Voyages sans retour: Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur [1. Aufl.] 9783839405604

Welcher Stellenwert kommt der Frage nach der Rückkehr in die 'Heimat' innerhalb der Interkulturalitätsproblema

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German Pages 322 [321] Year 2015

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INHALT
I. »Douce France«?
1. Von der littérature francophone du Maghreb zur littérature >beur
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Voyages sans retour: Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur [1. Aufl.]
 9783839405604

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Sibel Vurgun Voyages sans retour

Anneme babama

Sibel Vurgun studierte Romanistik und Mathematik an den Universitäten Konstanz und Aix-en-Provence. Die Promotion erfolgte 2005 in Konstanz. Gegenwärtig ist sie Mitarbeiterin der Universität Konstanz.

S!BEL VU RG UN

Voyages sans retour. Migration, Interku Ltu ra Lität und Rückkehr in der frankophonen Literatur

[transcript]

Gedruckt mit der Unterstützung der Hans Böckler Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sibel Vurgun Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-560-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www. transcript-verlag. de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

I.

»Douce France«?

1. Von der litteraturefr-ancophone du Maghreb zur Iitterature >beur< 2. Zu Thema und Textauswahl 3. »France, terre d'immigration« 4. »Die nahe Fremde und die fremde Nähe« 5. »Les ANI« 6. Identität 7. Gedächtnis und Erinnerung 8. » Le mythe du retour« II. Von der doppelten Abwesenheit zur doppelten Anwesenheit 1. Die doppelte Abwesenheit 1.1. Das Verhältnis zur Zeit in der doppelten Abwesenheit 1.2. Das Verhältnis zum Raum in der doppelten Abwesenheit 1.3. Das Verhältnis zur Gruppe in der doppelten Abwesenheit 2. Die doppelte Anwesenheit 2.1. Das Verhältnis zur Zeit in der doppelten Anwesenheit 2.2. Das Verhältnis zum Raum in der doppelten Anwesenheit 2.3. Das Verhältnis zur Gruppe in der doppelten Anwesenheit 3. Anmerkungen zur Raumsemantik

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lll. Akli Tadjer 1. Les AN! du >Tassili< oder die »Paroles deplacees« 1.1. »Ümar de la Garenne-Colombes« Omar und Frankreich 1.2. »ANJ tu es, ANJ tu resteras« Omar und Algerien 1.3. »Le Beige« 1.4. »Les Algeriens d' Algerie« 1.5. »Les Angeriens« 1.6. Die »black-panards« 2. » Le grand bateau du grand voyage« eine Parabel der doppelten Anwesenheit 3. »Toi aussi t'as cauchemarde?« 4. » Vendeur de vent«das Frage-und-Antwort-Spiel 5. »Mobilis in mobile« IV. Leila Sebbar 1. Fatima ou !es Algeriennes au square 1.1. »Elle n'a ni commencement ni fin«die Arabeske als Konstruktionsprinzip 1.2. Der »tapis d 'Aflou« oder die Wohnung 1.3. Fatima 1.4. La.fugueuse - Dalila 1.5. Der Tod in der Fremde - Dalilas Vater 1.6. »[N]ous vous embrassons tous sans oublier ... « Familienbesuch und Kommunikation 1. 7. »La prostitution est 1' etat ordinaire de la femme« über Ehe und Prostitution 1.8. »[L]es coups partent« Lilas und Louisas Geschichte 1.9. »Elle ne voulait pasfaire de mal aleur fils« Mustaphas Geschichte 1.1 0. Mustaphas Vater- un migrant hereditaire? 2. Parle monjils, parle ata mere 2.1. »Le pays natal immigre«- eine Rückkehr? 2.2. »[T]u es parti trop loin« Distanz und Annäherung im Gespräch 2.3. »[L ]a future epouse ideale« 2.4. »[M]ais les filles, comment etre sür?«

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V. Fawzia Zouari 1. Ce pays dont je meurs oder des illusionsund desillusions 1.1. Die Erzählerirr Nacera - Sheherazade? 1.2. Die Anorektikerin Amira 1.3. »Comme des jumelles« 1.4. »[D]es enfants de la Republique« - die Schule 2. »Des illusions de l'emigre«die doppelte Abwesenheit der Mutter 3. »[ ... ) aux souffrances de l'immigre«die doppelte Abwesenheit des Vaters 4. »Paris nous abrite et nous ignore« Territorien der doppelten An- und Abwesenheit 5. »Entretenir le mythe. Paraltre.«über die Rückkehr VI. Tahar Ben Jelloun 1. Einzelhaft in der tiefsten Einsamkeit 1.1. La Reclusion solifaire oder die doppelte Abwesenheit 1.2. »[A] l'extreme pointe de l'isolement, une felure ... «-der Raum 1.3. »[U]n supermarche de l'esclavage et de l'indifference«die sozialen Gruppen 1.4. L'image und le chant 2. Les Yeux baisses 2.1. »[U]ne vie en suspens, entre deux departs« die doppelte Abwesenheit 2.2. Fathma, Kniza, Kenza: die doppelte Anwesenheit der Protagonistirr 2.3. Die Rückkehr oder der Schatz 3. Les Raisins de Ia galere 3.1. Generationen der Migration Großvater, Vater und Kinder 3.2. »Jene suis pas beur, mais arioule«- Nadia 3.3. »La generation de l'oubli«die Folgegenerationen 3.4. Frankreich als Heimat

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VII. Azouz Begag 1. Zenzela 1.1. »A quoi va servait, tout va?« - Setifund Lyon 1.2. Farid, naiver Fatalist und Voyeur 1.3. »[L]e messager entre le temps d'hier et le temps de demain« - Farids doppelte Anwesenheit 1.4. »Allou? Qui c'i toi?«- die Kommunikation 1.5. »[U]n chäteau de cartes«Das Haus in Algerien 1.6. Die Frauen 2. Le Passeport- eine etwas andere Rückkehr 2.1. »Ün est paye pour mourir« die Arbeit als Polizist 2.2. Die Abwesenheit der Töchter 2.3. »[M]on studio homme-nivore« 2.4. Das Meer 2.5. »[S]uivre les ecureuils sur les branches des arbres« - Dahlia 2.6. Gorigori

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VIII. Mohand Mounsi 1. Le voyage des iimes 1.1. Les Jours infinis oder die idealisierte Kindheit 1.2. Die Großmutter 1.3. Die Farben der Heimat 2. »Le mari de ma mere«- der abwesende Vater 3. Die Farben Frankreichs 4. »Tu vas apprendre aIire et a ecrire« - die Schule 5. »[S]eul avec mon ombre«

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IX. Abschließender Überblick

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X.

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»Mare nostrum«?

Bibliographie

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Übersicht der abgekürzten Titel

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Azouz Begag: Zenzela. Paris 1997. Ders.: Le Passeport. Paris 2000.

Pass

Tahar Ben Jelloun: La R eclusion solitaire. Paris 1976. Ders.: La plus haute des solitudes. Paris 1977. Ders.: Les Yeux baisses. Paris 1991. Ders.: Les Raisins de Ia galere. Paris 1996.

PHS YB RG

Mohand Mounsi: Le voyage des ames. Paris 1997. Ders.: L esjours infinis. La Tour d'Aigues 2000. Leila Sebbar: Fatima ou !es Algeriennes au square. Paris 1981. Dies.: ParZemon jils parZe ata mere. Paris 1984. Akli Tadjer: Les A.N.I. du« Tassili ». Paris 1984. Fawzia Zouari: Ce pays dontje meurs. Paris 1999.

RS

VA JI Fatima ParZe

AN! CP

I. »Douce France«?*

Douce France Cher pays de mon enfance Berce de tant d'insouciance Je t'ai garde dans mon creur Charles Trenet' Die Literatur der sogenannten >zweiten Generation< nordafrikanischer Einwanderung in Frankreich kam in den 1980er Jahren auf. Als Iitterature >beurSpeziesVotez Omar l'homme sans fard< - >Pour nous, peuple de bätards, votez dare-dare Omar Je moins ringardSi l'ennui vous ennuie, votez Omar, I' ANI plein de vie.«französischere< und kritischere39 der beiden, stellen die angenehmen und die weniger angenehmen Seiten Frankreichs dar. Nelly ist assistante sociale und Omar meint, das passe zu ihr. Als sie nachhakt, ob er was gegen Sozialhelferinnen habe, erläutert er, dass das für ihn die Frauen sind, die angeblich helfen wollen, aber im Grunde nur reden und die Gastfreundschaft ausnutzen. Er hatte schon mit Sozialhelferinnen zu tun und hat keine besonders gute Meinung von ihnen. Nelly 35 Die Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg findet erst seit wenigen Jahren statt. Vor allem seit 2001 gibt es sehr viele Veröffentlichungen, ausgelöst durch das als Skandal gewertete Buch des Generals Paul Aussaresses Services speciaux. Algerie 1955-1957, in dem er offen über die im Krieg praktizierte Folter berichtet. Anlässtich des 40. Jahrestags der accords d'Evian (18.03.1962), die offizielle Beendigung der Kämpfe, hat etwa Le Monde dossiers & documents seine Märzausgabe 2002 (no. 307) dem Algerienkrieg gewidmet, der auch zunehmend so bezeichnet wird, anstatt wie früher mit les evimements umschrieben zu werden. 36 Das Mädchen steht für Algeriens Zukunft und erinnert ihn an Safia, die Algerien personifiziert. 37 Unter anderem weil sie doppelt so oft in Algerien war wie er. 38 AN!, 78f. 39 Francirre zeigt sich effizient und sauber, sie nimmt die Dinge in die Hand und verteilt auch Befehle (AN!, 131 f.). Sie hält mit ihrer Meinung nicht zurück als Fefer die Mädchen nach ihrem Musikgeschmack fragt und beurteilt Fefer nach ihren eigenen Normen: »Ce charlot comme tu dis, c'est Je plus talentueux des guitaristes latino-americains. Si tu ne Je connais pas, c'est grave pour quelqu'un qui pretend etre musicien .. . Tu ferais bien d'affiner ton savoir culturel !« (ANI, 134f.)

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geht einer weiteren Diskussion aus dem Weg: »T'as une fac;on de voir les choses qui me sidere, mais je prefere ne pas approfondir le sujet, on n'a pas Ia meme perception des realites«. 40 Es gibt nur eine Realität, es sind die verschiedenen Wahrnehmungen, die die Menschen unterscheiden. Je nachdem, in welcher Position sich jemand im sozialen Kontext befindet, etwa welche Möglichkeiten zum Handeln er hat, wird seine Wahrnehmung modifiziert. ANI und franr;ais de souehe haben sicherlich unterschiedliche Wahrnehmungen, vor allen Dingen, wenn es sich wie hier um eine Abhängigkeitssituation handelt. Das zeigt sich auch Fefer gegenüber, als dieser ein Lied spielt, das er für einen befreundeten ANI geschrieben hat und von einem solchen handelt.41 Nelly mag es: »Si, c'est vraiment unebelle chanson, elle me tauche beaucoup. Sous tes airs boum1s et rustres, t'es un romantique ... Un poete de banheue en somme ... rencherit Nelly.« 42 Doch gerade das Adjektiv romantique stört Fefer, es ist ein Etikett43 und passt nicht zu ihm, er hält es für verklärend und versteht es als »je vois autre chose que ... «44 bezogen auf die Realität. Dadurch wirken Nellys Worte wohlwollendpaternalistisch. Während Fefer erklärt, dass es sich nicht jeder leisten könne, romantisch zu sein, hält Nelly Poesie nicht für das Allgemeingut der Privilegierten.

1. 2. »AN I tu es, ANI tu resteras« 45 Omar und Algerien

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Omar hat die letzte Woche seines stage d 'adaptation volontaire im Hotel Sables d'Or de Zeralda verbracht,46 eher als Tourist denn als >Heimkehrerverführen< lassen, er will mit seinen Aufenthalten Zugang zum Land erlangen, was aber mehr ist als eine Frage des Willens. Das Land hat sich ihm auch auf dieser Reise nicht ganz geöffnet, ebenso wenig wie Safia. An anderer Stelle träumt Omar, dass Safia ihn in Paris besucht. 56 Sie schenkt ihm ein Päckchen, doch er wacht auf, bevor er es öffnen kann. Es ist in blaues Papier eingeschlagen, was das Blau des Mittelmeers evoziert, zugleich hat die Farbe eine Schutzfunktion im Islam. 57 Er scheint im Traum endlich das zu bekommen, was er sich von seinen Aufenthalten erhofft und in der Realität nicht erlangen kann. 58

52 AN!, 63. 53 Für einen gläubigen Moslem ist ein Mensch ohne Glaube das Schlimmste überhaupt, was er sich vorstellen kann, da durch den Glauben auch die moralischen und viele gesellschaftliche Regeln definiert werden oder zumindest beeinflusst sind (nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch in islamischen Ländern Atheisten und Agnostiker). 54 »Ouf! Merci Allah de m'avoir aide a sortir de ce mauvais pas.«, AN!, 64. 55 Bedeutung des Namens. Sie ist ihrem Land und ihrer Kultur >treu< geblieben. 56 Dabei küsst sie ihn zur Begrüßung auf die Stirn, was ihre symbolische Rolle unterstreicht. AN!, 48ff. Er denkt mehrmals an sie: AN!, 23, 128f., 133. 57 Blau soll vor dem bösen Blick schützen. 58 Siehe auch seinen Traum vom bestandenen stage d'adaptation volontaire, Abschnitt »Toi aussi t'as cauchemarde ?«.

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Omar hat aber nicht nur Gefühle für Safia/Algerien, sondern ebenso für Algier, er findet die Stadt sehr schön und meint, sie wirke stolz, er redet von ihr, als wäre sie eine Frau. Sein Verhältnis ist aber nicht ganz klar: »Finalement, j'aime Alger, mais pourquoi faut-il que ce sentiment se developpe quand je suis plus sur Algerie-terre ?« 59 Zudem impliziert der Ausdruck Algerie-terre, dass es auch ein anderes Algerien gibt, ein Algerie-mer, homonym mit Algerie-mere, das sich als kulturelles Algerien sehen lässt. Die Personifizierung Algiers/Algeriens wird fortgesetzt, » Alger s' eloigne ... « 60, nicht die Menschen auf dem Schiff entfernen sich, sondern das Land, nicht die Menschen werden aktiv, sondern äußere Umstände bewirken die räumliche Entfernung, wohingegen die Verbundenheit zum kulturellen Algerien erhalten bleibt. 61 Das Land löst sich schließlich im Mittelmeer auf, welches das Kontinuum der doppelten Anwesenheit illustriert, Algerie-terre wird zu Algerie-mer/mere. Zugleich ist Omar über das Scheitern seines stage enttäuscht: »Algerie, je t'en veux de n'avoir pas su me retenir.« 62 Er hatte sich intensiv vorbereitet zwischen Barbes und Belleville, doch »toute cette somme de travail, de recherches et d'efforts pour en conclure que l'Algerie, c'est autre chose qu'un plat de couscous, deux disques, un Iivre de geographie et de litterature.« 63 Die Meta-Ebene der Kultur lässt sich nur begrenzt über Medien aneignen, aber Omar gibt nicht auf und folgert, dass er noch mehr lernen muss. 64 Kurz vor der Ankunft geht Omar auf die Brücke, um Frankreich entgegenzusehen, erneut wird das Land aktiv begriffen. 65 Beide Länder und ihre Kulturen stellen Ansprüche, die Migranten und ANI navigieren dazwischen, im wörtlichen und übertragenen Sinn. Die Ankunft wird nicht wirklich beschrieben, was unterstreicht, dass weder die ersten noch die Folgegenerationen in Frankreich tatsächlich >angekommen< sind, sie sind noch nicht als Teil der Gesellschaft akzeptiert. Omar weiß, dass das Gepäck der wieder nach Frankreich reisenden Migranten voller Mitbringsel und Erinnerungen ist. Auch das Rückkehr-

59 AN!, 34. 60 AN!, 34. 61 Weitere Stellen: AN!, 38, 41, 58. 62 AN!, 41. 63 AN!, 42. 64 Das unterstreicht die Bedeutung des kulturellen Kontextes: Die ersten Generationen brachten Dinge mit, die ihren symbolischen Sinn erfüllen, da sie zugleich eine gewisse Bewertung erfahren. Die Folgegenerationen hingegen kennen den ursprünglichen Zusammenhang nicht oder haben ihn nicht präsent. Damit lässt sich das Problem auf die Ebene der Wissenssoziologie heben. 65 »[E]t pis j'veux aller sur le pont pour voir Ia France arriver.«, AN!, 188.

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dilemma ist ihm bekannt: »[D]ans leurs plus grosses valises, il y a l'espoir que l'an prochain, Inch' Allah, ils s'en retourneront en Algerie pour vivre leur vraie vie.« 66 Das entspricht dem Bild der klassischen Einwandererfamilie, deren migration estivale über die Rückkehr tröstet. Das Migrantenleben in Frankreich wird nicht als wirkliches Leben erlebt, was der Grundidee der doppelten Abwesenheit entspricht. Abou hingegen, ein Migrant der ersten Generation, ist froh, anzukommen: »lcoute Omar. J'vas te dire une boune chose ... Mon pays, c'est ouje dors le soir. Le reste 9a l'a pas d'importance ... Savoir sij'l'aime la France ... Savoir qui j'i suis ... nicht wiedereingliederungsfahigHeimat< einfugen können. Außerdem wären sie für Algerien nicht nützlich, wie Lunettes d'ecailles meint. 79 Dabei fährt Madjid selbst gerade nach Frankreich, um seinen Abschluss in Kunstgeschichte vorzubereiten Er will den Grand Palais, den musee de l 'Homme und den Louvre besichtigen. Diese Museen stellen wichtige Werke des 19. Jahrhunderts aus, u.a. die Orientmaler Ingres und Delacroix, die in ihren Bildern eine exotisierte Vision des Orients vermitteln. 80 Für diesen Tag war in Paris eine friedliche Demonstration von Algeriern gegen den Krieg geplant, die von den Pariser Sicherheitskräften unter dem Befehl Maurice Papons brutal niedergeschlagen wurde. Mehr als 600 Menschen gelten als vermisst, die Vorfälle wurden offiziell nie anerkannt oder geklärt. 81 AN!, 156.

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ausgerechnet mit Francine so gut versteht und Gemeinsamkeiten entdeckt haben will. 83 Omar hakt nach und fragt Madjid nach den wichtigsten politischen Slogans, erhält aber nur typisch sozialistische Motti zur Antwort. 84 Seine persönliche Meinung verwehrt er, gibt vor, dass das Persönliche nicht so wichtig sei und wird erneut wütend: »Le fait de defendre une cause, c'est toujours desinteresse ... Cela s'appelle l'engagement !« 85 Madjid scheint keine eigene Meinung zu haben, seine Definition von Engagement entspricht in etwa der des Sozialismus. 86 Im commissaire de bord, der in seiner Jugend im Ausland war, lässt sich das Gegenbild zu Madjid sehen. Auch wenn er nicht ausgewandert ist, hat er doch die Erfahrung der Fremde und des Fremdseins gemacht und über sein kulturelles Wissen sein Heimweh überwunden. 87 Er begegnet den Migranten und den ANI nicht mit Überheblichkeit wie Madjid, obwohl auch er in seiner Heimat geblieben ist.

1. 5. »Les Angeriens« 88 Unter den Passagieren ist eine weitere Gruppe auszumachen. Die schlechte Aussprache Abous, eines Migranten der ersten Generation, defonniert Algeriens zu Angeriens, eigentlich Einwohner von Saint-Jeand' Angely, Charente. Das illustriert sprachlich, dass die Migranten anders sind als die Algeriens d'Algerie, sie haben noch Gemeinsamkeiten, haben sich durch ihren Aufenthalt aber zweifellos verändert. Abou spricht sehr gebrochenes Französisch mit einem starken Akzent. Er arbeitet für ein Unternehmen, das Kernkraftwerke baut, weshalb ihn seine Freunde Abou Batomic nennen. Er ist seit 1964 in Frankreich und wohnt mit seiner französischen Frau in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Finanziell ist er zufrieden, gerade weil er zwei Frauen hat, er schickt seiner Frau in Algerien jeden Monat Geld und mit dem Rest seines Lohns 83 Was der Fall ist: beide setzen ihre eigenen Normen an um die Migranten und die AN! zu beurteilen bzw. verurteilen. Und sie mögen beide keine AN!. Ihre Dialogfähigkeit spiegelt die wirtschaftliche Zusammenarbeit Algeriens mit Frankreich wieder, die bis heute andauert. Die politische Abhängigkeit wurde abgelöst durch die wirtschaftliche. 84 »Vive Je socialisme« und »A bas Ia corruption«, AN!, 158. 85 AN!, 159. 86 »Doctrine d' organisation sociale qui entend faire prevaloir l' interet, Je bien general, sur !es interets particuliers« , Petit Robert. Zudem trägt Madjid als einziger eine Brille, er nimmt die Realität nicht direkt wahr, sondern >korrigiert< durch seine Indoktrinierung. 87 AN!, 141. 88 AN!, 130. 89

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sowie dem Einkommen seiner französischen Frau, geht es ihnen ganz anständig. Seine Art der doppelten Abwesenheit endet in einer familiären Spaltung, doch trotz zweier Frauen ist er weder ganz in Frankreich noch ganz in Algerien. Die klassische doppelte Abwesenheit wird an Cherif, einem anderen Migranten, deutlich, er ist traurig, weil seine Frau und seine Kinder in Algerien leben, er wird sie erst im Jahr darauf wiedersehen. Er erzählt von seinem zehnjährigen Sohn, der ohne ihn aufwächst, und den er effektiv zehn Monate gesehen hat, in jedem Urlaub einen Monat lang.g9 Die doppelte Abwesenheit erweitert sich fur die Väter, sie haben keine Präsenz, sind eine abwesende Generation. 90 Chetif wünscht sich für seinen Sohn ein besseres Leben, ganz anders als seines, das er als Nicht-Leben beschreibt: »Tu sais c'est pas une vie ... «91 Nicht die harte Arbeit ist das Schlimmste, sondern die Tatsache, dass die Familie aus dem Leben der immigres ausgeschlossen wird, wenn sie in der Heimat zurückbleibt, was ein anderer Aspekt der doppelten Abwesenheit ist: »Le plus dure c'est quand je rentre le soir dans ma chambre, je suis seul, y a pas de cris d'enfants, y a pas ma femme .. . C'est 9a qui fait mal. (Soudain, son regard s'illumine :) Tu sais 9a doit etre bien de rentrer du travail et d'avoir ses enfants pres de soi . .. Moi j'aimerais bien leur corriger leurs devoirs ... (11 sourit :) Je dis 9a, mais je sais meme pas Iire ... Eh oui ! c' est dur l'exil... Tu sais mon fils quand j e me sensplus seul que d'habitude, j'ai !es !armes qui me coulent toutes seules ... Mais qu'est-ce que tu veux y faire ... C'est Ia vie ... «92 Cherif beschreibt das Leben im Exil und die Einsamkeit, doch zurückkehren kann er (noch) nicht. Zum einen verdient er gut, zum anderen ist er schon zu lange an das Leben in Frankreich gewöhnt, doch in zehn Jahren, sobald er in Rente geht, will er zurückkehren. Es ist eine aufgeschobene Rückkehr, auch wenn das Exil hart ist, ist er vom Verdienst abhängig, der es ihm erlaubt, für seine Familie zu sorgen. Die materielle Sicherheit wird mit Abwesenheit in der Heimat bezahlt. Als das Schiff noch im Hafen liegt, fragt Cherif nach dem Denkmal für den zwanzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit, das von Bord aus zu sehen ist. Omar erklärt, dass dessen drei palmes die drei (sozialistischen)

89 Cherif erwähnt auch seine Töchter, bedauert ihre Abwesenheit aber nicht ausdrücklich. 90 Fefers Vater ist tot, er ist vom Baugerüst gefallen, Omars Vater lebt noch, scheint aber in seinem Leben kaum präsent zu sein. 91 AN!, 107. 92 AN!, 107. 90

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Revolutionen darstellen. Cherif vermisst die Ehrung >seiner< Revolution, die zur Unabhängigkeit führte. Er hat einen retrospektiven Bezug zu seiner Heimat, und obwohl es sein ursprünglicher Raum ist, muss er sich die Veränderungen erklären lassen. Er ist mit Omars Erklärungen unzufrieden und wendet sich an einen anderen Mitreisenden, der ihm einen kleinen historischen Vortrag über das Monument hält. Cherif insistiert erneut, wo denn die palme seiner Revolution sei, er fühlt sich verraten von dem Staat, der ohne >seine< Revolution gar nicht entstanden wäre, für den er gekämpft hat und zu dessen Gesellschaft er sich weiterhin zählt. Doch er wird sich schmerzhaft bewusst, dass er für seine Heimat als abwesend gilt. 93 Daraufhin heitert ihn Omar mit einem Wortspiel auf: »A mon avis, y vous z'ont pas mis de palmes parce que vous, les >vieuxY a trop d ' etrangers dans Je monde.«< 96

Das ist die negative Version der multikulturellen Gemeinschaft, das Viertel ist gemischt und die Franzosen denken, es gebe zu viele Ausländer.

93 An anderer Stelle beschwert sich Cherif; »Maintenant, quand on rentre au pays, on nous appelle !es fils de la France, comme si on n ' etait pasdes Algeriens apart entiere.« , AN!, 124. 94 AN!, 38. Das Schwimmen wird im Zusammenhang mit der doppelten Anwesenheit näher erläutert, siehe unten. 95 AN!, 129. 96 AN!, 130.

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Veronique und Abou meinen das auch, obwohl er selbst Ausländer ist und sie mit ihm verheiratet. 97 Hinsichtlich der Einstellung gegenüber der französischen Gesellschaft, lässt sich zwischen den Generationen eine grundsätzliche Entwicklung feststellen. Die ersten Generationen gaben sich mit harter, gefl:lhrlicher und schlecht bezahlter Arbeit zufrieden/8 was sich im Text darin spiegelt, dass alle Migranten, die erwähnt werden, Bauarbeiter sind. 99 Die ANI hingegen lehnen das ab, 100 sie wollen andere Möglichkeiten in Anspruch nehmen und ihre Rollen selbst definieren. Ihre Eltern haben Frankreich mit aufgebaut, im buchstäblichen wie auch im übertragenen Sinn, die ANI wollen die französische Kultur mit aufbauen, als Musiker und Schriftsteller die kulturelle Landschaft mitbestimmen. Im Gegensatz zu den passiven abwesenden ersten Generationen wollen die Folgegenerationen ihre Anwesenheit aktiv gestalten.

1.6. Die »black-panards« 101 Den ersten Migrantengenerationen wird eine andere Gruppe gegenübergestellt, die pieds-noirs. Ein Pärchen auf dem Schiff erinnert Omar daran, dass das Hausmeisterpaar Vergeh, ebenfalls pieds-noirs, ihn gebeten hatte, nach ihrem ehemaligen Haus und Geschäft zu sehen, was er völlig vergessen hat. Er plant sie anzulügen, nicht aus Bosheit, sondern um sie nicht zu enttäuschen, und überlegt, dass ihnen die Verbundenheit der sozialen Gruppe wichtig sein muss, sowie der möglichst unveränder97

Er scheint bei seinen Gattinnen unter dem Pantoffel zu stehen, was den >Luxusbeförderte »J'etais toujours le plus petit en grade, mais psychologiquement c 'etait quelque chose de passer de rien a pas grand-chose. « 124 Trotzdem sah er >Votieile< darin, einfacher Soldat zu sein: »Je pouvais mourir autaut de fois que je voulais ; dix, quinze, vingt fois, je ressuscitais. J'avais meme le droit de ne plus jouer .. . « 125 Das sind keine Vorteile, sondern vielmehr negative Aspekte seiner Rolle. Er hatte im Spiel so wenig Bedeutung, dass es das Spiel nicht verdarb, wenn er nicht mitspielte, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sein Mitspielen auch keinen Einfluss auf den Verlauf hatte. Jeder hatte seine Rolle, die er in der Pause immer wieder spielte, es war von Anfang an vorgegeben. Hebt man Omars Schilderung auf eine andere Ebene, lässt es sich als Bild der Gesellschaft sehen, die sozial stärkeren definieren sich ihre Rollen selbst, wohingegen den schwächeren Anderen eine unbedeutende Rolle zugeschrieben wird, aus der sie nicht mehr oder nur sehr schwer herausbrechen können. Die Figur des Zorro 126 ist eine Variation Robin Hoods, ein maskierter Held, der im noch spanischen Los Angeles 127 die Ungerechten bekämpft und die Unterdrückten befreit. Zorro hat eine zweite Identität, lebt also gewissennaßen ebenfalls in zwei Welten, und ist der Held non identifie.m 123 124 125 126 127

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AN!, 168. Seine Schulkameraden haben ihm vermutlich nie gesagt, dass ein arabe niemals Zorro spielen kann, aber daraufläuft es hinaus. AN!, 168. AN!, 168. Spanisch: Fuchs. Die >Stadt der Engel< ist durch den hispano-amerikanischen Hintergrund ebenfalls ein Gebiet der kulturellen doppelten Anwesenheit. Zudem existiert sie doppelt, da die Hauptstadt der mittelchilenischen Provinz BioBio auch Los Angel es heißt. Das Cover des Albums Utopie d'occase (Barclay, August 2002) der Toulouser Gruppe Zebda (was auf arabisch >Butter< bedeutet und eine Anspielung auf die Bezeichnung >beur< ist), stellt einen kleinen dunkelhäutigen Zorro dar. »Un Zorro black! Zorro, c'est justement pour desacraliser notre cöte >justiciereuropäischer< Kaffee gemeint sein. 158 AN!, 27. Der vollständige Reim heißt: Croix de bois, croix de jer, si je mens, je vais en enfer.

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orientalische Art zu beenden. 159 Omar akzeptiert das Vorgegebene nicht als solches, sondem setzt etwas Neues zusammen. Besonders vielschichtig ist das Beispiel »il [Madjid] me menace [Omar] par la foudre d' Allah de m' expedier a vingt mille Iieues SOUS les mers rejoindre le capitaine Nemo«.* 160 Zwischen Madjid und Omar sind die Unterschiede so fein, dass sehr viel Wasser nötig ist, um die Undefinierbarkeit der Grenze zu verdeutlichen, wobei das Mittelmeer sowohl eine Trennung als auch eine Verbindung zwischen den Ländern sein kann. Nonnalerweise werden Blitze mit Zeus in Verbindung gebracht, der hier durch Allah ersetzt wird, 161 doch komplexer sind die Bezüge zu Jules Vernes Romanfigur Nemo, lateinisch Niemand, womit der Name, wie schon die Bezeichnung ANI, im Benennen die Identifizierung aussetzt. Nemo ist ein von den Engländern enteigneter Prinz, was eine Parallele zu den ANI bildet, Franzosen und Algerier enteignen deren sozialen Raum. 162 Desgleichen stellt Nemo einen anderen intertextuellen Verweis dar zu einem für den Mittelmeerraum insbesondere im Kontext der Migration bedeutsamen Text, die Odyssee: Dem Zyklopen Polyphem stellt sich Odysseus vor als >der NiemandArabesqueeroberter< Teil des französischen Bodens sehen, der zugleich ein Terrain relativer Freiheit ist. Für die Frauen sind die Treffen offenbar die einzige Möglichkeit, sich auszutauschen, frei von familiären Verpflichtungen oder kommunikativen Beschränkungen. Das macht den square zum Sinnbild der Solidarität, die unter den algerischen Frauen herrscht. Im Alltag sind sie Ehefrauen und Mütter, dort sind sie einfach Frauen und Individuen. Die positive Valorisierung des Raums hängt mit dem guten Verhältnis der Frauen untereinander zusammen. 23 Dem gegenüber steht die Ablehnung durch die französischen Nachbam, wenn es zu rassistischen Szenen kommt. 24 Auch im Alltag gibt es Ausgrenzung, werden die Kinder auf dem Spielplatz von manchen französischen Nachbarinnen angeschrieen und müssen sich Beleidigungen anhören. Auf dem relativ engen geographischen Raum entladen sich die sozialen Machtkämpfe heftiger, da die bestehenden Spannungen größer sind. Das problematische Verhältnis der sozialen Gruppen zueinander zeigt sich deutlicher zwischen den jüngeren Generationen. Die männlichen Jugendlichen haben, wie ihre Mütter, ebenfalls ihren Raum in der cite. Dieser wird von allen respektiert, auch Kämpfe werden dort ausgetragen. Ihr Territorium ist fast per definitionem durch Gewalt bestimmt, es ist ein Ort, an dem sichjede Subgruppe behaupten muss. 25 Alle im Text angeführten maghrebinischer Familien wohnen in sehr beengten Verhältnissen, auch Dalilas Familie. Dabei wird die Enge nicht direkt thematisiert, sondern fließt in die Beschreibung der Lebensumstände mit ein, wie das auch mit anderen Elementen geschieht. So wird beispielsweise die Armut ebenfalls implizit vennittelt, etwa durch Hinweise auf den Stromverbrauch oder die Erwähnung der wöchentlichen Ausflüge in die »douches municipales« 26 . In der Präsentation des Wohnraums zeigt

22 Fatima, 16. 23 Sie bilden dort einen Kreis, was die Solidarität und Kommunikation zusätzlich fördert. Fatima, 59f. 24 Das zeigt der Streit, der zu heftigen Beschimpfungen führt, siehe unten. 25 Siehe Fatima, 132f. 26 Fatima, 184. Siehe auch: Fatima, 14, 27, 43f., 45[., 49, 57. 115

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sich Sebbars Talent, neben den Gegenständen ebenso Gesten, Klänge und Düfte einzufangen. Die Geräuschkulisse der Wohnung, von Plattenspieler und Fernseher abgesehen, ist maghrebinisch gefärbt, neben dem Summen des Vaters und Radia-Alger ebenso durch typische Gesten und Geräusche: »Sa mere a bu le the, avec ce petit sifflement particulier aux Arabes lorsqu'ils boivent du the ou du cafe et qu'ils le trouvent bon- meme s'il est mediocre, Je siftlement accompagne toujours Ia gorgee, peut-etre pour Ia memoire d 'un bon cafe, d'un bon the parce que Je cafe et Je the a Ia menthe pour un Arabe ne souffrent pas l'approximation.« 27 Manches findet sich ebenfalls außerhalb der Wohnung in der Gruppe amsquare: »[E]lle l'a entendue soupirer de fatigue, de tristesse; de ces longs soupirs qui sortent de Ia bouche entrouverte et dont !es Algeriennes sont si genereuses, lorsque des amies de sa mere viennent ou lorsqu'elle !es rencontrent [sie!] au marche, a l'ecole ou au square. Elle !es entend soupirer, passant de Ia meme maniere Ia main en eventail d'un cöte a l'autre de Ia bouche, Je pouce sous Jementon.«28 Diese auditiven Elemente, die zum maghrebinischen Kulturkreis gehören, durchbrechen den französischen Lebensraum, verfremden ihn in der doppelten Abwesenheit. Das Leben in der Heimat, an dem keine Teilnahme möglich ist, wird fragmentarisch rekonstruiert. In der Wohnung wird der Heimatboden konkret durch einen aus Algerien mitgebrachten Teppich symbolisiert, dessen Transport an die Beförderung einer Reliquie erinnert. Die ganze Familie ist von seiner Schönheit beeindruckt: »Lorsqu'ils etaient arrives a La Coumeuve ils avaient d'abord defait Je tapis [ ... ]!es gan;ons l'avaient transporte avec precaution jusqu'a l'appartement au troisieme etage. [... ] Quand Oll ]'avait dep[ie [es petits s'etaient rou[es dessus; Ia mere l'avait touche pour en apprecier l'epaisseur; les gan;ons l'admiraient; le pere [.. .] avait d'instinct enleve ses chaussures pour poser les pieds sur le tapis et les enfants par Ia suite l'avaient imite, parce qu'ils le trouvaient si beau, ce tapis d' Aflou. (( 29 Da Fatima als wichtige Gestalt häufig auf ihm sitzt, spielt sich das Leben der Familie darauf ab. Der Teppich unterstreicht die Rolle der Wohnung als kulturelle Enklave, die sich ebenso in Fatimas Kleidung spiegelt 3 0 27 28 29 30

Fatima, Fatima, Fatima, Fatima,

17. 18f. 15f. 16.

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Sie hat wenige Kleidungsstücke, die sie außerhalb anzieht, pflegt diese jedoch mit besonderer Sorgfalt, wie ihre Röcke und ihre veste en peluche. Zuhause kleidet sie sich so, wie es in Algerien schicklich wäre. 31 Ein weiterer zentraler Gegenstand ist der große Schrank, den der Vater einem Landsmann abgekauft hatte, als er noch alleine in Frankreich lebte und sich mit mehreren Männern ein Zimmer teilte. Er ist zu einer Art Duftpalimpsest geworden: »Lorsque sa mere ouvrait l 'armoire, on sentait encore l'odeur des dattes et des figues que les trois hommes avaient gardees longtemps au fond, dans une boite en carton, melee a celle des boules de naphtaline que Fatima repandait dans le linge«. 32 Der Schrank ist der einzige in der Wohnung, daneben gibt es nur Regale, die bereits vorhanden waren, was den provisorischen Charakter der Einrichtung entlarvt. Der Schrank gleicht einer Schatztruhe, ist angefüllt mit Vorräten und Erinnerungen. 33 In ihm sind ferner die gesamten Dokumente der Familie verstaut, die Fatima sehr sorgfältig behandelt, sowie Briefe, die ihr wichtig sind, obwohl sie nicht lesen kann. Auch die Wohnung der >Frau, die ihre Tochter schlägtfranzösischen< Möbelstücken, wie Anrichte und Sessel, finden sich farbenprächtige Wandteppiche mit >orientalischem< Aufdruck sowie mit Kamelen, Wüstenbildern und weiteren Kuppeln geschmückte Dekorationen, die aus dem Maghreb stammen. Die die Heimat repräsentierenden Stücke wirken kitschig-sentimental, was sich mit der Entfremdung und Idealisierung in der doppelten Abwesenheit erklärt. Durch Kuppel- und Metdcabilder sowie die rituellen Gebete der Eltern, nimmt zudem die Religion innerhalb der Wohnung relativ viel Raum ein, ohne dass das Verhältnis der Kinder dazu thematisiert wird. Solange die Migranten in Frankreich sind, versuchen sie die Traditionen der Heimat weiterzuführen. Am Aid, dem Opferfest, fahren die Männer in die Normandie um Schafe direkt vom Bauern zu kaufen. Fatima hat schon oft gehört, wie sich die Französinnen untereinander über das Fest unterhalten: »Les mots - Sauvages, Arabes, Barbares, Habitudes, Algerie, Kabyles, Musuhuans - revenaient dans la conversation des Fran9aises au foyer« 35 Sie schlägt ihrem Mann daher vor, Fleisch zu kaufen, anstatt das Schächten daheim durchzuführen:

31 32 33 34 35

Fatima,62. Fatima, 33. Fatima, 33. Fatima, 165. Fatima, 230f.

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»Mais il refusa disant qu'il tenait a egorger lui-meme Je mouton de l'Ai:d, a initier ses fils, et a rappeler a ses enfants nes en France qu'ils n 'etaient pas d'ici, qu'ils avaient un pays et une religion, qu'ils etaient encore, malgre !es lois et !es decrets qui pouvaient en faire des petits Frans;ais, Algeriens et musulmans avant tout. 36«

Der Vater misst der Zeremonie vor allem kulturelle Bedeutung zu, die die Kinder ihrer algensehen Identität und ihrer maghrebinisch-islamischen Kultur versichert. 37 Den Aufenthalt in der Fremde >erkaufen< sich die Migranten mit Geschenken, die sie der Familie mitbringen. 38 Bei ihrer Rückkehr nach Frankreich bringen sie im Gegenzug Olivenöl und andere Viktualien mit, um ihre Abwesenheit erträglicher zu machen. In der doppelten Abwesenheit gewinnen kulinarische Dinge an Bedeutung, werden zum Heimatersatz und dienen zur Kompensation der Absenz, abgesehen von zugeschriebenen Wirkungen als Heilmittel: »Lorsqu'elle revenait d' Algerie, elle emportait plutöt de quoi nourrir Ia famille, des piments, et surtout des bidons d' huile d'olive [ ... ]. En France, elle ne pouvait se passerde cette huile d'olive; d'ailleurs c'etait bon pour tout, on Je disait dans son village et c'etait vrai; contre !es douleurs des regles, !es maux de tete et d'estomac, il suffisait d'en avaler quelques cuillerees. Mais !es enfants s'habituaient mal au goilt et elle etait obligee de !es forcer.« 39

Während die Eltern das Olivenöl mit Begeisterung essen, mögen die Kinder es nicht einmal als Arznei einnehmen, worin sich die unterschiedlichen kulturellen Prägungen ausdrücken. Das Essen ist deutlich emotional besetzt: »[U]n bol plein d'huile d'olive, tres verte et tres forte, dont l'odeur ecceurait les enfants et qu' elle allait sentir dans Ia journee lorsqu'elle etait seule et qu'elle avait faim, lorsqu'elle pensait a l'Algerie, aussi. [... ] L'huile d'olive de France n'etait pas aussi bonne. Elle Ia trouvait fade et chere.« 40 Der Ekel, den die Kinder empfinden, ist kongruent mit den Problemen, die sich aus der traditionellen Erziehung als Gegensatz zur doppelten Anwesenheit ergeben. Zwischen der Mutter und den 36 Fatima, 232f. 37 Dalila hatte bereits die ihr gesetzten Grenzen überschritten und sich ins Badezimmer eingeschlichen, um dem Schächten beizuwohnen, was eine Verletzung der traditionell maskulinen Sphäre darstellt. Das kann als Vorlauf ihres späteren Ungehorsams und schließlich ihrer Flucht gesehen werden. 38 Die Migranten >bezahlen< mit ihren Geschenken gewissermaßen ihre vorübergehende Wiederaufnahme in den Kreis der Familie. Siehe Fatima, 171. 39 Fatima, 173. 40 Fatima, 173f.

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Töchtern werden durch die Ernährung im Besonderen die ungleichen Schönheitsideale deutlich. Die Mutter ist groß und dicklich, »comme beaucoup de femmes de h1-bas«. 41 Sie macht sich keine Gedanken darüber, sondern orientiert sich selbstverständlich an den heimatlichen Normen. Bemerkungen ihrer Töchter über ihr Gewicht kann sie nicht einordnen: »Est-ce qu'elles avaient honte lorsqu'elles sortaient avec elle, leur mere ? eile n'y avait jamais pense.«42

1.3. Fatima Der Haupttitel Fatima verweist auf die Tochter des Propheten, und damit allgemein auf muslimische Frauen, die im übertragenen Sinn alle Töchter der Fatima sind. Im französischen Kontext hat die leicht abgewandelte Fonn >Fatma< eine völlig andere Konnotation, die auf die typische Arbeit maghrebinischer Frauen Bezug nimmt sowie den Kolonialismus mit der Arbeitsmigration verknüpft: »[M]ot arabe, du nom propre Fatima [ ... ] Femme arabe, domestique dans !es pays du Maghreb, au temps de la colonisation. «43 Auch die Hauptfigur Fatima hat eine Zeitlang als Putzfrau gearbeitet, bei Babette, einer juive tunisienne, die einen Friseursalon besitzt. Die beiden Frauen hatten ein eher freundschaftliches Verhältnis. Trotz großer Unterschiede bezüglich Religion, Herkunft, Familienstand und Arbeitssituation, vereinen das Mittelmeer und die Migration die beiden Frauen dennoch. Einmal vertauscht Babette die Rollen und frisiert Fatima, die es nicht gewohnt ist, sich verwöhnen zu lassen oder sich im Spiegel zu betrachten. Sie genießt das und entspannt sich, aber der Nachmittag bleibt ihr Geheimnis, als gehöre er zu einem Teil ihrer Selbst, der nicht offiziell existiert. Auch in anderem Zusammenhang zeigt sich der fragmentarische Charakter von Fatimas Identität. Ihren Namen etwa, den sie, wie die Namen aller Familienmitglieder, lesen und schreiben lernt, findet sie sehr schön, sowohl graphisch, in lateinischen Buchstaben, als auch hinsichtlich des Klangs. Bedeutsam ist das im Kontext der Identität, die sich durch die Benennung bestätigt: »FA-TI-MA c'etait son nom, mais qui dans la maison l'appelait par son nom? Les enfants l'appelaient - maman - ou - imma - parce qu' eile le leur avait appris en arabe des la naissance ; et son mari ... l'appelait rarement sauf lorsqu'il avait a lui parler

41 Fatima, 173. 42 Fatima, 173. 43 Le Robert. Hervorh. im Original.

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de sujets graves«. 44 Fatima wird nur selten bei ihrem Namen genannt, da sie auf ihre traditionellen Rollen reduziert wird, ohne als Individuum wahrgenommen zu werden. 45 Nach dem fünften Kind hörte Fatima auf zu arbeiten, weil sie überlastet war und anfing, ihre Kinder zu schlagen. Dabei arbeitete sie gern und mochte selbst die lange Anfahrt per Bus und Metro, da es ihr gefiel, die anderen Fahrgäste zu betrachten: »Elle regardait. Elle avait remarque que personne ne regarde personne. Pas par discretion - par ennui, fatigue, indifference. Elle ne se genait pas. On devait Ia trouver insolente. Elle ne baissait pas les yeux lorsque son regard se heurtait a un autre regard, masculin ou feminin. «46 Dieses Verhalten ist für eine traditionelle maghrebinische Frau ungewöhnlich, sie sollte Fremde nicht direkt anschauen, um niemanden zu provozieren. Doch das Eintauchen in die Anonymität der Fahrgäste erlebt Fatima als befreiend, zumal die Arbeit eine Emanzipation hinsichtlich ihrer traditionellen Frauenrollen darstellt. Auch entwickelt sie den Wunsch, sich schöner zu kleiden, da ihr gut angezogene Frauen gefallen, und sie beschließt, für eine Nähmaschine zu sparen. 47 Im Kontext der doppelten Abwesenheit ist ihr Anliegen, die Abwesenheit der gesellschaftlichen Wahrnehmung durch Unauffälligkeit zu sichern. Die fast schon übertriebene Sorge um die Kleidung zeigt Fatimas Furcht, negativ aufzufallen. In der Wohnung, dem als Heimat gewerteten Raum, kleidet sie sich traditionell und markiert den Grenzübertritt beim Verlassen der Wohnung durch ihre Kleidung. Den Kindem legt sie jeden Morgen bereit, was sie in der Schule anziehen sollen, ältere Kleidungsstücke hält sie für schulfreie Tage zurück. Fatimas Bemühungen das Aussehen betreffend sind zugleich Ausdruck des Bewusstseins, ein Fremdkörper in der französischen Gesellschaft zu sein. Sie tut alles, um ja nicht als sale arabe wahrgenommen zu werden, ein Schimpfwort für maghrebinische Migranten. Als Mutter und Ehefrau hält Fatima die Familie zusammen, doch an der Aufgabe, das kulturelle Erbe weiterzugeben, scheitert sie aufgrund der doppelten Anwesenheit der Kinder, die sich schlecht mit der doppelten Abwesenheit vereinbaren lässt. So würde Fatima etwa die Kinder gerne in eine arabische Schule schicken, damit sie ihre eigentliche Muttersprache schreiben lernen und sie nicht vergessen, da sie sich der Verdrängung durch das Französische bewusst ist. Noch hören die Kinder aufihre 44 Fatima, 47. 45 Ferner steht Fatima stellvertretend ftir die Algeriennes, die ihre Individualität am square erhalten, während Fatma, die Putzfrau, das Ergebnis einer Verallgemeinerung ist. 46 Fatima, 116. 47 Die Bedeutung, die sie Kleidung beimisst, zeigt sich ebenso in den TatiAusflügen mit den Kindern. 120

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in arabisch fonnulierten Anweisungen, doch es ist absehbar, dass das mit zunehmendem Alter problematischer werden wird. Abgesehen von denjüngeren Kindern, die sich noch sehr an der Mutter orientieren, bezeugt Dalila das größte Interesse für die Heimat der Eltern. Ihre Btüder hingegen leimen Algerien aufgrund der Erzählungen von Freunden ab. Das Land ist ihnen fremd und sie können es nicht mit ihrem Leben in Einklang bringen. Das Leben in Gemeinschaft, das den Eltern wichtig ist, wird von den jüngeren Generationen als soziale Kontrolle empfunden und abgelehnt. Fatima bricht aufkommende Diskussionen ab: »Ün ira tous quand Ia maison sera terminee.« 48 Das in Algerien gebaute Haus steht für den Rückkehrwillen der Eltern: »La famille avait quelques champs. La parcelle du frere de France avait ete vendue pour entreprendre, enfin, de construire Ia maison dans laquelle il reviendrait habiter et vivre avec sa famille, ou pour y mourir. «49 Im Leben wie im Tod ist das Haus ein psychologischer Platzhalter der Familie in der Ursprungsgesellschaft sowie die Manifestation des Rückkehrwunsches. Bezeichnend ist, dass der Bau des Hauses nicht mit in Frankreich verdientem Geld initiiert wurde, sondern indem ein Feld verkauft und damit ein Stück heimatliches Territorium aufgegeben wurde, was als Ausweitung der Abwesenheit gelten kann.

1.4. La fugueuse - Dalila In den acht Tagen vor ihrer Flucht, »ces huit jours de greve de maison, d'ecole, de parents, de pere surtout, au bout desquels elle avait pris Ia decision de partir« 50, scheint Dalila ihr Leben auszusetzen, sie zieht sich aus dem Familienleben zurück, bevor sie es ganz verlässt. Sie geht nicht außer Haus und verweigert die Kommunikation mit ihren Eltern, obwohl sie gerne offen mit ihrer Mutter sprechen würde, da sie die mit ihrer Flucht verbundenen Folgen belasten. An ihrem letztem Abend kommt Fatima noch eimnal kurz in ihr Zimmer, um ihr einen Kuss zu geben, aber da Dalila weiß, dass sie am nächsten Tag von zuhause weggehen wird, stellt sie sich schlafend. Die Kommunikationslosigkeit, ja -Unfähigkeit steht im Gegensatz zum roten Faden, den Geschichten der Algeriennes au square, an die sich Dalila erinnert. Der Schlusssatz wirkt lapi48 Fatima, 51. 49 Fatima, 38. 50 Fatima, 55. Dalilas Rückzug vor der Flucht dauert acht Tage. Zum einen ist die Acht als Zahl geometrisch, liegend bildet sie das Zeichen für Unendlichkeit w, passt damit zur arabesken Narration. Zum anderen bildet das Achteck den Beginn der Transformation des Quadrates in den Kreis und symbolisiert damit den Entwicklungsprozess, den das Mädchen durchlebt. 121

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dar: »Lorsque Dalila partit, Fatima pleura longtemps, assise comme une vieille femme, sur Je tapis d'Aflou.« 51 Dalila lässt ihre Mutter auf dem Teppich, dem Symbol ihrer Ursprungskultur zurück, um ihren eigenen Weg zu finden, der über die durch den Teppich gesetzten Grenzen hinausgeht. Was das Verhältnis zwischen Vater und Tochter angeht, gibt es keine gemeinsame Basis, während er von den Normen seiner Ursprungskultur ausgeht, will Dalila die durch die doppelte Anwesenheit vermittelten Freiheiten ausleben. Ihre Flucht ist eine Reaktion auf die traditionellen Regeln, weil ihr Vater sie bei Nichtbefolgung schlägt. Dabei lehnt sie die Heimat der Eltern nicht grundsätzlich ab, sie interessiert sich dafür, ohne sich damit zu identifizieren und will als einziges der Kinder eines Tages hinfahren. Sie wundert sich jedoch über die geläufige Drohung von Eltern, unfolgsame Kinder in die Heimat ZU schicken: )) L' Algerie etait dorre un pays de reeducation ? [ ... ] 11 disait qu' elle irait chez son oncle qui avait une fille de son äge. Elle apprendrait a vivre la-bas. Elle saurait l'arabe qu'elle ne voulait pas parler en France, bien obligee.« 52 Der Vater spricht mit Fatima darüber, die fürchtet, das Land zur Bedrohung zu stilisieren, zumal die Söhne ohnehin nicht hinfahren wollen. Da Algerien nach Ansicht der Eltern auch die Heimat der Kinder ist, mag die Drohung zunächst seltsam wirken, aber darin trifft die doppelte Abwesenheit auf die doppelte Anwesenheit. Die Abwesenheit von der Heimat und die daraus resultierende Entfremdung ermöglicht überhaupt die bedrohliche Darstellung des heimatlichen Raums. Hinsichtlich der doppelten Anwesenheit muss dem Vater zugleich bewusst sein, dass die Kinder sich schon zu weit von den Traditionen entfernt haben. Das ,Zurück'Schicken bietet eine scheinbare Lösung und würde zudem seine Autorität bestätigen. Dalila fühlt sich nicht als Französin, betrachtet aber ebenso wenig Algerien als ihre Heimat, das sie als Land ihrer Vergangenheit, aber nicht ihrer Zukunft begreift: »Meme si elle ne voulait pas etre fran9aise, aller vivre la-bas, elle le refusait aussi. Elle irait plus tard.« 53 Auch mit dem Glauben identifiziert sie sich nicht. Ihre Eltern sind gläubige Muslime und unterstellen ihr dasselbe, obwohl sie keinen Bezug zur Religion hat. Ihr Interesse daran ist oberflächlich, sie setzt sich nicht damit auseinander, da sie es weder als Teil ihrer Ursprungskultur noch ihrer Selbst sieht. Sie distanziert sich deutlich von der Religiosität der Eltern, für die Nationalität nud Religion zusammengehören: »Algerienne, oui, elle pouvait le 51 Fatima, 234. Wenn sich Fatima um Dalilas Wunden kümmerte, saßen sie ebenfalls darauf (Fatima, 15). 52 Fatima, 108. 53 Fatima, 109.

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dire ou on le disait pour eile, mais musulmane, eile ne pensait pas qu'on pouvait la croire musulmane parce qu 'elle etait algerienne.« 54 Gegenüber den Bildungsmöglichkeiten, die die französische Gesellschaft bietet, sind die Eltern positiv eingestellt. Fatima etwa ist es wichtiger, dass Dalila für die Schule lernt, als im Haushalt zu helfen. Die Mutter hofft, dass die Tochter eines Tages studieren und Lehrerin oder Ärztin werden wird. Sie hat eine liberalere Einstellung, was die Erziehung angeht, auch wenn sich das nicht in ihrem Verhalten niederschlägt. Fatimas Haltung erklärt sich durch ihre eigene Erfahrnng, sie war als Mädchen von der Bildung ausgeschlossen worden, obwohl sie offenbar sehr wissbegierig ist. Dalilas Vater will, dass sie sich in der Schule anstrengt, ohne sich näher dafür zu interessieren, womit sich die Kommunikationslosigkeit der Vater-Tochter-Beziehung als chronisch erweist. Ihr Vater reduziert sie auf ihr Dasein als Schülerirr und Tochter, blendet aus, dass sie darüber hinaus als Person existiert: »11 pensait qu' elle ne connaissait que le trajet de la maison au college.« 55 Ihre Mutter erlaubt Dalila manchmal, eine Freundin zu besuchen, ahnt jedoch nichts von den Ausflügen der Mädchen nach Paris. Diese Ausbrüche aus der Monotonie der cite bieten Gelegenheit, sich in Frage zu stellen und mit Alternativen zu spielen, was in der Phase der Identitätsbildung von Bedeutung ist. Sie denken sich französische Namen aus, mit denen sie sich Fremden vorstellen, wählen sich aber ebenso Geheimnamen, mit denen sie sich vorübergehend identifizieren: »Dalila s'etait, l'annee pn!cedente, attribue un prenom frans;ais qu'elle ecrivait en cachette au bas de lettres fictives qu'elle n'envoyaitjamais et qu'elle dechirait, parce qu'elle n'avait aucun endroit dans Ia maison ou !es cacher. Depuis quelque temps elle n'y tenait plus beaucoup a ce prenom - SOPHIE. Sa copine lui avait avoue une fois son prenom frans;ais- SYLVIE- et elle avait du faire un effort pour se rappeler qu'elle avait eu aussi un faux prenom de son choix.«56 Dalila hat innerhalb der Wohnung keinen eigenen Raum zur Verfügung, was, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, als fehlender Entfaltungsraum zu verstehen ist. Die Ausflüge in die Stadt sind zum

54 Fatima, 22f. 55 Fatima, 23. 56 Fatima, 24f. Die Hervorhebung im Text zeigt die Bedeutung der Namen, die als Ausdruck einer >französischen Phase< gesehen werden können, während der der Pol der Assimilation der doppelten Anwesenheit vorübergehend größere Anziehungskraft besaß. 123

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einen Ausdruck eines Freiheitsstrebens, zum anderen ein spielerischer Besuch inmitten der Gesellschaft, in der sich Dalila zu situieren sucht. Im Zuge der Identitätskonstruktion distanziert sie sich auch von ihrer Mutter und deren Freundinnen, sie nennt sie .femmes arabes, und nimmt vor allem die Differenz zu den französischen Frauen wahr. Als Kind suchte sie die Nähe zu den Frauen und wich nicht von Fatimas Seite, jetzt langweilen sie sie. Sie spricht zwar französisch, konnte aber arabisch und kabylisch verstehen, womit ihr späteres Nichtverstehen ebenso Ausdruck ihrer identitären Emanzipation ist. Ein heftiger Streit in der cite, der von den Kindem auf die Mütter übergriff, verstörte Dalila sehr. Als sie nach der Bedeutung mancher Schimpfwörter fragte, die sie von den zankenden Frauen gehört hatte, gab Fatima ihr eine Ohrfeige, bereute das aber kurz darauf: »A travers les sanglots sa mere l'avait entendue hoqueter >Alors, alors . .. c'est nous les bicots, les ratons, les crouilles tout Tu peux toujours essayerFremden< richtet sie alles tadellos her, zumal so die Notwendigkeit der Besuche negiert wird. Alcha wahrt den Schein erfolgreich, die Berichte der Sozialarbeiterin fallen positiv aus. Dabei ist die Kommunikation zwischen den beiden Frauen weiterhin gestört: »Elle parlait comme si la femme de l'epicier qui ne disait que quelques mots de franyais comprenait tout.« 91 Wie bereits der Richter, legt auch die Sozial89 Fatima, 73f. 90 Fatima, 75. 9J Fatima, 77.

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arbeiterirr Alcha nahe, nach Algerien zurückzukehren. Sie argumentiert mit besseren Wohnverhältnissen und sieht die Rücldcehr als Lösung: >»Ils seraient plus heureux Ia-bas. Dites-le a votre mari. Je lui en parleraimagischen Öl< eingerieben und daher unverwundbar war. Es handelt sich um die Sage des Achilles, der von seiner Mutter in den Unterweltfluss Styx getaucht unverwundbar wurde, außer an seiner Ferse, wo sie ihn festgehalten hatte. Als Kind hatte er ihr aus seinen Büchern vorgelesen, dabei auch Zusammenhänge auf arabisch erklärt, wenn sie nicht alles verstand. Er hatte damals schon die Rolle des sprachlichen Mittlers inne, der seiner Mutter die französische Kultur näher brachte. Sie hingegen erzählte den Kinder im Bett Les Mille et Une Nuits, wobei der Sohn ebenfalls erklärend eintrat. In seiner Situation der doppelten Anwesenheit erkannte er, wann die Grenzen der Kompatibilität mit der doppelten Abwesenheit seiner Mutter erreicht waren. Als er ihr aus der französischen Buchausgabe vorlas, die er aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, hörte er nach der ersten Seite auf, da sie kein Wort verstand: » [T]u as dit- J 'aime mieux quand c' est toi qui raconte le soir dans la chambre«. 131 Das Unverständnis ist zwar sprachlich bedingt, kann jedoch allegorisch, durch die Aneignung der arabischen Kultur und der Verbreitung des Textes in französischer Übersetzung, als Verfremdung des Ursprünglichen bis zur Unkenntlichkeit verstanden werden. Der Sohn gibt zu, das Buch heimlich gelesen zu haben, auf der Suche nach den Geschichten der Mutter, doch selbst bekannte Geschichten hörte er lieber von ihr. Die Mutter war stolz, dass ihr Sohn so gut lesen konnte, zugleich wünschte sie sich, und wünscht sich noch, dass er auch fließend arabisch lesen könnte. Das will er auch selbst einmal, sodass der intertextuelle Verweis die arabische Geschichtensammlung, die durch die französische Übersetzung dem europäischen Kulturgut zugeführt wurde, zum Medium macht. Dem Sohn ist die kulturelle Zuordnung klar, mit der Muttermilch eingeflößt, wie sie das ausdrückt. Die Verfremdungen des Titels, »Les Mille et Une Nuits [... ] Limiliouninoui [.. . ] All Lei1a oua Lei'la« 132 , unterstreichen die Transformierbarkeit des literarischen Textes, der in der doppelten Anwesenheit interkulturelle Bedeutung hat. 133 Die Mutter kommt erneut auf Achilles zurück und meint, dass dessen Mutter den Tod ihres Sohnes mit verschuldet habe, dass es aber auch sein Schicksal gewesen sei: »Il est mmt a la guerre parce qu' il devait mourir a

131 ParZe, 35. 132 ParZe, 37. Hervorh. Sebbar. 133 Der Sohn verknüpft mit der Geschichtensammlung nicht nur Kindheitserinnerungen, sondem ebenso eine Bahnreise in Amerika, während der er sie zwei französischen Kindem erzählt hatte.

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la guerre.« 134 Übertragen auf Mutter und Sohn lässt sich sagen, dass sie ihm kulturelles Gut mitgegeben hat, etwa in Form der Erzählungen aus Les Mille et Une Nuits, die ihn im interkulturellen Territorium beschützen sollen. Aber inwieweit ihn das absichert, ist unklar, da sich sein Schicksal, wie auch immer, erfüllen wird. Über den persil arabe, der flir die traditionelle Suppe verwendet wird, kommen sie auf den Fastenmonat Ramadan zu sprechen, doch der Sohn antwortet nicht auf die Frage, ob er fastet und betet, sondern weicht aus. Er möchte offenkundig nicht über Religion oder damit verwandte Themen sprechen, vennutlich, da er beide Fragen verneinen müsste. Er sieht seiner Mutter bei der detailliert beschriebenen Zubereitung des Tees zu, die ritualisiert anmutet, was das Einvernehmen zwischen beiden wieder herstellt: »Ils boivent sans parler a petites gorgees sifflantes. Ils ne disent pas que c'est bon ... ce serait une offense.« 135

2.3. »[L]a future epouse ideale« 136 Die Mutter will wissen, ob der Sohn keine Frau gefunden hätte, sie meint, ein Mann könne nicht für sich sorgen. Sie weiß bereits, wie die richtige wäre, flir ihn und »tous les gar9ons comme toi, des gar9ons de chez nous qui peuvent dire [... ] >Il n'y a de Dieu que Dieu et Muhammad est son prophete ... Heidin< deklariert worden- »tu n'avais ni pou arabe, ni pou chretien« 14R - was Mutter und Sohn zum Lachen bringt. Dieses Lachen bricht das Eis zwischen ihnen, der Sohn wird gesprächiger. Er evoziert seine Kindheitsträume, Musiker, Gelehrter und Astronaut zu werden und behauptet, dass er das noch erreichen wird. Er äußert sich ferner über Religion und sein jetziges Leben, indem er erklärt, dass er zwar nicht mehr regelmäßig betet, sich aber noch nach den islamischen Regeln wäscht. Sie hakt nach und spricht eine andere Dimension der Reinheit an, die Reinheit der Seele, womit sie sein kulturell-religiöses Bewusstsein meint: Er darf nicht vergessen, woher er kommt. Sie will das Glaubensbekenntnis mit ihm gemeinsam wiederholen, doch er schweigt, geht nicht darauf ein. Sie insistiert nicht, sondern verweist auf die Gebete in der Kindheit: »C'est pas grave, tu as su les prieres, tu as recite les sourates avec moi ; tu ne !es oublieras plus, elles sont dans ton 145 146 147 148

Parte, 65f. Parte, 25, 40. Parte, 49. Parte, 52.

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creur, si ta tete ne se souvient pas ... Rappelle-toi seulement que tu as une ame ... C'est le plus grave, le plus important, l'äme, si tu le sais, le reste ... «. 149 Sie merkt, dass er sich wieder von ihr entfernt und dass er bald gehen wird. Das votübergehende Einvernehmen zwischen Mutter und Sohn ist verflogen: »Elle ne sait pas s'il ecoute. Elle ne sait pas ce qu'il pense; c'est eile qui parle et lui ne dit rien.« 150 Das Gespräch ist sehr wechselhaft, es schlägt rasch von Einverständnis und Vertrauen um in Misstrauen seitens des Sohnes. Er weiß, dass sie bestimmte Dinge wissen will, ohne dass er sich dem entziehen kann, es gelingt ihm aber nicht, seinen Argwohn zu unterdrücken: » Il a leve la tete un peu trop vite, la mere comprend qu'il se mefie. Elle s'occupe du cafe. Elle ne parle plus. Le fils est silencieux.« 151 Das geschieht mehnnals, bis die Mutter endlich die Fragen stellt, die sie beschäftigen, nämlich ob er irgendwo Frau und Kinder hat, die nicht den Vorstellungen seiner Mutter entsprechen. Darin vermutet sie auch den Grund für seine Schweigsamkeit. Die Sprachbarriere, abgesehen von den kulturellen Unterschieden, würde eine Annäherung erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Sie fürchtet, er könnte sich flir seine Ursprünge schämen und verweist ihn erneut auf die >Heimatgeduckt< wie der Vater, und scheint nur über ihre Familie zu existieren, über die Rolle, die sie darin spielt. Das bestimmt sowohl ihre soziale Identität als auch ihr Verhältnis zu Anderen. Sie orientiert sich an ihrem algerischen Hintergrund und flihlt sich nicht als Französin. Als Nacera Adel begegnet, verliebt sie sich zum ersten Mal. Ihr persönliches Glück ist eine Flucht vor dem tristen Leben zuhause, sie versteckt es, da es ihr unpassend erscheint, es vor Djamila und Amira auszubreiten. Dieser Ausbruch aus dem Familiengeflige wirkt wie ein Emanzipationsversuch, doch vermutlich rechnet sie auf lange Sicht mit einer Heirat, womit sie die Verantwortung flir ihre Familie abgeben könnte. 18 Nach anfänglichem Misstrauen ist sie mit der eher traditionellen Beziehung zufrieden - in Gesellschaft gibt Adel sich distanziert, sobald sie alleine sind, ist er sehr zärtlich. 19 In der Öffentlichkeit wirkt Adel nervös, weil er keine Aufenthaltsberechtigung hat, wie sich erst später herausstellt. Die Beziehung dauert über ein Jahr, Nacera verhält sich ihm gegenüber wie zu ihrer Familie, sie stellt keine Ansprüche. Ihr kommt in den Beziehungen die Rolle der Starken zu, sie sorgt flir ihre Familie und auch neben Adel wirkt sie stärker, ist aber im Grunde die Schwächere, da sie sich als Person aufgibt: »Je voulais etre sa femme, sa sreur, son Algerie et sa France a Ia fois .«20 Als Adel spurlos verschwindet, sucht sie ihn vergeblich. Sein Fortgehen erklärt er in einem Brief, er wurde abgeschoben. Die Schuld lastet er ihr 16 CP, 89. 17 Ferner macht sie dort gelegentlich sauber, übernimmt also Arbeiten, die nicht ihrer Anstellung entsprechen und verhält sich unterwürfig wie ihr Vater, CP, 97. 18 Während Amira einen Ausweg in der Beziehung mit einem Franzosen suchte, sieht Nacera ihr Glück mit einem Algerier. Schon Djamila hatte geheiratet, um ihrem Elternhaus zu entkommen. 19 CP, 150. 20 CP, 151. 164

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mit an, da Frankreich >ihr< Land ist. 21 Nacera ist verbittert, zumal die angegebene Telefonnummer sich als falsch erweist. Adel war ihre letzte Hoffnung, mit ihm hätte sie ihre Schwester überredet, nach Algerien zurückzugehen. Doch so nimmt die Isolation immer dramatischere Züge an, die Schwestern verlassen das Haus schließlich fast gar nicht mehr. Naceras Liebeskummer wirkt sich negativ auf ihre Arbeit aus und veranlasst ihren Chef, seine Vorurteile offen zu zeigen: »Le patron conclut definitivement al'impossibilite qui frappe les Arabes de se consacrer avec serieux a une täche et me pria d'aller rejoindre le harem de mes cousins.« 22 Das steigert Naceras Verbitterung zusätzlich, da sie immerhin schon seit fast zehn Jahren dort arbeitet. Wie schon der Arbeitgeber ihres Vaters, der alle arabischen Arbeiter Momo nannte, reduziert Naceras Chef sie auf ihre Herkunft, er sieht sie nicht als Individuum und erkennt ihre jahrelange Arbeit nicht an. 23 Nacera verheimlicht Djamila die Kündigung und sucht eine neue Arbeit. Um überhaupt Geld zu verdienen, nimmt sie schon bald Gelegenheitsjobs an, da sie in den Unternehmen abgelehnt wird. Sie kann weder eine Ausbildung noch geeignete Fremdsprachen vorweisen, erklärt ihr Scheitern aber anders: »Personne n' osait me regarder dans les yeux pour me dire mon principal handicap: je m'appelais Nacera Touirellil.« 24 Ihre kulturelle Fremdheit, stigmatischsichtbar am Namen, drängt die Erzählerirr immer mehr an den Rand der Gesellschaft. Naceras Verhältnis zu Frankreich verschlechtert sich zunehmend, Adels Vorwürfe und das Verhalten ihres Arbeitgebers sowie ihrer Kollegen bestärken sowohl die Ausgrenzung als auch ihre identitäre Distanzierung entscheidend. Genevieve, eine Arbeitskollegin, fordert Nacera auf, ihre Rechte auf finanzielle Unterstützung vom Staat geltend zu machen, doch diese hat die Kraft nicht mehr, zumal es ihrem Stolz widerstrebt, den sie als Erbe ihrer Eltern sieht. Sie hätte das Gefühl zu betteln und will sich der Prozedur nicht aussetzen, es schüttelt sie schon, wenn sie nur daran denkt. Amira und sie werden zu »citoyennes de seconde categorie« 2S, sie stehen am Rand, ohne Freunde noch Geld. Sie verkaufen die Möbel und reduzieren den Lebensraum extrem, nur ihr Zimmer bleibt unverändert. 26 Die 21 CP, 155. 22 CP, 153. 23 Dennoch bleibt Nacera naiv, was sich bei ihrem Abschied zeigt: »Je !es aurais bien remercies pour tout, mais !es sourcils fronces de mon amie [Genevieve] m'en dissuadaient. Elle seule m'avait prepare un cadeau de depart.«, CP, 153. 24 CP, 163. 25 CP, 165. 26 Sie verkaufen das Radio, den Fernseher, die Koffer, das Bett der Mutter, den Küchentisch und zwei Sessel. Radio und Fernseher sind Kommunika165

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räumliche Enge spiegelt die soziale Isolation. Naceras Verhältnis zum Raum ist getrübt, eine Anstellung als Immobilienmaklerin verliert sie, da sie keines der Objekte vermietet oder verkauft. Ohne eigenen Platz innerhalb der Gesellschaft, kann sie nicht mit Boden handeln. Ein anderes Mal bieten ihr Obdachlose eine Zigarette an, denn offensichtlich sehen die clochards ihr an, dass sie ihnen in gewisser Weise ähnelt, ebenfalls kein Territorium hat. 27

1.2. Die Anorektikerin Amira Nacera glaubt, dass die Mutter in Frankreich geplant schwanger wurde, mit dem Ziel, die Erinnerungen an die Heimat zu unterbinden. Das Baby sollte die Familie ersetzen und die Migrationssituation erleichtern, indem es die Einsamkeit in der Abwesenheit zerstreute. Amira wehrt sich von Anfang an gegen diese Erwartungen, sie ist ein schwieriges Kind, weint jede Nacht »comme sie eile refusait d ' etre venue au monde pour guerir sa mere de son passe.« 2g Dabei hat Amira selbst keinen Bezug zu Algerien und wird von der französischen Gesellschaft als Fremde ausgegrenzt, »nos parents venaient d'ailleurs et Oll s'achama a montrer a ma sceur, convaincue du contraire, qu 'eile ne ressemblait pas aux Fran9ais, ma sceur aux yeux gris-vert et aux cheveux si raides.« 29 In Amiras Magersucht, die schon im Kindesalter angelegt ist, drückt sich die Ablehnung von Djamilas Erwartungen aus. Im zweiten Jahr des college ist ihre Gesundheit ernsthaft gefährdet als sie eine identitäre Krise durchlebt. Sie setzt sich mit ihrer Andersartigkeit nicht auseinander, will nur wie ihre Mitschüler sein: » Fran9aise a cent pour cent. [... ] 11 lui fallait prouver qu'elle n'avait aucun lien avec les origines de ses parents.«30 Sie findet keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, wer sie ist, da sie Djamilas Definition über ihre Vorfahren ablehnt. 31 Die

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tionsmedien, Tisch oder Sessel normalerweise Orte des Familienlebens, so dass der Verkauf dieser Möbel den Abbruch der Kommunikation betont. CP, 154f. CP, 21. Erst als sie in die Schule kommt, wird sie ruhiger und selbstsicherer: »Separee de notre mere, elle paraissait moins nerveuse, plus süre d' elle.« CP, 81 . Ihre Augen vereinen das Grün des Islams und das Grau der Migration. CP, 86f. »Tu es ma fille, pardi ! Algenenne pur sang ! Descendante de Sidi Bou Ali, que Ia misericorde de Dieu soit sur lui !«, CP, 87. Zuvor hatte sie ihren Lehrer gefragt, war jedoch unzufrieden mit der Antwort : »- Ne trouvezvous pas que les Arabes manquent de civilisation?- Comment! Mais c'est 166

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Krise verschlimmert sich und mit der Essensverweigerung geht die verbale Abstinenz einher. 32 Als Ahmed mit Amirareden will, fällt ihm Djamila ins Wort und verweist sie erneut auf ihre Herkunft: »Songe a tes cousines qui ont n!ussi a etudier. [... ] elles occuperont des postes importants et te mepriseront si tu as abandonne l'ecole.« 33 Die Mutter setzt sie in Relation zur algerischen Familie, obwohl Amira nicht deren Achtung anstrebt, sondern sich an der französischen Gesellschaft orientiert. Amiras Leistungen nehmen weiter ab und sie sucht Zugang über ihre Mitschüler, von denen sie sich äußerlich kaum unterscheidet: »Elle etait comme eux, blanche de peau, les yeux gris-vert, les cheveux chätain clair, tombarrten cascades sur ses epaules.« 34 Sie verleugnet ihren algerischen Hintergrund, nennt sich Marie und erfindet eine neue Identität mit italienischen Ursprüngen, denn das europäische Mittelmeerland stellt eine Zwischenstufe der Integration dar, seine Migranten gelten kulturell als weniger fremd. 35 Die lapidare Diagnose von Amiras Krankheit als Anorexie durch einen herbeigerufenen Arzt stößt auf das Unverständnis der Familie: »C'est une maladie inconnue chez nous. Elle ne frappe que !es gens d'ici, parce qu'ils sont sans foi, ni creur. Maman hocha Ia tete en signe d'approbation. Elle croyait fermement, elle aussi, que l'anorexie etait un mal de romantiques, d'athees, de suicidaires. Un mal fran9ais. J'ai pense aussi : >Non seulement ma sreur veut vivre comme eux, mais elle s'arrange pour souffrir des memes maladies.«< 36 Die Krankheit entfremdet Amira den Eltern, selbst Nacera sieht darin übertriebenen Assimilationsdrang. Nach Ahmeds Tod wird sie zudem depressiv. Bechir, ein Freund der Familie, droht, sie nach Algerien zu schicken, »si elle continuait a etre malade sans raison.« 37 Die Depression

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de chez vous qu'elle est partie, Ia civilisation! repliqua M. Eccars outre«, CP, 87. Die Verbindung zwischen Kommunikation und Essen wird durch Totenund Festessen deutlich, diese verbinden und stärken die Identität. In der Familie haben gemeinsame Essen eine kommunikative Funktion. CP, 91. CP, 89f. Das modifizierte Anagramm illustriert die identitäre Defragmentierung. Nacera verletzt die erfundene Identität, da sie damit verleugnet wird. Sie kommt später darauf zurück, siehe CP, 127. CP, 94f. Hervorh. Zouari. CP, 105. 167

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wird genauso wenig verstanden und akzeptiert wie die Anorexie, sodass Amira nicht als Kranke respektiert wird. Zur französischen Sprache hat Amira einen identifikatorischen Bezug, es ist ihre Muttersprache, Frankreich ihre symbolische Mutter. Sie erträgt es nicht, Djamilas schlechtes Französisch zu hören, die etwa aus carnaval ein carnafal macht. 3 g Nacera weiß, dass ihre Schwester sich nicht mit Algerien identifizieren will, dass sie das Land ihres kulturellen Ursprungs ablehnt. Dennoch wird sie von der französischen Gesellschaft ständig darauf verwiesen, ebenso wie von der gelebten Kultur der Eltern, »cette Algerie ou te renvoyait chaque tintement de bracelet de ta mere, comme t'y envoyait naguere chaque inclinaison de ton pere en direction de La Mecque.« 3 ~ Amira identifiziert sich mit der französischen Gesellschaft, da die algerische ihr keine Modelle liefert. Sie zieht es sogar vor, in Frankreich ignoriert zu werden, als sich in Algerien Blicken auszusetzen, die sie nach für sie fremden Maßstäben messen. Mit 18 Jahren flüchtet Amira sich in die Arme des doppelt so alten Nicolas, bereut das aber bald, da er sie schlecht behandelt und eher dem negativen Klischee arabischer Männer entspricht. 40 Er sieht sie nicht als Person, sondern sucht in ihr seine Idealvorstellung der arabischen Frau. Nacera betrachtet diese Erfahrung als Wendepunkt in Amiras Identitätskrise. Sie vermutet, dass ihrer Schwester da klar wurde, dass sie nie ihre Ursprünge abstreifen und sich in eine Französin verwandeln würde: »Non, elle ne pouvait avoir un autre corps, ni changer de destin. Sous sa peau blanche continuait a couler le sang de Djamila. Quelle que füt sa complicite avec ses camarades frant;:ais, sa sreur s'appellerait toujours N acera. «41 Das erklärt ihr aggressives Verhalten den französischen Nachbarn gegenüber nach der Trennung von Nicolas. Zuvor hatte sie ihre Ursprungskultur verleugnet, das Beschimpfen von Franzosen ist als Gegenreaktion dazu und eine Art vorübergehende Überidentifikation zu sehen. Die Schwestern sind wie zwei Seiten einer Medaille, nur dass Amira sich lange nicht bewusst ist, dass sie untrennbar mit ihrer Familie verbunden ist. Auch wenn sie französische Freunde findet, wird sie doch immer wieder im arabischen Kontext verortet werden. Nacera vermutet darin den Grund für die Anorexie. Amira lehnt ihren Körper ab, weigert sich, ihn 38 CP, II 0. Die Sprache wird gekaut wie etwas zu Essen, womit erneut auf die Parallele zwischen Kommunikation und Essen verwiesen wird. 39 CP, 124. 40 Er kommt spät heim, weckt sie, damit sie ihm Couscous kocht und beschimpft sie, wenn es zu lange dauert. Einmal kommt es auch zu einer Vergewaltigung (CP, 125). 41 CP, 126.

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zu versorgen, nur im Ramadan, wenn ihre Essensverweigerung dem religiösen Fasten gleichkäme, setzt ihre Anorexie aus, da sie ihre Ursprungskultur ablehnt. Amira kann sich nicht von ihrem Körper befreien, also kontrolliert sie ihn. Von ihrer Arbeitgeberin auf den Schlankheitswahn junger Mädchen hingewiesen, macht Djamila Amira Vorwürfe, indem sie die Anorexie anzweifelt: »J'ai toujours pense que Dieu t'a fait naltre pour me punir. [. ..] Si c'est vrai que tu n'es pas vraiment malade, c'est que tu es ma fille par erreur. «42 Sie liegt mit ihrer Vermutung näher an der Wahrheit als sie ahnt, weil Amiras Krankheit auf das Gefühl zurückgeht, fälschlicherweise eine algerische Tochter zu sein. Genevieves Freund, der Medizin studiert, erklärt Amiras Krankheit seinerseits durch die territoriale und soziale Ausgrenzung. 43 Er sieht die Anorexie als Ausdruck ihres Protestes gegen die Ungerechtigkeiten, welche die Familie erleidet. Nacera erkennt durch seine Ausführungen, dass »la plus algerienne de nous tous, c'etait elle« 44 , was paradox ist, da sie ihren algerischen Hintergrund ablehnt. Amira sieht Frankreich als ihre Heimat, für die Eltern und selbst für Nacera hingegen ist es das Adoptionsland, in dem sie einen Platz finden und in Ruhe gelassen werden wollen. Als Amira erkennt, dass sie nie integriert sein wird, lehnt sie jeglichen Kontakt ab. Der Schutz und die Bestätigung, die die anderen Familienmitglieder zum Teil in der Ursprungskultur finden, bleibt ihr vorenthalten, daher ist sie dieser gegenüber aggressiv, sie stößt alles ab, was an sie herangetragen wird. 45 Sie gibt beide Kulturen auf, da keine ihr den nötigen Halt bietet, und zugleich auch sich selbst. Damit kann ihre Magersucht ebenso als Versuch gesehen werden, sich den Blicken der Anderen zu entziehen, da sie erst dadurch als nicht zum sozialen Körper gehörig und ihr Körper als Fremdkörper erkannt werden kann.

1.3. »Comme des jumelles«46 Die Schwestern haben ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit. Naceras Verhältnis zur Zukunft ist unfrei insofern als sie ihre Eltern, und damit die Verkörperung ihrer Vergangenheit, in ihre Zukunftspläne integriert. Sie wird zwar doch nicht Krankenschwester, tritt aber als Versorgerin die

42 CP, 13 1. 43 CP, 133. 44 CP, 133.

45 Die Ablehnung ihrer Ursprungskultur manifestiert sich ebenfalls in ihrer extremen Magerkeit, die mit dem algerischen Schönheitsideal kontrastiert. 46 CP, 16.

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Nachfolge ihres Vaters an. Ihre Beziehungen zu anderen sind ebenso durch ihn geprägt, sie ist extrem unterwürfig, verleugnet geradezu ihr Selbst. Sie hat Erinnerungen an ihre Kindheit in Algerien und verschließt sich ihren kulturellen Ursprüngen nicht. Nach dem Tod der Eltern richtet sie sich nach Amira, was ihre starke Orientierung an der Familie zeigt. Amira hingegen ist eher zukunftsgewandt, sie versucht, Teil des französischen Sozialkörpers zu werden und definiert sich darüber. Als sie scheitert, verliert sie ihre Zukunft, sie gibt sich aufund kann nicht einmal in eine algerische Vergangenheit flüchten, da sie keine hat. Eingeschlossen in der Gegenwart, sucht sie sich dieser durch ihr Hungern ebenfalls zu entziehen. Ihre doppelte Anwesenheit ist negativ, sie lehnt ihre algerische Welt ab, ohne sich mit ihr auseinander zu setzen, von der französischen Welt wird sie abgelehnt, weshalb ihr kein Raum bleibt. Sie verschont mit ihrer Ablehnung auch ihre Schwester nicht und macht sich eine Zeitlang über deren schwarze Locken lustig: »Ce sont les signes du sous-developpement et de la barbarie. Le contraire du raffinement et de la modernite«. 47 Die Äußerungen sind rassistisch und verletzend, vennutlich reproduziert Amira Vorurteile, die sie in irgendeiner Form kennen gelernt und assimiliert hat. Für Nacera hingegen ist klar, dass Amira von der französischen Gesellschaft nicht als Individuum wahrgenommen wird: »Tu n'existes pas ma sa:ur, tu n'existes pas pour ces gens-la. Seule l'idee qu'ils ont de toi existe. Quel que soit ton physique, on te jugera selon ton nom. Tu seras comme moi, un halo a Ja criniere crepue, toute Amira que tu es. Comprendstu, maintenant, que tu n'es pas frans;aise? Tu hoches Ia tete. Tu n'es pas d'accord ?! Alors qui es-tu? Qui es-tu, imbecile, et parquelle aberration te faisais-tu appeler Marie !«48 Nur der Schein, die Vorstellung, welche die Menschen von ihr haben, existiert, wie sich etwa mit Nicolas zeigte, der in Amira nur das Bild der arabischen Frau sah. Amira kann der Stigmatisierung nicht entkommen, sie ist wie Nacera und wird es immer sein, was sie auf eine soziale Gruppe reduziert, die sie ablehnt. Unfähig, eine gesunde Identität zu konstruieren, zerstört Amira ihren Körper, die nutzlose Hülle. An ihrem 26. Geburtstag ist sie extrem abgemagert, »avec le poids d'un enfant et le cynisme d'un vieillard. Tu sa-

47 CP, 126. Djamila weist sie zurecht, dass Naceras Haare woanders Bewunderung hervorrufen würden, doch die Erklärung beeindruckt Amira nicht, da sie einen solchen Ort ablehnt. 48 CP, 126f. 170

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luais le plus bel äge avec la fenne volonte d'en finir.« 49 Einmal schafft Nacera es, sie ins Krankenhaus zu bringen, sie will sie jedoch nicht dort lassen, »Il aurait fallu lui avouer que jene pouvais me separer de toi, et que te laisser, c' etait me defaire de l'autre moitie de mon corps.« 50 Zusammen bilden sie einen minimalen sozialen Körper, dessen sich Nacera schmerzhaft bewusst ist: »Et qui suis-je avec toi ? A trente ans passes? Moi, qui ne me vois que dans tes yeux. Qui suis incapable de me passer de toi. « 51 Allein, müssen sie sich in Relation zueinander definieren. Nacera wird nur von Amiras Augen wahrgenommen, lebt durch sie. Das Imitieren des Zerstörerischen Verhaltens dient paradoxerweise zur gegenseitigen Identitäts- und, viel gnmdsätzlicher, zur Existenzbestätigung. Eine Sozialarbeiterin beurteilt die Situation nach dem Schein und schiebt Nacera die Verantwortung zu, obwohl diese selbst Opfer und im Grunde die schwächere ist. Sie fUrchtet Amira, will sie nicht verraten, indem sie um Hilfe bittet, da das unverzeihlich wäre. Amira ist mittlerweile die einzige Familie, die Nacera bleibt, über die sie sich definiert: » Toute Ia fierte de nos parents s'est deposee en toi. Jene faisais que me plier a votre volonte.« 52 Nacera respektiert den Wunsch ihrer Schwester zu sterben, und fühlt sich für dessen Erfüllung verantwortlich, obgleich die Selbstaufgabe zerstörerisch ist. Nacera weiß, dass niemand verstehen wird, wie sie in diese Situation kommen konnten und dass sie im Grunde sowohl an Frankreich als auch an Algerien sterben. Sie scheitern in ihrer doppelten Anwesenheit, da sie sich nicht bewusst darin bewegen, sondern sich nur noch treiben lassen. Dabei gelingt es ihnen nicht, in einem der beiden Länder Fuß zu fassen: »Nous savons que de ce pays llous moutTOllS. De soll illdifferellce, de sa cruaute, de l'impossibilite d'y pelletrer. DeI ' Algerie llous mourrolls aussi. Oe soll eloigllemellt, de sa cruaute, comme de \' impossible espoir d'y retourner. De cette vie de llOS parellts edifiee sur Ulle illusioll, >Ull mirage de bonheur qui s'appelle Ia FranceIa Lai"citeNonnierung< der Schwestern scheitert an der kulturellen Differenz, da ihr Leben außerhalb der Schule von anderen Werten und Normen regiert wird: »Le moule se fendait au seuil de notre appartement bruissant des ptieres de mon pere. Il s'effritait au contact du henne rouge sang qui enduisait les mains de maman. 11 se deformait davantage a chaque sejour du cöte de chez Fattoum. «62 Zuhause herrschen andere Gesetze, denen sich die Schwestern zu fügen haben. Allerdings werden ihnen diese nicht erläutert, zumal die Eltern allgemein nicht viel reden. Nacera kritisiert, dass das vorgelebte Beispiel Djarnilas außerhalb des heimatlichen Kontextes für die Ausbildung der kulturellen Identität unzureichend war. Ohne die Vennittlung der Eltern konnte das nicht gelingen, zumal eigenes Engagement fehlt, um die Lücken zu schließen. 63 Die von der Schule geförderte Assimilation hingegen scheitert aufgrund der Verleugnung des kulturellen und sozia-historischen Hintergrunds. Die Lerninhalte sind einseitig ausgerichtet, gewissermaßen normiert, um zu nonnieren: »Nous y apprenions taut, sauf le monde arabe. Nous y entendions les recits les plus extraordinaires, a exception du passe de nos parents et de l'histoire de notre pays. Des guerriers barnach es, il y en avait bien silr, mais autres que ceux qui omaient le salon de grand-pere Lazrag. Il y avait les heros de Zola et de Flaubert que nous pouvions aimer sans pretendre nous identifier a eux. Il y avait la beaute des sites et des monuments franc;:ais qu'il convenait de lauer, tout en reconnaissant qu'ils ne nous appartenaient pas. Nous entrevoyions les perspectives les plus folles, hormis notre avenir d'enfants d'immigres. Nous

60 CP, 79. Der Familienname unterstreicht das Stigma, das schon durch das Aussehen gegeben ist. 61 CP, 83. 62 CP, 83f. Fattoum ist die Großmutter. 63 »Il m'arrivait en taut cas de me dire que si Allah avait voulu faire un miracle, il nous aurait appris 1' Algerie tout entiere, sans que nous ayons besoin de nous y rendre [ ... ] Apres tout, ce fut ainsi que Je prophete Mohammed rec;:ut le Coran. Sans avoir rien appris. Et il n'etait pas encore un immigre.« (CP, 88). Darin kommt Naceras Naivität zum Ausdruck, die bei Amira Zynismus wäre. 173

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egrenions les prouesses technologiques de Ia France, ses grands progres industriels et son economie florissante d'apres guerre, sans mentionner l'immigration massive qui en assurait Ia prosperite. «64

Die Migrantenkinder werden scheinbar mit einbezogen, um zugleich ausgegrenzt zu werden. Ihre Existenz und Geschichte wird ebenso verleugnet wie ihre kulturelle Identität, die französische Identität bleibt ihnen aber verwehrt. Ihre Vergangenheit wird ignoriert, was für ihre Zukunft zum Verhängnis wird, die Betroffenen sind sozusagen Gefangene der Gegenwart. Auch das zwiespältige Verhältnis zur Sprache bietet kaum ldentifikationspotential: »11 fallait decrire tous nos etats d'äme dans une langue qui n ' etait pas curieuse de nous. Je n' arrivais pas a trouver une solution a ce decalage et je vivais mal cet espace etrange ou je ne trouvais ni passe, ni espoir d' avenir. «65 Als ein Lehrer Amiras sie unterstützt und ennutigt, wird ihm Bevorzugung vorgeworfen. 66 Die doppelte Anwesenheit der Schwestern scheitert, da beide Welten abgelehnt werden, Nacera und Amira setzen sich nicht mit den Kulturen auseinander, sondern werden in eine der Welten gezwungen, wobei die Ablehnung der anderen jeweils implizit ist. Selbst die Sprache, die beide sehr gut beherrschen, bietet keinen Zugang zur Gesellschaft, da das Sprechen und Benennen zugleich einen Anspruch ausdrückt, der den >Fremden< abgesprochen wird: »Meme Pierrot qui l'ecorche, qui l'enroule, pire que maman, qui la saht de son haleine imbibee d'alcool, est persuade de mieux la parler que nous. Parce qu'il la croit sienne, comme tout le reste ... «67 Das Stigma der Fremdheit wiegt schwerer. Die Schwestern bedienen sich des Französischen, ohne dass ihnen die Sprache zuerkannt wird.

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2 . » D e s ill u si o n s d e I ' m i g r « 68 die doppelte Abwesenheit der Mutter Noch bevor Djamila Ahmed folgt, lebt sie eine Art von doppelter Abwesenheit. In Gedanken weilt sie schon im idealisierten Frankreich ihrer 64 CP, 85. 65 CP, 86. 66 Auch Ahmed findet das Interesse suspekt, worauf er böswillig als Harki verdächtigt wird. Die Toleranz des Lehrers erklärt sich später, »il etait bouddhiste et [ ... ], croyant a Ia Reincamation, il etait persuade d'avoir ete Arabe dans une vie anterieure.«, CP, 82. 67 CP, 177. 68 Sayad, La double absence, Titel.

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Illusionen, ohne die rauen Hände ihres Mannes zu bemerken. Erst als sie mit Nacera nach Frankreich kommt, lernt sie die wahren Lebensumstände Ahmeds kennen und erfährt, dass er Hilfsarbeiter in einer Autofabrik ist. Da ein ständiger Vergleich der Heimat mit Frankreich nur zu Frustrationen führen würde, beschließt sie, ihre Vergangenheit zu vergessen. Sie muss sich von ihren Erinnerungen distanzieren, um ihrer Zukunft zu begegnen, ihre Selbstzensur ist eine Art Selbstschutz. Nacera vermutet, dass Djamilas Wunsch nach einem Baby als Ablenkung von der Gegenwart sowie als Bestätigung ihrer Identität durch die traditionelle Mutterrolle gedacht war. Zugleich kompensiert die Familienerweiterung den Verlust des sozialen Zusammenhangs der Heimat und füllt die entstandene Leere ein Stück weit. Der Respekt der Traditionen und die Religiosität Djamilas entspringen vermutlich mechanischer Nachahmung, was ihre Ausschließlichkeit jedoch nicht entkräftet. So sträubt sie sich anfangs gegen den Wunsch Ahmeds, den Schleier abzulegen. Das käme einer Entblößung gleich und wäre Respektlosigkeit ihren Eltern gegenüber. Die Normen ihrer Heimat bleiben gültig, ihr Vater ist autoritäre Instanz. Djamila stammt aus einer Marabutfamilie, womit der Verschleierungsdruck besonders groß ist, das Gesicht der Großmutter etwa hatte nie ein Außenstehender gesehen. Eine Freundin überredet Djamila schließlich mit dem pseudo-religiösen Argument, dass die Blicke der Christen nicht zählten, »leur regards n 'agissent pas comme ceux des musulmans. [ ... ] Le temoignage des chretiens, leur religion, leur vie tout entiere, ne comptent pas aux yeux d ' Allah.« 69 Daraufhin legt sie nicht nur den Schleier ab, sondern lässt sich zudem ihre taillenlangen Haare schneiden, denn sie denkt sich, dass mit der Haarlänge auch die Notwendigkeit des Bedeckens abnimmt. Gleichzeitig ändert sie ihre Kleidung, sie trägt knöchellange Kleider, fühlt sich dabei jedoch als Fremde und erkennt sich das erste Mal kaum im Spiegel: »Tu crois que c'est moi? Es-tu süre que ce n'est pas quelqu'un d'autre? [ ... ] eile eüt I' impression de se creer un sosie. Quelques centimetres en moins de Ia gandoura traditi01melle et elle n'etait plus elle-meme. Un autre voile, d'etrangete celui-la, venait d'etre jete sur elle.« 70 Die doppelte Abwesenheit führt zu einer schizophrenen Verdoppelung, stört ihre Selbstwahrnehmung. Die Selbstidentifikation ist ebenso wenig möglich wie die Identifizierung über eine Gruppe, da sie sich von den Nonnen ihrer Ursprungsgruppe löst, ohne eine neue Identifikationsgruppe zu haben. Das verunsichert Djamila, sie fühlt sich in ihrer >Verkleidung< unwohl, wagt etwa nicht, die Haare aus dem Gesicht zu streichen, da das als verführerische Geste gelten könnte: »maman eut beau 69 CP, 24. Hervorh. Zouari. 70 CP, 27.

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changer de pays et de costume, sa pudeur resta aussi indelebile que les tatouages sur ses mains.« 71 Zuhause muss sie ihre Schönheit nicht verstecken, sie kleidet sich traditionell, schminkt sich mit kh6l und schmückt ihre Hände mit Henna. Damit erhält sie die Schönheitsnonnen der Heimat aufrecht und bestätigt sich zugleich, dass sie immer noch zu den Frauen aus ihrem Dorf gehört. Dabei ist sie sich der Künstlichkeit bewusst und versucht das ungute Gefühl durch ein Bad zu vertreiben, das dem traditionellen Rammambesuch nachempfunden ist, das in den arabischen Ländern eine lange Tradition72 hat: »Elle passait des heures dans Ia salle de bains comme si elle voulait se debarrasser d'une crasse dont elle n'identifiait pas l'origine. Amira lui frottait longuement Je dos ainsi que Je font les femmes au hammam, fascinee par les belles epaules de maman. Je lui preparais, a Ia sortie, au lieu des boissons de son pays, un Coca-Cola que je disposais joliment sur une assiette a meme Ia peau de mouton rapportee de lit-bas.« 73

Das Bad ist nur ein schlechtes Substitut, der soziale Aspekt entfällt, denn es sind >nur< die Töchter da, sogar das Getränk ist künstlich. 74 Djamila setzt sich nicht mit ihrer Lage auseinander, sondern wirft alles in sich hinein, sie füllt die durch die Abwesenheit erzeugte Leere mit Essen, funktionalisiert ihren Körper. Ihre Reaktion kontrastiert mit Amiras Anorexie, die durch die doppelte Anwesenheit bedingt ist. Ein Nachbar meint, sie sei schon zu lange in Frankreich: »-Dis donc, madame Djamila, ces annees passees en France t'ont trop gavee. II est temps de rentrer chez toi ! Elle repondait : - C'est toi qui rentres chez toi! sans reflechir a ce qu'elle disait. Pierrot pronons:ait, en suffoquant : - Mais je suis chez moi ! - Moi aussi, repliquait-elle sans saisir davantage Je sens de sa repartie. «75

71 CP, 29. Das costume ändert nicht die coutume, den Schleier legt sie wieterhin innerhalb der Wohnung an, wenn Landsleute kommen: »Passe Je seuil de notre appartement, tout le monde etait cense se retrouver en Algerie.«, CP,28. 72 Das Dampfbad ist nicht nur für viele Frauen eine der seltenen Gelegenheiten, das Haus zu verlassen, es ist auch ein sozialer Ort insofern als damit ein Forum fiir einen Austausch gegeben ist, Neuigkeiten verbreitet und zukünftige Schwiegertöchter ausgesucht werden. 73 CP, 17. 74 Eine weitere Tradition wird ebenfalls ersetzt, »Aux visites sur la tombe des saints, elle dut preferer !es virees dans !es magasins Tati.«, CP, 70.

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Geistig ist sie in Algerien, körperlich in Frankreich, daher kann sie behaupten, zuhause zu sein. Nach einem derartigen Dialog beobachtet Djamila sich ausgiebig im Spiegel, denn die Frauenbilder der westlichen und maghrebinischen Welt sind gegensätzlich, und die Tatsache, darauf angesprochen zu werden, macht ihr bewusst, dass sie nicht an ihrem Platz ist, um als Frau bewundert und respektiert zu werden. Die Rückkehr ist nicht möglich, aber sie vollbringt die Handlungen, die ihr vorangehen müssten und kehrt in Gedanken zurück: »Elle se levait ensuite, se mettait a plier son Iinge, a inventorier ses casseroles et a trier nos cahiers, comme si elle se preparait a rentrer au pays. Ces departs virtuels Ia calmaient. Elle oubliait alors ]es propos insolents de Pierrot et l'absurdite de ses propres repliques, s'asseyait face a sa cuisiniere et regardait fumer son couscoussier, en ecoutant Je chanteur egyptien, Farid al-Atrache, vanter Ia beaute des contrees arabes, visitees sur son tapis volant. « 76 Nach Ahmeds Tod muss Djamila mit für die Familie sorgen, obwohl sie nicht darauf vorbereitet ist und es als Perversion empfindet »a revetir ainsi le costume de son mari.« 77 Für die Arbeitssuche zieht sie Amiras Basketballschuhe an. Dieses maskuline Accessoire gehört dem >französischen< Familienmitglied, und markiert, wie schon im Fall des Schleiers, ihre neue Rolle, sie tritt mit ihnen in die Fußstapfen Ahmeds, oder, wie Nacera meint, in die Modeme. Die Übernahme dieses ausdrücklich maskulinen Bereichs lässt Djamila orientierungslos, in ihrem Universum gibt es keine Regeln dafür. Die Schuhe symbolisieren den Anteil an der für sie fremden westlichen Welt und sind zugleich ein Schutz, da sie Regeln übertritt. Sie muss sich selbst entfremden, um die neue Rolle annehmen zu können, die sich in der Kleidung spiegelt. Sie findet eine Stelle als banne und fühlt sich beschmutzt, gibt aber nicht auf. Der erste Arbeitstag kostet sie abermals Überwindung, denn neben dem Verrat an Traditionen ist sie im Begriff, eine Kette ruhmreicher Vorfahren zu durchbrechen. Die Verantwortung für die Familie überträgt sie schließlich Nacera, die sich damit überfordert fühlt. 78 Als Djamila ihre Arbeit aufgeben muss, zieht sie sich in die Wohnung zurück, froh, die fremde Rolle wieder aufzugeben. Sie wird lethar-

75 CP, 19. 76 CP, 20. Djamila hat auch ihren tapis volant, das Schaffell auf dem sie übli-

cherweise sitzt. 77 CP, 105f. 78 Sowohl Djamila als auch Nacera erklären ihr Schicksal als gottgewollt CP, 109, 110. 177

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gisch und depressiv wie Amira: »Elles ne parlaient pas. Djamila, l'esprit vagabondant aAlouane, sa fille au milieu d 'une prison sans frontieres. « 79 Die drei Frauen leben in eigenen Welten, sind gemeinsam einsam, »Maman et Amira, prostrees, absentes« .Ro Sie werden sich immer ähnlicher und selbst der minimale soziale Raum der Wolmung wird zersetzt: »Comme elles, je n'avais plus gout a la vie. Nous habitions trois demeures dans le meme appartement, chacune y enfennant sa solitude et son drame. Chacune son mal.« 81 Die Resignation greift auf Nacera über, die durch ihre Arbeit als einzige noch Kontakt zur Außenwelt hat: »Je suis entree dans leur silence. J'ai rarefie aussi mes pas dans l 'escalier et dans l'appartement.« 82 Djamila stirbt an einer Krankheit, die sie selbst als Bestrafung für die Migration sieht, als Ausgleich für den >Verrat< an ihrer Ursprungsgruppe.83 Amiras Hellhäutigkeit und Magersucht scheinen ihre Schuld zu bekräftigen. Nacera glaubt sogar, »qu'elle s'est invente une maladie et s'est appliquee a y succomber«. 84 Ihre letzten Tage verlebt sie stumm, das Schaffell ist völlig abgenutzt, es ist nichts mehr da, um ihre Abwesenheit zu erleichtern. Selbst die letzten beiden Armreifen, die ihr verbleiben, klimpern nicht mehr. Ihr einziger Wunsch ist es, vor Amira zu sterben, damit wenigstens diese Ordnung gewahrt bleibt. Sie wird in Frankreich beigesetzt, von den früheren Bekannten nimmt keiner teil. Nacera denkt über eine >Rückkehr< nach, doch schon Djamila zog es vor, in der Fremde zu sterben, als das von sich konstruierte Bild zu zerstören. Noch nach dem Tod der Mutter richtet sie sich nach deren Entscheidung, bildet sich keine eigene Meinung.

3. »[ ... ] aux souffrances de l'immigre« 85 die doppelte Abwesenheit des Vaters

-

Ahmed wirkt im Familienleben eher passiv und gehört, wie schon die Väter in den bisherigen Texten, zur generation du silence. Sein Tagesablauf ist monoton: 79 80 81 82 83

147. 156. 156. 156. Auch die Frauen im Dorf werfen Djamila die Migration vor. Seitdem die Frauen auswandern, und Djamila war die erste, gehe es dem Dorf immer schlechter, was >argumentativ< untermauert wird: »II nait davantage de fous dans Je village. Et il pleut demoins en moins.«, CP, 39. 84 CP, 181. 85 Sayad, La double absence, Titel. CP, CP, CP, CP,

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» II se reveillait a cinq heures du matin, faisait ses ablutions, recitait sa priere de l'aube et sortait sans bruit. Une fois en bas de l'immeuble, il enfon~ait son beret sur sa tete, soufflait dans ses mains et prenait Ia direction du metro Porte-deVanves. [ ... ] II ne s'interrompait qu' une demi-heure au milieu de lajoumee. Le reste du temps, il parcourait des kilometres de couloirs a emmagasiner des pieces de rechange, etiqueter des cartons, empiler des caisses dans chariots et camions. II revenait Ia nuit tombee, s'entretenait quelques minutes avec le gardien de l'immeuble, un Portugais exile comme lui, ötait son beret et montait l'escalier. Une fois dans l'appartement, epuise, il mettait !es pieds SOUS Ia table et se faisait servir son diner. «86

Wie Djamila >verkleidet< sich auch Ahmed, sobald er in die französische Welt tritt, um den Wechsel zwischen den kulturell verschieden besetzten Territorien zu markieren, aber auch um visuell mit seiner Umwelt zu verschmelzen. Die Baskenmütze soll ihn im fremden Territorium schützen. Vor Arbeitsbeginn, im Bistro, stellt er sich zu seinen Landsmännern, gesellt sich zu der Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Dem Dilemma der Migration ist Ahmed sich bewusst, er setzt sich aber nicht damit auseinander, sondern verdrängt es lieber: »II avait de ces moments ou Je fait d'etre present lit, a cet instant, dans ce pays, au comptoir de ce cafe, au coin de cette rue, ou dans cette rame de metro, le submergeait de doutes. Mais illes chassait d'un revers de main, lapidait a coups de versets Je diable, pourvoyeur de mauvaises pensees et, pour s'assurer qu'il etait bei et bien dans une autre realite que celle de ses ancetres, papa enfon~ait plus bas son beret basque. En decouvrant sa haute silhouette ainsi coiffee sur !es portes vitrees devant lesquelles il passait, il se rendait au fait qu'il etait bien sur le so! franfranzösischen< Produkte kontrastieren mit den billigen maghrebinischen aus Ersatzmaterialien wie Synthetik und Plastik, was den provisorischen Charakter der doppelten Abwesenheit betont. Der Raum wird scheinbar erobert, die Migranten sind unter sich. Die maghrebinische Welt schiebt sich vor die französische Kulisse und bietet ein Territorium, wo sich offensichtlich ein wichtiger Teil des sozialen Lebens der maghrebinischen Bevölkerung abspielt. Den Migranten stehen scheinbar nur vorgezeichnete Rollen zu, als Arbeitskraft sowie, innerhalb ihrer Möglichkeiten, als Konsumenten: »Ailleurs que sur ces stands d'articles bas de gamme, quel sens a leur vie dans ce pays ?« 103 Auf französischem Territorium wirken sie eingeschüchtert. Besonders deutlich wird das an einem Grenzort, dem Flughafen, wo die Männer, die zu Ahmeds Überführung zusammengekommen sind, fiir kurze Zeit zu ihren alten Rollen finden: »A !'heure du depart, Bechir et ses amis se sont avances vers ma mere. Leurs gestes etaient solennels, leur visage fem1e. Ce n'etait plus les ouvriers de Renault, !es immigres anonymes, !es peres de famille impuissants a commander leur progeniture. Ils redevenaient !es hommes de chez eux. Courageux et dignes, prompts a Ia protection des plus faibles, femmes et enfants.« 104 In ihren ursprünglichen Rollen wirken sie votiibergehend selbstsicher, sie haben das Gefühl, durch ihren persönlichen Einsatz nützlich zu sein. Beim Verlassen des Flughafens verwandeln sie sich in die unterwürfige anonyme Gruppe zurück. Die auch symbolisch gemeinte Kälte und der Blick der Polizisten bezwingen die Männer. Die vorgegebenen Rollen bestimmen das Verhältnis der sozialen Gruppen zueinander, so dass sich die Kräfteverhältnisse in der Körperhaltung spiegeln. Die Männer verwandeln sich in unscheinbare Gestalten zurück: »Ils tournerent les talons, virils et decides, juste le temps de passer les portes coulissantes. Ensuite, le 102 103 104

CP, 175. CP, 176. CP, 103.

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froid glacial d'Orly tassa leur silhouette, le regard de quelques policiers les fit mareher tout petits.« 105 Für das Verhältnis zum Boden spielt die Wohnung als abgegrenztes heimatliches Territorium eine zentrale Rolle. Das fremde Frankreich bleibt draußen, an der Türschwelle endet und begitmt die Heimat. Die Abwesenheit wird mit der Scheinpräsenz in einer der Heimat nachempfundenen Umgebung kompensiert. 106 Radio und Fernseher stellen französische Einbrüche in diese Realität dar, in der die maghrebinischen Elemente zunächst unbedeutender wirken, letztlich aber die Atmosphäre färben.107 Die Wohnung nahe der peripherique manifestiert territorial die soziale Randposition, die relativ gesehen zu anderen Migrantenjedoch zentral ist. Bei Djamilas Ankunft lobt Ahmed die Vorzüge der Wohnung, die in Algerien keine Kriterien sind: »Tu es a deux metres du metro, audessus du supermarche. Une vraie caverne d' Ali Baba. « 108 Djamila sieht die angeblichen Vorteile nicht, im Gegenteil, ihr Elternhaus im Dorf liegt zentral, sowohl gesellschaftlich als auch geographisch, die Räume sind wesentlich größer und das Einkaufen ist kein Aspekt ihrer traditionellen Rolle. Für Djamila ist die Umstellung groß, sie will sich anpassen, hält aber auch an heimatlichen Sitten fest. Die Wohnung ist traditionell ihr Bereich, hier bestimmt sie. Sie richtet sie als Provisorium ein, Schränke werden durch Koffer und Kartons ersetzt, was zeigt, dass die Familie nicht wirklich in Frankreich angekommen ist. Für die Eltern ist die Wohnung eine Kopie der Heimat, für die Töchter hingegen der Raum der unmittelbaren Lebenswelt, der kulturell anders valorisiert ist als die französische Außenwelt. Amira stellt als einzige territoriale Ansprüche in Frankreich, so wird sie einmal in der Metro von einer Farbigen angegriffen, nachdem diese sie erfolglos aufgefordert hatte, ihr ihren Sitzplatz zu geben. Es kommt zu Handgreiflichkeiten und obwohl Amira körperlich schwächer ist, gibt sie nicht nach: »Je suis plus frans:aise que toi, tu entends, plus frans:aise

105 CP, 104. 106 Das Haus der Tante in Algerien, die alles über Frankreich sammelt und deren Haus »les Archives de France« genannt wird, ist ein Gegenbild (CP, 43). Damit ist die Wohnung der Familie eine Art archives d 'Alouane, die importierte Heimat wird archiviert und zugleich bewohnt. l 07 Es sind auditive, visuelle und olfaktorische Elemente: das Geräusch, das die Armreifen der Mutter machen, das Licht, das sie reflektieren, das Kopftuch der Mutter, der Duft von Koriander, Minze und margua und die gemurmelten Sätze des Vaters auf arabisch. CP, 15f. 108 CP, 69. Der Vergleich mit der Höhle Ali Babas ist eher unglücklich, die Wohnung enthält keine Schätze, ist aber im Vergleich zu den Häusern in Algerien eine Höhle. 184

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que toi ! « 109 Beide Mädchen gehören zu ausgegrenzten Minderheiten, sie verorten sich in Frankreich, werden aber nicht akzeptiert. Statt sich solidarisch zu verbünden, greifen sie sich gegenseitig an.

5. »Entretenir le mythe. Para1tre.« 110 über die Rückkehr

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Beim Tod der Großmutter fährt Djamila mit ihren Töchtern nach Algerien, wo Amira aufgrund ihres Aussehens und Verhaltens wie eine Fremde wirkt. Sie sagt Verse aufund singt Lieder, die sie in der Vorschule gelernt hat, woraufhin eine Tante sie zurechtweist, schließlich sei ihre Großmutter gestorben. Amira verteidigt sich vorlaut in schlechtem Arabisch, dass man sie nicht zwingen könne, um eine Frau zu trauern, die sie nur wenige Male gesehen habe: »Cite-moi une seule phrase de ta religion qui commande d' aimer sa grand-mere !« 111 Amira stört die Ordnung und die Frauen wissen nicht, wie sie mit dem Verhalten umgehen sollen, das in ihrer Gesellschaft nicht vorgesehen ist. Einmal ersetzt Amira die Fatiha 112 durch Notre mere qui etes aux cieux, sie versucht eine Lücke in der einen Kultur durch Wissen aus der anderen zu schließen. Die Cousins halten es für die französische Variante und sind beeindruckt, werfen ihr aber vor, sich auf dem Friedhof der Sprache der Ungläubigen bedient zu haben. Sie grenzen sie aus und Nacera muss sich für die Schwester entschuldigen, da Amira sich zu sehr schämt, »elle s'est eloignee avec cette rougeur coupable qui impregnait ses joues devant le regard de ses petits camarades frans;ais.« 11 3 Sie muss in Frankreich vergleichbare Situationen erlebt haben, weshalb sie die doppelte Anwesenheit als Last empfindet und später ihren algerischen Hintergrund als den entfernteren ablehnt. Abgesehen von unangenehmen Episoden dieser Art kehren die Schwestern gerne in die >Heimat< zurück, üblicherweise fährt die Familie alle zwei Jahre zum Aid Esseghir, dem Ramadanfest, nach Alouane. Die Mädchen verwandeln sich fast in Einheimische, sie genießen eine gewisse Freiheit und erleben den positiven Aspekt der doppelten Anwesenheit. Es gibt aber auch Situationen, in denen sie nicht mitmachen wollen, etwa wenn es darum geht, Obst zu stehlen:

109 110 111 112 113

CP, 129. CP, 110. CP, 36. Die erste Sure des Korans, eröffnet ihn und wird zu sehr vielen Gelegenheiten rezitiert. CP, 42.

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»- C'est Je biendes autres, faisait remarquer ma sceur du haut de ses huit ans. II faut Je respecter. Les scrupules d'Amira provoquaient l' hilarite de nos compagnes. - Dis-moi, ce n'est pas pJutöt toi qu'on traite de voJeuse Ja-bas? Et tu as Je culot de nous faire Ia le~on ici! repliquait l'une d'elles.« 114 Im Respekt des Eigentums anderer, den die beiden aus Frankreich kennen, zeigt sich der Unterschied zu den Dorfkindern. Die Schwestern werden integriert, solange sie sich anpassen, geschieht das nicht, werden sie auf ihre Andersartigkeit verwiesen und ausgegrenzt. Der Respekt des Anderen und seines Eigentums wird dekonstruiert, es wirkt lächerlich, dass ausgerechnet Amira es verteidigt, während ein verbreitetes Vorurteil gegen Maghrebirrer in Frankreich lautet !es Arabes, 9a vole. Arabische Beleidigungen markieren die Differenz sprachlich, wobei auf Amiras Andersartigkeit abgehoben wird. 115 Schließlich werden die Eltern als Verräter und Bettler beleidigt, die soziale Ausgrenzung damit auf die gesamte Familie ausgeweitet. Die Schwestern erdulden schweigend die Beleidigungen, bis mit einem neuen Spiel alles vergessen scheint. Obwohl die Schwestern meist wie vollwertige Mitglieder der Kindergemeinschaft wirken, ist ihre Fremdheit allen bewusst. Ein weiterer Unterschied zeigt sich bezüglich des Tabuthemas Sexualität. Die Mädchen aus dem Dorf erkunden ihre Körper neugierig, während Nacera und Amira in solchen Situationen überfordert sind. Es ist ihnen peinlich und sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Sexualität wird zwischen ihnen nie thematisiert: »La consigne etait muette mais pressante. Ma mere y veillait.« 116 Die Schwestern sind durch die soziale Enge aufeinander reduziert, während die Dorfmädchen eine größere Gemeinschaft bilden und sich daher eher austauschen können. Djamila ist extrem prüde und hat eine sehr niedrige Obszönitätsschwelle, sie stört sich besonders an Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit, denn nicht sie sieht hin, sondern: »Ce sont eux qui font semblaut que je ne !es regarde pas« . 117 Ihre eigene Begierde unterdrückt sie im bewussten Zustand, doch ihr Körper überlistet sie: »[L]es evanouissements de maman avaient a faire avec ses privations, [... ] ses crises de rires, plus frequentes qu'avant Ia mort de mon pere, n'etaient autre que les appels lancinants de son corps.«m Ihre Frustration fuhrt auch zu

114 CP, 44. 115 Amiras Haut, »b1anche >comme l'oignontronche de cochonHeimatetranger< .« 133

128 CP, 117. 129 Schließlich vereint ein Friedhof verschiedene Generationen und territorialisiert ganze Familien. Sie ähnelt zunehmend ihrer Mutter Fattoum, was die Absicht betont, ihr vergangenes Sein zu finden. 130 CP, 117. 131 Dabei werden >Tätowierungen< mit Henna gestaltet, eine feine grüne, erdähnliche Substanz, die aus einem Weiderichgewächs gewonnen wird, und die Haut rot färbt. Darin kommt die territoriale Verbundenheit zum Ausdruck, zumal grün und rot die Farben Algeriens sind. 132 Siehe CP, 118, 122, 133. 133 CP, 122. 189

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In Frankreich hat Djamila keine Rückzugsmöglichkeiten, es gibt kein Familiengrab, wo sie Kraft sammeln könnte, nichts kann sie vor Fremde und Kälte schützen. Sie fühlte sich nackt, als sie ihren Schleier ablegte und ebenso als sie anfing zu arbeiten. Ihre Blöße lässt sie jetzt frieren, da sie sich bewusst geworden ist, dass ihrem Leben die Wurzeln fehlen. Es ist, als hätte sie jetzt beschlossen, sich wieder an ihre Vergangenheit zu erinnern. Sie verschleiert sich erneut, angeblich als Schutz vor der Kälte. Während sie sich vormals durch ihr Lachen auszeichnete, klappert sie nun mit den Zähnen. Angesichts der Unmöglichkeit einer Rückkehr, kehrt sie, als eine Art Kompensation, zu traditionellen Verhaltensweisen zurück. Die Angst vor einer möglichen Rücld(ehr löst Amira vorübergehend aus ihrer Lethargie, sie sucht sich eine Arbeit. Sie erinnert Djamila daran, dass Algerien ihr und Nacera keine Perspektive bietet: »Tu veux repartir chez toi, n'est-ce pas? [... ]Mais que feras-tu de nous hi-bas? Nous cloitrer dans la maison de tes parents ? Nous marier a tes Cousins ?« 134 Sie nutzt ihre sprachliche Überlegenheit, um ihre Mutter zu überzeugen, argumentiert mit ihrer Magersucht und bekräftigt, dass Algerien ihr kein Identifikationspotential bietet. Das Land ist ihr fremd, trotz ihrer misslichen Lage und der Einsamkeit empfindet sie Frankreich als ihre Heimat: »Non, je prefere l'humiliation d'ici a celle des gens de chez toi. Iei je suis nee et je veux rester. Ici je peux vivredans l'anonymat. [... ] Une vie de chien ici vaut mieux que vos vies humains la-bas.« 135 1992 ändert sich die Situation grundlegend, das Ursprungsland ist nicht mehr das Territorium der Vorfahren, sondern wird zu dem der Fundamentalisten. Die aufgeschobene Rückkehr wird zur unmöglichen. Erst als die Heimat in unüberbrückbare Ferne rückt, fängt Djamila an, von ihr zu erzählen und Nacera beginnt das Verhältnis ihrer Mutter zu Algerien zu verstehen: »Quinze jours a Alouane pouvaient lui faire oublier sa vie de femme de menage et lui redonner une dignite. Passe la mer Mediterranee, eile redevenait une personne entiere. Quelques pas dans l'aeroport d' Alger lui suffisaient pour redecouvrir, a travers les yeux desirants des hommes, qu'elle etait encore une femme.« 136 In ihrer Heimat nimmt sie ihre unterbrochene Existenz wieder auf. Die befristete Präsenz in Algerien lässt sie die ständige doppelte Abwesenheit vergessen. Für Djamila ist die Unmöglichkeit der Rückkehr sehr schmerzhaft, das Leben in der Abwesenheit ist empfindlich gestört: »Oui, eile s'etait mise a desirer la mort, maman, veuve de son mari et maintenant veuve de son pays.« 137 134 135 136 137

CP, CP, CP, CP,

123. 123. 138f. 139.

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Die Unmöglichkeit einer Rückkehr verändert auch das Verhältnis der Töchter zu ihrer >HeimatProtagonistenwahrgenommen< werden, sie müssen sich bei allen Gelegenheiten zunächst einmal ausweisen. An anderer Stelle heisst es: »Je traversais Ia foule et les murs.«, RS, 97. 42 RS, 69. Erst im Zimmer, dem ihm zugestandenen Raum, wird er wieder zum Menschen. 43 RS, 51. Siehe auch RS, lüüf. 44 RS, 73. 204

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l'höpital- Ia mort- l'accident- Ia masturbation- Ia putain- Ia chaude pisseJe metro-des images-des images-des images ... «45

Die doppelte Abwesenheit als Nicht-Leben drängt die Betroffenen in ein Leben in Bildern, ihre Existenz wird ins Imaginäre getrieben und damit zur reclusion solitaire.

1.2. »[Ä] !'extreme pointe de l'isolement, une felure ... «46 - der Raum Der Raum, dem im Kontext der doppelten Abwesenheit eine wichtige Rolle zukommt, hat auch in diesem Text eine tragende Funktion, die als Kontrast zwischen der äußeren Enge und der inneren Weite konstruiert wird. Der Protagonist lebt in einer malle, wo er seine Ersparnisse und seine Einsamkeit verstaut, sein Leben ist ein Provisorium.47 Die extreme Beengtheit spiegelt den von der Gesellschaft zugestandenen sozialen Raum wider, der sich auf die Arbeit und das Zimmer begrenzt. Es findet eine ständige Refokussierung darauf statt, was die Erzählung einengt, der Leser kann sich der räumlichen Enge im Text nicht entziehen. La chambre dient immer wieder als Ausgangspunkt, 4g zum Teil abgewandelt zu malle, cage, boi'te und cellule49 , Metaphern, die Dunkelheit, Enge, Würdelosigkeit und Unfreiheit evozieren. Eine andere Verortung, sozial oder zeitlich, scheint nicht möglich zu sein, da es keine Kontakte außerhalb dieses Raums gibt, was den Titel La Reclusion solifaire unterstreicht. Bei der Arbeit und in der Außenwelt ist der Protagonist geschlechtslos, ist gleichsam vorübergehend kastriert. Er wird nicht als Mensch betrachtet, die Hausordnung seiner neuen Bleibe spricht ihm sexuelle wie andere Bedürfnisse ab. Sie reduziert die Männer auf inhumane Weise, jegliche Dinge, die ihr Leben erträglicher machen könnten, sind untersagt. Die Verbote sind völlig absurd und unterscheiden nicht zwischen Willensakten, notwendigen Handlungen oder körperlichen Reaktionen: »Il est interdit [. .. ] de changer d'ampoule, de tomher malade, [... ] de faire des enfants a des Franseine< Entscheidung war, um politischer Verfolgung zu entkommen. Er verknüpft den Tod mit dem Nicht-Leben und formuliert das lyrisch: »J'apprivoise cet oiseau qui vous emporte. La mort, c 'est c;a, un oiseau. Si je pars un Jour, je partirai sur les ailes d'un canari. Tu sais, je suis leger, j e peux voler; et ne.fais pas de bruit. « 71 Er spricht davon wegzugehen, doch als er tatsächlich verschwindet, bleibt unklar, ob er gestorben oder gegangen ist. Der Protagonist hat ebenso Kontakt zu anderen sozialen Gruppen wie den Männem, welche die autorite supreme, damit den Staat oder die Wirtschaft vertreten, und mit denen er einen imaginären Dialog führt: »Ils veulent verifier si ma peau est ridee, si ma langue est plantee de rosiers, si mes mains sont dures. «72 Die Autorität scheint Allmacht zu haben, ihre Vertreter stellen ihm Fragen, die bürokratisch sind und ihn als Person ignorieren, sie kategorisieren ihn nach eigenen Kriterien. Die Situation ist kafkaesk, dem Protagonisten wird seine Andersartigkeit vorgeworfen, »vous etes coupable d'etre fou, coupable d'habiter dans une malle, coupable d'avoir delire, coupable de haute subversion, coupable de parler un langage particulier, vous etes coupable de ne pas etre comme les autres ... «73

68 69 70 71 72

RS, 106. RS, 113. Hervorh. Ben Jelloun. RS, 115. Hervorh. Ben Jelloun. RS, 116. Hervorh. Ben Jelloun. RS, 17. Die Männer kontrollieren nicht seine Identität, sondern äußere Merkmale: er darf nicht zu alt sein, darf sich nur positiv äußern und soll vor allem hart arbeiten. Zugleich macht ihn das austauschbar durch andere, die diese Kriterien erfüllen. 73 RS, 18.

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An anderer Stelle werden Stigmatisierung und Vorurteile kritisiert, die schon bei der Einreise erduldet werden müssen, wobei kein Protest möglich ist, da das als Provokation gelten würde: »J'ai passe des frontieres. J'ai laisse des empreintes digitales et autres un peu partout; dans ma nuque ils ont enfonce des epingles. C'etait une simple question de facies, de couleur de peau et de portes verrouillees. La fouille a I' entree du territoire ne leur suffisait pas. Ils nous saupoudraient de mepris et de betise. On se laissait faire. «74 Den Fremden wird alles Schlechte zugeschrieben, sie werden nicht wie Menschen behandelt, sind Vorurteilen ausgesetzt, die sie auf ihre Sexualität reduzieren. 75 Insofern lässt sich die psychosomatisch bedingte Impotenz wiederum als Abwehrreaktion darauf verstehen. Eine Reaktion wie Aufbegehren ist nicht möglich, es bleiben nur Resignation und Realitätsflucht. Das als Teil eines größeren Ganzen empfundene Selbst wird als fremd erlebt, es erfolgt keine territoriale Identifikation. Frankreich wird als »supermarche du sang et de la sueur« 76 charakterisiert und als von Gleichgültigkeit beherrschter Sklavenmarkt, was sowohl auf den kolonialgeschichtlichen Hintergrund anspielt als auch die Behandlung als Ware >Arbeitskraft< kritisiert. 77 Der Kapitalismus wird als Ursache des unmenschlichen Supermarkts genannt, um die Arbeitsmigration bitterironisch zu kommentieren. Demnach gibt es etwa keine Arbeitsunfälle, sondern es handelt sich um »quelque chose comme un meurtre premedite par 1' Abstrait«. 78 Damit werden die Arbeiter in gewisser Weise >Unsterblichschaumgeboren< und gleichzeitig die sinnliche Liebe darstellend: »Ma main s 'est levee dans ta chevelure miede l 'ecume bleue du desir, toi, gazelle orpheline, tu cours dans les sables de mes pensees. «86 L 'image ist ebenso Mutterfigur, was die Kette von mer, zu Heimat, Frau, Mutter und damit mere/mer schließt: »Et ton rirefuse du ciel, telunsein entre !es levres d'un enfant. Je suis venu sur Ia vague retourm!e avec des perles sur le front, un arbre et un enfant dans Ia voix. Je suis voisin du jour qui te garde ; j e suis du soleil qui te prolege de l 'ceil mauvais. Je vais dans ta ville avec un chant pour tromper ma solitude. Quand man corps dort dans Ia malle, il ouvre des fenetres dans le ciel et part sur le nuage bleu, passe d 'un corridor a un autre corridor, et vient se Iover entre tes seins.«~ 7

Ein Teil von ihm sehnt sich nach mütterlicher Umarmung und Liebe. Das Kind, das er immer wieder neben dem Ölbaum sieht, lässt sich als eines seiner vergangenen Ichs aus einer glücklichen Zeit sehen. Auf seiner Suche nach Wärme will er sich mit l'image vereinigen, >körperlichUrsprungs< - sie war in einem Mäm1ennagazin abgebildet - seiner unwürdig fühlt. 88 Auch als sie kein Bild mehr ist, bleibt sie doch unvollkommen, seelenlos, ist auf eine Art im Exil wie er auch. Sie existiert nicht in der äußeren Welt und besteht nur durch ihn. Sie fleht ihn an, sie nicht der Realität auszuliefern, was ihr Ende wäre, wobei sie ihm genau das sein will, was er an seinem Dasein nicht erträgt. Sie will die Rolle übernehmen, die er in der Migration übernehmen muss, sie unterwirft sich und stellt keine Ansprüche, will als >Person< verschwinden: »Nous vivrons a deux et tu seras seul. Tu me porteras en toi; je me ferai legere, legere ... transparente«. 89 Wenn er in die Heimat fährt, lässt er sie zurück, da er ihrer dort nicht bedarf. Obwohl sie ein Teil von ihm ist und in ihm lebt, 90

86 RS, 26. Hervorh. Ben Jelloun. 87 RS, 26f. Hervorh. Ben Jelloun. Der Rückzug aus dem schlafenden Körper in die innere Welt ist die Umsetzung der doppelten Abwesenheit. 88 Siehe RS, 62, 63, 65, 80. 89 RS, 83. Hervorh. Ben Jelloun. 90 Der Zugang zur inneren Welt wird in der Brust verortet (RS, 75). Die Prostituierte, die den Mitbewohner von seiner Impotenz heilen soll, setzt sich auf dessen Brust (RS, 107).

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bezeichnet er ihre Beziehung dennoch als Liebe und respektiert sie als >Persongetötet< hat, fühlt er sich innerlich leer, meint, seine Seele verloren zu haben. Er hat geradezu körperliche Schmerzen, das Nicht-Leben der doppelten Abwesenheit ist unerträglich, als er wieder auf sich allein gestellt ist, >H~coute la peine qui eclate en petits morceaux de rire et de chants. Le travail me separe de la vie; la nuit m'exclut du songe.« 93 Sie war seine Flucht vor der Wirklichkeit, er lebte mit ihr und seiner Traumwelt, die ihm das Dasein erleichterten. Nach ihrem Tod ist er der Migrationssituation wieder völlig ausgeliefert. Er will sich der Polizei stellen, wird jedoch nicht ernst genommen, kommt in Behandlung und verliert sein Gedächtnis: »Tout 9a a cause d'une femme, tu comprends, Gazelle, a cause de l'absence et non du reve.« 94 Die Begegnung mit Gazelle, die er am Strand kennen lernt, stellt die Wende dar. L 'image geht in eine wirkliche Frau über, als seine innere Welt, deren Teil das Meer ist, sich mit der äußeren Welt überschneidet. Zu diesem Zeitpunkt war ihm klar geworden, dass seine Situation nicht mehr lebensfähig war: »Quand je t'ai rencontree - c'etait a Royan, n'est-ce pas?- j 'etais sur Je point de prendre une decision importante: 91 L'image bezeichnet den Protagonisten als »terre enceinte« (RS, 83). Siehe auch: RS, 75, 80. Über die Heimat heißt es, »on me dit que mon pays se donne travesti et farde aux touristes« (RS, 28), auch f'image bietet sich als Fotografie den Blicken unzähliger Männer an. 92 RS, 65. Hervorh. Ben Jelloun. 93 RS, 88. 94 RS, 134.

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rentrer au pays ou bien rester ici, mais dans d'autres conditions. Apresent, jene sais plus.« 95 Er wäre völlig verzweifelt, wenn er sie, die er als sehr lebendig erlebt, nicht getroffen hätte. Seine reclusion solifaire hätte angedauert, seine bereits stark ausgeprägte Isolation hätte noch zugenommen. Erst anschließend kann er seinen inneren Rückzug reflektieren, was Teil seiner Rückkehr ins Leben ist: »I! faut vous dire : le recours au souterrain de ma vie ne fut pas une joie, mais un besoin, une necessite. Vous savez. Dehors, les ratonnades. Le crime. Les rafles. Les fouilles. L'humiliation. La peur. Alors je m'enveloppais dans La couverture magique et ejaculais mes n!ves en plein ciel. Je me droguais d'images. Je ne m'en Iassais jamais. Sauf quand ... Mon monde s'arrangeait de plus en plus et ~a m'effrayait. Quand il m'arrivait de sortir, c'etait surtout pour justifier mon univers clos et intime, c'etait pour redonner a mon desespoir Ia violence qui l'a fait naltre.« 96

Gazelle führt ihn aus seiner Isolation, indem sie ihm die Sicht auf in der Realität verortete Dinge eröffnet, derer er sich nicht bewusst war. Es beeindruckt ihn, wie sie von ihrem Vater spricht, dabei sein Leben wach hält und nicht seinen Tod, was ihn einen anderen Umgang mit der Abwesenheit lehrt: »Tu as appris a vivre l'absence comme l'espoir de Ia terre qui jaillit arbres et fleurs de tes gestes, de ta voix.« 97 Sie setzt das Leben vor den Tod, statt sich zurückzuziehen, gibt sie es positiv nach außen. Das bricht seine Kapsel aufund er öffnet sich wieder dem Leben, dessen Personifikation er in ihr sieht. Die Palästinenserin befreit ihn aus der niclusion und kann ihm mehr bieten als l 'image ihm je hätte geben können, zumal er sich ihr kulturell verbunden fühlt: »Cette lumiere, cette fete, ce chant des sables et du ciel ne peuvent etre que de ma terre, mon potane natal. « 9 ~ In den Träumen taucht regelmäßig le chant als auditives Element auf.99 Musik ist ein Medium des kulturellen Erbes und damit der kulturellen Identität, was gerade auf Länder zutrifft, in denen die Alphabetisierung niedrig ist. Im Text werden »quelques bribes d'un chant« 100 unter den wenigen Dingen angeführt, die der Protagonist zum Leben braucht,

95 96 97 98 99

RS, 134. RS , 126f. RS, 128. RS, 127f. RS, 12, 27, 28, 34, 39, 50, 68, 73, 76, 80, 88, 89, 93, 118, 121, 122, 126, 127. 100 RS, 12. 214

TAHAR BEN JELLOUN

was die Funktion des Gesangs damit bestimmt, Halt zu geben und ihn an seine kulturellen Wurzeln fuhrend in das Traumland zu rufen. 101 Der Gesang ist Ausdruck der Hoffnung, irgendwann erneut den Platz in der Heimat einzunehmen: »Nous sommes arrives ici par fournees avec un chant fou dans la tete, un chant retenu et deja la nostalgie et les ecailles du reve. Au loin la flute munnurait.« 102 Er steht in Verbindung mit Momenten des Glücks oder der Erinnerung daran sowie der sexuellen Befriedigung. 103 Der Protagonist ist sich bewusst, dass er mit Hilfe des Gesangs einer Scheinlösung unterliegt, als das Bild >totverlorengehtzähmtertapptzweite Generation< diese leichtfertig abtaten und implizit deklassierten, zumal die Kategorisierung ihnen den Migrantenstatus aufzwingt, ohne Migranten zu sein. Das Ergebnis, >>nous sommes nes ici, en terre fran9aise, avec des gueules d' Arabes, dans des banlieues d 'Arabes, avec des problemes d 'Arabes et un avenir d'Arabes.« 176 Nadia engagiert sich politisch und lässt sich für die Wahlen aufstellen, der Bedeutung ihrer Kandidatur aufgrund ihres Migrationshintergrunds bewusst. Angesichts ihres Großvaters, der weder lesen noch schreiben konnte und als Fabrikarbeiter nach Frankreich kam, vergegenwärtigt sie sich ihren Platz innerhalb der Familienhistorie. Sie ist die erste, die ihre Identität und Zukunft in Europa einfordert: »[M]oi, Nadia, nee en France, devenue fran9aise, avec encore de la terre algerienne collee a la plante des pieds, moi, la rebelle qui refuse d'etre reduite a la condition de Beur, je me presente aux legislatives, et pourquoi pas demain aux europeennes ? « 177 Sie schafft es, sich sowohl in der Vergangenheit ihrer Ursprünge als auch in der Zukunft ihrer Wünsche und Ziele zu verorten. Als Französin verleugnet sie ihren kulturellen Hintergrund nicht, will sich jedoch nicht darauf reduzieren lassen. Sie trägt das kulturelle Erbe der Familie, spielt damit eine ähnliche Rolle wie Fathma in Les Yeux baisses, allerdings nicht einer Prophezeiung wegen, sondern aufgrund der Verbundenheit, 174 RG, 72. Siehe auch RG, 73. 175 RG, 76. 176 RG, 76. 177 RG, 90. 233

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die sie zu ihrer Familie und Ursprungskultur empfindet, was zugleich ein prekäres Gleichgewicht darstellt: »Ö Nadia, ta memoire est en meme temps jeune et lourde, vive et ancienne. Tu as herite de ton grand-pere puis de ton pere un sac rempli de Ia terre de TadmaH, un kilo de tetTe a l'odeur de terre, legs et relais que les pauvres se transmettent de generation en generation. Le passeras-tu un jour a tes propres enfants ? Je ne Je pense pas. Deja, tu te dernarrdes que faire de ce sac : Je remiser dans une vieille valise ou bien enterrer cette terre dans Ia terre de France comme on y inhuma naguere tant de cadavres de tirailleursmaghrebins ?« 178 Den Sack Erde, Symbol für territoriale Zugehörigkeit sowie die Ursprungskultur, könnte sie weitergeben, was sie jedoch nicht voranbrächte, ebenso wenig wie die folgende Generation. Auch wenn sie ihren Geburtsort und ihre Familie kennt, erlebt sie identitäre Unsicherheiten. Aufgrund der doppelten Anwesenheit ist sie ständigen, mal mehr mal weniger intensiven Konflikten ausgesetzt, muss immer wieder zwischen den Anforderungen der beiden Kulturen abwägen. Ihre Aufstellung zur Wahl ist ein bedeutender Schritt näher an die französische Gesellschaft, deren Teil sie ist, akzeptiert oder nicht, denn ein Wahlerfolg schriebe ihr eine aktive Rolle zu. Zugleich muss sie sich zu ihren Ursprüngen neu positionieren: »A present que tu es sur le point de franchir une nouvelle etape, dis-toi qui tu es, ou tu vas. Que vas-tu faire de tous ces bailuchans qui s'entassent a Ia cave, de ces cat1ons pieins a craquer d'objets du pays lointain qui lentement t'oublie? Un pays qui a tourne Je dos a son peuple expatrie. « 179 Um weiterzukommen muss sie sich überlegen, wieviel kulturellen Ballast sie mitnehmen will oder kann, und inwiefern ihr Erbe noch Bezug zur Gegenwart des Landes hat, das die Heimat ihrer Vorfahren ist. Sie zieht die melange vor, webt ihre Ursprungskultur in ihr von der französischen Kultur dominiertes Leben ein, sich bewusst, Prioritäten setzen zu müssen. Sie ist gegen das Vergessen, dessen Notwendigkeit ihr dennoch klar ist. Angesichts der Wahlen definiert sie ihre Aufgabe und damit sich selbst wie folgt: »convaincre les gens devoter pour une Arabe qui n'est pas arabe mais kabyle, qui est francarte nationale d'identiteHeimat< an, denn »elles risquaient de susciter un scandale et d' attirer le deshonneur sur la famille. «205 Die Umstände, unter denen die Mädchen beim Onkel leben müssen sind unzumutbar, zumal sie sich ihrem Empfinden nach in der Fremde befinden: »Je vous ecris d'une terre etrangere«. 206 Die Geschichte kritisiert die maghrebinische Subgesellschaft, welche die Töchter nicht als eigenständige Personen betrachtet, sondern als Verkörperung der Familienehre. Ihre Grundrechte werden missachtet, zumal sie in einem Umfeld leben müssen, das im Widerspruch zu ihrer bisherigen Lebenserfahrung steht. Nadia will sich für die Mädchen einsetzen und besucht die Eltern in Begleitung einer Anwältin, doch der Vater lässt sich nicht beirren und weiß sich im Recht: » Elles sont plus libres la-bas qu'ici. Iei, elles sont menacees par la drogue et par la mauvaise vie.« 207 Er will die Töchter nicht zurückholen, statt dessen soll die ganze Familie zurücldcehren, sobald die Söhne ihre Abschlüsse haben. Der Vater überträgt seine Wünsche auf alle Familienmitglieder, ohne Widerspruch zu dulden: »Notre pays n'est pas la France. [ ... ]Passeport ou pas, il [sein Sohn] restera toujours un Arabe. 11 vaut mieux avoir sa propre patrie.« 20s Die Situation gipfelt im Selbstmord des jüngsten Mädchens, das sich die Pulsadern aufschneidet, von den Schwestern hört man nichts mehr. Anlässlich des Dramas ruft die Presse diverse Schlagwörter auf: »la folie d'un pere, le crime d 'un oncle, 1'islam, la situation en Algerie, l'immigration, la delinquance, le seuil de tolerance, etc., etc.« 209 Wie schon Nadias Vater bemerkte, wird über die eingewanderte Bevölkerung nur negativ und verallgemeinernd berichtet, sodass Vorurteile geschürt werden. Den herrschenden Klischees widersprechende Tatsachen, sind keinen Bericht wert. 210

204 205 206 207 208 209 210

40. 78. 78. 82. 82. 85. Siehe RG, 85f. Der Roman kann insofern als Darstellung auch positiver Schicksale gelten.

RG, RG, RG, RG, RG, RG,

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Die Nachbarn bieten ebenso Anlass, Familienschicksale nachzuzeichnen. Als etwa NaYma aus der cite verschwindet, breitet sich das Gerücht aus, sie prostituiere sich in Italien. Der Vater bittet Nadia um Hilfe, die herausfindet, dass NaYma dort eine erfolgreiche Karriere als Fotomodell macht. 211 Sie freut sich für die Freundin, da es sie aus Resteville rettet, doch für den Vater macht es keinen Unterschied, ob sie ihren Körper auf der Straße verkauft oder auf Fotos. Seine Frau bringt ihn später davon ab, NaYma symbolisch zu beerdigen und in die Heimat zurückzukehren, wogegen auch die restliche Familie aufbegehrt. Bachir, ein anderer Nachbar, scheitert ebenfalls aus mangelnder Flexibilität als Familienoberhaupt. Der Sohn und die vier Töchter versagen in der Schule, haben Drogenprobleme oder sind psychisch krank, sodass er nicht mehr weiß, was er tun soll. Als er beschließt, nach Marokko zurückzugehen, folgt ihm niemand und der Rücld(ehrversuch scheitert: »Il demeura prostre des heures durant au volant de sa voiture immobile, le visage enfoui dans ses mains, ne sachant plus s'il devait partir ou rester. .. «212 Mit Kindem im fremden Land, die alt genug sind aufzubegehren, wird die Rückkehr zur Unmöglichkeit, die Eltern sind überfordert, da eine derartige Situation ihrem traditionellen Familienverständnis nach undenkbar ist. Nadias Vater, der ähnliche Schwierigkeiten mit seinen Kindem gefürchtet hatte, zweifelt angesichts der doppelten Abwesenheit an der tatsächlichen Ankunft seiner Nachbarn in Frankreich: »Mais etait-il [ein Nachbar] vraiment en France? Son pays, son bled, il le portait avec lui partout ou il allait.« 21 3 Er meint, die meisten Migranten hätten sich mit Fragen beschäftigt, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatten, anstatt sich in der neuen Heimat einzurichten: »L' Algerie entibeur< de service zu übernehmen. Nichtsdestotrotz ist ihm anzurechnen, dass es in seinen Romanen nicht einfach darum geht, eine von Klischees geprägte

2

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Von Christophe Ruggia (1997). Unter anderem erhielt er für seinen ersten Roman 1987 den Prix Sorcieres und den Prix de la Ville de Bobigny, sowie für seinen zweiten Roman Beni ou le Parais prive (Paris 1989) den Prix Radio Beur und den Prix F alep du Departement du Gers. Insgesamt hat Begag mittlerweile über 20 nicht-wissenschaftliche Publikationen. Sein aktueller Roman heißt Le marteau pique-cceur (Paris 2004). Begag ist Forscher beim CNRS. In Zusammenarbeit mit Abdellatif Chaouite: Ecarts d 'identite (Paris 1990), mit Christian Delorme: Quartiers sensibles (Paris 1994) sowie mit Ahmed Beneddif die auf Tatsachen beruhende Erzählung Ahmed de Bourgogne (Paris 2001). Ferner: Espace et exclusion. Paris 1995; Les derouilleurs. Ces Franc;ais de banlieue qui ont reussi. Paris 2002; L 'integration. Paris 2003. Expressions maghrebines. Revue de la Coordination Internationale des Chercheurs sur !es Litteratures Maghrebines. 211 (2002), »Azouz Begag de A a Z«. Für weiterführende Literatur siehe URL: http://www.limag.com/ Volumes/Begag.htm [Februar 2004]. Seine Erfahrungen in der Politik hat er veröffentlicht unter dem Titel Un mouton dans Ia baignoire (Paris 2007).

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Erwartungshaltung zu bedienen, sondern über Gemeinsamkeiten und Austausch Anknüpfungspunkte für ein erfolgreiches Miteinander zu finden, ein Ziel, das er mit Optimismus verfolgt. Als wohl meist gelesener Autor der Iitterature >beur< nutzt er seine Bekanntheit ferner, um auch eher politische Themen zu problematisieren. 6 Über die Kinderbücher hinaus, richten sich Begags Texte besonders an Heranwachsende mit und ohne Migrationshintergrund. Das breite Publikum erklärt sich durch seinen pädagogischen Anspruch erklären, den er nicht moralisierend umsetzt, sondern indem seine vorwiegend jungen Protagonisten eine Entwicklungsphase absolvieren, während der sie sich mit migrationsbedingten Problemen, aber ebenso mit altersbedingten Schwierigkeiten auseinandersetzen, was ein insgesamt hohes Identifikationspotential erzeugt. Im Folgenden werden zwei sehr unterschiedliche Romane Begags untersucht. Der Roman Zenzeta (Paris 1997), eher der Jugendliteratur zuzurechnen, schildert die kulturellen >Erschütterungen< eines jungen >beurerwachsenes< Publikum. Wie Patricia Geesey zurecht bemerkt, ist Azouz Begag damit » le premier ecrivain ne en France de parents Algeriens a ecrire un recit qui se deroule entierement en Algerie d'aujourd'hui, [ ... ] et dont l'intrigue est intimerneut lie aux evenements de la guerre >civileFall< befragt hat, was sich wohl auf seine eheliche Zukunft bezieht. Farid begleitet seine Mutter, versteht aber zunächst nicht, was die marabata ihm sagt, er scheint sich schon zu weit von seiner Ursprungskultur entfernt zu haben, um sie verstehen zu können. Erst als er sich auf den Hinweis seiner Schwester hin nähert, gelingt es ihm, die Worte der Frau zu erfassen. Sie sagt ihm, er solle sich beeilen, >sie< hätten >ihn< geholt, hätten seinen Bruder in den Wald nahe des Friedhofs gebracht. Daraufhin eilt Farid los, um Nabil zu retten, ohne zu wissen, vor wem oder vor was. Er rennt über die Gräber auf dem Friedhofund denkt sich noch, dass er sich vermutlich die Füße wund tritt, ohne jedoch Schmerzen zu verspüren. Die Frauen folgen ihm, da die Worte der marabata Panik ausgelöst haben. Im Wald findet Farid seinen Bruder bei einigen Männern, die ihn jedoch nicht zu bedrohen scheinen: »Il [Nabil] regardait les hommes embusques un peu plus loin, muet, comme s'il avait ete en grande conversation avec eux et que, en fin de compte, il avait decide de resterdans sa vie tranquille, avec sa famille.« 10 Vor der Heimfahrt untersucht Farid seine Füße, die völlig von Steinen zerschnitten sein müssten, doch zu seiner Überraschung hat er keine Verletzungen erlitten. Sein >Heimatleichte< Mädchentrotz Verschleierung erkennen können: »11 y avait des indices que seuls les non-expatries au pays des Francs pouvaient delecter. Peut-etre des emanations.«17 Die Fähigkeit wird am Lebensraum festgemacht, doch vermutlich spielen sich die beiden nur aufund Farid glaubt ihnen arglos. Er neigt dazu, die Dinge ihrem Anschein nach zu beurteilen und schenkt etwa Geschriebenem spontan Glauben: »A Salzbourg, en Autriche, sur !es portes des maisans de tolerance signalees par des Iampions rouges, on m'avait dit que c'etait ecrit Mädchen mit Hertz [sie !]. Ce qui signifiait qu'ici !es filles avaient du cceur a offrir, en plus de leurs atouts sexuels. Je m'etais etonne en me disant: tiens, si Je cabaretier a tenu a cette precision, cela voulait dire qu'il y avait des filles sans cceur, aussi, dans d'autres maisons. C'est comment, une fille sans cceur? Moins eher, puisqu'il n'y a pas d'abats ?« 18 Auf dem Weg zu einem Freudenhaus wirkt Farid erneut blind und passiv, wird geführt ohne zu sehen oder seine Umgebung wahrzunehmen: »II [Sald] pouvait bien m'emmener ou bon lui semblait, j'avan9ais, aveugle, l' esprit pince de remords.« 19 Als er die Idee hat, eine Sammetaktion zu organisieren, um Anna endlich unter einem Vorwand näher zu kommen, ist sein erster Wunsch 15 16 17 18 19

Z, 62. Z, 26f. Z, 75. Z, 77f. Z, 80. Als Sai'd ihn alleine lässt ist sein erster Gedanke: »Je voulais Je rete-

nir, lui dire de rester avec moi, de guider mes premiers pas dans cet antre inquietant, maisje m'en suis garde.«, Z, 84. 251

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visueller Art: »La voir, lui parler.« 20 Er sieht sie täglich, verfolgt sie mit Blicken und beobachtet sie in ihrem Zimmer. Seine Verliebtheit zieht zugleich eine gewisse Blindheit nach sich, 21 er nimmt die Realität verzerrt wahr, sieht nicht, dass seine Beziehung zu ihr nur in seiner Phantasie besteht, da er seine Gefühle und Hoffnungen in sie projiziert. Auch in Farids Beziehung zu Anifa überwiegt der visuelle Aspekt, abgesehen von einem Begrüßungskuss, den sie ihm gibt, wo er also erneut passiv ist. Farid ist demnach eher ein voyeur als ein voyant. Hinzu kommt, dass er sehr naiv ist, er durchschaut nicht alles. Obgleich Farid von der französischen Kultur geprägt ist, zeigen seine Handlungen, dass er weit mehr von seiner Ursprungskultur beherrscht wird als er meint. So hat seine Familie einen relativ großen Einfluß auf ihn, Farid weiß, was sie von ihm erwarten und fügt sich dem meist, zumal es ihm offenkundig an Lebenserfahrung mangelt. Über die Schicksalsgläubigkeit seiner Familie macht er sich bisweilen lustig, neigt selbst jedoch ebenfalls zu Fatalismus: »J'aurais aime trauver le courage de me Iever, ouvrir la fenetre et lui avouer la verite: J'aime Anna! Dis a ta fille de ne pas m' attendre. Mais je me suis dit qu'apres tout il fallait laisser faire le destin. Peut-etre que.« 22 Sein Fatalismus resultiert in Passivität, was sich besonders im Zusammenhang mit Anna zeigt. So bittet er einmal in einem Stoßgebet darum, dass sie sich im wegfahrenden Bus noch einmal muderben möge und ist überglücklich, als das tatsächlich, rein zufällig, geschieht. Er setzt sein Glück in Abhängigkeit vom Schicksal und versucht immer wieder, Anna mit seinem mektoub in Verbindung zu bringen: »Peut-etre avaitelle [Anna] ete placee sur mon chemin par une legende ?« 23 Fatalismus gepaart mit Optimismus beherrschen Farids Leben, er vertraut seinem mektoub, auch wenn sich seine Hoffnungen nicht erfüllen: »C'est mon mektoub. Personne ne peut rien contre ce qui est ecrit.« 24 Seine Naivität lässt Farid zudem völlig unpassende Vergleiche anstellen: »Moi, j'ai repense a Anna, bien sür. Je me suis pose une question: Anna etaitelle une chose futile dans ma vie terrestre? Si elle I' etait, que me resterait-il a 20 z. 69. 21 Er wird fast von einem Auto angefahren, als er, ganz im Banne Annas, wie hypnotisiert die Straße überqueren will. Z, 39. 22 Z, 64. 23 Z, 32. 24 Z, 120. Dieser Aspekt erinnert an Jacques in Diderots Jacques le fataliste: wo dieser sich ständig auf le grand rouleau beruft, evoziert Farid seinen mektoub. Nur ist er nicht so klug wie Jacques, der es durchaus schafft, sein >vorherbestimmtes< Schicksal seinen Wünschen und Bedürfnissen anzupassen.

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aimer? Les makroutes au miel de ma mere? Les joueurs de football? Les villages socialistes? Les revolutions democratiques, populaires et bla-bla-bla... ?« 25

Anstatt selbst aktiv zu werden und Anna anzusprechen, vertraut Farid dem Schicksal, versucht es seinen Träumen und Wünschen entsprechend anzupassen. Er ergreift selten die Initiative, lässt im Allgemeinen alles auf sich zukommen. Als er am Ende die angebetete Anna mit seinem Freund Jesus sieht, reagiert er genau wie seine Eltern: »J'allais juste effacer le disque dur, oublier, si je trouvais le courage, et ouvrir un nouveau fichier de vie. A quoi va servait, tout va?« 26 Wie sie ignoriert er Dinge, die er nicht wahrhaben will, löscht sie aus, anstatt sich mit ihnen auseinander zu setzen. Als Farid Flugblätter verteilen will, die ihm einen Vorwand bieten, bei Anna zu klingeln und sie endlich kennen zu lernen, bittet er Jesus, ihn zu begleiten. Alleine könnte er für einen Betrüger gehalten werden, doch er braucht wohl auch den Mut des Freundes, der sich sofort bereit erklärt: »Lui aussi etait content de faire du porte-a-porte pour une action humanitaire. 11 insistait pour voir Anna de pn!s. Jene comprenais pas cet acharnement.«27 Farid erkennt nicht, dass Jesus sich ebenfalls für Anna interessiert. Er wundert sich zwar, macht sich aber weiter keine Gedanken. Auch am Ende des Romans, als Farid einen kurzen Moment allein mit Anna ist, ist er völlig irritiert, als sie wissen will, ob er Jesus sehr gut kenne. Er versteht die Frage nicht, will sie vermutlich nicht verstehen. Farid ist gehemmt, da er keine Erfahrung mit Mädchen hat und sich nicht zu verhalten weiß. Er ist in seiner emotionalen Entwicklung offenbar im Rückstand, wofiir bereits seine beharrliche Schwärmerei spricht. Zudem hemmt ihn Anna gegenüber sein Heiratsversprechen. Anifas Vater Sid Ahmed kann jeden Augenblick eintreffen, um die Hochzeit zu besprechen, sodass Farid in die Wohnung zurück muss. Erst als ein Telegramm mit der Nachricht eintrifft, das Haus in Algerien sei ganz eingestürzt, fühlt Farid sich befreit, auch von seinem Heiratsversprechen, und läuft zurück zu Anna. Aber er kommt zu spät, er hatte seine Gelegenheit nicht genutzt undAnna ist bereits mit Jesus zusammen. 2 ~ Hier lässt sich eine premonition Farids erkennen, der Gedanke, Jesus vom Balkon zu stoßen, wirkt unmotiviert, als er genannt wird. 29 Im

25 26 27 28

Z, 59. Z, 140.

Z, 97. Trotz seiner Naivität ahnt er am Ende offenbar doch, was ihn erwartet, da er sich an die Worte der marabata erinnert und denkt: » II l' a prise, il l'a prise!«, Z, 140. 29 Z, 54.

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Nachhinein kann er jedoch als eine Art antizipierte Aggression gelten, da Jesus ihmAnna >ausspannt»Non, non, je suis avec vous, je suis avec vous !< Jene voulais pas rester seul au monde. C'etait une sensation horrible, [ ... ] J'etais sur l'un des deux bords, entre cauchemar et realite, avec ma voix au miJieu qui faisait Je messager entre Je temps d' hier et Je temps de demain, essayant de coller les deux bouts. Un trembJement de terre sur mon matelas, voiJa ce que je voyais dans Je noir. Comme en pJeinjour.« 33 Das entspricht der Situation Farids, der zwischen den Polen seiner kulturellen Vergangenheit sowie seiner gesellschaftlichen Zukunft hin und her gerissen ist. Seine anschließende premonition kann als Parabel der Migration aufgefasst werden, die die Situation der ersten Generationen veranschaulicht. Er sieht, wie die Erde aufreißt und ganze Bäume sowie Menschen verschlingt, » Il y avait des maisans sens dessus dessous, des enfants qui pleuraient en silence, et des fellahs, des paysans qui plaquaient leurs mains sur leur tete enturbannee en hurlant: >Quel malheur, quel malheur! < avant de se faire happer par la terre, eux aussi, et disparaitre dans le neant. «34 Die ausgerissenen Bäume illustrieren die kulturelle Entwurzelung der fellahs, der einfachen Bauern, die den Großteil der ersten Generationen ausmachten, während die zerstötten Häuser eine Zukunft in der Heimat

30 Er spannt sie ihm nicht wirklich aus, vielmehr ergreift Jesus die Gelegenheit, die Farid nicht nutzte. 31 Z, 25. 32 Z, 24.

33 Z, 25. 34 Z, 25.

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ausschließen. Der Migrant ist als Mensch Erschütterungen auf allen Ebenen ausgesetzt, seine Rücldcehr ungewiss. Der Alptraum verunsichert Farid völlig, er weiß nicht genau, ob er der Katastrophe tatsächlich entgangen ist. Das Gefühl trügt nicht, denn die Risse am Haus in Algerien, die beim ersten Beben entstanden waren, werden größer und tragen zum Einsturz bei. Es ist, als könnte der Boden seiner Ahnen den französischen Einfluss nicht mehr abfedern. Farid erinnert sich an dieses erste Beben, das er in Setif erlebte, er konnte es nicht sofort zuordnen, dachte spontan an einen Aufstand der Toten und bezog den Zorn der Ahnen speziell auf sich. In dem Zusammenhang taucht auch das erste Mal der Titel auf: »Zenzela! Zenzela! Elle est venue.« 35 Akila, die das Haus in Algerien hütet, stellte die Verbindung zwischen Farid und dem Erdbeben her: »Tu as vu? Elle est venue, hein? C'est toi qui 1' as amenee de France ... «36 Nach draußen geflüchtet, sprach ihn eine Nachbarin mit passager an, was ihm missfiel, wohingegen er geradezu Stolz empfand, als ihn jemand mon frere nannte. Auch wenn nur vorübergehend in seinem Ursprungsland, will er zur Gemeinschaft gehören. Farids Vater dagegen fügt sich ganz natürlich in seine Ursprungsgruppe ein: »Ici, il etait quelqu 'un, avec des amis, une histoire.« 37 Er wird in seiner Heimat völlig anders wahrgenommen, hat seinen Platz im sozialen Kontext und wird respektiert, sodass Farid sich in diesem Rahmen über ihn definieren kann. Doch in Frankreich hat sein Vater keinen Raum, ist niemand von Bedeutung und bleibt im Hintergrund. 3 ~ Ein Besuch im Freudenhaus macht Farid ebenfalls sein Andersseins bewusst. Die Polizeikontrolle, in die er zu geraten droht, kann für ihn unangenehme Folgen haben, da er vorgibt zu studieren, um dem Wehrdienst zu entgehen. Das verstärkt seinen Status als passager, er ist ein Besucher, der in Algerien seinen Befreiungsausweis und in Frankreich seine Papiere vorzeigen muss. Auch die Prostituierte sieht ihn als Fremden an: »Elle me prenait pour un touriste. Je l'etais un peu, il est vrai.« 39 Bevor er geht, fordert sie ein Trinkgeld: »Les immigres sont riches, non ? Vous avez tous une maison lä-bas, une maison ici.« 40 Sie schreibt ihm zwei Häuser zu, was auf kultureller Ebene auf seine zwei Identifikationspole verweist. 35 36 37 38

Z, 29. Z, 34. Z, 28. Hervorh. Begag. Das trifft ebenso auf den Text zu, wo der Vater nur vor dem Fernseher zu sitzen scheint. 39 Z, 87. Zudem möchte Farid vor dem Freudenhaus in den hammam gehen, erträgt aber die Massage nicht, empfindet sie als körperliche Misshandlung, was ihn ebenfalls als einen passager entlarvt, der in Algerien fremd ist. 40 Z, 93.

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Zugleich reduziert sie ihn jedoch auf seine französische Lebenswelt Er wird fälschlich als immigre kategorisiert, seine wahre Identität interessiert niemanden. Was Riten und Traditionen angeht, ist Farid sehr unentschieden. Bezüglich des Handkusses, der älteren und bedeutenden Personen gegenüber den Respekt ausdrückt, hat er Vorbehalte. Insbesondere stört ihn, diese demütige Geste seiner Ursprungskultur im kulturell anders besetzten Raum auszuführen, vennutlich wäre sie ihm in maghrebinischer Umgebung gleichgültig. Als ihn etwa in Algerien ein einfacher Bauer, den er im Auto mitgenommen hatte, als Gesandter des Himmels bezeichnete, war ihm das weder missfallen, noch war es ihm übertrieben vorgekommen. Zudem hat er Probleme mit manchen sozialen Codes, die in Algerien herrschen. Er fühlt sich unwohl, was das Verhalten der Männer angeht, denn während gemischtgeschlechtliche Berührungen in der Öffentlichkeit tabu sind, umarmen sich die Männer untereinander für seinen Geschmack zu ausgiebig. In der Hinsicht ist er offenbar stärker von den französischen Gepflogenheiten geprägt. Farid hat sowohl in Lyon als auch in Setif je zwei Freunde, Patrick und Jesus in Frankreich, Sard und Brahim in Algerien. Er hat keinen >besten< Freund, ist eher ein Einzelgänger. Dass er jeweils zwei Bekannte hat, illustriert seine Passivität und zugleich sein Verhältnis zu den sozialen Gruppen in der doppelten Anwesenheit. Er kann sich in keiner der beiden Kulturen entscheiden, obwohl er sich ständig mit den Ansprüchen beider Pole auseinandersetzen muss. Er ist zu großen Erschütterungen ausgesetzt, um eine tiefere Beziehung aufbauen zu können. Dabei ist Farids Verhältnis zu den sozialen Gruppen egalitär, die Menschen aus seinem Viertel betrachtet er ebenso als sein Volk wie die in seinem Ursprungsland. 41 Die Nachbarn stehen ihm soziologisch gesehen nahe, sie leben in seiner räumlichen Nähe, in derselben Umgebung wie er. Die Menschen in Algerien dagegen leben in seinem autre pays, sie sind für ihn zwar Angehörige seines Volkes, der Ausdruck baut jedoch zugleich eine nicht nur geographische Grenze auf. Zudem ist Farids Algerienbild französiert, etwa das Freudenviertel erinnert ihn an Beschreibungen aus Les Mille et Une Nuits , was zeigt, dass Farids Wahrnehmung durch die französische Kultur geprägt ist, auch wenn es um seine Ursprungskultur geht. Er ist nervös, fühlt sich im orientalischen Dekor deplatziert. Das ändert sich erst, als er ein Verbot liest: »Sur l 'un d'eux [der Mauem], une main de proprietaire avait badigeonne a Ia peinture blanche: INTERDIT D'URINER SUR CE MUR! Cet appel a Ia citoyennete basique m'a un peu decontracte.« 42 41 Z, 96. 42 Z, 80. Hervorh. Begag.

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Das Verbot ist ausgeschrieben, wodurch er sich nicht mehr ganz so fremd fühlt. Kulturelle Verbote und Eigenheiten hingegen sind nicht ausgeschildert, was ihn in Algerien verunsichert und zum sehenden Blinden macht. Ferner kritisiert Farid sein autre pays Algerien, er spricht wiederholt ironisch von der »democratie populaire et socialiste«. 43 Als passager besitzt er eine gewisse Distanz zu den Polen seiner doppelten Anwesenheit, kann manche Dinge somit besser erkennen. Dieser Sonderstellung ist er sich bewusst, und auch wenn er die Lage nicht ausführlich analysiert, erkennt er doch, dass die politische Situation instabil ist. 44 Nach dem ersten Beben hatten sich alle auf der Straße versammelt. Die Menschen wirkten auf ihn eher fröhlich als schockiert, als ob das Beben eine befreiende Wirkung hätte. Es scheint vorübergehend weder Regeln noch Hindernisse zu geben, und als die zenzela sich schon bald als Gesprächsthema erschöpft, werden auch politische Fragen erörtert, sodass er im Erdbeben revolutionäre Kraft entdeckt, die zu gesellschaftlichen Erschütterungen, sogar zum Umsturz führen kann. Bezeichnend sind die unterschiedlichen Reaktionen auf die Sammetaktion für die Erdbebenopfer in El Asnam. Im französisch geprägten Raum, dem centre social und der Kirche, wird die Idee begeistert aufgenommen, überraschend hoch ist auch die Beteiligung der Leute seines Viertels. ln der algerischen Botschaft hingegen sind die Reaktionen sehr zurückhaltend, wenn nicht ablehnend.

1.4. »Allou? Qui c'i toi?« 45

-

die Kommunikation

Farid ist ein passiver, >leidender< Charakter, der vor allem aufkommunikativer Ebene ein Defizit hat, sowohl im Kontakt zu seiner Ursprungskultur als auch innerhalb der französischen Gesellschaft. Die Hilfsaktion nach dem Beben ist die erste Unternehmung, die er initiiert, und das vor allem, um Anna kennen zu lernen. Innerhalb des arabischen Kulturkreises, und insbesondere in der Familie, sind die Kommunikationsmuster fest vorgegeben, es bleibt kaum Raum für spontane, freie Äußerungen. Farid kennt zwar zahlreiche Höflichkeitsfonnein und Riten, er beherrscht sie jedoch nicht genügend. So besteht ein Telefongespräch mit dem Seher Sid Ahmed fast nur aus Miss43 z. 36. Siehe auch Z, 48f.; 72. 44 Z, 72. Als Farid im Konsulat einem Analphabeten beim Ausfüllen seiner Papiere hilft, denkt er, dass dieser leicht zum Opfer der politischen Korruption werden könnte (Z, 115). 45 Z, 108.

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verständnissen, die hauptsächlich auf Farids mangelhafte Kommunikationskenntnisse zurückzuführen sind sowie auf seine jugendliche Überheblichkeit. Bevor er den Anruf des marabout entgegennimmt, erteilt er seiner Mutter noch eine kleine Lektion in der Kunst des Telefonierens: »- Yemma, tu sais, c'est pas Ia peine de crier quand tu causes au telephone. Meme si tu parles normalement, Ia personne de l'autre cöte t'entend quand meme ... J'ai fait un essai pour lui montrer. J'ai approche le combine de ma bouche et j'ai imite un accent de foyer Sonacotra: - Allou? Qui c' i toi? Puis j'ai eloigne l'appareil de ma bouche: -Tu vois, pasplus fort, 9a va tres bien ... «46 Farids Arroganz erzeugt Komik, da er sich im anschließenden Gespräch mit Sid Ahmed einverstanden erklärt, Anifa, die Tochter des Sehers, zu heiraten, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Von Anfang an weiß er nicht, wovon der marabout redet und versucht sich mit Gemeinplätzen herauszureden, was gänzlich misslingt. Erst als ihm seine Mutter >übersetztlöscht< die Nachricht, indem er sie zerreißt. Seine Verständnislücken zeigen sich auch, als ein Nachbar ihn nach dem Erdbeben auf das große Beben im Februar 1960 im südmarokkanischen Agadir anspricht, das die Stadt fast völlig zerstörte. Farid versteht nicht, worüber der Nachbar redet und interessiert sich auch nicht dafür. In der Kommunikation gibt es Tabuthemen, die nicht nur den sexuellen Bereich betreffen. Auch familiäre Probleme werden ignoriert, denn >was nicht sein darf, kann nicht seinschlechte Fundament< fuhrt auch unweigerlich zum zunehmenden Zerfall des Hauses, parallel zur größer werdenden Unabhängigkeit Farids, der sich von seiner Ursprungskultur weg und hin zur französischen Kultur bewegt. Bei seinem in Algerien erlebten Beben warFarid das erste Mal ohne seine Familie dort. Dieser Aufenthalt außerhalb der familiären Autorität ist ein erster emanzipatorischer Schritt. Wenn auch im Kulturraum seiner Vorfahren, hat er sich doch dem direkten Einfluss seiner Familie entzogen und das Erdbeben findet am Tag seiner Ankunft statt, weshalb Akila, die das Haus hütet, es mit ihm in Verbindung bringt. Farid erinnert sich an die am Haus sichtbaren Folgen des ersten Bebens: »11 y a dix ans, la zenzela [ ... ] l'avait fissuree et en avait fait, desormais, un chäteau de cartes. Quelques fissures anodines qui se sont infectees par la suite.« 53 Kurz nachdem Farid sich entschließt, eine Sammelaktion für die Erdbebenopfer zu organisieren, berichtet Akila in einem Brief, ein Teil des Hauses sei eingestürzt. Farids Motivation für die Sammlung ist doppelt, zum einen will er seinen Landsleuten wirklich helfen, zum anderen liefert ihm das einen Vorwand, Anna anzusprechen. Das erschüttert seine algerischen Fundamente, weil er dadurch seine an Algerien ausgerichtete Lebensorientierung gefährdet. Akilas Formulierung stützt das: »[C]'etait une histoire de ciment. L'entrepreneur aurait trafique Je produit en y ajoutant de Ia terre pour nous voler, et voila Je resultat. Ut ou des lezardes etaient apparues, suite a Ia secousse tellurique qui avait failli me prendre Ia premiere fois, Je plafond s'etait affaisse. -Eh ben! En a conclu ma sceur. Si !es fondations sont pourries ...« 54

52 Z, 21f. 53 Z, 33. 54 Z, 67.

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Farids arabischer >Zement< wurde mit französischer >Erde< vermischt, seine arabische Identität ist nicht fest genug verankert. Den ständigen Einflüssen der französischen Gesellschaft ausgesetzt, bekommt er den Erdstößen bei einem Beben vergleichbare Impulse von ihr. In der doppelten Anwesenheit trifft er Entscheidungen, die seine arabische Identität durch französische Elemente zersetzen. Akilas nächste Nachricht trifft kurz nach Farids Besuch im centre social ein, wo er die Sammelaktion bespricht, als er also die ersten Schritte zur Konkretisierung seiner Idee unternimmt. Farid versteht die Mitteilung angeblich nicht gleich, obwohl die Nachricht schlicht lautet, dass Wasser in das Haus dringe. Nach dem Telefongespräch mit Sid Ahmed, bei dem sich Farid einverstanden erklärt, Anifa zu heiraten, nimmt das mittlerweile stark beschädigte Haus weiteren Schaden. Das Telefon klingelt erneut und Farid erfährt von der völlig aufgelösten Akila: »La maison s'est ecroulee.« 55 . Er legt einfach aufund zieht sich zurück, »sans rien dire, pour ne faire de mal apersonne. Je detestais contrarier Ia tranquillite des autres. Annoneer des nouvelles comme beurDahlia. Dahlia. Mes filles. Mes filles. Paris. Paris.< Je pronon9ais tous les mots en double pour me saouler et ne penser ä rien d'autre.« 89 Wenn sich seine Kollegen über die Einsätze unterhalten, hält er sich zurück, da er nicht mehr wirklich da ist, sich schon abwesend fühlt. Er nimmt auch keine Tabletten mehr, braucht die Drogen nicht, da er mit der Flucht neue Hoffnung schöpft: »Osmane ne ferait plus de moi un robot chimique.« 90 Von seinen Kollegen isoliert er sich zunehmend: »J'ai passe plusieurs jours en vase clos, des boules de eire dans mes oreilles. [ ... ] C'est dans ces conditions d'isolement que je suis reparti en tournee plusieurs fois avec !es etrangers. J'appelais mes collegues «!es etrangers » desormais, nous n'habitions plus it Ia meme enseigne. Je ne me souvenais plus de rien. J'oubliais tout instantanement.« 91 Mo meint zu den anderen Kollegen, dass man nicht einmal sagen könnte, ob Zoubir tot oder lebendig sei. Dieser klinkt sich aus der realen Lebenswelt aus, zieht sich immer mehr in sich zurück. Da er sich völlig isoliert und wiederholt von Eichhörnchen redet, den Fahrer sogar bittet, ja keine zu überfahren, halten ihn seine Kollegen für verrückt. Sie nehmen ihm die Waffen ab, wogegen er sich nicht wehrt und schicken ihn schließlich heim, was einer Entlassung gleichkommt.

87 Pass, 138. 88 Pass, 141. Er betet noch mehrmals zum griechischen Gott, etwa wenn er in das Dienstauto steigt, siehe Pass, 177, 180. 89 Pass, 168. 90 Pass, 170. 91 Pass, 199.

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2. 2. Die Abwesenheit der Töchter Für Zoubir sind seine Töchter das Wichtigste in seinem Leben, obwohl er kaum Kontakt zu ihnen hat. Ihre Abwesenheit belastet ihn sehr, zugleich bedauert er seine Abwesenheit aus ihrem Leben: »J'avais peur que mes filles ne m'oublient. Peur de les oublier aussi, que le contour de leur visage ne soit efface par le vent du temps. Unjour viendrait ou elle seraient graudes et je ne les aurais pas vues grandir. Cette idee faisait mal. N'avoir pas ete lä.« 92 Er denkt sehr häufig an sie, sieht sie im Laufe der Handlung aber nur einmal, ohne mit ihnen zu sprechen. Das liegt zum Teil an der Scheidung, aber vor allen Dingen daran, dass er sie mit einem Besuch in Gefahr brächte. Sie leben gewissennaßen in einer anderen Welt, zu der er keinen Zugang hat. In dieser Hinsicht erinnert seine Situation an die der ersten Generationen, damit der doppelten Abwesenheit. Er ist aus dem Leben seiner Kinder abwesend und führt kein wirkliches Leben. Als sie bei der Arbeit Todesdrohungen erhalten, blendet Zoubir in eine virtuelle Wirklichkeit über, die seinen Töchtem gehört: »Moi je me suis cloltre ä double tour dans Ia photo de mes filles. [ ... ] Je faisais Je mort.« 93 Sie geben ihm Kraft, den Alltag zu ertragen, doch er muss sich damit zufrieden geben, ihnen in seinen Träumen nahe zu sein oder als unbemerkter Besucher, wenn er durch die Fenster ihres Zuhauses ihre Schatten beobachtet. Als er einmal glaubt, getötet zu werden, schützt er instinktiv seinen Kopf, damit seine Töchter ihn wenigstens wiedererkennen können. Seine Töchter sind es auch, die ihn lange Zeit von einer Flucht abhalten: »Fuir. Mais loin de mes filles ?«94 Als er sich dennoch dazu entschließt, schreibt er ihnen Abschiedsbriefe. Der älteren erklärt er, er werde wiederkommen, der jüngeren, die noch nicht lesen kann, malt er ein Eichhömchen, das auf einem Ast läuft. 95

2.3. »[M]on studio homme-nivore« 96 Das Verhältnis Zoubirs zum Raum ist durch Bedrohung bestimmt, jeder Raum birgt potenziell die Gefahr eines Angriffs. Selbst seine Wohnung ist nicht neutral, auch wenn ihm dort keine unmittelbare Gefahr droht. Er

92 93 94 95 96

Pass, Pass, Pass, Pass, Pass,

75. 36. 131. 207f. 167.

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warnt Dahlia, als sie zu ihm kommt: »Fais attention, c'est un studio bizarre; il retrecit.« 97 Nach Karamels Tod verstärkt sich das Gefühl des kleiner werdenden Raums: »Mon studio retrecit de jour en jour« 98 , »Irremediablement, les murs du studio resserraient leur etreinte sur moi.« 99 Und als er eines morgens ohne Dalia erwacht: »Les murs du studio s'etaient resserres d'un cran sur mon cräne.« 100 Wie wenn ihm selbst der wenige Raum, der privat und seiner ist, entzogen würde, indem er immer enger wird und droht, ihn zu erdrücken. Selbst sein beruflich bedingtes Nicht-Leben verliert an Wert: »Ils [die Wände seiner Wohnung] avancent. [... ] Ils se resserrent sur moi. Oualla c'est vrai. [ .. . ]- C'est dans ta tete que 9a bouge. [ ... ]- Aussi, oui. Mais le studio avance sur moi ... « 101 Als Dahlia ihm sagt, sie werde nicht mit ihm nach Paris gehen, fühlt er sich trotz ihrer Gegenwart plötzlich einsam und merkt, wie die Wohnung weiter schrumpft. Negative Gefühle engen Zoubirs Raum zunehmend ein, er fühlt sich von ihnen fast körperlich bedrängt: »Brutalement, la solitude m'a oppresse. La terre se derobait sous mes pieds. Les murs de mon studio pla9aient le cliquet un cran plus haut.« 102 Die Wände verengen sich mit seiner Entscheidung zur Flucht zusehends. Bliebe er in Algerien, hätte er bald keinen Lebens-Raum mehr. Nachts geht Zoubir mit einer Landkarte auf Reisen, führt im Geist seine geplante Flucht aus und entgeht damit der Enge, die er empfindet. Besonders Grenzräume verführen ihn zu Träumereien, so steigt er bei einem Einsatz am Flughafen auf das Dach und stellt sich vor, dass er die 747 landet, die er beobachtet. Er träumt davon, sich w1ter normalen Menschen zu bewegen, die nicht von Angst und Terror geprägt sind. Er flüchtet sich in seinem Tagtraum in eine >normale< Welt, in der er nicht erdrückt wird, sondern Raum zum Leben hat. In der Schalterhalle sieht er die ankommenden Migranten, wobei seine Wahrnehmung durch seinen Migrationshintergrund geprägt ist. Er meint, die Situation wiederzuerkennen, kann den Zwiespalt zwischen der vorübergehenden Rückkehr und der Angst, im Land behalten zu werden nachfühlen, die vor allem junge Männer bedroht. Am Hafen, einem weiteren Grenzraum, beobachtet Zoubir Heimkehrer, die in überladenen

97

94.

98

116. 121. 120. Als ihm mehtmals gesagt wird, er hätte abgenommen, antwor-

Pass, Pass, 99 Pass, 100 Pass,

tet er: »C'est peut-etre pour 9a que j'ai l'impression que tout se resserre autour de moi«, Pass, 151. 101 Pass, 166. Zoubir bezeichnet sein studio als »homme-nivore« (Pass, 102

167). Pass, 167.

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Autos ankommen, »pour revenir a la source, aux origines.« 103 Die Rückkehr, ob langfristig oder nur für den Urlaub, bedeutet den in der doppelten Abwesenheit lebenden Migranten sehr viel, sowohl hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den in der Heimat Lebenden als auch bezüglich des Raums. Manche sind sichtbar glücklich darüber, wieder in Algerien zu sein: »[D]eux cousins [ ... ] se sont arretes au bord de La route, sont sortis de leur voiture presque en meme temps et se sont enlaces, felicites mutuellerneut d'etre arrives au bout de leur aventure, vivants, avec tout leur butin. « 104 Was unter den Migranten verbindend wirkt, stößt bei den Nicht-Migrauten auf Unverständnis. Das Verhalten ruft nicht nur Ekel hervor, als die beiden Heimkehrer den Heimatboden küssen. Bereits der Rückkehr wird angesichts der Situation des Landes und der allgegenwärtigen Gewalt kaum Verständnis entgegengebracht, da die Heimkehrer an einen Ort kommen, deren Einwohner gerade davon träumen, diesen zu verlassen. Die gefährliche Situation Algeriens wird jedoch von den Migranten nicht ganz wahrgenommen, da sich das verklärte Bild ihrer Heimat zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung davorschiebt und die Wahrnehmung stört. Es wird deutlich, als wie beengt Zoubir den ihm zur Verfügung stehenden Raum empfindet, als er seine Gedanken nach Europa richtet: »L'horizon fermait le decor, au loin, et derriere, je voyais Marseille, Genes, Barcelone, Alicante, Porto, puis Paris, Berlin, Oslo. Je prononwohnt< Amar, ein Clochard der behauptet, den Präsidenten ennordet zu haben, sodass er für verrückt gehalten wird. Er lebt demnach sowohl im geographischen als auch im sozialen wie rationalen Grenzgebiet. Aber Zoubir sieht ihn als einen.faux fou, der nur vorgibt, verrückt zu sein. Amar erklärt, er könne das Land nicht verlassen, da er an die Geschichte Algiers gebunden sei und sich auf seine Art von der Stadt befreit habe: »En devenant fou. Je suis parti, en quelque sorte. [ ... ]Tu vois, j'ai l'air d'un ecureuil dans les branches d'un arbre.« 111 Da die äußeren Bedingungen keine Freiheit ennöglichen, sucht Amar sie in sich selbst und meint auch, sie gefunden zu haben, wie das Bild des Eichhörnchens in den Ästen unterstreicht, das ebenso für Zoubir die Freiheit versinnbildlicht. Nach der Begegnung mit Amar durchlebt Zoubir eine weitere FluchtPhantasie, in der er sich davonfliegen sieht. Von da an scheint auch er langsam den Verstand zu verlieren, was schließlich zu seiner >Entlassung< führt. Das Meer behält dennoch seine Anziehungskraft, zeigt ihm den Weg nach Frankreich und in die Freiheit, bleibt sein Orientierungspunkt.112

107 Pass, 79f., 181. 108 Pass, 193. 109 Pass, 193. 110 Pass, 194. Siehe auchPass,113 . 111 Pass, 196. 112 Pass, 201, 203.

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2.5. »[S]uivre les ecureuils sur les branches des arbres« 113 - Dahlia Schon kurz nachdem Zoubir sie das erste Mal in Osmanes Büro gesehen hat, wird Dahlia Teil seiner Tagträume, mittels derer er der Gegenwart entflieht. Er träumt davon, mit ihr am Strand zu liegen, verbindet sie demnach von Anfang an mit dem für ihn persönlich wichtigen Raum des Meeres. Als er sie später in der Bar Mirage wiedersieht und sie sich näherkommen, ist das ein Lichtblick flir ihn: »Un chemin s'etait ouvert.« 114 Er ftihlt sich glücklich, ist verliebt. Dahlia wird fast wichtiger ftir ihn als seine Töchter. Nach den Bezichtigungen von Karamels Mutter etwa denkt er an seine Töchter und an sie, um das Geschehene zu ertragen. 11 5 Er verlässt Algerien in seinen Träumen wiederholt, wobei das Wohin zunächst vage bleibt, da Zoubir zwischen Frankreich und Australien schwankt. Erst durch Dahlias Bekanntschaft scheint die Flucht konkretisierbar. Obwohl er kaum etwas über sie weiß, spielt sie bereits eine große Rolle ftir ihn und als er sie wiedersieht, gehen ihm viele Fragen gleichzeitig durch den Kopf: »Bien sur qu'elle viendrait avec moi a Paris, je me disais. Et puis ensuite : mais comment ce diable de Gori savait-il qu'elle allait venir? Et puis ensuite: avait-elle un homme dans sa vie? Et puis ensuite: avait-elle une vie ?« 116 Diese Reaktion, ebenso wie die Konkretisierung der Fluchtidee, ist darauf zurückzuflihren, dass Zoubir durch Dahlia und seine Liebe zu ihr wieder anfängt zu leben, er fängt an, von neuem an eine Zukunft zu glauben. Gleich in der ersten Nacht, die er mit ihr verbringt, träumt er auch von Eichhömchen, die in den Bäumen spielen. Außerdem sieht er sich mit einem Stift in der Hand an seinem Schreibtisch sitzen, kann aber nicht schreiben, da keiner seiner Stifte Tinte hat: »Aiors Ia feuille de l'arbre restait vierge. J'avais simplement ecrit sur Ia page de couverture un titre qui me paraissait interessant pour son caractere enigmatique: L 'Oubliette. Des livres d' histoire de mon enfance, je gardais le souvenir d'un chäteau fort avec des oubliettes dans lesquelles on enfermait les opposants au seigneur. Ce mot m'avait toujours seduit. Au singulier, il sonnait encore mieux. Oubliette. Un petittouret puis s'en vont, les questions. Comme avec les gelules d'Osmane. Etais-je vivant ou mort? Y avait-il de l'encre dans mes veines ?« 117

113 114 115 116 117

Pass, Pass, Pass, Pass, Pass,

102. 88. 109f. 158f. 96.

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Der Wille zu schreiben übersetzt seinen Willen zu leben, der durch Dahlias Bekanntschaft neu geweckt wird. Er weiß nicht, ob er noch lebt oder schon tot ist, da sein Leben eingekerkert ist, es ist ein Nicht-Leben, und mittlerweile ist er unsicher, ob er überhaupt noch >lebensDoppelwertigkeit< gesehen werden kann: In Algerien lebend, haben sie eine Verbindung zu Frankreich. 128 Nach seinem zweiten Beruf gefragt, antwortet Zoubir er sei Krimiautor (Pass. 146). Das verweist auf den Text selbst, der zwar kein Kriminalroman ist, aber die Geschichte eines Polizisten erzählt. 129 Pass. 154. 130 Pass, 82.

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des geeigneten >Passes< in Form von Geld. Neben der gewaltbestimmten Welt, gibt es die von Geld regierte, wo Alkohol und Prostitution den besser Gestellten >Lebensavec tous ces regards hostilesbeurbeur< schon abgeflaut war. 2 Neben der Schriftstellerei ist Mounsi auch Musiker und arbeitet ebenso für Theater und Kino. Er ist Autor des Essays Territoire d'outre-ville (Paris 1995) sowie verschiedener Texte, die sich durch einen negativen Grundtenor auszeichnen wie La Noce des fous (Paris 1990) oder La Cendre des villes (Paris 1993). Der hier behandelte Roman Les Jours infinis (La Tour d'Aigues 2000) bildet in seiner extremen Idealisierung der Erinnerungen einen Kontrast dazu, obgleich auch hier streckenweise eine fast zum Suizid führende Depression ihren Ausdruck findet. Der einige Jahre früher erschienene Text L e voyage des ames (Paris 1997) ist bis auf einzelne Kürzungen und Umordnungen quasi identisch mit dem hier untersuchten. 3 Romanhandlung und Figuren finden, nach eigenen Aussagen des Autors, ihre Entsprechungen in seiner Biographie. Die Narrationen sind jedoch fiktionalisiert und überzeugen durch ihre Ästhetik. Insbesondere

2

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Er erhielt 1991 den Prix Mediterranee/Maghreb der Association des ecrivains de Iangue franr;aise, den Prix Malek Haddad-Fondation Noureedine Aha und den Prix litteraire von Radio-Beur. Siehe: Comelia Ruhe: La eile des poetes. lnterkulturalität und urbaner Raum. Würzburg 2004. S. 76; Kathryn Lay-Chenchabi/Bemadette Dejean de 1a Batie: »Mounsi: from oblivion to remembrance of the self through writing«. In: French Cultural Studies 32/2000. S. 249-268, hier S. 249ff. Siehe hierzuAbschnitt »Le voyage des ämes« dieses Kapitels. Daraufweist auch Ruhe hin, siehe Ruhe: La cite des poetes. S. 77N. Femer Lay-Chenchabi/Dejean de Ia Batie: »Mounsi: from oblivion«, S. 264f. 279

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kontrastiert die elaborierte, aber dennoch klare Sprache Mounsis4 mit den unschönen Themen seiner Erzähltexte, die in der Regel im Drogenmilieu angesiedelt sind und kriminelle Umstände umfassen. Der hier untersuchte Roman Les Jours infinis ist eher handlungsarm. Der Protagonist und Ich-Erzähler bleibt ohne Namen, als hätte er kein Recht darauf: »Celui que je suis devenu n'a plus de nom. Il est moins qu'une ombre, moins qu'une trace, moins qu'un fantöme.« 5 In erster Linie beschwört er Erinnerungen in Form von Bildern und Eindrücken herauf. Die Narration ist in unterschiedlich lange Abschnitte gegliedert, die nicht chronologische, sondern assoziative Verlmüpfungen aufweisen. 6 Mounsi malt seine Erinnerungen gewissermaßen mit Worten nach und verleiht ihnen durch den ebenfalls gelieferten auditiven Rahmen darüber hinaus eine Klangdimension, die diverse Facetten einzufangen vermag, vom Herzschlag über Alltagsgeräusche bis hin zur Stille in der Hitze. Die Schreibweise spricht verschiedene Sinne an, auch Details zur Geruchswahrnehmung fließen ein. Der Roman verleiht den Erinnerungen des Erzählers durch den Stil eindringlich Präsenz. In dem Roman werden die Pole der doppelten Anwesenheit überaus kontrastierend herausgearbeitet. Die im Geburtsland verlebten Kindheitsjahre werden in schillernden Farben ausgemalt, sowohl die Menschen als auch die Natur wirken lebendig und sind stark ästhetisiert. Im Gegensatz dazu wird Frankreich als kalter, dunkler Ort erschlossen, in dem zumindest die Migranten ein Nicht-Leben fuhren. Die idealisierte Vergangenheit ist mit dem heimatlichen Territorium und verschiedenen Figuren wie der Großmutter oder der Tante verbunden. Die Erinnerungen an die Jugendjahre in Frankreich, die das Scheitern des Protagonisten an der französischen Gesellschaft nachzeichnen, treiben ihn hingegen zunehmend in die Isolation. Kombiniert mit dem Trauma, das der Erzähler beim Verlassen der Heimat erlitt, und das ihn seine Erinnerungen vergessen ließ, fuhrt ihn das in eine Depression, deren Höhepunkt ein Fieberwahn bildet, im Verlauf dessen er den Toten seiner Vergangenheit begegnet und seine Erinnerungen wiedererlangt. Der Roman, der eine Art Fazit des Lebens des Protagonisten bildet, schließt mit dem textuell nicht erfassten, da narrativ nicht erfassbaren Suizid des Erzählers.

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Mounsi verbrachte lange Jahre im Gefängnis. Zu den literarischen Vorbildern (Villon, Hugo, Zola etc.) siehe: Lay-Chenchabi/Dejean de Ia Batie, »Mounsi: ftom oblivion«. Jl, 43. >Mounsi< bedeutet >laisse pour compte< oder >tombe dans l'oubli> Un vieux recit kabyle raconte que !es ämes des morts flottent autour des vivants, pareilles a une nuee d'oiseaux invisibles. Lorsqu'une äme reconnait quelqu'un qui lui plait, elle se pose sur son epaule et chante.« 9 Diese einleitenden Worte zusammen mit einer Textstelle motivieren den Titel Le voyage des ames: »Ainsi, un jour, sur un buisson taille bas, le long des pierres plates du sentier qui menait chez nous, un papillon folätrait. Tantöt s'y cachant, tantöt m'effleurant de ses ailes, il s'elevait un peu audessus de ma tetes et son vol leger me couronnait. Il semblait prendre plaisir a ce jeu- >C'est l'äme de ta mereReichtum< gemildert wird. Die Ähnlichkeit zwischen Großmutter und Enkel betont ihre Verbundenheit: »Mon visage couleur de terre etait eclaire par mes yeux noirs, transparents. [... ] Sa peau avait Ia couleur du cuivre sombre, et ses yeux brillaient etrangement, animes d 'une lumiere particuliere quand elle me regardait«. 19 Die erdigen Farben und das Strahlen der Augen verweisen auf das Land, illustrieren die Verbundenheit mit dem Lebensraum, der für beide die Heimat ist. In ihrer Jugend entsprach die Großmutter dem personalisierten Schönheitsideal des Erzählers, prägte es vermutlich stark mit.2o

1.3. Die Farben der Heimat Die Erinnerungen sind sehr farbenprächtig, vor allem sinnliche Eindrücke prägen die Erinnerungsbilder, neben Farben ebenso Geräusche und Düfte. Der Himmel strahlt, alles Schöne ist hell und glänzend im Ursprungsland des Protagonisten. Anlässtich des Todes seiner Großmutter, die seine Verbindung zu seinem Geburtsland war, denkt er an seine letzten Tage dort zurück, in denen er mit der ihn umgebenden Natur eins zu werden versuchte, denn ihm wartrotz seiner sieben Jahre klar, dass er das Land fiir immer verlassen würde. Er hatte in der weiten Landschaft der lichtüberfluteten champs und collines die Einsamkeit gesucht, hatte sich von der Natur einnehmen lassen. Das Land und insbesondere das Wasser des Flusses, in 19 JI, 23. 20 Die Farben und der Glanz finden sich wieder: »Elle etait tres jolie, avec une peau brune et Iisse et de longs cheveux noirs qui brillaient tels !es ailes d'un corbeau.«, JI, 36.

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dem er sich das Gesicht benetzt, wirken paradiesisch und rein, denn es geht nicht nur um das Ursprungsland des Protagonisten, sondern vor allen Dingen um das Land der Kindheit und damit der Unschuld, das er zeitgleich verlassen wird. 21 Hierfür spricht auch, dass das Land als solches im Vordergrund steht. Wem1 er sich an Personen erinnert, ergänzen diese nur das gegebene Bild durch ihren persönlichen Bezug, bleiben gewissermaßen Details. Auch auditive Erinnerungen sowie olfaktorische Eindrücke sind im Gedächtnis gespeichert und intensivieren das Visuelle: »Le bruit de mes pas resonnait dans les collines, Je bruit de mon sang dans mes tempes, Je bruit de mon creur. Tout etait etrangement solitaire, pareil aux traces d'un monde oublie. [ ... ] J'ai devale Ia pente [... ], et suis parvenu a Ia petite riviere dans laquelle je me baignais ; [ ... ] j 'ai trempe mes mains dans son eau transparente, j'en ai humecte mon visage, puis je me suis etendu sur Je dos et je l'ai ecoute [sie !] couler. J'ai respire longuement l'odeur de bois mouille des bätons ecorces qui, portes par son doux courant, avaient echoue Ia, dans !es herbes.« 22 Der Fluss soll, gleich dem Wasser der Mnemosyne, die Erinnerungen bewahren (im Gegensatz zur Lethe, die vergessen lässt), wenn der Protagonist die geographische, aber auch entwicklungspsychologische Grenze überschreitet und die bis dahin seine Identität bestimmende Umwelt verlässt, um in die doppelte Anwesenheit zu treten. Doch gerade die Intensität der Erinnerungsbilder lässt diese unnatürlich wirken, zwnal der Protagonist diese Momente geradezu metaphysisch motiviert: »Le plus fort que j 'ai pu, j 'ai colle mon dos, les bras en croix contre la terre couverte de mousse pour que toutes les seves me penetrent, qu' elles se repandent dans tout mon corps. Encore une fois, j'ai regarde le ciel comme jene l'avais jamais regarde, je me suis fondu en lui.« 23 Der Bruch, den das Fortgehen aus dem Geburtsland verursacht, ist bewusst, ebenso wie die eigene Zeithaftigkeit. Zugleich verschwimmt der Vorgang des Verlassens an sich, beschränkt sich mehr oder weniger auf die Nennung der Transportmittel. Die ursprüngliche Heimat wird instinktiv identifiziert und angenommen: »Akfadou, Je village ou je suis ne, c'est Je demier endroit qui me reste. Je sais que c'est Ia que je dois aller, enfin, un jour. [... ] La-bas au milieudes montagnes, par-dessus les sommets qui se dressent contre Je ciel eclatant, pour Ia pre21 Zumal er nach Frankreich soll, um in die Schule zu gehen. 22 JI, 7. 23 JI, 7.

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miere fois depuis des armees, je voudrais crier mon nom, l'entendre dans Je vent et reveiller, dans ce paysage desert, I' echo de ma vie. «24 Das in der doppelten Anwesenheit Vergessene über die eigenen Ursprünge soll die symbolische Selbstidentifizierung durch das Rufen des Namens am Geburtsort die ursprüngliche Identität von Neuern verorten und das >Echo des Lebens>Peut-etre que j 'avais peur d'eux. [... ] malgre une terrible apprehension, des la premiere semaine, je fus heureux de m'asseoir danslasalle de classe« .69 Er hält sich abseits, beneidet aber zugleich die anderen Kinder um ihr Zuhause und ihre Familie, will ebenfalls dazugehören. Seine Einsamkeit beruht dabei nicht ausschließlich auf seine Zurückhaltung, sondern ist ebenso durch die Annut bedingt, in denen er die ersten Jahre in Frankreich verlebt. Der Erzähler wird zu einem eifrigen Schüler, der seinen Rückstand rasch aufholt und leidenschaftlich gerne in die Schule geht. Er verehrt seine Lehrerin, die ihn regelmäßig lobt, was ihn zusätzlich motiviert, obwohl ihm Manches fremd bleibt: »Dix bons points me donnaient droit a une image de ferrne en Norrnandie: un couple de paysans, assis, les bras croises sur une grande table rustique avec, au loin, une vache. La Normandie, c'etait bien loin de mon village.« 70 Am Ende des Schuljahres, nachdem er den ersten Preis für seine Leistungen in Französisch gewonnen hat, schenkt sie ihm ein altes Kinderbuch, Sans famille von Hector Malot, das von da an zu seiner Lieb-

65 Damit macht er eine vergleichbare Entwicklung durch wie die Protaganistin Fathma in Tahar Ben Jellouns Les Yeux baisses. 66 Jl, 63. 67 J/,71-75. 68 JI, 69. 69 JI, 65. 70 JI, 67.

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lingslektüre wird, da er im Helden Remi einen Schicksalsbruder sieht1 1 Sein Eifer und Lernwille geht aber ebenfalls auf die Großmutter zurück, ist also in der Vergangenheit begründet, denn das letzte, was die Großmutter ihm zum Abschied sagte war »Tu vas apprendre a Iire et a ecrire, c'est l'essentiel.«72 Zumal der Schulbesuch Anlass zum Verlassen der Heimat war und den Unterschied zu seinen Eltern unterstreicht, die weder Lesen und Schreiben konnten, noch die Sprache beherrschten. Auch wenn er durch den Schulbesuch Dinge lernt, die seinen Vorfahren fremd waren, damit die >Familientradition< in gewissem Sinn durchbricht, ist seine identitäre Zugehörigkeit durch seine Familie bestimmt. Als er einen neuen Lehrer bekommt, der ihm mit Vorurteilen sowie Verachtung begegnet, führt das schließlich zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung: Der Pädagoge beschimpft ihn, worauf ihn der Erzähler anspuckt. Die Situation eskaliert, der Lehrer überwältigt ihn und prügelt auf ihn ein. Dieses Erlebnis verändert die Einstellung des Protagonisten zur Schule grundlegend. Er kann sich nicht mehr motivieren und spielt den unnahbaren harten >KerlSchule der Straße< ein und durchlebt eine Phase des rastlosen Vagabundierens in Paris, ohne bestimmtes Ziel. Die Stadt gibt ihm das Gefuhl, sich verirrt, sich selbst verloren zu haben: »Perdu, non seulement dans ces faubourgs, mais autant en moi-meme.« 75 Die Drogenszene sowie die kriminelle Halbwelt, in der er sich treiben lässt, bieten ihm zwar kein Zuhause, aber eine Art Zuflucht vor sich selbst. Das Leben rauscht an ihm vorbei, ohne dass er viel registriert, was einen deutlichen Gegensatz bildet zu den quasi zeitlosen Erinnerungen an seine Kindheit, die als Stilisierungen auch eine gewisse Ruhe ausstrahlen. Dabei koppelt er diese Erfahrung mit einer Aussage seiner Großmutter, die er damals nicht verstanden hatte, die ihm aber im Gedächtnis blieb: »Ma grand-mere m'a dit unjour qu'on ne peut mesurer le temps avec des jours, comme on compte l'argent en centimes; parce que les centimes sont tous pareils tandis que chaque jour est different, et peut-etre meme chaque heure.« 76 Seine Selbsttindung gestaltete sich schwierig, zumal er nur ungern die negativen Kräfte in sich zur Kenntnis nahm, da sie ihm Angst machten und er nicht damit umzugehen wusste. Im Rückblick kann er sich erneut distanzieren: »tout semble si loin, comme si c'etait arrive aquelqu'un d'autre, dans un autre monde.« 77

5 . » [ S ] e u l a v e c m o n o m b r e « 78 Schließlich zieht der Protagonist sich von allem zurück, er lebt in einem bescheidenen Hotel und verlässt sein Zimmer tagelang nicht. Er verliert den Bezug zu Zeit und Ort, fühlt sich wie am Rande der Welt und des Nichts. Dieser Rückzug hängt mit dem traumatischen Verlassen seiner Heimat zusammen: »Tons ces jours passes dans cette ville, a oublier la bn11ure du soleiL « 79 Er durchlebt eine Depression und fuhlt sich langsam >verstauben> Peu a peu, sans famille et sans patrie, je me suis lave de toute memoire. Il ne reste plus rien en moi de 1' enfant que j 'ai ete, et je me suis defait du nom que je portais«. 80 Er steigert sich in seine Einsamkeit und hat das Gefühl, nicht wirklich gelebt zu haben: »La vie est passee a travers moi, 75 JI, 93. Dem Gehör- und Geruchssinn wird auch hier Beachtung geschenkt: »Dans les rues ou j'ai erre, les gens parlaient fort, si fort, les prostituees aux portesdes hötels etaient si parfumees.«, ebd. 76 Jl, 94. 77 JI, 95. 78 JI, 99. 79 JI, 97. 80 JI, 97.

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comme du vent. Je suis arrive a l' autre bout de la solitude, au pays des hommes sans race, sans nom, dans l'ombre des murs de la ville.«g 1 Die Gesellschaft anderer Menschen flieht er bewusst, da sie ihm als verschwommene Masse erscheinen. Die Krise geht offenbar auf das Bewusstsein zurück, sein Leben nicht gelebt zu haben, aber ebenso auf die Unsicherheit bezüglich seiner identitären Konstitution, ausgelöst durch das Trauma. Sein Leben hat keinen Sinn, sodass sein Schicksal sich in Form seiner Handlinien auflöst. Die persönlichen Daten, die in seinen Papieren festgehalten sind, erscheinen ihm manchmal wirr, da er nach einem anderen Sinn sucht. Er ist sich bewusst, den Bezug zur Realität verloren zu haben. Sein Zeitempfinden ist gestört, er kann nicht immer zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit unterscheiden, zumal seine verdrängten Erinnerungen ihn in seiner Einsamkeit heimsuchen: »Ma chambre devenait un rassemblement de voix distinctes, de silhouettes se pressant les unes contre les autres, sans jamais se confondre.«g2 Schließlich steigern sich seine Halluzinationen im Fieberwahn und das Schiff von der Überfahrt holt ihn ab, um ihn an seine Ursprünge zurückzuführen: » Le bateau est revenu. [ ... ] Il vient pour me chercher, pour me ramener.«B3 Es wird zu einer Überfahrt in die Unterwelt, denn er trifft bei seinem imaginären Besuch im Dorf die Toten seiner Vergangenheit wieder, seine Tante Ralti Fatiha sowie seine Großmutter. Er sieht auch seinen Vater und will auf ihn zugehen, doch dieser wendet sich von ihm ab, bleibt selbst im Wahn abwesend. Er bittet seine Großmutter um ihren Segen, woraufhin er seine verdrängten Erinnerungen wiedererlangt: »Elle commence a dire lentement mon nom, comme un mot mysterieux et lointain. Cela resonne etrangement a mon oreille. Alors je peux me Souvenir. Les choses passees n'ont pas disparu. Elle etaient tapies dans l'ombre. II suffisait de bien faire attention, de bien ecouter Ia voix, et elles sont Ia. Je me souviens tout d'un coup de choses tres anciennes, si Jointairres que ce n'etait plus qu'une vapeur qui flottait en moi, portant Ia turniere des annees.«g4 Der Name ist hinsichtlich der Identität von Bedeutung, wirkt hier als Beschwörungsformel, die seine Erinnenmgen wieder hervorholt und ihn damit mit einem Teil seiner Selbst versöhnt. Als sich die Gestalten entfernen, sieht er auch sich selbst unter ihnen, genauer sein vergangenes Ich, das er in der Heimat zurückließ, was ihn beunruhigt. Aber das Fortgehen seines Kindheits-Ichs mit den Gespenstern der Vergangenheit symboli81 82 83 84

JI, JI, JI, JI,

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VOYAGES SANS RETOUR

siert sowohl seine Aussöhnung mit sich selbst, insofern als er diesen Teil seiner Selbst als Ganzes wahrnimmt und damit abschließt, als auch mit diesem Lebensabschnitt, der bislang vom Trauma bestimmt war. Weitere Menschen aus seinem Leben tauchen vor ihm auf, wie seine Exfreundin und seine Tochter. Seine Halluzinationen thematisieren seine gesamte Vergangenheit. Die Schlafphasen scheinen den Heilungsprozess voranzutreiben, auch wenn er sich gegen seine Erinnerungen wehrt: »Jene veux pas me souvenir du passe.« 85 Der Fieberwahn erweist sich als kathartisch, hinterlässt am nächsten Morgen Leere und Schwäche. Allerdings motiviert ihn die Katharsis nicht zum Weiterleben, sondern im Gegenteil zum Suizid. Die Idee einen Abschiedsbrief zu hinterlassen >scheitert< daran, dass er das Datum nicht kennt, was ihm die Bedeutungslosigkeit desselben vor Augen führt. Sein Vorhaben erscheint ihm naheliegend, da der Tod unweigerlich am Ende jeden Daseins steht und er nicht weiß, was er mit seinem Leben und seiner Zeit anfangen soll, bis der Moment für ihn kommt. Der Text schließt mit einem letzten Verweis auf die Großmutter: »Ma grand-mere me contait l'eau claire d'un jardin, une eau si fraiche que ceux qui en buvaient avaient en eux Ia jeunesse eternelle. Peut-etre que Ia source de ce jardin s'est tarie ?« 86 Diese letzte Aussage unterstreicht das Bewusstwerden der Sterblichkeit. Das >Wasser ewiger Jugend< des an das Paradies anklingenden Gartens entspricht dem Garten seiner Kindheit, das in seinen Erinnerungen an Algerien erkennbar ist. Die Quelle ist insofern versiegt, als er nun mit seiner Kindheit abgeschlossen und sich mit ihr versöhnt hat, was sich auch im Infragestellen des Satzes seiner Großmutter zeigt, deren Aussagen für ihn bislang Gewissheiten waren. Mit sich im Reinen, ist er bereit, dem Tod entgegenzugehen. Der suizidäre Akt an sich bleibt aber aus, da der Ich-Erzähler diesen natürlich nicht mehr schildern könnte, doch der Tod wird symbolisch im Ende des Textes sichtbar.

85 JI, 104. 86 JI, 107.

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IX. Abschließender Überblick

Das Konzept der doppelten Abwesenheit beschreibt die Situation der ersten Generationen der Einwanderung, die sich zwischen der Rückkehr in die Heimat und der endgültigen Ansiedlung in Frankreich bewegen. Entsprechend lassen sich Strategien herausarbeiten, wie die Betroffenen mit dem Dilemma umgehen, in das die als provisorisch geplante aber sich stetig verlängernde Migration sie wirft. Dagegen dient das Konzept der doppelten Anwesenheit dazu, die Lage der Folgegenerationen zu betrachten, die durch die Diskrepanz zwischen der Selbst- und Fremd-Definition gezeichnet ist. Sie müssen sich kontinuierlich mit den Ansprüchen sowohl der Ursprungskultur als auch der französischen Kultur auseinandersetzen, werden zur ständigen Bewegung zwischen diesen Polen getrieben. Die Konzepte bilden ein Beschreibungsmodell, die Perspektive der ersten und die der Folgegenerationen ergänzen und bedingen sich dabei. Die Analyse des Textkorpus hat die Heterogenität der Texte gezeigt. Insbesondere wurde klar, dass die Konzepte der doppelten An- und Abwesenheit nur bedingt einheitlich zu fassen sind, sondern vielmehr erlauben, unterschiedlichste Umsetzungen zu untersuchen. Dabei dienten die Grundgrößen der Zeit, des Raums und der sozialen Gruppen als Orientierungsachsen für die Analyse, ohne diese zu schematisieren. Nachfolgend ein Überblick über oder- passender zur Thematik - ein Rückblick auf die in den einzelnen Kapiteln im Vordergrund stehenden Betrachtungen. In Akli Tadjers Roman Les A.N.l. du >TassilibeurbeurUnser MeerLa reclusion solitaireBeurs< tels qu'ils se racontent«. In: Hommes et Migrations, no. 1112, avril1988. S. 12-14. Combe, Sonia (Hg.): Le Iivre du retour. Recits du pays des origines. Paris 1997. Constant, Caroline/Homer, Sebastien: »Zebda: >Garder Ia colere intactebeur< noir«. In: Itineraires et contacts de cultures. Poetiques croisees du Maghreb 14 (1991). S. 156-158. Durmelat, Sylvie: »Faux et defaut de Langue«. In: Francaphonie plurielle. Actes du congres mondial du Conseil international d'etudes francophones tenu aCasablanca du 10 au 17 juillet 1993. S. 29-37. Dies.: »Petite histoire du mot beur«. In: French Cultural Studies 9/1998. s. 191-207. Elkabas, Charles: »L'exil et la rans;on: >La Reclusion solitaire< de Tahar Ben Jelloun«. In: Benayoun-Szmidt, Y./Bouraoui, H./Redouane, N. (Hg.): La Traversee dufranr,:ais dans !es signes litteraires marocains. Toronto 1996. S. 165-179. Fanon, Frantz: Peau noire masques blancs. Paris 1995 [1952]. Ders.: Les damnes de la terre. Paris 1991 [1961]. Garcia, Daniel: »Azouz Begag le beur le plus lu«. In: Livre Hebdo 279, 06.02.1998.

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