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German Pages 388 Year 2022
Christina Grieb-Viglialoro Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Gegenwartsliteratur | Band 20
Christina Grieb-Viglialoro, geb. 1990, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin im Bereich Hochschuldidaktik an der Hochschule Niederrhein. Von 2016 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in französischer und spanischer Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Christina Grieb-Viglialoro
Literatur zwischen Biopolitik und Migration Dispositive in der frankophonen Gegenwartsliteratur
Eingereicht als Dissertation mit dem Titel »Migration – Leben – Schreiben. Biopolitische Dispositive in frankophoner Gegenwartsliteratur« an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, D61. Gutachter: Univ.-Prof. Dr. Frank Leinen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Nele Sadlo Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6414-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6414-4 https://doi.org/10.14361/9783839464144 Buchreihen-ISSN: 2701-9470 Buchreihen-eISSN: 2703-0474 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Danksagung .............................................................................. 11
Teil 1: Überlegungen zu einer biopolitisch perspektivierten Literaturwissenschaft 1.
Einleitung........................................................................... 15
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft .................... 21 2.1 Zum Begriff ›Biopolitik‹.............................................................. 21 2.2 Die Geburt der Biopolitik – Michel Foucault .......................................... 26 2.2.1 Biopolitik als historische Zäsur des Politischen – leben machen und sterben lassen .......................................................... 26 2.2.2 Biopolitik und (Staats-)Rassismus ............................................ 29 2.2.3 Biopolitik – Von der »Kunst des Regierens« ................................... 31 2.2.4 Das Dispositiv nach Michel Foucault und Giorgio Agamben .................... 34 2.3 Biopolitik und das (prekäre) Subjekt bei Giorgio Agamben und Alessandro Dal Lago ............................................................ 43 2.3.1 Das Leben zwischen Regel und Ausnahme: Bíos, zoë und der homo sacer ......................................................... 43 2.3.2 Die Logik des Ausnahmezustands als Beziehungsparadigma .................. 46 2.3.3 Der homo sacer als Inkarnation des nackten Lebens .......................... 48 2.3.4 Der homo sacer und das Lager als Paradigmen der Moderne .................. 50 2.3.5 Dal Lagos non-persona als vermittelndes Moment zwischen bíos und zoë ...... 59 2.4 Die Gemeinschaft in der Biopolitik – Das Immunisierungsparadigma nach Roberto Esposito .............................. 65 2.4.1 Die Genealogie des Immunisierungsparadigmas .............................. 66 2.4.2 Communitas, immunitas und der gemeinschaftliche munus ................... 69 2.4.3 Die Gefahr der Autoimmunität und die Chance einer neuen Gemeinschaft ..... 73 2.5 Die Ökonomisierung des Lebens: Empire, biopolitische Produktion und Nomadismus als Widerstand bei Michael Hardt und Antonio Negri................ 77
2.5.1 Das Empire als dreifach entgrenzte Biomacht ................................ 79 2.5.2 Differenz, Armut und Mobilität im Empire ..................................... 83 2.5.3 Die Multitude und das »Dagegen-Sein« der Migration ......................... 87 2.6 Zu einer biopolitisch perspektivierten Literaturwissenschaft: methodologische Überlegungen ..................................................... 95 2.6.1 Das fiktionale Migrationsdispositiv und die Ästhetik der Existenz nach Michel Foucault als Technik des Widerstands ........................... 96 2.6.2 Die Denkfiguren Giorgio Agambens in der literaturwissenschaftlichen Analyse fiktionaler Migrationsphänomene .. 98 2.6.3 Die Deutung fiktionaler Abschottungsphänomene und neuer Gemeinschaftsentwürfe mit Roberto Esposito..................... 100 2.6.4 Die Ökonomisierung des Lebens in Migrationsliteratur und die Möglichkeit einer literarischen Multitude nach Michael Hardt und Antonio Negri .......................................................... 100 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Forschungsstand ................................................................. 103 Assommons les pauvres!, Shumona Sinha........................................... 104 Eldorado, Laurent Gaudé ........................................................... 105 Partir, Tahar Ben Jelloun........................................................... 106 Samba pour la France, Delphine Coulin...............................................107 Ulysse from Bagdad, Éric-Emmanuel Schmitt ........................................107 Theoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zu Migration und Biopolitik ..................................................................... 108
4.
Vorstellung des Korpus ............................................................ 115
Teil 2: Biopolitische Dispositive in frankophoner Migrationsliteratur 5. 5.1
Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens im Rahmen von Migrationsprozessen ............................................. 125 Machtverhältnisse und epistemische Strukturen im Migrationsdispositiv .............127 5.1.1 Die strukturelle Gewalt der Biopolitik: Die Macht des Staatsapparats über das Subjekt ............................................................127 5.1.2 Personifizierte Dispositive: Die Vertreter*innen der staatlichen Macht in der biopolitischen Verwaltung von Migration ........ 140 5.1.3 Medien der Macht: Kommunikations- und Wissenssysteme des Migrationsdispositivs ...................................................157 5.1.4 Die Macht des Erzählens: Die literarische (Re-)Integration marginalisierter Stimmen in die Sphäre des Politischen.......................176
5.2 Subjektivierung und Desubjektivierung im Migrationsdispositiv ..................... 194 5.2.1 Die Prekarität des Lebens zwischen non-persona, bíos und zoë............... 194 5.2.2 Ästhetik der Existenz, fragmentierte Körper und spektrale Subjektivitäten ... 209 5.2.3 Die Ökonomisierung des Subjekts im Migrationsprozess...................... 232 5.3 Das Leben auf der Schwelle: Grenzerfahrungen, Räumlichkeit und Mobilität im Migrationsdispositiv ............................................................ 249 5.3.1 Eine Ontologie der Grenze zwischen Biopolitik und Bioökonomie ............. 249 5.3.2 Semantiken prekärer Räumlichkeit: Peripherien, Nicht-Orte und Heterotopien in der biopolitischen Regulierung von Migrationsbewegungen .................................................. 271 5.3.3 Zur Natürlichkeit und Ursprünglichkeit von Migration und Mobilität ........... 287 5.4 Alterität: Eigenheit und Fremdheit im Migrationsdispositiv .......................... 300 5.4.1 Zwischen Idealisierung und Kritik: Die Darstellung Europas in Migrationsnarrativen ..................................................... 300 5.4.2 Entfremdung im Exil: Identitätsverlust im Migrationsdispositiv ............... 318 5.4.3 Die Überlagerung von Alterität und Armut auf der Folie biopolitischer und bioökonomischer Strukturen ............................. 331 5.4.4 Alterität und Sexualität: Die Definition des Anderen über biopolitisch ausgerichtete Normen ..................................... 340 6.
Fazit .............................................................................. 355
Literaturverzeichnis.................................................................... 359 Primärliteratur: ......................................................................... 359 Sekundärliteratur:....................................................................... 359 Internetquellen: ......................................................................... 380
Für meine Familie Für Emil und Luca Für meine Eltern und Valerie
Danksagung
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf im Juli 2021 angenommen wurde. An dieser Stelle möchte ich mich bei jenen bedanken, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben. Allen voran danke ich herzlich meinem Doktorvater Prof. Dr. Frank Leinen, der mich während meines gesamten akademischen Weges, vom Bachelor bis zur Promotion, gefördert und ermutigt hat. Als Betreuer hat er mich wissenschaftlich und persönlich begleitet, stand stets für Gespräche zur Verfügung und hat mir gleichzeitig den Raum gegeben, meinen Arbeitsprozess frei zu gestalten. Meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Ursula Hennigfeld danke ich für wertvolle wissenschaftliche und methodische Impulse. Außerdem möchte ich mich für die Möglichkeit bedanken, mein Projekt im Rahmen von Kolloquien und Forschungsforen am Institut für Romanistik vorzustellen und danke den Teilnehmer*innen für ihre Anregungen und viele spannende Diskussionen. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei Ann Kristin Siegers, die besonders knifflige Passagen des Manuskripts gegengelesen und immer ein offenes Ohr für mich hat. Ein besonders großer Dank gilt meiner Familie, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Meinen Eltern danke ich von ganzem Herzen für ihre unerschöpfliche Unterstützung, ebenso meiner Schwester Valerie, die stets an meiner Seite steht. Vor allem danke ich aber meinem Mann Luca, dessen grenzenund bedingungsloser Beistand kaum in Worte zu fassen ist: Danke für endlose Gespräche, wertvolle Ratschläge, deinen Glauben an mich und für alles andere.
Teil 1: Überlegungen zu einer biopolitisch perspektivierten Literaturwissenschaft
1. Einleitung
Die vorliegende Untersuchung nimmt eine biopolitisch perspektivierte Lesart frankophoner Migrationsliteratur vor. Unter Migrationsliteratur werden dabei im weiteren Sinne solche Texte verstanden, die eine oder mehrere Migrationen schildern.1 Nicht erst seit der sogenannten »crise des réfugiés« (Wihtol de Wenden 2016: 7) im Jahr 2015 stellen globale Migrationsbewegungen eine drängende Herausforderung für die Weltgemeinschaft dar. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) befanden sich Ende 2020 weltweit über 82 Millionen Menschen auf der Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen, Verfolgung oder humanitären Notlagen, was im Vergleich zu Statistiken aus dem Jahr 1990 eine Verdopplung bedeutet (vgl. UNHCR 2021). Hinzu kommen all jene Menschen, die sich gezwungen sehen, ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not und Perspektivlosigkeit zu verlassen. In Anbetracht dieser Entwicklung scheint es wenig verwunderlich, dass sich auch die Literatur in den vergangenen Jahren, und insbesondere seit der Jahrtausendwende, zunehmend den Phänomenen Migration und Flucht widmet (vgl. Mazauric 2013: 77, Sellman 2013: 11). Aus Sicht der literaturwissenschaftlichen Forschung stellt sich somit die Frage, wie genau zeitgenössische Werke diese Themen aufgreifen und verhandeln. Auf welche literarischen Verfahren greifen einschlägige Erzählungen zurück, um das komplexe Thema Migration textuell, d.h. in einem produktiven Spannungsverhältnis zwischen Form(en) und Inhalt(en), lesbar 1
Im deutschsprachigen wie im frankophonen literaturwissenschaftlichen Diskurs sind der Begriff ›Migrationsliteratur‹, bzw. littérature migrante, und alternative Bezeichnungen Gegenstand terminologischer Debatten. Die Schwierigkeit einer Definition ergibt sich u.a. daraus, dass bei der Klassifizierung besagter Literatur der biografische Hintergrund der Autor*innen, inhaltliche oder auch ästhetische Merkmale in den Fokus genommen werden können und sich zudem die Frage stellt, was genau unter dem komplexen Phänomen ›Migration‹ verstanden wird (vgl. Nous 2018: 162, Blioumi 2021: 439, 442f.). Eine endgültige Klärung des Begriffs ist insofern im Rahmen dieser Untersuchung weder möglich, noch wäre sie zielführend, da sich die Studie speziell der literarischen Darstellung der politischen Verwaltung von Migration und somit biopolitisch auslegbaren Textphänomenen in literarischen Werken widmet, die von Migration handeln. Für einen Überblick über die Begriffsdebatte und alternative Termini siehe die zuvor zitierten Publikationen von Nous und Blioumi.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
zu machen? Welche stilistischen Phänomene, formal-strukturellen Relationen und diskursiven Formationen ergeben sich in der Narration von Migrationsbewegungen und Mobilität? Können literarische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Migration sowie textuelle Materialisierungen (d.h. narrative Konstrukte) der oft abstrakten machttechnischen und epistemischen Dynamiken, in die Migrationsbewegungen eingebettet sind, in ihrer besonderen Poetik einen Beitrag zu der Diskussion um ein gesellschaftlich hoch relevantes Thema leisten, ohne dass die betreffenden Texte als littérature engagée im Sinne Sartres (1948) erscheinen?2 Ist Literatur in ihrer spezifischen Medialität vielleicht gar ein privilegierter Ort, um die biopolitische Verwaltung des Lebens kritisch zu diskutieren und insofern auch dessen widerständige Kräfte fiktional auszuloten? Um diesen Fragen nachzugehen, untersucht die Studie fünf frankophone Texte, darunter vier Romane und eine Autofiktion, die Migrationen aus verschiedenen Teilen der Welt nach Europa schildern: Shumona Sinhas Assommons les pauvres! (2012 [2011]), Laurent Gaudés Eldorado (2009 [2006]), Tahar Ben Jellouns Partir (2007 [2006]), Delphine Coulins Samba pour la France (2014 [2011]) sowie Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad (2016 [2008]). Die Auswahl umfasst Werke von kanonisierten und weniger rezipierten Autor*innen mit oder ohne Migrationserfahrung, die Erzählungen haben unterschiedliche fiktionale und faktuale Anteile und sind weiterhin in diversen kulturell-geografischen Räumen verortet, wodurch eine möglichst breit gefächerte Perspektive auf das Thema Migration geboten werden soll. Überdies wurden für das zu untersuchende Korpus Texte ausgewählt, die erstmalig zwischen 2006 und 2011, also vor der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa erschienen sind. Diese Datierung erhebt den Anspruch, sowohl die fortdauernde Aktualität als auch eine gewisse Repräsentativität der erzählten Geschichten zum Ausdruck zu bringen, da die zeitgenössische Literatur, etwa im Vergleich zur medialen Berichterstattung, nicht erst seit 2015 verstärkt jene Fragen in den Blick nimmt, die Migrationsbewegungen an die europäische Gemeinschaft stellen. Ferner wurden die fünf genannten Texte in das Korpus aufgenommen, da sie je unterschiedliche Migrationsszenarien und Etappen von Migrationsprozessen fiktional thematisieren, sodass verschiedene Dimensionen des Phänomens Migration sowie dessen politischer Regulierung reflektiert werden. Shumona Sinhas Assommons les pauvres! zeichnet sich etwa durch eine detaillierte und ungeschönte Darstellung des
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In seinem Essay Qu’est-ce que la littérature? (1948) rechtfertigt Jean-Paul Sartre unter dem Eindruck der Nachkriegszeit seine Idee einer engagierten Literatur, die zu den Phänomenen ihrer Gegenwart Stellung beziehen müsse, da Literatur »par essence prise de position« (Sartre 1948: 300) bedeute. Die vorliegende Studie möchte die Frage nach einem möglichen politischen Engagement von Literatur zugunsten einer textimmanenten Analyse der untersuchten Werke zurückstellen, um herauszufinden, inwiefern diese über ihre textuelle Ästhetik Räume der Reflexion erschließen, die Debatten um Migrationsphänomene bereichern können.
1. Einleitung
europäischen Asylsystems aus. Laurent Gaudé entwirft in Eldorado zwei sich auf den ersten Blick diametral gegenüberstehende Perspektiven auf das Thema Migration, indem er sowohl einen sudanesischen Migranten als auch einen italienischen Grenzschützer zu Wort kommen lässt. Tahar Ben Jellouns Partir legt einen Fokus auf die post- und neokolonialen Dynamiken, die Migrationsbewegungen aus Afrika nach Europa und speziell aus Marokko nach Spanien generieren und beeinflussen. Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad handelt von den Irrwegen eines jungen Irakers, der um jeden Preis nach Großbritannien gelangen will und Delphine Coulins Samba pour la France verdeutlicht, dass eine Migration mit der ersehnten Ankunft im Zielland nicht zwingend geglückt ist, denn der seit zehn Jahren in Paris lebende Protagonist verliert unerwartet seinen Aufenthaltsstatus. Das Korpus soll insofern die literarische Darstellung von Migration heuristisch und dennoch möglichst umfassend widerspiegeln, als es einerseits diverse Momente eines Migrationsprozesses beleuchtet – von der Planung über den Aufbruch und die Reise selbst bis hin zur Ankunft und (meist schwierigen) Integration im Zielland – und andererseits migrantische Figuren ebenso wie Vertreter*innen der Aufnahmegesellschaft portraitiert. Die Theorie der Biopolitik wird für das Forschungsvorhaben als geeignetes konzeptuelles Leseraster betrachtet, da sie die dynamische Verfasstheit der politischen Verwaltung biologischen Lebens im Kontext von fiktionalen wie realen Migrationsbewegungen, die sich in einschlägigen Werken auf verschiedene Textebenen entsprechend auszuwirken scheint, besonders deutlich zu Tage treten lässt. In den Literaturwissenschaften ist dieser Zusammenhang bisher allerdings nur punktuell untersucht worden, wie der in Kapitel 3. referierte Forschungsstand verdeutlichen wird. Daher möchte die vorliegende Studie auf dem Feld der frankophonen Literaturwissenschaft anhand der ausgewählten Werke einen Beitrag zu der Fragestellung leisten, wie zeitgenössische Texte die politische Regulierung und Steuerung von Migrationsbewegungen literarisch ins Werk setzen. Der theoretische Rahmen der Untersuchung wird in Kapitel 2. ausgelotet, indem einige der bekanntesten Theorien der Biopolitik mit Blick auf die Lektüre von Migrationsliteratur aufgearbeitet und miteinander in Dialog gesetzt werden. Dafür werden eingangs die wegweisenden Studien Michel Foucaults zur Verwaltung des menschlichen Lebens kritisch dargelegt (vgl. 1975, 1976, 1997 [1975-76], 2004a [1977-78], 2004b [1978-79]), welche die Grundlage für zeitgenössische Ansätze, speziell aus dem Italian Thought (vgl. Esposito 2016: 146-195, Gorgoglione 2016: 27-62), bilden. Das Denken Foucaults wird dabei zunächst anhand von drei Grundachsen vorgestellt: Die erste ordnet die Biopolitik, sprich die individuelle Disziplinierung und kollektive Verwaltung des biologischen Lebens, als historische Zäsur des Politischen ein. Die zweite Achse untersucht den Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus, während die dritte die Verquickung von Biopolitik und liberalen Regie-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
rungspraktiken analysiert.3 Die theoretische Aufbereitung des Dispositivbegriffs (vgl. Foucault 1994a [1977]), ergänzt durch die Anschlüsse Giorgio Agambens (vgl. 2018 [2006]), bildet den Abschluss des Kapitels. Das Dispositiv stellt ein zentrales konzeptuelles Werkzeug in Foucaults Analysen von Machtdynamiken dar und wird sowohl im theoretischen und methodologischen Aufbau dieser Studie als auch in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Korpustexte als Denkmodell fungieren. Dadurch soll der Versuch unternommen werden, mittels der Analyse der in den Werken beobachteten Textstrategien sowie Bedeutungskonfigurationen das réseau, also die auf Interaktionen und Wechselbeziehungen basierende Netzwerkstruktur biopolitischer Dynamiken und Machtrelationen in einem Denkparadigma zu erfassen, das als ›Migrationsdispositiv‹ bezeichnet wird. In den darauffolgenden Kapiteln zur theoretischen Grundlage des Forschungsvorhabens werden Anschlüsse an Foucaults Ausführungen zur Biopolitik durch Giorgio Agamben (vgl. 2005 [1995]), Roberto Esposito (vgl. 2004, 2006 [1998], 2009 [2008], 2010, 2014) sowie Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2001 [2000], 2005 [2004], 2009) dargelegt. Die Theorien Agambens um den Ausnahmezustand und die Distinktion zwischen dem nackten und dem politisch qualifizierten Leben, ergänzt durch Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona (vgl. 2012 [1999]), sollen dazu dienen, die in den literarischen Werken dargestellte Kategorisierung und Regulierung des Lebens in der biopolitischen Verwaltung von Migrationsprozessen zu veranschaulichen. Weiterhin wird Roberto Espositos Immunisierungsparadigma eingesetzt, um u.a. die erzählten Abschottungsphänomene der fiktionalen europäischen Gemeinschaft lesbar zu machen. Michael Hardts und Antonio Negris Ausführungen zum Empire als neue bioökonomisch-politische Weltordnung sollen schließlich eine Deutung der fiktionalen Ökonomisierungsvorgänge ermöglichen, denen die Figuren in den untersuchten Texten ausgesetzt sind. Die in diesen Kapiteln analysierten Theorien der Biopolitik werden nicht zuletzt als Denk- und Schreibfiguren verstanden, die erzählerisch reflektiert werden. Auf den Forschungsstand und eine kurze Vorstellung der fünf Korpuswerke folgt der analytische Teil der Studie. Dieser ist um vier Begriffskomplexe organisiert, welche die thematischen und textuellen Phänomene bündeln sollen, in denen die erzählte biopolitische Verwaltung von Migrationsbewegungen literarisch zum Ausdruck kommt. Die Schlüsselbegriffe Macht, Subjekt, Schwelle und Alterität stehen dabei in Anlehnung an das oben skizzierte Modell konzeptuell für die Knotenpunkte des sogenannten Migrationsdispositivs. Im Gegensatz zu einer separaten Betrachtung der einzelnen Texte scheint eine solche thematische Gliederung der Analyse dem Gegenstand der Untersuchung gerechter zu werden, da sie der 3
In der Forschung ist die Aufteilung der foucaultschen Arbeiten zur Biopolitik in diese Haupttendenzen gängig und findet sich u.a. bei Thomas Lemke (vgl. 2007: 48f.), Ruggiero Gorgoglione (vgl. 2016: 11-16) oder Matías Saidel (vgl. 2018: 18-25).
1. Einleitung
interrelationalen und dynamischen Netzwerkstruktur der biopolitischen Verwaltung von Migrationsbewegungen Rechnung trägt. Außerdem ermöglicht ein solcher methodischer Aufbau, Parallelen zwischen den betrachteten Werken einander direkt gegenüberzustellen und die jeweiligen Erkenntnisse unmittelbar miteinander in Dialog zu setzen. Auch berücksichtigt die beschriebene thematische Gliederung die Tatsache, dass ein und dieselbe Textstelle, je nach angewandter Untersuchungsperspektive, einen polyvalenten Aussagecharakter aufweisen kann. Die Analyse erfolgt nach einer umfassenden, interdisziplinären und mehrsprachig ausgerichteten Methode, die über eine literaturwissenschaftliche Studie biopolitisch auslegbarer Texte verschiedene Forschungsdiskurse miteinander vernetzt. So greift das methodische Vorgehen u.a. auf Theorien der Philosophie, der Kulturwissenschaften sowie der Soziologie zurück und umfasst, um nur einige zu nennen, stilanalytische, intertextuelle, narratologische, diskursanalytische und rezeptionsästhetische Ansätze. In dem Kapitel zum Machtbegriff wird eine Analyse der erzählten Machtverhältnisse und epistemischen Strukturen vorgenommen, die sich im Zuge der biopolitisch motivierten Regulierung von Mobilität im Migrationsdispositiv ergeben. Hierunter fallen die Einordnung von staatlicher Macht als strukturelle Gewalt (vgl. Galtung 1975), die Betrachtung von Vertreter*innen staatlicher Macht als personifizierte Immunisierungsdispositive, die Untersuchung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Kommunikations- und Wissenssysteme innerhalb des Migrationsdispositivs, sowie die Einschätzung der Macht des Erzählens als literarische (Re-)Integration marginalisierter Stimmen in die Sphäre des Politischen. Unter dem Subjektbegriff möchte die Studie Prozesse der Subjektivierung und Desubjektivierung innerhalb des fiktionalen Migrationsdispositivs behandeln, welche die ausgewählten Werke formal wie textuell zu übersetzen scheinen. Dazu wird zunächst die in den Erzählungen erkennbare Verwaltung und Kategorisierung migrierenden und migrierten Lebens unter Rückgriff auf Giorgio Agambens und Alessandro Dal Lagos Konzepte des nackten Lebens, des politisch qualifizierten Lebens sowie der Nicht-Person beschrieben. Die so erschlossenen Dynamiken der Desubjektivierung werden daraufhin anhand von körperpoetischen und krankheitsmetaphorischen Textphänomenen tiefergehend ausgedeutet, die als Ausdruck einer Spaltung und Disseminierung der Subjektkategorie durch die Machtrelationen im Migrationsdispositiv gelesen werden. Schließlich wird insbesondere unter Rückgriff auf die Ausführungen Michael Hardts und Antonio Negris die in den Texten geschilderte Ökonomisierung des Subjekts vor, während und nach dessen Migration beleuchtet. Unter dem Oberbegriff der Schwelle werden die in den untersuchten Werken dargestellten Raumdynamiken betrachtet. Ausgehend von der Annahme, Biopolitik schaffe bestimmte Arten von Räumlichkeit, versucht dieser Teil der Abhandlung, zunächst eine biopolitische Ontologie der Grenze (vgl. Lotman 2010) zu entwer-
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fen. Anschließend soll die prekäre Raumerfahrung migrierender und migrierter Figuren fokussiert werden, die in den Korpustexten insbesondere aus dem vermehrten Auftreten von hierarchisch organisierten Topografien, Nicht-Orten (vgl. Augé 1992) und Heterotopien (vgl. Foucault 1994b [1984], 2005 [1966]) geschlossen werden kann. Schließlich werden auch textuelle Verfahren und Motive untersucht, mittels derer die Werke Migrationsbewegungen mit Vorstellungen von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit assoziieren, und somit die Norm der Sesshaftigkeit zu konterkarieren scheinen. Das Kapitel zum Alteritätsbegriff wird der Frage nachgehen, inwiefern die literarisch dargestellte, biopolitische Verwaltung von Migrationsprozessen in den analysierten Texten Entwürfe von Eigenheit und Fremdheit sowie entsprechende Abgrenzungsmechanismen (vgl. Waldenfels 1997, 2006, 2013 [1990], Hahn 1992) beeinflusst, diskursiv produziert oder gar materiell generiert. Dafür werden zunächst zwei konkurrierende Europabilder nachgezeichnet, einerseits das Eldorado Europa, andererseits die Festung Europa, welche offenbar als Reaktion auf die europäische Abschottung insbesondere durch migrantische Figuren als das zugleich begehrte und verurteilte Andere geprägt werden. Anschließend wird beleuchtet, wie die erzählten Exklusions- und Desubjektivierungsmechanismen des Migrationsdispositivs eine fundamentale Entfremdung und sogar einen Identitätsverlust herbeiführen können, bevor abschließend untersucht wird, wie die geschilderte politische Regulierung und Normierung des Lebens im Kontext von Migrationsbewegungen zu Überlagerungen von Alterität und Armut sowie von Alterität und Sexualität führen. Die Vielfalt erzählerischer Dimensionen und narrativer Strukturen wird also durch ein theoretisches Raster erforscht, das deren Eigenheiten mit einer dynamischen, variationsfähigen und dennoch ergebnisorientierten Methodik interagieren lässt. Im Fazit werden die in der Analyse erzielten Ergebnisse überblicksartig zusammengefasst und im Hinblick auf die eingangs formulierten Fragestellungen diskutiert.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2.1
Zum Begriff ›Biopolitik‹
Der Begriff ›Biopolitik‹ wird bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt in wissenschaftlichen Abhandlungen verwendet und ab den 1970er Jahren von Michel Foucault in dessen machtanalytischen Schriften entscheidend geprägt. Doch erst in den 1990er Jahren führen historische Ereignisse und Entwicklungen, wie der Zerfall der Sowjetunion, die zunehmende Globalisierung, weltweite Migrationsbewegungen, die Entstehung neuer Informationsnetzwerke, medizinische und biotechnologische Innovationen sowie die Konstitution supranationaler politischer Organisationen zu einer begrifflichen und wissenschaftlichen Konjunktur der Theorie der Biopolitik. Die genannten Phänomene und Umbrüche scheinen das Bedürfnis nach einem neuen Verständnis des Politischen und einer entsprechenden Terminologie auszulösen (vgl. Gorgoglione 2016: 9f.). Unter ›Biopolitik‹ versteht man allgemein die politische Verwaltung des biologischen Lebens mittels spezifischer Techniken des Regierens oder wie Roberto Esposito schreibt: »[S]i riferisce all’implicazione sempre più intensa e diretta che, a partire da una certa fase collocabile nella seconda modernità, si viene a determinare tra le dinamiche politiche e la vita umana intesa nella sua dimensione specificamente biologica.« (Esposito 2009: 139) So schlüssig diese erste Definition wirken mag, so divers sind die Berührungspunkte zwischen den beiden Bestandteilen des Worts, zwischen Politik und Leben, sodass der Begriff ›Biopolitik‹ historisch wie aktuell eine Fülle an Bedeutungsimplikationen aufweist. In politischen Diskursen und der medialen Berichterstattung wird der Terminus besonders häufig mit der Diskussion um die Vorteile, Gefahren und Folgen biotechnologischen1 Fortschritts assoziiert (vgl. Muhle 2013: 17). Biopolitik umfasst aber in einem weiteren Sinne u.a. medizinische und gesundheitspolitische Fragestellungen ebenso 1
Den Versuch einer Auslotung des Verhältnisses von Leben und Technik, bíos und technē, unternimmt Timothy Campbell (2011) unter Bezug auf u.a. Heidegger, Agamben, Esposito und Sloterdijk.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
wie die politische Beobachtung und Beeinflussung demografischer Entwicklungen unter Berücksichtigung ökonomischer Dynamiken und nicht zuletzt sicherheitsund migrationspolitische Angelegenheiten (vgl. Pieper 2007: 218, Esposito 2009: 145, Campbell/Sitze 2013: 2f.). Angesichts dieser thematischen Diversität scheint es kaum verwunderlich, dass der Begriff ›Biopolitik‹ zum einen normativ unterschiedlich konnotiert ist, und zum anderen in den verschiedensten Diskursen sowie von Vertreter*innen gänzlich konträrer Haltungen verwendet wird. Die Biopolitik weist nämlich sowohl als zu untersuchendes Phänomen als auch als analytisches Raster eine konstitutive Ambivalenz auf, die auf den nächsten Seiten konturiert wird: Bei ›Biopolitik‹ denken die einen an eine rationale und demokratische Gestaltung der Lebensverhältnisse, während andere sie mit Praktiken der Aussonderung, mit Krankenmord, Eugenik und Rassismus in Verbindung bringen. Der Begriff taucht bei Vertretern der Alten Rechten ebenso auf wie in neueren links-radikalen Texten, es verwenden ihn Kritiker des biotechnologischen Fortschritts, aber auch dessen Befürworter, erklärte Rassisten wie bekennende Marxisten (Lemke 2007: 9). Ähnlich mannigfaltig gestalten sich die fächerübergreifenden wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit biopolitischen Thematiken (vgl. Pieper u.a. 2011: 7), in denen selbst die Frage nach der historischen Verortung der Ursprünge der Biopolitik kontrovers diskutiert wird (vgl. Campbell/Sitze 2013: 1f.). Geisteswissenschaftler*innen scheinen sich in dieser Frage mehrheitlich den grundlegenden Arbeiten Michel Foucaults anzuschließen, der Biopolitik als ein Phänomen der Moderne definiert und ihre Anfänge Ende des 18. Jahrhunderts datiert. Roberto Esposito schreibt hinsichtlich der Genealogie der Biopolitik: Naturalmente si potrebbe osservare che da sempre la politica ha avuto a che fare con la vita; che la vita, anche in senso biologico, ha sempre costituito la cornice materiale in cui essa risulta necessariamente inscritta. Non dovrebbero, la politica agraria degli antichi imperi, o quella igienico-sanitaria sviluppata a Roma, rientrare a tutti gli effetti nella categoria di politica nella vita? E il rapporto di dominazione sul corpo degli schiavi, da parte degli antichi regimi, o, più ancora, il potere di vita o di morte esercito nei confronti dei prigionieri di guerra, non implicano una relazione diretta e immediata tra potere e bíos? […] Tuttavia ciò non basta a situare quegli eventi […] in un’orbita effettivamente biopolitica. Dal momento che non sempre, anzi mai, nella stagione antica e medioevale, la conservazione della vita in quanto tale ha costituito l’obiettivo prioritario dell’agire politico, come appunto avviene nell’età moderna. Come ha ricordato soprattutto Hannah Arendt, anzi, fino ad un certo momento la preoccupazione relativa al mantenimento e alla
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
riproduzione della vita apparteneva ad una sfera in sé non politica e non pubblica, ma economica e privata (Esposito 2009: 139).2 Innerhalb der politischen Philosophie stehen sich außerdem Theoretiker*innen einer affirmativen und einer negativen Interpretationslinie gegenüber. Während erstere die Biopolitik vorrangig als eine Politik für das biologische Leben betrachten, mittels derer es geschützt und gefördert werden soll, sehen letztere die Biopolitik primär als eine Politik über das Leben, welches durch spezifische Machtmechanismen kontrolliert und beschränkt wird. In der vorliegenden kulturwissenschaftlichen Untersuchung, welche die Basis für eine biopolitisch perspektivierte literaturwissenschaftliche Methodologie bildet, wird diese Debatte zugunsten der Erprobung des analytischen Potenzials beider Ausrichtungen der biopolitischen Theorie zurückgestellt. Paradigmen wie etwa jene von Roberto Esposito, Michael Hardt und Antonio Negri, die in der Forschung als Vertreter einer affirmativen Biopolitik eingeordnet werden, finden ebenso Anwendung wie Denkfiguren Giorgio Agambens, der gemeinhin als Repräsentant einer negativen Interpretation der Biopolitik bekannt ist3 (vgl. Campbell 2008: xx-xxviii, Campbell 2011: 31-82, Gorgoglione4 2016: 16-19). Es wird nämlich die These vertreten, dass die literarische Darstellung biopolitischer Phänomene von einer grundlegenden Ambivalenz charakterisiert wird, die eine dichotome Aufschlüsselung des Begriffs in methodischer Hinsicht wenig zielführend erscheinen lässt. Die in dem hier lediglich ansatzweise skizzierten thematisch und fachwissenschaftlich breiten Feld der Biopolitik geführten Debatten und behandelten Fragestellungen lassen sich nach Thomas Lemke auf eine wesentliche Problematik zurückführen: Gemeinsam ist ihnen, wenn auch in diversen Variationen und unterschiedlichen Gewichtungen, die Frage nach der Relationalität der beiden im Ter-
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Eigene Hervorhebungen in Zitaten werden als solche markiert. Andernfalls befindet sich die Hervorhebung im Original. Die besondere Präsenz des Italian Thought in der zeitgenössischen philosophischen Debatte um die Theorie der Biopolitik, dessen Entstehung aus dem italienischen operaismo sowie allgemein die Ursprünge der italienischen Tradition der politischen Philosophie (u.a. bei Vico und Machiavelli) skizzieren Roberto Esposito (vgl. 2016: 146-195) und Ruggiero Gorgoglione, letzterer insbesondere im ersten Teil seiner Monografie Paradoxien der Biopolitik (vgl. 2016: 27-62). Auch Gorgoglione sieht »vereinseitigende Perspektiven« auf die Theorie der Biopolitik im Sinne einer entweder affirmativ-produktiven oder negativ-repressiven Auslegung kritisch, da diese dem paradoxalen und komplexen Charakter biopolitischer Phänomene, in denen »Lebenspolitik und Thanatopolitik« (beide Gorgoglione 2016: 18) sich kreuzen und überlagern, nicht gerecht würde. Laut Gorgoglione kommt in dieser Hinsicht Roberto Esposito das Verdienst zu, mit dem Immunisierungsparadigma, das Gegenstand des Kapitels 2.4 sein wird, ein Denkmodell zu liefern, das die affirmative und die negative Auslegung der Biopolitik perspektivisch überzeugend miteinander in Interaktion setzt.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
minus angelegten Begriffskomplexe. Lemke spricht diesbezüglich von einer »polaren Grundkonstellation« (Lemke 2007: 11) des Begriffs ›Biopolitik‹ und unterscheidet naturalistische von politizistischen Ansätzen, die respektive den Lebensbegriff oder die Politik als vermeintlich unveränderlichen Kern ihrer jeweiligen Konzeptionen ansehen und biopolitische Fragestellungen von jenem Primat ausgehend denken: Die vermeintliche Naturbasis der Politik steht im Mittelpunkt eines heterogenen Ensembles von Theorien, das […] von den organizistischen Staatskonzepten des beginnenden 20. Jahrhunderts über rassistische Argumentationsmuster im Nationalsozialismus und in der Alten und Neuen Rechten bis hin zu biologistischen Ansätzen in der zeitgenössischen Politikwissenschaft reicht. Der politizistische Gegenpol fasst ›Biopolitik‹ als ein Handlungsfeld oder Teilgebiet der Politik, das sich mit der Regulierung und Steuerung von Lebensprozessen beschäftigt. […] Sehen die Vertreter des Naturalismus das Leben ›unterhalb‹ der Politik, wobei es politisches Denken und Handeln anleiten und erklären soll, bestimmt die Gegenseite Politik ›oberhalb‹ des Lebens; sie sei mehr als ›nur‹ Biologie und gehe über die Notwendigkeiten biologischer Existenz hinaus. Beide grundlegenden Perspektiven auf das Problem der Biopolitik halten jeweils einen Pol des Bedeutungsfelds stabil, um von dorther Variabilitäten im jeweils anderen zu erklären (ebd.: 11f.). Derartige substantialistische Annahmen sind jedoch unzulänglich, da eine solche Priorisierung eines der beiden Themenkomplexe einen, wenn nicht gar den zentralen Punkt der aktuellen Debatten um die Biopolitik nicht berücksichtigt, nämlich just die Variabilität und Unbeständigkeit der Schwelle zwischen der Politik und dem biologischen Leben (vgl. ebd.: 12) oder, wie Giorgio Agamben zu schreiben pflegt, die »zona di indiscinerbilità« (Agamben 2005: 7). Wie sich sowohl in den nachfolgenden theoretischen Ausführungen als auch in der auf ihnen basierenden biopolitisch perspektivierten Lektüre der Korpustexte an zahlreichen Stellen zeigen wird, kann die Biopolitik u.a. als eine Schwelle betrachtet werden, die sich grundlegend durch Ambivalenzen, Hybriditäten und gar Paradoxa charakterisiert. Da biopolitische Phänomene folglich mit Konzepten wie »diritti, […] democrazia, […] libertà« (Esposito 2009: 138) nur schwer zu fassen seien und traditionelle politische Kategorien wie »destra e sinistra, liberalismo e totalitarismo, privato e pubblico« (Agamben 2005: 134) in biopolitischen Debatten verschwämmen, fordern die Denker*innen der Theorie der Biopolitik die Suche nach neuen politischen Denkmustern und Terminologien (vgl. ebd.: 209f., Esposito 2009: 147): »Der Begriff der Biopolitik führt dergestalt zu einer grundlegenden Neuformulierung der politischen Begrifflichkeit und zu einer Erneuerung der politischen Praxis.« (Revel 2007: 245) Kehrt man zu der eingangs zitierten Definition von Roberto Esposito zurück, nach der Biopolitik die seit der Spätmoderne zunehmende Relationalität zwischen
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
der Sphäre des Politischen und jener des biologischen Lebens bezeichnet, gesellt sich zu den bisher aufgeführten Problemstellungen eine weitere, nicht minder komplexe: Was ist mit ›Leben‹ gemeint? Eine Untersuchung der Berührungspunkte zwischen Leben und Politik, also der Art und Weise, wie beide Bereiche interagieren, wirft gleichzeitig die Frage nach dem vertretenen Lebensbegriff auf. Freilich finden sich in der Theorie der Biopolitik auch diesbezüglich unterschiedliche Konzeptionen und Lesarten, deren ausführliche Diskussion im Rahmen dieser Arbeit allerdings weder möglich ist noch zielführend wäre. Einerseits droht ein umfassender philosophischer Klärungsversuch des Lebensbegriffs, wenn dieser angesichts der Komplexität des Gegenstands überhaupt möglich ist, zu viel Raum einzunehmen und den literaturwissenschaftlichen Fokus der Arbeit zu verlagern, andererseits würde er dem Anspruch der Studie widersprechen, die Theorie der Biopolitik just in ihrer Breite und Heterogenität als Lektüreschlüssel für Texte, die Migrationsprozesse schildern, zu fundieren und auszuloten.5 Ungeachtet der hier umrissenen thematischen Diversität und teils kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen hinsichtlich der Theorie der Biopolitik besteht in den Geisteswissenschaften Einigkeit in Bezug auf die Bedeutung der Arbeiten Michel Foucaults in diesem Bereich. Thomas Lemke hebt etwa als besonderes Verdienst Foucaults hervor, der genannten »polaren Grundkonstellation« (Lemke 2007: 11) der Biopolitik ein relationales und historisch basiertes Begriffsverständnis gegenüberzustellen, wonach »Leben weder die Grundlage noch den Gegenstand der Politik, sondern deren Grenze [bezeichnet] – eine Grenze, die zugleich respektiert und überwunden werden soll, die gleichermaßen als natürlich und vorgegeben wie als künstlich und revidierbar erscheint« (ebd.: 13). Aus zweierlei Gründen wird dieser Untersuchung nachfolgend ein Überblick der Studien Foucaults zur Biopolitik als theoretische Hauptachse vorangestellt: Zum einen bilden seine Schriften den Ausgangspunkt für die theoretischen Anschlüsse zeitgenössischer Denker wie Giorgio Agamben, Roberto Esposito und Michael Hardt sowie Antonio Negri. Zum anderen scheint der von ihm geprägte Dispositivbegriff besonders geeignet, um die diversen diskursiven und nicht-diskursiven Elemente zu erfassen, die im Rahmen von Migrationsprozessen konstitutiv sind. Überdies soll seine Dispositivkonzeption es erlauben, die Untersuchung auch jenseits der rein textuellen Ebene anzulegen und Literatur in ihrer Wechselwirkung mit der extratextuellen Welt zu betrachten.
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Maria Muhle (vgl. 2013, insbesondere 59-102) konturiert ausführlich verschiedene Konzeptionen des Lebensbegriffs in der Genealogie der und Debatte um die Biopolitik. Ruggiero Gorgoglione kommentiert die Lebensbegriffe der im theoretischen Rahmenwerk der vorliegenden Studie verwendeten Theoretiker der Biopolitik, sprich jenen Agambens (vgl. Gorgoglione 2016: insbesondere 76-84, 100-110), Hardts und Negris (vgl. ebd.: insbesondere 181183) und Espositos (vgl. ebd.: insbesondere 230-241, 251-281).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Ein Definitionsversuch der Biopolitik, wie er zum Zwecke dieser Studie nachfolgend unternommen wird, geht also notwendigerweise mit Prozessen der Selektion und Evaluation einher, die eine Positionierung in jenem extensiven theoretischen und empirischen Feld überhaupt erst ermöglichen. Die anschließenden Ausführungen zur Theorie der Biopolitik und einiger ihrer Gegenstandsbereiche erheben daher freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellen eine überblicksartige, wenngleich zielgerichtete Einführung in jene Konzepte dar, die mit Blick auf die literaturwissenschaftliche Analyse von Migrationsliteratur besonders fruchtbar erscheinen.
2.2 2.2.1
Die Geburt der Biopolitik – Michel Foucault Biopolitik als historische Zäsur des Politischen – leben machen und sterben lassen
Die Begriffe ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹,6 im Original zunächst bio-politique und bio-pouvoir (vgl. Foucault 1976: 183f.), prägt Michel Foucault zuerst in La volonté de savoir (1976), indem er gegen Ende besagter Studie eine Veränderung in der Handhabung des Lebens durch die Mechanismen der Macht feststellt, im Rahmen derer die vormalige Souveränitätsmacht insbesondere im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend von einer regulierenden Biomacht abgelöst wird (vgl. Saidel 2018: 18, Sarasin 2012: 170-172). Die souveräne Macht zeichnete sich demnach durch einen vorrangig negativen Zugriff auf das Leben aus, den Foucault als »prélèvement« (1976: 179), »Abschöpfung« (Foucault 1998: 163), bezeichnet: »Le pouvoir s’exerçait essentiellement comme instance de prélèvement, mécanisme de soustraction, droit 6
Andreas Folkers und Thomas Lemke (vgl. 2014: 12) weisen darauf hin, dass Foucault die beiden Begriffe nicht immer trennscharf und zeitweise gar synonym verwendet. Sie führen jedoch Beobachtungen von Petra Gehring (2014) an, nach denen Foucault den Terminus ›Biopolitik‹ tendenziell verwendet, wenn er von konkreten Techniken der Förderung des Lebens spricht, während ›Biomacht‹ eher den Machttyp und den gesellschaftlichen Gesamtkontext beschreibt, in dem diese Techniken Anwendung finden. Roberto Esposito hingegen grenzt eine affirmative Biopolitik als Politik für das Leben von einer negativen, repressiven Biomacht als Politik über das Leben ab (vgl. Celikates 2008: 57). Auch Michael Hardt und Antonio Negri grenzen die repressive Biomacht von einer produktiven und schöpferischen Biopolitik ab (vgl. Hardt/Negri 2009: 71). Negri schreibt hierzu: »Die Rede von Biomacht verweist auf die jeweiligen übergreifenden Strukturen und Funktionen der Macht […]. Bei Biomacht ist an die Quellen und Grundlagen staatlicher Macht zu denken, an die besonderen Techniken, die der Staat hervorbringt, beispielsweise was die Regierung der Bevölkerung angeht; Biopolitik, der biopolitische Kontext lässt hingegen an den ganzen Komplex, an die Möglichkeit und die Ausbreitung der Widerstände und der Konflikte gesellschaftlicher Machtdispositive denken.« (Negri 2007: 28)
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
de s’approprier une part des richesses […]. Le pouvoir y était avant tout droit de prise: sur les choses, le temps, les corps, et finalement la vie; il culminait dans le privilège de s’en emparer pour la supprimer« (Foucault 1976: 178f.). Es handelte sich also um eine Form der Kontrolle durch den Entzug von Gütern, Dienstleistungen und, im äußersten Fall, des Lebens, denn die souveräne Macht hatte das sogenannte »droit de vie et de mort« (ebd.: 178) inne, »le droit de faire mourir ou de laisser vivre« (ebd.).: Das souveräne Recht ist mithin ein asymmetrisches Recht, das sich einzig über die Macht zu töten artikuliert […]. Dabei mag das globale Ziel der Macht oder des Machthabers, hier des personifizierten Souveräns, seine eigene Erhaltung sein, d.h. die Aufrechterhaltung der Existenz- und Lebensbedingungen des Königs, die zugleich die des Reiches sind, das er verkörpert. Es wird nicht grundlos getötet, es gibt eine Berechtigung zum Töten […]. Diese Aufrechterhaltung des Lebens greift in einer souveränen Machtkonstellation jedoch nicht auf das Leben selbst zu, sondern ausschließlich auf ein dem Tod verschriebenes Leben: Das der souveränen Macht unterworfene Leben ist ein juridisch (und nicht lebendig) verfasstes und als solches immer schon dem Recht über Leben und Tod ausgesetzt. Die souveräne Macht ergreift das Leben also einzig indirekt, über seinen Tod. (Muhle 2013: 24f.) Bereits seit dem 17. Jahrhundert wird laut Foucault das souveräne Recht über den Tod zunehmend von einer neuen Machtform überlagert, welche sich dem Leben auf eine produktive Art und Weise widmet, indem sie es, im Gegensatz zur souveränen Macht der Abschöpfung, zu sichern, entwickeln und verwalten sucht: Le ›prélèvement‹ tend à n’en plus être la forme majeure, mais une pièce seulement parmi d’autres qui ont des fonctions d’incitation, de renforcement, de contrôle, de surveillance, de majoration et d’organisation des forces qu’il soumet: un pouvoir destiné à produire des forces, à les faire croître et à les ordonner plutôt que voué à les barrer, à les faire plier ou à les détruire. (Foucault 1976: 179) Jenes neue Verständnis des Lebens als etwas Lebendiges und Schützenswertes, der Zeitpunkt der »entrée de la vie dans l’histoire« (ebd.: 186), geht zu einem Großteil auf historische Entwicklungen zurück und wird insbesondere im Zuge des industriellen, landwirtschaftlichen und medizinischen Fortschritts im 18. Jahrhundert gefestigt. Einerseits werden die Bedrohungen reduziert, denen das Leben zuvor etwa durch Krankheit oder Ernteausfall ausgesetzt war, andererseits wächst das medizinische und wissenschaftliche Interesse am biologischen Leben und dem menschlichen Körper als seinem Träger (vgl. ebd.: 186f.). Die Biomacht positioniert sich somit in ihrer Handhabung des Lebens konträr zur vormaligen Souveränitätsmacht: »On pourrait dire qu’au vieux droit de faire mourir ou de laisser vivre s’est
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
substitué un pouvoir de faire vivre ou de rejeter dans la mort« (ebd.: 181).7 Diese Macht hat es nicht länger mit reinen Rechtssubjekten zu tun, auf die sie über das Recht zu Töten zugreift, sondern mit Lebewesen, deren Kontrolle über das Leben selbst erfolgen muss (vgl. ebd.: 187f.). Ihr primäres Instrument ist daher nicht länger das Gesetz, sondern die Norm (vgl. Saidel 2018: 19). Die Annahme, dass der Tod bzw. das Töten in dieser dem Erhalt und der Förderung des Lebens verschriebenen Machtform keinen Raum habe, wäre aber ein Trugschluss, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird. In einem nächsten Schritt schreibt Michel Foucault besagter Biomacht zwei Wirkungsweisen zu (vgl. Sarasin 2003a: 57f.), die sich historisch mit zeitlichem Abstand entwickeln: Die Macht über das Leben manifestiert sich bereits im 17. Jahrhundert über die Disziplinierung des individuellen Körpers und seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in der Regulierung eines Bevölkerungskollektivs (vgl. Foucault 1976: 182-184). Die beiden Achsen der Biomacht unterscheiden sich somit zum einen in ihrem Gegenstand und zum anderen in ihren Verfahrensweisen und Techniken, sind jedoch eng miteinander verwoben. Die Disziplinartechnologie, der Foucault sich zuvor u.a. in Surveiller et punir: Naissance de la prison (1975) gewidmet hatte, begreift den menschlichen Körper als Maschine und zielt darauf ab, ihn zu überwachen und zu dressieren, um ihn in ökonomische Strukturen integrieren zu können (vgl. Revel 2007: 249): »Das analytische Schema der ›Biopolitik‹ ist deshalb schon im Kern eine Bioökonomie, weil an die Stelle der souveränen Macht die Produktivität von Menschenleben gesetzt wird. Das Leben des Einzelnen wird zu einer Ressource für ein als souverän geltendes Wachstum.« (Borsò 2013: 18) Dieser Machtmechanismus vollzieht sich erneut auf eine vorrangig produktive Weise, da er weniger repressiv agiert, als vielmehr die Lebenspraktiken und Wahrnehmungsmodi der Subjekte (d.h. hier auch der Unterworfenen) prägt. Dies führt wiederum zu einer speziellen doppelten Wirksamkeit jener Form der Macht, da sie den Körper gleichzeitig nutzbar macht und politisch unterwirft, ohne Gewalt auszuüben: Le moment historique des disciplines, c’est le moment où naît un art du corps humain, qui ne vise pas seulement la croissance de ses habiletés, ni non plus l’alourdissement de sa sujétion, mais la formation d’un rapport qui dans le même mécanisme le rend d’autant plus obéissant qu’il est plus utile, et inversement. (Foucault 1975: 139) Die zweite Achse der Biomacht reguliert das Leben auf einer kollektiven Ebene, indem sie über die Erhebung von Daten und zielgerichtete Interventionen den 7
Judith Revel (2018) fragt in ihrem Artikel Ne pas faire vivre et laisser mourir, inwiefern die europäische Migrationspolitik im Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise mit Foucaults Paradigma der Biopolitik gelesen werden kann.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Bestand einer Bevölkerung kontrolliert, verwaltet und gewährleistet. Bevölkerung meint allerdings bei Foucault keinen Gegenstand im juristischen oder politischen Sinne, sondern ein Kollektiv, einen »corps-espèce« (Foucault 1976: 183): Innerhalb dieser neuen positiven Macht existieren zwei Gegenstände – Körper und Leben –, zwei Mechanismen der Macht – Kontrolle und Regulierung – und zwei Modi des Bezugs auf die Gegenstände – ein individualisierender und ein globalisierender […]. Beide Pole bilden Machttechniken aus: Disziplinäre Kontrollmechanismen einerseits, die vor allem Institutionen wie Schulen, Internate, Kasernen, Fabriken strukturieren, und biopolitische Regulierungsmechanismen andererseits, die sich auf das Leben der Bevölkerung beziehen. Dazu gehören demografische und medizinische Techniken, Hygienepraktiken, aber auch die statistische Abschätzung des Verhältnisses zwischen Ressourcen und Einwohnern, die Tabellierung der Reichtümer und ihrer Zirkulation, die Berechnung der wahrscheinlichen Lebensdauer der Bevölkerung und ihrer Teile. (Muhle 2013: 27) Folgt man dieser Aufteilung Foucaults, so agiert die Migrationspolitik auf beiden Ebenen der Biomacht, wie in dem analytischen Part der vorliegenden Abhandlung ausgeführt wird: Als eine Form der demografischen Regierungstechnik zielt sie in einer kollektiven Dimension auf die Kontrolle des migrationsbedingten Bevölkerungswachstums. Auf einer individuellen Ebene ermöglicht oder verhindert sie die Migration von Einzelpersonen unter bestimmten Bedingungen mittels einer Reihe spezifischer Dispositive. Obgleich die Biomacht sich also in ihrer produktiven Verfasstheit grundlegend von der eingangs beschriebenen, das Recht zu töten innehabenden Souveränitätsmacht unterscheidet, besteht paradoxerweise auch im Rahmen einer Macht für das Leben die Möglichkeit, um des Lebens Willen zu töten. In der Vorlesungsreihe Il faut défendre la société fragt Foucault, wie das Töten Eingang in eine Politik des Lebens finden kann, um gleich darauf selbst die Antwort zu geben: »Comment un pouvoir comme celui-là peut-il tuer, s’il est vrai qu’il s’agit essentiellement de majorer la vie, d’en prolonger la durée, d’en multiplier les chances, d’en détourner les accidents, ou bien d’en compenser les déficits? […] C’est là, je crois, qu’intervient le racisme« (Foucault 1997: 226f.).
2.2.2
Biopolitik und (Staats-)Rassismus
Michel Foucault konstatiert einen direkten Zusammenhang zwischen der Entstehung moderner rassistischer Ideologien und biopolitischen Regierungstechniken (vgl. Saidel 2018: 20f.). In einer Vorlesung vom 28. Januar 1976 skizziert er eine »histoire […] de la lutte des races« (Foucault 1997: 57) und stellt dabei fest, dass der Rassismusdiskurs erst im Laufe des 19. Jahrhunderts die biologische bzw. ethnische Konnotation erhält, in der er auch heute noch verwendet wird (vgl. ebd. 70f.,
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Stingelin 2003: 17f., Sarasin 2003a: 56f.). Im Kontext einer allgemeinen politischen Hinwendung zum Leben erhält auch der Rassismus eine biologische Bedeutungsdimension, die ihn zu einem Faktor in der biopolitischen Sicherung des kollektiven Lebens werden lässt. Für das Überleben der Bevölkerung hat Rassismus in seiner heutigen Semantik nach Foucault nämlich zwei Funktionen (vgl. Sarasin 2012: 173f.): Zum einen ermöglicht er die soziale Stratifizierung eines Kollektivs, wie etwa der Bevölkerung, in ›höhere‹ und ›niedrigere‹ Gruppen, also solche, die gefördert und gestärkt werden sollen und solche, die für den Fortbestand der Gruppe und die Steigerung ihrer Kräfte nicht nützlich, wenn nicht gar hinderlich sind: »En effet, qu’est-ce que le racisme? C’est, d’abord, le moyen d’introduire enfin, dans ce domaine de la vie que le pouvoir a pris en charge, une coupure: la coupure entre ce qui doit vivre et ce qui doit mourir.« (Foucault 1997: 227) In einer späteren Passage spezifiziert Foucault allerdings, dass er unter Tötung nicht allein tatsächlichen Mord verstanden wissen will, sondern auch »la mort politique, l’expulsion, le rejet« sowie Formen des »meurtre indirect« meint, etwa »le fait d’exposer à la mort, de multiplier pour certains le risque de mort« (alle ebd.: 228f.). Es geht ihm also einerseits um das bereits zitierte »rejeter dans la mort« (Foucault 1976: 181) der Biopolitik, indem bspw. bestimmte Teile der Gesellschaft medizinisch schlechter versorgt werden als andere, aber andererseits auch um Formen des ›symbolischen‹ Todes durch Ausschlussmechanismen: Im Zeitalter der Biopolitik ist der Rassismus für Foucault jene Funktion, die das Gesunde vom Kranken unterscheidet, und zwar in dem Maße, wie das ›Gesunde‹ auf der Ebene des Volkskörpers gesucht wird; Rassismus ist eine Selektion, die die als ›krank‹, als ›fremd‹, als ›unrein‹ oder als ›rassisch anders‹ vorgestellten Teile der Bevölkerung ausscheidet. Das muss nicht zur tatsächlichen Tötung führen, sondern beginnt schon bei der sozialen Ausgrenzung bzw. beim sozialen Tod dieser Menschen. (Sarasin 2012: 173) In seiner zweiten Wirkungsdimension stellt Rassismus zwischen den Gruppierungen, die durch die Aufteilung der Gesellschaft entstanden sind, eine Relationalität her und setzt sie in ein Konkurrenzverhältnis, in welchem der Fortbestand der einen Gruppe das Überleben der anderen gefährde (vgl. Foucault 1997: 227f., Stingelin 2003: 19). Die biopolitisch regierte Gesellschaft wird somit, im Gegensatz zu früheren Populationen, die vorrangig durch äußere Feinde gefährdet waren, gleichermaßen ›von innen‹ bedroht und der Rassismus wird zum Instrument, diese innere Gefährdung zu bekämpfen.8
8
In einer postkolonial perspektivierten Studie ergänzt Achille Mbembe Foucaults Analyse des modernen Rassismus um »quelques-unes des topographies refoulées de la cruauté« (Mbembe 2006: 59), insbesondere um die Kolonie und die Plantage. Mbembe untersucht Kolonialismus und Sklaverei, die er als »l’une des premières manifestations de l’expérimen-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Das souveräne Recht zu Töten bleibt also trotz der fundamentalen Veränderungen, die der Übergang von Souveränitätsmacht zu Biomacht im Politischen laut Foucault herbeiführt, in modifizierter Form in der Politik des Lebens erhalten. Es erfährt eine Art Verallgemeinerung, indem eine rassistische Kategorisierung der Gesellschaft das Töten, im direkten wie indirekten bzw. symbolischen Sinne, zum Wohle der Allgemeinheit legitimiert: Krieg, Tod oder Völkermord, so scheint Foucault zu sagen, werden biopolitisch, weil sie auf die biologische Erhaltung des Volkes und nicht auf die juridisch-symbolische Erhaltung des Souveräns ausgerichtet sind. Es ›darf‹ nur noch zur Sicherheit der Bevölkerung, in Verteidigung der Gesellschaft, getötet werden. Die Macht zu töten wird an die Bedingung des Lebens des Ganzen gebunden. (Muhle 2013: 26f.) Mit Blick auf die Analyse literarischer Schilderungen von Migrationsbewegungen können Foucaults Ausführungen zum Rassismus insofern erzählte Phänomene von tatsächlicher und symbolischer Exklusion sowie gesellschaftlicher Segregation lesbar machen.
2.2.3
Biopolitik – Von der »Kunst des Regierens«
Die dritte thematische Hauptachse, die sich in Michel Foucaults Ausführungen zur Biopolitik ausmachen lässt, befasst sich mit der Politik des Lebens als einer spezifischen »art de gouverner« (Foucault 2004b: 3), die sich mit dem Liberalismus ausbildet (vgl. ebd.: 20-25). In einer in den Jahren 1977 bis 1979 am Collège de France gehaltenen Vorlesungsreihe untersucht Foucault den Begriff der Regierung in einer historischen Perspektive von der Antike bis in die Gegenwart, was in der Forschung teilweise als signifikante Verschiebung (vgl. Stingelin 2003: 9f., Saidel 2018: 22-25,
tation biopolitique« (ebd.: 35) betrachtet, mittels einer Fortentwicklung der foucaultschen Terminologie um das Schlagwort Nécropolitique. Es war nämlich laut Mbembe nicht die Biopolitik, sondern eine »politique de la mort« (ebd. 59), die den Kolonialmächten in der Logik des Ausnahmezustands den direkten Zugriff auf das Leben der Versklavten ohne rechtliche Grundlage ermöglichte. Mbembes Ausführungen bieten somit eine wichtige Erweiterung der zuweilen eurozentrisch geprägten Debatte um die Theorie der Biopolitik um einen afrikanischen Standpunkt (vgl. Chami 2019: 9-19), können jedoch der Stringenz der Argumentation wegen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich berücksichtigt werden. U.a. mit Bezug auf Mbembe ergänzt aus einer lateinamerikanischen Perspektive Matías Saidel Foucaults Studien zu Biopolitik, Gouvernementalität und Rassismus um postkoloniale Impulse (vgl. Saidel 2018: 27f.). Die Politikwissenschaftlerin Mareike Gebhardt (vgl. 2020) verwendet Mbembes Konzept der nécropolitique, um den Umgang Europas mit Flucht und Migration zu deuten und gleichzeitig die Möglichkeiten migrantischen Widerstands auszuloten.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Pieper 2007: 218f.), wenn nicht gar als Bruch in seinen Studien rezipiert wird,9 welche nunmehr von den Dynamiken der Macht Abstand nehmen und sich verstärkt jenen des Politischen zuwenden, woraus der foucaultsche Begriff der gouvernementalité (vgl. Foucault 2004a: 119) hervorgeht. Foucaults Analyse von Regierungstechniken und insbesondere der Blick in die Vergangenheit, in der gouverner allgemein die Steuerung von Menschen bezeichnete und auch Techniken des ›Sich-selbst-Regierens‹ (d.h. der Subjektivierung in Form von Individualisierung durch Dispositive und Praktiken) einschloss (vgl. ebd.: 124-127), führt den Philosophen zu einer Revision der Semantik des Begriffs und dem zentralen Ergebnis, dass eine enge Verbindung zwischen Biopolitik und der Entstehung liberaler Regierungsmodelle im 18. Jahrhundert besteht (vgl. ebd.: 4450, 2004b: 20-25). Diese unter den Vorzeichen des Liberalismus stehende Perspektive auf die Biopolitik wird sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung in mehrfacher Hinsicht als fruchtbar erweisen: Zum einen bildet sie den Ausgang für die Anschlüsse Michael Hardts und Antonio Negris, mit denen die in den Korpustexten geschilderte biopolitische Ökonomisierung migrantischen Lebens gedeutet werden soll. Zum anderen führt diese Achse der foucaultschen Theorie der Biopolitik den Begriff der Freiheit verstärkt in die Diskussion ein, wie nachfolgend ausgeführt wird, und markiert somit auch einen möglichen Ort des Widerstands (vgl. Marazzi 2013: 39f.), der u.a. in Kapitel 2.5.3 unter dem Konzept der Autonomie der Migration konturiert wird. Unter Liberalismus versteht Foucault zunächst weder ein ökonomisches Modell noch eine politische Gesinnung, sondern vielmehr eine selbstreflexive Regierungstechnik, welche die Gesellschaft als politischen Akteur wahrnimmt und die Steigerung ihrer Produktivität zum Ziel hat. Diese liberale Form der Politik organisiert sich nicht länger nach einem vorgegebenen Recht oder einer vermeintlich gottgegebenen Ordnung, sondern folgt einem »naturalisme gouvernemental« (Foucault
9
Maria Muhle (vgl. 2013: 251-262) argumentiert hingegen, dass es sich bei Foucaults Analysen gouvernementaler Techniken vielmehr um eine Öffnung seines Begriffs der Biopolitik handelt. Sie konstatiert, dass der Philosoph in vorherigen Studien das Leben tendenziell als rein biologisches sowie als »Gegenstand biologisch-medizinischen Wissens« (ebd. 253) versteht, wodurch auch seine Konzeption der Biopolitik insgesamt zeitweise verengt erscheint. Mit der Gouvernementalität scheint Foucault von jenem medizinisch-biologischen Fokus abzurücken und vermehrt Techniken in den Blick zu nehmen, die das Leben auf eine indirekte Art und Weise verwalten: »Die Gouvernementalität bezieht sich auf das Leben durch die Vermittlung sozialer, ökonomischer, geografischer, urbanistischer oder anderer externer Phänomene. Die Einführung eines neuen Namens der Macht steht demnach dafür ein, dass Foucault an einem weiteren Begriff von Biopolitik interessiert ist« (ebd.: 254). In jenem erweiterten Verständnis von Biopolitik, ihren Gegenständen und Funktionsweisen, wird nach Muhle eine systematische Unterscheidung von Biopolitik und Gouvernementalität hinfällig (vgl. ebd: 253).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2004b: 63), einer »raison gouvernementale« (ebd.: 22) nach dem Modell der politischen Ökonomie eines sich spontan selbst regulierenden Markts (vgl. Borsò 2013: 17f.), indem sie die eigenen Interventionen im Hinblick auf ihre Notwendigkeit und Effizienz hinterfragt und auf die ›natürlichen‹ Dynamiken der Bevölkerung reagiert (vgl. Foucault 2004b: 20-25, 29-34, Saidel 2018: 22), ohne dabei aber eine ›gute‹ Politik sein zu wollen: La naissance de cette nouvelle économie politique présente deux caractéristiques essentielles. D’une part, le retrait de l’État (l’idée que l’on gouverne toujours trop, et que les biopouvoirs permettent précisément une gestion plus efficace et moins dispendieuse des hommes: c’est au nom de la rationalité économique que le retrait de l’État devient désormais désirable); de l’autre, l’idée que la productivité est en réalité l’enjeu de cette grande réorganisation des pouvoirs. La biopolitique – en tant qu’ensemble extrêmement varié de biopouvoirs locaux, c’est-à-dire de pouvoirs sur la vie qui accroissent la disposition de celle-ci à se plier à la logique de la productivité – ne peut être saisie que comme dispositif productif. Il n’y a pas de biopolitique sans l’obtention d’une valeur ajoutée, sans un surplus, sans la création d’une excédence – et cela, même si les conditions d’existence et de travail des hommes et des femmes qui y sont assujettis sont terribles. (Revel 2017: 59) Die Bevölkerung mit ihren natürlichen Prozessen, »l’homo œconomicus« (Foucault 2004b: 262), sowie die Freiheit und Rechte ihrer Mitglieder bilden demnach die Handlungs- und Reflexionsgrundlage einer solchen liberal-rationalen Regierungstechnik, die sich selbst beschränken und in einer Manier des ›Laissez-faire‹ (vgl. ebd.: 22) eher unterstützen und antreiben als unterbinden und verbieten möchte. Dies als einen partiellen staatlichen Machtverlust zu deuten, wäre allerdings fehlgeleitet, denn es ist gerade die individuelle Freiheit, die der Macht neue Ansatzpunkte für Interventionen bietet. Die Gouvernementalität macht es sich nämlich zur Aufgabe, mittels spezifischer Sicherheitstechniken zwischen individuellen Freiheiten einerseits und dem Allgemeinwohl andererseits zu vermitteln. Daraus ergibt sich, dass Freiheit im foucaultschen Liberalismus ausschließlich innerhalb der Grenzen einer Macht gedacht werden kann, deren Grundlage sie zwar stellt, durch die sie aber umgekehrt überhaupt erst ermöglicht wird (vgl. ebd.: 63-67.). Roberto Esposito kommentiert: Come si sa, lo stesso Foucault ha fornito un’interpretazione biopolitica del liberalismo tesa a mettere in luce l’antinomia fondamentale su cui poggia e che riproduce potenziata. Nella misura in cui non può limitarsi alla semplice enunciazione dell’imperativo della libertà, ma implica l’organizzazione delle condizioni alle quali questa risulta effettivamente possibile, esso finisce per entrare in contraddizione con le proprie premesse. Dovendo costruire l’alveo di scorrimento controllato per incanalare la libertà in una direzione non nociva per l’insieme della
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
società, il liberalismo rischia continuamente di distruggere ciò che pure dice di volere creare (Esposito 2004: 74f.). Die Priorisierung der Entwicklung des Bevölkerungskollektivs über bestimmte Sicherheitsmechanismen bildet den Rahmen, in dem die individuelle Freiheit sich entwickeln kann, obgleich gerade letztere die Grundlage der ›natürlichen‹ Prozesse der Gesellschaft bildet, die den Gegenstand der liberalen Regierungstechniken darstellen (vgl. Muhle 2013: 258f.). Wie schon in seinen früheren Untersuchungen der disziplinaren Biomacht, »qui […] rend [le corps humain] d’autant plus obéissant qu’il est plus utile, et inversement« (Foucault 1975: 139), entwirft Foucault die Macht im Liberalismus als eine in ihrer Wirkungsweise doppelt agierende und maßgeblich ›positive‹, da es ihr gelingt, dem Subjekt die Entfaltung seiner persönlichen Freiheit zu suggerieren und diese in begrenztem Maße auch tatsächlich zu ermöglichen, es jedoch gleichzeitig in ein effizientes, auf das Allgemeinwohl ausgerichtetes System zu integrieren: Das Subjekt regiert sich selbst »in einer Doppelbewegung von Unterwerfung und Subjektwerdung« (Pieper 2007: 219). Es ist u.a. diese Hinwendung zum Subjekt, das nicht allein durch ein Netzwerk von Machtdynamiken geschaffen wird, sondern sich ebenso aktiv konstituiert, welche im foucaultschen Denken die Möglichkeit des Widerstands mittels der selbstständigen Erschließung alternativer, womöglich widerständiger Subjektivierungsformen zu eröffnen scheint (vgl. ebd.: 219f., Kapitel 2.6). Mit Blick auf die literarische Analyse erlauben Foucaults Ausführungen zum Liberalismus als Regierungstechnik nachzuvollziehen, wie die Integration von Subjekten in die Mechanismen der Macht funktioniert und welcher Raum der Freiheit dabei zugestanden wird. Außerdem verdeutlichen sie, dass Biopolitik sich die Wirkungsweisen ihres Gegenstands, des Lebens, zu eigen macht, indem sie sich als ›natürliches‹ und ›lebendiges‹ System ausgibt (vgl. Muhle 2013: 11, 247-249).
2.2.4
Das Dispositiv nach Michel Foucault und Giorgio Agamben
Abschließend sollen in diesem Kapitel Michel Foucaults Dispositivbegriff sowie im Anschluss daran jener Giorgio Agambens beleuchtet werden, da das Konzept in der vorliegenden Untersuchung als formales wie inhaltliches Analyseinstrument zum Einsatz kommen wird. In Bezug auf den Inhalt der Korpustexte erlaubt die Denkfigur des Dispositivs nämlich zunächst eine Beschreibung der heterogenen Gesamtheit von Elementen und Maßnahmen vorzunehmen, die in den zu analysierenden Narrationen im Kontext von Migrationsprozessen zum Tragen kommen und interagieren, sodass in einem nächsten Schritt überprüft werden soll, inwiefern von einem Migrationsdispositiv die Rede sein kann. In formaler Hinsicht und einer globalen Perspektive wird jenes Paradigma Foucaults außerdem Anwendung
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
finden, um der Frage nachzugehen, inwiefern Literatur selbst biopolitisch agiert und somit in ihrer Medialität als Dispositiv betrachtet werden kann. In den zu untersuchenden literarischen Werken ebenso wie in der extraliterarischen Welt entscheiden u.a. die Nationalität und der politische Status migrierender Figuren bzw. Personen über deren Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Die individuelle oder allgemeine ökonomische Situation sowie politische Aktivitäten in der Heimat können sich auf die Aussichten auf eine Aufenthaltsgenehmigung und die Einbürgerung im Aufnahmeland auswirken – kurz: Politische Strukturen und Mechanismen determinieren die zur Verfügung stehenden Subjektivierungsoptionen. Diese ›Biopolitik der Migration‹ scheint dabei aus einem komplexen Geflecht aus Spezialdiskursen (vgl. Link 2013: 10f.), wie dem juristischen und dem ökonomischen Diskurs, sowie u.a. aus Institutionen, kulturellen Bedeutungssystemen und Praktiken, Wissensordnungen, Gesetzgebungen und nicht zuletzt gesellschaftlichen Normen und Konventionen zu bestehen. Das Paradigma des Dispositivs erscheint dergestalt als besonders geeignet, um diese Formationen heterogener Elemente und die ihnen inhärenten Verschränkungen von Wissens- und Machtstrukturen adäquat beschreiben und ihre literarischen Umsetzungen untersuchen zu können. Die Genese des Dispositivbegriffs markiert laut Link (vgl. ebd.: 17f.) in der Entwicklung des theoretischen Werks Foucaults einen Wechsel in seinem vorrangigen methodologischen Vorgehen von der Archäologie hin zur Genealogie. Konzentrierte sich der foucaultsche Diskursbegriff trotz der Einbeziehung von nichtdiskursiven Praktiken insbesondere auf interdiskursive Dynamiken und somit auf horizontal angelegte Prozesse der Wissensproduktion, so kann der Dispositivbegriff als eine Erweiterung der Diskurstheorie um eine vertikale Achse begriffen werden, anhand derer Machtstrukturen, ihre spezifischen Wirkungsweisen sowie ihr Verhältnis zu Wissenssystemen analytisch beschrieben werden können. Sarasin formuliert es wie folgt: »Die Konzeptualisierung der Verbindung von Wissen und Macht ist die theoretische Innovation von La volonté de savoir; Foucault nennt sie ein ›Dispositiv‹« (Sarasin 2012: 159). In einem Interview formuliert Michel Foucault 1977 die prägnanteste und wohl meistzitierte Definition des Dispositivkonzepts, indem er diesem drei Bedeutungsebenen zuschreibt. Der Philosoph versteht das Dispositiv erstens als eine konstitutiv heterogene Ansammlung diskursiver und nicht-diskursiver Elemente, »comportant des discours, des institutions, des aménagements architecturaux, des décisions réglementaires, des lois, des mesures administratives, des énoncés scientifiques, des propositions philosophiques, morales, philanthropiques, bref: du dit aussi bien que du non-dit« (Foucault 1994a: 299). Zweitens beschreibt Foucault das Dispositiv als das »réseau« (ebd.) aus netzwerkartigen Verbindungen zwischen eben diesen heterogenen Elementen, als strukturell dynamische Anordnung, innerhalb derer Verschiebungen und Positionswechsel stattfinden,
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sodass ein Element zuweilen unterschiedliche Funktionalitäten aufweisen kann. Jene Einschreibung einer relationalen Dynamik sowie der daraus resultierenden variablen Funktionalität der das Dispositiv konstituierenden Elemente weisen bereits auf das dritte Charakteristikum des Konzepts hin. Das Dispositiv hat nämlich nach Foucault eine grundlegend strategische Funktion, die sich aus der Semantik des Worts im französischen Sprachgebrauch ableiten lässt (vgl. Link 2014: 238), da es zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt als Reaktion auf eine urgence, also einen Notstand, zum Einsatz kommt. Somit beschreibt das Konzept ein heterogenes und funktional dynamisches Ensemble, mit dem Problematiken gelöst werden sollen bzw. auf gewisse Umstände geantwortet wird, wodurch sich die Frage nach den Kräfteverhältnissen, Machtstrukturen und Wissensordnungen in dem Dispositiv und seinem Umfeld stellt: J’ai dit que le dispositif était de nature essentiellement stratégique, ce qui suppose qu’il s’agit là d’une certaine manipulation de forces, d’une intervention rationnelle et concertée dans ces rapports de force, soit pour les développer dans telle direction, soit pour les bloquer, ou pour les stabiliser, les utiliser. Le dispositif est donc toujours inscrit dans un jeu de pouvoir, mais toujours aussi lié à une ou à des bornes de savoir, qui en naissent, mais, tout autant, le conditionnent. C’est ça, le dispositif: des stratégies de rapports de force supportant des types de savoir, et supportés par eux. (Foucault 1994a: 300) Die vertikal angelegten und an Wissensordnungen gekoppelten Machtstrukturen des Dispositivs manifestieren sich u.a. in den binären Kategorien der disponierenden und der disponierten Subjektivität. Die disponierende Subjektivität hat eine privilegierte Machtposition inne, verfügt über ein Wissensmonopol und normiert das Sag- und Wissbare, während das disponierte Subjekt einer zweifachen Wirkungsweise der Macht ausgesetzt ist, die es zugleich subjektiviert, also konstituiert, und unterwirft: Foucault ha cosí mostrato come, in una società disciplinare, i dispositivi mirino attraverso una serie di pratiche e di discorsi, di saperi e di esercizi alla creazione di corpi docili, ma liberi, che assumono la loro identità e la loro ›libertà‹ di soggetti nel processo stesso del loro assoggettamento. (Agamben 2018: 29) Die Verschiebungen und Positionswechsel, die Foucault auch als Spiel beschreibt (vgl. Foucault 1994a: 299), führen nun aber dazu, dass auch die (Macht-)Positionen der Subjekte innerhalb des Dispositivs sich ändern können und sie somit mal als Disponierende, mal als Disponierte auftreten (vgl. Link 2014: 239f.), wie sich etwa in der Analyse von Shumona Sinhas Assommons les pauvres! und Laurent Gaudés Eldorado zeigen wird. Link sieht in dieser »Umdrehung der Rollenverteilung zwischen disponierender und disponierter Subjektivität«, die durch »die Umwertung einer diskursiven Position« (beide ebd.: 241) erfolgen kann, einen möglichen Ort
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der Gegenwehr in Foucaults Dispositivkonzeption. Dennoch handelt es sich bei Dispositiven keinesfalls um »a chaotic turbulence of forces« (Bussolini 2010: 92), sondern stets um spezielle Anordnungen von Wissen und Macht zu einem gegebenen Zeitpunkt, und ein möglicher Widerstand bedarf einer genauen Kenntnis dieser Strukturen (vgl. ebd.: 92). Gleichzeitig verdeutlichen die im Dispositiv intrinsisch angelegten, potenziellen Positionswechsel und Umwälzungen, dass auch die disponierenden Subjekte keine Kontrolle über das Dispositiv haben und selbst von dessen Machtdynamiken durchzogen sind. In Foucaults Machtverständnis gibt es ›die Macht‹ schließlich nicht und man kann sie erst recht nicht ›besitzen‹, sie ist vielmehr ein relationales Kräftefeld (vgl. Foucault 1976: 121f.). Im Hinblick auf die disponierenden und disponierten Subjektpositionen im Dispositiv schreibt Link unter Heranziehung von Lacan und Althusser, dass »die Disponierenden die ›UrSubjektivierung‹ mit den Disponierten [teilen] – auch sie beherrschen keineswegs souverän ihre Dispositive, auch sie sind genau genommen bloße Elemente, ›Relays‹ der Dispositive.« (Link 2014: 238) Der Begriff der ›Ur-Subjektivierung‹ verweist dabei zugleich auf die Idee, dass die disponierende Kraft kein Subjekt sein muss, sondern es sich um eine Art zentrale Instanz handeln kann, die den im Dispositiv agierenden Subjekten und Elementen ihre jeweiligen Rollen zuweisen und sie quasi beliebig als Disponierte und Disponierende einsetzen kann (vgl. ebd. 241f.). Ähnlich gestaltet sich etwa die Tatsache, dass in den zu untersuchenden Texten zuweilen auch der vermeintlich disponierende Staat die ihm unterstehenden Dynamiken des Migrationsdispositivs nicht gänzlich beherrschen kann. Es ist u.a. diese heterogene, dynamische und zugleich universale Verfasstheit der Kräfte und Machtstrukturen im Dispositiv, die Foucault in seiner Untersuchung des Sexualitätsdispositivs in La volonté de savoir zu der Annahme führt, dass letzteres eine Verschränkung der individualisierenden, körperbezogenen Disziplinarmacht und der auf das Kollektiv des Bevölkerungskörpers ausgerichteten Biopolitik darstellt (vgl. Foucault 1976: 152-162). Dieser Gedanke, mit dem ggf. auch das Dispositiv im Allgemeinen paradigmatisch als Ort der Verflechtung, sprich als eine ihre Unterschiedlichkeit nicht auflösende Verbindung beider Machttypen betrachtet werden könnte, soll trotz Foucaults späterer Relativierung dieser These vorläufig festgehalten und in der Analyse der Korpuswerke anhand des Migrationsdispositivs überprüft werden. Einen für die vorliegende Untersuchung zentralen Anschluss an Foucaults Dispositivkonzept hat Giorgio Agamben in seinem Essay mit dem an Deleuze10 angelehnten Titel Che cos’è un dispositivo? (2018) vollzogen. Wenngleich ein tiefgreifendes
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Gilles Deleuze schließt in seinem Vortrag Qu’est-ce-qu’un dispositif ? (1989), den er 1988 auf einer Michel Foucault gewidmeten Tagung hielt, an dessen Dispositivkonzeption an. Im Sinne der Stringenz der vorliegenden Studie wird es allerdings nicht möglich sein, Deleuzes Einschätzung und Weiterentwicklung des foucaultschen Dispositivbegriffs zu kommentie-
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Verständnis von Agambens Argumentation aufgrund der Kürze seines Textes stellenweise weiterführender Lektüren bedarf (vgl. Schmitz/Söhnigen 2010: 609), bzw. der Autor sowohl implizit als auch explizit ein äußerst umfangreiches philosophisches Wissen und u.a. Kenntnisse der Werke Hegels, Heideggers und Benjamins voraussetzt, liefert das Essay eine wichtige genealogische Kontextualisierung des foucaultschen Dispositivbegriffs und nicht zuletzt Impulse, die das Dispositiv einmal mehr zu einem wichtigen Analyseinstrument, auch speziell im Hinblick auf Migrationsdynamiken und ihre literarischen Schilderungen machen. Zunächst kategorisiert Agamben das Dispositiv als »termine tecnico decisivo nella strategia del pensiero di Foucault« (Agamben 2018: 5) und skizziert die maßgeblichen Eigenschaften des Konzepts, die zu Beginn dieses Kapitels dargelegt wurden. Darüber hinaus, und hier liegt der Ausgangspunkt seiner Fortführung des Begriffs, etabliert Agamben eine Kontinuität zwischen Foucaults Dispositivkonzept und dem von ihm noch Ende der 60er Jahre, ungefähr zur Entstehungszeit von L’Archéologie du Savoir (1969), verwendeten Terminus der positivité. Agamben vermutet den Einfluss von Hegel und Jean Hyppolite, der Hegel ins Französische übersetzte und Foucault am Lycée Henri IV und der École normale supérieure unterrichtete (vgl. Agamben 2018: 8f., Schmitz/Söhnigen: 609). In seiner Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel setzt Hyppolite sich mit dem Unterschied zwischen der ›natürlichen‹ und der ›positiven‹ Religion bei Hegel auseinander: Mentre la religione naturale riguarda l’immediata e generale relazione della ragione umana col divino, la religione positiva o storica comprende l’insieme delle credenze, delle regole e dei riti che in una certa società e in un certo momento storico sono imposti agli individui dell’esterno. (Agamben 2018: 9) Jene »dialettica fra libertà e costrizione« (ebd.: 10), sprich eine Kopplung von intrinsischen Affekten und auferlegten Zwängen, erkennt Agamben in der von Foucault gedachten doppelten Verfasstheit von Subjektivierungsprozessen wieder (vgl. ebd.: 11f.): Das Subjekt schafft sich und wird geschaffen, indem es unterworfen wird und sich freiwillig mittels spezifischer Techniken des Selbst unterwirft. Agamben sieht somit das dispositif als einen Nachfolger des von Foucault in seinen frühen Werkphasen verwendeten, etymologisch verwandten Begriffs der positivité: This tie in terms of positivity is important because it pertains to Foucault’s ›productive‹ account of power, which he also frequently refers to as ›positive‹ account of power […]. Agamben points out the relation between dispositif and positivité to Latin disponere and ponere, with their aspects such as setting out, distributing, ordering, arranging (Bussolini 2010: 102f.).
ren. Für einen Vergleich der Dispositivkonzeptionen Deleuzes und Agambens siehe Timothy Campbell (vgl. 2011: 45-49).
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Nach diesen Überlegungen zur Genealogie des Dispositivbegriffs bei Foucault unternimmt Agamben den Versuch einer allgemeinen u.a. etymologisch11 fundierten Suche nach dem Ursprung des Terminus im Zuge seiner »genealogia teologica dell’economia« (Agamben 2018: 15). Das griechische oikonomia, das die Verwaltung des Hauses (oikos) bezeichnete, ermöglichte nämlich laut Agamben in der Geschichte der Kirche zwischen dem zweiten und sechsten Jahrhundert, die Idee einer Dreifaltigkeit Gottes einzuführen, ohne in einen von vielen gefürchteten Polytheismus zu verfallen. Die Theologen dieser Zeit bedienten sich des Terminus oikonomia, um zwischen einer einheitlichen Substanz Gottes und einer Dreifaltigkeit in seinem Handeln zu unterscheiden, die u.a. den Gedanken der Menschwerdung Jesu zuließ (vgl. ebd.: 15-17). Obwohl es sich um einen vorrangig theologischen Diskurs handelt, unterstreicht Agamben dessen politische Dimension, denn einerseits war die Einführung des Begriffs oikonomia politisch motiviert und andererseits versteht er dessen Semantik als entscheidend für das Verständnis gouvernementaler Handlungen (vgl. Bussolini 2010: 104). Der Philosoph referiert weiter, dass oikonomia in den Schriften lateinischer Vertreter der Kirche mit dispositio übersetzt wird und stellt daher die These auf, dass dispositio, von dem der moderne Dispositivbegriff abstammt, semantisch die besagte Trennung von Sein und Handeln beinhalte, die letztlich dazu führe, dass die Dispositive ihre Subjekte immer erst erschaffen: I ›dispositivi‹ di cui parla Foucault sono in qualche modo connessi con questa eredità teologica, possono essere in qualche modo ricondotti alla frattura che divide e, insieme, articola in Dio essere e prassi […]. Il termine dispositivo nomina ciò in cui e attraverso cui si realizza una pura attività di governo senza alcun fondamento nell’essere. Per questo i dispositivi devono sempre implicare un processo di soggettivazione, devono, cioè, produrre il loro soggetto. Alla luce di questa genealogia teologica, i dispositivi foucaldiani acquistano una pregnanza ancora piú decisiva, in un contesto in cui essi incrociano non soltanto la ›positività‹ del giovane Hegel, ma anche il Gestell dell’ultimo Heidegger […]. Comune a tutti questi termini è il rimando a una oikonomia, cioè a un insieme di prassi, di saperi, di misure, di istituzioni il cui scopo è di gestire, governare, controllare e orientare in un senso che si pretende utile il comportamento, i gesti e i pensieri degli uomini. (Agamben 2018: 18-20) Auf Basis dieser genealogischen Verortung des Begriffs schlägt Agamben nun vor, die foucaultsche Dispositivkonzeption umzudeuten und weiterzuentwickeln. Zunächst stellt er hierzu eine überraschend verallgemeinernde Definition des Begriffs auf: »[C]hiamerò dispositivo letteralmente qualunque cosa abbia in qualche modo 11
Die von Agamben in seinen Schriften häufig gewählte etymologisch-methodische Verfahrensweise kommentiert Bernd Witte (vgl. 2010: 25-29).
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la capacità di catturare, orientare, determinare, intercettare, modellare, controllare e assicurare i gesti, le condotte, le opinioni e i discorsi degli esseri viventi.« (ebd.: 21f.) Im Zuge dessen werden bei Agamben auch »la penna, la scrittura, la letteratura, la filosofia, l’agricoltura, la sigaretta, la navigazione, i computers, i telefoni cellulari e – perché no – il linguaggio stesso«12 (ebd.: 22) zu Dispositiven. Schmitz/Söhnigen (2010: 609) resümieren, dass der Autor somit »alle Artefakte jenseits des nackten Lebens« als Dispositive kategorisiert. Agamben unterscheidet also, der durch die oikonomia begründeten Spaltung von Sein und Handeln folgend, die Lebewesen, oder Substanzen, von den Dispositiven und führt im nächsten Schritt als dritte Kategorie die Subjekte ein, die aus der Auseinandersetzung der Lebewesen mit den Dispositiven entstehen. Substanzen und Subjekte überschneiden sich dabei zu einem gewissen Grad, sind jedoch nicht deckungsgleich. Denn ein Individuum kann schließlich diverse Subjektivierungen erfahren und zugleich (oder mit zeitlichem Abstand) »l’utilizzatore di telefoni cellulari, il navigatore in internet, lo scrittore di racconti, l’appassionato di tango, il no-global« (Agamben 2018: 23) und vieles mehr sein. Den Subjektivierungsprozess, also die Beziehung zwischen Substanzen und Dispositiven, bezeichnet Agamben als »corpo a corpo« (ebd.: 24), im Deutschen übersetzt mit »Nahkampf« (Agamben 2008: 27), worin Schmitz/Söhnigen einen impliziten Bezug auf Hegel sehen. Sie verweisen auf »Hegels Figur des genießenden Herrensubjekts« (Schmitz/Söhnigen 2010: 610), welche verdeutlicht, wie die Individuen von den Dingen gleichermaßen ›verzaubert‹ und unbemerkter Weise »eingefangen, besessen und bearbeitet« (ebd.: 610) werden, was zu einer grundlegenden Zerstreuung führt, im Zuge derer sie »ihre Denkund Handlungsfreiheit […] und – daraus folgend – ihre Politikfähigkeit« (ebd.: 610) einbüßen. Wie Schmitz/Söhnigen hervorheben (vgl. ebd.: 610), schließt Agamben an Walter Benjamin an, wenn er das bloße menschliche Leben, den Bruch von Sein und Praxis in der theologischen oikonomia berücksichtigend, nicht mit dem Mensch-Sein gleichsetzt, sondern das Humane und somit die Möglichkeit des politischen Handelns in einem offenen Raum jenseits des bloßen Lebendig-Seins verortet. Eben dieser Raum wird jedoch sodann von den Dispositiven besetzt, in denen der Mensch Sinn, Genuss, Befriedigung, kurz sein Glück sucht (vgl. Agamben
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Überlegungen zur Sprache und poetologische Ausführungen nehmen in Agambens Werk einen hohen Stellenwert ein, bspw. in Il linguaggio e la morte (vgl. Agamben 2008 [1982], insbesondere 13-23). Auch Tanja Gnosa bemerkt, dass die zitierte Passage Agambens »überdurchschnittlich viele Phänomene [beinhaltet], die mit Kommunikation und Medialität verbunden sind« und schlussfolgert, dass gerade diese für Agamben »von besonderer subjektivierender Potenz zu sein [scheinen]« (beide Gnosa 2018: 187). In Kapitel 2.6 wird dieser Gedanke in der Verhandlung von Sprache und Literatur als Dispositiven aufgegriffen.
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2018: 26). Dieses Verlangen erklärt, warum das Subjekt sich den Dispositiven auch freiwillig unterwirft und woher ihre beinahe grenzenlos wirkende Macht rührt.13 Schließlich gelangt Agamben zu der zentralen These seines Essays, die, neben der zuvor erwähnten Kategorisierung von Sprache und Literatur als Dispositiven, für die vorliegende Untersuchung von besonderer Relevanz ist. Ihm zufolge führen nämlich die moderne Machtform des Kapitalismus und die damit einhergehende »crescita sterminata dei dispositivi di nostro tempo« zu einer ebenso mannigfachen »proliferazione di processi di soggettivazione« und einer entsprechenden »disseminazione« (alle ebd.: 23) der Subjektkategorie. Doch Agambens Beobachtungen gehen noch weiter: Er kommt zu dem Schluss, dass die Dispositive des gegenwärtigen Kapitalismus in einer radikalisierten Form vorliegen (vgl. ebd.: 35), die nicht etwa eine Subjektivierung, sondern, ganz im Gegenteil, meist eine Desubjektivierung bewirken (vgl. Campbell 2011: 50f.). Anhand des Beispiels der Beichte zeigt Agamben auf, dass zwar jeder Subjektivierungsprozess mit einem Moment der Desubjektivierung einhergeht, da das vormalige Ich, im Falle der Beichte das Ich des Sünders, negiert wird und daraufhin ein neues Ich entsteht. Die Dispositive des Kapitalismus und der Postmoderne bieten dem desubjektivierten Individuum im Unterscheid zu den traditionellen Dispositiven jedoch keine neuen Subjektentwürfe an: »[Q]uel che avviene ora è che processi di soggettivazione e processi di desoggettivazione sembrano diventare reciprocamente indifferenti e non danno luogo alla ricomposizione di un nuovo soggetto, se non in forma larvata e, per cosí dire, spettrale.« (Agamben 2018: 30f.) Das Fernsehen oder auch das Mobiltelefon, gegen das Agamben eine zeitweise skurrile persönliche Abneigung hegt, würden dem Individuum nichts anbieten, als die Reduktion auf eine Rufnummer oder eine Zahl in einer Einschaltquote (vgl. ebd.: 24, 31). Abgesehen von diesen Beispielen technischer Natur führe die derzeitige Konstitution von Dispositiven jedoch allgemein zu einer passiven und allzu konformen Gesellschaft aus blooms, welche die
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Tanja Gnosa sieht in diesem Punkt einen potenziell entscheidenden Beitrag Agambens zur Theorie des Dispositivbegriffs, welcher die Foucault teils vorgeworfene »Einseitigkeit« (Gnosa 2018: 186) im Hinblick auf die primäre Konzeption von Dispositiven als Herrschaftsinstrumente umgehen könnte. Durch die etymologische Herleitung und den damit verbundenen Fokus auf die Trennung von Sein und Handeln erschließt Agamben eine subjektorientierte Dimension des Dispositivbegriffs, die den Subjekten, wenigstens in der Theorie, eine größere Handlungsfreiheit einräumt: »In gewisser Hinsicht erlaubt also die Installation von Dispositiven dem Menschen, seine Welt anzuordnen; es eröffnet Gestaltungs- und Teilhabepotenziale.« (ebd.: 187) Wie oben gesehen, scheint Agamben allerdings auch die Dispositive letztlich in seiner vorrangig negativen Interpretation der Biopolitik zu deuten und »bleibt […] der Herrschaftsperspektive verpflichtet« (ebd.: 187).
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Kontrolle durch die Dispositive uneingeschränkt hinnehmen und die ihnen aufgetragenen Aufgaben produktiv ausführen14 : Leaving aside whether Agamben’s reading of Foucault registers all the vagaries of biopower – he unmistakably elides biopower’s inscription in the expansion of capitalism that occurred at the end of the eighteenth century – Agamben stakes out a position in which technology will be linked to the processes of subjectivation and desubjectivation that lead inexorably to a life that merely survives. The resulting ›subject‹ is merely a shell that does not live in relation to others. (Campbell 2011: 37) Im Analyseteil der vorliegenden Studie wird diese These Agambens insofern von Bedeutung sein, als sie erlaubt, die diversen Fragmentierungen und Verluste von Figurenidentitäten, zu denen es im Rahmen der erzählten Migrationsprozesse sowohl bei Disponierenden als auch bei Disponierten kommt, als direkte Auswirkungen des Migrationsdispositivs und dessen die Figuren durchziehenden Kräfte zu lesen. Überdies wird sich im Anschluss an das in diesem Kapitel Dargelegte zeigen, dass das Migrationsdispositiv ein dezentrales Mächte- und Kräftefeld zwischen heterogenen, diskursiven und nicht-diskursiven Elementen darstellt, in dem disponierende und disponierte Subjektpositionen dynamisch und gleichermaßen der ständigen Gefahr einer Desubjektivierung ausgesetzt sind und in dem keines der Bestandteile, auch nicht der Staat, die Kontrolle haben kann. Insbesondere soll in der Analyse der literarischen Werke jedoch der Aspekt der Determinierung von Rahmen des Sag- und Sichtbaren aus der foucaultschen Dispositivkonzeption zum Einsatz kommen, welcher sich durch die im Dispositiv angelegten Kopplungen von Machtstrukturen und Wissensordnungen ergibt. Gerade diese Dimension des Konzepts kann nämlich die Einordnung von Literatur selbst als Dispositiv ermöglichen, sofern sie die Grenzen des Sag- und Sichtbaren gestaltet, verschiebt oder hinterfragt: Les deux premières dimensions d’un dispositif, ou celles que Foucault dégage d’abord, ce sont des courbes de visibilité et des courbes d’énonciation. C’est que les dispositifs sont […] des machines à faire voir et à faire parler. La visibilité […] est faite de lignes de lumière qui forment des figures variables inséparables de tel ou tel dispositif. Chaque dispositif a son régime de lumière, manière dont celle-ci tombe, s’estompe et se répand, distribuant le visible et l’invisible […], les énoncés à leur tour renvoient à des lignes d’énonciation sur lesquelles se distribuent les positions différentielles de leurs éléments (Deleuze 1989: 185f.). 14
Ruggiero Gorgoglione (vgl. 2016: 85) weist darauf hin, dass Agamben Ausführungen zu den subjektkonstituierenden Dispositiven weitgehend schuldig bleibe und sein Fokus auf desubjektivierende Dispositive, insbesondere als strukturelle Instrumente der Biopolitik, mitunter kritisch zu hinterfragen sei.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2.3
Biopolitik und das (prekäre) Subjekt bei Giorgio Agamben und Alessandro Dal Lago
Giorgio Agamben zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen Denkern der Theorie der Biopolitik und gilt, wie eingangs erwähnt, als Vertreter ihrer negativen Auslegung. Seine Arbeit rief in den vergangenen Jahren international viel positive Resonanz hervor, wurde allerdings ebenfalls stark kritisiert (vgl. Lucci/Viglialoro 2016: 6f., Gorgoglione 2016: 63f.). Die Auseinandersetzung mit Agambens Beiträgen zur biopolitischen Debatte wird insofern eine zielgerichtet selektive sein, welche auch die Kritik an seinen Schriften berücksichtigt. Mit Blick auf den analytischen Teil der Studie wird nachfolgend eine Auswahl derjenigen seiner Thesen vorgestellt, welche die in den Korpustexten erzählte, biopolitische Verwaltung und Kategorisierung menschlichen Lebens im Kontext von Migrationsprozessen zu entschlüsseln hilft. Hierzu zählt insbesondere die von Aristoteles geprägte und von Agamben neu semantisierte Unterscheidung zwischen zoë und bíos, zwischen dem nackten Leben im Sinne eines bloßen Lebendig-Seins und dem politisch relevanten, rechtlich sanktionierbaren Leben. Da letztere in der Forschung teils als problematisch und/oder zu undifferenziert kritisiert wird (vgl. Gentili 2012: 177-188 u. 2016: 51-62, Reitz 2007: 52, Werber 2002), unternimmt die vorliegende Untersuchung den Versuch einer Ausdifferenzierung der Denkfigur mit Hilfe von Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona, der trotz seiner fachwissenschaftlichen Spezifizität eine methodologische und somit unmittelbar interpretative Anwendungsmöglichkeit des homo sacer-Konzepts für den Migrationsdiskurs und dessen Narrativik bietet.
2.3.1
Das Leben zwischen Regel und Ausnahme: Bíos, zoë und der homo sacer
Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (2005) stellt den ersten und im Rahmen dieser Arbeit wichtigsten Band eines umfassenden und offenbar vollendeten Buchprojekts von Giorgio Agamben dar. Homo sacer enthält die grundlegenden Thesen Agambens hinsichtlich einer Neuausrichtung und Erweiterung von Foucaults Theorie der Biopolitik, die in den weiteren Bänden der Reihe vertieft werden.15 Wenn Eva Geulen schreibt, »[w]er Agambens Studien zum homo sacer gelesen hat, wird jedenfalls nicht nur das Flüchtlingsproblem mit anderen Augen sehen« (Geulen 2016 [2005]: 22), so scheint eine Berücksichtigung seiner Ausführungen im Rahmen der vorliegenden Studie mehr als angebracht.16
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Für einen Überblick über den Homo sacer-Zyklus siehe Gabriele Guerra (vgl. 2016: 147). Julia Schulze Wessel (2017) vergleicht und analysiert Giorgio Agambens und Hannah Arendts theoretische Auseinandersetzungen mit den Themen Flucht und Migration.
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Im Gegensatz zu Michel Foucault, der, wie zuvor gesehen und hier von Agamben zusammengefasst, den Eingang des natürlichen Lebens in die Belange des Politischen »alle soglie dell’età moderna« (Agamben 2005: 5) verortet, vertritt der italienische Philosoph selbst die Ansicht, dass die Ursprünge der Biopolitik, im Sinne einer das Leben verwaltenden Macht, bis in die Antike zurückreichen. Diese These bindet er primär an die von Aristoteles geprägte Unterscheidung zwischen zoë, dem natürlichen, bloßen Leben, das Menschen, Tieren wie Göttern gemeinsam ist einerseits, und bíos, dem qualifizierten, rechtlich sanktionierbaren und eine politische Existenz ermöglichenden Leben andererseits. Das natürliche, bei Agamben auch ›nackte‹ Leben17 war in der antiken politischen Tradition auf den privaten Bereich des Hauses (oikos) beschränkt, ein Zugang zur polis war schlicht undenkbar (vgl. ebd.: 3f.).18 Dennoch befand sich das nackte Leben laut Agamben niemals gänzlich außerhalb der politischen Ordnung, da zwischen der Sphäre des Politischen und dem von ihr ausgeschlossenen zoë eine Relationalität fortbestand, nämlich jene des Banns19 (vgl. Gentili 2016: 51-54). Die Politik und das von ihr ausgeschlossene, nackte Leben unterhalten eine Beziehung zueinander, wenn auch lediglich in Form eines Ausschlusses, was der Autor als einschließende Ausschließung20 bezeichnet (vgl. Agamben 2005: 9f.). Diese »esclusione inclusiva« (ebd.: 10) des nackten Lebens, die schwellenartige Grenzziehung zwischen einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹, erklärt er als konstitutiv für jede Form des Politischen in der westlichen Tradition: 17
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In der Forschung ist strittig, ob das ›nackte Leben‹ bei Agamben als Synonym von zoë fungiert oder eigenständige Bedeutungsimplikationen aufweist, wobei etwa Ruggiero Gorgoglione (vgl. 2016: 79f.) für letztere Interpretation plädiert. In der vorliegenden Untersuchung werden beide Termini synonym verwendet. Der Kohärenz der Argumentation wegen kann der Einfluss Walter Benjamins auf Giorgio Agambens Schriften und insbesondere auf dessen Interpretation der Figur des nackten Lebens im Rahmen dieser Studie keine Berücksichtigung finden. Für einen Überblick über Agambens Auseinandersetzung mit Benjamin siehe Borsò u.a. (Hg.) 2010. Gorgoglione (vgl. 2016: 91) führt die deutschen Leser*innen nicht zwingend geläufige etymologische Verwandtschaft des italienischen bando (Bann) und abbandonnare (verlassen) aus. Damit unterstreicht er folgende Aussage Agambens in der deutschen Übersetzung, nach der »der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt […], sondern von ihm verlassen [abbandonato] [ist]« (Agamben 2016: 39). Diese semantische Dimension des italienischen bando scheint den Bann bei Agamben dem foucaultschen »rejeter dans la mort« (Foucault 1976: 181) als Modus der indirekten biopolitischen Tötung anzunähern. Agambens Denkfigur findet ein interessantes Pendant in Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique, in dem der Philosoph den Umgang mit devianten Subjekten ebenfalls in einer Doppelbewegung der sozialen Ausgrenzung und spirituellen Reintegration beschreibt: »Pauvres, vagabonds, correctionnaires et ›têtes aliénées‹ reprendront le rôle abandonné par le ladre, et nous verrons quel salut est attendu de cette exclusion, pour eux et pour ceux-là mêmes qui les excluent. Avec un sens tout nouveau, et dans une culture très différente, les formes subsisteront – essentiellement cette forme majeure d’un partage rigoureux qui est exclusion sociale, mais réintégration spirituelle« (Foucault 1972: 19).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
La nuda vita ha, nella politica occidentale, questo singolare privilegio, di essere ciò sulla cui esclusione si fonda la città degli uomini. […] La coppia categoriale fondamentale della politica occidentale non è quella amico-nemico, ma quella nuda vita – esistenza politica, zoē-́ bíos, esclusione-inclusione. (ebd.: 10f.)21 Eine quasi personifizierte Form dieses nackten Lebens sieht der Philosoph im homo sacer, einer Figur des archaischen römischen Rechts, die aus der Gemeinschaft verbannt und auf ihre bloße physische Existenz reduziert wurde.22 Der homo sacer konnte straffrei getötet, aber nicht geopfert werden, womit er weder dem weltlichen noch dem göttlichen Recht unterstand (vgl. ebd.: 11f.). Um jene Beziehung des Banns, die das nackte Leben und der homo sacer zur Sphäre des Politischen unterhalten, näher beschreiben zu können, verfasst Agamben eine Studie des Ausnahmezustands, der paradoxerweise gesetzlich vorgesehen ist und gleichzeitig zu einer Aufhebung des Rechts führt (vgl. ebd.: 10). Ziel seiner Untersuchung ist es, eine von Agamben konstatierte Leerstelle in den Arbeiten Michel Foucaults zu füllen und den sogenannten »doppio legame« (ebd.: 8) der Macht, im Deutschen übersetzt mit »double bind« (Agamben 2016 [2002]: 16), ausfindig zu machen, in dem sich das Recht und die Politik, und mit ihnen die Strategien der Individualisierung und die Techniken der Totalisierung, die sich nach Foucault im modernen westlichen Staat auf bis dahin ungesehene Weise verbinden, ineinander verschränken: La presente ricerca concerne precisamente questo nascosto punto d’incrocio fra il modello giuridico-istituzionale e il modello biopolitico del potere. Ciò che essa ha dovuto registrare fra i suoi probabili risultati è precisamente che le due analisi non possono essere separate e che l’implicazione della nuda vita nella sfera politica costituisce il nucleo originario – anche se occulto – del potere sovrano. Si può dire, anzi, che la produzione di un corpo biopolitico sia la prestazione originale del potere sovrano. (Agamben 2005: 9) An diesem Punkt gelangt Agamben zu einer zentralen und sicherlich nicht unproblematischen These, die ihm viel Kritik einbrachte, nämlich jene einer »intima
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Mit einem Fokus auf die Perspektive afrikanischer Philosoph*innen setzt Dima Barakat Chami die Theorien Michel Foucaults und Giorgio Agambens insbesondere mit jenen Achille Mbembes in Dialog und weist infolgedessen ebenfalls darauf hin, dass die maßgeblich exkludierende Konstitution politischer Strukturen wie jener des Nationalstaats ihren Ursprung im westlichen Denken habe, während afrikanische Nationalstaaten aufgrund ihrer fundamentalen Multiethnizität von Grund auf inkludierender und flexibler angelegt seien (vgl. Chami 2019: 32f.). Eine ausführliche, in Teilen von Giorgio Agambens Ausführungen abweichende Rekonstruktion der Figur des homo sacer in der antiken römischen Geschichte findet sich bei Isabell Lorey (vgl. 2011a: 17-127).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
solidarietà fra democrazia e totalitarismo« (ebd.: 14). In der einschließenden Ausschließung des nackten Lebens, der Etablierung einer Grenze zwischen diesseits und jenseits von Politik und Recht, sieht er den gemeinsamen Kern aller politischer Systeme: »Das originäre politische Element ist Agamben zufolge ›das nackte Leben‹, jenes Leben, das aus der souveränen Politisierung entsteht, aus seiner tendenziellen Herauslösung aus allen juridischen Formen und seiner Einfügung in eine Beziehung des Banns und der Verbannung« (Balke 2008: 105). Den von Foucault konstatierten Eintritt des Lebens in den Fokus der Politik betrachtet Agamben folglich nicht als Bruch oder Zäsur in der Geschichte der Politik, sondern als eine Radikalisierung, »che riporta […] alla luce il vincolo segreto che unisce il potere alla nuda vita« (Agamben 2005: 9). Was sich mit der Moderne laut Agamben geändert hat, ist der Ort des nackten Lebens in Relation zu der Sphäre des Politischen: War das zoë traditionell am Rande der Politik angesiedelt, rückt es nunmehr in ihr Zentrum, wird zunehmend politisiert und steht somit symptomatisch für eine allgemeine Entwicklung, im Zuge derer zoë und bíos oder, auf einer anderen Ebene, Politik und Recht, Regel und Ausnahme, Demokratie und Absolutismus sowie politische Ausrichtungen wie rechts und links und weitere binäre Kategorienpaare in einer »zona di indiscinerbilità« (ebd.: 7) ineinander verschwimmen, weshalb es einer »nuova politica« (ebd.: 14) bedarf. Die beschriebenen Konzepte und Denkfiguren Agambens, deren Genese und Ausgestaltung in den folgenden Kapiteln ausführlicher konturiert werden, sollen in der späteren Analyse literarischer Auseinandersetzungen mit Migrationsphänomenen die speziellen Verfahrensweisen lesbar machen, mittels derer die Politik das migrierende und migrierte Leben verwaltet.
2.3.2
Die Logik des Ausnahmezustands als Beziehungsparadigma
In der Absicht, ein Paradigma für die spezielle Relationalität zwischen dem homo sacer und der souveränen Macht zu finden, das dessen ambivalente ausschließende Einschließung in die Sphäre des Politischen sowie seine konstitutive Rolle für die Bildung politischer Gemeinschaften gleichermaßen verdeutlicht, beginnt Agamben seine Homo sacer-Studie mit Ausführungen zum widersprüchlichen rechtlichen Status der Souveränität und des Ausnahmezustands. In diesem Kontext fragt der Philosoph in Anschluss an Walter Benjamins Kritik der Gewalt (1977 [1921]), ob es einen genuinen, qualitativen Unterschied zwischen rechtlicher Gewalt und außerrechtlicher Gewalt geben kann, wenn letztere, bspw. im Kriegsrecht, legitim wird. Im Hintergrund stehen dabei stets die Fragen nach der Unterscheidung zwischen dem, was einer Rechtsordnung unterliegt und dem, was sich außerhalb ihrer befindet sowie nach dem speziellen Modus, mittels dessen Ausschluss und Einschluss vollzogen werden (vgl. Gorgoglione 2016: 87-89, Schulze Wessel 2017: 64f.). Unter Heranziehung des rechtswissenschaftlichen Souveränitätskonzepts von Carl
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Schmitt23 widmet Agamben sich zunächst dem »paradosso della sovranità« (Agamben 2005: 19) sowie dem Ausnahmezustand, in dem das Recht »außerhalb seiner selbst« (Schmitt zit.n. Agamben 2016: 25) ist.24 Er referiert Schmitts Theorie, nach welcher der Souverän sich »zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung« (Schmitt zit.n. ebd.: 25) befindet, da er das Recht innehat, den Ausnahmezustand auszurufen, sprich, das geltende Recht aufzuheben. Die Entscheidungsmacht über den Ausnahmezustand positioniert den Souverän auf der Schwelle der Rechtsordnung und macht ihn zur personifizierten Grenze des Gesetzes. Die Ausnahme ist somit das, was von der etablierten Norm abweicht, sich außerhalb ihrer ereignet, und doch ist sie von Beginn an in die Logik der Norm insofern eingeschrieben, als, wie Schmitt schreibt, »die Regel […] überhaupt nur von der Ausnahme [lebt]« (Schmitt zit.n. ebd.: 26). Es dürfte mittlerweile ersichtlich sein, weshalb Agamben sich auf Schmitt beruft: In dessen Ausnahmezustand und Souveränitätskonzeption entdeckt Agamben zwei Denkfiguren, welche die einschließende Ausschließung des homo sacer, also seine Schwellenposition innerhalb und jenseits des Rechts, sowie die konstitutive Bedeutung der entsprechenden Operation der Grenzziehung verdeutlichen. Ziel Agambens ist es, die Ausnahme als paradigmatische Beziehung zu prägen: L’eccezione è una specie dell’esclusione. Essa è un caso singolo, che è escluso dalla norma generale. Ma ciò che caratterizza propriamente l’eccezione è che ciò che è escluso non è, per questo, assolutamente senza rapporto con la norma; al contrario, questa si mantiene in relazione con essa nella forma della sospensione. La norma si applica all’eccezione disapplicandosi, ritirandosi da essa. […] Non è l’eccezione che si sottrae alla regola, ma la regola che, sospendendosi, dà luogo all’eccezione e soltanto in questo modo si costituisce come regola, mantenendosi in relazione con quella. Il particolare ›vigore‹ della legge consiste in questa capacità di mantenersi in relazione con un’esteriorità. Chiamiamo relazione di eccezione questa forma estrema della relazione che include qualcosa unicamente attraverso la sua esclusione. (Agamben 2005: 22)
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Erst gegen Ende des Buchs weist Agamben auf die hoch problematische Rolle Carl Schmitts im Nationalsozialismus hin, wenn er ihn als einen der »giuristi nazionalsocialisti […] in prima linea« (Agamben 2005: 189) bezeichnet. In Bezug auf Heidegger, dessen Seminarreihe in Le Thor Agamben besuchte (vgl. Gorgoglione 2016: 65), spricht er schon früher vom »scandalo della filosofia del novecento« (Agamben 2005: 167). Im Verlauf der Untersuchung rekurriert Agamben auf weitere Souveränitätstheorien bzw. Theorien des Naturzustands, etwa von Thomas Hobbes (vgl. Agamben 2005: 41, 117-121, 138), John Locke (vgl. ebd.: 43) und Jean-Jacques Rousseau (vgl. ebd.: 121, 143), die jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nicht ausführlich berücksichtigt werden können. Für eine Thematisierung des Naturzustands und der Bedeutung der genannten Theoretiker bei Agamben siehe Luisetti (vgl. 2016: 233-242) und Geulen (vgl. 2016: 63-73).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Das Begriffspaar von Ausnahmezustand und ausschließender Einschließung scheint insofern geeignet, um den in den zu analysierenden Texten erzählten, paradoxalen Umgang der Politik mit dem migrierenden bzw. migrierten nackten Leben lesbar zu machen, welches sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sphären des Politischen und des Rechts angesiedelt wird. Der topologische Ort, an dem sich der Ausnahmezustand in seiner fundamentalen Ambivalenz verstetigt, an dem das Leben sich permanent auf besagter Schwelle dies- und jenseits des Rechts befindet und vormals unvorstellbare, illegale Zustände und Taten plötzlich rechtens sind, ist, laut Agamben, das Lager. Schon in der Einleitung von Homo sacer bemängelt Agamben, dass Michel Foucault »non abbia mai spostato la sua indagine sui luoghi per eccellenza della biopolitica moderna« (ebd.: 14), womit er das Konzentrationslager sowie die Geschichte der totalitären Regierungen des 20. Jahrhunderts meint. Die Entstehung des Lagers und insbesondere die Konzentrationslager der Nationalsozialisten stellen für Agamben eine Zäsur dar, im Zuge derer Leben und Politik, Regel und Ausnahme endgültig zusammenfallen.25 Diese von ihm konstatierte Lücke in Foucaults Werk beabsichtigt Agamben mit seiner Untersuchung zu füllen und so greift er jenen Aspekt nach seinen Ausführungen zum Wesen der Ausnahme erneut auf und formuliert eine zentrale These des Bands: Una delle tesi della presente ricerca è che proprio lo stato di eccezione, come struttura politica fondamentale, nel nostro tempo emerge sempre piú in primo piano e tende, in ultimo, a diventare la regola. Quando il nostro tempo ha cercato di dare una localizzazione visibile permanente a questo illocalizzabile, il risultato è stato il campo di concentramento. Non il carcere, ma il campo è, infatti, lo spazio che corrisponde a questa struttura originaria del nomos. (ebd.: 24) Um Agambens These vom »campo come nómos del moderno« (ebd.: 185) nachvollziehen zu können, muss jedoch zunächst eine genauere begriffliche Klärung des homo sacer erfolgen.
2.3.3
Der homo sacer als Inkarnation des nackten Lebens
»Protagonista di questo libro è la nuda vita, cioè la vita uccidibile e insacrificabile dell’homo sacer, la cui funzione essenziale nella politica moderna abbiamo inteso rivendicare.« (Agamben 2005: 11f.) Die viel diskutierte Figur des homo sacer verweist auf eine Form der Strafe im archaischen römischen Recht, Kraft derer der Bestrafte auf seine physische Existenz reduziert wurde und straffrei getötet werden konnte, aber nicht geopfert werden durfte. Der homo sacer ist folglich keine vorrechtli25
Zu einer allgemeinen Kritik von Agambens Lagerbegriff siehe Judith Revel (2017). Für einen Vergleich der Lagerbegriffe Hannah Arendts und Giorgio Agambens siehe Villinger (2007).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
che Substanz, sondern »ein nach Abzug aller Formen verbleibender Rest« (Geulen 2016: 93), was an Foucaults Ausführungen zum vormals in Form des »prélèvement« (Foucault 1976: 179) ausgeführten Machtmodus der Souveränität erinnert. Der homo sacer ist keine genuin ontologische Entität, sondern wird durch Ausgrenzung und »Abschöpfung« (Foucault 1998: 163) zuallererst geschaffen. Im Namen dieser »enigmatica figura« (Agamben 2005: 79) ist allerdings ein Widerspruch angelegt, da das lateinische sacer ›heilig‹ bedeutet und sie derart »la sacertà di una persona« (ebd.: 79f.) verlautet, jedoch gleichzeitig deren Ermordung erlaubt. Um der Frage nach der Vereinbarkeit dieser beiden Bedeutungen nachzugehen, schlägt Agamben vor, die Kategorien des göttlichen und des menschlichen Rechts zu überwinden und die sacratio zunächst eigenständig zu betrachten, da sie eine originär politische Dimension aufweise (vgl. ebd.: 82). In dem Kapitel L’ambivalenza del sacro skizziert er einschlägige Theorien aus dem 19. und 20. Jahrhundert, um zu dem Schluss zu gelangen, dass keine von ihnen die spezifische Ambivalenz des homo sacer 26 zu erklären vermag (vgl. ebd.: 83-89). Stattdessen schlägt der Philosoph eine Analogie zur souveränen Ausnahme vor,27 die er in den vorigen Kapiteln hergeleitet hat: »Erst mit dem homo sacer ist die Struktur des souveränen Banns vollständig« (Geulen 2016: 101).28 Der homo sacer gilt Agamben nämlich als das Resultat einer doppelten einschließenden Ausschließung, tanto dallo ius humanum che dallo ius divinum, tanto dall’ambito religioso che da quello profano. […] Come, infatti, nell’eccezione sovrana, la legge si applica al caso eccezionale disapplicandosi, ritirandosi da esso, cosí l’homo sacer appartiene al Dio nella forma dell’insacrificabilità ed è incluso nella comunità nella forma dell’uccidibilità. La vita insacrificabile e, tuttavia, uccidibile, è la vita sacra. […] Ciò che definisce la condizione dell’homo sacer non è, quindi tanto, la pretesa ambivalenza originaria della sacertà che egli inerisce, quanto, piuttosto, il carattere particolare della doppia esclusione in cui si trova preso e della violenza in cui si trova esposto. (Agamben 2005: 91)
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Johannes Scheu (2007) kommentiert Agambens Ausführungen zur ambivalenten Semantik der Figur des homo sacer im Dialog mit René Girards Opfertheorie. Obwohl vergleichsweise selten zitiert, ist Walter Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt (1977) und die darin enthaltene Diskussion um das Dogma der Heiligkeit des Lebens für Agambens Verständnis des homo sacer und des Ausnahmezustands zentral (vgl. Borsò 2010a: 37f., Gorgoglione 2016: 87f.). Tatsächlich erinnert Agambens Beschreibung des Banns, unter dem das nackte Leben steht, an einer bestimmten Textstelle stark an das foucaultsche »rejeter dans la mort« (Foucault 1976: 181), mit dem die Biomacht im symbolischen und tatsächlichen Sinne indirekt tötet: »Il bando è essenzialmente il potere di rimettere qualcosa a se stesso […]. Ciò che è stato posto in bando è rimesso alla propria separatezza e, insieme, consegnato alla mercé di chi l’abbandona« (Agamben 2005: 122).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Dies bedeutet, dass der Souverän und der homo sacer sich strukturell gleichen, quasi ein und dieselbe Relationalität teilen, sich aber an den äußersten Rändern des Systems diametral gegenüberstehen: Für den Souverän sind potenziell alle Menschen homines sacri, während alle Menschen dem nackten Leben gegenüber als Souveräne auftreten können (vgl. ebd.: 93f.). Wenn eine solche Analogie zwischen der Rechtsfigur des homo sacer und der souveränen Entscheidung über die Ausnahme anzunehmen ist, so stellt sich für Agamben die Frage, inwiefern eine originäre Verbindung zwischen beiden besteht. Er wiederholt daher seine Hypothese, nach der die Produktion nackten Lebens und seine in Form des Banns artikulierte Beziehung zur souveränen Macht die ursprüngliche Konstitution des Politischen darstellen (vgl. ebd.: 92f.): »Die Entgegensetzung von souveräner Macht und dem dieser Macht rechtlos Ausgelieferten, symbolisiert durch die Figur des homo sacer, […] bezeichnet aus dieser Sicht […] geradewegs das Wesen staatlicher Macht« (Witte 2010: 23). In dem Ausschluss des nackten Lebens »versichert sich die politische Sphäre […] ihrer selbst« (Geulen 2016: 60), da die Erschaffung eines jeden Kollektivs nur über eine Grenzziehung erfolgen kann und Prozesse des Ein- und Ausschlusses impliziert: »Der Einschluss in die politische Gemeinschaft sei nur durch den gleichzeitigen Ausschluss von Menschen möglich, denen der Status eines Rechtssubjekts verweigert wird« (Folkers/ Lemke 2014: 27). Ähnliches gilt laut Roberto Esposito (vgl. 2010: 39) für juristische Kategorien wie jene der Person,29 die sich insofern ex negativo definiert, als sie ihre Gültigkeit allein dadurch erhält, dass gewissen Individuen der Status der Person und die damit einhergehenden Rechte verwehrt bleiben. Ebenso wie der souveräne Ausnahmefall deutet nach Agamben also auch der homo sacer auf eine komplexe Zone der Ununterscheidbarkeit im Ursprung des Politischen hin (vgl. Agamben 2005: 94f.). Seit der Moderne scheint eben diese originäre Ambivalenz die Sphäre des Politischen in dem Maße fortschreitend einzunehmen, wie das vormals marginalisierte, natürliche Leben (zoë) in das Zentrum der Politik rückt. Daher kommt Agamben auf Basis seiner Untersuchungen zum souveränen Ausnahmefall und der Natur des nackten Lebens zu der ebenfalls mehrfach kritisch hinterfragten These30 : »[N]el nostro tempo, in un senso particolare ma realissimo, tutti i cittadini si presentano virtualmente come homines sacri« (ebd.: 123).
2.3.4
Der homo sacer und das Lager als Paradigmen der Moderne
In der Einleitung zu Homo sacer bedauert Agamben, dass Michel Foucaults Studien zur Biopolitik nie das ihm zufolge exemplarische Feld der Konzentrationslager 29 30
Für eine Diskussion von Espositos Begriff der Person als Regierungsdispositiv siehe Campbell (vgl. 2011: 64-81). Zur Kritik an dieser und anderen Thesen Agambens siehe Fußnote 45.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
in den Blick nahmen. Indem er Hannah Arendts31 einschlägige Schriften mit Foucaults biopolitischen Thesen in Dialog setzt und seine eigenen Untersuchungen zum nackten Leben einbezieht, beabsichtigt Agamben im dritten Teil des Homo sacer-Buchs, jene ausstehende biopolitische Analyse des nationalsozialistischen Konzentrationslagers durchzuführen (vgl. Agamben 2005: 131-133). Im Rahmen dieser thematischen Ausrichtung wiederholt er zunächst die eingangs aufgestellte und mittels der Analyse der Ausnahme und des nackten Lebens ausgeführte These einer »intima solidarietà fra democrazia e totalitarismo« (ebd.: 14), die in einem gemeinsamen biopolitischen Kern bestehe. Wenngleich sich die Biopolitik erst mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts in ihrem vollen Ausmaß manifestiere, sei sie von jeher unterschwellig präsent gewesen. Ihre Latenz erkläre einerseits den seit der Moderne beobachtbaren Zusammenhang von fortschreitender individueller Freiheit und zunehmender Einschreibung in staatliche Machtdynamiken, den auch Foucault (vgl. 2004b: 63-67) wiederholt in den Fokus seiner Studien rückt: »Il faut d’une main produire la liberté, mais ce geste même implique que, de l’autre, on établisse des limitations, des contrôles, des coercitions, des obligations appuyées sur des menaces etc.« (ebd.: 65). Agamben erkennt darin die latente Präsenz der grundlegenden Ambivalenz des Politischen, die von dessen biopolitischen Ursprüngen herrühre: È come se, a partire da un certo punto, ogni evento politico decisivo avesse sempre una doppia faccia: gli spazi, le libertà e i diritti che gli individui guadagnano nel loro conflitto coi poteri centrali preparano ogni volta simultaneamente, una tacita, ma crescente iscrizione della loro vita nell’ordine statuale, offrendo cosí una nuova e piú temibile assise al potere sovrano da cui vorrebbero affrancarsi. (Agamben 2005: 133f.) Andererseits mache das unterschwellige biopolitische Fundament mit seiner zunehmenden Politisierung des nackten Lebens die »rapidità, altrementi inspiegabile« (ebd.: 134) nachvollziehbar, mit der sich im 20. Jahrhundert parlamentarische Demokratien in totalitäre Regierungssysteme wandelten. Je mehr das natürliche bzw. nackte Leben zum Zentrum der politischen Aufmerksamkeit wird, umso mehr scheinen laut Agamben politische Kategorien, wie »destra e sinistra, liberalismo e totalitarismo, privato e pubblico« (ebd.: 134), zusammenzufallen. Es tut sich eine »zona di indeterminazione« (ebd.: 134) auf, die das Terrain dafür bereitet, dass der Ausnahmezustand sich ausweitet und permanent zu werden droht, da die Biopolitik mit ihrer einschließenden Ausschließung des nackten Lebens der vorrangige
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Das Nachwirken der Schriften Hannah Arendts in Giorgio Agambens Werk, u.a. hinsichtlich der Figuren des nackten Lebens sowie des Verhältnisses von Recht und Ausnahme, beleuchtet ein von Eva Geulen, Kai Kauffmann und Georg Mein (2008) herausgegebener Sammelband.
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Modus des Politischen wird. Die moderne Demokratie spaltet Agamben zufolge das zugleich heilige und verfluchte Leben, »la frantuma e dissemina in ogni singolo corpo« (ebd.: 137) und wenn somit der Bann zum vorherrschenden Modus des Politischen wird, dann scheint es, so Agamben, von der Biopolitik zur Thanatopolitik – einer Politik des Todes – nur ein kleiner Schritt zu sein. In diesem Zusammenhang führt der Philosoph die Körperlichkeit als bedeutendes Element seiner Theorie ein, da biopolitische Regierungspraktiken maßgeblich auf den Körper als Träger des natürlichen Lebens und Medium der rechtlichen Existenz eines Subjekts abzielen.32 Eine solche zentrale Bedeutung von Körperlichkeit und ihrer bivalenten rechtschaffenden Valenz im Kontext biopolitischer Dynamiken wird, wie in Kapitel 5.2.2.1 der Analyse zu zeigen sein wird, in den erzählten Migrationsbewegungen fiktional ausgearbeitet, sofern der Körper, seine Integrität und Empfindungen für die Figuren einerseits zur Angriffsfläche, andererseits jedoch zu einem Mittel des Sich-Entziehens werden können. Im Anschluss an seine These eines biopolitischen Fundaments jeglicher Form von Politik betrachtet Agamben in seiner Studie verschiedene Ereignisse und Phänomene der modernen Geschichte unter einer biopolitischen Perspektive, bevor er sich den Gräueltaten der Nationalsozialisten und dem Lager als Paradigma der Moderne widmet. Relevant sind im Rahmen der Untersuchung von Migrationsliteratur insbesondere Agambens Anführung des Flüchtenden als Inkarnation des homo sacer, die entsprechende Betrachtung des Flüchtlingslagers und die seiner Ansicht nach problematische Bindung der Menschenrechte an das Konzept der Nationalität. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986 [1955]) setzt sich Hannah Arendt u.a. mit dem Thema Flucht auseinander und stellt die These auf, dass speziell die Figur des Geflüchteten die enge Verflechtung offenlege, die zwischen den Menschenrechten33 und dem Konzept der Nationalität besteht. So ist paradoxerweise gerade der Geflüchtete, der dem Schutz der Menschenrechte unbedingt bedürfte, derjenige, der diese einer fundamentalen Bewährungsprobe unterzieht:
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Das Habeas corpus, das bereits im 13. Jahrhundert die physische Anwesenheit bei Gericht sichern und ab 1679 im englischen Strafgesetz jedem ›Körper‹ das Recht auf einen Gerichtsprozess garantieren sollte, wurde laut Agamben zu einer grundlegenden biopolitischen Formel, die in der modernen Demokratie insofern nachwirkt, als der Status der Rechtsperson und die damit einhergehenden Rechte und Freiheiten vorrangig an den Körper gebunden seien: »[N]on l’uomo libero, con le sue prerogative e i suoi statuti, e nemmeno semplicemente homo, ma corpus è il nuovo soggetto della politica e la democrazia moderna nasce propriamente come rivendicazione ed esposizione di questo ›corpo‹: habeas corpus ad subjiciendum, dovrai avere un corpo da mostrare.« (Agamben 2005: 136f.) Für einen Kommentar von Hannah Arendts Auseinandersetzung mit den Menschenrechten, auch als Grundlage der von Agamben vorgenommenen Anknüpfungen, siehe Christoph Menke (2008).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Was diese Verquickung der Menschenrechte mit der im Nationalstaat verwirklichten Volkssouveränität eigentlich bedeutete, stellte sich erst heraus, als immer mehr Menschen und immer mehr Volksgruppen erschienen, deren elementare Rechte als Menschen wie als Völker im Herzen Europas so wenig gesichert waren, als hätte sie ein widriges Schicksal plötzlich in die Wildnis des afrikanischen Erdteils verschlagen. Schließlich hatte man, wenn man von unveräußerlichen und unabdingbaren Menschenrechten sprach, gemeint, diese seien unabhängig von allen Regierungen und müßten von allen Regierungen in jedem Menschen respektiert werden. Nun stellte sich plötzlich heraus, daß in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dies Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen. (Arendt 1986: 455) Auch Agamben stellt fest, dass die Menschenrechte im Nationalstaat scheinbar nur in direkter Verbindung mit jenen des Bürgers bzw. der Bürgerin eine wirkliche Anwendung finden können und dass sich diese Problematik bereits in einem der Begründungsdokumente der Menschenrechte auftut: Nel sistema dello Stato-nazione, i cosiddetti diritti sacri e inalienabili dell’uomo si mostrano sprovvisti di ogni tutela e di ogni realtà nel momento stesso in cui non sia possibile configurarli come diritti dei cittadini di uno stato. Ciò è implicito, se ben si riflette, nell’ambiguità del titolo stesso della dichiarazione del 1789: Déclarations des droits de l’homme et du citoyen, dove non è chiaro se i due termini nominino due realtà autonome o formino invece un sistema unitario, in cui il primo è già sempre contenuto e occultato nel secondo; e, in questo caso, che tipo di relazione esista fra di essi. (Agamben 2005: 139f.) Daraufhin nennt der Philosoph historische Phänomene und Dokumente, die zunächst von einer konstitutiven (und nicht unproblematischen) Bindung der Menschenrechte an die (Staats-)Bürgerschaft zeugen, die sich jedoch an einem bestimmten Punkt der Geschichte (auf nicht weniger problematische Weise) aufzulösen anfing. Er beginnt mit einer Lektüre der zitierten Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789, in der die Geburt,34 und damit das natürliche Leben, als zentrales Kriterium einer rechtlichen Existenz begriffen wird, um gleich darauf aber mit der Kategorie des Bürgers zu verschwimmen, dessen politische Existenz die Rechte des Menschen erst gewährleistet (vgl. Agamben 2005: 139-145). In ihrem
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Friedrich Balke (2008) kommentiert das Verhältnis von Geburt, politischer bzw. rechtlicher Gründung und dem nackten bzw. natürlichen Leben bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben.
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dritten Artikel weist die Déclaration die Souveränität, die vormals die Person des Souveräns innehatte, der Nation zu: »La nazione, che etimologicamente deriva da nascere, chiude cosí il cherchio aperto dalla nacita dell’uomo.« (ebd.: 141) Verfolgt man die Entstehung des modernen Staats also zurück, wird man laut Agamben in letzter Instanz gewahr, dass nicht das freie politische Subjekt dessen Grundlage stellt, sondern zuallererst das in seiner Geburt hervorgebrachte natürliche Leben (vgl. ebd.: 141f.). Die Frage, welcher Mensch auch Bürger*in sein darf, stellt sich also erst ab dem Punkt, an dem jemand dem nationalen Kollektiv beitreten möchte, der von außen kommt, sprich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats geboren wurde.35 Bereits im unmittelbaren Nachgang der französischen Revolution zerfaserten sich die Ansichten darüber36 und in eine handfeste Krise geriet der »nesso nascita-nazione« (ebd.: 145) laut Agamben, sich erneut auf Arendt (vgl. 1986: 422-470) berufend, nach dem Ersten Weltkrieg, als in Europa hunderttausende Menschen in Bewegung waren und sich die Frage nach einem Umgang mit Geflüchteten und Staatenlosen mit zunehmender Dringlichkeit stellte: Se i rifugiati (il cui numero non ha mai cessato di crescere nel nostro secolo, fino ad includere oggi una parte non trascurabile dell’umanità) rappresentano, nell’ordinamento dello Stato-nazione moderno, un elemento cosí inquietante, è innanzitutto perché spezzando la continuità fra uomo e cittadino, fra natività e nazionalità, essi mettono in crisi la finzione originaria della sovranità moderna. Esibendo alla luce lo scarto fra nascita e nazione, il rifugiato fa apparire per un attimo sulla scena politica quella nuda vita che ne costituisce il segreto presupposto. In questo senso, egli è veramente, come suggerisce H. Arendt, ›l’uomo dei diritti‹, la sua prima e unica apparizione reale al di fuori della maschera del cittadino che costantemente lo ricopre. Ma, proprio per questo, la sua figura è cosí difficile da definire politicamente. (Agamben 2005: 145) 35
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Im Kontext von migrationspolitischen Fragestellungen scheint die von Agamben konstatierte Ambiguität sich lexikalisch besonders deutlich niederzuschlagen, etwa wenn man einschlägige Begriffe, wie die deutschen Wörter Einbürgerung und Staatsbürgerschaft mit den französischen Synonymen naturalisation und nationalité vergleicht. In den französischen Begriffen scheint das Erbe der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen deutlich nachzuhallen, stammen sie doch etymologisch von naître und nature ab, die beide auf nascere (vgl. Petit Robert 2008-, s.v. naturalisation, nature, nationalité) zurückgehen und den Fokus auf die Geburt und das natürliche Leben legen, während im Zentrum der deutschen Termini die Bürgerschaft als politisch-soziale Existenz steht. Agamben zitiert als Beispiel einen Textauszug des französischen Priesters und Philosophen Emmanuel Joseph Siyès, der im Préliminaire de la constitution. Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme et du citoyen (1789) zwischen ›aktiven‹ und ›passiven‹ Bürger*innen unterscheidet, um die politische Existenz von der unpolitischen zu trennen, wobei letztere bspw. Frauen, Kindern und Ausländer*innen zu Teil wird (vgl. Agamben 2005: 144).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Die Flüchtlingsbewegungen nach dem ersten Weltkrieg scheinen für Agamben den Punkt zu markieren, an dem die in den Menschenrechten verankerte und den Nationalstaat konstituierende Verbindung von Nativität und Nationalität, Mensch und Bürger zunehmend auseinanderdriftet (vgl. ebd.: 142f.).37 Dennoch misst der Autor gerade dem Geflüchteten mit Blick auf die Zukunft eine entscheidende Rolle bei, wenn er schreibt: »Vielleicht gilt es, politische Philosophie, ausgehend von der Figur des Flüchtlings, neu zu begründen.« (Agamben 2001a) Agamben sieht die Auseinandersetzung mit Geflüchteten gar als möglichen Ausgangspunkt, »die Konzepte der Staatsbürgerschaft und der Nationalität zu überwinden« (Agamben zit.n. Caccia 2001), womit »die Figur des Flüchtlings« laut Julia Schulze Wessel »vielmehr noch als bei Arendt als zentrale philosophische Figur der politischen Utopie in dem Werk Agambens bestimmt werden [kann].« (beide 2017: 63) Vor dem Hintergrund der skizzierten Verknüpfung, die sich allerdings zunehmend zu einer Kluft zwischen Mensch und Bürger, Humanitärem und Politischem zu entwickeln scheint (vgl. Agamben 2005: 147f.), lassen sich in der Analyse der Korpustexte die migrationspolitischen Entscheidungen lesen, die in den dargestellten Asylverfahren diejenigen Kriterien festlegen, nach denen ein Mensch im Ankunftsland ein Bleiberecht erhält oder nicht. Das Auftreten des Lagers markiert in Agambens Theorie schließlich eine grundlegende Veränderung in der Relationalität von Leben und Recht, da der Ausnahmezustand dort eine dauerhafte topologische Lokalisierung findet, in der homines sacri produziert werden (vgl. Gorgoglione 2016: 117f.). Mit dem Lager entsteht eine raumhafte Struktur, in welcher der fundamental ortlose homo sacer, der vormals mittels der einschließenden Ausschließung die Schwelle zwischen Innen und Außen verkörperte, nunmehr verortet wird (vgl. Schulze Wessel 2017: 73-76). Dadurch wird laut Agamben eine Entwicklung initiiert, im Verlaufe derer parallel zur wachsenden biopolitischen Ausrichtung der Politik die besagte Schwelle zwischen politisch und unpolitisch, innerhalb und außerhalb des Rechts sich derart ausbreitet, dass die Ausnahme zur Regel und damit potenziell jeder Mensch zum homo sacer wird: È come se ogni valorizzazione e ogni ›politicizzazione‹ della vita […] implicasse necessariamente una nuova decisione sulla soglia al di là della quale la vita cessa di essere politicamente rilevante. […] Ogni società fissa questo limite, ogni società – anche la piú moderna – decide quali siano i suoi ›uomini sacri‹. È possibile, anzi, che questo limite, da cui dipende la politicizzazione e l’exceptio della vita naturale nell’ordine giuridico statuale, non abbia fatto che allegarsi nella storia
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Johanna Barbro Sellman (vgl. 2013: 44-47) kommentiert Entstehung und Inhalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) sowie der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) aus einem biopolitischen Blickwinkel.
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dell’occidente e passi oggi – nel nuovo orizzonte biopolitico degli stati a sovranità nazionale – necessariamente all’interno di ogni vita umana e di ogni cittadino. La nuda vita non è piú confinata in un luogo particolare o in una categoria definita, ma abita nel corpo biologico di ogni essere vivente. (Agamben 2005: 154) Ohne die grausamen Verbrechen zu schmälern, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten und anderen Internierungslagern stattgefunden haben, legt Agamben den Schwerpunkt seiner Analyse auf die spezifische, juridisch-politische Struktur des Lagers, welche Taten und Zustände ermöglicht, die außerhalb dieses Ortes schlicht undenkbar wären. Diese Perspektive resultiert darin, das Lager nicht etwa als eine vergangene historische Anomalie zu lesen, sondern als eine »matrice nascosta, al nómos dello spazio politico in cui ancora viviamo.« (ebd.: 185) Um diese Interpretation zu stützen, nennt Agamben neben den deutschen Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg zwei weitere geschichtliche Momente, in denen Menschen von der vorherrschenden Macht in Lager eingesperrt wurden: die Errichtung der campos de concentraciones auf Kuba durch die Spanier im Jahr 1896 und die von England im Burenkrieg zwischen 1899 und 1902 erbauten concentration camps.38 Die herausstehende Gemeinsamkeit beider Phänomene ist laut Agamben die Tatsache, dass die Errichtung jener Lager nicht aus dem regulären Recht heraus, sondern im Rahmen des Kriegsrechts erfolgte (vgl. ebd.: 185): Il campo è lo spazio che si apre quando lo stato di eccezione comincia a diventare la regola. In esso, lo stato di eccezione, che era essenzialmente una sospensione temporale dell’ordinamento sulla base di una situazione fattizia di pericolo, acquista ora un assetto spaziale permanente che, come tale, rimane, però, costantemente al di fuori dell’ordinamento normale. (ebd.: 188) Obgleich das Lager also fundamental ambivalent ist, scheint sich selbst in ihm der u.a. von Vittoria Borsò (vgl. 2015: 259) konstatierte Zusammenhang von Sein und locus zu bestätigen, nach dem die Ontologie der Dinge sich auch in ihrer Räumlichkeit manifestiert. Das Lager bildet nach Agamben einen paradoxalen Raum, ein sich außerhalb der regulären Rechtsordnung befindliches, abgegrenztes Gebiet, das dennoch nicht als rechtsfrei kategorisiert werden kann. In ihm herrscht vielmehr ein dauerhafter, quasi normalisierter und beabsichtigter Ausnahmezustand, welcher der einschließenden Ausschließung einen Ort gibt und »inaugura un nuovo paradigma giuridico-politico, in cui la norma diventa indiscernibile dall’ecce38
Zahlreiche weitere Beispiele könnten dem hinzugefügt werden, so die Internierung von USBürger*innen japanischer Herkunft nach der Bombardierung Pearl Harbors (vgl. Matsumoto 2005: 350-354) oder die Lager, in denen ab 1939 spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in Frankreich untergebracht wurden (vgl. Bennassar 2005: 347-363). Für eine biopolitisch perspektivierte Analyse der Darstellung eines solchen Lagers in Javier de Isusis grafischer Erzählung Asȳlum siehe Frank Leinen (2020).
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zione.« (Agamben 2005: 190) So überführt das Lager den Mechanismus des Banns in eine materielle Struktur und macht ihn als Fundament der souveränen Macht sichtbar. Agamben begreift das Lager als Matrix und führt weitere Beispiele39 aus der jüngeren Vergangenheit an. Er spricht etwa von dem Stadion in Bari, in dem die italienische Polizei 1991 zeitweise illegal Eingewanderte aus Albanien versammelte oder von den zones d’attente an französischen Flughäfen, wo diejenigen Einreisenden warten müssen, die auf einen Asylstatus hoffen (vgl. ebd.: 195). Selbst in den Peripherien von Großstädten erkennt Agamben zeitgenössische, lagerähnliche Strukturen (vgl. ebd.: 197).40 Inwiefern die in den Korpustexten dargestellten urbanen Peripherien, zones d’attente, Auffanglager und Abschiebegefängnisse die juridisch-politische Beschaffenheit aufweisen, die Agamben der Lager-Matrix zuschreibt, wird in dem analytischen Teil vorliegender Studie diskutiert. Es kann jedoch vorweggenommen werden, dass die dem homo sacer eigene »Ortlosigkeit« (Geulen 2016: 106) im symbolischen wie im geografischen Sinne ihre literarische Umsetzung u.a. in Transit- und Nicht-Orten (vgl. Augé 1992) findet, in denen die Figuren sich maßgeblich bewegen. Da Agamben mehrfach eine undifferenzierte Übernahme und Verwendung des Begriffs des Lagers vorgeworfen wurde (vgl. Werber 2002: 621f., Revel 2017: 61-65), soll für die vorliegende Untersuchung an der Stelle ausdrücklich betont werden, dass die Konzentrationslager des NS-Regimes in keiner Weise mit heutigen Flüchtlingslagern oder Abschiebegefängnissen verglichen werden können. Betrachtet man aber mit Agamben vorrangig die rechtlich-politische Verfasstheit derartiger, das Leben einschränkender Dispositive im Verhältnis zu den Maßstäben und Werten der Staaten, auf deren Boden sie sich befinden, so zeigt sich, dass in einer Logik der Ausnahme innerhalb dieser Strukturen Umstände zu herrschen scheinen, die außerhalb ihrer kaum denkbar wären: 39
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U.a. mit Bezug auf Giorgio Agamben untersucht Yann Moulier Boutang die Errichtung von Lagern außerhalb Europas als Strategie der Migrationspolitik der Europäischen Union. Er hebt dabei hervor, dass die EU diese Form des Grenzschutzes nicht als Ausnahmefall, sondern vielmehr als »eine normale Form des Regierens« (Moulier Boutang 2007: 175) zu betrachten scheint. Gleichzeitig deutet er den Bau dieser Lager jedoch auch als Ausdruck einer ›Autonomie der Migration‹, welche die Staaten zunehmend zu repressiven Maßnahmen zwingt: »Die Autonomie der migrantischen Bewegungen ist größer als die der Politik und deshalb nur noch über ein System steuerbar, das das provisorische Internierungslager als konstitutives funktionales Moment inkorporiert.« (ebd.: 176) Das Konzept der Autonomie der Migration wird in Kapitel 2.5.3 ausführlicher behandelt und im analytischen Part vorliegender Studie als Methode zur Untersuchung textueller Phänomene in Migrationsliteratur ausgedeutet. Eine Problematisierung dieser Übertragung von Agambens Lagerbegriff und der Figur des homo sacer auf zeitgenössische gesellschaftliche Fragestellungen und Phänomene nimmt Andreas Vasilache vor, der dem Konzept nur dann ein »analytisches Potenzial« zuschreibt, »wenn es nicht inflationär überdehnt wird.« (beide Vasilache 2007: 60)
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Die Verschränkung von Biopolitik und Ausnahmelogik im Raum des Lagers wird – darauf insistiert Agamben unmissverständlich – nicht zum Paradigma moderner Politik erklärt aufgrund dessen, was dort geschehen ist. Paradigmatisch sind vielmehr die juridischen und biopolitischen Dispositive, die das Lager organisiert haben als einen Raum, in dem das Unmögliche wirklich werden konnte. (Geulen 2016: 110)41 In einem Vergleich zwischen der Lebensrealität von Bewohner*innen eines Flüchtlingslagers und jener von Vollbürger*innen zeigt sich in dieser Perspektive etwa die Trennung von Menschen- und Bürgerrechten in aller Deutlichkeit. Aufgrund ihrer Prägnanz, wenn nicht gar Brisanz, riefen Giorgio Agambens Thesen in den letzten Jahren breites wissenschaftliches Interesse aber ebenso scharfe Kritik hervor.42 Die vorliegende Untersuchung vertritt die Ansicht, dass die Arbeiten des italienischen Philosophen zwar stellenweise durchaus Anlass zu kritischen Nachfragen geben, jedoch gerade im Hinblick auf die geisteswissenschaftliche, d.h. natürlich auch literaturwissenschaftliche Verhandlung der Themenkomplexe Flucht und Migration einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert aufweisen. Die von ihm analysierte, rechtlich-politische Ausdifferenzierung des Lebens in eine politische und eine bloße Existenz sowie die damit einhergehenden Ausschlussmechanismen liefern wertvolle Impulse und Denkfiguren für eine biopolitisch perspektivierte Lektüre von Migrationsliteratur.
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Thomas Lemke hält in ähnlicher Manier fest, dass es Agamben keinesfalls um »eine Nivellierung von Demokratie und Diktatur oder um die Abwertung bürgerlicher Freiheits- oder sozialer Teilhaberechte« gehe und der italienische Philosoph insofern keiner »Logik der Pauschalisierung und Parallelisierung folge« (beide Lemke 2007: 76). Vielmehr sei es seine Absicht, trotz aller Unterschiede zwischen den untersuchten Systemen und Strukturen die Produktion von nacktem Leben als deren Gemeinsamkeit in den Blick zu nehmen (vgl. ebd. 76f.). So kritisiert etwa Sarasin (vgl. 2003b: 348f.) Agambens Argumentation allgemein als inkonsistent und zu selektiv und wirft ihm unter Anerkennung zumindest einiger, wenn auch laut Sarasin ungenügend belegter, interessanter Thesen, eine Fehllektüre Foucaults und dessen Lebensbegriffs vor (vgl. ebd.: 350f.). Darin stimmt Sarasin mit Maria Muhle (vgl. 2013: 3854) überein, die argumentiert, dass Agambens Begriff des nackten Lebens als Anschluss an Foucaults Studien zur Biopolitik nicht denkbar sei. Agambens transhistorischer bzw. substanzieller, passiver und dem Tod geweihter homo sacer sei kaum mit dem foucaultschen Lebensbegriff vereinbar. Dieser sei nämlich im Gegenzug bewusst offen konzipiert sowie an die jeweiligen diskursiven und epistemischen Gegebenheiten einer Epoche gebunden, habe ein aktives bzw. produktives und widerständiges Potenzial inne und werde überdies durch biopolitische Dynamiken (im Gegensatz zur früheren souveränen Macht) just gefördert und geschützt und nicht bloß unterdrückt oder vernichtet. Der Titel von Nils Werbers Aufsatz Die Normalisierung des Ausnahmefalls. Giorgio Agamben sieht immer und überall Konzentrationslager (2002) spricht für sich.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2.3.5
Dal Lagos non-persona als vermittelndes Moment zwischen bíos und zoë
Die bereits angedeutete Kritik an Giorgio Agambens Werk betrifft etwa die von mehreren Rezensent*innen als zu undifferenziert bewertete Perspektive seiner Untersuchung,43 die zu begrifflichen Ungenauigkeiten führe (vgl. Sarasin 2003b: 350). Das Ausbleiben allzu dezidierter Definitionen verleiht Agambens Theorie aber eine Offenheit, die diverse Anschlussmöglichkeiten zu bieten scheint, weshalb seine Unterscheidung zwischen einem politisch qualifizierten (bíos) und einem bloßen Leben (zoë) nachfolgend um Alessandro Dal Lagos Figur der non-persona erweitert werden soll. Wie zuvor gesehen kommt Agamben in seiner Untersuchung der grundlegenden Ambivalenz der Biopolitik zu dem Schluss, dass in der heutigen Zeit alle Bürger »virtualmente homines sacri« (Agamben 2005: 127) seien, insofern seit der Moderne in voranschreitendem Maße das biologische Leben einer jeden Person potenziell bzw. abstrakt in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gestellt wird. Die Struktur der Virtualität verwendet der Autor in Homo sacer an einer früheren Stelle, um in Anlehnung an Kafkas Vor dem Gesetz44 sowie an den diesen Text betreffenden Briefwechsel zwischen Gershom Scholem und Walter Benjamin45 den »stato di eccezione effetivo« von einem »stato di eccezione virtuale« (beide ebd.: 64) zu unterscheiden (vgl. ebd.: 57-64). Der von Scholem geprägte Ausdruck der »Geltung ohne Bedeutung« (zit.n. ebd.: 59), nach dem alleine die Potenzialität des Rechts den Mann vom Lande daran hindert, die Tür des Gesetzes zu durchschreiten, beschreibt Agamben zufolge die Struktur des souveränen Banns, der faktisch noch
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Auch hierzu äußern sich etwa Sarasin (2003b) und Werber (2002) sowie Vasilache (2007). Die Geschichte, die dem Protagonisten Josef K. in Der Prozeß von einem Geistlichen vorgetragen wird, handelt von einem Mann vom Lande, der vergeblich versucht, die offene Tür des Gesetzes zu durchschreiten. Zwar ist das Betreten des Gesetzes grundsätzlich möglich, wird dem Mann jedoch durch den Türhüter immer wieder untersagt, bis der Mann schließlich stirbt und die Tür endgültig geschlossen wird, da sie lediglich für ihn bestimmt war (vgl. Kafka 2000 [1925]: 229-237). Eine Analyse von Agambens Kafka-Lektüren, auch unter Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit Benjamin, nehmen Vivian Liska (2007, 2010) und Carlo Salzani (2013) vor. An der Stelle sei hervorgehoben, dass Kafkas Romane Figuren und Strukturen entwerfen, in denen Agambens Denkfiguren des nackten Lebens sowie des verstetigten Ausnahmezustands eine Entsprechung zu finden scheinen: »Kafka’s novels also provide a figure for Agamben’s notion of ›bare life,‹ the life of the homo sacer that can be killed yet not sacrificed, that is, the life in the grip of sovereign power. Life under a law that is in force without signifying is the life in the state of exception, in which law is all the more pervasive insofar as it lacks of any content, and comes finally to coincide with life.« (Salzani 2013: 266) Zur Auseinandersetzung Agambens mit Benjamins Verständnis des Ausnahmezustands sowie dessen Lektüre Carl Schmitts siehe Reitz (2007).
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nicht vollzogen wurde, aber jederzeit möglich ist (vgl. Geulen 2016: 82f.). Übertragen auf Agambens oben zitierte Aussage scheint dies zu bedeuten, dass alle Menschen virtuell, also potenziell, homines sacri sind, insofern die Möglichkeit einer politischen Vereinnahmung ihres biologischen Lebens jederzeit besteht. Dies erlaubt wiederum die Annahme, dass einige Menschen noch zum nackten Leben werden könnten, während andere es bereits sind – und auch eine Umkehrung vom faktischen homo sacer zum virtuellen scheint denkbar. Der virtuelle, noch-nicht homo sacer wäre also im Endeffekt wiederum mit bíos gleichzusetzen, einer politischen Existenz, deren Leben dem Zugriff der Politik stets potenziell untersteht, während der faktische homo sacer das tatsächliche, von der Sphäre des Politischen zugleich ein- und ausgeschlossene zoë darstellen würde. Schließlich müsste Agamben zum Abschluss seiner Studie keine beispielhaften Verkörperungen des nackten Lebens aus der heutigen Zeit nennen, wenn diese Bezeichnung unterschiedslos auf alle Menschen zuträfe (vgl. Agamben 2005: 195-198). Vielmehr scheinen in seiner Theorie nicht alle auf dieselbe Art und Weise homines sacri zu sein und dies könnte sich als eine Möglichkeit erweisen, die u.a. von Thomas Lemke geforderte Differenzierung von Agambens Distinktion zu denken: [S]o fällt auf, dass Agamben das ›Lager‹ nicht als ein in sich differenziertes und differenzierendes Kontinuum begreift, sondern lediglich als eine ›Linie‹ […], die mehr oder weniger eindeutig zwischen nacktem Leben und politischer Existenz trennt. Sein Augenmerk richtet sich allein auf die Etablierung der Grenze – eine Grenze, die er statt als gestaffelte Zone als eine Linie ohne Ausdehnung begreift, die sich auf ein Entweder-Oder reduziert. Auf diese Weise kann er nicht mehr analysieren, wie es zu Stufungen und Wertungen innerhalb des ›nackten Lebens‹ kommt, wie Leben als ›höher‹ oder ›niedriger‹, als ›absteigend‹ oder ›aufsteigend‹ qualifiziert werden kann. (Lemke 2007: 78f.) Insbesondere für die literarische Untersuchung von Migrationsliteratur scheint es sich anzubieten, eine Kategorie zu entwerfen, die zwischen dem nackten und dem politisch qualifizierten Leben vermittelt und somit jene Subjekte einschließt, die zwar formal mit (Bürger-)Rechten ausgestattet sind, jedoch gesellschaftlich, sozial, politisch, geografisch oder anderweitig marginalisiert werden und somit weder als bíos noch als zoë erscheinen: »The analysis of biopolitics cannot be limited to those without legal rights, such as the refugee or the asylum seeker, but must encompass all those who are confronted with social processes of exclusion – even if they may be formally enjoying full political rights: the ›useless‹, the ›unnecessary‹, or the ›redundant‹.« (Lemke 2005: 10) Der von Foucault beschriebene biopolitische Modus des »meurtre indirect« (Foucault 1997: 228), der entweder die tatsächliche Erhöhung der Lebensgefahr von Teilen der Bevölkerung, bspw. durch schlechtere medizinische Versorgung, oder aber deren symbolischen Tod durch soziale oder politische Exklusion bedeuten kann, zielt offenbar nicht alleine auf das offen ausgeschlos-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
sene, nackte Leben, sondern möglicherweise auch auf das politisch qualifizierte, aber gesellschaftlich marginalisierte Leben. Agambens biopolitisches Denkmodell scheint durchaus für die Analyse derartiger Phänomene geeignet, bezeichnet er doch in Homo sacer etwa »certe periferie delle nostre città« (Agamben 2005: 197) als lagerähnliche Strukturen, die nacktes Leben produzieren.46 Um diese Mechanismen im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Analyse fiktionaler Migrationsliteratur lesbar zu machen, möchte die vorliegende Untersuchung die von Agamben etablierte virtuelle Universalität des nackten Lebens nicht als bloße Auflösung des bíos in ein allumfassendes zoë deuten, sondern als eine seit der Moderne fortschreitende potenzielle Politisierung-Juridisierung eines jeden Lebens, in der die Distinktion zwischen einer politischen Existenz (bíos = virtuelles zoë = (noch) nicht homo sacer) und einer bloßen, rechtlich nicht sanktionierbaren Existenz (faktisches zoë = homo sacer) allerdings erhalten bleibt. Auf Basis der von Agamben herausgearbeiteten Ambivalenz der Schwelle zwischen diesen beiden Kategorien wird der Versuch unternommen, dasjenige Leben zu beschreiben, das sich in ihrem Dazwischen befindet, das formalrechtlich als bíos aber sozialgesellschaftlich als zoë erscheint, indem Agambens Paradigma um Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona47 erweitert wird. Das Konzept ist im Rahmen dieser Studie als ein Denkmodell zu verstehen, das eine biopolitisch perspektivierte, literaturwissenschaftliche Untersuchung von Migrationsliteratur mit soziopolitisch aktuellen Mustern ermöglicht. Trotz ihrer unterschiedlichen fachlichen Ausrichtung – Giorgio Agamben ist Rechtswissenschaftler und Philosoph, Alessandro Dal Lago war Soziologe – suggerieren die gemeinsamen methodischen und thematischen Schwerpunkte ihrer Studien eine Anschlussfähigkeit, die nachfolgend skizziert wird. Wie Dal Lago selbst schreibt, sollte Non-persone. L’esclusione dei migranti in una società globale (2012) ursprünglich ein Pamphlet über die soziale Stigmatisierung von Migrant*innen
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Judith Revel greift diesen Ansatz auf, indem sie nach den Protesten in den Pariser Banlieues von 2005 die vielschichtigen Strukturen der Marginalisierung in den sogenannten quartiers défavorisées mit Agambens Figur des souveränen Banns liest, »ayant soin de garder à l’esprit que la ban-lieue, c’est au sens strict le lieu du ban par excellence« (Revel 2006: 161). Revel konstatiert, dass die prekären Existenzbedingungen in den Pariser Vorstädten deren Bewohner*innen als zoë erscheinen lassen, obwohl ein Großteil von ihnen die französische Staatsbürgerschaft inne hat und somit ein mit entsprechenden Bürgerrechten ausgestattetes, politisch qualifiziertes Leben (bíos) führen können sollte (vgl. ebd: 167f.). Ein Hinweis auf Alessandro Dal Lagos Non-persone. L’esclusione dei migranti in una società globale (2012) (jedoch ohne Bezug auf Agambens biopolitische Fragestellungen) befindet sich in Nicoletta Pireddus Artikel A Moroccan Tale of an Outlandish Europe: Ben Jelloun’s Departures for a Double Exile (2009), was die Valenz der Studie Dal Lagos für einen literaturwissenschaftlichen Ansatz sowie deren in der vorliegenden Arbeit versuchten, systematischen Ausarbeitung bestätigt.
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werden, wuchs sich aber im Zuge seiner Recherchen zu einer umfassenden Untersuchung aus. In seiner Analyse widmet er sich den sozialen Exklusionsprozessen, denen Migrant*innen in Italien und ganz Europa ausgesetzt sind, den juristischen Mechanismen, mit denen staatliche Institutionen auf das Phänomen Migration reagieren, sowie den entsprechenden öffentlichen, medialen und politischen Diskursen (vgl. Dal Lago 2012: 7-17). In diesen diversen Untersuchungsgegenständen äußert sich laut Dal Lago ein fundamentaler u.a. gesellschaftlicher, politischer und juristischer Differenzierungsvorgang, der die Menschen in Personen und NichtPersonen einteile: L’umanità viene divisa in maggioranze di nazionali, cittadini dotati di diritti e di garanzie formali, e in minoranze di stranieri illegittimi (non cittadini, non nazionali) cui le garanzie vengono negate di diritto e di fatto. […] Grazie a meccanismi sociali di etichettamento e di esclusione impliciti ed espliciti, l’umanità viene divisa tra persone e non-persone. (ebd.: 9) Wenngleich Dal Lago sein Werk fachlich nicht explizit in der Theorie der Biopolitik verortet, sind auf den ersten Blick thematische Parallelen zu Giorgio Agambens Homo sacer-Studie hinsichtlich der rechtlichen sowie politischen Verwaltung und Kategorisierung menschlichen Lebens auszumachen, die im Verlauf seiner Untersuchung an Prägnanz gewinnen, da auch Dal Lago methodisch u.a. auf Hannah Arendt (vgl. ebd.: 19, 90, 211, 223), Michel Foucault (vgl. ebd.: 21, 223) und Carl Schmitt (vgl. ebd.: 216f.) rekurriert. Auf Agamben, dessen Homo sacer in italienischer Originalausgabe 1995, also vier Jahre vor der Erstausgabe von Non-Persona erschienen ist, nimmt Dal Lago in zwei Fußnoten hinsichtlich des Lager-Paradigmas sowie der Figur der einschließenden Ausschließung Bezug (vgl. ebd.: 233, 234). Setzt Agamben den Fokus auf die Relationalität des Banns zwischen der Sphäre des Politischen und dem nackten Leben, so hinterfragt Dal Lago in ähnlicher Manier die juristischen und politischen Mechanismen, inklusive Gesetzesänderungen und politischer Kurswechsel, mit denen Italien und andere europäische Staaten der Migrationsfrage begegnen. Dabei erkennt der Autor, ähnlich wie Agamben, eine zunehmende Verwischung traditioneller politischer Kategorien wie ›rechts‹ und ›links‹ sowie ihrer Programme (vgl. ebd.: 24f., 38, 113-117, 123-130). Überdies konstatiert auch Dal Lago, in Anlehnung an Hannah Arendt, ein paradoxales Verhältnis zwischen den Menschen- und den Bürgerrechten und macht dabei ebenfalls die Flüchtlingsbewegungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als Wendepunkte aus, die der Kategorie der Bürgerschaft eine neue Bedeutung zukommen ließen (vgl. ebd.: 217-219, 222f.). Am deutlichsten manifestieren sich die thematischen wie analytischen Parallelen zu Giorgio Agamben allerdings in Dal Lagos Auseinandersetzung mit Internierungslagern und ähnlichen Orten (vgl. ebd.: 8, 24, 39, 185f.) und insbesondere in seiner Analyse der Vorkommnisse in Bari 1991, denen er ein gesamtes Kapitel
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widmet (vgl. ebd.: 179-204) und die, wie zuvor gesehen, auch Agamben (vgl. 2005: 195) in Homo sacer erwähnt. Damals kamen hunderte albanische Migrant*innen auf einem überfüllten Boot im Hafen von Bari an und wurden daraufhin etwa eine Woche lang unter unhaltbaren Bedingungen in dem Fußballstadion der Stadt festgehalten (vgl. Dal Lago 2012: 183-186). In seiner Analyse hebt Dal Lago u.a. hervor, dass die rechtlichen Voraussetzungen für das Vorgehen der Polizei sowohl im Hinblick auf die Festsetzung der Eingewanderten als auch auf deren darauffolgende Abschiebung nicht gegeben waren und dass insbesondere das Stadion zu einem juristischen Nicht-Ort wurde, in dem reguläres italienisches Recht plötzlich nicht mehr zu gelten schien. Seine Formulierungen stehen dabei in Einklang mit Agambens Ausführungen zum Lager als topografischer Materialisierung des Ausnahmezustands und Ort des Banns, an dem sich die einschließende Ausschließung derer vollzieht, die nicht Teil der politisch qualifizierten Gesellschaft sind: Lo stadio […] è un non-luogo […]. L’extraterritorialità culturale dello stadio (un luogo in cui normalmente ci si diverte, si fa sport o si tengono concerti) si converte in extraterritorialità giuridica. […] Gente dallo status incerto (che cosa saranno mai: ›extracomunitari‹, ›immigrati‹, ›clandestini‹, ›profughi‹, ›rifugiati‹?), gli albanesi di Bari vengono trattati come bestie, non già perché lo stato italiano sia devenuto più feroce, ma semplicemente perché non sono disponibili immediatamente categorie giuridiche che consentano di trattarli come uomini e donne. In realità gli albanesi credono di trovarsi in Italia, ma sono altrove, in uno spazio extraterritoriale, meramente fisico, la cui unica funzione è il contenimento provvisorio. […] Lo stadio di Bari documenta una modalità nuova nel patrimonio tecnico di spersonalizzazione degli esseri umani. (ebd.: 186)48 Die 1991 im Stadion von Bari festgehaltenen Albaner*innen sind für Dal Lago, ebenso wie alle stigmatisierten, sozial, politisch, juristisch oder anderweitig diskriminierten und marginalisierten Migrant*innen und Ausländer*innen, non-persone, denen im Gegensatz zu Staatsbürger*innen grundlegende Rechte verwehrt bleiben: Definisco i migranti che si vengono a trovare in tale condizione come non-persone. Sono vivi, conducono un’esistenza più o meno analoga a quella dei nazionali (gli italiani che li circondano), ma sono passibili di uscire, contro la loro volontà,
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Obgleich Dal Lago in diesem Zitat das Stadion als Nicht-Ort nach Augé (vgl. 1992) einordnet, erinnert die von ihm konstatierte »extraterriorialità culturale« des Stadions auch an Foucaults Heterotopie (vgl. 1994b, 2005) in ihrer Funktion als Gegenort, da auch im Stadion strukturell verschiedene Zeitlichkeiten und Ordnungen herrschen können. Die realisierte Utopie, »un luogo in cui normalmente ci si diverte, si fa sport o si tengono concerti«, wurde in besagter Situation aber zu einer realisierten Dystopie.
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dalla condizione di persone. Continueranno a vivere anche dopo, ma non esisteranno più, non solo per la società in cui vivevano come ›irregolari‹ o ›clandestini‹, ma anche per loro stessi, poiché la loro esistenza di fatto finirà e ne inizierà un’altra che comunque non dipenderà dalla loro scelta. […] [N]oi siamo liberi di vivere come più ci aggrada nel nostro paese grazie allo status di cittadini; lui, pur potendo vivere a tutti gli effetti come noi dal punto di vista materiale e sociale, non ha un futuro stabile nella nostra società. […] In breve, sono le norme relative alla cittadinanza che fanno di qualcuno una persona, e non viceversa. (ebd.: 207) Non-persone sind nach Dal Lago etwa all diejenigen Menschen, die in einem Land leben, dessen Staatsbürger*innen sie nicht sind und die entweder keinen rechtlichen Status innehaben, oder lediglich über ein prekäres49 Bleiberecht verfügen, das ihnen jederzeit entzogen werden kann. In einer weiteren methodischen Gemeinsamkeit mit Giorgio Agamben bezieht Dal Lago sich in seiner kurzen Genealogie der Kategorie der Person u.a. auf die römische Antike (vgl. ebd.: 213-215) und hebt hervor, dass der Begriff Person von jeher maßgeblich sozial konnotiert sei. Zwar beschäftigt er sich ebenfalls mit den juristischen Implikationen der Kategorie, die ausschließlich durch den Ausschluss derer Bestand habe, die nicht als Personen gelten (vgl. ebd.: 216f., 220-224). Ob jemand aber gesellschaftlich als Person angesehen wird oder nicht, hängt für Dal Lago primär von sozialen Faktoren ab – etwa, ob ein Mensch als gleichwertig anerkannt und behandelt wird (vgl. ebd.: 214). Aufgrund seiner multiperspektivischen Betrachtung verwischen die Grenzen zwischen der juristischen Kategorie und dem gesellschaftlich-sozialen Konzept ›Person‹ in Dal Lagos Analyse zuweilen. Dies führt bspw. dazu, dass er im Hinblick auf die Migrationsthematik stellenweise sowohl Migrant*innen mit als auch solche ohne regulären Aufenthaltsstatus als non-persone betrachtet (vgl. ebd.: 206f., 213). An anderen Stellen seiner Studie macht er wiederum einen Unterschied zwischen diesen Gruppen (vgl. ebd.: 38), zwischen »immigrati regolari« und »clandestini« (beide ebd.: 42). Der Fokus seiner Analyse auf die soziale Komponente der Kategorie Person ermöglicht jedoch gerade auch die Betrachtung von Diskrepanzen zwischen der gesellschaftlichen und der juristischen Ebene, etwa wenn Bürger*innen mit Migrationshintergrund lediglich formal wirkliche Gleichstellung erfahren oder wenn Schweizer*innen, Amerikaner*innen oder Japaner*innen in Europa offiziell als ›Nicht-EU-Bürger*innen‹ gelten, aber gesellschaftlich anders gestellt sind als bspw. Migrant*innen aus Afrika (vgl. ebd.: 218). Letztlich seien diese Phänomene
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Zur Prekarität des Lebens in Zeiten von politischen (vgl. Gentili 2020), ökonomischen (vgl. Bazzicalupo 2020) und migrationspolitischen (vgl. de Spuches 2020) Krisen siehe den von Sieglinde Borvitz (2020) herausgegebenen, thematisch einschlägigen Sammelband.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
auf einen einzigen Vorgang zurückzuführen, nämlich den einer sozialen Grenzziehung (vgl. ebd.: 214), zwischen »chi è incluso e chi è escluso« (ebd.: 219), sodass in Dal Lagos Perspektive etwa auch Häftlinge zu den Nicht-Personen zählen (vgl. ebd.: 209). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona daher Agambens primär juristisch begründetes Muster der biopolitischen Kategorisierung menschlichen Lebens um eine soziale Komponente erweitern und die literaturwissenschaftliche Betrachtung von Figurenkonstellationen bereichern. Dergestalt sollen in der Analyse der Texte rechtlich wie sozial anerkannte Bürger*innen (bíos) von diesen formal gleichgestellten, aber sozial marginalisierten Figuren, etwa solchen mit einem zeitlich begrenzten Bleiberecht (nonpersone), und schließlich von Personen ohne jeglichen rechtlichen Status (zoë) unterschieden werden. Freilich sind die vielfältigen juristischen und gesellschaftlichen Dynamiken, die sich im Zuge von Migrationsbewegungen ergeben, zu komplex, um in statische Schemata eingeordnet zu werden. Für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Migrationsliteratur können aber die Konzepte bíos, zoë und non-persona dazu genutzt werden, literarische Reflexionen biopolitischer Dynamiken anschaulich zu problematisieren.
2.4
Die Gemeinschaft in der Biopolitik – Das Immunisierungsparadigma nach Roberto Esposito
Im Gegensatz zu Giorgio Agambens negativ auslegbarer Konzeption der Biopolitik ist es Roberto Espositos erklärtes Anliegen, »[u]na biopolitica finalmente affermativa, produttiva« zu denken, »una politica non più sulla, ma della vita« (beide Esposito 2009: 147). Diese ist nach Meinung des Philosophen über ein neues Verständnis von Gemeinschaftlichkeit zu erreichen, das er u.a. in seinen Büchern Communitas. Origine e destino della comunità (2006 [1998]), Immunitas. Protezione e negazione della vita (2002) und Bíos: biopolitica e filosofia (2004) entwirft, wobei letzteres eine Art Synthese der beiden ersten darstellt und von Folkers und Lemke (2014: 35) als »zentrale[r] Beitrag in der Debatte um den Begriff der Biopolitik« eingestuft wird. Auch Timothy Campbell, der Espositos Bíos ins Englische übersetzte, misst den Studien des Italieners in der philosophischen Debatte um die Biopolitik, aber ebenso im gegenwärtigen, insbesondere US-amerikanischen gesellschaftlichen Kontext ein hohes Maß an Bedeutung und Aktualität zu: That his introduction to an American audience should occur now and concern his most recent study, Bíos: Biopolitics and Philosophy, is owing in no small part to the particular (bio)political situation in which we find ourselves today: the ever-increasing concern of power with the life biology of its subjects, be it American busi-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
nesses urging, indeed forcing, workers to be more active physically so as to save on health care costs, or the American government’s attempts in the ›war on terror‹ to expose the lives of foreign nationals to death, ›fighting them there‹ so as to ›protect‹ American lives here. […] Indeed, Bíos may be profitably read as nothing short of a modern genealogy of biopolitics that begins and ends with Philosophy. (Campbell 2008: vii) Das konzeptionelle Kernstück von Espositos Forschungen stellt das Paradigma der Immunisierung dar, das Gemeinschaft (communitas) relational als eine Form des ständigen Austauschs begreift, deren eigene Negation (d.h. die punktuelle oder partielle Einschränkung der Gemeinschaft zum Schutze des bzw. im Konflikt mit dem Individuellen) in Form von Schutzmechanismen (immunitas) strukturell im Gemeinschaftlichen angelegt ist. Das Immunisierungsparadigma nimmt in Espositos Ausführungen nicht nur die Funktion einer analytischen Schlüsselfigur in der Lesbarkeit biopolitischer Phänomene ein, sondern wird zum Ausgangspunkt eines neuen Gemeinschaftsentwurfs, von dem eine zukünftige, affirmative Biopolitik hergeleitet werden könnte.
2.4.1
Die Genealogie des Immunisierungsparadigmas
Esposito situiert die historischen Wurzeln der Biopolitik in der Moderne, als die beginnende Säkularisierung und Aufklärung der europäischen Gesellschaft die bis dahin geltende theologische Weltdeutung anfechten (vgl. Esposito 2004: 52f.). Auf der Suche nach einer alternativen Ordnung, die den aufkommenden Fragen nach dem Schutz des biologischen Lebens sowie der Vereinbarkeit von Individuum und Kollektiv gerecht wird, entstehen neue Konzepte von Gemeinschaft, welche sich um die u.a. von Thomas Hobbes und John Locke formulierten Kategorien der Souveränität, des Eigentums und der Freiheit organisieren.50 In diesen drei Begriffskomplexen ist bereits jene biopolitische Aporie angelegt, die Esposito mit dem Immunisierungsparadigma erklären möchte: Alle drei Kategorien implizieren stets sowohl die Förderung des Lebens als auch dessen Einschränkung, Schutz und Negation, insofern sie zwischen den Bedürfnissen des Individuums und dem Gemeinwohl vermitteln. In diesen zunächst widersprüchlich erscheinenden immunitären Dynamiken sieht Esposito die bivalente Natur der Biopolitik begründet (vgl. ebd.: 53-74). Die biologische Metapher der Immunität verfolgt der Autor bis zu Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) zurück, der das organizistische Staatsverständnis begründete, welches laut Esposito (vgl. 2009: 139f.) den Ursprung der biopolitischen Semantik
50
Für eine Zusammenfassung von Espositos Auseinandersetzung mit dem Naturzustand und dessen Implikationen für seinen Gemeinschaftsbegriff siehe Saidel (vgl. 2013: 445f.).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
darstellt. Die Konzeption des Staats als sozialer Körper sowie als einheitliches, das Leben der ihm angehörenden Subjekte integrierendes Wesen birgt jedoch ein Gefahrenpotenzial, das insbesondere im Vergleich mit dem heutigen demokratischen Verständnis des Staats als Rechtsgegenstand sichtbar wird: Wird der Staat nicht als ein aus dem kollektiven Gründungswillen einer Gemeinschaft hervorgegangenes, legales Konstrukt angesehen, sondern ihm eine körpermetaphorische, wesenhafte Natur zugeschrieben, kann dies zu einem Nährboden für imagined communities (vgl. Anderson 2006 [1983]), Homogenitätsfiktionen und entsprechende Exklusionsmechanismen werden. Diese hoch problematische Dimension der organizistischen Semantik wird etwa in Jakob von Uexkülls Staatsbiologie (1920) und Morley Roberts Bio-politics. An Essay in the Physiology, Pathology, and Politics of the Social and Somatic Organism (1938) weiter gedacht. Beide betrachten den Staat als Körper, der sich gegen Krankheiten verteidigen und entsprechende Schutzmechanismen, ähnlich dem menschlichen Immunsystem, entwickeln muss. Spätestens an diesem Punkt manifestiert sich das gefährliche ideologische Potenzial dieser Denkfiguren, das nur wenige Jahre nach Erscheinen der genannten Publikationen von den Nationalsozialisten genutzt werden sollte. Von Uexkülls Ausführungen zum ›parasitären Befall‹ des Staatskörpers weisen unbestreitbare Parallelen zu den diskursiven Strategien auf, die zur Katstrophe der Schoah geführt haben (vgl. Esposito 2004: 6-10). Der Nationalsozialismus, dessen Analyse Esposito das vierte Kapitel von Bíos widmet, ist für den Autor das verheerende und in seinem Ausmaß irreduzible Beispiel einer radikalen Form der Autoimmunisierung, durch die Biopolitik zu Thanatopolitik (vgl. ebd. 115) wird und der Schutz des biologischen Lebens in dessen Zerstörung umschlägt. Einige Jahrzehnte nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs bildet sich Ende der 80er Jahre in Frankreich und Italien eine dekonstruktivistische Debatte um das Konzept der Gemeinschaft heraus, welche mit der in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Vorstellung bricht, dass Gemeinschaft maßgeblich an das Eigene gebunden sei und somit eine Art Substanz darstelle, »die bestimme Subjekte in der Teilhabe an einer bestimmten Identität miteinander verknüpft.« (Esposito 2014: 63) Diesem »konzeptuellen Kurzschluss, […] in dem das Gemeinsame in das logisch Gegensätzliche, nämlich das Eigene, verkehrt wurde« (ebd.: 64) stellen Philosophen sowie Vertreter der Theorie der Biopolitik, wie Jean-Luc Nancy, Giorgio Agamben und nicht zuletzt Roberto Esposito, Konzepte gegenüber, die in einer genau gegenläufigen Tendenz das Element der Identität ausklammern und Gemeinschaft nicht substanziell, sondern relational als ständige Auseinandersetzung mit der Alterität verstehen: »Lo común es pensado como una dimensión de la existencia a ser interrogada asumiendo la contingencia última de cualquier fundamento que se le intente dar.« (Saidel 2015: 101) Die Gemeinschaft wird, so schreibt
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Esposito in Anlehnung an Nancy,51 nicht mehr als ein »gemeinsames ›Sein‹«, sondern als ein »›Gemeinsam-Sein‹« (beide Esposito 2014: 64) gedacht. Um die Schwierigkeiten zu umgehen, die aus einer derart entsubjektivierten Vorstellung von Politik resultieren könnten, vollzieht Esposito »eine genealogische Verschiebung am Ursprung des Begriffes« (ebd. 64), indem er den Fokus des Gemeinschaftsentwurfs vom cum (›mit‹) auf den munus (›Gabe‹, ›Pflicht‹ bzw. ›Pflicht der Gabe‹) der lateinischen communitas verlagert und damit die Bedeutung des gegenseitigen Austauschs in Gemeinschaften hervorhebt, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird.52 Das nachstehende Zitat von Folkers und Lemke soll bereits an der Stelle verdeutlichen, inwiefern Espositos Gemeinschaftsverständnis die Betrachtung von Migrationsphänomenen bereichern kann: In dieser Lesart definiert sich Gemeinschaft gerade nicht durch Eigenschaft, Eigentum oder Essenz; vielmehr realisiert sie sich als geteilte Verpflichtung und gemeinsame Aufgabe. Sie ist kein Besitz oder Territorium, das in der Vergangenheit erworben wurde und das es zu verteidigen gilt […]: Das Gemeinsame ist nach Esposito nicht Ausdruck einer jeder gesellschaftlichen Praxis vorgängigen Identität, sondern Ergebnis einer kollektiven und konflikthaften Anstrengung. (Folkers/ Lemke 2014: 36) Die von den Verfassern betonte Ausklammerung des Territoriums als gemeinschaftsstiftendem Faktor macht Espositos Konzept hinsichtlich der politischen und rechtlichen Regulierung von Migrationsprozessen besonders interessant und lässt die tatsächlichen und literarisch dargestellten Immunisierungsoperationen Europas als respektive faktische und fiktionalisierte Ausdrücke einer Gemeinschaftskonzeption erscheinen, die Esposito im Sinne einer affirmativen Biopolitik hinterfragen will und zu überwinden hofft.53 51
52
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In La communauté désœuvrée (1999 [1986]) prägt Jean-Luc Nancy den Terminus être-en-commun (vgl. ebd.: 199-234), um Gemeinschaft als eine Form der Relationalität zu beschreiben und nicht als ontologische Gemeinsamkeit, die zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft bestünde: »Quoi de plus commun qu’être, que l’être? Nous sommes. Ce que nous partageons, c’est l’être, ou l’existence. La non-existence, nous ne sommes pas là pour la partager, elle n’est pas à partager. Mais l’être n’est pas une chose que nous posséderions en commun. L’être n’est en rien différent de l’existence à chaque fois singulière. On dira donc que l’être n’est pas commun au sens d’une propriété commune, mais qu’il est en commun. L’être est en commun.« (ebd.: 201) Damit beruft sich neben Giorgio Agamben auch Roberto Esposito in seiner Terminologie des Immunisierungsparadigmas auf politisch-rechtliche Kategorien der römischen Antike. Für eine ausführliche politikwissenschaftliche sowie historisch-etymologische Herleitung der Begriffe communitas, immunitas und munus siehe Isabell Lorey (vgl. 2011a: 181-291). Im Rahmen seiner Genealogie des Immunisierungsparadigmas in Bíos (vgl. 2004: 43-46) nennt Esposito namhafte Philosoph*innen, die ebenfalls immunitäre Argumentationen vertreten haben (u.a. Nietzsche, Durkheim, Freud, Luhmann und Haraway), allen voran Jacques
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2.4.2
Communitas, immunitas und der gemeinschaftliche munus
In der Konzeption seiner Denkfigur geht Roberto Esposito, wie oben angedeutet, etymologisch vor und erkundet die Bedeutungsdimensionen des lateinischen munus, das gemeinsam mit dem Präfix cum die primären lexikalischen Bestandteile des Begriffs communitas stellt (vgl. Saidel 2015: 103). Somit klammert er das im cum (›mit‹) angelegte »gemeinsame […] ›Sein‹« (Esposito 2014: 64) im Sinne einer »Eigenschaft oder Zugehörigkeit« (Celikates 2008: 52) aus, um die communitas als etwas zu betrachten, das auf einem ständigen, reziproken Austausch ihrer Mitglieder basiert: The first two meanings of munus – onus and officium – concern obligation and office, while the third centers paradoxically on the term donum, which Esposito glosses as a form of gift that combines the features of the previous two. Drawing on the classic linguistic studies of Beneviste and Mauss, Esposito marks the specific tonality of this communal donum, to signify not simply any gift but a category of gift that requires, even demands, an exchange in return. […] Here Esposito’s particular declension of community becomes clear: thinking community through communitas will name the gift that keeps on giving, a reciprocity in the giving of a gift that doesn’t, indeed cannot, belong to oneself. (Campbell 2008: x) Die zweifache Bedeutung des Worts munus betont die relationale Natur der Gemeinschaft, wodurch Esposito an die dekonstruktivistische, entsubjektivierte Methode der oben genannten Ansätze anknüpfen kann und gleichzeitig mittels des impliziten Moments des intersubjektiven Austauschs den »Übergangsweg zur politischen Dimension« (Esposito 2014: 65) erschließen möchte, der ihm etwa in Nancys Gemeinschaftsentwurf zu fehlen scheint.54 ›Politisch‹ scheint hier allerdings
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Derrida, der in einer Interviewserie die Terroranschläge des 11. Septembers in einem immunitären Kontext deutet (vgl. Campbell 2008: viii). Obwohl dieser Aspekt im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht weiter ausgeführt werden kann, soll festgehalten werden, dass die wissenschaftlichen Fortschritte der Immunologie des 20. Jahrhunderts dem Immunisierungsparadigma in der Philosophie und den Geisteswissenschaften zu gesteigerter Aufmerksamkeit verhalfen (vgl. Esposito 2004: 46). Dieser Zusammenhang scheint die Annahme zu untermauern, dass die traditionellen großen wissenschaftlichen Disziplinen, die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften, nicht nur miteinander interagieren, sondern sich durchaus bereichern können, was nicht zuletzt auch als Argument für eine biopolitisch basierte literaturwissenschaftliche Studie wie die vorliegende gelten kann. Robin Celikates fasst einige der theoretischen Einflüsse, die in Espositos Konzeption des Immunisierungsparadigmas in Bíos (2004) einfließen, aber an der Stelle nicht kommentiert werden können, wie folgt zusammen: »Gegen die Vorstellung eines abgeschlossenen (Individual- oder Kollektiv-)Körpers setzt Esposito mit Maurice Merleau-Ponty das Fleisch, das sich auf Grund seiner Offenheit gerade nicht in einem einheitlichen Körper organisieren lässt. Gegen die antizipierende Unterwerfung der Geburt unter die Politik wendet er mit
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
soziale Interaktion in einem weiteren Sinne zu bedeuten, denn Espositos derart deessentialisierte Konzeption der Gemeinschaft wäre unter kein politisches Projekt subsumierbar, was seinen Ansatz von jenem Hardts und Negris (vgl. 2.5) unterscheidet: [L]a comunidad que piensa Esposito ontológicamente, es políticamente irrepresentable. No puede ser realizada como un proyecto y no puede ser completada como una obra. La comunidad es aquella dimensión que constituye la subjetividad en la forma de su alteración […]. En este sentido, la noción de comunidad forma parte del intento de pensar una ontología de la exposición. (Saidel 2015: 104) Mit seinem auf Reziprozität ausgerichteten Ansatz berücksichtigt der italienische Philosoph insofern jene Widersprüchlichkeit, die im Kern der Gemeinschaft angelegt ist und »eine für das Zusammenleben konstitutive Gefahr« darstellt, »die nicht von außen, sondern von innen kommt« (beide Celikates 2008: 51). Es handelt sich um die »innere […] Spannung zwischen Identität als Negation des mit dem Anderen Gemeinsamen und Gemeinsamkeit als Negation des Eigenen, das einen vom Anderen unterscheidet« (ebd. 51). Geht, mit anderen Worten, die Zugehörigkeit zur communitas notwendigerweise mit einer Aufhebung individueller Schutzmechanismen einher, so garantieren wiederum die Exklusionsdynamiken der immunitas die Sicherheit des Individuums innerhalb des Kollektivs: Ricondotta alla propria radice etimologica, l’immunitas si rivela la forma negativa, o privativa, della communitas: se la communitas è quella relazione che, vincolando i suoi membri ad un impegno di donazione reciproca, ne mette a repentaglio l’identità individuale, l’immunitas è la condizione di dispensa da tale obbligo e dunque di difesa nei confronti dei suoi effetti espropriativi. (Esposito 2004: 47) Die Immunisierung, die Entbindung vom gemeinschaftlichen munus, stellt sich somit als der partielle, punktuelle oder komplette Ausschluss aus der Gemeinschaft dar, als »Entzug einer gemeinsamen Bedingung« (Esposito 2014: 65), und kann über den individuellen Schutz hinaus auch die gesamte Gruppe von potenziell bedrohlichen, äußeren Einflüssen abschirmen. Übertragen auf Migrationsphänomene kann somit die Grenzschutzpolitik der Europäischen Union mit dem Immunisierungsparadigma gelesen werden, wie Esposito selbst in Ansätzen aufzeigt.55
55
Hannah Arendt die Idee eines ständigen Wiedergeborenwerdens als Bild für die Prozesse des Lebens, des Handelns und der Politik selbst. Und gegen die Beherrschung des Lebens durch eine von außen auferlegte Norm bringt er mit Spinoza, Canguilhem und Deleuze die immanente Normativität des Lebens in Anschlag« (Celikates 2008: 56f.). In Da Fuori (2016), thematisiert Esposito kurz die biopolitische, da exkludierende Funktion von Grenzen und verbindet sie mit der aktuellen Grenzschutzpolitik Europas. In Anschluss an Balibar sieht er die Lösung in einer Reformulierung und Demokratisierung der Grenze, um im Gegenzug zu besagter ausschließender Dimension jene einschließende, kosmopoli-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Die Metapher der biologischen Immunisierung ausführend, schreibt Esposito (vgl. 2004: 42) weiterhin, dass der Schutz der communitas u.a. durch eine geringe Zufuhr dessen erfolgen kann, wovor der politische Körper sich schützen zu müssen glaubt, ähnlich einer Impfung. Im Hinblick auf migrationspolitische Fragestellungen könnte dies erklären, weshalb Migration in einem bestimmten Maß gesellschaftlich weitgehend akzeptiert wird, während eine gefühlte oder tatsächliche Zunahme von Migration zu Ängsten der ›Überfremdung‹ führen kann. In der vorliegenden Studie wird die Metapher außerdem Anwendung finden, um die in mehreren Korpustexten auftretende selektive Erteilung von Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen an Migrant*innen zu analysieren. Betrachtet man den Begriff der ›Immunität‹ schließlich in seiner juristisch-politischen Bedeutung, so wird man laut Esposito feststellen, dass dieses Instrument auch insoweit dem Erhalt der communitas dient, als die juristische oder politische Immunität einzelner Mitglieder die Funktionsfähigkeit bestimmter Gruppendynamiken gewährleisten kann: Se, infatti, in ambito bio-medico essa [l’immunità] si riferisce a una condizione di refrattarietà, naturale o indotta, nei confronti di una data malattia da parte di un organismo vivente, in linguaggio giuridico-politico allude a un’esenzione, temporanea o definitiva, di un soggetto rispetto a determinati obblighi, o responsabilità, cui gli altri sono normalmente tenuti. […] L’immunità non è solo la relazione che connette la vita al potere, ma il potere di conservazione della vita. (ebd.: 41) Immunisierungsmechanismen können also einerseits innerhalb der Gemeinschaft wirken und letztere andererseits nach außen hin schützen. Die Schlüsselrolle, die
tische Seite der Grenze zu betonen, die ihr ebenfalls eigen sei (vgl. ebd.: 224f.). Obwohl er sich nicht auf Esposito bezieht, schreibt auch William Walters der Grenze eine biopolitische Dimension zu, die sich an Espositos Immunitas-Denkfigur anknüpfen lässt: »Was macht nun aber die Grenze biopolitisch? Den Prozess der ›Biopolitisierung‹ der Grenze lassen politische Überlegungen, Ereignisse und Maßnahmen erkennen, die die Grenze zu einem privilegierten Instrument der systematischen Regulierung von Bevölkerung im nationalen wie transnationalen Maßstab machen – ihrer Mobilität, ihrer Gesundheit und Sicherheit. […] Sie [die biopolitische Grenze] bildet eine Maschinerie aus einer ganzen Reihe einfacher und komplexer sowie alter und neuer Technologien. Dazu gehören u.a. Pässe, Visa, Gesundheitszertifikate, Einladungsbriefe, Transitvisa, Ausweispapiere, Wachtürme, Ankunfts- und Wartezonen, Gesetze, Vorschriften, Zoll- und Finanzbeamte sowie Gesundheits- und Einwanderungsbehörden.« (Walters 2011: 320, 322) Im ersten Teil der Aufzählung von Walters wird die zentrale Rolle von Schriftdokumenten in Einwanderungsprozessen deutlich. Dieses Thema, bzw. jenes der Schriftlichkeit allgemein, wird in Kapitel 2.6 zu einer biopolitisch perspektivierten Literaturwissenschaft methodisch konturiert, um im weiteren Verlauf der Studie die Beschreibung eines Spannungsverhältnisses zwischen (fingierter) Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Korpustexten zu ermöglichen (siehe Kapitel 5.1.3, 5.1.4).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Roberto Esposito dem Immunisierungsparadigma in der Debatte um die Biopolitik zumisst, liegt in der im obigen Zitat anklingenden Tatsache begründet, dass im Begriff der Immunität sowohl die politische als auch die biologische Dimension der Biopolitik angelegt sind. Denn ähnlich wie Folkers und Lemke (vgl. 2014: 7f.), die den Grund für die zahlreichen Bedeutungstendenzen und unterschiedlich ausgerichteten Untersuchungen des Begriffs ›Biopolitik‹ in der jeweils stärkeren methodischen Akzentuierung eines der beiden Wortbestandteile sehen, glaubt auch Esposito, dass die Kluft zwischen der »[declinazione] affermativa e produttiva e quella negativa e mortifera« (Esposito 2004: 42) der Biopolitik auf eine theoretische Leerstelle zurückgeht, die den Schnittpunkt ihrer beiden Gegenstandsbereiche betrifft, nämlich die Relationalität zwischen Leben und Politik. Esposito bemängelt, dass die beiden konstitutiven Elemente bereits seit den Studien von Michel Foucault vorrangig separat gedacht würden und sich somit entweder die Politik des Lebens bemächtige, es unterdrücke und objektiviere oder umgekehrt die Sphäre der Politik allzu sehr hinter der Macht des biologischen Lebens zurücktrete (vgl. Esposito 2014: 66). Das Immunisierungsparadigma scheint bei Esposito eine Denkfigur zu sein, die jenes Verbindungsstück zwischen den beiden Komplexen zu artikulieren in der Lage ist und es derart ermöglicht, die Konzepte Leben und Politik gleichberechtigt zu berücksichtigen: Eben diesen konstitutiven Nexus habe ich im Immunisierungsparadigma zu erkennen versucht. Bei seiner doppelten Auslegung als Paradigma der Biologie und des Rechts handelt es sich genau um den Berührungspunkt zwischen den Sphären des Lebens und der Politik. Dies macht es möglich, die grundsätzliche Distanz zwischen den beiden extremen Interpretationen der Biopolitik (ihrer tödlichen und ihrer euphorischen Version) zu überbrücken. (ebd.: 67) Die negative und die affirmative Auslegung der Biopolitik stehen für Esposito nicht in einem unvereinbaren Widerspruch zueinander, sondern verweisen auf zwei Dimensionen desselben Gegenstands, die sich in der Bivalenz des Immunisierungsparadigmas widerspiegeln, da dieses zugleich Einheit stiftet und ausschließt, schützen und zerstören kann und somit selbst positive und negative Mechanismen impliziert (vgl. ebd. 67). Dabei hebt er hervor, dass die negative Dimension der Biopolitik nicht das Ergebnis einer repressiven, von außen auf das Leben einwirkenden Macht sei, sondern aus den paradoxalen Schutzmechanismen des Lebens selbst resultiere (vgl. Esposito 2004: 42): »Pero, ¿quién y cómo decide sobre estas dosis de inmunización? Para Esposito, la única respuesta no sacrificial a dicha pregunta parece ser: la vida en cuanto se norma a sí misma.« (Saidel 2015: 104) Dies exemplifiziert der Autor an der in Zeiten des Terrorismus oft geführten Debatte um die Vereinbarkeit von Sicherheit und individueller Freiheit bzw. Personenrechten (vgl. Esposito 2009: 137f., 140). Immunitas und communitas müssen demnach in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen, damit der Zweck
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
immunitärer Dynamiken, Leben zu schützen, nicht in einen gegenteiligen Effekt umschlägt (vgl. Esposito 2014: 66). Vor Roberto Esposito haben eine Reihe von Philosoph*innen mit der Metapher der Immunisierung operiert.56 Die Originalität seines Beitrags zu diesem Paradigma formuliert der Philosoph anhand zweier Denkachsen (vgl. Esposito 2004: 47): Die erste betrifft die zuvor skizzierte Analyse des symmetrischen Verhältnisses, in dem Immunität und ihr Gegenstück, die Gemeinschaft, interagieren. Die zweite charakterisiert das von ihm beschriebene Konzept der Immunität als spezifisch modernes Phänomen, das sich heute als Gegengewicht zu einer fortschreitend globalisierten Welt verstärkt ausbilde57 : »Ciò significa che tutte le civiltà, passate e presenti, hanno posto, e in qualche modo risolto, l’esigenza della propria immunizzazione, ma che solo quella moderna ne è stata costituita nella sua piú intima essenza.« (ebd.: 52) Espositos Suche nach einer affirmativen Biopolitik wird folglich maßgeblich durch seine Beobachtung motiviert, die Gegenwart befinde sich in einer zunehmend bedrohlichen, autoimmunitären Krise (vgl. Campbell 2008: xiii). Inwiefern Immunität in einer zugespitzten Form zu einer das Gemeinschaftliche untergrabenden Autoimmunität, sprich zu ihrem eigenen Gegenteil werden kann und wie dieser Zustand laut Esposito zu vermeiden bzw. zu überwinden ist, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
2.4.3
Die Gefahr der Autoimmunität und die Chance einer neuen Gemeinschaft
Ebenso wie Giorgio Agamben, der den Nationalsozialismus und den Holocaust in Homo sacer als extreme Konsequenzen des politischen Systemen zugrundeliegenden Ausschlusses des ›nackten Lebens‹ betrachtet, stellt auch Roberto Esposito (vgl. 2004: 115-157) diese historischen Ereignisse in den Fokus seiner Untersuchungen des Immunisierungsparadigmas. Beide Philosophen verstehen die Verbrechen der Nationalsozialisten als »tanatopolitica« (vgl. Agamben 2005: 135, Esposito 2004: 34) und damit als Einschnitt bzw. Wendepunkt in der Geschichte der Biopolitik (vgl. Agamben 2005: 6f., Esposito 2009: 144). Ihre Positionen unterscheiden sich allerdings u.a. insofern, als Agamben, wie zuvor gesehen, die Struktur des Lagers als
56 57
Siehe Fußnote 56. Auf diesen Zusammenhang zwischen der Moderne sowie später der Globalisierung einerseits, und dem (vermehrten) Auftreten immunitärer Strukturen andererseits führt der Autor den schrittweisen Rückgang von Gemeingut und die steigende Privatisierung von Rohstoffen, öffentlichen Räumen, der Wirtschaft oder auch kulturellen und geistigen Gütern zurück (vgl. Esposito 2014: 69f., 2004: 47). Diese Entwicklung kritisieren auch Michael Hardt und Antonio Negri und erklären deren Umkehrung zu einem möglichen Projekt einer affirmativen Politik des Lebens durch die Multitude (vgl. 2.5.3).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
eine Matrix versteht, die den in der Politik der Moderne verstetigten Ausnahmezustand paradigmatisch zum Ausdruck bringt, während Esposito die Singularität des Holocaust als »most radically negative expression of immunization« (Campbell 2008: xxix) betont.58 Obgleich der Holocaust bei ihm also einen Extremfall immunitärer Dynamiken darstellt, attestiert Esposito der jüngeren Gegenwart im Allgemeinen eine gefährliche Tendenz zur Autoimmunisierung59 : Come si spiega che al culmine della politica della vita si sia generata una potenza mortifera portata a contraddirne la spinta produttiva? È questo il paradosso, l’insuperabile pietra d’inciampo, che non soltanto il totalitarismo novecentesco, ma anche il successivo potere nucleare pongono al filosofo in ordine a una declinazione risolutamente affermativa della biopolitica: come è possibile che un potere della vita si eserciti contro la vita stessa? […] [M]ai si sono registrate guerre tanto sanguinose e genocidi tanto estesi quanto negli ultimi due secoli, vale a dire in piena stagione biopolitica. […] Perché la biopolitica minaccia continuamente di rovesciarsi in tanatopolitica? (Esposito 2004: 33f.) Eine Antwort auf die im Zitat formulierten Fragen hofft der Autor mittels des Immunisierungsparadigmas zu finden, da die Schwelle zwischen Bio- und Thanatopolitik in dem Schnittpunkt und der spezifischen Artikulation zwischen Leben und Politik begründet sei. Nehmen immunitäre Dynamiken nämlich überhand und geht das zuvor erwähnte Gleichgewicht zwischen communitas und immunitas verloren, so läuft die Immunität Gefahr, das Gemeinschaftliche regelrecht zu untergraben, statt es zu schützen. Zum Vergleich den Verlauf von Autoimmunkrankheiten heranziehend, erklärt Esposito (vgl. 2014: 67), dass immunitäre Dynamiken im Übermaß das Leben innerhalb der Gemeinschaft einschränken und in seiner 58
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Für eine vergleichende Darstellung der Theorien von Roberto Esposito, Giorgio Agamben sowie Michael Hardt und Antonio Negri siehe Timothy Campbell (2008: viiif.): »Indeed, as I argue here, Bíos comes to resemble something like a synthesis of Agamben’s and Negri’s positions, with Esposito co-opting Agamben’s negative analysis of biopolitics early on, only to criticize later the antihistorical moves that characterize Agamben’s association of biopolitics to the state of exception. […] In some of Bíos’s most compelling pages, Esposito argues instead for the modern origin of biopolitics in the immunizing features of sovereignty, property, and liberty as they emerge in the writings of Hobbes and Locke. It is at this point that the differences with Hardt and Negri become clear; they concern not only what Esposito argues is their misguided appropriation of the term ›biopolitics‹ from Foucault, but also their failure to register the thanatopolitical declension of twentieth-century biopolitics. Essentially, Esposito argues that Hardt and Negri aren’t wrong in pushing for an affirmative biopolitics – a project that Esposito himself shares – but that it can emerge only after a thoroughgoing deconstruction of the intersection of biology and politics that originates in immunity.« Siehe hierzu auch Ursula Hennigfelds Untersuchung der Virus-Metapher in Jean Baudrillards Kritik an westlichen Gesellschaften und Medien im Umgang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (vgl. Hennigfeld 2021: 54-59).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Entwicklung hemmen, wenn nicht gar gefährden können. Wird der Schutz des gemeinschaftlichen Lebens hingegen radikal verfolgt und in der von Foucault beschriebenen Dynamik in Relation zum Leben Außenstehender gesetzt (vgl. 2.2.2), so können immunitäre Mechanismen auf die Zerstörung des Lebens derer abzielen, die nicht Teil des zu schützenden Kollektivs sind. Wenn Immunität vorrangig exkludierend verstanden wird, resultiert sie in der bloßen Negation einer Gemeinschaft und verwehrt jenen, die im Außen verweilen müssen, die Möglichkeit einer sozialen Existenz, sprich das ›Gemeinsam-Sein‹: »Si è già visto come il significato piú incisivo dell’immunitas si inscriva nel rovescio logico della communitas – immune è il ›non essere‹ o il ›non avere‹ nulla in comune.« (Esposito 2004: 48) Die Konsequenzen dieser latenten Gefahr der Autoimmunisierung können aber laut Esposito weder in der allgemeinen Abschaffung immunitärer Dynamiken noch in einer absoluten Entgrenzung von Gemeinschaft bestehen. Die Kategorien des Innen und Außen müssen in ihrer identitätsstiftenden Funktion bestehen bleiben, ebenso wie das Instrument der Immunität, das nach innen die Funktionalität der Gruppe wahrt und nach außen die für Individuen wie Gruppen notwendige Auseinandersetzung mit dem Fremden und Anderen regulieren kann: Ciò che va immunizzata, insomma, è la comunità stessa in una forma che insieme la conserva e la nega – o meglio la conserva attraverso la negazione del suo originario orizzonte di senso. Da questo punto di vista si potrebbe arrivare a dire che l’immunizzazione, piú che un apparato difensivo sovrapposto alla comunità, sia un suo ingranaggio interno. La piega che in qualche modo la separa da se stessa, mettendola a riparo da un eccesso non sostenibile. Il margine differenziale che vieta alla comunità di coincidere con se medesima assumendo fino in fondo l’intensità semantica del proprio concetto. Per sopravvivere, la comunità, ogni comunità, è costretta a introiettare la modalità negativa del proprio opposto (ebd: 48f.). Der Schlüssel zu einer affirmativen Biopolitik, zu einer positiven Politik für das Leben, die restriktive und exkludierende Dynamiken überwindet, liegt nach Esposito in einer Modifikation des Immunisierungsparadigmas »von innen heraus« (Esposito 2014: 68). Zwar vollziehen sich die Schutzmechanismen der Immunisierung strukturell, wie zuvor ausgeführt, in Form einer Negation, da sie über den Entzug von etwas Gemeinem erfolgen und den Ausschluss vom gemeinschaftlichen munus bedeuten. Unter Bezug auf Hegels Dialektik hebt Esposito (vgl. 2004: 43) aber hervor, dass Negation und das Negative der Motor des Produktiven sein können. Anstatt darin eine Dynamik des bloßen Ausschlusses, eine »exkludierende Barriere« zu sehen, müsse das Immunisierungsparadigma vielmehr »als eine Art Beziehungsmembran zwischen Innen und Außen verstanden« werden (beide Esposito 2014: 68). Der Philosoph schlägt vor, »die Kräfteverhältnisse zwischen ›gemein‹ und ›immun‹ umzukehren« (ebd.: 68), indem die Gemeinschaften untereinander eine
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neue Form der Solidarität entwickeln: »Das Problem muss auf doppelter Ebene angegangen werden: Einerseits müssen die für eine negative Immunisierung verantwortlichen Apparate deaktiviert und andererseits neue Räume des Gemeinen aktiviert werden.« (ebd.: 68) Dadurch werde der double bind der Immunität aufgelöst, da der Schutz der einen nicht länger in Relation zur Abschirmung von und mitunter Zerstörung der anderen stünde. Die Gemeinschaft und ihr Außen bleiben somit bei Esposito zwar bestehen, sind jedoch nicht hermetisch voneinander abgeriegelt. Das Leben erhält weiterhin Impulse von außerhalb und riskiert nicht, statisch zu werden. Auf diese Weise gelingt ihm ein theoretischer Spagat, der die Gemeinschaft von der das Andere exkludierenden Bindung an das Eigene befreit, ohne sie allerdings gänzlich zu negieren, wodurch seine Position ihre Anschlussfähigkeit an andere Gemeinschaftsentwürfe nicht einzubüßen scheint. Die Bedingung für die vom Autor geforderte Transformation der immunitären Mechanismen wäre eine neue Form der Gemeinschaft, die sich nicht über exkludierende Kategorien wie »›eigen‹, ›privat‹ und ›immun‹« definiert, sondern eine soziale Konzeption des kollektiven Miteinanders sowie die »Idee des Gemeinguts« (beide ebd.: 69) vertritt und somit der zunehmenden, wirtschaftlichen wie allgemeinen Tendenz zur Privatisierung entgegenwirkt: »Esposito is attempting […] the articulation of a political semantics that can lead to a nonimmunized (or radically communized) life.« (Campbell 2008: xiii) Die Forderung nach einer neuen, mitunter globalen Gemeinschaft oder Vielheit (Multitude) zur Stärkung einer affirmativen Biopolitik kristallisiert sich als eine Denklinie heraus, die mehreren der im methodischen Rahmenwerk dieser Untersuchung vorgestellten Theoretiker gemeinsam ist (vgl. Celikates 2008: 50). Die entsprechenden Ausführungen bleiben zwar meist weitgehend abstrakt, da die neue Form des Gemeinen, bei Agamben La comunità che viene (1990),60 und selbst deren Terminologie erst noch er- bzw. gefunden werden müssen (vgl. Esposito 2014: 71). Dennoch ist auffällig, dass trotz der Verschiedenheit ihrer Methoden und Positionen Roberto Esposito, Giorgio Agamben sowie Michael Hardt und Antonio Negri darin übereinstimmen, dass die biopolitischen Fragestellungen der Gegenwart nur im Kollektiv gelöst werden können.61 60 61
Für eine kurze Einordnung von Agambens La comunità che viene als affirmative Tendenz in dessen Gesamtwerk siehe Timothy Campbell (vgl. 2011: 35-37). Eine vergleichende Darstellung der Konzeption des Kommunen bei Agamben, Esposito und Hardt/Negri nimmt Matías Saidel vor. Dabei unterscheidet er die im Kern unpolitischen, ontologischen und von einer Kritik der modernen Subjektkategorie ausgehenden Denkachsen Agambens und Espositos von jener Hardts und Negris, die er im Gegenzug aufgrund ihres immanenten und postoperaistischen Ansatzes als politisch einstuft (vgl. Saidel 2015 101f.): »En Esposito, lo común parece remitir a una dimensión de nuestra existencia, a un espacio cóncavo en el cual entramos en relación originariamente, que nos atraviesa, expone y descentra. Para Agamben, la comunidad aparece como acontecimiento que simplemente tiene lugar y
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
2.5
Die Ökonomisierung des Lebens: Empire, biopolitische Produktion und Nomadismus als Widerstand bei Michael Hardt und Antonio Negri
Ebenso wie Roberto Esposito werden auch der italienische Philosoph Antonio Negri und der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt, die für ihre theoretischen Auseinandersetzungen mit der Ökonomisierung des biologischen Lebens62 bekannt geworden sind, der affirmativen Interpretationslinie der biopolitischen Theorie zugeordnet (vgl. Campbell 2008: viii).63 In ihren Büchern Empire (2001), Multitude (2005) und Commonwealth (2009) zeichnen die beiden Autoren u.a. in Auseinandersetzung mit Marx64 und Engels (vgl. Negri 2007: 17, 23, Saidel 2015: 108) das Bild eines sich im Zuge der Globalisierung und der Entstehung des kapitalistischen Weltmarkts materialisierenden, allumfassenden postmodernen Kräftefelds, in dem Ökonomie und Politik immer enger ineinandergreifen – das Empire: Along with the global market and global circuits of production has emerged a global order, a new logic and structure of rule – in short, a new form of sovereignty. Empire is the political subject that effectively regulates these global exchanges, the sovereign power that governs the world. (Hardt/Negri 2001: xi) Die Biopolitik setzt für Hardt und Negri, im Unterschied zu Foucault und Agamben, in den 1970er Jahren mit der beginnenden »Informatisierung der Produktion«
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63 64
puede ser políticamente pensable a partir del ejemplo y del uso, mientras que lo común parece más claramente identificable como la potencia, el lenguaje, el pensamiento. Es esto lo que lo conecta con los teóricos de la multitud que piensan precisamente a estos elementos como constitutivos del trabajo inmaterial y objeto de expropiación por parte del biopoder imperial, a lo que agregan los bienes comunes compartidos por la humanidad.« (ebd.: 114) Vittoria Borsò (vgl. 2013: 19) weist in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Bioökonomie hin, der vor allem in der italienischen Diskussion um den Zusammenhang von Biopolitik und Ökonomie geprägt wurde. Siehe hierzu auch den von Borsò und Cometa herausgegebenen Sammelband (2013), insbesondere die Beiträge von Christian Marazzi und Laura Bazzicalupo. Für eine kurze Kontextualisierung der Erstpublikation von Empire sowie einen Überblick über Rezeptionslinien in Europa und den USA siehe Pieper u.a. (vgl. 2007: 10-13). Gorgoglione (2016) ordnet die Studien Hardts und Negris als »Versöhnung von Marxismus und Poststrukturalismus« (ebd.: 140) ein. Seine Monografie bietet eine ausführliche Analyse der Auseinandersetzungen Hardts und Negris mit dem Marxismus sowie eine Einordnung der Autoren im italienischen Operaismus. Außerdem kommentiert Gorgoglione ihre Arbeitsmethode und referiert überblicksartig ihre Biografien. Jene Negris sollte insbesondere dahingehend berücksichtigt werden, als er 1979 gemeinsam mit anderen Vertreter*innen des Operaismus bzw. Aktivist*innen der außerparlamentarischen linken Szene festgenommen und des Terrorismus beschuldigt wurde (vgl. ebd.: 139-147).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
(Gorgoglione 2016: 160) ein. In dem gleichnamigen Buch, Empire, skizzieren sie in einem interdisziplinären Ansatz65 die ideen- und produktionsgeschichtliche Genealogie jener neuen Weltordnung – von der Moderne und der Entstehung des Nationalstaats über Kolonialismus und Dekolonisierung bis hin zur Industrialisierung und schließlich der Postmoderne (vgl. Hardt/Negri 2001: xvif.): Die Art der Argumentation von Hardt und Negri hat den Vorzug, die Gesamtentwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation vor Augen zu führen, nicht nur die vergangenen Jahrzehnte. Es sollen dadurch die Prozesse in den Blick geraten, die die gegenwärtigen Konturen einer möglichen gewordenen und sich vollziehenden sozialen Umwälzung erkennen lassen. (Demirović 2004: 237) In der geschilderten Entwicklung heben die Autoren hervor, dass die Formierung des Empire mit der zunehmenden Organisation der Menschheit in multilateralen und internationalen Bündnissen zusammenhängt, die zu einem Autoritätsverlust des Nationalstaats führt (vgl. Hardt/Negri 2001: 3-5). Aus der vormaligen Souveränität der einzelnen Staaten wird die globale wirtschaftliche und politische Souveränität des Empire (vgl. ebd.: xii). Ihre zentrale These eines in jeglicher Hinsicht entgrenzten Effizienzimperativs bezieht sich jedoch nicht allein auf die Etablierung des Weltmarkts. Sie konstatieren vielmehr eine »Weiterentwicklung kapitalistischer Vergesellschaftlichung, die nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die Produktion von Subjektivitäten, Körpern, Intellekten sowie die Fähigkeit zur Herstellung sozialer Beziehungen und Affekte als Humanressourcen verwertet und in einen grenzenlosen Kommodifizierungsprozess einspeist.« (Pieper u.a. 2007: 7) In Multitude und Commonwealth vertiefen die Autoren einzelne Aspekte aus Empire, denken aber vor allem die im ersten Buch in Grundzügen skizzierte Möglichkeit der Gegenwehr weiter und entwerfen demokratische sowie solidarische Alternativen zur universellen, repressiven Biomacht des globalen Kapitals, wobei sie in diesen Büchern letztere stärker von einer produktiven, erschaffenden Biopolitik abgrenzen (vgl. Pieper u.a. 2007: 9). Paradoxal ist das Empire nämlich u.a. dergestalt, als die Bedingungen seiner Entstehung zugleich jene des Widerstands sind (vgl. Hardt/Negri 2001: 20), wie in Kapitel 2.5.3 gezeigt wird. Das Gegengewicht zur postmodernen Souveränität bildet daher die Multitude, also die Gemeinschaft aller den imperialen und kapitalistischen Herrschaftsmechanismen unterstellter Subjekte (vgl. ebd.: 393-413). Gemeinsam ergeben diese eine kreative und schöpferische Menge, die gelernt hat, sich in der globalisierten Welt des Empire zu bewegen
65
Der Ansatz Hardts und Negris weist insbesondere im ersten Teil von Empire eine rechtswissenschaftliche Dimension auf, die, trotz aller Unterschiede, zu Parallelen mit Giorgio Agamben führt. So untersuchen die Autoren die rechtlichen Strukturen des Empire (vgl. Hardt/ Negri 2001: 3-21), berufen sich dabei auf Carl Schmitts Logik der Ausnahme (vgl. ebd.: 16) und begreifen die Moderne als permanente Krise (vgl. ebd.: 74-78).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
(vgl. ebd.: 60) und sich seinen »Verwertungsprozess[en]« (Pieper 2007: 224) zu entziehen: En efecto, a diferencia de Agamben, que entiende la biopolítica en términos negativos y de Esposito, que señala sus ambivalencias, Negri adopta la noción de biopolítica en términos afermativos, pensándola a través del modo de producción actual. Por eso va a hablar de producción biopolítica, ya que la producción actual no es sólo de bienes, servicios, lenguajes, códigos, afectos, y relaciones sino también de formas de vida. La biopolítica es expresión para Negri de la potencia creativa y del poder constituyente de la multitud y por eso la diferencia del biopoder como aparato de captura de esa misma potencia creativa (Saidel 2015: 109). Da die Ökonomisierung des Lebens sowie die Dynamiken des kapitalistischen Weltmarkts einerseits Fluchtursachen darstellen und Migrationsbewegungen beeinflussen, andererseits aber Migration und Hybridisierung nach Hardt und Negri gerade auch zu Möglichkeiten des Widerstands gegen die imperialen Herrschaftsdynamiken werden können, sollen nachfolgend die zentralen Aspekte ihres Theoriegebildes detaillierter umrissen werden.
2.5.1
Das Empire als dreifach entgrenzte Biomacht
Das Empire zeichnet sich als biopolitische, kapitalistische und globalisierte Weltordnung durch eine mehrfache Entgrenzung aus. Zum einen ist das Empire grundsätzlich dezentriert und kennt, trotz der dominanten Positionen bestimmter Akteure, wie etwa der USA (vgl. Hardt/Negri 2001: xiiif.), weder ein Zentrum noch ein Außen66 : In contrast to imperialism, Empire establishes no territorial center of power and does not rely on fixed boundaries or barriers. It is a decentered and deterritorializing apparatus of rule that progressively incorporates the entire global realm within its open, expanding frontiers. Empire manages hybrid identities, flexible hierarchies, and plural exchanges through modulating networks of command. (ebd.: xii) Die Kräfteverhältnisse in diesem System sind hybride und funktionieren nach dem Modell einer »Führung ohne Regierung« (Hardt/Negri 2002: 29)67 : Einerseits bringen sie zwar Hierarchien und präskriptive Normen hervor, andererseits sind sie jedoch horizontal und flexibel angelegt, wodurch Verschiebungen entstehen (vgl.
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Mit dieser Feststellung beziehen Hardt und Negri sich nach Gorgoglione (vgl. 2016: 152) auf die Unmöglichkeit, sich den politisch-ökonomischen Dynamiken des Empire zu entziehen, womit Leben und Biopolitik gänzlich zusammenfallen. In dieser Annahme schließen die Autoren u.a. an Machiavelli, Spinoza und Marx an (vgl. ebd.: 152, 161). Im Original »governance without government« (Hardt/Negri 2001: 14).
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Hardt/Negri 2001: 13). Das Empire werde demnach weder durch die »›unsichtbare Hand‹ eines globalen Marktes« (Pieper u.a. 2007: 7), noch durch einzelne Autoritäten staatlicher oder anderer Art gelenkt, es ist eine »network power« (Hardt/ Negri 2005: xii), »ein autopoietisches System, eine Totalität, eine Maschine, eine strukturelle Logik.« (Demirović 2004: 242) Legitimiert wird die Souveränität des Empire durch universelle moralische Werte wie Frieden und Gleichberechtigung, die mittels der Erklärung von permanenten Ausnahmezuständen durch gezielte Interventionen (vgl. Gorgoglione 2016: 149f., 152-154) zur Not auch mit Gewalt durchgesetzt werden. Wie schon bei Foucault widersprechen Krieg und mitunter tödliche Gewalt nicht etwa der Logik einer produktiven Politik des Lebens,68 sondern garantieren im Empire die bestehende Ordnung auf der argumentativen Basis ethischer Grundsätze. Das Leben der einen wird dem der anderen, sprich dem Gemeinwohl, untergeordnet (vgl. Hardt/Negri 2001: 10-21). Diese moralische Legitimierung führt dazu, dass das Empire auch zeitlich entgrenzt ist, da es nicht in Form einer Epoche oder eines historischen Phänomens auftritt, sondern als eine sinnhafte und alternativlose Ordnung: »Empire exhausts historical time, suspends history, and summons the past and future within its own ethical order. In other words, Empire presents its order as permanent, eternal, and necessary.« (ebd.: 11) In einer dritten Hinsicht ist das Empire schließlich grenzenlos, da sich seine Herrschaftsdynamiken in sämtliche Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens einschreiben und diese gestalten, indem sie sich der Kräfte der betroffenen Subjekte bedienen, was Hardt und Negri als biopolitische Produktion bezeichnen. Methodisch begeben sich die beiden Autoren an diesem Punkt ihrer Studie von der Ebene der Entstehungsgeschichte des Empire auf jene der konkreten Materialisierung und Durchsetzung des imperialen Herrschaftssystems, wofür sie verstärkt auf die Werke Foucaults sowie auf jene von Deleuze und Guattari zurückgreifen (vgl. Pieper 2007: 221f., 225, Saidel 2015: 108, Gorgoglione 2016: 154).69 In Anschluss 68
69
In der Forschung wird der Lebensbegriff Hardts und Negris und damit die Basis ihres Verständnisses von Biopolitik teilweise kritisch diskutiert. So bemängelt Thomas Lemke (vgl. 2011: 122f.) ihren Lebensbegriff als zu substanziell, da er, bspw. im Gegensatz zu Foucaults Ansatz einer u.a. diskursiven und epistemischen Konstruiertheit des Lebens, keinerlei historische Veränderungen berücksichtige, woraus wiederum ein zu universell angelegter Begriff der Biopolitik resultiere. Auf ähnliche Weise kritisiert auch Susanne Schultz (vgl. 2011: 131-133) den Lebensbegriff bei Hardt und Negri als zu undifferenziert und wirft den beiden Autoren in mehrfacher Hinsicht eine einseitige bzw. verengende Perspektive auf die foucaultschen Studien der Biopolitik vor. Foucaults Begriffspaar ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹ sowie die damit einhergehenden analytischen Raster möchten Hardt und Negri neu prägen (vgl. Pieper 2007: 216). Die Autoren kritisieren Foucault nämlich dahingehend, dass dessen Theorie der Biopolitik vorrangig auf dem System der Disziplinarmacht fuße und seine Machtkonzeption entsprechend statisch und repressiv gedacht sei (vgl. Hardt/Negri 2001: 24-28), während sie selbst in ihrem affir-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
an Foucaults Forschungen zur Disziplinargesellschaft (vgl. Foucault 1975) begreifen Hardt und Negri das Empire als einen Paradigmenwechsel, welcher die Machtmechanismen der Disziplin der »first phase of capitalist accumulation« (Hardt/Negri 2001: 23) ablöst und sich in einer postmodernen Kontrollgesellschaft manifestiert. Die Disziplinargesellschaft schuf mit Hilfe verschiedener Dispositive, wie Institutionen, Apparaten und präskriptiven Normen, die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren sowie Verhaltensmuster, die der inneren Logik des disziplinären Systems nachkommen und diese reproduzieren. In der Kontrollgesellschaft haben die Dynamiken der Macht hingegen eine demokratische, immanente Form angenommen und sind von den in ihr lebenden Subjekten internalisiert worden, sodass es keine externen Impulse mehr braucht, um entsprechende Handlungsweisen zu generieren: Power is now exercised through machines that directly organize the brains (in communication systems, information networks etc.) and bodies (in welfare systems, monitored activities etc.) toward a state of autonomous alienation from the sense of life and the desire for creativity. The society of control might thus be characterized by an intensification and generalization of the normalizing apparatuses of disciplinarity that internally animate our common and daily practices, but in contrast to discipline, this control extends well outside the structured sites of social institutions through flexible and fluctuating networks. (ebd.: 23) In dieser Immanenz erkennen Hardt und Negri den spezifisch biopolitischen Charakter des neuen Machtparadigmas. Die Biomacht des Empire kontrolliert und verwaltet das Leben von innen heraus, indem sie dessen Produktion und Reproduktion garantiert, und da sie dem individuellen Leben stets schon innerlich ist, bemächtigt sie sich dem Subjekt auf eine besonders subtile, inoffensive Art, nämlich mittels der foucaultschen Techniken des Selbst, die sich aus einem scheinbar alternativlosen Einverständnis ergeben (vgl. Demirović 2004: 247f., Hardt/Negri 2001: 24). Nur die Dynamiken der Biopolitik können also das dreifach entgrenzte Empire in seiner
mativen Ansatz gerade das Produktive und die »schöpferischen Potenziale« (Lemke 2007: 91) von Subjektivitäten in der imperialen Weltordnung hervorheben möchten. Unter Rückgriff auf die Ausführungen zum Dispositiv in Kapitel 2.2.4 könnte eingewendet werden, dass Macht bei Foucault nie schlicht ›von oben nach unten‹ agiert, sondern in relationalen Netzwerken organisiert ist, die dynamisch sind und Umstrukturierungen zulassen. Ihre zentrale These der biopolitischen Produktion konturieren Hardt und Negri, indem sie sich auf die Anti-Ödipus-Studie von Deleuze und Guattari und das dort eher flüchtig thematisierte Konzept der gesellschaftlichen (Re-)Produktion (vgl. Deleuze/Guattari 2018 [1972/73]: insbesondere 16-21, 31-45, 316-327) beziehen. Der Lektüre Deleuzes (1990) entnehmen sie hierzu den Begriff der Kontrollgesellschaft, indem sie Biomacht als eine demokratisierte, da Leben und Gesellschaft immanente Form der Kontrolle definieren (vgl. Pieper 2007: 221f., 225), wie im Fließtext ausführlicher dargelegt wird.
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Breite und Komplexität ermöglichen und erfassen, da das Leben selbst in diesen Strukturen nicht einfach unterworfen wird und sich ihnen zu entziehen versucht, sondern im Gegenteil aktiv an ihnen partizipiert (vgl. ebd.: 23-26). Diese biopolitische Produktion, also die Wechselwirkung zwischen Biomacht und gesellschaftlicher Produktion, entsteht im Empire maßgeblich durch Veränderungen in der Sphäre der Arbeit, infolge derer die maschinelle und manuelle Produktion in ihrem Mehrwert durch Formen der immateriellen und intellektuellen Arbeit70 abgelöst wird. Seit den 1970er Jahren habe sich der industrielle Kapitalismus durch globalisierte und automatisierte Produktionsprozesse sowie die rapide Entwicklung weltumfassender Kommunikationssysteme und Netzwerke grundlegend transformiert und die gegenwärtige Ökonomie sei zunehmend durch immaterielle und kognitive Dynamiken, Handlungen und Ströme charakterisiert (vgl. ebd.: 289-294, Lemke 2007: 89). Daher habe die immaterielle Arbeit, die sich, in Anlehnung an Marx, als General Intellect 71 in den Bereichen des Wissens, der Sprache und der Kommunikation ereignet, im Zuge des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus in der biopolitischen gesellschaftlichen Produktion an Bedeutung gewonnen. Unter dieser neuen Form der Arbeit fassen Hardt und Negri die Produktion von »›immaterial goods‹ such as ideas, knowledge, forms of communication, and relationships« (Hardt/Negri 2005: 94), die folglich über den Bereich des Markts hinausgeht und sich direkt in das individuelle und kollektive Leben einschreibt. Es sind jene Arbeitsvorgänge des »kognitiven Kapitalismus« (Negri 2007: 20), die es dem Empire ermöglichen, sich der Welt und ihrer Gesellschaften in ihrer Gesamtheit zu bemächtigen, da es nur durch die Organisation internationaler Kommunikationsnetzwerke sowie die Produktion von Affekten und Begehren bspw. über Marketing und Werbung seine globalen Produktions- und Konsumsysteme aufbauen kann (vgl. Hardt/Negri 2001: 292f.). Somit besteht die Biomacht des Empire letztendlich darin, das Leben in sämtlichen Bereichen ökonomisch zu modellieren und mittels großer Finanzakteure wie transnationaler Unternehmen sowie den globalen Strömen des Kapitals Territorien, Bevölkerungen, Ressourcen, bis hin zu Nationalstaaten biopolitisch zu gestalten: The huge transnational corporations construct the fundamental connective fabric of the biopolitical world in certain important respects. Capital has indeed always been organized with a view toward the entire global sphere, but only in the second half of the twentieth century did multinational and transnational industrial and 70
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Marianne Pieper weist darauf hin, dass die Kategorie der immateriellen Arbeit nicht dahingehend missverstanden werden soll, als es sich dabei um eine Arbeit handele, »die gleichwohl ›materiell‹ ist, aber ›nicht-materielle‹, nicht haltbare Produkte erzeugt.« (Pieper 2007: 226) Erneut schließen die Autoren hier an Marx an, der die Theorie des General Intellect innerhalb der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (2006 [1857-58]) prägt (vgl. Gorgoglione 2016: 155f.). Für einen Kommentar des Begriffs bei Marx siehe auch Paolo Virno (2004).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
financial corporations really begin to structure global territories biopolitically.[…] There is nothing, no ›naked life,‹ no external standpoint, that can be posed outside this field permeated by money; nothing escapes money. Production and reproduction are dressed in monetary clothing. In fact, on the global stage, every biopolitical figure appears dressed in monetary garb. […] The great industrial and financial powers thus produce not only commodities but also subjectivities. They produce agentic subjectivities within the biopolitical context: they produce needs, social relations, bodies and minds – which is to say, they produce producers. In the biopolitical sphere, life is made to work for production and production is made to work for life. (ebd.: 31f.) Das Empire ist also die der Postmoderne eigene, universelle Form der Souveränität, in der »ökonomische Produktion und politische Konstitution tendenziell zusammenfallen« (Lemke 2007: 92), die u.a. mittels immaterieller Arbeit das Leben in seiner Gesamtheit produziert und die Welt vollends biopolitisch strukturiert, sodass »der Mensch in dem Maße biopolitisch wird, in dem sein Leben als solches Wert produziert und als Wert funktioniert.« (Gorgoglione 2016: 160) Trotz seiner allumfassenden Herrschaftsstruktur und »enormous powers of oppression and destruction« (Hardt/Negri 2001: xv) legitimiert sich das Empire aber über moralische Werte, wie Konfliktfreiheit und ein globales Gleichgewicht. Wie ist es nun zu erklären, dass im globalisierten und alles durchdringenden imperialen System die Bedeutung von Nationalstaaten zwar schwindet, diese jedoch nicht nur weiter bestehen, sondern ihre Grenzen nach wie vor gegen Außenstehende sichern? Wieso ist im Empire auf der einen Seite alles im Fluss, bilden sich globale Netzwerke und Produktionsprozesse, während auf der anderen Seite viele Menschen in ihrer Mobilität weiterhin massiv eingeschränkt bleiben? Und wieso kann das Empire schließlich seine Gründungsansprüche von Frieden und Gerechtigkeit nicht in die Realität umsetzen? Hardt und Negri schreiben: »Saying that Empire is good in itself, however, does not mean that it is good for itself « (ebd.: 43), da es anhand des dreifachen Imperativs der graduellen Integration, der soziokulturellen Segregation sowie der Hierarchisierung und Koordination von Differenzen agiert (vgl. ebd.: 198-201).
2.5.2
Differenz, Armut und Mobilität im Empire
Mobilität und Diversität sind Phänomene, die der Weltmarkt strukturell braucht, weshalb er die Dekonstruktion von Grenzen geografischer und anderer Art propagiert. Die Differenz der Menschheit wurde als ökonomische Chance und Ressource erkannt, da sich dadurch u.a. eine ebenso große Anzahl an Zielmärkten und ökonomischen Strategien ergibt (vgl. Hardt/Negri 2001: 150-153, Demirović 2004: 239f.). Doch die »global politics of difference established by the world mar-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
ket« (Hardt/Negri 2001: 154) bedeuten keinesfalls, dass das Empire Chancengleichheit bietet oder es Rassismus in seinem System nicht gäbe. Die teilweise befreienden Diskurse der Postmoderne, wie die Deessentialisierung von Identität und Alterität, die zunächst zu überraschenden Gemeinsamkeiten zwischen den ideologischen Grundlagen des Empire und der postkolonialen Theorie führen (vgl. ebd.: 150), haben nämlich nach Hardt und Negri lediglich für einen kleinen, privilegierten Teil der Weltbevölkerung wirkliche Konsequenzen (vgl. ebd.: 156). Für alle anderen zeigt sich vielmehr die Tendenz, dass Ungleichheiten und Benachteiligungen sozialer wie materieller Art lediglich ihre Form geändert haben und hierarchische Verhältnisse durch andere Strategien der Segregation ersetzt werden. Rassismus ist im Empire etwa nicht länger biologisch, sondern soziologisch und kulturalistisch begründet, was ihn beileibe nicht weniger gefährlich macht, sondern laut Hardt und Negri sogar zu einer stärkeren Verbreitung sowie Intensivierung rassistischer Phänomene führt. Zwar sind aus der imperialen pluralistischen Perspektive alle kulturellen Identitäten im Prinzip gleichwertig, doch die unterschiedlichen Sozialisierungsprozesse und »different historically determined cultures« (ebd.: 192) werden fortwährend zur Abgrenzung von Kollektiven genutzt: »[I]mperialist racist theory in itself is a theory of segregation, not a theory of hierarchy« (ebd.: 193). Weiterhin funktioniert der imperiale Rassismus, wie die Autoren in Anschluss an Deleuze und Guattari hervorheben, nicht mittels kategorischer Ausschlüsse von Individuen und Bevölkerungsgruppen, sondern wirkt durch »a strategy of differential inclusion« (ebd.: 194), die sich in alltäglichen Situationen offenbart, wobei die »weiße Norm«72 (Hardt/Negri 2002: 206), wie es in der deutschen Übersetzung heißt, weiter Bestand hat. Steht das Empire nämlich für Vielfalt, so will es lediglich den kulturellen Austausch, nicht aber eine dauerhafte Hybridisierung der Bevölkerung (vgl. Hardt/Negri 2001: 190-193): Anders gesagt entpuppt sich die berühmte ›Mobilität‹ des Kapitalismus als ein Tauschsystem völlig anderer Art. Im Innern des Handelsnomadismus des fortgeschrittenen Kapitalismus […] ist es hauptsächlich das Produkt, die Ware, die zirkuliert und sich der Mobilität erfreuen kann. Die menschlichen Subjekte sind deutlich weniger mobil. (Braidotti 2007: 56)73
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Man könnte diese »weiße Norm« um die Attribute ›männlich‹ und ›heterosexuell‹ ergänzen. Für feministische sowie queere Lektüren von Hardt und Negri siehe u.a. Braidotti und Gutiérrez Rodriguez in Pieper u.a. (2007), Schultz (2011) sowie Judith Revels (2004) Konzept des devenir-femme. Sandro Mezzadra hat in verschiedenen Untersuchungen gezeigt, dass ein solches Spannungsverhältnis zwischen im Kontext der Globalisierung notwendiger Mobilität von Arbeitskraft einerseits und den repressiven, meist staatspolitischen Strategien, diese Bewegungen zu kontrollieren und ggf. zu unterbinden andererseits, für den Kapitalismus charakteristisch ist (vgl. Mezzadra 2007: 179).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Anhand historischer und aktueller Beispiele zeigen die Autoren, dass die imperiale Souveränität zwar intentional keine neuen Differenzen schafft, aber an den vorhandenen festhält und sie nach einem dreifachen Imperativ zu ihrem Nutzen verwaltet: Antagonisms and divisions among the workers along the various lines of ethnicity and identification prove to enhance profit and facilitate control. […] ›Divide and conquer‹ is thus not really the correct formulation of imperial strategy. More often than not, the Empire does not create division but rather recognizes existing or potential differences, celebrates them, and manages them within a general economy of command. The triple imperative of the Empire is incorporate, differentiate, manage. (Hardt/Negri 2001: 200f.) In rechtlicher Hinsicht zeigt das Empire also zunächst sein »magnanimous, liberal face« (ebd.: 198), indem es alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, religiösen Überzeugung oder sexuellen Orientierung und Identität akzeptiert, während es Differenzen auf der sozialen und kulturellen Ebene bewusst hervorhebt (vgl. ebd.: 199, 336-339). Ebenso klassifiziert das Empire die globale Staatengemeinschaft weiterhin in Staaten des Zentrums, der Semi-Peripherie und solche der Peripherie (vgl. ebd.: 334), denn die Aufteilung der Weltbevölkerung erleichtert schlicht deren Kontrolle und kann überdies ökonomisch profitabel sein. Eine weitere binäre Opposition, die im Empire nicht nur aufrechterhalten, sondern transformiert und in gewisser Weise zugespitzt wird, ist jene zwischen arm und reich. Wenn die globale kapitalistische Souveränität nämlich Grenzen dekonstruiert, Diversität befürwortet und somit identitäts- und alteritätsstiftende Gegensätze nach dem Schema »inside and outside« (ebd.: 186) schwächt, so wird die Rolle des Anderen verstärkt dem Armen zugeschrieben: »The only non-localizable ›common name‹ of pure difference in all eras is that of the poor. […] Finally today, in the biopolitical regimes of production and in the processes of postmodernization, the poor is a subjugated, exploited figure« (ebd.: 156f.). Auch führen die veränderten Arbeitsund Produktionsbedingungen des Weltmarkts zu neuen Strukturen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, da immaterielle Arbeit aufgewertet wird und materielle sowie manuelle Arbeiten eine Abwertung erfahren, wobei der Zugang zu den angesehenen, profitablen Arbeitsbereichen über Ausbildung und Qualifikation limitiert wird (vgl. ebd.: 290-292, Demirović 2004: 247).74 Andererseits rücken arm 74
Judith Revel beschreibt in ihrem Aufsatz De la vie en milieu précaire. Comment en finir avec la vie nue (2006), wie die veränderten Arbeitsdynamiken des kapitalistischen Weltmarkts in den letzten Jahrzehnten zu sozialen Problemstellungen in französischen Vorstädten führten. Zwar konstatiert Revel, dass diese Viertel von Beginn an biopolitisch konzipiert und auf einen möglichst großen ökonomischen Nutzen für die Firmen ausgelegt waren, deren Fabrikarbeiter*innen dort lebten, doch waren die Vorstädte gerade deshalb in den 1960er und 70er Jahren strukturell gut ausgestattet, denn für die Produktivität des Standorts war es wich-
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und reich aber im imperialen System durch die beschriebenen Phänomene der Kapitalisierung und Vernetzung näher zusammen, weshalb das Empire auch lokal, wie bspw. auf Ebene der Stadtarchitektur, Verfahrensweisen findet, um besser Gestellte von sozial Schwachen zu trennen (vgl. Hardt/Negri 2001: 336f.). In globaler Hinsicht führt die imperiale Weltordnung hingegen einmal mehr zu einer Form der Entgrenzung: If the First World and the Third World, center and periphery, North and South were ever really separated along national lines, today they clearly infuse one another, distributing inequalities and barriers along multiple and fractured lines. […] The various nations and regions contain different proportions of what was thought of as First World and Third, center and periphery, North and South. The geography of uneven development and the lines of division and hierarchy will no longer be found along stable national or international boundaries, but in fluid intra- and supranational borders. (ebd.: 335)75 Die ökonomischen Gesetze und Dynamiken des Empire fördern nämlich, wie die Autoren unterstreichen, auch gezwungene Mobilität, sprich Flucht und Migration aus Armut, welche die Betroffenen meist in ein lediglich anderes oder noch größeres Leid steuern (vgl. ebd.: 154f.). Einer bloßen Viktimisierung von Migrierenden und Flüchtenden stehen Hardt und Negri hingegen kritisch gegenüber76 (vgl. Pieper u.a. 2007: 11) und zählen Migration, Nomadismus und Hybridisierung
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tig »que la main-d’œuvre trouve des conditions de vie satisfaisantes.« (ebd.: 162) Als diese materielle Arbeit schließlich im Zuge der neuen Dynamiken des globalisierten Markts eine Abwertung erfuhr und Produktionsstätten zunehmend ins Ausland verlegt wurden, verloren die Bewohner*innen ihre Anstellung. Die Viertel wurden von Arbeits- und Perspektivlosigkeit heimgesucht und den Regeln des Primats der Akkumulation folgend laut der Verfasserin von der Politik, die im Sinne der Ökonomie handelt, vernachlässigt. Saskia Sassen (vgl. 2007: 143-165) argumentiert, dass die von Hardt und Negri beschriebene Verwischung und Überlagerung vormals eher getrennt lokalisierbarer Territorien besonders in der durch Migration geschaffenen, hybriden Örtlichkeit (placeness) der sogenannten global cities deutlich wird. Diese können damit als besonders strategische Orte für die politische Konstitution der Multitude gelten und bspw. das an den Nationalstaat gebundene Konzept der Staatsbürgerschaft mittels der entnationalisierten Realität kosmopolitischer Weltstädte hinterfragen. Gleiches gilt für die Armen, welche Hardt und Negri in ihrer affirmativen Linie nicht allein als Opfer der imperialen Dynamiken, sondern als aktive und teilhabende Akteure in der gesellschaftlichen Produktion betrachten wollen, ohne dabei Ungleichheiten und Not in Armut lebender Menschen zu unterschlagen (vgl. Hardt/Negri 2005: 129-138). Ebenso wie bei der Konzeption der Multitude im Allgemeinen folgen die Autoren hier Spinoza und seinen Ausführungen zur Potenzialität von Armut in der Konstruktion von Gemeinschaft (vgl. Hardt/ Negri 2009: 53). In Commonwealth (2009) bildet Armut als Konsequenz der Dynamiken des globalen Weltmarkts sowie der zunehmenden Privatisierung von öffentlichen Gütern und Ressourcen aber auch als mögliche Quelle der Produktivität ein zentrales Thema: »Our chal-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
in ihrem Projekt einer affirmativen Biopolitik zu jenen Phänomenen der Multitude, die eine zentrale Funktion im Widerstand gegen die Herrschaftsdynamiken des Empire haben können: »Flucht ist die Weigerung der Massen, sich regieren zu lassen: eine Antwort auf asymmetrische Machtverhältnisse« (Moulier Boutang 2007: 172). Laut Antonio Negri (vgl. 2007: 30) sei die grundlegend biopolitische Verfasstheit des Empire sogar nur unter einer angemessenen Berücksichtigung von Migrationsphänomenen nachzuvollziehen. Obwohl die imperiale Souveränität nämlich keine unkontrollierte Migration vorsieht, wird sie mitunter selbst zur Fluchtursache, indem sie starke Push- und Pull-Effekte produziert, sodass ›illegale‹77 Migration im Empire als Ausdruck eines Freiheitswunsches und materiell-körperliches »Being-Against« (Hardt/Negri 2001: 211, eigene Herv.) gelesen werden kann, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird. Das Empire wirkt also nur auf den ersten Blick wie ein vollkommen entgrenzter Raum, ist jedoch genau wie vorgängige Formen der Souveränität von »so many fault lines« durchzogen, »that it only appears as a continuous, uniform space« (alle ebd.: 190). Nicht zuletzt scheint die neue Souveränität laut der Verfasser in der Durchsetzung ihrer moralischen wie ethischen Ansprüche deshalb zu scheitern, weil sie sich durch einen grundlegenden »ontological lack« (ebd.: 62) auszeichnet: »The machine is self-validating, autopoietic« (ebd.: 34), entbehrt einem originären Sinn und zieht stattdessen ihre Zweckhaftigkeit aus ihrer eigenen Logik – der kapitalistischen Wertsteigerung. Diesem Umstand, gepaart mit den Auswirkungen der monetären Verwertung menschlicher Gefühle, Affekte und Ideen in der immateriellen Arbeit, scheint die oben zitierte »autonomous alienation from the sense of life and the desire for creativity« (ebd.: 23) geschuldet zu sein. In diesem Punkt lassen Hardts und Negris Ausführungen sich offenbar an Giorgio Agambens oben beschriebene These anschließen, nach der die modernen Dispositive des Kapitalismus in ihrer massiv gestiegenen Anzahl und neuen Verfasstheit zu einer Spaltung der Subjekte, anstatt zu ihrer Subjektivierung führen (vgl. 2.2.4).
2.5.3
Die Multitude und das »Dagegen-Sein« der Migration
In Empire (2001) konturieren Michael Hardt und Antonio Negri die Vielheit aller den imperialen Herrschaftsdynamiken unterworfener Subjekte als Gegengewicht zu der neuen Souveränität und vertiefen dieses Konzept in der gleichnamigen Monografie Multitude (2005). In ihrem Verständnis von Biopolitik ist der Multitude das Moment des Widerstands immanent, bezeichnet sie doch, in Abgrenzung zur repressiven Biomacht, »the power of life to resist and determine an alternative pro-
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lenge will be to find ways to translate the productivity and possibility of the poor into power.« (ebd.: xi) Zur Kriminalisierung unerwünschter Migration siehe das folgende Kapitel 2.5.3.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
duction of subjectivity« (Hardt/Negri 2009: 57), also die Fähigkeit des Lebens, bspw. Affekte, Beziehungen sowie Netzwerke sozialer Kooperation zu begründen, aus denen sich neue Formen der Subjektivität und des Widerstands ergeben.78 Hier schließen die Verfasser an Foucault an, der diese Unterscheidung von Biomacht und Biopolitik laut Hardt und Negri andeutete, aber nicht konsequent verwendete. Im Vorwort von Empire findet sich eine erste Definition der Multitude, deren konzeptuellen Kern Hardt und Negri Spinoza79 verdanken (vgl. Negri 2004: 14) und die zur zentralen Figur des von den Autoren unternommenen Entwurfs einer affirmativen Biopolitik wird: Our political task, we will argue, is not simply to resist these processes but to reorganize them and redirect them toward new ends. The creative forces of the multitude that sustain Empire are also capable of autonomously constructing a counter-Empire, an alternative political organization of global flows and exchanges. (Hardt/Negri 2001: xv) Die im Zitat beschworene Menge existiert bereits und lebt von Kreativität und Solidarität geprägte Widerstandspraktiken,80 doch muss sie sich als politisches Subjekt emanzipieren und ihre Rechte koordiniert einfordern,81 um die im zitierten Passus angesprochene Umstrukturierung der imperialen Souveränität zu erreichen. Wie im Zitat angedeutet und zu Beginn dieses Kapitels festgehalten, ist
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Hierin besteht der zentrale Unterschied zwischen Hardts und Negris biopolitischer Theorie und jener Agambens. Hardt und Negri sind der Ansicht, dass Menschen niemals »bare life« sein können, »if by that term we understand those stripped of any margin of freedom and power to resist.« (beide Hardt/Negri 2009: 77) Sie gehen im Gegenteil von einer irreduziblen Potenzialität und damit von einer virtuellen Macht des Lebens aus (vgl. Hardt/Negri 2001: 365f., 375). Zur Figur der Multitudo bei Spinoza, die in Negris Philosophie zentral ist, siehe Negri (1982). Charakteristika und Herleitung seines Verständnisses der Multitude formuliert Negri (vgl. 2004) in einer Vorlesung. Für einen Kommentar der Auseinandersetzung Negris (und anderer zeitgenössischer Denker*innen) mit Spinoza siehe Warren Montag (2004). In Commonwealth nennen die Autoren etwa den Kampf der Einwohner*innen im bolivianischen Cochabamba gegen die Privatisierung von Trinkwasser und für Mitbestimmung in der Kontrolle der Erdgasvorkommen in den Jahren 2000 und 2003 als Beispiele für den Widerstand der Multitude (vgl. Hardt/Negri 2009: 107-112). Die Ereignisse in Cochabamba wurden in den Spielfilm También la lluvia (vgl. Bollaín 2010) eingearbeitet. Unter »The Right to Global Citizenship«, »The Right to a Social Wage« und »The Right to Reappropriation« (alle Hardt/Negri 2001: 396-407) fassen die Autoren die Forderungen zusammen, welche die Menge ihrer Ansicht nach im Aufstand gegen das Empire geltend machen sollte. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung werden das Recht auf Weltbürgerschaft und jenes auf Wiederaneignung vorrangig behandelt und die Multitude in ihrer sozioökonomischen Dimension als »class concept« (Hardt/Negri 2005: 103) zugunsten des thematischen Fokus auf Migrationsliteratur zurückgestellt.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
es die Verfasstheit des Empire selbst, die den Ort des Widerstands eröffnet: Zum einen ist dies der Fall, da es kein ›Außerhalb‹ der imperialen Dynamiken gibt und ein Aufbegehren notwendigerweise innerhalb dieser Strukturen erfolgen muss. Zum anderen hat die Menge die Macht, der neuen Souveränität zu schaden, da gerade sie deren Fundament bildet: »Empire […] lives only off the vitality of the multitude« (ebd.: 62). Die Multitude ist gleichsam ›die andere Seite‹ der imperialen Souveränität, denn die »network power« (Hardt/Negri 2005: xii) des Empire bringt eine ebenso vernetzte Menge hervor, die nach dem Vorbild der Swarm Intelligence gemeinsam und über alle Grenzen hinweg lebt, arbeitet, interagiert und kooperiert (vgl. ebd.: xiiif., 91-93). In einer auf Deutsch publizierten Vorlesung fasst Antonio Negri seine Konzeption der Multitude prägnant zusammen: Wenn wir von Multitude sprechen […], sprechen wir erstens von der Multitude als einem Ensemble, als einer Vielfalt von Subjektivitäten oder vielmehr von Singularitäten. Zweitens sprechen wir von Multitude als einer sozialen Klasse (und nicht mehr von der Arbeiterklasse, um auf die Erfahrungen der Veränderung der Arbeit im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus hinzuweisen […]). Und drittens schließlich beziehen wir uns, wenn wir von Multitude sprechen, auf eine Vielfalt, die nicht zur Masse zerdrückt wird, die hingegen einer autonomen, unabhängigen, intellektuellen Entwicklung fähig ist. […] Von diesem letzten Aspekt ausgehend können wir, in politische Begriffe übersetzt, die Multitude als demokratische Potenz begreifen, da sie Freiheit und Arbeit in der Produktion des Gemeinsamen, Communen verbindet. Damit fallen die Unterscheidungen zwischen dem Politischen und dem Sozialen, zwischen Produktivität und Ethik des Lebens. Die Multitude präsentiert sich, so verstanden, als offen, als dynamisch, als konstituierend: Wir sind im Biopolitischen. (Negri 2004: 18) Der Imperativ der Effizienz und die damit verbundene biopolitische Produktion bestimmen im Empire zwar das Leben, doch im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Leben gleichermaßen die (kapitalistische) Produktion beeinflussen kann (vgl. Hardt/Negri 2001: 365): »[B]eing-against« muss im Empire also primär durch »subtraction and defection« (beide ebd.: 212) erfolgen, wodurch das Leben sich weigert, Grundlage und Ressource der neuen Weltordnung zu sein. »Dagegen-Sein« bedeutet im Empire »Sich-Entziehen« (beide Hardt/Negri 2002: 224). Dieser Entzug kann zum einen räumlicher Art sein, indem sich Menschen, wie in 2.5.2 angeführt, mittels Migration und Hybridisierung über das dreifache Kontrollmoment des Empire, »incorporate, differentiate, manage« (Hardt/Negri 2001: 201), hinwegsetzen und dessen effiziente Logik buchstäblich unterwandern. Der Widerstand muss laut Hardt und Negri ebenso global angelegt sein, wie die imperiale Souveränität selbst (vgl. ebd.: 206) – schließlich ist der Raum, wie Doreen Massey beipflichtet, »die Dimension des Multiplen, der gleichzeitigen Koexistenz von Multiplizität, von Vielfalt. Äußerst kühn formuliert: Raum ist die Dimensi-
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on des Sozialen.« (Massey 2007: 67) Deshalb müssen Gegenwehr und Sabotage in der Postmoderne des kapitalistischen Weltmarkts u.a. die Form von Migration, Exodus und Nomadismus annehmen. Der Begriff ›Nomadismus‹ meint dabei in der Terminologie Hardts und Negris aber nicht nur dessen primäre Bedeutung als Antonym zur Sesshaftigkeit. Vielmehr umfasst das Konzept auch die mit dieser ersten Bedeutung einhergehenden, deessentialisierten Subjektentwürfe, die Rosi Braidotti im Anschluss an die feministische Theorie als nomadische Subjektivität bezeichnet – »relational, interaktiv, rhizomatisch im produktiven Sinne des Begriffs.« (Braidotti 2007: 63) In dieser von Flexibilität und Transgression geprägten Auffassung befindet sich Subjektivität in einem Prozess des ständigen Werdens, was zu einer Auflösung binärer Oppositionen und einem neuen, multiplen Verständnis von Alterität führt. Wenngleich Braidotti dem Konzept der Multitude nicht unkritisch begegnet (vgl. ebd.: 49), greift ihr Begriff der nomadischen Subjektivität zentrale Punkte des von Hardt und Negri formulierten politischen Projekts der Menge auf, wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels deutlich wird. Ohne den Umstand zu vernachlässigen, dass insbesondere durch bedrohliche Umstände erzwungene Migration oftmals in Leid endet, betrachten Hardt und Negri also autonome Mobilität als Ausdruck eines »positive desire for wealth, peace, and freedom« sowie als »act of refusal«, die gemeinsam »enormously powerful« seien (alle Hardt/Negri 2005: 133). Die bewusste Entscheidung zur Mobilität bedeutet, den vom Empire zugeteilten Platz in der Welt bzw. in der imperialen Ordnung und dessen Dynamiken der Ausbeutung nicht länger zu akzeptieren. Bereits bei Michel Foucault findet sich in einer Vorlesung vom 14. März 1979 die Idee, dass Migration nicht ausschließlich eine Auswirkung spezifischer Machtdynamiken sein muss, denen Subjekte sich gezwungenermaßen beugen, sondern dass Mobilität ebenso als Investition eines Menschen in seine Zukunft betrachtet werden kann (vgl. Foucault 2004b: 236f.).82 Es finden sich also schon bei Foucault erste Spuren einer 82
Aufgrund der Bedeutung dieser Passage für die vorliegende Untersuchung soll Foucault in folgendem Zitat ausführlich zu Wort kommen: »Il faut également compter, dans les éléments constituants du capital humain, la mobilité, c’est-à-dire la capacité pour un individu de se déplacer, et en particulier la migration […]. Parce que, d’un côté, la migration représente bien sûr un coût, puisque l’individu déplacé va, pendant le temps où il se déplace, ne pas gagner d’argent, qu’il va y avoir un coût matériel, mais aussi un coût psychologique de l’installation de l’individu dans son nouveau milieu. Il va y avoir aussi, au moins, un manque à gagner dans le fait que la période d’adaptation de l’individu ne va sans doute pas lui permettre de recevoir les rémunérations qu’il avait auparavant, ou celles qu’il aura ensuite lorsqu’il sera adapté. Enfin, tous ces éléments négatifs montrent bien que la migration est un coût, qui a pour fonction, quoi? D’obtenir une amélioration du statut, de la rémunération etc., c’est-à-dire que c’est un investissement. La migration est un investissement, le migrateur est un investisseur. Il est un entrepreneur de lui-même qui fait un certain nombre de dépenses d’investissement pour obtenir une certaine amélioration. La mobilité d’une population et la capacité qu’elle a de faire des choix de mobilité qui sont des choix d’investissement pour obtenir une améliora-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
These, die Yann Moulier Boutang u.a. in Anschluss an Hardt und Negri ausführt und »Autonomie der Migration« (Moulier Boutang 2007: 169) nennt. Diese versteht er als eine zentrale Methode, um ein umfassenderes Verständnis von Migrationsbewegungen zu erreichen und dabei insbesondere anstatt der bloßen Viktimisierung von Migrant*innen auch eine Form ihrer agency zu denken: »Kann Flucht oder Auswanderung in einem positiven Sinn Politik hervorbringen, statt eine rein negative Kraft zu bleiben?« (ebd.: 169) Mit Blick auf die Konstitution des globalen Weltmarkts besagt Moulier Boutangs zentrale These, dass die Menschen dem Kapital nicht einfach passiv folgen, sondern zwischen der »Bewegung der Menschen« und »den Bewegungen des Kapitals« eine »wechselseitige Determinierung« besteht (alle ebd.: 170) und Migrationsphänomene politischen Regulierungen stets vorgängig sind.83 In diesem Punkt möchte Sandro Mezzadra, ebenfalls Vertreter der Autonomie der Migration, die »Irreduzibilität der zeitgenössischen Migration« in den globalen Dynamiken des Kapitals sowie insbesondere »den Überschuss der Praxisformen und subjektiven Wünsche« (beide Mezzadra 2007: 180) hervorheben, die durch Migrationsbewegungen produziert werden und deren ordnende Kontrolle übersteigen. Hardt und Negri sprechen bezüglich des Widerstands der Multitude nämlich mehrfach von einem »beyond measure« und fassen unter dem Begriff der Virtualität »a set of powers to act (being, loving, transforming, creating)« (beide Hardt/Negri 2001: 356, 357), mit denen die Menge mittels eines unkontrollierbaren, produktiven Überschusses über die Regeln des Empire hinausgehen kann.84 Migration ist also nach Hardt und Negri einerseits Ausdruck der widerständigen Multitude und trägt andererseits als grenzüberschreitendes Phänomen aktiv zur Konstitution der globalen, solidarischen Vielheit bei. Gleichzeitig handelt es sich bei autonomer Mobilität aber auch um eine entschieden physische Form des Aufbegehrens, die sich als Dagegen-Sein in der Materialität der Existenz der Widerständigen ausdrückt (vgl. ebd.: 215f.). In dieser Hinsicht können auch undokumentierte Migrant*innen laut Saskia Sassen (vgl. 2007: 165) politisch ins Gewicht fallen,
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tion dans les revenus, tout cela permet de réintroduire ces phénomènes-là, non pas comme de purs et simples effets de mécanismes économiques qui déborderaient les individus et qui, en quelque sorte, les lieraient à une immense machine dont ils ne seraient pas maîtres; ça permet d’analyser tous ces comportements en termes d’entreprise individuelle, d’entreprise de soi-même avec investissements et revenus.« (Foucault 2004b: 236f.) Yann Moulier Boutang (vgl. 2007: 170f.) kategorisiert sechs Dimensionen der Autonomie von Migration, die somit zu einem analytischen Raster in der Betrachtung von Migrationsbewegungen zu werden scheint. Die Idee eines aus sozialer Interaktion resultierenden, unkontrollierbaren Überschusses als Gegengewicht zu den repressiven bzw. verwaltenden und normierenden Kräften der Macht findet sich schon in Foucaults La Volonté de Savoir, wo er »les corps et les plaisirs« (Foucault 1976: 208) zum Ort des Widerstands gegen das Sexualitätsdispositiv erhebt (vgl. Pieper 2007: 221).
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indem sie durch ihren bloßen Aufenthalt, ihre Alltagspraktiken und die Interaktion mit den Ansässigen aktiv die örtliche Gemeinschaft mitgestalten und theoretische Konzepte wie jenes der Staatsbürgerschaft durch ihre Lebensrealität als unzulänglich ausweisen. Physische Präsenz und Körperlichkeit haben also in der Konzeption einer affirmativen Biopolitik bei Hardt und Negri eine zentrale Bedeutung, weil »the productivity of bodies that is central for biopolitics« nur über »the construction of being from below, through bodies in action« (beide Hardt/Negri 2009: 32) erfolgen kann. Aus einer (bio-)ökonomischen Perspektive stellt autonome Migration schließlich physischen Widerstand dar, sofern mit den migrierenden Menschen auch »die intellektuellen, schöpferischen […], die kommunikativen und affektiven Vermögen« relokalisiert werden, »die sich in der leiblich-sozialen Existenz der TrägerInnen dieser Potenzialität bündeln« (beide Pieper 2007: 230). Somit bedeutet die selbstständige und willentliche Mobilität für Hardt und Negri eine Möglichkeit, sich mittels des Körpers den ökonomischen Regelwerken des Empire zu entziehen, werden die Menschen doch in dessen Ökonomie vorrangig auf ihre produzierenden bzw. reproduzierenden Körper reduziert und als Werteinheit betrachtet, ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft oder anderer Faktoren, die ihre Menschlichkeit bedingen (vgl. Hardt/Negri 2009: 35). In Anlehnung an Marx (1998 [1848]) schreiben Hardt und Negri daher hinsichtlich der weltweit wachsenden Migrationsbewegungen: »A specter haunts the world and it is the specter of migration.« (Hardt/Negri 2001: 213) Das Empire scheint sich im Angesicht dieses Gespenstes keinen anderen Rat zu wissen, als Migration zu kriminalisieren und ihr durch die Koordination von Nationalismen entgegenzuwirken (vgl. ebd.: 398f.), sofern sie nicht im Rahmen der imperialen Logik erfolgt und verwaltet wird. In ihrer derzeitigen Ausprägung hat die autonome Mobilität allerdings laut der Verfasser nur eine spontane Form sowie, wenn überhaupt, einen kurzzeitigen Effekt und führt die emigrierten Menschen nicht selten von einer Notlage in die andere (vgl. ebd.: 213). Auf den letzten Seiten von Empire insistieren sie daher, dass die Menge sich in einer kollektiven, organisierten Weise den globalen Raum wiederaneignen sowie das Recht auf autonome Mobilität und Verortung einfordern müsse (vgl. ebd.: 396-400). Obgleich die Autoren zugeben, dass eine konkrete Strategie diesbezüglich schwierig zu formulieren sei, betrachten sie die Forderung nach einer Weltbürgerschaft als zentralen Punkt in dem zu entwerfenden, politisch-emanzipatorischen Projekt der Multitude: This is not a utopian or unrealistic political demand. The demand is simply that the juridical status of the population be reformed in step with the real economic transformations of recent years. Capital itself has demanded the increased mobility of labor power and continuous migrations across national boundaries. Capitalist production in the more dominant countries […] is utterly dependent on the influx of workers from the subordinate regions of the world. Hence the political
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
demand is that the existent fact of capitalist production be recognized juridically and that all workers be given the full rights of citizenship. […] Global citizenship is the multitude’s power to reappropriate control over space and thus to design the new cartography. (ebd.: 400) Die zweite Achse der politischen Gegenwehr der Multitude, die im Rahmen dieser Untersuchung von Bedeutung sein soll, fassen Hardt und Negri unter »The Right to Reappropriation« (ebd.: 403-407) zusammen. Sie besteht, allgemein formuliert, in der Transformation des imperialen Bedeutungssystems und der Prägung neuer, gemeinschaftlicher Werte. Die Multitude repräsentiert für die Verfasser »die Vision eines gesellschaftsverändernden Potenzials und einer ›Macht von unten‹ […], die nicht mehr in der tradierten soziologischen Terminologie von Bevölkerung, Nation, Klasse, Schicht, Geschlecht oder anderen kollektiven Identitäten aufgeht.« (Pieper u.a. 2007: 9) Als inkludierende Vielheit, die keinesfalls mit einer uniformen Masse gleichzusetzen ist, sondern Individualität85 und Alterität hierarchiefrei anerkennt, während sie das Gemeinsame hervorhebt und produziert, hat die Multitude die Möglichkeit, spaltende und zugleich homogenisierende Kategorien wie jene des Volks abzulösen, und ist dergestalt entschieden demokratisch (vgl. Hardt/ Negri 2005: xi-xvi, 99-101). In der kritischen Rezeption der Texte Hardts und Negris warnte jedoch etwa Paulo Virno davor, die Menge als harmonisches Miteinander zu idealisieren. Vielmehr wohnen auch ihr die Ambivalenzen inne, die aus der Artikulation von »Einheit und Allgemeinheit« (Virno 2007: 36) sowie von individuellen Bedürfnissen und Gemeinwohl resultieren können. Die dahingehende Kritik Virnos und anderer erkennen Hardt und Negri in Commonwealth als wichtige, differenzierende Weiterentwicklungen ihres Konzepts an (vgl. Hardt/Negri 2009: 166-169).86 85
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Paolo Virno vertieft diesen konstitutiven Aspekt der Multitude unter Rückgriff auf den Prozess der Individuation, der von dem französischen Philosophen Gilbert Simondon geprägt wurde. Dieser psychologische Differenzierungsvorgang, bei dem »aus der gattungsmäßigen psychosomatischen Ausstattung menschlicher Lebewesen besondere und einzigartige Individuen werden«, ist nach Virno besonders geeignet, um die Menge als Vielheit von Singularitäten und insbesondere in Abgrenzung zu der »Myriade nicht individuierter Individuen« des Volks zu begreifen (beide Virno 2007: 36). In Commonwealth reagieren Hardt und Negri auf verschiedene Positionen, die am Konzept der Multitude Kritik üben (insbesondere Macherey, Laclau, Balibar, Badiou und Žižek) und einerseits die Möglichkeit sowie andererseits die konkrete Form des politischen Widerstands der Menge hinterfragen (vgl. Hardt/Negri 2009: 166-169). Mit Blick auf Hardts und Negris Entwurf der Menge schätzt Ruggiero Gorgoglione (2016: 166) die »fehlende Unterscheidung zwischen Analytik und politischer Strategie« als Schwachstelle in ihrer Argumentation ein, da ein konkretes politisches Projekt der Menge nicht herausgearbeitet werde, was jedoch der Fruchtbarkeit der Figur der Multitude mit Blick auf die zukünftige Überwindung exkludierender Identitätskonstruktionen und repressiver Dynamiken der Biomacht keinen Abbruch tue. Alex Demirović hebt hingegen hervor, dass ein anwendungsorientierter Ansatz nicht Hardts
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Die Menge soll sich also die vom Empire vereinnahmten Sphären der Sprache und Kommunikation, des Wissens, der Affekte, des politischen und gesellschaftlichen Werdens sowie der ökonomischen Produktion und der Arbeit wiederaneignen, um ihnen »equality and solidarity« (Hardt/Negri 2001: 406) einzuschreiben. Es geht darum, den produktiven und effizienten Imperativ der politisch-ökonomischen Dynamiken der imperialen Souveränität zu unterbrechen und alternative Wertvorstellungen des Kommunen zu etablieren. So schreibt Negri hinsichtlich der schwierig zu beantwortenden Frage nach einer konkreten Methode der Menge in ihrer Auseinandersetzung mit dem Empire: »Wie sieht die dieser Realität angemessene Methode aus? […] [E]ine mögliche Antwort [lautet]: sie tritt zutage, wenn das Nicht-Produktive auftaucht, […] in dem Moment, da das Einfangen des gesellschaftlichen Werts unterbrochen wird […] – dann, wenn der Wert seine gesellschaftliche, eigenständige Kraft demonstriert.« (Negri 2007: 22) Das Primat von Akkumulation und Effizienz soll von gemeinschaftlichen Kategorien angefochten werden, deren Wertigkeit nicht von den monetären Kalkulationssystemen des Empire, sondern von ihrer gesellschaftlichen Relevanz bestimmt wird. Auf einer globalen Ebene fiele hierunter bspw. das verstärkte Eintreten für die Idee des Gemeinguts87 als Gegenbewegung zu der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Güter und natürlicher Ressourcen (vgl. Hardt/Negri 2001: 300-303), wodurch sich eine Parallele zu der affirmativen Biopolitik Espositos (vgl. 2014: 69, Kapitel 2.4) ergibt. Im Hinblick auf den und die Einzelne*n könnte die Forderung nach der Unterbrechung des produktiven Imperativs, nach einer Aufwertung des Nicht-Produktiven zum Modus Operandi werden: Die Wiederaneignung des Rechts auf unwirtschaftliche Handlungen und Existenzweisen, die sich der biopolitischen Logik der Nutzbarmachung entziehen, sprich das Recht auf Kontingenz, Müßiggang, Träumereien, ziellose Kreativität sowie künstlerisches Schaffen – auf eben jene Tätigkeiten und Phänomene, welche die Vitalität des Lebens (vgl. Hardt/Negri 2001: 349f.) ausmachen – könnte Räume der Gegenwehr erschließen. Das Recht auf Weltbürgerschaft und Wiederaneignung und insbesondere die daraus resultierenden Phänomene des Nomadismus sowie der Umprägung des imperialen Wertesystems lassen somit neue Formen der Subjektivierung denken, die von den solidarischen Dynamiken der Menge ermöglicht und nicht vom Machtnetzwerk des Empire vorgeschrieben werden. Es handelt sich dabei erneut um das vorher angesprochene »Jenseits des Maßes«, um die Virtualität der Menge:
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und Negris Anspruch gewesen sei: »Das Buch Empire von Michael Hardt und Antonio Negri ist ausdrücklich theoretisch und politisch, denn die Autoren argumentieren weniger empirisch: Empire versteht sich als ein Beitrag zur politischen Philosophie und Theorie […] der Absicht nach handelt es sich also nicht um Gesellschaftstheorie.« (Demirović 2004: 235) Die Forderung nach einer solidarischen Verteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen und Reichtümern sowie nach einer Stärkung der Kategorie des Gemeinguts vertiefen Hardt und Negri in Commonwealth (2009).
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Gegen-Empire heißt Exodus und Ungehorsam: Es ist die Potenzialität des Lebens und der Subjektivität, es birgt die Produktion des Werts wie des Sinns, hier entsteht eine neue Begrifflichkeit und hier werden neue politische Erfahrungen hervorgebracht. […] Die Kämpfe werden zum Ausdruck der Potenzialität des Lebens. Sich widersetzen und produzieren, sich produzierend widersetzen und sich widersetzend produzieren: solcherart sind die Dimensionen dieser Potenzialität (Revel 2007: 251). Wie zuvor angedeutet, wurden Hardts und Negris Thesen auch kritisch rezipiert. Einer der wiederkehrenden Vorwürfe ist der, dass die von den Autoren vorgeschlagenen Strategien der Multitude zu abstrakt bleiben, womit ein konkretes politisches Projekt der Menge schwer zu denken sei. Inwiefern die hiesige Interpretation des Konzepts der Multitude dennoch für die Analyse literarischer Phänomene insbesondere in Migrationsliteratur fruchtbar gemacht werden könnte, wird, neben weiteren analytischen Perspektivierungen, im nächsten Kapitel ausgeführt.
2.6
Zu einer biopolitisch perspektivierten Literaturwissenschaft: methodologische Überlegungen
In diesem abschließenden Kapitel zu den theoretisch-kulturwissenschaftlichen Grundlagen der Untersuchung soll der Bogen zum analytischen Part der Arbeit geschlagen werden, indem die methodologische Anwendbarkeit der bisherigen Ausführungen für die literaturwissenschaftliche Analyse von Migrationsliteratur umrissen wird: Wie lassen sich Narrative von Mobilität auf der Folie der Thesen und Denkfiguren Foucaults, Agambens, Espositos sowie Hardts und Negris lesen? Wie kann Literatur die beschriebenen komplexen Dynamiken zwischen Leben und Politik bzw. Macht im Kontext fiktionaler Migrationsbewegungen auf der Textebene, d.h. durch ihre charakteristische Operativität, ins Werk setzen? Inwiefern agiert Literatur selbst als Dispositiv und ab welchem Punkt ist die Poetik der Texte nicht länger theoretisch greifbar? Diese und weitere Fragen werden im Fokus dieses Kapitels und der Analyse der fünf Korpuswerke stehen. Dafür sollen nachfolgend einführende Überlegungen den Weg zu einer biopolitisch perspektivierten Analyse von Migrationsliteratur ebnen. Hierzu werden die im Vorfeld konturierten theoretischen Konzepte und Ansätze jeweils hinsichtlich ihrer analytischen Anwendbarkeit auf der histoire- und der discours-Ebene betrachtet, wenngleich diese Textsphären freilich interagieren und nicht eindeutig zu trennen sind.
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2.6.1
Das fiktionale Migrationsdispositiv und die Ästhetik der Existenz nach Michel Foucault als Technik des Widerstands
Mittels der machtanalytischen Studien Michel Foucaults und insbesondere mit Hilfe des Dispositivbegriffs werden die komplexen Verflechtungen diskursiver und nicht-diskursiver Elemente und Relationen beschrieben, die in erzählten Migrationskontexten das biologische Leben verwalten, fördern oder regulieren. Auf einer Makroebene der Strukturen und Phänomene besteht das sogenannte, in der Analyse zu entwerfende Migrationsdispositiv bspw. aus Regierungen und deren Institutionen, politischen Programmen und Verordnungen, etwa der Einwanderungsgesetzgebung oder dem europäischen Grenzschutz, und entsprechenden legitimierenden Diskursen, wie jenem der inneren Sicherheit. Auf seiner Mikroebene umfasst besagtes Dispositiv die menschlichen Figuren, welche die besagten Bestandteile repräsentieren, z.B. Politiker*innen, Grenzschützer*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen, ebenso wie u.a. räumliche Einheiten, bspw. Abschiebegefängnisse und Auffanglager, sowie materielle Objekte, etwa Schrift- und Ausweisdokumente. All dies ist auf der histoire-Ebene vorhanden und drückt sich auf der discours-Ebene z.B. mittels einschlägiger Wortfelder und entsprechender Stilmittel aus. So spiegelt sich etwa die inhaltlich geschilderte Verwaltung des Lebens textuell in einer besonderen Verhandlung von Schriftlichkeit wider, nämlich in einer Häufung bürokratischer und rechtssprachlicher Fachausdrücke oder metasprachlichen Reflexionen zur Rechtsgültigkeit von Schriftdokumenten. Auch Verschiebungen und Umwälzungen in den fiktionalen Machtdynamiken, bspw. zwischen Disponierenden und Disponierten, können mit dem Dispositivbegriff gelesen werden. Die Netzstruktur des Dispositivs ist außerdem geeignet, um die strukturelle Gewalt (vgl. Galtung 1975) zu beschreiben, die in der Verwaltung des biologischen Lebens zu herrschen scheint und offenbar auch von den disponierenden Subjekten nicht kontrolliert werden kann. Um ein Gegengewicht zu den in den Texten dargestellten biopolitischen Machtdynamiken oder gar die Möglichkeit des Widerstands gegen sie auszuloten, wird der foucaultsche Begriff der ästhetischen Existenz88 herangezogen. Dieses Konzept, das hier der Kongruenz der Argumentation wegen nur als impulsgebender
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Foucaults Aussagen zur Ästhetik der Existenz fallen allesamt in sein Spätwerk und ihre wissenschaftliche Einordnung gestaltet sich aufgrund verschiedener Faktoren schwierig (vgl. Saar 2003: 277f.). Zum einen scheint die in der Rezeption oft als unvermittelt kategorisierte Hinwendung zu antiken Texten und dem ›Selbst‹ eine thematische Wende in Foucaults Denken darzustellen. Zum anderen sind seine Aussagen zu besagtem Thema in zahlreichen Artikeln und Interviews verstreut und haben, so Martin Saar, teils einen »okkasionelle[n] Charakter«, wirken eher »experimentell […] und zeitdiagnostisch […]« (ebd.: 277f.), als dass sie einer systematischen Theorie zu entstammen scheinen.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
Ansatz berücksichtigt werden kann, ist in der Forschung breit rezipiert und diskutiert worden (vgl. Saar, Menke u. Hesse 2003). Indem Foucault in der Hinwendung zu Biopolitik und Gouvernementalität verstärkt die aktive Seite von Subjektivierungsprozessen sowie die sogenannten Selbstpraktiken hervorhebt (vgl. Pieper 2007: 219-221), versteht er ästhetische Tätigkeiten des Subjekts als »Freiheit zur Selbstüberschreitung« (Muhle 2013: 264) sowie als ständige »Übung« (vgl. Menke 2003: 283) und somit als keinem externen Ziel dienend, »[d]enn ästhetische Tätigkeiten im Sinne Foucaults zeichnen sich […] dadurch aus, dass sie jedes im Voraus gesetzte telos übertreten hin auf etwas unbestimmt Anderes.« (Muhle 2013: 264) Die zwecklose Übung, worunter er interessanterweise auch das Schreiben fasst, wird bei Foucault zum »Medium der Konstitution von Subjektivität« (Menke 2003: 284): Aucune technique, aucun talent professionnel ne peuvent s’acquérir sans pratique; on ne peut pas davantage apprendre l’art de vivre, la tekhnê tou biou, sans une askêsis qui doit être considérée comme un apprentissage de soi par soi: c’était l’un des principes traditionnels auquel toutes les écoles philosophiques ont accordé pendant longtemps une grande importance. Parmi toutes les formes que prenait cet apprentissage (qui incluait les abstinences, les mémorisations, les examens de conscience, les méditations, le silence et l’écoute des autres), il me semble que l’écriture – le fait d’écrire pour soi et pour les autres – en soit venue à jouer un rôle important assez tardivement. (Foucault 1994c [1984]: 625) Die Gegenwehr des Lebens im System der Biomacht läge somit insbesondere in dessen Kontingenz, in solchen Tätigkeiten und Phänomenen, die den Logiken der Biopolitik widersprechen, indem sie nicht produktiv, nicht zielführend sind, keinem Gesetz der Steigerung und »keiner teleologischen Ordnung« (Menke 2003: 298) gehorchen, sondern schlichtweg Ausdruck der Lebendigkeit89 des und der Einzel89
Maria Muhle (2013) zeichnet eine Genealogie der foucaultschen Biopolitik basierend auf der Annahme, dass der zugrundeliegende Lebensbegriff maßgeblich auf der Rezeption Canguilhems basiere. In La connaissance de la vie (1992) setzt Canguilhem sich mit zweierlei Perspektiven auf die Wesenshaftigkeit und Ursprünge des Lebens auseinander (Vitalismus vs. Mechanismus) und prägt dabei unter Anerkennung der Kontingenz des Lebens, dessen spezieller Vitalität, den Begriff der vitalen Norm (vgl. Muhle 2013: 80-95). Dieser impliziert einen endlosen Zyklus, in dem sich das Leben zum Zwecke seiner Erhaltung und möglichst optimalen Entwicklung an einer von ihm eigens geschaffenen Norm orientiert. Diese wird jedoch aufgrund der intrinsischen Spontaneität des Lebens und zwecks Suche nach einer besseren Form der Existenz ständig hinterfragt und verworfen (vgl. Esposito 2004: 209f., Muhle 2013: 104107). Die Studien Canguilhems thematisieren somit u.a. die Individualität und Originalität des Lebens, dessen natürliche Dynamiken mit Gesetzmäßigkeiten nicht zu fassen sind, da sie die Normativität ständig durchbrechen und neue Normen generieren. Muhle zieht daher eine Parallele zwischen Canguilhems vitaler Norm, die in dem endlosen Zirkel von Normsetzung und deren Überschreitung eine »Dynamik ohne Ziel« bedeutet, und dem Begriff der ästhetischen Existenz Foucaults: »Die ästhetische Freiheit zur Selbstüberschreitung befindet
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
nen sind. Derartige ästhetische Tätigkeiten könnten insbesondere kreativer Natur sein und künstlerische Produktion bedeuten, aber ebenso das (Tag-)Träumen oder den Müßiggang, wie auch Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2001: 349f.) in ihrer Forderung der Wiederaneignung nicht-produktiver Tätigkeiten festhalten. Der Rückzug ins Selbst90 würde damit zur Weigerung, biopolitische Systeme und Dynamiken passiv hinzunehmen. In der vorliegenden literaturwissenschaftlichen Untersuchung schlägt sich dies auf der Ebene des Inhalts in entsprechenden Motiven, wie dem des Traums, nieder. Auf der Formebene werden bspw. ein vermehrtes Auftreten von interner Fokalisierung oder inneren Monologen sowie selbstreflexive Textstrategien mit der Figur der ästhetischen Existenz gelesen, etwa dann, wenn Figuren schreiben und in einer Art Mise en abyme zu Autor*innen werden. Auch auffällige Diskrepanzen, etwa zwischen der poetisch anmutenden Sprache einer Erzählinstanz und eher nüchternen Inhalten, z.B. dem Arbeitsalltag in einer Migrationsbehörde, werden als Ausdruck einer kreativen Gegenwehr betrachtet.
2.6.2
Die Denkfiguren Giorgio Agambens in der literaturwissenschaftlichen Analyse fiktionaler Migrationsphänomene
Die von Agamben neu semantisierte Unterscheidung zwischen einem politisch qualifizierten (bíos) und einem bloßen Leben (zoë), ergänzt durch Alessandro Dal Lagos Figur der non-persona, ermöglicht die Analyse der Figurenkonstellationen sowie der juristischen und sozialen Kategorisierung des menschlichen Lebens in fiktionalen Migrationsnarrationen. Obgleich die in Migrationsprozessen zu beobachtenden Relationen zwischen Leben und Macht bzw. Politik freilich zu komplex sind, um in kategoriale Raster eingeteilt zu werden, wird die Anwendung der unter 2.3 vorgestellten Konzepte im Rahmen dieser Studie zur Lesbarkeit der erzählten Verwaltung des Lebens beitragen. Lexikalisch spiegeln sich diese Dynamiken u.a. in einer desubjektivierenden und entindividualisierenden Semantik wider, welche die betreffenden Figuren als eine undifferenzierte Masse bloßen Lebens erscheinen
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sich in konzeptioneller Nähe zu der in dieser Arbeit in Anlehnung an Canguilhems reformulierten Vitalismus herausgestellten Normativität des Lebendigen.« (beide ebd.: 264) Auch Roberto Esposito rekurriert im Übrigen auf Canguilhems vitale Norm, um eine affirmative Biopolitik im Sinne einer Politik für das Leben zu denken (vgl. Esposito 2004: 207-211). Muhle weist darauf hin, dass derartige »sich voneinander abgrenzende, individuelle, private Freiheitsräume« (Muhle 2013: 266) kein kollektives, politisches Subjekt schaffen, das groß angelegte Projekte des Widerstands gegen die Biomacht denken ließe. Damit wären ihre Ausführungen an jene Espositos (vgl. 2.4) und Hardt/Negris (vgl. 2.5) anschließbar, die ebenfalls davon ausgehen, dass nur eine neue Form des Kommunen ein Gegengewicht zu biopolitischen Systemen bilden kann.
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
lässt. Mit Blick auf die discours-Ebene werden besagte Thesen Agambens außerdem genutzt, um die zu analysierenden Werke auf Textstrategien zu untersuchen, die als eine (Re-)Integration des nackten Lebens in die Sphäre des Politischen gedeutet werden. Für den italienischen Philosophen ist es nämlich insbesondere die Sprache, welche über den (einschließenden) Ausschluss des Lebens aus der pólis entscheidet: »Non è un caso, allora, se un passo della Politica situi il luogo proprio della polis nel passaggio dalla voce al linguaggio. Il nesso fra nuda vita e politica è quello stesso che la definizione metafisica dell’uomo come ›vivente che ha il linguaggio‹ cerca nell’articolazione fra phonē ́ e lógos« (Agamben 2005: 10f.). In dieser Hinsicht wird die Studie sich der Frage widmen, inwiefern Literatur einen intraliterarischen (Wieder-)Einschluss des nackten Lebens in die Sphäre des Politischen vollzieht, indem sie eben diesem bloßen Leben eine Stimme verleiht. Dies erfolgt etwa durch Erzählungen migrierender Figuren in der ersten Person, die als eine Art Zeugenbericht auch jene Seiten von Migrationserfahrungen beinhalten, die sonst ungehört bleiben und bspw. Migrationsursachen, den schweren Abschied von der Heimat oder die Strapazen der Reise betreffen. Im Hinblick auf die Interaktion von Literatur und außerliterarischer Realität stellt sich in diesem Punkt überdies die Frage, ob die Rezeption derartiger fiktionaler, jedoch repräsentativer Narrationen die Perspektive einer potenziellen Leserschaft auf die Themenkomplexe Flucht und Migration beeinflussen können. Auf der inhaltlichen Ebene der Texte werden mit Agamben, teils in Kombination mit anderen raumtheoretischen Figuren wie Augés Nicht-Orten (vgl. 1992) und Foucaults Heterotopien (vgl. 1994b, 2005), überdies lagerähnliche, topografische (vgl. Nitsch 2015) Dynamiken gelesen, etwa dann, wenn Charaktere, unter Berufung auf einen Ausnahmezustand, in marginalisierende, prekäre Räumlichkeiten verbannt werden, in denen rechtliche Normen suspendiert zu sein scheinen. Diese und ähnliche intraliterarische Phänomene können außerdem mit der von Agamben konstatierten, problematischen Bindung der Menschenrechte an das Konzept der Bürgerschaft interpretiert werden. Mit Agambens Erweiterung des foucaultschen Dispositivkonzepts gilt es weiterhin zu untersuchen, inwieweit das Migrationsdispositiv im Allgemeinen oder einige seiner Bestandteile im Speziellen tatsächlich Subjekte hervorbringen oder vielmehr, wie Agamben von modernen Dispositiven behauptet,91 desubjektivierend und gar spaltend wirken, sodass das Literarische sowohl als mediale Projektionsfläche eines solchen Mechanismus als auch als Ort einer neuen, literarischen
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Die Kategorisierung des Migrationsdispositivs als ein modernes bezieht sich hier auf die Aussagen von Hannah Arendt (vgl. 1986: 422f., 440-455) und Giorgio Agamben (vgl. 2005: 142145), nach denen insbesondere die Flüchtlingsbewegungen im Nachgang des Ersten Weltkriegs Fragen nach dem Umgang mit transnationaler Migration sowie nach der Unterscheidung zwischen Menschen- und Bürgerrechten aufwarfen.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Subjektivierung zu fungieren scheint. Die von Agamben bemerkte Disseminierung der Subjektkategorie drückt sich z.B. in einem vermehrten Auftreten desorientierter, resignierter sowie mental erkrankter Figuren und entsprechenden textuellen Dynamiken, bspw. in inkohärenten Narrationen aus.
2.6.3
Die Deutung fiktionaler Abschottungsphänomene und neuer Gemeinschaftsentwürfe mit Roberto Esposito
Unter Rückgriff auf Roberto Espositos Immunisierungsparadigma werden auf der inhaltlichen Textebene die Dynamiken gelesen, mit denen sich die fiktionale europäische Gemeinschaft in den fünf Korpuswerken gegen Migration als vermeintliche Bedrohung zu schützen sucht. Dies betrifft bürokratische Abläufe, bspw. die Beantragung eines Visums, ebenso wie den physischen Grenzschutz, etwa auf dem Mittelmeer und an den EU-Außengrenzen. In diesem Zusammenhang wird zu fragen sein, inwiefern diejenigen, die diese Mechanismen ausführen und verkörpern, z.B. die Grenzschützer*innen in Laurent Gaudés Eldorado oder die Mitarbeiterin der Migrationsbehörde in Shumona Sinhas Assommons les pauvres!, als personifizierte Immunisierungsdispositive betrachtet werden können und wie sich diese Tätigkeit ggf. auf ihre eigene Subjektivität auswirkt. Stellen sie Disponierende innerhalb des Migrationsdispositivs dar, die dessen Kräfte selbst nicht zu kontrollieren wissen? Werden sie zeitweise vom gemeinschaftlichen munus entbunden und erhalten juristische Immunität bzw. besondere Befugnisse, um ihre Berufe auszuüben? Im Gegensatz zu der im vorangehenden Absatz gedachten (Re-)Integration des nackten Lebens in die Sphäre des Politischen durch die (Wieder-)Aneignung des Worts wird umgekehrt eine Narration, die einseitig aus Perspektive der intraliterarischen Aufnahmegesellschaft erzählt wird und den Migrierenden somit das Wort entzieht, als formal-textueller Ausdruck von Immunisierungsdynamiken interpretiert werden. Mit Esposito werden außerdem die fiktionalen, aber auch die extraliterarisch realen Abschottungsdynamiken Europas als autoimmunitäre Krise gelesen, im Rahmen derer das sterben lassen, das »rejeter dans la mort« (Foucault 1976: 181) der Biopolitik auf dem Mittelmeer und anderswo mit dem Schutz der Gemeinschaft gerechtfertigt wird.
2.6.4
Die Ökonomisierung des Lebens in Migrationsliteratur und die Möglichkeit einer literarischen Multitude nach Michael Hardt und Antonio Negri
Michael Hardts und Antonio Negris Konzept des Empire wird in der Analyse Anwendung finden, um in Ergänzung zu Foucaults machtanalytischen Werkzeugen die in den Texten erzählte Überlagerung von Politik und Ökonomie sowie die Ökonomisierung des Lebens im Kontext von Migrationsbewegungen und als Migrations-
2. Theoretische Grundlagen: Biopolitik und Literaturwissenschaft
ursache zu beschreiben. Auf der histoire-Ebene der Texte wird damit etwa erklärt, weshalb die Mobilität von Migrant*innen oftmals von deren gesellschaftlichen und finanziellen Status, sprich von ihrem potenziellen Beitrag zur Ökonomie des Ziellandes abzuhängen scheint. In dem imperialen Imperativ der sozialen Segregation zeichnet sich bei Hardt und Negri nämlich ein Zusammenhang ab, der sich u.a. bereits im Titel von Shumona Sinhas Assommons les pauvres! andeutet und eine Korrelation zwischen Armut und Alterität beschreibt. Zentral für die vorliegende Untersuchung sind allerdings insbesondere das Konzept der Multitude als Paradigma einer affirmativen Biopolitik sowie Hardts und Negris These von der Migration als Akt des Empowerments und des Widerstands gegen die Machtdynamiken des Empire. Ist in den erzählten Migrationskontexten etwa die von den Autoren konzipierte Vielheit kreativer, schöpferischer Individuen zu erkennen, die mittels sozialer Interaktion und Kooperation neue Formen der Subjektivierung denken, um die imperiale globale Souveränität im Sinne einer solidarischen Gemeinschaft umzuprägen? The movements of the multitude designate new spaces, and its journeys establish new residences. Autonomous movement is what defines the place proper to the multitude. Increasingly less will passports or legal documents be able to regulate our movements across borders. A new geography is established by the multitude as the productive flows of bodies define new rivers and ports. […] Through circulation the multitude reappropriates space and constitutes itself as an active subject. (Hardt/Negri 2001: 397) Finden sich in den Texten bspw. Passagen, die in der ersten Person Plural erzählt werden und eine solidarische Gemeinschaft von Migrierenden implizieren oder multiperspektivische, narrative Mosaike, welche diverse sowie umfassende Perspektiven auf den Themenkomplex Migration bieten und somit einseitigen, simplifizierenden Diskursen widersprechen? Besondere Aufmerksamkeit verdient in dieser Hinsicht sicherlich die Tatsache, dass Hardt und Negri selbst auf Bachtins Studien zur Figur des Karnevals und sein Konzept der Polyphonie (vgl. Bachtin 1990 [1969]) verweisen, um die »logic of the multitude« (Hardt/Negri 2005: 211) zu veranschaulichen. Insofern wird Polyphonie in all ihren Facetten in der Analyse von Migrationsliteratur als textuelle Spur einer literarischen Multitude gedeutet, die z.B. Mehrstimmigkeit in der Erzählperspektive, eine fragmentierte und heterogene Werkstruktur, Metaliterarizität, intertextuelle Verweise und die Verwendung mehrerer Sprachen umfasst. Auch eine besondere Oralität der Texte bzw. eine Reflexion oraler Erzählformen wird als Ausdruck dieser polyphonen Multitude gelesen und in ein textuelles Spannungsverhältnis mit der eingangs erwähnten Thematisierung von Schriftlichkeit in der Verwaltung des biologischen Lebens treten. Die Anwendbarkeit der in diesem Kapitel skizzierten Interpretationsansätze wird in der Analyse der Korpustexte (Kapitel 5.) vertiefend ausgeführt. Dabei geht
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
es, wie in der gesamten Untersuchung, stets um die grundlegende Frage, was Literatur zu Diskussionen um aktuelle und drängende gesellschaftliche Fragestellungen, wie jener der global zunehmenden Migrationsbewegungen und ihrer biopolitischen Verwaltung, beitragen kann. Im Fazit (Kapitel 6.) wird diesbezüglich anhand der erlangten Ergebnisse u.a. die unten zitierte Einschätzung Catherine Mazaurics kommentiert, die unter Rückgriff auf Jacques Rancières Abhandlung zum Verhältnis von Literatur und Demokratie (vgl. Rancière 2007: 60-65) die Literatur dazu im Stande sieht, segregierende Mechanismen der Biopolitik mittels der fiktionalen Auslotung neuer Subjekt- und Gemeinschaftsentwürfe zu hinterfragen: Mais, si les fictions participent couramment au travail de cristallisation discursive des stéréotypes, elles forment aussi un lieu langagier de rencontre entre les réagencements qu’elles peuvent induire, et les capacités des sujets à ›se saisir de la puissance désincorporante des mots‹ […]. Le dispositif du biopouvoir, qui tranche et partage entre la communauté organisée et les figures ténébreuses de l’étranger, qu’il soit du dehors ou du dedans, pourrait ainsi être troublé par le recouvrement de cette capacité d’agir, lorsque, à travers le régime littéraire de la parole, s’engage une ›désincorporation‹ de l’alternative identité-altérité, ouvrant la voie à des formes de subjectivation tout à la fois ténues et indénombrables (Mazauric 2013: 76). Im folgenden Kapitel zum Stand der Forschung hinsichtlich biopolitisch perspektivierter literaturwissenschaftlicher Studien wird Mazaurics Aufsatz gemeinsam mit weiteren Publikationen vorgestellt, die im Rahmen der methodisch einschlägigen vorliegenden Untersuchung frankophoner Migrationsliteratur rezipiert wurden.
3. Forschungsstand
Im Folgenden werden zunächst einige literaturwissenschaftliche Studien kommentiert, auf welche die vorliegende Abhandlung in der Analyse der Werke Shumona Sinhas, Laurent Gaudés, Tahar Ben Jellouns, Delphine Coulins und ÉricEmmanuel Schmitts zurückgreift. Die Kapitel 3.1-3.5 sind dabei in alphabetischer Reihenfolge nach den Titeln der Korpustexte angeordnet. Da eine Vorstellung der gesamten verwendeten Sekundärliteratur zu den fünf Texten zu weit führen würde, werden hier die prägnantesten Interpretationslinien derjenigen Publikationen skizziert, deren Fragestellungen eine besonders ausgeprägte thematische Nähe zu der biopolitischen methodischen Ausrichtung dieser Untersuchung aufweisen. Daraufhin wird in Kapitel 3.6 eine überblicksartige Zusammenfassung wissenschaftlicher Veröffentlichungen verschiedener Fachrichtungen vorgenommen, die sich entweder Literatur im Allgemeinen, Migrationsliteratur im Speziellen oder realen Migrationsphänomenen mit Ansätzen der Theorie der Biopolitik widmen. Der so gewonnene Überblick zeugt von einer Forschungslücke: Eine biopolitisch perspektivierte Lektüre der in dieser Studie behandelten literarischen Werke wurde nämlich bisher, wie unten ausgeführt wird, lediglich in Ansätzen vorgenommen. Zwar beschreibt eine Reihe von Publikationen die Macht- und Exklusionsdynamiken, welche die Korpustexte im Kontext der politischen Verwaltung von Migrationsphänomenen literarisch ergründen. Jedoch rekurrieren die wenigsten Untersuchungen dabei explizit auf biopolitische Theorieentwürfe oder führen solche Impulse tiefergehend aus. Dies könnte u.a. der Tatsache geschuldet sein, dass es sich meist um Aufsätze und somit um Publikationen begrenzten Umfangs handelt, während es keine Monografien zu geben scheint, welche die ausgewählten Werke einer biopolitisch ausgerichteten Lesart unterziehen. Mit Blick auf Kapitel 3.6 ist allerdings festzustellen, dass vonseiten der Forschung bisher allgemein nur wenige Studien vorliegen, welche Migrationsliteratur auf der Folie der Theorie der Biopolitik lesen.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
3.1
Assommons les pauvres!, Shumona Sinha
Margarete Zimmermann (2015) und Brinda J. Mehta (2020) untersuchen verschiedene Dynamiken der Marginalisierung migrierter Figuren in Shumona Sinhas Assommons les pauvres!. Beide Verfasserinnen führen die in der Narration dargestellten ausschließenden Prozesse auf die geschilderte politische Regulierung von Migrationsphänomenen durch die Asylgesetzgebung zurück, doch keine verwendet die im theoretischen Teil dieser Abhandlung angeführten Theorien und Denkfiguren (z.B. Agambens inclusione esclusiva, vgl. 2.3.1, 2.3.2), um die spezifischen Funktionsweisen und literarischen Ausgestaltungen dieser Strukturen auszuloten. Lediglich Achille Mbembe wird von Mehta an einer Stelle zitiert (vgl. Mehta 2020: 94), ohne dass aber seine Reflexionen auf eine systematische Bearbeitung biopolitischer Themenkomplexe gebracht werden. Bishupal Limbu (2018) setzt sich unter Rückgriff auf Hannah Arendt mit der schwierigen Relationalität von Menschen- und Bürgerrechten auseinander, die in Sinhas Darstellung des Asylsystems literarisch ausgehandelt wird.1 Dabei kritisiert er insbesondere, dass das Zugeständnis eines Bleiberechts in den Asylanhörungen in Assommons les pauvres! ebenso wie in der extraliterarischen Asylgesetzgebung unmittelbar an persönliches Leid geknüpft ist, wodurch sich eine problematische Viktimisierung und eindimensionale Subjektivierung fiktionaler und realer Migrant*innen2 ergibt. Michel Foucaults Subjektbegriff und Dispositivkonzept werden von Limbu allerdings in der Analyse von Sinhas Text ebenso wenig angewendet wie Giorgio Agambens theoretische Anschlüsse an Arendt, obwohl diese die Lesbarkeit der beschriebenen Dynamiken als literarische Übersetzung politischer 1
2
Im Anhang der Reclam-Ausgabe von Hannah Arendts Wir Flüchtlinge (2016) stellt auch Thomas Meyer eine Verbindung zu Sinhas Autofiktion her, indem er Assommons les pauvres! als jüngeres Beispiel der Verfahrensweise Arendts bezeichnet, »Analyse und eigene Erfahrungen miteinander [zu] verbinden.« (Meyer 2016: 57) Den Hinweis verdanke ich Ursula Hennigfeld. In der vorliegenden Abhandlung werden migrierende und migrierte Figuren aus den analysierten Werken je nach Kontext u.a. als ›Migrant*innen‹, ›Einwander*innen‹, ›Asylsuchende‹ und ›Eingewanderte‹ bezeichnet. Die Begriffe ›Flüchtende‹ und ›Geflüchtete‹ werden in diesen Fällen bewusst nicht verwendet, um eine Bewertung von Flucht- und Migrationsursachen zu vermeiden. Johanna Barbro Sellman hält diesbezüglich fest, dass teilweise dafür plädiert wird, eher von ›gezwungener Migration‹ als von ›Flucht‹ zu sprechen, »since the category of the refugee has become embattled in a false binary of political vs. economic migration.« (Sellman 2013: 47) In Shumona Sinhas Assommons les pauvres! wird die Distinktion zwischen Migrant*innen und Flüchtenden insofern kritisch hinterfragt, als Hunger und lebensbedrohliche Armut durchaus als Fluchtursachen betrachtet werden können, im Gegensatz zu bspw. politischer oder religiöser Verfolgung gesetzlich aber nicht als solche erachtet werden. Für eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Figur des Flüchtlings u.a. unter Rückgriff auf Hannah Arendt und Giorgio Agamben sowie in bewusster Abgrenzung von undokumentierten Migrant*innen, siehe Schulze Wessel (2017).
3. Forschungsstand
Strukturen jenseits des vom Autor verfolgten narratologischen und rezeptionsästhetischen Vorgehens ermöglichen würden.
3.2
Eldorado, Laurent Gaudé
Stefan Müller (2010) stellt eine vergleichende Untersuchung des Topos des Mittelmeers in Laurent Gaudés Eldorado und anderen Romanen des französischen Autors an. Dabei setzt Müller einen besonderen Fokus auf Gaudés literarisches Verfahren der Mythisierung3 und verbindet dieses mit einer Analyse der Abschottung Europas gegen ungewollte Einwanderung in Eldorado. Dabei betrachtet er die fiktionalisierten Abschottungstendenzen weniger als politische Verwaltung von Migrationsbewegungen, sondern vielmehr vor dem Hintergrund des Identitätsbegriffs. Die Mythisierung des Mittelmeers in Gaudés Roman dient in diesem Zusammenhang laut Müller der Hinterfragung einer vermeintlichen kollektiven südeuropäischen Identität, die sich von anderen mediterranen Kollektiven und Räumen, insbesondere dem nordafrikanischen, abzugrenzen versucht. Hier scheint es sich anzubieten, mit Roberto Espositos Immunisierungsparadigma zu operieren, um die vom Verfasser beschriebenen Wechselwirkungen von Grenzschutz und Identitätskonstruktion unter Rückgriff auf ein theoretisches Modell zu deuten, das über die vornehmlich soziologische Lesart Müllers hinaus auch die dominant politische Komponente der erzählten Strukturen berücksichtigt. Überdies möchte die vorliegende Studie die mythisierende Darstellung des Mittelmeers in Eldorado als Beispiel einer Reihe von alternativen Beschreibungsmodi und literarischen Strategien begreifen, welche die ambivalenten Mechanismen der politischen Verwaltung von Migrationsphänomenen in den fünf untersuchten Texten zugleich hervorheben und deren Lesbarkeit steigern. Dounia Boubaker (2014) widmet sich der Figur des Vagabunden in verschiedenen Texten Gaudés, indem sie dieser eine transgressive Dimension beimisst, die mit den erzählten sanktionierten sozial-politischen Ordnungen bricht und sie infolgedessen in ihrem konstruierten Charakter entlarvt. Eine Lektüre der transgressiv-hinterfragenden Funktion des Vagabunden bzw. Migranten in Gaudés Werk mit Michael Hardt und Antonio Negri könnte diesen Ansatz bereichern. Eine solche Lesart könnte nämlich einerseits dabei helfen, die gouvernementalen Gründe für gewisse Normen und Ordnungssysteme zur Erhaltung der biopolitischen Produktivität des Lebens motivisch in die Analyse zu integrieren und andererseits erlauben, die politische agency von Migrierenden in den Texten unter den Stichworten Autonomie der Migration und Multitude weiterzudenken. 3
Eine umfassende Untersuchung des literarischen Verfahrens der Mythisierung nimmt Müller in einer Monografie (2018) anhand von Laurent Gaudés Dramen vor.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
3.3
Partir, Tahar Ben Jelloun
Nicoletta Pireddu (2009) vollzieht eine tiefgreifende und zahlreiche intertextuelle Verweise überzeugend bearbeitende Analyse der in Tahar Ben Jellouns Partir geschilderten Abschottungsmechanismen Europas gegen marokkanische und generell afrikanische Einwanderung. Dabei nimmt sie die erzählte bürokratisch-juristische Verwaltung migrierenden Lebens in den Blick, untersucht die schwierige Integration der eingewanderten Figuren in die fiktionale spanische Aufnahmegesellschaft anhand von Alessandro Dal Lagos Kategorie der non-persona und liest die Identitätsbrüche der Migrant*innen als Ausdruck der politischen Regulierung ihrer Migration mit Derridas Begriff des Spektralen. Allerdings greift Pireddu dabei nicht auf Theorien der Biopolitik zurück, obgleich eine Lektüre der beobachteten Machtdynamiken und Abgrenzungsphänomene mit Foucaults Ausführungen zur biopolitischen Regierung des Lebens oder Espositos Immunisierungsparadigma sich anbietet. Dal Lagos Konzept der non-persona verwendet die Verfasserin überdies lediglich in seiner sozialstratifikatorischen Semantik, die auf eine Diskrepanz zwischen dem legalen und dem sozialen Status einer Person verweist. Ebendiese Verbindung von juristisch-politischen und gesellschaftlichen Bedeutungsdimensionen birgt aber ein Potenzial, das es der vorliegenden Studie ermöglichen soll, Dal Lagos non-persona als eine verbindende Kategorie zwischen der juristisch-politischen Basis der Theorie der Biopolitik und den in den Texten erzählten, sozialen Auswirkungen dieser Strukturen zu denken. Ebenso widmet sich Søren Frank (2017) einer Lektüre der erzählten Abschottung Europas in Ben Jellouns Roman und beschreibt dabei detailliert die Funktionsweisen der dargestellten Grenzschutzmechanismen sowie die menschengemachte und zuweilen paradoxe Verfasstheit nationalstaatlicher Grenzen. Sein Artikel zielt nach Angaben des Verfassers allerdings primär darauf ab, Partir als Beispiel für das von ihm entworfene Subgenre der border literature zu lesen und die Charakteristika jener literarischen Kategorie zu skizzieren. Die vom Verfasser konstatierte Ambivalenz der in Ben Jellouns Roman erzählten Grenzdynamiken, im Zuge derer die Grenze etwa zugleich unsichtbar und allgegenwärtig wird, beschreibt Frank zwar im Hinblick auf das von ihm zu etablierende Genrekonzept, versucht aber nicht, deren Ursprünge zu erschließen. Die Dialektik von communitas und immunitas in Espositos Immunisierungsparadigma sowie die von allen unter 2. vorgestellten Theoretikern konstatierte paradoxale Verfasstheit der Biopolitik, die das Leben zugleich fördert und einschränkt, können hierzu geeignete Ansätze bieten.
3. Forschungsstand
3.4
Samba pour la France, Delphine Coulin
Die einzige Publikation, in der die biopolitische Dimension der erzählten Migrationsprozesse explizit erwähnt wird, ist Catherine Mazaurics (2013) Analyse von Delphine Coulins Samba pour la France und anderen französischsprachigen Romanen, die Migrationen schildern. So liest sie in ihrem Artikel die Exklusionsmechanismen, mit denen sich Coulins Protagonist als illegal Eingewanderter konfrontiert sieht, als Ausdruck einer Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen im sozialphilosophischen Sinne, die sich nur vor dem Hintergrund des Konzepts der Biomacht vollständig verstehen lässt. Gleichzeitig gesteht die Verfasserin literarischen und allgemein künstlerischen Produktionen über die diskursive Sensibilisierung für Stereotype, die Dekonstruktion binärer Schemata und den Entwurf alternativer Subjektivierungen ein Potenzial zu, die segregierenden Wirkweisen der Biomacht zu unterminieren. Punktuell scheint Mazaurics Studie jedoch eine Lesart zu entwickeln, welche literarische Werke, die Migration zum inhaltlichen Gegenstand haben, in die Nähe einer littérature engagée rückt, deren Konturen theoretisch unscharf bleiben. Der biopolitische Ansatz wird in ihrer Untersuchung somit nicht dezidiert als interpretatorisches Werkzeug in der Analyse formaler wie inhaltlicher Textphänomene verwendet, sondern bleibt nur eine Art Grundtenor ihrer Deutung. Die vorliegende Studie betrachtet die biopolitische Perspektive hingegen als furchtbares Verfahren, um ausdrücklich jenseits einer vermeintlichen Intention der Autor*innen die spezifischen textuellen Charakteristika und Dynamiken zu deuten, die sich in der literarischen Thematisierung von Migrationsbewegungen in den untersuchten Werken manifestieren. Während Mazaurics Analyse überdies ausschließlich migrierende Figuren in den Fokus nimmt, möchte die in dieser Abhandlung vorgenommene Lesart den biopolitischen Ansatz nutzen, um auch die Einbindung von Charakteren der fiktionalen Aufnahmegesellschaft in die Machtstrukturen des zu entwerfenden Migrationsdispositivs zu analysieren, denn die Theorie der Biopolitik geht davon aus, dass grundsätzlich jedes biologische Leben politisch verwaltet, gesteuert und reguliert wird.
3.5
Ulysse from Bagdad, Éric-Emmanuel Schmitt
Sämtliche im Rahmen dieser Untersuchung rezipierten Publikationen zu ÉricEmmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad beschäftigen sich vorrangig mit der markanten intertextuellen Beziehung zu Homers Odyssee. Zwar halten bspw. Simões Marques (2014) und Thomas Schmitz (2019) fest, dass die mythischen Herausforderungen, denen Odysseus sich in der Odyssee stellen muss, von Schmitt in die politisch-juristischen Herausforderungen übersetzt werden, mit denen Migrant*innen sich heute durch die politische Verwaltung ihres Lebens konfron-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
tiert sehen. Allerdings greifen sie nicht auf die Theorie der Biopolitik zurück, um die gesteigerte Steuerung des biologischen Lebens zu deuten, die in Schmitts fiktionaler Auseinandersetzung mit Migration zum Ausdruck kommt. Der in dieser Untersuchung verwendete Ansatz soll es nämlich u.a. ermöglichen, die markanten Bezüge zur Odyssee in Ulysse from Bagdad in den größeren Kontext eines umfassenden literarischen Verfahrens zu stellen, im Zuge dessen die intertextuelle Beziehung zu Homers Epos zum einen als alternatives Deutungsmuster des erzählten, ambivalenten Umgangs biopolitischer Systeme mit Migrationsbewegungen gelesen wird. Zum anderen kann Schmitts intertextuelle Anlehnung an die Odyssee mit einer solchen theoretisch-methodologischen Ausrichtung als der Versuch betrachtet werden, die politisch geförderte Norm der Sesshaftigkeit durch die Assoziation von Migrationsbewegungen mit einer der Urerzählungen der Menschheit zu hinterfragen und Migration somit als ursprüngliches, natürliches Phänomen zu betrachten.
3.6
Theoretische und literaturwissenschaftliche Ansätze zu Migration und Biopolitik
Wie sich abzeichnet, vollzieht keine der bisher genannten Publikationen eine systematische Lektüre der erzählten Machtdynamiken und vorhandenen Textphänomene in den fünf Korpuswerken mit den Konzepten und Theorien Michel Foucaults oder den neueren Anschlüssen von Giorgio Agamben, Roberto Esposito oder Michael Hardt und Antonio Negri, obgleich sich gerade der biopolitische Ansatz in der Deutung auch literarisch dargestellter Migrationsphänomene anzubieten scheint. Eine Vielzahl von Forschungen verschiedener Fachrichtungen – u.a. der Soziologie, sowie der Politik- und Rechtswissenschaften – verwendet nämlich die Theorie der Biopolitik, um die politische Verwaltung realer Migrationsdynamiken in diversen territorialen und politischen Kontexten zu untersuchen. Als Beispiele seien hier der Stringenz der Argumentation wegen lediglich die Studien von Pinkerton (2019) und Gebhardt (2020) erwähnt. Der Soziologe Patrick Pinkerton deutet die politischen Reaktionen Europas und insbesondere Deutschlands auf die sogenannte Flüchtlingskrise im Jahr 2015 unter Rückgriff auf die Überlegungen und Denkfiguren Foucaults und Agambens, während die Politikwissenschaftlerin Mareike Gebhardt hierzu Foucaults Begriff der Biomacht mit Achille Mbembes Konzept der nécropolitique und Judith Butlers Ausführungen zur Sichtbarkeit prekären Lebens in der öffentlichen Wahrnehmung miteinander in Dialog setzt. Umso erstaunlicher scheint es, dass literarische Werke, die von Migrationsphänomenen handeln, vonseiten der Literaturwissenschaften bislang offenbar nur in wenigen Veröffentlichungen umfassend unter Rückgriff auf die Theorie der Biopolitik gedeutet wurden. So verwendet etwa Dima Barakat Chami (2019) in ih-
3. Forschungsstand
rer Dissertation die Ansätze von Foucault, Agamben, Esposito und insbesondere Mbembe, um die Relationalität von Migration und Subjektivierung in vier zeitgenössischen Romanen aus Nigeria und Zimbabwe zu lesen. In einer weiteren Dissertation greift Johanna Barbro Sellman (2013) auf die Ausführungen Foucaults und Agambens zurück, um die Darstellung Europas aus der Sicht von Migrant*innen und Geflüchteten in sechs Romanen der arabischen und nordafrikanischen Gegenwartsliteratur zu untersuchen.4 Sellman bezeichnet die Theorie der Biopolitik gar als »an ideal theoretical approach« für die Analyse von Migrationsliteratur, »because it postulates a link between state management of populations and the regulation of belonging and exclusion in political community.« (beide Sellman 2013: 5) Es fällt allerdings auf, dass keine der beiden Publikationen auf Hardt und Negri rekurriert, obwohl insbesondere Sellman die Auswirkungen des Entstehens globaler Märkte und Warenflüsse auf Migrationsphänomene und Migrationsliteratur betrachten möchte (vgl. ebd.: 42f.). Auch in einigen Aufsätzen kommen biopolitische Ansätze in der Analyse von literarischen Werken zum Einsatz, die Migration thematisieren. So verwendet Frank Leinen (2020) die Schriften Foucaults, Arendts, Agambens und Espositos, um Javier de Isusis grafische Erzählung Asȳlum (2017 [2015]) biopolitisch auszulegen und Federica Marzi (2013) deutet unter Rückgriff auf Foucaults Schriften Migrationsbewegungen und literarische Produktionen von Italiener*innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland einwanderten, in einer biopolitischen Lesart. Ist die Anzahl wissenschaftlicher Studien, die speziell literarische Erzählungen von Migration systematisch mit der Theorie der Biopolitik rezipieren also überschaubar, so ist in den letzten Jahren ein Anstieg solcher Publikationen zu verzeichnen, welche die Biopolitik allgemein als theoretischen Rahmen literaturwissenschaftlicher Untersuchungen verwenden bzw. eine gezielte Erforschung des Lebensbegriffs durch die Literaturwissenschaften fordern. Da die Anzahl kommentierter Veröffentlichungen an der Stelle begrenzt werden muss, werden nachfolgend einige ausgewählte Monografien und Sammelbände angeführt. Zunächst ist hier der von Wolfgang Asholt und Ottmar Ette herausgegebene Sammelband Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft (2010) zu nennen, in dem in rund zwanzig Beiträgen das Verhältnis von Literatur und Leben ausgehandelt wird. Zum Zwecke einer Aktualisierung der geisteswissenschaftlichen Forschung fordert Ette, dass die Geistes- und insbesondere die Literaturwissenschaften eine bewusste Hinwendung zum Lebensbegriff vollziehen, bevor dieser im Kontext der life sciences eine semantische Reduktion auf seine rein biologischen Implikationen erfährt: »Mir scheint es […] an der Zeit […] zu sein, daß sich die Literaturwissenschaften als Lebenswissenschaften begreifen und im Sinne einer geisteswissenschaftlichen
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In ihrem Korpus findet sich allerdings kein Roman von Tahar Ben Jelloun.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Grundlagenforschung nach dem Nutzen und dem Nachteil der Literaturwissenschaften für das Leben fragen.« (Ette 2010: 14) Ette zitiert u.a. Agambens Neusemantisierung der aristotelischen Unterscheidung von bíos und zoë, um zu verdeutlichen, dass die life sciences sich traditionell mit dem rein biologischen, sprich dem bloßen Leben befassen, wohingegen die Literatur sich dem Leben in seiner gesamten Komplexität widme (vgl. ebd.: 20f.). So schreibt Ette der Literatur aufgrund ihres experimentellen Charakters (vgl. ebd.: 26f.) ein gesteigertes Potenzial zu, einen Beitrag zum Zusammenleben aller Menschen (vgl. ebd.: 31-35) und insbesondere zum Miteinander »verschiedenster Kulturen in Differenz und gegenseitiger Achtung« (ebd.: 13) zu leisten. Die Verhandlung von Lebenswissen sei in der Literatur schließlich immer schon in »je spezifische multi-, inter-, und transkulturelle Kontexte [eingebunden]« und dies umso mehr in »jenen translingualen literarischen Ausdrucksformen, die man als Literaturen ohne festen Wohnsitz begreifen kann« (beide ebd.: 29). Somit scheint Ette eine literaturwissenschaftliche Hinwendung zum Lebensbegriff gerade mit Blick auf die literarische Schilderung von Mobilität sowie im Kontext auch extraliterarischer Phänomene der gesellschaftlichen Hybridisierung und Transkulturalisierung als besonders fruchtbar zu betrachten. Eine dezidierter biopolitisch ausgerichtete Literaturwissenschaft skizziert Vittoria Borsò (2010b) in dem von Asholt und Ette herausgegebenen Band, sowie in der Einleitung eines von ihr selbst in Zusammenarbeit mit Michele Cometa herausgegebenen, thematisch einschlägigen Sammelbands (2013), unter dem Begriff der ›Bio-Poetik‹ – wobei sie diesen allerdings explizit von dem primär in der USamerikanischen Forschung verbreiteten Konzept der biopoetics (vgl. Cometa 2013: 171-194) abgrenzt. Während Ette in seinen Ausführungen noch nicht von einem »lebenswissenschaftlichen turn der Literaturwissenschaften« (Ette 2010: 16) sprechen möchte, könnte nach Borsò im Zuge eines »biocultural turn der Literaturwissenschaften« (Borsò 2013: 27) die Ästhetik von Texten sowohl im Hinblick auf die Darstellung und textuelle Materialisierung von »Produktionsprozessen politischer und ökonomischer Lebensformen« (ebd.: 28) als auch mit Blick auf Brüche und Möglichkeiten des Widerstands untersucht werden (vgl. ebd.: 29). In ihrem Beitrag in Ettes und Asholts Sammelband erprobt Borsò diesen Ansatz anhand einer Lektüre von Flauberts Madame Bovary, da dieser Roman besonders deutlich zum Ausdruck bringe, dass Literatur ein Wissen über das Leben generiert. Dieses Wissen betrifft sowohl die Biopolitik, das heißt die sozialpolitischen, juristischen, kulturellen, ökonomischen und wissenschaftlichen Formen, die das Leben verwalten, als auch die Potentialität des Lebens zur ›Anarchie‹ gegenüber diesen Formen. Tatsächlich ließen sich eine Reihe von Aspekten des Romans kommentieren, die eine Kritik der Verwaltung und Steuerung des Lebens durch die Techniken von Wissenschaft, Politik, Religion, Literatur und Kultur im weitesten Sinne vollziehen. (Borsò 2010b: 229)
3. Forschungsstand
In der Einleitung des von ihr und Cometa rund drei Jahre später herausgegebenen Bands pflichtet Borsò überdies interessanterweise den oben zitierten Positionen Ettes bei, wenn sie in Ankündigung einiger Beiträge, darunter der oben erwähnte von Marzi, gerade Migrationsphänomene und deren literarische Thematisierung als geeignete Gegenstände für eine biopolitische und bio-poetische Betrachtung nennt, da insbesondere eine »bio-poetische Analyse« vor Augen führen könne, »dass die Literatur in eine Reihe fester, blockierter und allgemeiner Bilder eingreift, um andere, mobile und vielfältigere Darstellungen hervorzubringen.« (beide Borsò 2013: 29) Für die Romanistik und Germanistik ist in der Reihe biopolitisch perspektivierter literaturwissenschaftlicher Studien weiterhin Hubert Thürings Das Neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik (1750-1938) (2012) zu nennen, in dem der Verfasser ausgewählte Werke Goethes, Lenzʼ, Leopardis, Nietzsches und Glausers mit den Theorien Foucaults und Agambens analysiert. Diese Lesart erscheint dem Autor insofern besonders fruchtbar, als auch die Literatur sich im Zuge der generellen Hinwendung der Wissenschaften zum Leben »in ihrem innersten Wesen verändert« und »überhaupt erst das sie kennzeichnende Selbstverständnis eines autonomen Mediums erlangt« (beide Thüring 2012: 12) habe. In seiner Methode verschränkt Thüring naturwissenschaftliche und philosophische Diskurse um den Lebensbegriff mit kulturwissenschaftlichen und poetologischen Ansätzen, um das Verhältnis von Literatur und Leben in einer Untersuchung ausgewählter Texte der oben genannten Autoren auszuloten. In ähnlicher Manier verwendet der USamerikanische Literaturwissenschaftler Arne de Boever (2012, 2013) in gleich zwei Monografien verschiedene Ansätze der Biopolitik, darunter Agambens Konzepte des nackten Lebens, des Lagers und des Ausnahmezustands, in der Analyse einer Reihe anglophoner Romane. Während in seinem ersten Buch die Denkfigur des Ausnahmezustands als Grundlage der Lektüre von post-9/11-Romanen zum Einsatz kommt, verfolgt der Autor in der zweiten Monografie das Ziel, unter dem Schlagwort narrative care die Zusammenhänge zwischen der Geschichte des Romans als Genre, dem zeitgenössischen Roman und »care« (de Boever 2013: 2) im Sinne der politischen Verwaltung des Lebens auszuarbeiten. Ebenfalls in der anglophonen Literaturwissenschaft verwendet Christopher Breu (2014) die Theorien Foucaults, Agambens, Espositos, Hardts und Negris sowie Mbembes um das Verhältnis von Materialität, Körperlichkeit und Biopolitik in fünf englischsprachigen Romanen zu erforschen. In der germanistischen Forschung werden insbesondere die Werke Franz Kafkas und Friedrich Nietzsches in verschiedenen Studien unter Anwendung biopolitischer Ansätze gelesen. So untersucht Markus Jansen (2012) mehrere Texte Kafkas u.a. mit Hilfe der Theorien Michel Foucaults und Giorgio Agambens. Obgleich Jansen im Vorwort seines Buchs konstatiert, dass einige Schriften Kafkas, darunter Der Prozeß (2000), »sich gegen den biopolitischen Zugriff [sperren]« (Jansen 2012:
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
10) würden, geht der Verfasser später nicht widerspruchsfrei immerhin so weit, den Protagonisten Josef K. als eine Art Inbegriff des von Agamben definierten homo sacer zu bezeichnen (vgl. ebd.: 382f.), was in der Analyse eines intertextuellen Verweises in Shumona Sinhas Assommons les pauvres! in Kapitel 5.1.1.2 vertieft werden wird. Der von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner herausgegebene Sammelband Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka (2008) widmet sich indes einer biopolitisch perspektivierten Lektüre verschiedener Texte beider Autoren. Insbesondere das Aufkommen des Wohlfahrtsstaats, die wissenschaftlichen und epistemologischen Umbrüche ihrer Zeit, die sich als Massenmedium durchsetzende Presse sowie die zunehmende Alphabetisierung und damit einhergehende gesteigerte Relevanz des schriftlichen Dokuments wirkten sich den Herausgebern zufolge nämlich direkt auf das literarische Tun Kafkas und Nietzsches aus (vgl. Balke/Vogl/Wagner 2008: 7f.): »[D]ie […] Problematik des Verhältnisses von Biopolitik und Schriftverkehr erweist sich […] als poetologisch virulent, insofern sich eine Reihe spezifischer Schreibverfahren und Schreibstrategien unmittelbar mit ihr verknüpfen lassen« (ebd.: 8). Eine Erhebung und Deutung eben solcher textueller Verfahren in der literarischen Reflexion von Migrationsprozessen führt die vorliegende Untersuchung in den Kapiteln 5.1.3 und 5.1.4 durch, um die Relationalität von Sprache bzw. Schrift und Leben im Migrationsdispositiv auszuloten. Für das Verhältnis von Literatur und Leben konstatiert Vogl überdies in seinem Beitrag: »Literatur und Leben treffen sich im Gemeinsamen der Form. Poetische Form und Lebensform haben eine Geschichte, in der sich die Differenzierung der einen im Unterschied der anderen – und umgekehrt – wiederholt« (Vogl 2008: 21). Ändern sich die Formen des Lebens, so ändern sich demnach ebenso jene der Literatur. Vogl prägt diesbezüglich den Begriff des bio-graphein, der sowohl das Schreiben über Biopolitik auf der Ebene des Inhalts als auch biopolitisch auslegbare Schreibverfahren auf der Formebene (im Sinne des Stils und der Medialität) zu umfassen scheint, und die Wechselwirkungen zwischen der realen, zunehmenden politischen Verwaltung des Lebens und den literarischen Produktionen, die diese aufgreifen, zu beschreiben versucht. Eine Gegenüberstellung von Vogls biographein und Borsòs Ansatz der Bio-Poetik scheint insofern vielversprechend. Allerdings werden beide Konzepte in den erwähnten Beiträgen eher skizziert als ausführlich entworfen und ein der Analyse dieser Studie vorangehender, theoretischer Anschlussversuch würde zum einen mit Blick auf die Argumentation zu weit führen und könnte zum anderen die Gefahr bergen, die Texte ausschließlich im theoretischen Raster der Biopolitik zu betrachten. Stattdessen kann der analytische Part dieser Untersuchung insofern als kompatibel mit den Ausführungen Borsòs und Vogls gesehen werden, als eine textimmanente Analyse der ausgewählten Werke von Sinha, Gaudé, Ben Jelloun, Coulin und Schmitt allgemein markante textuelle Verfahren aufdecken und deuten soll, die sich in der literarischen Reflexion von
3. Forschungsstand
Migrationsphänomenen manifestieren und teilweise biopolitisch gelesen werden können, aber einen solchen theoretischen Rahmen gleichzeitig ständig hinterfragen und literarisch überschreiten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es in der literaturwissenschaftlichen Forschung keine umfangreichen Studien zu geben scheint, welche die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte einer systematischen, biopolitisch ausgerichteten Lektüre unterziehen. Generell gibt es offenbar nur punktuell Untersuchungen, und insbesondere wenige umfangreiche Publikationen, die den biopolitischen Ansatz als theoretisches Werkzeug in der Deutung literarischer Werke einsetzen, welche von Migration handeln. Grundsätzlich scheint das Interesse an der Theorie der Biopolitik in den Geistes- und speziell in den Literaturwissenschaften aber zuzunehmen, womit sich ein wachsendes und hoch aktuelles Forschungsfeld abzeichnet. In diesem Feld möchte sich die vorliegende Studie ansiedeln, indem sie die Themenkomplexe Literatur, Migration und Biopolitik in einer umfassenden, methodisch interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Untersuchung von fünf frankophonen Texten in einen fruchtbaren Dialog setzt.
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4. Vorstellung des Korpus
Nachfolgend werden die fünf untersuchten literarischen Werke in alphabetischer Reihenfolge nach ihren Titeln kurz vorgestellt. Da die Auswahlkriterien für das Korpus bereits in der Einleitung geschildert wurden, soll es hier in Vorbereitung der Analyse vornehmlich um Inhalt und Publikationskontext der vier Romane und von Shumona Sinhas Autofiktion gehen. Die Einordnung von Assommons les pauvres! wird dabei länger ausfallen, da die Gattungsfrage sich in diesem Fall komplexer gestaltet. Shumona Sinhas Assommons les pauvres! ist 2011 bei den Éditions de l’Olivier erschienen. Die Erzählung handelt von einer jungen Frau, die als Übersetzerin von Asylanhörungen in einer Pariser Migrationsbehörde und vor Gericht arbeitet. Ihr Arbeitsalltag belastet die Protagonistin und Ich-Erzählerin zunehmend: Ihre schwierige Mittlerrolle zwischen den Sachbearbeiter*innen der Migrationsbehörde und den migrierten Antragsteller*innen, ihr ständiges Schwanken zwischen Mitleid und Ablehnung gegenüber den Asylsuchenden, die in der Hoffnung auf ein Bleiberecht teils frei erfundene Geschichten von Verfolgung vortragen, sowie schließlich ihr eigener Migrationshintergrund und die damit einhergehenden Fremdheitserfahrungen stürzen die Frau in eine psychische Krise. Auf dem Gipfel dieser Krise greift sie in der Metro unvermittelt einen Eingewanderten an und zerschlägt eine Weinflasche auf seinem Kopf. Während sie durch den Polizeibeamten Monsieur K. verhört wird, versucht die Protagonistin, ihre Tat zu rechtfertigen und dabei selbst nachzuvollziehen, wie es so weit kommen konnte. In der Sekundärliteratur finden sich divergierende Aussagen bezüglich des Genres von Sinhas Buch. Allerdings thematisieren alle im Rahmen dieser Studie rezipierten Publikationen Parallelen zwischen Sinhas Biografie und jener der namenlosen Erzählerin.1 Auch die vorliegende Untersuchung kommt auf Basis 1
Anne-Marie Picard bezeichnet Assommons les pauvres! mehrfach als »autofiction« (Picard 2012: 186, 187) und die Protagonistin als »autofictional subject« (ebd.: 193). Die Verfasserin hebt verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen der Autorin und ihrer Hauptfigur hervor, darunter die Anstellung als Übersetzerin im Pariser Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (OFPRA), die Sinha nach Erscheinen ihres Buchs verlor (vgl. ebd.: 188, 194). Alison Rice (vgl. 2014: 214) kategorisiert Sinhas Text zwar als Fiktion, stellt aber ebenfalls fest, dass die Autorin
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
der literaturwissenschaftlichen Analyse zu dem Schluss, dass Assommons les pauvres! sich in seiner speziellen, heterogenen Verfasstheit nicht uneingeschränkt in herkömmliche Gattungsbegriffe einordnen lässt. Unter den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Konzepten scheint die Autofiktion (vgl. Doubrovsky 1977: Paratext, Gasparini 2008: 15, 69f.) allerdings jenes zu sein, das Sinhas Text am ehesten zu beschreiben in der Lage ist, wie nachfolgend erläutert werden soll. Der Paratext2 des Buchs ist hinsichtlich der Gattungsfrage nur teilweise aufschlussreich, da sich dort keine gattungsspezifischen Hinweise, etwa die Worte roman oder autobiographie, finden. Dafür erhält die Leserschaft über eine Kurzbiografie Informationen über die Autorin, die sie im Verlauf der Lektüre mit der erzählenden Hauptfigur in Verbindung bringen wird. Biografische Parallelen zwischen Shumona Sinha und der autodiegetischen Protagonistin des Textes sind objektiv vorhanden und werden in der Forschung entsprechend thematisiert (vgl. Zimmermann 2015: 93, 96, 97, Picard 2012: 186, 194): Beide teilen ihre indische Herkunft, das Exil in Paris sowie eine Leidenschaft für Sprache und Literatur (vgl. Sinha 2012: Paratext, 15). Wie ihre Protagonistin hat Sinha bereits in Indien eine Faszination für Frankreich entwickelt, nachdem sie die Chroniken des bengalischen Autors Sunil Gangopadhyay gelesen hatte, die wöchentlich in einer lokalen Zeitung Kalkuttas erschienen (vgl. Simon 2011). Auch die Tätigkeit als Übersetzerin bei einer Migrationsbehörde ist Schriftstellerin und Figur gemeinsam – eine Tatsache, welche die Autorin besagte Anstellung gekostet hat (vgl. Zimmermann 2015: 97, Simon 2011) – ebenso wie die legale Einreise nach Frankreich. Sinha ist 2001 im Rahmen eines Programms der französischen Botschaft nach Paris gekommen, die in Indien um Englischlehrer*innen für den Unterricht an französischen Schulen warb (vgl. Simon 2011). Sinhas Erzählerin und Hauptfigur schildert dem Polizeibeamten Monsieur K. während ihres Verhörs, dass sie aus Liebe zur französischen Sprache und
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autobiografische Elemente in ihr Werk einfließen lässt. Brinda J. Mehta spricht in ähnlicher Manier von Assommons les pauvres! als »semiautobiographical […] novel« (Mehta 2020: 86). Margarete Zimmermann verwendet in ihrer Untersuchung zunächst gattungsneutrale Bezeichnungen wie »récit« (Zimmermann 2015: 93, 95), »texte« (ebd.: 95, 97, 99) oder »livre« (ebd.: 95, 96). Gleichzeitig stellt aber auch sie Parallelen zwischen Erzählerin und Autorin her und konstatiert eine Art Überlagerung beider Stimmen in einem »›je féminin‹« (ebd.: 96). Erst im vierten Teil ihres Aufsatzes bemerkt Zimmermann beinahe beiläufig, dass Sinhas Text eine autofiktionale Schreibweise aufweist, wobei die von der Verfasserin beobachtete Ambiguität von Assommons les pauvres! sie allerdings von einer eindeutigen Kategorisierung abzuhalten scheint: »À cela vient s’ajouter une forte ambigüité de l’auteure à l’égard de l’écriture autofictionnelle, ambigüité qui s’est du reste soldée par son licenciement à l’OFPRA« (ebd.: 97). Für eine Auseinandersetzung mit dem Paratext als Bestandteil eines Werks siehe auch Gérard Genette (1987).
4. Vorstellung des Korpus
Literatur nach Frankreich kam (vgl. Sinha 2012: 15) und berichtet von einer weitgehend unbeschwerten ersten Zeit in ihrer neuen Heimat, was auf eine geregelte Einreise schließen lässt (vgl. ebd.: 45f.). Trotz dieser biografischen Überschneidungen bleibt die Protagonistin und Erzählerin von Assommons les pauvres! aber anonym. Sie ist ein namenloses Je, womit der Leserschaft kein Pakt (vgl. Lejeune 1975: 15) angeboten wird, der die Einheit der Identität von Autorin, Erzählerin und Hauptfigur garantiert. Ähnliches gilt für die Handlungsorte, denn Indien, Frankreich, Paris und das Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (OFPRA) werden nur indirekt erwähnt oder umschrieben, jedoch nicht beim Namen genannt, wie in Kapitel 5.3.2.1 ausgeführt wird. Diese Umstände sprechen gattungstheoretisch gegen eine Einordnung als Autobiografie aber widersprechen stricto sensu auch einer Kategorisierung von Assommons les pauvres! als Autofiktion, denn auch hierfür ist die gemeinsame Identität von Autor*in, Erzähler*in und Protagonist*in notwendig (vgl. Gasparini 2004: 12). Hinzu kommt, dass das Je der Erzählerin während einiger, durchaus längerer Passagen einem neutralen Erzählstil weicht und bspw. Einzelschicksale von Migrant*innen schildert, wodurch der für eine Autobiografie typische Fokus auf das Leben einer Einzelperson abgeschwächt wird. Gegen eine eindeutige Klassifizierung als Autobiografie spricht neben der Anonymität der Hauptfigur und dem zeitweisen Rückzug der Ich-ErzählerinProtagonistin zudem der heterogene Stil des Buchs. Die von Sinha verwendete Sprache oszilliert nämlich zwischen so verschiedenen Attributen wie gewaltvoll, poetisch, düster, philosophisch, analytisch und ironisch (vgl. 5.1.4.1, 5.2.1.1), was den Text weiteren Gattungen zu öffnen scheint. Teilweise finden sich in Sinhas Buch sogar Passagen, die übernatürlich, traum- oder wahnähnlich anmuten, durch die Erzählerin aber nicht als solche deklariert werden und das Lesepublikum hinsichtlich ihres intradiegetischen Realitätsgehalts ratlos zurücklassen. Eine solche stilistische Diversität wirkt ungewöhnlich für eine Autobiografie und gilt im Rahmen dieser Untersuchung als Hauptargument dafür, Sinhas Werk als autofiktional zu klassifizieren. Denn in Anlehnung an Gasparini, der die Autofiktion als »lieu d’incertitude esthétique« und »espace de réflexion« (beide Gasparini 2008: 7) beschreibt, scheint dieses Konzept, das ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Autobiografischem und Fiktionalem lexikalisch im Namen trägt, dem Text am ehesten gerecht zu werden.3 Obgleich diese Studie Assommons
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Yves Baudelle schlägt in dieser Hinsicht etwa vor, roman autobiographique und Autofiktion anhand des quantitativen Verhältnisses von Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Baudelle argumentiert, dass in der Autofiktion biografische Elemente dominieren und die Erzählung nur punktuell fiktionale Elemente enthalte, während im roman biographique die Fiktion überwiege und von biografischen Anteilen gespickt sei (vgl. Baudelle 2003: 8).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
les pauvres! also als Autofiktion betrachtet, kann diese Kategorisierung keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen, da Sinhas Text sich in seiner hybriden Verfasstheit einer gattungstheoretischen Einordnung zu entziehen scheint, was in der Analyse als ein allgemeines Plädoyer für Hybridität gelesen wird. Überdies wirkt es, als reklamiere die Erzählung, trotz aller biografischer Parallelen, durch das Auslassen von Eigennamen und die Integration einer Vielzahl individueller Migrationserfahrungen eine repräsentative Funktion. Eldorado, der vierte Roman des Goncourt-Preisträgers Laurent Gaudé, ist 2006 bei Actes Sud erschienen und behandelt Migrationsbewegungen aus Afrika in Richtung Europa aus zwei gänzlich unterschiedlichen Perspektiven. Salvatore Piracci, der erste von zwei Protagonisten, arbeitet als Kapitän für die italienische Küstenwache und erlebt die menschlichen Tragödien, die sich regelmäßig auf dem Mittelmeer ereignen, aus nächster Nähe. Seine Aufgabe und die seiner Besatzung besteht darin, Boote mit illegalen Migrant*innen an Bord vor der Küste abzufangen und Schiffsbrüchige zu retten, welche die Mittelmeerüberquerung in meist seeuntauglichen Booten wagen, um sie daraufhin der Polizei zu übergeben. Eines Tages sucht ihn eine Frau auf, die er gemeinsam mit weiteren Migrant*innen vor dem Tod auf hoher See bewahrt hatte. Zwei Jahre nach ihrer flüchtigen Begegnung erzählt die Frau dem Kapitän ihre Geschichte und bittet ihn um eine Waffe. Sie will nach den einstigen Schleppern suchen und den Tod ihres kleinen Sohns rächen, der die Überfahrt nicht überlebte. Ohne sich seiner Motivation gänzlich bewusst zu sein, kommt der Kapitän ihrer Bitte nach. Unter dem Eindruck dieser Begegnung beginnt Piracci, über seine Tätigkeit als Kommandant der Küstenwache nachzudenken und seine Funktion in der europäischen Migrationspolitik zu hinterfragen. Ein weiterer Vorfall wird sein Leben endgültig aus den Fugen bringen: In einem dramatischen nächtlichen Einsatz auf stürmischer See können der Kapitän und seine Crew nur einen Teil der Menschen ausfindig machen, die von Schleppern in Rettungsbooten auf dem Meer ausgesetzt worden waren. Sie senden über das Schiffshorn einen letzten Salut an diejenigen, die sie der tobenden See überlassen müssen und steuern schweren Herzens mit den Geretteten die Insel Lampedusa an. Aus Angst, in seine Heimat zurückgeführt zu werden, bittet einer der Migranten den Kapitän, ihn in dessen Kabine zu verstecken und ihn nicht den Behörden zu übergeben. Piracci lehnt die Bitte aus Pflichtgefühl zunächst ab, bevor er sich letztlich entscheidet, dem Mann Zuflucht zu gewähren. Doch sein Sinneswechsel erfolgt zu spät: Das Schiff hat den Hafen erreicht und die Migrant*innen werden der Polizei übergeben. Nach diesen Erlebnissen zweifelt Kapitän Piracci endgültig an seinem Beruf. Sein Leben erscheint ihm leer, seine Aufgabe als Wächter der Festung Europa fragwürdig und sinnlos. In dieser Lebenskrise verbrennt er seine Papiere, wird zum Staatenlosen und entscheidet, die Überquerung des Mittelmeers in die entgegengesetzte Richtung zu vollziehen, um zu verstehen, was die
4. Vorstellung des Korpus
Menschen erlebt haben, denen er auf See begegnet war. In Libyen trifft er auf Migrant*innen und Schlepper*innen und stirbt unerwartet bei einem Verkehrsunfall. Der zweite Erzählstrang handelt von dem Sudanesen Soleiman, der zunächst mit seinem Bruder Jamal die gemeinsame Heimat mangels Perspektiven verlässt, um nach Europa zu gelangen. An der Grenze zu Libyen gesteht Jamal seinem Bruder, dass er todkrank ist und ihn nicht wird begleiten können. Er ist nur bis nach Libyen mitgereist, um wenigstens einmal in seinem Leben eine Grenze zu passieren und sein Land zu verlassen. Soleiman führt die Reise allein fort und schwört sich, es nach Europa zu schaffen, um dort Arbeit zu finden und die Medikamente seines Bruders bezahlen zu können. Unterwegs trifft er den einige Jahre älteren Boubakar, der ihn davon überzeugt, nicht die libysche Küstenstadt Al-Zuwarah aufzusuchen, um von dort aus die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu riskieren, sondern stattdessen mit ihm nach Marokko zu reisen, um die spanische Enklave Ceuta zu erreichen. Die beiden beschließen, ihre Reise als Weggefährten fortzusetzen und gelangen letztendlich an die marokkanisch-spanische Grenze bei Ceuta. Nach Monaten des Wartens in der Nähe der Grenzanlage wagen sie mit hunderten weiteren Menschen den Ansturm auf die Enklave und schaffen es nach brutalen Auseinandersetzungen mit der Guardia Civil, die Zäune zu überwinden. Soleimans Geschichte endet mit seiner Ankunft auf europäischem Boden. Die Leserschaft erfährt nicht, ob er zu den wenigen gehören wird, die in Europa tatsächlich ein neues Leben beginnen können oder ob er in seine Heimat abgeschoben wird. Tahar Ben Jellouns Roman Partir ist ebenfalls 2006 erschienen und handelt von dem vierundzwanzigjährigen Marokkaner Azel, der trotz eines Hochschulabschlusses in Rechtswissenschaften in seiner Heimat keine Arbeit findet und mangels Perspektiven nach Spanien auswandern möchte. Sein zunehmend obsessiver Wunsch, Marokko zu verlassen, wird wahr, als der wohlhabende homosexuelle Miguel Gefallen an Azel findet und ihm anbietet, in Barcelona für ihn zu arbeiten. Wohl ahnend, was Miguel im Gegenzug von ihm erwartet, akzeptiert Azel das Angebot und wandert nach Spanien aus. Doch das ersehnte neue Leben entpuppt sich als bittere Enttäuschung. Der sich nicht als homosexuell verstehende Azel leidet immer mehr unter der Beziehung mit Miguel sowie unter einer doppelten Entfremdung, verursacht durch das Verlassen seiner Heimat und die Unmöglichkeit, sich in Spanien zu integrieren. Der/Die Leser*in wird Zeug*in von Azels graduellem Abstieg: Nach dem Bruch mit Miguel und einem kurzen Dasein als Kleinkrimineller in den Ghettos der Stadt, findet der Protagonist schließlich auf tragische Weise den Tod. Wenngleich Azel Protagonist der Narration ist, werden neben seiner Geschichte auch jene weiterer Marokkaner*innen erzählt, die von einem besseren Leben in Europa träumen: »Ce texte-polyphonie renferme une mosaïque d’individus marginaux qui […] ne veulent plus vivre au Maroc« (Urbani 2016: 476). Dazu zählen etwa Azels Schwester Kenza, die von ihrem dürftigen Gehalt als Krankenpflege-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
rin den Lebensunterhalt für sich, ihren Bruder und die Mutter bestreitet, Azels Geliebte Siham, die davon träumt, wie ihre Schwester Altenpflegerin in Europa zu werden sowie die kleine Malika, die in einer niederländischen Fabrik in Tanger Meeresfrüchte für den europäischen Markt schält und an einer Lungenentzündung stirbt, bevor sie ihren Traum von der Ausreise verwirklichen kann. Neben Miguel, der ebenfalls eine zentrale Rolle im Roman einnimmt, kommen zahlreiche sekundäre Charaktere hinzu, die zu Azels Umfeld in Marokko oder Spanien gehören. Die Geschichten jener Männer und Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Hintergründe, die über ihre Beziehung zum Protagonisten lose miteinander verbunden sind, ergeben einen querschnittartigen Einblick in die komplexen soziokulturellen und politischen Probleme Marokkos und die damit einhergehenden Ausreisemotive sowie in verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche Migrationserfahrungen. Die Figurenkonstellation in Partir ist insofern relational angelegt (vgl. Zdrada-Cok 2010: 47) und führt die diversen Einzelgeschichten zu einem Kollektiv zusammen, das sich um das repräsentative Schicksal des Hauptcharakters organisiert.4 Samba pour la France, erschienen 2011 bei den Editions du Seuil, ist der dritte Roman der Autorin und Filmemacherin Delphine Coulin. Das Buch handelt von dem titelgebenden Protagonisten Samba, der kurz nach dem Abitur seine Heimat Mali verlässt, um in Europa den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, nachdem sein Vater bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Nach drei missglückten Versuchen schafft Samba es schließlich im vierten Anlauf bis nach Paris, wo er fortan bei seinem Onkel Lamouna lebt. Nach zehn Jahren in der französischen Hauptstadt beantragt Samba einen dauerhaften Aufenthaltstitel und ist optimistisch, da er seit seiner Ankunft in Paris arbeitet und Steuern zahlt. Doch als Samba sich in einer Polizeipräfektur nach dem Status seines Antrags erkundigen möchte, erfährt der Protagonist, dass dieser abgelehnt wurde. Samba wird unverzüglich festgenommen und in eine Abschiebehaftanstalt gebracht. Dort lernt er eine Frau kennen, die ehrenamtlich bei einer Nichtregierungsorganisation arbeitet, die Migrant*innen berät. In den Gesprächen mit dieser Frau erzählt Samba in Vorbereitung seines Widerspruchs gegen die Ablehnung seines Antrags seine Geschichte. Tatsächlich erhält die Hauptfigur vor Gericht Recht und darf die Abschiebehaftanstalt verlassen. Es liegt jedoch weiterhin eine Ausreiseaufforderung gegen ihn vor und Samba lebt nunmehr illegal in Frankreich. Dieser Zustand verunsichert den Protagonisten zutiefst und er lebt in der ständigen Angst, abgeschoben zu werden. Zeitweise kann
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In dieser Hinsicht ist interessant, dass Magdalena Zdrada-Cok Tahar Ben Jellouns Partir gemeinsam mit den thematisch verwandten Romanen L’homme rompu (1994) und Au Pays (2009) als Trilogie versteht, in der jedes Werk ausgehend von einem für seine Generation prototypischen Charakter die Frage nach der marokkanischen Identität zwischen Tradition, Moderne und Migration verhandelt (vgl. Zdrada-Cok 2010: 46).
4. Vorstellung des Korpus
Samba mit der geliehenen Aufenthaltserlaubnis seines Onkels und einer weiteren, die er einem entfernten Bekannten stiehlt, arbeiten, doch der Identitätsschwindel täuscht ihn nur kurz über seinen prekären Status hinweg. Samba verfällt in eine Depression und als er durch unglückliche Umstände in den Unfalltod seines Bekannten Jonas verwickelt wird, sieht er keinen anderen Ausweg, als sich das Leben zu nehmen. Samba und sein Onkel, der enttäuscht vom Leben in Frankreich inzwischen ebenfalls schwer depressiv ist, überleben nur knapp den Brand, den sie in der gemeinsamen Wohnung legen. Nach diesem Ereignis entscheidet Lamouna, endlich die ersehnte Rückkehr nach Mali anzutreten. Samba jedoch bleibt in Europa. Kurz vor der Auseinandersetzung mit seinem Bekannten Jonas, die zu dessen Sturz in die Seine führen sollte, hatten die Männer ihre Jacken getauscht, da Samba fror. Die beiden werden daraufhin von den Behörden verwechselt, als sie Jonas’ Leiche bergen und aufgrund der Papiere, die sie in seiner Jacke finden, davon ausgehen, dass es sich um Samba handelt. Samba hingegen findet nach dem Brand in der geliehenen Jacke Jonasʼ Portemonnaie und nimmt dessen Aufenthaltserlaubnis an sich, um mit einer anderen Identität erneut zu versuchen, sich in Europa ein Leben aufzubauen. Delphine Coulin hat Politikwissenschaften studiert, arbeitete selbst als Ehrenamtliche in der Nichtregierungsorganisation Cimade und ließ die dort geführten Gespräche mit Migrierten und Geflüchteten in die fiktive Geschichte Sambas einfließen (vgl. Dumontet 2011). Samba pour la France wurde von Olivier Nakache und Eric Toledano (vgl. 2014) für das Kino adaptiert. Der erfolgreiche Film, mit Omar Sy und Charlotte Gainsbourg in den Hauptrollen, weicht in seiner Handlung allerdings von der Romanvorlage ab und wurde, wohl zu Unterhaltungszwecken, teils entdramatisiert. Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad ist 2008 bei Albin Michel erschienen und erzählt die moderne Odyssee des jungen Irakers Saad Saad, der über Irrund Umwege Großbritannien erreicht, wo er ein neues Leben beginnen und arbeiten möchte, um seine Familie im Irak zu unterstützen. Die Familie hatte bereits jahrelang unter dem Regime Saddam Husseins und den internationalen Sanktionen gegen den Irak gelitten, als Saad im Zuge des Irakkriegs und der Besatzung durch die USA seinen Vater, mehrere Nichten, einen Neffen sowie mehrere Schwager verliert. Außerdem glaubt er zunächst, auch seine Verlobte Leila sei durch eine Bombe ums Leben gekommen, was sich später jedoch als Irrtum herausstellt. Als verbleibendes männliches Familienmitglied versucht er, im kriegs- und krisengebeutelten Irak den Lebensunterhalt aller zu bestreiten, bis seine Mutter ihn dazu auffordert, ins Ausland zu gehen, um dort Geld zu verdienen. So reist Saad in Begleitung des Gespenstes seines verstorbenen Vaters über Saudi-Arabien, Ägypten, Libyen, das Mittelmeer, Malta, Italien und Frankreich nach London. Seine Migration ist dabei eng an Homers Odyssee angelehnt: Saad erlebt Schiffsbruch, begegnet im übertragenen Sinne Lotophagen, Zauberinnen, Sirenen und Zyklopen und be-
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sucht ein Reich der Toten, als er sich in Nordfrankreich in einem seit dem Ersten Weltkrieg unbewohnten Dorf aufhält. Saads Geschichte endet kurz nach dessen Ankunft in London. Obwohl sein neues Leben sich ganz anders gestaltet, als er es sich erhofft hatte – er teilt sich ein Dreibettzimmer mit fünf weiteren Männern und hat Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden – hat Schmitts Protagonist die Hoffnung nicht aufgegeben, sich in England nach und nach eine Existenz aufzubauen. Der im Rahmen dieser Studie verwendeten Auflage von Ulysse from Bagdad (vgl. Schmitt 2016), hat Éric-Emmanuel Schmitt ein journal d’écriture beigefügt, in dem er den Entstehungsprozess des Textes sowie dessen Rezeption kommentiert. Der Autor berichtet dort u.a., wie er sich im Rahmen der Recherchen für den Roman mit Migrant*innen aus diversen Ländern unterhielt und dass der Name seines Protagonisten von einer dieser Personen inspiriert ist.
Teil 2: Biopolitische Dispositive in frankophoner Migrationsliteratur
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens im Rahmen von Migrationsprozessen
Migration bedeutet nicht allein Bewegung im Raum, nicht einen bloßen Ortswechsel. Es handelt sich vielmehr um ein Phänomen, dessen Verlauf und Ausgang von den vielfältigen Machtdynamiken abhängen, im Rahmen derer es sich ereignet. Von den Motiven, die Heimat zu verlassen, über die eigentliche Reise bis hin zur Ankunft am Zielort und der Integration in die Aufnahmegesellschaft, erfolgt der Migrationsprozess in einem Netz von Kräften und Akteuren, welche diesen auf einer Mikro- und einer Makroebene steuern. Die beteiligten Parteien, womit nicht nur spezifische Personen(gruppen), sondern auch abstrakte Entitäten gemeint sind, haben dabei verschiedene biopolitische Interessen um die Förderung, Ökonomisierung oder Begrenzung von Migration und wirken über diskursive sowie nicht diskursive Maßnahmen auf das Leben der Migrierenden und Eingewanderten ein. Migrationsphänomene werden damit zum Gegenstand diverser Elemente wie legitimierender und diskreditierender Rhetoriken, Normen und Wissensordnungen, Gesetzgebungen, staatlicher Institutionen, illegaler Organisationen und physischen Grenzschutzes. Der folgende analytische Teil der vorliegenden Abhandlung unternimmt eine Deutung der literarischen Darstellung eines Teils dieser biopolitischen Dynamiken in den fünf untersuchten Werken unter Zuhilfenahme der zuvor dargelegten theoretisch-kulturwissenschaftlichen Theorien und Denkfiguren. Die machtanalytischen Ausführungen Michel Foucaults und die Konzepte Giorgio Agambens, Roberto Espositos sowie Michael Hardts und Antonio Negris sollen in den folgenden Kapiteln angewandt werden, um die literarische Verhandlung biopolitischer Strukturen im Kontext fiktionaler Migrationsphänomene herauszuarbeiten. Der hieraus entstehende Entwurf eines Migrationsdispositivs orientiert sich dabei im methodischen Vorgehen insofern an der foucaultschen Denkfigur, als sich die Analyse um die vier zentralen Begriffs- und Themenkomplexe Macht, Subjekt, Schwelle und Alterität gliedert, unter denen die diskursiven und nicht diskursiven Elemente des Kräftenetzes gebündelt werden, in dem die erzählten Migrations-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
bewegungen sich ereignen. Dabei legt die Untersuchung in der Betrachtung der biopolitischen Machtströme innerhalb des literarisch entworfenen Migrationsdispositivs einen besonderen Fokus auf jene Phänomene und Kräfte, die das Dispositiv von innen heraus unterminieren und seine Verfahrensweisen hinterfragen. Widerstände und Umwälzungen der Machtverhältnisse im Kontext der politischen Verwaltung von Migration können sich gemäß der Natur des Dispositivs an jedem Ort eines Kräftenetzes ergeben, weshalb die Analyse kein eigenes Kapitel zu dieser Thematik vorsieht, sondern die intraliterarische Widerständigkeit des Lebens in allen vier Begriffskomplexen beschreiben möchte. Überdies zeichnet das Dispositiv sich durch eine dynamische Struktur mit Verwerfungen und Verflechtungen aus, sodass es durch die Relationalität und Reziprozität seiner Bestandteile auch in deren Analyse zu Überschneidungen kommen kann. Die Phänomene, die unter den oben genannten Begriffskomplexen Macht, Subjekt, Schwelle und Alterität beschrieben werden, interagieren miteinander, bedingen und beeinflussen sich wechselseitig, sodass ihre Kategorisierung und Aufschlüsselung keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Gleichwohl ist es eben jene Variationsfähigkeit, die das Potenzial dieses methodischen Modells ausmacht. Das beschriebene Vorgehen soll es in den nächsten Kapiteln erlauben, eine möglichst umfassende Analyse der literarischen Darstellung biopolitischer Dynamiken im Zuge von erzählten Migrationsbewegungen vorzunehmen. Darüber hinaus soll gerade in Bezug auf die spezifischen formal-stilistischen Ausprägungen dieser Art von Literatur diskutiert werden, inwiefern ein Text selbst biopolitisch verfasst sein und somit zu einem Dispositiv werden kann. In dieser Hinsicht zeichnet sich ab, dass den untersuchten Werken auf verschiedenen Ebenen eine markante, produktive Heterogenität gemeinsam ist, welche die Ambivalenz biopolitischer Prozesse textuell zu reflektieren scheint, wobei mit ›Reflexion‹ sowohl die Artikulation bzw. Spiegelung dieser Phänomene als auch deren kritische Hinterfragung gemeint ist: Einerseits wirkt es, als stünde die heterogene Werkhaftigkeit der Texte in Diskrepanz zu der für die biopolitische Verwaltung des Lebens typischen, und gerade im Kontext von Migrationsbewegungen zentralen Bedeutung von Gesetzmäßigkeiten und steuernden Kategorisierungen. Andererseits ist die Theorie der Biopolitik, wie in den Kapiteln zur theoretisch-kulturwissenschaftlichen Grundlage der Untersuchung gezeigt wurde, selbst eine Theorie der Schwelle und in der hybriden literarischen Ergründung biopolitischer Fragestellungen scheint eben dieser schwellenartige Charakter biopolitischer Gegebenheiten durch textuelle Ambivalenzen reproduziert und diskutiert zu werden. Wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, sprengen die behandelten Werke literaturwissenschaftliche Kategorien und literarische Grenzen und greifen auf alternative Beschreibungssysteme zurück, um diese Umstände in der fiktionalen Thematisierung des politischen Einflusses auf Migrationsphänomene zu beschreiben. Die so realisierte textuelle Vielfalt könnte als Ausdruck einer literarischen Multitude gedeutet werden, sprich als
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
heterogene, lose Vernetzung produktiver literarischer Phänomene, die als Dispositiv ein Gegengewicht zu den erzählten Kräften der Biopolitik darstellen und neue, intraliterarisch-ästhetische Verhandlungsräume erschließen.
5.1
Machtverhältnisse und epistemische Strukturen im Migrationsdispositiv
5.1.1
Die strukturelle Gewalt der Biopolitik: Die Macht des Staatsapparats über das Subjekt
5.1.1.1
Machtmissbrauch und biopolitisches Versagen als Migrationsursachen
In der literarischen Darstellung von Migrationsphänomenen kann zuweilen der Eindruck entstehen, dass die negativen Effekte von Biopolitik, wie etwa Giorgio Agamben sie beschreibt und analysiert (vgl. 2.3), in der politischen Steuerung des individuellen und kollektiven Lebens überwiegen. In Tahar Ben Jellouns Partir zeigt sich allerdings besonders prägnant, dass die Abwesenheit biopolitischer Versorgungsstrukturen und Schutzmechanismen sowie staatliches Versagen in der Förderung des menschlichen Lebens ebenfalls verheerende Konsequenzen haben und zu Migrationsursachen werden können (vgl. Norgaisse 2020: 191, Wihtol de Wenden 2016: 9). So argumentieren in der Forschung gleich mehrere Autor*innen, dass der Protagonist Azel sich aufgrund seiner schwierigen sozialen und finanziellen Situation bereits in Marokko wie im Exil fühlt. Schon in seiner Heimat ist er eine sozial benachteiligte, marginalisierte non-persona (vgl. Dal Lago 2012: 9, 207) oder, wie Bernard Urbani (2016: 477) schreibt »[un] jeune homme vulnérable, déjà apatride«. Azel leidet unter seiner Erwerbslosigkeit sowie unter der Tatsache, dass seine Schwester den Lebensunterhalt der Familie sichert. Entsprechend desillusioniert blickt er auf sein Leben: »J’ai vingt-quatre ans, je suis diplômé, j’ai pas de boulot, pas d’argent, pas de voiture, je suis un cas social« (Ben Jelloun 2007: 41). Seine Position am unteren Rand der marokkanischen Gesellschaft lässt die Hauptfigur zunehmend obsessiv davon träumen, ihre Heimat zu verlassen. Ajah und Babatunde halten unter Bezug auf Homi Bhabhas Terminus unhomeliness1 fest: Inherent in Azel’s demoralizing and disenchanting dialogue is a socio-economic melancholy of Moroccan youths, who already have exilic experience in their 1
In seinem Essay The World and the Home beschreibt Homi Bhabha in Anlehnung an Freuds Ausführungen zum Unheimlichen (vgl. Freud 2020 [1919]) den Zustand der unhomeliness als eine postmoderne Entfremdung, die durch eine Auflösung der Grenzen zwischen der Intimität des Heims und der Offenheit der restlichen Welt ausgelöst wird und dazu führt, dass das Subjekt sich in seinem zu Hause nicht länger daheim fühlt (vgl. Bhabha 1992: 141).
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
homeland. Unemployment, inflation, poverty and insecurity are sources of internal exile in a homeland. Internal exilic experience results from and leads to Moroccans’ sensitivity of homelessness or unhomeliness and high mobility in Ben Jelloun’s work (Ajah/Babatunde 2008/09/10: 192). Ahmed Idrissi Alami wertet in dieser Hinsicht Azels häufige Träumereien (vgl. Ben Jelloun 2007: 16, 46f., 49f.) als Flucht aus der Realität sowie als Symptom einer bereits in Marokko manifesten Entfremdung gegenüber seinem Umfeld: »Such a rendition of external reality is not simply an act of altering external phenomena, but can also be read as indication of Azel’s severe estrangement from his local indigenous reality« (Idrissi Alami 2013: 11). Nicoletta Pireddu verwendet Alessandro Dal Lagos Konzept der non-persona, um damit den Schwellenzustand zu beschreiben, in dem Azel und seine Schwester sich in Spanien befinden. Wie in Kapitel 5.2.1.2 ausgeführt wird, sind die beiden nämlich trotz ihrer regulären Aufenthaltstitel in sozialer Hinsicht keine vollwertigen, integrierten Bürger*innen, sondern aufgrund ihrer Herkunft weiterhin gesellschaftlichen Marginalisierungsprozessen ausgesetzt (vgl. Pireddu 2009: 28). Beginnt Azels Exil aber mangels Perspektiven und gesellschaftlicher Teilhabe bereits in der Heimat, so kann auch dies mit Dal Lagos Begriff der non-persona gedeutet werden, da eine Diskrepanz zwischen dem juristischen und dem sozialen Status der Figur entsteht. Zwar ist Azel marokkanischer Staatsbürger, doch scheint er, wie viele seiner Landsleute, für den Staat quasi nicht zu existieren, da ihm der Aufbau einer Existenz in seinem Heimatland strukturell nicht ermöglicht wird. An zahlreichen Stellen wird in Partir darauf hingewiesen, dass der marokkanische Staat nicht in der Lage ist, ausreichend für seine Bürger*innen zu sorgen und seinen biopolitischen Pflichten nachzukommen, sodass Menschen betteln und Kinder in Abfällen nach Essbarem suchen müssen (vgl. Ben Jelloun 2007: 52). Zwar gibt es wohlhabende marokkanische Figuren, wie den Schleuser Al Afia (vgl. ebd.: 18f.) oder El Haj (vgl. ebd.: 38f.), die es ob ihrer guten finanziellen Situation nicht nach Europa zieht, doch die Mehrheit der Figuren in Azels Umfeld leidet unter verschiedenen Formen der Vernachlässigung seitens des Staats, »cette terre qui ne veut plus de ses enfants« (ebd.: 25). Azel findet trotz seines Abschlusses in Rechtswissenschaften keine Anstellung, da er sich weigert, an der grassierenden Korruption in seinem Land teilzuhaben (vgl. ebd.: 19f., 24) und seine Schwester kann die Familie von ihrem mageren Gehalt als Krankenschwester kaum unterhalten, obwohl ihr Vorgesetzter ein Vermögen erwirtschaftet. Das Gehalt im Gesundheitssektor ist gar so niedrig, dass einige von Kenzas Kolleginnen sich gezwungen sehen, sich zu prostituieren (vgl. ebd.: 36f.) und die Krankenhäuser sind in einem derart schlechten Zustand, dass man hoffen muss, niemals krank zu werden: »Nos hôpitaux sont dans un tel état qu’il faut prier pour que jamais un bon musulman ne soit obligé d’y mettre les pieds.« (ebd.: 75) Als die schwerkranke Malika von ihrer älteren
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Schwester in ein Krankenhaus gebracht wird, bestätigen sich die dramatischen Verhältnisse im Gesundheitssystem. Selbst im Krankenhaus kann Bestechung des Personals die Wartezeit verringern und der junge Arzt träumt davon, in einem gut ausgestatteten Krankenhaus in Norwegen zu arbeiten, denn in Marokko gibt es »trop de malades et pas assez de moyens« (ebd.: 220). Von den Wänden über die Mitarbeiter*innen bis hin zu den streunenden Tieren auf den Fluren ist das Krankenhaus in einem desolaten Zustand (vgl. ebd.: 221). Eine bessere medizinische Versorgung gibt es nur für diejenigen, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Malikas Schwester hingegen muss ein Schmuckstück verkaufen, um die nötigen Medikamente bezahlen zu können, die alsdann unter Verschluss gehalten werden, damit sie nicht von anderen verzweifelten Patient*innen gestohlen werden können (vgl. ebd.: 221f.). Diese Passagen von Partir lassen sich so lesen, als sei das Leben ärmerer Teile der Gesellschaft kaum schützenswert. Mit Foucault kann hier von einer Form des »meurtre indirect« (Foucault 1997: 228) gesprochen werden, da ein sozialstratifikatorisches, laut Foucault in seinem Ursprung rassistisches2 Vorgehen der Biopolitik dazu führt, dass einige Leben eher dem Risiko des Todes ausgesetzt werden als andere (vgl. ebd.: 226-229). So kommt der Staat in Ben Jellouns Roman seiner Versorgungspflicht nicht nach und Malika stirbt an einer Lungenentzündung, die mit der richtigen medizinischen Betreuung vermutlich behandelbar gewesen wäre (vgl. Ben Jelloun 2007: 226). Insofern ist es kaum verwunderlich, dass Azel sein Dasein in Marokko nicht als lebenswert empfindet und das erhoffte bessere Leben in Spanien mit einer Wiedergeburt gleichsetzt: »Partir. Renaître ailleurs. Partir par tous les moyens. Se sentir pousser des ailes. Courir sur le sable en criant sa liberté. Travailler, réaliser, produire, imaginer, faire quelque chose de sa vie.« (ebd.: 60) Er stellt sich sogar vor, als »objet inanimé« (ebd.: 47), als Kiste oder Schaufensterpuppe nach Europa zu gelangen, da die Scham über seine Existenz in Marokko ihn offenbar jeglicher Würde beraubt hat: »Comment s’en sortir, comment en finir avec l’humiliation? […] Il se sentait persécuté, maudit et voué à survivre, sortant d’un tunnel pour déboucher dans une impasse.« (ebd.: 25) Diese Worte bringen die Perspektiv- und Hilflosigkeit Azels zum Ausdruck und erwecken den Eindruck, dass sein Leben eher einem Überleben gleicht, da er sich nicht länger als Person zu fühlen scheint (vgl. Dal Lago 2012: 207). Spätestens als Azel Opfer brutalster Polizeigewalt wird und er nicht einmal die Möglichkeit hat, rechtliche Schritte dagegen einzuleiten, wird endgültig ersichtlich, dass er seiner Personenrechte beraubt wurde und der Willkür einer souve-
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Wie unter 2.2.2 festgehalten wurde, war Rassismus laut Foucault zunächst ein Phänomen, das die Gesellschaft in soziale Klassen einteilte und erhielt erst im 19. Jahrhundert eine biologische bzw. ethnische Konnotation (vgl. Foucault 1997: 70f., Sarasin 2003a: 56f., Stingelin 2003: 17f.).
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ränen Macht unterliegt. In besagtem Teil der Handlung nimmt Tahar Ben Jelloun Bezug auf eine düstere Episode der jüngeren marokkanischen Geschichte. In den Jahren 1994 und 1995 führten König Hassan II. und sein Innenminister einen drastischen Kampf gegen den Drogenhandel im Land, bei dem statt der großen Drahtzieher zahlreiche kleinere Drogendealer und Unschuldige verhaftet wurden, um das Image der Regierung im In- und Ausland zu verbessern (vgl. Ben Jelloun in Gallimard 2006). Dieses Vorgehen nannte sich »assainissement« (Ben Jelloun 2007: 65) – ein Terminus, der so viel wie ›Bereinigung‹ bedeutet und das Adjektiv sain enthält, womit das Wort stark an das der biopolitischen Semantik zugrundeliegende Verständnis des Staats als (gesundem) Körper erinnert (vgl. Esposito 2009: 139f.). Der Souverän, König Hassan II., ruft im Roman eine Art Ausnahmezustand aus (vgl. Agamben 2005: 19-35), um das Land zu ›bereinigen‹, wie folgende Aussage eines Polizisten während Azels Verhör bestätigt: Il faut que tu saches, toi qui as fait des études, notre roi-bien-aimé-que-Dieu-legarde-et-lui-donne-une-longue-vie a décidé d’assai…d’assassi…enfin de nettoyer le nord du pays des fils de pute qui font honte à la patrie. Sa Majesté en a marre de voir le nom du Maroc sali dans la presse internationale (Ben Jelloun 2007: 67). Als »technique de gouvernement« (Foucault 2004b: 225) erteilt der Ausnahmezustand der Polizei neue Befugnisse und obwohl Azel keine Drogen verkauft, sondern eine kleine Menge Marihuana für den eigenen Konsum bei sich trägt, wird er zum Opfer willkürlicher Polizeigewalt. Die Polizisten behalten ihn über Nacht in Gewahrsam, fragen immer wieder nach seinem angeblichen Auftraggeber und schlagen ihn. Es ist ihre Aufgabe, Drogendealer ausfindig zu machen und sie setzen alles daran, einen Erfolg vorweisen zu können (Ben Jelloun 2007: 68). In ihrem Vorgehen sind dabei Spuren der laut Foucault seit dem 18. Jahrhundert von der Biopolitik abgelösten Souveränitätsmacht erkennbar. Die durch König Hassan II. veranlasste Anti-Drogen-Kampagne scheint im Falle Azels nämlich primär durch Formen des »prélèvement« (Foucault 1976: 179) zu erfolgen, etwa durch die »Abschöpfung« (Foucault 1998: 163) seiner Freiheit, seiner körperlichen Integrität sowie seiner Bürger- und Menschenrechte. Als Azel seine Bekanntschaft mit Miguel erwähnt, in der Hoffnung, dessen gute Beziehungen zum Königshaus könnten ihm aus der bedrohlichen Lage helfen, halten die Beamten ihn für einen Homosexuellen, womit er ihnen ihrer Ansicht nach vollends ausgeliefert ist, da Homosexualität in Marokko damals wie heute eine Straftat darstellt (vgl. Human Rights Watch 2014). Die Polizisten vergewaltigen und schlagen Azel, bis dieser das Bewusstsein verliert. Er wacht in Blut und Erbrochenem auf und ist so schwer verletzt, dass er sich nicht bewegen kann (vgl. Ben Jelloun 2007: 66-69). Als Miguel den Protagonisten im Polizeirevier abholt, tischen die Beamten ihm eine Lüge auf, doch der Spanier versteht sofort, was passiert sein muss. Als er Azel dazu überreden will, rechtlich gegen die Polizisten vorzugehen oder die
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Presse zu informieren, antwortet dieser, dass sein Wort nichts wert sei (vgl. ebd.: 70f., 73). Er ist eine non-persona, die weder gesehen noch gehört, deren körperliche Integrität nicht respektiert wird und die staatlichen Repressalien schutzlos ausgeliefert ist. Es ergibt sich somit eine markante Diskrepanz zwischen Azels Status als Bürger, der ihm gewisse Rechte garantieren sollte, und der gesellschaftlichen Realität. Anhand der zitierten Passagen scheint sich somit jene ambivalente Natur der Biopolitik zu zeigen, die von den jeweiligen Vertreter*innen der affirmativen und der negativen Auslegung debattiert wird (vgl. 2.1, 2.4). Die in Partir dargestellte Abwesenheit der das Leben schützenden und fördernden biopolitischen Kräfte des Staats zeigt gewissermaßen ex negativo, welche Auswirkungen es haben kann, wenn die politische und juristische Verwaltung des Lebens fehlt bzw. scheitert: Mangelhafte gesundheitliche und infrastrukturelle Versorgung, Korruption, polizeiliche Willkür, keine oder schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse. Fehlgeleitete biopolitische Regierungstechniken, wie staatliches Versagen in der Versorgung der Bürger*innen sowie in der Gewährleistung des Rechtsstaats, werden zu Migrationsursachen: In Leaving Tangier, the backdrop is a reality in which corrupt political leaders, powerful criminal gangs, and corporate elites on both sides, Moroccan and Spanish, conspire to impede not only the march towards achieving an authentic liberty, a sense of national and individual independence, but also to arrest the development of a sense of being culturally at home in a postcolonial world (Idrissi Alami 2013: 2).
5.1.1.2
Staatliche Macht in den Dispositiven Asylsystem und Aufenthaltsrecht
Im Gegensatz zu der soeben konstatierten Abwesenheit des Staats in der politischen Förderung seiner Bevölkerung in Partir, zeigt sich die Macht des Staatsapparats in Shumona Sinhas Assommons les pauvres! deutlich in ihrer das Leben verwaltenden und kontrollierenden Dimension. Die zentrale Thematik der Autofiktion bilden die Verfahrens- und Wirkweisen biopolitischer Machtmechanismen im Dispositiv Asylsystem sowie deren Auswirkungen auf das Leben der involvierten Figuren. Das Asylsystem und der primäre Ort seiner institutionellen Verankerung, das Amt zum Schutz von Geflüchteten und Staatenlosen (OFPRA), fungieren bei Sinha als musterhafte Beispiele für die politische Regulierung, Steuerung und Kategorisierung des Lebens. Auf der Mikroebene ereignet sich diese Verwaltung des Lebens in einer triangulären Form (vgl. Zimmermann 2015: 97) zwischen den drei an den Anhörungen beteiligten Parteien, den Mitarbeiter*innen der Behörde, den Übersetzer*innen und den Asylsuchenden. Doch die Machtflüsse innerhalb dieses Dreiecks gestalten sich nicht etwa trilateral, sondern sind eindeutig hierar-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
chisch organisiert. Die Eingewanderten treten als Bittsteller*innen auf und sind gezwungen, ihr Exil zu rechtfertigen, die Mitarbeiter*innen der Behörde haben die alleinige Entscheidungsmacht inne und die Protagonistin ist eine Art Bindeglied zwischen ihnen: »C’était l’année des triangles tendus. Entre lui et moi, entre lui et elle, entre elle et moi, entre nous: demandeur, officier et traducteur. Lui qui quémandait, elle qui décidait, et moi qui faisais le trait d’union entre eux.« (Sinha 2012: 25) Die sogenannten »officier[s] de protection« (ebd.: 75), im Buch meist Frauen, entscheiden nach Befragung der Antragstellenden darüber, ob ein Asylgesuch berechtigt ist und gleich zu Beginn der Erzählung hält die Protagonistin und Ich-Erzählerin fest, dass Leid alleine keinen Asylgrund darstellt, sondern laut Gesetz bspw. politische oder religiöse Verfolgung vorliegen müssen: Les droits de l’homme ne signifient pas le droit de survivre à la misère. D’ailleurs on n’avait pas le droit de prononcer le mot misère. Il fallait une raison plus noble, celle qui justifierait l’asile politique. Ni la misère ni la nature vengeresse qui dévastait leur pays ne pourraient justifier leur exil, leur fol espoir de survie. (ebd.: 11) Die officiers de protection, die als Vertreter*innen des öffentlichen Dienstes und als Disponierende im Dispositiv Asylsystem die Entscheidungsautorität von Seiten des Staats verliehen bekommen haben, handeln also nach juristischen Vorschriften und dennoch wohnt ihren Entscheidungen ein nicht zu umgehendes subjektives Moment inne. Ihr Urteil geht aus persönlichen und dennoch indirekten Gesprächen mit den Antragstellenden hervor, deren Äußerungen sie ›aus zweiter Hand‹, nämlich aus dem Munde der Übersetzerin bzw. des Übersetzers erhalten. Zudem spielen Persönlichkeit und Verfahrensweise in der Gesprächsführung der Sachbearbeiterin bzw. des Sachbearbeiters eine entscheidende Rolle. Einige treten sehr selbstbewusst, gar streng auf und wollen unbedingt die Wahrheit hinter den Geschichten der Antragsteller*innen aufdecken (vgl. ebd.: 31f., 51), andere sind neu in ihrer Position und entsprechend unvoreingenommen (vgl. ebd.: 77), wieder andere haben Mitleid, kritisieren die globalen neokolonialen Ausbeutungsstrukturen und den damit einhergehenden Menschenhandel (vgl. ebd.: 31f.). Grundsätzlich sind die Gespräche aber vor allem darauf ausgelegt, zu prüfen, ob der vorgetragene Asylgrund der Wahrheit entspricht, weswegen sie eher einem Verhör gleichen. Die Hauptfigur beschreibt das Vorgehen und den Gesprächsverlauf paradigmatisch wie folgt: L’homme qui se disait du parti A et donc persécuté par le parti B. L’homme qui se disait du parti B et donc persécuté par le parti A. L’homme qui se disait hindou et donc persécuté par les musulmans. Ou bouddhiste. Ou chrétien. On lui demandait alors quelle était la fête la plus importante de sa communauté. Quels étaient les dieux et les déesses. Quel était le livre sacré. […] A partir de là, l’entretien ressemblait à une séance d’hypnose. Des points de suspension remplaçaient les mots.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Le silence n’était pas d’or mais de plomb, il pesait lourd. C’était le gris de la peur. […] L’homme s’égarait dans ses paroles comme dans un bhulbhulaia, un labyrinthe mogol. (ebd.: 65f.) Manche officiers de protection nutzen in diesen Gesprächen Sprache3 wie eine enthüllende Waffe, sie schießen ihre Fragen wie Pfeile (vgl. ebd.: 39), während die Antragstellenden versuchen, ihrem oftmals auswendig gelernten Bericht zu folgen und sich hinter einem simplen Satzbau zu verstecken, um sich nicht im Labyrinth ihrer Worte zu verlieren (vgl. ebd.: 65f.). Die Sprache kann für sie zum Verhängnis oder aber zu einem verhüllenden Gewand, zu einer Art Tarnkleidung, gar zu einem schützenden Kettenhemd werden: »Il comble les trous entre les phrases, entre les faits, entre les vérités. Il tisse une histoire et s’habille avec. Il se sent protégé comme par une cotte de mailles.« (ebd.: 85) Meist jedoch werden die Migrant*innen im Laufe der Unterhaltung nervös, wenn sie merken, dass sie nicht glaubwürdig erscheinen. Sie sind als Disponierte in einer deutlich unterlegenen Position: La tension montait dans la pièce. Les mots ne pouvaient convaincre personne. Les hommes transpiraient, bégayaient, croisaient et décroisaient les doigts, répétaient les questions comme s’il s’agissait de réponses, récitaient en silence des phrases, leur pomme d’Adam montait et descendait, les mots gargouillaient dans leur voix, sortaient trébuchants, pâles et apeurés. (ebd.: 42) Die Entscheidung, ob ihre Geschichte glaubhaft ist und die genannten Gründe ausreichen, um ihnen politisches Asyl zu gewähren, liegt im persönlichen Ermessen der officiers de protection. Die Antragstellenden selbst haben kaum Einfluss auf die Mechanismen des Asylsystems, die über den weiteren Fortgang ihres Lebens entscheiden. Sie bekommen die Gelegenheit, ihr Asylgesuch zu äußern und können danach lediglich warten und hoffen, während die meisten ihrer Akten abgelegt werden und in Vergessenheit geraten (vgl. ebd.: 43). Ihre mangelnde Teilhabe an einem für sie im wörtlichen Sinne lebenswichtigen Prozess wird von der Erzählerin mittels eines frappierenden Vergleichs aus der Medizin hervorgehoben. Sie vergleicht den Moment, in dem eine negative Entscheidung über einen Asylantrag fällt mit jenem, in dem Krankenschwestern die Beatmungsgeräte eines sterbenden Patienten abschalten (vgl. ebd.: 66). In beiden Fällen handelt es sich um eine biopolitische Handlung, um ein Eingreifen der Politik, im Sinne staatlicher Gesetzgebungen, in das menschliche Leben. Lediglich vor dem Berufungsgericht kann eine Umwälzung der Machtdynamiken des Dispositivs Asylsystem erfolgen, wenn die Antragstellenden Widerspruch gegen die Entscheidung des OFPRA einlegen und Recht bekommen (ebd.: 57).
3
Die besondere Relationalität zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Dispositiv Asylsystem wird unter 5.1.3 und 5.1.4 tiefergehend analysiert.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
Wenngleich die Entscheidungsautorität bei den Sachbearbeiter*innen der Migrationsbehörde liegt und auf der genannten Mikroebene das Machtverhältnis eindeutig zu ihren Gunsten ausfällt, unterstehen sie auf einer Makroebene selbst der Macht des Staats, der ihren individuellen Handlungsraum in den Asylverfahren festlegt. Sie sind gleichzeitig Disponierende und Disponierte (vgl. Link 2014: 239f.), haben selbst nur bedingt Kontrolle über die Kräfte des Dispositivs Asylsystem und leiden nicht selten stark unter ihrer Arbeit, wie unter 5.1.2. und 5.2.2.2 gezeigt werden wird. Dennoch haben die Mitarbeiter*innen der Behörde die Möglichkeit, die Gespräche mit den Asylsuchenden vorsichtig zu steuern, wenn sie das Gefühl haben, dass ein rechtskräftiger Asylgrund vorliegt. Ein einziges Mal scheint die Protagonistin einem solchen seltenen Fall beizuwohnen und beschreibt, wie sie gemeinsam mit der Sachbearbeiterin behutsam versucht, die Geschichte eines Antragstellers zu erfragen, ohne ihn dabei zu verunsichern, da dies seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen könnte: L’officier me lance un coup d’œil secret, heureux. Après six mille sept cent cinquante dossiers elle est enfin face à l’événement. […] Nous échangeons des regards, complices et heureux. Nous avançons ensuite à petits pas, doux et feutrés, comme vers un nouveau-né, nous allons à la rencontre de la vérité. Nous le berçons, cajolons, dorlotons. D’une question à l’autre nous l’aidons à grandir, à marcher, à prononcer ses premières phrases. Nous sommes de vraies sages-femmes. De sang et de sueur un homme est né (Sinha 2012: 94f.). Bezeichnenderweise wählt die Erzählerin erneut einen Vergleich, der auf entscheidende Etappen im menschlichen Leben Bezug nimmt. Verglich sie zuvor einen abgelehnten Asylantrag mit dem Tod eines Patienten, fühlt sie sich nun wie eine Hebamme, die dem Antragsteller zu seinem neuen Leben verhilft. Auf ähnliche Art und Weise versucht ihre Kollegin Lucia einem offensichtlich lügenden Asylsuchenden entgegenzukommen, indem sie ihm vorschlägt, seine Aussage zu ändern, um sie doch noch von seinem Asylgesuch zu überzeugen. Vermutlich bewegt Lucia sich in einer gesetzlichen Grauzone, wenn sie ihm zu verstehen gibt, dass der Wahrheitsgehalt des Gesagten eher sekundär ist, solange sie ihm glauben kann (vgl. ebd.: 73). Als der Mann schließlich den wahren Grund für sein Exil zugibt und dieser kein politisches Asyl rechtfertigt, kann Lucia jedoch nichts für ihn tun und wird in den Augen der desillusionierten Protagonistin wieder zu einer erschöpften Beamtin unter vielen, zu einem nur eingeschränkt handlungsfähigen Teil des biopolitischen Systems in seiner kontrollierenden und hemmenden Funktion: »C’était probablement le seul moment où j’en voulais un peu à Lucia. Elle perdait de son mystère et devenait quelconque. Un officier de protection au bout du rouleau. Dépourvue du pouvoir magique. Incapable finalement de faire quoi que ce soit pour ces hommes.« (ebd.: 75) Die Dynamiken des Dispositivs Asylsystem in Sinhas Autofiktion werden also von keiner der Figuren kontrolliert, weisen Grauzonen und
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Leerstellen auf und sind insofern kaum beschreib- oder nachvollziehbar. Sie scheinen keinen identifizierbaren Ursprung zu haben und lassen sich dahingehend mit Johan Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt4 lesen (vgl. Galtung 1975). Dieser Umstand spiegelt sich zum einen in der topologischen und topografischen (vgl. Mahler 2015, Nitsch 2015) Ausgestaltung der Räumlichkeiten der Asylbehörde wider und wird zum anderen über intertextuelle Verweise auf Franz Kafkas Das Schloss (2014 [1926]) und Der Prozeß (2000 [1925]) potenziert. Die Intertexte resultieren primär aus der Ähnlichkeit der Namen von Kafkas Protagonisten, K. und Josef K., und des Polizisten Monsieur K., der die Protagonistin nach ihrer Festnahme verhört und von ihr so genannt wird, da sie sich seinen »nom de famille long et crissant« (Sinha 2012: 13) nicht merken kann (vgl. Zimmermann 2015: 93). Monsieur K. erfüllt in Sinhas Text zum einen eine erzähltechnische Funktion, denn der Polizeibeamte kann trotz seines augenscheinlich gutmütigen Wesens nicht umhin, die Protagonistin wiederholt auf ihre Herkunft zu reduzieren und dabei in mehr oder minder rassistische und eurozentrische Denkmuster zu verfallen (vgl. Sinha 2012: 14f.), wodurch die Figur der Leserschaft laut Zimmermann (vgl. 2015: 94) einen Spiegel vorhalten und zur kritischen Reflexion anregen soll. Darüber hinaus scheint Monsieur K. über seine Namensvetternschaft mit den kafkaesken Figuren aber insbesondere die biopolitische Lesart von Assommons les pauvres! zu konsolidieren, die in der vorliegenden Untersuchung vollzogen wird. Nicht umsonst bezeichnet Alison Rice Assommons les pauvres! als einen »récit kafkaïen« (Rice 2014: 227). Unter einer biopolitischen Perspektive bestehen nämlich auffällige Parallelen zwischen Sinhas namenloser Ich-Erzählerin und Kafkas Protagonisten, deren aller Leben massiv durch staatliche bzw. souveräne Verwaltungsmechanismen beeinflusst werden, denen sie nahezu macht- und verständnislos gegenüberstehen. Kafkas Werk wurde zahlreichen Lektüren und interpretatorischen Ansätzen unterzogen, was nicht zuletzt in der Heterogenität seines literarischen Schaffens begründet liegt (vgl. Jansen 2012: 10). In einer beachtlichen Anzahl an Publikationen wird Kafka mit Foucault gelesen, so etwa in Monografien von Curtis (2010) und Dungey (2014).5 Mit dem zunehmenden fächerübergreifenden Interes4
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Johan Galtung unterscheidet in seiner Monografie Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedensund Konfliktforschung »sechs wichtige Dimensionen von Gewalt« (Galtung 1975: 9) anhand derer er den Modus der Gewalt, das ausführende Subjekt und das geschädigte Objekt beschreibt. Im Falle der strukturellen bzw. indirekten Gewalt, die er von der personalen bzw. direkten Gewalt abgrenzt, gibt es einen solchen handelnden Akteur nicht: »Können wir von Gewalt sprechen, wenn niemand direkte Gewalt anwendet, niemand handelt? […] [H]ier tritt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkten Schaden zufügen könnte; die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen.« (ebd.: 12) Im zweiten Teil seiner Studie nimmt Curtis (vgl. 2010: 32-90) eine detaillierte Lektüre von Kafkas Der Prozeß u.a. auf Basis der Studien Michel Foucaults zu diskursiven Formationen und
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se am Themenkomplex Biopolitik (vgl. 2.1) rücken auch Kafkas Werke in den Fokus jener Forschung, die sich mit den Berührungspunkten zwischen der Politik und dem biologischen Leben beschäftigt (vgl. Jansen 2012, Balke/Vogl/Wagner 2008). Markus Jansen kategorisiert etwa in seiner Untersuchung den Protagonisten aus Kafkas Der Prozeß, der in einem unzugänglichen und scheinbar willkürlichen juristischen System den Grund für seine Festnahme zu finden versucht und letztlich hingerichtet wird, als eine Art Inbegriff des von Giorgio Agamben definierten homo sacer (vgl. Jansen 2012: 382f.). Joseph Vogl unternimmt eine topografische Untersuchung der fiktionalen Räume, in denen sich die Figuren in Kafkas Der Prozeß und Das Schloss bewegen und kommt zu dem Schluss, dass die dargestellten bürokratischen Institutionen, das Gericht und das Schloss, weder Außengrenzen aufweisen noch eine Verortung zulassen. Der biopolitische Raum scheint sich in beiden Romanen über die gesamte Gesellschaft zu erstrecken und den Figuren dennoch den Zugang zu seinen Institutionen zu verwehren, sodass sie sich in einem ausweglosen Schwellenzustand befinden: Erstens kennen die Bürokratien des Gerichts oder des Schlosses kein Außen. Alles und jeder gehört zum Schloss oder Gericht; die Behörden fallen mit der Gesellschaftsmaschine zusammen, sie durchdringen die Wünsche und Begierden, sie erzeugen kein abgeschlossenes und überschaubares Ganzes, sondern ein kontinuierliches, endloses Immanenzfeld ohne Außengrenze. […] Im Grunde bewegen sich die K.s im Schloß wie im Proceß in einem grenzenlosen Reich der Grenze; und der endlose Schwellen- oder Übergangsraum, der eben keine scharfe Grenzlinie kennt, mag durchaus die Dämmerung eines gewissen Wartezustands auszeichnen, der sich zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht ausbreitet (Vogl 2008: 25f.). Diese Ambivalenz setzt sich in den arbiträr wirkendenden, undurchsichtigen Verfahrensweisen der Bürokratien fort, denen die Figuren in Der Prozeß und Das Schloss ausgesetzt sind (vgl. ebd.: 27). Vogls Beobachtungen scheinen sich auf das Dispositiv Asylsystem in Shumona Sinhas Assommons les pauvres! in einigen Aspekten anwenden zu lassen. Immer wieder beschreibt die Protagonistin die Büros der Behörde als »semi-opaques« (Sinha 2012: 25, 66, 84, 93), als halbdurchsichtig, sodass die undurchschaubaren Verwaltungsdynamiken, mit denen sich die Asylsuchenden, aber auch die Übersetzer*innen und Mitarbeiter*innen der Behörde teils machtlos konfrontiert sehen, in dem Sichtschutz zwischen den Anhörungszimmern einen materiellen Ausdruck finden. Die biopolitischen Kräfte des Asylsystems scheinen keinen sichtbaVerfahrensweisen sowie der Disziplinierung des Subjekts vor. Ebenso widmet sich Nicolas Dungey (vgl. 2014: 3-62) im ersten Teil seiner Untersuchung einer Analyse von Kafkas Der Prozeß auf der Folie von Foucaults Ausführungen zur Disziplinarmacht.
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ren Ursprung zu haben, sondern struktureller Natur zu sein, ihre »Gewalt ist in das System eingebaut« (Galtung 1975: 12). Die literarisch geschaffenen Räumlichkeiten versinnbildlichen topografisch, sprich über ihre kulturell-symbolische und atmosphärische Ausgestaltung (vgl. Nitsch 2015), ein wenig transparentes und paradoxales Asylsystem. Dieses basiert nämlich auf subjektiven Entscheidungen und Wahrheitskonzeptionen der Sachbearbeiter*innen und fördert Lügen seitens der Antragsteller*innen, da Armut und die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Vergabe eines Bleiberechts nicht berücksichtigt werden (vgl. Limbu 2018: 86f.). Die Asylbewerber*innen befinden sich innerhalb dieses Systems, just wie Kafkas Figuren im Prozeß und im Schloss, in dem von Vogl beschriebenen »endlosen Schwellen und Übergangsraum« (Vogl 2008: 26). Sie müssen den Ausgang ihres Verfahrens und somit den Fortgang ihres Lebens kaum nachvollziehbaren biopolitischen Dynamiken überlassen, auf die sie quasi keinen Einfluss haben, »condemned to a perpetual state of physical and psychological wandering […] caught in spatial, economic, and juridical impasses.« (Mehta 2020: 89) Das Asylsystem in Sinhas Autofiktion wirkt also ebenso unzugänglich und undefiniert wie Kafkas Gericht und Schloss. Es kennt ebenfalls »kein Außen« (Vogl 2008: 25) und erstreckt sich über den Arbeitsalltag hinaus auf das gesamte Leben der an ihm beteiligten Charaktere. Das System bestimmt nämlich ihre Gedanken auch in der Freizeit, verfolgt sie in Alpträumen und macht sie physisch und seelisch krank, wie in Kapitel 5.2.2.2 ausgeführt wird. Das individuelle Leben findet in Assommons les pauvres! beinahe ausschließlich in den unscharfen, ausufernden Grenzen des Dispositivs Asylsystem statt. Es wird zu einer »›lebendigen Institution‹«,6 welche »die Möglichkeit der Unterscheidung von System und Umwelt kollabieren lässt.« (beide Balke/Siegert/ Vogl 2016: 007)7 In Délphine Coulins Samba pour la France wird gleich im ersten Kapitel deutlich, wie machtlos der Protagonist dem Dispositiv Aufenthaltsrecht gegenübersteht. Zu 6
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Den Begriff der lebendigen Institution prägte Franz Kafka in seinen Amtlichen Schriften (vgl. Wolf 2016: 043). Mit Adorno, Horkheimer und Kogon könnte man auch von der ›verwalteten Welt‹ sprechen, womit der »Übergang der ganzen Welt, des ganzen Lebens, [in] […] ein System von Verwaltung, [in] […] eine bestimmte Art der Steuerung von oben« gemeint ist (Adorno zit.n. ebd./Horkheimer/Kogon 1989 [1950]: 123). Siehe zu diesem Terminus auch Max Horkheimers Verwaltete Welt (1970, insbesondere 19f.). Joseph Vogl stellt in seinem Beitrag weiterhin fest, dass Kafkas Werk sich durch eine besondere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Leben und Schriftlichkeit als Medium der Bürokratie auszeichnet: »Kafkas Literatur […] präsentiert individuelle Lebenssubstrate ausschließlich in institutionell kodierter Form« (Vogl 2008: 23f.). Die Bedeutung der Rechtskräftigkeit von Schriftdokumenten sowie allgemein die literarische Reflexion von Schriftlichkeit spielt nicht nur ebenso in Sinhas Autofiktion eine zentrale Rolle, sondern scheint sich wie ein roter Faden durch alle im Rahmen dieser Abhandlung analysierten Texte zu ziehen, weshalb sich das Kapitel 5.1.3.1 ausführlich diesem stilistischen Merkmal widmen wird.
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Beginn der Handlung befindet Samba sich in einer Pariser Polizeipräfektur, um dort zu erfragen, ob sein Antrag auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis bewilligt wurde. Als er nach vier Stunden Wartezeit das Büro betreten darf, würdigt der Sachbearbeiter ihn keines Blicks und reduziert das Gespräch auf die notwendigsten Informationen: Le bureau était sombre, et son plafond était décoré d’un ciel moche. Il s’est assis, maladroit, sur la chaise face à l’homme qui ne le regardait pas, et gardait les yeux rivés sur son écran; derrière lui, en revanche, il y avait un portrait du président de la République qui semblait ne pas le lâcher des yeux. Déconcerté, Samba Cissé a expliqué qu’il avait fait une première demande de carte de séjour lorsqu’il était arrivé en France, il y a dix ans. On lui avait d’abord donné une autorisation provisoire: il a montré avec fierté le carré de carton orné de sa photo, qui ne le quittait jamais. L’homme ne lui a pas accordé un regard. On aurait dit qu’il n’entendait pas ce que Samba disait. Alors Samba a tendu son attestation de dépôt de dossier, qu’il avait obtenue cinq mois auparavant. L’homme s’en est saisi, et il a lu: Samba Cissé, né le 16/02/1980 à Bamako, Mali. Entré en France le 10/01/1999. Demande déposée le 01/02/2009. (Coulin 2014: 10f.) Im Verlauf des Gesprächs scheint der Sachbearbeiter Samba weder zu sehen noch zu hören und reduziert ihn auf Daten und Dokumente. Erst als sich herausstellt, dass der Protagonist bereits eine Antwort auf seinen Antrag erhalten haben sollte, schaut der Beamte ihn an und bittet Samba, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen. Dort erklären der Sachbearbeiter und ein weiterer Beamter, dass Sambas Antrag abgelehnt wurde und er in Abschiebehaft muss,8 während sie ihm Handschellen anlegen (vgl. ebd.: 11-13). Samba protestiert, weil er das betreffende Schreiben nie erhalten hat, doch erneut wird er ignoriert: »C’était comme s’ils ne parlaient pas la même langue.« (ebd: 13) Ähnlich wie die Asylsuchenden in Assommons les pauvres! wird Samba als Antragsteller kaum als Individuum und Mensch gesehen, sondern auf Zahlen, Fakten und Akten reduziert. Er hat in dem Verfahren, das über den Fortgang seines Lebens bestimmt, nur die passive Rolle des Disponierten inne und kann zunächst keinen Widerspruch einlegen, als sein Antrag abgelehnt wird. Obwohl er alle formalen Kriterien zu erfüllen scheint, wird ihm keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erteilt und wie schon in Sinhas Autofiktion spiegelt sich diese Intransparenz und 8
Hier lässt sich beobachten, dass die (biopolitische) Bürokratie auch Anteil an der Produktion bestimmter Räume hat, wie etwa Balke, Vogl und Siegert (vgl. 2016: 009) schreiben. Dies wird insbesondere in Kapitel 5.3.2. näher thematisiert.
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mangelnde Teilhabe offenbar topografisch in der Räumlichkeit des beschriebenen Umfelds wider. Die Präfektur in Samba pour la France ist nämlich alles andere als einladend. Vor dem Gebäude warten die Migrant*innen hinter grauen Absperrungen (vgl. ebd.: 7), drinnen ist es dunkel, staubig und das Büro wird vom Bildschirm des Computers in ein kühles, bläuliches Licht getaucht. Samba wird zwar nicht angesehen, aber von den wachsamen Augen des Portraits des Präsidenten der Republik verfolgt. Das Bild des obersten Vertreters des Staats ziert zunächst die Wand des Büros, in dem das Gespräch stattfindet, und ist später auf dem Cover von Zeitschriften abgedruckt, die in dem Wartezimmer ausliegen, in dem Samba verhaftet wird (vgl. ebd.: 10-13). Die topografische Gestaltung der Szenerie vermittelt den Eindruck, dass die Eingewanderten in der Präfektur eine bloße bürokratische Abwicklung erfahren, ähnlich wie in Assommons les pauvres!, wo die Erzählerin das Amt als »usine« (Sinha 2012: 135) bezeichnet. Haben die Migrant*innen in Samba pour la France die Büros der Präfektur einmal betreten, sieht man sie nicht wieder herauskommen. »[I]ls étaient comme avalés« (Coulin 2014: 7), wie verschluckt von der Behörde, die durch diese Personifizierung erneut als »lebendige […] Institution« (Balke/Siegert/Vogl 2016: 007) erscheint und deren Abläufe derart automatisiert sind, dass selbst die Gesichter der beiden Mitarbeiter, denen Samba begegnet, sich zum Verwechseln ähnlich sehen (vgl. Coulin 2014: 13). Die Anonymität der Personen, die Sambas Lebensgeschichte erfragen und über sein Schicksal urteilen, verdeutlicht einmal mehr die strukturelle Gewalt biopolitischer Prozesse, deren Ursprung und Kern kaum auszumachen sind: »Il a été emmené dans le bureau d’un chef. Un autre. Un chef de quoi, qui il était, il ne le savait pas, on lui demandait sans cesse de se présenter et de raconter sa vie à des inconnus en uniforme, mais aucun de ces hommes ne se présentait jamais. Pourquoi n’avaient-ils pas de nom?« (ebd.: 28) Die Einbindung von Sambas Leben in die biopolitische Bürokratie Frankreichs lässt sich weiterhin anhand der Verwendung seines Namens nachvollziehen. Es ist nämlich auffällig, dass der Protagonist an einigen Stellen des Romans nur bei seinem Vornamen, an anderen aber bei seinem vollständigen Namen, Samba Cissé, genannt wird. Der Gebrauch seines Vor- und Zunamens scheint dabei im Text zwei Funktionen zu haben: Zum einen wird dieser affirmativ eingesetzt, wenn Samba in den Wirren seines Migrationsprozesses und durch die entwürdigende Behandlung anderer das Gefühl hat, seine Identität zu verlieren (vgl. ebd.: 122, 234, 285). Zum anderen erfolgt der Einsatz seines vollständigen Namens aber immer dann, wenn er sich mit dem bürokratischen Apparat des französischen Staats konfrontiert sieht, womit die biopolitische Verwaltung seines Lebens zusätzlich hervorgehoben wird. Sein Vor- und Nachname werden etwa zur Identifizierung in Schriftdokumenten und Gesprächen genannt. Bemerkenswerter ist allerdings, dass auch die Erzählinstanz zwischen seinem bloßen Vornamen und seinem vollständigen Namen alterniert, was irritierend wirkt, da die formelle Anrede im ausgeprägten Gegensatz zu der freundschaftlichen Beziehung der beiden Figuren und der
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entsprechend persönlichen, beinahe intimen Darstellung Sambas steht.9 Gerade weil die Ich-Erzählerin ausführlich Sambas Gedanken und Gefühle schildert, ihn menschlich und sympathisch wirken lässt, unterstreichen jene Passagen, in denen sein vollständiger Name genannt wird, die kühle Sachlichkeit der institutionellen Vorgänge und der schriftlichen Dokumentation, die sein Leben in Frankreich bestimmen. Die Erzählerin adressiert ihn als Samba Cissé, sobald seine Person im Zentrum biopolitischer Verwaltungsmechanismen steht, z.B. während des oben genannten Gesprächs in der Polizeipräfektur (vgl. ebd.: 10, 12, 13), als er sich in Abschiebehaft befindet (vgl. ebd.: 28, 29, 30, 31, 49), während seiner Anhörung vor Gericht (vgl. ebd.: 87), als er aus der Abschiebehaft entlassen wird (vgl. ebd.: 94, 95) sowie zu verschiedenen Gelegenheiten, in denen es um den Besitz eines Aufenthaltstitels geht (vgl. ebd.: 122, 234, 285). In Situationen, die zum Bereich des Privaten gehören, etwa in Gesprächen mit der Erzählerin (vgl. ebd.: 64-67) oder wenn er sich mit seinem Onkel in der gemeinsamen Wohnung befindet (vgl. ebd.: 68-75), wird der Protagonist hingegen nur bei seinem Vornamen genannt. In Sinhas und Coulins Texten wird ersichtlich, dass die Machtverhältnisse in den bürokratischen Systemen des Migrationsdispositivs hierarchisch angelegt sind. Die Migrierten sind diesen Kräften als Disponierte ausgesetzt, während Vertreter*innen des Staats als Disponierende über eine gewisse Entscheidungsautorität verfügen. Umwälzungen und Verschiebungen scheinen in diesem »jeu de pouvoir« (Sinha 2012: 57) nur selten vorzukommen, etwa wenn Eingewanderte mit ihrem Anliegen vor Gericht ziehen, wie in Kapitel 5.1.3.2 anhand von Delphine Coulins Protagonisten vertieft wird. Allerdings bewahrheitet sich insbesondere in Sinhas Text, dass auch die Disponierenden keine uneingeschränkte Macht über die biopolitische Verwaltung des Lebens haben, sondern eine Art »›Ur-Subjektivierung‹ mit den Disponierten [teilen]« (Link 2014: 238), da auch sie letztlich den Kräften des Migrationsdispositivs und insbesondere dem Staatsapparat als dessen Teilstück unterstehen. Dieses Netz aus Machtflüssen und Kräfterelationen hat offenbar weder ein Außen noch einen Ursprung, gleicht insofern Michael Hardts und Antonio Negris Konzept des entgrenzten und dezentralen Empire (vgl. Hardt/Negri 2001: xii) und kann wiederum mit Johan Galtung (1975) als Ausprägung struktureller Gewalt gelesen werden.
5.1.2
Personifizierte Dispositive: Die Vertreter*innen der staatlichen Macht in der biopolitischen Verwaltung von Migration
Wie das vorige Kapitel gezeigt hat, unterstehen die Vertreter*innen staatlicher Institutionen in den untersuchten Werken selbst Kräften, die sie sogar als Entscheidungsträger*innen im Rahmen biopolitischer Verwaltungsvorgänge nur bedingt 9
Die Erzählsituation in Coulins Roman wird unter 5.1.4.1 ausführlicher analysiert.
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kontrollieren können. So befindet sich die Protagonistin von Shumona Sinhas Assommons les pauvres! als Übersetzerin von Asylanhörungen gegenüber den Antragstellenden zwar in einer privilegierten Position, sieht sich jedoch einem permanenten moralischen Dilemma ausgesetzt, das sie, gemeinsam mit anderen inneren Konflikten (vgl. 5.4.2.1 u. 5.4.4.1), zu einer Verzweiflungstat bringen wird. Einerseits fühlt sie sich ihrer Aufnahmegesellschaft und deren Gesetzgebung verpflichtet und schämt sich für das unverfrorene Schwindeln und unhöfliche Auftreten einiger Migrant*innen (vgl. Sinha 2012: 27, 39, 66f., 72, 115, 122): »The novel examines the links among internalized racism, state allegiance, and borders through the multiple divisions that dissect the narrator’s life: binary trajectories between India and France, French and Bengali, integration and rejection, depression and elation.« (Mehta 2020: 98). Andererseits verspürt sie oftmals den Wunsch, ihren Landsleuten helfen zu können und versucht, selektiv zu übersetzen und jene Teile eines Berichts hervorzuheben, die zu dem ersehnten Aufenthaltstitel führen könnten: Je ne sais plus comment ne pas défendre les hommes de mon ancien sous-continent. Ma cuirasse s’effrite. Mon masque de soldat neutre tombe. J’écoute leurs récits, les yeux embués. Larmes de détresse et de honte. Leurs mensonges me font rougir. Je tente pourtant de repérer les allées et les sorties de secours entre leurs mots. Si seulement dans le fouillis, dans le fatras des phrases, comme dans les racines entremêlées des arbres riverains, je pouvais trancher et tracer un chemin salvateur. (Sinha 2012: 98f.) Im Gegensatz zu den Mitarbeiter*innen der Behörde kennt die Erzählerin die Not, vor der die Migrant*innen fliehen und hat Verständnis dafür, dass sie alles versuchen, um ein neues Leben beginnen zu können. Sie weiß etwa um die zerstörerischen Naturkatastrophen, die den Menschen in ihrer Heimat die Lebensgrundlage nehmen und fühlt mit ihnen, auch wenn diese Not kein politisches Asyl rechtfertigt (vgl. ebd.: 39f., Mehta 2020: 90f.). Wie Anne-Marie Picard anmerkt, ist die Rolle der Übersetzerin in diesem Fall eine in sich unvereinbare. Die Hauptfigur soll einerseits die Lebensgeschichten der Antragstellenden übersetzen und dabei Empathie bei den Sachbearbeiter*innen erzeugen, ist aber andererseits gezwungen, die teils beschämend offensichtlichen Lügen in diesen Berichten (vgl. Sinha 2012: 64) aufzudecken: With her knowledge of the status seekers’ language and culture, their country’s political situation and history, the interpreter is a go-between walking a fine line between two conflicting laws: the law of the land (with it’s somewhat arbitrary casuistry) and the formidable exigencies of the Poor’s desire for survival. (Picard 2012: 189) Die Erzählerin vollzieht einen ständigen Balanceakt zwischen der Verpflichtung gegenüber ihrem Arbeitgeber und dem Wunsch, den Asylsuchenden möglicher-
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weise zu einem Leben in Würde zu verhelfen (vgl. Sinha 2012: 11, 98f.). Als Übersetzerin befindet sie sich somit in einer Schwellenposition,10 die ihr innerhalb des Systems einen gewissen Handlungsraum eröffnet und sie gleichzeitig bestimmten Machtdynamiken unterwirft – sie ist Disponierende und Disponierte im Dispositiv Asylsystem (vgl. Link 2014: 239f.). Die Protagonistin bezeichnet sich als »trait d’union« (Sinha 2012: 25, 29) zwischen den Antragstellenden und den officiers de protection, doch ein Bindestrich verbindet und trennt bekanntlich gleichermaßen und sie stellt fest, dass trotz ihrer sprachlichen Transferleistungen kein wirklicher Austausch zwischen den beiden Parteien zustande kommt. Die Gespräche gleichen eher parallel zueinander verlaufenden Monologen als einem tatsächlichen Dialog (vgl. ebd.: 39). Dennoch treffen die Sachbearbeiter*innen auf Basis ihrer Übersetzung eine positive oder, wie in der Mehrheit der Fälle (vgl. ebd.: 43, 60, 75), eine negative Entscheidung über den betreffenden Asylantrag, sodass die Tätigkeit der Hauptfigur eher zur Selektion und in Konsequenz zur Exklusion beiträgt, anstatt zu verbinden. Im Hinblick auf ihre Funktion in dem staatlichen Dispositiv Asylsystem könnte die Protagonistin als personifiziertes Immunisierungsdispositiv (vgl. Esposito 2014: 64-68) betrachtet werden. Als »garde-frontière par excellence« (Zimmermann 2015: 97) ist es ihre Aufgabe, zum Schutz der europäischen communitas vor Außenstehenden beizutragen, wenn letztere nicht aus Gründen der politischen, religiösen oder sonstigen Verfolgung Zuflucht suchen, sondern aus finanziellen Motiven auswandern. Während die Aufnahme in die communitas und die Teilhabe am gemeinschaftlichen munus in Assommons les pauvres! bei Vorliegen humanitärer Gründe gewährt werden (vgl. Sinha 2012: 11), gelten sogenannte ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ offenbar als Belastung für den Staatshaushalt und somit als potenzielle Gefährdung des Wohlstands der Gemeinschaft. Die Erzählerin ist in ihrer Übersetzungstätigkeit also gleichsam die Verwalterin der Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen Inklusion und Exklusion, zwischen dem vorrechtlichen, politisch nicht qualifizierten (zoë) und dem politisch qualifizierten, rechtlich sanktionierbaren Leben (bíos) (vgl. Agamben 2005: 3f., 10f.). Interessant ist allerdings, dass sie sich derweil selbst auf dieser Schwelle zu befinden scheint, da sie nicht mehr zu der Gemeinschaft ihrer indisch-bengalischen Landsleute gehört und ›die Seiten gewechselt hat‹, wie sie selbst sagt (vgl. Sinha 2012: 22f., 51, 134), aber offenbar eben10
Die schwierige Mittlerposition von Übersetzungsinstanzen als Diener zweier Herren (Dueck 2014) wird in den Translations- und Literaturwissenschaften häufig thematisiert. Siehe hierzu bspw. den von Klaus Kaindl und Ingrid Kurz herausgegebenen Sammelband mit dem vielsagenden Titel Helfer, Verräter, Gaukler? Das Rollenbild von TranslatorInnen im Spiegel der Literatur (2008), insbesondere den dortigen Beitrag Franz Pöchhackers, der die Position eines Übersetzers von Asylanhörungen in David Gaffneys With Tongues untersucht (Pöchhacker 2008: 179-186) und dessen Ausführungen interessante Parallelen zu den hier gemachten Beobachtungen zur Arbeit der Protagonistin von Assommons les pauvres! aufweisen.
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so wenig als vollwertiges Mitglied ihrer Aufnahmegesellschaft gilt. Wie in Kapitel 5.4.2.1 vertieft wird, macht die Hauptfigur immer wieder die Erfahrung, auf ihre Herkunft reduziert zu werden: »Je peux passer ma vie ici sans appartenir à ce pays« (vgl. ebd.: 13). Sie hat somit eine höchst ambivalente Position inne, da sie zugleich Teil und Opfer der Exklusionsmechanismen der europäischen Gemeinschaft ist (vgl. Zimmermann 2015: 96f.). Auf einer juristischen Ebene trägt sie im Dienst des Staats zu der Inklusion oder Exklusion Außenstehender bei, doch auf einer soziokulturellen, die gesellschaftliche Integration betreffenden Ebene, sieht sie sich selbst von einer ständigen sozialen Degradierung bedroht, die einem Ausschluss gleichkäme. Somit zeigt sich an der Protagonistin in Sinhas Autofiktion jene Diskrepanz zwischen dem rechtlichen und dem sozialen Status einer Person, der in der vorliegenden Untersuchung mit Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona beschrieben werden soll (vgl. Dal Lago 2012: 9, 207). An verschiedenen Stellen der Autofiktion reflektiert die Erzählerin ihre widersprüchliche Rolle als Übersetzerin sowie die vielfältigen Funktions- und Wirkweisen der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Zwar wird von einer übersetzenden Instanz meist erwartet, dass diese als bloßes Medium fungiert, sozusagen hinter dem Gesagten verschwindet,11 und auch die Hauptfigur betont wiederholt ihre Stellung als »visage neutre« (Sinha 2012: 59): »Au théâtre populaire je n’existais pas. Mon rôle était de m’effacer. Tout l’effort consistait à ne pas exister.« (ebd.: 135) Dennoch ist sie sich der Bedeutung ihrer Wortwahl und Intonation bewusst und weiß, dass sie die Erzählungen der Eingewanderten subjektiv einfärben oder gar verfälschen könnte, wie es ihre Kollegin Ève tut (vgl. ebd.: 98). Diese gibt gegenüber der Protagonistin zu, ihre Übersetzungen zu manipulieren, um Eingewanderten aus ihrer Heimat zu einem geregelten Aufenthaltsstatus zu verhelfen. Dabei scheint Èves Widerstand im Kräftenetz des Migrationsdispositivs möglich zu sein, da sie dessen Prozesse und Verfahrensweisen genau kennt und als Disponierende die Möglichkeit hat, auf die Machtrelationen des Dispositivs einzuwirken (vgl. Bussolini 2010: 92). Ève tchétchène, die tschetschenische Eva, nach der das vierzehnte Kapitel der Autofiktion benannt ist, scheint sich gemäß der biblischen Tradition ihres Namens als die erste Frau im Paradies Frankreich zu verstehen und möchte Migrant*innen aus ihrer Heimat Zugang zu diesem verschaffen. Sie begeht jedoch, um den biblischen Vergleich fortzuführen, eine Sünde, indem sie die Gebote der
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Zum Topos der Unsichtbarkeit in der Übersetzungstheorie siehe Andrew Wilsons Monografie Translators on Translating. Inside the invisible art (2009), insbesondere die Einleitung mit dem bezeichnenden Titel »Is my invisibility showing?« (ebd.: xv-xxii). Für eine kritische Betrachtung der Vorstellung, nach der die übersetzende Instanz als neutrales, kaum wahrnehmbares Medium eine vollkommene Äquivalenz der Botschaft in der Ausgangssprache und der Zielsprache herstellen soll, siehe Christiane Nords Ausführungen zu den Begriffen Loyalität und Äquivalenz (vgl. Nord 2013 [2011]: insbesondere 11-19).
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Neutralität und Authentizität ihrer Arbeit als Übersetzerin missachtet, um einen positiven Einfluss auf den Ausgang von Asylverfahren auszuüben. Aufgrund ihres Vorgehens bezeichnet die Protagonistin ihre Kollegin nicht länger als Übersetzerin, sondern als romancière,12 gar als politisch engagierte Autorin: »Détournement du récit. Pour l’acte charitable. C’est elle, la romancière. Et engagée.« (Sinha 2012: 98). Mit dieser Aussage kategorisiert sie Èves Übersetzungen einerseits ob ihres verfälschenden Charakters als Fiktion, andererseits erhebt sie die Transferleistung des Übersetzens von einer möglichst neutralen Übertragung zu einer eigenständigen literarischen Tätigkeit. Die Übersetzungen werden zu Literatur. Ob Ève in Analogie zur biblischen Eva letztlich des Paradieses verwiesen wird, bleibt offen, doch sie berichtet, dass sie gesundheitlich stark unter ihrer Arbeit leidet, wie in Kapitel 5.2.2.2 thematisiert wird. In jedem Fall kann ihr Verhalten als Widerstandsstrategie gegen die biopolitischen Mechanismen des Asylsystems gedeutet werden, da Ève eine entscheidende Leerstelle in dessen Verfahrensweisen zugleich repräsentiert und ausnutzt: Den Faktor Mensch. Betrachtet man ihre Transferleistung der Translation somit als kreative Tätigkeit und Ausdruck einer nicht kontrollierbaren Vitalität des Lebens, die mit der Ökonomie und Ordnung des Dispositivs Asylsystem bricht, so kann man Èves Taten mit Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2001: 394-411) als eine Form der Wiederaneignung alternativer Werte des Kommunen und damit als Widerstand gegen die biopolitischen Dynamiken des Empire lesen, der in der Immanenz des Literarischen seine Macht auslotet. Ebenso wie ihre Kollegin hat auch die Protagonistin eine biopolitische Macht über die Diskurse inne, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit rezipiert, transformiert und wiedergibt. Die Art und Weise, in der sie einen Bericht übersetzt, kann maßgeblich für den Ausgang eines Asylverfahrens sein. Sie befindet sich in einer Position, die mit großer Verantwortung einhergeht und eine deutlich privilegierte Stellung gegenüber den Antragstellenden bedeutet, was der Erzählerin häufig unangenehm ist: L’officier parlait sa langue, la langue du pays d’accueil, la langue des bureaux vitrés. Le requérant parlait sa langue de suppliant, la langue des clandestins, la langue du ghetto. Et moi je reprenais ses phrases, les traduisais et les servais à chaud. […] C’était une passerelle de corde, maigre, frissonnante entre les requérants et
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Die Frage, inwiefern Übersetzer*innen selbst als Autor*innen gelten können, bzw. ihrer Arbeit etwas originär Schöpferisches innewohnt, wird in zahlreichen Studien debattiert. So vertritt Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers (1972 [1923]) die Ansicht, dass eine gute Übersetzung nicht in der bloßen Übertragung einer Mitteilung und einer möglichst großen Nähe zum Original bestehen kann. Vielmehr müsse sich die Übersetzung im Gegenteil in Freiheit vom Original entfernen, um Sprache in einer Reinheit zu erfassen, die nur eine Übersetzung zum Ausdruck bringen kann. Insofern zeichnet sich die Übersetzung für Benjamin durch einen irreduziblen, kreativen Eigenwert aus.
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moi. […] Nous parlions la même langue, la nôtre, mais c’était comme crier de mon neuvième étage vers un passant du trottoir, vers un mendiant accroupi et dissimulé dans ses loques sales. Pire encore, parfois j’avais l’impression d’avoir jeté l’eau chaude de mes mots sur leur tête ahurie. (Sinha 2012: 26) In dieser Passage erfolgt eine Hierarchisierung der beiden Sprachen auf Basis der wirtschaftlichen Situation ihrer Sprecher*innen. Das Französische, die Sprache der reichen Aufnahmegesellschaft, wird topologisch mit dem kultursemiotisch positiv konnotierten ›oben‹ assoziiert, während das Bengalische, »la langue du ghetto«, in einem negativen ›unten‹ verortet wird (vgl. Mahler 2015: 17-19). Dank ihrer Zweisprachigkeit und ihrer gutbürgerlichen Situation befindet sich die Protagonistin zwar oben in der Hierarchie, schämt sich aber für ihre Machtposition, in der sie verpflichtet ist, die Eingewanderten sprachlich zu entlarven und in die Enge zu treiben. Gleichzeitig verdeutlicht die Metapher des Hochhauses über die Gegensatzpaare ›oben-unten‹ sowie ›drinnen-draußen‹ erneut die Entfremdung und das erschwerte Verständnis zwischen der Protagonistin und den Migrant*innen aus ihrer Heimat: »[E]lle est un symbole de réussite dans ce pays auquel tant de ses compatriotes rêvent d’accéder légitimement. […] [P]ire, elle représente le pouvoir qui va peut-être leur nier leur désir de s’installer dans ce pays d’Europe.« (Rice 2014: 227) Die mit ihrer Funktion als kulturelles und sprachliches Bindeglied einhergehende Verantwortung macht die Hauptfigur überdies zum einzigen von allen beteiligten Parteien angreifbaren Element des Asylverfahrens. Sie bewegt sich auf dem Schnittpunkt verschiedener biopolitischer Verpflichtungen, Interessen und Strategien und wird mit Vorwürfen konfrontiert, sobald der Prozess nicht so verläuft, wie es sich die Beteiligten respektive vorstellen.13 Wenn die Antragsteller*innen sich während der Gespräche in der Behörde in Widersprüche verstricken und ihre Chancen auf politisches Asyl zu schwinden drohen, attackieren sie als erstes die Protagonistin und beklagen ihre angeblich mangelhaften Sprachkenntnisse: Lorsque les questions commençaient à les mettre mal à l’aise, lorsqu’ils bafouillaient et qu’ils avaient honte de bafouiller, lorsqu’ils mentaient et savaient qu’ils mentaient, ils piquaient alors une colère sournoise et hurlaient qu’on ne comprenait pas leur langue. Ils hurlaient que moi je ne traduisais pas ce qu’ils disaient. Ils hurlaient que je ne connaissais pas leur langue, que ce n’était pas ma langue. (Sinha 2012: 26f.)
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Dieser Umstand scheint u.a. dem latenten Misstrauen geschuldet zu sein, das Übersetzungsinstanzen in ihrer Mittlerfunktion teilweise entgegengebracht wird und sich in dem Wortspiel »traduttore traditore« (Reinart 2012: 218) widerspiegelt.
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Auch die Mitarbeiter*innen der Behörde führen kulturelle Missverständnisse vorschnell auf die sprachliche Kommunikation zurück und stellen die Kompetenz der Übersetzerin in Frage (vgl. ebd.: 34). Ungleich frappierender ist allerdings, dass die Erzählerin zur bevorzugten Angriffsfläche der Anwält*innen wird, welche die Asylbewerber*innen vor Gericht vertreten. Teilweise wird sie von diesen gar gezielt bedroht und unter Druck gesetzt (vgl. ebd.: 137). Einige scheinen dies aus Motiven der Nächstenliebe zu tun (vgl. ebd.: 115), während die Hauptfigur bei anderen vermutet, dass sie vordergründig ihr professionelles Renommee im Sinn haben (vgl. ebd.: 137). Einmal mehr erweist sich die Rolle der Übersetzerin als eine paradoxale. Sie verleiht der Protagonistin einen gewissen Einfluss und macht sie zugleich zum potenziellen schwachen Glied in der Kette des Asylprozesses: Mme Baumann n’était pas la seule de la bande, mais elle incarnait, pour moi, toute la chevalerie de la cour. […] J’étais sidérée par sa faculté de mentir, par son absence totale de scrupules. Sa tactique consistait principalement à attaquer les interprètes, les accusant de ne pas avoir traduit ce qu’avait dit son client, le demandeur d’asile, et leur ordonnant continuellement de choisir tel ou tel mot, qui n’avait évidemment rien à voir avec la version du requérant. Comme un petit caïd, elle essayait de nous impressionner, de nous faire peur, à nous les interprètes, l’outil le plus fragile, le moins protégé de cette usine à mensonges. (ebd.: 115f.) Die beschriebenen Umstände ihrer Arbeit setzen der jungen Frau mehr und mehr zu und führen zu seelischen und physischen Krankheitserscheinungen, worin sich die nach Agamben (vgl. 2018: 30f., 35) spaltende Wirkung moderner Dispositive zeigen könnte, wie in Kapitel 5.2.2.2 ausführlich dargelegt wird. Dennoch scheint die Hauptfigur keinen wirklichen Widerstand gegen das System zu leisten, sondern vielmehr, auch aufgrund ihres Pflichtgefühls, vor dessen Ungerechtigkeiten zu resignieren. Schon zu Beginn der Autofiktion stellt ihre Beschreibung des Alltags in der Asylbehörde weder einen glücklichen Ausgang noch einen Lösungsansatz in Aussicht: »Commence ensuite la confusion cauchemardesque, le métissage des civilisations.« (Sinha 2012: 23) Offenbar zweifelt die Protagonistin an der Möglichkeit eines Miteinanders der Kulturen und Völker und der letzte Satz der Erzählung, »Il est temps de rentrer« (ebd.: 149), wirkt wie ein pessimistisches Fazit. In den Augen der Hauptfigur scheint es kein Erwachen aus der ›albtraumhaften Vermischung‹ der Kulturen zu geben und vielleicht entscheidet sie sich dazu, nunmehr in sich selbst nach einer Heimat zu suchen (vgl. Mehta 2020: 101). Im Paratext von Sinhas Buch befindet sich jedoch ein Zitat, dass intradiegetisch aufgegriffen wird und den Text in einem Versuch der Normalisierung von Migration zu verorten scheint. Der intertextuelle Verweis ist ein Zitat aus La Barque silencieuse von Goncourt-Preisträger Pascal Quignard:
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Aux oreilles d’un Grec ancien le mot grec de liberté (eleutheria) définissait la possibilité d’aller où on veut (to elthein opou erâ). […] Dans le verbe grec eleusomai (aller où on veut) revivent les bêtes sauvages, en opposition aux animaux domestiqués entourés de barrières, de murets, de fils de barbelés, de frontières (Quignard 2009: 94). Die intertextuelle Referenz überwindet die Schwelle zwischen dem Text und seinem Paratext, da sie von Sinhas Protagonistin wiederaufgenommen wird, als diese Bewegungsfreiheit und Redefreiheit miteinander in Bezug setzt: Eleuthera, la liberté, définit la possibilité d’aller où on veut. Qu’on soit bête ou homme, le désir d’aller où on veut demeure immuable. Qu’on soit grec ou non, libre, on ne l’est pas. Ils ne l’étaient pas, aucun de ces hommes que nous recevions dans nos bureaux ne l’était. Ils ne le seront jamais. Mais ils seront libres de dire ce qu’ils ont à dire. Ils seront libres de dire ce qu’ils veulent croire être leur vérité. Dire est une liberté. Maigre, mais tout de même. (Sinha 2012: 95) Der Wunsch nach Bewegungsfreiheit ist laut der Erzählerin etwas Ursprüngliches, eine unveränderliche Konstante, die Mensch und Tier gemeinsam haben. Die Freiheit zu gehen, wohin man möchte und somit auch die Freiheit, sich für ein Leben im Exil zu entscheiden, werden zu einem festen Bestandteil des Lebens deklariert, wodurch die Bewegung im Gegensatz zum Verharren und zur Sesshaftigkeit das Natürliche wäre. Doch der Zugriff der Politik auf das Leben, jene biopolitischen Dynamiken, die Sinhas Hauptfigur selbst täglich beobachtet, scheinen dieses konstitutive Charakteristikum des Lebendigen zunehmend eingeschränkt zu haben. Mit dem von Michel Foucault (vgl. 1976: 184-190) nachgezeichneten Einsetzen der biopolitischen Regierungstechniken, den entsprechenden territorialen und demografischen Maßnahmen und nicht zuletzt der Anerkennung des Menschen als Subjekt und (Wert-)Einheit, wurde die bereits in der Bibel14 erkennbare Norm der Sesshaftigkeit (vgl. Borsò 2015: 262f.) institutionalisiert. Durch die gesteigerte politische Verwaltung seines Lebens und die zunehmende Bedeutung des Konzepts der Staatsbürgerschaft (vgl. Agamben 2005: 139-145) wurde der Mensch institutionell an seine Regierung und deren Territorium gebunden. Die Bewegung und der SichBewegende wurden mehr denn je zu etwas Deviantem, vor dem die Gemeinschaft sich schützen zu müssen glaubt, indem sie Außenstehende und Nicht-Sesshafte mittels biopolitischer Verwaltungsmechanismen registriert, überwacht und ggf. ausschließt (vgl. Esposito 2016: 223-226). Das Sinhas Assommons les pauvres! im Paratext vorangestellte Zitat aus Quignards La Barque silencieuse, in dem Bewegung als etwas Natürliches verstanden
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Im ersten Buch Mose erschlägt der sesshafte, auf dem Feld arbeitende Kain seinen Bruder Abel, der als Schäfer ein nomadisches Leben führt (vgl. Genesis, 1, 4).
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wird, das wilden Tieren Lebendigkeit verleiht und sie von domestizierten, eingesperrten Tieren unterscheidet, wird also von Sinhas Protagonistin in der oben zitierten Passage aufgegriffen. In der Etymologie des von Quignard verwendeten Verbs domestiquer schwingt bereits die beschriebene Korrelation zwischen der biopolitischen Verwaltung des Lebens, sei es menschlich oder tierisch, und der Einschränkung von Bewegungsfreiheit mit. Von dem lateinischen domesticus bzw. domus, zu Deutsch ›Haus‹, abstammend, bezeichnet domestique laut der digitalen Ausgabe des Petit Robert de la langue française »Qui concerne la vie à la maison, en famille« (Petit Robert 2008-, s.v. domestique) womit die normative territoriale Bindung des Lebens sichtbar wird. Unter dem Verb domestiquer liest man ferner »Amener à une soumission totale, mettre dans la dépendance« sowie »Maîtriser (qqch.) pour utiliser« (ebd., s.v. domestiquer) und findet unter den Synonymen die Verben apprivoiser, asservir, assujettir, dompter. Die Definition des Lemmas und die angegebenen Synonyme zeugen deutlich von Unterwerfung, Machtrelationen sowie von einer Regulierung des Lebens und deuten nicht zuletzt auch dessen ökonomische Nutzbarmachung an. Der para- und intratextuelle Intertext mit Pascal Quignards La Barque silencieuse scheint zu einem Leitgedanken zu werden, unter dem eine Lesart von Sinhas Autofiktion als einer Art Postulat für ein Recht auf Bewegungsfreiheit und Migration möglich wird15 – ein Recht, das die Autorin im Rahmen ihrer literarischen Produktion auch textuellen Elementen, Motiven und Zeichen einzuräumen scheint, die verschiedene Ebenen des Werks durchqueren und sich über die Grenzen des Textes hinwegsetzen, was auch anhand des Intertextes mit Baudelaires Prosagedicht Assommons les pauvres! ersichtlich wird (vgl. 5.4.3). In einer gleichsam isolierten und prominenten Schwellenposition16 zwischen einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹ des Textes scheint Shumona Sinhas Autofiktion in ihrem Paratext
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In Interviews spricht Shumona Sinha sich dafür aus, die Asyl- und Migrationspolitik Europas zu überdenken. Da nach ihren Erfahrungen die meisten Eingewanderten aus Bangladesch ohnehin nicht dauerhaft in Europa bleiben möchten, plädiert sie dafür, Migrant*innen, die aus finanziellen Motiven nach Europa kommen, die Möglichkeit zu geben, für eine bestimmte Zeit legal in einem europäischen Land zu arbeiten, damit sie Kapital ansparen, mit dem sie sich in ihrer Heimat etwas aufbauen können (vgl. Sinha in Ries 2016). Genette konzeptualisiert den Paratext als Schwelle: »Le paratexte est donc pour nous ce qui par quoi un texte se fait livre et se propose comme tel à ses lecteurs, et plus généralement au public. Plus que d’une limite ou d’une frontière étanche, il s’agit ici d’un seuil, ou – mot de Borges à propos d’une préface – d’un ›vestibule‹ qui offre à tout un chacun la possibilité d’entrer, ou de rebrousser chemin.« (Genette 1987: 7f.)
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einen intertextuellen Lektüreschlüssel anzubieten,17 unter dessen Eindruck die Rezeption des Werks von Beginn an steht. Sinhas Ich-Erzählerin ist allerdings nicht die einzige Figur in den untersuchten Werken, welche die Kehrseiten ihrer institutionellen Position sieht. Salvatore Piracci, einer der Protagonisten in Laurent Gaudés Eldorado, überwacht als Kapitän der italienischen Küstenwache stellvertretend für die souveräne Staatsmacht die europäischen Außengrenzen. Auch er kann insofern als personifiziertes Immunisierungsdispositiv betrachtet werden, widmet er doch sein Leben seit nunmehr zwei Jahrzehnten der vermeintlich notwendigen Verteidigung Europas. Im Gespräch mit der Frau, die er Jahre zuvor von einem havarierten Flüchtlingsboot gerettet hatte, reflektiert der Kapitän seine Aufgabe und seinen Werdegang: Cela faisait vingt ans. Il avait commencé comme enseigne sur la frégate Bersagliere – un bâtiment militaire chargé de la surveillance des côtes au large de Bari. Puis il avait quitté les Pouilles pour la Sicile. Il avait été promu, au fil des années, jusqu’à diriger la frégate Zeffiro. Cela faisait trois ans qu’il occupait ce poste. […] Mais au fond, depuis cette époque où il était un jeune homme passionné de mer, fier de la rutilance de son uniforme et qui aurait avalé tous les océans avec un appétit féroce, rien n’avait changé. Les Albanais avaient fait place aux Kurdes, aux Africains, aux Afghans. Le nombre de clandestins n’avait cessé d’augmenter. Mais c’était toujours les mêmes nuits passées à l’écoute des vagues, traversées, parfois, par les cris d’un désespéré qui hurle vers le ciel du fond de sa barque. […] Vingt ans de ces nuits lui avaient usé le visage et cerné les yeux.18 (Gaudé 2009: 21f.) 17
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In einer weiterführenden Auseinandersetzung mit Quignards La Barque silencieuse, die in dieser Untersuchung aus Gründen der thematischen Kohärenz jedoch nur impulsartig erfolgen kann, sowie unter Anwendung eines weit gefassten Konzepts der Intertextualität, wie jenem von Julia Kristeva (vgl. Kristeva 1972, Pfister 1985: 5-11), wird man gewahr, dass der besagte Intertext ein unterschwelliges Textwissen in Form einer ganzen Reihe selbstreflexiver und metaliterarischer Implikationen transportiert, das Sinhas Autofiktion palimpsestartig (vgl. Genette 1982) zu unterliegen scheint. La Barque silencieuse beinhaltet Überlegungen zum Lebensbegriff, zur Freiheit, zur Literatur, zum Schreiben sowie zur Autorschaft und ist Teil der bisher unvollendeten Reihe Dernier Royaume, deren einzelne Bände sich aus diversen Gattungen zusammensetzen (vgl. Cousin de Ravel 2010). Es ergeben sich formale wie inhaltliche Parallelen zu Sinhas Text, die nahelegen, dass die Lektüre Quignards die Ausarbeitung von Assommons les pauvres! beeinflusst haben könnte. Stefan Müller (vgl. 2010: 134f.) hebt hervor, dass die beiden genannten Schiffe, wie die meisten Figuren in Gaudés Roman, sprechende Namen tragen. Zeffiro spielt auf den mythischen Windgott Zephir an und ist nur ein Beispiel für Gaudés wiederkehrende Rückgriffe auf mythische Elemente, wie unter 5.3.1.2 ausgeführt wird. Bersagliere bedeutet ›Scharfschütze‹ und unterstreicht die militärische Dimension der Tätigkeit der Küstenwache, die im Fortgang dieses Kapitels vor dem Hintergrund europäischer Immunisierungsstrategien analysiert wird. Ebenso werden die Bedeutungen der Vornamen des Kapitän Salvatore Piracci sowie seines Freundes Angelo an späterer Stelle kommentiert. Die Bedeutungen der Vornamen von Solei-
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Das Leben des Kapitäns bewegt sich seit zwanzig Jahren beinahe ausschließlich innerhalb der Strukturen und Hierarchien der Marine. Im Rahmen seiner militärischen Ausbildung wurde er, um mit Foucault zu sprechen, durch die Dispositive des exekutiven Staatsapparats subjektiviert und identifiziert sich dementsprechend mit der Institution. In dem zitierten Auszug deutet sich aber bereits jene Veränderung an, die Salvatore Piracci im Fortgang der Handlung durchlaufen wird, da er zunehmend die Sinnhaftigkeit seiner Funktion anzweifelt. Er stellt fest, dass sich in zwanzig Dienstjahren an seiner Tätigkeit nichts geändert hat. Die Zahl der Migrant*innen ist stetig angestiegen, lediglich die Nationalitäten der Menschen, die er vor den italienischen Küsten abfängt oder rettet, wechseln im Rhythmus internationaler politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Der Kapitän selbst scheint sich hingegen durchaus verändert zu haben: Aus dem zielstrebigen, stolzen jungen Mann von damals ist ein müder, resignierter geworden. Dennoch stellt er sein Leben zu diesem Zeitpunkt noch nicht grundsätzlich in Frage und ahnt nicht, dass das Wiedersehen mit der geretteten Frau einen Wendepunkt für ihn darstellen soll. Die Migrationsgeschichte der Frau sowie ihr Plan, sich an den Schleppern zu rächen, die Schuld am Tod ihres Sohns tragen (vgl. ebd.: 24-34), erschüttern Piracci und setzen einen Prozess in Gang. Er beneidet die Frau um ihre Willensstärke und empfindet sein eigenes einsames Leben als umso leerer (vgl. ebd.: 38). Wenngleich die Begegnung ihn beschäftigt, kehrt er zunächst in seinen Alltag zurück (vgl. ebd.: 55). Erst als er nach einigen Monaten einen Brief der namenlosen Frau erhält, kommen dem Kapitän weitere Zweifel bezüglich seiner Arbeit bei der Küstenwache: Die Frau befindet sich mit einer Waffe, die der Kapitän ihr ausgehändigt hatte, auf dem Weg nach Syrien, um dort den Kopf der Schlepperbande zu töten. Im Gespräch mit seinem Freund Angelo fragt sich Piracci, wieso er der Frau seine Waffe gegeben hat und sogar, ob es nicht eigentlich an ihm gewesen wäre, den Chef des Schlepperrings zur Strecke zu bringen (vgl. ebd.: 57f.). Erneut äußert der Kapitän Bedauern über sein Leben, das er angesichts der Überzeugungen dieser Frau, die trotz ihrer traumatischen Vergangenheit ihr Schicksal in die Hand nimmt, als leer und sinnlos empfindet: – J’ai le sentiment qu’elle est infiniment plus vivante que moi. Elle a décidé quelque chose et elle s’y tient. Je l’envie pour cela. – Pourquoi dis-tu cela? demanda Angelo en lui resservant un verre de vin, surpris de la pointe d’irritation qu’il avait perçue dans la voix de son ami. – Je vais continuer, dit le commandant. De Catane à Lampedusa. Aller-retour. Sans
man und Boubakar werden in Kapitel 5.3.1.1 in Zusammenhang mit dem migrantischen Dasein der Figuren und ihrer gewaltsamen Konfrontation mit spanischen Grenzschützer*innen bei Ceuta thematisiert.
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cesse. Des barques vides. Des barques pleines. La migration des nations. Je vais continuer. Une vie entière de patrouilles. (ebd.: 62) Der Kapitän scheint plötzlich zu erkennen, in welchem Ausmaß sein Leben durch die Arbeit bei der Marine eingenommen und von der Routine der Immunisierungsdynamiken bestimmt wird. Die kurzen, teils elliptischen und parataktisch angeordneten Sätze verleihen seiner Aussage eine Monotonie, welche die immer gleiche, technisch-logistische Natur seiner Tätigkeit zum Ausdruck bringt. Die reduzierte syntaktische Struktur unterstreicht die Tatsache, dass Piracci routiniert Befehle ausführt, ohne deren Zweck zu hinterfragen. Die Beschreibung seiner Aufgaben benötigt keine weiteren Informationen oder Spezifikationen in Form von Nebensätzen. Im Leben des Kapitäns lässt sich offenbar die von Foucault beschriebene, ambivalente Relationalität von gouvernementalité und Freiheit erkennen (vgl. 2.2.3). Liberale Regierungssysteme ermöglichen zwar bis zu einem bestimmten Punkt die individuelle, freie Entfaltung des Subjekts, binden es aber zugleich in die Ökonomie eines auf das Allgemeinwohl ausgerichteten biopolitischen Systems ein. In der daraus resultierenden »Doppelbewegung von Unterwerfung und Subjektwerdung« (Pieper 2007: 219) stellt Kapitän Piracci sein gesamtes Leben in den Dienst des Staats, obwohl ihn dies augenscheinlich unglücklich macht und er die Freiheit hätte, anders zu entscheiden. Mit den Worten von Michael Hardt und Antonio Negri haben Individuum und Kollektiv in der vom Empire geschaffenen, postmodernen Kontrollgesellschaft die biopolitische und bioökonomische Logik des Systems derart verinnerlicht, dass ihr gesamtes Leben in einer Art alternativlosem Einverständnis nach ihr organisiert und verwaltet wird. Das Leben Piraccis steht vollends im Zeichen der biopolitischen Regulierung von Migrationsbewegungen, die sich seines Körpers und seiner Kräfte bedient, wie die beschriebene narrative Gestaltung der Passage verdeutlicht. Dies scheint zu der von ihm empfundenen Leere zu führen, »a state of autonomous alienation from the sense of life and the desire for creativity.« (Hardt/Negri 2001: 23) Doch seitdem er mit der Frau gesprochen hat, denkt der Kapitän zunehmend kritisch über seine Mission: – Ils nous disaient que nous étions là pour garder les portes de la citadelle. Vous êtes la muraille de l’Europe. C’est cela qu’ils nous disaient. C’est une guerre, messieurs. Ne vous y trompez pas. Il n’y a ni coups de feu ni bombardements mais c’est une guerre et vous êtes en première ligne. Vous ne devez pas vous laisser submerger. Il faut tenir. Ils sont toujours plus nombreux et la forteresse Europe a besoin de vous. […] – J’y ai cru, moi, reprit Piracci. Je ne parle pas de politique ou d’idéologie, non, mais j’y ai cru parce que pendant longtemps c’est cela que je ressentais lorsque j’étais en mer. J’observais l’horizon aux jumelles. Je contrôlais le radar. Repérage. Chasse. Interception. J’ai longtemps été, au large des côtes, un des gardiens de
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la citadelle. […] Depuis près de vingt ans, je promène ma silhouette sur la mer et je suis le mauvais œil qui traque les désespérés. C’est de cela que je suis épuisé. (Gaudé 2009: 62f.) Der Auszug exemplifiziert die diskursive Legitimation europäischer Immunisierungsdynamiken durch den Rückgriff auf militärisches Vokabular. Der militärische Spezialdiskurs (vgl. Link 2013: 10-12) konstruiert ein Feindbild, in dem Migrant*innen als gefährliche Eindringlinge dargestellt werden, wodurch die Männer der Küstenwache sich in ihrer Aufgabe bestärkt sehen, ohne die damit einhergehenden politischen Ansichten unbedingt zu teilen. Salvatore Piracci scheint diesen Diskurs verinnerlicht zu haben, denn auch als er bereits Bedenken hinsichtlich seiner Funktion in der Küstenwache hegt, bedient er sich fortwährend einschlägiger Wortfelder und bezeichnet Migrant*innen als ›Angreifer‹ und ›Eroberer‹: »Le gardien de la citadelle était fatigué tandis que les assaillants étaient sans cesse plus jeunes. […] Il pensa alors qu’il ne servait à rien. Qu’il repoussait des hommes qui revenaient toujours plus vifs et conquérants.« (Gaudé 2009: 108, eig. Herv.) Anhand der Imperative im obigen Zitat, »Ne vous y trompez pas«, »Vous ne devez pas«, ist ersichtlich, dass Piracci und seine Kolleg*innen in diesen Strukturen Disponierte sind, die Befehle auszuführen haben, ohne sie zu hinterfragen, was sich erneut in einer elliptischen Syntax ausdrückt: »Repérage. Chasse. Interception.« Der Kapitän hat lange an diese Rhetorik geglaubt und nach ihr gelebt, womit sie sich auf einer außerdiskursiven Ebene in Taten realisiert hat. Sein Leben ist gänzlich in das militärische Dispositiv, hier eine Art Subdispositiv des Migrationsdispositivs, integriert: Militärische Diskurse bestimmten Piraccis Denken und Handeln, militärische Routinen bestimmten seinen Tagesablauf und seine Aufenthaltsorte, seine Uniform trägt er als militärisches Objekt am Körper. Die Figur des Kapitäns wirkt in der Tat wie ein personifiziertes Immunisierungsdispositiv, das stellvertretend für die souveräne Macht handelt und zugleich selbst von deren Kräftenetz durchzogen ist. Wie schon die Protagonistin von Shumona Sinha ist Piracci innerhalb dieser Strukturen Disponierter und Disponierender und ebenso wie Sinhas Hauptfigur leidet er zunehmend unter seiner Rolle in der europäischen Migrationspolitik. Eine dramatische Nacht auf See und die persönliche Begegnung mit einem Geretteten stürzen Gaudés Protagonisten endgültig in eine Sinnkrise. Ein havariertes Frachtschiff mit Migrant*innen an Bord hat einen Notruf abgesetzt und es stellt sich heraus, dass die Besatzung die Migrierenden in fünf Rettungsbooten auf See zurückgelassen hat. Kapitän Piracci setzt alles daran, die in Seenot geratenen Menschen zu retten und blendet seine Rolle als Grenzschützer in der europäischen Abschottungspolitik punktuell aus (vgl. ebd.: 65-68). Tatsächlich findet die Küstenwache zwei der fünf Rettungsboote und kann die auf ihnen befindlichen Migrant*innen an Bord holen. In dem Moment, in dem die Geretteten sein Schiff betreten,
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muss der Kapitän allerdings wieder zum Repräsentanten der Staatsmacht werden und im Sinne der europäischen Politik handeln: Die Dynamiken des Migrationsdispositivs verschieben sich und Piracci verwandelt sich aus der Perspektive der Migrant*innen vom ersehnten Retter zu einem Symbol ihres gescheiterten Versuchs, Europa unbemerkt zu erreichen. Er hadert mit seiner Rolle: Gianni jeta une échelle de corde et l’opération de montée à bord put commencer. […] Pour un instant encore, il était en train de sauver des vies. De soustraire des êtres à l’engloutissement. Pour un instant encore, il n’y avait que cela. Dès qu’ils auraient tous pris pied à bord, il allait devoir redevenir le commandant italien d’un navire d’interception. Il aurait voulu que cet instant s’étire éternellement, que ce soit cela son métier: une quête dans la nuit à la recherche d’embarcations perdues. Un combat entre lui et la mer. Rien d’autre. Reprendre les hommes à la mort. Les expier de la gueule de l’océan. Le reste, tout le reste, les procédures d’arrestation, les centres de détention, les tampons sur les papiers, tout cela, à cet instant, était dérisoire et laid. (ebd.: 72) Piracci sieht seine Arbeit zunehmend skeptisch und findet es widersprüchlich, dass er Menschen rettet, nur damit diese verhaftet, in die biopolitischen Verwaltungsstrukturen Europas aufgenommen und letzten Endes in den meisten Fällen abgeschoben werden können. Dieses Paradox ist gewissermaßen in seinem Namen angelegt, der in der Eröffnungsszene des Romans im symbolischen Feld der Religion verortet wird. In der ersten Episode aus Kapitän Piraccis Erzählstrang ist die Präsenz von Fisch auf dem Markt Catanias frappierend. Die Straßen der Stadt sind von Fischgeruch erfüllt, hunderte Fische sind an den Ständen der Verkäufer*innen ausgestellt, das bunte Treiben auf dem Fischmarkt wird detailliert geschildert (vgl. ebd.: 11f.).19 Das griechische ichthýs, zu Deutsch ›Fisch‹, gilt im Christentum als Glaubensbekenntnis in Form eines Akronyms und bedeutet in etwa ›Jesus Christus,
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Der auktoriale Erzähler stellt allerdings in Aussicht, dass das Meer den Menschen eines Tages seine Reichtümer vorenthalten könnte, womit Gaudé auf den Topos der Sünde und der damit einhergehenden göttlichen Bestrafung einzugehen scheint: »L’homme a tant fauté qu’aucune punition est à exclure. La mer, un jour, les affamerait peut-être.« (Gaudé 2009: 12) Mit Blick auf die Thematik von Eldorado und im Kontext des vorab eingeführten symbolischen Felds der Religion könnte der Erzähler hier auf die fehlende Solidarität und Nächstenliebe anspielen, die in der europäischen Migrationspolitik zum Ausdruck kommen. Er könnte aber ebenso die Überfischung der Meere und den Umgang der Menschheit mit natürlichen Ressourcen kritisieren, da Ökokritik nach Dounia Boubaker (vgl. 2015: 77-80) ein wiederkehrendes Motiv in Gaudés Werk darstellt.
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Gottes Sohn, Erlöser‹.20 Das Symbol geht auf Jesu Worte an Petrus und Andreas im Matthäusevangelium zurück: »Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.« (Matthäus 4,19) Die prominente Position dieser Symbolik auf den ersten Seiten des Romans verleiht Eldorado gleich zu Beginn eine religiöse Bedeutungsdimension, die sich im Vornamen des Kapitäns wiederfindet: In Salvatore, auf Deutsch ›Retter‹, klingt seine Tätigkeit als Kapitän der Küstenwache an, im Rahmen derer er Seenotrettung betreibt und im wörtlichen Sinne zu einem ›Menschenfischer‹ wird. Sein Name könnte insofern mit dem Erlöserglauben21 in Verbindung gebracht werden und ein Vorzeichen seiner Begegnung mit Soleiman darstellen, dem er aus einer tiefen Sinnkrise hilft und Hoffnung für die Fortsetzung seiner Migration schenkt (vgl. Gaudé 2009: 218). Doch Salvatore Piracci ist nicht nur ein Retter, sondern ebenso ein Vertreter des Staats, der seinen Verpflichtungen nachkommen und die geretteten Menschen der Polizei übergeben muss, wodurch sich religiöse Symbolik und juristische Semantik in einer unentwirrbaren Ambivalenz zu verflechten scheinen. Zu einem späteren Zeitpunkt, als er sein altes Leben bereits hinter sich gelassen hat, bezeichnet Piracci sich rückblickend als Cerberus (vgl. ebd.: 136), den dreiköpfigen Hund, der in der griechischen Mythologie den Eingang zur Unterwelt bewacht (vgl. Zerling 2012: 143). Gaudés Text greift somit auf mythologische Motive und religiöse Symbole zurück, um die paradoxen Verfahrensweisen der Biopolitik greifen zu können. Wie sich an mehreren Stellen der Untersuchung zeigen wird (vgl. 5.3.1.2, 5.3.3.1) nutzen einige der analysierten Werke den Rückgriff auf mythologische oder symbolische Elemente, um biopolitische Strukturen im Kontext von Migrationsphänomenen mit einem alternativen Deutungssystem zu beschreiben. An der vom Kapitän gewählten Metapher ist allerdings frappierend, dass Europa nicht länger als ein paradiesisches Eldorado dargestellt wird, sondern in sein Gegenteil umschlägt und über den Vergleich des Kontinents mit der Unterwelt offenbar dessen problematischer Umgang mit Migrierenden angeprangert wird. Nachdem Kapitän Piracci und seine Besatzung in besagter Nacht von den Geretteten die Bestätigung erhalten, dass sich noch drei weitere Rettungsboote auf offener See befinden, setzen sie die Suche fort, obwohl der Sturm an Kraft gewinnt. Letztendlich müssen sie jedoch aufgeben und voll des Schmerzes und der Verzweiflung gibt Piracci den Befehl, das Schiffshorn ertönen zu lassen, damit die Menschen, sollten sie noch leben, wissen, dass man nach ihnen gesucht hat (vgl.
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In seiner bereits 1928 erschienen theologischen Referenzstudie nimmt Franz Joseph Dölger eine detaillierte Untersuchung des Fisch-Symbols im Christentum vor, in der er u.a. die unterschiedlichen Überlieferungen und Auslegungen des Akronyms ichthýs dokumentiert und kommentiert (vgl. Dölger 1999 [1928]). In Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie (1985) befasst sich Thomas Pröpper mit verschiedenen Dimensionen des Erlöserglaubens in der christlichen Theologie.
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Gaudé 2009: 78). Dieses Ereignis lässt den Protagonisten erneut seine Situation überdenken und er stellt fest, dass er eine grundlegende Entfremdung empfindet: [I]l était obligé de constater qu’il se détachait peu à peu de sa vie. […] Oui, c’était cela. Il n’était plus tout à fait en lui, comme s’il se décollait de sa vie. […] Pour la première fois depuis qu’il avait embrassé la carrière dans la marine, il lui sembla impossible de passer une vie entière aux rythmes des patrouilles en mer. Qu’allait-il faire? Arraisonner des barques trouées pendant dix ans? Escorter des ombres jusqu’à des centres de détention pour ne plus jamais les revoir? […] Tout cela était absurde et vain. Lorsqu’il pensait à cette succession de jours et de nuits qu’il lui restait à vivre dans son uniforme, la nausée le saisissait. Il suffoquait. La foi en la nécessité de sa tâche l’avait définitivement quitté. Pire, cette foi s’était transformée en suspicion. Il devait fuir tout cela. Il en était de plus en plus convaincu. (ebd.: 96f.) Plötzlich sagt sich Piracci von den Diskursen der Immunisierung los und sieht keinen Sinn mehr in seinem Beruf. Die Uniform, die er einst mit Stolz trug, lässt ihn plötzlich Übelkeit empfinden, er ringt nach Luft. Wie bei Sinhas namenloser Hauptfigur (vgl. 5.2.2.2) wirken sich die Machtdynamiken des Migrationsdispositivs auf Körper und Seele des staatlichen Repräsentanten aus und Piracci fasst den Entschluss, so nicht länger leben zu wollen. Wie tief er die Dynamiken des Dispositivs allerdings verinnerlicht hat, wie stark er in seiner Subjektivität durch die Gesetze und Hierarchien staatlicher Institutionen geprägt ist, zeigt sich kurz darauf, als er die Gelegenheit hat, sich ihnen zu widersetzen. Einer der Migranten, der zuvor als Übersetzer zwischen der Besatzung und den Geretteten fungiert hatte, bittet den Kapitän, ihn vor der Polizei zu verstecken, bevor sie in den Hafen fahren. Er hofft, unbemerkt von Bord zu gelangen, um einer eventuellen Abschiebung zu entgehen (vgl. Gaudé 2009: 98f.), doch Piracci weist ihn ab, ohne selbst zu verstehen, weshalb: »Il a raison. Je pourrais. Qu’est-ce qui m’en empêche?« (vgl. ebd.: 100). Zu spät ringt der Kapitän sich dazu durch, den Mann zu verstecken. Das Schiff ist bereits in den Hafen eingelaufen, die Migrant*innen stehen an Deck, die Polizei wartet darauf, sie festzunehmen und der Mann, der Piracci um Hilfe gebeten hatte, wirft dem Kapitän einen letzten bitteren Blick zu (vgl. ebd.: 102f.). Aus Wut über seine Untätigkeit und seinen Gehorsam gegenüber den Gesetzen des Staats, greift die Hauptfigur einen der Schlepper an, die ebenfalls im Hafen festgenommen wurden. Als ein Oberst der Polizei ihn zur Ordnung ruft, hält er allerdings sofort inne: Il voulait continuer, frapper jusqu’à ce que l’homme gise à terre, et au-delà encore, mais, d’un coup, une voix retentit, au-dessus du tumulte: – Commandant, je vous ordonne d’arrêter cela tout de suite. Il aurait pu passer outre et poursuivre mais son corps se raidit. Il reconnaissait
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cette voix. C’était celle de l’autorité. Cela faisait vingt ans qu’il lui obéissait, vingt ans qu’il avait été dressé pour s’exécuter sur-le-champ. Sa main, immédiatement, resta suspendue. (ebd.: 105f.) Obgleich Piracci den Entschluss gefasst hat, seine Arbeit nicht weiter auszuführen, reicht ein einziger Befehl eines ihm übergeordneten Beamten, um sein Pflichtbewusstsein zu aktivieren und sein Aufbegehren zu unterbinden. Die Kräfte des Dispositivs haben sich derart in seine Person eingeschrieben, dass er nur schwer aus seiner Doppelrolle als Disponierender und Disponierter ausbrechen kann. Außerdem weiß er, dass diese unbedeutende Tat lediglich ein vergeblicher Versuch ist, seinen fehlenden Mut auszugleichen (vgl. ebd.: 107). Dennoch ist dieser Zwischenfall die Erfahrung, die ihn endgültig dazu führen wird, sein altes Leben aufzugeben. Als er im Nachgang der Attacke gegen den Menschenhändler die Vorladung zu einem Disziplinarverfahren erhält, steht sein Entschluss bereits fest. Er teilt seinem einzigen Freund Angelo22 mit, dass er der Vorladung nicht nachkommen und Italien verlassen wird: Je ne veux plus être dans cette situation, Angelo. Si cela se devait se reproduire, demain ou dans cinq ans, je n’hésiterais plus. Je le cacherais. Et j’essayerais même d’en faire tenir le plus grand nombre dans ma cabine. Mais pas tous. Je ne pourrai pas les prendre tous. Comment est-ce que je choisirai? Pourquoi celui-ci plutôt qu’un autre? Cela me rendra fou. Ce pouvoir sur la vie des hommes, je n’en veux pas. Non. […] Je ne peux plus supporter ces regards de demande infinie puis de déception. Ces regards de peur et dévastation. Je ne veux plus. (ebd.: 128f.) In diesem Auszug sagt Salvatore Piracci ganz deutlich, dass er es nicht länger erträgt, über das Leben von Menschen zu verfügen. Die staatliche Macht, die ihm im Rahmen des Migrationsdispositivs stellvertretend erteilt wurde, belastet ihn psychisch schwer. Erst als er seinen Entschluss in die Tat umsetzt, und sich dem Staatsapparat und seinen Pflichten endgültig entzieht, fühlt er sich befreit (vgl. ebd.: 134-137). Sowohl in Assommons les pauvres! als auch in Eldorado wird somit die Rolle derer ausgelotet, die als Mitglieder der Aufnahmegesellschaft und Vertreter*innen des Staats an der biopolitischen Verwaltung von Migrationsbewegungen teilhaben. In beiden Fällen haben die betreffenden im Migrationsdispositiv eine doppelte Position als Disponierende und Disponierte inne und fühlen sich gegenüber den Kräften der Biopolitik zuweilen ebenso machtlos wie die Eingewanderten, denen sie begegnen. Außerdem scheint ihre Funktion als personifizierte Immunisierungsdisposi-
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Angelos Name bestätigt die zuvor angenommene religiöse Symbolik, die durch die Wahl derartiger populärer christlicher Figuren eine subtile ironisch-parodistische Einfärbung erhält und die Narration teilweise als Fiktion zu entlarven scheint.
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tive Sinhas namenloser Hauptfigur und Gaudés Kapitän Piracci in Leib und Seele überzugehen, sich ihres gesamten Lebens zu bemächtigen, was in beiden Fällen zu einer drastischen Geste der versuchten Befreiung führt.
5.1.3
5.1.3.1
Medien der Macht: Kommunikations- und Wissenssysteme des Migrationsdispositivs Diesseits und jenseits der Rechtsgültigkeit der Schrift: Sprache und Schriftdokumente als Medien der Biopolitik
Shumona Sinhas Assommons les pauvres! behandelt an verschiedenen Textstellen die Relationalität von Schrift und Leben in den Dynamiken des Dispositivs Asylsystem. Im Gespräch mit den officiers de protection tragen die Antragsteller*innen ihre Asylgründe mündlich vor und die Protagonistin übersetzt ihre Aussagen, doch ausschlaggebend für die Prüfung der einzelnen Fälle ist letztlich das, was schriftlich in den Akten festgehalten wird. Erst durch die Verschriftlichung der sprachlichen und kulturellen Transferleistung der Übersetzerin werden die Aussagen der Asylsuchenden rechtskräftig (vgl. Twellmann 2016: 030) und in biopolitischen Entscheidungsvorgängen verwertbar: »Bürokratien operieren immer schon auf beiden Seiten der Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und kombinieren geschickt die Vorteile beider Medialitäten.« (Balke/Siegert/Vogl 2016: 005) Die Verschriftlichung fixiert spontane, flüchtige, teils unkontrollierte Äußerungen schwarz auf weiß und verleiht ihnen eine Endgültigkeit, in der sie schließlich zugunsten der Antragsteller*innen oder aber gegen sie verwendet werden können. Wurden ihre Geschichten einmal festgehalten, sind Änderungen nicht mehr vorgesehen und sollte ein Bericht zu viele Fragen aufwerfen, ist die Chance auf politisches Asyl gering, weshalb die Asylsuchenden im Angesicht der Schriftzeichen zuweilen verzweifeln: »Les mots tombaient à verse comme la pluie. Les points d’interrogation pullulaient sur l’écran blanc avant même que les questions ne soient formulées. J’ai vu des hommes mordre le sol.« (Sinha 2012: 25f.) Die Entscheidung über ein mögliches Bleiberecht liegt zunächst ausschließlich bei den officiers de protection, ist also subjektiv und trotz der bürokratischen Automatisierung der Abläufe durch den »Faktor Mensch« (Balke/Siegert/Vogl 2016: 007) zu einem gewissen Anteil kontingent. Sie basiert auf der Glaubwürdigkeit des mündlichen Berichts, sowie auf dessen Übersetzung und kann von Details abhängen: »Ici, tout est dans la langue, dans les mots, entre les lignes. Le nom d’une rivière mal placé auprès d’un nom de village, un adjectif flou pour un incident planté comme un couteau dans la chair, des bribes de phrases prononcées à mi-voix, à voix éteinte, de peur, d’attente, de désespoir.« (Sinha 2012: 98) Die Transformation eines mündlichen Berichts in ein Schriftdokument, dieser spezielle Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit, führt alsdann zu einer Reduktion von Personen und ihren Lebensgeschichten
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auf Aktenzeichen und Wartenummern (vgl. ebd.: 28). Hubert Thüring kommentiert die bürokratische Dokumentation des Lebens wie folgt: Die Dokumente verbergen ihre konstitutive Negativität nicht, sondern stellen sie kompensatorisch mit ihrem sichtbaren Formalismus und ihrer besonderen Rhetorik aus. […] [I]mmer sind sie von irgendeiner qualitativen (Sprache, Stil, Formular) oder quantitativen (Material-, Zeitaufwand) Unverhältnismäßigkeit, einem Zuviel oder Zuwenig im Verhältnis zur Person, zur Tat, zu den Umständen geprägt, denn sie sind nach einer Norm oder auf eine Norm hin ausgerichtet. Diese Unverhältnismäßigkeit zeugt […] von jener elementaren Gewalt, die im jeweils singulären Akt der buchstäblichen Erfassung des Lebens und normierenden Grenze der Markierung zwischen nacktem Leben und Existenz liegt und das sozusagen das kaptive Moment des Aktenvorgangs darstellt. (Thüring 2012: 35f.) Zur Beschreibung dieser Zusammenhänge zwischen biopolitischen Prozessen und der bürokratischen Administration des Lebens könnte der Begriff biocracy bzw. ›Biokratie‹ herangezogen werden. In den letzten Jahrzehnten vielfach verwendet und unterschiedlich konnotiert (vgl. Caldwell 1987: insbesondere 136-162), soll der Terminus in dieser Studie als Wortschöpfung aus bíos, bzw. dessen Derivaten, und Bürokratie die in den untersuchten Werken beobachtete, enge Dialektik zwischen der biopolitischen Verwaltung des Lebens und den entsprechenden bürokratischen Abläufen bezeichnen sowie gleichzeitig die Auslotung der widerständigen Kräfte (griech. krátos) des Lebens (vgl. 5.1.3.2) implizieren.23 Sinhas Erzählerin kommentiert wiederholt die unpersönlichen, verwaltungstechnischen Vorgänge des Asyldispositivs, die ebenso undurchschaubar zu sein scheinen wie die Glasscheiben zwischen den Büros, in denen die Anhörungen der Asylbewerber*innen stattfinden: »On est dans une des pièces semi-opaques où les vitres séparent les contes des pays divers. […] [T]out est séparé ici par les vitres, 23
Nach Riccardo Campa (vgl. 2015: 162) geht der Terminus ›Biocratie‹ auf Auguste Comte zurück. In Zusammenhang mit Fragestellungen der Biopolitik wird der Begriff häufig mit den Schrecken des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht (vgl. ebd.: 143-145). So bezeichnet etwa Roberto Esposito in Termini della politica mit »biocrazia nazista« die Lebens- und Todespolitik der Nationalsozialisten sowie allgemeiner Biokratie als eine Form der »modificazione artificiale della natura umana.« (beide Esposito 2009: 168) In der vorliegenden Untersuchung soll der Begriff jedoch auch im Sinne einer affirmativen Biopolitik ausgelegt werden: Zwar wird er als Komposition aus bíos und Bürokratie zum einen verwendet, um die bürokratische Verwaltung des Lebens zu bezeichnen, die in den Korpustexten zu beobachten ist. Andererseits ist in dem Terminus, wie im Fließtext angemerkt, aufgrund der Etymologie des griechischen krateĩn, zu Deutsch ›herrschen‹ (Duden, s.v. Bürokratie), offenbar gleichzeitig eine ›Kraft des Lebens‹ bzw. ›Macht des Lebens‹ angelegt, welche die Verwaltung desselbigen immer schon zu übersteigen scheint. Wie die Analyse der fünf untersuchten Werke verdeutlichen soll, scheint die Literatur ein privilegierter Ort zu sein, um eben diese widerständigen Kräfte des Lebens fiktional zu verhandeln.
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amorti, cadré, enregistré au format Word dans l’ordinateur de chaque pièce.« (Sinha 2012: 93f.) Ihr Zutun in jenem Prozess sowie die Tatsache, dass sie ihr Geld mit dem Leid anderer verdient, machen der Protagonistin fortwährend zu schaffen (vgl. ebd.: 112, 135): »Mais qui suis-je après tout pour parler d’eux? Je suis en train de voler leurs histoires. Je les sublime dans la misère et dans la laideur. Je suis un narco-pirate. Je cherche à m’énivrer.« (ebd.: 135) Die Hauptfigur empfindet die Wiedergabe der Berichte der Asylsuchenden als eine unrechtmäßige Aneignung und hat das Gefühl, deren Lebensgeschichten zu stehlen. Das Verb sublimer, das auf die Ästhetisierung der Erzählungen von Leid und Not hindeutet, greift dabei die unter 5.1.2 analysierte Auslegung ihrer Übersetzungsleistung als literarische Tätigkeit auf und kann vor dem Hintergrund der autofiktionalen Beschaffenheit des Textes als Verweis auf die Autorin Shumona Sinha gedeutet werden. Die Reflexion der Protagonistin scheint sich zwischen der intra- und der extratextuellen Ebene von Sinhas Autofiktion zu verorten und kann als Brücke zwischen intraliterarischer und extraliterarischer Welt gelesen werden, wodurch der Text einmal mehr autoreferenzielle Züge erhält. Die von Sinhas Protagonistin beschriebene Reduktion von Eingewanderten auf Aktenzeichen und Fallnummern durch Behörden sowie die zentrale Bedeutung von Dokumenten in Migrationsprozessen werden auch in Delphine Coulins Samba pour la France fiktional verhandelt. Bereits während Samba in einer Pariser Polizeipräfektur auf das Gespräch mit einem Sachbearbeiter wartet, muss er eine Wartenummer für das Personenrufsystem ziehen (vgl. Coulin 2014: 9, 10). Im Gespräch scheint der zuständige Beamte Samba, wie oben geschildert, nicht als Person mit einer Geschichte zu betrachten, sondern definiert ihn ausschließlich über seine vorliegenden Dokumente (vgl. ebd.: 10-12). Obwohl es sich nur um Papier oder, wie im Falle der carte de séjour, um ein Stück Pappkarton handelt (vgl. ebd.: 11), sind die Schriftstücke entscheidend für den Fortgang von Sambas Verfahren. Nicht nur in dieser Passage, sondern in der gesamten Erzählung schlägt sich die biopolitischbürokratische Verwaltung des Lebens im Kontext von Migrationsprozessen in der Präsenz und Bedeutung offizieller Dokumente nieder. So wird mehrmals wiederholt, dass Samba die Bestätigung seines Antrags auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis ebenso wie die vorläufige Aufenthaltserlaubnis stets in seiner Brusttasche trägt (vgl. ebd.: 11, 30, 50). Doch als Samba in Abschiebehaft gerät und versucht, einen Beamten davon zu überzeugen, dass ihm Unrecht getan wird, zerreißt der Mann das für Samba unendlich wertvolle Papier vor dessen Augen: Il fixait des yeux ce papier qui ne le quittait pas depuis dix ans, qui l’avait autorisé à résider en France, qui prouvait qu’il avait fait une demande de titre de séjour, ce papier si précieux qu’il le conservait dans la poche gauche de sa chemise, contre son cœur, et alors l’homme de Vincennes l’a saisi et il a dit:
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– […] Ce titre n’est plus valable, sa date de validité a expiré et l’administration a décidé de ne pas le renouveler […]. Et alors il lui a arraché des mains son récépissé, et, à quelques centimètres de ses yeux, il l’a déchiré, en quatre morceaux. (ebd.: 50f.) Die Textstelle verdeutlicht den vergänglichen und insofern relativen Wert des Dokuments sowie die Ambivalenz der Verfahrensweisen der Biopolitik, in denen ein Blatt Papier in einem Moment entscheidend für das Leben eines Menschen sein kann und im nächsten Moment keinerlei Wert besitzt. In Sambas Augen macht die Geste des Beamten die Anstrengungen von zehn Jahren zunichte, da er sich in derselben Situation wiederfindet, in der er kurz nach seiner Ankunft in Paris war – ohne gültigen Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis: »C’était comme s’il avait été tout entier enfermé dans la carte de séjour que l’homme de Vincennes avait déchirée.« (ebd.: 99) Durch die Beraterinnen der Cimade, einer kirchlichen Hilfsorganisation für Eingewanderte, erfährt Samba schließlich, weshalb sein Antrag auf einen dauerhaften Aufenthaltstitel abgelehnt wurde: Er hat nicht genügend sogenannte preuves de vie vorzuweisen, »des factures, des fiches de paie et des relevés de banque« (ebd.: 77), die belegen, dass er integriert ist. Rechnungen auf seinen Namen, etwa für Elektrizität und Wasser, kann Samba nicht vorlegen, da er bei seinem Onkel Lamouna lebt und nie ein eigenes Bankkonto eröffnet hat, weil er sein Gehalt auf das Konto seines Onkels einzahlt. Was er in seinem Leben de facto tut, dass er seit zehn Jahren in Frankreich lebt, arbeitet und Steuern zahlt, zählt in den Augen der Verwaltung nichts, solange es nicht schriftlich dokumentiert wird. Sein Leben muss schriftlich festgehalten und institutionell erfasst sein: »Il fallait prouver qu’on était en vie. C’était une chose difficile.« (ebd.: 77) An einer späteren Stelle macht die Ich-Erzählerin, eine Freiwillige der Cimade, daher die ironische Bemerkung, dass gerade die sans papiers, die sie berät, besonders viele Papiere haben und sie gewissenhaft sammeln, um den Behörden genügend ›Lebensbeweise‹ präsentieren zu können (vgl. ebd.: 109). Insbesondere im Erzählstrang des Kapitän Piracci thematisiert auch Laurent Gaudés Eldorado auf der formalen und inhaltlichen Ebene die Bedeutung von schriftlichen Verwaltungsvorgängen und Dokumenten. Als Salvatore Piracci sich noch in Italien befindet, tauchen im Text auffällig viele Schriftdokumente auf, welche entweder die Einbindung des menschlichen Lebens in bürokratische Vorgänge verdeutlichen oder die Schrift als Mittel der Archivierung, auch von Lebensgeschichten (vgl. Gaudé 2009: 16, 57), inszenieren. Bis zu dem Moment seiner Migration nach Libyen ist der Kapitän in die biopolitische Verwaltung von Migrationsphänomenen involviert, da seine Missionen auf See stets dokumentiert werden müssen. Sobald er mit Migrant*innen an Bord den Hafen auf Lampedusa erreicht, müssen Papiere gestempelt (vgl. ebd.: 72) und unterzeichnet werden:
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Le commandant aurait voulu s’enfermer dans sa cabine et n’en plus bouger mais il dut descendre pour signer des papiers. Il côtoya encore un temps les hommes que les carabiniers mettaient maintenant en colonne. On les compta. On leur distribua de l’eau. […] On les fit monter dans des camions, on prit soin de les compter à nouveau, puis ils partirent en direction du centre de détention provisoire […]. Il signa les papiers qu’on lui tendait, sans même y jeter un œil. (ebd.: 104) Das Dokument, das Piracci unterzeichnet, finalisiert den beschriebenen Vorgang, während dessen die anonyme Gruppe von Eingewanderten systematisch aufgereiht, gezählt, medizinisch untersucht und erneut gezählt wird. Die sich wiederholende passivische Syntaxkonstruktion (on + les + Verb) unterstreicht, dass die Menschen, die derart in die europäische Bürokratie aufgenommen werden, an der Prozedur keinen aktiven Anteil haben, sondern sich der Verwaltung ihres Lebens lediglich fügen können. In welchem Ausmaß auch sein eigenes Leben der biopolitischen Bürokratie unterliegt, versteht Piracci erst, als er aus eben jenem System aussteigen möchte. In einer Unterhaltung mit seinem Freund Angelo berichtet der Kapitän, wie schwierig es u.a. war, sein Bankkonto zu schließen: C’est qu’il n’est pas si facile de quitter sa vie, reprit le commandant en souriant. Sais-tu que lorsque j’ai été voir ma banque pour leur dire que je voulais vider mon compte, ils m’ont répondu que c’était impossible? […] J’ai dû patienter. Deux jours. Puis revenir. Signer beaucoup de papiers. Les choses sont compliquées, Angelo. Quitter sa vie demande beaucoup d’obstination (ebd.: 130). Angelos Antwort, »Oui […] le monde s’accroche à nous par mille pétits détails« (ebd.: 130), verstärkt den Eindruck, dass es kaum möglich ist, das Leben den modernen biopolitischen Strukturen zu entziehen und es aus dem Griff (s’accrocher) ihrer Verwaltung zu lösen (vgl. Balke/Siegert/Vogl 2016: 008), da die Biopolitik, wie Agamben (vgl. 2005: 134) konstatiert, zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem führt. Umso befreiender empfindet Piracci den hoch symbolischen Moment, in dem er seinen Personalausweis verbrennt (vgl. Gaudé 2009: 132), sich seiner alten Identität entledigt und in einem Fischerboot aufs offene Meer fährt: »Il n’était plus personne. Son nom, sa date et son lieu de naissance venaient de disparaître. […] [I]l se sentit bien.« (ebd.: 133) Der Protagonist hat den Eindruck, sein Leben endlich wieder selbst zu kontrollieren und es wiederholt sich die oben zitierte Rhetorik der Herauslösung bzw. des Entzugs in dem Verb extraire: »Lorsqu’il poussa sa petite barque à la mer, il eut le sentiment d’extraire sa vie de tout ce qui l’avait si longtemps engluée« (ebd.: 134). Das Meer, das symbolisch u.a. mit Weite und Bewegung assoziiert wird (vgl. Schneider 2012: 268), steht in dieser Passage somit in einem markanten Kontrast zum Land mit seinen starren Regeln und einengenden Strukturen.
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Ebenso nehmen Ausweispapiere und schriftliche Dokumente in ÉricEmmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad eine zentrale Rolle im Fortgang von Migrationsprozessen ein. So droht die Tatsache, dass Saad weder einen Pass noch ein Visum besitzt, seine Migration unmöglich zu machen, noch bevor sie überhaupt begonnen hat, und der Protagonist sieht sich gezwungen, den Irak auf illegalem Wege zu verlassen (vgl. Schmitt 2016: 74, 94-109). Als er Kairo erreicht, hängt sein Schicksal erneut von Papieren und bürokratischen Vorgängen ab, hinter denen biopolitische Entscheidungsprozesse stehen. Saad möchte beim UNHCR den Status eines politischen Geflüchteten beantragen, doch dies ist längst nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte: »J’allais devoir prendre un numéro qui me permettrait dans quelques jours de m’inscrire pour obtenir un rendezvous, rendez-vous qui aurait lieu six mois plus tard, et d’ici là, je n’aurai le droit ni de louer un lieu pour vivre ni de travailler.« (ebd.: 114) Wie schon bei Sinha und Coulin wird auch Schmitts Ich-Erzähler auf eine Fallnummer reduziert und muss daraufhin in einem monatelangen Schwellenzustand auf seine Anhörung warten (vgl. Haji Babaie/Rezvantalab: 2018: 189). In dieser Zeit befindet er sich in einer prekären Situation, darf weder eine Wohnung mieten, noch arbeiten und führt ein bloßes Leben an den Rändern von System und Gesellschaft. Gerade diese Schwebezustände dienen, so Torsten Hahn (vgl. 2016: 104f.) in Bezug auf Kafkas Das Schloss, der Autopoiesis (vgl. Luhmann 1984: 600-607) der Bürokratie, die sich über ein beständiges Prozessieren und Verwalten legitimiert, da sie nach Abschluss aller Verfahren hinfällig würde. Nach Saads Anhörung, die mit der Frage »Nom, prénom, nationalité, date et lieu de naissance?« (Schmitt 2016: 127) anfängt und das Leben des Protagonisten gleich zu Beginn auf dessen biopolitische Eckdaten reduziert, ist die Hauptfigur ernüchtert. Sein Freund Boub24 hatte ihm vor dem Gespräch dazu geraten, seine Geschichte ›auszuschmücken‹ und zu dramatisieren, da ihm dies größere Chancen auf den ersehnten Status des politischen Geflüchteten einräume: »Ils ont besoin de spectacle, de scandales politiques, de massacres, de génocides« (ebd.: 124). Saad weigert sich jedoch, zu lügen, und tatsächlich sagt die Sachbearbeiterin ihm, dass seine Geschichte trotz aller Not nicht ausreicht, um als politischer Geflüchteter anerkannt zu werden (vgl. ebd.: 132f.). Noch bitterer fällt das Urteil allerdings im Falle von Saads Freund aus: Er hat unsagbares Leid und Folter erlebt, deren Spuren er am Körper trägt, doch sein Verfahren scheitert daran, dass er nicht über international anerkannte Papiere verfügt, die seine Nationalität und Geburt dokumentieren
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Die Abkürzung Boub steht für Boubacar (vgl. Schmitt 2016: 115), womit der Freund Saads in Ulysse from Bagdad denselben Namen trägt, wie Soleimans Gefährte Boubakar in Laurent Gaudés Eldorado. Wie unter 5.3.1.1 näher thematisiert wird, transportiert die Bedeutung des arabischen Namens sowohl Boubs Rolle als Wegbegleiter Saads als auch sein nomadisches Dasein (vgl. Geoffroy/Geoffroy 2009: 60).
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(vgl. ebd.: 136). An Boub zeigt sich der paradoxale Umgang mit Schriftdokumenten im Rahmen der biopolitischen Verwaltung des Lebens besonders deutlich: Er hat nicht genügend Papiere, um als Geflüchteter anerkannt zu werden, aber die Papiere, die er besitzt, würden ausreichen, um ihn in seine Heimat abzuschieben, weshalb die beiden Freunde ihre Dokumente während der Überquerung des Mittelmeers über Bord werfen (vgl. ebd.: 158f.), kurz bevor sie von der maltesischen Küstenwache festgenommen werden. Diese Ambivalenz ist, so Balke, Siegert und Vogl, im System der Bürokratie selbst angelegt, denn »gerade die Bürokratie kennt allerlei Formen einer spontanen Ordnungsbildung, mit denen sie ihren normativen Anspruch beständig unterläuft.« (ebd. 2016: 006) In Tahar Ben Jellouns Partir sind die etlichen Erwähnungen von Dokumenten, die im Zuge von Migrationsprozessen erstellt und literarisch beschrieben werden, derart auffällig, dass sie in der Forschung mehrfach kommentiert werden. So fasst etwa Søren Frank die Handlung des Romans wie folgt zusammen: »In his Mediterranean novel Leaving Tangier […], Tahar Ben Jelloun chronicles the lives of several Moroccan and African persons obsessed with obtaining ›that pretty burgundy passport‹ […] that would grant them access to a more privileged life.« (Frank 2017: 79) Auch Nicoletta Pireddu unterstellt einem Großteil der Charaktere in Partir eine »obession with paperwork as a road to Europeanness« (Pireddu 2009: 23), die sich auf den Stil des Textes auswirkt. Am Beispiel des Protagonisten führt Pireddu vor, wie die Rhetorik in Azels Erzählstrang von einem beinahe naiven, träumerischen Diskurs um ein besseres Leben in sterile, juristisch-bürokratische Formulierungen umschlägt, als er in Spanien ankommt (vgl. ebd.: 23). Um seine Migrationserfahrung zu reflektieren, schreibt Azel im Verlauf des Romans mehrere Briefe an sein Heimatland Marokko. Als er am Flughafen Tangers darauf wartet, dass das Boarding für seinen Flug nach Barcelona beginnt, schreibt Azel den ersten dieser Briefe: »Je pars, le cœur ouvert, le regard fixé sur l’horizon, fixé sur l’avenir; je ne sais pas exactement ce que je vais faire, tout ce que je sais, c’est que je suis prêt à changer, prêt à vivre libre, à être utile, à entreprendre des choses qui feront de moi un homme debout« (Ben Jelloun 2007: 88). Sobald er in Miguels Haus in Barcelona ankommt und mit diesem über die Bedingungen seines Aufenthalts spricht, treffen Azels utopische Vorstellungen jedoch auf die Realität: »Upon Azel’s arrival in Barcelona, the romantic rhetoric of the dreamer is abruptly replaced by the arid legal jargon of immigration bureaucracy: ›papiers‹, ›passeport‹, ›tonnes de paperasse‹, ›avocat‹, ›contrat de travail‹ […] seem the new rite of passage ›pour avoir la paix‹« (Pireddu 2009: 23). Doch nicht nur Azels Schicksal hängt von der Bürokratie Europas und ihrer schriftlichen Dokumentation ab, wie Pireddu ausführt. Seine Schwester Kenza darf dank einer Scheinehe mit Miguel legal nach Spanien einreisen – im Gepäck den Asylantrag für ihre Mutter Lalla Zohra (vgl. Ben Jelloun 2007: 172f.). Azels Freundin Siham findet über den einflussreichen El Haj eine Anstellung bei einer saudischen Familie in Marbella und erhält so nach einem missglückten
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Versuch der illegalen Ausreise endlich das ersehnte Visum (vgl. ebd.: 42, 95-97), das ihr die legale und sichere Einreise nach Spanien ermöglicht (vgl. Pireddu 2009: 24). Die vierzehnjährige Malika hingegen erliegt einer Lungenentzündung, bevor sie Marokko jemals hat verlassen können. In ihrem Fall bleibt die Sehnsucht nach einem europäischen Pass unerfüllt und selbst in ihren Träumen, in denen der Pass gemeinsam mit anderen Habseligkeiten in einem schwarzen Koffer aufbewahrt wird, handelt es sich lediglich um eine selbstgemachte Attrappe, um ein vergilbtes Blatt Papier, das von einem Faden zusammengehalten wird (vgl. Ben Jelloun 2007: 150f., Pireddu 2009: 24). Die große Bedeutung, die Schrift- und insbesondere Ausweisdokumenten in Ben Jellouns Roman zukommt, wird ihnen allerdings auf den letzten Seiten des Textes wiederum entzogen, wodurch eine gewisse Arbitrarität ihrer Wertbeimessung in biopolitischen Systemen wie dem Migrationsdispositiv ausgedrückt wird. Im letzten Kapitel von Partir, das unter 5.4.2.2 ausführlich untersucht wird, tritt ein Großteil der Figuren an Bord des verzauberten »bateau du retour« (Ben Jelloun 2007: 322) eine kollektive aber ziellose Rückkehr an. Als Moha das magische Baumwesen an Bord gehen möchte, wird er von zwei Agenten der Guardia Civil nach seinen Papieren gefragt, woraufhin er beginnt, sein Geäst zu schütteln: L’arbre se secoue, des feuilles tombent de ses branches, des feuilles encore vertes, des cartes d’identité de plusieurs pays, des cartes de toutes les couleurs, des passeports, des papiers administratifs et quelques pages d’un livre écrit dans une langue inconnue. De ces pages des milliers de syllabes sortent soudain, volent en direction des yeux des agents et finissent par les aveugler. Puis les lettres forment ensemble une banderole sur laquelle on peut lire ›La Liberté est notre métier‹. (ebd.: 328) Das vom Text gezeichnete, metaliterarische Bild scheint die Literatur der biopolitischen Bürokratie direkt gegenüberzustellen. Sprache und Literatur werden als Fürsprecher der Freiheit aller Menschen, gar als sprachliche Waffen gegen biopolitische Abschottung inszeniert, die sich in den beiden Agenten der Guardia Civil personifiziert. Identitätspapiere wachsen in dieser literarischen Utopie buchstäblich auf Bäumen,25 wodurch die Dokumente und das politische Konstrukt der Nationalität jegliche Bedeutung einbüßen. Zusätzlich zu den genannten Auszügen können noch diverse weitere Stellen zitiert werden, an denen Einreiseformalitäten, Einbürgerungsverfahren und die dazugehörigen Dokumente in Partir thematisiert werden.26 Dies verdeutlicht, dass
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Zur Herkunft des französischen Sprichworts »L’argent ne pousse pas sur les arbres« siehe Eintrag 1404 im Dictionnaire de proverbes et dictons (vgl. 1990: 115) aus der Reihe Les usuels du Robert. Wörter wie »passeport« (Ben Jelloun 2007: 63, 76, 123, 197, 225, 238, 247, 288), »visa« (ebd.: 30, 59, 60, 63, 76, 84, 87, 129, 190), »papiers« (ebd.: 84, 85, 140, 165, 185, 187, 239, 253, 274, 288,
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die Mobilität der Figuren und damit ihre Lebensentwürfe maßgeblich von der europäischen Einwanderungspolitik und ihrem bürokratischen Apparat, der biocracy, definiert werden, in der insbesondere Botschaften eine entscheidende Autorität innehaben: »The embassy then, for all its means and purposes, is the sovereign arm of the state because its functions – grounded in law and policy – are deeply rooted in the biopolitical conditioning of human life.« (Chami 2019: 7) Diese textuellen Merkmale entsprechen einer extraliterarischen, meist streng juristisch geprägten Wirklichkeit, die sich in der zeitgenössischen Literatur mittels der interdiskursiven Verwendung bürokratisch-juristischer Fachsprache (vgl. Link 2013: 10-12) niederschlägt und, in gewisser Weise, sogar erst materialisieren zu scheint. Wenngleich der europäische Umgang mit außereuropäischer Migration ein beinahe omnipräsentes Thema in Medien und Politik darstellt, scheinen die damit einhergehenden biopolitischen Machtdynamiken abstrakt, latent oder schlicht unzugänglich zu bleiben. Eine fiktionale Thematisierung durch und in Literatur kann die Visibilität dieser Phänomene steigern sowie zu einer fiktionalen Neuformulierung beitragen, und dies nicht allein auf der inhaltlichen Ebene der Narration, sondern auch gerade mittels der schriftlichen Realisierung ansonsten immaterieller Zusammenhänge. Die Literatur agiert hier in ihrem buchstäblichen Sinne – die littera, der Buchstabe, wird zum materiellen Medium – und erweist sich über die Macht der Repräsentation als privilegierter Ort für die Auslotung und Sichtbarmachung biopolitischer Zusammenhänge. Durch die obsessive Beschäftigung der fiktiven Migrierenden mit den genannten Dokumenten, die sich in den beschriebenen, beinahe exzessiven lexikalischen Häufungen ausdrückt, wird die politisch-bürokratische Regulierung menschlichen Lebens für das unter Umständen europäische Reisefreiheit genießende Lesepublikum greifbar. Die fiktionalen Schriftdokumente, ob passeport, visa oder papiers, werden zu Symbolen und textuellen Materialisierungen der fiktionalen und realen biopolitischen Verwaltung des Lebens. Die alles entscheidende Bedeutung von Dokumenten und schriftlichen Verwaltungsvorgängen im Rahmen von Migrationsprozessen wird somit in den fünf untersuchten Werken sowohl auf der Ebene der Handlung als auch textuell, etwa durch entsprechende lexikalische Häufungen, reflektiert. Nimmt Schriftlichkeit im weiteren Sinne in den Texten also eine zentrale Rolle ein, so wird sie allerdings gleichzeitig durch inhaltliche, formale und stilistische Rekurse auf das System der Mündlichkeit und den Themenkomplex der oralen Erzähltradition hinterfragt und unterminiert, wie das folgende Kapitel erläutern wird.
298), »carte de séjour« (ebd: 197, 284, 288), »carte nationale« (ebd: 66, 197), »permis de travail« (ebd.: 284, 288), »dossier« (ebd: 84, 190, 237), »consulat« (ebd.: 84, 190), »contrôle d’identité« bzw. »vérification d’identité« (ebd.: 212, 288) und »régularisation« bzw. »régulariser« (ebd.: 253, 274) treten in einer frappierenden Häufigkeit auf.
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5.1.3.2
Mündlichkeit, Schriftlichkeit und orale Erzähltradition als hinterfragende Dispositive und alternative Deutungsordnungen
In Kontrast zu den oben beschriebenen Phänomenen, bei denen schriftliche Dokumente über das Leben des Protagonisten von Samba pour la France verfügen, wird in Coulins Roman wiederholt auch die Möglichkeit des Widerstands durch das mündliche oder geschriebene Wort reflektiert. Neben dem Herausarbeiten stereotyper diskursiver Muster und der Eröffnung neuer sprachlicher Räume für die Problematisierung komplexer Fragestellungen hebt Catherine Mazauric (vgl. 2013: 76) in ihrer Untersuchung von Samba pour la France die Thematisierung der Macht der Sprache sowie die Auslotung von Strategien deren (Wieder-)Aneignung als besondere Stärke der Literatur hervor. So glaubt Samba fest an die Kraft der Worte, als er das Gespräch mit dem Sicherheitsbeamten des Abschiebegefängnisses sucht, um Einspruch gegen seine Inhaftierung einzulegen: »Il pensait encore pouvoir défendre son cas. Il cherchait ses mots. Il croyait encore en leur pouvoir.« (Coulin 2014: 28) Auch die Ich-Erzählerin vertraut auf die Wirkung von Sprache, als sie Samba dabei hilft, einen Einspruch gegen sein Verfahren zu formulieren. Sie versteht sich selbst als Übersetzerin zwischen dem oft umgangssprachlichen oder gar bruchstückhaften Französisch der Eingewanderten und der schwer verständlichen Sprache von Verwaltung und Justiz (vgl. ebd.: 63). Ebenso wie Sinhas Hauptfigur vollbringt sie somit eine Transferleistung, die den Verlauf eines Asyl- oder Einbürgerungsverfahrens beeinflussen kann. Anders als die Protagonistin von Assommons les pauvres! sieht sich die homodiegetische Erzählerin in Coulins Roman dabei ausschließlich in den Diensten der Migrierten und integriert diese in die Wahrnehmungsrahmen27 des Sicht- und Hörbaren (vgl. Butler 2010 [2009]: 1-12, 23-26), indem sie ihnen hilft, das Wort zu ergreifen oder dies stellvertretend für sie tut: »Nous n’avions que les mots pour le défendre, mais c’était parfois suffisant. Nous vivions dans un État de droit, où les mots voulaient encore dire quelque chose.« (Coulin 2014: 64f.) Nicht umsonst kann für Giorgio Agamben, der sich auf Aristotelesʼ Politik bezieht, der Eintritt des nackten Lebens in die Sphäre des Politischen nur über die Sprache und das Recht auf deren freie Ausübung erfolgen: Non è un caso, allora, se un passo della Politica situi il luogo proprio della polis nel passaggio dalla voce al linguaggio. Il nesso fra nuda vita e politica è quello stesso
27
In ihrer Studie Frames of War. When Is Life Grievable? geht Judith Butler den Fragen nach, was ein Leben ›betrauerbar‹ macht und weshalb bestimmte Katastrophen sowie die von ihnen verursachten Todesopfer international mehr Aufmerksamkeit und Mitleid erregen als andere. Dabei geht sie wiederholt auf die u.a. durch Medien und Politik beeinflusste Wahrnehmung von Migrationsphänomenen in der europäischen und US-amerikanischen Gesellschaft ein (vgl. Butler 2010: 26-28, 35, 113-116). In Anschluss an die Ausführungen Butlers analysiert auch Mareike Gebhardt (2020) die EU-Migrationspolitik.
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che la definizione metafisica dell’uomo come ›vivente che ha il linguaggio‹ cerca nell’articolazione fra phonē ́ e lógos (Agamben 2005: 10f.) Tatsächlich erhält Samba vor Gericht zunächst Recht. Es werden Unregelmäßigkeiten in seinem Verfahren festgestellt u.a. deshalb, weil er vor dem Richter persönlich das Wort ergreift, was die meisten Antragsteller*innen nicht wagen. In besagter Passage zeigt sich, dass gerade im juristischen Kontext die Verwendung eines bestimmten Worts wesentlich sein kann, da es die Natur eines Sachverhalts definiert und über den Ausgang eines Verfahrens entscheiden kann: »L’avocat et le juge ont cherché à savoir si sa convocation à la préfecture avait été ›déloyale‹, ou pas […] ›déloyal, c’est ça, déloyal‹, c’était le mot qu’il avait cherché […]. Le juge l’a remercié. C’est effectivement ce qui a fait la différence. Samba a eu gain de cause.« (Coulin 2014: 87) Insofern kann auch das gesprochene Wort Auswirkungen auf rechtliche Verfahren und biopolitische Entscheidungen haben.28 Zwar sind Bürokratien, und als solche auch die biocracy der Biopolitik, vornehmlich »›Schreib-Maschinen‹« (Balke/ Siegert/Vogl 2016: 005), doch das Mündliche kann mitunter »eine Zone des informellen bürokratischen Vollzugs sowie der antibürokratischen Kritik und Widerständigkeit« (ebd.) erschließen.29 Im Laufe der Handlung verliert die Ich-Erzählerin aus Samba pour la France allerdings den Glauben in den Rechtsstaat und die Macht der Worte, da Sambas Antrag auf einen Aufenthaltstitel erneut abgelehnt wird (vgl. Coulin 2014: 163-167). Am Ende des Romans, als Samba nach einem Suizidversuch Paris verlässt und sie ihre letzte Begegnung schildert, gibt die Erzählerin an, all die Worte, die sie während ihrer wöchentlichen Treffen notiert hat, nur noch dazu zu benutzen, die Erinnerung an Samba präsent zu halten: C’est la dernière fois que j’ai vu Samba. Il m’a cependant téléphoné quelques jours plus tard, et m’a raconté ce qui suit. J’ai tout noté, machinalement. Et aujourd’hui je m’en sers, comme de toutes les notes que j’ai recueillies depuis le début et qui devaient initialement le sauver. À défaut de le défendre, les mots pourront peutêtre ranimer sa présence. Je crois, malgré tout, à leur pouvoir. (ebd.: 277) Obgleich die Worte der Erzählerin den Ausgang von Sambas Verfahren nicht positiv beeinflussen konnten, kann sie doch seine Geschichte erzählen. Ihre zitierte Aussage wirkt einerseits authentifizierend, da die Erzählerin als Vertraute Sambas
28
29
In welchem Ausmaß auch das Mündliche, etwa vor Gericht, ein Medium der Bürokratie darstellt, untersucht Marcus Twellmann (2016) u.a. unter Bezug auf Max Weber, Jacques Derrida und Bruno Latour. Dies ist auch in Shumona Sinhas Autofiktion zu beobachten, wenn ihre Kollegin Ève, wie unter 5.1.2 geschildert, ihre mündlichen Übersetzungen von Asylanhörungen manipuliert, um die Chancen der Antragsteller*innen auf ein Bleiberecht zu erhöhen (vgl. Sinha 2012: 98).
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dessen Erlebnisse aus erster Hand schildert. Andererseits hat sie einen selbstreflexiven, metaliterarischen Charakter, da sie die Macht des Erzählens im Allgemeinen thematisiert. Diese besteht offenbar u.a. darin, ungehörten Geschichten Sichtbarkeit und marginalisierten, fiktionalen oder realen Menschen eine Stimme zu verleihen. Dennoch scheint Delphine Coulins Wahl einer Ich-Erzählerin aus der Aufnahmegesellschaft und ohne eigene Migrationserfahrung hervorzuheben, dass es politisch nicht qualifiziertem Leben (zoë), wie Samba es für den fiktionalen französischen Staat augenscheinlich ist, in Samba pour la France nicht möglich ist, selbst das Wort zu ergreifen, wie unter 5.1.4.1 tiefergehend diskutiert wird. In Laurent Gaudés Eldorado endet das im vorangegangenen Kapitel beschriebene Primat der Schriftlichkeit, als der nunmehr staatenlose Kapitän Piracci auf den afrikanischen Kontinent übersetzt. Auf der Reise von Libyen nach Algerien begegnet er Migrant*innen, die abends um ein Feuer sitzen und sich Geschichten erzählen. Der »conteur« (Gaudé 2009: 193, 194) sitzt inmitten der Gruppe, die ihm gebannt zuhört (vgl. ebd.: 192) und er berichtet von der Legende des Massambalo, dem Schutzpatron der Migrierenden. Piracci beobachtet die Szenerie: »Ces hommes buvaient les mots du conteur. Une lumière de soulagement coulait dans leurs yeux. […] Les hommes, dans la nuit, se racontaient des histoires pour se faire briller les yeux. Le vieux monde n’était pas mort.« (ebd.: 194) In dem geschilderten Gedankengang des Kapitäns hat der Akt des mündlichen Erzählens etwas Ursprüngliches und Natürliches, dessen fortdauernde Existenz die Figur zu beruhigen scheint. Diese Tradition bildet einen markanten Gegensatz zu seinem vormals durchweg institutionalisierten, von Schriftlichkeit geprägten Leben, das er als derart einengend empfand, dass er es aufgab. Seiner Einschätzung wohnt allerdings eine gewisse Ambivalenz inne: Zwar nimmt der Kapitän eine Aufwertung von oralen Tradierungen gegenüber dem im westlichen Logozentrismus dominanten System der Schriftlichkeit vor. Dabei läuft er allerdings Gefahr, Stereotype zu perpetuieren, mit denen Afrika aus einer europäischen Perspektive behaftet ist, denn auch idealisierende Diskurse um Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit haben ihre Wurzeln teils in kolonialen Deutungsmustern. Diese Problematik konstatiert Oana Panaïté in mehreren Romanen Gaudés und betrachtet diese im Spektrum der frankophonen Literatur als »intriguing example[s] of the contemporary tension between postcolonial criticism and neo-orientalist stereotypes« (Panaïté 2016: 84). Trotz aller kritischer Ansätze, die in Gaudés Werk zu finden seien, verwendet der Autor laut Panaïté wiederholt Motive und Tropen, die ursprünglich kolonialen Diskursen entnommen seien,30 wie unter 5.4.1 ausgeführt wird:
30
Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Panaïtés Analyse von Gaudés Cris (2001), in dem der Autor die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive von Soldaten erzählt. In dem Text eilt ein senegalesisches Regiment einer Truppe französischer Militärs zu Hilfe. Zunächst erscheinen die Senegalesen, wie Panaïté (vgl. 2016: 87) bemerkt, nicht als Individu-
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His fiction dwells on the unstable border between postcolonial stance and colonial style: as the narrative frame points to an open, transfrontier, ethical auctorial intention, the substance of his writing is laden with references to traditional, colonial dichotomies and representations. In so doing, Laurent Gaudé’s works challenge our own critical perspective, requiring a special attention to distinguish between texts born of good intentions, motivated by admirable political or moral objectives whose explicit intentions are unmoored by their inability to bring anything new to our understanding of the world, on the one side, and morally or politically ambiguous texts which challenge, surprise and force us to think. (ebd.: 89) Endgültig scheint sich Salvatore Piracci von seinem alten Leben zu lösen, als er nach der Begegnung mit Soleiman beschließt, Teil jener mündlichen Überlieferung zu werden, der er am Lagerfeuer gelauscht hatte und als Schatten des Massambalo durch den Kontinent zu ziehen, um Reisenden Hoffnung auf eine sichere Ankunft zu schenken (vgl. Gaudé 2009: 214-217). Es findet eine bemerkenswerte Verwandlung statt, in der Piracci von einem Papiere unterzeichnenden, personifizierten Immunisierungsdispositiv Europas zur Verkörperung einer Figur der oralen, afrikanischen Erzähltradition wird, um Migrant*innen auf ihrer Reise nach Europa zu ermutigen. Allerdings kann auch diese Entwicklung als problematische neokoloniale Tendenz bewertet werden, da in Gaudés Roman eine unkritische Aneignung der afrikanischen Legende des Massambalo durch einen Europäer stattfindet und dieser sich dadurch selbst zu einer gewissermaßen heiligen Autoritätsfigur erhebt. In Tahar Ben Jellouns Partir ist das Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Kontext der biopolitischen Verwaltung von Migrationsphänomenen besonders ausgeprägt, da die im vorangehenden Kapitel beschriebene, massive inhaltliche wie formale Präsenz von Schriftdokumenten und bürokratischen Vorgängen durch einen ebenso auffälligen Rückgriff auf fingierte Mündlichkeit und Elemente der oralen Erzähltradition kontrastiert wird. So sind im Roman Unregelmäßigkeiten in der Markierung der wörtlichen Figurenrede zu beobachten, die als eine Aufwertung des gesprochenen Worts gedeutet werden können. Die direkte Rede wird in Partir selten durch Anführungszeichen (vgl. Ben Jelloun 2007: 24, 55f., 207f.) und nur teilweise durch Absätze und/oder Spiegelstriche kenntlich
en, sondern als anonyme, kollektive Identität, werden als geheimnisvolle, tapfere Kämpfer mythisiert und erinnern in ihrer Darstellung an den Stereotyp des edlen Wilden. Später wird einer der Männer, MʼBossolo, zwar zu einer für die Handlung wichtigen Figur und »is endowed with narrative agency as far as he is given a name and a voice.« (ebd.: 87) Allerdings ist der Charakter rein relational konzipiert, äußert sich ausschließlich im Dialog mit einem französischen Soldaten und hat laut der Verfasserin nicht die Tiefe, die andere Figuren erlangen. Überdies reproduzieren die Redebeiträge des MʼBossolo laut Panaïté koloniale Diskursmuster um die Mythisierung Afrikas und bedingungslose Loyalität gegenüber dem französischen Mutterland (vgl. ebd.: 88).
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gemacht (vgl. ebd.: 58f., 183, 195, 236). Der Leserschaft eine gesteigerte Analyseleistung abverlangend, dekonstruieren fließende Übergänge zwischen personaler bzw. auktorialer Erzählsituation (vgl. 5.1.4.2) und der nicht konsequent durch Interpunktion, Formatierung oder einleitende Verben markierten direkten Rede die Grenzen zwischen Text und fingierter Oralität. Dies scheint ein bevorzugtes literarisches Verfahren Ben Jellouns darzustellen, da Magdalena Zdrada-Cok (vgl. 2015: 67-74) Partir und andere Romane des Autors u.a. aufgrund der genannten Phänomene als »livre[s] parlé[s]« (ebd.: 93) charakterisiert. In dem auf einem westlichen Logozentrismus basierenden, normativen Primat des schriftlichen Zeichensystems wird die wörtliche Rede, drastisch gesagt, als Sonderfall behandelt, der in der Regel extra gekennzeichnet wird. Die Narration bildet hingegen in einem Text den ›Normalfall‹ und bedarf keiner gesonderten Markierung. In Partir scheint sich das intradiegetisch gesprochene Wort allerdings beinahe im Text zu verstecken, sich nicht unmittelbar als solches enthüllen zu wollen und erfährt gerade dadurch eine Aufwertung. Indem fingierte Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Schriftraum nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern ineinander übergehen, erscheinen beide als textuell gleichwertig. Dies kann als Legitimierungsversuch der oralen Erzähltradition Nordafrikas oder zumindest als Infragestellung der alleinigen Gültigkeit schriftlicher Aufzeichnung gedeutet werden.31 Die mündliche Erzähltradition des Maghreb findet außerdem über einen prägnanten intertextuellen Verweis auf einen früheren Roman Ben Jellouns Eingang in Partir. Moha le fou, Moha le sage (1978) handelt von der mystischen Figur Moha, die in zwei Kapiteln von Partir auftaucht und für eines davon titelgebend ist (vgl. Ben Jelloun 2007: 176, 328f.).32 Moha verkörpert das klassische Motiv des weisen Narren, der als einziger die Wahrheit spricht aber nicht gehört wird (vgl. ZdradaCok 2015: 63) und ist an eine traditionelle Figur der maghrebinischen Erzählkultur angelehnt:
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Eine weitere Aufwertung erfährt das gesprochene Wort in Kapitel 33 von Partir, in dem Azel den Kameruner Flaubert kennenlernt, der in Spanien nach seinem Cousin sucht, da dieser der Familie Geld schuldet. Flaubert erklärt Azel das Konzept der tontine, eine Art Kreditsystem, bei dem die Mitglieder einer Gruppe monatlich in eine gemeinsame Kasse einzahlen, aus der sie sich abwechselnd bedienen dürfen. Wird das entnommene Geld nicht zurückgezahlt, ist die Familienehre des betreffenden Mitglieds beschädigt. Dieses System beruht allein auf der in Kamerun unangefochtenen Verbindlichkeit einer wörtlichen Abmachung und benötigt keinerlei Verschriftlichung, wie Flaubert hervorhebt (vgl. Ben Jelloun 2007: 268). Wie Magdalena Zdrada-Cok (vgl. 2015: 63) erklärt, taucht Moha indirekt bereits in Ben Jellouns Roman La réclusion solitaire (1976) auf, obwohl dieser zwei Jahre vor Moha le fou, Moha le sage erschien, was für die Bekanntheit der Figur in der maghrebinischen Kultur spricht. Außerdem ist Moha ebenfalls in Cette aveuglante absence de lumière (2000) präsent: »Il s’établit ainsi tout un réseau de relations de continuité et de complémentarité entre les textes qui se penchent sur la problématique de l’exil.« (Zdrada-Cok 2015: 63)
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[I]l y a un personnage très populaire au Maghreb qui s’appelle Goha (Jeha); je me suis rendu compte que je l’ai récupéré, sans vraiment le chercher, dans la mesure où j’ai un livre qui s’appelle Moha le fou, Moha le sage, et qui est un peu ce personnage; un peu fou mais, en même temps, très sage parce qu’il dit la vérité, et que dans la folie on peut aller très loin dans cette espèce de vérité avec laquelle il faut parfois se mesurer. (Ben Jelloun 1996: 136f.) Moha ist ein übernatürliches Wesen, dessen Gestalt untrennbar mit einem Baum verbunden ist (vgl. Ben Jelloun: 1978: 22-24). Er leiht seine Stimme den Unterdrückten, klagt Ungerechtigkeiten an und fordert Solidarität ein. In Moha le fou, Moha le sage spricht er etwa für einen Mann, der in Haft zu Tode gefoltert wurde, sowie für ein zwölfjähriges Dienstmädchen und eine Sklavin, die von den Herrschaften des Hauses, in dem beide leben, körperlich und seelisch misshandelt werden. Moha eignet sich ihre verborgenen Worte und Geschichten an, trägt sie in den öffentlichen Raum und denunziert so die Missstände im Land, stößt dabei jedoch meist auf taube Ohren (vgl. ebd.: 19, 39-42, 53-55). In Partir hat Moha eine ähnliche Funktion, die man als denunzierend sowie als voraussehend bezeichnen kann, nicht zuletzt da sein Name als Abkürzung und Anspielung auf den Propheten Mohammed gedeutet werden könnte. In dem nach der Figur benannten Kapitel 20 des Romans geht Moha in eines der Cafés, in denen Ausreisewillige und Schlepper*innen die Kosten für die illegale Reise über das Mittelmeer aushandeln. Erneut nimmt er die Rolle desjenigen an, der das Versagen der Politik anprangert und warnt jene, die das Land verlassen wollen, in einem mehrseitigen Monolog (vgl. Ben Jelloun 2007: 176-181). Moha versucht, die Anwesenden von der Überfahrt abzubringen, um sie vor dem möglichen Tod zu bewahren und denunziert zugleich Missstände in Politik und Gesellschaft, Rassismus, neokoloniale Machtstrukturen und die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents. In einem Land, in dem Kritik am System und am König nicht gerne gehört werden, kann nur Moha in seiner Narrenfreiheit Ungerechtigkeiten beim Namen nennen. In ihrem Tun reiht die Figur sich somit laut Paratext von Moha le fou, Moha le sage explizit in die orale Erzähltradition des Maghreb ein: »Voici Moha […]. Il parle. Il traverse le pays et l’époque avec désinvolture, avec dérision et humour. Il entend les voix qu’on étouffe […]. Moha, lui, parle dans la foule selon la tradition des conteurs populaires au Maghreb. Il dit le pays et ses erreurs.« (Ben Jelloun 1978: Paratext) Auch Magdalena Zdrada-Cok (vgl. 2015: 62) deutet die Figur des Moha als Ausdruck der zentralen Bedeutung, die Mündlichkeit und der oralen Erzählkultur des Maghreb33 in Tahar Ben Jellouns Werk zukommt. Die mündliche Erzählung stellt im literarischen Schaffen des Autors einen alternativen Code und somit eine
33
Zu Oralität als literarischem Verfahren im marokkanischen Roman u.a. bei Tahar Ben Jelloun siehe auch Khalid Zekri (vgl. 2006, insbesondere 79-118).
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Möglichkeit dar, dominante Diskurse zu hinterfragen, da dem conte traditionell als Stimme des Kollektivs die Funktion zukommt, die offizielle Geschichtsschreibung zu kommentieren und mitunter wenig beachtete Aspekte und Stimmen hervorzuheben (vgl. ebd.: 66). Im Vergleich zum Prätext von 1978 ist Moha jedoch in Partir nicht nur das Sprachrohr der Unterdrückten, sondern kritisiert scharf die Naivität jener, die glauben, die Lösung aller Probleme läge in der Auswanderung nach Europa. Tatsächlich scheinen Mohas Warnungen sich im Verlauf von Partir an den Charakteren zu exemplifizieren, die ausgewandert sind oder von einem Leben in Europa träumen. Wie auch Zdrada-Cok (vgl. ebd.: 68) bemerkt, ist es insofern auffällig, dass die Figur just in der Mitte des in 40 Kapitel eingeteilten Textes erstmals auftaucht und das besagte Kapitel 20 eine Zäsur in der Handlung darzustellen scheint, nach der sich für viele Figuren alles zum Schlechten wendet. So gerät der Protagonist Azel ab Kapitel 21 in eine Abwärtsspirale, die letztlich zu seinem Tod führen wird. Für dessen Schwester Kenza, die in Kapitel 19 dank einer Scheinehe mit Miguel nach Spanien kommt, bereits Spanisch spricht und eine Anstellung beim Roten Kreuz findet (vgl. Ben Jelloun 2007: 172f.), stehen die Chancen auf das erhoffte neue Leben in Europa gut, bis sie sich in Kapitel 23 in Nâzim verliebt (vgl. ebd.: 199-213). Dieser verheimlicht ihr, dass er in der Türkei eine Frau und zwei Kinder hat und der Vertrauensbruch trifft Kenza derart schwer, dass sie einen Suizidversuch begeht (vgl. ebd.: 276-278, 295). Die kleine Malika, Azels Nachbarin, träumt ebenfalls von einem Leben auf dem europäischen Kontinent, auch da ihre Arbeit in den Kühlhallen einer niederländischen Fabrik ihr körperlich stark zusetzt (vgl. ebd.: 119-125, 147-150). In Kapitel 20 spricht Moha von Malika und berichtet, dass sie an einer Lungenentzündung leidet und seine Hilfe benötigt (vgl. ebd.: 180f.). Doch er scheint Malika nicht rechtzeitig zu erreichen, denn in Kapitel 26 verschlimmert sich ihr Zustand drastisch und sie stirbt im Krankenhaus (vgl. ebd.: 220-227). Unter Rückgriff auf Genette (vgl. 1982: 7-19) lässt sich der Verweis auf Moha le fou, Moha le sage in Partir als reiner Intertext einordnen und nicht als ein den Prätext kommentierender Metatext oder ein Hypertext in Form einer Fortsetzung, Adaptation oder Parodie. Dennoch stellt der Intertext mit Ben Jellouns früherem Roman keinesfalls ein bloßes Zitat dar, sondern nimmt in Partir eine weitaus größere Bedeutung ein, die mit Manfred Pfisters Versuch der Skalierung von Intertextualität näher beschrieben werden kann. Unter Bezug auf Pfisters Kriterium der Strukturalität34 lässt sich festhalten, dass Moha le fou, Moha le sage als Prätext zwar nicht
34
Pfister schlägt verschiedene Kriterien vor, um die Verwendung und Intensität von Intertexten methodisch aufzuschlüsseln. Er unterscheidet Referenzialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität, wobei die einzelnen Kategorien sich in ihren Inhalten überschneiden können. Mit der Kategorie der Strukturalität soll beschrieben werden, in welchem Grad eine strukturelle Beziehung zwischen einem Prätext und dessen
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insgesamt »zur strukturellen Folie« (Pfister 1985: 28) von Partir wird, die Referenz allerdings eine zentrale Funktion in der Struktur der Narration einnimmt, da der Auftritt Mohas eine Zäsur in der Handlung darstellt. Das hochgradig intertextuelle Kapitel 20 ist nicht allein nach der Figur benannt, die aus einem älteren Text des Autors zurückkehrt, um ihre Mission in Partir einige Jahrzehnte später fortzusetzen, sondern scheint innerhalb des Romans eine Schwelle darzustellen, welche die Auswirkungen des zunehmenden Eingriffs biopolitischer Dynamiken in das Leben einzelner Charaktere markiert. Vor dieser Schwelle schien ein wenigstens halbwegs glückliches Ende für die oben genannten Figuren möglich, nach ihr findet ein Wandel zum Negativen bis hin zum Tode Azels und Malikas statt. Die politischen Machtdynamiken in Migrationsprozessen, etwa die Prekarisierungsund Ausschlussmechanismen, die mit der juristischen Kategorisierung von biologischem Leben einhergehen, und die neokolonialen Ausbeutungsstrukturen internationaler Arbeitsteilung (vgl. Hardt/Negri 2001: 253f.) bestimmen das Dasein der Figuren. Mohas Warnungen sind, wie schon in Moha le fou, Moha le sage, nicht erhört worden. Der intertextuelle Verweis ist somit nicht rein inhaltlicher Art, sondern maßgeblich strukturgebend und zentral für den weiteren Verlauf der Handlung. Im Hinblick auf die Symbolik des Intertextes in Partir ergibt sich insofern aber eine gewisse Diskrepanz zwischen der formalen und der inhaltlichen Textebene, die den Roman einmal mehr als hybrides Werk erscheinen lässt: Der Rückgriff auf mündlich tradierte Legenden des afrikanischen Kontinents scheint in der sprachlichen Ausgestaltung der Narration, wie oben ausgeführt, zwar eine Hinterfragung der eurozentrischen Norm der Schriftlichkeit und ihrer, im weiteren Sinne, biopolitischen Implikationen darzustellen. Auf der Ebene des Inhalts bleiben Mohas mahnende Worte aber ohne Konsequenzen, sodass die vom europäischen Zentrum ausgehenden biopolitischen Dynamiken der Migrationspolitik und des globalen Markts letztlich die afrikanische Mystik dominieren. Die besagte intertextuelle Beziehung zwischen Partir und Moha le fou, Moha le sage ist überdies ein paradigmatisches Beispiel für jenes Phänomen, das Genette (1982) mit dem Bild des Palimpsestes beschreibt. Moha le fou, Moha le sage kann nämlich, wie Mehana Amrani (2013) überzeugend darlegt, wenn nicht als Hypertext (vgl. Genette 1982: 12-19), dann zumindest als ein auf mehreren Ebenen agierender Intertext mit Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und für keinen (1988 [1883-1885]) gelesen werden. Diese Lektüre wird gewissermaßen durch Ben Jellouns Text selbst nahegelegt, schließt sein Roman über Moha, den weisen Narren, doch mit einem Zitat des deutschen Philosophen über die Bedeutung von Worten:
Intertext besteht, wobei die bloß punktuelle Erwähnung eines Prätextes eine niedrige Strukturalität bedeuten würde, während eine strukturelle Orientierung am Prätext in der formalen, textuell-stilistischen und/oder inhaltlichen Gestaltung zu der größeren Intensität eines Intertextes beiträgt (vgl. Pfister 1985: 26-29).
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Je ne suis qu’un faiseur de mots quelle importance ont donc les mots? Et moi, quelle importance ai-je donc? (Nietzsche zit.n. Ben Jelloun 1978: 186)35 Amrani kommentiert die Anführung dieses Zitats: »Tout se passe comme si l’écrivain marocain invitait son lecteur, une fois arrivé à la fin de son roman, à relire Moha le fou, Moha le sage mais cette fois-ci avec le compagnonnage vigilant de Nietzsche.« (Amrani 2013: 159) Bildlich gesprochen liegt also palimpsestartig unter Ben Jellouns Partir dessen eigener Roman Moha le fou, moha le sage, unter dem wiederum Nietzsches Also sprach Zarathustra zu liegen scheint. Eine detaillierte Untersuchung der dialogischen Beziehungen zwischen den drei Werken scheint vielversprechend, würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen. Gleichwohl ist mit Blick auf die Forschungsfrage der vorliegenden Abhandlung auffällig, dass sich bereits auf den ersten Blick thematische Parallelen36 um biopolitische37 Fragestellungen ausmachen lassen. Alle drei Werke thematisieren nämlich fiktional die Verwaltung des Lebens durch Dispositive, indem sie die Einbindung des menschlichen Daseins in verschiedene (staatliche) Strukturen und Machtverhältnisse ergründen sowie Gemeinschaftsentwürfe und damit das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv verhandeln. So spricht Zarathustra bspw. über die Justiz und die Todesstrafe (vgl. Nietzsche 1988: 45-47),38 den Staat, das »kälteste aller kalten Ungeheuer« (ebd.: 61),39 die Monopolisierung von Wissen durch hochmütige und zugleich kleingeistige Gelehrte (vgl. ebd.: 160-162) sowie über die Erziehung des Menschen durch 35
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Im Original findet sich dieser Passus in Nietzsches posthumen Fragmenten (vgl. 1888, Gruppe 20, Nr. 157) und lautet wie folgt: »ich bin nur ein Worte-macher: was liegt an Worten! was liegt an mir!« (Nietzsche zit.n. nietzschesource.org) In ihrer Analyse beschreibt Amrani sowohl thematische als auch strukturelle und stilistische Gemeinsamkeiten der beiden Texte von Nietzsche und Ben Jelloun, deren detaillierte Berücksichtigung hier allerdings den Rahmen sprengen würde (vgl. Amrani 2013: 159-166). Wie im Forschungsstand (vgl. 3.) angeführt wurde, unterzieht Hubert Thüring verschiedene Schriften Nietzsches, auch unter Anwendung von Giorgio Agambens Figur des homo sacer, einer biopolitischen Lesart (vgl. Thüring 2012: insbesondere 176-199) und beobachtet in Nietzsches Texten u.a. eine »Be- und Erarbeitung des biologisch vitalistischen Lebensbegriffs« (ebd.: 52). Friedrich Balke (2003) widmet sich mittels eines biopolitisch perspektivierten Ansatzes der Figur des Verbrechers in Nietzsches Werk, auch speziell in Also sprach Zarathustra. Hugo Drochon fragt in seiner Untersuchung, inwiefern Nietzsche als »theorist of the state« (Drochon 2017: 323) gelten kann und konturiert dessen politisches Denken, indem er u.a. aus Also sprach Zarathustra zitiert.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
normative Diskurse von Moral und Tugend, speziell mittels des Dispositivs der Sünde in der Religion und ihren Institutionen (vgl. ebd.: 70f., 117-119): Nietzsche [erkennt] vielleicht als erster derart deutlich, in welchem Maß das Leben in den dynamisierten Verhältnissen des modernen Macht-Wissens biopolitisch geworden ist […]. Nietzsches Haltung ist ambivalent: Er setzt sich mit den historischen wie zeitgenössischen philosophischen und wissenschaftlichen Theorien des Lebens und der Existenz in einer Weise auseinander, die sich überhaupt erst in ihrer biopolitischen Relevanz kenntlich macht. Aber er weist sie als ›schlechte Biopolitik‹ aus, indem er eine ›bessere Biopolitik‹ entwirft. (Thüring 2012: 52f.) Insbesondere die beiden letzten Punkte sind in Foucaults Untersuchungen zur Steuerung der Gesellschaft auf der individuellen Mikroebene und der kollektiven Makroebene u.a. durch das Sexualitätsdispositiv zentral (vgl. Foucault 1976) und lassen sich somit biopolitisch auslegen. Die genannten Thematiken sind ebenso in Tahar Ben Jellouns Partir zu finden, etwa in Form eines Staats, der den Bedürfnissen seines Volks nicht adäquat nachkommt (vgl. Ben Jelloun 2007: 24, 75, 220222), willkürlicher und strafloser Polizeigewalt (vgl. ebd.: 66-70) und einer engen Verflechtung von Religion, staatlichen Institutionen und dem Alltag einer Gesellschaft, die den Menschen ihre Lebensentwürfe vorzuschreiben versucht (vgl. ebd.: 77, 83). Die mehrschichtige intertextuelle Beziehung zwischen Partir, Moha le fou, Moha le sage und Also sprach Zarathustra scheint somit u.a. auf einem unterschwelligen Dialog (vgl. Bachtin 1990: insbesondere 86-131, Kristeva 1969: 443, 448, 1972: 348351) über biopolitische Fragestellungen zu beruhen, wodurch die Bedeutung dieser Thematik in Partir potenziert und eine entsprechend ausgerichtete Lektüre angeboten wird. Bezeichnend ist weiterhin, dass es in allen drei Werken eine exzentrische, aufrührerische Randfigur ist, die den Menschen die Augen öffnen möchte, denn sowohl Zarathustra als auch Moha leben außerhalb der sanktionierten Systeme und Strukturen, die sie denunzieren (vgl. Amrani 2013: 160-162). Gerade jener Blick des Außenstehenden scheint es ihnen zu erlauben, diese Machtstrukturen zu hinterfragen und diskursiv zu dekonstruieren, indem sie sich, im Falle Mohas, einem weisen Narrentum hingeben, das man mit Bachtin (vgl. 1990: 47-60) als karnevalesk bezeichnen könnte, oder, im Falle Zarathustras, eine Umprägung aller Werte und eine neue Menschheit fordern (vgl. Nietzsche 1988: 356-368). Beide versuchen als »prophètes incompris« (Amrani 2013: 161) die konstruierte Natur der das menschliche Leben vereinnahmenden Machtsysteme zu enttarnen, indem sie entweder, wie Zarathustra, Gegenentwürfe aufzeigen und somit beweisen, dass die Ordnung ebenso gut eine andere sein könnte oder, wie Moha, jene Ordnungs- und Machtstrukturen durch ihr bloßes, skurril anmutendes Tun parodieren – kann ein System Legitimität beanspruchen, in dem allein ein Narr die Wahrheit erkennt und
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spricht? Die phonetische Ähnlichkeit zwischen Moha [moa] und moi [mwa] eröffnet eine ganze Reihe weiterer Bedeutungsimplikationen mit Blick auf die Verantwortung einer/s jeden einzelnen, die Stimme gegen Unrecht und Ungerechtigkeit zu erheben. Insofern kann der intertextuelle Dialog zwischen diesen drei Texten und zwei Figuren als ein polyphones Schreibverfahren des Widerstands gedeutet werden, da in Partir neben der Kritik des Moha weitere anklagende Stimmen nachhallen. So stellt Amrani schon in Bezug auf Moha le fou, Moha le sage und Also sprach Zarathustra fest: »[L]es deux œuvres de Nietzsche et Ben Jelloun poursuivent le même dessein de mettre en relief une parole de la révolte, en s’appuyant justement sur le pouvoir de dire de deux personnages extraordinaires, elles exploitent le même dispositif de la narration.« (Amrani 2013: 163) Die Relationalität der drei besagten Werke von Nietzsche und Ben Jelloun, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und unter verschiedenen Bedingungen erschienen sind, demonstriert somit das subversive Potenzial von Literatur, das sich über Zeiten und Sprachen hinweg bewahren, transformieren und weiterentwickeln kann.
5.1.4
5.1.4.1
Die Macht des Erzählens: Die literarische (Re-)Integration marginalisierter Stimmen in die Sphäre des Politischen Von Ich-Erzähler*innen und porte-paroles: Autonomes Erzählen und geliehene Stimmen
Die in ultimas res einsetzende Autofiktion Assommons les pauvres! setzt sich aus zweiundzwanzig überwiegend kurzen Kapiteln zusammen, die sich auf mehreren, teils ineinander verwobenen diegetischen Ebenen (vgl. Genette 2007 [1972]: 236f.) ereignen. In der extradiegetischen Rahmenerzählung (vgl. ebd.: 237, Genette 1983: 5557) begleitet die Leserschaft die autodiegetische Protagonistin durch deren erste Nacht in Untersuchungshaft, in der sie sich seit der Gewalttat gegen einen Einwanderer befindet. Während sie in ihrer Zelle wachliegt, reflektiert die junge Frau die Umstände, die sie dazu gebracht haben könnten, einen unschuldigen Mann anzugreifen: Lasse et accablée, je m’abandonne sur le sol moite de ma cellule […]. Je n’aurais jamais pu imaginer que le chemin serait si court, qu’il y aurait un chemin, un raccourci entre les salles d’interrogatoire et la pièce moisie du commissariat où depuis hier je ne cesse de dessiner l’arbre généalogique de ma famille, les lignes de mes pensées et de mes errances, les combinaisons du temps et de l’espace, pour justifier mon parcours et reconstituer la scène, pour qu’on comprenne mon désir subit d’avoir frappé l’homme, un de ces immigrés, avec une bouteille de vin. (Sinha 2012: 9f.)
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Die analeptischen Binnenerzählungen scheinen sich auf zwei verschiedenen diegetischen Ebenen40 zu ereignen und umfassen die nahe sowie die fernere Vergangenheit der namenlosen Erzählerin.41 Auf einer ersten intradiegetischen Ebene (vgl. Genette 2007: 237) referiert die Protagonistin ihr Verhör durch den Polizeibeamten Monsieur K., das am Vortag stattgefunden hat (vgl. Sinha 2012: 14f.). Im Rahmen des Verhörs durch den Polizisten berichtet die Erzählerin wiederum auf einer weiteren, metadiegetischen Ebene (vgl. Genette 2007: 241-243, Genette 1983: 61) aus ihrer persönlichen Vergangenheit und ihrem Arbeitsalltag in der Migrationsbehörde. Sie schildert anachronistisch (vgl. ebd.: 23-27) und episodenhaft, wie sie selbst nach ihrer Migration versuchte, sich in Europa einzuleben, wie ihre Arbeit als Übersetzerin von Asylanhörungen sie zunehmend belastete und es schließlich zu dem von ihr verübten Verbrechen kam (vgl. Limbu 2018: 85). Innerhalb dieser Binnenerzählungen finden sich überdies heterodiegetische Episoden (vgl. Genette 2007: 255), in denen die Protagonistin Einzelschicksale von Asylantragsteller*innen wiedergibt und ihr je in den Hintergrund rückt oder zeitweise verschwindet. Zwar ist die Hauptfigur in diesen Episoden weiterhin die Erzählinstanz, doch sie berichtet auf indirekte, teils hybride, zugleich deskriptive und poetische Weise, sodass längere Passagen (vgl. Sinha 2012: 19-23, 40-43, 47-49, 60f., 6f.) entstehen, die beinahe ohne die erste Person Singular auskommen. In einigen dieser Passagen leitet die Protagonistin Binnenerzählungen in der ersten Person Singular ein und gleitet danach in eine neutrale oder, wie im folgenden Beispiel, in eine personale Erzählsituation (vgl. Stanzel 2008 [1979]: 80f., 285-290), in der sie die Erinnerungen anderer erzählt: Pendant la pause je l’entraîne dans le couloir. Ce qu’elle me raconte m’oblige à l’emmener ensuite dans la pièce d’à côté. Sa mère est morte lorsqu’elle avait six mois. Le père se remarie. Puis c’est l’histoire de Cendrillon avec un peu plus de violence. La belle-mère la torture, la prive de repas. Elle passe ses longues journées à faire le ménage […]. Puis on lui impose un mariage, qui pourrait ressembler à n’importe quel mariage forcé. Amer et étrange au départ, puis adouci, confortable, agréable même au fil du temps. Mais pour Shefali il a fallu que ce soit avec un bandit du village qui, par générosité perverse, invite ses copains à profiter de sa nouvelle épouse. Pour se sauver elle court et trébuche, se relève et s’enferme
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Margarete Zimmermann unterscheidet lediglich zwei diegetische Ebenen, den »macro-récit« des Polizeiverhörs sowie die währenddessen geschilderten »mini-récits« (beide Zimmermann 2015: 94). Jene Ebene, in der die Protagonistin sich in ihrer Zelle befindet, grenzt sich allerdings, wie in diesem Kapitel argumentiert wird, in ihrer narrativen Form deutlich von jener des Verhörs ab, weshalb entschieden wurde, die beiden getrennt zu behandeln. Die Anonymität der Protagonistin und Ich-Erzählerin wurde in Zusammenhang mit der Einordnung von Assommons les pauvres! als Autofiktion unter 4. behandelt und wird in den Kapiteln 5.3.2.1 und 5.4.2.1. tiefergehend gedeutet.
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dans l’étable. Ensuite c’est le feu qui achève l’histoire. La paille et Shefali brûlent ensemble. (Sinha 2012: 126f.) Es entsteht eine fragmentierte, polyphone Narration, in der die Stimme der Erzählerin sich mit jenen sekundärer Figuren mischt, was unter Rückgriff auf das biopolitische Rahmenwerk dieser Untersuchung unterschiedlich gedeutet werden kann. Mit Giorgio Agamben könnte das zeitweise Verschwinden des Ichs der Erzählerin als Ausdruck jener Auflösung der Subjektkategorie gelesen werden, die der italienische Philosoph als Konsequenz der modernen, das Subjekt aufspaltenden Dispositive betrachtet, zu denen auch das Migrationsdispositiv zu zählen scheint (vgl. 2.2.4, 5.2.2.2, 5.4.2.1). In einer positiveren Lesart könnte dieses Verfahren allerdings auch als textuelle Manifestation einer migrantischen Multitude interpretiert werden, in der die erste Person Singular der Protagonistin in ein kollektives Narrativ um Migrationsphänomene integriert wird. Ähnliche Rückschlüsse lässt auch die narrative Organisation von Tahar Ben Jellouns Partir zu, wie im folgenden Kapitel ausgeführt wird. Schließlich könnte dieser Rückzug des je der Protagonistin erneut eine literarische Strategie der Integration marginalisierter Stimmen in die Rahmen des Sicht- und Hörbaren darstellen. Sie, die integrierte, arbeitende Eingewanderte, die in der Logik der Bioökonomie einen Beitrag zu ihrer Aufnahmegesellschaft leistet (vgl. Revel 2007: 249) und nach Agamben als politisch qualifiziertes Leben gelten kann, scheint ihre privilegierte Position als Erzählinstanz und »porte-parole« (Rice 2014: 226) zu nutzen, um den aus der Sphäre des Politischen Ausgeschlossenen eine Stimme zu verleihen: »The impulsion to write these bordered lives into existence highlights the author’s sense of urgency to humanize the migrants while giving their stories visibility in text.« (Mehta 2020: 92f.) Dass ihre Erzählung dabei in weiten Teilen auf einen ungeschönten, beinahe gewaltvollen Stil zurückgreift und auch die unverfrorenen Lügen einiger Asylbewerber*innen referiert, deutet Bishupal Limbu als Kritik an dem »foundational sentimental humanitarianism« eines Asylsystems, das Menschen zwingt, auf narrative Muster von Not und Leid zurückzugreifen, wodurch sie auf einen »scarred body and a wounded mind« (beide Limbu 2018: 88) reduziert werden, anstatt als ganzheitliche Individuen in Erscheinung zu treten. In ähnlicher Weise kritisiert Dima Barakat Chami literarische Darstellungen von Migrant*innen als rein passive Opfer und fordert textuelle Verfahrensweisen, welche die inhaltliche Absage an derartige Narrative durch Brüche mit literarischen Normen auf der Form- und Stilebene potenzieren. Insofern scheint es Shumona Sinha u.a. durch den schonungslosen Stil ihres Textes zu gelingen, ein Phänomen zu umgehen, dass Chami (2019: 116) als »Biopolitics of Compassion« bezeichnet: Reading sympathetically thus makes legible to us the biopolitically visible subject – the subject of humanitarian government – and, by extension, the object of cosmopolitan sympathy. Read through state-sponsored normative ethics, the
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unknowable, opaque human who exists outside of these structures remains unrecognised. Literary forms which are not linear in form or realist in content differ from the pathos novel as they make present not the assumed subjectivity of their characters but rather […] the no-place from which they can(not) speak. […] Literary forms which do not seek to conform to the strictures of traditional witnessing narratives – and thus do not construct normative subject-identities – employ both temporal and linguistic freedoms to create meaning which enable the ethical recognition of the radical alterity their subjects embody. (ebd.: 124) Limbus Auslegung von Assommons les pauvres! und Chamis Kritik an gesteigerter Sentimentalität in Erzählungen von Migration erinnern insofern an Michael Hardt und Antonio Negri sowie an die Theorie der Autonomie der Migration, die eine bloße Viktimisierung von Migrant*innen ablehnen und stattdessen nach Möglichkeiten des Empowerment suchen (vgl. Hardt/Negri 2001: 210-214, Moulier Boutang 2007: 169-178). In dieser Linie betrachtet etwa Brinda J. Mehta die von Sinha geschilderten Lügen der Antragstellenden als bewusstes, widerständiges Verhalten, als »creative repositioning of the law through the invention of new truths.« (Mehta 2020: 89) Zwar kann es mitunter als problematisch betrachtet werden, dass Sinhas Protagonistin aus einer überlegenen Position heraus für und über die Asylsuchenden spricht, denen sie in der Behörde begegnet. Letztere ergreifen nämlich beinahe ausschließlich das Wort, wenn sie sich im Gespräch mit der Erzählerin und den Sachbearbeiter*innen befinden, sodass sie ihre wahre Geschichte selbst nicht frei erzählen können. Dennoch bietet die Erzählung eine umfassende Perspektive auf das Thema Migration, die vereinfachenden Diskursen widerspricht, indem die Protagonistin ihre eigenen ambivalenten Erfahrungen und Gedanken mit den Geschichten der Menschen verwebt, die sie in der Migrationsbehörde befragt, sodass in Anlehnung an den intertextuellen Verweis auf Pascal Quignards La Barcque silencieuse (2009, vgl. 5.1.2) die Freiheit des Sprechens mit der Freiheit der Bewegung assoziiert wird. Ihr Selbstverständnis als Autorin formuliert Shumona Sinha in einem Interview wie folgt: Meine Rolle als Schriftsteller ist es, die Wahrheit zu suchen, und dabei kann man nicht sanft und nett sein. Ich glaube, dass mein Buch in gewisser Hinsicht sehr altruistisch ist. Ich habe diesen Menschen meine Zeit, meine Energie und meine Gedanken gewidmet. Über Deutschland kann ich nichts sagen, aber in der französischen Gesellschaft existieren diese Menschen nicht. Sie sind nichts als eine Aktennummer. Sie haben kein Gesicht, keine Geschichte und keine Gefühle. In einem Roman bekommen Menschen, die ansonsten keine Existenz haben, dank des Autors und des Romans ein Leben. (Sinha zit.n. Peschel 2016)
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In Delphine Coulins Samba pour la France ist die Erzählsituation ebenfalls keine stringente und die Werkstruktur hat, wie die Texte von Sinha, Ben Jelloun und Gaudé (vgl. 5.1.4.2), einen fragmentarischen Charakter. Der knapp 300-seitige Roman verteilt sich auf 43 kurze Kapitel und die Erzählsituation klärt sich erst im vorletzten Kapitel endgültig auf. Der Erzählvorgang beginnt in medias res (vgl. Sow 2012: 1194), ist weitgehend in Passé Simple und Imparfait formuliert, und scheint zunächst überwiegend in der dritten Person aus der Perspektive Sambas zu erfolgen. Der Text bietet ausführliche Einblicke in Sambas Gedanken, Gefühle und Träume (vgl. Coulin 2014: 8f., 20, 58, 102-105, 122f., 170f., 192), detaillierte Rückblicke in seine Vergangenheit (vgl. ebd.: 35-44, 68-76, 78-86) und enthält Passagen bzw. Sätze in erlebter Rede (vgl. ebd.: 21, 92, 191, 262, 267), sodass der Eindruck einer personalen Erzählsituation mit Samba als Reflektorfigur entsteht (vgl. Stanzel 2008: 242, 247f.). Erst im achten Kapitel tritt schließlich die homodiegetische Ich-Erzählerin (vgl. Genette 2007: 255) auf: »C’est à ce-moment-là que je l’ai rencontré.« (Coulin 2014: 59) Es handelt sich, wie oben erläutert, um eine Freiwillige der Cimade, einer kirchlichen Hilfsorganisation, die Rechtsberatung für Eingewanderte anbietet. Sie repräsentiert also jenen Teil der Aufnahmegesellschaft, der Einwanderung unterstützt, statt sie als potenzielle Gefahr zu betrachten. Nachdem sie eingeführt wurde, ist die Erzählerin in einigen Kapiteln als narrative Instanz und Figur präsent (vgl. ebd.: Kapitel 8, 10, 13, 21). In den meisten Kapiteln taucht sie allerdings nicht oder nur punktuell in Sätzen auf, die ihre Rolle als Erzählerin markieren, etwa »comme il me l’a confié quelques jours plus tard« (ebd.: 140) oder »J’étais la seule au courant.« (ebd.: 207) Schließlich erklärt die Erzählerin gegen Ende des Romans retrospektiv, dass sie Sambas Geschichte auf Basis der Notizen wiedergibt, die sie während ihrer wöchentlichen Treffen gemacht hat (vgl. ebd.: 277). Allerdings ist sie, wie erwähnt, in weiten Teilen der Erzählung kaum präsent und schildert Sambas Erlebnisse in der dritten Person derart detailliert und persönlich, dass die narrative Gestaltung an eine personale Erzählinstanz erinnert. Auch Catherine Mazauric beobachtet, dass die Erzählsituation in Coulins Roman variiert und sich erst allmählich preisgibt: Le récit, par Samba, héros éponyme du roman de Coulin, de ses différentes tentatives pour pénétrer dans l’enclave espagnole de Melilla, puis entrer enfin en Europe, reste quant à lui très proche d’un témoignage. C’est au cours de plusieurs entretiens que le migrant malien livre peu à peu, en effet, les différentes étapes de son itinéraire à la narratrice, bénévole au service d’aide juridique de la Cimade. Mais cette dernière n’apparaît en tant que relais de narration qu’après le récit de sa rencontre, au centre de rétention de Vincennes, avec le protagoniste. Auparavant, dans les premiers chapitres du roman, c’est, peut-on croire, une instance narrative non corrélée à un personnage qui relate ces épisodes. […] Si le lecteur ne perçoit donc qu’après coup la dimension testimoniale d’une part, relayée d’autre part, de
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ce récit, c’est d’emblée à travers le point de vue du personnage qu’il découvre, sans alors le savoir, les événements. (Mazauric 2013: 80f.) Die narrative Situation in Coulins Roman gestaltet sich außerdem besonders facettenreich, da vier Kapitel (vgl. Coulin 2014: Kapitel 4, 17, 31, 41) aus der Narration herauszufallen scheinen und keinen direkten Bezug zu Sambas Geschichte aufweisen, sondern die Migrationsbewegungen von Tieren beschreiben. Die Bedeutung dieser Kapitel im Hinblick auf die biopolitische Verwaltung von Migration wird in Kapitel 5.3.3.2 analysiert. An dieser Stelle ist relevant, dass sie zu der fragmentarischen Werkstruktur von Samba pour la France beitragen, da sie die Handlung wiederholt abrupt unterbrechen, im Gegensatz zum Rest der Erzählung teilweise im Präsens formuliert sind und überdies aus Sicht von Zugtieren in der dritten Person erzählt werden. So ergibt sich aus den Passagen, in denen das Ich der Erzählerin präsent ist, sowie jenen, in denen in der dritten Person durch die weitgehend abwesende Ich-Erzählerin indirekt aus der Perspektive Sambas berichtet wird und schließlich jenen Kapiteln, in denen durch eine heterodiegetische (vgl. Genette 2007: 255) personale Erzählinstanz die Reisen, Gedanken und Empfindungen von wandernden Tieren wiedergeben werden, eine Polyphonie (vgl. Sow 2012: 1194), die es erlaubt, den Themenkomplex Migration aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. In seiner beschriebenen Hybridität scheint das Werk vereinfachenden Diskursen zu widersprechen und der verwaltenden Regelhaftigkeit der Biopolitik, die auf der inhaltlichen Textebene Sambas Migration zu regulieren sucht, auf der formal-stilistischen Ebene des Romans eine Heterogenität gegenüberzustellen, die der Komplexität der geschilderten Migrationsphänomene gerecht wird. Wie schon im Falle Sinhas kann auch Samba pour la France aufgrund der beschriebenen Erzählsituation dahingehend kritisch gelesen werden, dass Sambas Geschichte nicht direkt von ihm, sondern aus zweiter Hand durch eine Vertreterin der französischen Aufnahmegesellschaft erzählt wird. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass die Erzählerin über weite Strecken des Textes in den Hintergrund tritt und Sambas Erfahrungen und Seelenleben unangefochten im Vordergrund der Handlung stehen, womit seine Erlebnisse als am Rande der Gesellschaft lebender sans-papier sichtbar gemacht werden. Auf die narratologische Gestaltung ihres Buchs angesprochen, antwortet Delphine Coulin in einem Interview: Samba n’y raconte pas son histoire à la première personne. Vous savez pourquoi ? Les récits de vie composés pour les tribunaux à la place des migrants devaient toujours l’être. Mais quand je disais »Moi, Seydoux, né à Bamako le…«, j’avais l’impression de leur voler la dernière chose qui leur restait (Coulin zit.n. Dumontet 2011). Von den fünf in dieser Studie untersuchten Werken ist Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad mit Blick auf Form und Erzählsituation wohl das einheitlichste.
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Die Struktur ist mit fünfzehn Kapiteln auf 267 Seiten weniger kleingliedrig und die Einordnung der Erzählinstanz wird vom Text selbst vorgenommen. In einem Prolog erklärt der Protagonist und Ich-Erzähler, der junge Iraker Saad Saad, dass er die Geschichte seiner Migration rückblickend aufschreibt, womit sich eine extradiegetische und eine intradiegetische (vgl. Genette 1983: 55-57) Handlungsebene ergeben: »Au terme de ce voyage, au début d’un nouveau, j’écris ces pages pour me disculper.« (Schmitt 2016: 11) Er tut dies offenbar, um seine Migration zu verarbeiten, um sich, wie er schreibt, zu entlasten (disculper). Dennoch markiert er im Verlauf der Erzählung wiederholt seine Position als narrative Instanz, kommentiert seinen Bericht oder erläutert dessen Struktur und scheint sich insofern an eine potenzielle Leserschaft zu richten: »Si je rapporte ce détail, c’est parce que« (ebd.: 13), »Mais n’allons pas trop vite« (ebd.: 29), »Mais ça, c’est une autre histoire que je raconterai plus tard…« (ebd.: 141). Obgleich Saad nach eigener Aussage primär für sich selbst schreibt, legt er gleichwohl Wert darauf, dass seine Narration nachvollziehbar ist und somit zu einer Art Zeugnis seiner Erfahrungen wird. Es erscheint insofern konsequent, dass der Ich-Erzähler seine Geschichte im ersten Kapitel (vgl. ebd.: 13-29) mit Zeit- und Ortsangaben sowie Informationen zu seiner Kindheit und Familie beginnt, um dann in den Kapiteln zwei bis vier die Hintergründe seiner Migration zu erläutern und diese in den historischen und politischen Kontext des Irakkriegs einzuordnen (vgl. ebd.: 30-93). In den verbleibenden Kapiteln schildert er schließlich die Migration selbst chronologisch und bündig, indem die verschiedenen Episoden der Handlung sich weitgehend mit der Kapitelstruktur decken.42 Der Erzähler scheint bemüht, einen möglichst vollständigen und verständlichen Bericht zu bieten. Indem der Protagonist zum Autor wird43 und bewusst die Rolle eines verlässlichen Erzählers einnimmt, gibt der fiktionale Text seiner Geschichte und Perspektive besonders viel Raum und erhält eine selbstreflexive Dimension, welche die Be42
43
Lediglich der Übergang von Kapitel 9 zu Kapitel 10 geschieht derart abrupt, dass die Leserschaft sich in der Handlung neu orientieren muss. Am Ende von Kapitel 9 ist Saad auf Malta in Haft und fasst den Entschluss, auszubrechen. Am Beginn von Kapitel 10 befindet er sich plötzlich auf einem Boot auf stürmischer See vor Sizilien, ohne dass erzählt wurde, wie ihm die Flucht gelang. Interessanterweise ist in Homers Odysse ebenfalls der Übergang vom 9. zum 10. Gesang laut Janka (vgl. 2015: 307) überdeutlich markiert. Außerdem bestehen inhaltliche Parallelen, denn Odysseus gelingt am Ende des 9. Gesangs die »Abreise aus der Kyklopenhölle« (ebd.: 307) und zu Beginn des 10. Gesangs befindet er sich auf einem Schiff vor der Insel des Windgottes Aiolos (vgl. ebd.: 307), sodass es sich bei dem für Schmitts Roman untypischen Bruch in der Chronologie der Narration um eine Auswirkung des strukturellen Intertextes (vgl. Pfister 1985: 28) mit Homers Prätext handeln könnte. Thomas Schmitz (vgl. 2019: 308) sieht in Éric-Emmanuel Schmitts Vorgehen eine Anlehnung an Montesquieus Lettres persanes (1992 [1721]), in denen ebenfalls verschriftlichte Beobachtungen zweier Außenstehender, in diesem Fall zweier durch Europa reisender Perser, genutzt werden, um indirekt Kritik an der Gesellschaft Frankreichs zu üben.
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deutung der Verschriftlichung von Lebensgeschichten verhandelt. Mit Foucaults Konzept der ästhetischen Existenz, unter dem er auch die Praxis des Schreibens fasst (vgl. Foucault 1994c: 625), könnte Saads schriftliches Zeugnis seiner Migration als ein reflektierender Rückzug ins Selbst und somit in der Logik der Biopolitik als ein Sich-Entziehen aus produktiven und ökonomischen Strukturen (vgl. Negri 2007: 22) gedeutet werden. In dem journal d’écriture, das Éric-Emmanuel Schmitt der neuesten Ausgabe des Buchs angehängt hat, begründet der Autor die Wahl dieser Erzählsituation: La force que détient la littérature: le point de vue subjectif. Un romancier entreprendra ce que journalistes, historiens et essayistes ne peuvent et ne doivent pas faire: dire ›je‹, adopter le regard du sans-papiers, présenter le monde à travers ses yeux, pénétrer de façon charnelle et existentielle la vie intérieure de l’exilé. (Schmitt 2016: 274f.) Obgleich es sich um einen fiktionalen Ich-Erzähler handelt, wird Saads Geschichte aus erster Hand erzählt, wodurch der Leserschaft einerseits eine unmittelbare Identifikation mit dem Protagonisten und dessen Schicksal ermöglicht wird (vgl. Haji Babaie/Rezvantalab 2018: 186, 190, 192). Andererseits scheint Schmitts Erzählung trotz der wiederkehrenden Kritik an der europäischen Migrationspolitik (vgl. 5.4.1.1) selbst vor eurozentrischen Handlungselementen nicht gefeit zu sein, wie Thomas Schmitz anmerkt: Kritisieren kann man weiter, dass der Roman zwar durch die Wahl seines Erzählers suggeriert, die Geschichte einer Flucht aus der Perspektive des Flüchtlings zu schildern, letztlich aber doch eurozentrisch bleibt. Schmitt lässt Saad im Haus eines Bibliothekars aufwachsen, der die westliche Literatur hochschätzt; seine besondere Verehrung gilt den homerischen Epen und der englischen Literatur. Saad ist damit in seinen Bezugspunkten ganz der europäischen Sichtweise verhaftet. So bleibt auch der Blick auf die Immigranten letztlich eurozentrisch, selbst dort, wo er kritisch zu sein scheint: Das Bild eines alternden, kraftlosen Europas im Kontrast zu den jungen, virilen Immigranten spiegelt in seiner klischeehaften Schwarzweißmalerei europäische Ängste und Vorurteile wider, nicht einen wirklichen Blick von außen. (Schmitz 2019: 308) So stellt sich für Schmitts Werk eine Frage, die sich auch im Hinblick auf Coulins Samba pour la France und Gaudés Eldorado auftut: Ist ein*e europäische*r Autor*in ohne eigene Migrationserfahrung dazu in der Lage, authentisch die fiktionalen Migrationsbewegungen von Figuren aus Afrika oder Nahost zu erzählen? Sollten die Subalternen, um den bekannten Aufsatz Gayatri Chakravorty Spivaks (1988) zu zitieren, nicht für sich selbst sprechen? Die bereits zitierte Oana Panaïté (2016) stuft dieses literarische Verfahren u.a. auf Basis einer Analyse mehrerer Romane Gaudés als problematisch ein, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird.
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So eindeutig sich die Erzählsituation in Schmitts Ulysse from Bagdad also darstellt, so divers und ambivalent gestaltet sich die literarische und stilistische Ausgestaltung des Textes, wie in der ausführlichen Analyse des Intertextes mit Homers Odyssee unter 5.3.3.1 herausgearbeitet wird. Obgleich die Erzählung eindeutig aus der Perspektive des Ich-Erzählers Saad erfolgt, kann auch Schmitts Roman mit Blick auf stilistische Merkmale und narrative Verfahren somit jene Heterogenität bescheinigt werden, die alle im Rahmen dieser Untersuchung analysierten Texte aufweisen.
5.1.4.2
Stimmenmosaike und heterogene Erzählsituationen als Räume der Reflexion
Laurent Gaudé beleuchtet in Eldorado das Phänomen afrikanischer Migration in Richtung Europa aus zwei unterschiedlichen und doch komplementären Perspektiven, indem er die Geschichte von Salvatore Piracci, Kommandant der italienischen Küstenwache, mit der des Sudanesen Soleiman verbindet, der sich auf dem Weg nach Europa befindet. Diese dialogische Gestaltung, in der ein hetero- und ein homodiegetischer Erzähler (vgl. Genette 2007: 255) aufeinandertreffen,44 verwendet Gaudé bereits in Le Soleil des Scorta (2004) (vgl. Müller 2010: 131). In Eldorado wird hierdurch ein Kontrast geschaffen zwischen dem in Soleimans Erzählung von Migrierenden und Schlepper*innen getragenen Mythos des Eldorado Europa und der oft tragischen Realität, die Kapitän Piracci erlebt (vgl. Baage 2017: 3). Die beiden Erzählstränge alternieren mit der Kapitelstruktur und kreuzen sich lediglich an zwei Stellen, die dasselbe Ereignis aus der Sicht des jeweiligen Protagonisten schildern. Der Moment, in dem die Hauptfiguren sich begegnen (vgl. Gaudé 2009: Kapitel 8 und 13), stellt das einzige Bindeglied zwischen den narrativen Linien dar, die ansonsten parallel zueinander verlaufen. Es ist auffällig, dass die beiden Perspektiven im Hinblick auf die verwendeten Erzählsituationen und Tempora sehr unterschiedlich gestaltet sind, wodurch Eldorado zu einem »récit polyphonique« (Baage 2017: 3) wird und ebenjene heterogene Verfasstheit aufweist, die auch den anderen untersuchten Werken eigen ist. Besonders deutlich zeigt sich diese Mehrstimmigkeit in einem direkten Vergleich der Anfänge beider Berichte. Die Geschichte des Kapitän Piracci wird in der Vergangenheit erzählt und ist überwiegend im Passé Simple und im Imparfait formuliert, sodass der Text an Literarizität und Distanz zum erzählten Geschehen
44
Stefan Müllers Differenzierung, nach der Soleimans Geschichte von einem homodiegetischen Ich-Erzähler und jene des Kapitäns Piracci von einem heterodiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung geschildert wird (vgl. Müller 2010: 150), kann die vorliegende Untersuchung nur teilweise zustimmen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich im Erzählstrang des Kapitäns Nullfokalisierung und interne Fokalisierung ablösen, sodass zeitweise der Eindruck einer personalen Erzählsituation entsteht.
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gewinnt. In Einklang damit wird zunächst in der dritten Person von einem auktorialen, heterodiegetischen Erzähler (vgl. Genette 2007: 255) berichtet, der jedoch zeitweise von einer personalen Erzählinstanz abgelöst zu werden, bzw. mit ihr zu verschwimmen scheint (vgl. Stanzel 2008: 242).45 Eingangs beschreibt der allwissende Erzähler den Alltag in Catania und das Geschehen auf dem Fischmarkt, ist jedoch selbst nicht Teil der Diegese: À Catane, en ce jour, le pavé des ruelles du quartier du Duomo sentait la poiscaille. Sur les étals serrés du marché, des centaines de poissons morts faisaient briller le soleil de midi. […] Les pêcheurs restaient derrière leurs tréteaux avec l’œil plissé du commerçant aux aguets. La foule se pressait, lentement, comme si elle avait décidé de passer en revue tous les poissons, regardant ce que chacun proposait, jugeant en silence du poids, du prix et de la fraîcheur de la marchandise. […] Le commandant Salvatore Piracci déambulait dans ces ruelles, lentement, en se laissant porter par le mouvement de la foule. Il observait les rangées de poissons disposés sur la glace, yeux morts et ventre ouvert. Son esprit était comme happé par ce spectacle. […] Il dut se faire violence pour se soustraire à cette vision. Il continua à suivre, un temps, le flot des badauds, puis il s’arrêta devant la table de son poissonnier habituel et le salua d’un signe de la tête. (Gaudé 2009: 11f.) Der auktoriale Erzähler beschreibt im Imparfait die typische Szenerie auf dem Fischmarkt. Er kennt die Gewohnheiten und Empfindungen des Kapitäns, der im zweiten Absatz des ersten Kapitels auftaucht und dessen Handlungen im Passé Simple wiedergegeben werden. Der Erzähler hält sich allerdings im Hintergrund und manifestiert sich im Verlauf der Erzählung nur selten durch Kommentare oder andere Aussagen, die nicht indirekt aus der Wahrnehmung bzw. Erfahrung Piraccis stammen könnten, also über dessen Wahrnehmungs- und Wissenshorizont hinausgehen (vgl. ebd.: 11f.). Nach der Einführung der Figur des Kapitäns erfährt die auktoriale Erzählinstanz eine Personalisierung (vgl. Stanzel 2008: 242) und taucht mittels interner Fokalisierung derart tief in die Gedanken- und Gefühlswelt des Kommandanten ein, dass sie zu verschwinden scheint (vgl. Gaudé 2009: 13). Den Fortgang der Handlung erlebt die Leserschaft nun indirekt aus der Perspektive Salvatore Piraccis, er wird zur Reflektorfigur (vgl. Stanzel 2008: 242). So entdeckt die Leserschaft bspw. erst nach und nach, zeitgleich mit der Figur des Kapitäns, die Identität der geheimnisvollen Frau, die Piracci durch die Stadt folgt, sodass
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Franz K. Stanzel prägt hierzu den Begriff des auktorial-personalen Kontinuums. In diesem Bereich seines Typenkreises verortet er Erzählsituationen, in denen ein auktorialer und ein personaler Erzähler sich abwechseln oder überlagern (vgl. Stanzel 2008: 242).
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die Narration Aspekte einer personalen Erzählsituation aufweist.46 Im letzten Satz des ersten Kapitels markiert der allwissende Erzähler wiederum unvermittelt seine Position, als er berichtet, dass die unbekannte Frau den Kapitän verfolgt wie ein Schatten, ohne dass dieser etwas davon bemerkt (vgl. Gaudé 2009: 14). Wie schon bei Assommons les pauvres! gestaltet sich die Erzählsituation im ersten Erzählstrang von Eldorado heterogen und ist mit einer einzigen narratologischen Kategorie kaum beschreibbar. Der Leserschaft ermöglicht die Verschränkung von auktorialen und personalen Erzählelementen, sich bis zu einem gewissen Grad in Kapitän Piracci einzufühlen und Empathie zu entwickeln. Eine Identifikation mit der Figur wird aber durch die Narration in der Vergangenheit, insbesondere durch den die Literarizität steigernden Einsatz des Passé Simple, sowie durch auktorial erzählte Passagen und punktuelle Perspektivwechsel47 gehemmt. Anders verhält es sich mit dem Erzählstrang Soleimans, der im zweiten Kapitel mit dieser Passage beginnt: Je suis avec mon frère Jamal. Je ne dis rien. Je claque la portière de la voiture. Il fait tourner la clef. Le moteur gronde. Ce soir, les hirondelles volent haut dans le ciel. Les boulevards grondent du vacarme des klaxons. La poussière soulevée par les embouteillages est encore chaude du soleil de la journée. Mon frère Jamal ne dit pas un mot. Nous roulons. Je sais que nous partirons cette nuit. Je l’ai compris à son regard. S’il m’a demandé de venir avec lui, c’est qu’il veut que nous soyons ensemble pour dire adieu à notre ville. 46
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Dieser Eindruck wird durch die punktuelle Verwendung von erlebter Rede verstärkt, welche nach Stanzel (vgl. 2008: 242-244, 247f.) ein Indikator für eine personale Erzählinstanz ist. Auf die Bitte der zwei Jahre zuvor geretteten Frau, ihr eine Waffe zu geben, reagiert der Kapitän wie folgt: »Une arme? Le commandant était sidéré. Il avait pensé à tout, sauf à cela. Une arme. Voulait-elle se suicider? Il la regarda avec stupeur. Était-il possible que depuis deux ans, la douleur ne l’ait pas quitté? quelle soit restée si violente?« (Gaudé 2009: 30). Die Fragen, die der Protagonist sich stellt, werden nicht mittels eines verbum cogitandi durch den auktorialen Erzähler eingeleitet, sodass das Ausbleiben dessen »auktoriale[r] Dialogregie« (Stanzel 2008: 243) einmal mehr für eine personalisierte Erzählinstanz zu sprechen scheint (vgl. ebd.: 242-245). Zu einer solchen »focalisation interne variable« (Genette 2007: 196) kommt es an verschiedenen Stellen der Erzählung des Kapitäns (vgl. Gaudé 2009: 39, 102f., 129). In der Episode, in der Piracci sich zu spät entscheidet, einen aus dem Meer geretteten Migranten in seiner Kabine vor der Polizei zu verstecken, wechselt die Narration etwa zwischen der intern fokalisierten Perspektive Piraccis und jener des geretteten Mannes, als das Schiff den Hafen Lampedusas erreicht. Während in dem folgenden Zitat das erste »il« Kapitän Piracci zuzuordnen ist, markiert das Personalpronomen danach die Gedanken des Migranten, der zuvor zwischen der Crew und den anderen Geretteten übersetzt hatte: »Il eut le temps de croiser le regard de l’interprète. Un long regard noir et douloureux qui disait la rancune. Il aurait admis que Salvatore Piracci refuse sa proposition par principe, par idéologie. Mais il comprenait que le commandant était maintenant prêt à accepter. Il était simplement trop tard.« (ebd.: 102f.)
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Je ne dis rien. La tristesse et la joie se partagent en mon âme. Les rues défilent sous mes yeux. J’ai doucement mal de ce pays que je vais quitter. (Gaudé 2009: 43) Vergleicht man die zuvor zitierten ersten Zeilen aus dem Erzählstrang des Kapitäns mit jenen der Erzählung Soleimans, so sind die Unterscheide frappierend. Soleiman tritt als Ich-Erzähler auf und berichtet im Präsens, wodurch die Narration sich von Beginn an, und insbesondere im Vergleich mit jener Piraccis, durch eine gewisse Unmittelbarkeit auszeichnet. Gerade die ersten Sätze vermitteln den Eindruck, das Erlebte direkt aus Soleimans Perspektive zu erfahren. Die Leserschaft erhält keinerlei Einleitung in den zweiten Erzählstrang, keine zeitliche oder örtliche Einordnung, sondern taucht in medias res in die Wahrnehmung des IchErzählers ein, dessen je bezeichnenderweise den Anfang der Narration markiert. Die folgenden Sätze verstärken diese Wirkung und erwecken durch ihre dynamische Abfolge und das wiederkehrende syntaktische Muster (Subjekt + Verb + Objekt) den Anschein, dass man als Leser*in Soleimans Wahrnehmung folgt. Der schnelle, repetitive Rhythmus zu Beginn des Erzählstrangs und die reduzierte syntaktische Gestaltung erinnern an einen spontanen, aus Beobachtungen resultierenden, quasi zeitgleichen Bericht. Der Verzicht auf Adjektive und literarische Stilmittel sowie die Positionierung von Subjekt und Verb am Satzanfang verlagern den Fokus der Erzählung auf das jeweilige Handlungselement. Dieser reduzierte, berichtende Stil der ersten Sätze zeichnet die Narration Soleimans allerdings nicht in ihrer Gesamtheit aus, wie bereits der nächste Absatz verdeutlicht. Nun stellt der Protagonist nahezu romantisch wirkende Beobachtungen über seine Umgebung an, nimmt die am Himmel fliegenden Schwalben, den geschäftigen Stadtverkehr und den die Luft erfüllenden, sonnengewärmten Staub wahr.48 Die Empfindungen Soleimans und seine beinahe poetisch anmutenden Wahrnehmungen lassen die Narration einerseits persönlicher wirken und steigern andererseits ihre Literarizität. Den Grund für den veränderten Ausdruck nennt die Hauptfigur selbst: Soleiman wird die Stadt verlassen und in einem Anflug von Melancholie möchte er die Atmosphäre seiner Heimat in sich aufnehmen, bevor er ihr den Rücken kehrt (vgl. ebd. 43). Jene stilistische Alternanz setzt sich im Laufe des Erzählstrangs von Soleiman fort: Handlungsorientierte, syntaktisch reduzierte Sätze und deskriptive, teils poetische Passagen mit literarischen Stilmitteln lösen einander ab, wodurch die Erzählung entweder den Fortgang der Handlung oder die Gefühlswelt und Wahrnehmung der Hauptfigur akzentuiert (vgl. ebd.: 81, 117, 120, 182f.). Der nahbare Charakter von Soleimans Erzählstrang wird durch den punktuellen Einsatz von Adressierungen in der zweiten Person verstärkt. An mehreren 48
Unter dem Schlagwort ›Körperpoetik‹ wird die besondere Körperlichkeit und Sinnlichkeit von Soleimans Erzählung unter 5.2.2.1 gedeutet. Zum Verhältnis von Körper und Schrift, das Aussagen über kulturelle Imaginationen und soziale Deutungsvorgänge erlaubt, sowie zur Körperlichkeit der Schrift im Sinne ihrer medialen Materialität siehe Borsò (2002).
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Stellen der Narration (vgl. ebd.: 48, 51, 92, 122f.) richtet Soleiman sich in inneren Monologen an seinen Bruder Jamal. Kurz nachdem er seinen erkrankten Bruder an der sudanesisch-libyschen Grenze zurücklassen musste, fährt die Erzählung wie folgt fort: Je me suis trompé. Aucune frontière n’est facile à franchir. Il faut forcément abandonner quelque chose derrière soi. […] Aucune frontière ne vous laisse passer sereinement, elles blessent toutes. […] Je serre, du bout des doigts, le collier de perles vertes de mon frère. La voiture roule. Je pense à toi. Je ne t’oublie pas, Jamal. Je vis pour toi. Pour toi seul qui aurais pu boire l’océan et dois rentrer, piteusement, dans ta niche pour y mourir. Je pense à toi que j’ai vu, une fois au moins, face à moi, fort et heureux de liberté. (ebd.: 91f.) Bezeichnenderweise geht mit dem Grenzübertritt der Brüder, welcher Soleiman, wie er beschreibt, als Person irreversibel prägt, eine Veränderung in der Erzählsituation einher, nach der das je Soleimans mit dem imaginierten tu seines Bruders spricht. Bei genauerer Betrachtung ist festzustellen, dass die vier Passagen, in denen Soleiman sich gedanklich an Jamal wendet, stets einen entscheidenden Moment in der Reise des jüngeren Bruders markieren. Beim ersten Auftreten der Du-Adressierung (vgl. ebd.: 48f., 51f.) fahren die Brüder ein letztes Mal durch ihren Heimatort und der Abschied von ihrer Mutter steht bevor. Als Soleiman Boubakar kennenlernt und neue Hoffnung verspürt, nachdem er ausgeraubt worden war, spricht der Sudanese in Gedanken erneut zu seinem Bruder (vgl. ebd.: 122f.). Inhalt und Form scheinen einander zu ergänzen, indem Wechsel in der narrativen Gestaltung zentrale Momente der Handlung markieren.49 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die narrative Form von Eldorado eine Reflektion der beiden Figurencharaktere erlaubt und teilweise begünstigt: »Dans le contexte de la migration clandestine, le jeu de distanciation et d’identification évoque de nombreuses questions d’ordre moral et éthique. Il s’agit de créer de l’empathie pour les dominants ainsi que pour les dominés, voire pour les gardiens de la citadelle et les démunis.« (Baage 2017: 8) Dennoch unterscheiden sich die beiden Teile der Erzählung stilistisch stark voneinander, worin Stefan Müller (2010: 150) eine »metatextuelle Parabel auf den schwierigen Dialog« zwischen den beiden Personengruppen sieht, für welche die Figuren stellvertretend stehen, sprich zwischen afrikanischen Einwander*innen und der europäischen Aufnahmegesellschaft. Überdies ist hinsichtlich der erzählerischen Gestaltung Eldorados zentral, dass in beiden Erzählsträngen Migrant*innen aus erster Hand von ihren Erfahrungen berichten. Soleiman und die von Kapitän Piracci gerettete Frau (vgl.
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Inwiefern die Gedanken an Jamal für Soleiman ein mentales Bewahren seiner Heimat darstellen, wird in Kapitel 5.2.2.1 vertieft.
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Gaudé 2009: 24-29) erzählen eindringlich von ihren traumatischen Migrationserfahrungen und beleuchten dabei auch die Zeit vor ihrer Ausreise sowie ihre Beweggründe. Die Migrant*innen kommen selbst zu Wort und ihre Geschichten beginnen nicht erst mit der Ankunft in Europa, sondern liefern ein ganzheitliches Bild der Komplexität von Migrationsprozessen, welche die Regelhaftigkeit der biopolitischen Verwaltung des Lebens übersteigt. Somit scheint auch in Laurent Gaudés Roman eine literarische Integration marginalisierter Diskurse in die Sphäre des Politischen stattzufinden: »Gaudé [wirft] mit Eldorado die Frage auf, wie die Dichtung auf sprach- und ausdruckslose Menschen reagieren kann.« (Müller 2010: 151) Wie zuvor angemerkt, gibt es allerdings kritische Stimmen, welche die Darstellung Afrikas und afrikanischer Figuren in Gaudés Werk problematisieren. Hierzu zählt Oana Panaïté, die mehreren zeitgenössischen französischen Schriftsteller*innen vorwirft, in ihrem Schaffen in koloniale Diskurse und Repräsentationsmuster zu verfallen (vgl. Panaïté 2016: 84f., 88f.) oder sich an afrikanischen und antillanischen Schriften und Denkfiguren zu orientieren, ohne dies genügend anzuerkennen (vgl. ebd.: 87). Nach der stichprobenartigen Analyse einiger Werke Laurent Gaudés und J. M. G. Le Clézios fasst die Verfasserin die Problematik von Texten europäischer Autor*innen, die aus der Perspektive von Afrikaner*innen erzählen, in Anlehnung an Frantz Fanons Peau noire, masques blancs (2015 [1952]) zusammen: Laurent Gaudé and J. M. G. Le Clézio raise the same question, both in their fictional utterance and in their authorial stance, when they set out to write not only about Africa but as Africans. They adopt their point of view, borrow their voices and, ultimately, in a post-Fanonian twist, place fictional black masks over white skin. As controversial as this gesture may be, warranting further critical scrutiny, its ethical implications cannot be separated from the vastly different aesthetical choices made by the two writers, leading Gaudé to fall back on orientalist positions, and Le Clézio to construct an empathic, multipolar perspective. (Panaïté 2016: 92) Die beschriebene heterogene Gestaltung von Eldorado führt gemeinsam mit dem formalen Aufbau des Werks und der erwähnten Alternanz der Erzählstränge zu einer fragmentierten Werkhaftigkeit von Gaudés Roman. Die Polyphonie der Erzählung, die wechselnden Tempora sowie die in Anbetracht des 220-seitigen Umfangs des Werks kleingliedrige Kapitelstruktur aus dreizehn Kapiteln und diversen Unterkapiteln, die teils abrupte Wechsel und Unterbrechungen der Erzählstränge zur Folge hat, verleiht Eldorado eine merklich dissoziierte Struktur. Dies könnte zum einen erneut als Unterminierung einer angenommenen Linearität und Allgemeingültigkeit von Diskursen über Migration gelesen werden. Zum anderen könnte die gestückelte Werkhaftigkeit der in dieser Untersuchung analysierten Texte die ebenso fragmentierten Subjektivitäten und Lebenswege der in Migrationsprozesse und biopolitische Dynamiken involvierten Figuren reflektieren, was insbesondere in den Kapiteln 5.2.2.2 und 5.4.2 eingehender thematisiert wird.
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In Tahar Ben Jellouns Partir ist der polyphone, fragmentarische Charakter der Erzählung noch stärker ausgeprägt. Wie in der Vorstellung des Romans ausgeführt (vgl. 4.) bildet sich um den Protagonisten Azel eine relationale Figurenkonstellation, die eine differenzierte Perspektive auf Migrationsbewegungen zwischen Marokko und Europa ergibt und in stilistischer Hinsicht mit einer mosaikartigen, mehrstimmigen Struktur einhergeht. Der Roman untergliedert sich in vierzig kurze Kapitel, die nach der Figur bzw. den Figuren benannt sind, von denen sie vorrangig handeln (vgl. Schyns 2016: 206), wobei einige Charaktere, wie der Protagonist oder dessen Schwester Kenza, im Fokus mehrerer Kapitel stehen (vgl. Kaiser/ Thiele 2016: 278f.). Eine Ausnahme bildet das letzte Kapitel mit dem Titel Revenir, das einen Bruch mit dem Rest der Narration bildet und unter 5.4.2.2 ausführlich gedeutet wird. Neben der Kapitelstruktur trägt insbesondere die heterogene Erzähltechnik in Partir zum dissoziierten Charakter des Textes bei. Diese zeichnet sich durch unvermittelte Perspektivwechsel sowie Verflechtungen und Überlagerungen von Erzählsituationen aus, wodurch eine teils diffuse Polyphonie entsteht. Mehrheitlich ähnelt die narrative Gestaltung von Ben Jellouns Roman jener des zuvor behandelten Erzählstrangs von Kapitän Piracci in Eldorado. Auch in Partir tritt zunächst ein auktorialer Erzähler auf, dessen Präsenz allerdings nicht stark markiert ist und der häufig derart tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelten der zahlreichen Figuren zur Verfügung stellt, dass er zeitweise hinter einer multiperspektivischen personalen Erzählsituation (vgl. Stanzel 2008: 242f.) bzw. einer »focalisation interne variable« (Genette 2007: 196) zu verschwinden scheint. Diese auktorial-personale Erzählsituation wird zuweilen durch homodiegetische Ich-Erzähler*innen unterbrochen und die daraus entstehende Mehrstimmigkeit wird wiederum gelegentlich in ein Kollektiv zusammengeführt, das als abstraktes »nous« (vgl. Ben Jelloun 2007: 184, 189, 192, 194, 322, Zdrada-Cok 2010: 48f.) eine solidarische Gemeinschaft aller intraliterarischer Figuren und extraliterarischer Menschen mit Migrationserfahrung heraufzubeschwören scheint: »Nos encontramos con la voz de la colectividad en busca de una identidad que se refleja en el texto por la oposición de los dos continentes, europeo y africano.« (Cantón Rodríguez 2012: 56) Mit diesem nous scheint der Text eine repräsentative Funktion zu beanspruchen, die bereits in der Figurenkonstellation anklingt. Unter Bezug auf Hardt und Negri könnte dieses Verfahren eine formale und inhaltliche Realisierung der Multitude darstellen, jenem globalen Netzwerk von Subjekten, die gemeinsam ein Gegengewicht zu den Kräften des Empire bilden und dessen biopolitischer Steuerung sie sich u.a. durch Migration entziehen, um alternative Subjektivierungsentwürfe zu erschließen (vgl. Hardt/Negri 2005: xiiif., 133-135, 2001: 215f.). Die dynamische und teils schwierig zu differenzierende Erzählsituation in Partir soll nachfolgend anhand von Auszügen verdeutlicht werden. Das erste Kapitel beginnt mit einer Episode am Hafen von Tanger, wo eine Gruppe Männer in einem Café sitzt, Haschisch raucht und darauf wartet, die Lichter Spaniens sehen
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zu können. Der auktoriale Erzähler beschreibt die Szenerie. Er kennt die anwesenden Figuren, weiß um deren bescheidene Herkunft und kommentiert ihren nahezu kindlichen Glauben an die Meeresgöttin Toutia, die ihnen eine sichere Fahrt über das Mittelmeer garantieren soll (vgl. Ben Jelloun 2007: 11-13). Als der Fokus der Erzählung sich von diesem anonymen Kollektiv auf den Protagonisten verlagert, erfährt der auktoriale Erzähler eine »Personalisierung« (Stanzel 2008: 242). Azel wird zu einer »Reflektorfigur« (ebd.: 242) und die Episode wird nunmehr indirekt aus seiner Wahrnehmung geschildert. Die Leserschaft erhält Zugang zu seiner Gefühlswelt, seiner Angst vor der Mittelmeerüberquerung und seinen sinnlichen Eindrücken: Comme dans un rêve absurde et persistant, Azel voit son corps nu mêlé à d’autres corps nus gonflés par l’eau de mer, le visage déformé par l’attente et le sel […]. Il se bouche le nez car, à force de fixer ces images, il a fini par sentir l’odeur de la mort, une odeur suffocante qui rôde, lui donnant la nausée. Quand il ferme les yeux, la mort se met à danser autour de la table (Ben Jelloun 2007: 13f.) Im nächsten Kapitel verlässt Azel das Café und streift gedankenverloren durch Tanger. Erneut entsteht der Eindruck einer personalisierten, unmittelbaren Erzählsituation, da zunächst weiterhin im Präsens Azels Gedanken und Empfindungen beschrieben werden. Daraufhin scheint sich jedoch mit einem Absatzwechsel der auktoriale Erzähler zu manifestieren, worauf die für eine personale Erzählsituation untypische, präzise Zeitangabe (vgl. Fludernik 2013: 108) sowie die Verwendung des Passé Simple hindeuten, welches die Literarizität steigert und Distanz zur Figur aufbaut: Chaque fois qu’Azel quitte ce silence où aucune présence ne s’impose, il a froid. Quelle que soit la saison, son corps est secoué par un léger tremblement. Il sent le besoin de s’éloigner de la nuit, il refuse d’y entrer. Il marche dans la ville, ne parle à personne, s’imagine tailleur, couturier d’un genre à part, reliant les ruelles étroites aux larges avenues avec un fil blanc comme dans cette histoire que lui racontait sa mère quand il avait du mal à s’endormir. […] Cette nuit de février 1995, il décida d’abandonner le travail de couture, persuadé que Tanger n’était plus un habit mais une de ces couvertures en laine synthétique que les émigrés rapportent de Belgique. (Ben Jelloun 2007: 16) Nur selten gibt sich die auktoriale Erzählinstanz eindeutig durch kommentierende und vorwegnehmende Äußerungen zu erkennen: »Tout compte fait, Azel était un doux, un gentil […]. Le pauvre! Il ne savait pas qu’il faisait fausse route.« (ebd.: 37) Die Erzählsituation in Partir ist somit in weiten Teilen jene hybride, die man mit Stanzel (vgl. 2008: 242-258) als auktorial-personal beschreiben könnte, da der Erzähler tiefe Einblicke in die Gedankengänge, Gefühle und Erinnerungen der Figuren gibt, nach denen die jeweiligen Kapitel benannt sind. Cantón Rodríquez (2012:
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57) spricht von »voces interiores que suenan en la mente de los protagonistas« und attestiert Partir somit ebenfalls eine Mehrstimmigkeit. Verstärkt wird der Eindruck einer diffusen Erzählsituation dadurch, dass an einigen Stellen des Romans IchErzähler*innen das Wort ergreifen (vgl. Ben Jelloun 2007: 152f., 224f., 300), so etwa in dem Kapitel, das Azels Mutter Lalla Zohra gewidmet ist: Comme toutes les mères, elle se doutait de quelque chose, soupçonnait Kenza de lui cacher la vérité et avait peur qu’Azel tente une nouvelle fois de brûler le détroit. Je connais mon fils, il ne peut pas rester en place […] je sais qu’il est en train de tout faire pour partir là-bas, en Espagne. Que dieu le protège […]. Mais pourquoi n’appelle-t-il pas, pourquoi ce silence? Il est peut-être malade? à l’hôpital? Pourvu que ce ne soit pas ça. (ebd.: 74) Die divergierenden Ansichten der Forschung50 sprechen ebenfalls für die Komplexität der Erzählsituation in Tahar Ben Jellouns Text, die sich wohl am ehesten als polyphon beschreiben lässt. Die Stimmen der Figuren und des Erzählers sind in einem »narrative fabric« (vgl. Kaiser/Thiele 2016: 279) miteinander verwoben. Sicher scheint nur, dass die narrative Organisation von Partir, ob sie nun aus Sicht der auktorialen Erzählinstanz, aus Perspektive von Reflektorfiguren, Ich-Erzähler*innen oder der eines kollektiven nous erfolgt, den Geschichten der migrierten und ausreisewilligen Figuren Raum gibt und das Phänomen der marokkanischen Migration nach Spanien aus diversen Blickwinkeln beleuchtet. Die heterogene Erzählsituation und eine uneinheitliche Markierung der wörtlichen Rede (vgl. 5.1.3.2) führen dazu, dass der Text Natur und Ursprung gewisser Aussagen zunächst im Unklaren lässt und eine gesteigerte Analyseleistung notwendig wird, um der Narration zu folgen. Es wirkt beinahe, als würde der Text mittels dieser narrativen Strategien seine eigene Lesbarkeit stören, seine Aussagen verschleiern und sich
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In der Sekundärliteratur zu Partir finden sich kaum detaillierte Untersuchungen der narrativen Gestaltung von Ben Jellouns Roman. Idrissi Alami (vgl. 2013: 7, 8, 21), Marchi (vgl. 2014: 612, 613, 615), Cantón Rodríguez (vgl. 2012: 51, 58) und Albert/Kober (vgl. 2013: 52) erwähnen zwar einen Erzähler, qualifizieren diesen jedoch nicht näher. Neben Désirée Schyns (vgl. 2016: 206) scheint auch Nicoletta Pireddu (vgl. 2009: 18, 21, 30, 33) von einem extradiegetischen, auktorialen Erzähler auszugehen, wobei letztere allerdings keine explizite Kategorisierung vornimmt. Søren Frank (vgl. 2017: 86) spricht zunächst von nur einem Erzähler, hält aber an späterer Stelle fest, dass Ben Jelloun »secondary narrators« (ebd.: 93) einführt, um eine differenzierte Perspektive auf die Handlung zu bieten. In ähnlicher Manier kategorisiert Bernard Urbani Partir als »texte-polyphonie«, der von einer »mosaïque d’individus marginaux« (beide Urbani 2016: 476) handelt, während Callargé (vgl. 2015: 5) den Protagonisten Azel als Erzähler identifiziert. Lediglich Magdalena Zdrada-Cok untersucht die Erzählsituation in Partir ausführlicher und ihre Beobachtungen decken sich weitgehend mit jenen dieser Untersuchung. Sie schreibt Ben Jellouns Roman eine »instabilité de l’instance narrative« (ZdradaCok 2015: 94) zu, welche die Autorität einer allwissenden Erzählinstanz unterminiert.
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insofern der Komplexität seiner Thematik anpassen, die ebenso wenig mit vermeintlich allgemeingültigen Mustern, kategorischen Positionen oder dichotomen Begriffspaaren zu vereinbaren ist. Erneut scheint die literarische Form in ihrer Heterogenität die auf der Ebene des Inhalts dargestellten biopolitischen Mechanismen der Verwaltung von Migration in ihrer paradoxen Regelhaftigkeit zu reproduzieren und gleichzeitig zu konterkarieren. Resümierend lässt sich behaupten, dass die im Rahmen dieser Studie analysierten Werke sich mehrheitlich durch heterogene Erzählsituationen auszeichnen, welche die These einer insgesamt hybriden und polyphonen Werkstruktur unterstützen. Die beschriebenen Textmerkmale können als Reflektion der Ambivalenz biopolitischer Phänomene gedeutet werden und gleichzeitig eine kritische Hinterfragung dieser darstellen. Mehrstimmige und anachronistische Erzählungen sowie fragmentierte Kapitelstrukturen können insofern einerseits als Spiegelung des Schwellencharakters biopolitischer Dynamiken, sowie als Ausdruck ihrer dissoziierenden und spaltenden Effekte auf Subjekte und Kollektive (vgl. Hardt/Negri 2001: 23, Agamben 2018: 30f.) gelesen werden. Zum anderen ergeben die mehrstimmigen, nicht linearen Narrationen ein differenziertes Bild von Migrationsprozessen, das vereinfachende und einseitige Diskurse sowie die Verwaltung der Vielfalt und Vitalität (vgl. Muhle 2013: 82-95, Hardt/Negri 2001: 394-411) des Lebens durch kategorische biopolitische Gesetzmäßigkeiten als Illusion entlarvt. Nach Ottmar Ette (vgl. 2010: 28f.) transportiert ein Text sein spezifisches Lebenswissen, also seinen Bezug zum Leben, nämlich eben über das literarische Verfahren der Mehrstimmigkeit im Sinne Bachtins sowie über die Zeichnung komplexer Figuren und flexibler Figurenkonstellationen. Jene heterogene narrativ-stilistische Verfasstheit der analysierten Werke, die sich im Fortgang der Untersuchung an weiteren textuellen Elementen bestätigen wird, kann somit als Ausdruck der eingangs erwähnten, literarischen Multitude gedeutet werden, welche die auf der inhaltlichen Textebene dargestellten fiktionalen Ordnungen der Biopolitik durch eine frappierende formal-stilistische Hybridität unterminiert und übersteigt. Die Tatsache, dass die Handlungen zum Großteil direkt oder indirekt aus Perspektive von migrierenden bzw. migrierten Figuren erzählt werden, deutet außerdem auf den Versuch einer (Re-)Integration marginalisierter diskursiver Positionen in die »frames« (Butler 2010: 3) des Sichtbaren und die Sphäre des Politischen hin. In Konsequenz können die Vielstimmigkeit der Texte und insbesondere die Privilegierung migrantischer Perspektiven als eine stilistische Unterwanderung der erzählten immunisierenden Tendenzen (vgl. Esposito 2004: 47) interpretiert werden, mit denen die migrantischen Figuren sich konfrontiert sehen (vgl. 5.3.1). Derartige Textphänomene scheinen das subversive Potenzial auszudrücken, das auch Michel Foucault der Literatur unter bestimmten Umständen zugesteht:
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[A]charnée à […] franchir les limites, à lever brutalement ou insidieusement les secrets, à déplacer les règles et les codes, à faire dire l’inavouable, elle [la littérature] tendra donc à se mettre hors la loi ou du moins à prendre sur elle la charge du scandale, de la transgression ou de la révolte. (Foucault 1994d [1977]: 252f.)51
5.2
Subjektivierung und Desubjektivierung im Migrationsdispositiv
5.2.1
Die Prekarität des Lebens zwischen non-persona, bíos und zoë
5.2.1.1
Subjektkategorien, Subjektivierungsentwürfe und Desubjektivierung in der politischen Verwaltung von Migration
Der Status des (Rechts-)Subjekts spielt in den biopolitischen Prozessen, die mit Migrationsphänomenen einhergehen, eine, wenn nicht gar die entscheidende Rolle. In den analysierten Werken wie auch in der extraliterarischen Realität (vgl. Légifrance 2022) entscheidet der rechtliche Status innerhalb der Strukturen, die im Rahmen dieser Untersuchung als Migrationsdispositiv bezeichnet werden, über die Möglichkeiten, Freiheiten, Rechte und Pflichten einer Person. Nach Foucault hat das Subjekt grundsätzlich eine doppelte Verfasstheit und ist per definitionem immer auch ein unterworfenes, wie er in Le Sujet et le Pouvoir ausführt: »Il y a deux sens au mot ›sujet‹: sujet soumis à l’autre par le contrôle et la dépendance, et sujet attaché à sa propre identité par la conscience ou la connaissance de soi. Dans les deux cas, ce mot suggère une forme de pouvoir qui subjugue et assujettit.« (Foucault 1994e [1982]: 227) Jede Form der Unterwerfung konturiert dabei durch die handlungsorientierte Funktionsweise von Machtrelationen, »le pouvoir n’existe qu’en acte« (ebd.: 236), das Feld von Subjektivierungen, zu dem ein Individuum Zugang hat (vgl. ebd.: 237-239). Denn Machtausübung wirkt nach Foucault nicht 51
Das Zitat stammt aus La vie des hommes infâmes. In diesem Text skizziert Foucault zwar das Potenzial moderner Literatur, mit vorherrschenden Normen und Codes zu brechen, begreift sie allerdings im Kontext seiner machtanalytischen Studien letztendlich als Bestandteil des »grand système de contrainte« (Foucault 1994d: 252), das seit dem 17. Jahrhundert zunehmend versucht, das Leben diskursiv und politisch zu normieren und zu disziplinieren. Foucaults Position kann an der Stelle aus Gründen der argumentativen Stringenz nicht ausführlich Berücksichtigung finden. Die vorliegende Studie geht aber insofern mit der Einschätzung Hubert Thürings (vgl. 2012: 30-34) d’accord, als die von Foucault skizzierte »›Funktionalisierung‹ der Literatur« (ebd.: 34) durch die Dispositive der Macht schwer nachvollziehbar und zuweilen lückenhaft erscheint. Die hiesige Untersuchung möchte u.a. daher Foucaults biopolitische Überlegungen um die Ausführungen Agambens, Espositos sowie Hardts und Negris ergänzen, um eine komplexe Relationalität von Literatur, Biopolitik und Leben zu entwerfen, die Literatur jenseits eines binären Befunds um die literarische Reproduktion oder Subversion von Normen und Ordnungen insbesondere als Raum der Verhandlung und Problematisierung derartiger Dynamiken begreift.
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unmittelbar auf das Individuum selbst, sondern vielmehr auf dessen Aktionsradius und potenzielle Handlungen, indem sie diese ermöglicht, herbeiführt oder eben verhindert und unterbindet: Il [l’exercice du pouvoir] est un ensemble d’actions sur des actions possibles: il opère sur le champ de possibilité où vient s’inscrire le comportement des sujets agissants: il incite, il induit, il détourne, il facilite ou rend plus difficile, il élargit ou il limite, il rend plus ou moins probable; à la limite il contraint ou empêche absolument; mais il est bien toujours une manière d’agir sur un ou sur des sujets agissants, et ce tant qu’ils agissent ou qu’ils sont susceptibles d’agir. Une action sur des actions. (ebd.: 237) Die ambivalente Natur von Machtausübung thematisiert auch Giorgio Agamben in seiner Abhandlung zum Dispositiv (vgl. 2.2.4). Agambens Definition des Dispositivs und dessen Machtstrukturen schließt u.a. in ihrer auf den Handlungsspielraum des Disponierten gerichteten Perspektive an die Überlegungen Foucaults an (vgl. Agamben 2018: 21f.). Daraus ergibt sich in Bezug auf die subjektivierende, nach Agamben also das Subjekt erschaffende Funktion von Dispositiven, dass Individuen »la loro identità e la loro ›libertà‹ di soggetti« (ebd.: 29) erst in dem Prozess ihrer Unterwerfung erlangen. Demnach zeichnen sich dispositivische Machtdynamiken bei Agamben ebenfalls durch eine »dialettica fra libertà e costrizione« (ebd.: 10) aus, da sie das Subjekt in seinem Handeln nicht nur kontrollieren und hemmen, sondern es gar erst konstituieren (vgl. ebd.: 18-20). Im Hinblick auf den Begriff der Freiheit geht Foucault noch einen Schritt weiter und macht diese gar zur Voraussetzung von Machtausübung, indem er festhält, dass Macht nur über freie Subjekte ausgeübt werden kann. Freiheit wird hier in Anschluss an die zuvor formulierten Überlegungen als die Möglichkeit eines Individuums verstanden, aus einem Feld an möglichen Handlungen und Verhaltensweisen zu wählen, sodass Personen, die keine Gestaltungsmöglichkeiten haben, kein Ziel von Machtrelationen sein können: »Le pouvoir ne s’exerce que sur des ›sujets libres‹, et en tant qu’ils s’ont ›libres‹ […]. Là où les déterminations sont saturées, il n’y a pas de relation de pouvoir« (Foucault 1994e: 237). Eben diese Zusammenhänge zwischen biopolitischer Machtausübung und Handlungs- bzw. Subjektivierungsmöglichkeiten sind in den Texten, welche die vorliegende Untersuchung analysiert, zu beobachten. In Assommons les pauvres! wird die Verwaltung des biologischen Lebens durch den Einsatz verschiedener Subjektkategorien, die mit je unterschiedlichen Formen des Bleiberechts einhergehen, in den geschilderten bürokratischen Abläufen des Asylsystems besonders evident. Die Situation der Menschen, die in Sinhas Autofiktion einen Antrag auf Asyl stellen, kann insofern mit Giorgio Agambens Konzept des nackten Lebens (zoë) beschrieben werden. Die Antragstellenden sind zwar im rechtlich-politischen System Frankreichs erfasst, haben aber keinen Status, der ihnen eine aktive
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Teilhabe an diesem ermöglichen würde, stellen also kein politisch qualifiziertes Leben (bíos) dar: »Situated beyond representation by the law, they are confined to a precarious no-man’s-land as symbolic orphans who are denied civil rights and genealogies of origin.« (Mehta 2020: 91f.) Sie haben europäischen Boden erreicht und mit ihrer namentlichen Registrierung das Recht erworben, ein Asylgesuch zu äußern und sich während der Bearbeitungszeit ihres Antrags mit Hilfe des Staats, allerdings mit eingeschränkten Rechten,52 im Land aufzuhalten. Nach der Befragung durch die sogenannten officiers de protection haben die Antragstellenden zunächst keinerlei Möglichkeiten, die Entscheidung über ihren Fall zu beeinflussen oder in die Prozesse einzugreifen. Sie erzählen ihre Geschichte, diese wird in ein unpersönliches Protokoll umgewandelt und ihre Akte wird zu tausenden anderen, meist aussichtslosen Fällen gelegt. C’était la routine. Je le savais. L’homme ne le savait pas. On amenait ces gens-là à dire la vérité pour en fin de compte ne rien en faire. C’était un cul-de-sac. On les délaissait au pied du mur, au fond de l’impasse, où des centaines et des milliers comme celui-ci avec leurs récits s’entassaient, stagnaient, puaient, devenaient mousse parmi la mousse, grignotés par les larves de l’oubli. (Sinha 2012: 75) Die Gestaltung ihrer Zukunft befindet sich außerhalb ihres Handlungsspielraums und paradoxerweise sind ihre Chancen auf einen Aufenthaltstitel gerade dann besonders gering, wenn sie die Wahrheit von Not und Leid berichten, anstatt vermeintlich ›noblere‹ Gründe für ihr Asylgesuch zu erfinden, wie etwa politische oder religiöse Verfolgung (vgl. Sellman 2013: 47).53 Das System, eine abstrakte, undurchsichtige Entität, entscheidet über den Fortgang ihres Lebens und die Asylsuchenden können nichts weiter tun, als den prekären, vorrechtlichen Schwellenzustand, in dem sie sich befinden, auszuhalten. Die Menschen, denen die Protagonistin während ihrer Arbeit als Übersetzerin begegnet, scheinen somit jenem Mechanismus zu unterliegen, den Giorgio Agamben als inclusione esclusiva des nackten Lebens bezeichnet (vgl. Agamben 2005: 22). Sie sind ein registrierter Teil des Systems und zugleich von demselben ausgeschlossen. Konkreter unterhalten sie lediglich
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Das französische Asylrecht verbietet Asylbewerber*innen etwa bis auf wenige Ausnahmen während der Bearbeitungszeit ihrer Asylanträge die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses (vgl. Légifrance 2022: Article L431-3). Laut Mareike Gebhardt führt jede Form offen kommunizierter Vulnerabilität seitens Migrant*innen zu deren Viktimisierung und folglich Entpolitisierung: »Vulnerability is most often associated with helplessness, victimhood, and precariousness and thus opposed to sovereignty. (Neo-)liberal regimes run on both bio- and necropower. They understand vulnerability as a socio-moral category outside of the political that belongs, instead, to the sphere of human/itarian/ism. Within the bio- and necropolitical frame, vulnerability becomes, hence, depoliticizing.« (Gebhardt 2020: 124)
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durch ihren Ausschluss aus den politischen Strukturen eine Verbindung zu diesen und nur durch ihren Ausschluss rechtfertigt das System seine Legitimität, da ein System nur solange sinnhaft bleibt, wie gewisse Elemente ihm zugehörig sind während andere außen vor bleiben: La nuda vita ha, nella politica occidentale, questo singolare privilegio, di essere ciò sulla cui esclusione si fonda la città degli uomini. […] La coppia categoriale fondamentale della politica occidentale non è quella amico-nemico, ma quella nuda vita-esistenza politica, zoē-́ bíos, esclusione-inclusione. (ebd.: 10f.) Die Asylsuchenden in Assommons les pauvres! befinden sich also in einem rechtlichen Schwebezustand, einer Zone der Ununterscheidbarkeit (vgl. ebd.: 7), und werden aufgrund dieser Verwehrung einer eindeutigen Kategorisierung in der Routine eines überlasteten Asylsystems nicht als individuelle Menschen, sondern als anonyme Masse bloßen Lebens wahrgenommen. Jene Entindividualisierung und Dehumanisierung der Migrant*innen schlägt sich systematisch in der Wortwahl der autodiegetischen Erzählerin nieder: Immer wieder stellt die Protagonistin fest, dass die Eingewanderten und deren Berichte sich in ihrer Wahrnehmung derart stark ähneln, dass es scheint, als würde ein und dieselbe Geschichte von hunderten Menschen erzählt (vgl. Sinha 2012: 10f.). Bereits zu Beginn des Romans beschreibt die Erzählerin die Menschen als »foule« (ebd.: 19, 20), »files disparates de gens désperérés« (ebd.: 20f.) und »énorme nuage imprévu« (ebd.: 21). Diese Semantik der Masse bleibt im gesamten Verlauf der Narration auffallend präsent und führt teils dazu, dass Sinhas Hauptfigur die Eingewanderten als Bedrohung wahrnimmt: »Les mots s’ajoutaient aux mots. Les dossiers s’entassaient. Les hommes défilaient sans fin. On ne distinguait plus leur visage ou leur corps. Ensemble comme un gigantesque amas obscur ils nous mettaient mal à l’aise.« (ebd.: 42f.) Darüber hinaus treten die Migrant*innen in der Wortwahl der Erzählerin häufig als Schatten oder Monster auf, oder werden mit Tieren verglichen, wie in Kapitel 5.2.2.2 vertieft wird. Die dehumanisierenden Verfahrensweisen des Systems, gepaart mit der schwierigen Natur ihrer Arbeit und den multiplen persönlichen und zwischenmenschlichen Konflikten der Protagonistin (vgl. 5.4.2.1, 5.4.4.1) führen so stellenweise zu einem erschreckenden Empathieverlust (vgl. Sinha 2012: 57-59). Sooft sie das Asylsystem und die Migrationspolitik Frankreichs auch kritisiert (vgl. ebd.: 11, 25f., 39f., 55f., 81f., 116), scheint die Hauptfigur nicht umhin zu können, die Migrant*innen aus eben diesem System heraus zu betrachten, innerhalb dessen sie, wie sie selbst sagt, auf der anderen Seite der Dinge steht (vgl. ebd.: 19). Es scheint ihr nicht zu gelingen, ihr Denken den desubjektivierenden Mechanismen des Asylsystems zu entziehen, das einmal mehr als eine alles vereinnahmende, »lebendige Institution« (Balke/Siegert/Vogl 2016: 007) in Erscheinung tritt. Die in Assommons les pauvres! beschriebene Desubjektivierung der Eingewanderten durch das Dispositiv Asylsystem und ihre rechtliche Schwellenposition, in
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der sie sich zugleich innerhalb und außerhalb der Strukturen des Staats bewegen, resultieren häufig in prekären Lebensbedingungen. Aufgrund des Verbots, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen (vgl. Légifrance 2022: Article L431-3), sind viele der Migrant*innen, denen Sinhas Protagonistin begegnet, gezwungen, behördlich nicht angemeldete Tätigkeiten aufzunehmen und dies mangels Rechtsschutzes unter oftmals katastrophalen Arbeitsbedingungen sowie zu Hungerlöhnen (vgl. Sinha 2012: 31f., 41f., 62). Ihre Armut führt zu gesellschaftlicher Exklusion, sodass die Eingewanderten sich stets an den verborgenen Rändern der Gesellschaft bewegen, jenseits der Peripherie (vgl. ebd.: 119), im »ghetto« (ebd.: 120) oder in den Hinterräumen von Boutiquen, Geschäften und Restaurants (vgl. ebd.: 28, Kapitel 5.3.2.1). Die Protagonistin macht sich selbst ein Bild vom Leid der Antragstellenden, indem sie in ihrer Freizeit außerhalb der Büros der Migrationsbehörde das Gespräch sucht (vgl. Sinha 2012: 55-57). Sie erzählt von desolaten und illegalen Wohnsituationen, von Gebäuden, in denen zu viele Menschen auf winzigem Raum leben, in denen Elektroleitungen von der Decke hängen und jegliche Sicherheitsvorkehrungen fehlen (vgl. ebd.: 55f.). Doch nicht allein die Wohnstätten der Eingewanderten sind problematisch, nicht einmal ihre Grundbedürfnisse scheinen abgedeckt: »Un jean Gap, une chemise Celio, une veste similicuir cachaient mal l’odeur de la faim. C’était juste le déguisement pour se dissimuler dans la foule de cette ville de riches. Rêves européens, rêves blancs que les mains sales, les mains noires attrapaient autant qu’elles le pouvaient.« (ebd.: 42) Der europäische Traum, in Analogie zum American Dream, entpuppt sich als Enttäuschung und statt des erhofften besseren Lebens finden die meisten Eingewanderten lediglich eine andere Armut vor,54 als jene, unter der sie in der Heimat gelitten hatten. Die schwierigen Einwanderungs- und Arbeitsbedingungen der Migrant*innen beschreibt die Hauptfigur mit einer problematischen, immunitären Semantik, die an das in den theoretischen Grundlagen skizzierte, organizistische Staatsverständnis erinnert (vgl. Esposito 2004: 6-10): »Et en échange ils travaillent pour leurs sauveteurs-employeurs. La micro-économie dans la grande ville d’Europe. Le parasite accroché au corps majeur.« (Sinha 2012: 74, eigene Herv.) Aufgrund des ständigen Schwankens der Erzählerin zwischen Ablehnung und Anteilnahme gegenüber den Antragstellenden ist die Einordnung solcher Äußerungen nicht einfach. Die drastische Wortwahl könnte zwar einerseits Kritik an einem System ausdrücken, das derartige Zustände zu generieren scheint. Andererseits ist die Protagonistin dermaßen von ihrer Arbeit eingenommen, dass sie immunitäre Semantiken tatsächlich verinnerlicht haben könnte. In beiden Fällen ist diskutabel, ob Literatur frag-
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Der von Hardt und Negri (vgl. 2001: 156-159) hergestellte Zusammenhang von Armut und Alterität, der im Falle von Sinhas Autofiktion über den intertextuellen Verweis auf Baudelaires gleichnamiges Prosagedicht bereits im Titel der Autofiktion angelegt ist, wird in Kapitel 5.4.3 tiefergehend ausgedeutet.
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würdige Diskurse, selbst zum Zweck der Kritik, aufgreifen sollte und ob nicht eine gewisse Gefahr der Perpetuierung besteht. Allgemein zeichnet sich Sinhas Text durch ein eigensinniges, gar irritierendes Nebeneinander von poetischer und gewaltvoller Sprache aus. Auf ihren oft schonungslosen, beinahe brutalen Stil angesprochen, sagt die Autorin in einem Interview: »Wenn man im Text ist, gibt es keine Kompromisse, nur die Wahrheit.« (Sinha zit.n. Schader 2016) Es scheint, als sei nach Ansicht Sinhas nur jene harsche Sprache, die bereits in dem von Baudelaire entlehnten Titel anschlägt, der Thematik ihres Romans angemessen (vgl. 5.4.3). Sinhas Autofiktion vermittelt somit den Eindruck, dass die biopolitische Verwaltung und Kategorisierung menschlichen Lebens und deren Begleiterscheinungen wie Prekarität und Exklusion die Subjektivierungsmöglichkeiten der betroffenen Personen derart einschränken, dass diese nicht mehr als Individuen und kaum noch als Menschen wahrgenommen werden. Ihr ununterscheidbarer (Subjekt-)Status auf der Grenze der staatlichen Strukturen scheint ihnen lediglich ein Dasein als nacktes, außerrechtliches Leben zu ermöglichen, da sie keinen Handlungsspielraum haben, um sich andere Subjektivierungsentwürfe zu erschließen: »[G]lobalized patterns of migration and migration policies, resulting in the erosion of a human rights framework in Europe, have made the political subjectivity of migrants more difficult to discern.« (Sellman 2013: 50) Mit Blick auf die zu Beginn dieses Kapitels dargelegten Ausführungen Foucaults und Agambens können die beschriebenen Dynamiken dahingehend ausgelegt werden, dass die limitierten Subjektivierungsmöglichkeiten der Asylbewerber*innen nicht unbedingt auf ein ›Zuviel‹ an kontrollierender und regulierender Macht zurückgehen. Vielmehr scheint hier das im System angelegte Paradoxon sichtbar zu werden, nach dem die biopolitischen Mechanismen der staatlichen Dispositive selbst nur bedingt Zugriff auf das zugleich ein- und ausgeschlossene, außer- bzw. vorrechtliche Leben (zoë) haben, da Macht nach Foucault nur über solche Subjekte ausgeübt werden kann, welche die Freiheit haben, aus einem Feld an Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen zu wählen. Das leben machen und sterben lassen der Biopolitik (vgl. Foucault 1976: 181) scheint sich in eben diesem Rückzug der souveränen Macht vom bloßen Leben auszudrücken: Die Asylsuchenden unterhalten lediglich durch ihren Ausschluss aus dem System eine Verbindung zu ihm, befinden sich gleichermaßen innerhalb und außerhalb der staatlichen Machtdynamiken, sodass letztere nur eingeschränkt auf sie einwirken und ihnen somit auch kaum Handlungsmöglichkeiten eröffnen können. Sie gelten als Rechtssubjekte, insofern sie nach ihrer Registrierung das Recht haben, ein Asylgesuch zu äußern (vgl. Sinha 2012: 95) und ggf. Einspruch gegen einen negativen Ausgang ihres Verfahrens einzulegen (vgl. ebd.: 57). Außerdem haben sie das Recht auf finanzielle Unterstützung (vgl. ebd.: 55) und medizinische Versorgung (vgl. ebd.: 81f.). Jedoch sind sie keine vollwertigen politischen Subjekte, da sie keinen Anspruch auf politische Partizipation haben und außerdem vom Arbeitsmarkt und anderen
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gesellschaftlichen Strukturen ausgeschlossen sind. Sie haben also keinen Zugang zu anderen Subjektivierungsmöglichkeiten als jenen des Asylbewerbers bzw. der Asylbewerberin. Die in Sinhas Assommons les pauvres! dargestellten Beziehungen zwischen der biopolitischen, staatlichen Macht und dem nackten Leben bestätigen insofern jene in Giorgio Agambens methodischen Ausführungen konstatierte Ambivalenz. Im Umgang mit dem bloßen Leben ereignet sich offenbar eine Verlagerung in der eingangs beschriebenen Gewichtung der wesentlich zweidimensionalen Machtausübung, im Zuge derer der exkludierende und hemmende Anteil der biopolitischen Macht deren ermöglichende und herbeiführende Wirkweisen übersteigt.55 Neben dem Prozess der Subjektivierung behandelt Agamben in seiner Untersuchung des Dispositivbegriffs auch dessen notwendigen Gegenpol, die Desubjektivierung, welche die neue Subjektbildung erst ermöglicht, indem vorherige Subjektentwürfe abgelegt werden (vgl. Agamben 2018: 29f.). Wie unter 2.2.4 dargelegt, vertritt der Philosoph aber die Ansicht, dass die modernen, vervielfältigten und unter den Auswirkungen des Kapitalismus agierenden Dispositive nur noch einen Teil dieses Dualismus erfüllen, nämlich den der Desubjektivierung: Quel che definisce i dispositivi con cui abbiamo a che fare nella fase attuale del capitalismo è che essi non agiscono piú tanto attraverso la produzione di un soggetto, quanto attraverso dei processi che possiamo chiamare di desoggettivazione. Un momento desoggettivante era certo implicito in ogni processo di soggettivazione […] ma quel che avviene ora è che processi di soggettivazione e processi di desoggettivazione sembrano diventare reciprocamente indifferenti e non danno luogo alla ricomposizione di un nuovo soggetto, se non in forma larvata e, per cosí dire, spettrale. (ebd.: 30f.) Als Beispiele nennt Agamben vor allem moderne technologische Dispositive, welche die subjektive Identität des Nutzers auf eine Telefonnummer oder die statistische Erhebung von Einschaltquoten reduzieren und insofern eher desubjektivieren, als ein neues Subjekt zu schaffen. Seine Ausführungen scheinen allerdings auch auf das in Assommons les pauvres! beschriebene Asylsystem anwendbar u.a. da auch dieses eine nicht von der Hand zu weisende ökonomische Dimension aufweist. Die Asylsuchenden sind bei ihrer Aufnahme in das Dispositiv Asylsystem gezwungen, ihr altes Ich und ihre Geschichte zu negieren und eine neue zu erfinden, »Il leur fallait donc cacher, oublier, désapprendre la vérité et en inventer une
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Diese Deutung lässt sich insofern an Eva Geulens Lektüre von Agambens Figur des zoë anschließen, als in nachfolgend zitierter Formulierung die ursprüngliche Ausübung souveräner Macht in Form von Abschöpfung (vgl. Foucault 1976: 179) implizit zu sein scheint: »Das nackte oder bloße (und entblößte) Leben ist nicht eine vorgängige Substanz, sondern ein nach Abzug aller Formen verbleibender Rest.« (Geulen 2016: 93)
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nouvelle« (Sinha 2012: 11), um eine Chance auf politisches Asyl zu haben. Die Desubjektivierung in Form einer Reduktion auf ein lebloses Aktenzeichen (vgl. ebd.: 28) findet somit statt, doch im Gegenzug erhalten die Eingewanderten kaum oder keine neuen Subjektivierungsmöglichkeiten, sodass die von Agamben beschriebene »ricomposizione di un nuovo soggetto« (Agamben 2018: 31), entweder ausbleibt oder lediglich in Form eines phantomartigen Restes erfolgt (vgl. 5.2.2.2).
5.2.1.2
An den Rändern der Gesellschaft: Das nackte Leben der clandestins und die Marginalisierung von non-persone
Die zuvor anhand von Shumona Sinhas Autofiktion beschriebene Desubjektivierung von Eingewanderten durch die biopolitische Verwaltung von Migrationsphänomenen lässt sich in allen fünf im Rahmen dieser Studie untersuchten Werken beobachten. So sehen sich die meisten der migrierenden Figuren vor, während und/oder nach ihrer Migration desubjektivierenden und enthumanisierenden Dynamiken ausgesetzt, die von verschiedenen Akteuren und Elementen des Migrationsdispositivs ausgehen. Sind die Asylsuchenden in Assommons les pauvres! allerdings durch ihre laufenden Verfahren zumindest teilweise in die staatlichen Strukturen Frankreichs eingebunden, so stellen Delphine Coulins Samba pour la France und Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad eindrücklich dar, wie Eingewanderte leben, deren Antrag auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt wurde oder die einen solchen erst gar nicht gestellt haben und sich illegal in Europa bewegen. Nachdem sein Vater verstorben war, hat Delphine Coulins Protagonist Samba Cissé Mali verlassen, um in Frankreich Geld zu verdienen und für seine Mutter und seine Schwester zu sorgen (vgl. Coulin 2014: 78-86). Zu Beginn des Romans lebt und arbeitet Samba bereits seit zehn Jahren in Paris, weshalb er fest davon ausgeht, dass seinem Antrag auf einen dauerhaften Aufenthaltstitel stattgegeben wird. Umso überraschter ist Samba, als er erfährt, dass sein Antrag auf eine carte de séjour abgelehnt wurde und seine temporäre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist (vgl. ebd.: 12f.). Samba ist nunmehr aufgefordert, Frankreich zu verlassen und bewegt sich illegal im Land (vgl. ebd.: 94f.). Obwohl er sich zwischenzeitlich die carte de séjour seines Onkels ausleiht und später die eines entfernten Bekannten stiehlt, um arbeiten zu können, ist der Protagonist nach der Entlassung aus der Abschiebehaft offiziell ein sans-papiers und lebt fortan in der ständigen Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Dieses Gefühl hatte er zuletzt vor zehn Jahren, als er illegal nach Frankreich eingereist war. Wurde er während seiner Migration in Marokko und Spanien behandelt, als würde er nicht existieren, hat Samba bei seiner Ankunft in Paris hingegen das unangenehme Gefühl, von allen Seiten angestarrt zu werden. Aus Angst, als illegaler Migrant entlarvt zu werden, versucht er, sich möglichst unauffällig zu verhalten, quasi unsichtbar zu sein:
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[Q]uand il était arrivé sur le quai il avait eu l’impression que tout le monde le regardait […]. Il avait courbé son dos et rentré la tête dans ses épaules […]. Au Maroc, puis en Espagne, il avait eu l’impression d’être invisible, car bien que son allure le désigne inévitablement comme un étranger, et bien qu’on ne puisse éviter de remarquer sa présence, personne ne montrait, par un signe quelconque, avoir conscience de son existence, et puis tout à coup, ce soir-là, à Paris, c’était l’inverse, dans le métro il avait eu l’impression qu’on ne regardait plus que lui. […] On lui avait dit qu’il fallait faire attention aux contrôles, surtout dans les transports en commun, surtout quand on venait d’arriver. (ebd.: 21f.) Auch sein Onkel Lamouna, bei dem Samba wohnt, rät ihm von Beginn an, möglichst nicht aufzufallen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Gang durch die Stadt kauft Lamouna Samba »une tenue de camouflage« (ebd.: 68) und mahnt ihn, sich angesichts des Luxus der Pariser Hauptstadt nicht allzu beeindruckt zu zeigen, damit sein Neffe nicht den Eindruck erweckt, neu im Land zu sein (vgl. ebd.: 70). Coulins Protagonist ist somit seit seiner Ankunft in Frankreich in Sorge, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und versucht unbemerkt zu bleiben, selbst als er sich während seines Verfahrens legal im Land aufhält. Diese Semantik der (Un)Sichtbarkeit und des Blicks tritt nach seiner Entlassung aus der Abschiebehaftanstalt erneut verstärkt auf, denn nach einer anfänglichen Euphorie wird Samba bewusst, dass er nun ein clandestin ist. Obgleich er seit Langem in Paris lebt und arbeitet, befindet er sich an demselben Punkt, an dem er bei seiner Ankunft war. Gemeinsam mit seiner abgelaufenen temporären Aufenthaltserlaubnis hat Samba seine ohnehin mageren Rechte und Freiheiten verloren: Il n’a pas réussi à dormir. Il était nerveux. Tout ce qu’il avait construit depuis dix ans venait de s’écrouler. Il n’avait plus de titre de séjour, plus de travail. Il n’avait pas le droit d’être ici. Il était clandestin. […] Il n’avait plus le droit de sortir. Il n’avait plus le droit de travailler. À presque trente ans, il devait tout recommencer à zéro. (ebd.: 99). Für Coulins Hauptfigur beginnt eine prekäre Zeit als illegal Eingewanderter. Dieses Mal hat Samba noch größere Angst, entdeckt zu werden, als bei seiner Ankunft, da nun ein Abschiebebeschluss gegen ihn vorliegt und er kaum Chancen hat, dagegen Einspruch einzulegen (vgl. ebd.: 100f.). Er fühlt sich gejagt, »il se cachait dans les trous, comme un rat« (ebd.: 100), und findet keine Arbeit mehr, denn selbst die Firmen, bei denen er zuvor Schwarzarbeitet leistete, wollen ihn nun, da er in Abschiebehaft war, nicht mehr einstellen (vgl. ebd.: 100f.). Samba leidet darunter, dass jenes Land, das er inzwischen liebevoll das seine nennt (vgl. ebd.: 25f., 29, 96), ihn nicht aufnehmen will. Sein Leben als sans-papiers erscheint ihm zunehmend sinnlos, er fühlt sich ängstlich, leer und die folgende Formulierung erinnert stark an Agambens Konzept des bloßen Lebens: »Il n’était plus qu’un corps.« (ebd.:
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104). Als sein Onkel eine Aufenthaltserlaubnis erhält, die zehn Jahre lang gültig ist und sie Samba ausleiht, damit er nach Arbeit suchen kann, schöpft der Protagonist zunächst neue Hoffnung. Da sein Identitätsschwindel aber jederzeit aufgedeckt werden könnte, muss er weiterhin unter schlechten Bedingungen arbeiten und Tätigkeiten ausführen, die Menschen mit einem regulären Aufenthaltsstatus vermutlich nicht annehmen würden. Seine Wehrlosigkeit wird ausgenutzt, denn aus Angst, die Anstellung zu verlieren, beschweren Samba und die anderen illegal Eingewanderten sich nie (vgl. ebd.: 118). Samba muss sich als jemand anderes ausgeben, lebt noch immer in der Illegalität, ist gezwungen, Diskriminierungen zu erdulden und zeigt sich dennoch optimistisch: Le soir, il rentrait, crevé mais content de lui: Il reprenait espoir. Peu à peu, il s’est échappé de la peur, de la tension, de la vigilance constante, de la crainte des contrôles de Police et de celle de ne pas trouver de travail. Grâce à son oncle, à sa carte, à son nom, il vivait à nouveau. Il n’avait plus de nom, il était traité comme un chien à qui on apprend des tours, mais il vivait. (ebd.: 122) Die rechtliche und soziale Situation von Coulins Hauptfigur im Migrationsdispositiv bleibt allerdings instabil. Zunächst wird Sambas Einspruch gegen seinen Abschiebebescheid endgültig abgelehnt (vgl. ebd.: 163f.) und als die Polizei zwecks Bekämpfung von Schwarzarbeit seine Arbeitsstelle kontrolliert, entkommt er nur knapp (vgl. ebd.: 196-200). Als daraufhin sein Onkel von der Polizei befragt wird, gibt dieser an, seine carte de séjour verloren zu haben, sodass nicht aufgedeckt wird, dass er sie seinem Neffen geliehen hat (vgl. ebd.: 203f.). Nun ist es für Samba und seinen Onkel allerdings zu riskant, den Identitätsschwindel fortzuführen und überdies verliert Lamouna seine Anstellung, da die Polizei ihn an seinem Arbeitsplatz aufgesucht hatte und seine Chefin nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten möchte. Onkel und Neffe stellen einmal mehr fest, dass ihr Leben von einer ständigen Prekarität bedroht ist. Der sonst sanftmütige, stets korrekte Lamouna wendet sich verbittert an Samba: On nous refuse tellement le droit de vivre qu’on est obligés de se partager un nom pour pouvoir exister! Tu as dû renier le prénom que t’on père t’a choisi. Ce pays se moque de nous. Il ricane en nous voyant passer. […] C’est une guerre. Tu dois te cacher, tu dois résister. Il y a deux camps, avec des idées opposées: la France pays des droits de l’homme, et la France rassise, moisie. C’est une guerre et nous faisons partie du mauvais camp. (ebd.: 204f.) Was Lamouna in diesem Auszug feststellt, exemplifiziert sich an Samba: Illegal Eingewanderten wie ihm wird es auf legalem Wege kaum ermöglicht, sich eine menschenwürdige Existenz aufzubauen, selbst wenn sie hart arbeiten (vgl. ebd.: 104). Nachdem Samba auf seiner langen und beschwerlichen Reise von Afrika nach Europa diverse Staatsgrenzen überwunden hat, wird sein Leben in Frankreich
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durch staatliche Verwaltungsmechanismen eingegrenzt: »Le pouvoir biopolitique des États dits démocratiques ordonne la disposition des corps de part et d’autre de la frontière« (Mazauric 2013: 84). Obgleich er formal alle Kriterien erfüllt, um eine carte de séjour zu erhalten (vgl. Coulin 2014: 11), verwehren die europäischen Immunisierungsmechanismen ihm ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, schlimmer noch – er wird von den biopolitischen Strukturen der communitas endgültig ausgeschlossen. Gegen diese Entscheidung kann Samba nichts tun, er hat keinerlei Handlungsspielraum, sodass ihm kein anderer Subjektentwurf übrigbleibt, als der des clandestin, sprich des bloßen, außerrechtlichen Lebens. Es scheint sich erneut zu bestätigen, dass die Dispositive der biopolitischen Verwaltung von Migration an jenen, die eine Eingliederung in die europäische communitas anstreben, während der Bearbeitungszeit ihres Antrags sowie im Falle eines negativen Bescheids zwar eine Desubjektivierung vornehmen, ihnen jedoch keine neue Subjektivierung anbieten. Sie stellen im juristischen und politischen System kein qualifiziertes Subjekt dar und haben daher kaum Möglichkeiten, sich neue, erstrebenswerte Subjektentwürfe in der Aufnahmegesellschaft zu erschließen. Im Falle Sambas führen diese Umstände dazu, dass er immer tiefer in prekäre, illegale Tätigkeiten abrutscht und sich an den Rändern der Gesellschaft bewegt, bis er sogar in Mülltonnen nach Lebensmitteln suchen muss (vgl. ebd.: 206, 210f., 216220). Als er schließlich mit seinem betrunkenen Bekannten Jonas aneinandergerät, dieser in die Seine fällt und Samba befürchtet, dass er ertrunken sein könnte, sieht er in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg, als ein Feuer in Lamounas Wohnung zu legen, das er und sein Onkel wie durch ein Wunder überleben (vgl. ebd.: 253-273). Sein Suizidversuch bildet den traurigen Höhepunkt eines jahrelangen Lebens in Angst, Unsicherheit und Machtlosigkeit. Ebenso wie die Eingewanderten in Sinhas Autofiktion wird auch Coulins Protagonist in seinem ständigen Kampf um ein menschenwürdiges Dasein zum anprangernden Gegenbild einer Gesellschaft und Wertegemeinschaft, die ihn von vorneherein ausschloss. Auch Éric-Emmanuel Schmitts irakischer Protagonist Saad schildert rückblickend, wie er während seiner Migration zwischen Identitäten und Subjektivierungen wechselt, um am Ende zu einem clandestin zu werden, was für ihn einem Ausschluss aus der Menschheit gleichkommt: Né quelque part où il ne fallait pas, j’ai voulu en partir; réclamant le statut de réfugié, j’ai dégringolé d’identité en identité, migrant, mendiant, illégal, sans-papiers, sans-droits, sans-travail; le seul vocable qui me définit désormais est clandestin. Parasite m’épargnerait. Profiteur aussi. Escroc encore plus. Non, clandestin. Je n’appartiens à aucune nation, ni au pays que j’ai fui ni au pays que je désire rejoindre, encore moins aux pays que je traverse. Clandestin. Juste clandestin.
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Bienvenu nulle part. Etranger partout. Certains jours, j’ai l’impression de devenir étranger à l’espèce humaine. (Schmitt 2016: 11)56 In Kairo, der ersten Station seiner Reise, erlebt Schmitts Protagonist, was es bedeutet, illegal in einem Land zu leben. Saad hatte vor, beim UNHCR den Status eines politischen Geflüchteten zu beantragen, doch er wird Monate auf einen Termin warten müssen, um sein Anliegen persönlich vorzutragen und darf in dieser Zeit weder arbeiten noch eine Unterkunft mieten. Sein neu gewonnener Freund Boub bietet Saad an, bei ihm zu wohnen und erklärt dem Protagonisten, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen kann: »Il m’initia à la vie d’un étranger en attente de papiers.« (ebd.: 115) Obgleich die Freunde gemeinsam immer wieder schöne Momente erleben, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, wie hart ihr Leben jenseits gesetzlicher und politischer Strukturen ist. So wohnen sie in Kairo in einem abrissreifen, leerstehenden Gebäude in der Nähe einer Mülldeponie (vgl. ebd.: 115) und können Ägypten nur verlassen, indem sie eine Arbeit annehmen, die ihrer Gesundheit schadet. Als Crew-Mitglieder einer Rockband verlieren die jungen Männer beinahe ihr Gehör und Saad ahnt, wieso sie diese Anstellung problemlos erhalten haben: Voilà pourquoi le producteur des Sirènes en était réduit à engager des illégaux chaque soir: la fonction détruisait l’employé. Plus personne ne voulant perdre un sens pour quelques dollars, il savait que seul un travailleur sans papiers en règle, payé au noir, accepterait le poste et ne l’attaquerait pas ensuite en justice. (ebd.: 144) Wie schon in Samba pour la France wird auch in Ulysse from Bagdad die Wehrlosigkeit der illegal Eingewanderten ausgenutzt, indem sie unter skandalösen Bedingungen Tätigkeiten ausführen, die kaum ein Mensch, der sich nicht in einer Notlage befindet, annehmen würde. Allerdings empfindet Saad die Behandlung, die er durch eine Gruppe italienischer Polizisten erfährt, als weitaus demütigender. Nachdem die Beamten Saad gemeinsam mit weiteren Migrant*innen in einem Transporter entdecken, hat der junge Iraker den Eindruck, dass die Polizisten ihn nicht als gleichwertigen Menschen betrachten, wie er im Gespräch mit dem Geist seines verstorbenen Vaters ausführt: – As-tu vu leur comportement Papa? Parce qu’ils s’attendaient à trouver des rats dans le camion, ils voyaient vraiment des rats. Ils n’ont pas l’air certain que nous soyons vraiment des hommes. – Ils ont peur. 56
Eine positive Auslegung dieses Zitats wird in Kapitel 5.3.3.1. in Zusammenhang mit Rosi Braidottis Ausführungen zur produktiven nomadischen Subjektivität (vgl. Braidotti 2007: 59-66) vorgenommen.
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– Ça effraie, un homme qui ne possède plus rien? Non, Père, ils ne s’apitoient pas, ils ne s’imaginent pas à ma place, ils me dévisagent comme un être inférieur. Dans leurs yeux, j’appartiens à une autre race. Je suis un clandestin, celui qui ne devrait pas être là, celui qui n’a pas la permission d’être. Au fond, ils ont raison: je suis bien devenu un sous-homme puisque je détiens moins de droits que les autres, non? (ebd.: 219) Tatsächlich werden Saad und seine Mitreisenden während des Transports in dem LKW jeglicher Menschenwürde beraubt, da sie nicht einmal aussteigen dürfen, um ihre Notdurft zu verrichten (vgl. ebd.: 214-218), was die schockierte Reaktion der Polizisten in Teilen erklärt. Saads Äußerungen beschreiben besonders eindringlich, was das nackte Leben als clandestin bedeutet. Er unterliegt der biopolitischen Verwaltung des Lebens lediglich durch seinen Ausschluss aus den rechtlichen und juristischen Strukturen Europas. Er befindet sich jenseits des Systems und die europäischen Immunisierungsdynamiken stellen sicher, dass er in diesem Außen bleibt. Da Menschen- und Bürgerrechte, wie Agamben in Anschluss an Hannah Arendt feststellt (vgl. Agamben 2005: 142-145), seit den großen Fluchtbewegungen des Ersten Weltkriegs fortschreitend zusammenfallen, hat der Protagonist ohne einen gesetzlichen Status in der Logik der staatlichen Strukturen keinerlei Rechte, weder als Bürger noch als Mensch. Saad selbst fasst seinen paradoxalen Status im Gespräch mit einem Polizisten prägnant zusammen: »Je suis un cas non prévu par la loi, mais pas contre la loi.« (Schmitt 2016: 223) Wie zuvor im Falle der Asylsuchenden in Sinhas Assommons les pauvres! scheint sich die Biopolitik auch in Schmitts Roman im Kontakt mit dem nackten Leben eher in ihren hemmenden Wirkungen oder durch einen Rückzug vom Leben, denn in einer übermäßigen Machtausübung zu manifestieren. Im Umgang mit dem, was Agamben als bloßes Leben bezeichnet, scheint insofern das foucaultsche »rejeter dans la mort« (Foucault 1976: 181), sprich der (symbolische) Tod durch Marginalisierung und Vernachlässigung, besonders zuzutreffen. Die im Gespräch mit seinem Vater formulierte Frage, wie ein Mensch, der nichts mehr hat, angsteinflößend sein kann (vgl. Schmitt 2016: 219), beantwortet Saad an späterer Stelle selbst: [L]es choses me sont apparues avec netteté tandis que je fixais le ciel. L’homme lutte contre la peur mais, contrairement à ce qu’on répète toujours, cette peur n’est pas celle de la mort […]; seule peur universelle, la peur unique, celle qui conduit toutes nos pensées, c’est la peur de n’être rien. Parce que chaque individu a éprouvé ceci, ne fût-ce qu’une seconde au cours d’une journée: se rendre compte que, par nature, ne lui appartient aucune des identités qui le définissent, qu’il aurait pu ne pas être doté de ce qui le caractérise, qu’il s’en est fallu d’un cheveu qu’il naisse ailleurs […]. Car les hommes tentent, pour oublier le vide, de se donner une consistance, de croire qu’ils appartiennent pour des raisons profondes, immuables, à une langue, une nation, une région, une race, une morale, une histoire, une idéologie,
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une religion. Or, malgré ces maquillages, chaque fois que l’homme s’analyse, ou chaque fois qu’un clandestin s’approche de lui, les illusions s’effacent, il aperçoit le vide […]; de lui-même, il n’est rien. (ebd.: 227f.) Saad stellt fest, dass allein die Einbindung in bestimmte Strukturen politischer, kultureller und gesellschaftlicher Art, die zunächst durch die Geburt determiniert werden, den Menschen vor der ursprünglichen Leere seiner Existenz, vor einem Dasein als bloßes Leben bewahren. Als illegaler Einwanderer ist er für Menschen mit einem geregelten Aufenthaltsstatus eine ständige Erinnerung daran, dass sie ihre Privilegien zu einem Großteil dem Zufall verdanken und ihr Leben ohne Einbindung in politisch-gesellschaftliche Strukturen ein ebenso nacktes ist, wie das seine: Die umfassende biopolitische Strukturierung des Lebens führt dazu, dass alle Individuen »virtualmente homines sacri« (Agamben 2005: 127) sind. Das Fremde stellt also nicht bloß eine Konfrontation mit der eigenen Alterität dar (vgl. Hahn 1992: 59f.), sondern kann mitunter vor Augen führen, dass jedes menschliche Leben in seiner Abhängigkeit von Konstrukten wie jenem der Nationalität politisiert ist. In einigen der untersuchten Texte lässt sich allerdings beobachten, dass auch ein geregelter Aufenthaltsstatus oder gar die Erlangung einer europäischen Staatsbürgerschaft weder ein Gefühl von echter Zugehörigkeit oder Teilhabe stiften noch vor sozialer Marginalisierung schützen. So ergibt sich in Tahar Ben Jellouns Partir für den Protagonisten Azel und seine Schwester Kenza eine markante Diskrepanz zwischen ihrem rechtlichen Status und der gesellschaftlichen Realität, die Nicoletta Pireddu (vgl. 2009: 28) in einem Aufsatz mit Alessandro Dal Lagos Begriff der non-persona beschreibt. Dal Lagos Kategorie ermöglicht, wie unter 2.3.5 dargelegt, eine Ergänzung von Giorgio Agambens juristisch-politischem Begriffspaar bíos und zoë um eine sozialgesellschaftliche Ebene. In Agambens Modell gelten die Inhaber*innen eines europäischen Passes, ungeachtet ihres Migrationshintergrunds, als politisch qualifiziertes Leben und sind Europäer*innen ohne Migrationshintergrund gleichgestellt. Wie Pireddu anhand ihrer Analyse von Partir aber herausstellt, bedeutet juristische Gleichstellung keine gesellschaftliche Gleichbehandlung. Obwohl nämlich Azel über eine gültige Aufenthaltsgenehmigung verfügt und Kenza sogar eingebürgert wird, unterliegen beide gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen: In Partir the destabilizing problem of this eternally ›pending‹ […] identitarian status erasing even the symbolic and cultural value of the legal document that should certify legal European status is the main source of anguish for all the migrant characters, confined to that marginal, liminal condition that Azel calls ›l’arrière-pays de ce pays‹ […] and which, in Alessandro Dal Lago’s terms, is the double alienation of ›non persons‹ […]. Partir demonstrates that, regardless of circumstances and of the outcome of their Mediterranean crossing, migrants turn into paradoxical nonexisting human beings, because, although their lives look socially and mate-
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rially analogous to those of the Spanish and European citizens with whom they share the territory, they do not exist either for those very societies or for themselves […]. More radically than in Dal Lago’s argument, they are condemned to invisibility by their foreignness even when they are socially and juridically legitimized. (ebd.: 28) Azel und seine Schwester befinden sich in einem Schwellenzustand, in dem sie aufgrund ihres rechtlichen Status zwar politisch qualifiziertes Leben (bíos) darstellen, aber dennoch als non-persone für die europäische Gesellschaft quasi nicht existieren. Die psychischen Auswirkungen einer solchen sozialen Marginalisierung zeigen sich besonders deutlich an der Hauptfigur Azel. Dieser fühlt sich in den Monaten nach seiner Ankunft in Spanien zunehmend einsam und orientierungslos (vgl. Ben Jelloun 2007: 93f., 106, 108f., 128, 165) und verliert jegliche Lust, Zeit mit Miguel zu verbringen oder in dessen Galerie zu arbeiten (vgl. ebd.: 104, 131, 134). Stattdessen knüpft er Freundschaften zu Kleinkriminellen (vgl. ebd.: 187, 193) und bewegt sich in sozial benachteiligten Vierteln Barcelonas (vgl. ebd.: 126-129, 198). Dass der Protagonist sich augenscheinlich aufgegeben hat, zeigt sich auch in seiner äußeren Erscheinung: Als Azel in Spanien ankam, genoss er es, sich mit den finanziellen Mitteln Miguels neu einzukleiden und sich seinem körperlichen Wohl zu widmen (vgl. ebd.: 103). Gegen Ende der Erzählung legt er hingegen eine »allure très negligée« (ebd.: 256) an den Tag und wäscht sich sogar kaum noch. Sein paradoxaler Status als Nicht-Person, sprich als legaler, aber sozial marginalisierter Eingewanderter scheint sein Selbstwertgefühl zu erschüttern: »[N]on esisteranno più, non solo per la società in cui vivevano come ›irregolari‹ o ›clandestini‹, ma anche per loro stessi, poiché la loro esistenza di fatto finirà e ne inizierà un’altra che comunque non dipenderà dalla loro scelta.« (Dal Lago 2012: 207) Für seine Schwester stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Integration anfangs besser. Sie spricht bei ihrer Ankunft bereits Spanisch, ist hochmotiviert, sich eine eigene Existenz aufzubauen und findet nach nur einem Monat eine Anstellung beim Roten Kreuz, die mit einer Unterkunft verbunden ist (vgl. Ben Jelloun 2007: 173, 183). Dennoch scheint Miguel der einzige Spanier zu sein, zu dem sie regelmäßig freundschaftlichen Kontakt hat (vgl. ebd.: 245). Zwar hat sie offenbar Freundinnen beim Roten Kreuz gefunden, doch diese bleiben namenlos und finden lediglich zweimal am Rande Erwähnung, was nicht für eine enge Bindung spricht (vgl. ebd.: 199, 205). Nach der Arbeit bewegt sie sich zwischen Miguels Haus, dem Kebab-Imbiss, in dem ihr Freund Nâzim arbeitet (vgl. ebd.: 199, 205), und dem Restaurant ihres Bekannten Carlos, in dem sie sich als »danseuse de l’Orient« (ebd.: 200) etwas dazuverdient. Kenza scheint in Spanien zunächst glücklich zu sein und sich durch die gewonnene Freiheit, die sie als unverheiratete Frau im Vergleich zu ihrem vormaligen Leben in Marokko genießt, beinahe beflügelt zu fühlen (vgl. ebd.: 204f.). Als sie aber gegen Ende des Romans aufgrund ihrer gescheiterten Be-
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ziehung zu Nâzim einen Suizidversuch begeht (vgl. ebd.: 277f., 295-299), offenbart sich die Fragilität ihres Zustands. Die herbe Enttäuschung über die Unehrlichkeit Nâzims, welcher in der Türkei eine Frau und zwei Kinder hat (vgl. ebd.: 277), stürzt Kenza in eine emotionale Krise, die, wie Miguel vermutet, ihren Ursprung in der Einsamkeit des Exils hat: Miguel découvrit soudain qu’il y avait quelque chose de terrifiant dans la solitude de l’immigration, une sorte de descente dans un gouffre, un tunnel de ténèbres qui déformait le réel. Kenza s’était laissé prendre dans un engrenage. Azel, lui, avait carrément dérapé. L’exil était le révélateur de la complexité du malheur. […] Miguel prit brusquement conscience de l’urgence qu’il y avait à renvoyer Azel et Kenza au Maroc. (ebd.: 298f.) In einem Interview für den Verlag Gallimard konstatiert auch Tahar Ben Jelloun dieses Ungleichgewicht zwischen dem legalen und dem sozialen Status seiner beiden Figuren: »Je me suis attaché à montrer des personnages qui vivent en Espagne dans une sorte de clandestinité, d’illégalité. Sauf mes deux personnages principaux, Azel et sa sœur, qui ont immigré légalement, mais qui au fond restent des clandestins« (Ben Jelloun zit.n. Gallimard 2006).
5.2.2
5.2.2.1
Ästhetik der Existenz, fragmentierte Körper und spektrale Subjektivitäten Körperpoetiken und der Rückzug ins Selbst
Unter dem Begriff ›Körperpoetik‹ soll in den folgenden Kapiteln die auf mehreren Ebenen artikulierte Körperlichkeit der im Rahmen dieser Untersuchung analysierten Texte bezeichnet werden. Diese drückt sich in verschiedenen inhaltlichen Motiven und stilistischen Besonderheiten aus und kann mit Blick auf die Forschungsfrage nach der literarischen Reflexion der biopolitischen Beeinflussung und Regulierung von Migrationsbewegungen unterschiedlich ausgelegt werden. So kann die inhaltliche und textuelle Reduktion von Figuren auf ihren bloßen, biologischen Körper als eine weitere Form der Dehumanisierung oder Entindividualisierung gedeutet werden: [N]ovels and short stories of migration often represent the threshold between belonging and exclusion as a reduction to the body […].« (Sellman 2013: 6) Die umfangreiche Beschreibung körperlicher Empfindungen und sinnlicher Eindrücke kann überdies zum einen die Strapazen der Migration verdeutlichen, zum anderen aber als eine Form der Affirmation der Existenz und Identität migrierender Figuren gelesen werden.57 Der Rückzug in den eigenen Körper durch Tagträume, Meditationen oder Gedankenspiele kann außerdem unter 57
Vilém Flusser (vgl. 2013 [1994]: 103-109) betrachtet eine solche Verarbeitung sinnlicher Eindrücke, die im Exil auf Migrant*innen einwirken, als eine Form der Kreativität.
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Rückgriff auf Michel Foucaults Begriff der ästhetischen Existenz (vgl. 2.6.1) sowie Michael Hardts und Antonio Negris Ausführungen zur Wiederaneignung unökonomischer Tätigkeiten (vgl. Hardt/Negri 2001: 236-407, Negri 2007: 22) als eine Art Besinnung auf das Selbst verstanden werden, mittels derer Subjekte sich ihrer biopolitischen Verwaltung teilweise entziehen können. Der Körper signalisiert hier ein Moment der Darstellung, bei dem die Steuerungs- und Regulierungsmechanismen der Biopolitik sinnfällig werden. Das Ineinander von Fiktionalität, Textualität und thematischer Auslotung dieser Frage wird als eine Körperpoetik aufgefasst, deren Versinnlichungsmechanismen die ambivalente und daher dynamische Natur der Biopolitik paradigmatisch exemplifizieren. Hinsichtlich der entindividualisierenden Wirkung dieser Körpersemantik ist in Laurent Gaudés Eldorado das vermehrte Auftreten des Worts corps frappierend, das insgesamt über dreißig Mal in der Beschreibung Migrierender Verwendung findet.58 Es können drei Bedeutungen bzw. Modalitäten unterschieden werden, in denen corps in Gaudés Roman vorkommt, von denen jede auf eine andere Dimension von Migrationsprozessen zu verweisen scheint. Mittels seiner Polysemie – corps bedeutet primär ›Körper‹ bzw. ›Leib‹ (vgl. Pons, s.v. corps) ist aber auch ein Synonym von cadavre (vgl. Petit Robert 2008-, s.v. corps) – deutet das Wort zum einen auf die lebensbedrohlichen Gefahren der geschilderten Migrationen hin, während derer Leben und Tod sich ständig begegnen. So kommt es vor, dass corps zunächst in seiner Bedeutung als lebendiger Körper erscheint, um dann, im Verlauf eines Satzes, in seinen leblosen Wortsinn überzugehen: »Il [Piracci] pensa aux corps plongés dans l’eau, gesticulant un temps jusqu’à être gagnés par le froid et s’abandonner à l’immensité.« (Gaudé 2009: 78) An anderen Textstellen ist unklar, ob es sich bei den erwähnten corps um lebendige Körper oder um Leichen handelt, so etwa in der Passage, in der Soleiman und Boubakar gemeinsam mit weiteren Migrant*innen versuchen, den Grenzzaun zwischen Marokko und Ceuta zu überwinden: »J’entends des coups de feu. Des corps tombent.« (ebd.: 184) Erst entsteht der Eindruck, die Grenzposten hätten mit scharfer Munition auf die Flüchtenden geschossen, doch später stellt sich heraus, dass es sich um Gummigeschosse handelte (vgl. ebd.: 202), die in den meisten Fällen schmerzhaft und gefährlich, jedoch nicht tödlich sind. Jene semantische Ununterscheidbarkeit von Leben und Tod kann im Anschluss an Ruggiero Gorgogliones (vgl. 2016: 18) Reflexionen als literarische Manifestation der konstitutiven Ambivalenz der Biopolitik gedeutet werden, die gegenläufige, das Leben fördernde und hemmende Kräfte bündelt. Des Weiteren wird das Wort corps in Gaudés Roman als Pars-pro-toto für migrierende Figuren verwendet, »Le petit groupe d’émigrants se tenait serré les uns contre les autres, sur le pont, ne sachant plus que faire de leurs corps« (Gaudé 2009: 73), oder ersetzt im Satzgefüge gar das 58
Vgl. Gaudé 2009: 26, 27, 73, 78, 111, 115 (2x), 116, 118, 133, 143, 153, 158, 174, 182, 184, 188, 195 (4x), 201 (3x), 204, 206, 211, 217 (2x), 218 (2x), 219 (2x).
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handelnde Subjekt: »Elle tenta de garder un peu de place pour son bébé mais les corps, autour d’elle, la pressaient sans cesse davantage.« (ebd.: 26) In beiden Zitaten scheint das Wort darauf hinzudeuten, dass ihr Körper und im besten Falle dessen Integrität oftmals das Einzige sind, was den Migrant*innen auf ihrer Reise bleibt, wodurch ihre entpersonalisierte Existenz als nacktes Leben unterstrichen wird. Die häufige und nicht selten ambivalente Verwendung des Worts corps ist allerdings nicht das einzige Phänomen, das zu der markanten Körperlichkeit in der Textästhetik Eldorados im Hinblick auf die Darstellung von Migrationsphänomenen beiträgt. Insbesondere in der Erzählung Soleimans machen Beschreibungen seiner leiblichen und sinnlichen Wahrnehmungen die Strapazen seiner Reise textuell erfahrbar. So beschreibt der folgende Auszug, wie Soleiman zu Bewusstsein kommt, nachdem er von Schleppern ausgeraubt und in der Wüste zurückgelassen worden war: J’ai senti d’abord le contact du sable sur ma joue. Une caresse rugueuse qui m’égratignait à chaque mouvement. J’ai essayé d’ouvrir les yeux mais je n’y suis pas parvenu. La tête est lourde. Le sang me bat dans les tempes. Je n’ai plus de force. Je n’entends plus que le tambour sourd de la douleur qui me serre le crâne et m’élance dans les mâchoires. […] Je suis revenu à moi. J’ai chaud. Puis froid. Puis chaud à nouveau. J’essaie de me relever mais je découvre que mes mouvements sont lents et fragiles. […] Je ne suis qu’une boule de chair ankylosée. (ebd.: 120) In dieser Passage findet offenkundig eine Fokalisierung auf Soleimans Körper und seine somatischen Empfindungen statt, die sich in unterschiedlicher Intensität durch seinen gesamten Erzählstrang zieht: Le paysage est toujours le même. La chaleur nous rend silencieux. Nous roulons vers Ghardaïa. Chacun a payé sa place. Le vent me sèche la bouche et les yeux. J’ai du sable dans chaque pli de ma veste. Nous roulons dans un épais paysage d’ennui et de chaleur. Je sommeille, fermant les yeux de plus en plus souvent. La faim me tenaille le ventre. (ebd.: 141f.) Der Fokus auf Körper und Sinne verdeutlicht die physische Prekarität während der Migration, die körperlichen Strapazen und Grenzerfahrungen, das Ausgeliefertsein der Migrierenden gegenüber den Schlepper*innen und den Umständen, sowie die lebenserhaltende Funktion sinnlicher Wahrnehmung in Momenten der Gefahr. Pointiert wird dies durch eine punktuelle textuelle Fragmentierung des Körpers in seine Einzelteile in besonders bedrohlichen Situationen, etwa während des Ansturms auf die spanische Enklave Ceuta, als Soleiman und Boubakar von Grenzschutzbeamt*innen angegriffen werden und versuchen, durch ein Loch im Grenzzaun zu fliehen:
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Les corps tombaient du sommet des barbelés. Il en venait toujours. Certains se cassaient une jambe dans la chute […]. Ils rampaient comme des lézards pour se frayer un passage. Les barbelés leurs lacéraient le dos ou le ventre mais les laissaient passer. […] Soudain des policiers espagnols avancent droit sur moi. Ils sont trois. Ils ont vu le trou et veulent se poster devant pour en garder l’entrée avec férocité. Il va falloir se battre. La matraque du premier s’abat sur mon épaule. Je sens la douleur engourdir mon bras. […] Je sens que l’on m’agrippe par les pieds. Je rue comme un mulet. Je frappe au hasard pour que les mains voraces lâchent prise. Ils cognent maintenant de toute leurs forces sur mes jambes. Je ne parviens plus à avancer. […] C’est alors que je sens les mains de Boubakar qui me saisissent aux poignets. Il me tracte avec force. Sa vigueur me tire à lui. La jambe de Boubakar est tordue mais ses bras sont épais comme des troncs d’arbre. Il tire comme s’il voulait me démembrer. Je sens les barbelés me labourer les chairs dans le dos. (ebd.: 201-203, eig. Herv.) Wie an den Hervorhebungen von Körperteilen, Verletzungen, körperlichen Empfindungen und Bewegungsverben ersichtlich wird, ist die Szene markant physisch geprägt, wodurch der Eindruck entsteht, die beteiligten Akteure verfielen im Zuge der Immunisierungsmechanismen Europas in eine Art biopolitischen Naturzustand (vgl. Luisetti 2016: 233-242). Die verwendete Körperpoetik unterstreicht die physische Auseinandersetzung zwischen zwei einander fremden Gruppierungen, den Migrant*innen und den spanischen Grenzschützer*innen, die aufgrund ihrer entgegengesetzten Positionen innerhalb des Migrationsdispositivs miteinander konfrontiert werden.59 Von dieser dramatischen Situation trägt Soleiman eine Fraktur im Bein davon (vgl. Gaudé 2009: 204), die gemeinsam mit der bemerkenswerten Körperlichkeit des Textes zu veranschaulichen scheint, dass Flucht und Migration sich in die Körper der Migrierenden einschreiben und sie physisch wie mental irreversibel verändern. Der prägnante Fokus auf Körperlichkeit und Sinnlichkeit in Gaudés Text ist aber auch positiv konnotiert, da der Körper für die Figuren als eine Art Speichermedium der Heimat fungieren kann. In einer Szene, die mit Ottmar Ette als eine »Urszene der Migration« bezeichnet werden kann, »in der sich die Räume und die Zeiten […], die Erinnerungen an das Vergangene und die Projektionen in die Zukunft in einer Unvergänglichkeit vergangener Zukunft überschneiden« (beide Ette 2005: 10), versucht Soleiman seine Heimat in sich aufzunehmen, bevor er diese verlässt, während er sich gleichzeitig in die unbekannte Zukunft projiziert. Er nimmt die Stadt mit allen Sinnen wahr, hört den Lärm des Verkehrs, spürt den
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Die zitierte Episode wird in Kapitel 5.3.1.1 hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine biopolitische Ontologie der Grenze ausführlicher thematisiert.
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sonnengewärmten Staub in der Luft und betrachtet mit seinem Bruder Orangenbäume, während sie Tee trinken: »Immobile, je laisse les bruits et les odeurs m’envahir.« (Gaudé 2009: 43f.) Soleimans emotionale Bindung zu seinem Geburtsort wird mittels einer gesteigert sinnlichen Textästhetik transportiert. Noch bevor er mit seinem Bruder den Sudan verlässt, denkt Soleiman daran, dass Jamal der einzige sein wird, mit dem er in Zukunft über ihre Mutter, die Rituale der Familie sowie über gemeinsame Freunde wird sprechen können. Nur sein Bruder, der dieselbe Herkunft teilt, trägt all diese Erinnerungen in sich, kann sie für Soleiman im wörtlichen Sinne verkörpern und lebendig halten (vgl. ebd.: 49). Während sie ein letztes Mal gemeinsam durch die Stadt fahren, gönnen die Brüder sich ein paar Datteln, obwohl sie wissen, dass sie ihr gesamtes Erspartes für die Reise brauchen werden. Die Früchte repräsentieren für sie den Geschmack ihrer Heimat und die beiden stellen sich vor, wie sie in einigen Jahren oder Jahrzehnten gemeinsam Datteln essen und in ihrer Fantasie an den Ort ihrer Geburt zurückreisen werden, um ihr Heimweh zu stillen. In intertextueller Rückbesinnung auf die Madeleine im ersten Band von Prousts A la recherche du temps perdu (vgl. 1987 [1913]: 44-47) speichert die sinnliche Geschmackserfahrung eine Fülle von Erinnerungen und rettet sie über die Zeit hinweg: »Dans deux ans, dis-je, dans dix ans, dans trente ans, Jamal, lorsque nous voudrons nous souvenir du pays, lorsque nous voudrons en être imprégnés, qui sait si nous ne mangerons pas des dattes? Pour nous, elles auront toujours le goût d’ici.« (Gaudé 2009: 47) Im Gegensatz zu der an anderer Stelle erkennbaren narrativen Normalisierung des Nomadentums in Gaudés Eldorado (vgl. 5.3.1.2, 5.3.3.2) lässt sich anhand dieser Passage feststellen, dass sich das Leben in Orte einschreibt und in Teilen über Verortung definiert wird. Räume werden zu Lebensräumen. In der beschriebenen Szene des Abschieds wird das Konzept Heimat ausgelotet, das sich aus Menschen, sinnlichen Eindrücken und topografischen Orten zusammensetzt, welche die Geschichte eines Menschen speichern (vgl. Gaudé 2009: 44). Gleichzeitig fungiert der Körper als eine Art Archiv, das die mit der Heimat verbundenen Gerüche, Geräusche und Empfindungen aufbewahren kann. Doch nicht nur Soleimans eigener Körper, sondern auch der seines Bruders wird zu einem biologischen Träger der gemeinsamen Heimat, der dabei helfen soll, den Schmerz des Exils zu lindern: »Nous emmènerons la maison, nous emmènerons notre mère et la place de l’Indépendance, nous emmènerons les dattes et les vieux fauteuils de la voiture partout où nous irons. Tant que nous serons deux, la longue traîne de notre vie passée flottera dans notre dos.« (ebd.: 52) Durch die Schwermut, mit der Soleiman sich von seinem Herkunftsort trennt, widerspricht Eldorado einseitigen, eurozentrischen Diskursen über Migration und führt vor Augen, dass nur wenige Menschen ihrer Heimat leichten Herzens den Rücken kehren. Indem der Text Einblicke in das (Seelen-)Leben der Figur vor der Migration bietet, wird eine Reduktion Soleimans auf seinen Status als Migrant vermieden und er wird als ganzheitlicher, individueller Mensch
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dargestellt. Durch eine solche multidimensionale Figurenzeichnung verleiht der Text den migrierenden Charakteren eine komplexe Subjektivität, die den erzählten desubjektivierenden Mechanismen der Biopolitik entgegenwirkt. Die detaillierten Schilderungen von Soleimans Eindrücken, die sich durch den gesamten Verlauf der Handlung ziehen, können überdies als eine Art Rückzug der Figur in ihr Inneres gedeutet werden, mittels derer sie sich den biopolitischen Dynamiken, die ihr die Migration zu erschweren suchen, mental entzieht. Die Erzählung erfolgt in der ersten Person Singular Präsens und gibt mittels Introspektiven tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten, während derer die Strapazen seiner Reise ausgeklammert werden. Soleiman reflektiert fortlaufend die Umstände seiner Migration (vgl. ebd.: 50-52, 122f., 142f., 153f., 177f., 205), wie diese ihn als Person verändern wird (vgl. ebd.: 91, 146-149, 151, 181) oder projiziert sich in ein zukünftiges Leben in Europa (vgl. ebd.: 44, 48f., 115f., 179f.). Auch die Passagen, in denen er in Gedanken mit seinem Bruder Jamal spricht, um Kraft für die weitere Reise zu sammeln, können als Ausdruck dieses meditativen Rückzugs in seinen Körper gedeutet werden (vgl. ebd.: 91, 122f.). Ist oftmals der Körper als Träger des biologischen Lebens das primäre Ziel biopolitischer Dynamiken, so kann der seelische Rückzug in diesen als widerständiger Akt, als ›Sich-Entziehen‹ gelesen werden. Diese und ähnliche Phänomene in den anderen untersuchten Texten können mit Michel Foucaults Begriff der ästhetischen Existenz gelesen werden, unter den auch die sogenannten Praktiken des Selbst (vgl. Foucault 1994c: 609-631, Kapitel 2.6.1) fallen. In den Praktiken des Selbst sieht Foucault ziellose Aktivitäten und Erprobungen der Selbsterforschung und -überschreitung, mittels derer das Subjekt sich selbst konstituiert, also aus sich selbst heraus Möglichkeiten der Subjektivierung erschließt (vgl. Menke 2003: 284). Zu derartigen Tätigkeiten zählt er bspw. die Meditation oder auch das Schreiben als Vollzüge, die keinem übergeordneten Zweck dienen, sondern Ausdruck der individuellen Subjektivität und Lebendigkeit sind. Gerade weil solche Aktivitäten keiner ökonomischen Ordnung und keiner regulierenden Logik gehorchen, sondern die Kontingenz und Vitalität des Lebens geltend machen (vgl. Muhle 2014: 264, Menke 2003: 198), können sie sich den verwaltenden Mechanismen der Biopolitik verwehren. Die Geste des Schreibens als Form der Auseinandersetzung mit dem Selbst findet sich so bei Éric-Emmanuel Schmitt, dessen Protagonist Saad rückblickend seine Migrationserfahrung verschriftlicht, um diese zu verarbeiten, und dabei gleichzeitig über sein Selbstbild als illegaler Migrant sinniert (vgl. Schmitt 2016: 11, Kapitel 5.1.4.1). Auch Tahar Ben Jellouns Protagonist Azel verfasst in Partir mehrere Briefe an das Land Marokko, in denen er sich mit seinem Exil sowie dem schwierigen Verhältnis zu seiner Heimat auseinandersetzt. Die Briefe erinnern an Tagebucheinträge, mittels derer Azel auch seinen eigenen Charakter erkundet (vgl. Ben Jelloun 2007: 88-91, 93f., 108f.). Die Unterhaltungen von Schmitts Hauptfigur mit
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dem Geist seines verstorbenen Vaters weisen des Weiteren Ähnlichkeiten mit den zuvor thematisierten gedanklichen Gesprächen Soleimans mit seinem Bruder auf und scheinen ebenfalls eine Art meditative Übung darzustellen, wie der Geist von Saads Vater andeutet: – Tu commets une erreur lorsque tu supposes que j’arrive de l’extérieur […]. – Pourtant il faut bien que tu arrives de quelque part! Un monde parallèle. Audessus de nous? Au-dessous de nous? A côté de nous? – Ce quelque part, c’est l’intérieur de toi, Saad. Je viens de ton corps, de ton cœur, de tes lubies. (Schmitt 2016: 162) Auch das Träumen und der Müßiggang können mit Foucaults Ästhetik der Existenz und in Anschluss an Hardt und Negri als ein »Dagegen-Sein«60 (Hardt/Negri 2002: 224) betrachtet werden, das keiner biopolitischen Verwaltung, keinem produktiven Imperativ (vgl. Negri 2007: 22) unterliegt. In Partir träumen Figuren wie Azel und Malika derart häufig von einem glücklicheren Leben in Spanien, dass Pireddu (vgl. 2009: 18f.), Idrissi Alami (vgl. 2013: 2) und Piastro (vgl. 2015: 231) gar von einer beinahe bedenklichen Flucht aus der Realität sprechen. So stellt Azel sich in verschiedenen absurden Szenarien vor, auf welchen Wegen er nach Europa gelangen könnte (vgl. Ben Jelloun 2007: 46-50) und die kleine Malika gibt sich häufig Träumereien hin (vgl. ebd.: 120f., 147-151, 225f.), um sich von ihrer anstrengenden Arbeit in einer Fabrik abzulenken: Du haut de ses quatorze ans, Malika ne pouvait de toute façon pas aller très loin. Pourtant elle découvrit une échelle qui donnait sur un ciel tout le temps bleu. Elle y grimpait sans faire de bruit, ni éveiller les soupçons de son beau-frère, et s’échappait pour quelques instants. En haut il y avait une petite terrasse. Malika s’y installait et fermait les yeux. Le vent caressait ses cheveux qu’elle lâchait, elle se laissait emporter le plus loin possible sans faire d’effort, sans prononcer un cri ou un mot. Elle était heureuse de planer au-dessus d’une mer bleue et limpide. […] Lorsqu’elle s’en allait avec le vent, elle ne sentait plus rien. (ebd.: 124f.) Azels Schwester Kenza findet hingegen einen Ausgleich im Tanz, der als vergänglicher, performativer und kreativer Ausdruck ebenfalls als Praktik des Selbst eingestuft werden kann. Während das Tanzen für Kenza in Marokko ein Weg ist, ihre durch gesellschaftliche Normen gehemmte Weiblichkeit auszuleben (vgl. ebd.: 77), scheint sie in Spanien zu tanzen, um im Exil einen Bezug zur Kultur ihrer Heimat aufrecht zu erhalten und sich vielleicht als vom Publikum gefeierte »Estrella, la plus belle danseuse de l’Orient« (ebd.: 200) einen anderen Subjektentwurf zu erschließen, als den der marginalisierten Eingewanderten und non-persona (vgl. 5.2.1.2).
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Im englischen Original »being-against« (Hardt/Negri 2001: 212).
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Eine weitere Praktik des Selbst, mittels derer die Figuren sich den desubjektivierenden und entmenschlichenden Dynamiken des Migrationsdispositivs zu widersetzen suchen, liegt in einem besonders humanen und würdevollen Verhalten. So ist auffällig, dass Kapitän Piracci in Gaudés Eldorado immer wieder das würdevolle Auftreten jener Frau betont, die er gemeinsam mit anderen Migrant*innen Jahre zuvor von dem havarierten Boot Vittoria61 gerettet hatte. Bereits während ihrer Rettung strahlte die Frau trotz der dramatischen Umstände eine derartige Willenskraft und Würde aus, dass Salvatore Piracci nicht wagte, ihr seine Hand anzubieten, um ihr dabei zu helfen, das Boot zu verlassen (vgl. Gaudé 2009: 17f., 20). Auch bei ihrem Wiedersehen betont die Hauptfigur vermehrt den Stolz der anonymen Frau (vgl. ebd.: 24), die eine große Kraft ausstrahlt, obwohl das Leben ihr harte Prüfungen aufbürdet: »Et pourtant, durant tout son récit, elle ne s’était pas départie de la pleine dignité de ceux que la vie gifle sans raison et qui restent debout.« (ebd.: 29) Auch Schmitts Protagonist Saad berichtet, wie er und seine Mitreisenden zusammengepfercht in einem Lastkraftwagen in stiller Übereinkunft entscheiden, die menschenunwürdigen Zustände, welche die Schlepper ihnen auferlegen, in Stille zu erdulden, um sich ihre Würde zu wahren: Personne ne protestait. Puisque nous étions traités comme des animaux, nous mettions notre point d’honneur à nous conduire en hommes, sans nous plaindre, en nous arrangeant pour ne pas nous écraser. Bref, je n’ai jamais perçu autant de dignité que dans cette situation humiliante. (Schmitt 2016: 215) Indem Saad und seine Weggefährten sich trotz aller Schwierigkeiten besonders menschlich verhalten, scheinen sie für sich zu beschließen, die dehumanisierenden biopolitischen Dynamiken, denen sie während ihrer Migration unterliegen, nicht vollkommen passiv hinzunehmen. Sie haben zwar kaum konkreten Handlungsspielraum, doch sie verfügen immerhin über die Möglichkeit, sich ihre Würde zu bewahren, sowie Menschlichkeit und Solidarität zu leben, obgleich letztere im Kampf um das Überleben und eine bessere Zukunft nicht immer zielführend sind.
5.2.2.2
Die spaltende Wirkung biopolitischer Dispositive: Krankheit und Dehumanisierung
In den Kapiteln 5.2.1.1 und 5.2.1.2 wurde festgehalten, dass sich die von Giorgio Agamben konstatierte »disseminazione« (Agamben 2018: 23) der Subjektkategorie durch Mechanismen der Desubjektivierung und fehlende Angebote der Resubjektivierung im Migrationsdispositiv u.a. bei Shumona Sinha, Delphine Coulin und 61
Erneut arbeitet Gaudé mit einem sprechenden Namen, denn obwohl die Frau selbst anonym bleibt, scheint der Name des Schiffs, auf dem sie das Mittelmeer überquert, auf ihr stolzes Auftreten hinzudeuten.
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Éric-Emmanuel Schmitt beobachten lässt. In den betreffenden Werken äußert sich dies in der Reduktion von Figuren auf ihr bloßes Leben, wodurch ihnen lediglich ein Dasein als clandestin bleibt. Darüber hinaus äußert sich besagte Spaltung von Subjekten durch die Dispositive der Biopolitik in den analysierten Texten in einer Semantik des Okkulten, Animalisierungen und einer auffälligen Krankheitsmotivik. Letztere tritt insbesondere in den Werken Sinhas und Ben Jellouns vermehrt auf. In Assommons les pauvres! setzen die Umstände ihrer Arbeit und ihre Teilhabe am Dispositiv Asylsystem der Protagonistin derart zu, dass sie seelisch und körperlich krank wird. An zahlreichen Stellen des Textes beschreibt die autodiegetische Erzählerin eindringlich die psychische Belastung, die sie aufgrund ihres Berufs empfindet: Longtemps après que j’étais sortie de ces bureaux, la nuit, les mots revenaient chez moi dans la pièce nue. Leur bruit confus la remplissait, la débordait. Certaines nuits je me réveillais étouffée, comme noyée dans la marée montante des chuchotements, des murmures et des cris. […] En fin de compte, je ne suis toujours pas guérie des cris et des chuchotements. (Sinha 2012: 43) Sie leidet unter Albträumen oder albtraumartigen Visionen (vgl. ebd.: 25, 81, 101), fühlt sich heimgesucht und überfordert von der Masse an Worten, die sie hört und übersetzt. Sie hat das Gefühl, ihr Kopf sei nicht länger in der Lage, das Gehörte zu verarbeiten (vgl. ebd.: 87) und sie müsse sich von den Worten befreien, sich ihrer gar gewaltsam entledigen, »comme on vide le ventre d’un poisson« (ebd.: 91). Sie verliert jeglichen inneren Frieden, fühlt sich nach der Arbeit leer und vollkommen erschöpft (vgl. ebd.: 27, 36f.). Nach etwa einem Jahr als Übersetzerin in der Asylbehörde besteht ihr Leben nur noch aus Angst und Wut, die Hauptfigur erkennt sich selbst nicht wieder (vgl. ebd.: 131): Quelque chose était définitivement brisé en moi. La vie avait basculé de l’autre côté, là où règnent l’obscurité, l’étrange, la peur. Les crabes du doute démangeaient mes doigts et mes orteils. […] Dans le métro et sur les quais, dans la rue, dévalant les marches et les trottoirs je me demandais ce qui m’empêchait de hurler. (ebd.: 129f.) Die Kräfte des Dispositivs scheinen ihren Körper zu durchziehen, sich unwiderruflich in ihn einzuschreiben und seine Integrität zu bedrohen: »La cour et le bureau, deux usines à discours d’où sortait la fumée des mots, […] leurs roues allaient me broyer, me réduire en lambeaux, me défibrer, j’allais disparaître.« (ebd.: 135) Es wirkt, als löse sich die Identität der Protagonistin fortschreitend auf, je mehr Menschen sie ihre Stimme leiht, je mehr Geschichten sie hört und wiedergibt und je mehr sie sich mit diesen Geschichten, besonders mit jenen der Frauen (vgl. ebd.: 125-130), persönlich identifiziert. Als zur Neutralität verpflichtete In-
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stanz verschwindet sie hinter der Sprache, hinter der Flut an Worten, die an sie gerichtet werden und die sie im Namen Anderer äußert. Die bedrückende Kraft dieser Diskurse führt schließlich dazu, dass sie jene Gewalt ungerechterweise in einer kathartisch anmutenden Geste an den Mann in der Metro weitergibt (vgl. ebd.: 142-144, Picard 2012: 188-191). Die Protagonistin und die Asylsuchenden sind jedoch beileibe nicht die einzigen, die unter den Dynamiken des Dispositivs Asylsystem leiden. Auch die Mitarbeiter*innen der Asylbehörde, viele von ihnen abgemagert und erschöpft (vgl. Sinha 2012: 51), scheinen in gesundheitlich schlechter Verfassung zu sein, ebenso wie eine Anwältin, welche die Erzählerin unter Druck setzt und bedroht: Ses cheveux crépus étaient tirés sur un côté de la tête, comme s’il s’agissait d’un chignon, il en tombait sans cesse des pellicules qui couvraient les épaules de sa toge. De la masse noire de son costume d’avocat émergeaient un visage et des mains, charnus, couverts d’eczéma. Des années de plaidoiries angoissantes et de tonnes de dossiers peu crédibles l’avaient salement abîmée. (ebd.: 136) Ève, eine Übersetzerkollegin der Protagonistin, berichtet, dass sie sich auf dem Heimweg im Zug regelmäßig übergibt. Die Erzählerin kommentiert: »Vomir, souffrir, être malade durant des semaines, tout cela n’est sûrement rien quand il s’agit de protéger les siens, d’aider son peuple, d’utiliser ce système d’asile politique pour améliorer la condition humaine.« (ebd.: 98) Des Weiteren wirken viele der Figuren, die im Asylsystem arbeiten abgestumpft und scheinen kaum Empathie angesichts der Schicksale der Antragstellenden zu empfinden (vgl. ebd.: 116). So führen einige der officiers de protection die Gespräche mit den Asylbewerber*innen mit einem unangebrachten, sarkastischen Unterton (vgl. ebd.: 33-35) oder können sich das Lachen nur schwer verkneifen (vgl. ebd.: 78f.). Die Protagonistin selbst bricht während eines Gesprächs sogar offen in schallendes Gelächter aus (vgl. ebd.: 35f.). Zwar kommt es in den Anhörungen wiederholt zu komisch anmutenden Situationen, da die Asylsuchenden sich in Widersprüche verstricken oder aus Unwissenheit vollkommen absurde Antworten geben (vgl. ebd.: 66-71). Doch für sie hat die Situation nichts Komisches, da ihre Zukunft auf dem Spiel steht. Lachen können darüber nur die privilegierten Gesprächsteilnehmer*innen, die nichts zu verlieren haben.62
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Henri Bergson weist darauf hin, dass Lachen u.a. eine bloßstellende Funktion hat, um Menschen zu tadeln, die, in welcher Form auch immer, von der Norm abweichen: »Toujours un peu humiliant pour celui qui en est l’objet, le rire est véritablement une espèce de brimade sociale.« (Bergson 1956: 103) Helmut Plessner unterscheidet »Anlässe des Lachens« (Plessner 1993: 119) und vertritt die Ansicht, dass Komik zuweilen eine konfliktäre Ambivalenz innewohnt und häufig aus einem hierarchischen Verhältnis zwischen den beteiligten Parteien entsteht: »Vom tragischen Konflikt unterscheidet sich der komische durch Unebenbürtigkeit der streitenden Parteien. […] [D]ie komische Wirkung [nimmt] mit der Unebenbürtigkeit der
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Das von der Protagonistin dargestellte Asylsystem erscheint somit als ein in doppelter Hinsicht ›krankes‹: Es ist zum einen in seiner Logik ein ›krankes System‹, voll von paradoxalen Regelungen und Vorgängen, ein System, das Lügen produziert (vgl. Limbu 2018: 87-89), Neutralität verlangt, wo dies menschlich kaum möglich scheint oder im Gegenteil die Involvierten dermaßen abstumpft, dass es inhumanes oder wenigstens unsoziales Verhalten fördert. Zum anderen ist es ein System, das im wörtlichen Sinne krank macht, die Beteiligten gegeneinander ausspielt sowie psychisch und körperlich belastet: »Assommons les pauvres! […] dépeint un système qui assomme non seulement les pauvres comme l’indique le titre, mais tous ceux qui y participent.« (Rice 2014: 226) Innerhalb des rhizomatischen Netzes des Dispositivs existieren zwar hierarchische Verhältnisse, da jeder Teil des Systems über bestimmte Befugnisse verfügt, doch wie in Kapitel 5.1 beschrieben, unterstehen letzten Endes alle Beteiligten gouvernementalen Vorgängen, Regelungen und Gesetzen, die ihren Handlungsraum eingrenzen. Alle Parteien sind auf die eine oder andere Art dem Dispositiv unterworfen, wirken von dessen Mächten seelisch und körperlich geradezu durchdrungen, und keine von ihnen, weder die am unteren Ende der Hierarchie disponierten Asylbewerber*innen noch die allen überstellten disponierenden Richter*innen, scheint diese Kräfte kontrollieren zu können. In Tahar Ben Jellouns Partir ist das Krankheitsmotiv ebenfalls sehr präsent und steht offenbar sinnbildlich für die Prägung und Zerstörung von Körpern im Zuge biopolitischer, bioökonomischer und postkolonialer Dynamiken. Die Handlung wimmelt nahezu von fragmentierten, von physischer und psychischer Krankheit gezeichneten Körpern, sodass der Eindruck entsteht, dass die biopolitischen Mächte, denen die Figuren vor, während und nach ihrer Migration ausgesetzt sind, massive Auswirkungen auf deren körperliche und mentale Konstitution haben. Bereits im ersten Kapitel des Romans wird angedeutet, dass Azels Wunsch, das Land zu verlassen, ihn in einem Ausmaß beschäftigt, das krankhafte Züge annimmt. Über die Verwendung des Adjektivs »obsédé« (Ben Jelloun 2007: 29), des entsprechenden Substantivs »obsession« (ebd.: 25, 31) und Formulierungen wie »ce désir incontrôlable de partir« (ebd.: 31) oder »son idée fixe était là et le poursuivait partout: partir! Il y tenait, s’y accrochait« (ebd.: 37) wird zu Beginn der Narration die Vorstellung eines »virus du départ« (ebd.: 51) geprägt, an dem ein Großteil der Charaktere leidet. Azels Besessenheit, das Land zu verlassen, zeigt sogar erste psychosomatische Auswirkungen: »Quitter le pays. C’était une obsession, […] cette obsession devint une malédiction. […] Son énergie, sa force physique, son corps bien bâti se dégradai-
Gegengewichte zu. Die Komik liegt darin, daß bei der offenbaren Überlegenheit des Gegners der offenbar Unterlegene den Kampf überhaupt beginnt« (ebd.: 143).
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ent jour après jour.« (ebd.: 25)63 Zudem wird Azel in Marokko mehrmals physisch angegriffen. In Kapitel sechs wird die Hauptfigur gleich zweimal brutal zusammengeschlagen, zunächst von den Männern des Schleusers Al Afia (vgl. ebd.: 53) und später während des in Kapitel 5.1.1.1 beschriebenen Polizeiverhörs (vgl. ebd.: 66-70), dessen Schilderung in ihrer Brutalität schwer zu ertragen ist. Beide Angriffe auf Azels Körper hängen unmittelbar mit biopolitischen Dynamiken zusammen: In ersterem Fall mit der Ökonomisierung des menschlichen Lebens durch illegale Organisationen im Menschenhandel (vgl. 5.2.3.1), der wiederum teilweise aus biopolitisch verursachten Migrationsursachen hervorgeht (vgl. 5.1.1.1), und in letzterem Fall mit der Regierungstechnik des Ausnahmezustands, welche die ungestrafte Verletzung eines Körpers im Zuge einer angeblichen ›Säuberung‹ des Landes von kriminellen Strukturen (vgl. Ben Jelloun 2007: 67, ebd. in Gallimard 2006) rechtfertigt. Ajah und Babatunde widmen sich in einem Aufsatz der Körpermetaphorik in Ben Jellouns Roman und stellen unter Bezug auf die Diskursivierung des weiblichen Körpers im kolonialen und politischen Kontext64 fest, dass der Topos des Körpers gemeinhin als Ort der Spiegelung und Hinterfragung politischer sowie sozialer Phänomene und Forderungen betrachtet werden kann (vgl. Ajah/Babatunde 2008-10: 194). Insofern scheint es wenig verwunderlich, dass neben Azel zahlreiche weitere Figuren in Partir physisch oder psychisch erkranken und ihre Krankheiten als fiktionale Materialisierung gesellschaftlicher Spannungen und ambivalenter biopolitischer Dynamiken gelesen werden können. Rachid, ein Freund Azels, wird in die Psychiatrie eingewiesen, besessen von der Vorstellung, nach Spanien auszureisen: »Personne ne savait de quel mal il souffrait, il ne répétait plus qu’un seul mot, ›Spania‹, et refusait de s’alimenter, espérant devenir assez léger pour s’envoler« (Ben Jelloun 2007: 89f.). El Haj, ein Bekannter Azels, der sich auf Festen gerne mit jungen Frauen vergnügt und sich als ausgesprochen männlich inszenieren möchte, kann keine Kinder zeugen (vgl. ebd.: 38-40). Die schöne Soumaya, mit der Azel in Barcelona eine Affäre unterhält (vgl. ebd.: 126-130), erkrankt aufgrund ihres Drogenkonsums an Hepatitis und ihr einst wohlgeformter, verführerischer Körper ist nur noch ein Schatten seiner selbst: »[T]out amaigrie, ses seins flasques, ses yeux vitrueux […]. La belle Soumaya, pulpeuse et vive, était devenue une ombre grise, le visage froissé, le regard vide et le corps meurtri par les souffrances de la maladie et de la faim.« (ebd.:
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Die ebenfalls psychosomatischen Erektionsstörungen, unter denen Azel in Spanien leidet, werden in Kapitel 5.4.4.2 thematisiert. Die imperialen Bestrebungen Europas zu Zeiten des Kolonialismus wurden mit verschiedenen u.a. gegenderten diskursiven Strategien legitimiert. In den untersuchten Werken scheint sich indes eine Umkehrung eben solcher Rhetoriken abzuzeichnen, wie in Kapitel 5.4.1.2. ausgeführt wird.
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258f.) Auch Miguel erkrankt gegen Ende des Romans an einer schweren Bronchitis (vgl. ebd.: 236, 252) und kann nur noch an einem Stock laufen, »marqué par la maladie« (ebd.: 317). Selbst einige Figuren, die lediglich am Rande auftreten, fallen durch Krankheit oder Abweichungen von der körperlichen Norm auf. So etwa der mutmaßliche Islamist, der versucht, Azel zu rekrutieren, dabei nervös mit den Augen zuckt und in seine Lippe beißt (vgl. ebd.: 26) oder der Mann, dem Azel in einer Bar begegnet und der nach seiner Migration an einer chronischen Lungenentzündung leidet, da das Boot, auf dem er nach Spanien übersetzen wollte, kenterte und er im Wasser ausharren musste (vgl. ebd.: 195). Eine besonders eindringliche Beschreibung körperlicher Fragmentierung als Spiegelung seelischen Unbehagens findet sich in einer Episode gegen Ende des Textes. Azel liegt auf seinem Bett, reflektiert seine Situation und hat dabei das Gefühl, sein Körper werde von Insekten zerlegt: Il avait des fourmillements dans tout le corps. Des insectes minuscules parcouraient ses membres, ils le mangeaient et il était incapable de réagir, il ne souffrait pas mais voyait son pied droit se détacher, emporté par une forte colonne de fourmis noires, puis son autre pied arraché par des mantes religieuses. Il aurait voulu qu’ainsi elles emportent tout et lui rendent à la place un autre corps (ebd.: 291). Azels Vorstellung seines sich langsam zersetzenden Körpers kann zum einen als Vorbote seines bevorstehenden Todes (vgl. ebd.: 306) gelesen werden. Andererseits scheint der Zerfall seines Körpers, verbunden mit dem Wunsch nach einer Wiedergeburt in einem neuen Körper, auf den Verlust seiner Identität und seines Lebenswillens hinzudeuten, denn gegen Ende des Romans hat Azel alles verloren, lässt sich gehen und lebt in den Tag hinein (vgl. ebd.: 284f.). Das Bild seines fragmentierten Leibes spiegelt seine seelische Zerrissenheit wider. So beschreibt auch Bernard Urbani Azels Verfassung nach dessen gescheiterter Migrationserfahrung mit den Worten blessure und déchirure, die sich in diesem Fall metonymisch auf den seelischen Zustand des Protagonisten beziehen, obwohl sie semantisch primär eine physische Verwundung des Körpers bezeichnen: »Son énigmatique odyssée se transforme rapidement – au fil des rencontres fortuites – en une profonde et déconcertante découverte de la gravité de la blessure et déchirure humaine.« (Urbani 2016: 480) Eine Passage aus dem letzten Kapitel Revenir scheint eine psychosomatische Deutung der Episode zu unterstützen, denn dort wird thematisiert, welche Auswirkungen ein Leben im Exil auf den Körper haben kann. Während ein Großteil der Figuren nacheinander an Bord eines magischen Schiffes geht, um eine kollektive Rückkehr anzutreten,65 singt Toutia la Sublime, die Begleiterin des Kapitäns, ein Lied: 65
Das letzte, auffallend metaliterarische, intertextuelle und übernatürlich anmutende Kapitel von Tahar Ben Jellouns Partir wird in Kapitel 5.4.2.2 ausführlich analysiert.
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Toutia ferme les yeux et chante de tout son cœur. Que ce soit sur le bateau ou sur le quai, tout le monde s’arrête et l’écoute en silence. Ils arrivent par petits groupes dispersés, le regard fier. Ils viennent d’accomplir mieux qu’un devoir, une nécessité. La fatigue a fini par gagner certains. Ce n’est rien, juste un peu de rhumatisme. C’est le froid de l’exil, un froid pernicieux, qui vous attaque en plein été, quand il fait chaud, vous vous levez et puis votre jambe droite vous lâche, c’est ainsi, on ne sait pas pourquoi, le médecin m’a dit que c’était l’âge, il m’a menti, la tête est bien mais le corps ne suit plus, comment a-t-il seulement osé me dire ça à moi qui erre sur les routes depuis si longtemps, mais je vois qu’il ne connaît pas ce mal dont nous souffrons en silence, […] je ne sais pas qui je suis, mais je me sens bien, en dépit de l’avis du docteur. J’ai perdu mon nom et on me dit que je n’ai plus de visage (Ben Jelloun 2007: 316f.). Mittels einer Krankheitsmetapher beschreibt Toutia, wie die Kälte des Exils den Körper durchzieht, sich ähnlich einer Rheumaerkrankung in den Knochen und Gelenken einnistet und die Gliedmaßen sich im Zuge dessen vom Körper lösen. Die zitierten Zeilen greifen somit eben jene Erfahrung auf, die Azel zuvor beschreibt. Der Verlust von Name und Gesicht steht symbolisch für den Verlust von Identität und Individualität und beschreibt einerseits einen Prozess der Selbstentfremdung, »je ne sais pas qui je suis« (ebd.: 316), der mit Migrationserfahrungen einhergehen kann, wenn der Bezug zur eigenen Herkunft graduell verloren geht. Andererseits verweist die von Toutia besungene Namens- und Gesichtslosigkeit auf die Depersonalisierungs- und Entindividualisierungsmechanismen, die sich im Kontext der institutionellen und politischen Verwaltung des Lebens ereignen können. Die Personen, die im Laufe von Partir erkranken, sind nämlich sowohl vor als auch nach ihrer Auswanderung verschiedenen Formen biopolitischer Dynamiken ausgesetzt. Denjenigen, die sich auf dem »bateau du retour« (ebd.: 322) befinden, ist die Einreise nach Spanien zwar gelungen, doch sie leben dort in juristischer und/oder gesellschaftlicher Hinsicht »dans une sorte de clandestinité« (Ben Jelloun zit.n. Gallimard 2006). Sie haben, wie Nicoletta Pireddu schreibt, eine doppelte Entfremdung erfahren, bei der sie einen Teil ihrer Identität in der Heimat zurückgelassen haben, ohne in der Marginalisierung des Exils die Möglichkeit zu erhalten, neue Identitätsentwürfe auszubilden: These mobile souls whose mental journey starts with an Edenic scenario that grants them participation in both the Moroccan and the Spanish reality, are soon estranged by both, in the Limbo (if not Hell) of a double exile. [They are d]estined to a nonlife, either because they encounter real death or because they are confined to a submerged existence with no hope of real integration (Pireddu 2009: 20f.).
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Der Körper, als Träger des biologischen Lebens, wird im Zuge dieser schmerzlichen Migrationserfahrungen sinnbildlich fragmentiert oder faktisch krank, da die betreffenden Figuren in der Prekarität des Exils einen Teil ihrer selbst verloren haben. Resümierend kann festgehalten werden, dass die Krankheits- und Verletzungsmetaphorik in Partir als literarisches Verfahren agiert, das die biopolitischen und bioökonomischen Dynamiken des Migrationsdispositivs, denen die Figuren in der Heimat wie im Exil ausgesetzt sind, als deren körperliche Erfahrung sichtbar macht. Erst in der Erkrankung, Verletzung oder dem Tod der Charaktere werden die Konsequenzen der biopolitischen Kräfte, die auf Körper und Psyche einwirken, von etwas Unsichtbarem und Unsagbarem zu einer körperpoetischen, textuellen Manifestation. Ob in Marokko oder in Spanien, die non-persone und das bloße Leben in Ben Jellouns Partir sind niemals daheim, niemals »Herr im eigenen Hause« (Waldenfels 1997: 11) und durch diesen Verlust zersplittern ihre Identitäten, zersetzen sich ihre Körper. Neben den bisher genannten Phänomenen schlagen sich die desubjektivierenden Mechanismen des fiktionalen Migrationsdispositivs in einer auffälligen Häufung von dehumanisierenden Vergleichen und Metaphern nieder, mit denen Migrant*innen in den fünf Texten bezeichnet werden. Diese lexikalische Dehumanisierung erfolgt durch animalisierende Metaphern, eine entindividualisierende Masse-Semantik, die Reduktion der Migrierenden und Eingewanderten auf Schatten oder ihre Assoziation mit Monstern und anderen übernatürlichen Wesen. Nach ihrer Desubjektivierung durch die Kräfte des Migrationsdispositivs werden den migrierenden und eingewanderten Figuren in den analysierten Texten keine neuen Möglichkeiten der Subjektivierung angeboten, sodass sie nunmehr ein Dasein »in forma larvata e, per cosí dire, spettrale« (Agamben 2018: 31) zu fristen scheinen. Wie unter 5.2.1.1 angeführt wurde, zeichnet sich Shumona Sinhas Stil durch eine auffällige Mischung von poetischen und schonungslosen, beinahe gewaltvollen Passagen aus. Speziell wenn es um die Situation ihrer bengalischen Landsleute geht, verwendet die Hauptfigur häufig ein animalisierendes oder entmenschlichendes Vokabular: Aucune loi ne leur permettrait d’entrer ici dans ce pays d’Europe s’ils n’invoquaient des raisons politiques, ou encore, religieuses, s’ils ne démontraient de graves séquelles dues aux persécutions. Il leur fallait donc cacher, oublier, désapprendre la vérité et en inventer une nouvelle. Les contes des peuples migrateurs. Aux ailes brisées, aux plumes crasseuses et puantes. Aux rêves tristes comme des chiffons. Le rêve est un souvenir précoce. Le rêve est cette volonté qui nous fait traverser des kilomètres, des frontières, des mers et des océans, et qui projette sur le rideau gris de notre cerveau l’éclaboussure des couleurs et des teintes d’une autre vie. Et ces
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hommes envahissent la mer comme des méduses mal-aimées et se jettent sur les rives étrangères. (Sinha 2012: 11) In diesem Auszug werden die von Europa ungewollten Einwander*innen über eine Metapher zunächst mit Zugvögeln gleichgesetzt und danach mit Quallen verglichen. Beide Stilmittel verweisen dabei auf die Schwierigkeiten ihrer Migration und die Ablehnung, die sie an ihrem erträumten Ziel erfahren, da Quallen meist als mitunter gefährliche Plage betrachtet werden und die beschriebenen Vögel durch gebrochene Flügel und verklebte Federn flugunfähig sind. Auffällig ist überdies die verwendete Farbmetaphorik. Die Erzählerin spricht von den Farben und Nuancen einer besseren Zukunft, welche die Migrant*innen zu erreichen hoffen. Die vorherrschende Farbe dieses ersehnten anderen Lebens ist offenbar Weiß, wird der Traum der »peuples migrateurs« (ebd.: 11) doch bereits in der Kapitelüberschrift Le désir blanc mit der Farbe assoziiert. ›Weiß‹ scheint hier als Adjektiv primär auf eine Hautfarbe zu verweisen und die vorrangig unilateralen Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden in Richtung des überwiegend ›weißen Nordens‹ zu unterstreichen.66 Die im Verlauf der Narration wiederkehrende Gegenüberstellung zwischen dem gräulich-braunen »pays d’argile« (ebd.: 10), dem Land des Tons, aus dem die Protagonistin und die Asylantragstellenden kommen, und der mit der Farbe Weiß assoziierten Nordhalbkugel scheint eine unüberbrückbare Differenz zwischen den beiden Hemisphären herzustellen (vgl. Mehta 2020: 91). Wiederholt werden die bengalischen Eingewanderten sowie ihre Heimatländer Indien und Bangladesch mit Brauntönen (vgl. Sinha 2012: 13, 63) und der Farbe Schwarz (vgl. ebd.: 10, 29, 39, 40, 42, 58, 74, 99, 142) assoziiert, sodass ihre Fremdheit im überwiegend ›weißen Europa‹, ihre inkommensurable Andersartigkeit und Exteriorität, auch in Bezug auf ihren rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Status, konsequent hervorgehoben werden: »Rêves européens, rêves blancs que les mains sales, les mains noires attrapaient autant qu’elles le pouvaient.« (ebd.: 42) In folgender Passage sowie an zahlreichen weiteren Stellen des Textes wird die Armut der Migrant*innen außerdem mit mangelnder Hygiene assoziiert und sie treten als düstere, monsterartige Wesen, als das verborgene und versteckte Gegenstück der Gesellschaft in Erscheinung: Des hommes rabougris, difformes, borgnes, entassés les uns sur les autres dans les sous-sols […]. Les hommes sortaient dès l’aube des grottes obscures où l’odeur d’épices et d’encens, étouffante, se mélangeait à celle de l’urine et de la sueur, et emplissait nos bureaux. […] Ils me rappelaient la crasse, l’eau sale et le tintement mélancolique des vaisselles bon marché, le parfum âpre des tissus exotiques. Ils
66
Die Hautfarbe ist in Sinhas Autofiktion ein omnipräsentes Motiv in der Verhandlung von Eigenheit und Fremdheit, wie in Kapitel 5.4.4.1 ausgeführt wird.
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étaient le revers de la broderie, ils étaient le dos noir des poêles trop usées, ils étaient la face cachée de la mascarade. (ebd.: 28f.) Mehrfach wurde Shumona Sinha in Interviews auf den schonungslosen Stil, die »compassion froide« (Simon 2011) angesprochen, mit der sie in Assommons les pauvres! von ihren Landsleuten spricht. In ihren Antworten bringt die Autorin zum Ausdruck, dass sie ihre fiktionalisierten Erfahrungen als Übersetzerin im OFPRA nur auf diese Art zu Papier bringen konnte (vgl. Sinha zit.n. Schader 2016), um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und das Leid, das sie während ihrer Arbeit sah und empfand, an die Leserschaft weiterzugeben: »Certains soirs, quand je rentrais du travail, j’étais tellement épuisée! Il fallait que je parle. La narratrice d’Assommons les pauvres! a souvent besoin de vomir. Moi-même, j’ai écrit comme on crache. […] Mon roman est un miroir tendu aux Français, à leur compassion hypocrite pour les étrangers.« (Sinha zit.n. Simon 2011) In einer Untersuchung, die Assommons les pauvres! speziell vor dem Hintergrund der Geschichte indischer Migration liest, deutet Brinda J. Mehta Sinhas Stil als eine semantische Wiederaufnahme der kala pani-Migration: »The term kala pani in Hindi refers to the transoceanic traversing of large expanses of ›black water‹ from colonial India« (Mehta 2020: 87). Eine solche willentliche Entfernung von der spirituellen Heimat stellt laut Mehta in der brahmanisch-hinduistischen Ideologie ein Tabu dar. So waren es in der ersten kala pani-Migrationswelle vor allem politische Gefangene und (vermeintliche) Kriminelle, die von der britischen Kolonialmacht auf unbewohnte Inseln übersiedelt wurden, während in der zweiten Welle insbesondere Teile der ärmeren Landbevölkerung nach Abschaffung der Sklaverei auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik Arbeit suchten: These crossings were initially identified with the expatriation of prisoners, socalled low castes and ›untouchables‹, ›nonconforming‹ women, and other social pariahs. Indenture marked the beginning of a South Asian labour diaspora in transnational colonial locations, a process that was nevertheless marked by ideas of pollution, illegitimacy, wrongdoing, and deviance carried over from the original kala pani punishment of exile (ebd.: 87). Daher liest Mehta Sinhas wiederkehrende Metaphern und Vergleiche aus dem Wortfeld Ozean (vgl. Sinha 2012: 9-11, 41) ebenso wie die Darstellung der Eingewanderten als deviant, monsterartig und aufgrund ihrer Armut schmutzig, als eine Anlehnung an die Semantik der kala pani-Migrationen (vgl. Mehta 2020: 88-90). In Laurent Gaudés Eldorado zeichnet sich in ähnlicher Manier bereits im ersten Kapitel ein Wortfeld ab, das sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen wird und migrierende bzw. migrierte Figuren mittels einer Rhetorik des Okkul-
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ten als spektrale, geisterartige Subjekte darstellt.67 Diese Semantik ist die erste in einer Reihe narrativer Dehumanisierungsphänomene, welche die Migrant*innen in Gaudés Roman als zugleich sichtbare und unsichtbare Präsenzen am Rande der Gesellschaft, sprich in ihrem Zustand des zugleich aus- und eingeschlossenen nackten Lebens konstruieren. Im ersten Kapitel von Eldorado mit dem bezeichnenden Titel L’ombre de Catane wandert Kapitän Piracci durch die Straßen Catanias, als er unvermittelt das Gefühl hat, beobachtet und verfolgt zu werden: »C’est là que le commandant sentit pour la première fois sa présence. Quelqu’un le regardait. Il en était certain. Il avait la conviction qu’on l’épiait, que quelqu’un, dans son dos, le fixait avec insistance.« (Gaudé 2009: 12) Ruckartig dreht er sich um, doch sieht niemanden, der ihn anstarren würde. Sein Verhalten irritiert vielmehr die Passant*innen um ihn herum und ein Fischhändler sagt, wohlgemerkt ohne Ironie: »Alors commandant, on s’est fait caresser par un fantôme.« (ebd.: 13) Der Kapitän 67
Der Begriff des Spektralen wird hier in Anlehnung an dessen Definition durch Jacques Derrida verwendet. In Spectres de Marx (1993) fragt Derrida sich rund 100 Jahre nach dem Tod von Karl Marx, was in der neuen, vom Siegeszug des Kapitalismus geprägten Weltordnung vom Marxschen »Gespenst des Kommunismus« (Marx/Engels 1998: 15) übrig ist. Sich auf den berühmten Eröffnungssatz aus dem Manifest der Kommunistischen Partei beziehend, verwendet Derrida in seiner Studie eine auffällige Semantik um das Wortfeld spectre (Derrida 1993: 14 »esprits«, 15 »fantôme«, 17 »apparition«, 22 »hantise«, »ombre« 23 etc.), um die Spuren des Marximus in der Gegenwart zu beschreiben, da eine kritische Einschätzung der Gegenwart ausschließlich unter Berücksichtigung der Spuren der Vergangenheit und der sich abzeichnenden Zukunft möglich sei: »Il faut parler du fantôme, voire au fantôme et avec lui […]. Aucune justice […] ne paraît possible ou pensable sans le principe de quelque responsabilité […] devant les fantômes de ceux qui ne sont pas encore nés ou qui sont déjà morts, victimes ou non des guerres, des violences politiques ou autres, des exterminations nationales, racistes, colonialistes, sexistes ou autres, des oppressions de l’impérialisme capitaliste ou de toutes les formes du totalitarisme.« (ebd.: 15f.) Der zitierte Auszug deutet bereits darauf hin, dass Derridas Semantik der Spektralität (siehe hierzu auch Sternad 2013: 30-40) u.a. in der postkolonialen Theorie fruchtbar gemacht werden kann: »[A]n awareness of the spectres of history challenges the present to rethink its relationship with the past, to enter into a dialogue with what has been suppressed, discarded, marginalized or forgotten.« (McCallum 2007: 1) Das Spektrale, das sich in einem paradoxalen Dazwischen von Körperlichkeit und Absenz, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Sein und dem (Noch)-Nicht- bzw. Nicht-(Mehr)-Sein bewegt (vgl. Derrida 1993: 25f.) hat nach Derrida nämlich das Potenzial, als »dissymétrie absolue […]« und »disproportion absolument immaîtrisable« (beide ebd.: 27) unsere Wahrnehmung der Gegenwart sowie vermeintlich etablierte Ordnungsmuster zu erschüttern. Daher wird Derridas Begriff des Spektralen in der vorliegenden Untersuchung methodologisch verwendet, um die Beschreibung migrantischer Figuren als Geister, Schatten und Ähnlichem als eine textuelle Hinterfragung der erzählten biopolitischen Normen und Gesetzmäßigkeiten zu lesen, denen jene Charaktere vermeintlich nicht entsprechen. Die Verwendung jenes Konzepts durch Giorgio Agamben (vgl. 2018: 30f.) in der Beschreibung der spaltenden Wirkung moderner Dispositive sowie in Nicoletta Pireddus Analyse von Tahar Ben Jellouns Partir (vgl. Pireddu 2009: 31, 5.4.2.2) scheint diesen Ansatz zu konsolidieren.
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hat weiterhin das Gefühl, beobachtet zu werden. Als er sich erneut umsieht, stellt Piracci überrascht fest, wer ihn so intensiv mustert: A quelques mètres de lui, une femme le regardait. Elle était immobile. Le visage sans expression. Ni demande. Ni sourire. Tout entière dans l’attention qu’elle lui portait. Il fut frappé par la volonté qui émanait de cette immobilité calme. […] Il ne savait que penser de cette présence. […] Il quitta les ruelles du marché sans s’apercevoir que la femme, comme une ombre, le suivait. (ebd.: 13f.) Die Episode wirkt wie eine Heimsuchung. Die Frau verfolgt den Kapitän, ihre Anwesenheit ist spürbar, doch zunächst bleibt sie unsichtbar, sie ist bloß eine »présence«, »une ombre« (beide ebd.: 14) oder mit Derrida (1993:16) »une chose innomable […] [qui] nous regarde cependant et nous voit ne pas la voir même quand elle est là.« Als Piracci die Frau schließlich sieht und ihren Blick erwidert, schweigt sie, ihr Gesicht zeigt keine Regung, sie steht still da und starrt ihn an, was ihr eine gespensterartige Aura verleiht. Der Kapitän setzt seinen Weg verdutzt fort, ohne zu merken, dass sie ihm weiterhin folgt. Vor seiner Wohnung treffen die beiden erneut aufeinander: Elle était là. Dans la même immobilité que la dernière fois. Le même visage têtu et les mêmes yeux grands ouverts qui semblaient vouloir happer le ciel. Il s’arrêta net. Il ne savait que faire. Il eut le temps de penser qu’il s’agissait peut-être d’une folle. Mais son visage, insidieusement, lui disait quelque chose. C’était très lointain et confus. Il la contempla pour tenter de trouver dans ses traits un souvenir enfoui mais n’y parvint pas. Elle n’était pas dénuée de beauté. Une femme brune. A la peau mate. Les yeux noirs et le visage émacié. Tandis qu’il l’observait, elle rompit le silence (Gaudé 2009: 15f.). Die Wortwahl in der zitierten Passage verstärkt den gespensterartigen Auftritt der Figur, ihre immobile, ausdruckslose Erscheinung wird um weit geöffnete Augen und ein ausgemergeltes Gesicht ergänzt. Plötzlich hat der Kapitän das Gefühl, die Frau zu kennen. Schleichend, »insidieusement«, weckt ihr Gesicht in ihm eine verdrängte Erinnerung, »un souvenir enfoui«. Letztlich bricht die Frau ihr Schweigen und erinnert Piracci an ihre Jahre zurückliegende, erste Begegnung, als die Küstenwache das seeuntaugliche Boot abfing, auf dem die Frau sich gemeinsam mit anderen Migrant*innen befand. Der Eindruck einer Heimsuchung bestätigt sich: Wie das personifizierte Freudsche Unheimliche, das »nichts Neues oder Fremdes [ist], sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist« (Freud 2020: 37), bricht die Frau plötzlich über das Leben des Kapitäns herein und zwingt ihn, sich mit verdrängten Gedanken und Emotionen auseinanderzusetzen. Sie erzählt ihre Geschichte, von der er nur einen Bruchteil, nämlich die Ankunft in Italien kennt und konfrontiert ihn dadurch mit der Gesamtheit der Migrationsproblematik, die bisher
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lediglich abstrakt hinter der Ausübung seiner Befehle stand und von ihm ausgeblendet wurde. Indem sie zurückkehrt, stellt sie Piraccis partieller Sicht der Dinge die komplexe Realität entgegen und bringt einen Prozess in Gang, im Laufe dessen er sich gezwungenermaßen dem Unheimlichen in sich selbst stellt: »[C]es visages qu’il pensait avoir effacés de sa mémoire se représentaient à son esprit avec précision.« (Gaudé 2009: 19) Innere Konflikte, die seit geraumer Zeit in ihm schwelen, kommen an die Oberfläche und er trifft die radikale Entscheidung, aus seinem Leben auszubrechen. Die Verwendung jenes Wortfelds des Spektralen (vgl. ebd.: 12-14, 25, 39, 72, 129, 191) und insbesondere die Bezeichnung der Migrant*innen als ›Schatten‹ erfolgen in Gaudés Roman derart häufig, dass von einem grundlegenden motivischen Merkmal seiner Textästhetik gesprochen werden kann. Tatsächlich taucht das Wort ombre über zwanzig Mal68 im Text auf, um migrantische Figuren zu bezeichnen, etwa in folgendem Zitat, in dem der Kapitän über seine Arbeit bei der Küstenwache nachdenkt: »Qu’allait-il faire? Arraisonner des barques trouées pendant dix ans? Escorter des ombres jusqu’à des centres de détention pour ne plus jamais les revoir?« (ebd.: 96). Silvia Baage (vgl. 2017: 6) deutet Gaudés Schattenmetaphorik als Ausdruck eines Schwellenzustands der Migrant*innen, die sich auf ihren gefährlichen Reisen zwischen Leben und Tod bewegen, was sich an die unter 5.2.2.1 gemachten Beobachtungen zur Verwendung des Worts corps anschließen lässt. Die markante Präsenz der beschriebenen Wortfelder in Gaudés Roman kann als Materialisierung zweier Phänomene gedeutet werden, die sich offenbar wechselseitig beeinflussen: Die Zeichnung migrierender Figuren als Geister und Schatten kann als Ausdruck ihrer Entmenschlichung gelesen werden, die u.a. aus der spaltenden Wirkung des Migrationsdispositivs zu resultieren scheint, das Migrant*innen auf bloßes, vorpolitisches Leben reduziert und sie ihrer ursprünglichen Subjektivierungen entledigt, ohne ihnen neue Subjektivierungsentwürfe anzubieten. Neben dem Wortfeld des Spektralen tragen in Gaudés Eldorado auch animalisierende Formulierungen und eine markante Masse-Semantik zur Dehumanisierung und Entindividualisierung migrierender Figuren bei. Dabei scheint es zunächst überraschend, dass besagte Vergleiche mit Tieren sich vorrangig im letzten Teil von Soleimans Erzählstrang finden und als Selbstbeschreibungen in zweierlei Kontexten vorkommen. Einerseits beschreibt Soleiman sich und seine Weggefährten als Tiere, um auf die menschenunwürdigen Umstände hinzuweisen, denen sie während ihrer Migration ausgesetzt sind, wenn sie etwa zusammengepfercht in Lastkraftwagen reisen müssen, »Nous sommes […] [d]e grosses bêtes qui se blottissent sur le toit du camion« (Gaudé 2009: 143), oder von Polizei und Grenzschützer*innen angegriffen werden. Insbesondere in der Episode des Ansturms auf die
68
Vgl. Gaudé 2009: 9, 14, 24, 25, 39, 90 (2x), 95, 96, 142, 160, 170, 193 (4x), 196, 209, 213 (3x), 215.
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Grenzanlage von Ceuta ist eine Häufung tierischer Vergleiche festzustellen. So beschreibt Soleiman, wie ihr Camp in einem Wald nahe der Grenze nachts gewaltsam von der marokkanischen Polizei geräumt wird. Die Polizisten stürzen sich auf die Migrant*innen »comme des abeilles voraces«, sie hetzen Hunde auf die Menschen, um sie auseinander zu treiben »comme du gibier«, Soleiman und Boubakar flüchten aus dem Wald »comme des rats« und die Festgenommenen werden in Lastwagen verladen »comme du bétail« (alle ebd.: 174). In der Schilderung der Überwindung der Grenzanlage nehmen diese Vergleiche in ihrer Anzahl noch zu. Während sie über den ersten Zaun klettern, als sie zwischen den beiden Zäunen mit der Guardia Civil kämpfen und schließlich durch ein Loch am unteren Rand des zweiten Grenzzauns kriechen, bezeichnet der Ich-Erzähler sich und seine Gefährt*innen als »serpents« (ebd.: 179), »chien« (ebd.: 184), »gibier« (ebd.: 184), »lézards« (ebd.: 202), »mulet« (ebd.: 202) und »escargot« (ebd.: 203). Allerdings haben die Animalisierungen in den beiden zitierten Auszügen unterschiedliche Wirkungen. Als die Migrant*innen in ihrem Camp von der marokkanischen Polizei angegriffen werden, wirken die Vergleiche mit Tieren hauptsächlich entmenschlichend und verdeutlichen den rechtlosen Status der illegal Migrierenden, die den Beamten als dem Gesetz äußerliches, nacktes Leben ausgeliefert sind. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Vergleiche in besagter Episode passivisch formuliert sind, »pour nous débusquer comme du gibier«, oder eine passive bzw. defensive Handlung beschreiben, »nous avons couru comme des rats« (beide ebd.: 174). In der Szene des Ansturms sind die Animalisierungen hingegen vorrangig aktiv eingebettet und beschreiben entweder die Überwindung der Grenzanlage oder die Kampfhandlungen zwischen den Migrant*innen und der Polizei: »Je le sens respirer comme un gibier après la course« (ebd.: 184), »Ils rampaient comme des lézards pour se frayer un passage«, »Je sens qu’on m’agrippe par les pieds. Je rue comme un mulet« (beide ebd.: 202). Insofern wirken die Tiervergleiche in der Episode der Grenzüberwindung weniger degradierend, sondern vermitteln vielmehr den Eindruck, dass die Migrierenden in dieser dramatischen Situation in eine Art biopolitisch auslegbaren Naturzustand (vgl. Luisetti 2016: 233-242, Geulen 2016: 63-73) versetzt werden, in dem sie sich auf natürliche Instinkte und Intuitionen verlassen, um ihr Leben zu retten und Europa zu erreichen.69 Die unter 5.2.2.1 beschriebene Menschlichkeit, mit der die migrierenden Figuren sich durch solidarische Verhaltensweisen ihrer Dehumanisierung widersetzen, deutet allerdings darauf hin, dass diese Form des Naturzustands überwunden werden kann. Die Tatsache, dass Soleiman seinem Freund Boubakar während des Ansturms wider aller Abmachungen zur Hilfe eilt,
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In seinem Roman Cris (2001) greift Gaudé auf ein ähnliches narratives Verfahren und Vergleiche aus der Tierwelt zurück, um zu beschreiben, wie Soldaten im Horror des Ersten Weltkriegs graduell ihre Menschlichkeit verlieren und schließlich nahezu blind töten, um selbst zu überleben (vgl. Boubaker 2014: 166).
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als dieser sich im Stacheldraht verheddert (vgl. Gaudé 2009: 180f., 184), scheint im Text die Frage aufzuwerfen, inwiefern das legitimierende Diktum der Staatstheorie im Sinne Hobbes’, nach dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist (vgl. Hobbes 2017 [1642]: 7), überhaupt Geltung beanspruchen kann.70 Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so rüttelt besagte Passage aus Eldorado an den Grundsätzen der Notwendigkeit der Regierung des Menschen und somit in letzter Instanz an der politischen Verwaltung seines Lebens. An diesem Beispiel scheint sich das besondere Vermögen von Literatur zu zeigen, bereits durch vermeintliche Details der erzählten Handlung Räume der Reflexion aufzutun, die zu einer Neuformulierung selbst kanonisierter Auffassungen führen können.71 Bei den anderen Fällen, in denen Soleiman sich und seine Mitstreiter*innen als Tiere bezeichnet, handelt es sich um eindeutig negative Selbstbeschreibungen im Zuge von Gewaltausübung oder mangelnder Solidarität untereinander. Nachdem korrupte Schlepper Soleiman seines mageren Besitzes beraubt haben (vgl. Gaudé 2009: 118-121), lernt er auf der Fahrt nach Ghardaïa einen Händler kennen, der ihm
70
71
Hobbes vertritt in De Cive u.a. mit dem vielzitierten Satz »Homo homini Lupus« (Hobbes 2017: 6) die Meinung, dass der Naturzustand des Menschen die Ausübung von Gewalt gegen andere sei, weshalb es für ein friedliches Zusammenleben Verträgen und letztlich der Regierung durch eine souveräne Instanz bedürfe: »Der Mensch ist dem Menschen ein Gott und Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. […] Im ersten Fall nähert man sich mit Gerechtigkeit und Hochschätzung den Tugenden des Friedens, der Ähnlichkeit mit Gott; im zweiten Fall müssen selbst die Guten, wenn sie sich schützen wollen, wegen der Verkommenheit der Bösen Zuflucht nehmen bei der Tugend des Krieges, der Gewalt und der List, d.h. bei der Raubsucht eines wilden Tieres.« (ebd.: 7) Weiterhin schreibt Hobbes: »Meiner Meinung nach habe ich […] die Notwendigkeit der Einhaltung von Verträgen und der Bewahrung des Vertrauens erwiesen und daher die Elemente der sittlichen Tugend und der bürgerlichen Pflichten dargelegt.« (ebd.: 15) Besagte Szene aus Eldorado kann insofern als literarisches Beispiel für den Übergang zwischen den Staatstheorien von Thomas Hobbes und Jean Jacques Rousseau gelesen werden. Rousseau äußert in Du Contract Social nämlich die Ansicht, dass der natürlichste Instinkt des Menschen zwar jener der Selbsterhaltung sei (vgl. Rousseau 1964 [1762]: 352), lehnt aber gleichzeitig ein rein physisches und somit unmoralisches »droit du plus fort« (ebd.: 354) ab. Vielmehr betont er den Willen des Volks, sich gleichberechtigt und zum Ziele des Allgemeinwohls in einem »contract social« (ebd.: 360) zu organisieren, womit Rousseau im Vergleich zu Hobbes nicht grundlegend von einer gewalttätigen Natur des Menschen ausgeht und überdies die Bedeutung und Befugnisse des Souveräns bzw. der souveränen Instanz schmälert, da auch diese ihren Teil des Vertrags mit der Gesellschaft einhalten und im Sinne des Allgemeinwohls handeln muss (vgl. ebd.: 359, 362-364, 368-375). Die Szene des Ansturms auf Ceuta in Gaudés Eldorado, in der zunächst jeder für sich um eine bessere Zukunft in Europa zu kämpfen scheint, bevor sich letztlich doch eine Geste der Solidarität zwischen Freunden ereignet, kann somit als Beispiel für eben jene Unterschiede zwischen den Theorien Hobbes und Rousseaus betrachtet werden, wodurch das Vermögen von Literatur deutlich wird, auch die Koexistenz unterschiedlicher und sich mitunter widersprechender philosophischer Ausrichtungen auszuloten.
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glücklich von seinen guten Geschäften berichtet (vgl. ebd.: 142f.). Völlig unvermittelt überwältigt Soleiman den Händler während einer Rast und raubt ihn aus, um sich und Boubakar die Weiterfahrt zu finanzieren (vgl. ebd.: 145f.). Nach dieser Transgression, diesem symbolischen Grenzüberschritt, der vehement gegen sein persönliches Wertesystem verstößt, bezeichnet Soleiman sich mehrfach als Bestie: »J’ai volé. […] Je suis une bête qui fait mordre la poussière à ceux qu’elle croise. Je suis une bête charognarde« (ebd.: 146). Ähnlich verhält es sich, als die Migrierenden bei Ceuta den Ansturm planen und Soleiman und Boubakar sich schwören, dass jeder für sich allein kämpfen wird. Auch dies widerspricht Soleimans Ethik und er fragt sich, ob Migration notwendigerweise mit einem Werteverlust einhergehen muss: Nous allons courir comme des bêtes et cela me répugne. Nous allons oublier les visages de ceux avec qui nous avons partagé nos nuits et nos repas pendant six mois. […] Je lui promets d’oublier qui je suis. D’oublier que cela fait huit mois qu’il veille sur moi. Le temps de l’assaut, nous allons devenir des bêtes. Et cela, peutêtre, fait partie du voyage. […] [S]i je réussis à passer, qui sera l’homme de l’autre côté? Et est-ce que je le reconnaîtrai? (ebd.: 180f.) Die Migration schreibt sich nicht nur physisch in die Körper der Migrant*innen ein (vgl. 5.2.2.1, 5.2.2.2), sondern verändert sie auch in persönlicher Hinsicht, da sie gezwungen sind, Empathie und Moral auszublenden, um auch nur eine Chance zu haben, ihr Ziel zu erreichen. Eine solche komplexe Konstruktion der (migrierenden) Figuren, welche die moralisch verwerflichen Seiten ihrer Menschlichkeit nicht unterschlägt, ist einerseits nach Ottmar Ette (vgl. 2010: 28f.) Ausdruck des Lebenswissens eines Textes und scheint andererseits die erzählte Desubjektivierung und biopolitische Kategorisierung der fiktionalen Migrant*innen literarisch zu unterminieren. Die letzte Form der textuellen Dehumanisierungen, die in Eldorado ausgemacht werden können, ist eine Masse-Semantik, im Rahmen derer die entindividualisierten Einwander*innen zu einer anonymen Menge verschwimmen, wodurch sich eine Parallele zu der in Assommons les pauvres! beschriebenen Verwaltung des Lebens im Dispositiv Asylsystem ergibt (vgl. 5.2.1.1). In Gaudés Roman manifestiert sich diese Rhetorik u.a. in der häufigen Verwendung des Worts foule, das mindestens fünfzehn Mal in der Beschreibung von Migrierenden vorkommt,72 sowie von ähnlichen Begriffen und Formulierungen. Als Salvatore Piracci sich etwa an den Moment erinnert, in dem er während eines Rettungseinsatzes die Migrant*innen an Bord der Vittoria entdeckte, beschreibt der Erzähler die Szenerie wie folgt: »Un bateau rempli d’émigrants. Des centaines d’hommes et de femmes […]. [I]ls furent face à
72
Vgl. Gaudé 2009: 22 2x, 25, 58, 144, 151 2x, 152, 177, 192, 201, 203 3x, 206.
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un amas d’hommes en péril […]. Il se souvenait encore de cette forêt de têtes immobiles. […] Il y en avait partout.« (Gaudé 2009: 16f.) Die Migrierenden treten im Roman selten als Individuen auf und als Soleiman sich nahe Ceuta in ein Dorf begibt, um dort zu betteln, stellt sich heraus, dass sogar er jene Rhetorik verwendet: Le plus souvent ils ne donnent rien. Nous sommes trop. Partout, dans les rues, les collines. […] Certains jours nous sommes si nombreux le long des murs de la ville qu’il vaut mieux repartir tout de suite. Non seulement les Marocains ne donnent rien, mais ils s’énervent de notre nombre. (ebd.: 173) Soleiman scheint die Diskurse jener verinnerlicht zu haben, die ihre Toleranz aufgrund der Menge an Migrant*innen in ihrem Umfeld strapaziert sehen. In diese Masse-Semantik reiht sich auch das Wortfeld der Naturkräfte bzw. Naturkatastrophen ein, mit dem die Einwander*innen als »fleuve d’émigrants« (ebd.: 137), »une vague nombreuse« (ebd.: 182) oder als »marée humaine« (ebd.: 202) bezeichnet werden. Es wird ersichtlich, dass es sich, wie schon bei der Reduzierung der Migrierenden auf ihre Körper und dem Wortfeld des Spektralen, sowohl um Fremdzuschreibungen als auch um Selbstbeschreibungen handelt, die durch die desubjektivierenden Dynamiken des Migrationsdispositivs generiert werden.
5.2.3 5.2.3.1
Die Ökonomisierung des Subjekts im Migrationsprozess Neokoloniale Ausbeutung und die Ökonomisierung migrierenden Lebens durch Regierungen und illegale Organisationen
Die im Verlauf dieser Studie mehrfach konturierte Verquickung von Biopolitik und Ökonomie drückt sich in den analysierten Werken durch eine Ökonomisierung des Lebens migrantischer Figuren durch verschiedene Akteure vor, während und nach ihrer Migration aus. Die Ökonomisierung des menschlichen Lebens kann als eine Form der Desubjektivierung verstanden werden, wenn Menschen in einem System der Nutzbarmachung entweder ausschließlich als Arbeitskräfte betrachtet oder auf eine bloße Werteinheit reduziert werden (vgl. Borsò 2013: 16-22). Im Kontext von Migration sind es insbesondere illegale Organisationen, die Profit aus Leid und Hoffnung schlagen. Allerdings kann die bioökonomische Nutzbarmachung des Lebens (vgl. Marazzi 2013: 39-42) auch eine Migrationsursache darstellen, wenn neokoloniale Strukturen in der Heimat zu Verhältnissen der Ausbeutung führen. So ist das menschliche Leben in Tahar Ben Jellouns Partir Ökonomisierungsstrategien vonseiten europäischer Unternehmen ausgesetzt, was sich an Malika exemplifiziert, die in einem Netz bioökonomischer und neokolonialer Dynamiken zu einer austauschbaren Arbeitskraft wird. Malika arbeitet, wie viele Mädchen und junge Frauen in ihrem Umfeld, in einer niederländischen Fabrik im Hafen von Tanger, wo sie in langen Schichten und bei niedrigen Temperaturen für einen mageren Lohn Meeresfrüchte schält (vgl. Ben Jelloun 2007: 122f.). Zum einen arbeiten in der
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Fabrik vorrangig Mädchen, welche die Schule nicht weiter besuchen dürfen oder können und stattdessen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen sollen, womit die Benachteiligung von Mädchen im Zugang zu Bildung thematisiert wird: »Quand elle eut quatorze ans, le père de Malika considéra qu’elle en avait appris assez comme ça.« (ebd.: 121) Ein weiterer Grund für den hohen Anteil an Mädchen und jungen Frauen in dieser Tätigkeit ist offenbar ihr Körperbau: Ihre kleinen Hände und schmalen Finger sind vermeintlich besser geeignet, Meeresfrüchte zu schälen, als die größeren, kräftigeren Hände eines Mannes (vgl. ebd.: 122, Marchi 2014: 612). Die Arbeit in der Fabrik ist somit gleich in zweierlei Hinsicht gegendert und hat unmittelbar mit der Anatomie der überwiegend weiblichen Arbeiterinnen zu tun – eine Feminisierung des foucaultschen »homo œconomicus« (Foucault 2004b: 272). Die Ökonomisierung ihrer Weiblichkeit schreibt sich in die femininen Körper und ihre Bewegungen ein, denn die Arbeit in der Fabrik, die »gestes mécaniques« (Ben Jelloun 2007: 122), die Malika Tag für Tag ausführen muss, ohne auch nur den Kopf zu heben, rauben ihr die Lebenslust: »[E]lle n’avait plus goût à rien« (ebd.: 123). Sie arbeitet schweigend vor sich hin, ähnlich einer Maschine, doch irgendwann rebelliert ihr Körper, sie friert, kann ihre Finger kaum mehr spüren. Schließlich erkrankt sie an einer Lungenentzündung und stirbt mangels medizinischer Versorgung im Krankenhaus (vgl. ebd.: 122f.). Im Roman wird geschildert, dass die Mädchen und jungen Frauen im Durchschnitt lediglich sechs Monate in der Fabrik beschäftigt bleiben, bis sie zu schwach oder zu krank sind, um weiterzuarbeiten (vgl. ebd.: 123). Es wirkt, als würden die Mädchen als Arbeitskräfte ›verbraucht‹ und ihre Erkrankungen in Kauf genommen, da ohnehin weitere günstige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Die niederländische Fabrik in Partir ist somit ein beinahe paradigmatisches Beispiel für neoimperialistische, bioökonomische Ausbeutung, deren Strukturen sich aus ökonomischen, juristischen und politischen Gründen in teils absurden Waren- und Kapitalströmen über den gesamten Globus erstrecken: Malika s’en alla décortiquer les crevettes dans l’usine hollandaise installée dans la zone franche du port. Des camions frigorifiques y apportaient chaque jour des tonnes de crevettes cuites pêchées en Thaïlande et passées par les Pays-Bas où on les traitait pour la conservation. Arrivées ici, de petites mains avec des doigts fins les décortiquaient jour et nuit. De là, elles repartaient vers une autre destination où on les mettait en boîtes de conserve avant de les déverser finalement sur le marché européen. (ebd.: 122) Wie Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2001: 31f.) ausführen, sind es gerade mächtige globale Unternehmen wie jenes fiktionale, das die Fabrik besitzt, in der Malika arbeitet, welche die biopolitische Produktion von Territorien und der dort lebenden Gesellschaft vorantreiben (vgl. 2.5.1). Das Ineinander von ökonomischen und politischen Dynamiken hat so in der kolonialen Vergangenheit Marokkos die
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von verschiedenen europäischen Staaten und den USA verwaltete Freihandelszone Tangers geschaffen, die von 1923 bis 1956 existierte und den Hafen der Stadt auch darüber hinaus zu einem Drehkreuz des internationalen Handels machte (vgl. Ogle 2020: 220-222).73 Ben Jellouns Roman thematisiert insofern fiktional, wie die Ansiedlung globaler Großunternehmen und ihr Bedarf an Arbeitskräften in einer Verschärfung gesellschaftlicher Phänomene wie Kinderarbeit oder dem beschränkten Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung resultieren kann. Im Falle Malikas werden die Ökonomisierung ihres Körpers und die Umstände ihrer Tätigkeit zu Migrationsursachen, denn in ihren Träumen von einem besseren Leben in Europa muss das Mädchen nicht länger arbeiten, sondern kann zur Schule gehen (vgl. Ben Jelloun 2007: 149f.). Im Gegensatz zu Malika, für die die Ausreise ein Traum bleibt, treten zahlreiche Figuren in den analysierten Werken die Reise nach Europa tatsächlich an. Ein wiederkehrendes Motiv in den betreffenden Schilderungen und ein beinahe omnipräsentes Thema in den gegenwärtigen Debatten um Migrationsbewegungen ist die Ökonomisierung des Lebens von Migrant*innen durch illegale Organisationen. Die Rolle von Schleuserringen und mafiösen Strukturen im Migrationsdispositiv wird insbesondere von Shumona Sinha, Laurent Gaudé und Éric-Emmanuel Schmitt thematisiert. In Assommons les pauvres! beginnt die wirtschaftliche Ausnutzung der Not der Migrant*innen bereits in der Heimat, sobald sie den Entschluss fassen, ihr Land zu verlassen und sich an Schleuserorganisationen wenden, die ihnen gefälschte Pässe sowie die illegale und nicht selten lebensgefährliche Reise nach Europa verkaufen. In einem Gespräch zwischen der Protagonistin und einer Mitarbeiterin der Migrationsbehörde äußert letztere außerdem die Vermutung, dass die Asylantragstellenden die Geschichten, die sie während ihrer Anhörungen vortragen, gleich mit erwerben: – Nous faisons la chasse à ceux qui franchissent la frontière. Mais ceux qui les font venir, les font travailler au noir, ceux qui ont monté cette machine à esclaves? […] On les fait venir pour la main-d’œuvre. Et qui c’est qui se remplit les poches? Vous le devinez bien! En les faisant payer pour le passeport, pour le trajet, pour le récit aussi. – Vous voulez dire qu’ils achètent aussi leurs récits?! Elle hausse les épaules. Et les sourcils. C’est évident. Elle ne le dit pas mais je l’entends bien. (Sinha 2012: 31f.)
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Obwohl die Wirtschaftsleistung des Hafens von Tanger nach der Unabhängigkeit Marokkos zeitweise einbrach (vgl. Ogle 2020: 222), beheimatet die Küstenstadt seit der Eröffnung zweier weiterer Terminals im Hafen Tanger Med im Jahr 2019 den Hafen mit der größten Kapazität im gesamten Mittelmeerraum (vgl. Neue Zürcher Zeitung 2019).
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Die Ausbeutung der Menschen endet bei Sinha allerdings nicht mit deren Ankunft in Europa. Einerseits wird im obigen Auszug vermutet, dass die Schleuser von Beginn an die Intention haben, die Eingewanderten in prekäre und rechtswidrige Arbeitsverhältnisse einzugliedern und sie ggf. mit falschen Versprechungen zur Ausreise ermutigen. Andererseits geraten die Menschen nach ihrer Ankunft häufig ohne fremdes Zutun in derartige Situationen, da ihr Aufenthaltsstatus die Aufnahme einer regulären Tätigkeit nicht erlaubt, sie aber für die Reise aufgenommene Schulden abbezahlen oder ihren zurückgebliebenen Familien Geld schicken müssen. Die prägnanteste Beschreibung dieser Strukturen findet sich in der folgenden Passage, in der ein Asylsuchender von dem Adam-byapari, dem Menschenhändler, berichtet: Alors les hommes ont voulu partir. Ils ont appris à nager. Ils remplissaient d’air leurs poumons et plongeaient dans l’eau. Les passeurs les guidaient jusqu’à l’autre rive. Corrompu, visqueux, misérable livre de la jungle. De port en port, leurs frères lointains les attendaient, empochaient l’argent, les faisaient embarquer dans des bateaux, dans des avions. Le filet était de fer. Les immigrés y étaient pris comme des poissons rutilants qu’on transférait et vendait de marché en marché. Ce sont les esclaves du nouveau millénaire […]. Adam-byapari, nous a dit un jour un de ces hommes. Je traduisis, marchand d’hommes […]. On a retrouvé cet Adam-byapari dans d’autres récits. C’est celui qui a une dizaine de business légaux et d’autres cachés. Celui qui est dans l’immobilier, dans le tourisme, dans l’industrie du fer et de l’acier, celui qui a servi d’intermédiaire pour l’achat du SIG29, le navire de guerre de la Russie. C’est un de ses nombreux business d’envoyer des hommes à l’étranger, de vendre des hommes. Disait le requérant. Des hommes qui sont de maigres machines à sous, des vaches à lait; des bouches avides les attendent dans leurs pays. La faible aide sociale qu’ils touchent dans les pays européens est une aubaine pour leur famille. Ces hommes une fois vendus, marché conclu, étaient dispersés et infiltrés dans des villes d’Europe. (ebd.: 41f.) Die verwendete Rhetorik bringt die Betrachtung der Migrant*innen als bloße Werteinheit, als eine Art Ware, deutlich zum Ausdruck: Sie werden mit Fischen verglichen, welche in die eisernen Netze des Menschenhandels geraten, aus denen sie sich nicht mehr befreien können. Daraufhin werden sie von Ort zu Ort transportiert und verkauft, fristen fortan ein sklavenähnliches Dasein. Wie die Asylsuchenden der Erzählerin berichten, stehen hinter diesen Strukturen Großunternehmer, die unter dem Deckmantel einiger legaler Firmen illegale Geschäfte auf Kosten der ›exportierten‹ Arbeitskräfte unterhalten. In Assommons les pauvres! entstehen somit verquere neokoloniale Dynamiken, im Rahmen derer nicht nur Firmen ihre Produktionsprozesse aus Kostengründen in sogenannte Entwicklungsländer umsiedeln, sondern die subalternen Arbeitnehmer*innen mittels illegaler Migration nach Europa gebracht, sozusagen dorthin ›verkauft‹ werden
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und dafür auch noch selbst zahlen. Wie Hardt und Negri in Empire darlegen (vgl. Hardt/Negri 2001: xiii, 263f., 333-335, 362f.), führen die postmodernen Dynamiken der neuen, politisch-wirtschaftlichen Weltordnung zu einer grenzübergreifenden Ökonomisierung menschlichen Lebens und zu einer Verschmelzung oder Überlagerung der sogenannten Ersten und Dritten Welt74 : The adequate domain for the application of capitalist command is no longer delimited by national borders or by the traditional international boundaries. Workers who flee the Third World to go to the First for work or wealth contribute to undermining the boundaries between the two worlds. The Third World does not really disappear in the process of unification of the world market but enters into the First, establishes itself at the heart as ghetto, shantytown, favela, always again produced and reproduced. In turn, the First World is transferred to the Third in form of stock exchanges and banks, transnational corporations and icy skyscrapers of money and command. (ebd.: 253f.) Besonders frappierend im obigen Zitat ist die Aussage, dass die Personen hinter diesen illegalen Strukturen derart einflussreich sind, dass sie seitens der Politik in milliardenschwere internationale Waffenkäufe involviert werden. Die Passage aus Sinhas Autofiktion ist insofern beispielhaft für die von Hardt und Negri beobachtete, zunehmende Verflechtung von Politik und Ökonomie im Empire. Die Ökonomisierung menschlichen Lebens im Migrationsdispositiv ist auch in Laurent Gaudés Eldorado eine besonders präsente Thematik.75 In den weit verzweigten Machtnetzen von Schleuserorganisationen, auf ihren Booten und in ihren Lastkraftwagen wird das biologische Leben im Roman Gegenstand von KostenNutzen-Kalkulationen und logistischen Abläufen (vgl. Boubaker 2014: 165), was sich textuell in Form einer ökonomischen Terminologie und semantisch entmenschlichender Tendenzen niederschlägt. Auf inhaltlicher Ebene werden in diesem Zusammenhang vorrangig die Abhängigkeit der Migrierenden von den Schleuserringen und ihre stark eingeschränkte Handlungsfähigkeit betont. Bereits im ersten Kapitel von Eldorado zeichnen sich diese Thematiken und Rhetoriken in dem Bericht der Frau ab, die Piracci Jahre zuvor von dem havarierten Schiff Vittoria ge74
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Es sei darauf hingewiesen, dass Hardt und Negri die Begriffe ›Erste Welt‹ und ›Dritte Welt‹ nicht unkritisch verwenden. Vielmehr vertreten sie an mehreren Stellen von Empire die Ansicht, dass es sich dabei um diskursive Konstrukte handelt, die aus einer eurozentrischen Perspektive sowie unter Einfluss von Kolonialismus, Imperialismus und den Spannungen des Kalten Kriegs entstanden sind. Dieser »Third Worldism« (Hardt/Negri: 2001: 264) transportiere ein vereinfachtes, dichotomisches Weltbild, in dem die Erste Welt Ort von Innovation und Fortschritt ist, während die Dritte Welt als unterentwickelt und abhängig dargestellt werde (vgl. ebd.: 264, 333-335, 362f.). Laut Boubaker (vgl. 2014: 165) ist Menschenhandel in Gaudés Romanen ein wiederkehrendes Motiv, dem er sich bereits in Le Soleil des Scorta (2004) widmet.
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rettet hatte. Die Eingewanderte beschreibt rückblickend, wie sie gemeinsam mit anderen Migrant*innen zum Hafen gebracht wird und an Bord eines Bootes geht. Die wirtschaftlich-logistische Wortwahl der Episode verdeutlicht unmittelbar das Vorgehen der Schleuser*innen, die im Sinne der ›Gewinnoptimierung‹ rücksichtslos versuchen, eine maximale Anzahl an Personen zu transportieren, ungeachtet der menschenunwürdigen und lebensgefährlichen Zustände, die daraus resultieren: »On la fit attendre sur le quai […]. Les camionnettes ne cessaient d’arriver. Il en venait de partout, déposant leur chargement humain et repartant dans la nuit. La foule croissait sans cesse. Tant de gens.« (Gaudé 2009: 25) Während der Überfahrt wird der Platzmangel auf dem Boot mehrfach betont, »ils ne tardèrent pas à être serrés les uns contre les autres« (ebd.: 25), »les corps, autour d’elle, la pressaient sans cesse davantage« (ebd.: 26), und das Motiv der Enge begleitet auch Soleiman auf seiner Reise fortwährend (vgl. ebd.: 115-117): Nous sommes une trentaine sur le camion. Il y a des hommes partout. Certains sont assis à l’intérieur, d’autres allongés sur le toit, accrochés au porte-bagages. Il en est même qui voyagent debout, sur les marchepieds. C’est une sorte de caravane surchargée qui fait un bruit d’usine en surchauffe. (ebd.: 141) Der Vergleich mit einer Fabrik hebt die ökonomische Natur des Menschenhandels, dessen »logique commerciale« (ebd.: 32) hervor und reduziert die Migrierenden auf ein Element eines technischen Ablaufs, auf etwas rein Materielles. Dies implizieren auch der Ausdruck »chargement humain« (ebd.: 25) im obigen Zitat sowie weitere Formulierungen in den Berichten der Figuren (vgl. ebd.: 117, 150). Wie wenig das Leben der transportierten Personen den Schleuser*innen tatsächlich bedeutet, macht die Geschichte der »femme du Vittoria« (ebd.: 55) erschreckend deutlich, da sie gemeinsam mit anderen Migrant*innen auf einem seeuntauglichen Schiff ohne Wasser oder Nahrung zurückgelassen wird (vgl. ebd.: 26-29). Auch Soleiman macht wiederholt die Erfahrung, den Menschenhändler*innen hoffnungslos ausgeliefert zu sein. So werden er und seine Mitreisenden in einer verlassenen Gegend von den Schlepper*innen ausgeraubt, geschlagen und ohne Wasser zurückgelassen: »C’est certain maintenant: il n’y aura ni bateau ni traversée. Nous ne sommes nulle part et ils vont faire de nous ce qu’ils veulent. […] [N]os vies n’étaient rien.« (ebd.: 118) Als Soleiman aus der Bewusstlosigkeit erwacht, ist nur noch Boubakar an seiner Seite, lediglich einige Spuren im Sand erinnern an die dramatischen körperlichen Auseinandersetzungen. Dem Protagonisten wird klar, dass Migrierende wie er den Schleuser*innen ausgeliefert sind, da sie ein nacktes Leben in Anonymität und Gesetzlosigkeit führen und es niemals Zeugen für die Verbrechen gibt, die sie erleiden müssen (vgl. ebd.: 121). Jene Ökonomisierung des biologischen Lebens findet sich auch in den Diskursen der reine d’Al-Zuwarah wieder, einer Frau an der Spitze eines Schleuserimperiums, der Salvatore Piracci in Libyen begegnet. Sie steht Soleiman, der von der
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Vittoria geretteten Frau und bis zu dessen Austritt aus der Küstenwache auch Kapitän Piracci im Kräftenetz des Migrationsdispositivs diametral gegenüber. Sie repräsentiert im Roman jene Kräfte, durch die Migrant*innen ausgebeutet und auf dislozierbare Einheiten reduziert werden. Sie tritt jedoch nicht nur als gefühlskalte Geschäftsfrau auf, schlimmer noch, sie gibt heuchlerisch vor, den Migrierenden einen Gefallen zu tun, indem sie ihnen die Überfahrt ermöglicht (vgl. ebd.: 166). In ihrem Diskurs schwingt jedoch keinerlei Interesse an den Menschen, keine Spur von Altruismus mit, er ist ausschließlich wirtschaftlich geprägt: Je fais du commerce. Je suis riche. […] Je suis à la tête du plus grand réseau de passeurs de la région. D’Al-Zuwarah à Tripoli, tous ceux qui veulent partir pour l’Europe passent entre mes mains. […] Je fais du commerce. J’ai une affaire qui marche. Je fais vivre beaucoup de monde autour de moi. Je suis généreuse (ebd.: 163). Die Wiederholung des Satzes »Je fais du commerce« ist bezeichnend. Für eben jenes Geschäft möchte sie nun Salvatore Piracci gewinnen, da er durch seine Vergangenheit als Kapitän der italienischen Küstenwache über Wissen verfügt, das für ihre illegalen Machenschaften wertvoll sein könnte. Sie wittert die Möglichkeit der Gewinnsteigerung, da Piracci weiß, wie man die Boote der Küstenwache umgeht und als Europäer das Vertrauen ihrer »clients« (ebd.: 166) steigern könnte. Sie verfolgt somit das Ziel, sein Wissen und seine europäische Herkunft wirtschaftlich zu nutzen. Wie schon in Assommons les pauvres! wird überdies auch in Eldorado von engen Verbindungen zwischen Menschenhändlerringen, Geschäftsleuten und der Politik berichtet. Die anonyme, von Piracci gerettete Frau äußert im Gespräch mit dem Kapitän die Vermutung, dass es dem Chef des Schleuserrings bei der Organisation der Überfahrt nicht vorrangig auf Profit angekommen wäre, sondern die Migrationsbewegungen in Richtung Europa als politisches Druckmittel benutzt würden: Chaque place à bord a coûté trois mille dollars. Moi, j’ai dû payer quatre mille cinq cents dollars à cause de l’enfant. L’équipage était composé pour la plupart de Libanais. Et le bateau a été affrété par un dénommé Hussein Marouk. Un homme d’affaires véreux proche des services secrets syriens. Quand je dis affrété, commandant, cela signifie que c’est lui, Hussein Marouk, qui a trouvé le bateau, l’a acheté et l’a mis à disposition des passeurs, moyennant un pourcentage sur les bénéfices. C’est lui qui a fixé le nombre de passagers qu’il fallait et qui a donné l’ordre d’abandonner le navire. Car c’était convenu ainsi. Les hommes qui nous ont fait monter à bord savaient qu’ils nous abandonneraient en pleine mer. Savez-vous la raison pour tout cela, commandant? Ce n’est même pas le profit. Au contraire. Une opération comme celle-ci va à l’encontre de la logique commerciale. Le navire est perdu. Si Hussein Marouk avait été un simple passeur, il aurait ordonné
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à l’équipage de nous déposer le plus vite possible puis de revenir pour charger à nouveau le bateau. Combien d’hommes font en ce moment des fortunes colossales avec ce trafic? Mais ce n’est pas ce que voulait Hussein Marouk. Il voulait que nous dérivions. Il voulait que nous nous échouions sur une plage européenne et que cela fasse la une des journaux. C’est un combat politique: l’Europe hausse le ton contre la mainmise de la Syrie sur le Liban, en réponse Damas affrète un navire de crève-la-faim qu’il lance à l’assaut de la forteresse européenne. On pourrait presque appeler cela du langage diplomatique. C’est cela que disait le Vittoria aux autorités européennes: Laissez-nous tranquilles ou nous nous faisons fort de vous envoyer un Vittoria par semaine. […] Ils nous ont envoyés sur la mer comme on envoie à son ennemi un paquet contenant un animal mort. (ebd.: 32f.) Bei besagtem Handlungselement von Gaudés Roman scheint es sich um Biopolitik im wortwörtlichen Sinne zu handeln: Die fiktionalen Migrant*innen werden im Kräftefeld der internationalen Politik als ›Spielbälle‹ missbraucht, ihr Leben wird willentlich zu politischen Zwecken riskiert. Jenseits der literarischen Fiktion existieren ähnliche Theorien allerdings auch in der extraliterarischen Realität. In diesem Zusammenhang hat sich die von Kelly M. Greenhill verfasste Studie Weapons of Mass Migration. Forced Displacement, Coercion, and Foreign Policy (2010) hervorgetan, in der die Autorin zahlenstarke Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte u.a. aus dem Kosovo, Kuba und Haiti, im Hinblick auf eine eventuelle politische Steuerung hin prüft. Das Buch gewann 2011 den International Studies Association Best Book Award und erfuhr internationale Aufmerksamkeit (vgl. Paoletti 2011: 421f.).76 Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt Gregor Schöllgen eine durchaus kritische Rezension, bestätigt aber Greenhills grundlegende These: Ob Frau Greeenhill das aus wenigen Literaturhinweisen gewonnene Bild richtig zeichnet, sei dahingestellt. Außer Frage steht, dass der Einwanderungsdruck in den betroffenen Staaten nicht selten genutzt wird, um nach innen wie außen Forderungen durchzusetzen, die mit dem eigentlichen Thema wenig oder nichts zu tun haben. Außer Frage steht auch, dass in aller Regel die den Exodus forcierenden Akteure das Geschehen bestimmen. In fast drei Viertel der hier untersuchten Fälle waren sie damit jedenfalls teilweise erfolgreich, und zwar entweder auf dem direkten Weg, nämlich durch die Überforderung der Aufnahmekapazitäten in den 76
In seiner deutschen Übersetzung Massenmigration als Waffe. Vertreibung, Erpressung und Außenpolitik (2016) ist das Buch im Kopp Verlag erschienen. Die formulierte Zielsetzung des Verlags und die Titel weiterer durch ihn verlegter Bücher sind Beispiele der naheliegenden Gefahr, dass Greenhills Studie Anklang in konspirationstheoriefreundlichen Kreisen finden könnte (vgl. kopp-verlag.de). Die Autorin ist in den USA jedoch eine anerkannte Wissenschaftlerin, die an namhaften Institutionen promovierte, lehrt und forscht und war als Beraterin u.a. für die Vereinten Nationen sowie für das UNHCR tätig (vgl. https://as.tufts.edu/p oliticalscience/people/faculty/kelly-greenhill).
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Zielländern oder aber durch eine mehr oder weniger kaschierte Erpressung, die sich deren moralische oder auch gesetzliche Verpflichtung zur Aufnahme verfolgter Menschen zunutze macht. (Schöllgen 2011) Weitere Artikel der Tagespresse (vgl. Güsten: 2011, Kellerhoff: 2015, Salloum 2019) befassen sich mit Migration als politischem Druckmittel in unterschiedlichen historischen Kontexten. Diese Publikationen können, ebenso wie Greenhills Studie und jeder andere journalistische oder wissenschaftliche Text, freilich verschiedenen Formen der Kritik unterzogen werden, etwa des Vorwurfs einer subjektiven Einfärbung oder, wie im obigen Zitat von Schöllgen, eines lückenhaften Nachweises der recherchierten Informationen. Letztlich haben aber verschiedene Vorkommnisse in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Migration zum Politikum geworden ist, wovon etwa das seit 2016 zwischen der Europäischen Union und der Türkei bestehende Flüchtlingsabkommen zeugt (vgl. Cremer 2017). Immer wieder droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seither, die Grenzen zu öffnen und die in der Türkei befindlichen Flüchtenden in die EU einreisen zu lassen, wenn letztere sich kritisch über innen- oder außenpolitische Handlungen seiner Regierung äußert (vgl. Hermann 2020, Zeit Online 2019, Süddeutsche Zeitung 2019a). In einem weiteren Beispiel hat Ende 2021 die belarussische Regierung gezielt die Einreise Flüchtender nach Belarus beworben, um die Menschen an die EU-Außengrenze Polens zu transportieren und Druck auf die EU auszuüben, ihre Sanktionen gegen Belarus aufzuheben (vgl. Deutschlandfunk 2021). Schöllgen (vgl. 2011) weist in der FAZ außerdem auf die problematische Beziehung zwischen der Europäischen Union und dem ehemaligen libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi hin, deren Annäherung ab 2004 u.a. auf dem libyschen Versprechen fußte, die Migrationsströme aus Afrika in Richtung Europa einschränken zu wollen. In Gaudés Eldorado werden diese Dynamiken insofern fiktional aufgegriffen, als Soleimans Freund Boubakar die Entscheidung fasst, von einer Überquerung des Mittelmeers von Libyen aus abzusehen und stattdessen zu versuchen, eine der Grenzen zu den spanischen Enklaven auf dem afrikanischen Kontinent zu überwinden: »Il va devenir de plus en plus difficile de passer par la Libye. […] Les temps changent. Aujourd’hui, les Libyens veulent se faire bien voir des Italiens. Alors ils vont nous rendre la vie impossible.« (Gaudé 2009: 121) Eine Zusammenarbeit besteht in Eldorado auch zwischen marokkanischen und spanischen Grenzschützer*innen bei Ceuta, wodurch sich binationale Immunisierungsmechanismen ergeben (vgl. ebd.: 173-181). Abkommen mit nordafrikanischen Staaten wie Marokko und Algerien sollen in der extraliterarischen Realität die Migrationsroute über das Mittelmeer unterbinden und kreieren in der Folge neue Probleme, wie etwa das Aussetzen afrikanischer Migrant*innen in der Sahara durch algerische Sicherheitskräfte (vgl. Stock 2017, Süddeutsche Zeitung 2019b, Rößler 2020). In Eldorado wird dieses Phänomen ebenfalls thematisiert: »Les autres sont aux mains
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des Marocains. La nuit sera longue pour eux. Les coups meurtriront le visage. À moins qu’ils ne les aient déjà fait monter dans leur camion pour les emmener dans le désert algérien et les y lâcher, au milieu de nulle part.« (Gaudé 2009: 205) In diesen fiktionalen und realen Fällen greifen internationale politische Macht- und Interessenverhältnisse konkret in das Leben migrierender Menschen bzw. Figuren ein. Die Verwaltung biologischen Lebens in Form von dessen Auf- und Rücknahme, Rückführung oder Abwehr durch Grenzschutzorgane als Gegenleistung für finanzielle Hilfspakete, Entwicklungshilfe und andere Zahlungen bzw. Investitionen kann als biopolitische Ökonomisierung des Lebens eingestuft werden. Aus einer extraliterarischen Perspektive wirken die fiktionalen Schilderungen der von Piracci geretteten Frau somit nicht gänzlich abwegig. In Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad kommt der Protagonist Saad zweimal mit Schleuserorganisationen in Berührung, zunächst in Libyen und später in Italien. In Zuwarah77 suchen Saad und sein Freund Boub nach einer Möglichkeit, das Mittelmeer zu überqueren. Die beiden stoßen auf ein Camp aus dürftigen Behausungen, in dem Migrierende die Zeit bis zu ihrer Überfahrt verbringen. Saad schlägt vor, sich der Gruppe anzuschließen, um zu erfahren, bei wem man die Reise nach Europa kaufen kann. Boub ist jedoch dagegen, da er Bedenken hat, dass das Camp von der libyschen Polizei geräumt werden könnte. An dieser Stelle greift auch Schmitts Roman die zuvor beschriebenen, realen politischen Dynamiken zwischen der Europäischen Union und Libyen fiktional auf: – Kadhafi. Le président de la Libye reçoit des ordres de l’Occident. On le presse de jouer les gardes-côtes, de multiplier les contrôles et les descentes de police afin de débusquer les candidats au voyage. L’Europe doit rester une forteresse imprenable, protégée par ses murailles de flots. Puisque le jour tombe, couchons plus loin, dans les fossés. […] Cependant, au matin, je ne le regrettai pas. Boub avait eu raison! A sept heures, des voitures freinèrent devant le camp, des hommes en jaillirent qui, sans violence mais sans ménagement, évacuèrent le camp en chargeant les prisonniers dans des camions militaires. Après cela, ils seraient renvoyés chez eux ou placés en centre de rétention. (Schmitt 2016: 148f.)
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Die libysche Küstenstadt Zuwarah taucht sowohl in Schmitts Ulysse from Bagdad als auch in den Erzählungen Soleimans und Kapitän Piraccis in Eldorado als Transit-Ort der Migrationsbewegungen von Afrika nach Europa auf (vgl. Gaudé 2009: 85, 163f., Kapitel 5.3.2.1). Dass Zuwarah tatsächlich zu den libyschen Städten zählt, von denen aus die meisten Migrant*innen die Fahrt über das Mittelmeer antreten, belegt eine vom UNHCR publizierte Erhebung des Zentralen Italienischen Direktorats für Migration und Grenzschutz (vgl. Italian Central Directorate of Immigration and Border Police 2011: Folien 10f.).
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Nachdem sie also einer Verhaftung entgangen sind, finden Saad und Boub die richtigen Ansprechpersonen und handeln ihre Überfahrt nach Europa aus (vgl. ebd.: 149f.). Die Schilderung ihrer Zeit auf dem Boot weist Parallelen zum Bericht der Frau von der Vittoria in Eldorado auf. So glaubt Saad an einen Irrtum, als Boub und er sich zur verabredeten Uhrzeit im Hafen einfinden und dort die Größe des Boots mit der Anzahl der anwesenden Personen abgleichen. Der Protagonist denkt zunächst, dass einige der Ausreisewilligen würden zurückbleiben müssen, doch als immer mehr Menschen an Bord gehen, versteht er, dass sie auf einem vollkommen überfüllten Boot fahren werden und die beiden Freunde packt die Angst (vgl. ebd.: 150-152). Während der Überfahrt können die Menschen an Bord nicht schlafen, da sie nicht genug Platz haben, um sich hinzulegen, sie leiden unter Hunger, Durst und der Hitze. Von all dem unbeirrt folgt der Kapitän seiner Route, ignoriert die Schreie und das Stöhnen seiner Passagiere. In der Logik des Menschenhandels scheinen Körper und Leben getrennt voneinander betrachtet zu werden: Der Körper soll wie ein Objekt im Rahmen der geschlossenen Abmachung transportiert werden, ohne jegliche Garantie, dass er die Reise überlebt. Es handelt sich für die Schleuser*innen um einen logistischen Vorgang, der ihnen einen finanziellen Gewinn einbringt. Wie wenig sie das Leben von Migrant*innen tangiert, zeigt sich, als die Gruppe einen im Wasser treibenden Mann ausmacht, der offenbar von einem anderen überfüllten Boot gefallen ist. Saad geht davon aus, dass der Kapitän den Mann ansteuert, um ihn zu retten. Ohne die geringste Spur von Mitleid und Menschlichkeit navigiert der Schlepper jedoch um den Mann herum und lässt ihn zurück. Als Saad protestiert, droht der Kapitän ihm und macht mit einem menschenverachtenden Zynismus deutlich, dass er ausschließlich das tut, wofür er bezahlt wird: »Le crétin que tu as vu, c’est un crétin comme toi, un crétin qui est tombé d’un bateau comme celui sur lequel tu es, un crétin qui a payé quelqu’un d’autre que moi pour l’emmener à Lampedusa. Moi je ne suis pas responsable de lui, je n’en ai rien à foutre.« (ebd.: 153) Saads zweite Begegnung mit einer Schleuserorganisation in Italien bestätigt, dass ihre Mitglieder rücksichtslos Profit aus der Not von Migrant*innen schlagen und dabei mit großer Professionalität vorgehen (vgl. Haji Babaie/Rezvantalab 2018: 190f.). Über Umwege gelangt Saad nach Neapel, wo er schnell Zugang zu dem dortigen Schleusernetz findet: »A Naples, il suffisait de tourner autour de la gare pour pénétrer les réseaux et commerces des clandestins. […] Oh ce n’était pas le paradis, la gare de Naples, juste l’accès, sans ticket, à l’enfer« (Schmitt 2016: 208). Saad findet heraus, dass die Menschenschmuggler in der süditalienischen Stadt besonders perfide vorgehen: »Telle une agence de voyage« (ebd.: 209) bieten sie den verzweifelten Migrant*innen in einer Art ›Paket‹ nicht nur den Transport bis an die belgische Nordsee an, sondern gleich dazu eine Arbeit auf dem Schwarzmarkt, um die Reise zu bezahlen. Viele Migrant*innen, die es in dem Roman bis nach Südeuropa geschafft haben, haben bis dahin ihre finanziellen Mittel ausge-
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schöpft oder wurden ihrer beraubt und müssen sich das Geld für die Weiterfahrt verdienen. Somit willigt ein Großteil von ihnen ein, vier bis sechs Monate lang illegal in Neapel zu arbeiten, meist zu einem Hungerlohn und unter katastrophalen Bedingungen. Saad vermutet, dass die Mafia in diese Geschäfte involviert ist, da er gemeinsam mit anderen Migrant*innen nachts Edelmetalle wie Kupfer und Zink von Baustellen stehlen muss (vgl. ebd.: 208-211). Es ergeben sich Parallelen zu Shumona Sinhas Assommons les pauvres!, denn auch in Ulysse from Bagdad verdienen die Menschenhändler*innen nicht ausschließlich am Transport der Migrierenden, sondern beuten auch noch deren Arbeitskraft aus. Zudem wird auch in Schmitts Roman dargestellt, dass verschiedene Akteure des Migrationsdispositivs zusammenarbeiten, um die globalen Migrationsbewegungen politisch und ökonomisch möglichst effizient für ihre Interessen zu nutzen: Sind es bei Sinha und Gaudé Vertreter*innen des Staats, die mit Schleuserringen und den hinter ihnen stehenden Geschäftsleuten kooperieren, so ist bei Schmitt die italienische Mafia in die Geschäfte des Menschenhandels involviert. In den analysierten Werken wird somit deutlich, dass die Ökonomisierung und Politisierung migrierenden Lebens auf einem Schnittpunkt diverser politischer und finanzieller Interessen erfolgt.
5.2.3.2
Die Ökonomisierung von Eingewanderten durch die Aufnahmegesellschaft
Die in den analysierten Texten dargestellte Ökonomisierung von Migrant*innen erfolgt, wie bisher deutlich wurde, durch verschiedene Parteien des Migrationsdispositivs und endet nicht unbedingt mit der Ankunft im Zielland. Obgleich sich die migrierten Figuren aufgrund ihres rechtlichen und sozialen Status meist an den Rändern der Gesellschaft bewegen, sind sie in die ökonomischen Dynamiken letzterer häufig auf legale oder illegale Weise eingebunden und nicht selten tragen Eingewanderte in den untersuchten Werken maßgeblich zur funktionierenden Wirtschaft eines Staats bei. Diese paradoxen Zusammenhänge werden speziell gegen Ende von Delphine Coulins Samba pour la France thematisiert. Im Verlauf des Romans wird der Protagonist in den institutionellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen Frankreichs wiederholt als Mensch zweiter Klasse behandelt. Selbst unter Vorlage eines gültigen, wenn auch geliehenen oder gestohlenen Aufenthaltstitels, erfährt Samba keine Gleichberechtigung und hat lediglich Zugang zu Anstellungen, die besser gestellte Bürger*innen nicht annehmen würden. Er ist verbittert darüber, dass Eingewanderte wie er von Staat und Gesellschaft bestenfalls toleriert, meist jedoch zurückgewiesen und ausgeschlossen werden, obwohl sie wesentlich zu der Wirtschaftsleistung des Landes beitragen (vgl. Coulin 2014: 239f.). So arbeitet Samba gegen Ende der Handlung in einer Mülltrennungsanlage und die Scheinheilig-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
keit jenes Systems, das Menschen wie ihn ablehnt, sie jedoch für unbeliebte und unterbezahlte Tätigkeiten ausnutzt, macht die Hauptfigur zunehmend wütend: Hypocrisie. Il regardait les hommes face à lui qui triaient eux aussi des déchets. Officiellement interdits, mais officieusement employés, ils fournissaient une maind’œuvre commode, nombreuse et sous-payée, nécessaire à la bonne marche de l’économie générale. Dans la France souterraine, ils balayaient les rues, triaient les ordures, torchaient les vieilles dames, et nettoyaient les moquettes des bureaux la nuit pour que le jour, tout puisse fonctionner à merveille, comme si la crasse, la vieillesse, et les déchets n’existaient pas. Comme si eux-mêmes n’existaient plus. […] Il avait tout fait pour venir vivre ici, au temps où il avait de la France une image idéale. Il s’était même nié lui-même pour pouvoir y rester. (ebd.: 239) Besonders die letzten Sätze dieses Auszugs scheinen einen interpretativen Anschluss an Alessandro Dal Lagos Konzept der non-persone praktizierbar zu machen, welche für die Aufnahmegesellschaft schlicht nicht zu existieren scheinen, sodass sie irgendwann aufgrund dieser Marginalisierung und mangels Handlungsoptionen selbst ihre Identität und Existenz in Frage stellen (vgl. Dal Lago 2012: 207). Wie schon bei Shumona Sinha, Tahar Ben Jelloun und Éric-Emmanuel Schmitt sind Migrant*innen auch in Samba pour la France das verborgene Andere der Gesellschaften Europas. Coulins Protagonisten wird bewusst, dass er aufgrund seiner Herkunft niemals als vollwertiges Mitglied der französischen communitas gelten wird, da er der sozialgesellschaftlichen Norm nicht entsprechen kann, selbst wenn er gültige Papiere vorweisen könnte: »Ici, son existence était à peine une réalité. Il n’était défini que par la négative: il n’avait pas de papiers, il n’était pas français, il n’était pas blanc.« (Coulin 2014: 240) Auf der Folie von Hardt und Negri lässt sich am Falle Sambas außerdem zeigen, wie ambivalent die imperialen Kräfte der postmodernen Weltordnung mit Migrationsbewegungen umgehen. Wie die oben zitierten Gedanken von Coulins Hauptfigur zeigen, braucht das Empire Mobilität, um einen Zustrom an produktiven Kräften für lokale Wirtschaften zu garantieren und seinem globalen Imperativ der ständigen Wertsteigerung nachkommen zu können (vgl. Hardt/Negri 2001: 150-153). Andererseits ist die im Kontext der imperialen Strukturen gestiegene Mobilität nur einem kleinen, privilegierten Teil der Weltbevölkerung zugänglich (vgl. ebd.: 156) und das Empire unterbindet autonome, nicht seiner Logik und Kontrolle unterliegende Migrationsbewegungen, um Ressourcen möglichst gewinnbringend einzusetzen und Differenzen in der Weltgemeinschaft aufrechtzuerhalten, die deren Regierung vereinfachen (vgl. ebd.: 190-194, 198-201). Als Sambas Arbeit in der Mülltrennungsanlage genauer beschrieben wird, transportiert die narrative Gestaltung der Passage deutlich die wirtschaftliche Nutzbarmachung seines Körpers. Über verschiedene Stilmittel macht der Text erfahrbar, wie die Tätigkeit sich in Sambas Körper einschreibt, sich diesen wortwörtlich einverleibt, und die Figur zu einer automatisierten, wirtschaftlichen
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Ressource wird. Die monotone, stumpfe Natur von Sambas Aufgabe wird über die Wiederholung der Arbeitsschritte und die wiederkehrende Beschreibung der verschiedenen Müllsorten, die der Protagonist auf dem Förderband sieht, hervorgehoben. Über mehrere Seiten wird geschildert, wie sein Körper die nötigen Gesten automatisch ausführt, während sein Geist kaum beansprucht wird: Le visage protégé par des lunettes et un masque, les mains gantées de cuir et de plastique, il a commencé à trier: plastique, carton, ordure, papier, carton, plastique, ordure, ses mains gantées faisaient des gestes hypnotiques. Il ne pensait plus. Le chef à l’entrée le lui avait dit: ›Pour bien trier, faut pas penser.‹ Mouchoirs en papier, restes de cuisine, odeur écœurante, bouteilles de plastique, canettes de métal […]. [I]l ne prêtait même plus attention au fait qu’il triturait les poubelles des autres, il n’avait même plus conscience que c’étaient des ordures, et il triait: plastique, papier, nourriture, pour les répartir dans les bons tas. Ses bras lui faisaient mal, ses jambes tiraient à l’arrière des cuisses, ses épaules se voûtaient dans la poussière des déchets, son corps se balançait, de droite et de gauche […]. Plastique, ordure, papier, carton, plastique. Huit euros soixante et onze de l’heure, six euros quatorze nets. (Coulin 2014: 235-237) Wie schon im Falle Malikas in Partir handelt es sich auch bei Sambas Arbeit um eine monotone Beschäftigung, die sich seines Körpers und seiner Gesten bemächtigt. Die Ökonomisierung seines Lebens drückt sich in den automatisierten Bewegungen sowie in den Schmerzen aus, die das lange Stehen am Fließband verursacht. Sein Körper scheint durchzogen von ökonomischen Dynamiken, was mit Michael Hardt und Antonio Negri als Effekt der biopolitischen Produktion beschrieben werden kann. Zwar ermöglicht laut der Autoren erst der Übergang zu immateriellen Formen der Arbeit in der postfordistischen Ära die wirkliche Entfaltung der biopolitischen Produktion von Individuen und Gesellschaften (vgl. Hardt/Negri 2001: 289-294), doch »the productivity of the corporeal, the somatic, is an extremely important element in the contemporary networks of biopolitical production« (ebd.: 30), wie die automatisierte physische Arbeit von Coulins Protagonisten verdeutlicht. Sowohl an Samba als auch an Malika lässt sich überdies zeigen, wie das Empire die Grenzen zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt verschwimmen lässt (vgl. ebd.: 335). Verlagern in Malikas Fall Industriestaaten ihre Produktion aus Kostengründen in sogenannte Schwellen- und Entwicklungsländer, so führen die postmodernen, imperialen Dynamiken im Falle von Coulins Hauptfigur dazu, dass die meisten Menschen aus sogenannten Entwicklungsländern lediglich als Arbeitskräfte für subalterne Beschäftigungen in Industriestaaten geduldet werden: From the Geneva Convention’s categorization of the refugee as a person who suffers persecution from a state actor and makes claims based on political rights,
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the post-Cold War migrant becomes a category to be managed, restricted, re-directed, and contained, according to an economic logic. […] As access to mobility – both legal and irregular – becomes subject to an economic logic, the potential to make rights-based claims decreases. (Sellman 2013: 48) Von staatlicher Seite erwünscht ist ihre Migration nur dann, wenn sie ein bestimmtes Ausbildungsprofil aufweisen und als Fachkräfte einen ausdrücklichen Mehrwert für die Wirtschaft der Aufnahmegesellschaft darstellen. Für die meisten Eingewanderten sind diese Ausbildungen in ihrer Heimat aber schwer zugänglich und selbst Samba, der das Abitur vorweisen kann, erhält nur Anstellungen, welche die lokale Bevölkerung ungerne ausübt: Samba Cissé savait qu’une liste de trente métiers permettant d’obtenir un titre de séjour avait été publiée en décembre 2008. Agent d’entretien n’en faisait pas partie. Agent de tri, manœuvre, auxiliaire de vie, ouvrier d’usine non plus. Seuls des métiers très qualifiés, ou mal connus, la composaient. Samba Cissé avait honte. Il n’aimait pas être obligé de faire des métiers dans lesquels son père ne l’aurait jamais imaginé, lui qui était si fier que son fils fasse le lycée et qui espérait plus que tout qu’il obtienne son baccalauréat. (Coulin 2014: 30) Sowohl Samba als auch die kleine Malika haben lediglich Zugang zu dem, was Hardt und Negri als materielle Arbeit definieren. Immaterielle Tätigkeiten, bspw. in der »intellektuelle[n], kommunikative[n], relationale[n] und affektive[n]« (Negri 2007: 18) Produktion, die sozial angesehener und finanziell profitabler sind, stehen ihnen nicht offen (vgl. Hardt/Negri 2001: 290-292, Demirović 2004: 247). Dennoch trägt ihre Arbeit zur Wirtschaftsleistung mehrerer Staaten bei, weshalb Hardt und Negri in einer koordinierten Multitude von Arbeiter*innen mitunter ein großes Widerstandspotenzial sehen. Schließlich basiert das Empire ausschließlich auf der Produktivität der Multitude als Kollektiv der in ihm lebenden Subjekte, sodass diese gemeinsame Praktiken des Widerstands entwickeln können u.a. in Form des Entzugs ihrer Arbeitskraft (vgl. Hardt/Negri 2001: 62, 212, 365). So stellt Samba etwa in Frage, ob die Wirtschaft Frankreichs ohne die Arbeitskraft von legal und illegal Eingewanderten überhaupt funktionieren könne (vgl. Coulin 2014: 239), was an Sandro Mezzadras Beobachtungen zur Autonomie der Migration im Sinne der Mobilität von Arbeitskraft angeschlossen werden kann, die er in folgendem Satz bündelt: »Ohne Migrationsbewegungen kein Kapitalismus.« (Mezzadra 2007: 179) Auch Tahar Ben Jellouns Protagonist Azel erfährt eine gewisse Nutzbarmachung seines Lebens durch den spanischen Staat, die durch einen kafkaesken Intertext betont wird. Gegen Ende von Partir bietet Azel der spanischen Polizei an, sich als Informant im radikalislamischen Milieu Barcelonas zu bewegen, um einer Abschiebung zu entgehen, was ihn an Kafkas Die Verwandlung erinnert:
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C’est ainsi qu’Azel devint indicateur pour la police espagnole. Il sauva sa peau mais vendit son âme. Peut-être pour une bonne cause. […] Il pensait à Kafka et à La métamorphose. Il ne l’avait pas lu mais il se souvenait d’un cours magistral de son professeur de philo sur le sujet. Je vais me transformer, devenir quelqu’un d’autre, après tout ce sera une bonne chose, je passe d’un personnage à un autre, j’y ajoute un peu de trahison, un peu de délation, même si c’est pour la bonne cause, quelle cause au fait? (Ben Jelloun 2007: 291f.). Bereits der Beginn der Szene lässt den Bezug auf Kafkas Roman durchscheinen, denn Azel liegt auf seinem Bett und kann sich nicht bewegen, genau wie Gregor Samsa, als dieser am Morgen nach seiner Verwandlung aufwacht (vgl. Kafka 2006 [1915]: 7-10). Azel hat außerdem das Gefühl, sein Körper sei von Insekten bedeckt, von Ameisen und Gottesanbeterinnen, die seinen Leib zerlegen, was erneut an den in einen Käfer verwandelten Protagonisten aus Kafkas Werk denken lässt. Die Vision seines zersetzten Körpers kann überdies als Hinweis auf Azels baldigen verfrühten Tod gedeutet werden, den er ebenfalls mit Kafkas Hauptfigur Gregor Samsa teilt (vgl. Ben Jelloun 2007: 291f., 306, Kafka 2006: 87f.). Gemeinsam sind den beiden Hauptfiguren jedoch vor allem die Erfahrungen von Dehumanisierung und Desubjektivierung,78 einhergehend mit einem graduellen Verlust von Selbstbestimmung und Handlungsmöglichkeiten, sowie die Ökonomisierung ihrer Person in einem gewinnorientierten, politischen und wirtschaftlichen System. Die in Gregor Samsas Fall tatsächliche Verwandlung in einen Käfer und der damit verbundene Verlust seiner Menschlichkeit finden in Partir eine symbolische Entsprechung in Azels kontinuierlichem Abdriften in ein prekäres und marginalisiertes Dasein. Hatte er zu Beginn seines Aufenthalts in Spanien aufgrund seiner Beziehung zu Miguel einen geregelten Aufenthaltsstatus, eine Anstellung und eine komfortable Unterkunft (vgl. Ben Jelloun 2007: 92f., 103, 216), so findet sich der zunehmend unter eben jener Beziehung leidende, orientierungslose Azel nach dem Bruch mit dem wohlhabenden Spanier obdachlos und ohne gültige Papiere in einem von Kriminalität geprägten Umfeld vor. Er bewegt sich am Rande der Gesellschaft und muss sich vor der Polizei verstecken. Sein rechtlicher Status hat sich geändert und er verwandelt sich in den traurigen Stereotyp des gescheiterten, illegalen Einwanderers.79 Azel lebt sein nunmehr politisch und rechtlich unqualifiziertes Leben außerhalb des Systems, in einem zeit-, ort- und zwecklosen Schwellenzustand: 78 79
Michael Minden (2017) liest Kafkas Die Verwandlung als Verhandlung des Subjektbegriffs. Die Tatsache, dass Ben Jellouns Roman derartige Stereotype aufgreift und womöglich perpetuiert, kann durchaus kritisch diskutiert werden. Allerdings hat die Figur Azel ein außergewöhnlich gutes Abitur, ein staatliches Stipendium für sein Studium sowie einen Abschluss in Rechtswissenschaften vorzuweisen (vgl. Ben Jelloun 2007: 24), wodurch sein Abstieg in Spanien die Schwierigkeit einer erfolgreichen Integration zusätzlich hervorhebt.
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Azel savait pour l’avoir fréquenté que le Barrio Chino n’appartenait plus aux Espagnols. En bas des Ramblas, des ruelles rappelant tantôt la médina de Fès tantôt la vieille ville de Naples étaient devenues le lieu où des commerçants indiens et pakistanais faisaient des affaires. Rien d’extraordinaire. Les murs étaient fatigués. Les gens étaient tristes et les quelques Africaines qui attendaient en plein jour des clients étaient la désolation de ce quartier […]. Des Marocains traînaient là, ne sachant que faire de leur temps. […] C’était là qu’Azel trouvait refuge. Il ne faisait rien de précis, comme les autres, il attendait. Abbas, un jour, lui avait dit: Attendre, c’est notre nouveau métier! Azel se tenait donc là, immobile, fixant le sol, sa cigarette se consumant lentement entre ses lèvres, l’allure très négligée, il ne s’était pas lavé depuis une semaine. (ebd.: 255f.) Ähnlich wie Gregor Samsa, der vom Hauptverdiener seiner Familie zu einem nutzlosen und isolierten Käfer wird (vgl. Kafka 2006: 27-29, 44-45, 82-85), so wird Azel – einst ein gebildeter, junger Mann voller Hoffnung in eine positive Zukunft – zum ungewollten, illegalen, nackten Leben. In dieser Beobachtung zeichnet sich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Figuren in ihrer Einbindung in wirtschaftspolitische Mechanismen ab. Die Ökonomisierung des Subjekts, deren Ursprünge Foucault in seinen Vorlesungen u.a. auf die Entstehung des Liberalismus zurückführt (vgl. Foucault 2004b: 245270), exemplifiziert sich, wenn auch unter unterschiedlichen Bedingungen, sowohl an Gregor Samsa als auch an Azel. In Kafkas Die Verwandlung stellt der Verlust von Samsas Erwerbstätigkeit im Zuge seiner Transformation eine zentrale Thematik. Als er am Morgen nach seiner Verwandlung nicht auf der Arbeit erscheint, taucht in seinem Heim umgehend ein Prokurist auf, um sich nach dem Grund seiner Abwesenheit zu erkundigen (vgl. Kafka 2006: 16-26). Zudem verliert die Familie Samsa ohne Gregors Gehalt ihre Lebensgrundlage, muss Untermieter aufnehmen und die restlichen Familienmitglieder müssen sich eine Arbeit suchen (vgl. ebd.: 44-47, 73). Azel ist gegen Ende des Buchs als illegaler und somit zwangsweise erwerbsunfähiger Einwanderer eine ungewollte Belastung für die spanische Gesellschaft (vgl. Ben Jelloun 2007: 193, Gebhardt 2020: 121). Als er ohne Aufenthaltserlaubnis und im Besitz von Drogen von der Polizei aufgegriffen wird, kann er der Abschiebehaft nur entgehen, indem er sich als Informant anbietet. Sein Migrationshintergrund, seine arabische Muttersprache und seine Kenntnisse der arabisch-islamischen Kultur und Religion machen ihn im Kampf gegen islamistische Organisationen nützlich und die Polizei willigt ein (vgl. Ben Jelloun 2007: 288-291). Nur, indem er eine Gegenleistung anbietet und sich als wertvoll für die Gemeinschaft qualifiziert, kann er sich den europäischen Immunisierungsmechanismen entziehen. Die Ökonomisierung seiner Person schenkt ihm Immunität (vgl. Esposito 2014: 65). Somit sind beide Charaktere, Samsa und Azel, in Strukturen eingebunden, in denen das biolo-
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
gische Leben über seine Leistung in einem gewinnorientierten, politischen System bewertet und verwaltet wird.
5.3
Das Leben auf der Schwelle: Grenzerfahrungen, Räumlichkeit und Mobilität im Migrationsdispositiv
5.3.1
Eine Ontologie der Grenze zwischen Biopolitik und Bioökonomie
5.3.1.1
Immunisierung, Subjektivierung und selektive Permeabilität an der Grenze
Grenzen zwischen Nationalstaaten sind im Kontext von Migrationsbewegungen ausschlaggebende räumliche und rechtliche Entitäten.80 Sowohl auf dem Festland als auch zur See determinieren Grenzziehungen das ›Diesseits‹ und das ›Jenseits‹ von Nationen und ihren politischen, gesellschaftlichen und juristischen Systemen. Somit ist die Grenze der Ort, an dem sich biopolitische Immunisierungsmechanismen ereignen und darüber entschieden wird, wer Zugang zur communitas erhält. Die Grenze ist aber nicht allein Ausdruck einer Grenzziehung, sondern ermöglicht ebenso Momente der Begegnung, der Transformation und Transgression (vgl. Mazauric 2013: 77). So kann die erfolgreiche Überquerung einer nationalstaatlichen Grenze im Migrationsprozess eine entscheidende Etappe darstellen, da sie dem migrierenden Subjekt neue Möglichkeiten der Subjektivierung erschließen kann. Die biopolitische Ontologie von Grenzen verhandelt Laurent Gaudés Eldorado an mehreren Textstellen. Zu Beginn von Soleimans Migration überquert er, noch in Begleitung seines Bruders Jamal, die Grenze zwischen seinem Heimatland, dem Sudan, und dem benachbarten Libyen. Es ist dem Protagonisten wichtig, die Grenze zu Fuß zu überqueren, anstatt sie im Auto zu passieren, um die erste Etappe seiner Reise als entscheidenden Moment zu würdigen: »Je veux sentir l’effort dans mes muscles. Je veux éprouver ce départ, dans la fatigue.« (Gaudé 2009: 81) Als der sie begleitende Schleuser den Brüdern mitteilt, dass sie sich nun in Libyen befinden, reagieren beide mit Ungläubigkeit: Wider Erwarten sind ihnen keine Grenzschützer*innen begegnet und sie haben die Grenze überquert, ohne es zu bemerken, was durch einen Wechsel vom Präsens ins Passé composé unterstrichen wird, der die rückwirkende Bewusstwerdung Soleimans hervorhebt. Erst als dieser versteht, dass er die Grenze bereits überschritten hat, wird die Narration im Präsens fortgesetzt:
80
Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der räumlichen, rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Verfasstheit und Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen im Kontext von Migration sowie für eine Analyse der sie umgebenden und perpetuierenden Diskurse siehe Schulze Wessel (vgl. 2017: 87-193).
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Je suis heureux. Aux côtés de mon frère. Je quitte mon pays. Nous marchons sur les pierres chaudes comme des chèvres sauvages. Agiles et discrets. […] C’est lorsque nous sommes arrivés au pied d’une colline que l’homme s’est retourné vers nous. Nous avions marché plus d’une heure. Et il a dit: – Nous sommes en Libye. J’ai d’abord cru qu’il se moquait de nous. Puis j’ai vu à son visage que l’idée de cette plaisanterie n’aurait jamais pu lui venir. Alors j’ai regardé tout autour de moi. Mon frère avait la même incrédulité sur le visage. […] La frontière est là. Sans aucun signe distinctif. Là. Au milieu des pierres et des arbres chétifs. Pas même une marque au sol ou une pancarte. Je n’aurais jamais cru que l’on puisse passer d’un pays à l’autre ainsi, sans barbelé à franchir, sans cris policiers et course-poursuite. (ebd.: 81f.) Die Grenze ist nicht als solche markiert, Reisebewegungen zwischen dem Sudan und Libyen werden nicht kontrolliert und Immunisierungsmechanismen offenbar nicht für notwendig erachtet. Die Brüder sind beinahe wütend über die Leichtigkeit, mit der sie diese auch symbolische Schwelle überquerten, da sie nun bereuen, es nicht früher versucht zu haben. Dennoch überwiegt die Freude, Soleiman fühlt sich »fort et inépuisable« (ebd.: 82). Erst nachdem sein an HIV erkrankter Bruder ihm gesteht, dass er die Reise nicht fortsetzen kann und nach Hause zurückkehren wird, begreift Soleiman, dass das Verlassen der eigenen Heimat und die Überquerung einer Grenze stets mit Entbehrungen einhergehen: Je me suis trompé. Aucune frontière n’est facile à franchir. Il faut forcément abandonner quelque chose derrière soi. Nous avons cru pouvoir passer sans sentir la moindre difficulté, mais il faut s’arracher la peau pour quitter son pays. Et qu’il n’y ait ni fils barbelés ni poste frontière n’y change rien. J’ai laissé mon frère derrière moi, comme une chaussure que l’on perd dans la course. Aucune frontière ne vous laisse passer sereinement. Elles blessent toutes. (ebd.: 91) Die Passage verdeutlicht, dass die erzählte Migrationserfahrung für die Figur prägend ist und Grenzübertritte sich mitunter in den Körper einschreiben wie eine Verletzung. Als Soleiman später an die Rückkehr seines Bruders in den Sudan denkt, vermutet er, dass Jamal erneut keinerlei Schwierigkeiten bei der Einreise haben wird, da innerafrikanische Grenzen scheinbar deutlich einfacher zu überqueren sind als EU-Außengrenzen: »Qui l’empêcherait de rentrer au pays? On n’arrête pas les voyageurs dans ce sens, on sourit à leur infortune.« (ebd.: 115) Während Europa mittels Immunisierungsmechanismen, wie der Arbeit der Küstenwache im Erzählstrang des Kapitän Piracci, versucht, Einwanderung aus ärmeren Gebieten der Welt zu unterbinden, können Soleiman und sein Bruder zwischen dem Sudan und Libyen frei zirkulieren. Diese selektive Permeabilität von Grenzen, die u.a. den bioökonomischen Zusammenhang zwischen Mobilität und der finanziellen Situa-
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tion von Individuen und Staaten spiegelt, ist ein wiederkehrendes Motiv in den untersuchten Werken und wird später im Kapitel näher analysiert. Obgleich die Grenzüberquerung in der oben zitierten Szene für Soleiman eine prägende Erfahrung darstellt, ist der entscheidende Moment seiner Migration die Überwindung der Grenzzäune zwischen Marokko und der spanischen Enklave Ceuta.81 Hier erfährt der Protagonist wortwörtlich am eigenen Leib, dass nicht alle Grenzen derart problemlos zu passieren sind wie jene zwischen dem Sudan und Libyen. In dem Kapitel mit dem bezeichnenden Titel Frères d’enfer gehen Soleiman und sein Freund Boubakar symbolisch durch die Hölle, als sie versuchen, Ceuta zu erreichen. Die marokkanisch-spanische Grenze bei Ceuta, sowie der Wald,82 in dem sie mit hunderten weiteren Migrant*innen vor dem Ansturm auf die Grenzanlage ausharren, weisen in Gaudés Roman eine mehrfach biopolitisch geprägte Räumlichkeit auf. Zum einen sind sie Schauplatz marokkanischer und europäischer Immunisierungsdynamiken sowie des Widerstands der Migrierenden gegen diese, und sie geben zum anderen weiter Aufschluss über die oben angeführte, potenziell subjektivierende Ontologie von Grenzen. Da Fahrzeuge der marokkanischen Polizei im nächstgelegenen Dorf gesichtet werden, befürchten die Migrant*innen, dass ihr Camp im Wald geräumt werden könnte und die Gruppe entscheidet, die Überwindung der Grenzzäune in der kommenden Nacht zu wagen (vgl. ebd.: 173-178). Nachdem die Männer und Frauen einige Stunden in der Dunkelheit im Gras gelegen haben, ergibt sich durch einen Wachwechsel der spanischen Grenzschützer*innen eine günstige Gelegenheit und das Signal zum Ansturm wird gegeben. Mit ihren aus Ästen gebauten Leitern rennen die Migrant*innen in Richtung der Zäune und beginnen, diese zu erklimmen. Die Guardia Civil83 ist zunächst überrumpelt, reagiert jedoch schnell mit dem Einsatz von Tränengas. Kurz darauf erscheint auch die marokkanische Polizei und versucht von ihrer Seite der Grenzanlage aus, die Migrierenden aufzuhalten (vgl. ebd.: 179-183). In Gaudés Roman kooperieren die beiden Staaten also im Grenzschutz, was an die unter 5.2.3.1 thematisierten Abkommen zwischen Nationalstaaten oder überstaatlichen Entitäten wie der Europäischen Union erinnert, im Rahmen derer die Unterbindung von Migrationsbewegungen durch Investitionen und Entwicklungsgelder finanziell kompensiert wird. So wurden die Grenzanlagen, welche die 81
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Eine ausführliche Lektüre dieser Episode sowie eine Deutung der literarisch dargestellten Grenze als transitorischer Raum wurden in dem Aufsatz Transitorische Räume. Grenzdispositive in Laurent Gaudés ›Eldorado‹ vorgenommen (vgl. Grieb 2019). Inwiefern der Wald in Gaudés Roman unter Rückgriff auf Michel Foucault als Heterotopie gelesen werden kann und als Gegenraum (vgl. Foucault 2005: 10) die ambivalente Relationalität von Gesetzen und ihren Ausnahmen hinterfragt, wird in Kapitel 5.3.2.2 dargelegt. Die Guardia Civil ist als militärische Organisation dem Innenministerium sowie dem Verteidigungsministerium Spaniens unterstellt und u.a. mit dem Grenzschutz des spanischen Territoriums betraut (vgl. Guardia Civil a, Guardia Civil b).
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spanischen Enklaven vom marokkanischen Hoheitsgebiet trennen, teilweise von der EU finanziert (vgl. Stock 2017). Während Soleiman und seine Mitstreiter*innen versuchen, über den ersten Grenzzaun zu klettern, sind sie also Ziel bilateraler Immunisierungsvorgänge und werden sowohl von der marokkanischen Polizei als auch von der spanischen Guardia Civil angegriffen: Nous sommes maintenant coincés entre les Marocains et la grille. Il faut monter. Il n’y a plus d’autre solution. J’entends des coups de feu. Des corps tombent. […] La panique s’est emparée de ceux qui sont encore à terre. Pour échapper aux coups des Marocains, ils montent en maltraitant ceux qu’ils dépassent. Chacun tente de sauver sa vie. (Gaudé 2009: 183f.) Nachdem es Soleiman und Boubakar gelungen ist, den ersten Zaun zu überwinden, befinden sie sich auf einem schmalen Streifen Land zwischen den beiden Zäunen, aus denen die Grenzanlage besteht: »Le cauchemar a commencé lorsque nous nous sommes trouvés entre les deux grilles.« (ebd.: 201) Immer mehr Migrant*innen fallen von dem ersten Zaun in den engen Zwischenraum hinunter, wo die spanischen Grenzschützer*innen sie mit Schlagstöcken angreifen. Es kommt zu einer Massenpanik (vgl. ebd.: 201). Schließlich entdecken Boubakar und Soleiman ein Loch in dem zweiten Grenzzaun und versuchen, dieses zu erreichen. Doch die Beamt*innen der Guardia Civil wollen sie mit aller Kraft daran hindern, durch das Loch zu klettern, da die beiden Freunde damit endgültig spanischen Boden erreichen würden und ihre unmittelbare Rückführung nach Marokko legal nicht möglich wäre. Als Vertreter*innen des spanischen Staats sind die Grenzschützer*innen in ihrer Funktion als personifizierte Immunisierungsdispositive der EU in einer Art Ausnahmezustand84 für die Zeit ihres Einsatzes mit einer juristischen Immunität ausgestattet, die es ihnen erlaubt, die Migrierenden körperlich anzugreifen, ohne dass sie rechtliche Folgen zu fürchten hätten: In states of emergency, governments suspend elements of the normal legal order and strip individuals of the rights that mark politicized life. The state of exception
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Antje Ellermann (vgl. 2009, 2010) untersucht die Relationalität zwischen Nationalstaaten und illegalen Migrant*innen sowie die temporäre Aufhebung geltenden Rechts im Grenzschutz unter Rückgriff auf Agambens Denkfigur des Ausnahmezustands. Dabei lotet sie auch Möglichkeiten migrantischen Widerstands aus, die sich als »›reverse state of exception‹« (Ellerman 2009: 3) etwa durch die autonome Aufhebung der eigenen rechtlichen Identität mittels der Zerstörung von Ausweispapieren ergeben. Die Verfasserin argumentiert, dass illegale Migrant*innen im Gegensatz zu Staatsbürger*innen oder Ausländer*innen mit Bleiberecht aufgrund ihres fehlenden rechtlichen Status nicht an den contrat social bzw. an die Gesetzgebung der souveränen Instanz gebunden sind, woraus sich Möglichkeiten des Widerstands durch zivilen Ungehorsam ergeben (vgl. ebd.: 8f., 16-18, Ellerman 2010: 409f., 414f.).
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is thus the ultimate expression of state sovereignty as the power to proclaim the emergency and suspend the operation of law. (Ellermann 2009: 2f.) Entsprechend gewaltvoll gestaltet sich die Auseinandersetzung zwischen Soleiman und drei Grenzschutzbeamten: »La matraque du premier s’abat sur mon épaule. Je sens la douleur engourdir mon bras. […] Ils cognent maintenant de toutes leurs forces sur mes jambes. Je ne parviens plus à avancer. Je suis épuisé.« (Gaudé 2009: 202f.) Die Einstufung Soleimans als Bedrohung85 und das daraus resultierende gewaltsame Vorgehen der Guardia Civil stehen dabei in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Bedeutung seines Vornamens: Soleiman leitet sich vom arabischen salām ab und bedeutet so viel wie »qui jouit dʼune parfaite sécurité, qui est en paix; qui a un cœur très pur« (Geoffroy/Geoffroy 2009: 116). Auch der Name Boubakar scheint die körperliche und symbolische Konfrontation der beiden Figuren mit den Beamt*innen des Grenzschutzes zu unterstreichen. Boubakar ist eine Variante des Namens Abu Bakr, den im islamischen Glauben der Schwiegervater des Propheten Mohammed trug und der mit »lʼHomme au chamelon« (vgl. ebd.: 60) übersetzt werden kann. Damit bestätigt sein Name die Rolle Boubakars als Weggefährte des Protagonisten und spielt überdies auf das nomadische Dasein der Figur an, die sich bereits seit sieben Jahren auf dem Weg nach Europa befindet (vgl. Gaudé 2009: 148). Insofern betont Boubakars Name den Konflikt zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit, der sich in den Immunisierungsdynamiken und der körperlichen Auseinandersetzung zwischen den Migrierenden und den Beamt*innen des Grenzschutzes materialisiert (vgl. Grieb 2019: 244). Mittels des Einsatzes der Guardia Civil zwischen den beiden Zäunen der Grenzanlage scheint der Roman außerdem indirekt eine Streitfrage aufzugreifen, welche die europäischen Gerichte in der extraliterarischen Realität über Jahre beschäftigt hat,86 denn nach Aussage Soleimans hatten er und Boubakar bereits mit der Überwindung des ersten Grenzzauns europäischen Boden erreicht (vgl. Gaudé 2009: 184) und somit das Recht erlangt, einen Asylantrag zu stellen. Dennoch versuchen die spanischen Grenzschützer*innen in besagter Szene vehement, die Migrant*innen auf die marokkanische Seite der Grenze zurückzudrängen (vgl. ebd.: 201-203). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach damit auseinandergesetzt, unter welchen Umständen sogenannte hot returns aus Ceuta und Melilla,87 sprich unverzügliche Abschiebun85 86 87
Zur Diskursivierung von Migrant*innen als Bedrohung und der daraus resultierenden Krisenrhetorik in der EU-Migrationspolitik siehe auch Davitti (vgl. 2019, insbesondere 1178-1186). Für eine juristische Betrachtung derartiger Grenzschutzpraktiken unter Heranziehung von Giorgio Agambens Denkfigur des Ausnahmezustands siehe ebenfalls Davitti (2019). In Samba pour la France versucht der Protagonist, die Grenzanlage von Melilla zu überwinden, sodass die beiden Romanhandlungen Parallelen aufweisen. Ebenso wie Gaudés Hauptfigur lebt auch Samba mehrere Wochen in einem Waldstück nahe der Grenzanlage, bevor
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gen von Migrant*innen ohne deren Registrierung und die Einleitung eines offiziellen Verfahrens, illegal sind. Dabei ging es auch um die räumliche Beschaffenheit der Grenzanlage und die damit einhergehende juristische Sachlage, da teils differenziert wurde, ob Migrant*innen während der Erklimmung des äußeren Grenzzauns, auf dem Gelände zwischen den Zäunen oder nach der Überwindung des inneren Grenzzauns verhaftet wurden (vgl. ECHR 2017, 2020). Im Februar 2020 hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs dieses Vorgehen für rechtmäßig erklärt und gewissermaßen die Immunisierungsbefugnisse Spaniens und Europas ausgeweitet (vgl. Bubrowski/Rößler 2020).88 In Eldorado schaffen Boubakar und Soleiman es durch das Loch im zweiten Zaun nach Ceuta. Sie haben die marokkanisch-spanische Grenze leicht verletzt hinter sich gelassen und stellen erstaunt eine Veränderung fest: Des Blancs vont et viennent entre nous et distribuent de l’eau ou des soins. Il y a quelques minutes, on se battait pour nous faire reculer, maintenant on veille sur nous avec calme et attention. […] On prend soin de nous maintenant, comme si nous étions des enfants. J’aperçois un peu plus loin les policiers espagnols, les mêmes que tout à l’heure. Ils boivent un café en discutant. Ils ne font plus attention à nous. Qu’est-ce qui les empêche de se ruer sur nous et de continuer ce qu’ils ont
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er es wagt, auf den ersten Grenzzaun zu klettern. Auch in Coulins Roman werden sogenannte ›heiße Abschiebungen‹ thematisiert, da Samba nach der Überwindung des ersten Grenzzauns von der Guardia Civil verhaftet und nach Marokko zurückgebracht wird. Eine weitere Parallele zu Eldorado ergibt sich dadurch, dass Samba bei seinem zweiten Versuch in Melilla »une autre tactique« (Coulin 2014: 39) ausprobiert und sich einer Gruppe von rund 70 Migrant*innen anschließt. Obwohl alle gleichzeitig den Ansturm wagen, greifen die Immunisierungsmechanismen des spanischen Staats: Die Migrierenden werden verhaftet und in der marokkanischen Wüste ausgesetzt, wo ein Großteil von ihnen ums Leben kommt. Damit behandelt auch Samba pour la France jenes menschenverachtende Vorgehen marokkanischer und algerischer Autoritäten, das intra- wie extraliterarisch offenbar mit der Abschottung Europas und den bilateralen Abkommen zwischen der EU und den nordafrikanischen Staaten zusammenhängt (vgl. 5.2.3.1, Rößler 2020, Süddeutsche Zeitung 2019b). Im konkreten Fall von N.D. und N.T. gegen Spanien hatten zwei Migranten aus Mali und der Elfenbeinküste geklagt, da sie, ohne einen Antrag auf Asyl stellen zu können, von der Guardia Civil nach Marokko zurückgeführt wurden. Bei dem Verfahren spielte es u.a. eine Rolle, dass es den beiden gelungen war, auf den ersten Grenzzaun zu klettern und somit einen Teil der Grenzanlage zu überwinden. Nachdem der Europäische Gerichtshof 2017 zunächst zu ihren Gunsten entschied, wurde das Urteil 2020 revidiert und das Vorgehen der spanischen Grenzschützer*innen für rechtens erklärt (vgl. ECHR 2017, 2020). Julia Schulze Wessel (vgl. 2017: 145-162) untersucht in diesem Zusammenhang, inwiefern die Externalisierung von EU-Außengrenzen und die damit einhergehende Ausweitung der »Kompetenzen von Exekutivorganen« (ebd.: 159) wie bspw. Frontex zu einem Anstieg vergleichbarer Fälle juristisch wie moralisch problematischer push-backs führt.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
commencé? Qu’est-ce qui les empêche de venir près de nous et de nous battre? Qu’est-ce qui a changé si brutalement? (Gaudé 2009: 204f.) Die radikale Veränderung, die Soleiman beschreibt, hängt scheinbar mit dem neuen rechtlichen Status zusammen, den er mit der Überwindung der Grenze erlangt hat. War er zuvor aus Sicht Europas noch ein ungewollter Eindringling, ein nacktes, vor- bzw. außerrechtliches Leben (zoë), so hat er mit der Grenzanlage auch die Schwelle zum Rechtssubjekt überwunden. Er kann nunmehr wenigstens insofern als politisch qualifiziertes und rechtlich sanktionierbares Leben (bíos) gelten, als er sich fortan innerhalb der gesetzlichen Ordnung befindet, offiziell registriert wird, das Recht auf medizinische Versorgung und einen Asylantrag hat – seine Menschenrechte werden zumindest teilweise und punktuell wiederhergestellt. Dies spiegelt sich in dem Verhalten der Grenzschutzbeamt*innen wider: Sind sie zuvor in ihrer Funktion als Immunisierungsdispositive mit aller Brutalität gegen Soleiman und die anderen vorgegangen, müssen sie diese Tätigkeit auf der anderen Seite der Grenze nicht weiter ausführen. Auch ihr Status hat sich geändert, sie haben nicht länger die Pflicht und die gesetzliche Immunität, um die Migrant*innen mitunter gewaltsam zurückzudrängen. Die Absurdität der Tatsache, dass wenige Meter Land eine derartige Veränderung bewirken können, kann Soleiman nur mit der Metapher eines Spiels beschreiben, wodurch die menschengemachte Verfasstheit von Grenzen hervorgehoben wird: »C’est un jeu et nous avons gagné. Ils respectent les règles.« (ebd.: 205) Insofern scheint sich das folgende Zitat von Schulze Wessel über den Migranten als mehrfache Grenzfigur auf die verschiedenen Etappen und Dimensionen von Soleimans Grenzerfahrung bei Ceuta übertragen zu lassen – von dem zeit- und ortlosen Aufenthalt im Wald über die Erstürmung der Grenze und die Auseinandersetzung mit den Grenzschützer*innen bis hin zu seinem neuen rechtlichen Status auf spanischem Boden: »[D]ie undokumentierten Migranten [sind] zu Grenzfiguren par excellence geworden […], und zwar im vielschichtigen Sinne: Sie sind Grenzgestalter, Grenzverletzer, Grenzbewohner und Grenzpersonen und zeigen die Grenzen des Rechts auf.« (Schulze Wessel 2017: 88) Obgleich Soleimans Geschichte mit seiner Ankunft in Ceuta endet und die Leserschaft nicht erfährt, ob er in Europa wird bleiben können, scheint die Figur sich mit der Überquerung der Grenze potenzielle Subjektivierungsmöglichkeiten erschlossen zu haben, die sie in ihrer Heimat nicht gehabt hätte. Wie in Kapitel 2.5.3 dargelegt wurde, plädieren Forscher*innen verschiedener Fachrichtungen u.a. in Anschluss an Michael Hardt und Antonio Negri (vgl. 2005: 133f.) dafür, die bloße Viktimisierung von Migrant*innen durch eine umfassende Perspektive auf das Thema Migration zu ersetzen, die unter Begriffen wie dem der »Autonomie der Migration« (Moulier Boutang 2007: 169, Mezzadra 2007: 179) auch die agency von Migrierenden sowie deren Möglichkeiten des empowerment in Betracht zieht. Immerhin thematisiert schon Michel Foucault Mobilität und insbesondere Migration
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als »éléments constituants du capital humain«, die, in einer liberalen Konstellation, als »entreprise individuelle, […] entreprise de soi-même« freilich mit materiellen, psychologischen und anderen »investissements« (alle Foucault 2004b: 236f.) einhergehen, aber nach einer Phase der Anpassung auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen bedeuten können. Wenngleich Soleiman die Episode zwischen den zwei Zäunen als die schlimmste Erfahrung seiner Migration beschreibt (vgl. Gaudé 2009: 184), wird während der Erstürmung der Grenze vermehrt eine unbeugsame, unerschrockene Einstellung der Migrant*innen betont: »La détermination de Boubakar me fait baisser les yeux. […] Et je me sens fort. Nous allons courir. Oui. […] Nous allons courir et rien ne nous résistera. Nous ne sentirons pas les barbelés. Nous laisserons des traînées de feu sous nos pieds.« (ebd.: 178) Die Entschlossenheit der Migrierenden und die Inkaufnahme lebensbedrohlicher Risiken scheinen eine Deutung ihrer Migration als autonomen Akt zuzulassen. So liest etwa Dounia Boubaker (vgl. 2014: 167f., 171) das Nomadentum des Vagabunden sowie dessen symbolische und tatsächliche Transgressionen in einigen Werken Gaudés als widerständige Akte, welche die Exklusions- und Dehumanisierungsmechanismen der vorherrschenden Norm dekonstruieren. Neben der potenziell subjektivierenden Wirkung von Grenzen ist in den untersuchten Werken auch deren selektiv permeable Verfasstheit zu beobachten, die zu Beginn des Kapitels in der Schilderung der uneingeschränkten Mobilität Soleimans zwischen dem Sudan und Libyen anklang. Tahar Ben Jellouns Partir thematisiert an mehreren Textstellen diese selektive Durchlässigkeit von Grenzen, die sich durch ein Zusammenspiel von biopolitischen und bioökonomischen Dynamiken ergibt und dazu führt, dass Grenzen für manche Menschen unüberwindbar sind, während sie für andere sowie für den internationalen Handel kein Hindernis darstellen: »[B]iopolitical borders […] are liquid – that is, they are characterized by non-linear […] enforcement infrastructures.« (Davitti 2019: 1176) In Ben Jellouns Text sind diese nicht selten paradox anmutenden Strukturen durch die teilweise Situierung der Handlung im marokkanischen Tanger besonders sichtbar. Ihre geografische Lage macht die Hafenstadt zu einem Anziehungspunkt für Ausreisewillige aber ebenso zu einem strategisch günstigen Umschlagsort für den globalen Handel und einem Drehkreuz für den internationalen Tourismus. Die Heimatstadt Azels ist in mehrfacher Hinsicht durch jene Bewegung und Dynamik geprägt, die bereits im Titel des Romans anschlägt. Da jedoch biopolitische Faktoren wie Nationalität und ökonomisches Kapital die Möglichkeiten der Ausreise determinieren, ist das Recht auf Bewegung ein ungleich verteiltes Privileg (vgl. Wihtol de Wenden 2016: 10). Als Azel sich am Hafen Tangers aufhält, um den Schiffen beim Ablegen zuzusehen und vom Reisen zu träumen (vgl. Ben Jelloun 2007: 45-52), wird die Diskrepanz zwischen der stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Hauptfigur und den unzähligen Bewegungsmustern, die sich durch Tourismus und Handel über den Hafen in die Topografie der Stadt einschreiben, besonders deutlich: »Ben Jelloun
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
addresses the problematic issue of the porosity versus impenetrability of borders and raises uncomfortable questions regarding the antithetical conditions under which goods and human beings travel within and across Europe.« (Marchi 2014: 610) In einer Welt, in der Waren freier zirkulieren als Menschen (vgl. Hardt/Negri 2001: 150-156, 190-103, Braidotti 2007: 56), ist Azels Wunsch, Marokko zu verlassen, derart stark, dass er sich vorstellt, als eine der verladenen Waren nach Europa zu gelangen: Je voudrais être une de ces caisses, […] être une caisse de marchandise déposée dans un hangar en Europe, sur une terre de liberté et de prospérité, oui, juste une caisse en bois léger, une caisse anonyme […]. Il imagina se faire mouler dans de la cire et passer la frontière déguisé en mannequin de présentation, un objet inanimé, pas un être humain qui respire. (Ben Jelloun 2007: 46f.) Der Umstand, dass Azel sich in seiner Vorstellung auf einen Gegenstand reduziert, unterstreicht einerseits die Dringlichkeit seines Wunsches, auszuwandern. Vor allem kann das obige Zitat aber dahingehend gedeutet werden, dass der junge Mann sich mangels Freiheit und Perspektiven in seinem Land nicht als Mensch fühlt, sondern als ein enthumanisiertes, handlungsunfähiges Objekt (vgl. 5.1.1.1). Tatsächlich kann Azel sich im Vergleich mit den Reisenden auf den Kreuzfahrtschiffen, denen er von der Hafenpromenade aus zuwinkt, nur als Mensch zweiter Klasse fühlen: Während die Tourist*innen aufgrund ihrer Herkunft und finanziellen Situation jederzeit die Welt bereisen können, kann Azel von einer solchen Freiheit nur träumen (vgl. Ben Jelloun 2007: 49f.). Julia Schulze Wessel schreibt zur Selektivität von Grenzen: »Die Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer kann sich in der Nähe des mit undokumentierten Migranten beladenen Fischerbootes befinden und beide sind in vollkommen unterschiedlichen, nicht kompatiblen Räumen angesiedelt. […] Während für die einen die Grenze niemals sichtbar ist, ist die Grenze für die anderen permanent da.« (Schulze Wessel 2017: 134) Wie der Protagonist verbringt auch dessen Nachbarin Malika gerne Zeit an der Hafenpromenade, beobachtet Schiffe und gibt sich Tagträumen von einem besseren Leben in Europa hin (vgl. Ben Jelloun 2007: 120f.). Die Figur fungiert im Roman als weiteres Beispiel für das ungerecht verteilte Privileg der Reisefreiheit und die massive Diskrepanz in der Mobilität von Waren und Menschen: Während Malika Marokko niemals verlassen wird, reisen die Meeresfrüchte, die sie auf der Arbeit schält, um die halbe Welt, bevor sie bei den Verbraucher*innen ankommen (vgl. ebd.: 122). Lisa Marchi (2014: 613) fasst prägnant zusammen: »Tahar Ben Jelloun […] launches an attack on the construction of Europe as a free market for goods and a fortress for human beings.« Insofern deutet sie Malikas Handlungsstrang als exemplarisch für das Spannungsverhältnis von Bewegung und Verortung in Partir:
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The dialectical tension between here and there, staying and leaving, mobility and immobility is developed throughout the novel and carried to the extreme in the chapters dedicated to Malika’s story. […] Ben Jelloun cunningly constructs Malika’s confinement – first in the factory and later on her deathbed – in opposition to the extreme mobility of the shrimp; […] The narrator maps […] the itinerary of the shrimp from Thailand to the Netherlands, from there to Tangier, and then back to Europe, emphasizing the permeability of borders and the extreme mobility of the shrimps (ebd.: 611f.). In Tangers Hafen treffen ökonomisch motivierte Entgrenzung und biopolitische Grenzziehung konkret aufeinander, und die Stadt wird, wie Idrissi Alami (vgl. 2013: 2) feststellt, zu einer Art Prisma post- und neokolonialer Dynamiken. Anhand der Erfahrungen von Azels Freundin Siham zeigt sich überdies, dass Mobilität in Partir nicht allein eine Frage der Nationalität, sondern auch der finanziellen Situation ist. Die wohlhabende saudisch-marokkanische Familie, die Siham als Pflegekraft für ihre behinderte Tochter einstellt, hatte offenbar keinerlei Schwierigkeiten, sich in Marbella niederzulassen und ein Visum für Sihams Einreise zu erhalten (vgl. Ben Jelloun 2007: 95-101). Vor Ort beobachtet Siham, dass reiche Menschen aus den Golfstaaten Zweitwohnsitze in Marbella kaufen und abends problemlos die Straße von Gibraltar überqueren, um in Tanger auszugehen: »Marbella ressemblait à une sorte de grand village touristique pour milliardaires. Les gens des pays du Golfe s’y faisaient construire des résidences somptueuses où ils séjournaient quelques jours par an. Certains, pour une simple soirée, s’offraient la traversée du détroit de Gibraltar.« (ebd.: 98f.) Als Azel sich bereits in Spanien befindet, thematisiert auch er den Zusammenhang von Liquidität und Mobilität. Er erklärt seiner Schwester, wie Armut und Perspektivlosigkeit in Marokko dazu führten, dass er Miguels fragwürdiges Angebot annahm, mit ihm in Spanien zu leben: »La pauvreté ne te permet pas de tenir ton rang, elle te cloue sur place, là, sur une chaise bancale, t’as pas le droit de te lever, d’aller voir ailleurs si le ciel est plus clément, non, la pauvreté est une malédiction« (ebd.: 185). In Partir wird somit explizit dargestellt, wie biopolitische und bioökonomische Dynamiken im Migrationsdispositiv ineinandergreifen: Wohlhabende Nicht-Europäer*innen können ihr Visum für Europa durch Investitionen verschiedener Art indirekt ›erkaufen‹ und finanziell schlechter gestellte Marokkaner*innen, wie Azel, sind in ihrer Mobilität eingeschränkt und benachteiligt, da ihre Einreise kein Kapital nach Europa bringen würde. Während einige der Romanfiguren von einem Leben in Spanien nur träumen dürfen, können die von Siham beobachteten Reichen dort leben und reisen, wo sie möchten, da sie konsumieren, Immobilien kaufen und Steuern zahlen, also zur Ökonomie des Landes beitragen. Ein weiteres Beispiel für jene Kopräsenz von Grenzziehung und -verwerfung und somit für die ambivalente, zugleich stabile und fragile, selektivpermeable Ver-
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
fasstheit von Grenzen ist die Schmugglertätigkeit von Azels Mutter Lalla Zohra. Nach dem frühen Tod ihres Ehemanns muss sie als Witwe und Analphabetin die Familie ernähren und fährt deshalb, wie viele Frauen ihrer Generation, mit einem Bus in das rund 80 km entfernte Ceuta, um dort Produkte zu kaufen, die sie in Marokko weiterveräußern kann. Sie ersteht Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs, die in Marokko schwer zu finden sind, versteckt diese unter ihrer Kleidung und besticht die Grenzbeamt*innen, damit sie ohne Kontrollen passieren darf. Für diesen Broterwerb ist ihr Personalausweis besonders wichtig und wird zum Symbol des Lebensunterhalts. Wieder materialisieren sich biopolitische Dynamiken und europäische Immunisierungsstrategien in Ausweisdokumenten (vgl. 5.1.3.1): Les frontaliers n’avaient pas besoin de passeport ni de visa pour entrer à Ceuta, ville marocaine occupée depuis cinq cents ans par les Espagnols. Leur carte d’identité suffisait. La sienne, elle l’avait fait plastifier pour ne pas l’abîmer et la gardait tout le temps sur elle. Avec ça, nous mangeons! aimait-elle dire à sa fille. (ebd.: 76)89 Anhand von Lalla Zohras regelmäßigen Grenztransgressionen zeigt sich erneut, dass Grenzen, so unüberwindbar sie erscheinen mögen, menschengemacht und insofern durchlässig sind. Insbesondere die europäischen Außengrenzen zeichnen sich laut Davitti durch eine »juxtaposition of liquidity and infrastructure« (Davitti 2019: 1176) aus. Durchlässig sind sie anscheinend bevorzugt zu ökonomischen Zwecken, denn wie die zitierte Passage impliziert, können nur Marokkaner*innen, die in der Grenzregion leben, die Grenze zu Ceuta problemlos überqueren, was vermutlich dem Import und Export von Waren sowie dem Austausch von Arbeitskräften und Dienstleistungen dient. Um mit Hardt und Negri (vgl. 2001: 150156, 190-193) zu argumentieren, braucht und fördert das Ineinander von Politik und Ökonomie im Empire die Mobilität von Menschen, solange diese der imperialen Logik gehorcht und unter deren Kontrolle erfolgt. Besonders interessant ist das Beispiel von Azels Mutter insofern, als die Immunisierungsstrategien Spaniens sich der territorialen Situation anzupassen scheinen: Mit ihrem Ausweis kann Lalla Zohra lediglich in die Enklave Ceuta einreisen, nicht aber auf das spanische Festland, obwohl beides de facto spanischer Boden ist. Wenn Lalla Zohra Ceuta betritt, überschreitet sie die Grenze zu einem spanischen Territorium, bleibt aber auf dem afrikanischen Kontinent und da eine Weiterreise über den Seeweg in Richtung spanisches Festland sich schwierig gestaltet, sind europäische Immunisierungsmechanismen nicht notwendig. Zu bedenken ist hier allerdings, dass der Roman im Jahr 1995 und somit vor in Kraft treten des ersten Dubliner Übereinkommens und einer koordinierten europäischen Migrations- und Asylpolitik spielt (vgl. Siegl 89
Die im Zitat anklingenden geschichtlichen, kolonialen und postkolonialen Beziehungen zwischen Spanien und Marokko werden in Kapitel 5.4.1 behandelt.
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2009: 76f.), sodass Lalla Zohras Betreten Ceutas nicht dieselben juristischen Folgen hat, wie es in Laurent Gaudés Eldorado für Soleiman und Boubakar der Fall ist.
5.3.1.2
Das Mittelmeer: Brücke, Grenze oder Schwelle?
Laurent Gaudés Eldorado zeichnet sich in der topografischen Verortung von Migrationsbewegungen durch eine frappierende Präsenz des Mittelmeers in dessen doppelter Funktion als Brücke und natürliche Grenze zwischen den Kontinenten aus. Stefan Müller klassifiziert Eldorado und Gaudés früheren Roman Le Soleil des Scorta (2004) sogar als »Mittelmeerromane« (Müller 2010: 131) und tatsächlich ist das Meer speziell im Erzählstrang des Kapitän Piracci quasi omnipräsent. Bereits auf den ersten Seiten des Textes, die das rege Treiben auf dem Fischmarkt Catanias erzählen (vgl. 5.1.4.2), wird das Meer als Lebensmittelpunkt und -grundlage der Sizilianer*innen dargestellt (vgl. Gaudé 2009: 11f.). Insbesondere über seinen Geruch, der die schmalen Gassen der Stadt erfüllt, manifestiert sich das Meer und erinnert die Menschen an seine ständige Präsenz: »L’air du matin enveloppait les hommes d’un parfum de mer. C’était comme si les eaux avaient glissé de nuit dans les ruelles, laissant au petit matin les poissons en offrande.« (ebd.: 11) Gleich darauf wirft der auktoriale Erzähler jedoch die Frage auf, ob die Bewohner*innen Catanias die Großzügigkeit des Mittelmeers überhaupt verdienen und deutet an, dass sie es durch Überfischung ausbeuten (vgl. ebd.: 11).90 In einer an die göttlichen Plagen im zweiten Buch Mose (vgl. Exodus, 7,1-11,10) erinnernden Reflexion stellt die narrative Instanz in Aussicht, dass die Menschen eines Tages mit einem fischlosen Meer bestraft werden könnten (vgl. Gaudé 2009: 12). Auch Stefan Müller stellt jene transzendent-mythische Dimension des ozeanischen Topos in Gaudés Roman fest: So ist das Meer in Eldorado zentraler Baustein der Morphologie des gaudéschen Mittelmeerdiskurses. Dieser ist in allen textuellen Ebenen vertreten und bildet sich besonders durch Mythisierung im Stile der antiken Mythenevokation heraus. Gaudés Erzähler beschreibt das Meer als weibliche Göttin, die über Leben und Tod der Menschen entscheidet (Müller 2010: 146). Die erwähnte sinnliche Wahrnehmung des Meeresgeruchs deutet er weiterhin als eine »synästhetische Manifestation der Omnipräsenz des Göttlichen« (ebd.: 146). Unmittelbar nach der oben zitierten mythisch-religiösen Beschreibung des Meers91 wird die Figur des Kapitän Piracci eingeführt (vgl. Gaudé 2009: 12), sodass Müller die ersten Seiten der Handlung als eine Art »Orakelspruch« (Müller 2010:
90 91
Mit den umweltkritischen Tendenzen von Laurent Gaudés Werk setzt sich Dounia Boubaker (vgl. 2015: 77-80) auseinander. Der Rückgriff auf Mythen ist ein wiederkehrendes literarisches Verfahren im Werk Gaudés und speziell in dessen Dramen. Siehe hierzu Stefan Müllers einschlägige Monografie (2018) sowie einen Aufsatz María Silvina Delbuenos (2014).
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
146) auslegt, der das tragische Ende des italienischen Protagonisten vorausahnen lässt. In der Tat können auch die ersten geschilderten Gedanken des Kapitäns, der die ausgenommenen Fische auf dem Markt weniger als »profusion joyeuse de nourriture«, sondern vielmehr als »macabre exposition« (beide Gaudé 2009: 12) wahrnimmt, als Vorzeichen seines Todes gelesen werden. Der Erzählstrang des Kapitäns steht somit von Beginn an im Zeichen des Mittelmeers. Der Topos Meer eröffnet allerdings nicht nur die Geschichte Piraccis und somit den Roman, sondern scheint eine strukturierende Funktion für die gesamte Narration zu haben. Das Leben des Salvatore Piracci ereignet sich aufgrund seiner Arbeit zu einem Großteil auf See sowie zwischen den Inseln Sizilien und Lampedusa: »Il patrouillait le plus clair de son temps au large de l’île de Lampedusa et partageait ainsi sa vie entre son navire, les escales à Lampedusa et son port d’attache, Catane.« (ebd.: 21) Der italienische Kapitän ist also ebenso wenig sesshaft wie der migrierende Soleiman, denn Bewegung und Rastlosigkeit sind in die Topografie seines Lebensraums eingeschrieben. Da er sich stets auf den fließenden, unbeständigen Gewässern des Mittelmeers sowie zwischen Inseln bewegt, die räumlich naturgemäß ein ›Dazwischen‹ von Ozean und Festland markieren und sich somit einer endgültigen Verortung entziehen (vgl. Matvejević 1993: 28-33), wirkt sein Leben wie eine durch die europäische Migrationspolitik bedingte Form des modernen Nomadentums. Als personifiziertes Immunisierungsdispositiv (vgl. 5.1.2) entbehrt sein Dasein eines Lebensmittelpunkts und der entsprechenden sozialen Beziehungen (vgl. Gaudé 2009: 13, 15). Allerdings bestimmt das Mittelmeer nicht nur den Alltag des Kapitäns, sondern wird zu einer emotionalen Konstante seiner Existenz, die ihn in seiner erzählten Entwicklung begleitet. Auf dem Meer beginnt er, seine Arbeit bei der Küstenwache zu hinterfragen, nachdem er die Suche nach in Seenot geratenen Migrant*innen aufgeben musste (vgl. ebd.: 77f., 95-97). Auf dem Höhepunkt seiner Identitätskrise entscheidet er sich, sein altes Leben hinter sich zu lassen, indem er mit einem kleinen Boot mehr oder minder ziellos in See sticht. Sobald er nachts im Hafen von Catania aufbricht, empfindet er Erleichterung, und das Meer wird mit einer Mutter verglichen, die Piracci in den Schlaf wiegt (vgl. ebd.: 136). Schließlich befindet sich der Protagonist in Libyen und erneut kennzeichnet das Meer einen Wendepunkt in seinem Leben. Er beschließt, von der Küstenstadt Al-Zuwarah aus landeinwärts nach Ghardaïa zu reisen, und als er der See den Rücken kehrt und der bis dahin omnipräsente Meeresduft verfliegt, schließt Piracci endgültig mit seiner Vergangenheit bei der Küstenwache ab: Il quittait Al-Zuwarah dans un brouhaha d’essence et de poussière. Le commandant pencha la tête pour apercevoir la route qu’il prenait. Il vit que l’on tournait résolument le dos à la mer. C’en était fini. Les bateaux de la Méditerranée qui allaient et venaient dans un jeu de cache-cache s’éloignaient de lui. Il abandonnait le parfum des eaux, sa barque échouée sur la grève, son continent, le misérable
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trafic des hommes. Il tournait le dos aux ports fourmillant d’ombres et de désir et s’enfonçait dans les terres. (ebd.: 169f.) In Form eines Pars pro toto steht das Meer in dieser Passage für eine Art Makrokosmos der Migration und jene vergangene Identität, die der Kapitän ablegen möchte. Zudem fällt auf, dass das Mittelmeer in seiner ambivalenten Funktion als Grenze, Schwelle und Brücke dargestellt wird. Es ist eine Grenze, die illegal und im Geheimen überquert werden muss, deren Überquerung riskant, aber möglich ist, wodurch es seinen Schwellencharakter erhält. Piracci verbindet mit dem Mittelmeer außerdem Europa, »son continent«, wie es in der zitierten Passage heißt, und obwohl er diesen von Al-Zuwarah aus nicht sehen kann, wird das Mittelmeer durch seinen Blick von Afrika aus in Richtung Europa zu einer Brücke zwischen den Kontinenten. Die isolierte soziale Situation Piraccis, die zunehmende Hinterfragung seiner Identität als Kapitän der italienischen Küstenwache bis hin zur Abwendung von dieser Tätigkeit durch seine Migration nach Afrika können insofern an folgende Feststellung Müllers angeschlossen werden: In Eldorado [kommt] deutlich zum Vorschein, dass sich die mittelmeerische Identität gerade von der Peripherie her definiert und kein zentral gesteuerter Entwurf sein kann. […] Für die Betrachtung von Gaudés mittelmeerischen Romanen sind gerade die Spannungen zwischen individueller und kollektiver Identität von Belang. Gaudé beleuchtet […] das Verhältnis zwischen der Individualität der Figuren und der größtenteils als konstruiert dargestellten Kollektividentität der südländischen Europäer (Müller 2010: 132f.). Das Mittelmeer als Grenze und Brücke zwischen Afrika und Europa wird in Gaudés Roman ferner Schauplatz der Ausübung biopolitischer Immunisierungsdynamiken (vgl. 5.1.2), denn das vermeintliche Eldorado Europa gewährt migrierenden Menschen nicht widerstandslos Eintritt, sondern wird bewacht wie eine Festung, eine »forteresse« (Gaudé 2009: 33, 62) oder »citadelle« (ebd.: 108, 219). Als Piraccis Crew sich in einer besonders stürmischen Nacht auf die schwierige Suche nach in Seenot geratenen Migrant*innen begibt (vgl. ebd.: 64-69), scheint das Meer auf den betreffenden Seiten des Textes zum Protagonisten der Handlung zu werden: »Die Belebung der Elemente erfährt in Eldorado [sic!] eine Intensivierung, da das Mittelmeer an mehreren Stellen […] animalisiert und sogar anthropomorphisiert wird.« (Müller 2010: 146) Das tobende Meer wird zu einem übermächtigen Wesen, das die Menschen Demut lehrt: Ils eurent le sentiment de plonger dans un corps vivant. Tout bruissait autour d’eux. Tout tanguait, crachait et soufflait. Ils sentaient qu’ils n’étaient pas de taille. Que les hommes n’étaient pas à l’échelle de cette masse puissante qui se cabrait et roulait, qui grondait et se gonflait, jouant avec le vent et la pluie. Ils n’étaient rien
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que des êtres de chair minuscules face à un continent d’eau qui avait entrepris ce soir de se tordre en tous sens. (Gaudé 2009: 67) Im Angesicht der Übermacht der Elemente richtet sich Piracci direkt an das Meer und bittet es, die gesuchten Menschen freizugeben (ebd.: 70), was Müller (vgl. 2010: 146) auf die angeführte mythisierende Komponente von Gaudés Mittelmeerdarstellung zurückführt. Die schier grenzenlose Kraft des mediterranen Naturraums hat allerdings noch eine weitere Wirkung auf den Protagonisten: Während er nach den Migrant*innen Ausschau hält, um sie zu retten und den Behörden zu übergeben, also just während der Kapitän seiner Aufgabe als Immunisierungsdispositiv Europas nachkommt und illegale Einwanderung unterbindet, kommen ihm folgende Gedanken: Au fond, ces histoires d’émigration et de frontières n’étaient rien. Ce n’était pas cela qui lui faisait quitter le port pour aller piocher dans la nuit la plus noire. À cet instant précis, il n’y avait plus de bâtiment de la marine militaire et de mission d’interception. Il n’y avait plus d’Italie ou de Lybie. Il y avait un bateau qui en cherchait un autre. Des hommes partaient sauver d’autres hommes, par une sorte de fraternité sourde. Parce qu’on ne laisse pas la mer manger les bateaux. On ne laisse pas les vagues se refermer sur des vies sans tenter de les retrouver. Bien sûr, les lois reviendraient et Salvatore Piracci serait le premier à réendosser son uniforme. Mais à cet instant précis, il cherchait dans la nuit ces barques pour les soustraire aux mâchoires de la nature et rien d’autre ne comptait. (Gaudé 2009: 68) Paradoxerweise hat der Kapitän gerade während der Ausübung seiner biopolitischen Pflichten den Eindruck, dass letztere keine Rolle spielen – gerade dort, wo die europäischen Immunisierungsmechanismen sich konkret ereignen, werden sie ausgesetzt und durch die Übermacht der Natur in ihrem artifiziellen Charakter entlarvt. Einen ähnlichen Effekt möchte Gaudé laut Boubaker mit der Darstellung von Naturräumen in seinen Romanen Le Soleil des Scorta (2004) und Ouragan (2010) erzielen: »Face à l’univers aliénant des hommes, Laurent Gaudé oppose […] celui de la nature. […] L’harmonie sauvage de la mer […] remplace ainsi l’ordre artificiel forgé par une humanité déliquescente.« (Boubaker 2014: 168) Diese Mythisierung des Mittelmeers nimmt in Gaudés Werk offenbar die Funktion eines alternativen Deutungssystems ein, das die politische Kontrolle menschlicher Mobilität durch die Darstellung der unbändigen Kraft der Natur konterkariert und dadurch die politische Regierbarkeit des Lebendigen allgemein in Frage stellt. Vermutlich sind Piracci und seine Besatzung hauptsächlich für Operationen im italienischen Hoheitsgebiet zuständig, doch ähnlich wie in internationalen Gewässern sind die Gesetze des Festlands auf den Weiten des Ozeans punktuell obsolet, es gibt keine Nationalstaaten und keine Grenzen mehr, nur menschliche Solidarität. Dabei ist dem Protagonisten sehr wohl bewusst, dass dies sich ändert, sobald sie
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einen Hafen ansteuern und er seine Passagiere der Polizei übergeben muss. Erneut erscheint das Meer als ambivalenter Raum, als Brücke, Schwelle und Grenze sowie als Ort der Immunisierung Europas, an dem aber gleichzeitig europäische Gesetze zweitweise ausgeklammert werden. Als Naturraum befindet es sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Rechtsordnung, da sich stets die streitbare Frage stellt, wo die Hoheitsgebiete der mediterranen Küstenstaaten enden bzw. internationale Gewässer beginnen und ob die Grenzziehung moderner Staaten auf See überhaupt Anwendung finden kann. In seiner fließenden Beschaffenheit und jener paradoxalen juristischen »esclusione inclusiva« (Agamben 2005: 10) in internationales Recht scheint das Meer in Eldorado dem Nomadentum eher zugeneigt als das Festland, auf dem die Norm der Sesshaftigkeit sich in starren Regeln und Gesetzen ausübt. Roberto Esposito betrachtet das Meer insofern als »luogo dell’improprio«, da es für alle Menschen gleichermaßen ein Symbol der »lontananza da casa e dell’erranza« (beide Esposito 2006: 106) ist. Zugleich sieht der Philosoph das Meer mit seinen wellenartigen Bewegungen und den Gezeiten als Figur des gemeinschaftlichen munus (vgl. 2.4.2), wodurch die See zu einer Metapher jenes Gemeinschaftsentwurfs wird, der laut Esposito die Basis für die Konturierung einer affirmativen Biopolitik darstellt – eine Gemeinschaft, in der das Eigene und die Exposition gegenüber dem Anderen sich nicht ausschließen und die Immunisierung kein bloßer Mechanismus der Exklusion ist, sondern das »›Gemeinsam-Sein‹« (Esposito 2014: 64) als ein ständiges Geben und Nehmen verstanden wird: »[I]l mare si ritira e si dà in questo ritiro. Non in due distinti passaggi, ma all’interno di un solo movimento: si ritira donandosi e si dona ritirandosi. E in tale ritirarsi lascia essere la terra. Non è questa la figura stessa della comunità? Il suo munus originario« (Esposito 2006: 107). Auch in Tahar Ben Jellouns Partir spielt das Mittelmeer als Grenze, Brücke und Schwelle zwischen Nordafrika und Europa eine entscheidende Rolle. Die Handlung ist in Marokko und Spanien, oder, genauer, zwischen den beiden Küstenstädten Tanger und Barcelona angesiedelt. Denn obwohl die beiden Städte die primären Handlungsorte darstellen, wirkt es angebrachter, das Geschehen nicht in ihnen, sondern zwischen ihnen zu verorten, da der Großteil des Romans, wie bereits sein Titel erahnen lässt, von Bewegung und Mobilität handelt. Die Erzählung beginnt in einem Café an der Hafenpromenade von Tanger, wo eine Gruppe Männer Haschisch raucht, Tee trinkt und dabei den Blick über das Meer schweifen lässt. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Lichtern Spaniens, die sie auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar erahnen können (vgl. Ben Jelloun 2007: 12).92 Wie es laut Jean
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Der sehnsüchtige Blick von der Küste Marokkos in Richtung des nur wenige Kilometer entfernten europäischen Festlands ist im Werk Ben Jellouns ein wiederkehrendes Motiv, dem Bernard Urbani sich unter dem Begriff »tragédie du détroit de Gibraltar« (Urbani 2012: 41) widmet.
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Norgaisse in Ben Jellouns Romanen häufig der Fall ist, findet somit bereits auf den ersten Seiten eine Art Kartografie der Handlung statt, die allerdings weniger auf bestimmte Orte und eine Verortung in diesen abzielt, sondern die Leserschaft vielmehr in »le mouvement, la distance, les drames […] caractérisant la vie nomade des personnages« (Norgaisse 2020: 27) einführt. Die Szene zeigt das stille Träumen von einem anderen Leben, ist von Ruhe und observierender Passivität geprägt (vgl. Ben Jelloun 2007: 11f.). In stummer Übereinkunft warten die Männer auf das Auftauchen einer Fantasiefigur, die sie sich in Rausch und Verzweiflung über ihre Situation herbeisehnen. Toutia, deren Name nicht genannt werden darf und den dennoch alle kennen, ist eine Art Meeresgöttin, von der die Männer sich ein Zeichen erhoffen, ob die gefährliche Überquerung des Mittelmeers, die sogenannte harraga,93 gewagt werden kann. In der Figur Toutia spiegelt sich allerdings eine Ambivalenz, die bei genauerer Betrachtung der gesamten Episode innewohnt, wie nachfolgend ausgeführt wird: »Ils l’ont surnommée ›Toutia‹, […] c’est l’araignée tantôt dévoreuse de chair humaine, tantôt bienfaitrice parce que transformée en une voix leur apprenant que cette nuit n’est pas la bonne et qu’il faut remettre le voyage à une autre fois.« (ebd: 13) In der Vorstellung der Männer ist Toutia sowohl gutmütig und barmherzig, als auch grausam und todbringend. Sie kann ihnen entweder die Reise über das Mittelmeer ermöglichen und ihnen den Weg weisen, oder sie mitsamt ihren Booten verschlingen und ist damit so unberechenbar wie das Meer selbst: »As dream and reality appear as interwoven processes in the fabric of their minds, the café’s customers perceive the ocean as both a barrier and a bridge, foregrounding its duality through associations of both punishment and beneficence.« (Idrissi Alami 2013: 7) Es fällt auf, dass neben Laurent Gaudé auch Tahar Ben Jelloun auf eine mythisierende Darstellung des Mittelmeers zurückgreift, um die Wankelmütigkeit der Natur und die ambivalente Funktion der See als Brücke, Schwelle und Grenze in Migrationsbewegungen zu thematisieren. Wenngleich die Szenerie nämlich zunächst eine träumerische Ruhe vermittelt und die Männer ob des klaren Himmels und ruhigen Meers hoffnungsvoll auf ein Zeichen von Toutia warten, zeigt sich auf den zweiten Blick, dass ihre Hoffnungen nicht nur vergebens sind, sondern gar tödlich enden könnten. Ihr Traum von Europa ist eine »rêverie de pacotille«, denn die Männer haben sich schon lange 93
Harraga ist ein »Neologismus des algerischen Alltagsarabisch« (Hertrampf 2020: 245), der vom Arabischen »›ha-raqaf‹ meaning ›to burn‹« (Kaiser/Thiele 2016: Fußnote 8) abstammt und sowohl den Akt der illegalen Mittelmeerüberquerung als auch die Personen bezeichnet, die diese unternehmen. Die Semantik des Brennens bezieht sich einerseits auf die Verbrennung von Identifikationspapieren, um eine Rückführung in das Herkunftsland zu vermeiden, und andererseits auf die illegale Migration als das unerlaubte ›Überfahren‹ des Meers (vgl. ebd., Sellman 2013: 135), wie in der Redewendung brûler un feu rouge, ›eine rote Ampel überfahren‹ (vgl. Pons, s.v. brûler). So wird brûler in Ben Jellouns Partir (vgl. 2007: 42, 46) als Synonym für ›auswandern‹ verwendet.
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in den »limbes du haschisch« (beide Ben Jelloun 2007: 11) verloren. Sie verharren also in einer Art Vorhölle, bezeichnet der Limbus doch in der katholischen Theologie den Ort, an den Seelen gelangen, denen ohne eigenes Verschulden der Zugang zum Himmel verwehrt wird, etwa ungetauft verstorbenen Kindern.94 Die LimbusMetapher bringt zum Ausdruck, dass die Männer ihr schwieriges Leben in Marokko nicht länger ertragen aber keine Chance auf eine bessere Zukunft haben. Wie auch Kaiser und Thiele (vgl. 2016: 277f.) hervorheben, ist es weniger materielle Armut als vielmehr eine Armut an Perspektiven, welche die Männer vom Auswandern träumen lässt und die Szene mit einem »sense of suffocation« (ebd.: 277) anreichert, da die Figuren in einem Schwellenzustand des zeitlosen Wartens auf ein besseres Leben verweilen, das unerreichbar bleibt. Das Wort limbe impliziert dabei, dass sie sich unschuldig in dieser aussichtslosen Lage befinden, wodurch einmal mehr ein (bio-)politisches Versagen vonseiten ihres Staats angedeutet wird (vgl. 5.1.1.1). Für die meisten von ihnen wird die Hoffnung auf eine Zukunft in Europa sich nicht erfüllen, denn aufgrund ihrer Nationalität und ökonomischen Situation haben sie kaum Möglichkeiten, legal einzureisen und die illegale Überquerung des Mittelmeers könnte sie ihr Leben kosten. Darum klammern sie sich an eine mögliche Erscheinung Toutias, die aber stets dasselbe zu verkünden scheint: »[I]l faut remettre le voyage à une autre fois.« (Ben Jelloun 2007: 13) Tatsächlich ist das Risiko, bei der Überfahrt ums Leben zu kommen, in der Episode symbolisch omnipräsent. In dem Pfefferminztee der Männer ertrinken zahlreiche Bienen, Toutia singt »la chanson du noyé« (ebd.: 12), der Erzähler berichtet von den Leichen, die gelegentlich an die Strände der Stadt gespült werden und der Protagonist Azel stellt sich bereits vor, als einer jener Ertrunkenen auf dem Friedhof des Meeresgrunds zu liegen (vgl. ebd.: 11-14). Seine Vorstellungen sind so bildlich und intensiv, dass er plötzlich glaubt, den Geruch von Verwesung wahrzunehmen: »Azel voit son corps nu mêlé à d’autres corps nus gonflés par l’eau de mer, le visage déformé par l’attente et le sel« (ebd.: 13). Wenn er die Augen schließt, sieht Azel gar den Tod um seinen Tisch tanzen (vgl. ebd.: 14) – ein vorzeitiger Hinweis auf sein eigenes tragisches Schicksal gegen Ende der Handlung. Und dennoch betrachten er und die anderen Männer die Lichter der spanischen Küste und sind nahezu besessen von dem Gedanken, nach Europa auszuwandern. Bewegung und Mobilität sind somit von Beginn an sehr präsent in der Erzählung und obgleich es sich zunächst nur um Fantasiereisen und Träume vom Exil handelt, ist die potenzielle Überquerung des Mittelmeers lexikalisch im Text verankert: Die Männer konsumieren »la potion qui ouvre les portes du voyage« (ebd.: 11) und stellen sich vor, das Land eines Tages zu verlassen, »partir un jour du pays« 94
Johannes Maria Schwarz (2006) rekonstruiert die theologische Diskussion um das Schicksal ungetaufter Kinder seit den Anfängen des Christentums und widmet sich dabei besonders detailliert den verschiedenen Positionen im 20. Jahrhundert.
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(ebd.: 14), denn »tout leur être est tendu vers le lointain« (ebd.: 12). Darum sind ihre Blicke unaufhörlich auf das Meer (vgl. ebd.: 11, 13, 14) und den Horizont (vgl. ebd.: 11, 13) gerichtet, sie denken an Boote (vgl. ebd.: 12, 14), die es ihnen ermöglichen würden, die Straße von Gibraltar zu überqueren, »enjamber la mer du détroit« (ebd.: 12). Sie vollziehen ein imaginäres »va-et-vient« (Norgaisse 2020: 57), indem sie sich von Tanger aus nach Spanien projizieren: »[T]raverser un par un cette distance qui les sépare de la vie, la belle vie, ou la mort.« (Ben Jelloun 2007: 15) Gleichzeitig steht diese potenzielle Mobilität in Kontrast zu der faktischen Immobilität der Besucher des Cafés, die sich Tag für Tag ihren Träumen hingeben und vergebens warten. Wie unter 5.4.2.2 ausführlich dargelegt wird, beschreibt Nicoletta Pireddu den Zustand der träumenden Wartenden als migrant bovarysm: No less stagnant than Emma Bovary’s tedious provincial housewife life, the inertia that paralyzes this Moroccan town plagued by unemployment, corruption, and prostitution fosters compensatory daydreaming in which the longing for exile as a synonym for safety and success finds immediate fulfilment in artificial paradises and virtual travels. (Pireddu 2009: 18) Die Besucher des Cafés teilen den Wunsch nach einer Zukunft in Europa mit dem Großteil der Figuren in Partir. Nicht nur viele Bewohner*innen Tangers, wie Azel, seine Schwester (vgl. Ben Jelloun 2007: 132), seine Mutter (vgl. ebd.: 172), sein Cousin Noureddine (vgl. ebd.: 20f.), seine Nachbarin Malika (vgl. ebd.: 119f.) oder seine Freundin Siham (vgl. ebd.: 42f.), träumen von einem Leben auf dem europäischen Kontinent. Auch aus anderen Ländern Afrikas stranden zahlreiche Menschen in der marokkanischen Küstenstadt, von der aus man Europa bereits sehen kann (vgl. ebd.: 230, 267, 269). Lediglich vierzehn Kilometer trennen Tanger von der spanischen Küste (vgl. ebd.: 41) – »proximité topographique et distance topologique incommensurables« (Urbani 2012: 51) –, wodurch die Stadt zu einer Grenzstadt wird,95 obwohl sie nicht an einer institutionalisierten, sondern an einer natürlichen Grenze liegt: Tangier is a city from which one wants to escape as soon as possible. As such, it is a border zone city where people arrive from all over Africa with the one purpose of using tangier as the stepping-stone to Europe. Arguably, the novel’s central space – the space that structures it both topographically, narratologically, and thematically – is not the cities of Tangier and Barcelona, but the Mediterranean. (Frank 2017: 86) 95
In einer anderen, gleichwohl kompatiblen Interpretation argumentieren Albert und Kober, dass Tanger in Partir nicht als Grenzstadt, sondern als entgrenzter, ortloser Raum entworfen wird: »Dans Partir, sous l’effet des phénomènes liés à la migration, l’espace délocalisé de Tanger construit une ville ›transhumante‹ qui se prolonge jusqu’à certains quartiers de Malaga ou Madrid que plus rien ne distingue de Tanger.« (Albert/Kober 2013: 48f.)
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Dieses Zitat von Søren Frank scheint die zuvor aufgestellte These zu untermauern, dass die Handlung von Partir sich in einem Dazwischen verortet, das maßgeblich durch das Mittelmeer geprägt ist. Obgleich das typische Motiv der harraga nur indirekt thematisiert wird und der Text keine Episode beinhaltet, die eine solche Überfahrt schildert, ist das Meer im Roman auffallend präsent. Es wird häufig explizit erwähnt, schwingt aber insbesondere in dem gedanklichen oder tatsächlichen ›Hin- und Her‹ der Handlung, dem »back and forth between Tangier and Barcelona« (ebd.: 86), mit. Auch Bernard Urbani unterstreicht jene Bedeutung des Meers sowie dessen Assoziation mit Migration in Partir, indem er den Roman sowie andere Werke Ben Jellouns, die von Migrationsbewegungen zwischen Marokko und Spanien handeln, als »littérature dramatique du détroit, du ›néant bleu‹« (Urbani 2016: 476) bezeichnet. Jedes Mal, wenn die Figuren sich zwischen Marokko und Spanien bewegen oder sich von der einen Küstenstadt in die andere träumen, überqueren sie räumlich oder imaginär das Mittelmeer, das als natürliche Schwelle Marokko und Spanien sowohl voneinander trennt als auch miteinander verbindet. In Azels Gedankenwelt etwa ist Spanien omnipräsent (vgl. Ben Jelloun 2007: 25) und er träumt sich regelmäßig an die gegenüberliegende Küste: Azel, pendant ce temps, s’évadait en pensée. Il était maintenant installé à la terrasse d’un des grands cafés de la Plaza Mayor à Madrid. Il faisait beau, les gens étaient souriants, une jeune touriste allemande lui demandait son chemin, il l’invitait à prendre un verre…La voix du recruteur se fit soudain plus forte et le ramena à Tanger (ebd.: 28). Auch gegenüberstellende Formulierungen wie die folgende intensivieren die pendelnde, doppelte Räumlichkeit der Erzählung: »Au moment où Azel s’installait à Barcelone, Siham attendait devant le consulat d’Espagne pour déposer une demande de visa.« (ebd.: 95) Spielt außerdem die Handlung bis zu Azels Ausreise in Kapitel acht, abgesehen von den Fantasiereisen der Figuren, ausschließlich in Tanger, so häufen sich ab Kapitel neun die Ortssprünge zwischen Spanien, bzw. Europa, und Marokko. Kapitel neun beginnt mit dem zuvor zitierten Satz, in dem Siham in Marokko ihre Ausreise nach Spanien plant. Im Laufe des Kapitels reist sie schließlich nach Marbella, wo sie fortan für eine saudische Familie als Krankenpflegerin arbeitet (vgl. ebd.: 95-102). Das folgende Kapitel zehn (vgl. ebd.: 103-109) schildert den Alltag von Azel und Siham in Spanien, bevor Kapitel elf (vgl. ebd.: 110-118) die Geschichte von Azels Bekannten Mohammed Larbi erzählt, der von Marokko nach Belgien auswandert. Kapitel 12 handelt von Azels Nachbarin Malika und spielt somit wieder in Tanger (vgl. ebd.: 119-125), während die Handlung in Kapitel 13 erneut nach Spanien springt, wo Azel eine Liaison mit der schönen Soumaya beginnt (vgl.
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ebd.: 126-130). Die diegetischen Ortswechsel setzen sich auf diese Weise fort und werden von gedanklichen Reisen der Charaktere begleitet.96 Wie die angeführten Beispiele demonstrieren, spielt die Handlung von Partir tatsächlich in einem Dazwischen von Spanien, bzw. Europa, und Marokko und ergibt sich maßgeblich aus Bewegungsmustern im mediterranen Raum. Gleichzeitig reflektiert der Roman die Unmöglichkeit von Mobilität und zeichnet das Mittelmeer als Ort von Immunisierungsmechanismen. Während nämlich die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas ab 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und der graduellen Erweiterung des Schengen-Raums zunahm, ergriff die europäische Union parallel Maßnahmen, um sich nach außen hin abzuschotten (vgl. Wihtol de Wenden 2016: 11-13, Kaiser/Thiele 2016: 271-274, Sellman 2013: 48-50). Die folgende Passage beschreibt eindringlich, wie Spanien in Partir durch die technische Aufrüstung seiner Grenzanlagen illegale Migration über das Mittelmeer unterbinden möchte: L’article racontait que l’Espagne venait très récemment d’installer le long de ses plages un système de surveillance électronique, avec infrarouge, armes automatiques, ultrason, ultra tout…Les clandestins pourraient être repérés avant même qu’ils décident de quitter le pays! Avec cet attirail, les flics espagnols étaient maintenant capables de tout prévoir dès qu’un Marocain émettait le plus petit désir de traverser le détroit de Gibraltar. Il lui suffisait de le penser et les Espagnols recevraient une information détaillée sur le type en question, son âge, son nom, son passé, tout, ils sauraient tout. C’était ça, le progrès. Les Marocains, à présent, n’avaient qu’à bien se tenir. Plus possible de rêver l’Espagne! Une nouvelle loi et de nouvelles techniques l’interdisaient. Au moindre soupçon, les lumières de la Guardia Civil s’allument, les appareils détectent le candidat à l’immigration qui sera refoulé avant même qu’il quitte la maison. (Ben Jelloun 2007: 48f.)
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Die beschriebene Allgegenwart von Bewegung, Migration und dem Wunsch nach Mobilität spiegelt sich u.a. in der nahezu inflationären Verwendung des titelgebenden Verbs partir wider. Allein auf den ersten 50 Seiten von Ben Jellouns Roman taucht das Verb partir mindestens zehn Mal auf (vgl. Ben Jelloun 2007: 14, 20, 23, 25, 29, 31, 37, 2 x 42, 46). In diesem Zusammenhang ist eine Unterhaltung zwischen Azel und Malika besonders frappierend, denn als der Protagonist das junge Mädchen fragt, was sie später in ihrem Leben tun möchte, antwortet sie lediglich »Partir«, das Ziel spielt keine Rolle (vgl. ebd.: 119f.) In einem Interview mit dem Verlag Gallimard antwortet Tahar Ben Jelloun auf die Frage nach der Bedeutung des Romantitels: »›Partir‹ est un verbe plus fort qu’›émigrer‹ ou ›s’exiler‹: il donne à voir le mouvement, la détermination, laisse même imaginer le non-retour. C’est en effet une idée fixe dans la tête de beaucoup de jeunes Marocains: toute une jeune génération éduquée, qui a fait des études mais ne trouve pas de travail, se met à regarder de l’autre côté de la Méditerranée en espérant résoudre le problème de son destin. Ils pensent que la seule solution est de traverser le détroit de Gibraltar« (Ben Jelloun zit.n. Gallimard 2006).
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Trotz der ironischen Übertreibungen verdeutlichen Azels Überlegungen, dass die zunehmende Abschottung Europas mitunter nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Wirkungskomponente aufweist. Wie Søren Frank bemerkt, gehen die beschriebenen Instrumente zum Grenzschutz über die europäischen Außengrenzen hinaus, sodass die nationale und kontinentale Grenze zwischen Spanien und Nordafrika sich verschiebt, »reaching all the way into Moroccansʼ houses and, ultimately, minds.« (Frank 2017: 80)97 Durch das im zitierten Passus von Partir formulierte Gefühl, beobachtet zu werden, sollen potenzielle Ausreisewillige abgeschreckt und von ihrem Plan abgebracht werden, »deterrence through the internalization of being watched« (ebd.: 80) – mentale Beeinflussung und Einschüchterung als Immunisierungsstrategie.98 Die biopolitischen Verfahrensweisen zur Einschränkung von Migration funktionieren somit nicht allein über geografische Grenzziehung, Gesetze und bürokratische Abläufe, sondern wirken sich auf die Körper der Betroffenen aus und schreiben sich in deren Bewusstsein ein. Søren Frank fasst zusammen: »the border is no longer there, but everywhere« (ebd.: 80). Zusammenfassend ist die sujetbildende Präsenz des Mittelmeers in Tahar Ben Jellouns Roman frappierend. Wie Søren Frank schreibt (vgl. ebd.: 86), hat der Topos in Partir eine mehrfach strukturgebende Funktion, nämlich in topografischer, narratologischer und thematischer Hinsicht. Das Mittelmeer bildet sowohl die Brücke als auch die natürliche Grenze zwischen Afrika und Europa, und die Stadt Tanger, nur eine kurze Bootsfahrt vom spanischen Tarifa entfernt, wird zu einer Schwelle auf afrikanischem Boden, von der aus das Glück und Wohlstand versprechende Europa zum Greifen nahe scheint (vgl. Urbani 2016: 474). Ortswechsel in Form tatsächlicher oder gedanklicher Reisen der Figuren erzeugen sowohl einen Eindruck diegetischer Rastlosigkeit als auch einen Effekt räumlicher Überlagerung. Marokko und Spanien, Tanger und Barcelona scheinen in der textuellen Gestaltung von Partir sowie in den verschiedenen Ebenen der Narration – in der erzählten Gegenwart und Vergangenheit, der diegetischen Realität sowie deren potenziellen oder
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Siehe hierzu auch Julia Schulze Wessels (vgl. 2017: 164-193) Ausführungen zur Externalisierung europäischer Außengrenzen durch die finanzielle Förderung von Grenzschutzmaßnahmen in Drittstaaten: »[D]ie europäische Migrationspolitik [verschiebt] die Aushandlungskämpfe um Aufnahme oder Abweisung nicht nur in den eigenen Grenzraum […], sondern auch in Drittstaaten hinein und [eröffnet] dadurch neben dem exterritorialisierten Grenzraum einen neuen, einen externalisierten Grenzraum« (ebd.: 162). Hieran lässt sich anschließen, dass Azel die Informationen zum verstärkten Grenzschutz Spaniens einem Zeitungsartikel entnimmt, den ein Polizist am Hafen von Tanger liest (vgl. Ben Jelloun 2007: 48f.). An mehreren Stellen des Romans wird thematisiert, dass die marokkanische Regierung versucht, ihren Ruf im Ausland zu verbessern und gegen die illegale Migration aus ihrem Land in Richtung Europa vorzugehen, indem sie derartige Nachrichten sowie Bilder von ertrunkenen Migrant*innen in den nationalen Medien verbreitet (vgl. ebd.: 32, 54, 162, 176f., 5.2.3.1).
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erträumten Varianten – in einem einzigen mediterranen Raum zusammenzufallen. Die beiden Semiosphären (vgl. Lotman 2010: 165, 5.3.2.1) sind mittels der vielfältigen tatsächlichen oder fiktiven bilateralen Bewegungsmuster von Figuren und Waren auf dem Land- und Seeweg ineinander verflochten, sodass Mobilität in den literarischen Raum eingeschrieben wird (vgl. Albert/Kober 2013: 54f.). Dabei scheint das Meer, eine sich ständig in Bewegung befindende, fließende Weite, beinahe für ein Versprechen von Aufbruch und Mobilität zu stehen: La agitación del líquido elemento, el movimiento sin fín y siempre cambiante de su ir y venir sin descanso se asemeja a los desplazamientos identitarios de sus exiliados, para quienes el traslado por el mar, en todos sus sentidos, se presenta como una huída, un refugio, una salvación. (Martínez de Arrieta 2013: 127) Zwar ist das zugleich verbindende und trennende Mittelmeer in Ben Jellouns Partir und Gaudés Eldorado Schauplatz europäischer Immunisierungsmechanismen. Allerdings scheinen die in diesem Kapitel analysierten literarischen Verfahren der narrativen Rastlosigkeit und räumlichen Dopplung sowie der Mythisierung des Meers als Naturgewalt eine Dekonstruktion der menschengemachten Grenzen zwischen Europa und Afrika vorzunehmen und stattdessen die schwellenartige, historische und aktuelle Verbundenheit der Kontinente zu betonen. Die Literatur scheint in diesem Falle als hinterfragendes Dispositiv zu agieren, das ihre an die extraliterarische Realität angelehnten Inhalte durch ihre Form zur Diskussion stellt.
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Semantiken prekärer Räumlichkeit: Peripherien, Nicht-Orte und Heterotopien in der biopolitischen Regulierung von Migrationsbewegungen Marginalisierte Räume und die Unmöglichkeit der Verortung
Wie im vorigen Kapitel am Beispiel von Grenzen unterschiedlicher Art gezeigt wurde, scheinen die biopolitischen Dynamiken des Migrationsdispositivs in den analysierten literarischen Werken häufig mit besonderen Formen von Räumlichkeit einherzugehen, diese zu begünstigen oder gar erst zu produzieren. Zwar nennen Balke, Siegert und Vogl den Begriff ›Biopolitik‹ in folgendem Zitat nicht explizit, doch ihre Aussage enthält zweifellos eine biopolitisch auslegbare Dimension, wenn sie schreiben, dass solche Bürokratien, die das Leben verwalten, eigene Orte hervorbringen, die […] diejenigen, die von ihren Entscheidungen betroffen sind, ›einfassen‹ und einem unnachsichtigen Differenzierungsprozess unterwerfen. Dessen basale Logik unterschiedet diejenigen, die Ansprüche berechtigterweise erheben von solchen, die abgewiesen werden müssen. (Balke/Siegert/ Vogl: 2016: 009)
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Mit Ellis Island nennen die drei Verfasser ein Beispiel, dessen Topografie maßgeblich durch Migrationsbewegungen geprägt ist und dessen räumliche Strukturen teilweise erst durch die Funktion als Anlaufstelle für neu eingetroffene Eingewanderte entstanden sind. In Shumona Sinhas Assommons les pauvres! ist hinsichtlich der topografischen Gestaltung der Autofiktion zunächst auffällig, dass bestimmte geografische Eigennamen nicht verwendet werden. Ebenso wie die Protagonistin und die meisten Figuren bleiben die Schauplätze der Diegese überwiegend namenlos, sind allerdings durch verschiedene Indizien und Umschreibungen zu identifizieren. Auf die indische Heimat der Protagonistin verweisen etwa die Erwähnung der hinduistischen Gottheiten Kâli (vgl. Sinha 2012: 25, 40, 143) und Krishna (vgl. ebd.: 93), vereinzelte Wörter und Ausdrücke auf Bengali oder Hindi (vgl. ebd.: 41, 47, 66, 78), die Schilderung der postkolonialen Geschichte Indiens und Pakistans (vgl. ebd.: 48) und nicht zuletzt die Umschreibung ihres Landes als Subkontinent (vgl. ebd.: 99). Frankreich wird lediglich mit neutralen Ausdrücken wie »ce pays« bezeichnet (ebd.: 20, 46, 56) und Paris erscheint zunächst nur als »la ville« bzw. »cette ville« (ebd.: 10, 87), obgleich die Erwähnungen des RER (vgl. ebd.: 17, 19, 139) und eines Flusses (vgl. ebd.: 46) bereits auf die Hauptstadt des Hexagons hindeuten, bevor die Umschreibung »Ville lumière« (ebd.: 118) den Haupthandlungsort preisgibt. Diverse andere Kontinente, Länder, Nationalitäten und Städte nennt die Erzählerin hingegen bei deren Namen (vgl. ebd.: 22, 109, 78) und insbesondere Europa findet häufig namentlich Erwähnung (vgl. ebd.: 28, 42, 74, 79, 99). Frankreich und Indien aber werden nur umschrieben, womit die Hauptfigur weder ihrer Vergangenheit noch ihrer Gegenwart einen Ort gibt. Dies kann zunächst auf die komplexe Identitätskonstruktion der Protagonistin hindeuten, die mit ihrer eigenen Migrationserfahrung, ihrer Rolle im Asylsystem (vgl. 5.1.2) sowie mit ihrer Akzeptanz durch die französische Gesellschaft hadert, wie unter 5.4.2.1 und 5.4.4.1 näher analysiert wird. Andererseits könnte die Auslassung der Namen Indiens und Frankreichs eine Art Anspruch auf Universalität bezüglich der Beobachtungen und Erfahrungen der Protagonistin ausdrücken. Indien könnte als Herkunftsland der Asylbewerber*innen durch ein anderes der »pays dits en voie de développement« (Sinha 2012: 117) ersetzt werden und der Alltag der Erzählerin könnte sich ebenso in einem anderen europäischen Industriestaat ereignen. Für letztere Auslegung spricht die Tatsache, dass in der Narration häufig das Nord-Süd-Gefälle und die überwiegend unilateralen Migrationsbewegungen von der südlichen Hemisphäre in den Norden angesprochen werden (vgl. ebd.: 13, 16, 39-41, 49, 53): Et toujours, toujours des gens migrateurs, allant du sud de plus en plus vers le nord, lorsque le nord de leur pays, le nord de la proche limite, ne leur a plus suffi, ne les a plus accueillis, ils ont franchi alors les lignes rouges, cherché le nord lointain, le nord du rêve, ils sont entrés là où ils n’avaient pas le droit. (ebd.: 42)
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Daran ließe sich die Deutung Brinda J. Mehtas (vgl. 2020: 86, 90) anschließen, die vermutet, dass Sinhas Hauptfigur die Herkunft der Migrant*innen, mit denen sie in der Asylbehörde spricht, nicht explizit nennt, um damit die Arbitrarität von Grenzen allgemein und insbesondere von solchen hervorzuheben, die Bevölkerungen im Zuge kolonialer- und postkolonialer Dynamiken aufgezwungen wurden. Die Namenlosigkeit der Hauptfigur und der Handlungsorte scheint offenbar dafür zu stehen, dass die erzählten biopolitischen Strukturen an Orten mit ähnlichen Voraussetzungen dieselben anonymisierenden Dynamiken und Räume ausbilden würden. Des Weiteren ist bemerkenswert, dass die Asylbewerber*innen und die erzählende Übersetzerin sich überwiegend an Orten aufhalten, die von einer hierarchisch organisierten Räumlichkeit geprägt sind. Ein Großteil dieser Orte unterstreicht die soziale Randständigkeit der migrierten Figuren, die sich vorrangig in der Peripherie der Stadt und an den Rändern der Gesellschaft bewegen (vgl. ebd.: 88f., 94f.): [T]he ruptured lives of the migrants uncover the fractured geography of Paris constructed on spatial fault lines of segregation and distancing. This spatial dissonance mirrors France’s ambiguous immigration and refugee laws in a highly volatile ambiance of xenophobia, racism, gender anomie, and violence (ebd.: 95). Die Relationalität von Zentrum und Peripherie wird in diesem Kapitel in Anschluss an Juri M. Lotmans Denkfigur der Semiosphäre gedacht, mit welcher der russische Literaturwissenschaftler und Semiotiker den Raum beschreibt, den eine Kultur und ihre Zeichen abdecken (vgl. Lotman 2010: 165). Trotz ihrer konstitutionellen Heterogenität (vgl. ebd.: 166) ist die Semiosphäre, wie Lotman schreibt, »asymmetrisch« (ebd.: 169) und setzt sich aus einem Zentrum, das die »Selbstbeschreibung« (ebd.: 170) der Semiosphäre mittels der Etablierung von Ordnungen vornimmt, und einer Peripherie zusammen, die den Normen des Zentrums nicht entspricht und dessen Anderes darstellt (vgl. ebd.: 169-173). Die beiden Bereiche der Semiosphäre sind durch eine Grenze voneinander getrennt, denn, so Lotman, »Am Beginn jeder Kultur steht die Einteilung der Welt in einen inneren (›eigenen‹) und einen äußeren Raum (den der ›anderen‹).« (ebd.: 174) Allerdings ist es ausgerechnet dieses Andere, also die Peripherie, das nach Lotman die Dynamik der Semiosphäre garantiert, da dort ein Spannungsverhältnis zwischen der Norm und einer divergierenden Realität entsteht, wodurch alternative und neue Ordnungen ausgehandelt werden können (vgl. ebd.: 178). In Sinhas Assommons les pauvres! halten sich insbesondere die Asylsuchenden in einem ›Außerhalb‹ auf, das kaum noch Berührungspunkte mit dem Rest der Bevölkerung aufweist. Als Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus befinden sie sich jenseits einer biopolitischen Schwelle, die sich auch räumlich niederzuschlagen scheint, sie leben »de l’autre côté des choses« (Sinha 2012: 23). Während die
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Gesetze, die ihren Migrationsprozess und ihre Lebensumstände in Europa regulieren, im Zentrum der souveränen Macht geschrieben werden, können sie selbst sich ausschließlich in marginalisierten Räumen bewegen, die ihre machtlose, untergeordnete Position spiegeln (vgl. Mehta 2020: 91f., 94): »An der Peripherie […] sammeln sich soziale Gruppen mit niedrigem Status. Wer völlig aus der sozialen Wertschätzung herausfällt, siedelt am Rand der Vorstädte – also ›vor‹ der Stadt, an ihrer Grenze.« (Lotman 2010: 187) Die Eingewanderten wohnen und arbeiten in den unsichtbaren Orten der Stadt (vgl. Sinha 2012: 25), im »arrière-scène des boutiques et des restaurants« (ebd.: 28), hinter schmutzigen Vorhängen (vgl. ebd.: 62). Selbst die Räume der Flüchtlingsinitiative, einer der wenigen Orte, an denen die Migrant*innen Geborgenheit und Trost finden (vgl. ebd.: 118), liegen »au-delà de la périphérie« (ebd.: 119) in einer derart tristen Gegend, dass es sich um ein anderes Land zu handeln scheint: Le métro m’a emmenée au bout du tunnel interminable à quelques kilomètres de la Ville Lumière, dans un quartier où les murailles en béton, craquelées, fracassées, laissaient paraître leur carcasse de fer. Les trottoirs montraient leurs dents de tête de mort. Les rues, lasses et lépreuses, partaient dans tous les sens. […] Le tout avait l’air d’un chantier abandonné. C’était un ghetto. Un autre pays. Celui que j’avais réussi à laisser derrière moi. Il était impossible de croire qu’il existait encore une ville lumineuse pas très loin d’ici. Le métro m’avait emmenée au bout du tunnel au bout du monde dans ce pays poubelle […]. (ebd.: 118f.) Das Zitat verdeutlicht, dass zwischen dem schönen Pariser Zentrum, der »ville lumineuse«, und seinem vernachlässigten Gegenstück in den Vororten sowohl räumliche als auch soziale Grenzen bestehen. In dem Auszug scheint genau das beschrieben zu werden, was Michael Hardt und Antonio Negri bezüglich der biopolitischen Stadtplanung in Zeiten des Empire festhalten: Arm und Reich rücken zwar im Zuge von Kapitalisierung und globaler Vernetzung zunehmend zusammen, da eine Überlagerung der sogenannten Ersten und Dritten Welt stattfindet (vgl. Hardt/Negri 2001: 253f.). Auf lokaler Ebene, in der urbanen Raumplanung, materialisieren sich jedoch weiterhin Differenzierungsvorgänge, die finanziell stärkere und schwächere Teile der Gesellschaft auch räumlich voneinander trennen (vgl. ebd.: 336f.).99 Selbst die Büros der Migrationsbehörde liegen in einer trostlosen Gegend am Rande der Stadt und die Ich-Erzählerin vermutet, dass dieses Viertel den politischen Autoritäten gerade gut genug schien, um die Anlie-
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An der Stelle sei an den Aufsatz von Judith Revel (2006) erinnert, der die Entstehung französischer Vorstädte ab den 1960er Jahren und deren strukturelle wie politische Vernachlässigung seit Einsetzen der postfordistischen Ära auf eine Verflechtung biopolitischer wie bioökonomischer Strategien und Dynamiken zurückführt.
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gen von Menschen zu bearbeiten, die vermutlich niemals vollwertige Bürger*innen ihres Landes sein werden (vgl. Sinha 2012: 19f.)100 . Räumlichkeit kommt in migratorischen Kontexten eine gesteigerte Bedeutung zu und Shumona Sinhas Autofiktion erweckt den Eindruck, dass von Migration markierte Räume sich durch eine auffällige Häufung peripherer Charakteristika auszeichnen. Obgleich Raum im Rahmen dieser Untersuchung grundsätzlich als dynamisch, relational und instabil gedacht wird, scheinen die Figuren in Sinhas Werk sich aufgrund ihrer Situation in besonders prekären und marginalisierten Räumen zu bewegen und den Gegenentwurf der Gesellschaft darzustellen, da sie von der Norm abweichen, innerhalb einer anderen Ordnung leben und Gegendiskurse ausbilden. Juri M. Lotman geht in seiner Konzeption der Semiosphäre davon aus, dass die Grenze zwischen Zentrum und Peripherie einen schwellenartigen Charakter aufweist und neben Austausch zwischen den beiden Sphären auch die Beeinflussung oder gar Umprägung des Zentrums durch die Peripherie ermöglicht (vgl. Lotman 2010: 187-190). Wenn in Sinhas Autofiktion die Peripherie offensichtlich auf das Zentrum einwirkt, wie bspw. das unter 5.2.2.2 analysierte Motiv der Krankheit aufzeigt, so werden dauerhafte Änderungen der asymmetrischen Verhältnisse nicht angedeutet. Insbesondere der letzte Satz von Assommons les pauvres!, »Il est temps de rentrer« (Sinha 2012: 149), wirkt eher wie ein resigniertes Fazit, das die vorherrschende Ordnung bestätigt, indem es alle Menschen an ihren vom Schicksal vorgesehenen Platz verweist. Dennoch stellt die Peripherie auch in Sin-
100 Margarete Zimmermann (vgl. 2015: 97f.) untersucht die räumlichen Implikationen von Exklusionsmechanismen in Sinhas Autofiktion und kategorisiert die erwähnten Büros der Migrationsbehörde sowie das Viertel, in dem die Flüchtlingsinitiative liegt, als non-lieux nach Marc Augé. Obgleich Zimmermanns Auslegung der topografischen Gestaltung bestimmter Orte in Assommons les pauvres! nachvollziehbar ist, sieht die vorliegende Untersuchung in ihnen primär den Ausdruck einer hierarchischen Raumgestaltung, die durch biopolitische und bioökonomische Strukturen gefördert oder geschaffen wird. Da mit Blick auf den Umfang dieser Untersuchung nur selektiv vorgegangen werden kann, wird die später erfolgende Analyse von Nicht-Orten Sinhas Autofiktion nicht berücksichtigen. Daher sei an dieser Stelle vermerkt, dass sich in Sinhas Text neben den von Zimmermann genannten Nicht-Orten auch solche finden, die im Zuge des Ausbaus der nationalen und internationalen Verkehrsnetze für Augé die stetige Beschleunigung der surmodernité verkörpern (vgl. Augé 1992: 40f., 48), etwa der Zug (vgl. Sinha 2012: 17, 19, 139), die Autobahn (vgl. ebd.: 20) und das Flugzeug (vgl. ebd.: 41). Bezeichnenderweise findet die von der Protagonistin verübte Attacke auf einen Migranten, die das katastrophale Ende der Handlung bildet, in einem non-lieu par excellence statt, nämlich in der Metro (vgl. ebd.: 132, 140f.). In der überfüllten und doch anonymen, unsozialen Umgebung der großstädtischen U-Bahn scheinen sich die multiplen persönlichen Konflikte der Protagonistin (vgl. 5.4.2.1, 5.4.4.1) in der Kondition des vereinsamten, orientierungslosen Individuums der vielfach beschleunigten Postmoderne zuzuspitzen und in einem kopflosen Akt der Selbstaffirmation zu gipfeln.
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has Autofiktion einen Raum dar, der dem Zentrum und seinen Ordnungen durch seine bloße Präsenz und Persistenz den Spiegel vorhält.101 Neben der bisher nachgezeichneten Verdrängung migrierter Figuren in marginalisierte Sphären der Gesellschaft wird ihre prekäre räumliche Situation in den untersuchten Werken textuell durch ein vermehrtes Auftreten von Nicht-Orten (vgl. Augé 1992) übersetzt, die häufig mit einer Verzerrung von Raum-Zeit-Relationen102 einhergehen. Marc Augé versteht unter Nicht-Orten einen bestimmten Typus von Räumen, die sich durch eine veränderte Zeitlichkeit in der vielfach beschleunigten Postmoderne herausgebildet haben. Diese Periode, die Augé »surmodernité« (ebd.: 42) betitelt, ist insbesondere von Exzessen geprägt: Die Schnelllebigkeit der Gegenwart führt laut dem französischen Anthropologen
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Insofern könnte das beschriebene Viertel, in dem die Flüchtlingsinitiative liegt, mit Michel Foucault auch als Heterotopie bezeichnet werden (vgl. Foucault 1994b, 2005, Kapitel 5.3.2.2). Die Metrofahrt durch den »tunnel interminable« (Sinha 2012: 118) scheint das Eingangsritual dieser Heterotopie zu bilden, die sich der Protagonistin jedoch nach ihrem Eintritt nicht vollständig erschließt. Sie empfindet sich in dieser Umgebung als Fremdkörper und verliert die Orientierung (vgl. ebd.: 118, 120), gehört also nicht zu den Eingeweihten, die Foucault (vgl. 1994b: 760) in seinem fünften Grundsatz der Heterotopien erwähnt. In dem trostlosen Viertel bewegen sich die sozial benachteiligten Gruppen der Gesellschaft, Arme und Zugewanderte, also Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Die Wortwahl der Erzählerin unterstreicht die Kategorisierung des Viertels als Abweichungsheteropie (vgl. ebd.: 757): »La misère transportée comme une maladie contagieuse. Sous contrôle. En quarantaine. Dans le ghetto.« (Sinha 2012: 120) Die Menschen, die dort leben, stellen das unschöne Gegenstück zum Rest der Gesellschaft dar, den »revers de la broderie, […] le dos noir des poêles trop usées, […] la face cachée de la mascarade […]« (ebd.: 29). Die Existenz dieses ausgelagerten, tristen Ortes stellt die Räume im Zentrum der Stadtgemeinschaft in ihrer Authentizität in Frage, denn die in der peripheren Heterotopie herrschende Misere entlarvt die ›heile Welt‹ in den reicheren Vierteln der Stadt als Illusion, in die der privilegierte Teil der Gesellschaft sich zurückzieht und von der Armut abschottet. Auch die Erzählerin will so schnell wie möglich in das schöne Pariser Zentrum zurück, als sie sich in jener Abweichungsheterotopie bewegt (vgl. ebd.: 120), doch ihr idealisiertes, stereotypes Bild von der Hauptstadt stellt sich angesichts des Leids in den Vororten als utopisches Trugbild heraus. 102 Die Beschleunigung oder Dehnung der erzählten Zeit kann mit Michail M. Bachtins Begriff des Chronotopos beschrieben werden, worunter der russische Literarturwissenschaftler die Gesamtheit der formalen und inhaltlichen Elemente fasst, die in einem Text zeit-räumliche Relationen zum Ausdruck bringen: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen.« (Bachtin 2008 [1973]: 7) Da das vorliegende Kapitel aber insbesondere Räumlichkeit in Erzählungen von Migration behandelt und deren Beeinflussung sowie grundlegende Konstitution durch biopolitische und bioökonomische Kräfte herausarbeiten möchte, wird der Aspekt der »Raumzeit« (ebd.: 7) nur punktuell Berücksichtigung finden, insofern er die Instabilität der räumlichen Verhältnisse akzentuiert.
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zu einer exzessiven Entgrenzung der empfundenen Zeit, die mit immer mehr Ereignissen und Krisen aller Art angereichert wird, sowie zu einer ebenso exzessiven Ausdehnung des erlebten Raums durch weltweite Transport- und Kommunikationsnetze (vgl. ebd.: 41-47). Die genannten Entwicklungen führen schließlich zur Entstehung von Räumen, die der maßlosen Beschleunigung und Entgrenzung der surmodernité entsprechen, den sogenannten Nicht-Orten: Les non-lieux, ce sont aussi bien les installations nécessaires à la circulation accélérée des personnes et des biens (voies rapides, échangeurs, aéroports) que les moyens de transport eux-mêmes ou les grands centres commerciaux, ou encore les camps de transit prolongé où sont parqués les réfugiés de la planète. (ebd.: 48) Während sogenannte anthropologische Orte sich durch eine soziale sowie symbolische Aufladung auszeichnen und insofern relational, historisch und identitätsstiftend sind (vgl. ebd.: 68f.), handelt es sich bei Nicht-Orten um rein zweckgebundene, individualisierende Arten von Räumlichkeit, die nicht zum Verweilen oder zur sozialen Interaktion konzipiert wurden: »Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un non-lieu.« (ebd.: 100) Zu diesen zählt Augé neben den oben genannten Transportmitteln und den vorübergehenden Unterbringungen für Geflüchtete weitere Orte, die sich mit Worten wie ›Transit‹, ›Vergänglichkeit‹, ›Provisorium‹ und ›Asozialität‹ beschreiben lassen, etwa Geldautomaten, Hotelketten oder Autobahnraststätten (vgl. ebd.: 100-110). Ist für Augé der Raum des Reisenden der »archétype du non-lieu« (ebd.: 110), so scheint es kaum verwunderlich, dass Soleimans Migration in Eldorado über weite Strecken wie eine bloße Aneinanderreihung von Nicht-Orten wirkt. In seinem Erzählstrang tauchen zahlreiche Transportmittel wie Autos und LKW auf (vgl. Gaudé 2009: 81, 88, 91, 141, 144, 148, 153), die Soleiman seinem Ziel Europa Kilometer für Kilometer näher bringen und sein Dasein im Transit hervorheben. Diese dominante Ortlosigkeit der Figur wird um eine Zeitlosigkeit ergänzt, in der immer gleiche Tage und Nächte einander ablösen und Soleimans Reise durch ihm unbekannte Landschaften endlos erscheinen lassen: »Nous roulons sans cesse. De jour comme de nuit. Je me perds dans des terres que je ne connais pas« (ebd.: 91) oder einige Seiten später »Nous roulons depuis des jours sur des routes sans fin. […] Nous roulons dans un épais paysage d’ennui et de chaleur.« (ebd.: 141f.) Die Wiederholung des Satzbeginns »Nous roulons« unterstreicht die Monotonie der aufeinanderfolgenden Aufenthalte in verschiedenen Transportmitteln. Doch nicht nur die Verkehrsmittel, sondern auch die intradiegetisch kartografierbaren Orte, die der Protagonist durchquert, werden zu Nicht-Orten, die einzig und allein auf Transit ausgelegt sind. Auf der Fahrt nach Ghardaia macht die Gruppe Halt in Ouargla, das lediglich aus provisorischen »commerces incertains« (ebd.: 144) entlang der Straße besteht, die Benzin und Reisebedarf verkaufen. Das Stadtbild von Ghardaia steht
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ebenfalls ganz im Zeichen des Durchgangs und Verkehrs, was sich lexikalisch einschlägig auswirkt: »Le camion nous a déversés sur les trottoirs d’une grande place où le trafic était tel que les parechocs de tous ces véhicules s’entrechoquaient dans un bruit de métal. […] Je vois une foule immense de réfugiés qui se déversent ici, au rythme régulier des camions.« (ebd.: 150f.) Der Verkehr bestimmt das Straßenbild und die Atmosphäre der Szenerie ist mit allen Sinnen wahrnehmbar, worin sich erneut die Körperlichkeit (vgl. 5.2.2.1) von Soleimans Erzählstrang kundtut: Die Straßen brummen vor Menschen, die Autos stoßen mit metallischen Geräuschen aneinander und die Luft ist erfüllt von Treibstoff und Abgasen (vgl. Gaudé 2009: 150f.). Sobald der Kapitän sich in Afrika befindet, macht er ähnliche Erfahrungen und verliert sich auf einer zeit- und ortlosen Reise durch den Kontinent: »Combien de temps s’était écoulé depuis son départ de Catane? Salvatore Piracci aurait été incapable de le dire.« (ebd.: 158) Auch Piracci bewegt sich nunmehr in und zwischen Nicht-Orten wie Bussen und LKW (vgl. ebd.: 187, 211), für die bloße Durchreise konzipierten Rastplätzen (vgl. ebd.: 192) und Drehkreuzen der Migration wie AlZuwarah, das mit einem entsprechenden Vokabular, »gare routière«, »cars«, »stationner«, »circulation« (alle ebd.: 169), beschrieben wird. Nur vorübergehend gelingt es den Menschen, diesen Orten einen anthropologischen Sinn zu verleihen, indem sie sich in ihrer Prekarität zusammenschließen, sich mit Geschichten gegenseitig Mut machen oder anderweitig Solidarität zeigen (vgl. ebd.: 192f., 198). In allen diesen Etappen befinden sich Soleiman und der Kapitän aufgrund der biopolitischen Unerwünschtheit bzw. Irregularität ihrer Migration in einer besonderen zeit-räumlichen Situation, in der sie dem Willen von Schleuser*innen, Bus- und LKW-Fahrer*innen oder dem Zufall ausgeliefert sind (vgl. ebd.: 169, 187f.), ausgeraubt werden (vgl. ebd.: 118f.) oder für unbestimmte Zeit auf die Weiterreise warten müssen (vgl. ebd.: 115, 142). In jenem Schwebezustand des Transits wechseln sich Stillstand und Dynamik ab, ohne dass die Migrierenden auch nur den geringsten Einfluss darauf hätten. In Delphine Coulins Samba pour la France unternimmt der damals 18-jährige Protagonist insgesamt vier Versuche, nach Europa zu gelangen,103 sodass auch sei103 Siehe hierzu Julia Schulze Wessel zur Permanenz des Grenzraums und dem undokumentierten Migranten als Grenzbewohner: »Verunglückte Fluchtversuche, Rückschiebungen von einem Land in das andere und auch die Rückschiebungen von Europa in die afrikanischen Länder bedeuten oftmals nicht das Ende, sondern den Anfang einer neuen Wanderung bzw. Flucht. […] Auch durch diese ständige Wiederaufnahme der Wanderung kann von der Permanenz der Grenze gesprochen werden, die für jeden undokumentierten Migranten gilt. In diesem Grenzraum halten sie sich permanent auf und stehen in der permanent möglichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kontrollen. […] Undokumentierte Migranten werden zu Bewohnern eines spezifischen Raums: des Grenzraums, in dem sie sich permanent aufhalten.« (Schulze Wessel 2017: 122)
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ne Reisen durch eine Häufung von Nicht-Orten, insbesondere Transportmitteln, gekennzeichnet sind: »Il s’était entassé avec des dizaines d’autres dans un camion, puis dans un deuxième camion, et ainsi de suite […]. Des milliers de kilomètres à travers le désert« (Coulin 2014: 37). Als er es schließlich auf das spanische Festland geschafft hat, hält Samba sich eine Zeit lang an einem Nicht-Ort auf, in dem sich die von Hardt und Negri beobachteten, verqueren Wechselwirkungen von Politik und Ökonomie in Zeiten des Empire zu materialisieren scheinen. Coulins Protagonist arbeitet in spanischen Gewächshäusern, wo er Obst, Gemüse und Blumen für den europäischen Markt erntet, um seine Weiterreise nach Frankreich zu finanzieren. Ein beträchtlicher Anteil der frischen Lebensmittel, die in Europa konsumiert werden, kommt aus dem Süden Spaniens, wo vermehrt illegal Eingewanderte oder Saisonkräfte aus Nordafrika für ein geringes Entgelt beschäftigt werden. Seit Jahren werden die nicht selten menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen in diesen landwirtschaftlichen Betrieben in den Medien angeprangert (vgl. Lünenschloß/Zimmermann 2018, Mueller/Prandi: 2018, Williams/Swanepoel: 2019). Samba berichtet später im Gespräch mit seiner Freundin Gracieuse, dass die Arbeit in den Gewächshäusern zwar hart gewesen sei, es ihm aber Freude bereitet habe, den Pflanzen beim Wachsen zuzusehen. Das Gedeihen der Pflanzen scheint in der Beschreibung Sambas zu einer Analogie seiner Migration zu werden und ihm Mut zu machen, da die Obstpflanzen und Blumen trotz der lebensunfreundlichen Umgebung in der staubigen Hitze Spaniens blühen und wachsen. Sie suchen die Sonne, so wie Samba sich trotz aller negativer Erfahrungen während seiner Reisen nach einem besseren Leben in Europa sehnt: »Le travail était dur, mais il aimait être entouré des plantes qui poussaient vite, comme pour rejoindre le soleil, dans un monde préservé du vent et de la poussière, où elles n’avaient qu’à vivre et grandir.« (Coulin 2014: 142) Sambas Freude an den Pflanzen kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich an einem rein funktionalen Nicht-Ort befindet, der ausschließlich für einen maximalen ökonomischen Gewinn konzipiert wurde und dessen Ertrag maßgeblich auf der finanziellen Notsituation von illegal Eingewanderten und Saisonarbeiter*innen basiert. Dort scheint es nichts zu geben, was die Lebensqualität der Arbeiter*innen steigern würde, selbst ihre Unterkünfte bestehen lediglich aus Plastik und sind nicht zum Verweilen gedacht. Das ganze Areal ist laut Samba »[un] pays […] fait de plastique« (ebd.: 142), von den Wänden seiner Hütte bis zu den Obstkisten ist alles aus dem billigen Material, das sich zersetzt und die Natur der Umgebung vergiftet.104 Das Plastik spiegelt dabei als
104 Marina O. Hertrampf untersucht »(Doku-)Fiktionale Inszenierungen« (Hertrampf 2019: 219) des sogenannten mar de plástico in dem französischen Comic Clandestino (Aurel 2014), dem finnischen Comic Unsichtbare Hände (Tietäväinen 2014) sowie in der spanischen TV-Serie Mar de plástico (Quintas u.a. 2015/2016) und greift dabei ebenfalls auf Marc Augés Konzept des
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kostengünstiges, aber wenig robustes Material einerseits die durch und durch ökonomischen Dynamiken wider, in die Samba auf der Plantage eingebunden ist, und unterstreicht andererseits den provisorischen Charakter seines Aufenthaltes an diesem Nicht-Ort. Biopolitische und bioökonomische Dynamiken greifen ineinander (vgl. Hardt/Negri 2001: 253f., 335): Der wachsende Konsum Europas und die Dumpingpreise der Lebensmittelindustrie gehen einher mit der Ausnutzung günstiger Arbeitskräfte, die sich als illegal Eingewanderte bereits im Land befinden oder als Erntehelfer*innen aus Nordafrika angeworben werden. Migration wird also lediglich zu ökonomischen Zwecken politisch geduldet oder gefördert. All dies resultiert in der Erbauung von eigens an jene Umstände angepassten Räumlichkeiten und Orten, in denen sich jenes Ineinander von Biopolitik und Bioökonomie topografisch materialisiert.
5.3.2.2
Von anderen Orten: Heterotopien als hinterfragende Gegenräume
In den untersuchten Werken finden sich neben den bisher analysierten Räumlichkeitsphänomenen auch solche Orte, deren Merkmale sich mit Michel Foucaults Konzept der Heterotopie beschreiben lassen. Darunter versteht der französische Philosoph von einer Gesellschaft geschaffene, real existierende Räume, welche sich durch spezielle Gegebenheiten auszeichnen, die sie von den restlichen Orten dieser Gesellschaft unterscheiden. Die Andersartigkeit dieser »contre-espaces« (Foucault 2005: 40) fasst Foucault in fünf Grundsätzen zusammen. Zum einen sind Heterotopien für ihn Räume, in die ein Kollektiv diejenigen seiner Mitglieder schickt, die sich in einem Krisenzustand befinden oder von der geltenden Norm abweichen, etwa psychiatrische Kliniken oder Gefängnisse. Zweitens können Heterotopien sich mit der Entwicklung einer Gesellschaft in ihrer Funktion wandeln. Drittens kann eine Heterotopie laut Foucault mehrere Orte an einem bündeln, wie es im Theater oder im Kino der Fall ist, und viertens zeichnen Heterotopien sich durch eine spezielle Zeitlichkeit aus, da sie die Zeit entweder ausdehnen und sammeln können, wie im Museum oder in der Bibliothek, oder aber die Zeit bündeln, indem
Nicht-Orts zurück, um die Plantagen in Südspanien zu beschreiben. In ihren Schlussbemerkungen kritisiert Hertrampf, dass insbesondere spanische Narrative, in diesem Fall die erwähnte spanische Serie, zwar Probleme wie Rassismus und gewaltvolle Übergriffe thematisieren, die Existenz der Agrarbetriebe und die dortigen Arbeitsbedingungen aber nicht grundsätzlich zur Debatte stellen, da, so die Verfasserin, »die Region Alméria [sic!] mit ihren Treibhausplantagen einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor darstellt« (Hertrampf 2019: 232). Während die beiden Comics aus Frankreich und Finnland nach Hertrampf mit diesem Teilbereich der spanischen Wirtschaft hart ins Gericht gehen und »[d]as mar de plástico […] entsprechend in dokufiktionaler Weise in all seiner Hässlichkeit als höchst prekäre[n] Raum der Ausgrenzung« (ebd.: 232) darstellen, scheint die spanische Serie die Frage aufzuwerfen, welche Effekte bioökonomische Interessen auf reale Diskurse und fiktionalisierendes story telling eines Landes haben können.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
sie Orte von kurzer Dauer sind, wie etwa der Jahrmarkt. Schließlich weisen Heterotopien fünftens bestimmte Ein- und Ausgangsrituale auf, sodass sie nicht für jedermann zugänglich sind oder ihr wahres Wesen nur Eingeweihten preisgeben (vgl. Foucault 1994b: 756-761). Insbesondere ist aber allen Heterotopien nach Foucault gemeinsam, dass sie in ihrer speziellen Räumlichkeit die anderen Räume einer Gesellschaft, deren Ordnungen und Ontologien in Frage stellen und sie in ihrer Relativität entlarven: [E]lles [les hétérotopies] ont, par rapport à l’espace restant, une fonction. Celle-ci se déploie entre deux pôles extrêmes. Ou bien elles ont pour rôle de créer un espace d’illusion qui dénonce comme plus illusoire encore tout l’espace réel, tous les emplacements à l’intérieur desquels la vie humaine est cloisonnée. […] Ou bien, au contraire, créant un autre espace, un autre espace réel, aussi parfait, aussi méticuleux, aussi bien arrangé que le nôtre est désordonné, mal agencé et brouillon. (ebd.: 761) Dieses letzte Charakteristikum soll in den nachfolgenden Ausführungen primär von Bedeutung sein, da sich die Frage stellt, inwiefern in den analysierten Texten Orte dargestellt werden, welche die biopolitischen Ordnungen und Exklusionsmechanismen der portraitierten Gesellschaften im Hinblick auf Migrationsphänomene kritisch hinterfragen. Eine auffällige Präsenz literarischer Referenzen und Verfahrensweisen in Foucaults Radiovortrag zu Heterotopien lässt nämlich darauf schließen, dass die Literatur selbst als Heterotopie agieren kann, insofern sie einen privilegierten Ort für die Entwicklung von Gegendiskursen darstellt (vgl. Foucault 2005: 44-49, Moldovan 2020: 50-52). In einer Flexibilisierung von Foucaults Konzept kann somit geprüft werden, inwiefern heterotopische Räume in den untersuchten Werken durch ihre Andersartigkeit die ambivalenten und teils problematischen Verfahrensweisen der Biopolitik in der Verwaltung migrierenden Lebens nach außen hin sichtbar machen. Delphine Coulins Hauptfigur wird in Samba pour la France aufgrund seiner abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis verhaftet und in eine Abschiebehaftanstalt gebracht. Bis sein Fall geklärt wird, muss Samba im Centre de rétention administrative 2 in Vincennes bleiben, dessen abgekürzter Name, CRA 2, ein schlechtes Vorzeichen zu sein scheint: »CRA 2 – ce qui se prononce ›crade‹, en effet, et ce n’est pourtant pas lui qui l’avait inventé.« (Coulin 2014: 27) Das CRA 2 kann mit Foucault als Abweichungsheterotopie betrachtet werden (vgl. Foucault 1994b: 757), denn obwohl der dortige Ansprechpartner Sambas betont, dass es sich keineswegs um ein Gefängnis handele, da es bspw. einen Kinderspielplatz gebe, sind dort Menschen eingesperrt, deren Existenz auf französischem Boden als nicht rechtens eingestuft wird (vgl. Coulin 2014: 30, 47). Als Eingewanderte ohne gültigen Aufenthaltsstatus weichen sie von der gesetzlichen Norm ab und werden an einen eigens für diesen Fall eingerichteten Ort gebracht. Die Abschiebehaftanstalt weist außerdem
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die von Foucault (vgl. 1994b: 760) beschriebenen Ein- und Ausgangsprozeduren auf. Zutritt haben lediglich die dort inhaftierten Menschen, das Personal sowie Seelsorger*innen, Rechtsbeistände oder Ehrenamtliche. Die Migrant*innen durchlaufen eine Aufnahmeprozedur, bei der sie ihre Ausweispapiere abgeben und ein Aufnahmegespräch führen müssen, in dem sie über die Hausordnung und ihre Rechte aufgeklärt werden (vgl. Coulin 2014: 27-31, 45-51). Innerhalb des CRA 2 gelten für die dort Inhaftierten überdies spezielle Vorschriften, die im Vergleich mit sonstigen Räumen der Gesellschaft das andersartige Funktionieren dieses Orts zum Ausdruck bringen. So scheint die Verwaltung des biologischen Lebens und seiner Bedürfnisse an diesem Ort einen nahezu absurden Höhepunkt zu erreichen, wenn Hygieneprodukte auf das Gramm genau rationiert werden: L’homme de Vincennes […] a déclaré que Samba avait le droit à un lit, une brosse à dents, un savon, un tube de dentifrice de dix-neuf grammes, un flacon de shampooing de vingt et un millilitres. Un nécessaire rasage lui serait distribué chaque matin de huit heures à dix heures, contre remise de sa carte d’hébergement au centre, qui lui serait restituée au retour du rasoir et de la mousse. (ebd.: 47) Selbst die Sprache scheint im CRA 2 anderen Regeln zu folgen, denn Samba stellt fest, dass Wörter, deren Bedeutung er zu kennen glaubte, plötzlich ihre Semantik ändern. So wird für ihn ein »retour volontaire« vorgesehen, obgleich diese Rückkehr in sein Heimatland alles andere als freiwillig angetreten würde: »Alors, volontaire, dans ce cas-là, qu’est-ce que cela voulait dire? […] Allait-on aussi changer le sens de ce mot?« (beide ebd.: 46) Doch nicht nur »volontaire« und »rêve« (beide ebd.: 46), das, wie der Protagonist vermutet, im CRA 2 etwas Kriminelles bedeuten muss, da Sambas Traum von einem Leben in Frankreich ihn schließlich in Haft geführt hat, ändern in der Abweichungsheterotopie ihren Sinn. Ebenso scheinen Ländernamen dort nichts mehr auszusagen und in der Menschenmenge aus aller Herren Länder hinfällig zu werden: Ici les hommes étaient d’abord définis par l’endroit où ils étaient nés. Pakistan. Congo B. Congo K. Russie. Turquie. Vietnam. Équateur. Bangladesh. Mali. C’est lui à présent, qui ne comprenait plus les mots qu’il entendait. Mali, Sri Lanka, Mongolie, Nigeria ne voulaient plus rien dire. Ces pays étaient déréalisés. (ebd.: 45) Damit erfüllt die Abschiebehaftanstalt einerseits in gewisser Weise den von Foucault (vgl. 1994b: 758) formulierten Grundsatz, mehrere Orte an einem zu bündeln, denn in ihr bewegen sich Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Erde, die ihre Sprache und Kultur in sich tragen. Andererseits hat die Herkunft dieser Personen im CRA 2 keinerlei Bedeutung mehr, da sie allesamt als illegale Eingewanderte gelten und das Land verlassen sollen. Coulins Roman schildert eindringlich die Verzweiflung der Menschen, die im CRA 2 auf ihre Abschiebung warten, sowie die kaum auszuhaltenden Zustände in
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der Unterkunft. Mehrmals täglich begehen Inhaftierte Suizidversuche, indem sie bspw. Rasierklingen schlucken. Samba klagt außerdem über Lärm, Hunger, Demütigungen und Einschüchterungen (vgl. Coulin 2014: 52-58, 89). Er und die anderen Inhaftierten gelten aufgrund ihres illegalen Aufenthalts im Land und der gegen sie vorliegenden Abschiebebescheide offenbar als außerrechtliches, bloßes Leben (zoë) und werden in einer lagerähnlichen Struktur untergebracht, in der ihre eingeschränkten und teilweise aufgehobenen Rechte mit einer Form der Ausnahme gerechtfertigt werden: »A ›state of exception‹ reigns at the external borders of Europe and at the internal borders that separate citizens from sans papiers or those who lack citizenship or residency papers where the suspension of law in the name of security diminishes individual rights and protections.« (Sellman 2013: 140) An Coulins Protagonisten und den anderen Migrant*innen im CRA 2 zeigt sich der von Agamben konstatierte Unterschied zwischen Menschen und Bürger*innen, der nicht umsonst mit dem vermehrten Auftreten großer Migrationsbewegungen eingeführt wurde, in aller Deutlichkeit (vgl. Agamben 2005: 139-145). Die Abschiebehaftanstalt in Samba pour la France kann also, je nach methodischer Perspektive, mit der Theorie der Biopolitik als Ort gelesen werden, an dem sich Ausnahmezustand und Immunisierung der communitas materialisieren, und mit Foucault als Heterotopie bezeichnet werden. In ihrer hinterfragenden Funktion enttarnt die Heterotopie des CRA 2 nämlich die biopolitischen Strukturen, die hinter der Errichtung der Abschiebehaftanstalt stehen und stellt unbequeme Fragen an das Selbstbild einer Gesellschaft, deren Demokratie auf Werten wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fußen sollte, die jedoch gleichzeitig Räume schafft, in denen ebendiese Werte ihre Geltung verlieren. In dieser Hinsicht scheint sich die u.a. von Roberto Esposito angestellte Beobachtung zu bestätigen, dass in biopolitisch ausgerichteten Systemen, wie das Migrationsdispositiv eines ist, traditionelle politische Kategorien und Begrifflichkeiten, etwa »diritti […] democrazia, […] libertà« (Esposito 2009: 138), nicht länger geeignet scheinen, um die politische Realität zu beschreiben. In Laurent Gaudés Eldorado finden sich mit der Zeffiro und der Vittoria gleich zwei Schiffe, die nach Foucault heterotopische Räume »par excellence« (Foucault 2005: 51) sind. Unter 5.3.1.2 wurde thematisiert, dass auf Kapitän Piraccis Schiff Zeffiro die europäische Migrationsgesetzgebung vorübergehend außer Kraft gesetzt zu werden scheint, da Nationalitäten und Grenzen angesichts menschlicher Solidarität während der Rettung Schiffbrüchiger zumindest zweitweise an Bedeutung verlieren (vgl. Gaudé 2009: 68f.). Das Schiff der italienischen Küstenwache wird insofern für einen begrenzten Zeitraum zu einer Heterotopie, deren spezielle Räumlichkeit die menschengemachte Migrationspolitik in Frage stellt. Für eine derartige Lesart spricht auch die heterochronische Raum-Zeit-Relation (vgl. Foucault 1994b: 759f.) an Bord, die in chronotopischen (vgl. Bachtin 2008: 7-9) Formulierungen durchscheint. Zunächst besteht in der Episode eine Diskrepanz zwi-
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schen der narrativen Gestaltung des Erzählstrangs und der inhaltlichen Textebene. Die in Piraccis Teil der Narration durchgängige Verwendung von Imparfait und Passé Simple (vgl. 5.1.4.2), also zweier Tempora, die respektive vergangene Zustände, wiederkehrende Handlungen und eine gesteigerte Literarizität ausdrücken, steht in einem Spannungsverhältnis zu der bewegten Szenerie auf stürmischer See. Das Passé Simple schafft eine gewisse Distanz zum erzählten Geschehen, während das Passé composé unmittelbarer wirken würde. Bald beruhigt sich jedoch das Meer, der Himmel klart auf und der Rhythmus der Szene scheint sich zu verlangsamen, während die Besatzung »dans un silence paisible« (Gaudé 2009: 68) aufmerksam nach den vermissten Rettungsbooten Ausschau hält. Als die Crew plötzlich aus der Ferne Stimmen vernimmt, steigt die Spannung der Handlung und dennoch verlangsamt sich die erzählte Zeit, da der ertönende Gesang eine beinahe magische Wirkung auf die Männer hat. Erneut taucht im Mittelmeertopos Eldorados ein mythisches Element auf, erinnern die vom Gesang verzauberten und angezogenen Seemänner doch an jene, die in Homers Odyssee den Sirenen lauschen (vgl. Homer 2019 [1979], Gesang 12, Verse 41-200). Erst das laute Schiffshorn bricht den Bann und beschleunigt die Zeit wieder: Ils restèrent longtemps silencieux. Absorbés par l’écoute de cette étrange musique qui berçait la mer, oublieux de leur mission, de l’urgence du sauvetage. Le temps était suspendu. Personne n’avait envie de parler. On eût dit que la frégate avançait seule, lentement, et qu’elle se dirigeait d’elle-même vers la voix de la nuit. Enfin, le commandant reprit ses esprits et ordonna d’une voix forte qui vint briser l’instant suspendu: – Faites retentir l’alarme! (Gaudé 2009: 71) Auch in dem Bericht der anonymen Frau, die Piracci und seine Crew einige Jahre zuvor aus Seenot gerettet hatten, taucht eine Heterotopie in Form eines Schiffs auf. Auf der Vittoria, auf der die Frau von Libyen aus nach Europa übersetzen sollte, vergeht die Zeit während der Überfahrt ebenfalls nicht linear, sondern be- und entschleunigt in der Empfindung der Menschen an Bord. Bereits das Warten auf die Überfahrt in dem Transit-Ort Beirut fühlt sich für die junge Frau, die allein und hungernd mit ihrem Säugling durch die Stadt irrt, wie eine zeitlose Ewigkeit an: »Combien de temps avait duré cette attente? Elle ne s’en souvenait plus. Il lui semblait que les heures passaient avec la lenteur des montagnes qui s’étirent.« (ebd.: 24) Als das Schiff den Hafen verlässt, empfinden die Migrant*innen »un étrange mélange de joie et d’inquiétude« (ebd.: 25). Sie wissen um das Risiko der Überfahrt, sitzen aneinandergedrängt auf dem überfüllten Schiff, aber die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa lässt sie dennoch gemeinsam lachen und singen. Trotz Hunger und Hitze vergehen die erste Nacht und der erste Tag auf dem Boot in der Wahrnehmung der Frau vergleichsweise schnell, da die Aussicht auf Europa sie insgesamt optimistisch stimmt. Am Morgen des zweiten Tages kippt die Stimmung
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allerdings schlagartig, als die Passagiere bemerken, dass sie von der Besatzung ohne Nahrung, Wasser und funktionierende Funkgeräte zurückgelassen wurden. In diesem Moment setzt das Zeitempfinden der Frau wieder ein, denn noch Jahre später erinnert sie sich an jeden Augenblick dieses zweiten Teils der Reise (vgl. ebd.: 25f.). Panik breitet sich an Bord aus und die Spannung der Handlung steigt an, da niemand weiß, wie das Schiff gesteuert wird, wie man Hilfe rufen könnte oder wo man sich überhaupt befindet. Als schließlich feststeht, dass die Migrant*innen nichts tun können und ihre Kräfte langsam schwinden, ereignet sich eine grausame Entschleunigung der Zeit. Die aussichtslose Situation und die Hilflosigkeit der Menschen ziehen die Zeit in die Länge: »Ils étaient pris au piège. Encerclés par l’immensité de la mer. Dérivant avec la lenteur de l’agonie. Un temps infini pouvait passer avant qu’un autre bateau ne les croise. […] Tout était devenu lent et cruel.« (ebd.: 27) Während der heterotopische Charakter der Zeffiro, des Schiffs der Küstenwache, der foucaultschen Idee einer realisierten Utopie (vgl. Foucault 2005: 39) offenbar insofern entspricht, als Solidarität und Menschlichkeit, wenn auch kurzweilig, über Nationalität und Gesetz triumphieren, so scheint es sich bei der Vittoria, auf der die Frau ihr Kind verliert und viele weitere Migrant*innen sterben sieht, um eine Heterotopie zu handeln, die sich im Verlauf der Überfahrt zu einer furchtbaren Dystopie entwickelt. Als weitere Heterotopie in Gaudés Eldorado kann der Wald an der spanischmarokkanischen Grenze bei Ceuta eingestuft werden, in dem Soleiman und Boubakar über mehrere Monate ausharren, bevor sie versuchen, die Grenzanlage zu überwinden. Der Wald kann nach Foucault als Heterotopie beschrieben werden, »puisqu’on s’y cache« (Foucault 2005: 40), und gilt in fiktionaler Literatur gemeinhin als opaker, rechtsfreier Ort, sowie als Raum, der jenseits der Ordnung der Gesellschaft liegt und marginalen Existenzen Zuflucht bietet (vgl. Suter 2012: 470f.): [N]ovels and short stories of migration often represent the threshold between belonging and exclusion as […] an encounter with wilderness […]. With wilderness, I refer to the kinds of tropes that, for example, transform European spaces into empty forests, barren snowy landscapes, and fantastical arctic vistas, or into spaces where humans are hunted, cannibalized, and subject to unmediated bodily violence. It encroaches upon narratives, I argue, as a way to explore the outside of the social contract and citizenship or in the precarious spaces produced by forced migration. The theme of representing the encounter with Europe as a confrontation with wilderness – or at least a wilderness that appears for migrants – cuts to the heart of the biopolitical as these spaces of wilderness seem to be produced as the migrant broaches the legal boundaries between belonging and exclusion. (Sellman 2013: 6f.) So wird der Wald in Eldorado zum Rückzugsort für Migrierende, die sich als bloßes Leben in der »forêt de notre clandestinité« (Gaudé 2009: 178) außerhalb der Sphä-
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re des Rechts aufhalten. Das Wort clandestinité greift die doppelte Semantik des Walds als Ort des Verborgenen und Raum jenseits des Gesetzes auf, da es einerseits so viel wie ›Heimlichkeit‹ oder ›Untergrund‹ bedeutet (vgl. Pons, s.v. ›clandestinité‹) und andererseits den außerrechtlichen Status der Migrant*innen als clandestins vermittelt. Die staatliche Souveränität bricht jedoch regelmäßig in diesen vermeintlich rechtsfreien Raum ein, um ihre Gesetze mittels Immunisierungsdynamiken durchzusetzen und das brutale Vorgehen der marokkanischen Polizei ist einmal mehr Ausdruck der prekären gesetzlichen und räumlichen Situation der Migrierenden. Sie haben weder das Recht auf Verortung noch auf eine menschenwürdige Behandlung, sie sind quasi vogelfrei: La dernière fois, ils avaient fondu sur nous comme des abeilles voraces […], matraquant tous les corps qu’ils trouvaient sur leur passage. En un instant, la panique s’était emparée de nous. Tout le monde cherchait son sac, sa couverture, un abri où se protéger des coups. Mais ils étaient venus nombreux. Ils frappaient et lançaient leurs chiens pour nous débusquer comme du gibier. Puis ils mirent le feu. […] Ils brûlèrent tout. Nos pauvres affaires sur lesquelles nous veillions jour et nuit avec jalousie ont disparu dans une odeur écœurante d’essence. […] [I]ls faisaient monter dans des camions ceux qu’ils avaient matraqués. Entassés comme du bétail. Sans se soucier de qui saignait, de qui avait un enfant ou ne pouvait plus marcher. (Gaudé 2009: 174f.) Ausgestattet mit juristischer Immunität agieren die marokkanischen Polizist*innen als personifizierte Immunisierungsdispositive im Auftrag des Staats und behandeln die Migrant*innen wie Freiwild, »gibier«, oder Vieh, »bétail«,105 ohne die medizinische Versorgung Verletzter in Betracht zu ziehen oder das Zusammenbleiben von Familien zu berücksichtigen. Selbst im Wald, diesem heterotopischen Rückzugsort, sind die Migrant*innen in ihrem Status als bloßes, außerrechtliches Leben nicht sicher. Als »contre-espace« (Foucault 2005: 40) entlarvt der Wald insofern die ambivalente Relationalität von Gesetzen und ihren Ausnahmen (vgl. Agamben 2005: 19-35), da Gesetze, wie jene zum Grenzschutz, sich auf das Recht berufen und zugleich Menschenrechte, wie jenes auf körperliche Unversehrtheit, ausklammern. Heterotopische Züge erhält das Camp im Wald zudem dadurch, dass die dort ausharrenden Menschen eine Art Rechtssystem etablieren, das die demokratische Vertretung aller garantieren soll (vgl. Gaudé 2009: 176f.). Aus dieser Perspektive erscheint der Wald bei Ceuta also nicht als gänzlich rechtsfreier Ort, sondern als ein Gegen-Ort, welcher der Rechtlosigkeit der Migrierenden außerhalb seiner Grenzen einen Raum gegenüberstellt, in dem gewählte Vertreter*innen sich für sie stark machen und dabei das Gemeinwohl im Blick behalten. Die Anerkennung der 105 Die Bedeutung animalisierender Vergleiche und Metaphern in Eldorado wurde unter 5.2.2.2 analysiert.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Migrant*innen als Rechtssubjekte innerhalb des Camps im Wald hebt die Ungerechtigkeit ihres Daseins als nacktes Leben in den anderen Räumen hervor, die sie auf ihrer Reise durchqueren, da die alternative Ordnung des Walds das arbiträre Wesen biopolitischer Strukturen entlarvt. So deutet Johanna Barbro Sellman (vgl. 2013: 50f.) in einer biopolitisch ausgerichteten Lesart die literarische Darstellung von Wildnis, wozu sie auch den Wald zählt, als textuelles Verfahren, mittels dem Migrationsliteratur eine Aushandlung der Relationalität von Naturzustand und sozialem Vertrag über den literarischen Raum vollzieht: [T]hese narratives of forced migration represent wilderness as a space from which the contours of political community become legible and re-imaginable.« (ebd.: 96) Die analysierten Heterotopien verdeutlichen einmal mehr die prekäre Räumlichkeit der migrierenden Figuren, welche aus biopolitischen Mechanismen und Vorschriften resultiert, die durch sogenannte Gegen-Räume und deren gänzlich andere Funktionsweisen lediglich als eine unter vielen möglichen Ordnungen offenbart werden. Insgesamt scheinen die in diesem Kapitel untersuchten Raumdynamiken, die sich in einer hierarchischen Relation von Zentrum und Peripherie, einer auffälligen Häufung von Nicht-Orten sowie in Heterotopien ausdrücken, die eingangs aufgestellte These zu bestätigen, dass biopolitische Strukturen wie das Migrationsdispositiv entweder ihre eigenen, zweckgerichteten Räume erschaffen, um die Verwaltung des biologischen Lebens zu konkretisieren und effizient zu gestalten oder zu einer Umprägung vorhandener Räume führen, in denen die Verfahrensweisen der Biopolitik sichtbar werden und kritisch ausgelotet werden können.
5.3.3 5.3.3.1
Zur Natürlichkeit und Ursprünglichkeit von Migration und Mobilität Die Reise als menschliche Konstante
Wie an den zuvor untersuchten Raumdynamiken in den Korpustexten ersichtlich wird, gelten Migration und Mobilität gemeinhin gegenüber der u.a. biopolitisch motivierten Norm der Sesshaftigkeit als etwas Deviantes (vgl. Borsò 2015: 259, 262f.). Die in dieser Studie analysierten Werke scheinen allerdings mittels verschiedener literarischer Verfahrensweisen eine Aufwertung von Bewegung und Exil vorzunehmen, indem sie diese Phänomene als natürlich und ursprünglich darstellen. In Ulysse from Bagdad erfolgt diese Normalisierung von Migration und Bewegung über den strukturellen Intertext (vgl. Pfister 1985: 28, Schmitz 2019: 310) mit Homers Odyssee,106 der bereits im Titel von Éric-Emmanuel Schmitts Roman angelegt ist. Der Autor unternimmt eine réécriture der wahrscheinlich größten Reiseerzählung der Menschheit vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen, womit es sich nach Genette (vgl. 1982: 12-16, 19-23) um einen Hypertext in 106 Zu Homers Ilias und der Gattung des Epos als Erprobung des politischen Lebens des Menschen siehe Vogl (vgl. 2008: 21f.).
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Form einer Adaptation bzw. Parodie handeln könnte.107 In einem Schreibtagebuch im Anhang des Romans erklärt Schmitt, dass er diesen markanten intertextuellen Bezug wählte, um den Protagonisten seiner Geschichte mit Homers Helden gleichzustellen und damit eine fiktionale Würdigung aller Migrant*innen vorzunehmen, die sich in der realen Welt auf der Reise in ein besseres Leben befinden (vgl. Schmitt 2016: 278). Der Autor betrachtet die Odyssee als europäische Ur-Erzählung108 und zählt Homers Epos zu jenen Werken der Weltliteratur, die stetig Inspiration für neue Geschichten bieten (vgl. ebd.: 278f.). Gleichzeitig erschließen intertextuelle Bezüge über das Wissen und die Implikationen, die sie transportieren, Raum für Reflexionen: »Pour moi, tout roman vient forcément après d’autres romans et ne peut les ignorer […]. J’attends d’un roman plus que d’un roman. […] [I]l doit m’offrir une réflexion […]. Je n’écris pas pour dire ce que je pense, mais pour découvrir ce que je pense« (ebd.: 284f.). Für Schmitt ist die Odyssee insofern als Prätext bzw. Hypotext für Migrationsliteratur auch deshalb besonders geeignet, als Homers Epos die Auslotung von Identität in den Fokus nimmt. Zwar vertritt die Odyssee auf den ersten Blick die konventionelle Vorstellung einer ortsgebundenen Identität, dekonstruiert ebendiese allerdings laut Schmitt im Verlauf der Handlung. Das erklärte Ziel von Odysseus’ Reise ist die Rückkehr in seine Heimat, über die er sich, insbesondere als Herrscher, definiert. Gleichzeitig muss der epische Held während seiner Irrfahrten und selbst bei seiner Ankunft auf Ithaka wiederholt seine Identität verbergen und sich als ein anderer ausgeben. Seine Identität ist also einerseits an seine Heimat gebunden, passt sich jedoch andererseits variabel an Orte und Situationen an. Wie Schmitt feststellt, ist Odysseus zwar als Herrscher Ithakas bekannt, bleibt aber vorrangig als der ewige Reisende im Gedächtnis: »Tout en décrivant un
107 Joëlle Cauville sieht den parodierenden Charakter von Schmitts Verweisen auf Homers Odyssee in einer weiteren intertextuellen Beziehung begründet. Ausgehend von dem Ulysse from Bagdad im Paratext vorangestellten Zitat aus Jean Giraudouxʼ Elpénor (1950 [1938]) vermutet Cauville, dass Schmitt sich von Texten Giraudouxʼ hat inspirieren lassen, die von der Forschung als »une vision burlesque de l’épopée« (Cauville 2013: 19) rezipiert wurden. So ist in Elpénor nicht Odysseus als Herrscher von Ithaka die Hauptfigur, sondern sein titelgebender Weggefährte, der einen wenig heldenhaften Tod stirbt, als er von Kirkes Dach fällt (vgl. ebd.: 19, Giraudoux 1950: 86-89). 108 Thomas Schmitz (vgl. 2019) deutet Éric-Emmanuel Schmitts intertextuellen Bezug auf die Odyssee als literarischen Rekurs auf einen europäischen Gründungsmythos. Ebenso unterstreicht Markus Janka den Vorbildcharakter der Odyssee für europäische Erzählungen von Mobilität und Räumlichkeit: »Für die ›Texträume und Raumtexte‹ der europäischen Literatur bietet die Odyssee mit ihrer gewaltigen Wirkungsgeschichte mithin den prototypischen Fall.« (Janka 2015: 301) Nicoletta Pireddu (vgl. 2015) untersucht Ulysse from Bagdad und andere Texte auf intertextuelle Bezüge zu Homers Odyssee im Hinblick auf die Verhandlung einer kulturellen und politischen europäischen Identität sowie die Entwicklung letzterer seit dem antiken Griechenland.
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voyage de retour, Homère accepte en filigrane le caractère nomade de l’homme.« (ebd.: 287) Homers Odyssee scheint dementsprechend einen fruchtbaren Hypotext zu bieten, um eine in vielerlei Hinsicht prototypische Geschichte einer Migration im 21. Jahrhundert zu erzählen und dabei unterschwellig, sprich palimpsestartig (vgl. Genette 1982), das Nomadentum als menschliche Konstante zu prägen sowie die Vorstellung zu propagieren, dass Identität nicht über einen Ort definiert werden kann, sondern wandelbar und dynamisch ist: »The contemporary Ulysses«, so Pireddu, »is always a stranger and a guest, simultaneously in the unknown and at home, and, by learning to be ›Nessuno‹ […], understands that it is never truly possible to own one’s home and identity.« (Pireddu 2015: 259) Laut Rosi Braidotti, die sich auf das nomadische Denken der feministischen Philosophie beruft, ist gerade eine nomadische Subjektivität die geeignete Antwort auf die Verschiebungen und Brüche der Postmoderne (vgl. Braidotti 2007: 51-58): »[R]elational, interaktiv, rhizomatisch im produktiven Sinne des Begriffs« (ebd.: 63) löst sich das nomadische Subjekt von der postmodernen Krise der Subjektkategorie und in Konsequenz bietet »das nomadische Denken kartographische Analysewerkzeuge«, um die »Wissens-/Machtbeziehungen« (beide ebd.: 52) der gegenwärtigen Epoche zu beschreiben. Obgleich Saads Zusammenfassung seiner Identitätswechsel während der Migration zunächst pessimistisch klingt, »j’ai dégringolé d’identité en identité, migrant, mendiant, illégal, sans-papiers, sans-droits, sans-travail […]. Clandestin. […] Etranger partout« (Schmitt 2016: 11), ist es vielleicht ebendiese Anpassungsfähigkeit, die ihn an sein Ziel bringt und jegliche Formen der biopolitischen Regulierung seiner Reise überwinden lässt. Denn obwohl man nicht erfährt, wie es für Saad in London weitergehen wird, endet seine Erzählung mit dem verheißungsvollen Wort »›Espoir‹« (ebd.: 267). Bevor einzelne intertextuelle Bezüge auf die Odysse in Ulysse from Bagdad hinsichtlich ihrer biopolitischen Implikationen analysiert werden, wird zunächst Schmitts allgemeines literarisches Vorgehen kommentiert, da dieses durch bestimmte narrative Merkmale des Textes eine Hinterfragung der dargestellten biopolitischen Dynamiken vornimmt. Der Autor überträgt nämlich Episoden und mythische Figuren aus Homers Epos in die gegenwärtige Geschichte einer illegalen Migration nach Europa, verfährt dabei aber nicht schematisch oder chronologisch, sondern greift Handlungselemente selektiv auf, gestaltet sie um oder parodiert sie (vgl. Cauville 2013: 14, Haji Babaie/Rezvantalab 2018: 194, Schmitz 2019: 310-318). Das Kernstück der Handlung resultiert etwa aus einer Inversion des epischen Prätextes: Macht Odysseus sich nach dem Sieg gegen die Trojaner auf die Heimreise nach Ithaka (vgl. Homer 2019: 1. Gesang, Verse 1-19), so ist es für Schmitts Protagonisten der Krieg, der ihn aus seiner irakischen Heimat vertreibt (vgl. Schmitt 2016: 24-71). In der Reisebewegung diametral gegenübergestellt, sind sich Ithaque [itak] und Irak [iak] phonetisch im französischen Originaltext derart
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nah (vgl. Benyamina 2014: 116), dass Aufbruch und Rückkehr als austauschbar erscheinen, womit bereits im Beginn des Romans die Vorstellung angelegt ist, dass das Nomadentum zum Menschen gehört und dieser niemals »völlig zu Hause« (Waldenfels 1997: 11) ist. Wenn Schmitt (vgl. 2016: 278) also die Odyssee als konstitutiven Text der DNA Europas bezeichnet, kann indes sein parodierendes und modifizierendes intertextuelles Vorgehen als Absage an die Vorstellung einer kollektiven, unveränderlichen europäischen Identität gelesen werden (vgl. Muñoz García de Iturrospe 2018: 333), die vermeintlich durch biopolitische Immunisierungsmaßnahmen geschützt werden müsste. Weiterhin zeichnet sich Schmitts Überführung der Odyssee in den politischen und historischen Kontext des 21. Jahrhunderts durch eine auffällige Kopräsenz authentifizierender Referenzen auf die extraliterarische Realität sowie realistischer Handlungselemente einerseits und übernatürlicher sowie mythischer Komponenten andererseits aus. So rekapituliert Saad in den ersten Kapiteln die jüngere Geschichte seiner Heimatstadt Bagdad und bezieht sich dabei u.a. auf Saddam Hussein (vgl. Schmitt 2016: 13, 15, 17), den Zweiten Golfkrieg (vgl. ebd.: 24), den 11. September, die von den USA angeführte Suche nach Massenvernichtungswaffen (vgl. ebd.: 33) und den Irakkrieg (vgl. ebd.: 44-49). Mit derselben Selbstverständlichkeit schildert der Ich-Erzähler allerdings, wie der Geist seines Vaters ihm nach dessen Ableben erscheint (vgl. ebd.: 59f.) und auch Saads Mutter betrachtet ihre Gespräche mit dem Geist ihres verstorbenen Mannes offenbar als etwas Alltägliches (vgl. ebd.: 70f., Schmitz 2019: 308f.). Jenes Nebeneinander mythischer bzw. fantastischer und realistischer Elemente109 zieht sich durch den gesamten Text und dient der kritischen Thematisierung der dargestellten politischen Regulierung von Migrationsbewegungen, wie die nachfolgende Analyse aufzeigen wird.110
109 Thomas Schmitz (vgl. 2019: 309) sieht in diesem Vorgehen eine Orientierung Schmitts am magischen Realismus, die durch entsprechende intertextuelle Verweise auf das Werk Jorge Luis Borges’ konsolidiert wird. 110 Die beschriebene inhaltliche Heterogenität von Ulysse from Bagdad geht mit einem besonders facettenreichen stilistischen Ausdruck einher (vgl. Benyamina 2014: 116, Simões Marques 2014: 40f.). Schmitt selbst hebt diesbezüglich rhapsodische Komponenten seines Romans hervor, die u.a. in epithetischen Formulierungen zum Ausdruck kommen (vgl. Schmitt 2016: 18, 27, 30, 45, u.ö.) und den Text der intendierten Erzählsituation des Epos annähern, das als Dichtung in Versform zum mündlichen Vortrag gedacht war (vgl. ebd.: 282-284). Die Epitheta und weiteren rhapsodischen Komponenten des Romans, wie die Anlehnung an Homers Epos im Allgemeinen und die daraus resultierende Integration mythischer Handlungselemente, tragen zu dem unter 5.1.3 thematisierten Spannungsverhältnis zwischen Schriftlichkeit und (fingierter) Mündlichkeit bei, das allen im Rahmen dieser Untersuchung betrachteten Werken gemeinsam ist. Erneut scheint sich die These zu bestätigen, dass moderne Geschichten von Migration in ihrer komplexen und teils paradoxalen Einbindung in biopolitische und bioökonomische Dynamiken kaum in homogenen literarischen, diskursiven oder epistemischen
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Der erste für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung relevante Intertext zwischen Ulysse from Bagdad und der Odyssee ergibt sich, als Saad in Kairo bei der Vertretung der Vereinten Nationen den Status eines politischen Geflüchteten beantragen möchte. Dort trifft er auf Docteur Circé (vgl. Schmitt 2016: 127), die denselben Namen trägt, wie die Göttin und Zauberin Kirke aus der Odyssee (vgl. Cauville 2013: 14, Homer 2019: Gesang 10, Verse 96-508). Bereits bevor Saad Dr. Circé gegenübertritt, vergleicht er die Macht der Mitarbeiterin des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) mit der einer Zauberin, da das Gespräch mit ihr über seine Zukunft entscheiden kann: »Je pense que, derrière la porte, mon destin m’attend. La femme qui va m’interroger […] est une magicienne qui tient ma vie entre ses mains.« (Schmitt 2016: 126) Ebenso wie die Zauberin Kirke Odysseus zeitweise festhält, versucht Dr. Circé, Saad von der Weiterreise abzubringen. Sie empfiehlt ihm, in den Irak zurückzukehren, da sie sicher ist, dass er nicht als politischer Geflüchteter anerkannt wird (vgl. ebd.: 131-133). Im Gegensatz zu der modernen Dr. Circé der Vereinten Nationen lässt Kirke Odysseus in Homers Original aber letztendlich ziehen: »Schmitt hat die Rolle der homerischen Kirke in seinem Roman umgekehrt: Statt einer Helferin auf der Reise ist seine Circé eine gleichgültige, ja feindselige Macht.« (Schmitz 2019: 313) In Anlehnung an die Odyssee sieht sich die Hauptfigur von Schmitts Roman einer vermeintlich übernatürlichen Macht ausgeliefert, die über den Fortgang seines Lebens entscheidet. Nur mittels der Metapher der Magie scheint Saad dazu imstande, auszudrücken, wie die undurchdringlichen Kräfte und Dynamiken des Migrationsdispositivs, das Dr. Circé repräsentiert, über seinen Status als politisch qualifiziertes (bíos) oder bloßes Leben (zoë) urteilen. In dieser Gegenüberstellung der übernatürlichen Hindernisse in Homers Odyssee mit den bürokratischen und gesetzlichen Hürden, die Schmitts Protagonist überwinden muss, besteht der rote Faden der intertextuellen Beziehung beider Texte: »Dans son périple, Saad rivalise d’astuces pour échapper non pas à la volonté des dieux, mais à celles des autorités, l’épopée du migrant reproduit habilement les affres de tous les exilés du monde« (Simões Marques 2014: 43f.). Die nächste biopolitisch auslegbare Episode von Saads Reise, die von der Odyssee inspiriert ist, befindet sich in Kapitel acht. Mit Hilfe der Sirenen, die keine mythischen Mischwesen, sondern eine schwedische Rockband auf Tournee sind, gelingt es Saad und seinem Freund Boub, von Kairo aus in die Küstenstadt Zuwarah nach Libyen zu reisen. Als Crew-Mitglieder sind sie an Auf- und Abbau der Bühne beteiligt oder helfen während der Konzerte als Sicherheitskräfte aus. Die Musik und der Gesang der Sirenen sind allerdings derart schrill und laut, dass
Systemen zu beschreiben sind, sondern es einer polyphonen, variablen und gar ambivalenten Erzählform bedarf, um die Dynamiken des Migrationsdispositivs verhandeln zu können.
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Saad und Boub trotz Wachs in den Ohren zeitweise das Gehör verlieren und nunmehr verstehen, wieso der Manager der Band vorzugsweise illegale Migrant*innen einstellt, die sich gegen derartige Arbeitsbedingungen nicht wehren können (vgl. Schmitt 2016: 140-145). Abgesehen von der Tatsache, dass sie singen, sind die modernen Sirenen aber kaum mit den verführerischen Wesen zu vergleichen, die den Männern des Odysseus mit ihrem Gesang den Verstand rauben (vgl. Homer 2019: Gesang 12, Verse 41-200). Es handelt sich vielmehr um ausgebrannte, von ihrem Manager rücksichtslos vermarktete junge Frauen, die meist nur wenige Wochen in der Band durchhalten und dann ersetzt werden, ohne dass ihre Fans es bemerken (vgl. Schmitt 2016: 145f.). Mittels dieses parodierenden Gestus (vgl. Cauville 2013: 20) scheint der Roman Kritik am modernen bioökonomischen Kapitalismus zu üben. Selbst die mächtigen Sirenen der griechischen Mythologie können in ihrer heutigen Gestalt der grenzenlosen Ökonomisierung des Menschen zu Zeiten des Empire nicht entkommen und werden ebenso ausgenutzt, wie Saad und sein Freund Boub. In einem weiter gefassten Verständnis von Agambens Begriff des nackten Lebens sowie in Verbindung mit der von Hardt und Negri festgestellten Verschränkung von Politik und Ökonomie könnte diese Gemeinsamkeit zwischen den wohlhabenden Rockstars und zwei illegalen Migranten ein Indiz dafür sein, dass jedes Leben potenziell ein bloßes, ausbeutbares ist. Neben den Sirenen begegnet Saad auf seiner Reise weiteren mythischen Figuren, deren Präsenz im Roman die Einbindung seines Lebens in biopolitische und bioökonomische Dynamiken ins Werk setzt. Nachdem das Boot, auf dem Boub und Saad nach Italien übersetzen wollten, von der maltesischen Küstenwache abgefangen wird (vgl. Schmitt 2016: 150-159), werden der Protagonist und sein Freund inhaftiert. In der Haft wird Saad regelmäßig von einem Beamten verhört, der aufgrund seiner Körpergröße, seiner Korpulenz und des Umstands, dass er auf einem Auge blind ist (vgl. ebd.: 166), an einen Kyklopen erinnert. Die Hauptfigur beschreibt ihr Gegenüber als »géant« (ebd.: 165), sowie als »ogre« (ebd.: 168) und fühlt sich wie dessen Beute (ebd.: 164). In einem späteren Treffen der beiden Figuren werden diese mythologischen Anspielungen konsolidiert, indem sich Schmitts Protagonist im Verhör als »Personne« (ebd.: 172) ausgibt und es damit Odysseus gleichtut, als dieser sich und seine Gefährten im neunten Gesang gegen den Kyklopen Polyphem verteidigt (vgl. Simões Marques 2014: 45). Um aus der Höhle des Menschenfressers zu entkommen, macht der Herrscher Ithakas Polyphem mit Wein betrunken. Der Kylop fragt Odysseus nach seinem Namen, doch dieser reagiert in weiser Voraussicht mit einer List und gibt an, sein Name sei Niemand.111
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Hannes Fricke führt verschiedene Auslegungen des »niemand-Spiels« (Fricke 1998: 48) in der Odyssee auf und erklärt die schwer zu übersetzende Polysemie von Homers Namensgebung, die in besagter Episode der Blendung des Polyphem zum Tragen kommt: »Im Griechischen bedeutet οὖτις soviel wie ›niemand‹ […] und klingt durch vergleichbaren An- und Ablaut ähn-
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Als Polyphem daraufhin volltrunken in einen tiefen Schlaf fällt, nutzen Odysseus und seine Männer die Gelegenheit, um einen glühenden Pfahl in sein Auge stoßen (vgl. Homer 2019: Neunter Gesang, Verse 216-398). Als der nunmehr blinde Polyphem die anderen Kyklopen zur Hilfe ruft, zahlt sich die List des Odysseus aus: Und er rief die Kyklopen mit lauter Stimme, die ringsum Über die windigen Gipfel hin ihre Höhlen bewohnten. […] ›Freunde, Niemand sucht mich mit List und Gewalt zu ermorden.‹ Ihm antwortend sprachen sie da die gefiederten Worte: ›Wenn dir niemand Gewalt antut, du also allein bist, Nicht zu entrinnen ist einer von Zeus gesendeten Krankheit […]‹. Also sprechend gingen sie fort, und es lachte das Herz mir, Daß mein Name so gut getäuscht und der treffliche Einfall. (ebd.: Neunter Gesang, Verse 398-413) Während Odysseus sich und sein Gefolge mit dieser Täuschung vor dem Tod bewahren will,112 gibt sich Saad als Niemand aus, um die europäischen Immunisierungsdynamiken zu umgehen und seine Abschiebung zu vermeiden: »Schmitt adopts Odysseus’s most radical identity, Nobody, to highlight the exclusions that challenge European belonging whenever errancy does not enable multiple self-reinventions but rather deprives the self of social and juridical recognition.« (Pireddu 2015: 278) Im Gespräch mit dem maltesischen Beamten gibt der Protagonist vor, das Gedächtnis verloren zu haben und sich weder an seinen Namen noch an seine Herkunft erinnern zu können (vgl. Schmitt 2016: 164-167). Boub und er hatten vor ihrer Festnahme durch die Küstenwache ihre Papiere über Bord geworfen (vgl. ebd.: 158f.), um den Behörden die Rückführung in ihre Herkunftsländer zu erschweren (vgl. ebd.: 167): [I]n instances, where migrants have lost all claims against the state […] many will resort to an extreme act of resistance against the state: the destruction of their
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lich wie der Name ›Odysseus‹. Doch noch mehr: Die Kyklopen verwenden in ihrer Reaktion auf ihren verletzten Freund nicht οὖτις, sondern sie weichen in den gleichbedeutenden Ausdruck μήτις aus. Wiederum durch eine Assonanz spielt hier der Dichter auf einen Beinamen des Odysseus an: […] der Vielkluge.« (ebd.: 50) Fricke weist darauf hin, dass das Verhalten Polyphems im Kontext der Odyssee als nahezu »blasphemisch« (Fricke 1998: 48) eingestuft werden kann, da das »heilige […] Gastrecht« (ebd.: 47) von Zeus vorgeschrieben ist und auf den Reisen des Odysseus ein entsprechend häufiges Motiv darstellt. Im Vergleich mit seinem Prätext ist es in Éric-Emmanuel Schmitts Roman daher umso auffälliger, dass nur wenige Europäer*innen dem migrierenden Protagonisten mit Gastfreundschaft begegnen (vgl. Schmitt 2016: 182-193, 233-245).
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identity documents. By rendering themselves ›unclassifiable‹ […] migrants can oftentimes succeed in tying the hands of the sovereign who is forced to operate within the constraints of the international legal order that requires the possession of identity documents for repatriation. (Ellermann 2009: 3f.)113 So verfolgen Boub und Saad bei ihren wöchentlichen Treffen mit dem Beamten die Strategie, ihre Identität zu verbergen, während letzterer mit verschiedenen Methoden versucht, die beiden zu überlisten und ihre Herkunft aufzudecken (vgl. Schmitt 2016: 167-171): »Wie für den homerischen Odysseus, so ist auch für Saad der temporäre Verzicht auf den eigenen Namen und die eigene Identität […] lebensrettend: Nur als ›Niemand‹ kann er dem Schicksal entgehen, wieder in seine Heimat Irak deportiert zu werden.« (Schmitz 2019: 314) Ebenso wie der Held der Odyssee muss Schmitts Protagonist gleich an mehreren Stellen des Romans seine Identität leugnen und sich als »Ulysse« oder »personne« ausgeben, um der biopolitischen Kontrolle seiner Migration zu entgehen (vgl. Schmitt 2016: 184f., 222, Haji Babaie/Rezvantalab 2018: 191f.).114 113
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Laut Antje Ellermann (vgl. 2009, 2010), die u.a. auf Agambens Denkfiguren des nackten Lebens und des Ausnahmezustands rekurriert, bildet in solchen Fällen gerade die Position illegaler Migrant*innen außerhalb der staatlichen Systeme die Basis für derartige widerständige Akte: »While much has been written on the dehumanizing consequences of the denial of membership, it is important to recognize that the abrogation of rights at the same time makes possible certain acts of resistance such as identity-stripping. Simply put, individuals who possess the rights of citizenship have entered into too many bureaucratic relationships with the state to retain the choice to render themselves unknowable. […] Thus, it is the absence of rights of the undocumented migrant that is the source of her capacity for resistance.«(Ellermann 2010: 414f.) An einem späteren Punkt der Handlung greift Schmitt auch den zweiten Teil der Begegnung zwischen Odysseus und Polyphem intertextuell auf und thematisiert dabei fiktional die wissensvermittelnde Funktion von Literatur. Als der Geist seines Vaters Saad daran erinnert, wie Odysseus und seine Männer unter den Bäuchen von Polyphems Schafen aus dessen Höhle fliehen (vgl. Homer 2019: Neunter Gesang, Verse 414-466), kommt Schmitts Protagonisten die Idee, sich mit einem Gürtel an das Fahrgestell eines Viehtransporters zu binden, um unter dem Fahrzeug unbemerkt die französisch-italienische Grenze zu passieren (vgl. Schmitt 2016: 229-232). Saads Vater stellt fest: »La littérature est plus utile que tu ne te le figures.« (ebd.: 229) Ebenso stellt Schmitt im journal d’écriture im Anhang von Ulysse from Bagdad metaliterarische Überlegungen an. Dabei äußert er die Ansicht, dass Schreiben mit Handeln gleichzusetzen ist, sofern es eine direkte Reaktion auf die Lebensbedingungen illegaler Migrant*innen und Geflüchteter in Europa darstellt. Der Autor hegt allerdings die Hoffnung, dass seine Werke mitunter zu einer tatsächlichen Verbesserung beitragen können, indem sie andere Perspektiven auf die drängende gesellschaftliche Fragestellung der Migration bieten (vgl. ebd.: 296). Gegen Ende des Schreibtagebuchs schildert Schmitt eine Begegnung, von der er sich in dieser Hoffnung bestätigt sieht: Der ehemalige ständige Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, hat dem Autor nach dessen Angaben bei einem gemeinsamen Mittagessen mitgeteilt, dass die Lektüre von Ulysse from Bagdad ihn während seiner
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Die letzte Episode auf Saads Reise, die intertextuell an die Odyssee anschließt, ist seine Begegnung mit Doktor Schoelcher, dem Bürgermeister der Toten. Im elften Gesang schildert Odysseus König Alkinoos, wie er in das Totenreich des Hades hinabsteigt, um dort den blinden Seher Teirésias um Rat für seine Weiterfahrt gen Ithaka zu bitten (vgl. Homer 2019: 11. Gesang, Verse 22-640). In Schmitts Roman findet die symbolische Reise der Hauptfigur in das Reich der Toten im französischen Charny-sur-Meuse statt. Über Umwege gelangt Saad zu Doktor Schoelcher, der sich für illegal Eingewanderte engagiert und Bürgermeister eines Dorfs ist, in dem außer ihm niemand lebt. Im Ersten Weltkrieg haben alle Bewohner*innen das Dorf verlassen oder sind im Krieg zu Tode gekommen, sodass Saad und sein Gastgeber bei ihrem Spaziergang durch die Gemeinde von Gräbern umgeben sind (vgl. Schmitt 2016: 240-243). Ausgehend von der Geschichte seines Dorfs bemerkt Doktor Schoelcher, dass die Menschen sich seit jeher nur dann zusammengetan hätten, wenn sie einen gemeinsamen Feind hatten oder sich zumindest von anderen Gemeinschaften abgrenzen konnten. Daher habe die Menschheit das Konzept der Nation erfunden, das zwar Gemeinschaft stifte, diese jedoch an ein Territorium binde und somit gleichzeitig Exklusionsmechanismen impliziere. Er plädiert hingegen für eine Welt ohne Grenzen, da der Mensch schlicht vergessen habe, dass im Grunde auch er von Natur aus ein nomadisches Wesen sei (vgl. ebd.: 244). Doktor Schoelcher steht somit für das Konzept einer neuen communitas ein (vgl. Esposito 2014: 68), die nicht auf Ausschluss und Grenzziehung gründet, sondern das Gemeinsame betont. Auch Schmitts Protagonist wünscht sich nach den Erfahrungen seiner Migration eine Zukunft, in der ein kollektives Wir »la communauté des hommes intelligents qui cherchent la paix« (Schmitt 2016: 239) bedeute, sprich eine globale Multitude, die sich nicht länger über nationale Zugehörigkeiten und ähnlich exkludierende Konzepte definiere (vgl. Hardt/Negri 2005: xi-xvi, 99-101). Am Ende des Textes ist es allerdings der Protagonist selbst, der die im Titel von Ulysse from Bagdad angelegte Parallele zwischen sich und Odysseus dekonstruiert, denn Saad fasst die Unterschiede zwischen sich und dem epischen Helden zusammen: Il y a trois mille ans, un homme, Ulysse, rêvait de revenir chez lui après une guerre qui l’en avait éloigné. Moi, j’ai rêvé de quitter mon pays dévasté par la guerre. Quoique j’aie voyagé et que j’aie rencontré des milliers d’obstacles pendant ce périple, je suis devenu le contraire d’Ulysse. Il retournait, je vais. A moi l’aller, à lui le retour. Il rejoignait un lieu qu’il aimait; je m’écarte d’un chaos que j’abhorre. Zeit als Premierminister Belgiens bei der Reform des belgischen Asylrechts beeinflusst habe (vgl. ebd.: 299). Schmitt kommentiert: »Moi qui soutiens que la littérature ne constitue pas une fin en soi, mais contribue à créer une vie meilleure, plus juste, plus intelligente, j’étais confirmé! […] Une de mes fictions avait servi« (ebd.: 299). Somit scheint in der oben zitierten Aussage von Saads Vater der Autor selbst indirekt zu Wort zu kommen.
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Il savait où était sa place, moi je la cherche. Tout était résolu, pour lui, par son origine, il n’avait qu’à régresser, puis mourir, heureux, légitime. Moi je vais édifier ma maison hors de chez moi, à l’étranger, ailleurs. Son odyssée était un circuit nostalgique, la mienne un départ gonflé d’avenir. Lui avait rendez-vous avec ce qu’il connaissait déjà. Moi j’ai rendez-vous avec ce que j’ignore. (Schmitt 2016: 266) Wenngleich Odysseus und Saad beide das Ziel ihrer Reise erreichen, ist es für den einen die ersehnte Rückkehr und für den anderen die ebenso ersehnte, aber schwierige Ankunft in der Fremde. Schmitts Protagonist zeigt sich von London desillusioniert und ob es ihm gelingen wird, sich ein neues Leben aufzubauen, bleibt ungewiss. Trotz alledem schwingt im obigen Zitat ein entschiedener Blick in die Zukunft mit, der sich im letzten Wort der Erzählung ausdrückt: »›Espoir‹.« (ebd.: 267) Wie die Untersuchung der intertextuellen Beziehung zwischen Ulysse from Bagdad und Homers Odyssee gezeigt hat, scheint Schmitts Text den aktualisierenden und parodierenden Rückgriff auf eine der Urerzählungen der Menschheit zu nutzen, um ebenso ursprüngliche Fragen nach Identität und Migration hinterfragend ins Werk zu setzen: »Schmitts Erzählung […] zeigt deutlich die mythomotorische Kraft dieser Gestalt [Odysseus] und verweist darauf, dass am Anfang der europäischen Kultur nicht ein selbstbewusster Machtmensch steht, sondern ein unsteter Wanderer auf der Suche nach Heimat und Identität.« (Schmitz 2019: 318) Die Analyse von Schmitts Rekurs auf den epischen Hypotext verdeutlicht, dass die Geschichten von Odysseus und Saad sich um ähnliche Themenkomplexe organisieren, die politischen und gesellschaftlichen Umstände sich allerdings grundlegend geändert haben. Die Episteme und Motive der Odyssee werden zu einem alternativen Beschreibungssystem für biopolitische und bioökonomische Zusammenhänge der Gegenwart, indem die Einbettung in das Mythische und Übernatürliche den teils paradoxen und arbiträren Charakter ebendieser Phänomene hervorzuheben vermag: »This narrative pattern […] surrounds his migration with an aura of myth, as the bedrock of a new identity status that has become typical of the contemporary world (or maybe of us all): the status of the migrant« (Geat 2018: 79).
5.3.3.2
Die symbolische Legitimierung von Mobilität
Wie durch die Untersuchung der Korpustexte festgestellt wurde, können Schmitts intertextueller Rückgriff auf die Odyssee sowie Gaudés und Ben Jellouns mythisierende Darstellungen des Mittelmeers als Verfahrensweisen einer literarischen Normalisierung bzw. Aufwertung von Migration und Bewegung gedeutet werden, indem diese Phänomene mit Narrativen und Diskursen von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit assoziiert werden. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich erneut bei Laurent Gaudé und Éric-Emmanuel Schmitt sowie bei Delphine Coulin, wo mit Symboliken und Vergleichen aus der Tierwelt biopolitische Strategien der Regu-
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lierung von Migrationsbewegungen in ihrem menschengemachten Charakter entlarvt und durch animalische Symboliken sowie die Darstellung tierischer Migrationen konterkariert werden: There is an inextricable link between migration and humanity; indeed, the history of humanity could be said to be the history of migration. However, between migration being an intrinsic part of human existence, and migrants becoming disavowed from humanity, a historical leap – structured by biopolitics – has occurred in which both categories have been reproduced exclusively of one another. (Chami 2019: 7) In Gaudés Eldorado zieht sich das Symbol des Vogels wie ein roter Faden durch die Erzählstränge beider Protagonisten. An nicht weniger als zwölf Stellen des Romans werden intradiegetisch reale oder imaginierte Vögel beobachtet oder erwähnt (vgl. Gaudé 2009: 43, 48, 78, 83, 123, 133, 151, 178, 179, 182, 211, 220). Nur bei der ersten Erwähnung handelt es sich dabei um einen spezifischen Vogel, nämlich um eine Schwalbe. Als Soleiman und sein Bruder am Abend vor ihrer Abreise in Richtung Europa ein letztes Mal gemeinsam durch die Straßen ihrer Heimatstadt ziehen, fliegen über ihnen Schwalben am Himmel (vgl. ebd.: 43). Die Schwalbe gilt seit der Antike als Symbol für den Frühlingsanfang und somit im weiteren Sinne für einen Neubeginn. Als Zugvogel verkörpert sie allerdings eine gewisse Ambivalenz, da sie tausende Kilometer zurücklegt, um im Süden zu überwintern, aber stets zurückkehrt und daher ebenso als Symbol für Heimatverbundenheit betrachtet werden kann (vgl. Zemanek 2012: 384f.). In der Abschiedsszene Soleimans scheint die Schwalbe insofern die innere Zerrissenheit der Figur zu versinnbildlichen, da diese vor einem existenziellen Neuanfang steht und zugleich Schwierigkeiten hat, sich von ihrer Heimat zu lösen: Ce soir, les hirondelles volent haut dans le ciel. […] Je sais que nous partirons cette nuit. Je l’ai compris à son regard. S’il m’a demandé de venir avec lui, c’est qu’il veut que nous soyons ensemble pour dire adieu à notre ville. Je ne dis rien. La tristesse et la joie se partagent en mon âme. Les rues défilent sous mes yeux. J’ai doucement mal de ce pays que je vais quitter. (Gaudé 2009: 43) Ebenso scheinen Vögel im weiteren Verlauf des Romans in den Erzählsträngen beider Protagonisten entscheidende Ereignisse in deren respektiven Migrationsprozessen zu markieren. Nachdem Kapitän Piracci und seine Mannschaft die Suche nach in Seenot geratenen Migrant*innen aufgrund eines Sturms aufgeben müssen, stellt er sich vor, wie die Menschen, die er nicht retten konnte, unterhalb der Wasseroberfläche treiben und dabei wie Vögel aussehen (vgl. ebd.: 78). Verzweifelt über seine Ohnmacht beginnt er, die europäische Migrationspolitik und seine Tätigkeit bei der Küstenwache in Frage zu stellen, was zu grundlegenden Veränderungen in seinem Leben führt und letztlich seine Migration nach Afrika motiviert.
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Als Soleiman nach der Grenzüberquerung in Libyen erfährt, dass sein Bruder todkrank ist und er die Reise allein wird fortsetzen müssen, hören die Vögel in seiner Umgebung plötzlich auf, zu singen (vgl. ebd.: 83). Auch als sich Soleiman Boubakar anschließt, der zu seinem Weggefährten wird (vgl. ebd.: 123), sowie kurz vor seiner Begegnung mit Salvatore Piracci, die ihn dazu ermutigt, seine Migration fortzusetzen, da er den Kapitän für einen Schutzpatron hält (vgl. ebd.: 151), und schließlich unmittelbar vor dem Ansturm auf die spanische Enklave Ceuta tauchen singende und verstummende Vögel in Soleimans Narration auf (vgl. ebd.: 178, 182). Für den Kapitän sehen hingegen die über das Meer ziehenden Wolken wie Vögel aus, kurz bevor er seine Überfahrt nach Libyen antritt (vgl. ebd.: 133). Es zeichnet sich ab, dass Vögel die beiden Figuren auf ihren Reisen begleiten und wichtige Etappen markieren. Dabei symbolisieren sie zum einen als fliegende, die Schwerkraft besiegende Tiere Bewegungsfreiheit und tragen zum anderen als Zugvögel zur Normalisierung von Migration und Nomadentum bei. In ähnlicher Manier stehen in Delphine Coulins Samba pour la France eine Schwalbe und andere Zugtiere sinnbildlich für die Natürlichkeit von Migration und Mobilität: »Dans Samba pour la France, l’aventure du personnage éponyme est entrelacée à la relation des mobilités innombrables et entêtées d’animaux migrateurs, poissons, tortues, oiseaux, ce qui réfère les migrations humaines à un niveau infra-personnel et anté-individuel.« (Mazauric 2013: 84) Die kurzen Kapitel vier, 17 und 31 handeln respektive von einer Meeresschildkröte, einer Schwalbe und einem Wildlachs und beschreiben die Tiere bei den Migrationsbewegungen, die ihr Leben bestimmen. Die Meeresschildkröte wird am Strand geboren und zieht auf der Suche nach Nahrung ihr Leben lang durch die Ozeane (vgl. Coulin 2014: 32-34), während die Schwalbe im Rhythmus der Jahreszeiten zwischen Afrika und Europa wandert (vgl. ebd.: 127f.). Der Lachs hingegen wird im Fluss geboren, verbringt den Großteil seines Lebens im Meer und kehrt nur zur Fortpflanzung in Fließgewässer zurück (vgl. ebd.: 212f.). Die Tiere orientieren sich dabei an der Natur, an der Sonne, den Sternen, Winden, Strömen und Magnetfeldern der Erde. Kapitel 41 thematisiert Tiermigrationen im Allgemeinen und unterstreicht die implizite Aussage der Kapitel vier, 17 und 31, nach der Migration nicht nur natürlich ist und seit jeher existiert, sondern darüber hinaus zum Gleichgewicht der Welt beiträgt: Des milliards d’animaux voyageaient chaque année, de manière incessante, éternelle. Ils suivaient la route qui était la leur depuis vingt mille ans, dans un mouvement naturel et immuable. […] L’arrêt n’existait pas, et tenter d’inverser le cours des choses aurait rompu les cycles dont le monde avait besoin, et mis l’univers en péril. (ebd.: 275) Obwohl die vier Kapitel nicht Teil von Sambas Geschichte sind und die Handlung des Romans mehrmals unvermittelt unterbrechen, wird im jeweiligen Folgekapitel
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stets ein kleiner, aber wesentlicher Zusammenhang hergestellt, wodurch die Natürlichkeit tierischer Migrationen auf die Bewegungsfreiheit des Menschen übertragen und biopolitisch motivierte Grenzziehungen als konstruiert und arbiträr dargestellt werden. Werden in Kapitel vier die ersten Jahre im Leben einer Meeresschildkröte beschrieben – das Schlüpfen am Strand, das erste Schwimmen im Ozean und die tausenden Kilometer, die sie daraufhin zurücklegt –, so beginnt das folgende Kapitel fünf mit Sambas erstem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen: »C’était la première fois que Samba voyait la mer« (ebd.: 35). In Kapitel 18, das an jenes anschließt, welches von der Wanderung der Schwalbe handelt, arbeitet Samba als Fensterputzer und genießt es, hoch oben in der Luft zu sein und die Vögel zu beobachten (vgl. ebd.: 132). Nachdem in Kapitel 31 die Migration eines anadromen Fischs beschrieben wird, schneidet Samba zu Beginn von Kapitel 32 Wildlachs für das Abendessen und in Kapitel 42, das auf das oben zitierte Kapitel zu Tiermigrationen folgt, verlässt Samba Paris, um woanders sein Glück zu suchen (vgl. ebd.: 277). Trotz aller Rückschläge und nachdem er jahrelang vergeblich versucht hat, sich ein Leben in der Hauptstadt Frankreichs aufzubauen, findet Samba nach einer Reihe tragischer Geschehnisse den Mut, weiterzuziehen. Die besagten Kapitel scheinen somit nicht allein auszusagen, dass Migrationsbewegungen natürlich sind, sondern dass außerdem biopolitische Regelungen und die Immunisierungsmechanismen Europas nicht in der Lage sind, sie zu unterbinden. Denn Samba kehrt nicht heim, er zieht lediglich weiter. Schließlich greift in Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad Doktor Schoelcher, dem Saad in Frankreich begegnet, auf eine Metaphorik von Schmetterlingen und Pflanzen zurück, um zu veranschaulichen, dass die Menschheitsgeschichte seit jeher von Migration geprägt ist, die Menschen sich aber dennoch paradoxerweise primär über ihre Herkunft und Sesshaftigkeit definieren: Depuis des millénaires, la terre n’est peuplée que de migrants et demain on migrera davantage, migrants politiques, migrants économiques, migrants climatiques. Mais les hommes sont des papillons qui se prennent pour des fleurs: dès qu’ils s’installent quelque part, ils oublient qu’ils n’ont pas de racine, ils prennent leurs ailes pour des pétales, ils s’inventent une autre généalogie que celle de la chenille errante puis de l’animal volant. (Schmitt 2016: 244) Über Bezüge zu Flora und Fauna finden die genannten Romane somit eine Möglichkeit, den erzählten biopolitischen Dynamiken der Verwaltung und Regulierung von Migration ein textuelles Verfahren gegenüberzustellen, das Mobilität über die Assoziation mit der Natur normalisiert und in eine eigene Logik überführt, sodass sie nicht länger als etwas Deviantes gilt.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
5.4
Alterität: Eigenheit und Fremdheit im Migrationsdispositiv
5.4.1
Zwischen Idealisierung und Kritik: Die Darstellung Europas in Migrationsnarrativen
5.4.1.1
Das europäische Eldorado, Abschottung und eurozentrische Hierarchiegefälle
Die in den vorigen Kapiteln erhobenen Inklusions- und Exklusionsdynamiken des Migrationsdispositivs, die sich u.a. in politischen, juristischen, sozial-gesellschaftlichen und räumlichen Dynamiken äußern, führen unweigerlich zu multidirektionalen Mustern von Selbstdarstellung und Fremdzuschreibung, mit denen die beteiligten Akteure sich voneinander abgrenzen oder miteinander identifizieren. In den untersuchten Texten wird die Relationalität von Identität und Alterität, bzw. Eigenheit und Fremdheit,115 sowohl auf der Ebene einzelner Figuren als auch im Hinblick auf abstrakte nationale, kontinentale oder globale Kollektive verhandelt, denn »was zwischen den Kulturen geschieht, [spiegelt] stets auch etwas von dem […], was zwischen Einzelnen und mit dem Einzelnen geschieht.« (Waldenfels 2006: 109) Nachfolgend wird daher analysiert, auf welche Art und Weise das Migrationsdispositiv und dessen Prozesse der politischen Verwaltung des Lebens Diskurse von Selbst- und Fremddarstellung sowie materielle Mechanismen von Ein- und Ausgrenzung fördern und/oder gar erst produzieren.116 So existieren in den Korpuswerken etwa zwei konkurrierende Europabilder, die respektive als ›Eldorado
115
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Obwohl etwa Bernhard Waldenfels (vgl. 2006: 112-115, 2013: 15-79) zwischen dem Eigenen und dem Selben bzw. dem Fremden und dem Anderen unterscheidet, werden die Begriffspaare Identität und Alterität bzw. Eigenheit und Fremdheit in dieser Studie synonym verwendet, da eine dezidierte terminologische Klärung für die Betrachtung der biopolitischen Beeinflussung und Förderung besagter Phänomene an der Stelle nicht zielführend wäre. Gleiches gilt für eine Differenzierung verschiedener Typen von Fremdheit, wie Waldenfels (vgl. 2006: 111f.) sie vornimmt. Wie zu Beginn des analytischen Parts der Untersuchung in Kapitel 5. erläutert wurde, führen die Wechselwirkungen zwischen den zentralen terminologischen Themenkomplexen der Studie (Macht, Subjekt, Schwelle, Alterität) sowie die netzwerkartige Verfassung des Migrationsdispositivs zu einer Reihe von Verflechtungen, Querverweisen und Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Kapiteln. Insofern fließt ein Großteil der bisher analysierten Textphänomene mehr oder minder direkt und ausschlaggebend in die in den folgenden Kapiteln tiefergehend zu untersuchende, literarische Ergründung von Eigenheit und Fremdheit ein. Das vorliegende Kapitel 5.4 hat daher das Ziel, die zuvor gemachten Beobachtungen zu biopolitischen Inklusions- und Exklusionsprozessen in Bezug auf deren diskursive sowie materielle Auswirkungen auf Identitäts- und Alteritätsentwürfe zu vertiefen und sie überdies um spezifische Fragestellungen zu ergänzen, welche die Zusammenhänge zwischen dem Migrationsdispositiv und der Konstruktion von Eigenheit und Fremdheit unter ausgewählten Gesichtspunkten beleuchten.
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Europa‹ und ›Festung Europa‹ bezeichnet werden können. Zum einen ist Europa das ersehnte Ziel migrierender Figuren, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt ihre Reise antreten. Ob sie aus Indien oder Bangladesch (Sinha), Afrika (Gaudé, Ben Jelloun, Coulin) oder dem Nahen Osten (Schmitt) kommen – sie alle erhoffen sich ein besseres Leben auf dem europäischen Kontinent. Insbesondere in den Diskursen der Charaktere, die sich noch in der Heimat oder auf dem Weg nach Europa befinden, wird dieses häufig als paradiesischer Ort der Möglichkeiten dargestellt und Länder wie Frankreich werden als »royaume somptueux« (Schmitt 2016: 235) oder »Pays des Merveilles« (Coulin 2014: 242) bezeichnet. Andererseits werden die europäische Gesellschaft und die EU als politische Institution allerdings von Eingewanderten, die bereits in Europa leben, und von Europäer*innen ohne Migrationshintergrund für ihre Migrationspolitik oder eurozentrische Verhaltens- und Sichtweisen indirekt bis harsch kritisiert. In Laurent Gaudés Eldorado deutet sich die Suche nach einem besseren Leben in der Ferne bereits im Romantitel an, der im Erzählstrang des Kapitäns intradiegetisch aufgegriffen wird. Im Kapitel Le cimetière de Lampedusa besucht Piracci den Friedhof der kleinen Insel und entdeckt anonyme Gräber, in denen die Inselbewohner*innen Migrant*innen bestattet haben, deren leblose Körper an Stränden angespült worden waren. Ein ordentliches Begräbnis soll die identitätslosen Ertrunkenen, »dont ils ne savaient rien, ni le nom, ni le pays, ni l’histoire« (Gaudé 2009: 110), aus ihrem Status als anonymes, unerwünschtes, bloßes Leben lösen und ihre Menschenwürde im Tod teilweise wiederherstellen. Sahen sie sich durch die Immunisierungsmechanismen Europas gezwungen, die gefährliche Überquerung des Mittelmeers zu wagen, so werden sie von den Bewohner*innen Lampedusas posthum in Empfang genommen, indem sie zwischen den Gräbern der alteingesessenen Familien ihre letzte Ruhe finden und nicht etwa an einem gesonderten Ort bestattet werden (vgl. ebd.: 110). Obgleich der Friedhof bei Foucault als Abweichungsheterotopie gilt, in die Tote insbesondere ab dem 19. Jahrhundert ausgelagert wurden, um die Ausbreitung von Krankheiten zu vermeiden (vgl. Foucault 1994b: 757f.), ist dieser Ort in Eldorado zunächst positiv besetzt, da er Raum für einen humanen Umgang mit den Körpern der Toten eröffnet. Die Gesetze der Lebenden und biopolitische Immunisierungsstrategien finden hier keine Anwendung, denn jeder Mensch, ungeachtet seines legalen Status, seiner Religion oder Herkunft, verdient eine Bestattung. Doch wie der Soziologe Alois Hahn (vgl. 1992: 59) schreibt, teilen hospes und hostis nicht umsonst dieselbe Etymologie, und als im Laufe der Zeit immer mehr Tote an den Stränden Lampedusas aufgefunden werden, wird der Friedhof zu klein, die Toleranz der Insulaner*innen gegenüber den verstorbenen Fremden schwindet (vgl. Baage 2017: 4f.) und die Ertrunkenen werden nicht länger auf dem städtischen Friedhof begraben, sondern gemeinsam mit den überlebenden Eingewanderten an die Peripherie ausgelagert: »Où allaient maintenant les corps échoués
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sur la plage? Le commandant n’en savait rien. Le centre de détention provisoire avait été construit à l’écart de la ville, pour ne pas troubler la vie des riverains et le séjour des touristes.« (Gaudé 2009: 111) In dem Zitat stehen die im Mittelmeer ertrunkenen Migrant*innen in einem schmerzhaften Kontrast zu Tourist*innen. Während die einen die Mittelmeerregion für einen erholsamen Urlaub bereisen, finden die anderen dort auf der Suche nach einem besseren Leben den Tod. Die Gegenüberstellung dieser beiden Gruppen unterstreicht erneut die unter 5.3.1.1 für Tahar Ben Jellouns Partir gemachte Beobachtung, dass Mobilität von der Nationalität und ökonomischen Situation einer Person abhängt, da Tourist*innen Reisefreiheit genießen, während Migrierende zu illegalen und lebensgefährlichen Mitteln greifen müssen, um sich im selben mediterranen Raum bewegen zu können. Auch die bittere Ökonomisierung des biologischen Lebens, die gar über letzteres hinaus noch im Tod zu wirken scheint, wird im obigen Zitat kommentiert, wenn die toten Migrant*innen als ›Störung‹ der lokalen Tourismusbranche bewertet werden. Auf dem Friedhof begegnet der Kapitän schließlich einem Mann, der den Ort als »cimetière de l’Eldorado« bezeichnet und von den Träumen derjenigen spricht, die ihr Leben bei der Überfahrt verloren haben: »L’Eldorado, commandant. Ils l’avaient au fond des yeux. Ils l’ont voulu jusqu’à ce que leur embarcation se retourne. En cela, ils ont été plus riches que vous et moi. Nous avons le fond de l’œil sec, nous autres. Et nos vies sont lentes.« (beide ebd.: 111f.) Tatsächlich betont auch Salvatore Piracci im Verlauf der Handlung mehrmals, dass er Migrierende um ihre Entschlossenheit beneidet, da seine eigene Existenz ihm umso sinnloser erscheint (vgl. ebd.: 40, 57, 62, 63). Trotz der inneren Konflikte, die den Kapitän als personifiziertes Immunisierungsdispositiv Europas plagen (vgl. 5.1.2), können diese Aussagen als höchst problematisch betrachtet und als Zeichen einer gewissen Dekadenz des modernen europäischen Subjekts gedeutet werden. Die Äußerungen der beiden Männer auf dem Friedhof Lampedusas wirken nahezu grotesk in Anbetracht der Tatsache, dass die dort begrabenen Menschen ihren Traum vom Eldorado Europa mit dem Leben bezahlt haben. Carla Callargé analysiert unter Rückgriff auf Roland Barthesʼ Mythologies (1970 [1957]) die mythische Konstruktion Europas als Paradies in zeitgenössischer frankophoner Migrationsliteratur. Dabei hebt auch sie hervor, dass in Gaudés Roman der Mythos Eldorado117 durch den seelischen Zustand des Kapitän Piracci konterkariert wird. Erst die persönliche, tiefergehende Konfrontation mit einer geretteten Migrantin scheint dem Kapitän bewusst zu machen, wie leer sich sein Leben in einer schnelllebigen, von Konsum
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Die Semantisierung Europas als Eldorado, jenem mythischen Sehnsuchtsort der europäischen Eroberer in der sogenannten ›neuen Welt‹, reiht sich in eine Umkehrung vormals kolonialer Diskurse ein, die in den untersuchten Werken beobachtet werden kann und im folgenden Kapitel 5.4.1.2 ausgedeutet wird.
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und Materialismus geprägten Gesellschaft anfühlt, obgleich es ihm objektiv an nichts fehlt: [B]y allowing us to believe that paradise can be reached through the possession of material goods, these images (and the entire ideological discourse that they disseminate) invite people to construct their lives around consumption as the ultimate value. And by doing so, these images hide the violence (symbolic and otherwise) of such a system and the existential void that ensues. Major Piracci […] is the character that, perhaps, best expresses this consciousness. (Callargé 2015: 10) Die verquere Sehnsucht nach einem Lebenssinn, die Kapitän Piracci und der Mann auf dem Friedhof äußern, sowie die zitierte Meinung von Callargé können an Michael Hardts und Antonio Negris These von der ontologischen Leere des Empire angeschlossen werden. Vermehrt weisen die Autoren in ihrer Studie nämlich darauf hin, dass das postmoderne imperiale System einem originären Zweck entbehrt und sich einzig und allein über seine Logik der kapitalistischen Wertsteigerung legitimiert (vgl. Hardt/Negri 2001: 34, 62), was bei den in ihm lebenden Subjekten zu einer »autonomous alienation from the sense of life« (ebd.: 23) führen kann. Wird Europa mit Reichtum, Freiheit und einem besseren Leben assoziiert, so wird Afrika dichotomisch zum krisen- und hungergebeutelten, armen Anderen (vgl. Gaudé 2009: 115, 137, 207, 220), wodurch die u.a. bereits für Shumona Sinha konstatierte Korrelation zwischen Armut und Alterität (vgl. 5.2.1.1 u. 5.2.2.2), die unter 5.4.3 näher analysiert wird, bestätigt zu werden scheint. Als Salvatore Piracci gegen Ende des Romans durch Afrika reist, bricht er bewusst mit diesem Narrativ und versucht, Migrant*innen von der Reise nach Europa abzubringen, da er als ehemaliger Kapitän der Küstenwache gesehen hat, wie oft diese tödlich endet. In Eldorado wird an besagter Textstelle eine ähnliche Krankheitsmetaphorik verwendet, wie sie unter 5.2.2.2 für Tahar Ben Jellouns Partir beobachtet wurde, denn Piracci hat den Eindruck, seine afrikanischen Mitreisenden werden von einem Fieber erfasst, als sie ihn nach dem Leben in Europa fragen. Schließlich macht er seinem Unmut über das europäische Gesellschaftssystem Luft und versucht, die Reisenden abzuschrecken, indem er ihnen erzählt, dass es in Europa für sie keine Arbeit gebe, dass sie dort lediglich ausbeuterische Arbeitsverhältnisse erwarteten und die meisten Menschen durch das ständige Überangebot an Waren und anderen Dingen unglücklich wären. Allerdings kommen seine Worte nicht an, die Zuhörer*innen haben zunehmend schlechte Laune und wenden sich letztlich von ihm ab (vgl. Gaudé 2009: 188-190). In Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad finden sich ebenfalls sowohl die Idealisierung Europas als auch deutliche Kritik an dessen Gesellschaft und Migrationspolitik. Auf den ersten rund 90 Seiten des Romans schildert der autodiegetische Erzähler ausführlich, wie er und seine Familie unter dem Regime Saddam Husseins, den internationalen Sanktionen gegen den Irak und schließlich unter
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dem Einmarsch der USA im Nachgang der Attentate vom 11. September 2001 leiden. Der Protagonist verliert diverse Angehörige, seine Familie hungert, die medizinische Versorgung bricht zusammen. Saads Auswanderung nach Europa wird von seiner Mutter als einziger Ausweg und Rettung der Familie dargestellt: »Mon fils, je ne t’en supplie pas, je l’exige: émigre. Tu es jeune, vif, intelligent et fort. Tu travailleras à l’étranger et tu enverras tes économies. Il n’y a que toi qui nous sauveras.« (Schmitt 2016: 70) Als Saad sich später mit seinem Freund Boub auf einem Schiff in Richtung Europa befindet, brechen die beiden in Euphorie aus, sobald sie aus der Entfernung die Küste Maltas erblicken und beschließen, dass es sich aufgrund der überwältigenden Schönheit der Insel nur um Europa handeln kann (vgl. ebd.: 157). Obwohl Saads erste Erfahrungen auf dem europäischen Kontinent eher durchwachsener Natur sind – er wird u.a. von der maltesischen Küstenwache festgenommen und verbringt einige Zeit in Haft, gelangt jedoch auf Umwegen nach Sizilien, wo er von den Ansässigen sehr freundlich empfangen wird (vgl. ebd.: 157-199) – bewahrt Schmitts Protagonist lange einen gewissen Optimismus hinsichtlich seiner Zukunft in Europa. Als er versucht, von Palermo aus auf das italienische Festland zu gelangen, begegnet er allerdings Léopold, der ursprünglich aus der Elfenbeinküste stammt und sich von seinen Erlebnissen in Europa mehr als desillusioniert zeigt. Léopold träumt zwar von einem Leben in Paris, kann sich aber, wie er sagt, mit den Einstellungen der Europäer*innen nicht anfreunden. Er zeichnet ein sehr negatives und kritisches Bild von Europa, das trotz einiger polemischer Aussagen nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. In Bezug sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart wirft er den europäischen Völkern einen ausgeprägten Militarismus, Kriegslust und einen Werteverfall vor, den Europa sich nicht eingestehen wolle: Les Européens, ils adorent les intellectuels, ils leur offrent gloire, fortune, influence pour que ceux-ci leur procurent l’impression qu’ils ne sont pas comme ils sont, mais le contraire: pacifistes, humanistes, fraternels, idéalistes. Sacré job ça, intellectuel! […] Grâce à leurs intellectuels, les Européens peuvent vivre à l’aise dans un monde double: ils parlent de paix et ils font la guerre, ils créent de la rationalité et tuent à tour de bras, ils inventent les Droits de l’homme et ils totalisent le plus grands nombre de vols, d’annexions, de massacres de toute l’histoire humaine. Drôle de peuple, les Européens, l’ami, drôle de peuple, un peuple dont la tête ne communique pas avec les mains. (ebd.: 203) Später denunziert Léopold noch expliziter die koloniale Vergangenheit der europäischen Völker und beklagt vor diesem Hintergrund umso mehr die gegenwärtige Migrationspolitik der EU: Ces derniers siècles, les Européens, ils sont allés un peu partout, ils ont fondé des commerces un peu partout, ils ont volé un peu partout, ils ont creusé un peu par-
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tout, ils ont construit un peu partout, ils se sont reproduits un peu partout, ils ont colonisé un peu partout, et maintenant, ils s’offusqueraient qu’on vienne chez eux? Mais je n’en crois pas mes oreilles! Leur territoire, les Européens, ils sont venus l’agrandir chez nous sans vergogne, non? Ce sont eux qui ont commencé à déplacer les frontières. Maintenant, c’est notre tour à nous, va falloir qu’ils s’habituent (ebd.: 205f.). Léopold leitet aus dem Kolonialismus eine Art Anspruch auf Migration ab, den Menschen aus ehemaligen europäischen Kolonien haben sollten, da die Völker Europas auf Kosten ihrer Länder und Vorfahren großen Reichtum angehäuft hätten.118 Deshalb kann er nicht akzeptieren, dass Europa sich heute auch von seinen vormaligen Kolonien derart immunisiert und abschottet. Interessant ist außerdem, dass Léopold die diskursive und epistemische Konstruktion eines Selbstbilds anprangert, das der gelebten Realität Europas seiner Ansicht nach nicht entspricht, wodurch er implizit kritisiert, in welch enger Wechselwirkung Wissen und Politik bzw. Wissen und Macht stehen können: Schmitt, tout comme Montesquieu dans les Lettres persanes [sic!], en prêtant la parole à des étrangers, critique les occidentaux. Il met en question la politique frontalière de l’Europe qui non seulement contrevient aux libertés fondamentales de l’individu mais qui, à travers une série de mesures tend à restreindre, puis à criminaliser les déplacements de la génération de tout un continent. (Haji Babaie/ Rezvantalab 2018: 190) Kritik an der europäischen Migrationspolitik kommt in Schmitts Ulysse from Bagdad jedoch nicht ausschließlich von eingewanderten Figuren, sondern auch von Europäer*innen ohne Migrationshintergrund, denen Saad auf seiner modernen Odyssee begegnet. Nachdem der Protagonist auf dem Weg nach Frankreich an der italienischen Grenze verhaftet wird, stellt gerade ein italienischer Polizist, also ein Vertreter des Staats, im Gespräch mit der Hauptfigur die Notwendigkeit von Grenzen in Frage. Der Polizist rekapituliert, wie Grenzen in der Geschichte der Menschheit entstanden sind, aber seit jeher verworfen und neu gezogen wurden, um ihren menschengemachten und teils arbiträren Charakter hervorzuheben. Außerdem zeigten die Zusammenschlüsse von Staaten in internationalen Bündnissen wie der Europäischen Union seiner Ansicht nach, dass Staatsgrenzen überholt und hinfällig seien. Er vertraut Saad an, dass er zunehmend an seinem Beruf zweifelt, da er die Kriminalisierung von Migration als falsch empfindet. Vielmehr wünscht er sich eine Zukunft, in der Grenzen nicht länger existieren (vgl. Schmitt 2016:
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Für eine biopolitisch perspektivierte, postkoloniale Theorie um die Ausbeutung der ehemaligen europäischen Kolonien siehe Achille Mbembes Studien zur Nécropolitique (2006).
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221-224). Wie Kapitän Piracci in Gaudés Eldorado und Sinhas Protagonistin in Assommons les pauvres! (vgl. 5.1.2) hadert auch dieser Polizist mit seiner Rolle in der europäischen Abschottung, was letztlich dazu führt, dass er Saad zur Flucht verhilft (vgl. Schmitt 2016: 224-226). In seinem Diskurs klingt jene Ambivalenz an, die Hardt und Negri mit Blick auf die dreifache Entgrenzung des Empire feststellen. Der globale Markt sowie supranationale Institutionen und Staatenverbünde führen zwar zu einem Anstieg globaler Mobilität und einer verringerten Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen, resultieren jedoch in anderen Formen der Kontrolle und sozialen Spaltung (vgl. 2.5.1 und 2.5.2). Ebenso lernt Saad mit Doktor Schoelcher einen Europäer kennen, der die Migrationspolitik der EU kritisiert. Doktor Schoelcher begreift es allerdings nicht als europäisches Problem, sondern vielmehr als menschliche Konstante, dass Gemeinschaften sich von ihrem Äußeren abgrenzen und dabei vergessen, dass das Eigene und das Fremde nicht voneinander zu trennen, sondern, ganz im Gegenteil, miteinander verflochten sind (vgl. Waldenfels 2006: 117-121). Im Gespräch mit Schmitts Protagonisten führt die Figur aus: Le problème des hommes, c’est qu’ils ne savent s’entendre entre eux que ligués contre d’autres. C’est l’ennemi qui les unit. En apparence, on peut croire que le ciment joignant les membres d’un groupe, c’est une langue commune, une culture commune, une histoire commune, des valeurs partagées; en fait, aucun liant positif n’est assez fort pour souder les hommes; ce qui est nécessaire pour les rapprocher, c’est un ennemi commun. […] Au XIXe siècle, on invente les nations, l’ennemi devient la nation étrangère, résultat: la guerre des nations. Après plusieurs guerres et des millions de morts, au XXe siècle, on décide d’en finir avec les nations, résultat: on crée l’Europe. Mais pour que l’Union existe, pour qu’on se rende compte qu’elle existe, certains ne doivent pas avoir le droit d’y venir. Voilà, le jeu est aussi bête que cela: il faut toujours qu’il y ait des exclus. (Schmitt 2016: 243) Die Äußerungen des Polizisten und Doktor Schoelchers in Ulysse from Bagdad scheinen das komplexe Verhältnis zwischen communitas und immunitas zu beschreiben, das in Kapitel 2.4 konturiert wurde. Laut Roberto Esposito (vgl. 2004: 48f.) sind Immunisierungsdynamiken für das Funktionieren einer Gemeinschaft unabdingbar, weshalb die Vision einer Welt ohne Grenzen, wie der Polizist sie sich für die Zukunft erhofft, nach Espositos Logik zu einem Zerfall der Kategorie der Gemeinschaft führen würde. Andererseits ist es die von Doktor Schoelcher angeführte, radikal exkludierende Form von Immunisierung, die nach Esposito (vgl. 2014: 68f.) zu einem Exzess in Form einer Autoimmunität führen kann, weshalb es eines neuen, solidarischen Verständnisses von Gemeinschaft bedarf, in dem das Wohl der einen nicht länger mit der Ausgrenzung der anderen assoziiert wird. Wenngleich diese neue Gemeinschaft weder in den Ausführungen des Polizisten noch in denen des Doktor Schoelcher anklingt, sind ihre individuellen Akte von Solidarität gegenüber
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Saad, durch die sie selbst mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnten, vielleicht als erstes Anzeichen einer solchen Umwertung des Gemeinsamen zu deuten. In Tahar Ben Jellouns Partir werden an zahlreichen Stellen die spanisch-marokkanischen Beziehungen als Ausgangspunkt für die geschilderten Migrationsbewegungen und deren biopolitische Regulierung thematisiert. Wiederholt nimmt der Roman Bezug auf die konfliktreiche gemeinsame Geschichte der lediglich durch die 14 km breite Straße von Gibraltar getrennten Länder, etwa wenn Ceuta als »ville marocaine occupée depuis cinq cent ans par les Espagnols« (Ben Jelloun 2007: 76) beschrieben wird. Auch ein mutmaßlicher Islamist, der gegen Ende des Romans versucht, den inzwischen obdachlosen Azel in Barcelona für seine Zwecke zu rekrutieren, verweist auf die mehrere Jahrhunderte andauernde maurische Präsenz auf der iberischen Halbinsel, um seine extremistischen Ansichten zu rechtfertigen: Tu comprends, mon frère, nous sommes ici dans le pays de nos ancêtres, ceux qu’Isabel la Catholique a expulsés après avoir fait ériger des bûchers où des hommes de foi, des musulmans, […] ont été brûlés. Elle a ordonné la démolition des lieux de prière, elle a obligé ceux qui n’ont pas pu fuir à se convertir au catholicisme, elle a fait interdire l’écriture arabe et le port des vêtements traditionnels. C’était il y a longtemps, cinq cents ans, mais la brûlure est toujours là, dans nos cœurs, dans le cœur de tout musulman, de tout Arabe. (ebd.: 286) In ähnlicher Manier führt Azels Bekannter Abbas, dem der Erzähler eine »rancune maladive« (ebd.: 189) gegen Spanien unterstellt, die von ihm erfahrene Abneigung der spanischen Bevölkerung gegen die sogenannten moros teilweise auf jene historischen Begebenheiten zurück (vgl. ebd.: 191f.). Vor allem jedoch sieht er die angespannten marokkanisch-spanischen Beziehungen und die zunehmende Abschottung Spaniens gegenüber dem nordafrikanischen Nachbarn in einer jüngeren politischen Entwicklung begründet: dem Eintritt Spaniens in die Europäische Union. Abbas ist der Meinung, dass Spanien sich durch Investitionen Europas wirtschaftlich positiv entwickelt habe, während Marokko zurückgeblieben sei (vgl. ebd.: 190, 192). Er nimmt es den Spanier*innen offensichtlich übel, sich von Marokko distanziert zu haben, vor allem, da er zu berichten weiß, dass die Migrationsbewegungen zwischen den beiden Ländern in den 1950er Jahren in die umgekehrte Richtung verliefen: Je les connais, les Spanioulis, des pauvres qui sont devenus riches et ont oublié qu’ils ont été pauvres, je me souviens, mon père me racontait que les Spanioulis venaient chez nous comme des mendiants, ils étaient mal habillés, balayaient les rues, […] au Maroc, ils vivaient comme des rois, ils se croyaient supérieurs, mon père me disait qu’à l’indépendance du Maroc ils avaient eu la trouille de leur vie, ils pensaient qu’on leur ferait comme en Algérie, dans notre village ils ont eu tellement peur qu’ils se sont réfugiés dans l’église. C’est là seulement qu’ils ont pu
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voir qu’on était des gens bien finalement, qu’on les massacrerait pas. Des années plus tard j’ai voulu leur rendre la politesse, je veux dire aller chez eux […]: walou, pas de visa, pas de toi chez nous. (ebd.: 189f.) Wie Léopold in Ulysse from Bagdad leitet auch Abbas aus der Vergangenheit eine Art Anspruch auf Migration her. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verstärkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immigrierten viele Spanier*innen zunächst aus ökonomischen und später aus politischen Gründen nach Marokko,119 das ab 1912 in ein spanisches und ein französisches Protektorat aufgeteilt war (vgl. Aziza 2007: 153): Los miles de españoles que cruzaban el Mediterráneo para quedarse en Tetuán, Tánger, Casablanca o en tantos otros lugares soñaban con El Dorado, sus motivaciones eran fundamentalmente económicas […] pero también hubo momentos coyunturales que favorecieron esta emigración, come fue el caso de los exilados republicanos españoles que tras la Guerra Civil consiguieron llegar hasta la zona de Protectorado francés. Así, Casablanca, desde los años 40 hasta la muerte de Franco en 1975, acogió a responsables del Partido Socialista, del Comunista y a activistas de otras organizaciones políticas o centrales sindicales, convirtiéndose en capital de los exilados republicanos en Marruecos y plataforma de su lucha contra el franquismo (ebd.: 154).
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Obwohl sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Sieg Spaniens im spanisch-marokkanischen Krieg (1859-60) vermehrt spanische Einwander*innen in Marokko niederließen, war ihre Anzahl zunächst überschaubar. Während im benachbarten Algerien 1896 in Oran bereits rund 100.000 Spanier*innen und weitere 100.000 Personen spanischer Herkunft gezählt wurden, die kürzlich die französische Staatsbürgerschaft erlangt hatten (vgl. Aziza 2007: 157), lebten in Spanisch-Marokko 1918, sechs Jahre nach der Einrichtung des Protektorats, lediglich knapp 7000 Spanier*innen (Ceuta und Melilla, wo damals bereits rund 60.000 Spanier*innen lebten, gehörten als plazas de soberanía nicht zu Spanisch-Marokko). Nach Ende des Rif-Kriegs im Jahr 1926 hatte Spanien schließlich das gesamte ihm zugesprochene Gebiet im Nordwesten Marokkos besetzt und die Migration aus Spanien stieg deutlich an. 1932 lebten rund 38.000 Spanier*innen in Spanisch-Marokko, 1935 waren es bereits über 44.300 und 1940 lebten rund 62.400 Personen spanischer Herkunft in dem Protektorat (vgl. ebd.: 165f.). Zu Beginn der 1950er Jahre lebten in Marokko etwa 130.000 Spanier*innen, davon 80.000 in der spanischen und immerhin 50.000 in der französischen Zone (vgl. ebd.: 167). Wie dem Zitat Azizas im Fließtext entnommen werden kann, flüchteten im Zuge des spanischen Bürgerkriegs viele Republikaner*innen aus Spanien nach Französisch-Marokko (vgl. ebd.: 175). Statistiken hierzu sind allerdings schwer zu finden, da die politischen Geflüchteten meist nicht offiziell registriert wurden. Aziza schreibt dazu »vivían y trabajaban de manera clandestina« (ebd.: 175), eine Aussage, die in der diegetischen Gegenwart von Partir wie extraliterarisch auf die Lebensrealität vieler marokkanischer Eingewanderter in Spanien zutrifft.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Aus einer spanischen Perspektive verarbeitet Tahar Ben Jelloun die von Aziza beschriebenen Ereignisse in Form eines Tagebucheintrags von Miguels Vater (vgl. Ben Jelloun 2007: 246-251), der im Juni 1951 über den Seeweg in das französische Protektorat nach Marokko flüchtet. Er schreibt: Personne ne l’avait fait auparavant: quitter clandestinement l’Espagne pour le Maroc. On aurait pu faire comme beaucoup de camarades et nous exiler en France, mais nous autres, nous étions attirés par ce pays où le soleil brûlait toute l’année. Le Maroc, c’était déjà l’Afrique et l’aventure. (ebd.: 247f.) Obgleich Miguels Vater also aus politischen und nicht aus ökonomischen Gründen migrierte, stimmt sein fiktionaler Fall mit Azizas zitierter Äußerung überein, nach der die spanischen Migrant*innen von einem Eldorado träumten, denn auch Miguels Vater idealisiert seine Reise nach Marokko als Abenteuer. Besonders interessant in seiner Schilderung ist die Tatsache, dass Miguels Vater und seine Mitstreiter keine Pässe hatten, und obwohl sie an der Küste von der französischen Polizei aufgegriffen und dem spanischen Konsul in Rabat vorgeführt wurden, überprüfte niemand ihre Identität (vgl. ebd.: 247f.): »Personne n’a pensé que nous étions la première patera de l’histoire hispano-marocaine.« (ebd.: 248) Ebenso einfach reist der Mann Monate später mit gefälschten Papieren wieder nach Spanien ein (vgl. ebd.: 151). Die Migrationserfahrung von Miguels Vater in den 50er Jahren steht also in einem starken Kontrast zur Situation der Romanfiguren in der diegetischen Gegenwart, rund 40 Jahre später. Wie an mehreren Stellen von Partir deutlich wird, ist an eine illegale Einreise nach Spanien kaum zu denken, da die Verstärkung der Grenzschutzmaßnahmen derart fortgeschritten ist, dass die Abschreckung bereits in Marokko ansetzt (vgl. ebd.: 42f., 48f.).120 Die beschriebenen Handlungselemente aus Gaudés, Schmitts und Ben Jellouns Romanen transportieren somit die eingangs erwähnten, gegensätzlichen Europabilder, indem Europa entweder als Ort der unbegrenzten Möglichkeiten oder als
120 Die geschilderte marokkanische Perspektive auf die spanisch-marokkanische Geschichte in Partir scheint in Teilen die Position Tahar Ben Jellouns widerzuspiegeln, der sich in einem Interview anlässlich des Erscheinens des Romans wie folgt äußert: »[L]es Espagnols ne s’installent pas dans des cafés pour regarder les côtes marocaines! […] Ils regardent le Maroc, ancienne colonie, avec un peu de distance, parfois de mépris. L’Espagnol ordinaire ne nourrit pas une grande sympathie pour ceux qu’il appelle los Moros. Ce fond de racisme anti-maure, que j’évoque souvent dans le roman, est hélas vrai. […] Ce moment où le Maroc a été terre d’accueil, et non de rejet, montre l’ironie de l’Histoire…« (Ben Jelloun zit.n. Gallimard 2006). Es sei an der Stelle auf eine gewisse Widersprüchlichkeit von Ben Jellouns Aussagen hingewiesen, in denen er Rassismus und Vorurteile denunziert, dabei jedoch gleichzeitig den Spanier*innen auf nicht minder problematische, pauschale Weise die besagte negative Einstellung gegenüber Marokkaner*innen unterstellt.
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sich abschottende Festung dargestellt wird, die ihre eigene Vergangenheit willentlich ausblendet. Es zeigt sich, dass die biopolitische Regulierung von Migrationsbewegungen zwischen dem europäischen Kontinent einerseits und Afrika sowie dem Nahen Osten andererseits in den betrachteten Texten sowohl bei migrierenden und migrierten als auch bei europäischen Figuren ohne Migrationserfahrung Muster der Fremd- und Selbstwahrnehmung fördert (vgl. Sellman 2013: viiif.) und Diskurse nach dem ›Wir-vs.-Die-Schema‹ der Kollektivrede (vgl. Waldenfels 2006: 121-124) begünstigt. Zwar werden auch Prozesse der kritischen Reflexion über das Eigene und das Andere angestoßen, doch letztlich können sich die Charaktere von einer solchen dichotomen Weltanschauung nicht lösen: »Es gibt keinen Ort jenseits der Kulturen, der uns einen unbefangenen und unbeschränkten Überblick gestatten würde. […] [D]er eigenen Kultur [können wir] so wenig entfliehen wie dem eigenen Leib oder der eigenen Sprache.« (Waldenfels 2006: 109)
5.4.1.2
Die Umkehrung und Perpetuierung europäischer Kolonialdiskurse
Wie im vorangegangenen Kapitel angemerkt wurde, lässt sich in mehreren der untersuchten Werke eine Wiederaufnahme oder Umkehrung solcher Motive und Narrative beobachten, mit denen europäische Kolonialmächte einst ihre imperialistischen Bestrebungen legitimierten. Hierzu zählt etwa der für Laurent Gaudés Roman titelgebende Mythos Eldorados. Träumten zu Zeiten des Kolonialismus spanische Eroberer von Reichtum und einem besseren Leben auf dem amerikanischen Kontinent, so ist es in den Korpustexten nunmehr Europa, das als Neue Welt und verheißenes Land kodiert wird: A quick overview of clandestine literature […] shows that, in the imaginary of immigrants, Europe is synonymous with paradise and on a par with Eden or El Dorado. […] Even when titles do not evoke a type of paradise, the work itself, at one moment or another, implies that the immigrants create an idyllic image of their destination. (Callargé 2015: 3) Im Zuge besagter Diskursivierung wird Europa in Gaudés Eldorado aus der Perspektive migrantischer Figuren zum »nouveau continent« (Gaudé 2009: 26), »terre de nos rêves« (ebd.: 178), »terre nouvelle« (ebd.: 203) und »continent […] à venir« (ebd.: 207). Der europäische Kontinent wird, wie einst die sogenannte Neue
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Welt,121 mit einem Neuanfang und Aufbruchsstimmung verbunden: »La vie allait enfin commencer.« (ebd.: 26) Im Erzählstrang Soleimans wird nach der Überwindung des Grenzzauns von Ceuta die Formel »Tout commence maintenant« bzw. »tout va commencer maintenant« (beide ebd.: 207) wiederholt wie ein Mantra. Die migrierenden Figuren wollen um jeden Preis auf die andere Seite des Mittelmeers, ganz gleich, ob nach Rom, Paris oder London (vgl. ebd.: 26). Europa verschmilzt zu einem einzigen Sehnsuchtsort, zu einem Heilsversprechen, an das vollkommen überhöhte, beinahe naive Erwartungen gestellt werden: »Si nous passons de l’autre côté, nous sommes sauvés. Une fois passés, nous ne pouvons plus être renvoyés. Une fois passés, nous sommes riches. Il suffit d’un pied posé sur la terre derrière les barbelés, un petit pied pour connaître la liberté.« (ebd.: 177) Ebenso greift Tahar Ben Jellouns Partir vormals koloniale Diskursmuster auf, indem es das Phänomen Alterität maßgeblich an Sexualität und Begehren knüpft. In der Sekundärliteratur finden sich mehrere Publikationen, welche die Zusammenhänge zwischen Migration und Begehren sowie zwischen Sexualität und Identität bzw. Entfremdung in Ben Jellouns Roman untersuchen. So operieren Ajah und Babatunde in ihrer Lektüre von Partir mit gendertheoretischen sowie körperdiskursiven Ansätzen und sehen Parallelen zwischen imperialistischen Narrativen der Kolonialzeit und der textuellen Darstellung des Migrationswunsches in Ben Jellouns Roman. Sie argumentieren, dass die geradezu obsessive mentale Beschäftigung der Figuren mit Europa den Kontinent als Objekt des Begehrens konstruiert, ähnlich eines weiblichen Körpers (vgl. Ajah/Babatunde 2008/09/10: 190). Angesichts der Tatsache, dass dominante Diskurse der Kolonialzeit die zu erobernden Gebiete zu feminisieren pflegten,122 scheint ein vergleichbares, quasi gespiegeltes Phänomen in zeitgenössischer Migrationsliteratur durchaus plausibel (vgl. ebd.: 193f.). Wie Ania Loomba ausführt, waren koloniale Legitimierungsnarrative von Beginn an auf verschiedene Weisen gegendert: A long pictorial tradition in which the four continents were represented as women now generated images of America or Africa that positioned these continents as available for plunder, possession, discovery and conquest. […] Thus, from the be-
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Die Semantisierung Amerikas als ›Neue Welt‹ ermöglichte die Legitimierung europäischer Kolonialisierungsansprüche auf mehreren Ebenen. Indem der Kontinent als Tabula rasa imaginiert wurde, wurde er zu einer »Projektionsfläche, die […] noch leer war« (Ette 1991: 165) und mit den Vorstellungen und Werten der Kolonisatoren besetzt werden konnte. Dies förderte die Entstehung theologischer, ethischer, juristischer und zivilisatorischer Legitimierungsdiskurse (vgl. Garzón Valdés 1991, Castañeda Delgado 1991), die nur auf einen vermeintlich neuen und kulturell zu erschließenden Kontinent angewendet werden konnten. Für Lateinamerika untersucht Karl Hölz dieses Phänomen eingehend in seiner Monografie Das Fremde, das Eigene und das Andere (vgl. Hölz 1998, insbesondere Kapitel I-III).
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ginning of the colonial period till its end (and beyond), female bodies symbolise the conquered land. (Loomba 2015 [1998]: 153f.) Obwohl gegenderte Diskurse eine Konstante in imperialistischen Narrativen darzustellen scheinen, variierten die Repräsentationsmuster und wurden an die speziellen Gegebenheiten des jeweiligen Territoriums angepasst. Während weibliche Körper aus Afrika und Amerika vermutlich in Anlehnung an die naturverbundenen Lebensformen der dortigen indigenen Völker hauptsächlich mit Nacktheit assoziiert wurden, waren Frauen aus Asien und dem Nahen bzw. Mittleren Osten in bildlichen Darstellungen in kostbare Gewänder gehüllt (vgl. ebd.: 154). Mit Blick auf das sujetbildende Handlungselement in Tahar Ben Jellouns Partir, also die Beziehung zwischen Miguel und Azel, ist überdies relevant, welches Bild die europäischen Kolonialmächte von, im Sinne Saids (2003 [1978]), ›orientalischen‹ Männern zeichneten. Da sie sich im Nahen und Mittleren Osten mit teils mächtigen Herrschern konfrontiert sahen, kam das Repräsentationsschema eines unberührten, jungfräulichen Kontinents, den es zu erobern und zu ›zivilisieren‹ galt, laut Loomba nicht in Frage. Daher wurden die Männer des betreffenden Gebiets häufig feminisiert oder als homosexuell dargestellt, um die Besetzung von Territorien durch das vermeintlich virilere Europa zu rechtfertigen: [D]uring the Renaissance, Europeans were often supplicants in front of powerful rulers in Asia and could hardly encode themselves as the male deflowerers of a feminised land. Alternate discursive strategies came thus into play. The Oriental male was effeminised, portrayed as homosexual, or else depicted as a lusty villain from whom the virile but courteous European could rescue the native (or the European) woman. (Loomba 2015: 154) Insbesondere in dieser letzten diskursiven Strategie erhält die Legitimierung des europäischen Imperialismus eine markant biopolitische Komponente, da der Eindruck geschürt wird, Männer aus dem sogenannten Orient seien nicht Imstande, den Fortbestand ihrer Völker zu sichern. Ania Loombas Beobachtungen lassen sich in mehrfacher Hinsicht für die Lektüre von Partir fruchtbar machen, um die Wechselwirkungen zwischen Machtverhältnissen, Sexualität, Identität und Alterität zu untersuchen. Zunächst kann anhand der Beziehung von Azel und Miguel beobachtet werden, dass der homosexuelle Spanier den jungen Marokkaner feminisiert und exotisiert. Bereits bei ihrer ersten Begegnung fühlt sich Miguel zu Azel hingezogen, wobei sein aufkeimendes Begehren vorrangig auf Azels Andersartigkeit und finanzieller Not gründet. Dem Spanier gefällt die matte Haut der Marokkaner, ihr zurückhaltender Umgang mit Homosexualität und nicht zuletzt ihre »disponiblité« (Ben Jelloun 2007: 55), womit eindeutig auf die hierarchischen Machtverhältnisse ihrer Interaktion
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verwiesen wird und zugleich eine Objektivierung Azels stattfindet – er wird zum exotischen, verfügbaren Objekt Miguels Begierde: His [Miguel’s] obsessive attitude immediately situates the liaison with Azel as a sexual exploit […] through an assertive patronage that starts as benevolent gestures that mask its coercive system of subjugation through power and control. Thus Miguel’s spectacle of queer seduction replicates the unstable power dynamic of sex tourism in the postcolonial space […]. In this way, the novel shows how Miguel depends on his status as transnational (gay) elite to transform Azel into a consenting object of his desire. The complex and shifting economy of desire that motivates Miguel’s liaison is thus informed by the commodification of Azel not only as a racialized other but also as one who occupies a submissive position of subordination and subjection. (Idrissi Alami 2013: 21) Der von Idrissi Alami verwendete Terminus »economy of desire« beschreibt treffend, wie in Partir der Körper des postkolonialen Anderen und mithin sein Leben im Zuge des fortbestehenden Machtgefälles zwischen Europa und Afrika ökonomisiert und zu einer quasi ständig verfügbaren Ware werden. Dieser Zusammenhang zwischen Macht, Sexualität und Alterität erreicht einen an Perversität grenzenden Höhepunkt, als Miguel Azel auf einer Feier zur Schau stellt, um ihn dafür zu bestrafen, dass er seine Arbeit in Miguels Galerie vernachlässigt und sich mit seinen Liebhaberinnen Soumaya und Siham getroffen hatte (vgl. Ben Jelloun 2007: 131-135). Miguel zwingt den Protagonisten, als orientalisiertes, androgynes Mischwesen aufzutreten, um als eine Art Prestigeobjekt die Gäste seiner Feier zu unterhalten. Bereits das Motto des Festes, »l’Orient en rose« (ebd.: 135), deutet auf die Exotisierung hin, die Azel durch die Blicke der Anwesenden wird erdulden müssen. Miguel bestimmt im Voraus Azels Auftreten für den speziellen Anlass, von dessen Gesichtsbehaarung bis zu seiner Kleidung, und als Azel sieht, dass die von der Haushälterin gebrachten Gewänder eigentlich für Damen sind, durchschaut er Miguels Intention, ihn zu demütigen (vgl. ebd.: 135). Er beschließt jedoch, gute Miene zu bösem Spiel zu machen, um seinem vermeintlichen Wohltäter zu gefallen: On le contemplait avec admiration. Et puis des hommes commencèrent à le complimenter: – Mais quelle belle statue! – Et quel mélange parfait, mi-homme, mi-femme! Mais c’est que Miguel nous gâte! […] Azel avançait comme un comédien ou un danseur avant d’exécuter son ballet. Miguel était étonné et agréablement surpris. Il saisit la main d’Azel et s’adressa à l’assistance:
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– Mes amis, je suis heureux de vous présenter ma dernière conquête: un corps d’athlète sculpté dans le bronze, avec en supplément un chouia de féminité. […] [I]l est simplement un très bel objet, un objet de toutes les tentations. Voyez donc sa peau magnifique! Vous pourrez le toucher. Faites la queue […]. Miguel tenait Azel fermement par la main. Les invités passaient devant lui les uns après les autres et faisaient mine de le caresser. (ebd.: 136f.) Nicht zum ersten Mal wird Azel in dieser Episode von Miguel feminisiert, als »prince d’Orient« (ebd.: 81) exotisiert und als Objekt der Begierde unterworfen. Die Absurdität der Szene wird nur noch dadurch gesteigert, dass Azel, mangels anderer Handlungsoptionen, seinen Körper für das skurrile Schauspiel zur Verfügung stellen und seine eigene Demütigung mittragen muss. In Spanien angekommen, inszeniert sich Azels Schwester Kenza, eine talentierte Bauchtänzerin, als »Estrella, la plus belle danseuse de l’Orient« (ebd.: 200) und verdient sich mit Auftritten in einem Restaurant ein Zubrot. Ebenso wie ihr Bruder perpetuiert sie mit ihren folkloristischen Darbietungen die Exotisierung des sogenannten Orients und die Erotisierung der ›orientalischen Frau‹. Gekleidet in ihre »robe de danseuse orientale« (ebd.: 206) bedient Kenza die stereotypen 1001Nacht-Vorstellungen der Bewohner*innen und Tourist*innen Barcelonas, doch die impliziten Machtverhältnisse gestalten sich anders als im Falle ihres Bruders. Die junge Marokkanerin ist auf den Nebenjob als Tänzerin nicht angewiesen, sondern geht diesem aus Freude am Tanz nach (vgl. ebd.: 206). Bereits in Marokko tanzte sie leidenschaftlich gerne auf Festen in der Nachbarschaft, musste aber stets in Begleitung ihrer Mutter erscheinen, die als eine Art Anstandsdame wirkte, denn »dans cette société une fille qui danse pour gagner sa vie ne peut qu’être de vertu douteuse.« (ebd.: 77) In Spanien beginnt für Kenza ein Prozess der Emanzipation (vgl. ebd.: 227) und der Tanz ist für sie eine Möglichkeit, ihre Weiblichkeit zu affirmieren, ohne dabei Scham empfinden zu müssen. Wie sehr sie die patriarchalischen Strukturen ihrer Heimat verinnerlicht hat, zeigt sich allerdings daran, dass sie das Gefühl hat, Miguel als ihren Scheinehemann um Erlaubnis fragen zu müssen, bevor sie die Nebentätigkeit als Tänzerin annimmt (vgl. ebd.: 187f.). Aus der Ökonomisierung ihrer doppelten Alterität als Eingewanderte und Frau sowie aus der Kapitalisierung ihres Körpers ergibt sich somit ein mehrdeutiger Umgang mit der klischeehaften Erotisierung und Exotisierung des Orients, da Kenza diese ideell und finanziell für sich nutzt, damit aber gleichzeitig Stereotypen bekräftigt, die nicht in ihr weitgehend aufgeklärtes und emanzipiertes Weltbild passen. Azel und seine Schwester sind allerdings nicht die einzigen marokkanischen Figuren in Partir, die an besagter Ökonomie des Verlangens teilhaben. Obwohl die beschriebenen Dynamiken aus einem nach wie vor ungleichen Mächteverhältnis zwischen Europa und Afrika resultieren und Macht sowie Kapital in einem ökonomischen System eine zentrale Rolle spielen, so kann dieses doch niemals aus
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unilateralen Vorgängen bestehen (vgl. Hardt/Negri 2001: xiiif.). Neben dem repräsentativ für Europa stehenden Miguel äußern nämlich auch afrikanische und marokkanische Figuren Denkmuster, in denen Identität, Sexualität, Alterität und Begehren zusammenhängen, und offenbaren darüber hinaus kompromisslose sexuelle Normvorstellungen. So führt der beinahe obsessive Migrationswunsch vieler Charaktere im Roman zu einer Konzeptualisierung Europas als weiblichem Körper (vgl. Ajah und Babatunde 2008/09/10: 190) bzw. zu einer Konnotation des europäischen Kontinents mit Weiblichkeit, von der sich insbesondere männliche marokkanische Figuren abgrenzen. Schon der Weg nach Europa ist mit Toutia, der mal gnädigen, mal unbarmherzigen Meeresgöttin weiblich und zugleich mit dem Motiv der Mutter123 besetzt, die den wartenden Ausreisewilligen ein Lied singt und sie in den Schlaf wiegt: »Peut-être fera-t-elle une apparition ce soir, leur parlera, leur chantera la chanson du noyé […]. Comme des enfants ils croient à cette histoire qui les berne et les fait dormir« (Ben Jelloun 2007: 12f.). Der europäische Kontinent und dessen Bevölkerung werden außerdem an verschiedenen Textstellen von marokkanischen Figuren mit vermeintlich weiblichen Attributen wie Sensibilität und Emotionalität beschrieben. Als Azel am Hafen Tangers eine Katze beobachtet, die versucht, auf ein Kreuzfahrtschiff zu gelangen, stellt er sich vor, das Tier würde von einer spanischen oder englischen Familie aufgenommen und vergleicht die mutmaßlich tierlieben, sensiblen Europäer*innen mit seiner marokkanischen Heimat, in der Katzen und Hunde als lästig empfunden und verjagt werden (vgl. ebd.: 50f.). Im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter und sexueller Orientierungen gilt Europa nach Ansicht einiger strenggläubiger bis extremistischer Muslime in Partir als verweichlicht und sündhaft. Diese Meinung vertritt etwa ein Imam, dem Azels Bekannter Mohammed-Larbi in Belgien begegnet: Ces causeries abordaient chaque fois un nouveau thème: par exemple, la relation de l’homme et de la femme, comment maintenir la supériorité absolue de l’homme sur la femme, comment déjouer la propagande occidentale qui cherche à anéantir le pouvoir masculin […]. L’occident est malade et nous ne voulons pas qu’il contamine nos enfants. Avez-vous entendu parler de ces lois qui permettent aux hommes de se marier entre eux et même d’adopter des enfants? Cette société perd la tête! […] Des hommes maquillées comme des femmes posent pour un parfum! Nous n’avons rien de commun avec tout ce vice (ebd.: 113f.).
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Die Homophonie zwischen mer [m] und mère [m], dem Meer und der Mutter, eröffnet eine Reihe an Interpretationsansätzen, die im Rahmen dieser Studie jedoch nicht vertieft werden können.
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In diesen Aussagen wird Europa feminisiert und Gleichberechtigung als Propaganda diffamiert, wodurch ein othering-Diskurs entsteht (vgl. Hostettler 2020: 15)124 und ein Prozess der Abgrenzung nach dem Wir-vs.-Die-Muster der Kollektivrede (vgl. Waldenfels 2006: 121-124) erfolgt: »Nous n’avons rien de commun avec tout ce vice«. Europa gilt in dieser Logik als das deviante, weibliche Andere, wodurch sich interessante Parallelen zu Ania Loombas oben zitierten Thesen ergeben. Eine weitere Form der diskursiven Konnotation Europas mit Weiblichkeit in Partir resultiert daraus, dass viele junge Männer versuchen, sich die »economy of desire« (Idrissi Alami 2013: 21) zunutze zu machen und, ähnlich wie Azel, über eine vorgetäuschte Liebesbeziehung auf den ersehnten europäischen Kontinent zu gelangen. Sie verfolgen »politics of love«, in denen Sexualität zu »a domain of political and economic negotiations or permutations« (beide Ajah/Babatunde: 2008/09/10: 196) wird. Insofern tauchen Europäer*innen in den Rahmen ihrer Wahrnehmung (vgl. Butler 2010: xiif.) vornehmlich als ältere, alleinstehende Frauen oder homosexuelle Männer auf, mit deren Hilfe sie ein Visum erhalten und, einmal in Europa, ein neues Leben beginnen könnten. Es zeigen sich wiederum Gemeinsamkeiten zu den diskursiven Legitimierungsstrategien der Kolonialzeit, denn in beiden Fällen wird das ›zu erobernde Land‹ über dessen (ebenfalls zu erobernde) Frauen imaginiert, während heterosexuelle und damit vermeintlich virile Männer als potenzielle Konkurrenten in dieser Vorstellung keinen Platz finden (vgl. Loomba 2015: 154). Azel und seine Freunde besprechen die Möglichkeit der vorgetäuschten Liebe als Migrationsstrategie, nachdem letztere davon Kenntnis erlangt haben, dass Azel in Miguels Haus zu Gast war. Er wehrt sich zunächst gegen den Vorschlag, eine Beziehung zu Miguel aufzubauen, da er dies als Prostitution betrachtet und sich nicht als homosexuell begreift. Seine Freunde reden ihm zu und versuchen, das geplante Vorgehen zu rationalisieren, indem sie es als eine Art Job betrachten: Appelle ça comme tu veux, j’en connais beaucoup qui font ça l’été, y en a même qui ont réussi à partir dans les bagages du zamel. Une fois là-bas, ils fuguent avec une femme, se marient et obtiennent la nationalité, tu sais, le joli passeport bordeaux. Ensuite, ils reviennent au pays triomphants et arrogants. D’autres tournent
124 Unter othering ist ein Prozess der Konstruktion von Fremdheit mit dem Ziel der Abgrenzung und Selbstaffirmation zu verstehen: »Der Begriff des Otherings ist nicht nur in der post_kolonialen, sondern auch in der feministischen Theorie verankert und weist auf den Akt der Etablierung und Legitimierung von Differenzen und die Abgrenzung zu einem Selbst hin […]. Ein Othering impliziert die Setzung eines Maßstabes, von dem ausgehend eine Abweichung behauptet werden kann. Dabei ist die Selbstaffirmation dem Othering weder vorhergehend noch nachgeordnet, vielmehr sind beide Prozesse zugleich konstitutiv und dialektisch« (Hostettler 2020: 15). Mareike Gebhardt (vgl. 2020: 122) betrachtet othering unter Rückgriff auf Foucaults Studien zum Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus als ein gegenwärtiges Verfahren in der Legitimierung der europäischen Migrationspolitik.
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
autour des vieilles, des Européennes ou des Américaines, toutes ridées, trop maquillées, seules mais tellement riches…J’ai connu un type dont c’était la spécialité, il se mettait au Café de Paris et attendait sa proie. (Ben Jelloun 2007: 63)125 Besagte Männer nutzen also jene Ökonomie des Begehrens (vgl. Alami 2013: 21), indem sie auf die Anziehungskraft ihrer Andersartigkeit setzen (vgl. Hahn 1992: 58f.) und/oder ihre vorgetäuschte Liebe genau denjenigen anbieten, die aufgrund ihres Alters nicht mehr der Norm des Begehrenswerten entsprechen. In Éric-Emmanuel Schmitts Ulysse from Bagdad ist es die im vorangegangenen Kapitel erwähnte Figur Léopold, die eine Umkehrung vormals kolonialer Legitimierungsnarrative auf der Folie der Biopolitik vornimmt. Er glaubt, die europäische Gesellschaft sei nicht gesund und brauche Migration, um ihre Missstände zu lindern. Dabei spricht er insbesondere von erhöhten Suizid- und niedrigen Geburtenraten und erklärt dem Protagonisten Saad, Europa brauche Migranten wie sie beide, um der Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken (vgl. Schmitt 2016: 202-204). Insofern sind seine Aussagen ebenfalls mit den von Loomba konturierten Diskursen der europäischen Kolonialmächte vergleichbar, die bspw. die Männer des Nahen und Mittleren Ostens als ›nicht Manns genug‹ darstellten, um den Fortbestand ihrer Völker zu sichern, was aus europäischer Sicht die Eroberung ihrer Territorien rechtfertigte (vgl. Loomba 2015: 153f.). Die biopolitische Verwaltung von Migrationsbewegungen scheint also Entwürfe von Eigenheit und Fremdheit sowie diskursive Muster der Abgrenzung zu begünstigen, oder deren Entstehung gar erst zu bewirken. Dabei hat es den Anschein, als fördere gerade die Abschottung und damit einhergehende Unzugänglichkeit Europas bei migrierenden Figuren aus nicht-europäischen Ländern ein dichotomes Denken nach dem Muster ›Wir gegen Die‹. Um die eigene Migration entgegen der Immunisierungsmechanismen Europas zu rechtfertigen, wird von diesen Charakteren nicht selten auf die Verbrechen des europäischen Kolonialismus zurückgegriffen, aus denen eine Art Anspruch auf Migration abgeleitet wird. In Zuge dessen erfolgt eine vermutlich unbewusste Aneignung und Umdeutung teils biopolitisch basierter, vormals kolonialer Motive und Legitimierungsdiskurse, die in das Narrativ um die eigene Migration bzw. den Traum vom Exil einfließen und eine spaltende Wirkung zu haben scheinen, welche die eventuelle Migration und Integration von vorneherein erschweren könnte. All dies führt schließlich zu einem paradoxalen, doppelten Europabild in den analysierten Werken und insbesondere unter den fiktionalen Migrant*innen, die sich ein Leben im Eldorado Europa
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Das Wort zamel in der zitierten Passage offenbart einen weiteren Zusammenhang zwischen Sexualität und othering-Diskursen, da es auf die gesellschaftlich und (bio)politisch konstruierte Norm des heterosexuellen Mannes hindeutet und insofern einen weiteren Anschluss an die Thesen Ania Loombas erlaubt, wie unter 5.4.4.2 dargelegt wird.
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
herbeisehnen und die Festung Europa für ihre Vergangenheit und migrationspolitische Gegenwart scharf kritisieren.
5.4.2 5.4.2.1
Entfremdung im Exil: Identitätsverlust im Migrationsdispositiv Verschiebungen und Brüche von Identität in der biopolitischen Verwaltung von Migration
In den vorigen Kapiteln wurden die analysierten Texte hinsichtlich der Förderung bestimmter Selbstbilder und Fremdzuschreibungen vor dem Hintergrund der biopolitischen Regulierung von Migration auf der Ebene abstrakter Kollektive untersucht. Allerdings müssen nach Europa eingewanderte Figuren in den fünf Korpuswerken auch individuell die Erfahrung machen, dass die Dynamiken des Migrationsdispositivs in Entfremdung und Exklusion resultieren können. Wenngleich nämlich dem Phänomen Biopolitik, wie mehrfach festgehalten, eine grundlegende Ambivalenz anhaftet, operiert die politische Verwaltung des Lebens maßgeblich mit Gesetz- und Regelmäßigkeiten, wohingegen Hybridität und Lebensentwürfe jenseits der festgelegten normativen Raster nicht vorgesehen sind: Die Biopolitik kennt in der Theorie nur das politisch qualifizierte oder das bloße Leben, die Zugehörigkeit zur communitas oder den Ausschluss durch die immunitas. Wie Hardt und Negri (vgl. 2001: 190-193) ausführen, braucht die moderne biopolitischbioökonomische Weltordnung zwar kulturellen Austausch, erhält aber gleichzeitig für ihr effizientes Funktionieren gewisse Differenzen zwischen den Menschen aufrecht (vgl. ebd.: 200f.). Insofern entsteht in den untersuchten Texten der Eindruck, dass das Migrationsdispositiv migrierten Figuren keine Möglichkeit gibt, ihre ursprüngliche Identität zu wahren und sie mit neuen, durch die Migration gewonnenen Identitätsentwürfen zu verbinden. Vielmehr scheinen migrierte Charaktere vor die Wahl gestellt zu werden, was sie in ihrem Selbstverständnis sichtlich destabilisiert. So ist etwa Shumona Sinhas Hauptfigur in Assommons les pauvres! in ihrer Identität transkulturell verfasst und passt nicht in einseitige Deutungsmuster, wie die biopolitische Verwaltung und juristische Kategorisierung des Lebens sie zumeist vorsehen. Dies führt nicht nur zu Problemen in den Beziehungen zu ihren Mitmenschen und einer zunehmenden sozialen Isolation, sondern stellt die junge Frau auch und insbesondere vor innere Konflikte. Diese in-betweenness versetzt die Protagonistin zugleich in eine Situation sozialer Prekarität. Versteht man den Begriff wie Roswitha Böhm und Cécile Kovacshazy mit dem Philosophen Guillaume Le Blanc, so stellt Prekarität einen Zustand des »entre-deux« sowie eine »situation provisoire et transitoire« (beide Böhm/Kovacshazy 2015: 13) dar, »[qui] expose une vie ordinaire à l’épreuve de la disqualification, à la vacuité de son statut social« (Le Blanc zit.n. ebd.: 12). Sinhas Hauptfigur befindet sich, um Alessandro Dal Lagos Kategorie aufzugreifen, als non-persona (vgl. Kapitel 2.3.5) in einem solchen Dazwi-
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
schen, auf der Schwelle zwischen erfolgreicher Migration und der Reduktion auf ihre Herkunft, und sie scheint zu befürchten, die Akzeptanz ihrer französischen Kolleg*innen zu verlieren, wenn diese sie mit den Asylsuchenden aus ihrer Heimat assoziieren: La narratrice se situe à l’intersection de l’inclusion et de l’exclusion, entre une situation sociale qui est celle d’une intégration sociale pourtant toujours fragile et ›précaire‹, ce qui explique les efforts qu’elle entreprend pour établir des frontières et une nette ligne de démarcation entre ›ces gens-là‹ et elle-même. (Zimmermann 2015: 96f.) Die Erzählerin kam aus Liebe zur französischen Sprache und Kultur nach Paris (vgl. Sinha 2012: 15, 46) und möchte trotz allem Mitgefühl nicht mit Eingewanderten assoziiert werden, denen sie teilweise vorwirft, sich nicht integrieren zu wollen (vgl. ebd.: 122) und zu Frankreich eine beinahe vulgäre Beziehung rein ökonomischen Begehrens zu unterhalten: »En fin de compte, c’était une histoire de cul entre ces hommes et ce pays, une histoire de désir sans amour.« (ebd.: 28) Um den gefürchteten symbolischen Abstieg zu vermeiden, sucht die Protagonistin im Alltag verstärkt Nähe zu den Sachbearbeiter*innen der Migrationsbehörde und lacht sogar mit ihnen über einige Asylsuchende, um Vertrautheit herzustellen (vgl. ebd.: 35f., 51, 78f.).126 Juristisch hat sie zwar jene Schwelle überwunden, die ihre Landsleute noch zu überqueren hoffen, doch Immunisierungsmechanismen und die biopolitische Kategorisierung des Lebens führen zu sozialen Exklusionsmechanismen, welche die von ihr ersehnte, vollkommene Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft verhindern. Der vehemente Wunsch nach Aufhebung ihrer Differenz, ihre »attempts to assimilate Frenchness as a normative ideal« (Mehta 2020: 85), spiegeln sich in einem problematischen Verhältnis zu ihrer Muttersprache wider. Während das Französische ihr fließend von den Lippen geht, empfindet sie ihre Aussprache in Bengali als ungeschickt und fehlerhaft. Die Sprache ihrer Heimat scheint sich ihr einerseits zu entziehen, lähmt ihre Zunge und produziert störende Laute in ihrem Kopf, wie ein verstimmtes Instrument. Andererseits lehnt die Protagonistin das Sprechen ihrer Muttersprache aktiv ab und schämt sich sogar für sie, da die gemeinsame Sprache sie mit den Asylsuchenden verbindet, von denen sie sich abgrenzen möchte (vgl. Sinha 2012: 26, 134). Zwar bezeichnet die Hauptfigur ihre Muttersprache faktisch als die ihre, »Nous parlions la même langue, la nôtre«, und das Französische als
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Henri Bergson (1956) untersucht die soziale Dimension des Lachens und schreibt diesem eine gemeinschaftsstiftende Dimension zu, da lachen stets auf eine Reaktion anderer abziele: »Notre rire est toujours le rire d’un groupe. […] Si franc qu’on le suppose, le rire cache une arrière-pensée d’entente, je dirais presque de complicité, avec d’autres rieurs, réels ou imaginaires.« (ebd.: 5)
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»langue étrangère« (beide ebd.: 26), doch in affektiver Hinsicht hat offensichtlich eine Inversion beider Sprachen stattgefunden. In ihrer Funktion als sprachliches Bindeglied zwischen den französischen officiers de protection und den bengalischen Eingewanderten wird die Protagonistin sowohl symbolisch als auch konkret physisch mit ihrer juridisch-sozialen in-betweenness konfrontiert und glaubt zu erkennen, dass ihr Migrationshintergrund, den ihr Äußeres auf den ersten Blick erahnen lässt, eine Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Aufnahmegesellschaft unmöglich macht. Die gymnastes langagiers, wie die Erzählerin sich und die weiteren Übersetzer*innen der Behörde bezeichnet, gehören zwar zu denen, die ›es geschafft haben‹, aber sie tragen das Gewicht ihrer Alterität auf den Schultern und werden eines Tages, trotz aller Verhüllungsstrategien, von ihr eingeholt werden: Mais les gymnastes langagiers ont atteint leur but. Ils ont traversé les barbelés et les no man’s land, les eaux troubles, les cieux orageux, les guichets administratifs, ils ont prouvé leur mérite, leur légitimité, ils se sont battus et ils ont réussi. Leur fardeau, leurs bagages n’étaient pas seulement dans la soute de l’avion, mais sont aussi sur leurs épaules. Invisibles, lourds, sales. Ou dans leur ventre, comme un fœtus tardif, dont l’accouchement serait douloureux, sanglant, raté. Ils les cachent, les dissimulent sans le savoir et tentent d’apprendre les nouveaux codes sociaux. (ebd.: 21) Ihre Fremdheit wird in den Rastern des Migrationsdispositivs zu einem unüberwindbaren Merkmal und Sinhas Hauptfigur äußert wiederholt die Vorstellung, dass das Exil zum Verlust der eigenen Wurzeln führt und es kein Zurück aus der Fremdheit gibt, für die man sich mit der Migration, bewusst oder unbewusst, frei oder gezwungenermaßen, entschieden hat: »On ne peut jamais retourner à l’endroit de départ. Il n’est plus là. […] L’espace s’est déplacé avec le temps. C’est la géométrie impossible de la vie.« (ebd.: 45) Das kategorische biopolitische System erzwingt eine Entscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, hier und dort, sodass ihre Heimat sich den Exilierten nach und nach entzieht und in ihrer Vorstellung an Lebendigkeit verliert, bis von ihr nur noch eine Idee übrigbleibt (vgl. ebd.: 42). In welchem Ausmaß die Protagonistin den Bezug zu ihrer Herkunft verloren hat, wird deutlich, als sie sich während der Untersuchungshaft auf die letzte Begegnung mit ihren Eltern zurückbesinnt. Diese Erinnerung, welche die junge Frau hinter »portes blindées« (ebd.: 101) in ihrem Unterbewusstsein eingeschlossen hat, zeichnet das traurige Bild einer entzweiten Familie. Der Diskurs der Hauptfigur verrät jedoch, dass die Distanz zwischen ihr und ihren Eltern nicht nur ein Resultat von Entfernung und vergangener Zeit, sondern auch ihres persönlichen Willens ist. Sie wehrt sich gegen eine Wiederannäherung an ihre Wurzeln und je mehr ihre Eltern nach den verlorenen Gemeinsamkeiten suchen, desto wütender wird die Protagonistin und desto mehr verspürt sie das Bedürfnis, sich zu entfernen. In ih-
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
rem Streben nach Anerkennung seitens der französischen Gesellschaft glaubt die Erzählerin sich gezwungen, ihre Eltern und somit den Ursprung ihrer vermeintlich hemmenden Fremdheit zurückzuweisen (vgl. ebd.: 103). Gepaart mit der zermürbenden, sie langsam konsumierenden Natur ihrer Arbeit (vgl. 5.1.2, 5.2.2.2), führen die beschriebenen Gefühle zu einem progressiven Verlust ihrer selbst, der schließlich in einer Katastrophe gipfelt, in der sich ihre vielseitigen Konflikte127 entladen. In dem verzweifelten Versuch, sich ihrer selbst zu bemächtigen, zerschlägt sie eine Flasche auf dem Kopf eines Asylantragstellers, dem sie scheinbar zuvor im Rahmen ihrer Arbeit begegnet war (vgl. Sinha 2012: 132-144). Ihr Angriff gegen den Mann in der Metro kann als äußerst brutaler, versuchter Befreiungsschlag gelesen werden, als eine Befreiung von ihrer problematischen beruflichen Tätigkeit, ihrer Zerrissenheit zwischen Anteilnahme und Abneigung, Identifikation und Abgrenzung gegenüber ihren ehemaligen Landsleuten, von ihrer Angst vor dem erwähnten symbolisch-sozialen Abstieg, ihrer empfundenen und realen Abwertung durch das männliche Geschlecht (vgl. 5.4.4.1) und nicht zuletzt als versuchte Lossagung von ihren Wurzeln: The physical clash in the metro is in fact represented by Sinha as a clash of desires, a cultural clash within a community, a gendered, intellectual, and ontological discord between a poor man and a richer, higher educated woman in a foreign land that he eagerly desires, that she passionately loves. […] Her ›act‹ reveals the conflict which cleaves her psyche: a conscious desire for freedom (to become other than the immigrant) and an unconscious identification with her ›brother‹, with the anguish of remaining there, within the order of the same, sharing a Weltanschauung that pulls her back into what seems […] to be a ›community of colour‹. The risk is to be swallowed into ›sameness‹; it is the risk of disappearing as an autonomous woman. (Picard 2012: 188, 190) Picard liest die Gewalttat gegen den Migranten als einen symbolischen Mord der Protagonistin an ihrer Herkunft und, noch konkreter, an ihren Eltern (vgl. ebd.: 191), was sich an die oben geschilderten Beobachtungen anbinden lässt und den Elternmord als rekurrentes Motiv von Migrationsliteratur aufgreift (vgl. Delbart 2005: 193-196).128 127
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Wie in Kapitel 5.4.4.1 ausgeführt wird, überlagern sich in Sinhas Assommons les pauvres! verschiedene Dimensionen von Fremdheit und Entfremdung, darunter die schwierige sexuelle Identitätsfindung der Protagonistin sowie eine Unsicherheit im Umgang mit ihrer Weiblichkeit. Julia Kristeva bringt das Motiv des Muttermords mit dem Verlust oder der willentlichen Aufgabe der Muttersprache in Verbindung: »Car il y a du matricide dans l’abandon d’une langue natale. […] Dans ce deuil infini, où la langue et le corps ressuscitent dans les battements d’un français greffé, j’ausculte le cadavre toujours chaud de ma mémoire maternelle.« (Kristeva 2000: 69) Dies lässt sich an die Erfahrung der Erzählerin von Assommons les pauvres! anschlie-
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Doch was geschieht nach diesem verzweifelten Akt der Selbstaffirmation? Bedeutet er für die Protagonistin eine Art Läuterung, die ihr einen selbstbewussteren Umgang mit ihrer Hybridität ermöglicht und somit eine Form des Widerstands gegen die biopolitische Logik erschließt? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Nach ihrem Verhör durch den Polizisten Monsieur K., das in einem heftigen Gefühlsausbruch der Hauptfigur geendet hatte (vgl. Sinha 2012: 147), wartet diese darauf, bis zu ihrem Gerichtsprozess aus der Haft entlassen zu werden. Plötzlich sucht sie den Raum beinahe panisch nach einem Spiegel ab (vgl. ebd.: 149), da sie das starke Bedürfnis verspürt, sich selbst zu sehen, sich wiederzuerkennen129 . Als daraufhin der Wasserdampf einer alten Kaffeemaschine die Fensterscheiben des Zimmers beschlagen lässt, möchte sie mit dem Zeigefinger einen Namen auf die Scheibe schreiben, doch ihr fällt keiner ein: »Ça fait longtemps que je n’ai plus de nom à inscrire sur une vitre embuée.« (ebd.: 149) Anstatt sich von ihren inneren Konflikten zu befreien, scheint die Protagonistin durch die Tat, zu der sie sich durch die Umstände ihrer Migration und Arbeit getrieben fühlte, endgültig ihre Identität verloren zu haben. Der letzte Satz des Romans, »Il est temps de rentrer« (beide ebd.: 149), scheint die kompromisslose Ordnung des Migrationsdispositivs zu bestätigen, in dem die transkulturell verfasste Protagonistin keinen Platz für sich finden konnte.
5.4.2.2
Der gescheiterte europäische Traum, die Unmöglichkeit der Rückkehr und Literatur als Heterotopie
Neben Shumona Sinhas Assommons les pauvres! thematisiert auch Tahar Ben Jellouns Partir eine existenzielle Entfremdung, die migrierte Figuren durch die biopolitische Verwaltung ihres Lebens erfahren und die letztlich dazu führt, dass es aus dem Exil kein Zurück geben kann. Die kollektive aber ziellose Rückkehr, die ein Großteil der Figuren am Ende des Romans an Bord eines magischen Schiffes antritt, kann vielmehr als eine Verortung in der Heimatlosigkeit gedeutet werden, welche die Möglichkeit einer erfolgreichen Migration und Integration in den starren Strukturen des Migrationsdispositivs als Illusion entlarvt. Auch in Partir waren die hybriden Lebenswege der migrierten Charaktere offenbar nicht mit den normativen Gesetz- und Regelmäßigkeiten der biopolitischen Regulierung von Migration vereinbar. Das letzte Romankapitel mit dem vielsagenden Titel Revenir beginnt wie folgt:
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ßen, deren schwierige Beziehung zu ihren Eltern sich in dem beschriebenen, nicht minder problematischen Verhältnis zu ihrer Muttersprache widerzuspiegeln scheint (vgl. Sinha 2012: 26, 134). Zum Spiegel als »Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis« (Renger 2012: 412) siehe ebd.: 412f..
5. Die literarische Verhandlung der biopolitischen Verwaltung des Lebens
Depuis plusieurs jours déjà ils sont plusieurs à s’être mis en route, guidés par une envie irrésistible de partir loin, très loin, de prendre le large. […] Le vent du retour les porte, ils vont sans se poser de question, sans se demander ce qu’il leur arrive. Ils croient que le destin est là, dans cette marche, les tirant vers la terre des origines, les ramenant vers le pays des racines […]. Ils prennent la route, tête haute, poussés par un vent de liberté, un souffle chaud. Ils sentent que c’est le moment, l’heure. Une saison pour eux, rien que pour eux, pour tous ceux qui ont souffert, pour tous ceux qui n’ont pas trouvé leur place. (Ben Jelloun 2007: 314f.) In der Forschung wird dieses letzte Kapitel von Partir durchaus unterschiedlich interpretiert. Einigkeit besteht allerdings darin, dass es in seiner traumähnlichen, gesteigert fiktionalen, symbolisch aufgeladenen und metaliterarischen Verfasstheit einen deutlichen Bruch mit dem Rest des Textes vollzieht. Lisa Marchi liest das Ende von Ben Jellouns Roman als einen versöhnlichen, hoffnungsvollen Ausklang der bis dahin dramatischen, beinahe fatalistischen Handlung. Dabei hebt sie die Darstellung von Migration als einer historischen, menschlichen Konstante (vgl. 5.3.3) hervor, die eine Antwort auf mobilitätsfeindliche Diskurse darstellen könnte: [T]oward the end of the novel, Ben Jelloun replaces his overall pessimistic and cynical representation of migration with a more positive and hopeful depiction. In the scene that closes the novel, the narrator mentions, for instance, the hijra (migration) of the Prophet Mohammad and the different generations of migrants who have succeeded one another, thus representing the migrant as a historical, almost prophetic, figure. In addition to that, the final invitation expressed through the sentence ›alors partons, voguons sur les mers‹ […] contributes to construct an atmosphere of hope, fraternity, and release, while the identification of migration with a light that will cure the world’s suffering invalidates dominant discourses that associate migration to an emergency, demanding fast and strict countermeasures, or to a sickness, weakening the health and strength of a nation. (Marchi 2014: 613) Für Mónica Martínez de Arrieta (vgl. 2013: 147) wird das Meer, auf dem das »bateau du retour« (Ben Jelloun 2007: 322) im letzten Kapitel von Partir dahintreibt, als physischer wie symbolischer Raum zu der Heimat, welche die Exilierten weder in ihren Herkunftsländern noch in der Ferne finden konnten. Ihre Interpretation lässt sich an Vilém Flussers Ausführungen zum »Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit« (Flusser 2013: 15) anschließen, worunter der Philosoph eine produktive, zukunftsgewandte Abkehr von der Norm der Sesshaftigkeit und den mit ihr einhergehenden, die Wahrnehmung der Welt durch Ortsgebundenheit verklärenden Identitätskonstruktionen versteht (vgl. ebd.: 16-18, 26-30). Eine weniger positive Auslegung des Kapitels Revenir findet sich bei Søren Frank (vgl. 2017: 89), der das magische Boot und seine Passagiere als ein endlos auf dem Mittelmeer umhertrei-
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Literatur zwischen Biopolitik und Migration
bendes Mahnmal deutet, das Europa an seine zweifelhafte Grenz- und Migrationspolitik erinnern soll. Nicoletta Pireddu vertritt in ihrer Analyse eine ähnlich trostlose Ansicht und interpretiert die Bootsfahrt der Rückkehrer*innen als ein ewiges Verharren in Bewegung, das erst mit dem Tod endet: [T]he ›vent du retour‹ […] that makes the migrants dream of freedom back to their roots, in fact confines them to the extreme liminal condition: all those who have not found a place either in their Moroccan motherland or in what they elected as their European home will continue to drift on the Mediterranean waves. […] [T]he boat Toutia that promises survival through repatriation radically separates them from the object of desire [Europe] without the compensatory consolation of a sheltering homeland. Aboard this purveyor of both life and death, passengers embark on a final yet endless journey on the threshold of those two states as spectral creatures […] until the hypothetical trespass ›vers d’autres cieux‹ […] puts an end to their painful errance. (Pireddu 2009: 31) Pireddu verwendet hier den Begriff des Spektralen (vgl. Derrida 1993, Kapitel 5.2.2.2), um das Verweilen von Ben Jellouns Figuren in einem Dazwischen von gescheiterter Ankunft und zielloser Rückkehr, von Leben und Tod zu beschreiben. Wie Mareike Gebhardt (vgl. 2020: 128) unter Rückgriff auf Judith Butlers Ausführungen zur ›Betrauerbarkeit‹ (›grievability‹) prekären Lebens (vgl. Butler 2006 [2004]: 33f., Butler 2010) schreibt, kann das Spektrale in Form einer Heimsuchung der Lebendigen auch zu einem Widerstand des marginalisierten und ausgeblendeten Lebens werden, was sich an die oben zitierte Deutung Søren Franks anschließen ließe. Durch die Dynamiken des Migrationsdispositivs in ihrer Identität gespalten und zu einer phantomartigen Existenz verdammt (vgl. 2.2.4), werden die Migrant*innen in der traumähnlichen Episode zum Freud’schen unheimlichen Gegenstück (vgl. Freud 2020) sowohl Afrikas als auch Europas und halten jenen Kontinenten, in denen sie aufgrund des biopolitischen Versagens ihrer Regierungen (vgl. 5.1.1.1) und/oder der politischen Regulierung von Migrationsphänomenen keine Heimat finden konnten, den Spiegel vor: »Les deux univers de l’action romanesque dans Partir [le Maroc et l’Espagne] constituent des miroirs réflecteurs, puisque, d’un lieu à un autre, se posent les mêmes problèmes sociaux ou les mêmes enjeux.« (Norgaisse 2020: 79f.) In dieser Hinsicht wäre das Schiff, Foucaults »hétérotopie par excellence« (Foucault 1994b: 762), ein Gegenraum,130 der die unschönen und gemeinsam mit den
130 In Anlehnung an einen Artikel von Christiane Albert und Marc Kober (vgl. 2013), in dem die Stadt Tanger in Partir als Heterotopie gelesen wird, stuft auch Catherine Mazauric das Schiff im letzten Kapitel des Romans als einen solchen Gegenraum ein und stellt fest, dass Ben Jellouns Text insofern mit einer Heterotopie beginnt und endet (vgl. Mazauric 2020: 104-108). Daraufhin wirft Mazauric mit Blick auf den metaliterarischen Charakter des Kapitels Revenir
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Eingewanderten weitgehend aus der Wahrnehmung der Gesellschaft verdrängten Seiten der europäischen Migrationspolitik offenlegt. Das »bateau du retour« (Ben Jelloun 2007: 322) und seine Passagiere, die an ihrem europäischen Traum gescheiterten, von Krankheit und Leid gezeichneten Figuren (vgl. ebd.: 317, 321f.), prangern die immunisierenden Ausschlussmechanismen der europäischen communitas, die damit verbundene, scheinbare Unmöglichkeit einer tatsächlichen Integration und den daraus resultierenden, doppelten Identitätsverlust der Migrant*innen an, die weder hier noch dort zugehörig sein können (vgl. ebd.: 314f.). Das Schiff scheint dabei als fließend dahintreibendes Symbol der Reise und des Entdeckergeistes in einem besonderen Kontrast zu verschlossenen und nationalistisch orientierten Denkweisen zu stehen, die Fremdheit als Bedrohung betrachten, Bewegung unterbinden und Abschottung fördern möchten. Doch nicht allein durch seinen Inhalt konterkariert das letzte Kapitel von Partir biopolitisch generierte, mobilitätsfeindliche Diskurse. Vielmehr scheinen sich in ihren Aussagen ergänzende und gegenseitig potenzierende metaliterarische und intertextuelle Implikationen die Frage aufzuwerfen, inwiefern die Literatur selbst eine Heterotopie sein kann (vgl. 5.3.2.2), die alternative Deutungsraster erschließt und die gesellschaftliche Diskussion um das Thema Migration bereichern kann. So betrachtet Nicoletta Pireddu (vgl. 2009: 31f.) die intertextuellen und autoreflexiven Elemente im abschließenden Kapitel des Romans in Verbindung mit dessen Paratext als Ambivalenz stiftendes, transgressives Rahmenwerk einer ansonsten realistischen Handlung. Im Paratext wird Partir nämlich ein kurzer Absatz vorangestellt, in dem der Erzähler das Fortgehen als zentrale Thematik einführt, indem er von einer Art Glücksritual seines Freundes Flaubert berichtet. Dieser sagt »j’arrive«, wenn er fortgeht und »nous sommes ensemble« (beide Ben Jelloun 2007: Paratext), wenn er jemanden verlässt. Obgleich es sich bei besagtem Flaubert nicht um den Autor, sondern um einen kamerunischen Freund des Erzählers handelt, der letzterem verspricht, Madame Bovary (2011 [1857]) zu lesen, argumentiert Pireddu (vgl. 2009: 18), dass Partir mit dieser Anspielung auf einen der größten Schriftsteller der französischen Literaturgeschichte sowie eines seiner bedeutendsten Werke gleich zu Beginn eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur vollzieht,131
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die Frage nach der Literatur als Heterotopie auf, welche auch die vorliegende Untersuchung auf den folgenden Seiten verhandelt, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten und mit entsprechend anderen Ergebnissen: »Autrement dit, l’issue utopique ne produit qu’un retour, une involution qui fait se retourner le rêve sur lui-même. Tout n’est – ne reste – que littérature. L’hétérotopie de départ, loin de constituer un contre-espace, ne formait qu’une parenthèse de relégation où achevaient de se dissoudre les espérances. L’utopie finale est de part en part littéraire, et elle n’est que littéraire« (ebd.: 108). Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion scheint in der Familie von Ben Jellouns Figur Flaubert verwurzelt zu sein, sind doch seine Cousins Apollinaire und
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deren Tragweite sich erst im letzten Kapitel preisgibt. Nach einem kurzen Auftritt in Kapitel 33 (vgl. Fußnote 133) kehrt die Figur Flaubert auf den letzten Seiten von Partir zurück und verstärkt die ambivalente, übernatürliche Grundstimmung des Kapitels mit metaliterarischen Überlegungen und intertextuellen Verweisen, die einen spannungsreichen Bruch mit den bis dahin authentisch wirkenden Geschichten der exilierten Charaktere vollziehen (vgl. Zdrada-Cok 2015: 65, Mazauric 2020: 99, Schyns 2016: 212). Unmittelbar nachdem er an Bord des »bateau du retour« (Ben Jelloun 2007: 322) gegangen ist, kommt Flaubert nämlich eine Idee, die einen Erkenntnisprozess einleitet, währenddessen die Figur sich ihrer Fiktionalität bewusst wird: Mais Flaubert a une idée: et si ce bateau n’était qu’une fiction, un roman flottant sur les eaux, un roman en forme de bouteille jetée à la mer par tant de mères éplorées et fatiguées d’attendre? Si mon hypothèse est juste, je comprends enfin à présent pourquoi mes parents m’ont appelé Flaubert. Il ne me reste donc plus qu’à entrer dans le roman. Mais comment devient-on un personnage de fiction? (ebd.: 322) War Flaubert bei der in Kapitel 33 geschilderten Begegnung mit Azel noch ein augenscheinlich gewöhnlicher Mensch, mit einer Herkunft, einer Familie und einer Anstellung bei einer deutsch-französischen NGO (vgl. ebd.: 266-272), so malt er sich im letzten Kapitel aus, wie er als Romanfigur zwischen den Seiten von Madame Bovary, Vom Winde verweht oder Harry Potter umherwandert und sich in deren schönsten Kapiteln niederlässt (vgl. ebd.: 322f.). Indem er die Grenzen zwischen intradiegetischer Realität und einer gesteigert fiktionalen, metaliterarischen Ebene verschwimmen lässt, scheint Ben Jellouns Text auf seinen letzten Seiten die eigene Lesbarkeit zu stören. Die literarische Form hinterfragt den erzählten Inhalt und entlarvt die starren Gesetze der biopolitischen Verwaltung von Migrationsbewegungen durch das formal ambivalente und inhaltlich anprangernde Kapitel als Illusion. Intertextuelle Verweise auf Flaubert und seinen damaligen Skandalroman Madame Bovary gibt es in Partir somit an mehreren Stellen. Pireddu widmet diesem Intertext besondere Aufmerksamkeit und diagnostiziert bei Ben Jellouns Figuren einen Zustand, den sie als »migrant bovarysm« (Pireddu 2009: 18-22) bezeichnet. Indem sie auf den von Jules de Gaultier etablierten Begriff des bovarysme rekurriert, der eine Art exzessive mentale Flucht in Fantasievorstellungen bezeichnet, zieht Pireddu Parallelen zwischen Emma Bovarys passionierten Träumereien von einem anderen Leben und dem obsessiven Wunsch der Charaktere Ben Jellouns, nach Europa auszuwandern (vgl. ebd.: 18f., Ben Jelloun 2007: 46f., 49f., 148-150). Ähnlich Émilezola, der noch dazu als Bibliothekar arbeitet, nach berühmten französischen Autoren des Surrealismus und Naturalismus benannt (vgl. Ben Jelloun 2007: 270, 324).
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wie im Falle von Emma Bovary nehmen die meist naiven Traumvorstellungen der Figuren in Partir beinahe pathologische Ausmaße an (vgl. Pireddu 2009: 19-22), die durch eine entsprechende Krankheitspoetik textualisiert werden (vgl. 5.2.2.2). Nach diesen Träumen von einem besseren Leben erweist sich das Erwachen aus dem migrant bovarysm als umso bitterer, wenn die Vorstellungen der fiktionalen Migrant*innen in Europa an der Realität zu zerbrechen drohen (vgl. Pireddu 2009: 22). Pireddu betrachtet den Verweis auf Flauberts Werk im Paratext des Buchs somit auch als ein »prelude to the story of malaise, daydreaming and demise in Partir« (ebd.: 18). Der intertextuelle Verweis auf Flauberts Madame Bovary ist in Partir jedoch nicht der einzige, der über sein unterschwelliges Textwissen und die Auslotung des Verhältnisses von Realität und Fiktion zum Ausdruck bringt, dass die immunisierenden Dynamiken des Migrationsdispositivs eine erfolgreiche Auswanderung nach Europa für die marokkanischen Figuren nahezu unmöglich machen. Mindestens ebenso bedeutsam ist der Intertext mit Don Quijote de la Mancha (2005 [1605 bzw. 1615]), verfolgte Cervantes doch eine »empresa de desencantamiento o desilusión« (Martínez García 2007: 62), die von Flaubert in Madame Bovary fortgesetzt und ausgearbeitet wurde. Dieser weitere intertextuelle Bezug wird in Partir allerdings nicht allein über ein Zitat, sondern gleich durch das fiktionale Auftreten von Don Quijote und seinem Begleiter Sancho Panza hergestellt. Der Intertext transportiert die berühmten Figuren Cervantes’ in Ben Jellouns Roman und integriert sie in die Handlung des abschließenden Kapitels.132 Mit Don Quijote und Emma Bovary finden auf den letzten Seiten von Partir somit gleich zwei Romanfiguren Erwähnung, die Michail M. Bachtin in seiner Studie zum Wort im Roman als »literarische Menschen« (Bachtin 1979: 291) bezeichnet. Beide Charaktere verlieren jeglichen Bezug zur Realität, da sie sich derart in der Lektüre von Liebes- bzw. Ritterromanen verlieren, dass die Fiktion zu ihrer erlebten Wirklichkeit wird. Die Welt fortan durch die Brille einer literarischen Verblendung sehend, finden sie sich in dieser nicht länger zurecht, es kommt nach Bachtin zu einer »Selbstkritik des Wortes«, zu einer »Prüfung des literarischen Romanwortes durch das Leben, die Wirklichkeit«, die ein »Gegengewicht zur Kategorie der Literarizität« darstellt (alle ebd.: 291).133 Fol132
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Was es im Hinblick auf das Thema Migration und die entsprechenden biopolitischen Fragestellungen bedeuten könnte, dass der Held der spanischen Nationalliteratur gemeinsam mit fiktionalen Migrant*innen Spanien verlässt und darüber hinaus absurderweise von der Guardia Civil nach seinen Ausweisdokumenten gefragt wird, kann hier nur angedeutet werden. Vielleicht hat auch Don Quijote im modernen Spanien nicht seinen Platz gefunden, kann sich nicht mit einem um Abschottung bemühten Land identifizieren und solidarisiert sich daher mit den marginalisierten Eingewanderten, deren Migration gescheitert ist. Die Parallelen und intertextuellen Beziehungen zwischen Flauberts Madame Bovary und Cervantes’ Don Quijote wurden in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Studien untersucht. In Publikationen von Helmut Hatzfeld und Harry Levin heißt es etwa, dass der Realismus Flau-
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gende Aussage von Barbara Vinken über Flauberts Meisterwerk kann insofern auch für Don Quijote geltend gemacht werden und bietet einen möglichen Lektüreschlüssel für das Ende von Tahar Ben Jellouns Partir: Flauberts Madame Bovary, üblicherweise als der realistische Roman schlechthin interpretiert, möchte ich in Verkehrung dieser Annahme als allegorische Erzählung auf das Ende der Allegorie lesen. In diesem Sinne ist sie ein Roman über das Lesen – über die ästhetische Erfahrung – oder, genauer gesagt, über die jetzt pervertierte Lesbarkeit von Welt. Als Inbegriff aller Allegorien des Lesens, die spätestens seit der Moderne bekanntlich Allegorien der nicht mehr richtigen Lesbarkeit von Welt sind und einzig in den nicht mehr so schönen belles lettres erzählt werden können, ist Flauberts Madame Bovary ein Hohelied auf die Fiktion. (Vinken: 2009: 76) So betrachtet scheinen Flaubert und die anderen existenziell entfremdeten, an migrant bovarysm leidenden Figuren in dem surrealen letzten Kapitel von Partir an Bord eines magischen Schiffes und in Begleitung von Don Quijote die Flucht in die Fiktion zu wählen. »[I]ls se déréalisent et se textualisent« (Zdrada-Cok 2010: 52), um der schmerzhaften Erfahrung einer paradoxalen und zuweilen gar absurden biopolitisch-bioökonomischen Weltordnung zu entkommen, in deren Logik ihre Lebensentwürfe keinen Platz hatten: Flaubert? Ah oui! Il s’est échappé! Il n’est plus de ce monde! Il s’est trouvé un emploi fictif dans une fiction, il se balade dans des livres, se couche dans des pages […]. Sacré Flaubert, il a trouvé ça pour ne pas affronter la réalité, oui, la vraie réalité, celle qui nous colle à la peau et nous fait mal (Ben Jelloun 2007: 324f.). Flauberts metaliterarische Aussagen, speziell die Passage »et si ce bateau n’était qu’une fiction, un roman flottant sur les eaux, un roman en forme de bouteille jetée à la mer« (ebd.: 322), eröffnen somit eine Reflexion über das Verhältnis von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit und lassen die These zu, dass Literatur als eine Form der Heterotopie einen privilegierten Ort für die fiktionale Ergründung biopolitischer Fragestellungen, etwa solche der Migrationspolitik, darstellt: »Die künstlerische Repräsentation ist eine Bühne, in der Problematisierungen verkörpert werden. Sie ist damit eine metareflexive Technik, und diese Technik kann ein spezielles Wissen produzieren.« (Borsò 2010b: 239) Der Vergleich des Romans
berts sich in vielen Details an Cervantes »roman réaliste« (Hatzfeld 1979: 271) orientiert habe, Madame Bovary gar eine »imitation« (ebd.) des Don Quijote sei, und dass Emma Bovary eine feminine Variante von Cervantes’ Helden darstelle (vgl. Levin 1963: 246-269). Für neuere Publikationen zu dieser Thematik siehe z.B. die Monografie von Fox (2008) und die Artikel von Tannenbaum (2006) oder Martínez García (2007).
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mit einer Flaschenpost134 stellt insbesondere die Frage nach dessen Adressierung, Reichweite und Botschaft, denn bei einer Flaschenpost kann der bzw. die Verfasser*in nicht wissen, wann, von wem und ob seine bzw. ihre Nachricht jemals gelesen werden wird. Insofern erlaubt das Bild des ›roman-bateau‹ mitunter Rückschlüsse auf Tahar Ben Jellouns Selbstverständnis als Schriftsteller und damit auch auf die intendierte Aussage von Partir im Hinblick auf die behandelte Migrationsthematik. In Interviews und Chroniken stellt der Autor wiederholt einen direkten Zusammenhang zwischen seinem literarischen Schaffen und der Realität der marokkanischen Gesellschaft her: »[E]n tant qu’écrivain, j’ai la chance d’appartenir à la société marocaine. C’est une chance parce que la réalité marocaine est si complexe, si riche, si contradictoire qu’elle fournit en permanence matière à fiction.« (Ben Jelloun zit.n. Zdrada-Cok 2010: 45) Obwohl Ben Jelloun seine Werke also eindeutig der Fiktion zuordnet, scheint er dennoch den Anspruch zu vertreten, eine Momentaufnahme der marokkanischen Gesellschaft zu zeichnen (vgl. Urbani 2012: 55). In Übereinstimmung mit dieser Auffassung gibt Ben Jelloun sich von der Literatur als Notwendigkeit überzeugt, weist aber auch auf deren Grenzen hin (vgl. Côté 1994: 20). So sagt er, sich auf Partir beziehend, in einem Interview mit dem Verlag Gallimard: »Un roman n’est pas un manuel de sociologie, il ne faut pas y chercher une clé pour comprendre l’état économique et social du Maroc actuel. C’est un indicateur, sans plus.« (Ben Jelloun zit.n. Gallimard 2006) Er begreift den Autor als »témoin de son époque, […] il ›fouille‹ la société et ses strates, […] il fait, à sa manière, de l’archéologie« (Ben Jelloun zit.n. Zdrada-Cok 2015: Fußnote 4) und sieht das Schreiben offenbar als eine Möglichkeit, die Welt lesbar und ihr Unsichtbares sichtbar zu machen, ohne jedoch zu erwarten, sie dadurch zu verändern. In Bezug auf die Metapher des Flaschenpost-Romans lässt sich Ben Jellouns Literaturverständnis zusammenfassend eventuell wie folgt auslegen: Wenngleich ein Roman vermutlich nicht die Welt verändern, nicht die Migrationspolitik der Europäischen Union oder die Entscheidungen derjenigen beeinflussen wird, welche die gefährliche Überquerung des Mittelmeers wagen wollen, so kann er doch die Sichtbarkeit dieser Phänomene steigern. Ein Roman kann Ungerechtigkeiten anprangern, den anonymen Marginalisierten ein fiktives Gesicht geben und ihre 134
Es lässt sich ein intertextueller Bezug zu Paul Celan herstellen, der 1958 in einer Rede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Stadt Bremen die dialogische Beziehung zwischen Literatur und Welt, zwischen Verfasser*in, Text und Leser*in thematisiert: »Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.« (Celan 1988: 39)
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fiktionalisierte Geschichte erzählen (vgl. 5.1.4). Das Meer, auf dem die Flaschenpost treibt, könnte in diesem Bild eine Vorstellung von Universalität aufgreifen, die Partir insgesamt zu unterliegen scheint und bereits in Bezug auf die Relationalität der Figurenkonstellation und die Repräsentativität der Charaktere behandelt wurde (vgl. 4., 5.1.4.2). Das in seiner Symbolik traditionell für Unendlichkeit und Ewigkeit stehende Meer (vgl. Schneider 2012: 268f.) gilt als den Globus umfassende, alles miteinander verbindende Weite, die mit Freuds »[o]zeanischem […] Gefühl« (Freud 1986 [1929]: 197) als Entgrenzung und Auflösung des Eigenen im Anderen gelesen werden kann. Das Meer hebt in besagter Metapher demgemäß offenbar die Universalität der (Migrations-)Geschichten hervor, die in dem FlaschenpostRoman transportiert werden: Migration erscheint nicht als Abweichung und Ausnahme, sondern als ein Phänomen globalen Ausmaßes, sodass die in Partir geschilderten Marginalisierungsdynamiken in der einen oder anderen Form potenziell jeden Menschen betreffen können. Die fiktive Narration rekurriert auf eine extraliterarische Wirklichkeit, die nicht nur eine kleine Gruppe Unglücklicher, nicht nur ›die anderen‹, sondern die Menschheit in ihrer Gesamtheit betrifft. Der Bedeutungskreis der Metapher schließt sich, wenn man zu dem Schiff zurückkehrt, von dem die Überlegungen der Figur Flaubert ausgingen (vgl. Ben Jelloun 2007: 322). Betrachtet man nämlich mit Foucault das Schiff als »hétérotopie par excellence« (Foucault 1994b: 762), dann erscheint der von Flaubert erdachte roman-bateau als ein in ständiger Bewegung dahintreibender, sinnbildlicher Gegenraum zu unflexiblen biopolitischen Strukturen und migrationsfeindlichen Annahmen. Fiktionale Literatur tritt in diesem Bild als Heterotopie auf, in der drängende gesellschaftliche Fragen, wie jene nach dem Umgang mit global zunehmenden Migrationsbewegungen und deren politischer Verwaltung, behandelt und reflektiert werden können. Auch wenn diese literarische Heterotopie die Welt nicht verändern kann, ist der Roman doch zumindest eine Materialisierung, eine Entbergung ansonsten verdrängter oder unsichtbarer Phänomene, sodass die biopolitischen Prozesse, die hinter Migrationsphänomenen stehen, durch die Lektüre greif- und erfahrbar werden. Ben Jellouns Text scheint insofern als Allegorie auf die Unlesbarkeit der Welt (vgl. Vinken 2009: 76) aus der Fiktion heraus auf die Ambivalenz realer biopolitischer Dynamiken und Migrationspolitiken verweisen zu wollen. Einzig die Literatur ist offenbar noch in der Lage, eine befremdliche Realität zu verhandeln, in der Waren freier zirkulieren als Menschen und neokoloniale Machtstrukturen sowie die internationale Arbeitsteilung ihre Tribute fordern. Ist Literatur in diesem Fall, wie Ben Jelloun sagt, lediglich ein indicateur, so kann sie immerhin ein Bewusstsein für jene Phänomene schaffen und bewirken, dass die Botschaft des Flaschenpost-Romans am Ende vielleicht doch ihr Ziel erreicht.
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5.4.3
Die Überlagerung von Alterität und Armut auf der Folie biopolitischer und bioökonomischer Strukturen
Wie im theoretischen Part der Untersuchung unter Rückgriff auf die Theorien Michael Hardts und Antonio Negris dargelegt wurde (vgl. 2.5), ist das Leben, und mithin das migrantische Leben (vgl. 5.2.3), in der postfordistischen Ära massiv durch die Dynamiken des Weltmarkts geprägt und in eine Vielzahl biopolitischer und bioökonomischer Phänomene und Interessen eingebunden. Im Hinblick auf den Umgang mit Alterität bedeutet eine globalisierte, zunehmend entgrenzte Welt laut Hardt und Negri zwar einen Abbau gewisser Differenzen, doch gleichzeitig wird ein bestimmtes soziales Phänomen in einem durch und durch ökonomisierten System erst recht zum Inbegriff der Andersartigkeit: »The only non-localizable ›common name‹ of pure difference in all eras is that of the poor.« (Hardt/Negri 2001: 156) Wie in vorigen Kapiteln mehrfach angemerkt wurde, führt die biopolitische Regulierung von Migrationsbewegungen in den analysierten Werken nämlich nicht allein zu einer gesellschaftlichen, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Marginalisierung Eingewanderter, da diese etwa kein geregeltes Arbeitsverhältnis aufnehmen dürfen oder lediglich Zugang zu schlecht bezahlten Tätigkeiten haben. Im Folgenden wird diese Wechselbeziehung zwischen Armut und Alterität in den Dynamiken des literarischen Migrationsdispositivs untersucht. Hierzu scheint Shumona Sinhas Assommons les pauvres! besonders geeignet u.a. da es die Verbindung beider Phänomene bereits über den im Titel angelegten Intertext mit Baudelaires gleichnamigen Prosagedicht herstellt. In einem Sammelband zur Darstellung von Prekarität in verschiedenen Künsten und Medien beschäftigt sich Margarete Zimmermann mit den Zusammenhängen zwischen Migration, Prekarität, Armut und Exklusion in Assommons les pauvres!. In ihren einführenden Überlegungen zu besagten Termini stellt Zimmermann zunächst fest, dass der Begriff Prekarität insofern problematisch sei, als er ein kaum greifbares Phänomen bezeichne und nicht eindeutig von seiner »sœur cadette« (Zimmermann 2015: 89), der Armut, zu trennen sei. Eine allgemeingültige Definition scheint der Verfasserin nicht möglich und würde der Vielseitigkeit des Phänomens nicht gerecht. Das Bindeglied zwischen Armut und Prekarität sieht Zimmermann in dem Element der Exklusion, die den Betroffenen die Teilhabe an verschiedenen sozialen, kulturellen und politischen Strukturen versagt. Dementsprechend begreift sie Armut nicht allein in einer rein materiellen Dimension, sondern weist darauf hin, dass Armut vor allem auch einen »manque de pouvoir social« (ebd.: 90) bedeute.135 In dieser Hinsicht scheinen Zimmermanns Beobachtungen 135
Für eine Konzeptionalisierung der Prekarisierung als Regierungstechnik in postfordistischen Gesellschaften sowie für den Zusammenhang von Prekarisierung und othering-Phänomenen siehe Isabell Lorey (2011b).
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Anschlüsse an Giorgio Agambens Denkfigur der inclusione esclusiva zu ermöglichen: Das prekäre, da in einer sozialen, rechtlichen und politischen Zone der Ununterscheidbarkeit situierte, nackte Leben, ist zugleich ein- und ausgeschlossen, da es Teil eines Systems ist, an dem es jedoch nicht aktiv teilhaben kann. Prekarität und Armut stellen nach Zimmermann die zentrale Thematik von Sinhas Autofiktion und ereignen sich auf verschiedenen fiktionalen Zeitebenen: Assommons les pauvres! […] parle de deux formes de manque et fragilité sociale qui appartiennent à des temps fictionnels différents. Il y est question d’une part de pauvreté au sens du manque des choses essentielles à la survie et en même temps d’une précarité définie par l’absence de continuité permettant de ›construire une vie‹. Cette situation appartient à un passé lointain en Inde et n’est évoquée que par des analepses. C’est la pauvreté absolue qui incite des groupes d’étrangers à émigrer en Europe […]. La seconde forme de dénuement abordée et à laquelle font face les migrants qui échouent en France est celle des marginaux de la société française soumis à toute une série de mécanismes d’exclusion. (ebd.: 90f.) Diese vielschichtigen sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Mechanismen der Exklusion materialisieren sich laut Zimmermann am deutlichsten in Nicht-Orten an der Peripherie der Gesellschaft, in denen die Eingewanderten sich zumeist bewegen (ebd.: 97f.), wie in Kapitel 5.3.2.1 thematisiert wurde. Ebenso widmet sich Anne-Marie Picard der Armutsproblematik in Assommons les pauvres! und vertritt unter Rückgriff auf eine interdisziplinäre (historische, philologische, soziologische, philosophische und literaturwissenschaftliche) Methode die These, dass der Arme seit jeher auch der Andere gewesen ist und in Sinhas Autofiktion eine solche Überlagerung von Armut und Fremdheit beobachtet werden kann. Sie stellt ihren Ausführungen ein Zitat des Soziologen Phillipe d’Iribarne voran, das Parallelen zu den zuvor referierten Beobachtungen Hardts und Negris aufweist: Il ne faut pas accorder trop de prix au projet de construire une humanité où tous se reconnaissent comme semblables. Plus s’effacent les différences instituées de tous ordres, entre nations, religions, âges, sexes et autres, plus une différence unique prend du relief, celle qui sépare les faibles et les forts. (d’Iribarne zit.n. Picard 2012: 179) Abgesehen von der spezifischen Genealogie dieser Verschränkung von Armut und Alterität stimmt Picard also im Kern mit Michael Hardt und Antonio Negri überein: Glaubt Picard (vgl. 2012: 179), dass der Arme seit jeher als Figur der Fremdheit konstruiert wurde, so sehen Hardt und Negri (vgl. 2001: 156f.) eine besondere Zuspitzung dieses Zusammenhangs durch die Dynamiken des Empire, das in seinem gewollt globalen und integrativen Anspruch vorgibt, bestimmte Differenzen zu dekonstruieren, wodurch jedoch andere an Prägnanz und Wirkkraft gewinnen.
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Ging es schon in den Anfängen der Biopolitik neben dem Schutz des individuellen und kollektiven Lebens auch um dessen bioökonomische Nutzbarmachung (vgl. Foucault 1975: 139, Revel 2007: 249), so scheint es plausibel, dass durch den Siegeszug des Kapitalismus, die Konstitution des Weltmarkts sowie die Einrichtung supranationaler Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds auch die ökonomische Perspektive auf das Leben generell zunahm, sodass das arme Leben vermehrt an den Rändern eines solchen Systems angesiedelt wird. In einer naheliegenden Herangehensweise bezieht Picard sich weiterhin auf Baudelaires posthum in den Petits Poèmes en Prose (1962 [1869]) erschienenes Prosagedicht Assommons les pauvres!, mit dem Sinhas Buch nicht nur den Titel, sondern auf der Inhaltsebene auch die aus dem Spannungsverhältnis zwischen ihren Differenzen und Gemeinsamkeiten hervorgehende, gewaltvolle Auseinandersetzung zweier Menschen teilt. In Anbetracht dieses offensichtlichen Intertextes wirkt Sinhas Werk beinahe wie eine réecriture oder Neuinterpretation des Hypotextes Baudelaires (vgl. Limbu 2018: 85), da die Schriftstellerin die Handgreiflichkeit zwischen zwei gesellschaftlich unterschiedlich gestellten Personen in einen anderen soziokulturellen Kontext verlagert, sie quasi ›über-setzt‹, ohne aber Baudelaire oder dessen Gedicht explizit zu erwähnen. Das kurze Prosagedicht des französischen Poeten schildert eine vorgeblich ideell inspirierte, körperliche Konfrontation zwischen dem lyrischen Ich, einem sich als Philanthrop verstehenden Intellektuellen, und einem armen Mann. Der betuchte Mann erzählt, wie er nach dem intensiven Studium sozialistischer Theorien (vgl. Baudelaire 1962: 214f., Picard 2012: 180) das Haus verlässt und auf einen Bettler trifft, einen jener »pauvres« (Baudelaire 1962: 215), von denen er zuvor gelesen hatte. Während der Arme um eine Spende bittet, hört der Bourgeois eine Stimme, die ihn dazu auffordert, einen Gedanken umzusetzen, der ihm unter dem Eindruck der Lektüre gekommen war. Der vermeintlich gutmütige »Démon« (ebd.: 216), eine moralische Instanz, die das lyrische Ich berät, fasst diese »idée supérieure« (ebd.: 215f.) in Worte und flüstert ihm ins Ohr: »Celuilà seul est l’égal d’un autre, qui le prouve, et celui-là seul est digne de la liberté, qui sait la conquérir.« (ebd.: 217) Daraufhin beginnt Baudelaires Hauptfigur, auf den Bettler einzuschlagen: Immédiatement, je sautai sur mon mendiant. D’un seul coup de poing, je lui bouchai un œil, qui devint, en une seconde, gros comme une balle. Je cassai un de mes ongles à lui briser deux dents, et comme je ne me sentais pas assez fort, étant né délicat et m’étant peu exercé à la boxe, pour assommer rapidement ce vieillard, je le saisis d’une main par le collet de son habit, de l’autre, je l’empoignai à la gorge, et je me mis à lui secouer vigoureusement la tête contre un mur. (ebd.: 217) Als sein Gegenüber beginnt, sich zu wehren und seinerseits das lyrische Ich angreift, hat dieses sein zynisches Ziel erreicht: Aus fadenscheiniger Nächstenliebe, und seine Theorie auf dem Rücken eines armen »viellard« (ebd.: 217) erprobend,
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hat der Intellektuelle den Bettler angegriffen, um eine Gegenreaktion zu erzwingen und an dessen Würde zu appellieren: »[Ô] miracle! ô jouissance du philosophe qui vérifie l’excellence de sa théorie! […] Par mon énergique médication, je lui avais donc rendu l’orgueil et la vie.« (ebd.: 218) Die Männer legen ihren Kampf bei und das lyrische Ich erkennt den Armen, der sich seine Würde zurück erkämpft hat, als ebenbürtig an (vgl. ebd.: 218). In der Forschung wird Baudelaires Text häufig einer soziopolitischen Lesart unterzogen, die sich auf den gesellschaftlichen Konflikt zwischen Arm und Reich konzentriert136 (vgl. Vatan 2004-2005: 94f.) und durch einen Satz konsolidiert zu werden scheint, der das Manuskript des Prosagedichts ursprünglich abschloss, in den publizierten Fassungen allerdings fehlt137 : »Qu’en-dis-tu, Citoyen Proudhon?« (Baudelaire zit.n. ebd.: 95). Vor dem Hintergrund dieser Anspielung auf PierreJoseph Proudhon wird Baudelaires Assommons les pauvres! oftmals entweder als Tribut an den französischen Ökonomen und Soziologen oder aber als Kritik an dessen Schriften gelesen und insbesondere im Hinblick auf mögliche politische Positionen Baudelaires untersucht (vgl. Vatan 2004-2005: 94f.). So deutet etwa Patrick Labarthe (vgl. 2005/2006: 161-163) Baudelaires Text als offensichtliche Kritik an der »utopie socialiste de Proudhon« (ebd.: 163), auf die bereits der provokante Titel schließen lasse. Der Verfasser liest Assommons les pauvres! zwar als parabolische Schilderung einer Auseinandersetzung zwischen einem wohlhabenden Intellektuellen und einem Bettler, deutet diese allerdings zuvorderst als physische und symbolische Konfrontation eines Mannes mit seinem verarmten Anderen: Nous assistons moins au corps à corps ponctuel de deux hommes qu’au combat de deux doubles, ›mendiant‹ et ›philosophe‹ n’étant que les figures réversibles et comme abstraites d’un servage accablé et d’une liberté reconquise. Le philosophe
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Françoise Coblence wirft gar die Frage auf, inwiefern Baudelaire als Soziologe gelten kann, da sein literarisches Werk gesellschaftliche Fragestellungen und Phänomene aufgreife, die auch im Zentrum soziologischer Studien stehen: »Baudelaire situe au cœur de son œuvre l’évaluation de la démocratie, le rapport au despotisme et au socialisme. Il convoque ouvriers, dandys et bourgeois; il peint la pauvreté, la solitude, la misère, l’anonymat de la grande ville […]. Ces ›thèmes baudelairiens‹ ne constituent évidemment pas à proprement parler les entrées d’un vocabulaire de la sociologie actuelle. Ils en croisent cependant de nombreuses notions, et leur déploiement constitue une interprétation extraordinairement aiguë et critique de la société moderne, c’est-à-dire d’une société industrielle qui est en train de devenir une société de masse. C’est ce tournant que Baudelaire perçoit, et qu’il déplore et explore« (Coblence 2003: 15). Patrick Labarthe (vgl. 2005/2006: 161-164) stellt unter Berücksichtigung des Publikationskontextes von Baudelaires Assommons les pauvres! Vermutungen an, weshalb es zu der Streichung dieses Satzes gekommen sein könnte. Zu Baudelaires Rezeption der Schriften Proudhons siehe auch Coblence (vgl. 2003: 23).
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sait bien, en molestant cette ›antique carcasse‹, qu’il s’en prend à un autre lui-même, à l’opprimé inerte qui est en lui, c’est-à-dire à celui qui confirme par l’aumône la bonne conscience des repus. (ebd.: 166) Offenbar ist die Verflechtung von Armut und Alterität, welche die vorliegende Untersuchung in ihrer bioökonomischen Lesart von Shumona Sinhas Assommons les pauvres! unter Rückgriff auf Michael Hardt und Antonio Negri vorschlägt, bereits in dem gleichnamigen Prosagedicht Baudelaires angelegt. Anne-Marie Picard liest Baudelaires Assommons les pauvres! des Weiteren als eine »ode to honour and dignity« und konturiert einen sozialen Diskurs, der ihr zufolge seit der Französischen Revolution den Begriff der Würde in Frankreich prägt und diese zur Voraussetzung von Gleichheit erklärt: »[A]ssuming dignity as the precondition to any claim for equality […] is a doxological paradigm well anchored in French social discourse since the Revolution.« (beide Picard 2012: 182) Anschließend zeichnet die Verfasserin eine knappe Genealogie des Konzepts der dignité in der französischen Gesellschaft nach, die sicherlich zur Diskussion gestellt werden kann. Der Grundgedanke erinnert allerdings an Hannah Arendts Erkundung des Freiheitsbegriffs und ihre Überlegungen zum Scheitern der Französischen Revolution in Die Freiheit, frei zu sein. In diesem Text diskutiert Arendt das Konzept Freiheit mittels eines Vergleichs zwischen den Revolutionen Frankreichs und der späteren USA und unterscheidet dabei Freiheit, als die Möglichkeit, am öffentlichen politischen Leben teilzunehmen, von Befreiung im Sinne der Emanzipation von repressiven Zuständen (vgl. Arendt 2018: 15f.). Die Befreiung aus Unterdrückung stellt dabei nach Arendt erst die grundlegende Bedingung für eine eventuelle Freiheit: Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind das Ergebnis von Befreiung, aber sie sind keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den Regierungsgeschäften sind. […] Kompliziert wird es dann, wenn es der Revolution um Befreiung und Freiheit geht, und da Befreiung ja tatsächlich eine Bedingung für Freiheit ist […], ist es schwer, zu entscheiden, wo der Wunsch nach Befreiung, also frei zu sein von Unterdrückung, endet und der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt. (ebd.: 16) Dieser Wunsch nach einem politischen Leben entstand laut Arendt primär bei »Müßiggängern« und »hommes de lettres« also bei jenen, die keinen existenziellen Bedrohungen und Zwängen unterlagen und das Privileg genossen, eine »Leidenschaft für die Freiheit um ihrer selbst Willen« (alle ebd.: 22) entwickeln zu können: Die Männer der ersten Revolutionen wussten zwar sehr wohl, dass Befreiung der Freiheit vorangehen musste, waren sich aber noch nicht der Tatsache bewusst, dass eine solche Befreiung mehr bedeutet als politische Befreiung von absoluter
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und despotischer Macht; dass die Freiheit, frei zu sein, zuallererst bedeutete, nicht von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein. (ebd.: 24) Stark heruntergebrochen muss der Mensch es sich nach Arendt also leisten können, frei zu sein, da Freiheit im Sinne einer politischen Teilhabe erst nach der Befreiung aus existenzieller Not möglich wird. Jene Vorstellung, nach der Würde u.a. verstanden als Abwesenheit von Zwangsund Notlagen, erst Gleichheit, Freiheit und in Konsequenz politische Teilhabe ermöglicht, ist laut Picard (vgl. 2012: 185f.), sich zunächst auf Baudelaires Prosagesicht beziehend, allerdings eine janusköpfige: Einerseits motiviert sie das politische Ideal einer sich durch die universelle Gleichheit und Freiheit aller ihrer Mitglieder auszeichnenden Gesellschaft, welches laut Hardt und Negri (vgl. 2001: 10-21) auch das Empire als Legitimationsargument für seine Ordnung nutzt. Andererseits birgt die Idee einer Verquickung von Würde und Freiheit, wie sie bei Baudelaire behandelt wird, aber das Risiko, dass vom Menschen verlangt wird, er möge sich selbst aus jeglicher Form der Unterdrückung befreien, sodass eine Verurteilung jener stattfindet, denen dies aus eigener Kraft nicht gelingt. Für Patrick Labarthe stellt Baudelaires Assommons les pauvres! insofern u.a. eine ironische Auslotung der Begriffe Gleichheit und Freiheit dar: Ainsi pourrait-on voir dans l’anecdote de ce pugilat didactique le renversement ironique du lieu commun républicain: ›liberté, fraternité, égalité‹. Non pas sa mise en question, mais son renversement. L’égalité et la liberté visées dans cette scène relèvent d’une conception de l’homme qui situe le destin de celui-ci dans une solitude héroïque (Labarthe 2005/2006: 165). Eben diese Ambivalenz verursacht nach Picard die Zerrissenheit der Hauptfigur von Sinhas Assommons les pauvres!. Die Verfasserin glaubt, dass neben den verschiedenen inneren Konflikten der autodiegetischen Erzählerin insbesondere der potenziell schuldzuweisende Beigeschmack der Vorstellung ›Würde = Gleichheit‹ dazu führt, dass die Frau einen Asylbewerber angreift und der Konflikt aus Baudelaires Prosagedicht sich in einen anderen soziokulturellen Kontext verlagert (vgl. Picard 2012: 185f.). Denn obgleich die Protagonistin sich häufig solidarisch zeigt, »Je ne sais plus comment ne pas défendre les hommes de mon ancien sous-continent« (Sinha 2012: 99), wirft sie ihren ehemaligen Landsleuten wiederholt ein würde- und respektloses Auftreten vor (vgl. ebd.: 51f.) und zeigt sich enttäuscht von ihren Lügen (vgl. ebd.: 99, 127-129), obwohl sie weiß, dass die Antragsteller*innen sich aufgrund der Regeln des Dispositivs Asylsystem zum Lügen gezwungen sehen (vgl. ebd.: 43): »[T]he complex blend of political, economic, and social motives for migration in a globalized era do not tend to fit neatly into the categories of individualized and state-led persecution outlined in the Geneva Refugee Convention.« (Sellman 2013: 47) Überdies prangert die Hauptfigur das mangelnde In-
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teresse seitens der bengalischen Eingewanderten an der französischen Kultur und Sprache sowie an einer erfolgreichen Integration an und kritisiert das Verharren der überwiegend männlichen Antragsteller in misogynen und undemokratischen Denkweisen, die von Teilen der Gesellschaft in ihrer Heimat vertreten werden (vgl. Sinha 2012: 122). Wenngleich die Konfrontation in Sinhas Autofiktion also das Resultat vielschichtiger, miteinander verwobener Konflikte zu sein scheint, während bei Baudelaire dialektisch der betuchte Intellektuelle auf den armen Bettler trifft, rekurriert die Protagonistin in ihrem inneren Monolog während des Angriffs auf eine Rechtfertigungsstrategie, die jener des lyrischen Ichs Baudelaires ähnelt: L’agresser devient le meilleur moyen de me défendre. C’est sortir de moi et aller vers l’autre. C’est pire que l’égoïsme. C’est mieux que l’égoïsme. C’est au moins s’intéresser à l’autre. Je vais ainsi vers l’autre, vers lui, l’homme, je vise sa tête, c’est au moins m’intéresser à sa tête, à sa personne, si je ne sais pas l’aimer au moins je le déteste, je ne le néglige pas, je l’agresse, je ne fais pas la fine bouche, je ne joue pas à la petite bourge bien élevée, je réagis, je brûle, je me brûle, je hais, j’agresse (ebd.: 144). Auch wenn der schnelle, stakkatoartige Rhythmus der Passage – erzeugt durch kurze Sätze, parataktische und elliptische Aneinanderreihungen sowie Anaphern – und widersprüchliche Aussagen, »C’est pire que l’égoïsme. C’est mieux que l’égoïsme«, die affekthafte Natur der Attacke und den seelisch instabilen Zustand der Hauptfigur offenlegen, so scheint diese in ihrer Tat eine Art Zuwendung gegenüber dem Mann zu sehen, die sie als humaner erachtet, als einen Menschen und damit dessen Existenz zu ignorieren. Erst in der physischen Auseinandersetzung mit ihrem double (vgl. Labarthe 2005/2006: 166), in der expeausition138 (vgl. Nancy 2000: 31-34) ihrer selbst gegenüber dessen Alterität, erkennt sie letzteren wieder als Individuum und Menschen an und betrachtet ihn nicht länger als Teil einer dehumanisierten Masse bloßen Lebens (vgl. 5.2.1.1, 5.2.2.2). Die Fähigkeit dem Paradoxalen, der Zwiespältigkeit und sogar Verwerflichkeit in unserem Umgang mit dem (verarmten) Anderen Ausdruck zu verleihen, spricht
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Wie Jean-Luc Nancy in Corpus ausführt, ist die Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt und seinem Anderen immer auch eine körperliche: »Le corps est l’être-exposé de l’être.« (Nancy 2000: 32) In diesem Zusammenhang prägt der Philosoph das schwer zu übersetzende Wortspiel expeausition, indem er die zweite Silbe des französischen Worts exposition, im Sinne von ›Ausstellen‹ bzw. ›das sich jemandem oder etwas Aussetzen‹, durch das homophone Wort peau, ›Haut‹, ersetzt. In der deutschen Übersetzung von Nils Hodyas und Timo Obergöker im diaphanes Verlag wird der Begriff in der Kapitelüberschrift »Aushäutung, Exposition« (vgl. Nancy 2014: 36) durch besagten deutschen Begriff ersetzt, im Fließtext operieren die beiden Übersetzer jedoch mit »Exposition« (ebd.: 37).
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Anne-Marie Picard einer Literatur zu, die sich nicht scheut, das Hässliche im Menschen darzustellen und mit dem Topos der Unsagbarkeit zu brechen: Literature, because it lets the monster in, because it does not fear fear and opens its doors to our ghosts, to our paradoxes, is the best place possible to give form and expression to a prevailing hiatus between political bien-pensance (political correctness) and social mistrust vis-à-vis the Other, who does not behave according to doxological rules, those unsaid preconceptions which create the intricacy of the savoir-vivre-ensemble. (Picard 2012: 179) Tatsächlich übt Shumona Sinha sich in der Darstellung eines von Scheinheiligkeit geprägten Umgangs reicherer Gesellschaften mit den armen Fremden dieser Welt nicht in Zurückhaltung: [L]a misère fait peur non seulement aux misérables mais aussi à ceux qui sont bien au chaud. On se tromperait si on pensait que les riches aiment à perpétuer la pauvreté. Eh bien non. Ils préfèrent voir le monde évoluer, ni trop moche, ni trop triste, surtout pas moribond comme un chien abandonné agonisant devant leur porte. Ils se contentent de trouver pour leurs multiples tâches une main-d’œuvre facile et bon marché. C’est juste ce qu’il faut pour qu’ils ne s’avouent pas avoir vendu leur âme au diable. Ils chassent le diable et chassent la misère, loin de leur porte. (Sinha 2012: 117f.) Insofern ergibt sich eine weitere Parallele zu Baudelaires Prosagedicht, das in der Forschung u.a. als »critique of pity and benevolence as the primary means of acknowledging and engaging with the unfortunate other« (Limbu 2018: 86) gelesen wird. Die zitierte Passage aus Sinhas Assommons les pauvres! lässt sich überdies an Hardts und Negris Ausführungen zu der Diskrepanz zwischen den Selbstansprüchen des Empire und seinen realen Auswirkungen anschließen, da die imperiale Logik sich einerseits über moralische Werte wie die Freiheit und Gleichheit aller Menschen legitimiert und andererseits segregierende Mechanismen einsetzt, um bestehende Differenzen auszunutzen und die Regierbarkeit der Menschen nach seinem dreifachen Imperativ »incorporate, differentiate, manage« (Hardt/Negri 2001: 201) zu steigern (vgl. ebd.: 10-21, 190-194, 200f.). Bereits der Titel von Sinhas Autofiktion lässt somit den Gewaltakt erahnen, den die Hauptfigur begehen wird. Obgleich die Umstände ihrer Tat sich anders gestalten als jene in Baudelaires Assommons les pauvres!, scheint die entscheidende Parallele zu dessen Gedicht in dem Konflikt zweier soziokultureller Klassen zu bestehen: zwischen einer gesellschaftlich besser gestellten, intellektuell überlegenen Hauptfigur und einem weniger gebildeten Gegenüber aus einer sozial schwachen Gesellschaftsgruppe (vgl. Picard 2012: 179, 186-188). Die Gewalttat der Erzählerin gegen einen Einwanderer wirkt wie der traurige Höhepunkt einer tiefen Verunsicherung, die aus ihrem zermürbenden Arbeitsalltag, der Konfrontation mit der
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patriarchalischen Weltanschauung vieler männlicher Asylbewerber sowie aus dem problematischen Umgang mit ihrer eigenen Alterität und dem mühsamen Versuch einer transkulturellen Identitätskonstruktion hervorgeht (vgl. 5.4.2.1, 5.4.4.1). Gleichzeitig kann der im Titel von Sinhas Buch angelegte, markante Verweis auf Baudelaires Assommons les pauvres! als Vorschlag einer Lesart gedeutet werden: Der Zynismus des Intellektuellen, der dem Bettler in Baudelaires Prosagedicht durch Gewalt seine Würde zurückgeben will, scheint in Sinhas Text sein Pendant in einem wiederholt kritisierten Asylsystem zu finden, in dessen Logik Armut, Hunger und damit ein menschenunwürdiges Leben nicht Grund genug sind, auf legalem Wege nach Europa auszuwandern (vgl. Sinha 2012: 11, 39-43, 53, 75, 136f.). Insofern ist nicht auszuschließen, dass Shumona Sinhas Autofiktion mit ihrer oftmals beinahe gewaltvollen Sprache (vgl. 5.2.1.1, 5.2.2.2) und dem schockierenden Ende zu einer Sensibilisierung hinsichtlich der biopolitischen Verwaltung des Lebens im Rahmen europäischer Migrationsdispositive und der durch deren Strukturen geförderten Überlagerung von Armut und Fremdheit beitragen kann. Dabei setzt Sinhas Narration in ihrer Darstellung von Alterität und Armut auf einen ambivalenten und ungeschönten Stil, der die Legitimität eines primär sentimentalen Duktus in Narrativen von Leid und Migration zu hinterfragen (vgl. Limbu 2018: 85, 87f.) und im Sinne der Theorie der Autonomie der Migration (vgl. Hardt/ Negri 2001: 210-218, Moulier Boutang 2007: 169-178) die bloße Viktimisierung von Migrant*innen zugunsten einer komplexeren Perspektive auszuschlagen scheint: »While the affective coding of refugees in sentimental stories may help to ›humanize‹ them, it also reduces them to subjects of feeling rather than reflection and reason.« (Limbu 2018: 88) Sind die Armen schließlich bei Hardt und Negri (vgl. 2005: 129-138) eine entschieden produktive Figur, die als Multitude ein nicht zu unterschätzendes Widerstandspotenzial besitzt, so kann Sinhas Text als Beispiel für die Fähigkeit von Literatur gelten, ein differenzierteres Bild zu zeichnen und über rein theoretische Ausführungen hinauszugehen. In Assommons les pauvres!, ebenso wie in den weiteren im Rahmen dieser Studie untersuchten Werken, ist nämlich das produktive Potenzial, das Hardt und Negri der Armut in ihrer zuweilen allzu binären Konzeption von Biopolitik (vgl. Lemke 2011: 122f., Gorgoglione 2016: 176f.) zuschreiben, nur indirekt erkennbar: Zwar hat das arme, migrantische Leben in den Korpustexten eine hinterfragende Dimension, da es die sozialen, politischen und ökonomischen Systeme sowie die moralisch-ethischen Wertekataloge der dargestellten Gesellschaften in ihrer Legitimität und Gültigkeit herausfordert. Auf der konkreten Ebene der Figuren führt dies jedoch nicht zu einer Verbesserung der individuellen Lebensumstände. Wo Hardt und Negri in teils beinahe utopisch wirkenden Perspektiven Macht und Widerständigkeit der Multitude und damit auch der Armen ausloten (vgl. Braidotti 2007: 49, 51, Schultz 2011: 130f., Gorgoglione 2016: 166), scheint die hier untersuchte Literatur auf eine ausdrücklich nicht enga-
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gierte Art und Weise Stellung zu beziehen, indem sie sich einer ungeschönten und in Sinhas Fall mitunter gar dystopischen Darstellung nicht verwehrt.
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Alterität und Sexualität: Die Definition des Anderen über biopolitisch ausgerichtete Normen Die Verflechtung von Fremdheit und Sexualität
Neben der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Relationalität von Alterität und Armut ist in einigen Korpuswerken ein ebenfalls biopolitisch auslegbarer Zusammenhang zwischen Alterität und Sexualität erkennbar, der wiederum insbesondere in Shumona Sinhas Autofiktion sowie in Tahar Ben Jellouns Partir thematisiert wird. Biopolitisch erwirkte, gesellschaftliche Normen (vgl. Foucault 1976) der vermeintlichen Überlegenheit des männlichen Geschlechts und der angeblichen Devianz aller sexueller Orientierungen jenseits der Heteronormativität führen in einer Überschneidung von Migrations- und Sexualitätsdispositiv in beiden Texten zu einer gefühlten oder tatsächlichen doppelten Marginalisierung der Hauptfiguren in ihrer Heimat und/oder der Aufnahmegesellschaft. Wie bereits festgehalten wurde, überlagern sich in Sinhas Assommons les pauvres! verschiedene Dimensionen von Alterität, die sich gegenseitig potenzieren und die Protagonistin gegen Ende der Handlung in eine Art Wahnzustand versetzen. Dabei scheint eine Wechselwirkung zwischen ihrer an früherer Stelle herausgearbeiteten Fremdheit als Migrantin in Frankreich sowie der Entfremdung von ihren Landsleuten durch die Arbeit im OFPRA einerseits und der Suche der Hauptfigur nach einem selbstbewussten Umgang mit ihrer Weiblichkeit und Sexualität andererseits zu bestehen. Die Erzählerin gibt sich selbstbewusst feminin, kleidet sich gerne weiblich (vgl. Sinha 2012: 124) und führt einen freiheitlichen Lebensstil mit wechselnden Liebschaften (vgl. ebd.: 17, 71, 87-92). Sie hat sich in der demokratischliberalen Gesellschaft Frankreichs eingelebt und viele der in ihrer indischen Heimat verbreiteten, genderspezifischen Normen und Wertevorstellungen abgelegt. Sie hebt sich somit nicht nur, wie im vorigen Kapitel erwähnt, sozial, wirtschaftlich und intellektuell, sondern vor allem auch ideell von den hauptsächlich männlichen Asylantragstellern ab, sodass in ihren Begegnungen grundverschiedene Ansichten aufeinandertreffen: Ils avaient le droit de critiquer mon travail puisque aucune femme digne de ce nom ne travaille. Aucune femme qu’ils reconnaissaient de près ou de loin comme une voisine du village ne descendait aussi bas pour s’exposer au monde, s’obliger à gagner sa vie toute seule, comme s’il n’y avait plus d’hommes sur la terre! Et de surcroît n’osait les interroger eux, les hommes. Dans le bon vieux temps […] ils auraient donné une taloche à la femme qui leur aurait parlé la tête haute, voix élevée, aurait fouiné dans leurs secrets, prétendu les mettre face à leurs propos
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erronés, contradictoires. Ce qui était absurde, c’était qu’une femme les interroge et qu’eux, les hommes, lui répondent. (ebd.: 27) Neben dieser Abwertung ihrer Person aufgrund ihres Geschlechts sieht sich die Hauptfigur allerdings auch wiederholt dem Begehren der Männer ausgesetzt, deren Geschichten sie übersetzt (vgl. ebd.: 84). Die Gespräche im OFPRA scheinen sich für die junge Frau wie eine ständige Konfrontation der Geschlechter anzufühlen, weswegen sie sich zunehmend mit den meist weiblichen Sachbearbeiterinnen der Behörde soldarisiert: Tous ces hommes me faisaient honte. Et sans le savoir je m’inclinais de plus en plus vers ces officiers femmes qui représentaient la loi, la droiture, l’autorité. J’étais passé de l’autre côté. […] Peut-être que j’ai agressé l’homme car devant Lucia et d’autres officiers, devant nous les femmes, l’homme et ses semblables étaient presque une injure, une erreur, un accident. A mes yeux, leur misère ne justifiait pas leur maladresse et leurs mensonges, leur agressivité et leur mesquinerie. (ebd.: 51f.) Die Geschichten der wenigen weiblichen Asylsuchenden, die oft von einer unerträglichen Gewalt gegen Frauen zeugen (vgl. ebd.: 63, 125-127), erschüttern die Protagonistin nachhaltig und scheinen sie in ihrem Misstrauen gegenüber den männlichen Antragstellern zu bestärken, obwohl sie feststellen muss, dass auch die Geschichten der Frauen in der Hoffnung auf ein Bleiberecht mutmaßlich teils frei erfunden sind (vgl. ebd.: 127f.). Ihrer Abneigung gegenüber den männlichen Migranten verleiht die Erzählerin immer wieder durch eine in ihrer Drastik beinahe gewaltvolle Sprache Ausdruck, von der an dieser Stelle nur ein Auszug zitiert sei, der ihre Zerrissenheit zwischen Anteilnahme und Abgrenzung beispielhaft vorführt: Dresser une haute muraille entre ce défilé sans fin d’hommes et moi. Les hommes diminués, des nains, anéantis par la peur, ou encore, par l’espoir, réduits aux numéros d’appel et de dossier, des hommes qui avaient payé trop cher leur désir d’horizon blanc, leur rêve européen. Des hommes rabougris, difformes, borgnes, entassés les uns sur les autres dans les sous-sols, qui poussaient pendant la nuit, s’enracinaient dans une terre qu’ils n’aimaient pas, mais qu’ils désiraient. (ebd.: 28) Auch der Angriff auf einen Asylsuchenden in der Metro scheint u.a. auf dieses Unbehagen gegenüber den männlichen Migranten zurückzugehen, da die Protagonistin sich sofort von dem Mann bedrängt fühlt, als dieser sie anspricht, und seine Kontaktaufnahme als »un de ces assauts« (ebd.: 132) bezeichnet. Diese Lesart wird durch einen intertextuellen Verweis bekräftigt, denn Assommons les pauvres! stellt in einer Art Mise en abyme einen Bezug zu Atiq Rahimis Syngué Sabour. Pierre de pa-
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tience (2008) her, das ebenfalls in einer gewaltvollen Auseinandersetzung zwischen einer weiblichen Hauptfigur und einem Mann gipfelt.139 In Sinhas Autofiktion liest die Protagonistin jenes Buch und folgt einer hitzigen Diskussion zwischen einigen ihrer Übersetzerkollegen, die Rahimi vorwerfen, für den Westen zu schreiben und ihre Heimat sowie ihre Kultur falsch und eurozentrisch darzustellen (vgl. Sinha 2012: 110, 112f.). Der Intertext kann somit als »forme de réflexion sur la violence féminine« (Zimmermann 2015: 93) gedeutet werden, welche die genderbasierte Dimension der Gewalttat von Sinhas autodiegetischer Erzählerin hervorhebt.140 Mit dem intertextuellen Verweis auf Rahimis Roman ereignet sich also eine mehrfache Spiegelung jenes gewaltvollen Gestus, bei dem Menschen unvermittelt physisch aneinandergeraten. Dabei werden textuelle Schwellen durchbrochen, da die Referenz über die Grenzen zwischen Extraliterarizität und Intraliterarizität sowie zwischen Text und Paratext hinweg erfolgt, indem der Verweis auf Baudelaires Prosagedicht sich in direkter Form zunächst im Titel und somit im Paratext des Buchs befindet und dessen Handlung daraufhin in der Diegese durch die Hauptfigur abgewandelt reproduziert wird. Der Intertext mit Rahimi ereignet sich dagegen zwar ausschließlich intradiegetisch, doch sein Roman existiert in der extraliterarischen Wirklichkeit der Leser*innen und könnte ihnen aufgrund der Auszeichnung mit dem Prix Goncourt ein Begriff sein. Außerdem steht der Verweis auf Rahimi sowohl in einer intertextuellen Relation mit besagter Gewalttat der Protagonistin als auch mit dem im Paratext befindlichen Titel von Sinhas Autofiktion, der auf Baudelaires Prosagedicht zurückgeht. Diese Form der grenzüberschreitenden Intertextualität bricht literarische Ebenen auf und gibt dem Text eine heterogene und fragmentierte Form, welche die Brüche in der Identität der Erzählerin sowie ihre transgressive, die Grenzen der Moral überschreitende Tat formal zu potenzieren scheint. Es stellt sich außerdem die Frage, inwiefern Sinhas Hauptfigur durch die Lektüre von Syngué Sabour. Pierre de patience beeinflusst wurde und jenen 139
In dem 2008 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman (vgl. Académie Goncourt 2021) findet eine in ihrer Gesellschaft und Ehe unterdrückte Frau gegenüber ihrem durch eine Kriegsverletzung im Koma liegenden Mann endlich den Mut, ihr alles erduldendes Schweigen zu brechen und sich verbal wie physisch an ihm zu rächen (vgl. Rahimi 2008: 85f., Roth 2012: 197-199). Der Mann wird zu ihrer »syngué sabour, pierre de patience« (Rahimi 2008: 90), einem magischen Stein, auf den sie all ihr Leid und ihren Schmerz übertragen kann, um sich davon zu befreien, bis der Stein irgendwann zerspringt (vgl. ebd.: 86-91). Zu dieser Explosion kommt es, als der Mann aufwacht. Gleich nach dem Erwachen greift er seine Frau äußerst brutal an, weshalb diese versucht, ihn mit einem Messer zu erstechen und dabei selbst schwer verletzt wird (vgl. ebd.: 153-155). Das Ende von Rahimis Roman bleibt offen und lässt die Leserschaft im Unklaren darüber, ob und welche der beiden Figuren den Kampf überlebt. Diese Tatsache untersucht Nesrine Nagla (vgl. 2020), indem sie verschiedene mögliche Interpretationen aufzeigt. 140 Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in Rahimis Syngué sabour. Pierre de patience untersucht u.a. Leah Roth (vgl. 2012).
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Gewaltakt gegen einen Mann, von dem sie zuvor gelesen hatte, bewusst oder unbewusst nachahmt. Sprache und Literatur haben für die Protagonistin einen hohen Stellenwert und die Rezeption frankophoner Texte hat sogar ihr Exil motiviert, wie sie im Gespräch mit Monsieur K. zu erklären versucht (vgl. Sinha 2012: 15). Es ist somit nicht auszuschließen, dass die Lektüre von Rahimis Roman ihre Tat in gewisser Weise begünstigt hat, ebenso wie Baudelaires lyrisches Ich in Assommons les pauvres! unter dem Eindruck eines intensiven Studiums sozialistischer Schriften steht, als es den alten Bettler angreift, um diesen an seine Menschenwürde zu erinnern (vgl. Baudelaire 1962: 214f).141 In ihrem Kern scheint die zwiegespaltene Haltung der Protagonistin gegenüber den meist männlichen Asylsuchenden allerdings weder auf den erwähnten sozialen, juristischen und ökonomischen Differenzen noch auf ihrem Geschlecht zu basieren, sondern vielmehr auf die Tatsache zurückzugehen, dass Fremderfahrung immer auch Selbsterfahrung ist: Fremderfahrung besagt also nicht nur, daß uns Fremdes begegnet; Fremderfahrung gipfelt in einem Fremdwerden der Erfahrung selbst. […] Ich bin mir fremd, indem ich von Fremdem heimgesucht werde, auf Fremdes eingehe und darauf antworte. […] Es ist hinzuzufügen, daß die Fremdheit, die uns im Anderen begegnet, um so tiefere Spuren bei uns hinterläßt, je mehr dieses Fremde an verkannte, verdrängte, geopferte Eigenheiten rührt. (Waldenfels 2006: 120) Die Begegnungen mit den Asylantragstellern aus ihrer Heimat halten der Erzählerin tagtäglich ihre eigene, unhintergehbare Alterität vor (vgl. Hahn 1992: 54, 59f.) und entlarven sie als Fremde, in einem Land, das sie gerne ihr zu Hause nennen würde. So ertappt sie sich mehrfach dabei, sich in der Hautfarbe der Migranten wiederzuerkennen und schämt sich sowohl für die Ähnlichkeit zwischen ihnen als auch für die leicht unterschiedlichen Farbnuancen ihrer Haut. Erneut fühlt sie sich nirgends zugehörig. Ihre Haut ist dunkler als die der europäischen officiers de protection und heller als jene der Asylsuchenden, die in Indien häufig in landwirtschaftlichen Tätigkeiten (vgl. Sinha 2012: 72, 61f.) der Sonne ausgesetzt waren: »J’ai remarqué malgré moi ma peau chocolatée tout près d’une peau couleur d’argile. Je n’ai pu m’empêcher de les comparer. La ressemblance me mettait mal à l’aise. La différence de nuance me mettait mal à l’aise. En fin de compte, je ne parvenais pas à être à l’aise avec ces hommes.« (ebd.: 63)
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Insofern vollzieht Sinhas Werk über besagte Intertexte mit Rahimi und Baudelaire eine selbstreflexive Auslotung des Verhältnisses von Literatur und extraliterarischer Wirklichkeit, die sich an Tahar Ben Jellouns Verweise auf Don Quijote und Madame Bovary in Partir anschließen lässt (vgl. 5.4.2.2), denn sowohl Sinhas Hauptfigur und Baudelaires lyrisches Ich als auch Don Quijote und Emma Bovary werden durch das Lesen in ihrem Bezug zur Realität beeinflusst.
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Das Unwohlsein, das Sinhas Hauptfigur in der Präsenz dieser men of colour während ihrer Arbeit empfindet, versucht sie durch wechselnde Liebschaften mit weißen Männern zu vergessen. In der sexuellen Interaktion der Körper empfindet sie ihre dunkle Haut zunächst nicht mehr als hemmenden Ausdruck ihrer Fremdheit, sondern genießt ihre Differenz: »C’était la fin des mots et le début des corps. J’aimais voir ma peau érafler leur peau comme un rayon noir sur un papier blanc.« (ebd.: 87) Die auffällige Wortwahl des Verbs érafler, zu Deutsch ›zerkratzen‹, sowie der Vergleich mit Bleistift und Papier, um den Körperkontakt zwischen der Erzählerin und ihren Liebhabern zu beschreiben, lassen darauf schließen, dass die Affären für sie mehr als nur den Versuch der Befriedigung körperlicher Verlangen bedeuten. Vielmehr scheint die Protagonistin auf den Körpern ihrer ausschließlich weißen Sexualpartner (vgl. ebd.: 71) Spuren hinterlassen, deren vermeintliche weiße ›Reinheit‹ irreversibel prägen und somit dekonstruieren zu wollen. In dem Kontakt der sich aneinander (auf)reibenden Körper scheint sie nach einer Möglichkeit zu suchen, sich in den Leib des Anderen einzuschreiben, sich seiner zu bemächtigen und somit ihre als störend empfundene Differenz zu reduzieren. Geht man nun mit Aleida Assmann (vgl. 2010 [1999]: 153) davon aus, dass Schreibmetaphern geschlechterspezifisch konnotiert sind, so deutet sich in dieser Passage eine Rollenverschiebung an, die nur wenige Seiten später konkret umgesetzt wird. Gelten Schreibgeräte wie der Stift nach Assmann traditionell als männlich und die Schriftunterlagen, etwa das unbeschriebene weiße Blatt Papier, als jungfräulich weiblich, so vollzieht Sinhas Erzählerin mit ihrem Bild eine Umkehrung dieser Rollen. Sie ist der sinnbildliche Bleistift, der Spuren auf der metaphorisch jungfräulichen, weißen Haut der Männer hinterlässt. In der Episode, in der die Hauptfigur diesen Vergleich anstellt, findet anschließend tatsächlich ein physischer Rollentausch statt, indem sie, mit Hilfe eines künstlichen Glieds, ihren Liebhaber auf dessen Wunsch hin penetriert (vgl. Sinha 2012: 90f.). Zunächst empfindet die junge Frau diese Inversion der männlichen Dominanz, die Umwälzung jener Machtstrukturen, die in ihren Augen insbesondere die männlichen Asylsuchenden verkörpern, als aufregende Abwechslung, sowie als persönliche »quête existentielle« (ebd.: 90), doch schnell wird die ungewohnte sexuelle Praktik zu einer bizarren außerkörperlichen Erfahrung, zu einer Entfremdung und Dekonstruktion ihres weiblichen Selbst142 : Ce n’est ni de l’amour ni de la haine, mais un trop-plein. À chacun de mes coups de reins j’annule l’instant précédent, j’annule les instants précédents, je m’annule 142 Bereits zu Beginn der geschilderten Episode werden Sex und insbesondere der Akt der Penetration als eine Form der gewaltvollen Aneignung des Anderen beschrieben (vgl. Sinha 2012: 88f.). Die Assoziation von Sex und Gewalt ist ein wiederkehrendes Motiv in Sinhas Werk und wird u.a. bereits in dem früheren Roman Fenêtre sur l’abîme (2008) thematisiert (vgl. Zimmermann 2015: 92f.).
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moi-même. Ce que j’étais autrefois. Avec un autre homme. Ce que je ne serai plus, jamais. […] Je m’annule à chaque fois que je vais à la rencontre des hommes de cette ville. C’est mon nihilisme à moi. Le néant est un somptueux festival. (ebd.: 91) Die körperlichen Beziehungen stellen für die Protagonistin eine Flucht aus dem beruflichen Alltag dar, der ihr körperlich und psychisch zusetzt (vgl. ebd.: 36f., 43, 81). Sie flieht vor der ständig angespannten Atmosphäre, ihrem persönlichen Schwanken zwischen Mitleid und Abneigung und der fortwährenden Auseinandersetzung mit ihrer doppelten Alterität. Doch gerade letzterer kann sie nicht entkommen, sondern sieht sich durch die weißen Körper ihrer Sexualpartner ganz im Sinne von Nancys expeausition (vgl. Nancy 2000: 31-34, Kapitel 5.4.3) mit ihrer eigenen Fremdheit physisch konfrontiert und scheint sich während des Aktes zu verlieren. Meist fingiert sie ihr Begehren während dieser Begegnungen und zieht aus ihnen keine Befriedigung, sondern lediglich eine kurzweilige Ablenkung von ihren inneren Konflikten – eine, wie sie selbst sagt, nihilistische Ausklammerung ihrer selbst, durch die triebhafte Hingabe (vgl. Sinha 2012: 88-91). Diese Erfahrung der Entfremdung mag teilweise darin begründet liegen, dass die Erzählerin auch im Hinblick auf ihre sexuelle Identität nicht in binäre Schemata eingeordnet werden kann, da sie sich auch und vielleicht sogar vorrangig zu Frauen hingezogen fühlt. Für ihre Kollegin Lucia entwickelt sie ein beinahe obsessives Begehren, das jedoch vordergründig auf eine Art Projektion ihres eigenen Wunsches nach Akzeptanz durch die Aufnahmegesellschaft zurückzugehen scheint. Die Protagonistin denkt häufig an ihre Kollegin, sucht auf der Arbeit ihre Nähe, beobachtet sie insgeheim und versucht den Mut aufzubringen, Lucia um eine Verabredung außerhalb der Arbeit zu bitten (vgl. ebd.: 36, 51). Sie schämt sich allerdings für ihre Gefühle und lenkt sich erneut mit den, wie sie sagt, ›weißen Männern der Stadt‹ ab (vgl. ebd.: 71). Als die Spannung zwischen den beiden Frauen allzu offensichtlich wird, beginnen sie, sich zu meiden und sich den männlichen Kollegen in der Behörde zuzuwenden, wobei die Erzählerin dieses Verhalten offenbar als ein Spiel betrachtet, mit dem sie Lucia eifersüchtig machen und ihr Interesse wecken will (vgl. ebd.: 83). Trotz dieses Verhaltens ist es schwierig einzuschätzen, inwiefern das Begehren der Hauptfigur für Lucia tatsächlich auf einer homosexuellen Neigung beruht. Sie stellt selbst fest, dass die Kollegin keine »promesse érotique« (ebd.: 36) sei, sondern spricht eher von einem »envoûtement« (ebd.: 71), einem Zustand des Verzaubert-Seins, und später auch von Liebe (vgl. ebd.: 139). Frappierend ist aber, dass die Protagonistin Lucia, gemäß der Bedeutung ihres sich vom lateinischen lux (vgl. Pons, s.v. lux) ableitenden Namens, unaufhörlich mit einer Semantik assoziiert, welche um die Wortfelder ›Licht‹ und ›Reinheit‹ kreist. Lucia wird beschrieben als »fontaine de lumière«, »cime enneigée poudrée de lueur rose« (beide Sinha 2012: 36), »lumineuse, laiteuse«, sowie als eine »beauté agressive«, umgeben von einem »halo« (alle ebd.: 66), einem ›Lichthof‹ (vgl. Pons, s.v. halo). Lucia ist russischer Her-
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kunft, geboren auf Martinique, wird aber primär als Französin wahrgenommen, was die Hauptfigur maßgeblich auf ihre helle Haut und blauen Augen zurückführt. Sie stellt fest, dass Lucia mehrere Kontinente in sich vereint (vgl. Sinha 2012: 74) und dennoch die selbstbewusste, vollständig akzeptierte Französin ist, welche die Erzählerin gerne wäre (vgl. ebd.: 51, 66). Die Anziehungskraft Lucias scheint somit zuvorderst auf dem Wunsch der Protagonistin zu beruhen, ungeachtet ihrer Herkunft als vollwertiges Mitglied der Aufnahmegesellschaft anerkannt zu werden: »The autofictional subject thus expresses the longing for a new image of herself: An Ego-Ideal with the beautiful name of Lucia. […] Lucia is the enlightened, idealized French woman she wants to be« (Picard 2012: 193). Nichtsdestotrotz spricht die junge Frau auch von Liebe und stellt sich eine Beziehung zu Lucia als vollkommene, aber unerreichbare Erfüllung vor: »Lucia était pour moi une promesse de paix, une promesse d’apaisement. Comme si un jour c’en serait fini de mes errances et que je m’abandonnerais à elle de la même façon qu’on revient à son pays natal. C’est-àdire jamais.« (Sinha 2012: 91) Lucia erscheint der Hauptfigur als mögliche Heimat, in die sie sich flüchten kann, als Antwort auf ihre diversen Probleme und Konflikte. Die folgende Passage gegen Ende des Textes lässt allerdings darauf schließen, dass ihre Obsession für die schöne Kollegin vorrangig in ihrem Bedürfnis, ihre eigene Alterität auszulöschen, sowie in ihrer immer wieder auftretenden Abneigung gegenüber Männern begründet liegt: Et je pensais à Lucia. […] Comme à une promesse, comme au mot de passe d’un compte secret, comme à la clé d’une boîte à trésor. Lucia ne m’aurait pas pénétrée, Lucia n’aurait pas envahi mon espace, elle aurait à peine effleuré mes frontières, les bordures de mes lèvres, elle m’aurait laissé intacte. Elle vivrait cet amour avec moi sans m’altérer, sans m’éloigner de moi-même. L’aimer serait me regarder dans un miroir, embrasser le reflet. Si on m’avait laissé le faire. (ebd.: 139) Während die Hauptfigur, wie bereits ausgeführt, ihre Erfahrungen mit Männern als Entfremdung und Verlust ihrer selbst empfindet und gerade die körperliche Interaktion mit ihnen mit einem teils schonungslosen Vokabular beschreibt (vgl. ebd.: 89), erhofft sie sich von Lucia offenbar eine feminine Sanftheit sowie den Respekt ihrer Grenzen. Gleichzeitig schwingt in diesem Auszug der Wunsch nach uneingeschränkter Akzeptanz mit und das verwendete Motiv des Spiegels drückt auf sehr explizite Art und Weise aus, dass Lucia für die Protagonistin eine Projektionsfläche darstellt, auf der ihre Fremdheit verschwinden könnte, wovon sie sich auch Selbstliebe erhofft. Die Verschränkung von Alterität und Sexualität wird also in Sinhas Assommons les pauvres! mittels der konfliktgeladenen Beziehung der Hauptfigur zu den Asylantragstellern aus ihrer Heimat sowie über ihre wechselnden, unbefriedigenden und entfremdenden sexuellen Erfahrungen mit weißen Männern thematisiert und scheint schließlich in der Figur der Lucia eine fiktionale Verkörperung zu finden.
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5.4.4.2
Homosexualität als das ultimative Andere
Ebenso wie in Sinhas Assommons les pauvres! werden auch in Tahar Ben Jellouns Partir Sexualität und Körperlichkeit als (vermeintliche) Ausdrücke von Alterität thematisiert. Durch das sujetbildende Handlungselement des Romans, die Beziehung zwischen Miguel und Azel, kommt es in Partir ebenfalls zu einer Überlagerung des Sexualitäts- und des Migrationsdispositivs: Wechselwirkungen zwischen der biopolitischen Normierung von Sexualität und der Immunisierung Europas gegen Migrationsbewegungen aus Nordafrika führen dazu, dass der junge Protagonist eine Beziehung zu einem Spanier eingeht, obwohl er sich nicht als homosexuell begreift. Hierdurch wird er in seiner marokkanischen Heimat Opfer von Polizeigewalt und ist als notgedrungen homosexueller Migrant in Europa einer (gefühlten) doppelten Entfremdung ausgesetzt. Der Roman legt dabei zunächst einen Fokus auf (männliche) Homosexualität und deren Abwertung in der marokkanischen Gesellschaft, was sich u.a. in der Häufung des Worts »zamel« (Ben Jelloun 2007: 20, 23, 63, 68, 69, 165, 166) niederschlägt. Der stark pejorative Begriff bezeichnet in Marokko einen im Geschlechtsakt passiven Homosexuellen, der penetriert wird und infolgedessen angeblich seine Männlichkeit und damit jegliche Form der Macht einbüßt: »[H]omosexuality becomes manifest as a question of power, of being ›active‹ versus ›passive‹, with the passive partner being the individual branded as deviant.« (Idrissi Alami 2013: 12) Homosexualität ist in Marokko gesetzlich wie religiös verboten (vgl. ebd.: 12) und wird gesellschaftlich geächtet: »Homosexuality in Morocco has two other H’s to contend with: Hchouma (shame) and Haram (sin).« (Grotti/Daïf zit.n. ebd.: 16) Die Verunglimpfung und Kriminalisierung dieser sexuellen Orientierung können gemeinsam mit den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen143 in Partir als biopolitische Regierungsformen gelesen werden, die diskursiv zu der Aufrechterhaltung der Norm des heterosexuellen Mannes beitragen. Nicht umsonst steht das Sexualitätsdispositiv anfangs im Zentrum von Michel Foucaults Studien zur biopolitischen Verwaltung des Lebens, denn in ihm kreuzen sich die Mikro- und die Makroebene der Biopolitik, sprich die Disziplinierung des einzelnen und die Regierung des kollektiven Lebens (vgl. Foucault 1976: 152-162). In Ben Jellouns Text werden derart die heterosexuelle Ehe und das traditionelle Familienmodell als ideale Lebensentwürfe symbolisch aufgeladen und gestärkt, wodurch vermutlich das demografische Wachstum der Bevölkerung gesichert und ein möglichst homogenes und insofern konfliktarmes, gesellschaftliches Wertesystem gefördert werden sollen. Beides leistet einen Beitrag zu Stabilität und Regierbarkeit der Population. Hier offenbart sich nunmehr die der Biopolitik inhärente Ambivalenz, denn die beschriebenen Mechanismen gehen mit einer massiven Einschränkung des Lebens 143
Die am 1. Juli 2011 per Referendum eingeführte neue Verfassung Marokkos enthält erstmals einen Artikel, der die Geschlechter in allen Bereichen gleichstellt (vgl. Böttiger 2018).
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im Hinblick auf die individuelle Freiheit und gleichzeitig mit einer Förderung der Entstehung neuen Lebens einher (vgl. Foucault 2004b: 63-67): »Das letzte Ziel der Macht, auch der liberalen Macht, ist nicht die Freiheit des Individuums, sondern die Aufrechterhaltung und Steigerung der Organisationsformen einer lebendigen Bevölkerung.« (Muhle 2013: 259) Sami, ein Bekannter Azels, scheint diesen Gegensatz zu verkörpern und die Konsequenzen der widersprüchlichen Regulierung des Lebens zu tragen. Er gehört zu den Männern, mit denen Azel in seiner frühen Jugend erste homosexuelle Erfahrungen gemacht hat und obgleich Sami inzwischen mit einer Frau verheiratet und Vater zweier Kinder ist, wird ihm ein Doppelleben einschließlich Beziehungen zu Männern nachgesagt (vgl. Ben Jelloun 2007: 166). Sami ist jedoch bei weitem nicht der einzige Mann in Partir, der seine Homosexualität insgeheim auslebt (vgl. ebd.: 83f., 165f.) und obwohl manche sogar darüber sprechen, möchte doch niemand zugeben, ›der zamel zu sein‹, da paradoxerweise alle darin übereinstimmen, dass dies »[l]a honte suprême« (ebd.: 23) darstellen würde. Als Azel von seinem Cousin Abdeslam gefragt wird, wie seine körperliche Beziehung zu Miguel sich konkret gestaltet, entgegnet dieser entrüstet: »Je suis un homme, pas un zamel!« (ebd.: 165) Abdeslam, der selbst angibt, bisexuell zu sein, stimmt Azel zu, sagt aber später: »Les choses ne sont pas toujours simples. Chez nous, le zamel c’est l’autre, le touriste européen, c’est jamais le Marocain, tout se passe dans le silence« (ebd.: 166). Azels Cousin entlarvt eine gesellschaftliche Scheinheiligkeit, die er aber selbst praktiziert, indem er seine sexuelle Orientierung geheim hält und Azel bittet, mit niemandem darüber zu sprechen. Er stellt fest, dass Homosexualität im öffentlichen Diskurs Marokkos mit einem othering-Prozess einhergeht, da nur der Andere, etwa der Europäer, der zamel sein kann, womit diesem seine Männlichkeit abgesprochen wird und eine Art Entmachtung stattfindet. Es erfolgen somit erneut jene Demaskulinisierung und Degradierung von Homosexualität, die Ania Loomba als vormalige Legitimationsstrategien der europäischen Kolonisatoren einordnet (vgl. Loomba 2015: 154, Kapitel 5.4.1.2). Zahlreiche weitere Textstellen belegen, dass der passive Homosexuelle in Partir als unmännlich und deviant angesehen wird. Als Kenza zu Beginn der Handlung ihren Bruder zu einem Fest auf Miguels Anwesen begleitet, wird der ledigen jungen Frau ein vermeintlich heterosexueller Mann vorgestellt. Als sie diesen fragt, warum er an der Feier teilnehme, antwortet er allerdings: »Je suis là parce que j’aime me taper de temps en temps le cul d’un bon chrétien! Voilà, comme ça tu es informée!« (Ben Jelloun 2007: 83f.) Abgesehen von dem vulgären Ausdruck des Mannes ist auffällig, dass auch hier der passive Part des Geschlechtsakts dem Anderen, in diesem Fall dem Christen,144 zugeschrieben wird. Inwiefern der othering-Prozess 144 An der Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch in anderen Episoden des Romans in einer Überlagerung von Religion und Kultur die marokkanische kulturelle Identität als muslimisch
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und die Demaskulinisierung bzw. Feminisierung der Figur des zamel mit der Ausübung von Macht in Verbindung stehen, zeigt sich besonders frappierend in der brutalen Vergewaltigung Azels durch zwei Polizisten (vgl. 5.1.1.1), die nur ein Beispiel für die vielfältigen Zusammenhänge von Sexualität und Macht in Tahar Ben Jellouns Roman ist: The depiction of Azel’s sodomization by two Moroccan cops is framed within a larger socio-cultural presentation of the role of gender and sexuality in two disparate contexts, Morocco and Spain respectively. […] Moroccans’ approach to questions of sexuality and gender is strongly marked by an entrenched patriarchal order of values that subscribes to male/female categories of classification and which reflects structures of power and domination by the masculine and subjugation and submission of the feminine. Azel’s involvement with Miguel is viewed by the two cops as transgressive, and thus he can be seen as a person who challenges the traditional male/female categories that organize social life. Therefore, in the language of rape, Azel becomes associated with the passive male, the zamel, and deserves to be rejected through a violent process of abjection of the male turned feminine. (Idrissi Alami 2013: 14f.) Während der Tat nennen die Polizisten Azel wiederholt »zamel« (Ben Jelloun 2007: 68f.) und sprechen ihm als vermeintlich passiven Homosexuellen seine Männlichkeit ab: T’es mignon, tu sais, dis-nous, zamel, c’est lui qui te baise ou c’est toi qui le baises? J’ai toujours voulu savoir qui est passif et qui est actif dans ces couples de tordus. […] [T]iens, prends, salope, putain, oui, c’est comme ça que tu fais avec le chrétien, […] tu pleures, comme une fille tu pleures, […] t’as le cul d’une jeune fille, même pas de poils (ebd.: 68f.). Aufgrund seiner angenommenen sexuellen Orientierung entspricht Azel nicht der u.a. durch die Gesetzgebung biopolitisch geförderten, gesellschaftlichen Norm des heterosexuellen Mannes und ist daher einer von den Polizisten als legitim erachteten Bestrafung ausgesetzt. Die politische Verwaltung des Lebens in Form der Kriminalisierung von Homosexualität führt zu einer Herabstufung Azels, der als angeblicher Straftäter aus der gesetzestreuen, politisch qualifizierten Gemeinschaft ausgeschlossen und infolgedessen seiner Menschenrechte beraubt wird. Paradoxerweise scheinen die Polizisten allerdings ihr eigenes Handeln, die Vergewaltigung Azels, ausschließlich als Form der maskulinen Machtausübung, jedoch nicht als erzwungenen homosexuellen Geschlechtsakt zu betrachten:
definiert und gegenüber der christlich-europäischen Kultur abgegrenzt wird (vgl. Ben Jelloun 2007: 69, 75, 79, 95, 113-115, 197).
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As is the case in several of Tahar Ben Jelloun’s novels that emphasize gender relations in Moroccan culture, Leaving Tangier depicts the production of virile masculinity through the performance of hegemonic acts of violence and domination. […] These acts of rape, enacted by ›virile‹ males, are not confined only to the rape of women, but extend also to the rape of other men whose behaviours are thus constructed as feminized. (Idrissi Alami 2013: 15) Die von der Politik konstruierte und teilweise gesetzlich institutionalisierte patriarchalische, heterosexuelle Norm führt somit im Roman zu biopolitisch motivierter, struktureller und physischer Gewalt gegen jene, die ihr nicht entsprechen. Dies betrifft Homosexuelle ebenso wie Frauen, die in der von Tahar Ben Jelloun gezeichneten marokkanischen Gesellschaft als das Andere des Mannes systematisch benachteiligt, ausgeschlossen oder bevormundet werden (vgl. Ben Jelloun 2007: 33, 42, 44, 77, 83, 95-97, 121, 307-312). Eine detaillierte Analyse der Geschlechterbeziehungen in Partir würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, da der Begriff des Femininen hier vorrangig in Verbindung mit othering-Diskursen und der normativen Konstruktion von Männlichkeit im Rahmen biopolitischer Mechanismen betrachtet werden soll.145 Insofern wird der Fokus nachfolgend darauf liegen, wie in Azels gradueller Entfremdung und seinem endgültigen Identitätsverlust in Spanien die Konzepte Identität, Alterität sowie Sexualität und insbesondere der vermeintliche Verlust seiner Männlichkeit ineinandergreifen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Spanien beginnt Ben Jellouns Protagonist, einen Entfremdungsprozess zu durchleben, der ihn psychisch zunehmend belastet und psychosomatische Symptome in Form von Erektionsstörungen mit sich bringt. Wie in Kapitel 5.1.1.1 festgehalten wurde, entsteht Azels Gefühl der unhomeliness (vgl. Bhabha 1992: 141, Ajah/Babatunde 2008/09/10: 189) nicht erst in Spanien, sondern plagt ihn bereits in der Heimat, da die Hauptfigur nicht der gesellschaftlich und politisch propagierten Norm von Männlichkeit in Marokko entsprechen kann. Trotz seines Universitätsabschlusses in Rechtswissenschaften findet Azel keine Anstellung und protestiert gemeinsam mit weiteren jungen Marokkaner*innen vor dem Regierungssitz in Rabat, um auf seine Perspektivlosigkeit aufmerksam zu machen (vgl. Ben Jelloun 2007: 24). Nach einiger Zeit gibt er es auf, Bewerbungen zu verschicken, lebt bei seiner Mutter und ist abhängig vom Einkommen seiner Schwester (vgl. ebd.: 36f.). Diese Situation verwehrt ihm die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, sodass er die Avancen verschiedener Frauen abwiegelt: »Nombre d’entre ces filles étaient amoureuses d’Azel, mais il les décourageait en leur disant 145
Die Beziehung zwischen den Geschlechtern, Maskulinität und die Rolle der Frau in der marokkanischen Gesellschaft sind wiederkehrende Themen im Gesamtwerk Ben Jellouns und entsprechend groß ist die Anzahl an einschlägigen Publikationen. Besonders eindringlich behandelt der Autor besagte Themen etwa in L’enfant de sable (1985) und La nuit sacrée (1987) (vgl. z.B. Cazenave 1991 u. Clavaron 2008).
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la vérité sur sa situation: J’ai vingt-quatre ans, je suis diplômé, j’ai pas de boulot, pas d’argent, pas de voiture, je suis un cas social.« (ebd.: 41) Seine Arbeitslosigkeit führt also dazu, dass Azel den Erwartungen, welche die mehrheitlich konservative marokkanische Gesellschaft in Partir an einen jungen Mann stellt, nicht erfüllen kann: Weder kann er als einziges männliches Mitglied seiner Familie – der Vater verstarb, als Azel ein Kind war – den Familienunterhalt sichern, noch hat er die finanziellen Mittel, die Gründung einer eigenen Familie in Betracht zu ziehen: »Unable to support himself and his family in any legal job situation, he is deprived of the opportunity to assert his masculine identity within the traditional family structure« (Idrissi Alami 2013: 9). Azel erlebt, wie Ajah und Babatunde (2008/09/10: 189) schreiben, »a form of social death through social conditions such as enforced or prolonged unemployment«, fühlt sich zunehmend schuldig und wertlos (vgl. ebd.: 193). Als Miguel in Azels Leben tritt, scheint dieser den ersehnten Ausweg aus dem Dilemma zu bieten, und vielleicht ist die schwierige soziale wie finanzielle Position der Familie der Grund dafür, dass sowohl Azel als auch seine Schwester und Mutter dem fraglichen Angebot Miguels nahezu bedenkenlos zustimmen (vgl. Idrissi Alami 2013: 18). Wie Idrissi Alami feststellt, kommt es im Laufe der Handlung gar zu einer Übernahme der Versorgerrolle durch Miguel, der nicht nur Azels Lebensunterhalt finanziert, sondern auch dessen Mutter und Schwester Geld schickt und Kenza letztlich sogar heiratet, damit sie ebenfalls in Spanien leben kann (vgl. ebd.: 18). Ironischerweise ist es somit der homosexuelle Miguel, welcher der traditionellen Rolle des marokkanischen Mannes augenscheinlich entspricht, wenngleich Azel dessen vermeintlich weibliches Auftreten kritisiert (vgl. Ben Jelloun 2007: 154f.). Mit Blick auf seine sexuelle Orientierung widerspricht die Figur wiederum den marokkanischen Normen von Männlichkeit, wodurch sich die konstruierte und einseitig Natur derartiger Kategorien offenbart. Azel hadert also bereits in Marokko mit seiner Männlichkeit und seinem Identitätsentwurf als Mann, den er u.a. in Träumereien und Fantasien imaginär wiederherzustellen versucht (vgl. Idrissi Alami 2013: 13). Diese identitäre Verunsicherung wird in Spanien durch seine Beziehung zu Miguel vertieft und im Zuge seiner Migrationserfahrung um eine kulturelle Dimension erweitert, derer er sich allerdings weniger bewusst zu sein scheint. Primär beschäftigt ihn sein Verhältnis zu Miguel, das Azel als Verrat an seiner Männlichkeit und Person betrachtet, da er sich, abgesehen von einigen homosexuellen Erfahrungen in seiner Jugend (vgl. Ben Jelloun 2007: 165f.), als eindeutig heterosexuell definiert (vgl. ebd.: 92): J’ai honte. Je ne me sens pas fier de moi… […] Je ferme les yeux chaque fois que Miguel me touche, je m’absente, je lui laisse mon corps, […] j’essaye en vain de me regarder en face dans le miroir. Ma honte est si grande. Ah, si ma pauvre mère me voyait! J’ose à peine y penser.
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Comment lui dire que son fils n’est pas un attaye, un donneur, un homme qui se met à plat ventre, une paillasse, un traître, un renégat à son identité, et à son sexe? (ebd.: 108f.)146 In der Angst, seine sexuelle Identität gänzlich zu verlieren, beschließt Azel, wöchentlich in ein Bordell zu gehen, um dort seine Heterosexualität auszuleben und aufrechtzuerhalten. Dazu kommt es aber nicht, da er zuvor der attraktiven Soumaya begegnet, mit der er fortan eine Affäre unterhält (vgl. ebd.: 126-130). Eines Tages beginnt Azel allerdings, an Erektionsstörungen zu leiden. Diese treten zunächst auf, wenn er mit Miguel zusammen ist, weshalb er sie als körperliche Auswirkungen seines Widerwillens gegen die sexuellen Handlungen mit dem Spanier deutet. Als er jedoch seine Freundin Siham besucht und mit ihr dieselben Probleme erfährt, denkt Azel darüber nach, einen Therapeuten aufzusuchen (vgl. ebd.: 169-171). Zeitgleich zeigt der Protagonist sich zunehmend angespannt und beginnt, über die Stränge zu schlagen, indem er seiner Arbeit in Miguels Galerie nicht nachkommt, stattdessen nachts ausgeht und bis mittags schläft (vgl. ebd.: 173f.). Dies scheinen erste Anzeichen dafür zu sein, dass Azels Erektionsstörungen nicht ausschließlich in der Beziehung zu Miguel begründet liegen, sondern auf eine generelle Orientierungslosigkeit und Entfremdung zurückgehen, die auch mit seiner Migration nach Spanien zusammenhängen: »Azel’s increasing distress for his sexual duplicity, weakening, and confusion caused by his relationship with Miguel is the symptom of a greater ambivalence and crisis common to most allegedly Europeanized immigrants in the novel.« (Pireddu 2009: 28) Hinzu kommt, dass Ben Jellouns Protagonist sich ob seiner auf Abhängigkeit fußenden Beziehung zu Miguel gefangen und nicht einmal den anderen marokkanischen Eingewanderten in seinem Umfeld zugehörig fühlt, da er sich schämt und seine Situation mit der ihren nicht vergleichbar ist: Arrivé en bas des Ramblas, à l’entrée du Barrio Gótico, il reconnut quelques visages, des Marocains, petits trafiquants ou jeunes oisifs qui traînaient à longueur de journée dans ces rues […]. Aucune envie de parler avec eux, ce matin, il se sentait même étranger à leur langue, à leurs manières, à leur monde. […] Un chat sauvage traversa à toute vitesse la rue. Azel envia sa liberté. (Ben Jelloun 2007: 216f.) Den endgültigen Bruch mit Miguel empfindet Azel insofern zunächst als Befreiung (vgl. ebd.: 219). Wie schlecht es aber wirklich um ihn steht, zeigt sich, als die Polizei ihn volltrunken auf der Straße aufgreift und zu seiner inzwischen ebenfalls in Spanien lebenden Schwester bringt (vgl. ebd.: 231f.). Am nächsten Morgen brechen Azels Verzweiflung und Ängste im Gespräch mit Kenza aus ihm heraus:
146 Wie zuvor in Sinhas Assommons les pauvres! (vgl. 5.4.2.1) steht auch in diesem Zitat der Spiegel, in dem man sich nicht wiedererkennt, symbolisch für den Verlust bzw. eine Verunsicherung bzgl. der eigenen Identität.
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Ma sœur, mon aînée, mon amie, il faut que tu m’écoutes, j’ai besoin de toi, ça ne peut plus durer, je suis en train de sombrer dans un enfer dont tu n’as pas idée. Je rate tout. La semaine dernière, je suis allée rejoindre ma copine Siham qui travaille à Marbella. On s’aime bien. J’ai toujours aimé sa compagnie…Excuse-moi, ma sœur, il faut que je te dise des choses qui ne se disent pas entre frère et sœur, la relation entre Siham et moi, c’était surtout du sexe, j’en avais besoin pour ne pas perdre ma virilité […]. Eh bien, la semaine dernière, walou! Tu sais ce que ça veut dire, walou? Rien de rien, j’étais incapable d’être un homme, excuse-moi, mais il faut que je parle, il faut que ça sorte, la honte, l’immense honte, la hchouma! […] Je suis foutu, je ne suis plus capable d’être un homme […]. Walou! Walou! je suis devenu un walou, un rien, une absence, un souvenir d’homme, une ombre… (ebd.: 233f.) Während Azel sich seiner Schwester anvertraut, bestätigt sich, dass sein gesamter Identitätsentwurf eng mit einer Vorstellung von Männlichkeit verwoben ist, die durch gesellschaftliche und biopolitische Normen seiner Heimat geprägt wurde. Die Erektionsstörungen und die homosexuelle Beziehung zu Miguel, die er als notwendiges Übel sah, um nach Europa zu gelangen, passen nicht in sein Konzept von Virilität und destabilisieren ihn nicht nur im Hinblick auf seine Geschlechtsidentität, sondern in seiner Identität im Allgemeinen. Azel beschäftigt sich im weiteren Verlauf des Romans beinahe obsessiv mit seinen Erektionsstörungen und deren Beseitigung (vgl. ebd.: 256, 261-265, 285, 291), was die oben zitierte Beobachtung Pireddus (vgl. 2009: 28) zu bestätigen scheint, dass Azels malaise sexuel auf ein umfassenderes malaise identitaire zurückgeht. Es wirkt, als klammere der Protagonist von Partir sich an sein Konzept von Männlichkeit, um die Entfremdung, die er in Ansätzen bereits in Marokko verspürte und die sich durch das Exil noch verstärkte, zu verdrängen und gleichzeitig greifbarer zu machen, indem er ihr die Gestalt eines physischen Leidens verleiht. Die Konzentration auf seine Erektionsstörungen erlaubt ihm einerseits, sein Gefühl der unhomeliness zu überlagern, es als etwas Anderes zu deklarieren, und somit die Büchse der Pandora einer schwierigen Selbstsuche und Identitätskonstruktion verschlossen zu halten. Andererseits macht ein körperliches Leiden Azels diffuse Orientierungslosigkeit konkret behandelbar, sodass er u.a. einen Arzt aufsucht und naiverweise hofft, damit alle seine Probleme nichtig machen zu können. Lediglich in einem vorigen Gespräch mit Kenza spricht die Hauptfigur in einem langen Monolog offen über die Verzweiflung, die sie bereits in Marokko verspürte, über ihre Erfahrungen im Exil, über Rassismus und das Gefühl, nicht willkommen zu sein: J’aurais pu suivre un itinéraire normal, trouver un boulot après mes études, un travail honorable, quelque chose qui me procure un statut, qui me rassure et me donne envie d’aller loin, […] non, j’ai été cassé, je ne suis pas le seul, nous sommes nombreux à être jeunes avec un avenir bouché, pourri, rien à l’horizon, […] partout les gens ont envie de s’arracher, de partir comme si c’était une épidémie, une
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maladie qu’il faut fuir, oui, la pauvreté est une maladie, va voir les Africaines qui se prostituent pour quelques billets, va voir les Marocains qui traficotent comme des nuls, […] nous sommes des Moros et nous ne sommes pas aimables, on a perdu notre dignité, ah! si tu voyais, ma sœur, ce qui se passe dans les bas-fonds de cette ville, dans l’arrière-pays de ce pays, tu n’en croirais pas tes yeux! Si tu voyais comment on traite las espaldas mojadas, c’est comme ça qu’on nous appelle, nous qui avons réussi à passer entre les mailles du filet, ils ont raison, ça se voit qu’on a les épaules mouillées, nous sortons à peine de l’eau, l’eau de la mer ne s’en va pas, elle ne sèche pas, elle reste sur nos habits, sur notre peau; […] nous surgissons de la mer comme des monstres ou des fantômes! (Ben Jelloun 2007: 184-187).147 Azels Aussagen machen deutlich, dass er sich bereits in Marokko aufgrund seiner prekären finanziellen und sozialen Situation marginalisiert fühlte und dass die lang ersehnte, gar obsessiv erträumte Ausreise nach Europa diese Gefühle nicht lindert, sondern, im Gegenteil, noch intensiviert. Der Ausdruck espaldas mojadas verweist außerdem erneut auf die Vorstellung, dass Migrationserfahrungen sich unwiderruflich in den Körper einschreiben und Migrant*innen mit einer inkommensurablen Fremdheit belegen, die auch äußerlich sichtbar ist (vgl. 5.2.2.1, 5.2.2.2.). Sowohl in Tahar Ben Jellouns Partir als auch in Shumona Sinhas Assommons les pauvres! kommt es also zu einer Überlagerung verschiedener Elemente der individuellen Identität, wodurch Verflechtungen zwischen dem Migrations- und dem Sexualitätsdispositiv offenkundig werden. In beiden Fällen scheint es bei den Hauptfiguren zu einer Wechselwirkung zwischen kultureller sowie individueller Identität und sexueller Orientierung zu kommen, über die sie einem doppelten Entfremdungsprozess ausgesetzt sind, da sie als Eingewanderte mit fingierten bzw. authentischen homosexuellen Neigungen und Sinhas Protagonistin überdies als Frau gleich mehrfach von biopolitisch motivierten, gesellschaftlichen Normen abweichen.
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In diesem Zitat tauchen sowohl der in Kapitel 5.4.3 unter Bezug auf Michael Hardt und Antonio Negri hergestellte Zusammenhang zwischen Armut und Alterität als auch der in Kapitel 5.2.2.2 als Form der Desubjektivierung gedeutete Vergleich von Migrant*innen mit Geistern, Schatten, Monstern und anderen übernatürlichen Wesen erneut auf. In einem Artikel über die Migrationspolitik Europas für eine französische Zeitschrift greift Tahar Ben Jelloun ebenfalls auf jene Rhetorik des Spektralen zurück, wenn er schreibt: »Le spectre de l’immigration hante l’Europe depuis plusieurs décennies et ouvre la voie aux populismes.« (Ben Jelloun: 2019)
6. Fazit
Die vorliegende Studie hatte das Ziel, die literarische Verhandlung biopolitischer Fragestellungen und Phänomene in zeitgenössischer frankophoner Migrationsliteratur auf ihre textuelle und inhaltliche Ausgestaltung hin zu untersuchen. Hierzu wurde ein Korpus aus vier Romanen und einer Autofiktion (Ersterscheinung 2006-2011) zusammengestellt, die Migrationen aus verschiedenen Teilen der Welt in Richtung Europa erzählen und deren Inhalte sowie Publikationskontexte ein möglichst differenziertes Bild auf die Thematik bieten sollten. Die Theorie der Biopolitik erschien im Vorfeld als methodologisches Raster für die literaturwissenschaftliche Analyse derartiger Werke insofern besonders fruchtbar, als sie erlaubt, die politische Verwaltung des Lebens, die sich in der Schilderung fiktionaler ebenso wie im Kontext realer Migrationsbewegungen besonders evident manifestiert, lesbar zu machen. Die Eruierung des Forschungsstands hatte zum Ergebnis, dass eine solche biopolitisch perspektivierte Lesart frankophoner Migrationsliteratur ein Desiderat darstellt, da sie bisher offenbar lediglich in Ansätzen unternommen worden ist. Die Kernfragestellung und gleichzeitige Herausforderung eines derartigen Unterfangens liegt, wie sich im theoretischen Teil dieser Arbeit herauskristallisiert hat, in der literaturwissenschaftlichen Anwendung von Konzepten und Denkfiguren der politischen Philosophie: Durch welche ästhetischen Merkmale und inhaltlichen Schwerpunkte zeichnet sich eine Literatur aus, die biopolitische Phänomene im Kontext von Migration und Mobilität ins Werk setzt und wie lassen diese sich mit Hilfe der Theorie der Biopolitik beschreiben und deuten? Um dieser Frage nachzugehen, wurden im theoretischen Rahmenwerk der Studie das Thema Biopolitik im Allgemeinen, und im Speziellen die wegweisenden Untersuchungen Michel Foucaults sowie deren jüngere Fortführungen und weitere Theorieentwürfe Giorgio Agambens, Roberto Espositos, Michael Hardts und Antonio Negris im Hinblick auf die Analyse von Migrationsliteratur ausgelotet und kritisch reflektiert. Das letzte Kapitel dieses ersten Teils der Arbeit (Kapitel 2.6) verstand sich als Konturierung der methodologisch-literaturwissenschaftlichen Anwendbarkeit der vorgestellten Theorien und Paradigmen. Gemeinsam mit dem re-
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ferierten Forschungsstand bildete dieses Kapitel die Überleitung zum analytischen Part der Studie. In dem Anliegen, die Theorie der Biopolitik und die literaturwissenschaftliche Deutung von Migrationsliteratur konzeptuell miteinander zu verschränken, orientierte sich der analytische Teil der Untersuchung in Aufbau und Verfahrensweise an einem grundlegenden Werkzeug der biopolitischen Studien Michel Foucaults: Der Dispositivbegriff und insbesondere der unternommene Entwurf eines sogenannten ›Migrationsdispositivs‹ erwiesen sich als geeignet, eine biopolitisch perspektivierte Lesart von Migrationsliteratur zu fundieren, da sie die Modi der Modellierungen (und somit auch der Diskursivierungen und Subjektivierungen) des Lebens als Verflechtungen von Machtverhältnissen und wechselseitigen Relationen auffassen. Foucaults machtanalytisches Paradigma erlaubte es nämlich mittels seiner dynamischen Netzwerkstruktur aus diskursiven und nicht-diskursiven Elementen, die in den Korpustexten erhobenen, vielfältigen formalen wie inhaltlichen Textphänomene und Bedeutungskonfigurationen zu untersuchen, und darüber hinaus die Literatur selbst in ihrer möglichen Funktion als Dispositiv zu denken. Die Analyse der fünf ausgewählten Werke, die sich um die im Kontext von Migrationsphänomenen ebenso wie in der Theorie der Biopolitik zentralen Begriffskomplexe Macht, Subjekt, Schwelle und Alterität organisierte, lieferte im Kern folgende Ergebnisse: Literatur, welche die politische Verwaltung von Migration thematisiert, charakterisiert sich durch eine grundlegende, formal-stilistisch heterogene Verfasstheit. Diese produktive Heterogenität erscheint als ein literarisches Verfahren, das die ambivalenten Wirkweisen der Biopolitik textuell ins Werk setzt, wodurch diese zugleich sichtbar gemacht und kritisch hinterfragt werden. Nur eine hybride Literatur – die sich in ihrer Ästhetik etwa durch fragmentierte Werkstrukturen, Polyphonie, Metaliterarizität, intertextuelle Verweise, den Rückgriff auf mythische sowie symbolische Elemente und die Auseinandersetzung mit oralen und schriftlichen Zeichensystemen auszeichnet – scheint in der Lage zu sein, die paradoxalen Dynamiken der Biopolitik textuell auszudrücken. Charakterisiert sich die Biopolitik nämlich einerseits durch Gesetz- und Regelmäßigkeiten und andererseits durch Ambivalenzen und Schwellen, so vermag eine ausgeprägt heterogene Literatur erstere zu unterminieren und letztere kritisch zu diskutieren, womit sie infolgedessen die Theoriebildung kreativ (d.h. literarisch) überschreitet. Unter Rückgriff auf die Denkfigur Michael Hardts und Antonio Negris wurde dieses Phänomen in der vorliegenden Untersuchung auch als ›literarische Multitude‹ bezeichnet, worunter ein loses Ensemble produktiver textueller Merkmale zu verstehen ist, die in Form eines Dispositivs auf die dargestellten biopolitischen Dynamiken antworten, indem sie neue, literarisch-ästhetische Räume der Reflexion eröffnen. Auf der inhaltlichen Textebene hat sich außerdem gezeigt, dass Literatur dazu imstande ist, migrantischen Figuren eine komplexe Subjektivität zu verleihen und damit den erzählten desubjektivierenden und spaltenden Mechanismen der
6. Fazit
Biopolitik entgegenzuwirken. Die Werke vermeiden eine einseitige Darstellung dieser Figuren als Held*innen oder Opfer, sondern zeichnen sie als ganzheitliche Menschen mit Stärken und Schwächen, wodurch sie nicht auf ihr Dasein als Migrant*innen reduziert werden. Die umfassende Thematisierung des gesamten Migrationsprozesses und insbesondere die Darstellung von Migrationsursachen widersprechen simplifizierenden mobilitätskritischen Diskursen und erweitern Repräsentationsschemata, in denen Migrierende erst mit ihrer Ankunft in Europa in den Rahmen der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung auftauchen. Problematisch erscheint hingegen, dass die analysierten Texte zuweilen stereotype und exotisierende Darstellungsmuster perpetuieren, etwa durch die Orientalisierung von Figuren oder die klischeehafte Zeichnung des gescheiterten, kriminellen Migranten, wie bei Tahar Ben Jelloun. Ebenso ist die punktuelle Reproduktion migrationsfeindlicher Diskurse und Semantiken, etwa bei Shumona Sinha oder durch Laurent Gaudés Protagonisten Soleiman, nicht unproblematisch, auch wenn diese mit einer hinterfragenden Intention geschieht. Nicht zuletzt kann außerdem die von Gayatri Chakravorty Spivak (1988) aufgeworfene Frage, ob die Subalternen sprechen können, mitunter kritisch diskutiert werden, wenn mit Delphine Coulin, Laurent Gaudé und Éric-Emmanuel Schmitt Autor*innen ohne eigene Migrationserfahrung über Migration schreiben oder die Geschichten fiktionaler Migrant*innen intraliterarisch nicht von ihnen selbst erzählt werden, sondern von Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft oder anderen Figuren in privilegierten Positionen, wie es bei den Erzählinstanzen von Coulin und Sinha der Fall ist. Dennoch kommt die vorliegende Abhandlung zu dem Ergebnis, dass die erwähnte komplexe Figurendarstellung, die ungeachtet der narrativen Organisation in allen Korpuswerken tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der migrantischen Figuren gewährt, gemeinsam mit einer wiederkehrenden, selbstreflexiven Thematisierung der Macht des Erzählens dennoch zu einer (Re-)Integration marginalisierter Themen und Diskurse in die Rahmen des Sichtbaren und damit in die Sphäre des Politischen führt. Da die Untersuchung bewusst eine Betrachtung solcher Werke vorgenommen hat, die vor der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 erstmalig erschienen sind, könnten weiterführende Studien u.a. prüfen, inwiefern die große gesellschaftliche Aufmerksamkeit und massive mediale Berichterstattung im Kontext besagter Ereignisse sich auch auf die literarische Darstellung von Migration und deren politischer Verwaltung ausgewirkt haben. Unter Berücksichtigung weiterer globaler Fragestellungen, die in der Zwischenzeit an Relevanz gewonnen haben, wäre es künftig außerdem interessant, zu untersuchen, inwiefern die Klimakrise, deren Auswirkungen in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Menschen zur Migration zwingen werden, und deren mögliche biopolitische Diskursivierungen in einschlägigen Werken französischsprachiger Literatur fiktional thematisiert werden. In den Korpustexten der vorliegenden Studie scheint diese Thematik
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nicht prominent zu sein – Spuren einer solchen écocritique können allerdings, wie mehrfach bemerkt wurde, in Werken Laurent Gaudés ausgemacht werden. Zusammenfassend vermag Literatur es also, in ihrer Ästhetik ebenso wie in ihrer konkreten, textuellen Materialität, die ambivalenten und nicht selten abstrakten, da nicht greifbaren Dynamiken der Biopolitik sicht- und erfahrbar zu machen: »Die Fiktionalität schafft […] einen Erprobungsraum, innerhalb dessen die Leser in einem ernsten Spiel andere Lebenssituationen testen, sich diesen aussetzen und dabei Erfahrungen machen können, die ihnen ansonsten ›im richtigen Leben‹ verwehrt blieben.« (Ette 2010: 26f.) Als heterotopisches Dispositiv scheint die Literatur, in Anschluss an Ettes Aussage, dabei auch einen Gegenraum zu bilden, der sich durch seine speziellen medialen Möglichkeiten besonders eignet, um die realen widerständigen Kräfte des Lebens und den changierenden, sich immer wieder aufs Neue formenden trait dʼunion zwischen Literatur, Migration, Leben und Politik fiktional auszuloten.
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