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German Pages 112 [113] Year 2018
Wolfram Hogrebe Duplex
Nicht von ungefähr spielt in der Architektur der Philosophie die Differenz eine besondere Rolle. Das Denken beginnt nie in b loßer Einheit, sondern in einem zweiwertigen Verhältnis (Duplex). Man könnte auch sagen, dass es sich immer schon zu seinen Sachen verhält. In dieser Zweiheit findet auch seine Begriffsfindung statt. Ihr geht der Verfasser bei wichtigen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Carl Schmitt und Martin Heidegger nach. Er stellt fest, dass sich im Raum des Duplex die Begriffe eher ästhetischen als wissenschaftlichen Entscheidungen verdanken. Hier auch bildet sich die Offenheit einer anarchischen Sensibilität, die er bei einem Autor wie Gustav Landauer deutlich werden lässt. Indem Wolfram Hogrebe die Bewegung der Differenz von Platon bis hin zur Systemtheorie verfolgt, bietet er eine Summe der Philosophie bis heute.
Wolfram Hogrebe Duplex Strukturen der Intelligibilität
RoteReihe Klostermann
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RoteReihe Klostermann
Wolfram Hogrebe ist Professor emeritus für Philosophie an der U niversität Bonn und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher A kademien. Von 1999–2002 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Buchpublikationen zuletzt u. a.: M etaphysische Einflüsterungen (2017), Philosophischer Surrealismus (2013), Der implizite Mensch (2013).
Wolfram Hogrebe · Duplex
Wolfram Hogrebe
Duplex Strukturen der Intelligibilität
KlostermannRoteReihe
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Originalausgabe © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main 2018 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder s onstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf Eos Werkdruck von Salzer, alterungsbeständig ISO 9706 und PEFC -zertifiziert. Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 1865-7095 ISBN 978-3-465-04343-0
Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Historisches Existenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Entrée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Ortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Der Künstler als Partisan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 5. Modalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 6. Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 7. Szenische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 8. Landauer und Mongré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 9. Landauer, Ball und Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 10. Phantasieschranke: Ränder des Möglichen . . . . . . . . . . . . . 59 11. Sprache, Zeichen, Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 12. Der limitative Diskurs der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 13. Vom Limitativen zum Intensiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 14. Wechsel des Vokabulars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 15. Komödie der verlorenen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Vorbemerkung Der Text wurde 2016/17 geschrieben. Wie auch bei meinen letzten Büchern war wieder ein Aufenthalt in Berlin als Fellow des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung (Humboldt-Universität) unter Leitung von Horst Bredekamp von stimulierender Bedeutung. Ihm und seinen Mitarbeitern, insbesondere Sabine Marienberg und Pablo Schneider, gilt mein besonderer Dank. Auch dafür, daß ich vor dem Kreis der Mitglieder dieser Einrichtung einen Vortrag mit Ergebnissen dieses Buches halten konnte. Ebenso danke ich den Kollegen Jürgen Trabant, Gerd Giesler und Jörg Baberowski, mit denen ich mich im Kreis um Horst Bredekamp fruchtbar austauschen konnte. Insbesondere verdanke ich Gerd Giesler wieder viele nützliche Hinweise zu meinen Passagen, die Carl Schmitt betreffen. Für die Einrichtung des Manuskriptes bin ich erneut der Hilfsbereitschaft von Jaroslaw Bledowski / Bonn und Ingo Meyer / Bielefeld zu Dank verpflichtet. Letzterem besonders, da er einer früheren Version des Textes gnadenlos zu Leibe rückte. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, versichert uns Hermann Hesse. Leider gilt auch umgekehrt: Jedem Anfang wohnt ein Schmerz inne. Aber vielleicht sind Schmerz und Zauber gar nicht unverträglich miteinander. Historisch ist das jedenfalls beglaubigt. Düsseldorf, im Herbst 2017
Wolfram Hogrebe
Es gibt keine atomaren Sinneinheiten. Jürgen Goldstein Philosophie ist die Erfindung befremdlicher Argumentationen. Quentin Meillassoux
Einleitung Es gibt in der Tat keine einfachen, atomaren Sinneinheiten und eben deshalb schon gar keinen verständlichen atomaren Anfang (Simplex). Alles Beginnende startet als Differentes, in einer Zweiheit also, die allerdings unbegrenzt ist (Duplex,1 chinesisch Tàiji). Diesen mutmaßlichen Schlüssel, in Zweiheit ohne Dualismus, selber auch antiken Ursprungs (ἀόριστος δυάς), sollte man sich bestätigen lassen. Dazu greift man auf Projekte des Anfänglichen, Initialen zurück, sei es im Mythos, sei es in Wissenschaft, Kunst oder Philosophie. Sie alle bieten Anfangsgeschichten, nicht erst seit heute, sondern seit ehedem. Im Historischen muß sich die Kunde eines Anfänglichen bewähren, um systematisch noch standhalten zu können. Darum soll es im Folgenden gehen. Was faktisch ist, wird, wenn dokumentiert, als Gewesenes in Archiven beigesetzt. Der Historiker hat sein Archiv vergilbender Blätter und Akten. Was da steht, ist dem Buchstaben nach tot und kann nur durch kundige Lektüre, wie Koselleck sagt, im Erinnerungsraum und im Erwartungshorizont wieder zum Leben erweckt werden. Der Philosoph hat ebenfalls sein Archiv dokumentierter Konzeptionen, aber hier genügt die kundige Lektüre nicht, um sie in Erinnerung und Erwartung wieder zum Leben zu erwecken. Hier bedarf es zusätzlich eines erneuten Durchdenkens, um das Gewesene 1 Johannes Parreut (aus Bayreuth), gest. 1495: Universale est duplex (Carl von Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, München 1867, Bd. III, Kap. XXII Anm. 373, repr. Hildesheim / Zürich / New York 1997, p. 240).
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wieder zu aktualisieren. Überkommene Konzepte der Philosophie müssen von Generation zu Generation neu durchdacht werden. Ablagefähig in einem endgültigen Sinne sind sie aber nie. Ihre Archive wandeln sich daher ebenso von Generation zu Generation. Weniges bleibt hier Dokument von Fakten, aber alles bleibt Zeugnis erneuter Aneignung. Und von diesen Aneignungen kann es dann wieder eine Geschichte geben, die den Wandel des Zeitgeistes belegt. Der Platon des neunzehnten Jahrhunderts ist nicht der Platon von heute. So mag es kurios klingen, wenn auf Neueinsätze der Philosophie bzw. des Denkens im 20. Jahrhundert zurückgegangen wird, um sie, da unabgegolten, in den gegenwärtigen Diskurs wieder einzuholen, um sie also für unser Thema zum Sprechen zu bringen. Genau das unterscheidet ja die Geschichte der Philosophie von sonstiger Geschichte. Die Geschichte der Philosophie ist immer eine Geschichte von neu Erkanntem, auch von Irrtümern, aber vor allem auch stets eine Geschichte nichtexplizierter Intuitionen. Sie gilt es zu entschlüsseln, um ins Gegenwärtige zu retten, was befruchtend wirken kann. Denn nichts wird von der Philosophie einer Gegenwart neu erdacht, was nicht klandestine Quellen im Vergangenen hätte. Das trennt die Geschichte der Philosophie wieder von sonstiger Geschichte, vor allem auch der Wissenschaften. Diese bleibt zu großen Teilen in der Tat eine Geschichte von Irrtümern, wie Gaston Bachelard betonte. Die Differenz zur Philosophie liegt darin, daß philosophische Bemühungen stets an einer Entzifferung der Architektur des menschlichen Geistes orientiert sind. Diese Architektur ist schwer greifbar, sie ist nur im Fluidum unseres Existierens gegeben, kein Stein, der hier standhielte. Nur ein überliefertes Können, das auch nichts Festes ist. Auch diese Entzifferungsbemühungen sind Moden unterworfen, die immer wieder Auslegungen bevorzugen, um andere zu übergehen. Aber bisweilen steckt in dem Übergangenen gerade ein Neues, das erst sehr viel später bemerkt wird, um dann umgetopft oder ausgewildert, aufblühen oder sich erneut vermehren zu können. Das klingt zwar sehr metaphorisch, aber das Historische ist vegetativ und animalisch zugleich. Mit dieser Zurüstung können wir einen bedenklichen Einsatz unserer Überlegungen in diesem Text wagen. Was uns hier interessieren soll, ist, wie schon gesagt, das Profil von Neueinsätzen der Philosophie im 20. Jahrhundert, die sich einer methodischen Charakterisierung bislang entzogen haben, aber für uns auch heute noch lehrreich
Einleitung
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sein können, um Anfängliches zum Sprechen zu bringen. Die Beispiele, die ich heranziehe, bilden einen prismatischen Zusammenhang, der sich an einem gemeinsamen Brechungsindex bewähren muß. Der sollte sich allerdings dem Leser selbst erschließen, der Text kann ihm dazu nur eine Hilfestellung anbieten. Jürgen Goldstein hat das so gebündelt: »Für die Labyrinthe des Sinnlich-Sinnhaften, die nur vagabundierend zu erkunden sind, werden Genregrenzen zur Makulatur.«2
2 Jürgen Goldstein, Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen, Berlin 2017, p. 13.
1. Historisches Existenzial Rückblicke nutzen allerdings gar nichts, wenn man nicht vorab eine leitende Lebenserfahrung zugrunde legen kann, die den Erinnerungssog aufquirlen läßt. Das haben viele, Philosophen zumal, häufig vergessen. Wer nicht mit eigener Hand einen verflogenen Singvogel eingefangen, sein aufgeregtes, pulsendes Herz durch den Flaum hindurch gespürt hat, um ihn dann mit Schwung wieder in eine erflogene Freiheit zu entlassen, dem fehlt ein elementares Verständnis der Surrealität des Lebens. Dazu gehört auch die ›verspürende‹ Abschätzung der eigenen Sensibilität, die keineswegs nur von Hand und Auge geführt wird, sondern sich in unseren Resonanzen bekundet. Was sich da klopfend meldet, stammt nicht von uns. Für solche Verhältnisse braucht man allerdings Bilder. »Wenn man ein kühnes Bild nicht scheut«, schreibt Ernst Nolte einmal, »könnte man sagen: Der Mensch ist wie eine Harfe, die in die Winde des Kosmos gestellt ist«.1 Diese Öffnung als Resonanzboden, elementare Form unserer natürlichen Transzendenz, konfligiert aber zugleich sehr wohl mit der Notwendigkeit, sich in dieser Welt zu behaupten. Hand und Auge übernehmen hier das Dirigat, aber immer im Lichte der genannten Öffnung. Diese Verschränkung macht die condition humaine aus und diese müssen wir einfach aushalten und uns in ihr bewähren. Abschließbar ist sie nicht. Von außen können wir ihrer nicht ansichtig werden. Deshalb gründet hier unsere fundamentale Geschichtlichkeit. Diese können wir nicht einfangen, indem wir erzählen, was sich begab, sondern nur in einer Entzifferung der inwendigen Formen unseres Existierens, die ohne Anleihen an unsere wiederum inwendige Öffnung zur Welt nicht plausibel gemacht werden können. Was wir daher unter ›historischer Existenz‹ verstehen möchten, »ist«, wie Ernst Nolte korrekt bemerkt, »kein Thema der GeErnst Nolte, Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte? Reinbek / München 2015, p. 184.
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schichtswissenschaft allein«, sondern »führt (…) in einen Randbezirk, welcher der Philosophie benachbart ist«.2 Denn es »müssen«, wenn es denn um elementare Formen unserer Geschichtlichkeit geht, »zeitübergreifende Strukturen vorhanden sein, wenn der Mensch imstande sein soll, historisch zu existieren«.3 Diese Strukturen sind nun ihrerseits keineswegs ungeschichtlich, aber formieren dennoch zeitübergreifend die Faktengeschichte. Sie sind einer ›historischen Anthropologie‹ zuzurechnen, die ›Grund bestimmungen‹4 struktureller Art zu ihrem Gegenstand hat, ohne für historische Fakten unsensibel zu sein. In diesem Sinne nennt Nolte diese ›Grundbestimmungen‹ auch ›historische Existenziale‹ »im Sinne einer alle menschliche Zeiten übergreifenden Struktur bestimmtheit des menschlichen Daseins«.5 Mit dem Ausdruck ›historisches Existenzial‹ macht er eine Anleihe bei Martin Heidegger, der in Sein und Zeit (1927) die Formen menschlichen Daseins in Abhebung von dinglichen Kategorien eben als Existenzialien eingeführt hatte. Dementsprechend nennt Nolte das gesamte Inventar des objektiven Geistes, wie es Hegel in Institutionen wie Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat analysiert hatte, auch dessen Folien eines absoluten Geistes wie Kunst und Religion, ›historische Existenziale‹. Sie sind Titel für grundlegende Modi des Menschen, wie er für sich und mit anderen zu existieren vermag. Immer fungieren diese ›Existenzialien‹ wie offenhaltende Membranen, die es uns gestatten, unsere Geschäfte in dieser Welt im Lichte einer natürlichen Transzendenz zu besorgen. Erst dadurch leben wir im emphatischen Sinne historisch und nicht nur biologisch oder physikalisch. Eben deshalb hat auch die historische Existenz womöglich Anfang und Ende. Aber warum knüpfe ich hier an diesen Terminus ›historische Existenziale‹ an? Aus zwei Gründen. Einmal kann es nicht gelingen, elementaren Termini des Menschenmöglichen Sinn und Bedeutung zu verleihen, ohne sie auf eine reale Struktur menschlichen Daseins zurückzubeziehen. Dieser Rückbezug wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings in reduktionistischer Manier gerne auf eine naturwissen2
Ernst Nolte, op. cit., p. 29. Ernst Nolte, op. cit., p. 34. 4 Ernst Nolte, op. cit., p. 53. 5 Ernst Nolte, op. cit., p. 183.
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schaftliche Basis vollstreckt, die dem Möglichen eine subszenische Faktizität sichern soll, die sie indes nicht haben kann. Das Mögliche, von dem hier die Rede ist, verbleibt grundsätzlich im Einzugsbereich unseres szenischen Existierens in Sinnverhältnissen.6 Deshalb gilt zweitens, daß wir in diesem Rückbezug bestenfalls auf elementare Strukturen unseres szenischen Existierens stoßen, um nicht aus dem Fokus unserer historischen Existenz herauszufallen. Deshalb benötigen wir hier ein ›historisches Existenzial‹, das als Schema des historischen Existierens so etwas wie ein struktureller ›Umriss‹ oder eine ›Skizze‹ ist, »also keine Abbildung, aber auch nicht ein bloßer ›Idealtyp‹«.7 Was Nolte hier bemüht, ist Kants Konzeption eines Schemas, das wir benötigen, um den abstrakten Kategorien Sinn und Bedeutung verschaffen zu können.8 Auch im Einzugsbereich historischen Existierens und seiner Analyse sind wir daher auf das Erreichen solcher Schemata angewiesen, um den Fallstricken eines reduktionistischen Fehlschlusses im Rückgang auf eine subszenische Faktizität zu entgehen. Das Abstrakte wird auf Szenisches zurückbezogen, nicht jedoch durch Subszenisches unterlaufen. Unser Problem in diesem Buch ist nicht der Sinn von Sein, sondern das Sein von Sinn.
6 Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. 7 Ernst Nolte, op. cit., p. 53. 8 Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg / München 1974.
2. Entrée In seiner überaus sensiblen Studie zu Carl Schmitts Begriffsbildung weist Christian Meier darauf hin, daß diese in ihrer Eigenart kaum aus historischen Vorbildern oder dem Diskussionszusammenhang, in dem seine Schriften entstanden, allein aufgeklärt werden könne.1 Es bleibt hier bei ihm, wie Schmitt in einem Brief vom 15. März 1971 an Meier sogar selber zugab, immer ein irregulärer, ja geradezu spontaner Rest.2 In diesem Rest, so darf man ohne weiteres ergänzen, schlummert geradezu das Ingeniöse seiner begrifflichen Strategien. Christian Meier unnachahmlich: »[S]o genügt es, auf die ›Witterung‹ hinzuweisen, mit der Carl Schmitt die Bedeutung des Feindes wie der theologischen Dimension von Politik und vieles andere aufgedeckt hat.«3 Diese ›Witterung‹ kann natürlich auch in die Irre führen, auch Meier nennt Schmitts Bestimmung des Kriteriums des Politischen geradezu ›fehlerhaft‹. Erst recht führte diese ›Witterung‹ Carl Schmitt in der politischen Arena in die Irre. Nach dem Röhm-Putsch hatte Carl Schmitt 1934 in einem bis heute berüchtigten Artikel – vermutlich von kontroversen Gesprächen mit Finanzminister Johannes Popitz (1884–1945) stimuliert4 – Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung, in: Helmut Quaritsch (ed.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, pp. 537–556. 2 Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung, op. cit., p. 541. 3 Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung, op. cit., p. 551. 4 Cf. hierzu die Eintragungen im Taschenkalender Juli 1934, in: Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, eds. Wolfgang Schuller / Gerd Giesler, Berlin 2010, pp. 349 sq. Schmitt wurde schon vorher durch Popitz, der später dem Widerstandskreis gegen Hitler angehörte und nach seiner Verurteilung durch Freisler 1945 in Berlin-Plötzensee gehenkt wurde, an der Ausarbeitung des Reichsstatthaltergesetzes und sonstigen Regelungen der Gleichschaltung beteiligt. Cf. C. Schmitt, Tagebücher 1930–1934, op. cit., Eintragungen vom 4. April 33 und 6. April 33. Zu Popitz cf. die rezente Studie von Anne C. Nagel, Johannes Popitz (1884–1945). Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler. Eine Biographie, Köln 2015; cf. hierzu auch die wichtige Rezension von Reinhard Mehring in: H / Soz / Kult. Kommunika1
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Hitlers und seiner Gefolgsleute brutales Vorgehen gegen Röhm, die SA und andere mißliebige Persönlichkeiten verteidigt und als legitim erklärt.5 Noch am 22. Mai 1957 versteht Carl Schmitt die Empörung über dieses Vorgehen und seinen Text nicht. »Dem armen edlen Röhm und den braven 4 Millionen, von Kommunisten unterwanderten SA-Leuten sollte also rechtsstaatlich d. h. justizförmig der Prozeß gemacht werden? Jeder einzelne hätte wohl einen Anwalt als Verteidiger bekommen müssen?«6 Unter den damals obwaltenden Bedingungen ein unvorstellbarer Aufwand, dann lieber aus Gründen einer Ausnahmesituation liquidieren. Der Führer muß ja gerade im Staatsnotstand das Recht schützen. Darauf wollte ihn Schmitt in seinem Text Der Führer schützt das Recht festnageln. Selbst als Gerichtsherr und Führer zugleich, im Kollaps der Gewaltenteilung also, sei Hitler auf den Rechtsschutz verpflichtet, mithin ohne Gesetz, nur als Herr der Ausnahme. Diese Engführung nennt Schmitt am 22. Mai 1957 rückblickend und mit schwer erträglicher Selbstgerechtigkeit zwar selbst ›naiv‹, preist seinen Aufsatz von 1934 aber dennoch als ›tricky‹.7 Es sei ein Text, »dessen Kühnheit, ja Verwegenheit
tion und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften vom 26. 3. 2015. Man beachte auch, daß Carl Schmitt seine Verfassungsrechtlichen Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, die 1958 in Berlin erschienen, dem Andenken an Johannes Popitz gewidmet hat. Unter den Aufsätzen findet sich auch der Text Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft (zuerst Tübingen 1950), der ursprünglich in der Festschrift für Johannes Popitz 1944 hätte erscheinen sollen. Er war Grundlage für Vorträge von 1943 bis 1944 und bot im Rückgriff auf Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) eine bemerkenswerte Kritik eines bloß mechanischen, d. h. ›motorisiert setzenden‹ Rechtsverständnisses. Das war damals mutig. Im Nachwort zur Ausgabe von 1958 verrät Schmitt auch die Stoßrichtung dieses Aufsatzes: die Rückholung der Philosophie in die Jurisprudenz. »Für mich waren Sokrates, Platon und Aristoteles primär Rechtslehrer und nicht das, was man heutzutage Philosophen nennt.« (op. cit., p. 437). So weit ist Schmitt hier übrigens von Hermann Cohens Devise von der ›Jurisprudenz als der Mathematik der Geisteswissenschaften‹ nicht entfernt. 5 Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. 7. 1934, in: Deutsche Juristen-Zeitung Heft 15 (1. 8. 1934), Sp. 945–950. 6 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, eds. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015, p. 361. 7 Schmitt schreibt, daß es ihm darum gegangen sei, Hitler »den erprobten Trick der Legalität aus der Hand zu nehmen.« (ibid.).
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keiner damals begriff«.8 Gott sei Dank habe Hitler diesen Text damals nicht zu Gesicht bekommen, er hätte ohne weiteres »gewittert, was es bedeutete (…), ihn zu einer rechtsförmigen Verantwortung zu zwingen«.9 Auf diese rückblickende, normative Lesart ist 1934 in der Tat niemand gekommen: Der Führer muß das Recht schützen. Die Glocken klangen damals und klingen auch heute noch anders, es waren aber nicht Carl Schmitts Glocken.10 Bemerkenswert ist, daß diese retronormative Lesart konsonant mit Schmitt auch von Martin Heidegger zu seiner ebenso berüchtigten Rektoratsrede von 1933 exkulpierend vorstellig gemacht wurde. »Rein ›metaphysisch‹ (d. h. seinsgeschichtlich) denkend habe ich in den Jahren 1930–1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit eines Übergangs in einen anderen Anfang gehalten und ihm diese Deutung gegeben.« Das sei zwar ein Irrtum gewesen, bleibt ihm aber dennoch, »und zwar aus denkerischen Gründen«, völlig ausreichend für eine Bejahung der ›Notwendigkeit des Nationalsozialismus‹. Diese Bewegung sei intrinsisch einfach »unabhängig (…) von der je zeitgenössischen Gestalt und der Dauer dieser gerade sichtbaren Formen«11 gewesen. Man wird sagen müssen: Dieser historische Platonismus der Geltung ist Heidegger ansonsten völlig fremd. Aber diese immerhin schon 1938/39 notierte Selbsteinschätzung, die er in den Anmerkungen von 1942–1948 mit Bezug auf seine Rektoratsrede wieder aufnimmt, zementiert doch den Eindruck einer späten 8 Glossarium, op. cit., p. 362. So auch in einem Brief von Carl Schmitt an Giselher Wirsing vom 15. Januar 1954, in dem er seinen Text von 1933 als einen »in der damaligen Situation kühnen und mutigen Aufsatz« bezeichnet, »der den letzten Rest von Justiz zu retten suchte.« (Kai Burkhardt (ed.), Carl Schmitt und die Öffentlichkeit. Briefwechsel mit Journalisten, Publizisten und Verlegern aus den Jahren 1923 bis 1983, Berlin 2013, p. 131). 9 Ibid. 10 Im Glossarium (op. cit.) zitiert Carl Schmitt (ab p. 356) immer wieder die Zeilen von Richard Dehmel: »Das waren Deine Glocken nie / und sind nicht meine Glocken mehr.« (Cf. dazu den Nachweis im Kommentar p. 528). 11 Martin Heidegger, Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39), Gesamtausgabe Bd. 95, Frankfurt / M. 2014, p. 408. – Die ›Ambivalenz‹ von Heideggers Rektoratsrede hat Ernst Vollrath gültig darin gesehen, »daß er die von der Philosophie her begründete Universität auf das Prinzip der poli tischen Führerschaft umstellte, für die er die Führung durch das philosophische Denken reklamierte«. (Ernst Vollrath, Hannah Arendt und Martin Heidegger, in: Annemarie Gethmann-Siefert / Otto Pöggeler, Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt / M. 1988, pp. 357 sq., hier p. 361).
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Selbstexkulpation wie bei Carl Schmitt. »Vielleicht kommt eines Tages doch jemand dahinter, daß in der Rektoratsrede von 1933 der Versuch gemacht wurde, diesen Prozeß der Vollendung der Wissenschaft in der Verendung [sic] des Denkens vorauszudenken.«12 Dennoch: »Diese Bemerkung soll nicht das Rektorat rechtfertigen. Die Amtsführung war verfehlt. Vielleicht war sogar die Rede ein Irrtum …«13 Die nämliche selbstentschuldende Strategie verfolgte Heidegger im gedruckten Text seiner Einführung in die Metaphysik 1953 mit seiner Rede von der »inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung [des Nationalsozialismus]«.14 Auch hier also im Rückgriff auf einen historischen Platonismus. Die ›innere Wahrheit und Größe dieser Bewegung‹, von der Heidegger spricht, blieb jedenfalls den damaligen ›Bewegern‹, also den Nationalsozialisten, verborgen. Wer denkt als politischer Akteur schon ›seinsgeschichtlich‹?
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Für Heidegger ist das Denken in der Tat am Ende. Wissenschaft, Technik und kulturelle Institutionen sind seine Totengräber. Mit diesem Gedanken spielte 1933 auch Karl Jaspers in seinen Notizen zur Erneuerung der Universität: »Die Möglichkeit einer wahrhaften Erneuerung deutscher Wissenschaft ist zugleich die Gefahr ihres endgültigen Todes.« (Karl Jaspers, Thesen zur Frage der Hochschulerneuerung, Juli /August 1933, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 2 (1989), pp. 5–28, hier p. 10). So wie Heidegger in seiner Rektoratsrede 1933 Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst unterscheidet und ins Benehmen setzt, nimmt Jaspers diese Perspektiven seinerzeit ebenfalls auf: »Arbeitsdienst und Wehrsport verbinden mit der Wirklichkeit; von vornherein steht der Student durch sie in Fühlung mit den Daseinsgründen und dem Gesamtvolk.« (Thesen, p. 22) Allerdings gilt für ihn: »Sie [Arbeitsdienst und Wehrsport] sind nicht Teil der Universität, sondern zu erfahrende Wirklichkeit des Übergreifenden.« (ibid.) Natürlich macht diese Exklusion die Sache nicht besser, im Gegenteil: die Erfahrung des Übergreifenden ist den erkennenden Bemühungen bei Jaspers ja vorrangig. Es zeugt von Jaspers’ Weisheit, daß er diesen Text von 1933 nicht publiziert hat. Zudem war das Gremium, für das der Text 1933 in Heidelberg gedacht war, zerfallen. Cf. hierzu die Anmerkung (1) von Hans Saner, Thesen, p. 28. 13 Martin Heidegger, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948), Gesamtausgabe Bd. 97, Frankfurt / M. 2015, p. 258. 14 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1958², p. 152. Jürgen Habermas ließ sich in seiner Besprechung der Erstpublikation dieser Vorlesung 1953 nicht auf eine retronormative Lesart ein, sondern nimmt den Text so beim Wort, wie er seinerzeit und auch heute noch genommen werden muß. Cf. ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt / M. 1971, pp. 67–75.
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Im Lichte einer Lesart konnte Heidegger also seine Rektoratsrede von 1933 verteidigen. Denn in ihr ging es ihm zufolge darum, »Wissen als Wesenswissen wieder ans Denken zu bringen, nicht aber an Hitler auszuliefern«.15 Die ›Selbstbehauptung der Deutschen Universität‹ war in Heideggers später Selbstinterpretation geradezu ihre Selbstverteidigung gegen Hitler. Die Glocken klangen damals und auch heute noch anders. Heidegger bestreitet jedoch wie Schmitt, daß es je seine Glocken waren.
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Martin Heidegger, Anmerkungen I–V, op. cit., p. 258.
3. Ortung Wenn man bedenkt, daß Carl Schmitt am 31. Januar 1933 seine Vorlesung ausfallen ließ, weil er, wiewohl auch seit Tagen schwer erkältet, über die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler keineswegs erbaut war und im Tagebuch seine »Wut über den dummen, lächerlichen Hitler«1 notierte, fragt man sich unwillkürlich nach dem Standort dieses politischen Denkers. Hier geht es also um eine politischbegriffliche ›Ortung‹ von Carl Schmitts Denken.2 Damit haben sich seine Leser, auch die Forschung, immer schwergetan. Letztlich ist es bis heute nicht gelungen, ihn zu ›encadrieren‹, d. h. ein begriffliches Koordinatensystem anzugeben, innerhalb dessen sich sein Denken konturieren ließe. Man hat deshalb darauf hingewiesen, daß dieser oszillierende Zug der Schriften von Carl Schmitt zwar die Triftigkeit seiner Interpretation beeinträchtigt, diese aber zugleich stimuliert. Das Ungreifbare fasziniert. Das gilt aber nur, wenn das vorhandene Greifbare ebenso überrascht wie fasziniert.3 Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, op. cit., p. 257. Daß diese Einschätzung eine konstante Konfession ist, ist eher unwahrscheinlich. Einen Tag früher, am 30. Januar 33 findet sich im Tagebuch die Eintragung: »Dann zum Café Kutschera, wo ich hörte, daß Hitler Reichskanzler und Papen Vize kanzler geworden ist. Aufgeregt, froh, vergnügt.« Carl Schmitt hat Adolf Hitler (und Goebbels) wohl nur einmal, bei einem Pressempfang am 6. April 33, persönlich gesehen. Hier notierte er im Tagebuch wieder distanziert: »sah Hitler und Goebbels. Sah beide genau. Große Aufregung. Hitler wie der gierige Stier in der Arena. Erschüttert von diesem Blick.« (Tagebücher 1930–1934, op. cit., p. 279; cf. ferner p. 428). 2 Cf. Mathias Schmoeckel, Ortung und Ordnung. Carl Schmitt im Natio nalsozialismus, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: Aus Politik und Zeitgeschichte 13. Dezember (1996), pp. 34–47. Dieser Beitrag gehört zum Besten, was zu Carl Schmitt und seiner Rolle im Nationalsozialismus geschrieben wurde. Insbesondere gelingt es Schmoeckel, die mythisierende Begabung von Schmitt ins Zentrum zu stellen. Daher das Schillernde seiner Grundbegrifflichkeiten, auf die ich unten noch näher eingehe. 3 Zur abstrahlenden Wirkung von Carl Schmitt zu Benjamin bis über die sog. 68-Generation hinaus cf. Lutz Niethammer, Die polemische Anstren1
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Man darf nun annehmen, daß Carl Schmitt nach seinem selbstgewollten Hineintappen in die von Amartya Sen heute griffig so benannte Identitätsfalle4 von 1933–1936, wohlwollend gesprochen: in Form eines ›Selbstverrats‹, in späteren Jahren sogar selbst darum bemüht war, sich bzw. sein Denken zu ›verorten‹. Dafür spricht die von ihm erst 1963 publizierte Schrift Theorie des Partisanen.5 Niemand weiß, warum er diesen Text damals publizierte. In seinem Gespräch mit Joachim Schickel 1969 über den Partisanen wies Schmitt darauf hin, daß es in Deutschland vor allem zu Napoleons Zeiten im Gegensatz zu Spanien keinen Partisanen-Krieg gegeben habe, wohl aber einen Dichter des Partisanen wie Kleist und vor allem »die Theoretiker« des Partisanen, nämlich Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz: »das ist das Erstaunliche; und das war der Grund, warum ich den Mut hatte, eine Theorie des Partisanen zu schreiben.«6 Welchen Mut aber beweist Schmitt mit seiner Theorie des Partisanen 1963? Es ist kaum anzunehmen, daß er sich als theoretisch nachholender Partisan gegen Hitler verstand. Was man weiß, ist nur dies, daß diese Abhandlung, wie Schmitt im Vorwort selbst mitteilt, aus zwei Vorträgen entstanden ist, die er im Frühjahr 1962 in Spanien, d. h. in Pamplona und Saragossa gehalten hat. Der publizierte Text endet mit dem Hinweis, daß die Theorie des Partisanen in den Begriff des Politischen einmündet, »in die Frage nach dem wirklichen Feind und einem neuen Nomos der Erde«.7 Am Ende weist Schmitt also auf sich selbst zurück. gung des Begriffs. Über die exemplarische Faszination Carl Schmitts, in: Hartmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (eds.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Göttingen 2004, p. 41–82. Schon früher: Ellen Kennedy, Carl Schmitt und die ›Frankfurter Schule‹. Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), p. 280–419. Dazu auch: Reinhard Mehring, Der ›Nomos‹ nach 1945 bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Artikel im Internet vom 31.3.2006, www.forhistur.de. Zuletzt: Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, dt. Darmstadt 2007. 4 Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, dt. München 2007. 5 Zitiert nach Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen, 7. Aufl. Berlin 2006. 6 Joachim Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, p. 21. Es geht Schmitt wohl um nicht mehr als eine begriffliche Annäherung. 7 Partisan, op. cit., p. 96.
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Was bezweckte Schmitt aber mit diesem extravaganten Text, der die rechtlich irreguläre Figur des Partisanen in ein rechtlich soeben noch greifbares Format rückübersetzt, das zugleich geeignet sein soll, neue (der Klassenkämpfer) und vielleicht sogar zukünftige (vom Industrie-Partisanen bis zum Kosmopartisanen) Formate verständlich zu machen? Er mußte wissen, daß kein Militär seinen Überlegungen im Konfliktfall auch nur einen Millimeter Raum geben würde. Dreh- und Angelpunkt ist für Schmitt und nach Carl von Clausewitz »das Bündnis der Philosophie mit dem Partisanen, das Lenin geschlossen hat«. Denn gerade dieses Bündnis »bewirkte nicht weniger als die Sprengung der europa-zentrischen Welt, die Napoleon zu retten und die der Wiener Kongress zur restaurieren gehofft hatte«.8 Es geht mithin ums Ganze des klassischen Völkerrechts. Ein ›eingehegter‹ Krieg des klassischen europäischen Völkerrechts, übrigens das einzige normative Arcanum, an dem Schmitt immer festgehalten hat, ist auf dieser Folie nicht mehr denkbar. Neue Kriege sind ›irregulär‹ und verlangen über den ›wirklichen‹ Feind hinaus den ›absoluten‹ Feind. Das ist dann das Endspiel. »Die Feindschaft wird so furchtbar werden, daß man vielleicht nicht einmal mehr von Freund und Feind sprechen darf«.9 In diesem Finale verdampfen die semantischen und politischen Kontraste des Völkerrechts endgültig, der Sinn des Politischen überhaupt und mit ihm die normative Grundsubstanz der Menschheit. In einem solchen hobbesianischen Endkrieg aller gegen alle wird der Partisan universell, aber um den Preis des Unterganges aller, auch seiner selbst. »Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut.«10 Mit dieser sinistren Vision beendet Schmitt sein Buch und ruft auf die Rettung eines ›wirklichen Feindes‹ zurück und auf einen ›neuen Nomos der Erde‹, d. h. auf die Rettung des Politischen in seinem Sinn. Das Reich der normativen Kontraste darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Reflexionsbegriffe sind zwar nicht konstitutiv, ›orten‹ also nicht, aber haben doch ›orientierende‹ Kraft. Sie spannen den Horizont unserer Selbstorientierung auf. Insofern bleibt auch die Freund-Feind Dualität, d. h. die Differenz zwischen dem, was man Partisan, op. cit., p. 57. Partisan, op. cit., p. 95. 10 Ibid. 8
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will, und dem, was man ›ums Verrecken‹ nicht will, notwendig. Aber Schmitts Text macht auch klar, daß diese Dualität keine Konstante ist. Zudem ist der Feind für Schmitt letztlich auch nicht definiert: »Er ist eben der andere, der Fremde.«11 Der Andere sind wir uns aber faktisch schon selbst, denn das ist in der reflexiven Verfassung des Selbstbewußtseins so beschlossen. Ich und Nicht-Ich brauchen sich gegenseitig, sonst gäbe es keine Intentionalität. E xakt so erklärt sich auch Carl Schmitt: »Ich denke mich, also bin ich doppelt, ich und das/der Gedachte. Ich denke, infolgedessen (also) habe ich Feinde.«12 Damit schrumpft die Semantik von Freund und Feind, wie Schmitt selbst zugibt, letztlich bloß »auf den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung«13 zurück, ja die Semantik von Freund und Feind wird im Grunde, das heißt in ihrer von Schmitt versuchten reflexiven Verankerung, einfach nur nichtssagend. Freund und Feind bleiben eigentlich nur in concreto sinnvoll und bleiben dadurch, denn Schmitt ist wahrlich kein abstrakter Reflexionstheoretiker, auch historisch Veränderliche, die sich situativ gegenseitig ihren Sinn leihen. Wen ich zum Feind habe, sagt zugleich etwas über mich selbst aus. Schmitt faßt das immer wieder mit einer Sentenz von Theodor Däubler zusammen: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.«14 Die durchgängige Dualität in Schmitts rechtspolitischen Formaten von Freund und Feind, Legalität und Legitimität, Gesetz und Urteil, Land und Meer etc. darf man ihren szenischen Einsatz nennen, denn anders kann man reale Antagonismen sprachlich gar nicht bändigen. So jedenfalls wird die Plastizität seines Denkens begreiflich. Insofern, und da hat Ingeborg Villinger recht, ist es immer »das Wort, das die ›Differenz‹ sichtbar macht«. Und genau diese Differenz-stiftende Kraft des Wortes ist »die Grundlage des Werkes von Carl Schmitt«.15 Dieser Kraft verdankt sich seine Raum-greifende Sprache: »Auf dem Zusammenhang von Raum und Sprache basieren die Erkenntnisgrundlagen seines Werkes.«16 Das besagt zwar nicht Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 79. So Carl Schmitt in seinem Brief vom 31. Mai 1970 an Joachim Schickel, in: Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 71 und p. 168. 13 Ibid. 14 Partisan, op. cit., p. 87. 15 Ingeborg Villinger, Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne, Berlin 1995, p. 322. 16 Ingeborg Villinger, Carl Schmitts Kulturkritik, op. cit., p. 323. 11
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sehr viel, aber die Räumlichkeit spielt in Schmitts Vokabular schon eine dominante Rolle. Der Partisan wird auf dem Hintergrund dieser Vision als Held des Irregulären vorgestellt, aber in seiner universellen Zuspitzung ad absurdum geführt. Er selbst ist nicht mehr möglich, wenn alles irregulär geworden ist. Der Partisan braucht eine reguläre Instanz, gegen die er sich als irregulärer Opponent konturieren will, »wenn er sich in der Sphäre des Politischen halten und nicht einfach ins Kriminelle absinken will«.17 Aber warum, noch einmal, behandelt Schmitt dieses Thema?18 Ich hatte schon gesagt, daß es um eine Ortung seiner selbst als Theoretiker geht. Auf den Theoretiker kommt Schmitt am Ende seines Buches ja auch zurück: »Der Theoretiker kann nicht mehr tun als die Begriffe wahren und die Dinge beim Namen nennen.«19 Die ›Begriffe wahren‹ bedeutet für Schmitt, Begriffe in einem ›konkreten Denken‹ bewähren; die Dinge ›beim Namen nehmen‹ heißt, Dinge in ihrer eigentümlichen Verfassung vorstellig machen. Ein konkretes Denken besagt: das gesamte normative Vokabular auf juristisch und politisch greifbare Vollzugsformen zurückführen; die Dinge beim Namen nennen heißt, sie in szenische Vollzugsareale hineinstellen. Aber das genügte Schmitt nicht. Er wollte und mußte seine Modalisierung, auf die ich unten noch ausführlich zu sprechen komme, bis in die Seelen der Menschen heruntertreiben, um einen seelischen Urkonsens für einen fundierten Staat bereit zu stellen. Dazu benötigte er eine geradezu suggestive, ja mythoide Sprache. Ähnliches schwebte auch Heidegger vor. Auch dessen Veranstaltung von ›Wissenschaftslagern‹ 1934 auf dem Niveau von Pfadfindern war zusätzlich ein praktischer Versuch, an die Seelen junger Menschen heranzukommen.20 Partisan, op. cit., p. 85. Mit dieser Frage kommt Mathias Schmoeckel in seinem ansonsten vorzüglichen Aufsatz (Carl Schmitts Begriff des Partisanen: Fragen zur Rechtsgeschichte des Partisanen und Terroristen, in: Michael Meyer-Blanck / Görge K. Hasselhoff (eds.), Krieg der Zeichen? Zur Interaktion von Religion, Politik und Kultur, Würzburg 2006, pp. 189–217) auch nicht zurecht: »Schmitt projizierte in den Partisanen ein Ideal.« (p. 216). Das ist sicher korrekt. Aber das Ideal war er selbst, nicht als Revolutionär, sondern als Jurist. 19 Partisan, op. cit., p. 96. 20 Cf. Otto Pöggeler, Philosophie und Nationalsozialismus – am Beispiel Heidegger, Rheinisch-Westfälische-Akademie der Wissenschaften (Jahresfeier 1989), Opladen 1990, p. 30. 17
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Für Schmitt war diese Strategie ein ›incipit‹, und so hatte er von Anfang an und bis zuletzt geglaubt, wie Mathias Schmoeckel schreibt, »künstliche Mythen schaffen zu können, um damit Menschen zu prägen und Politik zu beeinflussen«.21 Es hätte Schmitt allerdings sicher irritiert, wenn er sich in diesem Bestreben als Vollstrecker von Carl Gustav Jung und Sigmund Freud hätte erkennen müssen. Freud bemerkte einmal, übrigens im Konsens mit Jung, »daß die mythenbildenden Kräfte der Menschheit nicht erloschen sind, sondern heute noch in den Neurosen dieselben psychischen Produkte erzeugen wie in den ältesten Zeiten«.22 Es geht hier nicht darum, Schmitt, auch Heidegger nicht, zu psychologisieren, sondern darum, mit einem solchen von Freud konzedierten neurotischen und damit mythenbildenden Zentrum auch in der politischen Arena zu rechnen, um eine Quelle des Suggestiven zu erschließen. In der politischen Arena floriert jedenfalls ein Sendungsbewußtsein, das ansonsten eher selten ist. Faktisch hat Schmitt genau diese mythisierende Strategie, angereichert mit historischen Befunden, in seinem gesamten Werk, spätestens seit seinen Schriften zu Donoso Cortés in den zwanziger Jahren, auch in seiner Theorie des Partisanen vorgeführt. Vom Guerilla-Krieg in Spanien 1802–1813 gegen die französischen Truppen,23 über das preußische Edikt vom 21. April 1813 über den Landsturm (»eine Art Magna Charta des Partisanentums«),24 über die Irregularität des Klassenkampfes nach dem Modell Lenins,25 über Mao Tse-tung,26 Raoul Salan27 und zwischendurch über den Volkssturm der deutschen Wehrmacht 1944/45 und den sog. Werwolf,28 bettet Schmitt seine Untersuchungen zum Phänomen des Partisanen in konkrete Vollzugsformen unter Berücksichtigung ihrer historischen Differenzen ein.
Mathias Schmoeckel, Carl Schmitts Begriff des Partisanen, op. cit., p. 197. Sigmund Freud, Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Nachtrag (1911), in: ders., Studienausgabe, Bd. VII, Frankfurt / M. 1973, p. 203. 23 Partisan, op. cit., p. 11 sq. 24 Partisan, op. cit., p. 45 sq. 25 Partisan, op. cit., p. 52 sq. 26 Partisan, op. cit., p. 58 sq. 27 Partisan, op. cit., p. 65 sq. 28 Partisan, op. cit., p. 43 sq. 21
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Und dennoch: Letztlich geht es ihm um diese militärischen Sonderformate irregulärer Kampfeinheiten eigentlich gar nicht. Sonst hätte er auch den Deserteur, also den Partisanen in eigener Sache, den Verräter, den Whistleblower, wie wir ihn heute kennen, Renegaten und Dissidenten, Terroristen aller couleur, ja sogar die Mafia etc. thematisieren müssen. Er tut es aber nicht. Warum nicht? Es geht ihm letztlich gar nicht um eine ausdifferenzierte Theorie des Irregulären. Ihm genügt hier das Rechtsformat als Fragment. Denn: Der Partisan ist Carl Schmitt selbst.29 Nicht als Kämpfer, sondern als Theoretiker. Auf die noch 1955 an sich selbst gestellte Frage »Wer bist Du? Tu quis es?« antwortet er: »ein in Ewigkeit unkanalisierbarer«.30 Er ist die Ausnahme im Reich staatsrechtlichen Denkens, die von keinem Kataster erfaßbare Person, der überreguläre Jurist schlechthin. Mit dieser Selbstortung hat er sich nach seinem desaströsen Engagement im ›Dritten Reich‹ eine wiederum irreguläre Selbstrechtfertigung bereitgestellt, die ihn dennoch unangreifbar macht.
29 Cf. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, p. 526: »Nach 1945 sah Schmitt sich als ›outlaw‹ …« Auch Joachim Schickel titelt Schmitt als Partisan des Politischen (ders., Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, p. 77). Man könnte auch so argumentieren, daß Carl Schmitt a limine auf dem Weg einer neurotischen Selbstortung war. Das gilt zwar im Prinzip für alle Kreative, aber für ihn sicher besonders deutlich. Diese ab initio-These vertritt u. a. auch Reinhard Mehring. Cf. ders., Überwindung des Ästhetizismus? Carl Schmitts selbstinquisitorische Romantikkritik (2006), in: edoc.hu-berlin.de. 30 Carl Schmitt, Glossarium, op. cit., p. 335. Schmitt spielt hier auf die nichtkanalisierte Mosel an. Seine Vorfahren stammten aus dieser Gegend. Cf. dazu den Kommentar (Glossarium, p. 511).
4. Der Künstler als Partisan Schmitt stellt den Partisanen subkutan nach dem Modell eines Künstlers vor. Das scheint das Erbe seines Lebens in der Nähe der Bohème in München zu sein. Hier litt er an seiner Sehnsucht nach »den modernen Literaten« und bekennt: »warum richtet sich mein Ehrgeiz nach dieser Richtung, obwohl ich doch weiß, wie einfallslos und machtlos diese hässlichen, eitlen Affen sind?«1 Der Westfale Schmitt litt unter seiner Konkurrenz zum Künstler, um ihn zugleich verachten zu können. Ein durchaus üblicher und vielleicht doch nur kleinbürgerlicher Affekt. Denn was sind die Kriterien des Partisanen, an denen sich Schmitt orientiert? Es sind dies, wie von ihm selbst expliziert: Irregularität, Intensität, Mobilität, Bodenhaftung, Instanzen, gegen die man sich formiert. Alle diese Kriterien werden auch vom Künstler erfüllt. Auch Künstler sind Partisanen im Kontrast zum herrschenden Reglement expressiver Kontexte.2 Daß Künstler auch Partisanen ihrer stilgültigen Umgebung sind, ist nun keine neue Idee, sondern zumindest in der Moderne durchaus geläufig. Denn, wie Horst Bredekamp einmal treffend bemerkt: »Alle Avantgarde kommt als Partisan aus der Deckung.«3 Diese Rolle als singulärer Avantgardist schrieb sich in jeder Phase seines Lebens bis zuletzt auch Carl Schmitt zu. Seit seiner Münchner Zeit Carl Schmitt, Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 191. Aufsätze und Materialien, eds. Ernst Hüsmert / Gerd Giesler, Berlin 2005, p. 69. 2 Auch Schmitt kennt diesen etwas laxen Sprachgebrauch: »Ich habe z. B. Bruno Bauer und Max Stirner als Partisanen des Weltgeistes bezeichnet …« (Partisan, op. cit., p. 25, Anm. 15). »Als Metapher braucht das nicht unzulässig zu sein; …« (ibid.) In seinem Text gehe es aber um einen ausdrücklich kriteriell ausgewiesenen Gebrauch des Wortes. 3 Horst Bredekamp, Die Wiederkehr des Lichts. Ein Wunderwerk: Im Chor der Kathedrale von Reims sind die von Imi Knoebel gestalteten neuen Glasfenster enthüllt worden, in: Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2011, p. 9. 1
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(1915–1921), noch vor seiner Selbsttransformation ins politische Denken, bewegte er sich im Einzugsbereich eines ästhetischen Anarchismus. Hier war alles möglich, sofern es ästhetisch einen Mehrwert an Impressivität erwirtschaftete. Aus diesem universellen Reich des Möglichen hat sich Schmitt nie ganz entfernt. Das von ihm in München als politischer Denker neu eingeführte Vokabular blieb eben deshalb gerade in seiner Dualität dispositionell oder modal. Staat, Recht, Politik und sämtliche rechtlichen Institute werden als Dispositions- oder Möglichkeitsterme eingeführt, die einer Realisierung bedürftig sind.4 Diese wiederum geht stets auf Entscheidungsakte zurück, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Michele Nicoletti hat das einmal so ausbuchstabiert: »Tritt der Bruch zwischen ›Konkretem‹ und ›Abstraktem‹, zwischen Idee und Faktizität offen zutage (…), dann ist Entscheidung die einzige Brücke, die ein Vermittlungsverhältnis gewährleistet.«5 Dezision bleibt also stets dann notwendig, wenn Möglichkeiten realisiert werden sollen. Das gilt seit der Schöpfung der Welt per fiat. Der Rechtstheoretiker begibt sich damit zwangsläufig in eine vornormative Dimension, die hernach innerhalb des Normativen auch nicht mehr annulliert werden kann. Diese vornormative Dimension ist nach Schmitt das Politische, das als solches dem Staat vorausgeht.
4 Die formalen, endlos diskutierten Schwierigkeiten in der Behandlung von Dispositionsbegriffen und ihre Unentbehrlichkeit zugleich erläutert sehr gut Ludger Jansen, Dispositionen und ihre Realität, in: Christoph Halbig / Christian Suhm (eds.), Was ist wirklich? Realismusdebatten in der neueren Philosophie, Frankfurt / M. 2004, pp. 117–137. 5 Michele Nicoletti, Die Ursprünge von Carl Schmitts ›Politischer Theologie‹, in: Helmut Quaritsch (ed.), Complexio Oppositorum, op. cit., pp. 109– 128, hier p. 120.
5. Modalisierung Die Modalisierung der rechtstheoretischen Grundbegriffe ist, methodisch gesehen, eine entscheidende Einsicht von Schmitt, die für sein gesamtes Werk leitend bleibt. Ob es hier Quellen gibt, ist in der Forschung umstritten. Stefan Breuer weist im Anschluß an Manfred Gangl auf Hans Morgenthau hin, der 1929 »den Begriff des Politischen modal bestimmte«.1 Das allerdings kann für Schmitt keine initiale Einflußquelle gewesen sein, da er sich schon seit seiner Politi schen Romantik (1919), also gegen Ende seiner Münchner Zeit auf dem Korridor modalisierter Grundbegriffe befand. Die Quellen liegen daher wohl doch in seiner Erfahrung als bohème in München. Anzunehmen ist zudem, daß ausschlaggebend letztlich seine exzessiven Erfahrungen mit seiner damaligen Frau Pauline Carita Maria Isabella von Dorotic, eigentlich Pawla Dorotic, von Schmitt Cari genannt, gewesen sind, deren Launenhaftigkeit ihn in der Münchner Zeit und darüber hinaus fast um den Verstand brachten: »es ist zum Verrücktwerden, diese Zusammenhanglosigkeit; was soll ich tun? Ich werde mich in einer Stunde vor Wut über meine Nichtigkeit erschießen.«2 Man kann das auch so bündeln: Der Westfale widerstand diesem Exzess und der Jurist der hemmungslosen Expression. So kam es bei Schmitt, nicht erst um die Zeit seiner Probevorlesung an der Universität Straßburg, also 1916,3 zu folgenschweren Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext. Intellektuellenpolitik in der Weimarer Republik, Berlin 2012, p. 89 Anm. 59. 2 Carl Schmitt, Die Militärzeit, op. cit., p. 125 (Eintragung vom 6. 9. 1915). 3 So lese ich jedenfalls seine Ausführungen gegen Ende seiner Probevorlesung an der Universität Straßburg von 1916: »Mag der Militärbefehlshaber nach Aufhebung von Verfassungsbestimmungen vorgehen (…), immer findet seine Einwirkung ihre Grenzen an der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt.« (Carl Schmitt, Die Militärzeit, op. cit., p. 429). Erstaunlich bleibt, daß Schmitt diese Einschränkung auch für den Reichpräsidenten geltend macht, so auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrervereinigung am 14. 4. 1924 in Jena: »Er sieht die sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten als verfas1
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Selbsteinschränkungen. Er erkannte, daß der Rückgang auf den universellen Spielraum der Möglichkeiten zwar für den Künstler unabdingbar ist, nicht jedoch für den Theoretiker. Es gibt Anlaß, den Quellcode für seine weitere Entwicklung schon sehr früh dingfest zu machen. In meinen Augen findet er sich bereits in einem frühen Aufsatz von Carl Schmitt von 1913: »Alles Recht ist seinem Wesen nach Notwehr.«4 Ob das nun eine zureichende Kennzeichnung ist, bleibe dahingestellt. Dennoch muß wohl von hier aus das Werk von Carl Schmitt insgesamt gelesen werden, auch sein Text von 1934 (Staatsnotwehr). Wie gesagt: Ob diese Lesart auch ihre Triftigkeit absichert, scheint eher zweifelhaft, wohl aber seine Heuristik per Fiktion.5 Um es im sound von Wagner auszudrücken: In einer ›notwendenden‹ Notwehr gründet für Carl Schmitt jedenfalls der Nomos der Erde schon im hobbesianischen Naturzustand.6 Gerade dieser Notbezug gab seiner Kritik der Romantik 1919 das einschränkende Profil: Der Entgrenzungshintergrund der Romantik verliert sich in einen Okkasionalismus, in einen schrankenlosen Relativismus, der in Handlungsprofile nicht mehr oder bestenfalls noch sungsrechtlich beschränkt an; dessen ›Maßnahmen‹ könnten entgegen der herrschenden Meinung keine Gesetzeswirkung entfalten (…). Die meisten Kollegen lehnen seine Thesen ab, er fühlt sich wieder als Außenseiter.« (Gerd Giesler / Wolfgang H. Spindler, Einführung zu: Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924, eds. Gerd Giesler / Ernst Hüsmert / Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, p. XX; cf. auch Schmitts Eintragung im Tagebuch vom 14.4.1924 (Der Schatten Gottes, op. cit., p. 337). Dieser Vortrag in Jena ging auch ab der 2. Aufl. in Carl Schmitts Buch Die Diktatur (1. Aufl. 1921) ein; cf. 7. Aufl. Berlin 2006, p. 211–257. 4 Carl Schmitt, Schopenhauers Rechtsphilosophie außerhalb seines philosophischen Systems, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 10 (1913), pp. 27–31; wiederabgedruckt in: Carl Schmitt, Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung und weitere strafrechtliche und frühe rechtsphilosophische Beiträge. Mit einer editorischen Nachbemerkung von Gerd Giesler, Berlin 1917, pp. 165–170, hier p. 167. 5 Cf. hierzu auch Carl Schmitts frühe Schrift Juristische Fiktionen (1913) in: Deutsche Juristen-Zeitung 18 (1913), Sp. 804–806; wiederabgedruckt in: Carl Schmitt, Über Schuld und Schuldarten, op. cit., p. 171–173. Schmitts Rückgriff auf Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) bedarf noch einer gesonderten Untersuchung. 6 »Interessant, aber wenig beachtet ist, dass Hobbes im Naturzustand und damit also vor jeder Konstitution staatlicher Institutionen (…) ein natürliches Recht auf Notwehr anerkannt hat.« (Dietmar von der Pfordten, Normative Ethik, Berlin / New York 2010, p. 284).
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expressiv ›eingesintert‹ zu werden vermag. Realkontexte brauchen zwar auch Möglichkeitsspielräume, aber ebenso Restriktionen, um stabil zu bleiben. Solche Restriktionen spielen sich in der Moderne grundsätzlich in Entzweiungsprofilen ab. In dieser Hinsicht steht Schmitt zweifellos in der Erbschaft Hegels. Aber er widerstand stets der Versuchung, solche Entzweiungsprofile ›dialektisch‹ aufzuheben.7 Das trennt ihn von Hegel. Schmitt ließ diese Entzweiungsmuster als szenische Realitäten des Lebens einfach stehen. Sie können als elementares Duplex nicht synthetisiert werden, weil sie eben dann ihre szenische Kraft einbüßten. Hier empfehlen sich also Dispositionen, die schon in sich ant agonistische Potentiale enthalten. In solche Dispositionen kann man nicht eintreten, ohne sich entscheiden zu müssen. Solche Entscheidungen sind aber schon gefällt und daher überpersonal, wenn man z. B. nur ein ›Freund‹ sein will. Den kann es ohne den ›Feind‹ gar nicht geben. ›Herr‹ und ›Knecht‹ stehen in demselben Wechselverhältnis. Auch juridische Grundbegriffe geben sich daher in ihrer Bedeutung als »Form im Sinne einer Lebensgestaltung« zu erkennen.8 Das war in etwa auch die Intuition von Max Webers Begriffssoziologie, von der sich Schmitt ansonsten abzusetzen bestrebt war.9 Freilich blieb auch dieser Rückruf Schmitts auf eine ›Form der Lebensgestaltung‹ nicht ohne Kritik. Panajotis Kondylis hält diesen Rückruf für erklärungsdefizitär. Eine ›Philosophie des Lebens‹ kann vielleicht die Semantik der juridischen und politischen Grundbegriffe klären, aber keine Rechtfertigung von Rechtsverhältnissen liefern.10 Indes, da Schmitt den Anschluß seiner juridischen Grund7
Das wird besonders deutlich, wo ihn der ehemalige ›Maoist‹ Schickel immer wieder auf eine politische Dialektik einschwören möchte. So naiv wie die marxistischen Begriffsentsorger war Schmitt aber nicht. Cf. Joachim Schickel, Gespräche, op. cit. 8 Carl Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie (1923), in: Melchior Palyi (ed.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München / Leipzig 1923, p. 18. 9 Cf. hierzu Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, op. cit., pp. 81 sq. Ob man Carl Schmitt deshalb mit Wolfgang Mommsen als ›illegitimen‹ Schüler Webers bezeichnen kann (cf. Reinhard Mehring, Carl Schmitt, op. cit., p. 533), soll hier offenbleiben. Stefan Breuer vermutet, daß Schmitt seinen Begriff des Politischen weniger in Beerbung von Max Weber entwickelt habe, sondern eher von Ferdinand Tönnies her (Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, op. cit., p. 95 sq.) 10 Panajotis Kondylis, Jurisprudenz, Ausnahmezustand und Entscheidung.
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begriffe an Lebensformen per Ortung sicherstellen muß, ist über die normativen Formate in grundsätzlicher Weise bereits entschieden, bevor sie intern streitig werden können. Wer an die rechte Stelle gesetzt ist, tut auch das Rechte.11 Vielleicht ließ sich Schmitt in seinem Verfahren einer Modalisierung von juristischen Grundbegriffen durch Platons Devise in der Politeia inspirieren, derzufolge wir z. B. den abstrakten Begriff der Gerechtigkeit erst auf die konkreten Verhältnisse einer möglichst optimalen Polis abbilden müssen, um ihn als definitiv geklärt ansehen zu können.12 Der abstrakte Begriff ist für uns gewissermaßen zu fern, in zu kleinen Lettern geschrieben, so daß wir ihn kaum entziffern können. Hier bedarf es größerer Buchstaben, um lesen, will sagen: unsere Verstehensbemühungen realisieren zu können.13 Nicht das Gute selbst, so Platons Modalisierungsempfehlung, sollte in einem ersten Anlauf definiert werden, das würde uns überfordern, sondern ein maximal ähnlicher Sprößling desselben (ἔκγονος ὁμοιότατος).14 Es ist zudem beachtlich, daß Schmitt mit seiner Modalisierung juridischer Grundbegrifflichkeiten, die diese also als Möglichkeitstitel rechtlich formierten Lebens faßt, eine große methodische Nähe zu Martin Heideggers Projekt aufweist. Grundsätzliche Bemerkungen zur Carl Schmitts ›Politische Theologie‹, in: Der Staat 34 (1995), pp. 325–357, hier: p. 332. Kondylis hat prima vista recht, aber er hat zugleich die fundamentalsemantische Intuition von Schmitt nicht begriffen. 11 Das ist letztlich platonisch gedacht. Aber auch Heidegger hat diese Auffassung immer vertreten, wie ich von Walter Biemel weiß. Deshalb hat Heidegger es vermieden, eine aparte Ethik zu schreiben. Ethik findet bei ihm im Umgang mit der Welt statt, im Bemühen um den rechten Ort. 12 Politeia 434 d. 13 Cf. Platon, Politeia 368 d. Einen direkten Bezug auf diese Stelle bei Platon scheint es bei Schmitt nicht zu geben, wohl aber Belege für seine intensive Beschäftigung mit Platon. Cf. u. a. Carl Schmitt, Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924, eds. Gerd Giesler / Ernst Hüsmert / Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, (Febr. 1922), p. 57: »Ich fand ein schönes Wort bei Platon, der von den Ideen sagt: κίνουσιν ὡς ἐρώμενον: Sie bewegen, indem sie geliebt werden, sie wirken, indem sie Sehnsucht erregen.« Die Herausgeber weisen (Anm. 177) darauf hin, daß diese Wendung bei Platon wörtlich nicht vorkommt, ähnlich aber bei Aristoteles. Allerdings gibt der magische Status des Eros (im Symposion) dem Text doch wieder eine Beglaubigung. 14 Cf. dazu unten Kap. 15.
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Dieser modalisierte in Sein und Zeit (1927) die bisherigen erkenntnistheoretischen Grundbegrifflichkeiten in toto, um sie als Möglichkeitsformen des Existierens plausibel und verständlich machen zu können. Freilich lehnt Heidegger die überkommene Kategorie des Modalen ab, sie sei seit der mittelalterlichen Philosophie bezogen auf das Seinkönnen logisch ausgedünnt: »Sie [die Modal kategorie] charakterisiert das nur Mögliche.« Als Seinsform des Menschen gefaßt sieht das jedoch völlig anders aus, das Mögliche wird hier zum Spielraum des Daseins: »Die Möglichkeit als Existenzial (…) ist die ursprünglichste und letzte positive Bestimmtheit des Daseins.«15 Oder, zuvor schon: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.«16 An anderer Stelle spricht Heidegger geradezu von einer ›existenziellen Modalisierung‹ und von ›Momenten der Modalisierung‹.17 Hier muß man allerdings unterscheiden zwischen einer Real- und einer Idealmodalisierung. Erstere analysiert Spielräume der Wirklichkeit, in die wir eingelassen sind, modalisiert abstrakte Grundterme auf reale Möglichkeiten hin, entschlüsselt sie mithin als szenische Strukturen des Menschseins. So kommt im Kontrast dazu das Wort ›wirklich‹ in einer Idealmodalisierung gar nicht vor, nur ›zufällig‹ (tatsachenabhängig), ›möglich‹ (nicht logisch falsch) etc.18 Damit erweist sich dieses logische Instrumentarium einer Ideal modalisierung als phänomenologisch impotent. Eine Realmodalisierung erschließt hingegen unsere Zugänge zu einem basalen Wirklichkeitsverstehen, das meßtechnischen Registraturen vorhergeht. Der Raum wird so zunächst zum Orientierungsraum und in diesem ›tasten‹ wir uns vor. So ist »nie zunächst eine dreidimensionale Mannigfaltigkeit möglicher Stellen gegeben, die mit vorhandenen Dingen ausgefüllt wird. (…) Das ›Oben‹ ist das ›an der Decke‹, das ›Unten‹ das ›am Boden‹, das ›Hinten‹ das ›bei der Tür‹; alle Wo sind durch die Gänge und Wege des alltäglichen Umgangs entdeckt und umsichtig ausgelegt, nicht in betrachtender Raumausmessung festgestellt und verzeichnet.«19 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. Aufl. Tübingen 1963, § 31 (p. 143). Sein und Zeit, op. cit., § 7 (p. 38). 17 Sein und Zeit, op. cit., § 62 (p. 305, 309 et passim). 18 Cf. hierzu Rudolf Carnap, Über die Logik der Modalitäten, in: ders., Bedeutung und Notwendigkeit, Wien / New York 1972, § 39, p. 220. 19 Sein und Zeit, op. cit., § 22 (p. 103). 15 16
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5. Modalisierung
Eine Realmodalisierung ist daran interessiert, elementare Muster unseres Möglichkeitsspielraums, d. h. Radikale des Möglichen ausfindig zu machen. Heidegger nennt sie Existenzialien. Von ihm hat Ernst Nolte, wie oben ausgeführt, seinen Ausdruck historische Existenzialien erborgt. Bei Schmitt könnte man, was er selbst nicht sagt, von politischen Existenzialien sprechen. Alle drei Formate spielen jedenfalls eine Rolle, die ehedem in der überlieferten Ontologie die Kategorien innehatten. Die Realmodalisierung hat aber einen starken anthropologischen Zug, deshalb eignet sich der Ausdruck Kategorien hier nicht mehr. Es ist geistesgeschichtlich beachtlich, daß 1927 nicht nur Heideg gers Buch Sein und Zeit erschien, sondern auch Carl Schmitts Text Begriff des Politischen. In diesem Text modalisierte er den Begriff des Politischen, indem er ihn auf das Freund-Feind-Schema ›herunterbrach‹. Der Dualismus seines Denkens schlug hier voll durch und zeichnete den Korridor vor, in dem sich sein Denken fortan entwickeln sollte. Christian Meier versuchte den Dualismus dadurch zu entschärfen, daß er diesen Grundzug Schmitts mit Ernst-Wolfgang Böckenförde in ein ›Beziehungs- und Spannungsfeld‹ überführen wollte, in dem der herbe Dualismus als complexio oppositorum in antagonistische bzw. dissoziative Strukturen aufgefangen erscheint.20 Wohlmeinende Interpreten haben diese Strategie gerne aufgenommen und sind ihm auf der Basis einer geschenkten Kohärenzunterstellung begegnet. Josef Isensee hat sich davon nicht blenden lassen und bleibt Realist: »Der Kohärenzvermutung entzieht sich auch die Doppelnatur Schmitts als Gelehrter und Künstler. Die zwei Naturen lebten (…) ineinander.« Daher kommt es, daß sich in seinen Texten das eine nicht vom anderen trennen läßt. Isensee faßt das erfrischend offen und ungewöhnlich treffend und kompakt zusammen: »Im wissenschaftlichen Werk macht sich das artistische Moment geltend: Faszination durch Wort und Begriff, Wille zum Stil, Neigung zu Paradox und Provokation, intellektuelle Abenteuerlust, Geringschätzung der Regelhaftigkeit und der Gewöhnlichkeit, Hingegebenheit an die Ausnahme und den Grenzfall.«21 Im Prinzip trifft das alles auch auf Heidegger zu. 20 Christian Meier, Zu Carl Schmitts Begriffsbildung – Das Politische und der Nomos, in: Helmut Quaritsch (ed.), Complexio Oppositorum. op. cit., pp. 537–556, hier p. 547. 21 Helmut Quaritsch (ed.), Complexio, op. cit., Aussprache p. 604.
6. Phänomenologie Als Sachwalter einer Modalisierung der Idee des Rechts bietet Carl Schmitt eine knappe Skizze seiner systematischen Intuition in dem 1953 erschienenen Aufsatz Nehmen / Teilen / Weiden.1 Hier entwickelt er aus den drei (mutmaßlichen) Bedeutungen des griechischen Wortes nemein (νέμειν) den Vollsinn von Nomos (νόμος) als Recht bzw. reglement social. An diesem Vollsinn gemessen ergibt sich schon der für Carl Schmitt typische Kontrast zwischen Recht und Gesetz. Aber die Wurzeln unserer rechtlichen Verfassung reichen noch tiefer. Denn νέμειν besagt erstens Nehmen (die Nahme, auch durch Namengebung), zweitens Teilung (Verteilung) und schließlich drittens Weiden im Sinne der Produktion.2 Durch diese philologisch angeleitete Modalisierung des Vollsinns von Recht gelingt es Carl Schmitt, den szenischen Korridor eines konkreten Ordnungsgefüges sichtbar werden zu lassen, aus dem sich das Tiefenverständnis unserer rechtlichen Verfaßtheit speist. Aber wie Heidegger schöpft Schmitt häufig aus etymologisch trüben Quellen. Auch die konzeptuellen Muster einer Weltgeschichte gehen auf diese etymologische Basis zurück und zwar vor allem auf einen Wandel »in den Mitteln und Methoden der Nahme«, von der nomadischen Landnahme, über den Kolonialismus bis zur Ausbeutung und der darauf folgenden Expropriation der Expropriateure in einem bloß »nehmenden Kapitalismus«3 im Sinne von Karl Marx. 1 In: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924– 1954, 4. Auflage Berlin 2003, pp. 489–504. 2 Carl Schmitt, Nehmen / Teilen / Weiden, op. cit., p. 491. 3 So im Nachtrag zu dem genannten Aufsatz von Carl Schmitt, op. cit., p. 503/04. Im Rückgriff auf Alexandre Kojève unterscheidet Carl Schmitt diesen ›nehmenden Kapitalismus‹ im Konzept von Karl Marx von einem ›gebenden‹, d. h. ›einem fordistisch aufgeklärten Kapitalismus‹. Das ist zweifellos eine heute noch bedenkenswerte Unterscheidung von Kojève, weil ein ›fordistisch‹ aufgeklärter Kapitalismus im Prinzip der heutigen politischen Realität entspricht.
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Methodisch gesehen rücken jedenfalls auch aus dieser Perspektive Schmitt und Heidegger wieder sehr eng zusammen. Rechtsverstehen und Seinsverstehen erhalten bei ihnen einen neuen Zugang, der über die Modalisierung der Grundbegrifflichkeiten in beiden Bereichen eröffnet wird. Primär ist für beide ein methodisch unverstellter Sachbezug, Erbe der Phänomenologie. Bei Heidegger als Schüler Husserls liegt das auf der Hand, bei Schmitt ist man auf ein Geständnis angewiesen, aber das gibt es: »Ich habe eine Methode, die mir eigentümlich ist: die Phänomene an mich herankommen zu lassen, abzuwarten und sozusagen vom Stoff her zu denken, nicht von vorgefaßten Kriterien. Das können Sie phänomenologisch nennen, aber ich lasse mich nicht gerne auf solche allgemeinen methodologischen Vorfragen ein.«4 Genau besehen eröffnet sich hier zugleich ein Korridor für die gesamte Philosophie des 20. Jahrhunderts. Aus dieser Perspektive könnte man sagen, daß beide zu Erfindern eines recht verstandenen Modalen wurden, bevor es noch eine eigene Modallogik (seit Clarence Irving Lewis, Oskar Becker u. a.) gegeben hat, die allerdings mit den Konzeptionen von Schmitt und Heidegger keine Berührung gehabt hätte. Verhältnisse wie ›Notwendiges ist wirklich und Wirkliches ist möglich‹ lagen nicht in der Optik ihres Blicks auf Modales. Schmitts und Heideggers Modalitäten operieren ja nicht über möglichen Welten, sondern konkret über unserer rechtlich und politisch verfaßten oder existenziellen Welt. Grundbegrifflichkeiten fungieren dann bei beiden wie prognostisch stillgestellte Horoskope, nicht an Sternen abgelesen, sondern, um etwas kitschig auszudrücken, an den Augen der Menschen. Sie zeichnen Möglichkeiten vor, deren Realisierungsspiel wie ein unerwarteter Augenaufschlag offen bleiben muß. Diese Zusammenhänge sind für ein Verständnis des intellektuellen Profils des 20. Jahrhunderts, insbesondere auch seit Robert Musils Romankonzept eines Möglichkeitsmenschen, von erheblicher Bedeutung. Es ging immer um Versuche, die Idealität des Geistigen in soziomorphe Möglichkeitsformen aufzufangen, in denen wir uns exerzit bewähren müssen, in diesen Versuchen aber auch scheitern können. Das 20. Jahrhundert ist auch das Jahrhundert der Entdeckung des Modalen in diesem riskanten Vollzugssinn, das den nor-
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Joachim Schickel, Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, p. 11.
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mativen Tableaus des Gelingens vorhergeht, sie aber zugleich vorab schon prägt. Allerdings hatte diese Entdeckung auch ihren Preis. Die Realisierungsformen von Möglichkeiten konnten nach dieser Wende ausschließlich über Intensitäten graduiert werden. Gerade weil man, und das gilt ebenso für Schmitt wie für Heidegger, den Platonismus der Geltung vermeiden wollte, war man zu dieser Intensitätsstrategie5 gezwungen. Damit verging das Normative gänzlich in Steigerungsformen einer authentischen oder auch, wie schon bei Max Weber, wenn bei ihm auch sparsam eingesetzt, einer charismatischen Existenz. Aus der Tiefe der Geschichte winkt hier die Idee einer Graduierbarkeit des Seienden von Thomas von Aquin in die Moderne: Die Wertigkeit einer Sache ist Sache der Sache und nicht einer externen Tabelle. Diese Einschätzung war bis zu Zeiten von Leibniz üblich. Ihm verdanken wir ohnehin die neuzeitliche Entdeckung des Modalen. Das Mögliche verblieb für ihn in einem Wertigkeitswettbewerb. Dadurch legt sich ein Schleier des Ästhetischen über alles: Manches ist in hervorragender Weise das, was es ist, anderes weniger. Aber alles partizipiert an diesem Glanz eines Optimalen. Dadurch verbleiben die Realisate des Möglichen im Einzugsbereich des Göttlichen. Das lag eben daran, daß die Modalitäten bei Leibniz zwar auch, aber nicht nur – wie in der Moderne – logische Spielräume vorzeichneten, sondern auch ontologische.6 Daher war der Gottesbezug des Möglichen ein zwingender Gedanke. Gott blieb für Leibniz der Chef des Möglichen. Davon ist im 20. Jahrhundert keine Rede mehr, höchstens im Modus einer radikalisierten negativen Theologie des Möglichen, d. h. eines tacit assent gegenüber dem Unerklärlichen, aber doch Möglichen, oder im Angesicht eines notwendigen Nichtwissens. Die Geburt der Differenz steht hier zur Debatte. In seiner Theorie der différance versuchte Jacques Derrida (1930– 2004) tatsächlich, den unerklärlichen Ursprung der Entstehung differenter Verhältnisse mit einem Kunstwort einzufangen, das etwas bezeichnet, das »›älter‹ noch als das Sein« im Sinne Heideggers sei. 5 Zum Konzept der Intensität cf. Tristan Garcia, Das intensive Leben. Eine moderne Obsession (franz. Paris 2016), Berlin 2017. Siehe dazu unten Kap. 13. 6 Cf. Hans Poser, Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft, Hamburg 2016, pp. 66 sqq.
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Es indiziert »jenes Spiel, das nominale Effekte bewirkt«.7 Obwohl Derrida hier eine Spur gelegt hat, ist er dem Duplex von Semantik und Ontologie nicht gewachsen. Er unterschätzt den Lichtungseffekt der différance einfach dadurch, daß er das Sprachgeschehen in einer absolut unzureichenden Modalisierung auf das Hantieren mit Buchstaben, Schrift und Zeichen ›herunterbrach‹. Das war die Grundidee seiner Grammatologie (1967). So entging ihm gewissermaßen die Pointe seiner eigenen Idee: das Mögliche nicht nur im Rücken des Faktischen zu denken und schon gar nicht in Spur und Zeichen. Genau das gelang ihm nicht. Deshalb verflüchtigt sich bei ihm alles im Rücken der Schrift: »Eine solche différance würde uns (…) eine Schrift zu denken geben ohne Anwesenheit und ohne Abwesenheit, ohne Geschichte.«8 Wenn das nur eine dramatische Kennzeichnung des Abstrakten im Absoluten wäre, könnte man sich darauf ja verständigen.
7 Jacques Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Frankfurt / Berlin / Wien 1976, pp. 6–37, hier p. 35. 8 Jacques Derrida, Ousia und Gramme, in: ders., Randgänge, op. cit. p. 87.
7. Szenische Semantik In der Lehre von der Bedeutung, in der Semantik also, unterscheidet man seit der Logik von Port Royal Begriffsumfang (die Extension) vom Begriffsinhalt (die Intension). Die Extension des Begriffs ›Mensch‹ ist die Menge aller Menschen, die Intension von ›Mensch‹ ist das Bündel von Eigenschaften, die der Sache Mensch zukommen, also etwa ›ungefiederter Zweibeiner‹, ›animal rationale‹ o. ä. Natürlich sind weder Extension noch Intension eines Begriffs starre Entitäten. Was zum Umfang zu zählen ist, kann ebenso strittig sein wie erst recht die Eigenschaften der Sache. Was in der Semantik allerdings so gut wie gar nicht thematisiert wird, ist die szenische Bedeutung von Begriffen. ›Baum‹ und ›Strauch‹ speisen ihre Bedeutung stets auch aus Formen, wie wir ihnen szenisch begegnen. Man mag diese Komponente schon zur Pragmatik zählen, das heißt zur Lehre von der Begriffsverwendung. Aber solche anämischen Festlegungen sollen uns nicht interessieren. Wichtig sei hier nur, daß jeder Terminus, jeder Begriff auch eine szenische Komponente hat, wenn man ihn als Titel einer Form der rechtlichen Realität oder des Existierens auffaßt. Betrifft das Existierende etwas Natürliches, geht es szenisch um die Gestalt, die Form oder die Struktur, auch um das Bild eines Gegenstandes. Strukturen sind szenische Manifestationen dessen, was es heißt, zu sein. Betrifft das Existierende den Begriffsverwender, also uns, dann geht es um die Form unseres Umgangs mit der durch den Begriff bezeichneten Sache. Das szenische Verständnis des Terminus ›Stern‹ bezeichnet szenisch gelesen also entweder seine Struktur als sinnfreies Dokument der Welt (die Gaswolke) oder eine Form unseres Umgangs mit Sternen, die entdeckt und benannt sein wollen, oder in Sternbildern Orientierungshilfen im nautischen Geschäft bieten. Dieses szenische Verständnis von Begriffen ist daher älter als ihr extensionales oder intensionales, da es unmittelbar mit der bezeichneten Sache und uns, den Bezeichnern, verknüpft ist. Szenen gehen Umfängen, Mengen und Eigenschaften vorher. Umfänge und Eigenschaften sind
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späte Abstraktionen, Szenen sind etwas sehr Konkretes, ja sogar Ursprüngliches, hinter das nicht zurückgegangen werden kann. Wir leben szenisch.1 Einen Zugang zu diesem szenischen Bedeutungsverstehen erhält man mithin durch Modalisierung ansonsten unbeweglicher Begriffsverhältnisse. Dadurch kauft man sich allerdings einen irreduziblen ästhetischen Rand im Bedeutungsraum von Basistermen ein. Szenen konstituieren sich aus einer Sinnmitte (die Abendgesellschaft, die Hochzeit, die Gesprächsrunde, die Vereidigung, die Hinrichtung etc.), haben aber keine scharfen Ränder oder Begrenzungen. Da die szenische Komponente gleichwohl nicht eliminierbar ist und nur im context of discovery aufgefangen werden kann, bleibt auch die Grundterminologie aller Wissenschaften am Rande ästhetisch. Vermeiden läßt sich das nur durch einen völlig geistlosen Positivismus. So bewertet der anfangs (seit 1930) Schmitt nahestehende Jurist Franz L. Neumann auch dessen Konzeption zunächst als ›geistreich‹ und ›fein‹, also als ästhetisch, um nach seiner Emigration (1933) Schmitt gerade diese ästhetischen Qualitäten als demokratiefeindlich anzukreiden.2 Es mag durchaus sein, daß diese ästhetischen Qualitäten der Werke von Carl Schmitt dessen Suggestivkräfte freisetzen und einen Teil seiner Faszination ausmachen. Über Wahrheit entscheidet diese ästhetische Qualität natürlich nicht. Das Betörende ist ja nur der Glanz der Wahrheit. Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß dieses ästhetische Erbe Carl Schmitts vermutlich auf seine Zeit in München zurückgeht. Das wird in der Forschung nicht bestritten. Das Problem ist nur: Lassen sich hier konkrete Einflüsse namhaft machen? Hier gibt es zwei Namen. Der eine ist Gustav Landauer (1870–1919), der zweite Hugo Ball (1886–1927). Letzteren hatte Carl Schmitt in München persönlich Cf. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe, op. cit. Cf. Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, op. cit., p. 117. Hier findet sich auch die Bemerkung von Neumann zu Carl Schmitt: Dieser habe enormen Einfluß auf die politische Szene in Deutschland gehabt, da er »ohne Unterbrechung unter Ebert, Brüning, Papen, Schleicher und dann Hitler als Experte diente«. Aber er sei zugleich der, der »die Verfassung einzig unter ästhetischen Kriterien interpretierte«. Kurios ist, daß Neumann solche ästhetischen Strategien in seinen späteren Publikationen von Carl Schmitt übernimmt, aber zugleich gegen ihn wendet. Cf. Franz L. Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, London 1942. 1
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kennengelernt und blieb mit ihm in Kontakt, zumindest bis 1925. Der Name des ersteren taucht im Gesamtwerk von Schmitt nicht auf. Aber er wußte natürlich von ihm.3
3 Hierzu gibt es leider keine Belege. Auf die Frage von Ellen Kennedy an Piet Tommissen, ob Carl Schmitt in München außer Johannes Becher noch andere »revolutionär-anarchistische Persönlichkeiten (…) getroffen habe«, antwortete Tommissen immerhin: »Das habe ich selbstverständlich teilweise von Carl Schmitt persönlich erfahren.« (Helmut Quaritsch, ed., Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, p. 102). – Zu dem Kreis derer, mit denen Carl Schmitt in München verkehrte, cf. Ernst Hüsmert / Gerd Giesler (eds.), Die Militärzeit, op. cit., Vorwort p. 13/14. Zu diesem Kreis gehörte auch Otfried Eberz (1878–1959), ein ›schwieriger‹ Onkel von mir. Er war der Mann einer Kusine meiner Mutter. Sein Hauptanliegen war die Restitution eines Matriarchats.
8. Landauer und Mongré Aber warum ist diese von ihm niemals erwähnte Figur für ein Verständnis von Carl Schmitt überhaupt von Belang? Zwei Gründe sind hier wichtig, ein theoretischer und ein praktischer. Der theoretische Grund ist der, daß Landauer einen Anarchismus vertritt, der weit über das hinausgeht, was Schmitt sich je gestattete, aber gleichwohl dieselbe Wurzel hat. Der praktische Grund ist der, daß Landauer auf diesem Hintergrund politisch restlos gescheitert ist, Schmitt dann ebenso, aber in vollkommen anderer Kulisse. Ebenso wie Heidegger. Obwohl uns von Schmitt keine Zeile zu Landauer überliefert ist, haben wir doch das Glück, das Zeugnis eines unbestechlichen Zeitgenossen zu besitzen, der Landauer in der politisch turbulenten Zeit der ersten Räterepublik 1919 in München persönlich begegnet ist. Es handelt sich um die Tagebuchaufzeichnungen von Victor Klemperer. In seinem Revolutionstagebuch 1919 notierte er am 18. April 1919: »Gestern nachmittag lernte ich Gustav Landauer kennen.«1 Er machte auf Klemperer einen eher kultivierten Eindruck: »Er ist ein Anregender, ein Journalist, eine große, aber ganz kindliche Begabung.«2 Politisch war Landauer offenbar von grenzenloser Naivität, wie übrigens die meisten Intellektuellen, die Philosophen eingeschlossen, zumindest des 20. Jahrhunderts.3 Zu Landauer schreibt Klemperer: »Er hatte verkündet, er wolle mit dem Bürokratismus aufräumen (…). Daraufhin war ihm der gesamte Posteingang eines Tages in einem Waschkorb an den Schreibtisch gestellt worden (…) Er hatte gefragt, was sein Amtsvorgänger Victor Klemperer, Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, 3. Aufl. Berlin 2015, p. 124. 2 Victor Klemperer, Revolutionstagebuch, op. cit., p. 126. – Cf. auch Victor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1924, ed. Walter Nowojski, Berlin 1996, p. 218. 3 Cf. dazu am Beispiel eines konkreten Falls, speziell auch zu Jürgen Habermas Wolfgang Jäger / Ingeborg Villinger, Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg 1997, p. 129 et passim. 1
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mit diesem Lappalienhaufen angefangen habe. Ja, da hätten die Herren der einzelnen Ressorts dem Herrn Minister vorgearbeitet (…) Dann möge es vorläufig bei der alten Einrichtung bleiben, hatte Landauer entschieden.«4 Wenig später (am 16. April 1919) trat Landauer von seinem Amt in der Räterepublik zurück,5 wurde dann dennoch am 2. Mai 1919 von Mitgliedern des Freikorps, initiiert durch den damaligen Major Heinrich Freiherr von Gagern, ermordet. Was Landauer als Chef des Bildungs- und Wissenschaftsressorts 1919 vorhatte, war übrigens ungefähr das, was später (1933) Heideg ger und auch Jaspers als Universitätsreform im Sinn hatten: Entbürokratisierung, Freiheit der Wissenschaft ja, aber eingebunden in einen lebensdienlichen akademischen Comment, vor allem eine lebensnähere Lehre.6 Kurz: es ging allen dreien um die »Zurecht rückung einer Generation«.7 Abgesehen von seinem politischen Desaster hat Landauer dennoch etwas gesehen, was zwar exzessiv, aber expressiv ein befreiender Impuls war. Sein Anarchismus war keiner der Straße, sondern des Intellekts und der Phantasie. »Nur die lang herabfallenden Haare«, beschreibt Klemperer seinen Eindruck von Landauers Persönlichkeit, »verrieten den Sonderling; sonst machte der hagere Mann mit dem ergrauenden Vollbart einen völlig kultivierten, weder revolutionären noch proletarischen Eindruck; die großen braunen Augen blicken viel eher gütig als fanatisch, Stimme und Ausdrucksweise sind von geschliffener Milde.«8 Belehrt durch Nietzsche und die Sprachkritik Fritz Mauthners gab es für ihn in kognitiven Instanzen keinen festen Halt mehr, ja den könne und solle es auch nicht mehr geben. Freiheit hat Vorrang Victor Klemperer, Revolutionstagebuch, op. cit., p. 129. Landauer hatte Aussichten, Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus zu werden. Cf. Gustav Landauer im Gespräch. Symposion zum 125. Geburtstag, eds. Hanna Delf / Gert Mattenklott, Tübingen 1997, (Einleitung) p. VII. 6 Klemperer zu Landauers Vorhaben: »Er hätte den Zutritt zur Universität erleichtert, er hätte die Professoren gezwungen, lebensnäher vorzutragen, er hätte die ganz Verzopften abgesetzt, er hätte die juristische Fakultät kassiert, soweit sie dazu da war, Beamte auszubilden, er hätte auf Freiheit der Wissenschaft gedrungen, der Historiker müßte offen und ohne falsche Glorifizierung darlegen können, wie Preußen zusammengestohlen worden sei.« (Revolutionstagebuch, op. cit., p. 130). 7 Victor Klemperer, Revolutionstagebuch, op. cit., p. 130. 8 Victor Klemperer, Revolutionstagebuch, op. cit., p. 124/25. 4 5
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vor der Welt. Die Architektur des menschlichen Geistes umreißt nämlich keinen geschlossenen Raum, sondern strukturiert einen offenen. Dieses Design fand Landauer schon bei den Mystikern mit ihrer Lizenz zu einer universalen Skepsis. Sein vielleicht wichtigstes, jedenfalls philosophisch wichtigstes Werk trug daher den Titel Skepsis und Mystik, das 1903 in Berlin erschien. Seine Abkehr vom Realen, das keinen Halt gewähren kann, bekundet er hier mit dem Satz: »Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes.«9 Insofern muß Landauer in die ›Bergwerksschächte seines Inneren‹ hineinsteigen, »um die paläontologischen Schätze des Universums in mir zu heben«.10 Die Mystik gibt diesen Weg vor, Meister Eckhart wird hier zum pathfinder eines medialen Anarchismus, medial verstanden im Sinne der griechischen Grammatik. Wir sind »Medium der Welt, aktiv und passiv in einem«.11 Außerhalb alles Äußeren wird im tiefsten Inneren alles freigesprochen und entwickelt sich daher zwangsläufig zu einem exklusiven Für-sich allein. Eine finale Form des Anarchismus fängt sich für Landauer daher konsequent in einem Panpsychismus. Sein ist Gedanke: »Est, ergo cogitat – so lautet unser kartesisches Grundwort.«12 Körper und Geist lassen sich ›von innen her‹ gar nicht trennen, »beides ist Seelenweise«.13 Dieser radikale Gang nach Innen läßt auch die Form des Äußeren, den Raum, verschwinden. Zwar sind Raum und Zeit wie alle sprachlichen Gebilde ohnehin nur Metaphern, aber auch unter Metaphern gibt es eine Regie der Plausibilität. Daher gilt für Landauer: »Der Raum muß in Zeit verwandelt werden.«14 So erlischt der Vorrang des Materiellen, »die Epoche der materialistischen Metapher«15 ist vorbei. Hierin täuschte sich Landauer, denn diese Epoche ist bis heute wirksam. Aber Landauer hatte schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts das klare Bewußtsein, daß hier etwas schief läuft. Die Metaphernherrschaft des Raumes muß gebrochen werden. Allein schon zur Rettung der Phänomene des Psychischen, seiner ureigenen Klanglichkeit, Gustav Landauer, Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Münster / Wetzlar 1978, p. 17. 10 Landauer, Skepsis, op. cit., p. 7. 11 Landauer, Skepsis, op. cit., p. 9. 12 Landauer, Skepsis, op. cit. p. 16. 13 Ibid. 14 Landauer, Skepsis, op. cit., p. 49. 15 Landauer, Skepsis, op. cit., p. 51. 9
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Plastizität und Bildlichkeit, die für uns von existenzieller Bedeutung sind, müssen die Metaphern der »Dinglichkeit, der Kausalität, der Materie« zurücktreten, gerade um der »Intensität, das Fließen der Psyche«, Raum zu geben: »Das Sein muß in Werden verwandelt werden.«16 Die Zeit, nicht nur als Anschauungsform im Sinne Kants, sondern als »Form unserer Ichgefühle«17 gewinnt dann, so Landauer, ihre bezwingende und letztlich allein gültige Gestalt in der Musik. Sie ist für ihn mit Schopenhauer: die Welt noch einmal. »Es wird noch einer kommen, der die umgekehrte neunte Symphonie schreibt: wo erst gesprochen wird und begriffen, bis dann über den Gesang hinweg die Instrumente in ihrer wunderbaren, über alles Begreifen deutlichen sprachlosen Sprache dazwischen weinen und jauchzen und rufen: Ihr Freunde, nicht diese Töne!«18 Mit dieser Apotheose seines ästhetischen Anarchismus gibt Landauer zwar ein expressives Fanal für das beginnende 20. Jahrhundert, unterschreibt damit zugleich aber auch eine Austrittserklärung aus der politischen Arena. Und das schon Jahre bevor er sich 1919 in München von Kurt Eisner in diese für ihn tödliche Arena hineinrufen ließ. Landauers Hauptproblem war die Preisgabe des Normativen. Ein ästhetischer Anarchismus liefert zwar eine Lizenz für kreative Visionen auch surrealer Art, bietet aber keine privilegierten Begründungsstrategien politischen Handelns mehr: anything goes. Für den Künstler mag das gelten, für den Politiker indes sicher nicht. Kein Wunder, daß Landauers Rückruf auf die Zeitlichkeit auch bei seinen Zeitgenossen auf Kritik stieß. Selbst ein so großzügiger Freund intuitiven und expressiven Denkens wie der Mathematiker Felix Hausdorff (1868–1942), der in seiner Frühzeit unter dem Pseudonym Paul Mongré essayistische und poetische Versuche vorgelegt und publiziert hatte, kritisierte schon 1902 Landauers Einschmelzen räumlicher Verhältnisse in die Zeit. Da selbst die abstrakten mathematischen Gebilde struktureller Art sind, muß für sie eine abstrakte Räumlichkeit (aristotelisch und plotinisch: ὕλη νοητή), die Kant unter den Titel einer reinen Anschauung gefaßt hatte, erhalten bleiben, um überhaupt artikulierbar zu sein. Ohne diese abstrakte Räumlichkeit verlöre auch die Mathematik Sinn und Bedeutung, d. h. ihre Semantik. Aber so technisch argumentiert Felix Hausdorff alias Skepsis, op. cit., p. 58. Skepsis, op. cit., p. 55. 18 Landauer, Skepsis, op. cit., p. 62. 16 Landauer, 17 Landauer,
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Paul M ongré in seiner Kritik an Landauer gar nicht. Die Auflösung räumlicher Verhältnisse hat für ihn hier schlichtweg den Nachteil, daß eine monopolisierte Zeit, ihrer »dummen Eindimensionalität wegen«,19 kein Nebeneinander zuläßt, sondern nur ein Nacheinander. Damit wird ein wünschenswertes Ausweichen, z. B. ein »außer der Reihe marschiren«, unmöglich: »[I]m Raum kann man einen Umweg machen, während man in der Zeit durch den schwärzesten Schlamm mitten durch muß.«20 Und dann spricht Paul Mongré Landauer im Text direkt an: »Wäre ich Phantast wie Sie, so würde ich aus allen diesen Gründen eher für Verwandlung der Zeit in Raum stimmen; man würde sein Leben vernünftiger stilisieren können.«21 Aber soweit möchte er seine »Vision einer Ummenschung des Menschen (…) nicht treiben«. Was bleibt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit, »mancherlei Seelisches zu Dinglichkeit kristallisiren [sic]«22 zu lassen, um einem Kult der Innerlichkeit wie bei Maeterlinck entgehen zu können, der vollkommen objektunfähig wird. Erst eine Objektivierung verleiht expressiven, emotionalen und mentalen Größen eine eigene Plastizität. Das gilt selbst für die Musik: »Was ist Straußens Zarathustra und Heldenleben anderes als ein Versuch, dreidimensionale Musik zu machen, die Tongestalten aus der einfach ausgedehnten Zeitlinie herauszuschrauben und ihnen plastische Ausladung zu geben?«23 In seinem Brief an Landauer vom 2. August 1902 erläutert Hausdorff seine ›ausladende‹, objektzugewandte Konzeption einer für alle Semantik notwendigen Verdinglichung oder Verkörperung noch einmal knapp und deutlich. Egbert Brieskorn hat als erster auf diese wichtige Briefstelle24 aufmerksam gemacht. Mongré: »Die Verdinglichung, Objectivirung, Materialisation ist eine Rettung aus Paul Mongré, Offener Brief gegen Landauer, in: Die Zukunft, 10. Jg. (1902), p. 441–445; abgedr. in: Felix Hausdorff, Gesammelte Werke Bd. VIII, eds. Friedrich Vollhardt / Udo Roth, Berlin / Heidelberg 2010, pp. 527–533, hier: p. 533. 20 Paul Mongré, Offener Brief, op. cit., p. 532. 21 Ibid. 22 Paul Mongré, Offener Brief, op. cit., p. 533. 23 Paul Mongré, Offener Brief, op. cit., p. 529. 24 Sie wird erscheinen in Bd. IX der Gesammelten Werke, ist aber zugänglich schon bei Egbert Brieskorn (Gustav Landauer und der Mathematiker Felix Hausdorff, in: Hanna Delf / Gert Mattenklott (eds.), Gustav Landauer im Gespräch, op. cit., pp. 105–128, hier p. 126) und im Kommentar von Bd. VIII der Gesammelten Werke, op. cit., p. 535 sq. (zitierter Text).
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dem Chaos des zeitlichen Wellenspiels von Erregungen und Seelenzuständen, ein Schritt zur Gliederung, Differenzbildung, zum Weltverständnis – und doch keine blosse Willkür unsererseits, sondern von einem merklichen Entgegenkommen seitens der Aussenwelt beantwortet und gerechtfertigt.« Mögen daher Raum und Zeit mit Nietzsche, Mauthner und Landauer qua Begriffe bloße Zeichen, ja Fiktionen sein. In ihrem Gebrauch beweist sich ihr gelegentlich unentbehrlicher Wert: »Jedes Zeichen ist inkongruent mit dem Bezeichneten; aber ein Zeichen, das eindeutig orientirt, bleibt darum doch werthvoller als ein irreführendes, mißweisendes.«25 Daß es faktisch ein solches Wertgefälle im Gebrauch von Zeichen gibt, deutet wieder darauf hin, daß wir es hier, wie Paul Mongré formuliert, mit einem ›Entgegenkommen der Außenwelt‹ zu tun haben. In diesem korrealen Entgegenkommen bekundet sich jedenfalls eine ontologische Option, die wir zwar in kleiner Münze nicht auszahlen können, die aber doch besteht.26 Das gilt auch dann, wenn Quentin Meillassoux mit seiner rezenten Kritik an korrelationistischen Konzeptionen und dem zeitgenössischen Nezessitismus Recht hat. Nach Meillassoux steht der Korrelationismus, d. h. die These eines mysteriösen Innen-AußenVerhältnisses von Gedanken und Sprache versus Tatsachen und Sachverhalten, in der Erbschaft Kants (Erscheinung und Ding an sich). Die Loslösung von dieser Erbschaft, die bis in die analytische Philosophie unserer Zeit reicht, verlangt also danach, aus dem »korrelationellen Schlummer« zu erwachen und »das Denken mit dem Absoluten wieder zu versöhnen«.27 Das Ergebnis wäre: Es gibt eine nicht hintergehbare Kontingenz des Seins, die wir als homo sapiens einfach aushalten müssen. Diese nicht eliminierbare Kontingenz beruht allerdings auf einer Erfahrung, die aller Korrelation zugrunde liegt. Das hat Meillassoux nicht gesehen. Diese Erfahrung ist die eines Einklangs. Was Mongré das Entgegenkommen der Außenwelt nennt, ist als Index unserer Weltpassung ein musikalischer Einklang, der unserer begrifflichen Paul Mongré, Offener Brief, op. cit., p. 530. Cf. hierzu Franz Engel / Sabine Marienberg (eds.), Das entgegenkommende Denken, Berlin 2016. 27 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, dt. von Roland Frommel, Zürich / Berlin 2008, p. 172; Original: Q. M., Après la finitude, Paris 2006. 25
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Konfrontation mit Weltverhältnissen vorhergeht. Mit dem Wahren, sagt Aristoteles, singt alles Zugrundeliegende mit.28 Die Über-einstimmung, um die es geht, ist eine geradezu klangliche Voraussetzung einer adaequatio rei et intellectus. Die Kohärenz dessen, was sein kann, hat hier spielerisch eine Konsonanz zugelassen, der wir die Intelligibilität der Welt verdanken. Mongré, wie Landauer durchaus musikaffin, rechnete dennoch zeitbedingt (Ernst Mach) diese ontologische Option einer ›Oekonomie des Denkens‹29 zu, aber diese Titel tun hier nichts zur Sache. Hausdorff alias Mongré rettet jedenfalls mit seinem Argument eine Objektivität, die auch dann Bestand hat, wenn Nietzsche, Mauthner und Landauer mit ihrer Fiktionalitätsthese Recht hätten. An anderer Stelle rechnet Mongré die ontologische Option, wieder zeitbedingt (Herbert Spencer), auch dem Prozeß einer indirekten Auslese zu. Schon unsere Wahrnehmungen sind ja hochselektiv. Intelligenz und Bewußtsein werden evolutionär als Brückenorgane erst da nötig, wo eine Reduktion von Informationen beginnt: »Diese selektive Vorrichtung, diese ins Erkenntnistheoretische übersetzte Zuchtwahl heisst eben Bewusstsein – aber ihre Function ist nicht zeitlich, sondern ontologisch zu denken: das Herauskrystallisiren des Kosmos aus dem Chaos.«30 Was Hausdorff alias Mongré hier im Rückgriff auf die Evolutionstheorie vor Augen hat, ist der Sturz eines intellektuellen Anarchismus, wie er ihn bei Landauer vermutet. Und es scheint, daß er im Recht ist. Zuviel an Informationen ist erkenntnishinderlich, zu wenig an Informationen ebenso. Worauf es ankommt, ist eine evolutionär erprobte Reduktion von Registraturen per Kompensation durch Brücken, d. h. Begriffe, Strukturen oder Gleichungen. Ob diese Brücken belastbar sind, muß sich zeigen und hat sich gezeigt, sonst gäbe es keine Sprache und keine Mathematik. Aber es gibt auch hier Grenzen, Informationsresiduen, die nicht in Strukturen, in Sprache, auch nicht in Digitalisate ablöschbar und dennoch 28 Aristoteles, Eth. Nic. I, 8 1098 b 11–12. Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe, op. cit., p. 141. 29 Ibid. 30 Paul Mongré, Sant’Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras (1897), in: Felix Hausdorff, Gesammelte Werke Bd. VII (Philosophisches Werk), ed. Werner Stegmaier, Berlin / Heidelberg 2004, pp. 85–455, hier p. 454. Cf. dazu auch Paul Mongré, Das Chaos in kosmischer Auslese (1898), in: Gesammelte Werke Bd. VII, op. cit., pp. 587–807.
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wichtig sind. Genau das sind Details, singuläre Impressionen, unwiederholbare Erlebnisse wie ein unvermutetes Lächeln, kurz: der Schauer des Kontingenten. Eine immer noch gültige Formel für diesen Befund stammt von Walter Calé (1881–1904): »Nuancen sind das Unüberbrückbare.«31 Nuancen verlangen in ihrer Registratur kein begriffliches, sondern ein zärtliches Organ, für Leibniz war es die Seele. Nur sie kann die Nuance in ihrer aufschließenden Kontingenz zum Sprechen bringen und so fruchtbar werden lassen. Paul Mongré hat das einmal unnachahmlich so formuliert: »fruchtbar ist alles, was weniger als zweimal da ist, jeder Baum, der aus seiner Erde in seinen Himmel wächst, jedes Lächeln, das nur einem Gesichte steht, jeder Gedanke, der nur einmal Recht hat.«32 Paul Mongrés Zurückweisung von Gustav Landauers Rückführung alles Räumlichen auf Zeitliches ist der Sache nach später von der Philosophie wieder aufgegriffen worden. Auch Heidegger privilegierte, typisch für den Anfang des 20. Jahrhunderts, in seinem Hauptwerk Sein und Zeit zunächst die Zeit und schloß daher dieses Buch mit der fraglich bleibenden Idee einer ›Chronologie des Seins‹.33 Seit den dreißiger Jahren trat er von dieser Option zurück und entwarf eine ›Topologie des Seyns‹.34 Walter Calé, Nachgelassene Schriften von Walter Calé, ed. Arthur Brückmann, Berlin 1907, p. 388. Cf. zu Calé unten Kap. 13. Für diese sensiblen Verhältnisse ist die sog. analytische Philosophie blind. Für sie waren aber sehr wohl die als ›Lebensphilosophen‹ bisweilen denunzierten Denker wie Georg Misch durchaus empfindlich. Cf. ders., Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, eds. Gudrun Kühne-Bertram / Frithjof Rodi, Freiburg / München 1994, pp. 512 sq.: ›Die Aussprache des lebendigen Wesens der Dinge in ihrer Selbstmacht und Bedeutsamkeit.‹ Misch korrespondiert hier mit Emil Lask (Die Lehre vom Urtheil, Tübingen 1912), den er p. 528/29 auch zitiert, der das Duplex von Form und Materie gerade im Urphänomen, jenes vorgegenständlichen aliquid findet, das Quelle jener Selbstmacht der Dinge ist, die unsere Bezugnahme auf sie dirigiert. 32 Paul Mongré, Sant’ Ilario, op. cit., p. 131. Aus dieser sehr schönen Einsicht schlägt Mongré leider kein Kapital für eine Metaphysik der Nuance, sondern schreibt ausdrücklich und ganz kantisch eine Epistel ›Gegen die Metaphysik‹ im Sinne eines ›Jenseitigkeitswahns‹. Cf. Paul Mongré, Das Chaos, op. cit., pp. 624–649. 33 Martin Heidegger, Sein und Zeit, p. 437: »Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« Übrigens ist der Kampf um den Vorrang von Raum oder Zeit schon bei Proust angelegt. Cf. dazu Georges Poulet, Marcel Proust. Zeit und Raum, Frankfurt / M. 1966. 34 Martin Heidegger, Anmerkungen I–V, Gesamtausgabe Bd. 97, Frank 31
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In seinem Bemühen, nach Sein und Zeit das hier entwickelte Seinsverständnis noch tiefer zu legen, stieß er auf die basale Figur einer Raum-Zeit, die einer mathematisierbaren Disjunktion von Raum und Zeit vorgeht. Was immer unter Raum in diesem Rückgang auf die Raum-Zeit zu verstehen ist: »Es besteht kein Grund, ihn auf die ›Zeit‹ zurückzuführen.«35 Die Selbstortung des Daseins in Sein und Zeit weicht nun einem zeitigenden und einräumenden Ereignis aus der Leere. Aber es geht auch hier um eine, freilich anonyme, Ortung, eine Ortung ohne Grund, also aus dem Abgrund. Diese anonyme Ortung fängt sich nicht dinglich, sondern szenisch, d. h. in Differenzen. Denn: »Die Ortschaft des Seyns ist der Unterschied.«36 Der Kurator des abgründigen Unterschieds zwischen Sein und Seiendem ist der Mensch. Als Sachwalter des Szenischen ist er Erbe der Leere, wie sie im Differenten, d. h. in Strukturen, spatial konkret wird. Er existiert in Heideggers ›Topologie des Seins‹ in der »Augenblicksstätte des ›Zwischen‹, als welches das Da-sein gegründet sein muß«.37 Der späte Heidegger denkt so das Duplex. Das klingt alles sehr kryptisch, besagt aber nur: In der Architektur des Geistes läßt sich schon aus begrifflichen Gründen allein kein atomarer Anfang denken, Geist und Welt werden im Differenten geboren. Die antike Philosophie hatte diesen Gedanken bereits gefaßt und spricht hier von anfänglicher Zweiheit, genauer: von ἀόριστος δυάς, einer unbegrenzten Zweiheit. Es ist interessant, daß sich Heidegger auf eine explizite Ausein andersetzung mit der Tradition Platons, d. h. auf eine Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus nicht eingelassen hat. Werner Beierwaltes hatte ihn seinerzeit auf die Verwandtschaft seines Denkens mit Fragestellungen des Neuplatonismus hingewiesen, aber Heideg ger hat ihn brüsk abgewiesen.38 Dennoch hat sich Heidegger mit Meister Eckhart intensiv beschäftigt und in seiner späteren Zeit dessen Thema der Gelassenheit seiner Fragestellung nach dem Kontakt furt / M. 2015, p. 202: »Die ›Phänomenologie des Geistes‹ ist das Ende. Die Topologie des Seyns ist der An-fang.« 35 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt / M. 1989, p. 377. 36 Martin Heidegger, Anmerkungen I–V, op. cit., p. 202. 37 Martin Heidegger, Beiträge, op. cit., p. 387. Cf. u. a. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (Zusätze), in: ders., Holzwege, Frankfurt / M. 4. Aufl. 1963, p. 104: »Dieses offene Zwischen ist das Da-sein.« 38 Das hat mir Werner Beierwaltes mündlich bestätigt.
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zum Seyn, in dem ein Zuspruch des Seyns möglich wird, implementiert.39 Ebenso hat sich Gustav Landauer Meister Eckhart gewidmet und sogar dessen Schriften ediert.40 Auch Carl Schmitt hat Meister Eckhart zur Kenntnis genommen.41 Hugo Ball wiederum hat sich intensiv mit Dionysios Areopagita beschäftigt.42 Hieraus soll bloß deutlich werden, daß der anarchische Grundzug des beginnenden 20. Jahrhunderts ohne einen tiefsitzenden Rückgriff auf die Mystik,43 auch bei Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein, nicht verständlich gemacht werden kann, übrigens ebenso wenig wie der ›Intui tionismus‹ von Luitzen Egbertus Jan Brouwer.44
39 Zur Bedeutung Meister Eckharts für die Denkentwicklung von Martin Heidegger cf. Theodore J. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley 1993, p. 81; Friedrich-Wilhelm von Herrmann, ›Gelassenheit‹ bei Heidegger und Meister Eckhart, Dordrecht 1995. 40 Gustav Landauer, Meister Eckharts mystische Schriften, Berlin 1903; cf. Thorsten Hinz, Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers, Berlin 2000. 41 Eine frühe Lektüre von Meister Eckart bezeugt noch Carl Schmitts späte Eintragung vom 21.9.52 im Glossarium, op. cit., p. 285: »Eine Notiz aus dem Sommer 1914 fiel mir wieder in die Hände: Meister Eckhart sagt in seiner Predigt vom Sohn (zu 1. Joh. 4,9): Man muß sich aller Person entschlagen.« Cf. auch den Befund von Stefan Breuer, Carl Schmitt im Kontext, op. cit., p. 18, daß Schmitt gerade in seiner Münchener Zeit mystische Schriften, auch Meister Eckhart, intensiv gelesen habe. 42 Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, München 1923 (Sämtliche Werke Bd. 7, Göttingen 2011). Cf. Ellen Kennedy, Carl Schmitt und Hugo Ball, in: Zeitschrift für Politik (Neue Folge), vol. 35,2 (1988), pp. 143–162; Bernd Wacker (ed.), Dionysius DAAD Areopagita. Hugo Ball und die Kritik der Moderne, Paderborn 1996; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000, hier pp. 202–223; Michael Braun (ed.), Hugo Ball. Der magische Bischof der Avantgarde, Heidelberg 2011. 43 Das gilt natürlich erst recht für die Literatur. Cf. dazu Martina WagnerEgelhaaf, Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989. 44 Luitzen E. J. Brouwer, Leven, Kunst en Mystiek, Delft 1905; engl. Life, Art and Mysticism, in: Notre Dame Journal of Formal Logic, 37 (1996), pp. 389–429.
9. Landauer, Ball und Wittgenstein Dennoch gibt es hier gravierende Unterschiede. Dafür steht zunächst der Kontrast, der sich zwischen Hugo Ball und Carl Schmitt sogar in ihrer persönlichen Beziehung gewissermaßen ›entladen‹ hatte. Aufschlußreich ist hier das Gespräch, das Joachim Schickel 1970 mit Carl Schmitt in Plettenberg über Hugo Ball geführt hat. Hiernach hat Carl Schmitt Hugo Ball um 1920 in München kennengelernt. 1924 erschien in der Zeitschrift Hochland eine ausführliche, brillante Besprechung von Hugo Ball über das bisherige Werk von Schmitt.1 Carl Schmitt hat sich sehr darüber gefreut. Einen Satz aus dieser Besprechung hat Schmitt noch 1970 präsent. Ball hatte über ihn geschrieben: »In der Gewissensform seiner Begabung erlebt er die Zeit.«2 Davon zeigte sich Schmitt auch 1970 noch entzückt, ja gerührt: »den Satz akzeptiere ich als Anerkennung für mich.«3 Trotzdem kam es zum Bruch zwischen Schmitt und Ball. Letzterer hatte nach seiner Rückwendung zur katholischen Kirche sein Buch Zur Kritik der deutschen Intelligenz stark gekürzt und polemisch aufgeladen in einer Neufassung unter dem Titel Folgen der Reformation geschrieben, von dessen Publikation Carl Schmitt ihm dringend abriet. Ebenso übrigens wie seine Frau Emmy Hennings: »Tu’s nicht, Hugo!«4 Das Buch erschien trotzdem.5 Der Bruch war da. Genauer: Die Kommunikation brach ab.6 Schmitt hatte die Sprunghaftigkeit Balls unterschätzt. Mehrfach betonte er die gelegentliche totale AbHugo Ball, Carl Schmitts Politische Theorie, in: Hochland Jg. 21,2 (1924), pp. 263–286. 2 Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 58/59 und p. 163. Hochland, op. cit., p. 264. 3 Ibid. 4 Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 45. Dazu: Carl Schmitt, Der Schatten Gottes, op. cit., Vorwort p. XXI. 5 Hugo Ball, Die Folgen der Reformation, München / Leipzig 1924. 6 Carl Schmitt: »Ich zog mich einfach zurück.« (Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 45).
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wesenheit von Hugo Ball, sein Realitätssinn war dann wie gestört. Es mag sein, daß man diese Absenzen als Voraussetzung seiner bildlich orientierten Kreativität bezeichnen kann,7 für realistische Einschätzungen waren sie keine gute Grundlage. Bilder sind zwar eine notwendige Ergänzung, aber kein Ersatz für Begriffe. Nun war auch Carl Schmitt an Hugo Ball schon aufgefallen: »Er dachte ja gar nicht begrifflich, er dachte in Bildern.«8 Dennoch bewahrte er ihm, wie aus dem Gespräch mit Schickel 1970 deutlich hervorgeht, eine für ihn, trotz seiner ansonsten durchgängigen Kühle, erstaunlich warmherzige Erinnerung, die ein spätes Echo seiner eigenen anarchischen Vergangenheit sein mag. Der Kontrast zwischen Gustav Landauer und Hugo Ball einerseits und Carl Schmitt und Martin Heidegger andererseits ist zweifellos darin gegeben, daß letztere zwar ebenso anarchisch starteten wie erstere, aber dieses Startpotential in der Modalisierung ihrer Grundterme gewissermaßen ›verbrannten‹, allerdings nicht restlos. Sie suchten und fanden eine Wirklichkeit im Profil ihrer ureigenen Begriffsbildlichkeit, die eine Realität offenbarte, die vor ihnen noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Schmitts konkretes Ordnungsdenken9 und Heideggers Existenzialhermeneutik zehren von ihrer Begabung, dem Möglichen eine Realität zuwachsen zu lassen, die sonst im Verborgenen geblieben wäre. Genau das macht auch das Suggestive ihrer Schriften aus.
7 Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt / M. 2017, Änigma 1: Abwesenheiten (pp. 19 sq.). Hier konjugiere ich Imi Knoebel, Paul Valéry und Carl Schmitt. Das Phänomen trifft sehr präzise Benno von Wiese, der seine Begegnungen mit Paul Celan einmal so zusammenfaßt: »Im Grunde war er immer nur scheinbar anwesend, er wirkte wie einer, der von einem anderen Stern kommt, sich hier wie ein ungeduldiger Gast aufhält und schließlich ins Unbekannte weiterwandert.« (Benno von Wiese, Ich erzähle mein Leben. Erinnerungen, Frankfurt / M. 1982, p. 321). 8 Joachim Schickel, Gespräche, op. cit., p. 52/53. 9 Cf. hierzu Joseph H. Kaiser, Konkretes Ordnungsdenken, in: Helmut Quaritsch, Complexio Oppositorum, op. cit., pp. 319–331. Josef Isensee wies in der Diskussion zu diesem Vortrag darauf hin, daß das konkrete Ordnungsdenken der ›alten Lehre von der Natur der Sache‹ ebenso entspräche wie der ›späteren Lehre von den sachlogischen Strukturen‹ (p. 339). Das ist zweifellos korrekt, die Sachbezogenheit steckt einfach in der Architektur unseres Denkens. Das machte die Phänomenologie Husserls seinerzeit (bis heute) so überzeugend im Kontrast zu Konstruktivismen aller Schattierungen.
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Ellen Kennedy hat Carl Schmitts Denken einem ›politischen Expressionismus‹ zuordnen wollen. Das ist zwar vielfach kritisiert worden,10 aber letztlich hat sich diese Charakterisierung wohl durchgesetzt. Auch Christian Meier stimmte ihr zu.11 Dabei sollte es nicht um den Versuch gehen, Carl Schmitt zu ästhetisieren. Genau das wollte Ellen Kennedy nicht. Sondern es geht darum, ihn historisch und kontextsensitiv in eine intellektuelle Umgebung einzubetten, die in der Tat Charakteristika aufweist, die sich auch bei Schmitt dingfest machen lassen. Ellen Kennedy: »Es handelt sich um die Logik eines Denkens von außen her, vom Extrem und vom Grenzfall her. (…) Diese Logik der Grenzsituation, das Denken von den äußersten Möglichkeiten her, charakterisiert Carl Schmitt.«12 Das wird kaum jemand bestreiten wollen und dafür ist ihre Kennzeichnung politischer Expressionismus eine durchaus treffende Bezeichnung. Dennoch, und das muß den Kritikern zugestanden werden, hat man sich damit natürlich nicht erschöpfend zu Carl Schmitt geäußert. Seine extreme Modalisierung verliert den Blick auf eine Normalität, die de facto jeder anstrebt, auch er selbst. Ein bürgerliches Leben ist auch Ziel jeden Revolutionärs, selbst für Marx und Mao. Im Kern ist der Rechtsstand des Befundes eines politischen Expressionismus jedoch etwas anders gelagert und das gilt wieder für Schmitt und Heidegger gleichermaßen. Der Regulator ihrer Modalisierungsstrategien ist zuletzt nicht ein Argument, sondern eine neue Sicht. Man könnte auch sagen: Hinter allen Argumenten steht zuletzt ein sachaufschließendes Bild. Sicht und Bild haben hier einen ähnlichen Status, wie ihn Kant unter dem Stichwort ›ästhetische 10
Joachim Schickel polemisiert in den Zwischenbemerkungen zu seinem Gespräch mit Carl Schmitt sehr heftig gegen diese Deutung von Ellen Kennedy. Das ist allerdings bei einem ehemalig orthodoxen, ja radikalen Marxisten kein Wunder. Cf. im krassen Gegensatz dazu den sachaufschließenden Aufsatz von Christoph Schönberger, Carl Schmitts literarische Jurisprudenz, in: Merkur 70 (2016), pp. 89–96. Schönberger unterscheidet mit guten Gründen drei Phasen der literarischen Jurisprudenz von Carl Schmitt, zuerst eine rein poetische, dann eine dramatische und schließlich eine melancholisch prosaische: »Jurist in seinem eigenem und vollen Sinn ist Carl Schmitt nur in der Phase von Drama und Tragödie gewesen.« (p. 96). 11 Christian Meier: »Ellen Kennedy hat vermutlich recht, wenn sie den Begriff des Politischen als ›politischen Expressionismus‹ charakterisiert.« (Helmut Quaritsch, Complexio Oppositorum, op. cit., p. 552). 12 Bemerkung in der Diskussion ihres Vortrags (Helmut Quaritsch, Complexio Oppositorum, op. cit., p. 265).
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Idee‹ beschrieben hat. Sie ist ein Produkt der Einbildungskraft, »die viel zu denken veranlaßt«, begrifflich allerdings in kleiner Münze nicht ausgezahlt werden kann.13 Was reale Verhältnisse sichtbar macht, muß nicht alles sichtbar machen, sondern nur eine Struktur oder Form der Realität. Diese wird nicht begrifflich erzeugt, sondern in Formate gefaßt, denen die Realität entgegenkommen muß. Dieses Entgegenkommende, wie es auch Paul Mongré postulierte, trägt das Konkrete eines konkreten Ordnungsdenkens, wie es Carl Schmitt vorschwebte. Landauer und Ball hingegen entzogen sich der Welt um einer Freiheit des Denkens willen, das im Nezessitismus des Einen einen totalen Kontrastverlust in Kauf nahm. Schmitt und Heidegger blieben nur in einem ersten Schritt dem Anarchismus von Landauer und Ball treu. Damit verschafften sie sich ihre Lizenz zur Modalisierung, nämlich alles im Lichte faktischer Möglichkeiten auf sich zukommen zu lassen und dennoch Distanz zu bewahren. In diesem Duplex generiert sich ihr Blick. So gewannen sie ein neues, oft überraschendes Realitätsverständnis, auf das es Landauer und Ball gar nicht mehr ankam, weil sie dies ihrer politischen und künstlerischen Praxis überlassen mußten. Die hier für Carl Schmitt und Martin Heidegger geltend gemachte Strategie einer Modalisierung von Grundbegriffen im Rahmen eines szenischen Denkens findet sich, wie schon signalisiert, übrigens auch beim späten, nicht weniger anarchischen und ästhetischen Ludwig Wittgenstein. Seine Rückbeziehung von Sprachspielen auf Lebensformen14 in den Philosophischen Untersuchungen (1953) folgt genau dieser Methodik. Wenn es erreicht wird, eine »Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein muß«,15 in gelingender Lebensform anzugeben, dann ist das Kritik der Urteilskraft §§ 49, 57. Normalerweise wird die Verwendung des Ausdrucks ›Lebensform‹ durch Wittgenstein mit Eduard Spranger (Lebensformen, Halle 5. Aufl. 1925) in Verbindung gebracht. Rudolf Haller (1929–2014) verweist hingegen auf Hugo von Hofmannsthal (Rudolf Haller, Lebensform oder Lebensformen? Eine Bemerkung zu N[ewton] Garvers ›Die Lebensform in Wittgenstein’s Philosophischen Untersuchungen‹, in: Grazer Philosophische Studien 21 (1984), pp. 55–63.) Ob dieser Einspruch nun seinem Austriafizierungswahn zu verdanken war, oder sachhaltige Gründe hat, kann hier offen bleiben. 15 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Nr. 97), Frankfurt / M. 1967, p. 63. 13 Kant, 14
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Ausweisungsspiel im Rechtfertigungssinn beendet, aber erst dann. Denn das »Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen«.16 Dennoch tut sich Wittgenstein schwer, solche Lebensformen, die unsere Sprachspiele erst ›fundieren‹, namhaft zu machen oder sprachlich zu präsentieren.17 Zwar ist uns der Gebrauch von Worten lebenspraktisch in der Regel wohlbekannt. Der Rückbezug dieses Gebrauchs auf einen Modus des Lebens indes ist eine schwierige Sache: »Die Rolle aber, die das Wort in unserem Leben spielt, und damit das Sprachspiel, in dem wir es verwenden, [ist] schwer auch nur in groben Zügen darzustellen.«18 Daß es sich hierbei um eine Strategie der Modalisierung handelt, betont Wittgenstein – auch im sound von Kant – immer wieder: »Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen durchschauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern, wie man sagen könnte, auf die ›Möglichkeit‹ der Erscheinungen. Wir besinnen uns, heißt das, auf die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen.«19 Wittgenstein nennt seinen modalisierten Rückbezug auf die Art der Aussagen eine grammatische Betrachtung.20 Es geht hier aber de facto nicht um Grammatik, sondern um die szenische Transparenz von Sprachspielen. Es geht um unsere performative Verfassung, in der sich ein stummer Vertrag zwischen Sprache und Welt,21 das semantische Duplex schlechthin, bezeugt. Jedenfalls geht es hier nicht um Grammatik im üblichen Sinn. DesLudwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, op. cit., p. 163. Daran ändert auch nichts seine Auflistung von Sprachspielen in Nr. 23. Die analytische Eindringtiefe bleibt gering. 18 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Nr. 156), op. cit., p. 82. 19 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Nr. 90), op. cit., p. 61. 20 Merrill B. Hintikka und Jaako Hintikka sprechen von einem »äußerst weitreichenden Grammatikbegriff Wittgensteins.« (Untersuchungen zu Wittgenstein, trad. Joachim Schulte, Frankfurt / M. 1990, p. 30). Cf. auch Peter M. S. Hacker, Einsicht und Täuschung. Wittgenstein über Philosophie und die Metaphysik der Erfahrung, trad. Ursula Wolf, Frankfurt / M. 1978, p. 207: »[Wittgenstein] macht sehr selten explizite Aussagen über grammatische Strukturen im allgemeinen. Das behindert sehr das Verständnis.« 21 Charles Péguy nennt die Schicksalsergebenheit des vormodernen Menschen ›einen stummen Vertrag zwischen Mensch und Schicksal‹. Menschen ließen sich ihre Weltstellung durch ein anonymes Reglement aus der Hand nehmen, in der sie nie waren. Cf. Charles Péguy, Das Geld, trad. Alexander Pschera, mit einem Nachwort von Peter Trawny, Berlin 2017, p. 85. 16
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halb haben die Sprachtheoretiker, die Wittgensteins Rückruf auf Lebensformen beerbt haben, diesen Sprachgebrauch nicht übernommen. In der Theorie der Sprechakte, die diese Erbschaft ausgetragen hat, kommt die Ausdruck Lebensform so nicht vor,22 in szenischer Verarmung beherrschen hier Handlungen allein das Feld. Wittgenstein exerziert die Modalisierung manifester sprachlicher Gebilde in ihrem szenischen Rückbezug auf Sprachspiele, die kein Ende finden können. Darin schlummert sein grammatischer Anarchismus, für dessen Erdung Lebensformen überhaupt erst notwendig werden. In Zeichen werden wir nie heimisch, wohl aber in Bildern. Und hier folgt einer der kapitalen Sätze von Wittgenstein: »Wir könnten da auch sagen, wir lebten nicht in der Zeichensprache, wohl aber im gemalten Bild.«23 ›Wir könnten da auch sagen …‹ ist eine typische Modalisierungsformel Wittgensteins. Sein Spätwerk24 ist voll davon. ›Aber kann man sich nicht vorstellen …‹, ›Man könnte sagen …‹, ›Denk dir einen Menschen …‹, ›Warum soll es möglich sein …‹, ›Man könnte auch so fragen …‹ usw. Diese Formeln sind jeweils das Entrée zu Sprachspielen einer Selbstvergewisserung ohne Ende. Aber diese Unabschließbarkeit ist gerade die geheime Botschaft der Sprachspiele, die über allem schwebt, was materialiter in ihnen verhandelt wird. Was verhandelt wird, ist beispielsweise ›Wissen‹ im Sinne von George Edward Moore (1873–1958), aber das Ergebnis ist ernüchternd, denn Wissen ist zuletzt grundlos: »Es ist immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß.«25 Deshalb ist alles Wissen ›graziös‹. Wittgensteins Spätphilosophie folgt der szenischen Dramaturgie einer semantischen Gewissenserforschung (scito te ipsum, Abaelard), die 22 Im Hauptwerk dieser Theorie (John R. Searle, Speech Acts. An Essay In The Philosophy of Language, Cambridge 1969) wird Wittgenstein zwar mehrfach erwähnt, der Ausdruck ›Lebensform‹ indes kommt merkwürdigerweise nicht vor. 23 Ludwig Wittgenstein, Zettel, in: ders., Über Gewißheit, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt / M. 1984, pp. 259 sq., hier p. 323. 24 Geradezu penetrant summiert sich dieses Vorgehen in seinen letzten Notizen Über Gewißheit, op. cit., pp. 113 sq. 25 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit (Nr. 505), op. cit., p. 221. Cf. auch Nr. 166: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glauben einzusehen« (p. 154); auch Nr. 253 (p. 170): »Am Grunde des begründeten Glaubens, liegt der unbegründete Glaube.« Ferner Nr. 378 (p. 194): »Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung.« Schließlich Nr. 482 (p. 216): »Es ist, als ob das ›Ich weiß‹ keine metaphysische Betonung vertrüge.«
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uns zur Rechenschaftslegung über unseren Wortgebrauch vor uns selbst auffordert. Allerdings ist die Prüfung unseres semantischen Gewissens uferlos und damit nur als Gestus zu befolgen. Wittgensteins Philosophie endet daher in einer surrealen Gebärde. Keine uninteressante Form einer Therapie.
10. Phantasieschranke: Ränder des Möglichen Verwalter eines Modalkalküls werden immer erst da zu Philosophen, wo sie sie sich einer Einbettung des Möglichen und Notwendigen zuwenden. Das gilt für Logiker offenbar generell. Auch Frege, obwohl kein Modallogiker, wurde erst da zum Philosophen, wo er sich in Zonen begab, die zu Voraussetzungen seiner Begriffsschrift (1879) und der Grundgesetze (1893/1903) gehören. Erst da wurde er in der Tat zum Sprachphilosophen.1 Nicht anders steht es bei Saul Kripke, dem wir eine ingeniöse modelltheoretische Version des Modalkalküls und inspirierende Anschlußmeditationen verdanken. Im 3. Vortrag seines Buches Naming and Necesssity (1972), den er am 29. Januar 1970 in Princeton, also vor fast einem halben Jahrhundert, gehalten hat, kommt er in einer von ihm schon im Vorwort angekündigten Fußnote (Nr. 56 und 57) auf zwei Prinzipien zu sprechen, die für Gegenstände effektiv ›wesentlich‹ sind, nämlich das Prinzip der Herkunft eines Gegenstandes und das seiner Sub stanz. Tatsächlich überlegt er hier, ob die kosmische Herkunft eines Gegenstandes nicht »zu einem allgemeinen Prinzip über das Wesen erhoben werden [könne]«.2 Das Wesen eines Gegenstandes ist ihm also zunächst die Oszillation seiner Identität zwischen Erkenntnis und Sein, die allenfalls durch eine Meditation über die kosmische Herkunft überwölbt wird. Um sich seinen Intuitionen zu nähern, müssen wir uns kurz über einen Grundbegriff der Modallogik verständigen, den Begriff der ›möglichen Welten‹. Im Vorwort seines Buches erklärt sich Kripke hierzu so: »›Mögliche Welten‹ sind vollständige ›Weisen, wie die Welt hätte sein können‹ oder Zustände oder Geschichten der 1 Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Frege als Hermeneut, in: ders., Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, pp. 67 sqq. 2 Saul A. Kripke, Name und Notwendigkeit, Frankfurt / M. 1981, p. 132. – Ich werde im Folgenden nur auf sehr wenige Aspekte von Kripkes Theorie eingehen.
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gesamten Welt.«3 Um das Pathos dieser Kennzeichnung herunterzuschrauben, schiebt Kripke noch einen Verweis auf den Begriff des ›Stichprobenraums‹ (sample space) der Wahrscheinlichkeitstheorie nach, der ausreiche, um den Begriff »eines solchen Raums möglicher Welten«4 verständlich zu machen. Daß im Konzept ›aller Zustände der ganzen Welt‹ eine gewisse Idealisierung steckt, gibt Kripke unumwunden zu, hält sie aber für unbedenklich. Sein zentrales Anliegen ist nicht dieser Raum aller Zustände, sondern das Surfen in diesem Raum. Surfen nicht auf den Wellen des Meeres, nicht im Internet, sondern in einer Interworld, d. h. über mögliche Welten hinweg. Um das zu bewerkstelligen, muß sichergestellt sein, daß die Instrumente unserer Bezugnahme auf Gegenstände möglicher Welten, unsere Designatoren also, stabil in dem Sinne sind, daß sie immer auf dasselbe referieren. Das gelingt dann, wenn wir mit ›rigiden‹ Designatoren operieren, die das Wesen der Gegenstände bezeichnen, das sich in den möglichen Welten natürlich durchhalten muß.5 Damit rückt das Wesen der Dinge in den Mittelpunkt des Interesses und zwar einmal sachlich und zum anderen epistemisch. Sachlich muß sich eine Struktur erschließen lassen, die nicht variiert, epistemisch müssen wir über ein Wissen von dieser Struktur verfügen, die keinen Meinungscharakter hat, sondern evident ist. Das ist der Fall, wenn Herkunft und Substanz eines Gegenstandes invariant bezüglich unserer Imagination bzw. Einbildungskraft sind, genau dann haben wir Kontakt mit seinem Wesen. Selbst wenn wir uns vorstellen, daß der Gegenstand abweichend von seiner Wirklichkeit in einem anderen Panorama auftauchen könnte, muß er immer noch als der Gegenstand identifizierbar bleiben, der er ist. Er bleibt resistent gegenüber unserer variierenden Phantasie. Am Wesen einer Sache zerschellt die Kraft unserer Einbildungskraft, sich mögliche Kontexte zu erschließen. Das ist im Prinzip keine neue Einsicht, sondern in einer impliziten Theorie unserer Phantasieschranke schon von Descartes vorgetragen und später in Edmund Husserls methodischem Konzept Saul A. Kripke, Name und Notwendigkeit, op. cit., p. 26. Saul A. Kripke, Name und Notwendigkeit, op. cit., p. 27. 5 Ob Kripke das Konzept eines starren Designators evt. von Ruth Barcan Marcus (1921–2012) übernommen hat, ist umstritten. Cf. für diese These Quentin Smith, Marcus, Kripke and the Origin of The New Theory of Reference, in: Synthese 104/2, August 1995, pp. 179–189. 3
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einer eidetischen Variation auf solide Grundlagen gestellt worden. Descartes’ Argument war, daß weder Träumer noch phantasiereiche Maler imstande sind, gänzlich Neues zu erfinden, sondern stets nur Variationen der anschaulichen Welt.6 Das bejaht auch Kripke. Auch ihm zufolge »beginnen wir mit den Gegenständen, die wir in der wirklichen Welt haben und identifizieren können«.7 Der Erkenntnis nach ist das Wirkliche das Erste, der Sache nach ist allerdings das Mögliche das Erste.8 Alternative, neue und mögliche Konfigurationen, so Descartes, können wir in der Tat ersinnen, nicht jedoch in jeder Hinsicht neue Elemente (simplicia et universalia) derselben. So entziehen sich Eigenschaften wie Ausdehnung (extensio), Gestalt (figura), Größe (magnitudo), Zahl (numerus), Ort (locus) und Zeit (tempus) unserer imaginativen Kreativität, sie kann alle diese Eigenschaften bizarr variieren, aber nicht ignorieren. Zwar basiert diese Art unserer Kreativität auf unserem Anschauungsraum, aber auch die Erzeugung semantischer Phantasien bleibt auf diesen angewiesen. Und was nicht auf ihn angewiesen ist, uns aber gleichwohl zur Verfügung steht, wie die Idee eines Unendlichen, muß daher angeboren sein. Zeno Vendler hat diese Theorie einer Phantasieschranke, die ich hier nur sehr knapp umrissen habe, einmal prägnant so ausgedrückt: »As the limits of subjective experience are the limits of subjective fantasy, so the domain of objective imagination exhausts the world of possible experience.«9 Solche grundsätzlichen Überlegungen zur Imagination möglicher Welt finden sich bei Saul A. Kripke allerdings nicht. Eine elaborierte Überlegung zur variierenden Imagination bot allerdings schon Edmund Husserl an vielen Stellen seines Werkes, so auch in § 87 sei6 Descartes, Meditationes, eds. Lüder Gäbe / Hans Günther Zekl, Hamburg 1992, I. Meditation, p. 35; cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Göttliche Träume, in: ders., Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, p. 290 sq.; ders., Der implizite Mensch, Berlin 2013, p. 19 sq. 7 Saul A. Kripke, Name und Notwendigkeit, op. cit., p. 65. 8 Leider sind die Dinge hier sehr viel komplizierter. Cf. dazu Uwe Meixner, Ereignis und Substanz. Die Metaphysik von Realität und Realisation, Paderborn 1997. Cf. auch die knappen Hinweise in dem Kapitel (2.6) Die uneinholbare Kontingenz des Wirklichseins manches Wirklichen in: Uwe Meixner, Modalität. Möglichkeit, Notwendigkeit, Essenzialismus, Frankfurt / M. 2008, pp. 121 sq. 9 Zeno Vendler, The Matter of Minds, Oxford 1984, p. 56.
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ner Studie Erfahrung und Urteil (Prag 1938; London 1939). Vari ierende Erwägungen sind immer möglich, wenn sie nur einen Anker im Wesen einer Sache haben: »Wir erzeugen so frei willkürliche Varianten (…) Es zeigt sich dann, daß durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, daß bei solchen freien Variationen eines Urbildes, z. B. eines Dinges, in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt.«10 Diese Invariante ist dann das Wesen der Sache. »Das Gleiche gilt für Phantasien (…) Wir haben [hier] eine Quasi-Welt als einheitliche Phantasiewelt.«11 Allerdings ist das Mobiliar einer solchen Phantasiewelt ein intrikater Träger von Eigenschaften. Denn zwar können die Eigenschaften gegensätzlich sein, ein Haus, so Husserl, kann verschiedene Farben haben, die miteinander unverträglich sind, dennoch imaginieren wir nur ein Haus: »Diese merkwürdige Zwittereinheit liegt der Wesenserschauung zugrunde.«12 Essenzen eröffnen uns Zugänge zu Dingen durch ihre variierenden Eigenschaften hindurch. In diesem kontrastiven Duplex zwischen ontischen und epistemischen Verhältnissen wird so etwas wie Gestalt, Form, Information, aber auch die Schönheit der wirklichen Welt erst möglich. Keine Frage, daß die elementaren, phantasieresistenten Eigenschaften bei Descartes (Kategorien), daß die kompakten Terme wie ›Haus‹ etc. bei Husserl Kandidaten für Kripkes ›starre Designatoren‹ sind. Das macht seine Theorie möglicher Welt ja so attraktiv für die projektive Erfassung von Invarianten unter komplementären Eigenschaften, z. B. für die Dualität von Welle und Korpuskel in der Quantenmechanik.13 Ein entscheidender Punkt aus philosophischer Sicht scheint aber der zu sein, und das gilt ebenso wie für Descartes, für Husserl und Kripke, ohne daß sie das bemerkt hätten, daß eine Theorie der Modalitäten in den heuristischen Diskurs zurückgenommen werden muß. Wir imaginieren mögliche Welten eben nur dann, wenn wir uns überlegen, wie sich die Dinge anders hätten verhalten können. In den assertorischen Endstrecken der Wissenschaften, auch unseEdmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, eds. Ludwig Landgrebe / Lothar Eley, Hamburg 1972, p. 411. 11 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, op. cit., p. 415. 12 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, op. cit., p. 417. 13 Cf. u. a. Franz Josef Burghart, Modalities and Quantum Mechanics, in: International Journal of Theoretical Physics 23 (1984), pp. 1171–1196. 10
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rer lebenspraktischen Überlegungen, verschwinden die Modalitäten, ohne daß wir ihre Heuristik vergessen dürften. Das ist ein – aller dings unzureichender – Rechtsgrund für die Modalitätenskepsis von Willard Van Orman Quine. Das Wirkliche ist vielleicht nur ein Rand des Möglichen, der zumindest partiell kontingent ist und sein muß, damit es zu einem autoepistemischen Universum überhaupt kommen kann. Und das ist etwas, wie Uwe Meixner bemerkt, »über das sich zu wundern nicht unangemessen ist«.14 Denn diese Kontingenz des Wirklichen erscheint »als etwas Geheimnisvolles und wie ein Fenster zur Transzendenz«.15 Ohne eine auch nur partielle Kontingenz des Wirklichen gäbe es nicht so etwas wie Information und Intelligenz. Das steht jedenfalls einem militanten Naturalismus strikt entgegen.16 Die Logik der Modalitäten, so technisch verpanzert sie zumeist auch auftritt, verschafft jedenfalls unserem Denken da wieder Luft, wo sie uns reduktionistische Positionen genommen hatte. Die Intelligibilität der Welt gründet im Möglichen, dem Spielraum von Differenzen. Aber diese Gründung realisiert sich nur dann, wenn das Mögliche Formen freigibt. Diesem morphogenetischen Aspekt ist René Thom (1923–2002) nachgegangen und sein Freund, der Bonner Philosoph und Mathematiker Egbert Brieskorn (1936–2013), hat dessen späte Arbeiten, auch für Nicht-Mathematiker nachvollziehbar, gewürdigt. Im Zentrum von Thoms späten Überlegungen steht eine katastrophentheoretische Lesart der aristotelischen Physik im Sinne einer »Semiophysik, das soll eine Physik der Bedeutung sein«.17 Das ist neu und intendiert wohl eine naturphilosophische Rahmung der mathematischen Theorie der Singularitäten. »Dieser Physik«, so Brieskorn, »geht es darum, signifikante Formen herauszuarbeiten, sie zielt auf eine allgemeine Theorie der Intelligibilität.«18 Der Be-
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Uwe Meixner, Modalität, op. cit., p. 130.
15 Ibid. 16
So auch Kripke: »I don’t believe in a naturalistic world view (…) and do not believe in materialism.« (Interview mit Andreas Saugstad (25. Februar 2001), in: David Boles Blogs, https://bolesblogs.com/2001/02/25/saulkripke-genius-logician/ 17 Egbert Brieskorn, Gibt es eine Wiedergeburt der Qualität in der Mathematik?, in: Erwin Neuenschwander (ed.), Wissenschaft zwischen Qualitas und Quantitas, Basel 2003, pp. 243–410, hier p. 392. 18 Ibid.
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zug zu René Thom ist hier sein spätes Buch Esquisse d’une sémiophysique von 1988.19 Schon im Vorwort nennt Thom den Ausgangspunkt seiner mathematischen Katastrophentheorie bei Aristoteles. Es ist dessen Theorie des Kontinuums in seiner Physik. Hier fand Thom eine Quelle für seine Intuition einer Geometrie des Denkens und Sprechens, deren Architektur nach Art von Kontinua verfaßt sein muß, um ihrer generischen Eigenart gerecht zu werden. Genau diese Hypothese fand Thom bereits von Aristoteles ausgeführt: »The philosophical programm I had in mind for Catastrophe Theory, namely the geometrization of thought and linguistic activity, was more than sketched out in Aristotle, it was already achieved.«20 So ergeben sich für Thom zwanglos Korrespondenzen von ὕλη als qualitativem Raum und ein Herunterbrechen der Gattungen in Arten (species) als Bifurkation. Aristoteles hatte offenbar tatsächlich schon ein generisches Prinzip entdeckt (concept of genericity), dessen mathematische Fassung erst in der Katastrophentheorie gelungen sei. Freilich ergeben sich hier Reibungspunkte, die Brieskorn nicht unerwähnt läßt. Zum ersten formuliert René Thom seine Übersetzung der aristotelischen Dynamik in die Terminologie der modernen qualitativen Dynamik auf der Basis der Cantorschen Mengenlehre. Und deren Punktsprache widerstreitet der aristotelischen Auffassung, daß Punkte keine Elemente von Kontinua sein können.21 Ferner ist in Thoms mathematischer Interpretation der moderne Schnitt zwischen Mathematik und ihrer Anwendung nicht sauber eingehalten, so daß die gesamte Katastrophentheorie in eine methodische Schieflage gerät. Dennoch bleibt auch für Brieskorn Thoms Interpretation ein inspirierender Versuch, »in der Mathematik den René Thom, Esquisse d’une semiophysique. Physique aristotélicienne et théorie des catastrophes, Paris 1988; engl. Semio Physics: A Sketch. Aristotelian Physics and Catastrophe Theory, Redwood City 1990 (von Brieskorn verwendeter Text). Zu den linguistischen Erträgen von René Thoms Überlegungen cf. Wolfgang Wildgen / Per Aage Brandt (eds.), Semiosis and Catastrophes. René Thom’s Semiotic Heritage, Bern et al. 2010. 20 René Thom, Semio Physics, op. cit., p. viii. 21 Cf. hierzu Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1992. Wieland zeigt, daß Aristoteles gerade deshalb darauf verzichtet, das Kontinuum aus Punkten aufzubauen, weil er dadurch in die Paradoxien Zenons geraten wäre und vor allem sein eigentliches Ziel verfehlt hätte, »das anschaulich unbezweifelbare Faktum der Bewegung, von dem die Physik ausgeht, [zu] retten« (p. 288). 19
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Schlüssel zum Verstehen des Entstehens und Vergehens der Formen gefunden [zu haben]«. Und das besagt für Thoms Anknüpfen an Aristoteles: »Es handelt sich um eine kühne Interpretation.«22 Schon deswegen, weil Thom zwar einerseits und zunächst eine pythagoreisch-platonische Tradition bemüht, um »die Welt intelligibel zu machen«, aber dann später die aristotelische Tradition beerbt, um den Bios ebenfalls intelligibel zu präsentieren. Brieskorn ist der Ansicht, es sei ein Versuch von Thom, »Unvereinbares doch miteinander zu verbinden«.23 Ohne Frage: Hier haben wir es mit einem alten methodischen Problem zu tun. Die Intelligibilität des Seins und des Werdens lassen sich ohne ein schwer entzifferbares Duplex nicht auf einen Nenner bringen. Wenn man sich nichts vormacht, ist genau dieses methodische Problem von Aristoteles bis heute ungelöst. Die Zahl hat keine Schwierigkeit mit dem Sein, aber mit dem Werden und Vergehen: In der Mathematik gibt es weder Materie noch Zeit. Das ist aber kein Hindernis für ihre Anwendung auf materielle und zeitliche Verhältnisse. Der Preis ist allerdings hoch: Eine in uns aussprechlich gewordene Natur geht im Differenzial unter.24
22 Egbert Brieskorn, Gibt es eine Wiedergeburt, op. cit., p. 397. Cf. auch die Bemerkung auf p. 396: »Thom liest offenbar die Grundgedanken der Katastrophentheorie in der aristotelischen Physik, und es ist müßig zu fragen, ob er sie hinein- oder herausliest.« 23 Egbert Brieskorn, Gibt es eine Wiedergeburt, op. cit., p. 392. 24 Cf. hierzu die monumentale Studie von Thomas Sören Hoffmann, Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.
11. Sprache, Zeichen, Bild Wir leben nicht in Zeichen, wohl aber im Bild. Diese Einsicht Wittgensteins dekapitierte schon vorab eine erst nachmalige Generation von Philosophen, die in einer Philosophie des Zeichens in der Tat das Zentrum der Philosophie sehen wollte.1 Davon ist nicht viel geblieben. Warum nicht? Weil Sprache etwas anderes ist als eine Veranstaltung von Zeichen. Das wußte schon Wilhelm von Humboldt. Jürgen Trabant hat ihn gerade als Kritiker der von Aristoteles bis Saussure reichenden Tradition einer Zeichenorientierung in der Sprachauffassung energisch akzentuiert.2 Und er begründet auch, wie es zu diesem verhängnisvollen signitiven Zentrismus kommen konnte. Es war dies schon die platonische Kritik an der vermeintlichen Bildlichkeit der Sprache. Sein Dialog Kratylos endet mit dem Befund: Die Wörter sind schlechte Bilder (εἴκονες). Besser wäre es, wenn wir uns den Dingen, um sie zu erforschen, wortlos zuwenden. Trabant: »Hier artikuliert die Philosophie an ihrem Anfang ihre Sehnsucht nach Sprachlosigkeit: οὐκ ἐξ ὀνομάτων.«3 Wenn Worte aber schon keine oder nur schlechte Bilder der Dinge sein können, müssen wir uns, da die Sehnsucht nach Sprachlosigkeit unerfüllt bleiben muß, mit Worten in ihrer semantischen Schwundstufe als Zeichen begnügen. »Damit«, so Trabant, »ist die Philosophie Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin / New York 1989. Ferner Günter Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt 1993; Hans Lenk, Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft, Frankfurt 1993. 2 Anläßlich der akademischen Gedenkfeier für Josef Simon am 28. März 2017 hielt Jürgen Trabant einen Vortrag zum Thema Humboldts Trias. Dem Manuskript für diesen Vortrag sind die nachfolgenden Zitate entnommen. Als Kritiker einer Sprachauffassung auf Zeichenbasis ist schon Martin Heidegger seit seiner Habilitationsschrift aufgetreten. Cf. hierzu Carl Friedrich Gethmann, Verstehen und Auslegung. Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn 1974, p. 300. 3 Trabant, op. cit. (Manuskript), p. 6; Platon, Kratylos 439 b. 1
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für die nächsten zwei Jahrtausende raus aus der Sprachenfrage.«4 Das lag auch an der »Blindheit der Griechen (und der Amerikaner heute) für die Verschiedenheit der Sprachen. Die Sprachen der Anderen haben sie einfach nicht interessiert, Sprechen war hellenizein, so wie Sprechen heute globalizein ist«.5 Der erste, der den Eigensinn der Sprache und der Sprachen effektiv würdigen konnte, war eben Wilhelm von Humboldt. Das konnte ihm aber nur gelingen, weil er nicht als Philosoph an die Frage nach dem Wesen der Sprache und der Sprachen heranging, sondern als Sprachforscher. Damit brauchte er den lebendigen Sprachvollzug nicht mehr von der Sprachgestalt abzulösen. Zeichen, Wort und Bild gehören im Vollzug zusammen. Eine Reduzierung dieses Gesamtphänomens auf die Zeichenhaftigkeit tötet sein Leben.6 Sprachen sind keine Kon strukte in irgendeinem zeichentechnischen Sinn. Es ereignet sich in ihrem Vollzug vielmehr eine lebendige Weltsicht, die es anders gar nicht geben könnte. Diese anonyme Rendite der Sprache ist gewiß nicht unser Werk, insofern, so Humboldt, ist sie gewissermaßen ein ›don de la divinité‹, ein Gottesgeschenk.7 In diesem Vollsinn liegt auch beschlossen, daß die Medien des Sprechens, von der Miene bis zu Klang und Gebärde schon bedeutungshaltig sind, noch bevor es zu einer lexikalisierbaren Semantik von Worten kommt. Schon im Wimmern, Seufzen, Stöhnen, auch Lächeln, Juchzen und Strahlen bekunden sich semantische Valeurs, die untrennbar, d. h. naturaliter zur Sprache gehören und ihren analogen, geradezu ikonischen Unterbau ausmachen. Davon weiß das konventionelle Zeichen nichts. Es muß die bildgebundene Basis der Sprache hinter sich lassen, um die digitale Reinheit einer Sprache ohne Leben zu retten. Aber, wie Wittgenstein bemerkte, wir leben nicht in Zeichen, wohl aber in Bildern. Das genau ahnte schon Humboldt, und Jürgen Trabant hat diesen Humboldt energisch herausgearbeitet: »Eindeutig sind bei Humboldt Wort und Bild enger verwandte semiotische Brüder als Wort und Zeichen.«8 Die Rendite dieser Überlegungen ergibt sich für Trabant aber erst in Analogie zur gebotenen Artenvielfalt in der Biologie zur ebenso gebotenen Artenvielfalt der Sprachen. Diese 4 Ibid. 5 Ibid.
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Trabant, op. cit., p. 9. Trabant, op. cit., p. 12. 8 Trabant, op. cit., p. 17.
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linguistische Ökologie ist die politische Pointe seiner Überlegungen zu Humboldt: »alle Sprachen sind kostbar.«9 Das ärgert gewiß eine formale Linguistik, auch eine formale Semantik der Logik, aber trägt wenigstens dem Vollsinn der Sprache Rechnung, die man nur in sprachlicher Freilandforschung studieren kann. Sie ist daher, wie Humboldts berühmtester Satz einprägt, kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Und als solche lebt sie, weltsichtspendend, als Organ unserer Ausblicke im Duplex von Laut und Gedanke, von Bild und Wort, von Emotion und Proposition, vom Es, das Ich werden will, und von uns, die wir nicht Ich werden können. Dennoch muß man anerkennen, daß selbst die zeichentheoretischen Ansätze, die Leben und Bild außer sich haben, am Duplex zwischen Emotion und Proposition nicht gänzlich vorbeigehen. Sie implementieren es allerdings in das Kontrastprofil von analog und digital. In der Regel wird dieser Gegensatz im Einzugsbereich der Datenübertragung spezifiziert: analog sind indiskrete, also kontinuierliche Spannungstransfers (Schallplatte, Tonband, Kassettenrecorder etc.); digital sind numerisch codierte, diskrete Repräsentationen der Spannungswerte (CD, DVD, PC etc.). Technisch können beide Übertragungsmodi durch geeignete Wandler überbrückt werden, wobei Informationen verloren gehen können. Aber die technischen Details sollen uns hier nicht interessieren. Die Frage ist vielmehr, ob sich der Kontrast von analog-digital als Duplex auch in der kognitiven Architektur wiederfinden läßt. Daß dieser Kontrast nicht absolut ist, erkennt man schon daran, daß auch das Analoge, Kontinuierliche letztlich auf Diskretes (Elektronen, Protonen etc.) zurückgeht, allerdings nur in Feldern. Diese Basis ist allerdings wegen der unvorstellbaren Menge erforderlicher Bauelemente im Einzugsbereich signalübertragender Maschinen nicht modellierbar. Dies ist zugleich auch eine Grenze der Berechenbarkeit. In der Komplexitätstheorie spricht man auch von ›überberechenbaren‹ (transcomputationale) Problemen. Nach einer These von Hans Joachim Bremermann (1926–1996) sind die überall da gegeben, wo es um die Verarbeitung von mehr als 1093 Bits geht (Bremermann’s limit).10 Vielleicht, so könnte man spekulieren, ist das Analoge nur ein Behelf, um mit 9
Trabant, op. cit., p. 19. Hans J. Bremermann, Optimization through evolution and reality, in: M. C. Yovits, G. T. Jacobi, G. Goldstein (eds.), Self organizing systems, Washington 1962, pp. 93–106. Ferner ders., Quantum noise and Information,
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übergroßen Summen, d. h. mit dem Komplexen fertig zu werden? Dann wäre es aber auch ein Behelf der Natur. Ihre Plastizität und selbstorganisierende Kreativität braucht das Analoge, um nicht im Summativen zum Stillstand zu kommen. Jedenfalls zwingt uns das Überberechenbare dazu, das Gleis der Quantität zu verlassen und auf Raffinesse und Qualität zu setzen: »We must look for quality, for refinements, for tricks, for every ingenuity that we can think of.«11 Noch plausibler ist hier aber wieder ein Blick auf die selbstorganisierende Architektur unserer kognitiven Verfassung. Hier hatte der gerade genannte Hans Joachim Bremermann, bedeutender Mathematiker, Physiker und erster Biomathematiker, der in Münster noch bei Heinrich Behnke studierte und von ihm 1951 promoviert wurde,12 dann aber in die USA nach Berkeley ging, eine interessante Überlegung beigesteuert. Er fragt sich, warum unser Gehirn, d. h. unsere Natur, sich den Luxus erlaubt, soviel Zeit in die träumerischen Phantasien, bizarren, ja surrealen Bilderwelten während des Schlafs zu investieren? Das muß, wenn die Natur nichts ohne Grund macht, tatsächlich gute evolutionäre Gründe haben. Doch welche? Bremermann sieht diese in der risikolosen Erprobung von Alternativen, deren Spielraum wir als hypothetisierende Struktur in: Proceedings of the Fifths Berkeley-Symposium on Mathematical Statistics and Probability, vol. 4 (1967), pp. 15–20. 11 Ibid. 12 Heinrich Behnke (1898–1979) war berühmt für seine Arbeiten zur komplexen Analysis (Funktionentheorie). Er studierte in Göttingen, u. a. auch bei David Hilbert. 1927 erhielt er eine Professur an der Universität Münster. Seine Schüler waren u. a. Karl Stein und Friedrich Hirzebruch (1927–2012). Karl Stein (1913–2000) war während des Krieges in der Chiffrierabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht tätig. Sein Mitarbeiter Gisbert Hasenjaeger (1919–2006) betreute erfolglos die Sicherheit der Chiffriermaschine ENIGMA. Hirzebruch ging 1956, Hasenjaeger 1962 nach Bonn. Hasenjaeger war auf Vermittlung von Heinrich Scholz (Philosoph, Theologe, Logiker) nach Münster gekommen. Scholz (1884–1956) hatte in den 1930er Jahren auch Kontakt zu Alan Turing (1912–1954), der den Code von ENIGMA während des Krieges entschlüsselte. Alles in allem hätte die Universität Münster seit den 1930er Jahren durchaus eine Art Silicon Valley von Deutschland werden können, wenn die Zeiten anders gewesen wären und das Format von start-ups schon zu Verfügung gestanden hätte. Nach dem Krieg verschoben sich spätestens in den 1960er Jahren die Schwergewichte in der Informatik an die Universität Bonn. Hier beherrschte seit 1972 Bernhard Korte (geb. 1938) auf dem Feld der kombinatorischen Optimierung für Chipdesign das Feld.
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unserer Intelligibiltät mit uns dispositionell mitschleppen: »The fantastic, surrealistic nature of dreams is necessary if the simulations explore hypothetical behavior that is ›tried out‹ in fantasy and which has to be separated from reality.«13 Diese risikolosen Probespiele benötigen allerdings, und das ist jetzt ein weiterer, ja der zentrale Punkt, einen Supervisor, einen rationalen Zensor, der die fantastischen Überschüsse gewissermaßen ausfiltert. Genau hier können wir den evolutionären Sinn und die Notwendigkeit des Umstandes erkennen, daß wir eben auch Kinder der Nacht und ihrer Träume sein müssen: sie dienen der Selbstorganisation unserer Intelligibilität durch die Geburt eines Zensors, d. h. unseres Selbst. Daher brauchen wir die Tages- und die Nachtsicht für unser volles Selbstverständnis. Genau hier findet Bremermann, und gewiß nicht nur er, das für uns wesentliche Duplex von analog und digital: »The human brain has a dual nature, one dominated by metaphors und analogy, the other by language and logic.« Aber auch dieses Duplex hat hier wieder seinen guten und unentbehrlichen, ja sogar logischen Sinn, um die Architektur unserer Intelligibilität vor Antinomien und internen Widersprüchen zu schützen. Denn die Rendite des Duplex ist, wie Bremermann fortfährt, diese: »The duality of the mind’s representations makes possible self-references without the danger of falling into the well known paradox that occur in mathematical logic when self-reference is permitted.«14 Unser Selbst ist daher zugleich Selbstschutz. Vor Gefahren von außen durch unsere antizipatorische Intelligibilität auf der Basis von imaginierten Alternativen, vor Gefahren von innen vor einem antinomischen Kollaps auf der Basis des Duplex von analog und digital. Gewiß ist das nicht die komplette anthropologische Geschichte, deshalb hatte ich Humboldts und Trabants Explikationen vorhergehen lassen. Auch Bremermann plädiert an einer Stelle sogar für einen
13 Hans J. Bremermann, Self-Organization in Evolution, Immune Systems, Economics, Neural Nets, and Brains, in: R. K. Mishra, D. Maaß, E. Zwierlein (eds.), On Self-Organization. An Interdisciplinary Search for a Unifying Principle, Berlin / Heidelberg 1994, pp. 5–34, hier p. 10; cf. auch chap. 7,3: Surrealism an self-organization, pp. 28 sq. Zur Evolution der Intelligenz cf. den frühen Aufsatz von Hans J. Bremermann, The Evolution of Intelligence. The Nervous System as a Model of its Environment, Seattle 1958. 14 Hans J. Bremermann, Self-Organization, op. cit., p. 10. Cf. auch ebd. chap. 7: The Self, pp. 26 sq.
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Brückenschlag von Freuds und Jungs Traumdeutung zur Artificial Intelligence: »There should be a synthesis.«15 Die besten Köpfe – aber keineswegs alle – einer algorithmischen Modellierung der Spracherzeugung waren sich eigentlich immer darüber im Klaren, daß solche Projekte nicht kostenlos zu haben sind. Sie haben zwar Rationalitätsvorteile, bezahlen aber mit Verlusten von Phänomenen und zwar auf der Ebene der historisch belehrten Sprachphänomenologie. »Formale und nicht bzw. weniger formale Beschreibungssysteme sollten darum nicht in unangebrachte Konkurrenz gebracht werden. Für verschiedene Zwecke hat jedes seine eigene Berechtigung.«16 Das ist natürlich eine prima vista unbefriedigende Pazifizierung, denn welcher Zugriff trifft die Sache, d. h. die Sprache, adäquater? Hängt das nur an den Zwecken? Aber vermutlich ist hier eine Entscheidung gar nicht möglich, so daß man, mit Beeh, aus dem Herzen der Aufklärung nur gegen eine Monopolbildung optieren kann. Um ein »Dogma der Formalisierung« kann es also nicht gehen.17 Humboldt behält sein Recht auch dann, wenn die formale Linguistik durchaus ihre Rendite abwirft. Um das zu erklären, bemüht Volker Beeh eine Hypothese, die er die Annahme »von der Konstanz der erkennenden Energie« nennt: »Die Stärke und Rationalität der Erklärung ist umgekehrt proportional zur Größe ihres Anwendungsbereichs.«18 Wer mehr erklären will, muß Schwächen im Zwingenden seiner Argumente in Kauf nehmen, wer auf dieses Zwingende setzt, handelt sich eine Verarmung seines universe of discourse, d. h. eine Verarmung erfaßbarer Phänomenbestände ein. Beeh hat diesen Befund schon 1980 formuliert, durchgesetzt hat er sich nicht. Und das, obwohl er für ein Verständnis des Kontrastes von Natur- und Geisteswissenschaften äußerst hilfreich ist, da er für beide Bereiche die Bilanz der erkennenden Energie unangetastet läßt: »Die Hypothese bestätigt eher Sinn und Wert uneigentlicher Rede – auch in wissenschaftlichen Texten –, als daß sie ihn in Zweifel zieht.«19 Obwohl Beeh selbst ein algorithmisches Spracherzeugungssystem in der Nachfolge Noam Chomskys bevorzugt, will er Hans J. Bremermann, Self-Organization, op. cit., p. 29. Volker Beeh, Sprache und Spracherlernung. Unter mathematisch-biologischer Perspektive, Berlin / New York 1981, p. 74. 17 Volker Beeh, Sprache, op. cit., p. 75. 18 Volker Beeh, Sprache, op. cit., p. 73/74. 19 Volker Beeh, Sprache, op. cit., p. 75. 15
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den Sinn einer tropendurchsetzten façon de parler auch für die Wissenschaften keineswegs in Abrede stellen. Bei bestimmten Fragestellungen könnte es sich sogar erweisen, daß die rhetorisch ›uneigentliche‹ Rede mit Blick auf eine hier prekäre Sachadäquanz tatsächlich in einem nicht-rhetorischen Sinn ›eigentlicher‹ ist. Obwohl Beehs Projekt seinerzeit keineswegs auf eine Programmentwicklung maschinellen Übersetzens ausgelegt war, sondern sich ansatzweise um die Modellierung eines universellen Lernalgorithmus bemühte, war sein Hauptziel doch eher dies, einen Beitrag zur Decodierung der intelligenten Spracharchitektur zu liefern. In der Zwischenzeit ist auf diesem Gebiet viel geschehen, obwohl selbst die Ergebnisse der maschinellen Übersetzungsleistungen immer noch viel zu wünschen übriglassen – und das trotz finanzieller Unterstützung des Militärs. Humboldt ist bislang jedenfalls keineswegs überflüssig geworden. Das Duplex analog und digital läßt sich offenbar nicht ablöschen. Das grundsätzliche Interesse von Beeh, das auch philosophisch bedeutsam ist, bekundet sich vor allem darin, daß er nach der Phase seiner computationalen Rekonstruktion eines Lernalgorithmus seine Forschungen verstärkt den limitativen Theoremen der Logik zuwandte, um von hier aus eine Brücke zu Theoretikern des Buddhismus zu schlagen. Insbesondere seine Interpretation von Nagarjunas Zehntem Tor20 gibt dem Prinzip der Leerheit (sunyata, Selbstlosigkeit) eine ebenfalls limitative Bedeutung, die kulturinvariante Geltung hat. Das betrifft insbesondere den Begriff des Alls, das ja nichts sonstigem angehören darf, weil es sonst nicht das All wäre. Hier ergibt sich das Paradoxon: »Entweder enthält der Begriff des Alls zuwenig und ist unvollständig, oder er enthält zuviel und ist inkonsistent.«21 Dieses Dilemma ist offenbar wieder in die Struktur unserer Rationalität selbst eingebaut. So ›setzen Wissenschaften auf Konsistenz und bezahlen sie mit Unvollständigkeit‹: »Ein vollständiger, zugleich konsistenter Begriff bleibt ein frommer Wunsch.«22 Das Duplex von Unvollständigkeit und Inkonsistenz ist pace Georg 20 Volker Beeh, Nagarjunas Zehntes Tor, in: Horin. Vergleichende Studien zur Japanischen Kultur 2 (1995), pp. 113–123. 21 Beeh, Nagarjuna, op. cit., p. 122. Dem entspricht auch das Ergebnis der jüngsten Studie von Guido Kreis, Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015, p. 456: »Wir sind, soweit zu sehen ist, nicht in der Lage, das Unendliche widerspruchsfrei zu denken.« So übrigens schon Friedrich Schlegel. 22 Beeh, ibid.
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Cantor, Kurt Gödel, Alfred Tarski et al. nicht vermeidbar. Umgangen werden kann das Paradox allerdings durch Abtrennung »der logischen Begriffe des Alls und der Existenz von den intuitiven«.23 Durch diesen Willkürakt rettet die Logik zwar ihr Lieblingskind, die Identität (xx), aber ihr Abstand zur Intuition verfehlt das All.24 Das berührt auch unser übliches Verständnis der Quantoren (x: es gibt ein x …, x: für alle x …). Um die Antinomien der Mengenlehre zu vermeiden, wird ihr Sinn auf Elementheit in und Zusammenfall mit dem Universum reduziert, dessen Existenz einfach unterstellt wird. Beeh: »Von solchen Quantoren ist (…) nicht zu erwarten, daß sie zur Erhellung der Existenz und Allheit im Sinne des philosophischen Denkens Wesentliches beitragen.«25 Die Spannung zwischen konsistenten Begriffsbildungen und intuitivem Verständnis muß auch dann ausgehalten werden, wenn sich das intuitive Verstehen selbst nicht erschöpfend konzeptualisieren läßt, aber alle Konzeptualisierungen dirigiert. Ohne diese semantische Hilfestellung könnten wir kein Wort verstehen, ja Semantik existiert nur aus diesem Kontrast. Wir leben nicht in Zeichen, wohl aber in Bildern. Was das heißt, korrespondiert im westlichen Denken mit Einsichten der philosophischen Mystik. Auch Beeh betont, daß es im Prinzip jedenfalls keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen östlichen und westlichen Rationalitätstypen gibt, obwohl das immer wieder behauptet wurde.26 Wie fragil, im Diaphanen endend, beide Kulturen die Architektur unserer Rationalität ausgelegt haben, beweisen Nagarjuna (ca. 150–ca. 250) und Meister Eckhart (ca.1260–1328) in nahezu gleicher Weise. Für beide lebt die Rationalität des homo sapiens jedenfalls von Voraussetzungen, um hier ein vielzitiertes Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde ein weiteres Mal zu strapazieren,27 die sie intern nicht garantieren kann. Auch mit diesem Duplex muß der Mensch leben. Wie kann er das?
Nagarjuna, op. cit., p. 123. Beeh, ibid. 25 Volker Beeh, Die halbe Wahrheit. Tarskis Definition und Tarskis Theorem, Paderborn 2003, p. 39. 26 Beeh, Nagarjuna, op. cit., p. 113 Anm. 1. Hier stimmt Beeh einer Skepsis gegenüber dem verblassenden Klischee zu, »nach dem das sogenannte öst liche Denken anderen Prinzipien folge als das westliche«. 27 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt / M. 1976, p. 60. 23 Beeh, 24
12. Der limitative Diskurs der Moderne Indem er einsieht, daß er selbst aus dieser Zweiheit gar nicht herauskann. Denn er selbst ist jenes ›amphibische Wesen‹,1 das zwischen Faktizität und Imaginärem oszilliert. Wir sind in uns selbst schon ermöglicht, also modalisiert, sonst könnten wir gar nichts erkennen. Das uns Zuvorgekommene, unsere Realität und Existenz, faßt sich im Imaginären, im Möglichen. Beides können wir nicht voneinander trennen. Dem entspricht ein Duplex in der natürlichen semantischen Ausstattung des Menschen. In den überkommenen Sprachen verfügen wir einmal über semantische Medien, in denen unsere Verständigungskultur floriert. Zum anderen sind diese semantischen Medien in mantische Sensorstrukturen hineingestellt, ohne die sie sofort erblinden würden. Diese kommen in Theorien kommunikativen Handelns erstaunlicherweise nicht vor, obwohl sie anthropologisch fundiert sind. Wie sieht diese mantische Sensorstruktur nun näher aus? Sie ist uns im Prinzip in dreifacher Form implementiert: Wir registrieren, was immer auch, im witternden Vorgriff auf ein uninterpretiertes Ganzes, in erwartender Tuchfühlung mit Nuancen und Berührungen vor Ort und in neugieriger Ausrichtung auf Differenzen, Kontrasten und Veränderungen unserer Umgebung. Diese dreifache Ausrichtung hat Erwartungscharakter, ist gewissermaßen eine dreifache Frage an uns und die Umwelt zugleich. In diese Fraglichkeit (questionableness) sind wir in unserer szenischen Existenz immer schon eingerückt und damit zugleich entrückt. In sie ist schon der uninterpretierte semantische Gehalt eines Ganzen, eines Eigenen und einer Situation eingebaut. Diese Gehalte werden nicht eigentlich gewußt, sondern wir sind ihrer inne (aware of). Es geht hier also nicht um bestreitbares Wissen, denn das sollte aus Lernprozessen erwachsen, sondern um die Form eines Wissens als mantisches Innesein (mantical awareness), das nicht erlernt wird, Nicholas Rescher, The Amphibious Man / Der amphibische Mensch, Bonn 2003.
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sondern Lernprozesse möglich macht. Im Augenaufschlag von Infanten ist es bereits präsent. In diesem Sinne könnte man zugespitzt sagen, daß wir bereits wissen, bevor wir wissen. Der genuine Sinn des Apriori ist also mantischer Art und nicht Eigenschaft einer Satzklasse, wie Kant meinte. Auch daß wir uns und andere überhaupt etwas fragen können, ist bloß die semantische Erbschaft dieser mantischen Sensorik. Sie sorgt für unsere natürliche Transzendenz, unser Hinaussein über jeden Stand an Information, wie es für unsere szenische Existenz charakteristisch ist. Diese natürliche Transzendenz hält uns jedenfalls ständig an den Bereich des Nichtwissens angeschlossen, jenen schwarzen Körper, wie Paul Valéry sagte, der in unser durchschnittliches Verständigtsein hineinragt.2 Immer sind wir schon orientiert an einem Ganzen, das uns natürlich nicht bekannt ist, einer Berührung, die wir nur ersehnen oder befürchten, einem Ereignis, das wir erwarten oder das uns überrascht. Unsere mantische Verfassung geht unserer semantischen Praxis vorher. Erst aus einer formalen Mantik dieses Typs erklärt sich der projektive Charakter unserer Gegenstands- und Sachverhaltsbezüge. Hier gründet sich, also suikonditiv, unsere Intelligibilität. Sie beruht schlußendlich auf einer Eroberung unserer selbst. Im mantischen flow of information muß ja ein Fixpunkt gefunden werden, der ihm standzuhalten vermag. Die Unbegrenztheit sollte sich daher im Grenzwert unseres Selbst fangen können, sonst fließt sie unkontrolliert ab. Reflexivität bremst uns aus, wir beginnen, uns zu uns selbst zu verhalten. Und dieses Selbstverhältnis breitet sich über alle Erfahrungsgehalte aus, zentriert sie geradezu, verleiht ihnen aber nur die Macht eines Möglichen, in das wir manchmal einzugreifen vermögen, meistens aber nicht. Diese Areale, die uns nicht zur Disposition stehen, nennen wir die Wirklichkeit. Sie ist der Generalbaß der narzisstischen Kränkung des homo sapiens. Sein Bemühen, diese Areale ebenfalls in den Korridor seiner Eingriffsmöglichkeiten hineinzuholen, um sie ansonsten ignorieren zu können, sind charakteristisch für die Moderne. Sie ist in diesem Sinne durch einen eliminativen Pragmazentrismus charakterisiert: Was wir nicht machen können, können wir nicht nur nicht erkennen, sondern existiert für uns auch nicht. Darin übersteigerte die Moderne die Maxime von Francis Bacon tantum possumus quantum scimus in die Devise tantum scimus quantum possumus. 2 Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt / M. 2017, p. 24.
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Denkwürdig ist, daß sich dieses Selbstverständnis im 20. Jahrhundert am deutlichsten zuerst in der Mathematik ausgesprochen hat. Nachdem Georg Cantor unsere mengenbildende Fähigkeit in eine nach oben offene Mächtigkeitsskala3 trotz aller Bedenken4 eingetragen hatte, erhob sich bald Widerspruch. Luitzen Egbertus Jan Brouwer (1881–1966) war der erste. Sein ›Intuitionismus‹ beruhte auf der These, daß auch alle mathematische Begriffsbildung auf einer Ur-Intuition der Zeit, näherhin auf einer Ur-Intuition des Zwischen (empty two-ity) aufruht. »Wenn man untersucht«, sagt Brouwer 1908 im sound von Plotin, »wie die mathematischen Systeme zustande kommen, findet man, dass sie aufgebaut sind aus der Ur-Intuition der Zweieinigkeit [sic!]. Die Intuitionen des continuierlichen und des discreten finden sich hier zusammen (…). Diese mathematische Ur-Intuition ist nichts anderes als die inhaltslose Abstraction der Zeitempfindung.«5 Zwei Fixpunkte, um hier ein Beispiel von Goethe heranzuziehen, machen noch keine geometrische Figur, die kann es erst geben, wenn die Ur-Intuition des Zwischen das notwendig zeitliche Ziehen einer verbindenden Geraden ermöglicht. Insofern ist diese Ur-Intuition des Zwischen identisch mit der Ur-Intuition der Zeit. Diese Fundamente gehen jedenfalls aller Sprache voraus. Sie sind Ur-Intuition einer Zweiheit, eines Duplex, in dem die Extreme ›diskret‹ und ›kontinuierlich‹ noch Felix Hausdorff, Mengenlehre (1927, 1935²), § 7: Die Skala der Mächtigkeiten, in: Gesammelte Werke Bd. III, Berlin / Heidelberg 2008, pp. 33 sq. 4 Cf. hierzu den plastischen Kommentar von F. Hausdorff, Mengenlehre, op. cit., p. 34: »Wir werden hier [bei allen nach oben offenen Mengen] also vor die Tatsache gestellt, daß die Forderung, ›alle‹ Dinge einer gewissen Art zu sammeln, nicht immer vollziehbar ist: wenn man sie alle zu haben glaubt, sind es doch nicht alle. Das Beunruhigende dieser Antinomie liegt nicht darin, daß sich ein Widerspruch ergibt, sondern daß man auf einen Widerspruch nicht gefaßt war.« Hausdorff empfiehlt hier einen Rückgriff auf axiomatische Mengenlehren vom Typ Zermelos, die solche antinomischen Mengenbildungen schon im Aufbau verhindern. Die Mathematik ist ihm bis heute gefolgt. 5 L. E. J. Brouwer, Die möglichen Mächtigkeiten, in: Atti IV. Congr. Mat. Roma III, ed. G. Castelnuovo, Rom 1908, pp. 569–571, hier p. 569. Cf. hier auch p. 570: »Wenn man die Ur-Intuition empfindet als den Uebergang zwischen dem ›Ersten für sich‹ und dem ›Zweiten für sich‹ ist die Zwischenfügung zustande gekommen.« Zum plotinischen Hintergrund cf. Jens Halfwassen, Plotin als Denker des Nichtpropositionalen, in: Joachim Bromand / Guido Kreis (eds.), Was sich nicht sagen läßt. Das Nichtbegriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, pp. 691–707. 3
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nicht getrennt sind. Die Trennung erfolgt erst durch Sprache: Brouwer beginnt extrem sprachkritisch und blieb es immer.6 Sprache ist für ihn erst dann legitim, wenn es ihr gelingt, das Duplex von Empfindung und Bewußtsein zu überbrücken, um auf diese Weise Antizipationen von Erfahrungen zu modellieren. Husserl würde sagen, daß sie den Ausweisungsgrund unserer abstrakten Terme präsent halten muß. Diese Basis für Ausweisungen ist für Brouwer allerdings im Gegensatz zu Husserl immer konstruktiv verfaßt. Das gilt auch für die Mathematik,7 gemäß der Devise esse est construi. Insofern nennt man ihn auch den Urvater des mathematischen Konstruktivismus. Er ist jedenfalls eine erste Stimme im limitativen Diskurs des 20. Jahrhunderts: Was nicht mit finiten Mitteln effektiv gezeigt werden kann, gilt nicht. Brouwers Projekt übte über die Mathematik hinaus abstrahlende Wirkung auf das Denken des 20. Jahrhunderts aus. Nachdem es seinem Schüler Arend Heyting (1898–1980) 1930 gelungen war, die intuitionistische Mathematik zu axiomatisieren, galt sie als mathematisch etabliert und stimulierte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auch die Bemühungen um die algorithmische Grundlegung für Rechenmaschinen. Hier war vor allem Alan Turing (1912–1954) ein zentraler mathematischer Impulsgeber. Für limitative Ergebnisse im prägnanten Sinn war Kurt Gödel (1906–1978) ein Stern erster Größe, aber auch Alfred Tarski (1901–1983) und andere, die ich hier nicht aufzählen will. Daß der Gedanke des Konstruktivismus sich auch in der Biologie etablierte, die mit selbstgesteuerten Systemen zu tun hat, war im Prinzip naheliegend. Humberto Maturana (geb. 1928) und Francisco J. Varela (1946–2001) entwickelten einen radikalen Konstruktivismus, der in dem Konzept autopoetischer Systeme terminiert, die über keine externen Objekte mehr verfügen. Dieser objektfreie Grundgedanke inspirierte auch Biophysiker wie Heinz von Foerster (1911–2002) und den Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998). Die Natur organisiert sich systemspezifisch unter Randbedingungen von Umwelten selbst, Gesellschaften und 6 Luitzen Egbertus Jan Brouwer, Over de Grondslagen der Wiskunde, (Diss.) Amsterdam 1907. Zu Brouwer umfassend: Dirk van Dalen, Mystic, geometer and Intuitionistic: The Life of L. E. J. Brouwer, vol. 1, Oxford 1999, vol. 2 Oxford 2005. 7 Cf. Johannes John Carel Kuiper, Ideas and Explorations. Brouwer’s Road to Intuitionisme, Diss. Leiden 2004, chap. 2: Brouwer’s ur-intuition of mathematics, pp. 33 sq.
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Individuen ebenso. Dieser limitative Diskurs grenzt die Realität auf interne Erzeugungsmuster ein, zu denen es keine externe Dimension mehr gibt. Diesen Diskurs könnte man etwas pathetisch unter die Rubrik Tod des Objekts fassen.8 Damit ist Luhmann jedenfalls gegenläufig zu dem zeitgleich exerzierten limitativen Diskurs akzentuiert, der vor allem in Frankreich von Michel Foucault (1926–1984), Jacques Derrida (1930–2004), Jean-François Lyotard (1924–1998) und anderen ausagiert wurde, und Grenzen der Geltung im Dampfkessel sich selbst verfehlender Subjekte schleifte. Jürgen Habermas hat dieser Debatte ein Buch mit dem Titel Der philosophische Diskurs der Moderne9 gewidmet, das dem hier exerzierten Geltungsverlust, der manchmal unter der Rubrik Tod des Subjekts dramatisiert wurde, die normative Verlustrechnung aufmacht. Der Tod des Objekts kann nur im Duplex eines Todes des Subjekts diagnostiziert werden. Aber dieses sinistre Finale, gesetzt es wird auch nur im Ansatz mental wirksam, kann am Ende der Geschichte eine Realität sui generis erzeugen, die eher bedrohlichen Charakter hat. Denn der doppelte Tod ist beide Male Überakzentuierungen geschuldet, die den Menschen in seiner bodenständigen Transzendenz einfach überfordern, um ihn dadurch in den Korridor seiner ›Nachgeschichte‹, wie Ernst Nolte das Ende der historischen Existenz des Menschen benannte,10 hineinlaufen zu lassen. Trösten wir uns einstweilen mit Bob Dylan: »it’s not dark yet.« Obschon: »Shadows are falling.«11 Diesen beiden gegenläufigen limitativen Diskursen, in ihrem Status schon klassisch, trat jedenfalls in jüngerer Zeit im Areal einer scharfsinnigen philosophischen Selbstvergewisserung ein bohrender limitativer Diskurs zur Seite, der schlichtweg selbstaufhebenden Charakter hat. Wo Objekt und Subjekt verabschiedet werden, kann
8 Wie man sich unter Bedingungen eines nihilistischen Objektverlustes dennoch zurechtfinden kann, hat Werner Stegmaier in seiner instruktiven Engführung von Nietzsche und Luhmann gezeigt. Cf. ders., Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin 2016. 9 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt / M. 1985. 10 Ernst Nolte, Historische Existenz, op. cit., pp. 669 sq. 11 Cf. Jürgen Goldstein, Unsere Tage sind gezählt: ›Not dark yet‹, in: Knut Wenzel (ed.), Code of the Road. Dylan interpretiert, Stuttgart 2013, pp. 280– 302.
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auch eine Voraussetzung ihres splittings nicht unbefragt bleiben und das ist unser Wissen in den Grenzen seiner Möglichkeiten. Dieser rezente limitative Diskurs wurde eröffnet durch ein Buch des Mathematikers Gregory J. Chaitin. Für ihn ist die Zahl der Haltewahrscheinlichkeit einer Turingmaschine, die er Ω nennt, nicht berechenbar, da nicht komprimierbar, obwohl sie wohldefiniert ist. Er stellt die Verbindung der bislang erwähnten limitativen Denker von Gödel, Turing und Tarski her, unter Einbeziehung von Ergebnissen des großen Wahrscheinlichkeitstheoretikers Andrei Nikolajewitsch Kolmogorov (1913–1987). In seinem Buch The Unknowable (1999) riskiert Chaitin in diesem Kontext sogar die These, daß auch die Mathematik quasi eine empirische Wissenschaft ist, weil einige ihrer Wahrheiten nur zufällig wahr sind (true by accident).12 Wenn die Mathematik rückstandlos in die Informatik hineingewandert wäre, möchte das sogar wahr sein. Chaitin nutzt die Gelegenheit hier zur aberwitzigen Hypothese, daß der Traum eines intelligibel strukturierten Universums vielleicht sogar ausgeträumt ist: »Randomness is where reason stops, it’s a statement that things are accidental, meaningless, unpredictable, and happen for no reason.«13 Natürlich kokettiert Chaitin nur mit diesem abgründigen Gedanken, aber dem Zufall öffnet sein Denken doch auch die Tür der Mathematik, wenn auch nur einen Spalt breit. Aber schon dabei wird einem ungemütlich. Für Chaitin hingegen sind die limitativen Theoreme alles andere als deprimierend. Im Gegenteil, sie versüßen uns den Abschied von einer axiomatischen Mathematik, hin zu einer experimentellen: »No more cold, dry formal axiomatic systems! A sensual, joyful theory of discovery, of creation, that’s what I want!«14 Hierbei beruft sich Chaitin gerne auf das monumentale Werk von Stephen Wolfram,15 der sich ebenfalls für eine quasi-empirische Mathematik ausgesprochen habe. Letztlich schwankt er aber dennoch in dem 12 Gregory J. Chaitin, The Unknowable, Singapore 1999, repr. 2000, hier: Is Mathematics Quasi-Empirical?, pp. 26 sq. 13 Gregory J. Chaitin, The Unknowable, op. cit., p. 22. 14 Gregory J. Chaitin, The Unknowable, op. cit., p. 110. 15 Gregory J. Chaitin, On the intelligibility of the universe and the notions of simplicity, complexity, and irreducibility, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie), ed. Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand, Berlin 2004, pp. 517–534, hier p. 517, 529, 531: Stephen Wolfram, A New Kind of Science, Wolfram Media, 2002.
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Punkt, ob die Welt von finiter oder infiniter Komplexität sei. Für erstere steht die relativ harmlose Zahl π, für letztere die Zahl Ω (Chaitin: »it’s a very dangerous number«).16 Im Falle infiniter Komplexität wird die Welt bedauerlicherweise ›incomprehensible‹, zumindest ein großer Teil des Universums. Das ist jedenfalls unvermeidlich, wenn mit Hervé Zwirn gilt: understanding is compression.17 Alles in allem plädiert Chaitin jedenfalls für eine nicht-triviale Begrenztheit unseres mathematischen Wissens. Hier bedarf es einer pünktlichen Überprüfung seiner Argumente. Die liegt inzwischen vor. Joachim Bromand hat in einer subtilen Rekonstruktion die Konzeption von Chaitin dargestellt und seine Gründe gewogen. So kann er zeigen, daß unabhängig von der Nicht-Komprimierbarkeit von Ω Chaitins Inanspruchnahme des Zufalls in der Mathematik »mehr als problematisch ist«.18 Trifft das zu, bricht seine vollmundige These vom quasi-empirischen Status der Mathematik in sich zusammen, aber auch das limitative Pathos von Grenzen der Mathematik insgesamt. Und das gilt selbst dann, wenn Ω tatsächlich »ein guter Anwärter auf den Status eines unlösbaren Problems zu sein [scheint]«.19 Bromand diskutiert in seinem Buch weitere limitative Konzep tionen, die insbesondere den Wissensbegriff betreffen. Anfangs geht er unter anderem auf das berühmte Paradox (knower paradox) von Frederic Brenton Fitch (1908–1987) ein, das in logisch nicht elaborierter Version lautet: Jedem Punkt unseres kontingenten Nichtwissens korrespondiert ein Punkt eines notwendigen Nichtwissens.20 Wenn ich zufälligerweise nicht weiß, daß hinter mir ein Killer steht, dann weiß ich notwendigerweise auch nicht, daß ich das nicht weiß. Besagt das aber etwas Grundsätzliches über unsere Wissensgrenzen? Vermutlich nicht, denn wenn wir jede Version einer präsumtiven Allwissenheit fallenlassen, gibt es immer noch ein tentatives Herantasten an das, was wir nicht wissen. Die nicht bestreitbare Kontingenz unseres Nicht-Wissens wird nicht durch eine formale Notwendigkeit dieses Nicht-Wissens geadelt. Die Logik ist nicht in der Lage,
Gregory J. Chaitin, On the intelligibility, op. cit., p. 531. Cf. Hervé Zwirn, Les Limites de la Connaissance, Paris 2000. 18 Joachim Bromand, Grenzen des Wissens, Paderborn 2009, § 5 und p. 153. 19 Joachim Bromand, Grenzen, op. cit., p. 154. 20 Joachim Bromand, Grenzen, op. cit., § 6–8. 16 17
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definitive Grenzen unseres Wissens, die es zweifellos gibt,21 bezogen auf das Korpus faktischen Wissens, zu ziehen, allenfalls über Inkonsistenzen. Und wenn sie es versucht, wird es trivial, weil sie die Unabsehbarkeit des Anwachsens unseres Wissens außer sich hat. Bromand plädiert daher für eine Strategie, die er vom späten Wittgenstein übernommen hat. Selbst wenn man akzeptieren muß, daß unser Wissen begrenzt ist, kann nicht gezeigt werden, welche Grenzen es sind. Gewiß gibt es »Tatsachen, von denen wir nicht wissen können«, aber den limitativen Theorien gelingt es nicht, »Fragen aufzuzeigen, zu denen es Antworten gibt, die wir aber nicht auffinden können«.22 Damit ist der geradezu mystische Zauber der limitativen Theorien dahin. Allerdings hat man den Eindruck, daß diese Debatte gar kein anthropologisches Fundament hat und damit formal über allen Wassern schwebt. Die überlieferten Versionen von Grenzen des Wissens spätestens seit Eriugena greifen hier wesentlich tiefer in das selbst explikative Wissen um uns ein. Das beginnende 21. Jahrhundert liebt das Limitative, aber offenbar nur um des Spektakulären und Sensationellen willen.23 Sehr viel ausdifferenzierter sind hier die Debatten um die nicht-begrifflichen Anteile unseres Wissens. Niemand würde es bestreiten, daß er Erfahrungen macht, die sich, wenn überhaupt, nur schwer begrifflich artikulieren und vermitteln lassen. Gewiß wird man einräumen müssen, daß unsere begrifflichen und propositionalen Erfahrungen ein methodisches Prius darstellen, »und dennoch die nichtpropositionalen Erfahrungsformen derart konzipieren, daß sie auf begriffliche Erfahrung irreduzibel bleiben«.24 Das besagt aber nur, daß die universale Struktur der Intelligibilität wesentlich heuristisch verfaßt ist, kein Fund stellt eine Suche final still, sondern läßt neue Fragen aufblühen, die vor dem Fund nicht 21 Cf. Timothy Williamson, Knowledge and its Limits, Oxford 2000. Hierzu Bromand, Grenzen, op. cit.: Wissensgrenzen in der Sprachphilosophie: Die epistemische Theorie der Vagheit, pp. 155 sq. 22 Joachim Bromand, Grenzen, op. cit., p. 236. 23 Das gilt für alle expressiven Felder, so auch in der Musik. Wenn man sich die Aufnahmen von Yuja Wang anhört, wird es unerhört, ja grenzwertig brillant. Das nötigt dem Zuhörer (mir auch) zwangsläufig Bewunderung ab, aber hier beginnt so etwas wie ein musikalischer Zirkus. Seien wir ehrlich: Der Virtuose seit dem 19. Jahrhundert exerzierte dieses Format immer schon. 24 Cf. Joachim Bromand / Guido Kreis, Was sich nicht sagen läßt, op. cit., Einleitung: Begriffe vom Nichtbegrifflichen. Ein Problemaufriß, p. 17.
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zugänglich waren. Genau das hat John Horgan in seiner Summe des limitativen Diskurses bei Naturwissenschaftlern des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht bedacht. Dennoch bleibt sein Plädoyer für ein neues, ironisches Format aller Wissenschaften sehr sympathisch.25
25 John Horgan, An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, Frankfurt ²2000.
13. Vom Limitativen zum Intensiven Der limitative Diskurs der Moderne hat uns auf expressive Grenzen von formalen Systemen und Kalkülen aufmerksam gemacht, deren Architektur so gebaut ist, daß sie gewissermaßen ›auf einen Schlag‹ nicht alles können. An irgendeiner Stelle bleiben expressive Defizite, die unvermeidlich sind. Diese gehen zumeist auf logische Fallen der Selbstreferenzialität zurück, aber auch darauf, daß man vergißt, daß jedes epistemische Ziel, um erreicht werden zu können, auch seinen Preis hat. Darauf hat schon Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts Hermann Weyl aufmerksam gemacht: »Wer das Absolute will, muß die Subjektivität, die Ichbezogenheit, in Kauf nehmen; wen es zum Objektiven drängt, der kommt um das Relativitätsproblem nicht herum.«1 Nun braucht man nicht direkt das Absolute zu ›wollen‹, aber wenn man an ihm auch nur ausgerichtet ist, mischt sich unvermeidlich Subjektives mit ein. Ebenso ist eine Ausrichtung auf Objektivität ohne Minderung des Subjektiven, also ohne Inkaufnahme einer gewissen Relativität, nicht zu haben. Diese Bilanz schlägt auf Formen einer Modalisierung des Absoluten und des Objektiven durch und prägt damit auch das Leben selbst. Formate einer Ausrichtung auf Absolutes, das als solches uninterpretiert bleiben mag, also expressive Formate eines Denkens, das aufs Ganze geht, weisen stets einen hohen Anteil an Subjektivität auf. Das beweisen Künste und religiöse Modelle. Modalisierte Formen des Objektiven hingegen bezahlen ihre weitgehende Subjektfreiheit mit einer irreduziblen Angewiesenheit auf Bezugsysteme. Das beweisen Naturwissenschaft und Technik. Daß dennoch auch hier eine gänzliche Subjektfreiheit nicht möglich ist, belegt die unentbehrliche Rolle des Beobachters.
Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft (Handbuch der Philosophie, eds. Alfred Baeumler / Manfred Schröter, Abt. II), München 1927, p. 83. 1
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Objektivität verlangt allerdings keine weitergehende Anteilnahme. Eine über sich selbst aufgeklärte Ausrichtung auf ein uninterpretiertes Absolutes allerdings schon. Da beides in modalisierter Form eine Erfahrungsbasis haben muß, sollte hier ein reicher, ja umfassender Empirismus ins Auge gefaßt werden. Das, was wir Erfahrung nennen, hat mit dem Kochtopf der Sinneserfahrungen nicht mehr oder weniger zu tun als mit dem Eispalast unserer Ratio nalität. Der hier inaugurierte Empirismus reicher Art muß mithin sogar in seiner Erfahrungsbasis die Strukturen unserer Intelligibilität verspüren und aufweisen können, um schließlich so etwas wie eine ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins‹ (Hegel) zu sein. Ein solcher Empirismus hat im Gegensatz zu seinen historisch überkommenen Formen jedenfalls keine reduktiven oder sogar eliminativen Eigenschaften: die gesuchte Erfahrungsbasis darf ja gerade keine Erfahrungsart ausschließen. Nicht nur der esprit de finesse, sondern auch eine logique du coeur müssen hier zusammen beheimatet sein. Erst dann ergibt sich das Gefälle zur modernen Befindlichkeit, die in Schwundstufen des Lebensgefühls terminiert, wie sie Tristan Garcia jüngst diagnostiziert hat.2 Denn, wie man spätestens seit Kafka weiß: das Leben widersetzt sich dem Denken und das Denken widersetzt sich dem Leben.3 Die Moderne kultiviert das Intensive, gerade da, wo sie ihr Lebensgefühl im Extensiven, Quantitativen und Digitalen nicht wiederfinden kann. Es fühlt sich nur geküßt in den schrillen Momenten singulärer4 Intensität, wie sie, in der Pop-Kultur zumal, massenhaft produziert wird. Hier bedarf es einer Ethik, die mit den intensiven Vereinseitigungen fertig werden kann. Sie muß uns Fingerzeige für Wege geben, die es uns gestatten, zwischen der Skylla des bloß Extensiven und der Charybdis des Intensiven hindurch zu navigieren und »jede Hegemonie des einen über das andere zu verhindern«.5 Wie mag das funktionieren? Garcia stellt sich gerade diesem Problem: »Auf die Frage ›Wie sollen wir leben?‹ besteht die einzige wahre ethische Antwort (…) darin: ›So, dass wir nicht das Gefühl verlieren ein lebender Organismus zu sein‹.«6 Es geht mithin 2 Tristan Garcia, Das intensive Leben. Eine moderne Obsession, Berlin 2017; franz. La vie intense. Une obsession moderne, Paris 2016. 3 Cf. Garcia, Das intensive Leben, op. cit., p. 195 sq. 4 Eine ganz ähnliche Diagnose bietet Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017. 5 Garcia, Das intensive Leben, op. cit., p. 202. 6 Garcia, Das intensive Leben, op. cit., p. 204.
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um die Rettung der ›wahren Empfindung‹, wie Peter Handke sagen würde, die eben »nicht auf etwas anderes reduziert werden kann«.7 Von dieser nicht reduzierbaren ›wahren‹ Empfindung, die wir in Feinfühligkeit, in Formen der Zärtlichkeit, mithin, wie Goethe bemerkte, in allen Formen ›zarter Empirie‹ durchaus kennen und schätzen, denkt Garcia geradezu im euphorischen Glanz einer Rettung des Humanen: »Dies ist der innere Schatz jedes Wesens, das etwas fühlt, die Perle seiner Empfindungen, der Teil von ihm, der nur ihm gehört …«8 Obwohl Garcia die Karriere der Intensität aus dem 18. Jahrhundert und aus der damals spektakulären Entdeckung der Elektrizität her entwickelt (Der Kuss von Leipzig),9 um die modernen Formen der Intensität als eines ›Wie-elektrisiert-sein‹ historisch zu motivieren, wäre es ebenso gut möglich gewesen, von seinem Finale in einer rettenden Empfindung auf Autoren zurückzugehen, die eben diese in ihrer Ambivalenz auch in den Mittelpunkt gestellt haben. Dazu gehören insbesondere Dichter, manchmal gerade die unbekannten. Einer von diesen war Walter Calé. Er war am 8. Dezember 1881 in Berlin geboren und starb schon am 3. November 1904 zur entsetzten Überraschung seiner Freunde von eigener Hand. Bekannt, ja unglücklich befreundet war er mit Gertrud Mayer (1879–1974), verheiratet mit Karl Jaspers seit 1910.10 Walter Calé war eine exorbitante lyrische Frühbegabung, studierte dennoch Jura, brach dieses Studium jedoch mitten in der Prüfungsphase ab, um sich der Philosophie, insbesondere Plotin zuzuwenden. Zu diesem und zum Neuplatonismus bis Proklos hatte Calé eine umfangreiche Studie ausgearbeitet. Noch am 4. März 1904 bittet ihn Gertrud Mayer in einem Brief aus Königstein darum, ihr doch seine ›Plotinarbeit‹ zu schicken. Er tat es nicht und von ihr ist nichts erhalten geblieben, denn unmittelbar vor seinem Freitod hat er die meisten seiner Werke vernichtet. Daß wir überhaupt noch Kenntnis von dieser Sonderbegabung haben, verdanken wir der Edition des zum Teil aus Zu-
7 Garcia, 8 Ibid.
Das intensive Leben, op. cit., p. 207.
Das intensive Leben, op. cit. p. 29 sq. Der Briefwechsel zwischen Gertrud Mayer und Walter Calé befindet sich als Teil des Jaspers-Nachlasses im Literaturarchiv Marbach, dem ich für die Möglichkeit einer Einsichtnahme danke. 9 Garcia,
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fall erhaltenen Nachlasses durch Arthur Brückmann, einem engen Freund von Calé.11 Immerhin hat Fritz Mauthner diesem Band ein Vorwort beigesteuert, obwohl er Calé nie persönlich begegnet war und sein Wissen über ihn ausschließlich aus den nachgelassenen Schriften bezog. Dieser Band fand seinerzeit auch Resonanz. Gustav Landauer, Mitstreiter Mauthners, widmete Calé 1907 einen sehr kritischen Rückblick,12 Guido K. Brand 1929 ein kurzes Kapitel in seinem Buch Die Frühvollendeten.13 Noch 1954 erschien eine kurze Gedenknotiz von Kurt Oppert.14 Warum ist Calé in unserem Zusammenhang aber überhaupt erwähnenswert? Einfach deshalb, weil er aus der Erfahrung einer entgleitenden Präsenz dichtete und zugleich die Unvertretbarkeit der wahren Empfindung entdeckt hat. Die entgleitende Präsenz entnimmt man leicht einer Überlegung im Tagebuch (1904), wo er über die ›List der Gottheit‹ meditiert, unsere Bemühungen auf eine Unendlichkeit auszurichten, die sich am Ende, wenn unser Bemühen gelingt, sich doch nur als Kreis erweist. Dann in der Tat haben wir »ein Unendliches geleistet, nicht so, daß wir (…) gleichsam eine unendliche Grade beschrieben, sondern indem wir den nirgend ein Ende habenden Kreis vollbrachten: gnädige List der Gottheit!«15 Die Vollendungsform unserer göttlich verordneten Bemühungen hat hier zugleich etwas Deprimierendes: Wir drehen uns im Kreis. So verlieren wir zugleich unseren Halt in einer Präsenz, die uns herausfordernd stimuliert. Damit bietet Calé zugleich eine extrem düstere Auslegung von Plotin, der in den Enneaden die Kreisförmigkeit der Seele gerade umgekehrt als ihr signum dei verstanden wissen will, gewissermaßen als domestizierte Unendlichkeit, an der wir alle teilhaben.16 Der kreisförmige Adel wird bei Calé dagegen zum Zeichen des Stillstands, dem nicht zu entkommen ist. 11 Walter Calés Nachgelassene Schriften. Mit einem Vorwort von Fritz Mauthner, ed. Arthur Brückmann, Berlin 1907. 12 Gustav Landauer (im letztwilligen Auftrag des Verfassers herausgegeben von Martin Buber), Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, Potsdam 1921, pp. 343–348. 13 Guido K. Brand, Die Frühvollendeten. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte, Berlin / Leipzig 1929, pp. 265–273. 14 Kurt Oppert, Zum Andenken an Walter Calé, in: Wirkendes Wort 5. Jahrg. (1954), pp. 53–54. 15 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 331/332. 16 Cf. Enn. VI, 9, 8, Z. 13–15: κύκλος ἡ ψυχή.
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Dabei hatte er gegenläufig durchaus ein Instrumentarium, um dieser Fatalität zu entkommen. Das war sein Ausdruck ›Nuancen erfahrung‹.17 Sensibel ist, wer für Wahrnehmungsausnahmen empfänglich ist. Der Souverän ist zwar immer eine Differenz und ihr gegenüber sind wir tributpflichtig, denn in ihr haust das wilde Sein (être sauvage).18 Aber ein Wahrnehmungsglück gibt es nur im Ausnahmefall der Nuance. Jedenfalls kündigte sich schon hier bei Calé die Idee eines reichen Empirismus an, wie er erst sehr viel später durch Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ausgearbeitet wurde. Walter Calé, Walter Benjamin und Adorno waren seismographische Denker eines Individuellen mit dunklen Augen, deren Blick uns in der Moderne abhanden zu gehen droht. Was uns fehlt, ist, man kann es nicht anders sagen, die Stimme einer durchaus jüdischen Sensibilität für Zonen einer sprechenden Fragilität unseres Existierens. Die robusten Rückrufe auf die logischen Implikaturen kommunikativen Handelns verdecken diese Basiserfahrung von Nuancen. Diese machen unverzichtbare Eigenheiten zugänglich, die allerdings begrifflich bedroht sind. ›Nuancen‹, so schreibt Calé, »scheinen oft dadurch vernichtet zu werden, daß sie, um ausgedrückt zu werden, in das Geleis der altgewohnten Terminologie hineingleiten, die den Erfahrungen gerade die individualisierenden Ecken abscheuert«. Das hätte ebenso Benjamin wie Adorno schreiben können. Doch Calé überbietet die individualitätssteigernde Wirkung der Nuance noch durch den Hinweis: »einem bestimmten Individuum stehn überhaupt nur einige bestimmte Arten der Nuancenerfahrungen zu Gebote und zur Auswahl (…): infolgedessen diese Terminologie auch in hohem Maße für alle künftigen solche Erfahrungen sich passend erweisen wird«.19 Wie so viele Eintragungen in seinem Tagebuch faßt er einmal treffend den anthropologischen Unterbau seiner Befunde so zusammen: »Das beste [sic] in sich, seine eigene Naivität, kann niemand genießen: denn an irgendeiner Stelle der Seele ist 17
Eine moderne Einlösung dieses Projektes bietet das kürzlich erschienene Buch von Karl Heinz Bohrer, Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, Berlin 2017. Cf. zudem Wolfgang Lange, Die Nuance. Kunstgriff und Denkfigur, München 2005. 18 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, ed. Claude Lefort, Paris 1964: Ce melange du monde et de nous; dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, trad. Regula Giuliani / Bernhard Waldenfels, ed. Claude Lefort, München 1994², p. 161. 19 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 388/89.
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jeder naiv.«20 Was jeder ist, kann man eben nicht genießen. Warum eigentlich nicht? Es handelt sich doch um das unverlorene Kind in uns. Das ist jedenfalls ein starkes Argument für eine naturwüchsige Demokratie der Empfindung, die schon besteht, bevor abgestimmt werden kann. Man kann den sound der Gedichte von Calé nur schwer beschreiben, er changiert zwischen Hofmannstahl, George und Rilke, hat aber durchaus Züge eines Zukünftigen, das noch nicht zur expressiven Reife gekommen ist. Daher möchte ich hier wenigstens eine Kostprobe bieten, die im Hintergrund Plotin und auch Nietzsche vermuten läßt: DER DENKER
Was sich in Zeiten je begeben hab’ ich vor aller Zeit gewußt: es springt der Quell von allem Leben geheimnisvoll aus meiner Brust. Und als ich in der Schrift gelesen, erlas ich nur, was ich schon bin; in Finsternis sind alle Wesen, doch ich das Licht und ich der Sinn.21
Wenn man das ›ich‹ in der letzten Zeile emphatisch betont, hat man das Echo eines egomanen Nietzsche, wenn man es nicht emphatisch liest, einen anamnetischen Plotin. Calé ist aus diesem Zwiespalt nicht herausgekommen. Er hatte seinen Primärnarzißmus noch nicht abgearbeitet und ihn noch nicht in ein Duplex integrieren können, das ihn mit einer versöhnlichen Verschränkung zwischen Denken und Empfinden ins Leben hätte entlassen können. Gustav Landauer zählt ihn daher zur Décadence seiner Zeit, ja rechnet ihn zu Leuten zweiten Ranges, muß seinem Werk aber zugestehen, »irgendwie verbirgt sich doch, wie beim Raubtier die Klaue, eine verhaltene Macht, eine ausbruchsbereite Originalität«.22 Sein Mangel ist schließlich, so Landauer, nur der, »daß ihm die dämonische Natur fehlt«.23 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 391. Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 73. 22 Gustav Landauer, Der werdende Mensch, op. cit., p. 345. 23 Gustav Landauer, Der werdende Mensch, op. cit., p. 347. 20 21
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Vermutlich hat Landauer recht, indes: Eine auch heute noch irritierende, in mancher Zeile sogar betörend änigmatische Stimme war Calé sehr wohl: Da kamen weiße Kinder (…) Sie locken und sie winken, sie flüstern tief und viel, da waren wir nur Kinder und waren mit im Spiel.24
Calé war in der Tat mit im Spiel. Aber zugleich auch nicht. Diese Dissonanz konnte er zuletzt nicht in ein Duplex, dessen Spannung einfach auszuhalten war, umsetzen. Über seine Grenzen machte er sich auch keine Illusionen. In seinem Tagebuch notierte er einmal lapidar: »Ich bin zu intellektuell.«25 Und George charakterisiert er im selben Tagebuch einmal mit offenkundigem Selbstbezug: »Stefan George hat ein Erlebnis: das Nichterleben-können. Dies dichtet er.«26 Ob er nun George damit gerecht wird oder nicht, es geht um Calé selbst. Und besser kann man sein Verfehlen des Duplex von Empfindung und Intellektualität gar nicht ausdrücken. Ausnahmefiguren wie Walter Calé verdienen jedenfalls unsere erinnernde Zuwendung ebenso übrigens wie der leider vergessene Musiker Mitja Nikisch (1899–1936), Sohn des berühmten Dirigenten Arthur Nikisch. Das Klavierkonzert von Mitja Nikisch, nach seiner Tanzmusik gewissermaßen sein kompositorisches Vermächtnis, entstand erst 1936, kurz vor seinem Freitod in Venedig. Dieses Konzert, zumindest im 1. Satz auch von Sergej Rachmaninoff inspiriert, läßt ein wehmütiges Duplex von Empfindung und Intellektualität erklingen, das auch als musikalischer Zeitkommentar gehört werden darf.27
Walter Calé, Lieder (1902–1903), in: ders., Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 82. 25 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 368. 26 Walter Calé, Nachgelassene Schriften, op. cit., p. 365. 27 Das Konzert wurde zeitbedingt erst 1941 in Paris uraufgeführt (Dirigent: Charles Münch; Pianist: Kostia Konstantinoff). In Deutschland erklang dieses wunderbare Konzert erst 1988 in München (Dirigent: Kurt Graunke; Pianist: Howard Shelley). Hiervon gibt es einen Mitschnitt auf CD. 24
14. Wechsel des Vokabulars Umbrüche in der Philosophie verdanken sich häufig nur einem Wechsel des Vokabulars. Man muß bedenken, daß bis zu Franz Brentano (1838–1917) der mittelalterliche Begriff (seit Hervaeus Natalis) der Intentionalität völlig in Vergessenheit geraten war. Zwar war das Phänomen der mentalen Ausrichtung auf etwas Gemeintes bei allen Philosophen eine Selbstverständlichkeit, indes: die Analyse mußte sich umständlicher Begrifflichkeiten bedienen, die Brentano mit einem Schlag durch seinen Rückgriff auf die intentio plausibel vereinfachte. Edmund Husserls (1859–1938) Phänomenologie wäre ohne dieses neue Vokabular gar nicht denkbar. Bis heute ist Inten tionalität als Grundeigenschaft des Mentalen anerkannt, obschon sie physikalisch nicht formuliert werden kann. Vielleicht nur einstweilen nicht. Immerhin war es ja möglich, daß eine strukturbildende Voraussetzung für Schellings Vision eines autoepistemischen Universums plötzlich sogar physikalisch lesbar wurde. Vor einem halben Jahrhundert, also Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, kam es zu spektakulären Versuchen der Physik, die Formbildungsprozesse der Natur auf neue Weise faßlich zu machen. Das Konzept der Selbstorganisation war der Favorit und gewann sogleich abstrahlende Wirkung über die Physik hinaus. Die Devise Vom Sein zum Werden, wie sie der Physikochemiker Ilya Prigogine (1917–2003) im Anschluß an Alfred North Whitehead (1861–1997) ausgegeben hatte,1 war ja in der Tat von so hoher Allgemeinheit, daß sie nicht nur für Physik, Chemie, Biologie und Lasertheorie, also für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Geisteswissenschaften und hier insbesondere für die Soziologie attraktiv wurde, da es in allen Bereichen stets um nichtlineare, dissipative Strukturbildungen ging. Der auslagernde Schritt in die Sozialwissenschaften wurde vorbereitet durch den Biophysiker Heinz 1 Ilya Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München / Zürich 1970.
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von Foerster2 und explizit mit einer universalistischen Gebärde von Humberto Maturana vollzogen.3 Der Physiker Hermann Haken (geb. 1927) nannte die neue Wissenschaft von Strukturbildungen Synergetik, also Lehre vom Zusammenwirken,4 und es ist beachtlich, daß insbesondere die Naturwissenschaftler von Anfang an daran interessiert waren, die Konzepte der Selbstorganisation in einer philosophischen Einbettung zu präsentieren. Das hatte auch gute historische Gründe. Der erste Philosoph, der die Eigentümlichkeit von Organismen, in ihrem Aufbau nicht mechanisch erklärbar zu sein, erkannt hatte, war Immanuel Kant. Er verwendete auch zum ersten Mal den Ausdruck ›Selbstorganisation‹. An Kant knüpfte Schelling in einer expliziten Theorie einer sich selbst organisierenden Natur an, die verblüffende terminologische Vorwegnahmen der modernen naturwissenschaftlichen Theorie bietet. Marie-Luise Heuser-Keßler hat diese Vorwegnahmen in ihrer Dissertation 1986 prägnant heraus gearbeitet.5 Vor diesem Hintergrund hat schließlich auch Niklas Luhmann das Vokabular der Soziologie komplett auf das Paradigma der Selbst Heinz von Foerster, On Self-organizing Systems and their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron (eds.), Self-organizing Systems. Proceedings of an Interdisciplinary Conference, Oxford 1960, pp. 31–50. 3 Humberto Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982. 4 Hermann Haken / Robert Graham, Synergetik. Die Lehre vom Zusammenwirken. Was verbindet die Physik, Chemie und Biologie?, in: Umschau in Wissenschaft und Technik 6 (1971), pp. 191–195. 5 Marie-Luise Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986, pp. 40 sq. Schon in ihrer Staatsarbeit von 1981 hat Heuser-Keßler diese Bezüge ausgearbeitet. Ihre Ergebnisse übernahm dann Bernd-Olaf Küppers (Natur als Organismus. Schellings Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt / M. 1992). – Es ist erstaunlich, daß in jüngster Zeit eine mechanistische Betrachtung auch für Organismen (new mechanistic approach) wieder diskutiert wird. So argumentieren Beate Krickel et al. für eine Option, daß jede phänomenale Gegebenheit (also auch Organismen), insofern sie erklärt werden können (phenomenon-to-be explained), im Sinne von Carl Craver mechanistisch erklärt werden, wenn man nur den mechanistischen Zugriff für higher-levelinterventions durchlässig macht. Diese Diskussion ist allerdings ohne jede philosophische Bedeutung und führt ein modelltheoretisches Eigenleben. Cf. Marie I. Kaiser / Beate Krickel, The Metaphysics of Constitutive Mechanistic Phenomena, in: The British Journal for the Philosophy of Science 19 (2016), pp. 1–35. 2
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organisation umgestellt. Die Pointe seiner durchaus genialen Systemtheorie ist ihr abstraktiver Zug in eine entmodalisierte Anonymität, in der herkömmliche Agenten wie Individuen, Subjekte und Kollektive keine Rolle mehr spielen, der einzige Agent ist das universelle System in seiner variierenden Umwelt, die Gesellschaft der Gesellschaft. Das System ist es zuletzt, das über die Köpfe der Einbezogenen6 hinweg entscheidet und autopoetisch operiert. Das System handelt nicht eigentlich, sondern kommuniziert vergesellschaftend seinen eigenen rekursiven Selbstaufbau, sein Sein ist mit seinem ›selbstigenden‹ modus communicandi identisch: »Kommunikation ist Rekursivität«.7 Das System dirigiert, wie wir uns in ausdifferenzierten Narrativen zu verstehen haben, wenn wir es nur könnten. Das tun wir aber nur bedingt. Zonen des Nicht-Verstehens, Zonen des Nicht-Wissens, Zonen der Kontingenz können wir nicht entfliehen. Deshalb kann Kommunikation nicht stillgestellt werden. Sie bleibt bei sich im Modus einer unerfüllbaren Selbstverständigung: »nur die Kommunikation kann kommunizieren.«8 Was Luhmann hier vor Augen hat, ist schwer verständlich. Der Sog des späten Luhmann zu Tautologien wie Gesellschaft der Gesellschaft, Kommunikation der Kommunikation etc. ist ebenso rätselhaft wie verräterisch. Das Wiederauftauchen von Strukturprodukten in eben den Produkten der Struktur, von Formen in Formen (re-entry) simuliert zwar die reflexive Verfassung samt ihren Paradoxien. Luhmann nimmt diese aber ausdrücklich in Kauf, denn nicht überall haben sie verheerende Folgen wie die Antinomien der Mengenlehre, manchmal zeigt sich in ihnen ein Grundzug der Welt, d. h. die früher nur spekulativ greifbare Identität ihrer Identität und Nicht-Identität zugleich: »die in die Form wiedereintretende Form ist dieselbe und nicht dieselbe Form.«9 Kein Wunder, daß Luhmann wenige Zeilen zuvor auf Nicolaus Cusanus verweist, der aus dieser autologen Operation theologisches Kapital zu schlagen bestrebt
6 Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen, Frankfurt / M. 2017, p. 125. 7 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt / M. 1997, p. 74 Anm. 94. 8 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt / M. 1990, p. 31. 9 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 59.
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war.10 Einen Zugang zu diesen schwierigen autologen Verhältnissen kann man sich verschaffen, wenn man auf die Sprache achtet. Sie ist schon von sich aus der unhintergehbare Kommunikator, der über unser Verstehen befindet. Sie ist in diesem Sinne und mit Ferdinand de Saussure11 ein System (langue), in das wir als Sprecher einbezogen sind und von dem her wir die Direktive für unser Sprechen (parole) beziehen. Gerade die in der Tradition so genannten kategorialen Distinktionen wie formal-material, subjektiv-objektiv, intern-extern, qualitativ-quantitativ, analog-digital etc. sind uns vom System Sprache schon zugute gesprochen, bevor wir auch nur ein Wort sagen. Das hat vor de Saussure bereits Wilhelm von Humboldt gesehen, auf den Luhmann hier auch verweist und ihn zu Worte kommen läßt: »Der Sprecher [muß] eine objektive Form wählen und sein Eigentum am gesprochenen Wort aufgeben (…). Die Sprache verselbständigt sich.«12 Das merken wir daran, daß es zu diesen kategorialen Distinktionen keinen Oberbegriff gibt, keine Quelle, keinen Autor. Für Humboldt spricht hier die menschliche Natur, für Luhmann die Gesellschaft als System. Das System parkettiert den anonymen Aktionsboden unserer kommunikativen Realität. Man liebt oder tut es nicht, gibt Anweisungen oder unterläßt es, sagt die Wahrheit oder tut es nicht etc. Die meisten Verlegungen unseres kommunikativen Parketts sind binär codiert und bieten uns so ein Sprachgitter, hinter dem wir uns kommunikativ finden (Konsens) oder verfehlen (Dissens). Für die Systemtheorie der Gesellschaft ist dieses Differenzdenken typisch, da sie »Gesellschaft selbst als Differenz begreift«.13 Das liegt schon daran, daß die Differenz System / Umwelt fundamental ist. Nur zufolge dieser Differenz ist sich jedermann auch ein anderer, gibt es Ich und Nicht-Ich, gibt es Ego und Alter, gibt es Reflexivität. Diese Zirkularität ist aber nicht defizitär, sondern geradezu kreativ, ja ihr ist es zu verdanken, »daß die Selbstreferenz sozialer Systeme eine immanente Dualität zur Voraussetzung hat, damit ein Zirkel entstehen kann, dessen Unterbrechung dann Strukturen entstehen läßt«.14 Luhmann hält es geradezu für ein 10 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 58 Anm. 71. 11 Cf. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 209 Anm. 32. 12 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 109. 13 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd.1, op. cit., p. 591. 14 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 333.
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Definiens sozialer Systeme, »daß sie eine selbstkonstituierte Zweiheit brauchen, um strukturdeterminierte Systeme sein zu können; und daß dies nicht eine von außen (qua Mensch) importierte, sub stanziell vorgegebene Zweiheit sein kann«.15 Hier erreicht Luhmann ein Duplex, das keine Konvention, keine Tradition, kein Dekret ist, sondern die autologe Struktur des Systems und seiner struktur generierenden façon d’être selbst. Den Terminus ›autolog‹ verwendet Luhmann, um den Umstand zu akzentuieren, daß der Theoretiker, der Soziologe also, mit zu dem gehört, was er analysiert. Indem er über die Gesellschaft spricht, spricht er immer auch über sich selbst. Um mit diesem Problem fertig zu werden, empfiehlt Luhmann am Ende eine methodisch paradoxe Einheit von Konstruktivismus und Dekonstruktivismus.16 Von Interesse ist an dieser Stelle zudem Luhmanns Verwendung der komplexitätsreduzierenden Kategorie Sinn. Sie wird, wie bei Luhmann üblich, durch eine Differenz konstituiert, durch die Differenz zwischen Aktualität und Möglichkeit, näherhin durch eine »Modalisierung der Aktualität durch die Unterscheidung aktuell / möglich«.17 Durch solche Modalisierungen vermehrt sich die Welt, aber stets im Horizont von Sinn. Formen erzeugen sich durch Unterscheidungen, Differenzierungen und werden so zu Regulatoren einer unbegrenzten Wahrnehmungsfortsetzung. Luhmann gesteht zu, daß sein Begriff der Form eine gewisse Ähnlichkeit mit Hegels Begriff des Begriffs habe. Allerdings bezeugen in der Systemtheorie der Gesellschaft Formen nie die Macht des Geistes, Kontraste zu versöhnen, es bleibt bei bloß autopoietisch in Anspruch genommenen Differenzen, mithin bei anonymen Asymmetrien, die nicht getilgt werden. Luhmann hat keine Berührungsängste mit der Philosophie und kann sie auch nicht haben, dafür ist sein Abstraktionsgrad viel zu hoch. Insbesondere schätzt er reflexive Gedankenfiguren des Neuplatonismus, Hegels, Husserls, auch Heideggers. Daß das Konzept der Autopoiesis, speziell der Selbstreferenz, auch bei ihm durchaus ein metaphysisches Aroma verströmt, war Luhmann bewußt. »Will man den Terminus [Metaphysik] beibehalten, so könnte man 15 Ibid.
Cf. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, op. cit., p. 1135. 17 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 50. 16
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Metaphysik charakterisieren als Lehre von der Selbstreferenz des Seins.«18 Ob sich die Systemtheorie letztlich in eine Metaphysik der Form auflösen würde, um der Selbstreferenz des Seins gewachsen zu sein, will Luhmann offen lassen, obwohl er freimütig zugibt, daß »ein Zusammenhang nicht bestritten werden [kann]«.19 In der Tat hat Luhmanns Systemtheorie mit der ihr inhärenten, quasi lächelnd eingeräumten positiven Rolle von Inkonsistenzen, Paradoxien und blinden Flecken (Operationen sind sich selbst opak) eine große Nähe zu Metabolismen des Nichtwissens: »Luhmanns Theorie versteht sich geradezu als Spürprogramm für Paradoxien, Widersprüche und Tautologien, also für all das, was in der Logik als anstößig gilt.«20 Diese Anstößigkeit verliert sich aber, wenn man sein System in die Tradition der Systeme des Neuplatonismus bis zu Cusanus und Heidegger zurückstellt. Schon sein logischer Gewährsmann George Spencer Brown (1923–2016) hat diese historische Affinität, übrigens speziell zu Proklos, verraten.21 Der ›Zusammenhang‹ von Systemtheorie und Metaphysik droht am Ende in den Befund einzumünden, daß wir es hier faktisch mit einer modernen Form der Metaphysik zu tun haben. Sei es die Selbstreferenz des Seins (Luhmann), sei es Existenz als selektive Blindheit (Spencer Brown): Kein System kommt ohne Fingerzeige zu einer Ontologie aus, die ins Nichtwissen hineinragen. Das trennt Luhmann vor allem von Jürgen Habermas. Auch dessen ›Theorie kommunikativen Handelns‹ ist gewiß ein Großversuch einer universalisierten Soziologie, die zugleich wie Luhmann die philosophische Tradition mit beerben möchte. Aber sie verfügt über keine ontologische Perspektive mehr: Deliberation bleibt bei ihm ontologisch blind, auch gefühllos.22 Wer Sein will, wird von Habermas umstandslos auf das Gleis des Sollens Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / M. 1984, p. 143. 19 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, op. cit., p. 145. 20 Walter Reese-Schäfer, Luhmann zur Einführung, Hamburg ²1992, p. 75. Luhmann hat sogar eine veritable Ökologie des Nichtwissens kreiert; cf. ders. Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, pp. 149–220. 21 Cf. George Spencer Brown, Laws of Form / Gesetze der Form, trad. Thomas Wolf, Lübeck 1997, p. 78. 22 Jörg Baberowski hat in seinem Buch Räume der Gewalt darauf hingewiesen, daß in der gesamten Theorie kommunikativen Handelns, die er treffend einer »Widerspiegelung des postheroischen Weltempfindens« zurechnet, z. B. »Gewalt als Möglichkeit sich anderen gegenüber zu behaupten, überhaupt nicht vorkommt« (ders., Räume der Gewalt, Frankfurt / M. 2015, p. 19). 18
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abgeschoben, d. h. ins Stimmengewirr des politischen Klassenzimmers geschickt. Reese-Schäfer, ebenso kundiger wie kritischer Leser von Habermas und Luhmann, hat ihre Verwandtschaft und Differenz einmal treffend so illustriert: »Luhmanns Konstruktionen sind Glaskathedralen der Theoriearchitektur, während Habermas eher der lebensweltorientierten (…) Altbausanierung zuneigt.«23 Welche epistemische Rendite erwirtschaftet aber nun Luhmanns Glaskathedrale? Das Verfahren der Modalisierung, das wir eingangs bei Carl Schmitt und Martin Heidegger kennengelernt hatten, trifft man, wie gezeigt, auch in Luhmanns Systemtheorie an. Bei ihm handelt es sich aber nicht um den Modus einer Realmodalisierung, die abstrakte Verhältnisse auf politische oder existenziale Vollzugsformen ›herunterbricht‹, um eine Bedeutungshaltigkeit zu gewinnen, die zur elementaren condition humaine gehört. Bei Luhmann handelt es sich vielmehr bloß um eine formale Modalisierung, die das aktuelle Sinnfeld des Systems um Potentialitäten erweitert, die das Feld also zwar amplifizieren, aber mehr auch nicht. Die formale Modalisierung bleibt bei Luhmann evaluativ zahnlos. Sie produziert Perspektiven ohne Ende, aber zeichnet keine aus. Der deskriptive Grundzug der Systemtheorie Luhmanns erhöht so zwar die funktionale Durchsichtigkeit seiner Glaskathedrale, mindert aber zugleich ihre normative und damit auch explanatorische Kraft. Diese defizitäre Drift verdankt sich bei ihm wieder dem Vorrang der Differenz vor der Identität. Wo Strukturen des sozialen Gesamtprozesses exklusiv über Unterscheidungen rekursiv erzeugt werden, fehlt so etwas wie eine Phantasieschranke oder ›Distinktionsbremse‹, es sei denn eine solche ist die Kommunikation selbst. Aber dann wird alles zirkulär. Erst eine solche Bremse jedenfalls wäre als finalisierte Differenzanzeige so etwas wie ein Indikator für erreichte Realitätshaltigkeit. Weil eine solche Bremse indes fehlt, läuft das System leer bzw. dreht geradezu durch. Seine Anonymität wird an keiner Stelle onomatisiert und gewinnt so keinen szenischen Kontakt zur Wirklichkeit. Denn diese wird erst sichtbar, wenn wir mit Carl Schmitts verwegenem Vorschlag Name und Nahme zusammendenken. Bei Luhmann gibt es kein Gründungsgeschehen, keinen Urheber welcher Art auch immer. Das System lebt zwar aus dem Duplex seiner variierbaren Verhältnisse zur Umwelt, läßt diese Verhältnisse aber im Variationsreichtum gleichsam ›absaufen‹: das Duplex ertrinkt im 23
Walter Reese-Schäfer, Luhmann, op. cit., p. 169.
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Komplex. Im Spiegelspiel der Glaskathedrale fühlt sich daher bestenfalls Narziß zuhause. Ingo Meyer hat in einer kontextsensitiven Studie zu Simmels Ästhetik treffend bemerkt, daß Niklas Luhmann wie auch Pierre Bourdieu Konzeptionen vorgelegt haben, die tendenziell deduktiv ausgelegt sind. Bei Luhmann ist das geradezu gewollt angezeigt, schon mit seinem deklamatorischen Eingangssatz: Es gibt Systeme. Meyer weist darauf hin, daß für diese Systeme ihr »Grundriss längst steht«, um dann die jeweiligen Gegenstände als Systemstellen wie Liebe, Recht, Kunst etc. bloß noch herunter zu deklinieren.24 Dadurch geht gerade im ästhetischen Feld der genuine szenische Eigensinn des Individuellen, wie wir ihn oben bei Walter Calé akzentuiert hatten, verloren. Der einzige Soziologe, übrigens auch Georg Simmel nur in Ansätzen, der sich eine Sensibilität für die szenische und prägende Kraft des Individuellen bewahrt hat, war, so Meyer, Theodor Wiesengrund Adorno. Ihm gelingt es gerade als sensibler Beobachter in Texten wie den Minima Moralia, frühen musiksoziologischen Apercus, auch in den ›Meditationen zur Metaphysik‹ in seiner späten Negativen Dialektik immer wieder, ein »Detail als Lackmuspapier« zu verwenden, um den Leser selber in die Rolle als induktiven Soziologen hineinwachsen zu lassen. Wer sich auf diese Strategie Adornos eingelassen hat, kann die sprechende Kraft des Details nicht mehr vergessen und sieht inskünftig die Welt anders: »Man muss nicht Adornos düster beschworenen Verhängniszusammenhang teilen, um doch zu verstehen, wie induktive ästhetische Soziologie vorgehen kann: Das zufällige, aber quälende Bild aus der Kindheit definiert als formative Situation fortan, was Humanität bedeutet.«25 Was Adorno in der Tat in dieser Präsentationform gelingt, ist etwas, wovon heute eigentlich niemand mehr zu reden wagt: Die Rettung des pädagogischen Anliegens der Philosophie. Ohne jede Didaktik, nur durch Veranschaulichung von etwas, was ansonsten jeder sehen kann, aber exerzit noch nie gesehen hat. Diese Lehre des Sichtbaren bezeugt zugleich seine Leere. Im pädagogischen Zuspruch gibt das Sichtbare seine Bildlichkeit auf. Es gehört zu den erstaunlichen, geradezu unwahrscheinlichen Korrespondenzen, daß sich an dieser delikaten Stelle Adorno denIngo Meyer, Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz, Weilerswist 2017, p. 179. 25 Ingo Meyer, Georg Simmels Ästhetik, op. cit., p. 181. 24
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noch mit Luhmann trifft. Auch für Luhmann ist es die Funktion der Kunst, »Welt in der Welt erscheinen zu lassen (…). Dies geschieht zwar durch jedes Ding, durch jeden erfaßten Sinn, aber doch nur so, daß eines aufs andere verweist und die Welt unsichtbar bleibt.«26 In der Kunst hingegen ist die Welt in Form eines Selbstverweises des Dings beschlossen, sie bezeugt in ihrer Weise die Selbstreferenz des Seins. Das gemahnt an eine Form ästhetischer Empirie. Diese Meditation wird von Luhmann indes eingeleitet durch den gnadenlosen Befund: Kunst ist »Reaktivierung ausgeschalteter Possibilitäten«.27 Und schon wird eine Schublade im Verfahren einer bloß formalen Modalisierung wieder geöffnet, wie es für alle Systemareale üblich ist. Was Ingo Meyer von Simmel retten will, nämlich den Gedanken, daß zumindest in den Artefakten etwas statthat, was man einiger maßen furchtlos als »exemplarische Kontingenztilgung« im Dienste einer »Weltgründungskunst« bezeichnen darf,28 auch diese rettende Figur findet sich bei Luhmann nicht. Bei ihm bleibt Kunst in einer beobachtenden Rolle, macht transparent auf Kosten eigener Intransparenz, exekutiert das Paradox, etwas sichtbar zu machen, indem anderes unsichtbar wird. Hier zieht sich die Welt »in die Einheit der Differenz zurück – und bleibt unsichtbar«.29 Wie das geschieht, bleibt allerdings unklar und rätselhaft. Auch was es heißen soll, daß die Kunst nur eins kann: »die Welt durch ihre eigenen Schnitte verletzen.«30 Aus diesen verletzenden Rätselhaftigkeiten, die sich durch die ganze Systemtheorie Luhmanns mit einer blutenden Spur hindurch ziehen, auch ihren stimulierenden Reiz ausmachen, Witterungen aufzunehmen, hat Horst Bredekamp den wohl einzig möglichen Schluß gezogen, den auch Josef Isensee mit Blick auf das Werk von Carl Schmitt empfohlen hatte und der für Martin Heidegger ohne26 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 352/ 53. Cf. hierzu auch Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst, in: Delfin 4 (1986), pp. 6–15. 27 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 352. Luhmann verweist hier auch auf Yves Barel, der Kunst auf die Enthüllung der »Potentialisierung einer Gesellschaft« festgelegt sehen will (Le paradoxe et le système. Essai sur le fantastique social, Grenoble ²1989, p. 302 sq.). 28 Ingo Meyer, Georg Simmels Ästhetik, op. cit., p. 246. 29 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 354. 30 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, op. cit., p. 355.
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hin unstrittig ist: Die Systemtheorie Luhmanns ist selber Kunst.31 Einen solchen Umschlag von Wissenschaft in Kunst hat John Horgan sogar für Stephen Hawking diagnostiziert, »der vielleicht weniger ein Wahrheitssucher als vielmehr ein Künstler [ist]«.32 Das Risiko dieser Zuspitzung ist allerdings, daß der Beitrag der Systemtheorie zur Intelligibilität der Welt fraglich wird. Indes: Ihr Kunstcharakter verlangt ihre Ansiedlung in der heuristischen Zone geistiger Arbeit. Das System bedeutet nichts Gefundenes, sondern macht die Probe auf Facetten des Findens. In dieser heuristischen Lesart gewinnt die Systemtheorie Relevanz als ein Sprachspiel, das die Existenzform des Geistes als ars inveniendi beglaubigt. Im Suchen und Finden hat sich der Geist gesucht und gefunden. Insofern ist die Systemtheorie doch ein Dokument unserer Intelligibilität, aber eben nur ein solches Dokument, nicht eigentlich eine Theorie mit erklärender Kraft. Vielleicht kann es die für eine solche Optik des Suchens und Findens auch gar nicht mehr geben. Was bliebe dann? Eine genuine Erfahrung vor aller Erfahrung, eine Erfahrung vor aller Unterscheidung. Günter Schulte hat diesen ultimativen Punkt der Systemtheorie mit gutem Grund auf die Systemkonstruktion Fichtes zurückbezogen. Beide versuchen hinter Kaskaden von Begriffsunterscheidungen eine nicht begriffliche Erfahrung einzukreisen, die früher Gott genannt wurde. Luhmann lüftet dieses Geheimnis, indem er es zugleich ins Dunkle zurückstößt und stoßen muß. Schulte mit Luhmann: »Gott kann ›in der Welt nur als blinder Fleck aller Unter scheidungspraxis (…) präsent sein‹.«33 Dieser blinde Fleck macht das Duplex erst sinnvoll – aus dem Sinnlosen. Die Antizipation des blinden Flecks steht auch am Anfang der Wissenschaft der Logik Hegels. Das unbestimmbare Duplex von Sein und Nichts an ihrem Anfang wäre nicht zu formulieren, wenn Horst Bredekamp, Die Kunst der Paradoxie, in: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), pp. 415–421. Cf. hier p. 420: »Wenn diese [Luhmanns Methode, W. H.] vom ersten Schritt bis zur unabschließbaren Form paradoxal ist und die Strenge ihrer inneren Begrifflichkeit formiert, um sie immer neu auszuhebeln, und wenn Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft dieselbe Formierung vollzieht (…), dann ist Luhmanns Methode eher Kunst als Wissenschaft.« 32 John Horgan, An den Grenzen des Wissens, op. cit., p. 157. 33 Günter Schulte, Einleitung zu: Fichte, ed. Günter Schulte, München 1996, p. 50; cf. ders., Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, Frankfurt / M. 1993, pp. 115 sq. 31
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die blind bleibende Intuition des absoluten Wissens als ein Innesein von Eigenheit (ἴδιον) und Allheit (ὅλον) am Ende der Logik nicht schon initial leitend, d. h. ihrem Anfang mitgeteilt wäre. »[D] as Allgemeine ist dem Reichtum des Inhalts mitgeteilt.«34 Die ›wahre Philosophie‹ in der Konzeption Hegels, so Dieter Henrich, ist eben keine, die »den Gegensatz als solchen verschwinden lässt. Die Fixierung des Gegensätzlichen aufzuheben heißt nur, die Entgegensetzung nicht als Endzustand zu verstehen.«35 Eine Tendenz genau dazu kann man der Systemtheorie Luhmanns leider nicht absprechen. Dem ›Übergegensätzlichen‹36 ist sie nicht gewachsen. In dieser Distinktionsdimension leben aber die Adressaten, an die George Spencer Brown seine initiale Aufforderung richtet: ›Draw a distinction, triff eine Unterscheidung!‹ Wer dieser Aufforderung folgt, realisiert das limitative oder unendliche Urteil im Sinne Kants. Es trennt A von Non-A. So wird der semantisch unbestimmte Raum (unmarked space) durch A und Non-A ›gespalten‹. »Dadurch aber«, so Kant, »wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen in so weit beschränkt«, daß A und Non-A nach der Unterscheidung nicht mehr zugleich behauptet werden dürfen. Der gespaltene semantische Raum »bleibt aber«, so wieder Kant, »bei dieser Ausnahme noch immer unendlich«.37 Die Systemtheorie kreist in Differenzen um sich selbst. Was fehlt ist ein Ausweg oder zumindest ein Blick durch die Gitterstäbe, um einen Weltkontakt wieder herzustellen, der nicht, als ›ob es tausend Stäbe gäbe‹, im Spiel der Differenzen gefangen bleibt. Nur so könnGeorg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: Werke, eds. Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel, Bd. 6, Frankfurt / M. 1969, p. 569. Diese Mitgeteiltheit ist darin begründet, was zumeist übersehen wird, daß der Subtext des deutschen Idealismus ein deutscher Realismus ist. Dieses geheime Duplex hat zuerst Birgit Sandkaulen mit Blick auf Friedrich Heinrich Jacobi entschlüsselt. Cf. dies. zuletzt, ›Ich bin Realist, wie es noch kein Mensch vor mir gewesen‹. Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus, Leiden 2017, p. 29. 35 Dieter Henrich, Moderne Kultur und ›wahre‹ Philosophie. Perspektiven einer Bilanz Hegels von 1802, in: Frieder von Ammon / Cornelia Rémi / Gideon Stiening, Literatur und praktische Vernunft (Festschrift für Friedrich Vollhardt), Berlin / Boston 2016, pp. 9–46, hier p. 19. 36 Cf. Dieter Henrich, Moderne Kultur, op. cit., p. 17. 37 Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften, ed. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1901 sqq., Bd. III, p. 88 (B 97/98). Kants Beispiel ist hier der Satz ›Die Seele ist nichtsterblich‹. 34
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ten wir den Ursprung unserer Intelligibilität erreichen. Im Grunde ist dies ganz einfach, wenn man nur bereit ist, mit Erfahrungen zu rechnen, die das gesamte semantische Corpus der Sprache unterlaufen. Emmanuel Levinas hat hier paradigmatisch den Blick von Angesicht zu Angesicht empfohlen, dieser Blick sei das erste Intelligible.38 Solche Erfahrungen transintentionaler Art kann Luhmann aber nicht zulassen, da sie durch Differenzen nicht ›eingehegt‹ sind. Ein reicher Empirismus wird dadurch von ihm verabschiedet. Aber unsere Lebenserfahrung flüstert uns zu: Solche Erfahrungen brauchen wir vor allem! Nicht nur das Antlitz von Mitmenschen, auch Bilder treten uns so in ihrer Impressivität entgegen: ›Dann geht ein Bild hinein (…) und hört im Herzen auf zu sein.‹ Von dieser Intuition zehrt das Bilddenken von Horst Bredekamp. Wir sind nicht immer die Akteure. Dem muß ein reicher Empirismus Rechnung tragen.
Cf. ders., Transcendence et intelligibilité, Genève 1996, pp. 151 sqq. Cf. hierzu die Ausführungen von Werner Stegmaier in seinem sehr klaren Buch Levinas (Freiburg 2002), pp. 118–126. 38
15. Komödie der verlorenen Einheit Wenn es selbst der Systemtheorie nicht gelungen ist, die Vielfalt unserer Lebensvollzüge in einen Rahmen zu stellen, der ihnen ein einheitliches Profil garantiert, fragt es sich, ob wir die Ressource der Einheit nicht gänzlich preisgeben müssen. Um hier zu einem halbwegs probaten Ergebnis zu gelangen, empfiehlt es sich, auf das Bild eines Einheitsverlustes zurückzugehen, das von Platon stammt. In seinem Dialog Symposion läßt er den Komödiendichter Aristophanes einen erfundenen Mythos vortragen,1 der den Ursprung des Eros erläutern soll. Aristophanes bietet in Platons Dialogregie eine genetische Erläuterung des Eros, die er zugleich auf amüsante Weise mythisch in Szene setzt. Hiernach haben wir mit einer vorgängigen, alten Natur des Menschen zu rechnen, die noch alle Geschlechter ungeschieden in sich trug. Diese Ur-Menschen hatten, so erläutert Aristophanes, damals noch vier Hände, vier Schenkel und auch zweifache Schamteile, gingen nicht aufrecht, sondern bewegten sich kreisförmig wie heute die Radschläger. Ferner waren sie von unfaßbarer Stärke, wollten sich daher frevelhafter Weise mit den Göttern messen, suchten also einen Zugang zum Himmel, um sie anzugreifen. Das konnte Zeus natürlich nicht dulden und er beschloß, die damaligen Menschen zu schwächen, indem er sie in zwei Hälften zerschnitt. Seither erst gingen sie aufrecht auf zwei Beinen. Sollten sie auch in diesem Format die Götter weiter attackieren, plante Zeus, sie noch einmal zu zerschneiden, so daß sie sich fortan nur noch auf einem Bein hüpfend fortbewegen könnten. Das ist die aristophanische Vision der heutigen Singles. Aber soweit kommt es seinerzeit in den köstlichen Ausführungen von Aristophanes nicht. Es bleibt beim ersten Schnitt. »Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnt sich jeder nach seiner anderen Hälfte.«2
1
2
Symposion 189 c sqq. Symposion 191 a.
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Diese Sehnsucht (πόθος) nach der eigenen Hälfte sucht die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, diese Sehnsucht ist der tiefere Sinn des Eros, er ist Kind verlorener Einheit. So ist jeder Mensch heutzutage nur ein Symbol des Menschen (ἀνθρώπου σύμβολον),3 das, wie jedes Symbol, einer passenden Ergänzung bedarf. Nach dieser sehnt er sich und sucht sie. Genau das ist das Geheimnis der Erotik: eine verlorene Einheit wieder zu finden. Aber das weiß keiner: »offenbar ist, daß die Seele beider etwas anderes wollen, was sie aber nicht aussprechen kann, sondern es nur andeuten (οὐ δύναται ἐπεῖν, ἀλλὰ μαντεύεται).«4 Die Semantik des Eros ist Mantik. Die Augen der Geliebten haben andeutende Kraft, sagen nichts sonst, aber das genügt. Diese vorsprachliche, andeutende Kraft der Seele nimmt Platon hier in Anspruch, um die erotischen Verhältnisse auf ihre Weise ›beredt‹ werden zu lassen. Unser Ich ist zufolge seines Ursprungs aus einem Entzweiungsgeschehen für Platon substanziell schwach. Gerade deshalb können unsere erotischen Verhältnisse so stark werden, daß sie den Verlust der verlorenen Einheit nahezu kompensieren. In diesem Fall treten wir in Glücksverhältnisse ein, die es anders nicht geben kann, es sei denn, und das ist für Platon natürlich immer vorrangig, wir hätten etwas erkannt. In solche mantischen Verhältnisse sind wir also nicht nur in der Erotik versetzt, sondern überall da, wo sich unsere Ergänzungsbedürftigkeit meldet. Das anthropologische Duplex, wie es Platon vorschwebt, bezeugt unsere bloß symbolische Existenz wie eine ›ungesättigte‹ Variable. Die erotische Basis kann hier ebenso als Beleg angeführt werden wie unsere epistemische Verfassung. Auch hier ist unsere Ergänzungsbedürftigkeit aufdringlich spürbar schon in unsrer intentionalen Verfassung. Bei Platon wird das besonders deutlich, wo er sich darum bemüht, unseren epistemischen Kontakt zur Idee des Guten herzustellen. Von welcher Art ist dieser Kontakt? Meinen und Wissen sind als sprachliche Veranstaltungen hier noch nicht erprobt und daher zunächst ungeeignet, es muß also schon eine andere, tiefer liegende Registratur her, die auch dann noch trägt, wenn unsere Meinungen und auch unser Wissen fraglich werden.
Symposion 191 d. Platon läßt Aristophanes die Verhältnisse bis zur Situierung der Homosexualität und sogar zur Entstehung des Bauchnabels noch weitläufig explizieren, was hier nicht von Interesse ist. 4 Symposion 192 d. 3
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Die gesuchte Registratur ist eine Form unseres Selbstbezugs,5 der uns unsere epistemischen Verfassungen merklich werden läßt. Daß uns etwas fraglich wird, bleibt uns deshalb nicht verborgen. Auch an dieser prekären Stelle benutzt Platon wieder das mantische Vokabular. Wir können jedenfalls noch sagen, was uns bloß vorschwebt. Obwohl er es nicht mochte und es in seiner Akademie auch verboten gewesen sein soll, bemüht Platon manchmal das Lächerliche und das Lachen. Aus Gründen einer ironischen Selbstdistanzsicherung sogar dann, wenn es besonders ernst wird. Das ist vor allem da der Fall, wo großkalibrige Fragen gestellt werden – wie die nach dem Wesen des Guten. Bei Versuchen einer Antwort auf diese Frage kann man sich eigentlich nur lächerlich machen, da man auf diesem schwierigen Gelände sich allzu leicht ungeschickt bewegt, ja intellektuell geradezu amorph (ἀσχημῶν) erscheinen wird.6 Daher, so Sokrates, empfiehlt es sich, diese Frage erst einmal auf eine modalisierte Basis ›herunterzubrechen‹, um wenigstens an einem Beispielsfall, einem Sprößling des Guten also, mit einer Antwort ins Reine zu kommen. Aber auch dieser Versuch geht am Ende schief. Auch hier erntet die ambitionierte Antwort am Ende bei Glaukon nur Gelächter. Sokrates will mit dem Guten ja mindestens den Ursprung der Gelichtetheit von allem, der universalen Intelligibilität, geklärt sehen und so kommt es bei ihm zu einem lichterlohen Exzess des Guten, dem sich sogar Wissen (ἐπιστήμη) und Wahrheit (ἀλήθεια)7 verdanken. Das Gute wird zur Quelle der Intelligibilität schlechthin. Um das fassen zu können, muß ineins postuliert werden, daß das Gute selbst jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας),8 quasi hyperbolisch, situiert sein muß. Was dem Erkennbaren die Passung verleiht, verleiht sie auch dem Erkennen. So muß das Gute sogar den Einzugsbereich des Seins übersteigen. An dieser Stelle bricht Glaukon im Text tatsächlich in schallendes Gelächter aus (μάλα γελοίως):9 »Bei Apoll, das ist ein dämonisches Übertreffen (ὑπερβολή)!« Aber diese Extremalfigur des Guten ist sogar auf Satzebene plausibel, wenn man berücksichtigt, daß Rechtfertigungs- und Wahr5 Cf. dazu Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt 2007. 6 Politeia 506 d. 7 Politeia 509 a. 8 Politeia 509 b. 9 Politeia 509 e.
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heitsbedingungen von Sätzen nicht identisch sein müssen und in der Tat manchmal auseinanderfallen: Was gut begründet ist, braucht noch nicht wahr zu sein.10 Um dieses splitting aber durchhalten und bewältigen zu können, brauchen wir mehr als Rechtfertigung und Wahrheit, und genau das schwebte Platon vor. Er kaufte sich damit allerdings ein extern fügendes Moment ein: Schon wegen unserer substanziellen Ergänzungsbedürftigkeit benötigen wir ein Entgegenkommendes, etwas, das uns und allem sonst entgegenkommt, mithin eine ultimative Zuweisung, die in Zugewiesenem, in Gestaltetem also, nicht aufgeht. Dieses Entgegenkommende kann selbst nicht anders als in solchen Evokationen (Hervorrufungen) expliziert werden. In dieser Funktion handelt es sich jedenfalls um eine hintergründige Grundnorm (das Fügende)11 für das, was ist und erkannt werden kann. An dieser Grundnorm sind wir, ist unser Tun und Trachten, orientiert, ob wir das nun wollen oder nicht.12 Auf sie hin sind wir ausgerichtet, »ahnend, es gäbe so etwas (ἀπομαντευομένη τι εἶναι)«.13 Die Formel ›gut ist das, wonach alles strebt‹ geht auf den Astronomen und Mathematiker Eudoxos von Knidos zurück, mit dem Platon eine Zeitlang zusammengearbeitet hat, auch Aristoteles greift auf sie zurück.14 Das Besondere bei Platon ist allerdings, daß er unsere primäre Ausrichtung auf diese Grundnorm hin in spezifischer Weise zu verstehen gibt. Wir haben zunächst jedenfalls kein explizites Wissen von ihr, sondern ›ahnen‹ nur, daß es sie gibt. Ein explizites Wissen um sie zu erwerben sollte allerdings, so Platon, zum Das ist seit geraumer Zeit bekannt. Cf. Werner Stelzner, Epistemische Logik. Zu logischen Analyse von Akzeptationsformen, Berlin 1984, p. 71. Stelzner verweist hier auch auf eine Arbeit Jeremiah Thomas Kearns, Intuitionistic Logic. A Logic of Justification, in: Studia Logica vol. 37 (1978), pp. 243–260. Stelzner möchte natürlich – wie fast alle Logiker – dieses splitting vermeiden, um den sog. Gettier-Problemen zu entgehen. Er empfiehlt daher einen ›starken‹ Wissensbegriff, der dieses ›Auseinanderdriften‹ verhindert. 11 Cf. hierzu Dieter Henrich, Denken und Selbstsein, op. cit., pp. 93 sq.; Grundnorm und Identitätsbildung. 12 Auch Dieter Henrich betont, daß die Grundnorm, die für uns als praktische und theoretische Wesen gleichermaßen gilt, indem sie Grund unserer Identitätsbildung ist, »niemals zur Disposition steht«. (Denken und Selbstsein, op. cit., p. 102). 13 Politeia 505 e. 14 Nik. Eth. 1094 a 3; 1172 b 9–15 nennt er Eudoxos von Knidos als Gewährsmann. Cf. auch Platon, Philebos 20 d und 22 a/b. 10
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Pflichtpensum eines Politikers gehören, wenn er seinen Aufgaben als Hüter des Staates gerecht werden will. Für den Erwerb dieses Wissens entwirft Platon in der Politeia das Curriculum. Dennoch: Wir werden in diese Ausrichtung hineingeboren, wissen um die Grundnorm daher zunächst nur »schwankend und nicht recht treffen könnend, was [sie] wohl ist«.15 Diese ungefestigte Form der Kenntnis nennt Platon gewöhnlich Meinung (δόξα), hier aber spricht er auch von Vermutung wieder im Sinne der Mantik (οἴω bzw. οἴομαι).16 Etymologisch geht dieser Ausdruck auf indogerm. *ὀƑισjμαι zurück, das wiederum mit ai. avís- und lat. omen aus *osmen verwandt ist und so viel wie ›wähnen‹, ›ahnen‹, ›für Offenbarung halten‹ bedeutet.17 Es ist schon erstaunlich, daß Platon, der die Mantik eigentlich gar nicht schätzte, sie hier als schwächste Form eines meinenden Kontaktes zur Idee des Guten gleichwohl ins Spiel bringt, ganz einfach, weil er sie benötigt. Es kann aber nicht bestritten werden, daß man Platons Extra polation ins Gefilde einer Grundnorm, wie er sie in seinem Sonnengleichnis vorführt, natürlich auch kritisch bewerten kann. Wolfgang Kersting hat eine solche Kritik so formuliert, daß Platon in diesem Gleichnis bloß »dem uns Bekannten Strukturen, Muster, Formen entnimmt, um sie ins Unbekannte zu projizieren [, um] so eine kartographische Vermessung ins Niemandsland zu erreichen«. Damit könne der Verdacht nicht ausgeräumt werden, »daß es gar keine terra incognita, sondern nur eine Karte von ihr gibt«.18 Das Problem muß ernst genommen werden, weil mit einer Stellungnahme zu ihm die gesamte Ideenlehre steht und fällt. Es scheint mir allerdings ein Argument zu geben, daß die platonische Kartierung nicht als gegenstandslos erweisen könnte. Das ist im ersten Schritt das Argument einer induktiven Semantik. Es besagt: Wenn die platonische Extrapolation nicht zulässig sein soll, dann sind auch Bedeutungen generell nicht zulässig. Denn was immer sensibilia besagen sollen, ihre Bedeutungen erreichen wir grundsätzlich nur im Überstieg über Sinnesdaten. Und die Theorie solcher Überstiege gehört zu einer induktiven Semantik. Ich fürchte allerdings, daß dieses Gegenargument Politeia 505 e. Politeia 506 c. 17 Wilhelm Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München / Wien 1962, p. 536. 18 Wolfgang Kersting, Platons ›Staat‹, Darmstadt 1999, p. 218. 15 16
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an einem Punkt schwächelt – es kommt einfach zu spät. Der Titel ›induktive Semantik‹ klingt zwar für manche Ohren gut, verdeckt allerdings, daß wir schon vor aller Induktion in einem Bedeutungsraum existieren.19 Wir sind einfach schon da, wo andere erst hinwollen. Hiervon war Platon in meinen Augen jedenfalls überzeugt. Und insofern kartiert er keine terra incognita, sondern eine terra praecognita. Wir wußten schon, bevor wir wissen. Sonst gäbe es keinen wissenden Selbstbezug. Wir sind Selbsterinnerte, wie Proust sagt: nach Art einer mémoire involontaire. An dieser autoanamnetischen Struktur der Intelligibilität führt kein Weg vorbei. Aber man darf nie vergessen, daß es sich hier um eine Suchmaske, einen stehenden Suchvektor handelt, der auf ein sich selbst Gefundenes aus ist, das freilich ausbleibt und das wir selber sind. Als Selbsterinnerte sind wir zugleich die Ausgebliebenen. Darin gründet unsere imaginäre Begabung. An diesem Suchvektor hat sich Platon abgearbeitet. Und sosehr er die Sehnsucht (πόθος) akzentuierte, er wollte mehr und seine ungeschriebene Lehre zeugt davon. Aristoteles beließ es beim Suchen und Streben (ὄρεξις). Wir streben zwar von Hause aus nach Wissen, aber die zuletzt nur gesuchte Wissenschaft ist die Metaphysik selbst, zugleich als Theorie dieser Suche. Beide Denker sollten wir in diesem rußenden Lichte neu lesen.
19 Alle Bedeutungsverhältnisse haben einen projektiven Vorlauf, in dessen Licht wir definieren und explizieren. Cf. hierzu Christoph Diehl, Platons Semantik. Die Theorie sprachlicher Bedeutung im Kratylos, Paderborn 2012, p. 79. Diehl verweist hier nicht nur auf John Searle, sondern vor allem auch auf die schöne Stelle bei Platon im Theaitetos 196 d–e. Der projektive Begriff des Wissens, wenn es ihn denn gibt, »verstünde sich als gewissermaßen ›überregional‹, insofern [dieses Wissen] einen jeden denkbaren Gegenstandsbereich transzendiert und die vollständige Gewißheit auch über externe Fragen ermöglicht« (p. 81/82).
Nachwort Der Philosoph Timothy Williamson, Nachfolger von Alfred Ayer in Oxford, wurde in einem Interview von Cliff Sosis1 einmal gebeten zu erläutern, was er jemanden fragen würde, der allwissend sei. Williamson erwog verschiedene Fragen, unter anderen die, ob Cantors generalisierte Kontinuumshypothese auch in der Mengenlehre gültig sei. Er selber sei sich in dieser Angelegenheit jedenfalls nicht sicher und er wüßte es gerne. Andererseits frage er sich, ob Allwissenheit überhaupt eine wünschenswerte Eigenschaft sei. Obwohl er, Williamson, Wissen in seinem Œuvre stets favorisiert habe, finde er Allwissenheit nicht besonders attraktiv. Wie könne man leben, wenn man stets schon wüßte, was einen erwartet? »Ich mag die Idee«, so Williamson, »in das Unbekannte (unknown) zu gehen, obwohl es voll von bösen Überraschungen sein kann. Wissen zu erwerben macht einfach mehr Spaß als es zu besitzen.« Darin ähnelt unser Bemühen um Wissenserwerb, so der Engländer Williamson, der Jagd. Das gilt für ihn sogar in allgemeiner Form: »Zufriedenheit ist eben nicht befriedigend (satisfaction isn’t satisfying).«2 Daß unser Wissensstreben einmal an ein Ziel komme und damit stillgestellt würde, dafür gibt es, so Williamson, keine Anhaltspunkte. Dem steht nämlich unsere Phantasie entgegen, die uns für eine unausschöpfbare Komplexität der Verhältnisse sensibel sein läßt. Shakespeare ist hier für Williamson ein Vorbild, »weil er die Dinge aus der Sicht eines jeden Charakters sehen und artikulieren kann«. Ein ähnliches Format tritt uns in Montaigne entgegen, der, so Williamson entgegen anderslautenden Interpretationen, gerade kein Relativist sei, sondern, wie Shakespeare, »nur das Bewußtsein tiefer Komplexität (awareness of deep complexity)« zu artikulieren weiß. In der Tat empfiehlt Williamson eine Rettung unseres Sinnes für die Komplexität der Problemlandschaft, auch in der Philosophie. 1
Unter dem Titel ›What is it like to be a philosopher‹ im Internet einsehbar.
2 Ibid.
Nachwort
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Denn nur diese bewahrt uns vor einseitigen Reduktionismen und moralisierenden Tendenzen. Gegen diesen Zeitgeist stellt sich Williamson. Er ist sicher kein spekulativer Philosoph. Aber sein Plädoyer für eine Perspektivenvielfalt setzt voraus, daß das Duplex nicht unterschritten werden darf. Denn dieses enthält die Aufforderung, per Modalisierung den Perspektiven und der Komplexität von Problemfeldern Rechnung zu tragen. Die Zweieinheit findet an der Unbegrenztheit ihre Einigung. Ohne diese zerfielen wir und damit die Welt. Wie aber kann am und im Unbegrenzten, ja Unendlichen das Duplex überhaupt seine Einheit finden? Tatsache ist, daß eine Einigung im Definiten auf Dauer immer aggressiv werden läßt. Wir brauchen Grenzen, halten aber auf Dauer keine aus. Vater und Sohn, das historisch überlieferte Duplex schlechthin, genügen nicht. Dieses Duplex benötigt noch den heiligen Geist (hebr. rúach), der in der Gottesmutter Maria modalisiert wurde. Der heilige Geist jedenfalls, weiblich inszeniert, steht für eine Unbegrenztheit, die Philosophen zu interessieren hat. Ihre Liebe gilt ja Sophia und nicht Logos, sonst wäre Philosophie eben nur Philologie. Der Witz dieses Unterschiedes ist, daß eine einigende Unbegrenztheit im Lächeln der Mutter, aber auch im anteilnehmenden Humor modalisiert werden kann. Deshalb finden wir die Sachwalter der Unbegrenztheit heute nur bei denen, die Paradoxien schätzen und einem intellektuellen Anarchismus zuneigen. Solche ahnen zumindest, was es heißt, über alle Grenzen hinweg zu sein. Und genau darin bekundet sich eine Intelligibilität, die uns überindividuell entgegenkommt, aber nicht weiter begründbar ist. Der Sinn von Sein ist das Sein von Sinn, ein entgegenkommendes und anteilnehmendes Lächeln. Der Grund des Erkennens ist letztlich das Sein des Erkennens.3
3
So faßt Thomas Sören Hoffmann die Grundthese des Denkens von Emanuele Severino (La struttura originaria, Mailand 1981²) zusammen; cf. ders., Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Portraits, Wiesbaden 2007, p. 372.
Personenregister Abaelard, Peter 57 Abel, Günter 66 Adorno, Theodor W. 87, 97 Aristophanes 102–103 Aristoteles 16, 32, 48, 64–65, 105, 107 Ayer, Alfred 108 Baberowski, Jörg 7, 95 Bachelard, Gaston 10 Bacon, Francis 75 Ball, Hugo 40, 51–53, 55 Barel, Yves 98 Bauer, Bruno 27 Becher, Johannes 41 Becker, Oskar 36 Beeh, Volker 71–73 Behnke, Heinrich 69 Beierwaltes, Werner 50 Benjamin, Walter 20, 87 Biemel, Walter 32 Bledowski, Jaroslaw 7 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 34, 73 Bohrer, Karl Heinz 87 Bourdieu, Pierre 97 Brand, Guido K. 86 Brandt, Per Aage 64 Braun, Michael 51 Bredekamp, Horst 7, 27, 98–99, 101 Bremermann, Hans Joachim 68–71 Brentano, Franz 90 Breuer, Stefan 29, 31, 40, 51 Brieskorn, Egbert 46, 63–65 Bromand, Joachim 79–81 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 51, 76–77 Brückmann, Arthur 86 Brüning, Heinrich 40 Burghart, Franz Josef 62 Calé, Walter 49, 85–89, 97 Cantor, Georg 64, 72–73, 76 Carnap, Rudolf 33 Celan, Paul 53 Chaitin, Gregory J. 79–80 Chomsky, Noam 71 Clausewitz, Carl von 21 Cohen, Hermann 16 Cortés, Donoso 25
Craver, Carl 91 Dalen, Dirk van 77 Däubler, Theodor 23 Dehmel, Richard 17 Delf, Hanna 43, 46 Derrida, Jacques 37–38, 78 Descartes, René 60–62 Diehl, Christoph 107 Dionysios Areopagita 51 Dorotic, Pauline Carita Maria Isabella von 29 Dylan, Bob 78 Ebert, Friedrich 40 Eckhart (Meister) 44, 50–51, 73 Eisner, Kurt 45 Engel, Franz 47 Eriugena 81 Eudoxos von Knidos 105 Fichte, Johann Gottlieb 99 Fitch, Frederic Brenton 80 Flasch, Kurt 51 Foerster, Heinz von 77, 91 Foucault, Michel 78 Frege, Gottlob 59 Freud, Sigmund 25, 71 Gagern, Heinrich Freiherr von 43 Gangl, Manfred 29 Garcia, Tristan 37, 84–85 Garver, Newton 55 Gemoll, Wilhelm 106 George, Stefan 88–89 Gethmann, Carl Friedrich 66 Gethmann-Siefert, Annemarie 17 Giesler, Gerd 7, 15–16, 27, 30, 32, 41 Gneisenau, August Neidhardt von 21 Gödel, Kurt 73, 77, 79 Goebbels, Joseph 20 Goethe, Johann Wolfgang von 76, 85 Goldstein, Jürgen 9, 11, 78 Graham, Robert 91 Graunke, Kurt 89 Habermas, Jürgen 18, 21, 78, 95–96 Hacker, Peter M. S. 56
Personenregister Haken, Hermann 91 Halfwassen, Jens 76 Haller, Rudolf 55 Handke, Peter 85 Hasenjaeger, Gisbert 69 Hausdorff, Felix (= Paul Mongré) 45–46, 48–49, 55, 76 Hawking, Stephen 99 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 31, 72, 84, 94, 99–100 Heidegger, Martin 13, 17, 24–25, 32– 37, 42, 49–51, 53–55, 66, 94–96, 98 Henrich, Dieter 100, 104–105 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 51 Hesse, Hermann 7 Heuser-Keßler, Marie-Luise 91 Heyting, Arend 77 Hilbert, David 69 Hintikka, Jaako 56 Hintikka, Merrill B. 56 Hinz, Thorsten 51 Hirzebruch, Friedrich 69 Hitler, Adolf 15–17, 19–21, 40 Hobbes, Thomas 22, 30 Hoffmann, Thomas Sören 65, 109 Hofmannsthal, Hugo von 55 Hogrebe, Wolfram 14, 40, 48, 53, 59, 61, 75, 92 Horgan, John 82, 99 Humboldt, Wilhelm von 66–68, 70, 72, 93 Husserl, Edmund 53, 60–62, 77, 90, 94 Isensee, Josef 34, 53, 98 Jacobi, Friedrich Heinrich 100 Jäger, Wolfgang 42 Jansen, Ludger 28 Jaspers, Karl 18, 43, 85 Jung, Carl Gustav 25, 71 Kaiser, Joseph H. 53 Kaiser, Marie I. 91 Kant, Immanuel 14, 45, 47, 49, 54–56, 72, 75, 91, 100 Kearns, Jeremiah Thomas 105 Kennedy, Ellen 21, 41, 51, 54 Kersting, Wolfgang 106 Kisiel, Theodore J. 51 Klemperer, Victor 42–43 Knoebel, Imi 27 Kojève, Alexandre 35
111 Kolmogorov, Andrei Nikolajewitsch 79 Kondylis, Panajotis 31–32 Konstantinoff, Kostia 89 Korte, Bernhard 69 Kreis, Guido 76, 81 Krickel, Beate 91 Kripke, Saul 59–63 Kuiper, Johannes John Carel 77 Küppers, Bernd-Olaf 91 Landauer, Gustav 40, 42–49, 51, 53, 55, 86, 88–89 Lask, Emil 49 Leibniz, Gottfried Wilhelm 37, 49 Lenin, Wladimir Iljitsch 22, 25 Lenk, Hans 66 Lewis, Clarence Irving 36 Luhmann, Niklas 77–78, 91–97, 100–101 Lyotard, Jean-François 78 Mach, Ernst 48 Mao Tse-tung 25, 54 Marcus, Ruth Barcan 60 Marienberg, Sabine 7, 47 Marx, Karl 35, 54 Maturana, Humberto 91 Mauthner, Fritz 43, 47–48, 51, 86 Mayer, Gertrud 85 Mehring, Reinhard 15, 21, 26, 31 Meier, Christian 15, 34, 54 Meillassoux, Quentin 9, 47 Meixner, Uwe 61, 63 Merleau-Ponty, Maurice 87 Meyer, Ingo 7, 97–98 Misch, Georg 49 Mommsen, Wolfgang 31 Mongré, Paul (= Felix Hausdorff) 45–46, 48–49, 55, 76 Montaigne, Michel de 108 Moore, George Edward 57 Morgenthau, Hans 29 Müller, Jan-Werner 21 Münch, Charles 89 Musil, Robert 36 Nagarjuna 72–73 Nagel, Anne C. 15 Napoleon Bonaparte 21–22 Natalis, Hervaeus 90 Neumann, Franz L. 40
Personenregister
112 Nicolaus Cusanus 92, 95 Nicoletti, Michele 28 Niethammer, Lutz 20 Nietzsche, Friedrich 43, 47–48, 78, 88 Nikisch, Arthur 89 Nikisch, Mitja 89 Nolte, Ernst 12–14, 34, 78 Oppert, Kurt 86 Papen, Franz von 20, 40 Parreut, Johannes 9 Péguy, Charles 56 Platon 10, 16–18, 32, 37, 50, 65–66, 85, 95, 102–104, 107 Plotin 45, 76, 85–86, 88 Pöggeler, Otto 17, 24 Popitz, Johannes 15–16 Poser, Hans 37 Poulet, Georges 49 Prantl, Carl von 9 Prigogine, Ilya 90 Proklos 85, 95 Proust, Marcel 49, 107 Quine, Willard Van Orman 63 Rachmaninoff, Sergej 89 Reckwitz, Andreas 84 Reese-Schäfer, Walter 95–96 Rilke, Rainer Maria 88 Röhm, Ernst 15–16 Salan, Raoul 25 Sandkaulen, Birgit 100 Saner, Hans 18 Saugstad, Andreas 63 Saussure, Ferdinand de 66, 93 Savigny, Friedrich Carl von 16 Scharnhorst, Gerhard von 21 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 90–91 Schickel, Joachim 21, 23, 26, 31, 52–54 Schleicher, Kurt von 40 Schmitt, Carl 15–32, 34–35, 40–42, 52, 54–55, 96, 98 Schmoeckel, Mathias 20, 24–25 Schneider, Pablo 7 Scholz, Heinrich 69 Schulte, Günter 99 Searle, John R. 57, 107
Sen, Amartya 21 Severino, Emanuele 109 Shakespeare, William 108 Shelley, Howard 89 Simmel, Georg 97–98 Simon, Josef 66 Smith, Quentin 60 Sosis, Cliff 108 Spencer-Brown, George 95, 100 Spencer, Herbert 48 Spindler, Wolfgang H. 30, 32 Spranger, Eduard 55 Stein, Karl 69 Stegmaier, Werner 48, 78, 101 Stelzner, Werner 105 Stirner, Max 27 Strauß, Richard 46 Tarski, Alfred 73, 77, 79 Thom, René 63–65 Thomas von Aquin 37 Tielke, Martin 16 Tommissen, Piet 41 Tönnies, Ferdinand 31 Trabant, Jürgen 7, 66–68, 70 Turing, Alan 69, 77, 79 Vaihinger, Hans 30 Valéry, Paul 53, 75 Varela, Francisco J. 77 Vendler, Zeno 61 Villinger, Ingeborg 23, 42 Vollrath, Ernst 17 von der Pfordten, Dietmar 30 Wacker, Bernd 51 Wagner, Richard 30 Wagner-Egelhaaf, Martina 51 Wang, Yuja 81 Weber, Max 31, 37 Weyl, Hermann 83 Whitehead, Alfred North 90 Wieland, Wolfgang 64 Wiese, Benno von 53 Wildgen, Wolfgang 64 Williamson, Timothy 81, 108 Wirsing, Giselher 17 Wittgenstein, Ludwig 51, 55–57, 67 Wolfram, Stephen 79 Zermelo, Ernst 76 Zwirn, Hervé 80