig gewählt, heißt es doch von den drei gebildeten Frauen, dass „sie jeder Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebensfaden abschnitten“167 und in steter Suche nach neuen Opfern „immer in Geräusch, Bewegung und Unruhe“168 begriffen sind. Bildung, so legt der Erzählerkommentar nahe, lässt allzu leicht das von ihr ‚befallene‘ weibliche Objekt die ‚Natur‘ des eigenen Geschlechts und in der Folge sittliche Imperative vergessen, was der Ich-Erzähler im Betragen
|| 160 HKKA 7, 86. 161 HKKA 7, 86. 162 Vgl. in diesem Sinne etwa Lachmann: Irritationen von Identitäten, S. 219. Lachmann weist hier darauf hin, dass die „Bildung Regines [...] vornehmlich auf der sprachlichen Ebene [verläuft], was der abendländischen, logozentrisch wie patriarchalisch geprägten Denktradition entspricht.“ 163 HKKA 7, 87. 164 HKKA 7, 77. 165 HKKA 7, 88. 166 HKKA 7, 88. 167 HKKA 7, 88. 168 HKKA 7, 88.
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der drei Frauen bewahrheitet sieht, denn obgleich die Parzen nicht sonderlich jung sind, „umarmten sie sich doch mit stürmischer Leidenschaft, […] küßten sich lautschallend und nannten sich Kind und süßer Engel […].“169 Was harmlos bis infantil anmutet,170 eignet dem Text als Warnung vor den Nebenwirkungen weiblicher Bildung und so pflegen die drei Frauen aller Schöngeistigkeit zum Trotz „unter sich eine Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen Teufeln geritten“171. Die Ursachen dieses Phänomens kontraproduktiver Bildung werden dabei nicht in den konkreten Bildungsinhalten gesehen, sondern wiederum im zwischengeschlechtlichen Bereich ausgemacht, denn alle drei Damen besitzen „selbstzufriedene und gleichgültige Männer, die sich nicht um die Frauen kümmerten“172, so dass das destruktive Potenzial gebildeter Frauenfiguren auf Nachlässigkeiten oder auch den völligen Ausfall einer männlichen Kontrollinstanz verweist. Das Treiben der Parzen wird folglich zurückgeführt auf das Desinteresse derer Gatten, die zwar angesichts ihres bürgerlichen Renommees „bedeutende Gewährleistungen für die Ehrbarkeit“173 der Angetrauten übernehmen, durch die Verletzung ihrer ‚Aufsichtspflichten‘ jedoch eine weibliche Umtriebigkeit begünstigen, die dem Textverständnis nach dann ins Destruktive abgleitet, wenn der qua Ehestand erweiterte soziale Handlungsspielraum von den betreffenden Frauenfiguren als beinahe schrankenlos wahrgenommen wird. Weil Bildung soziale wie intellektuelle Freiräume eröffnet, ist dem Ich-Erzähler die Vorstellung einer entsprechenden ‚Heranbildung‘ des weiblichen Geschlechts erwartungsgemäß suspekt, worin sich nicht nur konkrete Ängste vor einem erweiterten weiblichen Wirkungskreis spiegeln, sondern insbesondere auch die Angst vor einer Annullierung der Projektionsfläche ‚Frau‘. So ist es die „menschliche Eitelkeit“174 Erwins, die dazu führt, dass der Amerikaner sein als noch unfertig verstandenes „Bildungswerk“175 zur Perfektionierung in die Hände der Parzen gibt und mit der Abgabe seiner Bildungshoheit zugleich eine einst integre Persönlichkeit dem Einfluss Dritter öffnet. An dieser Stelle fällt die stets zum Zeichen einer unverfälschten Existenz stilisierte, tatsächlich aber rigoros forcierte ‚Unbeschriebenheit‘ der Naturfrau Regine auf ihren Erschaffer zurück, der || 169 HKKA 7, 89. 170 Die Parzen erscheinen denn auch eher als eine „Parodie gebildeter und emanzipierter Weiblichkeit.“ Selbmann: Gottfried Keller, S. 164. 171 HKKA 7, 89. 172 HKKA 7, 88. 173 HKKA 7, 93. 174 HKKA 7, 88. 175 HKKA 7, 88.
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mit seiner Bildungsoffensive den moralischen Kompass dieser ihrer ‚Natur‘ entfremdeten Frauenfigur zerstört hat und nun erfahren muss, wie andere die von ihm verursachte Orientierungslosigkeit der Gattin in ihrem Sinne nutzen. Metaphorisch reflektiert der Text die Vergesellschaftung des Objektes ‚Regine‘ im Zuge einer folgenschweren Porträtierung der jungen Ehefrau,176 die in Abwesenheit ihres kunstbeflissenen Gatten einer Malerin aus dem Kreise der Parzen mit den besten Absichten, nämlich ganz im Sinne der von Erwin zelebrierten Sakrosanz künstlerischer Produktion, Modell sitzt. Der Empfehlung ihres Mannes folgend, den im Umfeld der drei Frauen gepflegten, „bildend anregenden Verkehr […] fleißig zu suchen“177, gibt sich Regine „mit arglosem Vertrauen“178 ihren Bildnerinnen hin und unterläuft die ‚Bildrechte‘ ihres Mannes gerade dann, wenn sie glaubt, seinem Kunstsinn gemäß zu handeln. Hier nun fällt Erwins selbstherrliche Hoffnung, es mögen im Dunstkreis der drei gebildeten Frauen für Regine „doch einige Brosamen abfallen und die Pforten der Bildung immerhin sich etwas weiter aufthun“179, als Widerhall der egozentrischen Ausrichtung seines Projekts auf ihn zurück, da allein die eigene Hybris als Ursache dafür gelten kann, dass fortan auch Dritte die vom bildvernarrten Amerikaner radikal geweißte Leinwand ‚Regine‘ widerstandslos in Beschlag nehmen können. Das Ergebnis der nicht weniger selbstbezogenen Neuinterpretation Regines durch die namenlose Malerin ist denn auch eine Kampfansage an den abwesenden Frauenbildner: Reginens Bildnis als phantastisch angeordnete[r] Studienkopf, über Lebensgröße, mit theatralisch aufgebundenem Haar […], mit bloßem Nacken und gehüllt in einen Theatermantel
|| 176 Dieses ‚Bild‘ Regines ist mitnichten das erste, das in der Erzählung begegnet, wohl aber das erste, das sich im Zeichen der Malerei materialisiert. Das nicht selten für die Porträtierte tödlich endende Zusammenspiel von männlicher Kunstproduktion und männlichen Weiblichkeitsbildern zeigt etwa Marianne Schuller am Beispiel von E.A. Poes Das ovale Porträt (Marianne Schuller: Literarische Szenerien und ihre Schatten. Orte des ‚Weiblichen‘ in literarischen Produktionen. In: Ringvorlesung ‚Frau und Wissenschaft‘. Marburg 1979, S. 79–103) auf. Auch Stephan stellt fest, dass „während das Bild auf der Leinwand immer lebensähnlicher wird, [...] die junge Frau immer mehr [verfällt] und [...] zusehends an Lebenskraft [verliert]. Als das Bild schließlich fertig ist, ist sie tot.“ Aus: Inge Stephan: „Bilder und immer wieder Bilder …“ Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel. (Argument-Sonderband 96) Berlin 1983, S. 21. 177 HKKA 7, 92. 178 HKKA 7, 92. 179 HKKA 7, 91.
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von Hermelin und rotem Sammet […], das alles mit einer scheinbaren Frechheit gemalt […].180
Gigantomanie, Theatralik und Freizügigkeit beschreiben eine radikale Abkehr vom nicht weniger radikalen Reinheitsideal Erwins, dessen egozentrische Bildungspolitik seine Entsprechung in der Bildkunst der Malerin findet, wodurch beide Protagonisten als Wesensverwandte sich zu erkennen geben, die auf je eigene Weise mit einer Fülle von selbstbezogenen Bildlichkeiten die (Über-)Formung Regines betreiben. Dergestalt von den Phantasien und Sehnsüchten ihrer Umwelt überlagert, ist die reale Person Regine zu diesem Zeitpunkt längst hinter der Projektionsfläche ‚Regine‘ verschwunden.181 Als ein widerstandslos sich instrumentalisieren lassendes Abbild der Begehrlichkeiten Dritter wird die junge Frau unter Federführung der Malerin in letzter Konsequenz in ein wirkliches Bild überführt, wodurch sie im gleichen Moment mittels Pinsel und Farbe in ihrem Status als Phantasiebild materialisiert, sprich materiell (be-)greifbar gemacht wird. Vor diesem Hintergrund erscheint die beinahe surrealistische Interpretation der Malerin ungewollt realistisch, da gerade die zügellose Fantastik des Werkes die bildgewaltigen Sehnsüchte, die sämtliche Beteiligten auf Regine projizieren, adäquat spiegelt. Denn sowohl Erwin, als auch die Parzen oder die Malerin erzeugen auf der Leinwand ‚Regine‘ im übertragenden Sinne Selbstbildnisse, wobei es den Beteiligten offenkundig nicht um die Verfassung des Originals zu tun ist, sondern allein um die Artikulation persönlicher Begehrlichkeiten. So geschieht es, dass auf Darstellungsebene zahlreiche Bilder Regines entstehen, imaginäre wie ‚reale‘, die jedoch allesamt nicht auf eine konkrete Frauenfigur verweisen, sondern stattdessen den Blick auf einen selbstreferenziellen Bilderkosmos freigeben, dessen Dreh- und Angelpunkt eine Frau ist, die unzählige Sehnsüchte befeuert, ohne einer einzigen davon zu entsprechen. Als Ursache insbesondere für das Einverständnis zur Anfertigung des unbürgerlichen Porträts wird der fehlgeleitete Moralkompass der jungen Ehefrau angeführt, deren Verirrung jedoch nicht Wesensart, sondern Resultat einer fahrlässigen Bildungsoffensive ist, welche dem Textverständnis nach die moralische Integrität weiblicher „Herzensbildung“182 untergräbt und dergestalt Weiblichkeit und Bildung als inkompatibel ausweist. Weil der unverkennbar eigene Absichten verfolgende Ich-Erzähler mit seinen Zweifeln an der Vereinbarkeit von weiblichem Geschlecht || 180 HKKA 7, 92. 181 Lachmann etwa sieht Regine als „ein leeres Blatt Papier, das Erwin füllt; wie auch Amerika ein leeres Blatt Papier war, auf dem die Europäer ihre Geschichten zu erfinden begannen.“ Lachmann: Irritationen von Identitäten, S. 221. 182 HKKA 7, 61.
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und Gelehrsamkeit nicht allein steht im Oeuvre Gottfried Kellers, sollen im folgenden Exkurs exemplarisch die – für das männliche Personal – negativen Begleiterscheinungen weiblicher Bildungsbeflissenheit skizziert werden.
5.2.5 Exkurs: Das Irritationspotenzial weiblicher Bildung Ausdrücklich über ihren Bildungsgrad bzw. ihre hierin sich spiegelnde Resistenz gegenüber männlichen Zugriffen definiert werden etwa Lydia aus Pankraz der Schmoller, Hildeburg aus den Geistersehern, die erwähnten Parzen oder auch die junge Lucie aus der übergeordneten Rahmenhandlung des Sinngedichts. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihren Bildungszugang ausschließlich dem Protektorat von Vätern oder Ehemännern zu verdanken haben, da diese als Bürgen für eine im patriarchalen Sinne ‚ordnungsgemäße‘ Verwendung der erfahrenen Bildung einstehen. So kann etwa Lydia ihr narzisstisches Spiel mit dem hilflosen Pankraz ausschließlich unter dem Schutzmantel ihres einflussreichen Vaters in die Tat umsetzen. Und weil auch Hildeburg ihre Geistesprobe auf dem sicheren Fundament eines väterlichen Protektorats inszeniert, während die Parzen sich hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Renommisterei wiederum auf gleichermaßen angesehene wie nachlässige Gatten verlassen, zeigt sich, dass es zur Erweiterung der sozialen bzw. sittlichen Grenzen einer weiblichen Figur offenkundig eines männlichen Patronats bedarf. Weibliche Bildung fungiert somit als ein Indikator für die relative Autonomie der ‚betroffenen‘ Frauenfigur, wobei die konkreten Bildungsinhalte eine von männlicher Hand vorgenommene Ausrichtung verraten, die die in bürgerlichen Kreisen gern angeführte Gelehrsamkeit von Töchtern und Ehefrauen als vorzugsweise dekorativen Zwecken dienlich enthüllt. Das emanzipatorische Moment von Bildung steht offenkundig nicht im Vordergrund, stattdessen dienen belesene Frauenfiguren im bürgerlichen Diskurs der Erhöhung von Vätern und Ehemännern, die durch die mäzenatische Großzügigkeit, mit der sie weibliche Bildung zulassen und fördern, die eigene Freigeistigkeit hervorheben. So entspricht es der bürgerlich-aufgeklärten Wertewelt der untersuchten Novellen, dass männliche Bildung bevorzugt denkgeschichtliche (‚Mannelin‘) bzw. naturwissenschaftliche (Pankraz) Inhalte vermittelt, die dem Individuum Orientierung in einer komplexen Welt versprechen, während das Ideal weiblicher Bildung auf Schöngeisterei lautet. Diese bürgerliche Bildungsmaxime nimmt selbst die kenntnisreiche Lucie, die aller Belesenheit zum Trotz von ihrem Onkel vorrangig als eine Zierde begriffen wird, nicht von ihrem Geltungsanspruch aus, lässt im Gegenteil den Greis gar
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hoffen, es gäbe „eine schöne alte Jungfer aus ihr, die ewig bei mir bleibt und auf meinem Grabe fromme Rosen züchtet und oculiert.“183 Zugleich machen die untersuchten Texte unmissverständlich klar, dass sie jedwede Art von Bildung für schwerlich kompatibel mit den eigenen Vorstellungen von genussvoll konsumierbarer und zugleich Geborgenheit verheißender Weiblichkeit halten. Stattdessen treten ‚verbildete‘ und anmaßende Frauenfiguren hervor, die den schädlichen Einfluss von Bildung auf das weibliche Geschlecht demonstrieren, indem eine narzisstische Gouverneurstochter die Dramen Shakespeares für ihre Zwecke missbraucht, die Alleinerbin einer Bankiersfamilie zwei junge Männer in ihr Minnespiel einspannt, drei reife Frauen jegliches Gespür für ein alters- und geschlechtsadäquates Auftreten verlieren oder auch die unter der Obhut des Onkels stehende Lucie in ein triebhafte Wesensanteile negierendes ‚Junggesellinnentum‘ sich versteigt. So unterschiedlich diese Phänomene von weiblichem Narzissmus bis hin zur völligen Triebnegation auch scheinen, so simpel ist die Erklärung der jeweiligen Texte hierfür, die sich zusammengefasst auf die einfache Formel bringen lässt, dass Bildung die ‚Natur‘ der Frau untergräbt und die ‚Betroffenen‘ orientierungslos werden, nämlich ihren ‚natürlichen‘ Kompass verlieren lässt. Auf diese Weise werden vermeintlich vordiskursive Wahrheiten von naturgegebenen, oppositionell aufeinander bezogenen Geschlechterkompetenzen reproduziert, woraufhin die postulierte Inkompatibilität von Weiblichkeit und Gelehrtheit geradezu ‚logisch‘ erscheint. Denn weil dieser Logik nach das Wesen der Frau von einer unreflektierten Natur- und Triebhaftigkeit bestimmt ist, bewirkt die Implementierung rationaler Strukturen eine Störung dieser als ursprünglich stilisierten Ganzheitlichkeit, so dass eine männliche Erzählung entsteht, der zufolge das weibliche Geschlecht durch Bildung von seinem ‚Urquell‘ abgeschnitten wird. Diesem geschlechtlich begründeten ‚Bildungsproblem‘, das die Texte durchweg weiblichen Figuren attestieren, entspricht auf männlicher Seite eine unkontrollierte Hingabe an die eigenen Triebe (Alkoholkonsum), der als Gegenentwurf zu der als kontraproduktiv verpönten Vergeistigung des Naturwesens ‚Frau‘ das geistig-moralische Wesen ‚Mann‘ in triebhafte Affekte verfallen lässt. Beide Defizitkonstruktionen beruhen auf dem Prinzip einer Destabilisierung intakter Systeme durch Infiltration systemfremder Elemente, welches sich als zentrales Darstellungs- bzw. Denkmodell der untersuchten Texte erweist und vorrangig der Systematisierung von Phänomenen des Niedergangs dient. Diese betreffen sowohl Kollektive als auch Individuen und nehmen ihren Anfang nicht selten in der Überschreitung konventioneller Geschlechtergrenzen, wodurch das || 183 HKKA 7, 130.
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Gebot einer strikten Disjunktheit der Geschlechter als Vorsorge gegen den sicheren Niedergang sämtlicher Beteiligten angeführt – und somit als ein Mittel der Aufrechterhaltung und Absicherung männlicher Herrschaft verschleiert wird. Um die unheilvollen Folgen der Bildungsoffensive Erwins in allen Facetten vorzuführen, bedarf es der Geschlechterlogik des Textes gemäß jedoch eines männlichen Widersachers, der anders als die Parzen oder die Malerin Absichten und Selbstbild des Amerikaners auf einer explizit sexuellen Ebene herauszufordern vermag.
5.2.6 Eine sich selbst inszenierende Venus? Pygmalions Deutungshoheit in Gefahr Entfacht wird der finale Streit um das Bildwerk ‚Regine‘ durch den eigenmächtigen Entschluss der vom Ich-Erzähler leidenschaftlich verunglimpften Malerin, ein von ihr angefertigtes Gemälde der Leibesgestalt Regines dem Kunsthandel anzubieten, so dass diese unautorisierte Interpretation der eigenen Ehefrau ohne Wissen und Einverständnis Erwins noch vor der anvisierten Heimführung der Gattin in den Verkaufsräumen eines New Yorker Kunsthändlers eintrifft. Der auf Heimatreise sich befindende Amerikaner wird folglich von einem Bildwerk eingeholt, das allein aufgrund seiner Existenz eine Kampfansage an Urheberrechte und Selbstverständnis des bürgerlichen ‚Frauenbildners‘ formuliert und obendrein die zur exklusiven Profilierung auserkorene Importfrau aus deutschen Landen auf ‚bildhafte‘ Weise in fremde Hände verkauft. Konkret handelt es sich um ein „starkfarbiges Bild“184, in welchem Erwin trotz aller künstlerischen Verfremdung augenblicklich seine Gattin erkennt,185 das zugleich jedoch „mit großen Buchstaben auf dem Bilde“186 von seiner selbstbewussten Erschafferin kündet und den Amerikaner, der sich nach einem „blitzartigen Eindruck von Lust […]
|| 184 HKKA 7, 108. 185 Die aufgrund der auffälligen Farbgestaltung hervortretende Künstlichkeit des Bildes konterkariert das ‚realistische‘ Selbstverständnis des Textes, denn „[d]as Hervortreten des Materials und der Machart verstößt gegen die Programmatik des Realismus, welche die Aufgabe des Künstlers in der verklärenden Darstellung der Wirklichkeit lokalisiert.“ Aus: Annette Keck: Transsexualität in der Literatur. Tomboys, Kröten, Kings und Queens zwischen 1880 und 2000. In: Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction. Hg. von Nicolas Pethes und Silke Schicktanz. Frankfurt am Main 2008, S. 113–132, S. 119. 186 HKKA 7, 108.
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gleich darauf ganz widerwärtig berührt“187 zeigt, in ein Wechselbad der Gefühle stürzt. Die zeichenhafte ‚Fremdbenutzung‘ der eigenen Frau lässt Erwin eine reflexartige Lustangst empfinden, die jedoch nur in der Phantasie taugt und auf Darstellungsebene als ein Angriff auf die eigenen Besitztümer registriert wird, so dass der ‚Eheherr‘ alle Spuren dieser latent prostitutiv assoziierten Provokation umgehend tilgt, indem er das ‚falsche‘ Bild der Gattin als eine „Taktlosigkeit“188 verhüllen und an die eigene Adresse verschicken lässt. Der Kauf dieses Bildes, das als unautorisierte Abbildung einer idealisierten Frauenfigur selbige zu einem frei verfügbaren „Verkaufsgegenstand“189 bestimmt, gilt zwar vordergründig der Abwehr eines Zugriffs Dritter, verweist zugleich jedoch auf die öffentliche Dimension des Bildungs- und Brautschauprojekts. Denn wenngleich dem „käufliche[n] Malermodell“190 aus den Händen der vom Ich-Erzähler verabscheuten Malerin erwartungsgemäß die „rechte Persönlichkeit und Seele fehlten“191, bringt die öffentliche Zurschaustellung dieses Werkes Erwins eigenes Vorhaben in trefflicher Weise auf den Punkt, da dieser nicht bloß von der Hoffnung getrieben ist, eine adäquate Partnerin zu finden, sondern maßgeblich von der Idee, jene in der Heimat als sein persönliches Werk einem breiten Publikum zu präsentieren. Indem die Malerin folglich noch vor Erwin ein ‚Bild‘ Regines in Umlauf bringt, wird angesichts der Wut des Amerikaners ersichtlich, dass dessen Brautsuche keineswegs eine intime Angelegenheit bezeichnet, sondern von vornherein als eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung exklusiven Künstlertums angelegt ist. Doch auch mit den Waffen eines privilegierten Konsumenten – kaufen, verpacken, verschiffen – kann der Amerikaner die von der Malerin entfesselte Materialisierung von Bildern rund um das Wesen ‚Regine‘ nicht mehr eindämmen, so dass er bei seiner Rückkehr in der eigenen Wohnung von einem „mehr als drei Fuß hohe[n] Gipsabguß der Venus von Milo“192 überrascht wird, der belegt, wie versiert auch die drei Parzen an ihrem Bild Regines arbeiten. Die „eigentümliche Muckerei im Cultus dieses ernsten Schönheitsbildes“193, die von den „Renommistinnen“194 leidenschaftlich gepflegt wird, dient indes allein der Huldigung der
|| 187 HKKA 7, 108. 188 HKKA 7, 109. 189 HKKA 7, 108. 190 HKKA 7, 108. 191 HKKA 7, 108. 192 HKKA 7, 109. 193 HKKA 7, 109. 194 HKKA 7, 93.
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„eigene[n] Schönheit“195 und verrät sich entsprechend als eine Anleitung zur narzisstischen Selbstüberhöhung, wodurch selbst die ‚ernste‘ Venus zur gefälligen Projektionsfläche diskreditiert wird. Seine Wirkung verfehlt auch dieses Bild nicht, wie Erwin in Anlehnung an das Pygmalion-Motiv der griechischen Mythologie erfahren muss,196 wenn er im heimischen Schlafzimmer auf eine „von farbigem Leben pulsierende Erscheinung“197 trifft, die er als seine Ehefrau erkennt, welche sich in ungekannter Pose, den „herrlichen Oberkörper entblößt, um die Hüften eine damascierte Seidendraperie von blaßgelber Farbe geschlungen“198, präsentiert. Die Reaktion Erwins ist bezeichnend, denn mehr noch als die ungewohnte Erscheinung interessiert den Amerikaner die geistige Urheberschaft derselben, die wie selbstverständlich nicht der ‚unbeschriebenen‘ Regine, sondern einer fremden Macht zugedacht wird: „Wie kommt die einfache Seele dazu, auf solche Weise die Schönheit zu spiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat sie das gelehrt?“199 Obwohl als ‚Venus‘ nicht Werk von Erwins Händen, kann Regine ihren Gatten in einem „kleine[n] Verhör“200 davon überzeugen, die ungewohnte Pose allein für seine Rückkehr eingeübt zu haben, nicht aber die durch den zeichenhaften Verlust seiner bis dato uneingeschränkten Deutungshoheit erwachenden Zweifel gänzlich zerstreuen – denn „hat sie diese Künste [allein, S.V.] für ihn gelernt und aufgespart?“201 Da als Ursache der beobachteten Inszenierung ein eigenständiger Impuls Regines ausgeschlossen wird, weil mit den Vorstellungen Erwins nicht kompatibel, erscheint dem Gatten eine fremde Urheberschaft geradezu zwingend,202 zumal Regine sich erstmals explizit im Zeichen weiblicher Sexualität präsentiert. Obligatorisch tritt eine männliche Angst vor dem ‚Verrat‘ durch die Frau auf den Plan, der immer dann zu drohen scheint, wenn Sexualität und Sinnlichkeit als Metaphern des Nichtkontrollierbaren auch nur den kleinsten unkontrollierten Raum
|| 195 HKKA 7, 109. 196 Zum Pygmalion-Motiv bei Keller vgl. Gerhard Neumann: Der Körper des Menschen und die belebte Statue. Zu einer Grundformel in Gottfried Kellers Sinngedicht. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1997, S. 555–591. 197 HKKA 7, 109. 198 HKKA 7, 109f. 199 HKKA 7, 110. 200 HKKA 7, 110. 201 HKKA 7, 110. 202 Was so richtig wie falsch ist, da „alles, was Regine unternimmt, auf Altenauer bezogen“ (Sandberg Russell: Das Problem der Identität, S. 127) ist, so dass Erwins Skepsis in Sachen ‚Urheberrechte‘ stets auch auf das eigene Wirken zurückweist.
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in einer Frauenfigur beanspruchen. So mag zwar die „Unerfahrenheit und Unschuld der guten Regine“203 gegenüber den Einfällen der „seltsamen Damen“204 als Erklärung für das entstandene Bildwerk und die ungekannten Posen einleuchten, dennoch wirkt die als Kontrollverlust erfahrene Fremdnutzung des eigenen ‚Werkes‘ durch Dritte in Erwin fort, wodurch im Schatten des bislang gepflegten ‚Bildes‘ der Gattin ein weiteres hinzutritt, das (noch) nicht dominant, aber offensichtlich auch nicht mehr aus der männlichen Psyche zu tilgen ist. Angesichts dieser stillen Zweifel nämlich reichen die missverständliche Beobachtung einer Hausangestellten und das Zutagetreten eines weiteren Gemäldes aus, um eine Kettenreaktion auszulösen, die schließlich zum Tod der Protagonistin führt.
5.2.7 ‚Mannsbilder‘ unter sich: Der ‚Südländer‘ als Bedrohung sexueller Verfügungsansprüche Das besagte Bild findet sich an für Erwin fatalster Stelle ausgerechnet im Hause eines stattlichen „Don Juan“205, der, „lang und schlank wie ein alter Ritterspeer, pechschwarz und blaß, mit der schönsten graden Nase und glühenden Augen“206, diverse Attribute viriler Männlichkeit an den Tag legt und in seiner Funktion als ein prototypisches Männerbild dazu beiträgt, dass angesichts dieser Bilderflut die Wirklichkeits- bzw. Zeichendeutung des verunsicherten Amerikaners nunmehr vollständig ins Subjektive abdriftet. Der glutäugige Brasilianer – „die neueste Schwärmerei der drei Parzen“207 – steht denn auch in einer ‚phantastischen‘ Reihe mit dem in der Venus im Pelz allseits begehrten athletischen Griechen oder auch dem ob seiner gewaltigen Erscheinung gefürchteten Häuptlingssohn aus den Berlocken, worin ein bürgerlich-männliches Angstszenario sich zeigt, das einen ‚Homme fatale‘ von zumeist fremdländisch-exotischer Herkunft imaginiert, der kraft seiner sexuellen Potenz die begehrte Frau unterwirft – und schlimmer noch: die Mannhaftigkeit seiner Kontrahenten verhöhnt. Obgleich es auf Textebene keine Belege für Erwins Verdacht gibt, überlagert dieses neue (Angst-)Bild alle vorigen Bilder und belegt die Wirkmächtigkeit eines streng heteronormativ organisierten Geschlechterdiskurses, der verschiedengeschlechtliche Figuren –
|| 203 HKKA 7, 111. 204 HKKA 7, 111. 205 HKKA 7, 106. 206 HKKA 7, 96. 207 HKKA 7, 96.
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die nicht verwandt, ungefähr gleichen Alters und ungebunden sind – zwingend in ein sexuelles Verhältnis zueinander setzt, so dass ein Zugriff des Südländers auf Regine allein deshalb unzweifelhaft scheint, weil es angesichts dieser Geschlechterlogik nicht anders sein kann.208 So verweisen sowohl die von mythologisch verklärten Weiblichkeitsbildern durchzogenen Heiratspläne des Amerikaners als auch dessen allgegenwärtige Verlustängste auf den hochgradig modellierten Wirklichkeitsbezug einer imaginationsvernarrten Männerseele, die zur Definition und Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes zwingend eine geeignete Projektionsfläche braucht und somit eine eklatante ‚Bedürftigkeit‘ verrät. In dem Maße nämlich, in dem Regine in Altenauerscher Tradition und in Anlehnung an den literarischen Topos des ‚Locus amoenus‘ zu einer Spielstätte männlicher Reinheitsphantasien wird – ihre aufrichtige Gattenliebe wie eine „lebendige Krystallglocke, die so treu die Rosen schützte“209, erscheint, während ihr „seliges Lächeln […] eben so leis um den Mund [spielte], wie das Wasser um die Blumen“210 –, verengt sich der Begriff von Realität auf den Bereich des unter den gegebenen Voraussetzungen (noch) Wahrnehmbaren. Dass der junge Graf aus Brasilien keinerlei unsittliche Beziehung zur Ehefrau Erwins unterhält, fällt somit in einen Bereich außerhalb der von Erwin wahrnehmbaren Realität, denn dass ein obligatorisch heißblütiger „Südländer“211 einem „artigen Wunder“212 wie Regine nicht widerstehen kann, liegt für „den nördlichen Mann“213 auf der Hand. In dieser Zwangsläufigkeit tritt ein geschlechtlich codierter Wirklichkeitsbezug hervor, der in seltener Deutlichkeit ‚Geschlecht‘ als einen maßgeblichen Faktor hinsichtlich der Konstruktion und vor allem auch Interpretation von ‚Realität‘ belegt. Denn obwohl rationale Erwägungen durchaus (noch) präsent sind – „es war immer eine Möglichkeit, daß der Graf nicht wusste, was er besaß“214 –, scheint diese Option mehr der intellektuellen Redlichkeit halber vorgetragen, als dass sich der im gedanklichen Kosmos Erwins darstellende gleichgeschlechtliche Wettstreit um Besitz und Deutungshoheit des Bildwerks ‚Regine‘ noch abwenden
|| 208 Eine schlüssige Evidenz scheint hier nicht von Nöten, denn die Angst vor dem sexuellen Übergriff des Südländers entzündet sich nicht an Fakten, sondern schlicht an dessen Potenz, was der Text metaphorisch an bürgerlichen Tischgewohnheiten verhandelt: „[S]eit wann trinken feine Herren [...] so viel süßen Wein, und seit wann frißt ein vornehmer Don Juan so viel Brot dazu? Und warum nicht, wenn er Hunger hat? Der erst recht!“ (HKKA 7, 106) 209 HKKA 7, 99. 210 HKKA 7, 99. 211 HKKA 7, 97. 212 HKKA 7, 99. 213 HKKA 7, 112. 214 HKKA 7, 113.
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ließe. Wenn der Amerikaner gar kurzzeitig in Betracht zieht, „den Feind seiner Ehre im Angesichte des Bildes nieder[zu]stoßen“215, erweist sich das Gemälde Regines, das zwar deren Venuspose, nicht aber ihr Gesicht zeigt, als derart wirkungsmächtig, dass es nicht nur (eine vermeintliche) Realität abbildet, sondern im Gegenteil Realität hervorbringt. So wird das freizügige Werk der Malerin zum Ausgangspunkt eines Konflikts um männliche Ehre, der sich indes allein in Erwins Wahrnehmung abspielt und einen egozentrischen Wirklichkeitsbezug verrät, in welchem die reale Gattin als dekorativer Außenposten eines männlichen Egos fungiert. Erwins impulsive Reaktion dokumentiert die Grenzen männlicher Handlungsfreiheit, da Männerfiguren in einer patriarchal geordneten Welt ihre Ansprüche zwar in ökonomischer, sozialer, politischer und auch sexueller Hinsicht von einer privilegierten Warte aus geltend machen können, dabei aber jederzeit den Gesetzen des sie begünstigenden Systems verpflichtet sind, so dass Erwins Zeichendeutungskompetenz folgerichtig an dem Punkt ihre Objektivität einbüßt, wo es sein ‚Mannsein‘ verlangt. Entsprechend scheint dem Text eine nüchternanalytische Deutungsweise des vermeintlich gehörnten Ehemanns unter den gegebenen Umständen geradezu ehrenrührig, worin sich der Eindruck verstärkt, dass die gedankliche Autonomie eines Mannes dann ein Ende findet, wenn sie die sozialen Erwartungen, die mit dem eigenen Geschlecht unauflöslich verknüpft sind, konterkariert. Konsequenterweise versagt der Text denn auch selbst dem wohlhabenden und gebildeten Amerikaner an dieser Stelle die Freiheit, rational zu denken, wodurch zugleich die sich verschärfenden Kommunikationsprobleme der Eheleute nicht länger als eine bloß unglückselige Verkettung von Missverständnissen erscheinen, sondern als ein Tribut an geschlechtlich begrenzte Denkungsweisen. Erwin Altenauer hat folglich alle Freiheiten – nicht aber die Freiheit, nicht als Mann zu denken bzw. zu (re-)agieren. So kann auch der Ich-Erzähler nicht anders, als die Ehre Erwins im Schoße der Gattin zu verorten und angesichts des vermeintlichen Ehebruchs, der in wenig subtiler Wortwahl männliche Penetration als einen ‚Sieg‘ begreift („Und wenn der Verführer vielleicht wirklich ins Haus gedrungen ist, muss er denn wirklich gesiegt haben?“216), eine „traurige Gerichtsverhandlung“217 zu eröffnen, in welcher die Ehebrecherin zur Sühnung dieser Kränkung „gerichtet“218 und „vernichtet“219 wird.
|| 215 HKKA 7, 113. 216 HKKA 7, 106. 217 HKKA 7, 114. 218 HKKA 7, 113. 219 HKKA 7, 113.
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Der durch männliche Ehrvorstellungen begrenzte Deutungshorizont des Amerikaners wird somit zum Ausgangspunkt einer selbstreferenziellen Zeichenproduktion und -interpretation, die vorführt, wie Zeichen eine ‚Realität‘ hervorbringen, die, obgleich ohne faktische Entsprechung, ebenso zur maßgeblichen Realität Dritter wird. Indem der Text seinen Protagonisten unter den beschriebenen Vorzeichen einen fiktiven Ehebruch verhandeln lässt, initiiert er auf Darstellungsebene eine signifikante Steigerung der Bildproduktion (Regine als ‚Sünderin‘, der Brasilianer als ‚Don Juan‘), die das Ergebnis der nachfolgend anstehenden ‚Gerichtsverhandlung‘ bereits erahnen lässt.
5.2.8 ‚Frachtüberführung‘ auf den Wassern des Hades: Ortswechsel, Isolation und Pathologisierung Um dem als verdorben erkannten Umfeld aus Parzen, brasilianischen Adligen und einer „dämonische[n] Malerin“220 zu entkommen, übt der in unautorisierten Bildwerken „Ertrinkende[]“221 seine Macht in einem handfesten Sinne aus und überführt die Ehefrau in seine nordamerikanische Heimat, wo der ausstehende Richtspruch vorgeblich der Zeit anvertraut wird, während tatsächlich das Urteil des Amerikaners längst gefallen ist: „O Mutter, Christus der Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beschützt und vor der Strafe; aber er hat nicht gesagt, daß er mit ihr leben würde, wenn er Erwin Altenauer wäre!“222 Folglich wird anstelle des ersehnten Musterbildes deutschen Volkstums nunmehr eine Ehebrecherin für den Transport vorbereitet, so dass das vor lauter Bildern sich selbst entfremdete Original in Gestalt einer „dicht verschleierten Frau“223 aus dem Haus geführt wird – gefolgt von einer Venusstatue, die, obgleich „mit Stricken festgebunden“224, ebenfalls schwankend hinfort geschafft wird. 225
|| 220 HKKA 7, 112. 221 HKKA 7, 113. 222 HKKA 7, 121. 223 HKKA 7, 116. 224 HKKA 7, 117. 225 Treder etwa formuliert diesbezüglich: „Dieses leicht schwankende Bild der Venus von Milo ist die Gestalt gewordene Ohnmachtserklärung desjenigen, der auszog, die Natur zu domestizieren und die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens erkennend, die hier gleichsam am Frauenbild in seiner klassischen Urgestalt demonstriert wird, das Domestikationsobjekt für die eigene Unfähigkeit straft.“ Aus: Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 89.
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Die ‚Zwangsumsiedlung‘ einer als normverletzend identifizierten Frauenfigur zum Zwecke eines kathartischen Reinigungsaktes und anschließender Wiedereingliederung beschreibt ein wiederkehrendes Motiv, woraufhin auch Regines Reise in die ‚Neue Welt‘ von einer unheilvollen Todesmetaphorik begleitet wird. Indem der Text die Überfahrt nach Amerika als ein „Dahinfahren zweier verlorenen Schatten auf Wassern der Unterwelt“226 ersinnt, installiert er eine poetologische Referenz an „die Traumbilder alter Dichter“227, die an die mythologische Figur des Charon erinnern, der in der griechischen Sagenwelt die Toten an die Pforte des Hades geleitet, nicht ordnungsgemäß bestattete Leichen hingegen als ewige Schatten am Ufer umherirren lässt. Nachdem Erwin seine Brautschau stets mit mythologischen Zitaten überhöht hatte, zeichnet sich der Fall der mustergültigen Frau nun unter ähnlichen Vorzeichen ab und führt „die halb Geächtete“228 auf das amerikanische Festland, wo der Fokus von zuvor noch zwei beteiligten ‚Schatten‘ zunehmend auf die von den Ehebruchphantasien des Gatten nichts ahnende Regine gelenkt wird. Die Diskrepanz zwischen der anmutigen Erscheinung und (vermeintlich) erwiesenen Unmoral der Braut lässt die Mutter Erwins die Praxis einer pathologisierenden Sanftmut gegen die Gefallene einführen, woraufhin sich das neue Umfeld Regines sämtlich in einer Weise verhält, „wie es etwa verwirrten kranken Personen gegenüber geschieht.“229 Der Vorwurf des Ehebruchs wiegt in der bürgerlichen Werteordnung der dargestellten Welt offenkundig derart schwer, dass auf eine moralische Verdammung der ‚Sünderin‘ nur dann verzichtet werden kann, wenn stattdessen eine Pathologisierung derselben erfolgt. Diese Pathologisierung wiederum wird als ein nachgerade humaner Akt ausgegeben, der nämlich das gedankliche Fundament bereitstellt, um die Unvereinbarkeit von Ehebruch und Moral dahingehend aufzulösen, dass nur eine Erkrankung der betroffenen Person vorliegen kann, nicht aber eine freie Willensäußerung. In diesem Sinne wird Regine als eine ‚kranke‘ Frauenfigur an die Grenzen ihrer Mündigkeit geführt, um hinsichtlich des zu erwartenden Urteils auf Nachsicht gegen eine (kranke) Amoralische hoffen zu können, wo die Verdammung einer (gesunden) Unmoralischen Gewissheit ist. Weil somit nicht Wille, sondern Krankheit als Ursache des längst zum Fakt erklärten Sündenfalls diagnostiziert wird, kehren zunehmend die „die Spuren
|| 226 HKKA 7, 117. 227 HKKA 7, 117. 228 HKKA 7, 118. 229 HKKA 7, 118.
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des Guten“230 in Regine zurück, deren „edle Natur“231 sich in der Art ihrer Haushaltung widerspiegelt und eine Frau zeigt, deren Inneres „ebenso reinlich geordnet als unverschlossen und für jedermann zugänglich“232 scheint wie ihr stets aufgeräumtes Zimmer. Jedoch werden diese Zeichen von Unschuld im Lichte der angenommenen Schuld allenfalls als Zeichen der Besserung verstanden, nicht jedoch als Anlass, das gefällte Urteil zu revidieren, worin im Gegenteil die Übermacht männlicher Angstbilder sich bestätigt und Erwin trotz allem das Scheitern seines Projekts bedauern lässt, denn „je unvermeidlicher ihm der Verlust erschien, um so unersetzlicher und einziger dünkte ihm die Unselige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet hatte.“233 Obwohl sich folglich die Anzeichen einer Fehlinterpretation verdichten, erweist sich die Furcht vor dem männlichen Ehrverlust, „den er mehr als nur ahnen und fürchten mußte“234, als derart realitätsbestimmend, dass retardierende Momente angesichts alles überlagernder Angstphantasien ausbleiben. Dass der nächtliche Herrenbesuch der daraufhin tief verwirrt wirkenden Gattin, die jedoch lediglich einem flüchtigen Bruder Unterschlupf gewährt hatte, ausschließlich unter sexueller Perspektive verhandelt und als ein Anschlag auf die soziale wie sexuelle Reputation Erwins gewertet wird, belegt, dass auch der Frauenbildner selbst nicht umhinkann, in gewisser Weise ‚Bild‘ zu sein, nämlich dem vorherrschenden Männerbild zu entsprechen hat. Weil zudem die Beherrschung des weiblichen Geschlechts in Strukturanalogie zur Erringung sozialer, politischer und ökonomischer Macht konzipiert ist, stellt der außereheliche Geschlechtsakt der Gattin insbesondere für einen Mann „alt vornehmen Herkommens“235 einen umfänglichen Gesichtsverlust dar. Entsprechend kompromisslos begrenzt das Handlungsmodell ‚Mannsein‘ den Deutungshorizont seiner Repräsentanten und diese wiederum die soziale Wirklichkeit ihres Umfeldes, so dass die unfreiwillig „freiwillige Gefangene“236, die angesichts der auf sie einwirkenden Strafreize ihre Schuld an falscher Stelle vermutet, ihre letzte Ausflucht in der Aufgabe aller Hoffnung auf eine diesseitige (Er-)Lösung sucht. Der Suizid der Titelfigur löst zwar den novellistischen Konflikt und die ihm vorausgegangenen Irrtümer durch einen Abschiedsbrief Regines auf, befreit die ‚Unselige‘ jedoch nicht von ihrer Vereinnahmung als eine kollektive Projektionsfläche. Stattdessen setzt eine neuerliche Idealisierung der einsti|| 230 HKKA 7, 119. 231 HKKA 7, 119. 232 HKKA 7, 119. 233 HKKA 7, 119. 234 HKKA 7, 119. 235 HKKA 7, 61. 236 HKKA 7, 118.
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gen Magd vonseiten des Textes ein, der den Freitod der verzweifelten Frau als einen emanzipatorischen Akt einer zutiefst verunsicherten, aber durch und durch reinen Seele inszeniert.
5.2.9 Vergebliche Flucht: Der weibliche Freitod als Stimulus einer männlichen Imaginationsmaschinerie Die finale „Heimführung“237 Regines wird vom Text als eine Überführung der unschuldig Gerichteten aus den Händen des Gatten in die Hände einer jenseitigen Instanz inszeniert, welche ebenfalls von patriarchalen Vorstellungen kündet und einen Herrschaftsanspruch impliziert, dem sich Regine bereits zu Lebzeiten unterwirft, wenn sie sich „vor einem Stuhle knien[d], mit gefalteten Händen“238, dabei „tief vorn über gebeugt“239, in demütiger Schicksalsergebenheit zeigt. Angesichts dieses Unterwerfungsgestus stirbt die Titelfigur einen gleich doppelt tragischen, nämlich sowohl irrtümlich adressierten wie auch vergeblichen Freitod. Irrtümlich, weil sie in Unkenntnis des fälschlicherweise gegen sie erhobenen Untreuevorwurfs ihre soziale Isolation als Strafe für die Bildwerke der Malerin und die Taten des Bruders deutet, und vergeblich, weil sie sich als die zentrale Funktionsträgerin des Textes zwar ihrer Scham, nicht aber der hierfür verantwortlichen männlichen Verwertungsmaschinerie entziehen kann. So wird Regines Suizid als Heimkehr einer geschundenen, durch den ‚bildenden‘ wie ‚bildnerischen‘ Zugriff anderer der Fragmentierung preisgegebenen Seele inszeniert, die im Tode zu ihrer verlorenen Ganzheitlichkeit zurückfindet – und somit nicht männlichen Bilderwelten entflieht, sondern im Gegenteil diese über den eigenen Tod hinaus stimuliert. Es folgt zwar auf die „Geburt des Bildes […] der Tod der Frau“240, nicht aber im Umkehrschluss auf den Tod der Frau das Ende ihrer Bildlichkeit. Äußerlich dokumentiert wird der innere Reinigungsprozess durch textile Zeichen,241 die im Falle Regines eine symbolische Rückkehr zu den Ursprüngen der eigenen Existenz bezeugen, da die verzweifelte Frau zu ihrem Freitod „das letzte Sonntagskleid angezogen [hatte], welches sie einst als arme Magd getragen, || 237 HKKA 7, 83. 238 HKKA 7, 120. 239 HKKA 7, 120. 240 Schuller: Literarische Szenerien und ihre Schatten, S. 83. 241 Lachmann interpretiert die Kleiderwahl Regines als Ausdruck einer Identitätskrise, die von einer Sehnsucht nach Heimat und Klassenzugehörigkeit kündet und Diskurse zu Gesellschaft und Nationalität spiegelt. Vgl. Lachmann: Irritationen von Identitäten, S. 218.
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einen Rock von elendem braunen, mit irgend einem unscheinbaren Muster bedruckten Baumwollzeuge.“242 Im Moment des Todes bestätigt sich das „ärmliche Kleid“243 der Magd endgültig als das „Gewand eines Königskindes“244 und auch die Benennung der Protagonistin – die mal eine Regine, mal eine Regina ist – lässt rückblickend ein Muster erkennen. So wird die den Text dominierende Variante ‚Regine‘ in der Heimat der Braut nur ein einziges Mal, nämlich im Moment der offiziellen Werbung Erwins im Hause der Eltern, durch die lateinische Ursprungsform ‚Regina‘ ersetzt, welche dann erst wieder nach Ankunft der jungen Frau in Amerika, dafür in nunmehr gesteigerter Frequenz in Erscheinung tritt. Die in ihrer unverschuldeten sozialen Isolation Trost und Vergebung in der demütigen Hinwendung an eine höhere Macht suchende Regine ist nun wieder vermehrt eine ‚Regina‘ – eine Königin (lat. regina), die angesichts ihrer Unschuld und Opferbereitschaft schon zu Lebzeiten „etwas Heroisches“245 zeigt. Die Namensvariante ‚Regina‘ untermauert somit einerseits einen offiziellen bürgerlichen Rechtsakt (Heirat), während sie andererseits zur Beschreibung des letzten Wegstücks einer jungen Braut von Isolation über Kontemplation bis hin zum Freitod gewählt wird, so dass die Namenswahl sowohl das Betreten als auch Verlassen (Tod) des Hoheitsbereichs ihres Gatten dokumentiert. Im Moment der Erlösung von allen Widrigkeiten, der ein Moment von „Stille und […] Verlassenheit“246 ist, findet die „im Tode schwere Gestalt“247 symbolisch zu ursprünglichen ‚Gewicht‘ – nämlich ihrer Identität – zurück, während Erwins Wiederbelebungsversuche ein letztes Mal das Schicksal einer vollumfänglich instrumentalisierten Frauenfigur vor Augen führen,248 die mehr einer Idee denn ihrer Individualität wegen begehrt und selbst im Tode noch „wie eine leichte Puppe in die Höhe“249 gehoben wird. Schließlich der Tatsache gewahr, dass er nicht der Gatte einer Ehebrecherin, sondern der Erwählte einer ‚Königin‘ ist, schließt sich um die Tote ein Kreis aus alter ‚Fabelzeit‘, der die einstige Magd postum zu einem Inbegriff von tugendhafter Weiblichkeit stilisiert und auf diese Weise die Phantasien Altenauers fortschreibt. Weil die Tote zudem ihren Abschiedsbrief direkt über dem
|| 242 HKKA 7, 122. 243 HKKA 7, 122. 244 HKKA 7, 65. 245 HKKA 7, 127. 246 HKKA 7, 121. 247 HKKA 7, 122. 248 „Es ist darum auch bezeichnend, daß der Mann die Frau weniger als Individuum liebt denn als Gattung. Er idealisiert nicht eigentlich das einzelne Weib, sondern das weibliche Prinzip.“ Karl Scheffler: Die Frau und die Kunst. Eine Studie. Berlin 1908. 249 HKKA 7, 123.
366 | Männliche Schöpfungsphantasien: Zur Modellierung des weiblichen Geschlechts
Herzen trägt, um zu „beweisen, wie sie ihn [Erwin, S.V.] bis in den Tod liebe“250, bleibt trotz der von Regine herbeigeführten ‚Scheidung‘ im Tode das bürgerliche Ideal einer in ihrer Treue unerschütterlichen Ehefrau intakt. Der verzweifelte Befreiungsschlag bewirkt somit im Gegenteil eine Zementierung ihres Status als männliche Projektionsfläche und bestätigt, dass es – zumal für eine Frauenfigur in ‚realistischen‘ Erzähltexten – schlicht nicht möglich ist, „außerhalb der diskursiven Gepflogenheiten zu stehen, durch die wir konstituiert sind“251. Die Kritik am egozentrischen Bilder- und Bildungswahn Altenauers, dessen ‚pygmalische‘ Ideen von idealischer Weiblichkeit dem leibhaftigen Frauengeschlecht gegenüber wie eine latent misogyne Ablehnung aller nicht-idealen Erscheinungsformen des Weiblichen anmuten,252 fällt somit auf einen Text zurück, der sich die Projektionsfläche ‚Regine‘ in gleicher Weise zu eigen macht. So konterkariert der Text die emanzipatorische Dimension des Verzweiflungsakts der jungen Braut, indem er diese durchaus radikale Absage an männliche Projektionslüste auf Darstellungsebene in einer Weise verklärt, die wiederum eben diese Lüste befriedigt. Die transzendental überhöhte Restauration männlicher Versöhnungsutopien von liebevoll-fürsorglicher Weiblichkeit kumuliert in der über den Tod hinaus fortbestehenden Gattenliebe Regines, so dass der Text männliche Sehnsuchtsbilder rettet, indem er im Gegenzug das weibliche Individuum opfert. Gerade weil der Text Regines Unschuld und die ihrem Suizid zugrunde liegende Verkettung fataler Missverständnisse stets betont, eignet ihm dieser völlig unnötige Freitod umso mehr, um seine Ideen von der unerschütterlichen Integrität einer unverbildeten, ‚reinen‘ Frauenfigur zu bestätigen. Der Absage des Textes an Erwins Bildungsprojekt folgt somit nicht etwa eine Abkehr von männlichen Bilderwelten, sondern im Gegenteil eine Renaissance derselben im Zeichen einer || 250 HKKA 7, 123. 251 Judith Butler: Für ein sorgfältiges Lesen. In: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Hg. von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser. Frankfurt am Main 1993, S. 122–132, S. 126. 252 Zur Misogynie der ‚Frauenverehrung‘ Pygmalions vgl. Eva Kormann: Pygmalions Geschöpfe. Misogynie, Traumfrauen und belebte Statuen. In: Wider die Frau. Zu Geschichte und Funktion misogyner Rede. Hg. von Andrea Geier und Ursula Kocher. (Literatur, Kultur, Geschlecht: Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 33) Köln u. a. 2008, S. 59–72. Ebenso Spahlinger, der in Bezug auf den antiken Pygmalion feststellt, dass dessen Verachtung des ‚realen‘ weiblichen Geschlechts nicht eine generelle Verachtung des weiblichen Geschlechts meint, sondern allein jene im Vergleich zu seinen strengen Idealen ‚degenerierten‘ Erscheinungsformen ablehnt, so dass in ähnlicher Weise auch für Erwin Altenauer gilt, dass ihm in Regine „erstmals ein Objekt [begegnet, S.V.], das den hohen Ansprüchen seiner Liebe genügt.“ Aus: Lothar Spahlinger: Ars latet arte sua. Untersuchungen zur Poetologie in den Metamorphosen Ovids. (Beiträge zur Altertumskunde 83) Stuttgart 1996, S. 61f.
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noch umfänglicheren Überhöhung der weiblichen Hauptfigur. Der Tod bringt Regine folglich nicht die ersehnte Freiheit – vielmehr zementiert dessen Darstellung den Absolutheitsanspruch einer männlichen Imaginationsmaschinerie rund um das weibliche Geschlecht, so dass die vom Text intendierte ‚Moral‘ der Geschichte, dass nämlich Erwin unzulässigerweise das Naturwesen ‚Regine‘ von seinen Wurzeln entfernt und damit dem Untergang preisgegeben hat, eine reichlich fadenscheinige Angelegenheit ist, zumal die Kritik am einzelnen männlichen Individuum den Text nicht davon abhält, selbst in gleicher Weise zu verfahren.
5.3 Die Malerin: Totalverweigerung und ihre Folgen 5.3.1 Die Abwehr des männlichen Blicks als Verrat an der weiblichen ‚Natur‘ Um der am Beispiel Regines aufgezeigten ‚Bildwerdung‘ zu entgehen, bleibt weiblichen Figuren der herrschenden Geschlechterlogik zufolge nur der Ausweg einer Negierung jeglicher Attribute, die potenziell geeignet sind, männliche Sehnsüchte zu stimulieren. Wie man sich als eine Projektionsfläche männlicher Phantasien erfolgreich disqualifiziert, zeigt die vom Ich-Erzähler zur Namenlosigkeit verdammte Malerin, die als innerdiegetischer Kontrapunkt zur idealisierten Regine die denkbar radikalste Negierung ihrer ‚Natur‘ verfolgt und sich jedweden Markern und Attributen des weiblichen Geschlechts verweigert: Eigentlich war es ein junger Maler, denn sie schneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn man sie Malerin nannte. Die schöne wohlklingende Endsilbe, mit welcher unsere deutsche Sprache in jedem Stande, Berufe und Lebensgebiete die Frau bezeichnet und damit dem Begriffe noch einen eigenen poetischen Hauch und Schimmer verleihen kann, war ihr zuwider wie Gift, und sie hätte die verhaßten zwei Buchstaben am liebsten ganz ausgereutet.253
Die Vehemenz, mit der sich die Malerin in grammatischer Hinsicht gegen eine Markierung ihres Geschlechts sperrt, wird konsequent auch auf sozialer Ebene verfolgt und zeigt eine Travestiefigur, die durch ihre abweichende Kleiderwahl Geschlechterkonventionen zur Disposition stellt. Anders als etwa der unbedachte Fritz Amrain kann die Malerin bei ihrer Geschlechtercamouflage nicht auf Nachsicht hoffen, denn was in Seldwyla aus jugendlichem Übermut heraus geschieht, ist in vorliegendem Fall ‚Programm‘ bzw. bewusster Ausdruck von Identität: „Sie trug stets ein schäbiges Filzhütchen auf dem Kopfe und ließ das Kleid so einrichten, daß sie ihre Hände zu beiden Seiten in die Taschen stecken konnte, wie ein
|| 253 HKKA 7, 89.
368 | Männliche Schöpfungsphantasien: Zur Modellierung des weiblichen Geschlechts
Gassenjunge.“254 In Ablehnung herrschender Geschlechterkonventionen weiß die Malerin geschickt einen Mittelweg zwischen Subversion und Subordination zu finden, denn wenngleich sich „der Unhold“255 formal leidlich akkurat einem weiblichen Kleiderkodex unterwirft, wird die geschlechtliche Zeichenhaftigkeit der Garderobe nach Kräften konterkariert. Die ‚Vermännlichung‘ der Garderobe, die durchaus zeitgemäß von Zweckmäßigkeit statt Präsentation kündet,256 reduziert die Aura geschlechtlicher Reize auf ein Minimum und motiviert die Kleiderwahl der Malerin „mit der beleidigenden Absicht, ja keinen Anspruch auf weibliche Anmut und Frühlingsfreude machen zu wollen.“257 Weibliche Anmut und (männliche) Frühlingsgefühle zitieren Topoi von Fruchtbarkeit und Schöpfung, während der Habitus der Malerin ganz im Gegenteil von der Sehnsucht kündet, eine maximale Distanz zu diesen weiblich markierten Attributen zu wahren. Die demonstrative Verweigerungshaltung der jungen Frau resümiert der Text in einer bildhaften Verschließung des weiblichen Schoßes, wenn er den „weiblichen Schmierteufel“258 während einer Kutschfahrt in zeichenhafter Abwehrhaltung „die Beine übereinander“259 schlagen lässt und seine Antagonistin neben einem „nüchternen und schlampigen Kleide“260 obendrein mit einer Kurzhaarfrisur ausstattet, die „gleich einem Kranze von Schnittlauch […] um Ohren und Genick“261 sich legt und die Negation männlicher Schlüsselreize komplettiert. Von dieser Erscheinung provoziert, hält der Ich-Erzähler mit seinem Verständnis von Weiblichkeit dagegen und mahnt, dass durch die Suspendierung weiblicher Reize die Generativität der ‚Welt‘ zum Erliegen komme könne: „Was werden das für traurige Zeiten sein, wenn es so kommt, daß mit den lichten Kleidern und den fliegenden Locken der jungen Mädchen und Frauen die Frühlingslust aus der Welt flieht!“262 Die zitierte Frühlingslust ist somit unverkennbar eine Männerlust, die || 254 HKKA 7, 89. 255 HKKA 7, 96. 256 Die Männergarderobe der Malerin steht diesbezüglich in Einklang mit dem ‚Modebewusstsein‘ des Bürgertums im 19. Jahrhundert, das dem Mann eine modische, weil ‚weibische‘ Präsentation des Körpers versagt und stattdessen dunkle, sackartige (‚Sakko‘) Kleidungsstücke vorschreibt, um zu belegen, dass der bürgerliche Mann, „den Niederungen der Geschlechtlichkeit und Bedürftigkeit entwachsen, als universeller Mensch in Militär, Wissenschaft, Erwerbsarbeit und Politik von persönlichen Interessen abstrahierend seine erhabene Rolle spielen konnte.“ Aus: Brändli: Zur Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit, S. 115. 257 HKKA 7, 95. 258 HKKA 7, 94. 259 HKKA 7, 94. 260 HKKA 7, 95. 261 HKKA 7, 95. 262 HKKA 7, 95.
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eine Reduktion des weiblichen Geschlechts auf sexualisierte Körperlichkeit beschreibt und in erotisch aufgeladenen Bildern von ‚lichten Kleidern‘ und ‚fliegenden Locken‘ Fortpflanzungsphantasien auslebt. Hierin offenbart sich eine tiefe Sehnsucht nach naturhaften Sinnstrukturen, die im Zeichen von Geburt und zyklischer Wiederkehr auf die sexuelle Vereinigung mit dem weiblichen Geschlecht projiziert wird. Analog zum Bild des Frühlings, der von der Überwindung der Nöte und Entbehrungen des Winters kündet, wird das weibliche Geschlecht auf metaphorische Weise als Versöhnungsversprechen gegen die Härten des Mannseins angeführt, so dass die Travestie der Malerin die utopische Dimension des Weiblichen – aus Sicht des Ich-Erzählers – geradezu willentlich verhöhnt. In maximalem Kontrast zur burschikosen Malerin schwebt dem Ich-Erzähler eine bürgerliche Reißbrettweiblichkeit vor, die, „den blühenden Kopf mit den vollen reichen Locken von einem grünen Epheukranze umgeben, de[n] Körper in weißes Gewand gehüllt“263, zwischen latenter Erotik und reinweißer Unschuld das gesamte Bildspektrum männlicher Weiblichkeitsphantasien zu bedienen weiß, dabei jedoch sexuelle Verheißungen stets in bedenkenlos konsumierbaren Bahnen hält. Neben den Implikationen bzw. Irritationen des Geschlechtertauschs auf sexuellem Gebiet, denn Geschlecht ist im bürgerlichen Diskurs untrennbar verknüpft mit der Festlegung sexueller Präferenzen,264 entfaltet die Geschlechterleugnung der Malerin in einer Welt, in der Macht und Privilegien maßgeblich im Zeichen von Männlichkeit verhandelt werden, auch in dieser Hinsicht einige Brisanz. Weil nämlich, wie auch Fritz Amrain erfährt, Kleider Leute machen, erweist sich die Kostümierung der Malerin, die „mehr Männer- als Frauenkleider“265 besitzt, als ein sprichwörtliches Politikum, denn wenngleich sie ihre Männerkleider „nicht am Tage tragen durfte, so zog sie dieselben um so häufiger des Nachts an und streifte so in der Stadt herum“266. Eine Grenzüberschreitung, zu der die „Krähe“267 auch ihre Freundinnen ermuntert, so dass ihr Griff nach männlichen
|| 263 HKKA 7, 96. 264 Den (bürgerlichen) Konnex von äußerem Erscheinungsbild, Geschlechtsidentität und sexuellen Präferenzen meint auch Krafft-Ebing zu beobachten: „Wer aufmerksam die Damen in der Grossstadt betrachtet, findet gar häufig Persönlichkeiten, die durch kurze Haare, mehr männlichen Zuschnitt der Oberkleider etc. des Uranismus verdächtig erscheinen.“ Richard KrafftEbing: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen. 13., vermehrte Auflage. Hg. von Alfred Fuchs. Stuttgart 1907, S. 296. 265 HKKA 7, 90. 266 HKKA 7, 90. 267 HKKA 7, 95.
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Freiheitsrechten Schule macht und schließlich eine ganze Frauengruppe dazu verleitet, sich zu kostümieren und „als freie Männer unter das Volk zu gehen“268.
5.3.2 Das Ende der ‚Kröte‘: Vernichtungslüste gegen eine abweichende Frauenfigur Die Geschlechtercamouflage der Malerin ist somit nicht nur eine Provokation für eine männliche Projektions- und Imaginationsmaschinerie, der sich offenkundig auch die Erzählinstanz verpflichtet fühlt, sie ist zugleich ein direkter Angriff auf die soziale Ordnung einer bürgerlich-patriarchalen Welt, deren Privilegienvergabe durch eine auf Disjunktion fokussierte Geschlechterpolitik organisiert wird, die durch die absichtsvolle Verhüllung geschlechtlicher Unterscheidungsmerkmale ihre Ordnungskompetenz zu verlieren droht. Da der ‚Unhold‘ mit seiner geschlechtlichen Indifferenz weder zu Reproduktion noch Kompensation taugt, stattdessen mit seinem Treiben bewährte Ordnungskategorien sabotiert, bedenkt der Ich-Erzähler die ihre ‚Natur‘ verleugnende Malerin mit einer bildgewaltigen Diffamierungskampagne, um deren „Gelüste nach der Geschlechtsänderung“269 als ein ausdrücklich ‚widernatürliches‘ Unterfangen zu brandmarken: Er [Nero, S.V.] habe wollen guter Hoffnung werden und ein Kind gebären und zweiundsiebenzig Aerzten bei Todesstrafe befohlen, ihm dazu zu verhelfen. Die hätten keinen andern Ausweg gewußt, als dem Scheusal einen Zaubertrank zu brauen. Weil aber der Teufel nichts Wirkliches, sondern nur Blendwerke schaffen könne, so sei Nero allerdings schwanger geworden, zu seiner großen Zufriedenheit, und habe aber dann eine dicke Kröte aus dem Munde zu Tage gefördert. Auch für das Tierlein sei er dankbar gewesen und habe sich voll Eitelkeit Domina und Mutter nennen lassen.270
Die Mutterfreuden währen erwartungsgemäß nicht lange, denn die tierische Leibesfrucht des hybriden Kaisers strebt verlässlich ihrer ‚Natur‘ entgegen, springt alsbald vom Schoße der Amme in ein trübes Sumpfgewässer und dient dem Erzähler als ein untrüglicher Beleg dafür, dass aus dieser „Art Verirrung“271 nichts Gutes erwächst, folglich „möge jedesmal die Kröte in den Sumpf springen!“272 Das Schicksal der Krötengeburt erinnert entfernt an das Treiben des Narren auf Manegg, der zwar kein Verlangen nach Geschlechtsänderung hegt, wohl aber || 268 HKKA 7, 91. 269 HKKA 7, 89f. 270 HKKA 7, 90. 271 HKKA 7, 89. 272 HKKA 7, 90.
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als ein auf sozialer Ebene isoliertes, weil geschlechtlich zwiespältiges Wesen ebenfalls das Leben in zivilisationsfernen Räumen bevorzugt. Narr und Kröte werden diesbezüglich als Produkte narzisstischer Regellosigkeit angeführt, um angesichts derartiger ‚Existenzen‘ die ideologisch motivierte Ächtung – gar Ausrottung – uneindeutiger Geschlechtscharaktere zu legitimieren.273 Als Mahnmale geschlechtlicher Tabubrüche dienen Krötengeburten und Sumpfexistenzen den Texten somit nicht nur als Beleg für die Berechtigung geltender Normen, sie verhindern als bildmächtige Drohkulissen darüber hinaus, dass Gesetze und Strukturen des bürgerlichen Geschlechtermodells unterlaufen werden können, ohne sich dabei der Gefahr einer sozialen Ächtung auszusetzen. Die vom Text im Lichte des Negativbeispiels der Malerin bekräftigte Forderung nach ‚Geschlechtereindeutigkeit‘ dient dabei vor allem männlichen Interessenslagen, denn während die geforderte Akzeptanz ‚natürlicher‘ Geschlechtergrenzen für das weibliche Figurenpersonal Subordination und Funktionalisierung meint, erfahren die Protagonisten eine Privilegierung qua Geschlechtszugehörigkeit. Die fehlende Achtung vor Normen und Traditionen charakterisiert denn auch die Kunst der Gescholtenen, welche wiederum dem Text als Bestätigung seiner Skepsis gegen eine disharmonische Persönlichkeit eignet,274 die mit Vorliebe überzeichnete Bildwerke hervorbringt und das vom Ich-Erzähler propagierte harmoniebetonte Weiblichkeitsideal mit den Worten „Das sind tempi passati […]!“275 schroff zurückweist. Entsprechend erklärt sich die Ablehnung dieser ‚modernen‘ künstlerischen Darstellungsweise durch den Erzähler nicht zuletzt als Absage an den emanzipatorischen Anspruch eines weiblichen Künstlertums, das unter dem Deckmantel der Kunst auf zeichenhafte Weise mit Konventionen bricht, indem es sein Sujet nach eigenem Dafürhalten interpretiert. Diese Freiheit setzt den ‚Maler‘ in ein metaphorisches Rivalitätsverhältnis zu Erwin Altenauer, so dass der Ich-Erzähler eingedenk seines ideologischen Horizonts nur konsequent verfährt, wenn er „ein stattliches Masculinum“276 für die Beschreibung des ‚Unholds‘ bemüht und das mit der Malerin geführte Wortgefecht über Kunst und Künstlertum als ein
|| 273 Treder stellt hinsichtlich des eindeutigen Erzählerkommentars bzw. -wunsches fest, dass „die Ausrottung der vermännlichten Frau gemeint“ ist. Aus: Treder: Von der Hexe zur Hysterikerin, S. 107. 274 Vgl. hierzu etwa Keck: „Dem Wunsch nach Geschlechtsänderung entspricht die verfälschende Darstellung dieser ‚Kunst‘.“ Keck: Transsexualität in der Literatur, S. 119. 275 HKKA 7, 96. 276 HKKA 7, 96.
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Stellvertretergefecht über Fragen von ‚richtiger‘ Weiblichkeit bzw. die männliche Definitionshoheit über selbige versteht.277 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Diffamierung der Malerin als Diffamierung einer sich selbstbewusst von männlichen ‚Bildern‘ emanzipierenden Frauenfigur, deren Kunst und Äußeres im Zeichen von Disharmonie und Normabweichung diskreditiert werden, so dass angesichts der allgegenwärtigen ‚Bildstreitigkeiten‘ der Novelle weibliche Emanzipation im buchstäblichen wie übertragenden Sinne als die Freiheit, das eigene ‚Bild‘ selbst zu bestimmen, definiert ist. Einlösen kann die dargestellte Welt diese unintendiert versierte Definition von Emanzipation freilich nicht, denn in einem System männlicher Ordnung hätte ein solcher weiblicher Anspruch den unmittelbaren Totalausfall patriarchaler Versöhnungsphantasien zur Folge, so dass eine Frauenfigur mit derartigen Ideen konsequenterweise auf einer explizit sexuellen Ebene angegangen wird. Die Weigerung der Malerin, sich den Normen ihres Geschlechts zu unterwerfen, stattdessen gar mit einem bewusst abweichenden Erscheinungsbild zu provozieren, kann dem gedanklichen Horizont des Textes entsprechend nur als ein Akt von Vermännlichung begriffen und dargestellt werden, wodurch sich die textinterne Diffamierungskampagne gegen den ‚Schmierteufel‘ als eine Reaktion auf den drohenden Verlust der zur Metapher männlicher Bedürftigkeit stilisierten ‚Frühlingslust‘ enthüllt. So gründet ausgerechnet in der Travestie der Malerin, der willentlichen Verhüllung ihres sozialen Geschlechts, die Enthüllung männlicher Zuschreibungsstrategien. Diese Zuschreibungen nämlich setzen voraus, dass das anatomische Geschlecht als Bestimmungsgrundlage des sozialen Geschlechts akzeptiert wird, so dass zwar aus vom Wege abgekommenen Narzisstinnen tugendhafte Ehefrauen (Küngolt) oder Nonnen (Violande) und aus sinnesfeindlichen Drachen gar fürsorgliche Hausmütter (Baronin) geformt werden können, nicht aber eine überzeugte ‚Geschlechtsleugnerin‘ in diese Logik integriert werden kann. Eine Überzeichnung oder auch Vernachlässigung weiblicher Attribute scheint folglich korrigierbar, die umfängliche Negierung diskursiv vorgeprägter Geschlechtsidentität jedoch schränkt die gedanklichen Spielräume bzw. Zugriffsmöglichkeiten eines bürgerlichen Textes offenkundig derart ein,
|| 277 Von Erwin exemplarisch angeführt wird diesbezüglich Kunst und Person Angelika Kauffmanns (1741–1807), die als eine in der Schweiz geborene Künstlerin „in Selbstdarstellung und zeitgenössischer Rezeption einen ‛weiblichen‘, das heißt empfindsamen, moralisch-tugendhaften, Freundschaft, Melancholie und Grazie verpflichteten Künstlerinnentyp“ repräsentiert. Aus: Gudrun Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert. (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 26) Tübingen 1995, S. 313.
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dass in einem solchen Fall allein die Verdammung der betreffenden Frauenfigur bleibt. Das unversöhnliche Los der Malerin als das Los einer sich männlicher Ästhetik und Funktionalisierung grundsätzlich Widersetzenden bestätigt wiederum die bestenfalls temporäre, meist gar nur ‚dekorative‘ Autonomie vermeintlich selbstbestimmter Frauenfiguren. So erfüllt die maßgeblich dem väterlichen Erbe verpflichtete Bürgerstochter Hildeburg ebenso wie die vorübergehend entscheidungsbefugte Regel Amrain oder auch der kinderlose ‚Husar‘ Marianne einen auf Darstellungsebene konkret nachvollziehbaren Zweck, so dass das vordergründig emanzipatorische Moment dieser Figuren durch den systemrelevanten Nutzwert derselben nicht nur vollständig konterkariert wird, sondern im Gegenteil sogar der Aufrechterhaltung und Reproduktion von Unterdrückungsstrukturen dient. Ein allein sich selbst verpflichtetes weibliches Autonomiestreben ist offenkundig innerhalb der tradierten (Geschlechter-)Ordnung der Novelle weder realisierbar, noch überhaupt ‚intelligibel‘, wodurch die Diffamierungskampagne des Ich-Erzählers mit dem Ziel einer Entweiblichung der abtrünnigen Malerin sich als eine ‚logische‘ Reaktion auf deren destruktives Potenzial darstellt. Bürgerlich-patriarchaler Geschlechterpolitik gemäß wird das Versöhnungsideal ‚Frau‘ gegen zersetzende Einflüsse verwahrt, indem einer sich diesem Ideal nicht fügen wollenden Figur kurzerhand ihr ‚Geschlecht‘ bzw. das Recht auf freie Ausgestaltung desselben abgesprochen wird. Die metaphorisch vermittelte ‚Vermännlichung‘ der Malerin schützt folglich das Bild der ‚guten‘ Frau vor der Ansteckung durch einen sich gegen die eigene Natur auflehnenden ‚Unhold‘, der entsprechend radikal ausgegrenzt wird, um den Ausfall von Frühlingsfreuden auf eine rein persönliche Ebene zu beschränken. So bleibt von der Malerin das Bild einer Frauenfigur, die öffentlichkeitswirksam wie keine andere einen maximal emanzipatorischen, weil allein der eigenen Person verpflichteten Anspruch auf das eigene ‚Bild‘ erhebt, dafür jedoch mit der ihr von Textseite auferlegten Negierung eines in konventionellem Sinne verstandenen ‚Frauseins‘ zu bezahlen hat.
6 Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten So wenig wie der Tod einer Textfigur das Ende deren literarischer Verwertbarkeit bedeutet, so wenig besiegelt er das Ende geschlechtlicher Zuschreibungen, denn obwohl mit dem Tod alle Figuren gleichermaßen aus ihren lebensweltlichen Bindungen herausgelöst werden, weisen Art, Umstände und Funktion diesen finalen Aktes signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Der (literarische) Tod löst die geschlechtlichen Differenzkonstruktionen der untersuchten Texte nämlich keinesfalls auf, er steht im Gegenteil selbst im Dienst einer auf Polarisierung angelegten Geschlechterlogik, die ihn als einen Verkündenden letztinstanzlicher Wahrheit die eigenen Ideen bestätigen lässt, indem selbst Akte von Tod und Sterben noch vom Unterschied der Geschlechter künden und jenen somit über das Ende einer Textfigur hinaus fortschreiben. Entsprechend soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass die Darstellung von Sterbeakten die geschlechtlich codierte Realität einer vermeintlich überwundenen Diesseitigkeit nicht bloß abschließend resümiert, sondern die für diese Realität verantwortliche Ordnung in einem über den Tod hinausweisenden, entzeitlichenden Gestus reproduziert. Die ‚Vergeschlechtlichung‘ des Todes, sprich die Funktionalisierung und Metaphorisierung desselben unter geschlechtlicher Perspektive, erscheint umso bedeutsamer, als dass der Darstellung von Krankheit und Tod auf Textebene kaum mehr als ein paar Zeilen zugestanden werden, während symbolische Sterbeakte (Ohnmacht, Isolation) bzw. Todesäquivalente (Wahnsinn, ökonomischer Niedergang, Kinderlosigkeit) in den untersuchten Erzählungen allgegenwärtig sind. Das in Bezug auf Tod und Sterben zu beobachtende Ungleichgewicht zwischen dem Umfang der (expliziten) Darstellung und der textinternen Bedeutsamkeit von Sterbeakten belegt die zeichenhafte Verweisfunktion derselben, zumal Zeitpunkt und Umstände des Todes einer Textfigur stets in Relation zu deren Wirken und Moral stehen, so dass der Tod ganz im Zeichen des vorangegangenen Lebens steht. Er reflektiert demgemäß nicht nur das individuelle Schicksal einer von ihm beendeten Existenz, sondern maßgeblich auch die diskursiven Grenzen innerhalb derer sich die jeweilige Figur zu Lebzeiten zu orientieren bzw. organisieren hatte. Anders als im Leben gibt es für die Figuren zudem im Tode keine Maskerade, wodurch der Tod zu einem Ort der Wahrheit (verklärt) wird und die Quintessenz einer Existenz perspektivisch auf den Punkt bringt – wie es bildmächtig die letzten Worte des Landvogts von Greifensee umschreiben: „Der Schütze dort hat gut gezielt!“1
|| 1 HKKA 6, 247f. https://doi.org/10.1515/9783110630992-006
‚Die breite Brust zerschmettert‘: Männliches Sterben und männlicher Tod | 375
6.1 ‚Die breite Brust zerschmettert‘: Männliches Sterben und männlicher Tod Wie zielsicher der Tod eine Figur in jeder Hinsicht erfasst, zeigt sich am Beispiel des Narren von Manegg, der seiner zivilisationsfernen Zwitterhaftigkeit wegen aus einer erklärten Männerwelt weichen muss und dabei einen Sterbeprozess durchläuft, der wie eine bestätigende Rückschau auf eine abweichende Existenz erscheint – wenn der Sterbende, obwohl „bewußtlos“2, noch immer „krampfhaft“3 das Liederbuch als Sinnbild eines verfehlten Realitätsbezugs umklammert. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht als Bemessungs- und Verhandlungsgrundlage von Andersartigkeit erstreckt sich dabei nicht allein auf die Vernichtung eines einzelnen Männlichkeitsentwurfes von provozierender Geschlechtlichkeit, sondern dient darüber hinaus als ideologisches Fundament für die Auslöschung einer ganzen Genealogie, die dem Text zufolge allzu lange im Verborgenen ‚gewuchert‘ hatte. Die Ächtung eines vermeintlich regellosen Familienverbandes (‚Wucherung‘) belegt die Wirkmächtigkeit geschlechtlicher Zuschreibungen bzw. deren Bedeutung für den Erhalt und die Legitimation sozialer Strukturen, so dass normierte Vorstellungen von Geschlecht mit allen Mitteln gegen destruktive Einflüsse verteidigt werden. Dabei sind es nicht nur offenkundig normfremde Männerfiguren, die im Angesicht ihres Geschlechts einen frühen Tod erfahren, sondern im Gegenteil auch Protagonisten, die den Direktiven eines sozial konstruierten ‚Mannseins‘ achtsam Folge leisten. Dass aus einer privilegierten Geschlechtszugehörigkeit nicht zwingend lebensverlängernde Effekte erwachsen, erfährt etwa der Vater Pankraz’, der für seine Abkehr vom Seldwylschen Müßiggang einen hohen Preis bezahlt,4 denn ihn treibt eine so starke Sehnsucht, ein ordentlicher und fester Mann zu sein, daß ihn der herrschende Ton, dem er als junger Mensch nicht entgehen konnte, angriff; und als seine Glanzzeit vorüber gegangen und er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatze der Thaten, da erschien ihm alles wie ein wüster Traum und wie ein Betrug um das Leben, und er bekam davon die Auszehrung und starb unverweilt.5
|| 2 HKKA 6, 140 3 HKKA 6, 140. 4 Was Kontje für den Vater Heinrich Lees resümiert, gilt nahezu wörtlich auch für den Vater des Knaben Pankraz: „Der Vater wird von den Stürmen der Zeit emporgehoben, fliegt eine Weile tapfer mit, aber am Ende stürzt er in den Tod.“ Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus, S. 193. 5 HKKA 4, 13.
376 | Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten
Anders als der Narr auf Manegg achtet diese Männerfigur durchaus die Statuten eines bürgerlichen Männlichkeitsideals, scheitert jedoch an einem Umfeld, das dem Fleißigen alle Lebenskraft entzieht und Mannhaftigkeit als ein äußerst ‚energieintensives‘ Projekt zu erkennen gibt, das allzu leicht in Auszehrung und Desillusionierung mündet. Denn wenngleich die Seldwyler Lebensart als hauptverantwortlich für das vorzeitige Ende dieser männlichen Biographie angeführt wird, bleibt der Eindruck einer existenziellen Entkräftung als Preis für eine lebenslange Unterwerfung unter männliche Profilierungszwänge bestehen. An diesem auf einer geschlechtlichen Ebene verhandelten Spannungsverhältnis zwischen sozialen Normen und individuellen Nöten geht auch der übereifrige Kammmacher Jobst zugrunde, der sein Glück in einer beinahe pathologischen Fokussierung auf Fleiß und Genügsamkeit zu fixieren hofft, dabei jedoch sinnliche Regungen vollends negiert und schließlich mit seinem Leben für einen sich im entscheidenden Augenblick als defizitär erweisenden Wirklichkeitsbezug bezahlt. Hier rächt sich die bereitwillige Reduzierung der eigenen Person auf den Nutzwert eines gleichermaßen leidensfähigen wie leidenschaftslosen Fließbandarbeiters, der im Vertrauen auf kapitalistische Heilslehren eine verhängnisvoll passive Schicksalsergebenheit an den Tag legt und sich auf diese Weise selbst als leichtes Opfer einer weiblichen Scharade empfiehlt. Indem ausgerechnet eine Frauenfigur die in ihrer Aufsteigermentalität so versierten Kammmacher vorführt, wird das einseitig auf ökonomische Belange hin gepolte ‚Mannsein‘ der drei Gesellen als zutiefst defizitär zu erkennen gegeben, als dass mit dem Verlust von ökonomischer Potenz und Perspektive Architektur und Legitimation dieser Männlichkeitsentwürfe insgesamt ins Wanken geraten. Folgerichtig findet sich Jobst nach Wegfall seiner lebensweltlichen ‚Berechtigung‘ „ganz verloren“6 in einer Welt wieder, in der er „sich nicht zurecht finden“7 kann, da er deren Komplexität stets einer simplen Aufstiegslogik untergeordnet hat und nunmehr „schwermütig“8 den Tod einem Leben in sozialer Randständigkeit und moralischer Orientierungslosigkeit vorzieht. Ein solcher Verlust von Orientierung und Lebensmut bezeichnet auch das vorzeitige Ende des Forstmeisters aus Dietegen, der in seiner gütigen Ehefrau jene Zuversicht und Motivation findet, welche die Kammmacher in einem kapitalistischen Aufstiegsversprechen suchen, so dass der Tod der Gattin analog hierzu den Verlust eines moralischen Kompasses markiert und den Forstmeister in Alkoholkonsum und eine neuerliche Heirat treibt. Die Flucht auf ein gleichge-
|| 6 HKKA 4, 265. 7 HKKA 4, 265. 8 HKKA 4, 265.
‚Die breite Brust zerschmettert‘: Männliches Sterben und männlicher Tod | 377
schlechtlich geordnetes Schlachtfeld mit eindeutigen Frontverläufen bestätigt jene tiefe Sehnsucht nach verlässlichen Strukturen, die den Ziehvater Dietegens genau wie den Gesellen Jobst in die offenkundig befreienden Arme des Todes treibt. In diesen erscheint sein Sterben wie eine Rückschau auf ein beschwerliches Männerleben, zumal er sich „wie ein fleißiger Bergmann“9 durch die Reihen des Feindes „arbeitet[]“10, bevor ihm schließlich „eine verspätete verirrte Stückkugel Karls des Kühnen […] die breite Brust“11 zerschlägt und „er in einem kurzen Augenblick im Frieden der ewigen Ruhe dalag und nichts ihn mehr beschwerte.“12 Dieser Frieden, den der Forstmeister im Kriegstod findet, ist nicht zuletzt auch eine Erlösung von den Anforderungen des eigenen Geschlechts, die ein männliches Leben über weite Strecken wie einen permanenten Kriegszustand erscheinen lassen und über den irdischen Tod hinaus ihre Relevanz bestätigen, so dass Dietegen seinem Ziehvater nicht zufällig ein Begräbnis in unmittelbarer Nähe des gleichermaßen konkreten wie zeichenhaften Kriegsschauplatzes bereitet und jenen „samt seinem Schwerte […] zwischen die Wurzelarme einer mächtigen Eiche“13 zu Grabe legt. Schwert und Eiche als Sinnbilder männlicher Wehrhaftigkeit und Stärke illustrieren nicht nur eine letzte Ehrbekundung gegen den Verstorbenen,14 sie künden zugleich von der Bürde eines Lebens, das von Anbeginn an auf Mannsein ‚geeicht‘ ist und nunmehr seinen zeichenhaften Abschluss im Wurzelwerk eben dieser Metaphorik findet.
|| 9 HKKA 5, 238. 10 HKKA 5, 238. 11 HKKA 5, 238. 12 HKKA 5, 238. 13 HKKA 5, 238. 14 Den mythologischen Zeichengehalt der Eiche etwa resümiert 1833 der Heidelberger Professor der Medizin Johann Heinrich Dierbach „als ein Symbol des Lebens, der Stärke und Tapferkeit.“ Johann Heinrich Dierbach: Flora Mythologica oder Pflanzenkunde in Bezug auf Mythologie und Symbolik der Griechen und Römer. Ein Beitrag zur ältesten Geschichte der Botanik, Agricultur und Medicin. Frankfurt am Main 1833, S. 26. Darüber hinaus sind angesichts der Entstehungszeit des Erzählzyklus (1855–1874) auch politische Implikationen für die positive Bestimmung der Eiche bei Keller anzunehmen, da „die Eichensymbolik in Deutschland in den Freiheitskriegen gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts“ eine wichtige Rolle spielt und folglich ebenfalls für den politischen Diskurs Kellers von Relevanz sein dürfte, zumal die „Eichensymbolik [...] eine Verbindung von nationalen und liberalen Elementen“ darstellt, die maßgeblich auf die von Keller oft zitierte „liberale Tradition [der, S.V.] französische[n] Revolution zurück[geht], welche auf ihren Münzen den monarchischen Lorbeerkranz durch den republikanischen Eichenkranz ersetzte.“ Aus: Gottfried Gabriel: Rhetorik des Geldes – In Bild und Schrift. In: Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung. Hg. von Gert Ueding und Gregor Kalivoda. (Rhetorik-Forschungen 21) Berlin/Boston 2014, S. 421f.
378 | Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten
Auch das Leben des vom Waisenknaben zum Kriegsherren gereiften Dietegen findet sein konsequentes Ende auf dem Schlachtfeld, wo er „in einem der Mailänder Feldzüge endlich ums Leben kam und auf dem Friedhofe eines lombardischen Kirchleins begraben wurde.“15 Anders als im Falle des Narren von Manegg ist das Adverb ‚endlich‘ hier nicht eindeutig als ein wertender Erzählerkommentar auszumachen, wohl aber findet auch dieser stattliche Mann „mit langem Bart und goldener Ritterkette“16 ebenso wie sein Ziehvater den Tod in noch jungen Jahren fernab der Familie und in Verrichtung einer erklärtermaßen geschlechtsexklusiven Tätigkeit. Weil auch dieser Kriegstod wie eine Metapher männlichen ‚Berufs- bzw. Existenzrisikos‘ erscheint, reiht sich das Schicksal Dietegens nahtlos in die Riege der zuvor beschriebenen männlichen Lebensläufe ein, die allesamt ein ‚unnatürlich‘ frühes Ende durch die eigene oder von fremder Hand finden. Die zunächst paradox erscheinende Beobachtung, dass ausgerechnet den Angehörigen eines vordergründig privilegierten Geschlechts nicht nur kein lebensverlängernder Effekt aus ihrer Geschlechtszugehörigkeit erwächst, sondern im Gegenteil jene ein zumeist früher Tod ereilt, untermauert den in den vorangegangenen Analysen beschriebenen Kraftaufwand, den männliche Figuren für eine akzeptierte Existenz im Zeichen eines streng normierten Konzepts von Männlichkeit zu erbringen haben. So wirkt sich die rigoros verteidigte Idee männlicher Vorherrschaft offenkundig nicht bzw. nicht dauerhaft als ein Zugewinn an (männlicher) Lebensqualität aus, vielmehr realisiert sich dieses Konzept im Gegenteil auf Kosten des Einzelnen, so dass die Geschlechter- bzw. Männlichkeitspolitik der untersuchten Novellen einen Männertod inszeniert, der das männliche Individuum, egal ob irritierender Außenseiter oder gefürchteter Kriegsherr, stets im Zeichen einer übergeordneten Ideologie sein Ende finden lässt. Es hat sich zudem gezeigt, dass dieser frühe und nicht selten von Erschöpfung zeugende Männertod allein durch das von Geborgenheit und Regeneration kündende Versöhnungsversprechen des weiblichen Geschlechts vermieden werden kann. Auf diesem (Um-)Weg kann in Gestalt einer weiblichen Begleitfigur die kontrollierte Wiedereingliederung ausgegrenzter Wesensanteile (Emotionalität, Sinnlichkeit, Trieberleben) in eine Männerpsyche vollzogen werden, die unter dem Eindruck von Harmonie und Ganzheitlichkeit lebensverlängernde Effekte hervorbringt, wie sie etwa am Beispiel des Schwiegervaters der Baronin Hedwig zutage treten, der mit achtundachtzig Jahren ein ausgesprochen hohes Alter erreicht und versichert, „dies verdanke er nur der Lebensfreude, welche von der || 15 HKKA 5, 249. 16 HKKA 5, 249.
‚Gattentreue‘ und Reinheit: Weibliches Sterben und weiblicher Tod | 379
stillen Gesundheit der Frau Tochter ausströme.“17 Angesichts der vitalisierenden Wirkung der Braut auf Bräutigam wie auch Schwiegervater bezeugt die eherechtliche Anbindung der Baronin in beispielhafter Weise, wie substanziell männliche Figuren in jeder Lebensphase von der Einverleibung einer stilisierten Lebensund Naturnähe des weiblichen Geschlechts profitieren. In dem Maße, in dem für die dargestellten Männerfiguren zu resümieren ist, dass insbesondere der vorzeitige Männertod in Zusammenhang nicht mit organischen, sondern ausdrücklich mit sozialen Faktoren steht, stellt sich im Umkehrschluss die Frage, auf welche Weise die beschriebene Stilisierung bzw. Funktionalisierung des weiblichen Geschlechts die Darstellung von Frauentoden beeinflusst.
6.2 ‚Gattentreue‘ und Reinheit: Weibliches Sterben und weiblicher Tod Hinsichtlich des Erzählumfangs unterscheiden sich die in den ausgewählten Texten überlieferten weiblichen Sterbeakte kaum von ihren männlichen Pendants, vielmehr teilen sie mit diesen Kürze und Knappheit der Darstellung und entsprechend die Natur einer bloßen Randnotiz innerhalb der dargestellten Welt. Zudem wird auch auf weiblicher Seite durchweg im Zeichen streng normierter Vorstellungen von Geschlecht gestorben, so dass Akte von Tod und Sterben zwar einerseits eine dem weiblichen Geschlecht exklusiv vorbehaltene Systematik und Symbolik aufweisen, andererseits jedoch einer Geschlechterlogik unterworfen sind, die das weibliche Figurenensemble selbst im Tode noch als ein primär dem Manne dienliches Geschlecht inszeniert. In diesem Sinne untypisch zeigen sich die Sterbenotizen zu Regel Amrain und der ‚Husarin‘ Marianne. Beide Frauenfiguren nämlich bestreiten fernab von konventionellen Rollenmustern als zwei durch Kindstod, Sexualitätsverzicht und abweichende Attribuierung zeichenhaft entweiblichte Protagonistinnen eine ‚Männerexistenz‘, deren zeitlebens abverlangte Opferbereitschaft im Bilde honoriger Beisetzungszeremonien ihre Anerkennung findet. Indem die ‚männlichen‘ Tode von Regel Amrain und Marianne maßgeblich auf bürgerliche Ideale von Fleiß, Pflichterfüllung und einer entsprechenden ‚Streckung‘ bis in den Tod hinein verweisen, spiegeln sie auf direkte Weise herrschende Vorstellungen von Mannhaftigkeit und geben dieses Konzept als eine soziale Idee zu erkennen, die offenkundig losgelöst von biologischer Geschlechtszugehörigkeit praktiziert werden kann. Auch die Tatsache, dass beide Frauen einen natürlichen Alterstod || 17 HKKA 7, 174.
380 | Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten
erfahren, ist mehr Anerkennung für eine im Sinne der Textautorität vorbildlich bewältigte Ausnahmeexistenz denn weibliche Normalität. Im Gegenteil kündet die Mehrzahl der innerhalb der untersuchten Erzählungen dargestellten weiblichen Sterbeakte von einem frühen Tod, der im Unterschied zum vorzeitigen Ableben männlicher Figuren nicht auf die Mühen oder Gefahren einer konventionalisierten Geschlechterpraxis abhebt, sondern von der Funktionalisierung der betreffenden Frauenfiguren durch das männliche Geschlecht Zeugnis legt. So trägt der frühe Tod der Forstmeisterin nicht etwa erlösende, sondern unverkennbar strafende Züge, wenn hier eine Frauenfigur vor ihrer Zeit getilgt wird, die ähnlich wie die beiden zuvor beschriebenen Protagonistinnen stets als verlässliche Stütze ihres Mannes, ihrer Familie und folglich der herrschenden Ordnung insgesamt agiert, an einem bestimmten Punkt jedoch ihrer Rolle nicht gerecht wird und daraufhin durch einen banalen Erkältungstod, der zeichenhaft auf die Leichtsinnigkeit ihres Handelns zurückverweist, ihr vorzeitiges Ende findet. Küngolts Mutter stirbt entsprechend als eine Protagonistin, der nicht länger vertraut werden kann, weil sie als eine für die Versorgung und Wahrung der gesellschaftlichen Keimzelle ‚Familie‘ zuständige Mutterfigur ihre Pflichten an zentraler Stelle verletzt und fortan als ein permanenter Risikofaktor zu gelten hat. Von einer symbolischen Restauration der herrschenden Ordnung zeugt auch der Tod Küngolts, die den trivialen Erkältungstod ihrer Mutter durch einen bewusst herbeigeführten Fiebertod von gleicher Natur, aber ungleich edlerer Intention nachträglich sühnt, so dass nicht moralische Verfehlungen, sondern im Gegenteil männliche Treueideale diesen provozierten Freitod begründen. Küngolt stirbt somit gleich zweifach im Dienste einer männlichen Geschlechterideologie, wenn sie einerseits den gefallenen Ehemann durch einen selbst gewählten Opfertod erhöht, während sie andererseits in ultimativer Hinsicht der Idealisierung ihres Geschlechts Vorschub leistet, so dass sie selbst im Tode noch der Stabilisierung und Inspiration männlicher Lebenswelten dient. In Ruechenstein beinahe der Misogynie einer überkompensierenden Männerwelt zum Opfer gefallen, führt der Text den selbst gewählten Tod Küngolts nunmehr als Beleg für das von ihm propagierte Konzept zweier von Natur aus auf Ergänzung und Vervollständigung hin angelegten Geschlechter an, wodurch Wirkmächtigkeit und Strategien sozialer Normung als eigentliches Motiv dieser Selbsttötung hinter romantisierende Vorstellungen von weiblicher Opferbereitschaft zurücktreten. Der vorgeschaltete Läuterungsprozess bürgt zudem für ein tiefgründiges Bewusstsein, durch das sich Küngolts Opfertod maßgeblich unterscheidet von jener
‚Gattentreue‘ und Reinheit: Weibliches Sterben und weiblicher Tod | 381
ironisch überspitzten „Gattentreue“18 wie Pankraz sie im fernen Indien erlebt, wo „das Verbrennen indischer Weiber […] eine förmliche Sucht“19 beschreibt und zu entsprechend skurrilen Szenen führt, so dass kaum sechzehn Jahre alte Kindfrauen vehement darauf bestehen, bei lebendigem Leibe mit der „Leiche eines uralten gänzlich vertrockneten Gockelhahns“20 eingeäschert zu werden. Weil es diesen in einer religiös befeuerten Todessehnsucht verirrten „Geschöpfchen“21 an moralischer wie emotionaler Reife fehlt, um mit ihrem sinnfreien Lebendopfer gegen einen bedeutungsschweren Tod wie den Küngolts bestehen zu können, hat die Erzählung für diese Form eines naiven Opfertodes nur beißenden Spott übrig. Wie sehr der kulturelle ‚Wert‘ bzw. die moralische Einordnung weiblicher Sterbeakte mit Diskursen zu Geschlecht und den Existenzbedingungen männlicher Figuren verschränkt ist, belegt der zweite weibliche Opfertod innerhalb der untersuchten Texte, der direkter noch als Küngolts Erkältungstod die Erwartungen und Sehnsüchte einer patriarchalen Welt gegenüber dem Frauengeschlecht offenlegt. So zeugt der Suizid der durch eine ‚Treppenheirat‘ sich selbst entfremdeten Regine, die durch ihren Freitod nüchtern betrachtet nicht eine Vereinigung mit dem Gatten, sondern die Beendigung des gemeinsamen Ehelebens vollzieht, auf den ersten Blick von einer gleichermaßen verzweifelten wie gewalthaften Absage an die komplexen Moralvorstellungen einer Männerwelt. Tatsächlich jedoch gilt die Flucht der jungen Ehefrau in den Freitod weder Ehe noch Ehemann, sondern allein der Angst, dem idealisierten Bild des Gatten nicht entsprechen zu können. Als Schwester eines vermeintlichen Raubmörders steht ihr aus Scham vollzogener Suizid ganz im Zeichen der bürgerlichen Reputation des Gatten, so dass der Tod Regines faktisch den sozialen Implikationen eines bürgerlichen Mannseins geschuldet ist. Denn mit dem einen durch Geburt, dem anderen durch die Institution der Ehe verbunden, wird Regine unfreiwillig zum Berührungspunkt von Totschläger und Großbürger, wodurch soziale Verwerfungen sich ankündigen, die in vorliegender Novelle umschifft werden, indem die Protagonistin sich in vorauseilendem Gehorsam dem moralisch-sittlichen Selbstanspruch einer bürgerlichen Männerwelt opfert. Da nämlich die Bindungen an Bruder und Gatten auf lebensweltlicher Ebene unauflöslich sind, lässt der Text seine weibliche Hauptfigur kurzerhand das eigene Leben beenden, um auf diesem Wege die Schicksale zweier gänzlich unterschiedlich situierter
|| 18 HKKA 4, 62. 19 HKKA 4, 62. 20 HKKA 4, 63. 21 HKKA 4, 63.
382 | Das Ende: Der Tod in den untersuchten Texten
Männer voneinander zu separieren. Die hierbei maßgeblich den Suizid Regines motivierende Angst, als eine Frau aus dem Volk „nicht die Sicherheit und Kenntnis des Lebens [zu besitzen, S.V.], die zur Erhaltung von Ehre und Vertrauen erforderlich“22 sind, zeigt die Orientierungslosigkeit einer ‚Importbraut‘, die sich angesichts der Befindlichkeiten und moralischen Architektur einer ihr fremden Welt in selbiger verirrt und entsprechend einen Tod im Zeichen gescheiterter Kommunikation stirbt. Die Stilisierung des weiblichen Freitodes als eine Heimkehr zu Reinheit und Unschuld offenbart zudem die ideologische Nähe der Erzählinstanz zu den von Erwin propagierten Weiblichkeitsphantasien, wobei die Kritik an der Funktionalisierung der Naturfrau durch den Gatten verschleiert, dass der Text selbst das Prinzip ‚Weiblichkeit‘ auf gleiche Weise definiert und der Protagonistin ein Sterbetableau bereitet, das es dem ihm erlaubt, das Ideal zu affirmieren, indem das Individuum auf Erzählebene geopfert wird. Auf den eingangs von der Erzählinstanz zitierten Glanz des Rheingoldes rückbezogen, erscheint der Tod der durch einen Transformationsprozess vom Naturwesen zum Kulturwesen entwurzelten Regine als letztes Mittel, um die mythologisch verklärte Reinheit dieser Frauenfigur vor weiteren Verunreinigungen zu schützen. Folgerichtig wird diese stilisierte Frauengestalt in einer Art Notoperation den Niederungen der dargestellten Welt entrissen mit dem Ziel, das ideologische Fundament männlicher Versöhnungsutopien zu wahren. Da sich dieser Frauentod somit als ein parteiisch eingesetztes „Kunstmittel im höchsten Sinn“23 erweist, das sowohl dem IchErzähler der Rahmenhandlung, wie auch Erwin Altenauer und nicht zuletzt der übergeordneten Textautorität eine liebgewonnene Versöhnungsutopie rettet, bestätigt Regines Figurentod in literarischer Hinsicht die konkurrenzlose Diskurshoheit des männlichen Blicks. Die Art und Weise wie in vorliegender Novelle ein Suizid aus Verzweiflung zu einem Befreiungsschlag weiblicher Integrität verklärt wird, verweist auf die Subtilität ‚realistischer‘ Mythenbildung, nach deren Lesart das von Erwin unrechtmäßig seinem Platz entrissene Rheingold durch einen weiblichen Opfertod an seinen angestammten Ort zurückgeführt wird, um nunmehr in altem Glanz die männliche Imaginationskraft zu stimulieren. || 22 HKKA 7, 125f. 23 Muschg: Gottfried Keller, S. 86. Muschg sieht den weiblichen Tod bei Keller als „ein Kunstmittel im höchsten Sinn, ein rettendes Prinzip, insofern er – als ultima ratio – das bedrohliche, also zur Zerstörung verlockende ‚Frauenbild‘ in der eignen Seele retten muß. Regine, der im Liebes-Mißverständnis nur ein ‚ehrenhafter‘ Ausweg übrig blieb, liegt im Tode als ‚Gereinigte‘, als die definitive Heroine da. Sie hat ‚in Wirklichkeit‘ dem Mann, der sie in seinem Gram ‚allein gelassen‘ hatte, die eigene Geschlechtsehre gerettet; sie war das Werkzeug, den Widerspruch zwischen Mann und Weib im erzählenden Mann selbst zu sühnen.“ (S. 86)
Schlussbemerkungen Eine erste Erkenntnis dieser Arbeit, die sich im Laufe der Textarbeit zunehmend von einer Beobachtung zu einer solchen ausgewachsen hat, verweist auf die Allgegenwärtigkeit von ‚Geschlecht‘ innerhalb der dargestellten Welt. Diese vermeintliche Binsenweisheit angesichts der Tatsache, dass ‚realistische‘ Texte nicht anders können, als gleichsam ‚realistische‘ Figurenkonzepte zu pflegen, die entsprechend durch ein (weibliches oder männliches) Geschlecht bestimmt sind, täuscht leicht darüber hinweg, dass – zumindest in Bezug auf die untersuchten Texte – ‚Geschlecht‘ bei sämtlichen Interaktionen nicht einfach bloß zugegen ist, sondern diese maßgeblich strukturiert und systematisiert. Entsprechend ist für die analysierten Novellen eine Art ‚geschlechtliches Erzählen‘ zu resümieren, das über im engeren Sinne ‚geschlechtsbezogene‘ Erzählhandlungen (Partnerwahl, Sexualität) hinaus sämtliche innerhalb der Texte verhandelten Diskurse erfasst und deren literarische Darstellung auf eine Weise (mit-)bestimmt, dass Phänomene von Geschlecht und Geschlechtlichkeit als ein, um nicht zu sagen das zentrale Gestaltungsinstrument der jeweiligen Texte hervortreten. Geschlecht ist folglich in mehr als nur einer zwangsläufigen Weise allgegenwärtig. So werden denkgeschichtliche, medizinische, künstlerische oder auch politische Diskurse nicht einfach von Figuren verhandelt, die anbei ein Geschlecht haben, sondern überhaupt erst durch deren Geschlecht bzw. deren individuelle Geschlechtlichkeit erfahrbar, wobei geschlechtliche Attribuierungen den bloß offenkundigsten Ausdruck einer weit komplexeren Systematik markieren. Kaum ein Diskurs, der darstellbar scheint, ohne früher oder später geschlechtliche Implikationen bzw. Dimensionen zu verhandeln, so dass sogar Aussagen über topographische, musikalische oder auch meteorologische Phänomene nicht nur durch die ‚aussagenden‘ bzw. handelnden Figuren selbst, sondern ebenso losgelöst von diesen auf eine geschlechtliche Weise bestimmt werden. Angesichts solcher auf Darstellungsebene ‚vergeschlechtlichten‘ (Wissens-) Diskurse erscheint Geschlecht als bevorzugtes Instrument der Polarisierung vielfältigster Phänomene der dargestellten Welt. Es hat sich zudem gezeigt, dass die Kategorie Geschlecht in personaler Verwendung vor allen anderen sozialen Unterscheidungsmerkmalen als eine Differenzbestimmung der buchstäblich ersten Stunde, nämlich von Geburt an zu gelten hat. Weil die dergestalt ‚produzierte‘ Differenz nicht einfach nur der Beschreibung von Personen oder Sachverhalten dient, sondern unauflöslich mit der Idee von Hierarchisierung verknüpft ist, erweisen sich Vorstellungen von ‚Geschlecht‘ bzw. geschlechtliche Zuschreibungen als ein grundlegender Ordnungsfaktor – und somit als eine ‚Macht‘ innerhalb der Erzählwelten. So beruht die erzählweltliche Engführung von Geschlecht und https://doi.org/10.1515/9783110630992-007
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Macht auf einem Zuschreibungsprinzip, das soziale ‚Gegenstände‘ zunächst geschlechtlich konnotiert, um selbige anschließend nach einem feststehenden Muster zu differenzieren, systematisieren und verorten. Wenngleich von diesem Prinzip innerhalb der Textwelten in erster Linie das männliche Geschlecht profitiert, hat sich gezeigt, dass diese Rechnung keineswegs für jedes männliche Individuum aufgeht, sondern vielmehr der Aufrechterhaltung eines Systems männlicher Herrschaft dient, das dem einzelnen Mann im Gegenzug für eine sozial privilegierte Existenz lebenslange Mühen aufbürdet. Vor diesem Hintergrund konnten beständig ablaufende Selektionsprozesse innerhalb männlicher Lebenswelten aufgezeigt werden, die alters- wie kulturübergreifend das männliche Personal in Augenschein nehmen, um als untauglich erkannte Männlichkeitsentwürfe innerhalb der dargestellten Welt zu isolieren – und auch zu eliminieren. Hierbei haben sich insbesondere diejenigen Aspekte menschlicher Existenz als effektive Tilgungsinstrumente herausgestellt, die den Texten oberflächlich betrachtet wenig bedeutsam scheinen. So ist es mindestens bemerkenswert, dass angesichts einer Vielzahl von Toten, Toden und Sterbeakten in den untersuchten Novellen weder kranke Leiber, noch körperliches Siechtum, noch überhaupt auf die Beobachtung von Körperprozessen abzielende Krankheitsdarstellungen zu finden sind – was für beide Geschlechter gleichermaßen gilt. Es wird entsprechend dezent gestorben, bevorzugt an einer kurzen fiebrigen Erkältung oder durch die eigene Hand. Ähnliches gilt für die Darstellung psychischer Abweichungen, die nicht in einer begrifflichen, sondern allein auf eine zeichenhafte Weise verhandelt werden, gleichwohl jedoch ‚kranke‘ Figuren hervorbringen, die aufgrund psychisch induzierter ‚Leiden‘ in ihrer Lebenstüchtigkeit und sozialen Teilhabe bisweilen massiv eingeschränkt sind bzw. werden. So sind Protagonisten wie der ‚wahnsinnige‘ Buz Falätscher, der hochnervöse Ital Manesse oder auch der überreizte Fetischist Thibaut unverkennbar aufgrund ihrer abweichenden Psychologie zum Scheitern verurteilt. Die Genese dieser Auffälligkeiten bleibt jedoch schemenhaft und stets im ‚realistisch‘ gesicherten Bereich von Andeutungen, die von frühkindlichen Erfahrungen bis hin zu genealogischen Degenerationsphantasien reichen. Beschriebene Darstellungs- oder auch Explikationsdefizite haben sich vor allem dadurch als auffällig erwiesen, dass sie in einem merklichen Gegensatz zur Relevanz der betreffenden Phänomene stehen, die als Defizitmarker an zentraler Stelle innerhalb eines kompetitiv ausgerichteten Männlichkeitsdiskurses verhandelt werden. Diese zeichenhaft-uneigentliche Darstellungsweise trifft insbesondere auf ‚bürgerliche‘ Männervergleiche zu, die nicht immer in bürgerlichen Zeiten spielen, wohl aber dem bürgerlichen Diskurs verpflichtet sind und unmittelbar körperbasierte Männerkonkurrenzen zum Zwecke des Frauener-
Schlussbemerkungen | 385
werbs allenfalls in Gestalt geregelt ablaufender Rituale wie ‚Fingerhakeln‘ kennen. Folgerichtig zeigt sich ein ungemein diskrepantes Verhältnis zwischen der bürgerlich-reduzierten Darstellung männlicher Körperlichkeit oder auch männlicher Psychologie und deren Bedeutung innerhalb einer sich durch Vergleich und Selektion konstituierenden Männerwelt. So sind (Männer-)Körper keineswegs nicht vorhanden, sondern auf subtile Weise durchweg funktional bestimmt, indem sie auf Erzählebene in Kombination mit einem vitalen Geist für einen funktionsfähigen Fremd- wie Selbstbeherrschungsapparat männlicher Dominanz einstehen, wodurch sie – wie der Verweis auf den metaphorischen Gehalt nahe legt – zu einem vielfältig einsetzbaren Instrument der Textdarstellung werden. Diesbezüglich ist etwa die Differenzfigur des geradezu ‚überkörperten‘ wilden Mannes zum Zwecke der Kontrastierung bzw. Demütigung seines männlichen Gegenübers signifikant, doch auch körperlich weniger exponierte Männlichkeitsentwürfe, die eine nicht prahlerische, sondern im bürgerlichen Sinne ‚hübsche‘ und ‚gewandte‘ Körperlichkeit zeigen, erringen ihre textinterne Dominanzposition ausdrücklich unter Rückgriff auf eine tadellos funktionierende Physis. Diese männliche ‚Körperkultur‘ hat in den untersuchten Texten über ihre beschriebene Funktion hinaus beinahe unmerklich – und nur punktuell – einen ästhetischen Überschuss in der Beschreibung männlicher Leiblichkeit hervorgebracht, die motivisch bzw. funktional nicht vollends zu erklären ist und in Anbetracht der glorifizierenden Darstellung männlicher Gliedmaßen eine unterschwellige bürgerliche Lust an phallisch konnotierten Männerbildern erkennen lässt. Denn wenngleich entsprechende Kommentare prophylaktisch einer als weiblich oder unmännlich-schwächlich codierten Erzählinstanz zugeschrieben werden, ist eine realistische ‚Textlust‘ der untersuchten Novellen am starken Mann nicht zu leugnen. Entsprechend werden diese unbürgerlichen Gelüste zusätzlich abgesichert, indem diese das gesamte Figurenpersonal beeindruckenden Männergestalten im kulturellen und/oder geographischen ‚Abseits‘ situiert werden, so dass die Faszination am archaischen Mann gefahrlos außerhalb einer bürgerlichen Wertewelt gepflegt werden kann. Diese implizite Lust, die nicht in einen bürgerlichen Aussagebereich gehört, konnte insbesondere am Beispiel der Venus im Pelz bestätigt werden, wo die Idolisierung und Adoration eines phallisch konnotierten Fremden auf identische Weise funktioniert wie die Glorifizierung des ‚wilden Mannes‘ bei Keller, so dass das Bildmotiv des seiner virilen Körperlichkeit wegen begehrten Mannes – der weit mehr als ein ‚Homme fatale‘ ist – dem literarischen Realismus durchaus vertraut scheint.
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Im Zeichen des Nicht-Sagbaren, als Tabu jedoch in den Texten Allgegenwärtigen, traten in der Textanalyse ebenfalls Akte des Geschlechtertauschs hervor, deren sexuelle Implikationen sich innerhalb der Erzählwelt unmittelbar als soziale Komplikationen niederschlagen, so dass ein unbedachter junger Mann ebenso wie eine bewusst agierende Frauenfigur von der Erzählinstanz und auch anderen Textfiguren unmissverständlich für das eigene Treiben und dessen homosexuelle Latenz stigmatisiert bzw. sanktioniert wird. Auf den Tabubereich latent homoerotischer Wirrungen deuten auch entsprechende Ängste männlicher Figuren hinsichtlich der sexuellen ‚Benutzung‘ desselben weiblichen ‚Objekts‘ hin, die zwar ebenfalls stets impliziter Natur bleiben, sich in der vorliegenden Untersuchung jedoch als durchweg handlungsmächtig erwiesen haben. Am Beispiel einer erotischen Dreierkonstellation relativ offen benannt, treten sie im Lichte der sexuellen wie sozialen Profilierungszwänge eines Bräutigams gegen die ‚Vorbenutzer‘ seiner zukünftigen Gattin zwar sehr viel subtiler hervor, lassen aber dennoch ein ganzes Hochzeitsfest zur Bühne einer männlichen Nabelschau werden. Als in gleichem Maße funktionalisiert, jedoch andersartig systematisiert haben sich verschiedengeschlechtliche Zweierkonstellationen gezeigt, die vorrangig auf sexueller Ebene verhandelt werden und ein prototypisches Bewährungsfeld männlicher Dominanz vorstellen, das in Strukturanalogie zu anderen Bereichen wie Politik oder Ökonomie die nötigen Durchsetzungsstrategien lehrt. Die obligatorische Zähmung einer durch Widerständigkeit und sexuelle Reize ‚provozierenden‘ Frau wird zum Synonym für die Bezwingung der eigenen Triebnatur, worin sich – bezogen auf die Gedankenwelt der untersuchten Texte – die Grundvoraussetzung männlicher Herrschaft spiegelt. Im Umkehrschluss bleiben Männerfiguren, die diesen zeichenhaft auf sexueller Ebene verhandelten ‚Grundkonflikt‘ zwischen Affekt und Ratio nicht auf adäquate Weise zu bestehen wissen, grundlegend defizitärer Natur und werden auf Darstellungsebene isoliert, indem sie sich in sublimierende Ersatzkonstellationen zurückziehen, als sozial Randständige fortexistieren oder auch ganz aus dem Geschehen getilgt werden. Darüber hinaus zeigen sich die Handlungsstränge sämtlicher untersuchter Erzählungen unabhängig von den konkret angeführten Diskursen oder Stoffen motiviert durch eine implizit wie explizit vorgenommene Bestimmung von geschlechtlichen Dominanzverhältnissen, die auf sexueller oder sozialer Ebene ausgehandelt werden und männliche Figuren vorrangig dem weiblichen, aber auch dem eigenen Geschlecht gegenüber zu entsprechenden Handlungen zwingen. Hierbei hat sich die Kategorie ‚Ordnung‘ als zentrale Bezugsgröße erwiesen, die zwecks Aushandlung der erwähnten Dominanzverhältnisse auf vielfältige Weise irritiert, destruiert oder schlicht negiert wird, um schließlich durch den
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Erfolg oder auch Misserfolg männlicher Figuren im Sinne der ‚Textmoral‘ restauriert, verteidigt oder auch im Negativen bestätigt zu werden. Im Fokus all dieser Aushandlungsprozesse hat sich auf Darstellungsebene stets die Frage nach der Autonomie des männlichen Subjekts gezeigt, die als Vorausbedingung männlicher Profilierung in intimen Kleinstrukturen wie Familie, Partnerschaft oder auch homosozialen Konstellationen ebenso wirkmächtig ist wie in den übergeordneten gesellschaftlichen Kontexten von Politik oder Ökonomie und auf die Idee männlicher Kulturherrschaft über eine zu domestizierende, weiblich assoziierte ‚Natur‘ verweist. Eine Emanzipation gegen diese allgegenwärtige ‚Geschlechterpolitik‘ im Sinne eines Austritts aus dem Geltungsbereich selbiger ist weder weiblichen noch männlichen Figuren möglich. So sind es insbesondere auf den ersten Blick bemerkenswert selbstbestimmte und ungemein positiv konnotierte Frauenfiguren, die sich faktisch als in höchstem Maße funktionalisiert erweisen, während negativ konnotierte Frauenfiguren der Idee von Emanzipation im Sinne von Subversion noch am nächsten kommen, indem diese durch versierte Kenntnisse männlicher Machtstrukturen und Befindlichkeiten selbige zu ihren Gunsten zu nutzen wissen und somit zumindest die eigenen Ziele verwirklichen können. Wie wenig die Emanzipation von bestehenden Herrschaftsstrukturen möglich ist, zeigt das Schicksal einer ,Geschlechtsleugnerin‘, die sich war dem männlichen Zugriff auf sexueller und phantasmagorischer Ebene erfolgreich verweigert, hierfür jedoch mit sozialer Stigmatisierung und der Aberkennung ihrer Geschlechtlichkeit gestraft wird. Die Unmöglichkeit, sich von den bestehenden Verhältnissen emanzipieren zu können, trifft maßgeblich auch auf die männlichen Figuren zu, denen ebenfalls Isolation oder Liquidation droht, wenn sie hinter den an ihr Geschlecht gestellten Erwartungen zurückbleiben. Für männliche Figuren stellt sich die Lage dabei gar noch prekärer dar, da sie sich nicht allein der herrschenden (Diskurs-)Macht zu unterwerfen, sondern sich obendrein im Lichte dieser zu definieren bzw. profilieren haben. Die eingangs zitierte ‚Krise‘ ist somit weniger Resultat einer vorgegebenen oder kontingenten Entwicklung, sondern vielmehr integraler Bestandteil einer Idee von Männlichkeit, die maßgeblich auf die Integration – nämlich Ordnung und Unterwerfung – ihrer Umwelt angewiesen ist. In Bezug auf die untersuchten Texte lässt sich denn auch konkretisieren, dass die Krise von Männlichkeit in erster Linie eine Erosion der jeweils vorherrschenden Legitimationsstrategien männlicher Herrschaft meint – was für eine individuelle ebenso wie für eine kollektive Ebene gilt. Gerade weil die ‚moderne‘, patriarchal geprägte Idee von ‚Männlichkeit‘ offenkundig unauflöslich mit der Idee von Macht verwoben ist, tritt die Dialektik
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einer systemischen Konstitution bzw. Konfiguration des männlichen Geschlechts im Zeichen des Machterhalts in aller Deutlichkeit hervor. Im Gegensatz nämlich zur verordneten ‚Faktizität‘ des Weiblichen legitimiert sich der Herrschaftsanspruch des ‚Männlichen‘ durch (Weiter-)Entwicklung und Veränderung, woraus im Umkehrschluss jedoch auch ein Zwang zur steten Anpassung abgeleitet wird. Die ‚Krise‘ des einzelnen männlichen Individuums wie auch die ‚Krise‘ des gesamten Geschlechts ist somit nicht Beleg für einen bevorstehenden Niedergang, sondern im Gegenteil in einem beinahe evolutionären Verständnis die Ankündigung eines notwendigen Anpassungsprozesses. Die untersuchten Erzählungen haben entsprechende Modifikationen der Idee ‚Männlichkeit‘ durchgängig als unumgänglich zur Aufrechterhaltung männlicher Vorherrschaft legitimiert und auf diese Grundlage untaugliche, weil den Anforderungen ihrer Zeit bzw. ihrer Umwelt nicht gewachsene Männlichkeitsentwürfe aus dem Geschehen getilgt und durch besser geeignete Exemplare ersetzt. Die viel beschworene Krise hat sich innerhalb der Texte somit als ein systeminterner Prozess von ‚Männlichkeit‘ erwiesen, der die Notwendigkeit einer Anpassung an sich ändernde ‚Umweltbedingungen‘ signalisiert – angefangen von den Sozialisations- bzw. Initiationsmühen des männlichen Individuums bis hin zur Neuausrichtung der jeweils vorherrschenden Definition von Männlichkeit angesichts politischer oder auch sozialer Umbrüche. Als durchweg konstant hingegen hat sich die Maßgabe zur Aufrechterhaltung von Macht und Privilegierung erwiesen, so dass hinsichtlich der untersuchten Texte festzuhalten ist, dass ein Verständnis von Macht, das nicht systematisch an das männliche Geschlecht gekoppelt ist, außerhalb der Vorstellungskraft der Texte liegt. Eine Modifikation der Idee ‚Männlichkeit‘ zwecks Anpassung an neue Erfordernisse des Machterhalts ist folglich jederzeit möglich, eine über die Figurenebene hinausgehende Definition von Macht jedoch, die nicht länger eine männliche ist, lassen die Texte nicht zu. Krise heißt folglich auf einer individuellen Ebene durchaus Vernichtung und Ersetzung, dient gerade dadurch jedoch der Fortschreibung einer übergeordneten Erzählung von Macht und Männlichkeit.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 62, 201, 324 Alexander, Helmut 91, 118 Amrein, Ursula 209 Ander, Adam 73 Andersen, Niels Åkerstrøm 45 Angermüller, Johannes 40, 42 Antenhofer, Christina 206 Arndt, Christiane 297, 299 Babka, Anna 24 Bachofen, Johann Jakob 40, 252ff., 257 Bächtold-Stäubli, Hans 93 Baßler, Moritz 40 Bauer, Franz J. 6, 8ff., 51 Begemann, Christian 18, 20, 125, 142, 194, 206 Bergmann, Franziska 25, 301 Besch, Werner 64 Binswanger, Ludwig 116 Bischoff, Doerte 219, 237, 259 Blattmann, Lynn 168, 191 Bogdal, Klaus-Michael 35f. Böhler, Michael 16, 52, 245 Böhme, Hartmut 206, 230 Böhnisch, Lothar 26, 128 Bomers, Jost 301 Böschenstein, Renate 137f., 163, 209 Bougainville, Louis Antoine de 213 Bourdieu, Pierre 30ff., 315 Bovenschen, Silvia 25, 232, 271, 289, 319 Brändli, Sabina 205, 368 Brandstetter, Gabriele 216 Bruns, Claudia 314 Bublitz, Hannelore 44 Butler, Judith 22ff., 26, 158, 366 Campe, Joachim Heinrich 12 Celia, Rudolf de 40 Charbon, Remy 124 Clemens, Gabriele B. 169 Columbus, Christoph 216 Connell, Raewyn 27ff., 54, 85, 127ff., 146, 151, 257 Corkhill, Alan 52, 92 https://doi.org/10.1515/9783110630992-009
Dangel-Pelloquin, Elsbeth 60, 336 Darwin, Charles 40, 143, 198 Deleuze, Gilles 232 Denneler, Iris 327 Derrida, Jacques 36 Descartes, René 23 Diaz-Bone, Rainer 37ff., 41f., 44f. Diderot, Denis 148, 214 Dierbach, Johann Heinrich 377 Dinges, Martin 27f. Dörr, Julian 2 Dunker, Axel 206, 213, 221, 299, 301 Eisele, Ulf 19, 190 Elias, Norbert 117 Erhart, Walter 26, 30, 32 Erikson, Erik H. 263 Ersch, Johann Samuel 13 Faludi, Susan 26 Fehlmann, Meret 40 Feldmann, Doris 231 Fichte, Johann Gottlieb 12 Fink-Eitel, Hinrich 33, 216 Fischnaller, Andreas 91, 118 Foucault, Michel 33, 35ff., 39, 41ff., 47, 156, 310 Frank, Manfred 43 Freud, Sigmund 209, 216, 227 Frevert, Ute 184, 221, 274 Freyer, Hans 51 Gabriel, Gottfried 377 Galenos von Pergamon 20 Gall, Lothar 9 Gardt, Andreas 39, 43, 48 Geisenhanslüke, Achim 34, 227 Gerhard, Ute 2 Gervinus, Georg Gottfried 13f. Gilmore, David D. 317 Glauser, Fritz 238 Gramsci, Antonio 28 Gratzke, Michael 232 Griesinger, Wilhelm 131
406 | Personenregister
Grimm, Jacob 68 Grimm, Wilhelm 68 Grizelj, Mario 67 Groneberg, Michael 194, 215 Groot, Cegienas de 224 Gruber, Johann Gottfried 13 Habermann, Frank 312 Hahn, Hans-Joachim 73 Hänsch, Ulrike 25 Hantke, René 141 Harnisch, Antje 12, 236, 246, 303 Haug, Wolfgang Fritz 81 Hausen, Karin 11ff., 73, 134 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18 Hein, Dieter 9 Hermann, Britta 30 Hilmes, Carola 228 Hofstätter, Klaus 40 Hollstein, Walter 1 Holmes, Deborah 106, 113 Horkheimer, Max 201, 324 Hunfeld, Barbara 220 Ihekweazu, Edith 299 Jeffords, Susan 2 Jeßing, Benedikt 10 Käch, Rudolf 156f. Kaiser, Gerhard 65, 69, 78, 82, 85ff., 93, 137, 144, 166, 175f., 200f., 210f., 237, 306 Kammler, Clemens 36f., 45 Kant, Immanuel 9 Kargl, Maria 40 Kauffmann, Angelika 372 Käuser, Andreas 125 Keck, Annette 355, 371 Keller, Rainer 43 Kiefer, Sascha 51 Kittstein, Ulrich 66, 94, 98f., 147, 166, 348 Klass, Tobias 310 Klawitter, Arne 19 Klein, Johannes 295 Klöppel, Ulrike 21 Kluge, Friedrich 189 Köbler, Gerhard 170, 199f.
Koebner, Thomas 95, 99, 101, 115 Kohlschmidt, Werner 123 Konersmann, Ralf 44 Kontje, Todd 97, 216, 223, 320, 375 Kormann, Eva 366 Korte, Hermann 233, 271 Korten, Lars 17 Kosofsky Sedgwick, Eve 173 Krafft-Ebing, Richard von 133, 369 Krah, Hans 141 Kraus, Jörg 248 Kreienbrock, Jörg 52, 63, 325 Krüger, Michael 240 Kuchinke-Bach, Anneliese 166, 176 Kühne, Thomas 1, 27, 137, 191, 259, 342 Lachmann, Thomas 198, 349, 352, 364 Lange-Kirchheim, Astrid 191 Laqueur, Thomas Walter 21 Lavater, Johann Caspar 125, 142, 243, 247 Lenz, Claudia 314 Liebhart, Karin 40 Link, Jürgen 97 Loewenich, Caroline von 76, 166, 189, 200, 244, 250, 266, 324, 328, 342 Logau, Friedrich von 166 Loster-Schneider, Gudrun 372 Löwith, Karl 8 Ludwig, Gundula 24 Magnan, Valentin 133, 143 Magnus, Hugo 21 Martini, Fritz 90, 93, 99, 147, 165, 225, 295 Martschukat, Jürgen 26, 28, 30, 34 Matt, Beatrice von 313 Matt, Peter von 117 May, Yomb 322 McMillan, Daniel A. 193, 240 Meuser, Michael 3, 27f., 30ff., 218, 315 Meyer, Frank 3 Möbius, Paul Julius 13, 143 Möller, Kurt 218 Morel, Bénédict Augustin 143 Müller, Dominik 203 Müller-Zantop, Susanne 203, 214, 222 Muschg, Adolf 167, 213, 330, 382
Personenregister | 407
Neumann, Bernd 95, 112, 120, 166f., 174f., 189, 202, 217 Neumann, Gerhard 357 Niehaus, Michael 217 Nünning, Ansgar 38 Nünning, Vera 38 Ort, Claus-Michael 16f., 19, 233, 300 Osterhammel, Jürgen 5 Pedde, Antje 167f., 175, 182, 187, 192, 195, 200, 208, 212, 214, 222 Peirce, Charles Sanders 58, 312 Person, Jutta 243 Pestalozzi, Karl 237 Pieske, Christa 60 Plett, Bettina 184 Plumpe, Gerhard 20, 106, 298f. Preisendanz, Wolfgang 49, 61, 65, 69, 78, 82, 89, 93 Prutz, Robert 18 Rácz, Gabriella 221 Redecker, Eva von 22 Reichert, Karl 121 Reisigl, Martin 40 Ricken, Norbert 46 Riedel, Wolfgang 16f. Rosenbaum, Heidi 113 Rousseau, Jean-Jacques 223 Rubin, Gayle S. 22 Ruppel, Richard R. 99 Sandberg Russell, Kristina 162, 357 Sarasin, Philipp 48 Sattler, Elisabeth 23 Sautermeister, Gert 64 Scheffler, Karl 365 Schilling, Diana 50, 95, 166, 203, 288 Schmid, Karl Adolf 14 Schmidt, Julian 18 Schmidt, Matthias 24 Schmidt, Sabine 36 Schmitt, Christian 68 Scholz, Sylka 27f., 30f. Schößler, Franziska 21, 23, 45f. Schrimpf, Hans Joachim 93f., 298
Schuller, Marianne 59, 199, 351, 364 Schülting, Sabine 231 Schulze, Winfried 6 Schwab-Trapp, Michael 45 Schwan, Christian Friedrich 7 Selbmann, Rolf 49, 59, 72, 92, 98, 119, 166, 350 Spahlinger, Lothar 366 Specht, Rainer 125 Spoerhase, Carlos 46 Staiger, Emil 35 Stein, Gerd 230 Stephan, Inge 25, 313, 351 Stieglitz, Olaf 26, 28, 30 Stingelin, Martin 58, 106, 215 Stockmeyer, Anne-Christin 257 Stoller, Robert Jesse 206 Stotz, Christian 90, 94, 99, 302 Suter, Hans 141 Swales, Erika 94 Tanzer, Ulrike 91, 109 Tanzmann, Christian 47 Tebben, Karin 76, 320 Theweleit, Klaus 25f., 347 Tholen, Toni 31f., 139 Thomé, Horst 46, 96, 114, 117, 131ff., 143, 147, 152, 156, 158 Tiger, Lionel 151 Titzmann, Michael 16f., 38, 43, 132, 311f. Tönnies, Ferdinand 14 Treder, Uta 180, 197, 201, 225, 292, 294, 338, 361, 371 Troeltsch, Ernst 6 Ullrich, Peter 41, 44 Urwin, Jack 2 Uther, Hans-Jörg 49 Utz, Peter 321 Valk, Thorsten 121 Vedder, Ulrike 49, 62, 94, 98 Villa, Paula-Irene 22f., 158 Vischer, Friedrich Theodor 17 Vogel, Ulrike 9 Wagner, Gabriel 197
408 | Personenregister
Wagner, Richard 313 Wagner-Egelhaaf, Martina 56 Weigel, Sigrid 140, 144f., 172, 182, 194, 214f., 222, 300 Welcker, Carl 13 Werkstetter, Christine 101 Widmer, Urs 235 Wiegard, Julius 123 Wiesmann, Louis 245 Wild, Bettina 10
Winkler, Markus 122 Winko, Simone 37, 42f. Wodak, Ruth 40 Wollgast, Siegfried 197 Woolf, Virginia 331 Wünsch, Marianne 117, 163, 224, 273, 294 Wysling, Hans 70, 94, 99, 117, 163f. Zedler, Johann Heinrich 11 Zeller, Rosmarie 19, 187, 191
Stefan Voß
Erratum zu: 3. Männervergleich und Männerselektion
Publiziert in: Stefan Voß, Männlichkeit und soziale Ordnung bei Gottfried Keller. Studien zu Geschlecht und Realismus (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 147) ISBN 978-3-11-062499-1
Erratum Trotz sorgfältiger Erstellung unserer Bücher lassen sich Fehler manchmal leider nicht ganz vermeiden. Wir entschuldigen uns, dass die erste Fassung dieser Ausgabe einige Fehler in Kapitel 3 (Männervergleich und Männerselektion) enthielt und bitten um Beachtung der nachfolgenden Richtigstellungen: Stelle im Buch
Fehlerhaft war:
Richtig ist:
S. 166, FN 1 S. 166, FN 1 S. 168, FN 15 S. 168, FN 15
(1605–2655) Sinngesicht 1870–2914 Frankfurt am Main u. a. 1996, 119–235 1803–2813 Berlin/Boston 2013, S. 63–22 Würzburg 2002, S. 135–254 Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 88–200
(1605–1655) Sinngedicht 1870–1914 Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 119–135 1803–1813 Berlin/Boston 2013, S. 63–82 Würzburg 2002, S. 135–154 Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 88–100
S. 169, FN 17 S. 169, FN 17 S. 188, FN 102 S. 193, FN 140
Das angepasste Originalkapitel ist verfügbar unter der DOI: https://doi.org/10.1515/9783110630992-003 https://doi.org/10.1515/9783110630992-010
410 | Erratum
S. 194, FN 145 S. 197, FN 156 S. 199, FN 159 S. 203, FN 173 S. 205, FN 185 S. 212, Kapitelüberschrift
S. 213, FN 231 S. 216, FN 252 S. 216, FN 252 S. 217, FN 255
S. 219, FN 266 S. 219, FN 272 S. 224, FN 298 S. 237, FN 346
Fribourg 2006, S. 5–26 Berlin: 2006, S. 37–22 Stuttgart 2016, S. 117–236 (1770–2870) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 101–218 Ein neue Welt nach alter Tradition: Kolonialphantasien von der Annexion des ‚Anderen‘ und der Versöhnung des ‚Selbst‘ (1729–2811) Vgl Hamburg 1994, S. 97–206 Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 33–28 Berlin 2013, S. 43–24 Hamburg 2001, S. 293–216 Amsterdam 1980, S. 185–205 München 1990, S. 185–203
Fribourg 2006, S. 5–36 Berlin 2006, S. 37–52 Stuttgart 2016, S. 117–136 (1770–1870) Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 101–118 Eine neue Welt nach alter Tradition: Kolonialphantasien von der Annexion des ‚Anderen‘ und der Versöhnung des ‚Selbst‘ (1729–1811) Vgl. Hamburg 1994, S. 97–106 Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 33–48 Berlin 2013, S. 43–64 Hamburg 2001, S. 293–316 Amsterdam 1980, S. 185–204 München 1990, S. 185–200