Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners: Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten 9783050093215, 9783050055695

Besides being a major literary figure and revolutionary, Georg Büchner was also an aspiring scientist. Stiening analyzes

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German Pages 776 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Siglenverzeichnis
1. Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft
2. Philosophie und Philosophiegeschichte
3. Naturphilosophie
4. Politik
5. Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz
6. Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod
7. Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz« zwischen Psychologie, Naturphilosophie und Ästhetik
8. Humoristisches Wissen? Leonce und Lena als Kritik der Romantik
9. Wissen und Gesellschaft: Woyzeck
10. Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners: Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten
 9783050093215, 9783050055695

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Gideon Stiening Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners

Gideon Stiening

Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten

ISBN 978-3-05-005569-5 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009321-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038024-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data: 2018965079

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Porträtskizze Büchners von Alexis Muston. Aus: Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Ein Büchner-Fund. Fink: 1987. Mit freundlicher Genehmigung von Heinz Fischer. Printing and binding: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com



Für Anne-Louise und Julian

Vorwort Die nachfolgende Studie wurde im Juli 2009 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommen. Äußere Umstände haben eine frühere Publikation verhindert. Die Arbeit wurde überarbeitet, an den aktuellen Forschungsstand – soweit sinnvoll – angepasst und um das Kapitel zu Leonce und Lena ergänzt. Wie stets, so ist der Autor auch in diesem Falle zu vielfältigem Dank verpflichtet. Dieser gilt zunächst und zumeist Friedrich Vollhardt (München), der nicht nur das Erstgutachten für das Habilitationsverfahren verfasste, sondern mich und meine Forschungen seit Jahrzehnten geduldig fördert. Darüber hinaus gilt mein Dank Andreas Kablitz (Köln), der eines der auswärtigen Gutachten übernahm und durch vielfältige Anregungen und Hinweise meine Überlegungen zum Verhältnis von ›Wissen und Literatur‹ prägte. Großer Dank gilt zudem Andreas Höfele (München), Karl Eibl († München) und Steffen Martus (Berlin), die ebenfalls Gutachten verfassten und mit ihrer produktiven Kritik zu mancherlei Änderungen meiner Sicht auf Büchner beitrugen. Doreen Haring, Michael Schwingenschlögl und insbesondere Oliver Bach leisteten mit vielerlei sachlichen Hinweisen, vor allem aber bei der Einrichtung und der Korrektur des Manuskript wertvolle Hilfe, auf die ich mit großer Dankbarkeit zurückblicke. Ein besonderer Dank gilt schließlich meinem Freund und Kollegen Udo Roth, mit dem über Büchner zu debattieren und zu streiten nicht allein eine große Freude ist, sondern die entscheidende Grundlage dafür schuf, sich mit diesem Wissenschaftler, Dichter und Politiker intensiver zu befassen. Gewidmet ist die Arbeit meinen Kindern, Anne-Louise und Julian, die mit viel Geduld und kritischem Blick meine Arbeit begleiten.

https://doi.org/10.1515/9783050093215-201



Ich werde […] immer meinen Grundsätzen gemäß handeln… Georg Büchner an die Familie, Juni 1833

Inhalt Vorwort  VII Siglenverzeichnis  XVII  . . . . .  . .. .. .. ... ... .. ... ... .. .. .. . .. ... ... ... .. ...

Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft  1 Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  1 1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  7 Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  15 Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  26 Aufbau der Arbeit  38 Philosophie und Philosophiegeschichte  41 Stationen der büchnerschen Philosophiestudien  44 Schulzeit bis 1831: Fichte und andere Idealisten  44 Straßburg 1831–1833: Zwischen anatomischen Studien und »französischer Gewitterluft«  53 »Mit aller Gewalt« in die Philosophie: Darmstadt und Gießen von Juli 1833 bis September 1834  55 Wintersemester 1833/34: Hegel und Psychologie?  55 Sommersemester 1834: Vorlesungen bei Joseph Hillebrand  64 Exkurs: Büchner und Hillebrand oder: Vorlesungen über Logik und Naturrecht  66 Logik  66 Naturrecht und allgemeine Politik  70 Darmstadt, Oktober 1834 bis März 1835: Philosophiegeschichte?  78 Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte: Straßburg, März 1835 bis Oktober 1836  81 In Zürich: Naturphilosophie  86 Die philosophischen Vorlesungsskripte  90 Philosophiegeschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert  90 Der »Methodenstreit« zwischen 1790 und 1820  91 Dominanz des Idealismus: Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren  95 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Büchners Quellen  104 Das Descartes-Skript  114 Büchners kritische Perspektive auf Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’  118

XII  Inhalt ... ... ... ... ... .. ... ... ... ... .

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Exkurs: Büchner und Diderot oder: War Büchner Materialist ?  126 Mechanistische Materietheorie und »abenteuerliche Kosmogonie«: Büchner über Descartes’ Naturphilosophie  149 »Zusammengeschraubte« Menschen und »Gemeingefühl«: Zu Descartes’ mechanistischer Anthropologie und Psychologie  151 Widerlegungslust: Büchners Rekonstruktion der Objectiones  160 Beschluss I: Büchners Descartes  163 Das Spinoza-Skript  166 Kommentierte Ethik: Das Problem der Gottesbeweise  170 »Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«: »Wissenschaftslehre« und Methodologie des TIE  187 Unter Zeitdruck: Zusammenfassung und Exzerpte aus Tennemann und Herbart  198 Beschluss II: Büchners Spinoza  200 Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen  201 Naturphilosophie  205 Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  207 Schulzeit bis 1831: »Ich darf werden, wozu ich einzig tauge.«  209 Straßburg 1831–1833: Zwischen zwei gegensätzlichen Mentoren: Ernest-Alexandre Lauth und Georges-Louis Duvernoy  212 Büchner und die Cuvier-Schule  215 Büchner und die Geoffroy-Saint-Hilaire-Schule  221 Gießen und Darmstadt 1833–1835: Zwischen Wernekinck und Wilbrand – aber ohne Liebig  228 Vergleichende Anatomie in Gießen: Friedrich Christian Gregor Wernekinck  230 Die »gesammte Organisation« der Natur: Die Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands  235 Gießener Paläontologie: Johann Jakob Kaup  252 Gründe einer verpassten Begegnung: Büchner und Liebig  253 Straßburg 1835–1836: Ausbildung zum selbständigen Wissenschaftler: Die Dissertation  255 Exkurs: Büchner und Schleiden oder: Anatomia practica zwischen Empirismus und Naturphilosophie  257 Zürich 1836/37: Die Probevorlesung und eine glänzende Zukunft als Naturforscher  266 Büchners naturwissenschaftliche Schriften  267 Zur Wissenschaftslandschaft zwischen 1800 und 1840  269 Konturen einer Karriere: Naturphilosophie zwischen Wissenschaften, Philosophie, Politik und Kultur  269

Inhalt  XIII

... ... ... ... .. ... ... ... ... ... ... ... ... .  . . .. .. .. .. . .. ... ... ... ... .. .. .. . ..

Naturphilosophie in der Kritik  275 Zum Tableau naturphilosophischer Theoriebildungen  279 Disziplinäre Ausdifferenzierung der philosophischen Naturforschung  294 Prägende Einflüsse?  302 Zur Systematik der büchnerschen Naturphilosophie und wissenschaft  306 Die nomologische Einheit der Natur  306 Das Ökonomieprinzip und das »Gesetz der Schönheit«  309 Selbsterhaltung versus Mechanismus  310 Büchners Modell natürlicher Evolution  315 Exkurs: Büchner und Darwin – »Unterschiedenes ist gut«  318 Méthode génétique  319 Wider die »teleologische Ansicht der Natur«  321 Zoologische Neuroanatomie  323 Fazit: Naturwissenschaft und Politik?  324 Politik  327 Wissenshistoriographie vs. politische Gesellschaftsgeschichte  327 Die 1830er Jahre als politischer Erfahrungsraum:  334 Ein ›Riß durch das Zeitalter‹: Die Julirevolution 1830  335 Die »Krankheit der Gesellschaft«: Pauperismus in den 1830er Jahren  340 Politische Parteiungen der 1830er Jahre  349 Exkurs: Büchner und Blanqui – oder: War Büchner Neobabouvist?  357 Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners  365 Der »absolute Rechtsgrundsatz« einer neuen Gesellschaftsordnung  366 Subjektive »Hebel« der Revolution: Hunger und religiöser Fanatismus  368 Recht – Gemeinwohl – Eigentum: Die Grundlagen der neuen Gesellschaft  370 Moderner ›Ennui‹ als Argument? – Soziopolitik und Kulturkritik  378 »Bildung« und »[A]ussterben« – Naturgeschichte und Gesellschaft?  382 »Heilige Rechte«: Büchners Rechtsverständnis  387 Büchners Geschichts- und Revolutionsverständnis – der ›Fatalismusbrief‹  389 Theorie und Praxis – War Büchner ein Frühsozialist?  399 Wissensmomente im Hessischen Landboten  402 Statistik als politisches Instrument – finanzpolitisches Wissen  405

XIV  Inhalt .. .. .. ..

Naturrecht und Staatstheorie – politisches Wissen  408 Der Fürst als Mensch – anthropologisches Wissen  413 Die Große Revolution der Franzosen – historisches Wissen  415 Fazit: Wissen und Rhetorik im Hessischen Landboten  417



Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz  419

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Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod  421 »Obscöne Sprache« für die »Banditen der Revolution«  426 »Quecksilberblüthen« und Autopsie – Büchners szientifischer Blick  426 »Revolutionärer Erotiker«? Über die Grenzen des polithistorischen Paradigmas  433 Natur und Geschichte – die Rede St. Justs  438 Zur Frage der Legitimation revolutionärer Gewalt  438 Evolution der Natur versus Geschichte der Gesellschaft  441 Gottesbeweise und die Unsterblichkeit der Seele: Das Philosophengespräch  446 Deus non est causa rerum?  447 »Der Schmerz ist der Fels des Atheismus« – Anthropologie und Theologie  455 »Und die Moral?« – Zur praktischen Funktion der Gottesinstanz  457 ›Politische Religion‹ oder über die pragmatischen Grenzen des Wissens  463 Revolutionäre Politik und philosophisches Wissen – une liaison dangereuse?  464 Danton versus Robespierre, oder moralische Politik und politische Moral  465 Mignets Vorgaben – und Büchners Gestaltungen  467 Das Duell (I.6)  468 »Ein durchsichtiges Gewand«? – die Staatstheorie der Dantonisten  481 Marion – Epikureismus als Utopie?  488 Fazit: Danton’s Tod als dramatische Reflexion auf Politik und Wissen  492

.. . .. .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .

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Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«  497 Aufsatz oder Novelle – Zu Form und Geltungsstatus des LenzFragments  502 Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie  508

Inhalt  XV

.. ... ... ... ... ... .. ... ... ... ... .. .  . .. .. .. .. . .. ..

8.3

.. .. .. .  . ..

..

Eine »Art von Somnambulismus« – Magnetismus und Naturphilosophie zwischen Mystizismus und Wissenschaft  510 Seherische Träume im szientifischen und religiösen Kontext der 1830er Jahre  513 Tierischer Magnetismus – Rhabdomantie und deren antimaterialistische Erklärung  524 Evolutionäre Anthropologie – ein Kommentar  540 Allgemeine Naturtheorie  555 Naturphilosophie versus Psychopathologie  563 Das Kunstgespräch  565 Optimistische Kosmologie und rationale Mimesis  566 Leben als »unendliche Schönheit«  570 Depotenzierung ästhetischer Distinktionen und emotionalistische Epistemologie  571 »Der Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«  574 Gang durchs Gebirge – Poesie und Psychopathologie  578 Fazit: Wissen und Poesie  583 Humoristisches Wissen? Leonce und Lena  587 König Peter und die Philosophie  597 Lever und Metaphysik  598 Der reine Wille des Souveräns  602 Kategorienfehler  607 Der verlorene Souverän und ein indolenter Staatsrat  610 Das Wissens des »Aristocratismus« – Prinz Leonce  615 Langeweile und Melancholie  615 Langeweile und Sarkasmus  637 Schlussvision – »Flucht ins Paradies«?  645 Zur Vorgeschichte der Schlussvision: Sadismus und »infusorische Politik«  646 Kosmologische Politik für Lenas vegetabile Seele  649 Staat, Gesetze und Strafen – Valerio als Staatsminister  654 Die Bauernszene  658 Wissen und Gesellschaft: Woyzeck  661 Der Doktor – »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft«  665 Von Dr. Frankenstein bis Balthazar Claës – Zur Stellung von Naturforschern und Medizinern in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts  665 Der Doktor – Mediziner oder Naturforscher, Naturwissenschaftler oder Naturphilosoph?  671

XVI  Inhalt .. .. . .. .. . .. .. 

Der Menschenversuch – Zwischen Militärpolitik und Sozialpolitik?  677 Wissenschaftstheorie – Wissenschaftsethik: Der freie Wille des Doktors  679 »Viehsionomik« – Natur und Kultur  683 Zur Jahrmarktszenerie – Wissens-Popularisierung im Vormärz  684 Tierische Vernunft oder vernünftige Tiere?  687 »Criminalpsychologie« – Woyzeck als Fall der Forensik  691 Ist Woyzeck unfrei? – Zwischen Forensik und Wissenschaftsethtik  691 Soziales Drama oder Wissenschaftskomödie?  695 Ausblick  697

Literaturverzeichnis  699 Personenregister  754

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.

Bergemann 1922

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Aufgrund des handschriftlichen Nachlasses Georg Büchners hg. von Fritz Bergemann. Leipzig 1922.

Büchner u. Weidig 1996

Georg Büchner u. Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Stuttgart 1996.

GBJb HA I/II

Georg Büchner Jahrbuch Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Werner L. Lehmann. 2 Bde. Hamburg 1967/71.

MA

Georg Büchner: Werke und Briefe. Hg. von Karl Pörnbacher u. a. München 21990.

MBA I–X

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe. Hg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000–2013.

MEW

Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus. 39 Bde. u. Erg.-Bde. Berlin 1957ff.

P I/II

Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von Henri Poschmann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1992/99.

Rph

Rechtsphilosophie

SWB

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ariane Martin. Stuttgart 2012.

 Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Historiographische Kategorienbildung am Beispiel der wissenschaftlichen, literarischen und politischen Schriften Georg Büchners Omnis scientia est cognitio certa et evidens. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, II, 1.

. Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner In Kapitel 55 des Moby Dick scheint die Geduld Ismaels, des Erzählers, mit den ›Erkenntnissen‹ der zeitgenössischen Naturgeschichte endgültig aufgebraucht. Vordergründig über The Monstrous Pictures of Whales klagend, verschiebt sich die Kritik an den bisherigen Versuchen einer Visualisierung der ebenso riesigen wie unheimlichen Tiere schnell auf »the most conscientious compilations of Natural History«.1 Ohne längere Umwege kommt Ismael auf das anvisierte Ziel seiner kritischen Auseinandersetzung zu sprechen: »the great Cuvier«,2 den bedeutendsten Naturforscher des Jahrhunderts. Gerade weil er diesen Titel keineswegs abstreitet, erreicht die Polemik des Erzählers den Gipfelpunkt der Brillanz und des Witzes: But the placing of the cap-sheaf to all this blundering business was reserved for the scientific Frederick Cuvier, brother to the famous Baron. In 1836, he published a Natural History of Whales, in which he gives what he calls a picture of the Sperm Whale. Before showing that picture to any Nantucketer, you had best provide for your summary retreat from Nantucket. In a word, Frederick Cuvier’s Sperm Whale is not a Sperm Whale, but a squash. Of course, he never had the benefit of whaling voyage (such men seldom have), but whence he derived that picture, who can tell?3

Schon in Kapitel 32, das zu Recht die szientifische Überschrift Cetologie trägt, hatte der ehemalige Walfänger an der naturwissenschaftlichen Erforschung der Walgattung sowie der naturgeschichtlichen Ordnung ihrer Arten kein gutes Haar gelassen. Es fehle den wissenschaftlichen Versuchen an überzeugenden Kriterien, was ihn allerdings wenig verwundere, mangele es den Herren der Wissenschaft doch an ausreichender Erfahrung. Diese jeder Naturforschung unabdingbare epistemologi 1 Melville 1994, S. 260. 2 Ebd., S. 137. 3 Ebd., S. 261. https://doi.org/10.1515/9783050093215-001

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft sche und methodische Voraussetzung erhielten sie allerdings nur auf jenen »whaling voyages«, die jedoch »such men seldom have«, wie es im aufgeführten Zitat hieß. Ismael lässt keinen Zweifel daran, dass nur der Praktiker in der Lage sei, für diesen Forschungsgegenstand, den die Wissenschaft als »a field strewn with thorns« charakterisiere,4 angemessene Kriterien zu entwickeln. Daher arbeitet er am Ende des Kapitels zur Cetologie auch einen eigenen Vorschlag aus, der es in der Tat mit den zeitgenössischen Ordnungsschemata aufnehmen konnte.5 Ismael überbietet mit seiner Polemik und der anschließenden Superioritätsgeste die seit Thales topische Häme des gesunden Menschenverstandes gegen die wissenschaftliche Theorie: Hatte Thales das Lachen seiner Magd über sich ergehen lassen müssen, weil er den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen schien, so demonstriert der Walfänger Ismael, dass die Naturforschung – selbst die aktuellste und bedeutendste der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – sich aufgrund ihres Erfahrungs- und Praxismangels auf ihrem eigenen Gebiet der Lächerlichkeit preis gibt: ›a squash instead of a whale‹.6 Melvilles lustvolle Polemik gegen die Wissensansprüche der Naturforschung seiner Zeit konstituiert den ganzen Roman auf semantischer und systematischer Ebene. Dabei ist die Naturwissenschaft nur eine unter vielen Reflexionsformen über den Wal und seinen Fang, die der praxisbewehrte Erzähler einer kritischen Überprüfung unterzieht. Die Häme gegen die Naturforschung und ihre Repräsentationsfigur, den ›Baron Cuvier‹, bildet jedoch den Höhepunkt der kritischen Abwehr aller Formen landbewohnender Ahnungslosigkeit. Melville zieht aus dieser Problemlage allerdings nicht den Schluß, dass es die subjektive Unzulänglichkeit der Autoren sei, die einer angemessenen naturwissenschaftlichen, naturrechtlichen, künstlerischen, ingenieurstechnischen, schiffsbaulichen, kulturgeschichtlichen, ethischen oder religionshistorischen Reflexion auf den Wal im Wege stünde. Er betont vielmehr die grundsätzliche Irrationalität dieser Anliegen. Eine exemplarische Funktion für diese Conclusio nehmen die Versuche der bildenden Kunst ein: For all these reasons, then, any way you may look at it, you must needs conclude that the great Leviathan is that one creature in the world which must remain unpainted to the last. True, one

 4 Ebd., S. 137. 5 Vgl. Otter 1999, S. 132–159; es sei allerdings darauf hingewiesen, dass eine detaillierte wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Wissensbestände des Romans als Desiderat zu beklagen ist. So wird sich weiter unten zeigen, dass Melville offensichtlich in die Untiefen evolutionärer Osteologie intensiver eingearbeitet war, als dies bislang bekannt ist; seine – wenngleich kritische – Rezeption der u. a. von Oken, Goethe, aber auch Meckel, Carus oder Büchner vertretenen Wirbeltheorie des Schädels (vgl. hierzu meine Nachweise in Kap. 3) dokumentiert des Autors exzellente Kenntnisse zeitgenössischer Naturforschung – gerade für eine umfassende Zurückweisung jedes szientifischen Erklärungsanspruches. 6 Zu den unterschiedlichen Stufen theoriefeindlicher Superioritätsgesten vgl. Blumenberg 1987, S. 100ff.

Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  

portrait may hit the mark much nearer than another, but none can hit it with any very considerable degree of exactness. So there is no earthly way of finding out precisely what the whale really looks like. And the only mode in which you can derive even a tolerable idea of his living contour, is by going a whaling yourself.7

Auch Melville lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass die Welt des Walfanges einen eigenständigen Mikrokosmos ausbildet, der nicht durch die genannten Reflexionsformen, schon gar nicht durch die Wissenschaft, sondern einzig durch die Literatur in seiner enzyklopädischen Vollständigkeit erfasst werden könne. Nur in diesem Medium sind naturgeschichtliche Ordnungsformen mit Reflexionen auf die religiöse Semantik der weißen Farbe auf dem Buckel des Wales zu verknüpfen; nur in der Reflexionsform des Romans können die Unzulänglichkeiten der Philosophie und der Einzelwissenschaften ebenso wie die der einzelnen Künste und Handwerke überwunden werden, und zwar im Hinblick auf den Nachweis einer geschöpflichen Weltordnung, deren Gründe und Zwecke – und zu letzteren wird der große Leviathan erhoben – unermesslich bleiben. Melvilles ›romantisches‹ Romankompendium von 1851 ist als einer der letzten ernstzunehmenden Versuche der Weltliteratur zu werten, die sich der im 19. Jahrhundert durchsetzenden wissenschaftlichen Neuordnung der modernen Welt entgegenstemmten. Nicht nur die missglückte zeitgenössische Rezeption,8 sondern auch die konzeptionellen Unzulänglichkeiten9 und kontextuellen Rahmenbedingungen der Publikationszeit des Romans weisen auf den schon brüchigen Status des Versuches hin: Denn seit den 1840er Jahren arbeiteten in Berlin um den Physiologen Johannes Müller mehrere Arbeitsgruppen jüngerer Naturforscher, die in wissenschaftstheoretischer, methodischer und technischer Hinsicht eine Naturwissenschaft entwarfen, die sich von Cuviers Theorie und Praxis der Naturforschung substanziell unterschied und damit das von Melville gezeichnete Bild der Wissenschaften längst hinter sich gelassen hatte.10 Emil Du Bois-Reymond, Jacob Matthias Schleiden sowie Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow in Berlin oder Justus von Liebig in München verhalfen dem experimentell-empirischen, mathematisch-physikalischen Paradigma in Naturwissenschaft und Medizin zu seinem endgültigen Durchbruch.11 Anders als Melville noch 1851 spottete, erwiesen sich diese Forschungen nicht nur als wissenschaftlich innovativ und gegenstandsadäquat selbst auf mikrologischer Ebene,12 sondern zudem als praktisch außeror-

 7 Melville 1994, S. 262. 8 Vgl. hierzu Delbanco 2007, S. 223ff. 9 Ebd., S. 186: »Während sein Buch dahinraste, konnte Melville mit seinen Gestalten kaum mithalten.« 10 Vgl. hierzu u. a. Lenoir 1992, S. 14–71 sowie Breidbach 2005, S. 3–30. 11 Vgl. hierzu u. a. Cassirer 71994, S. 148ff.; Poggi u. Röd 1989, S. 90–151; Breidbach 1988, S. 1–56. 12 Vgl. Charpa 2005, S. 632f.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft dentlich virulent. Sie unterstützten in unterschiedlicher Weise die Industrialisierung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft und erwiesen sich – zumindest auch – als jene ›Retter der Menschheit‹, die Liebig und Du Bois-Reymond in ihnen sahen.13 Melvilles Wissen über die Naturwissenschaften ist mithin veraltet. Dieses Urteil der Antiquiertheit des szientifischen Wissensbestandes im Roman gilt im übrigen nicht allein für die Naturwissenschaften, sondern auch für die normativen Geistes- und Sozialwissenschaften.14 Melville bekam allerdings jenen Wandel, der sich in den Wissenschaften ebenso wie in den soziopolitischen und -kulturellen Lebenssphären ereignete und der in Moby Dick nur in Teilbereichen reflektiert wurde, aufs Deutlichste zu spüren. Alle Versuche aber, nach ihm noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Medium der Literatur dem wissenschaftlichen Wissen seine apriorischen Grenzen aufzuzeigen, mündeten in Weltanschauungsliteratur.15 Doch auch szientifische Unternehmungen wie u. a. Haeckels wissenschaftlicher Universalismus, der den Phänomenalismus der empiristischen Naturwissenschaften zu überwinden hoffte, schlugen fehl.16 Wissenschaft und Literatur zogen ihre engen und streng bewachten Grenzen in Geltungsfragen. Noch 20 Jahre vor der Publikation des Moby Dick sah die Problemlage im Verhältnis zwischen der Literatur und den eine kulturelle Leitfunktion beanspruchenden Natur- und Sozialwissenschaften vollkommen anders aus. Nach dem in der europäischen Kultur beklagten oder gefeierten »Ende der Kunstperiode«, das sich ab 1830 durchsetzte,17 musste die Philosophie ihre paradigmatische Stellung, die sie seit den 1750er Jahren europaweit eingenommen hatte, an die Einzelwissenschaften abtreten und dabei insbesondere an die im weitesten Sinne biologischen Naturwissenschaften und eine Soziologie, die sich in methodischer und kategorialer Hinsicht der Biologie anzuschließen suchte.18 Das weitgehend einvernehmliche Konkurrenzverhältnis zwischen der Philosophie und der romantischen bzw. klassizistischen Literatur um 180019 wurde seit den 1830er Jahren ebenso empfindlich wie grundlegend gestört durch den Reflexions- und Gestaltungsanspruch der empirischen Natur- und Sozialwissenschaften und die Versuche ihrer kategorialen Vermittlung.20 Vor allem in Frankreich und England mit ihren aufblühenden Romankulturen, aber

 13 Vgl. u. a. Brock 1999, S. 247ff. sowie Du Bois-Reymond 1974, S. 105–158. 14 Vgl. hierzu aber Poggi u. Röd 1989, S. 90ff.; Köhnke 1993, S. 23–105; Beiser 2014, S. 3ff. 15 Ausführlich dazu Thomé 2002, S. 338–380. 16 Vgl. u. a. Ziche (Hg.) 2000. 17 Vgl. hierzu u. a. Jauß 1970, S. 107–143; Sengle 1971–1980, I, S. 155ff.; Bock 1995; Eke 2005, S. 59ff.; Stein 2017, S. 216ff. 18 Vgl. Gedö 1995, S. 1–39. 19 Vgl. hierzu die vor allem in der Hölderlin- und Frühromantik-Forschung geleisteten Analysen und Interpretation zum Verhältnis von Philosophie und Dichtung u. a. bei Henrich 1986; Henrich 1992; Frank 1998; Richards 2002; Stiening 2005b; Luhnen 2007 oder Schwingenschlögl 2019. 20 Lepenies 22006, S. 15ff.

Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner  

auch in der deutschen Literatur auf dem Felde des Dramas und einer formal diversifizierten Prosa nahm eine neue Generation von Literaten die Herausforderung an, die ihr in den Erklärungsansprüchen der sich formierenden Soziologie und der neuen Naturwissenschaften entgegentrat.21 Zu Recht spricht Wolf Lepenies für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von einer Deutungskonkurrenz, die zwischen den drei Kulturen ausgetragen wurde.22 So nimmt schon im dritten Teil von Honoré de Balzacs La Peau de Chagrin aus den Jahre 1831 die Unfähigkeit selbst der bedeutendsten Naturforscher vor der Erkrankung Raphaels einen breiten Raum ein. Den wesentlichen Unterschied zum Topos der Gelehrtensatire macht die umfangreiche und differenzierte Kenntnis in den verschiedensten Bereichen der Naturforschung und Medizin aus, die an den Versuchen des Protagonisten vorgeführt wird, seinen prophezeiten Tod abzuwenden. Es ist nicht mehr allein der zugleich selbstgefällige und praxisunfähige Habitus der Gelehrten, sondern ihre fachliche Inkompetenz vor einer wissenschaftlichen Analyse des Chagrinleders, die en detail vorgeführt und aufgespießt wird; die differenziertesten Versuche eines Naturhistorikers, eines Physikers, eines Ingenieurs und eines Chemikers enden im Desaster: Le deux savants étaient comme des chrétiens sortant de leurs tombes san trouver un Dieu dans le ciel. La science? Impuissante! Les acides? Eau claire! La potasse rouge? Déshonorée! La pile voltaїque et la foudre? Deux bilboquets!23

Dabei besteht der Anspruch Balzacs nicht allein in einer Kritik der Erklärungsfähigkeiten der Wissenschaften; anders als die Literatur um 1800, die nur für bestimmte Erkenntnisgegenstände eine Superiorität der Literatur gegenüber der Philosophie in Anspruch nahm,24 will Balzac demonstrieren, dass seine literarische Reflexion der modernen Gesellschaft und aller ihrer Teilgebiete wissenschaftlichen Analysen grundlegend überlegen ist:25 Balzac will für die Gesellschaft das tun, was Buffon für die Zoologie geleistet hat: er will die sozialen Gattungen analysieren, aus denen die französische Gesellschaft besteht, und er will jene wahrhafte Geschichte der Sitten schreiben, welche die Historiker, fixiert auf Glanz und Elend ihrer Haupt- und Staatsaktionen, meist zu schreiben vergessen. […] Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß im wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhundert zumindest in Teilbereichen von der

 21 Vgl. hierzu auch Dietrich 2003, S. 255f. sowie Klinkert 2010, S. 130ff. 22 Lepenies 22006, S. I–XVII u. S. 15–48. 23 Balzac 1974, S. 310. 24 Vgl. hierzu den – zu Unrecht kaum wahrgenommenen – Band von Bachmaier u. Rentsch (Hg.) 1987; Stiening 2005b sowie Luhnen 2007. 25 Dazu muss er jedoch die Literatur den Erklärungsbefähigungen der Wissenschaften annähern, vgl. hierzu auch Wanning 1999, S. 162: »Interessanterweise spricht Balzac Künstlern und Wissenschaftlern gleichermaßen die Fähigkeit zu, kausale Zusammenhänge zu erkennen und darzustellen.«

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Literatur ein vielen wissenschaftlichen Disziplinen ebenbürtiger Erkenntnisanspruch angemeldet wird.26

Das Anliegen des Autors der Comédie humaine ist dabei nicht nur epistemologisch auf ein ausschließlich in der Literatur angemessen zu analysierendes Verständnis von Individualität ausgerichtet;27 in La Recherche de l’Absolu demonstriert er 1834 die inhumane Destruktionsmacht eines unbegrenzten Wissensanspruches der Naturforschung, die er nicht der narzisstischen Psyche des Forscher, sondern der Logik des Wahrheitsanspruches der Wissenschaften zuschreibt, die ohne alle Rücksicht ebenso inter- wie intrapersonale Bezüge zerstört.28 Nach Balzac führt ein unbegrenzter Wissensanspruch der Wissenschaften in ihr Gegenteil: in den Wahnsinn. Was in dessen Werken seinen umfassenden Anspruch und detailreichen Ausdruck findet, endet ebenso triumphal wie desaströs in Melvilles Moby Dick: der Versuch der Literatur, dem wissenschaftlichen Wissen seine Grenzen und damit seinen Ort in der modernen Kultur anzuweisen. Schon Gottfried Keller, der späte Heinrich Heine, Charles Baudelaire29 oder Gustave Flaubert reflektieren auf die Entwicklungen der Wissenschaften nicht mehr unter der Perspektive eines Anspruchs auf übergreifende Deutungshoheit in Bezug auf die natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit.30 Flaubert, der in Bouvard et Pécuchet seine immensen Kenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaften demonstriert und deren Leistungen kritisch reflektiert,31 hält es für ein Überleben der Literatur in der modernen Gesellschaft für unerlässlich, sich den Reflexionsformen der empirischen Wissenschaften anzunähern.32 Und schon Edgar Allan Poe zeigte einen immensen Eifer bei der Aneignung und poetischen Gestaltung wissenschaftlichen Wissens, ohne damit einen Überbietungsanspruch gegenüber den Wissenschaften zu verbinden; er suchte vielmehr, wie schon Jean Paul, nach Bestätigungen seines Interesses am Übersinnlichen.33 Auch die Naturwissenschaft schränkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren zuvor uneingeschränkten Erklärungsanspruch ein. Emil Du BoisReymonds Schlachtruf Ignorabimus von 1872 weist die Wissenschaften in ihre phänomenologischen und dadurch praxisrelevanten Schranken und entzieht damit  26 Lepenies 1989, S. 65. u. S. 67 27 Vgl. die Analyse von Wanning 1999, S. 177. 28 Vgl. Balzac 1976; vgl. hierzu Dietrich 2003, S. 251–286. 29 Schon 1852 hält Baudelaire fest: »Die Zeit ist nicht fern, in der man verstehen wird, daß jede Literatur, die sich weigert, brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie zu marschieren, eine mörderische, eine selbstmörderische Literatur ist.« Zitiert nach Lepenies 1989, S. 67. 30 Vgl. hierzu u. a. auch Ritzer 2007, S. 275–308. 31 Vgl. u. a. Scholler 2002. 32 Vgl. erneut Lepenies 22006, S. Vf.; Scholler 2002 und Klinkert 2010, S. 156ff. Dass diese intendierte methodische Annäherung auch für Zola gilt, zeigt Lepenies 1978, S. 138ff. 33 Vgl. Zumbach 1989, S. 508f. sowie Schnackertz 1999, S. 5–33.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

einer Auseinandersetzung mit der von ihm hochgeschätzten Literatur und Philosophie um die Grundlagen des Wissens und Handelns den Boden.34 Es ist mithin die Zeit des europäischen Vormärz, während derer die Literatur aus den fundamentalen Kontroversen mit dem Wissen der Einzelwissenschaften ihre innovativen Potentiale schöpft;35 es ist die Zeit, in der Georg Büchners Werk entsteht.36

. 1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution Zu Recht hat die Forschung zum literarischen Vormärz die soziopolitischen Umwälzungen des Zeitraums zu einem konstitutiven Kontext der sich verändernden Literatur ins Zentrum ihrer analytischen und interpretierenden Anstrengungen gestellt. Nicht zufällig haben sich an den Autoren und Texten dieses Zeitraums innovative und ergebnisreiche Modelle einer Sozialgeschichte der Literatur erprobt und weiterentwickelt,37 auch wenn die interdisziplinären Interaktionen zur geschichtswissen-

 34 Du Bois-Reymond 1974, S. 54–77; zur wissenschaftstheoriegeschichtlichen Bedeutung dieser Rede vgl. u. a. Vidonie 1991; Bayertz 2000, S. 189–202; Stiening u. Roth 2001, S. 207–216; Wahsner 2007, S. 36–62 sowie Beiser 2014, S. 97–104. 35 Vgl. hierzu Klinkert 2010 sowie jetzt auch die Beiträge in Podewski u. Frank (Hg.) 2012. 36 Weil in der Folge der historische Rahmen durch die Jahre zwischen 1830 bis 1850 – dabei insbesondere die 1830er Jahre – abgesteckt ist, die die Gemüter der Zeitgenossen in ganz Europa durch die politischen Ereignisse im Zuge der Julirevolution prägten (vgl. hierzu die Arbeiten von Pilbeam 1991, Wehler 31996, S. 345ff. sowie Pilbeam 2000), auch wenn diese Prägung sich nicht in alle Bereiche der Wirklichkeit auswirkte (vgl. Sengle 1971–1980, S. 1–82 sowie Gedö 1995, passim), wird in der Folge aufgrund der wissens- und literaturwissenschaftlichen Ausrichtung der Arbeit von diesem Zeitraum als »Vormärz« gesprochen. Spätestens seit 1830 prägen die politischen Ereignisse, seit den 1840er Jahren durch Pauperismus und einsetzende Industrialisierung auch die sozialen Veränderungen die gesellschaftlichen Realien sowie das kulturelle Vorstellen. Allen Zeitgenossen Europas, vom Junker bis zum hungernden Bauern war seit 1830 die politische und soziale Instabilität des Zustandes bewusst, der dann in der Tat – wenn auch mit geringeren Auswirkungen als erhofft oder befürchtet – im März 1848 eruptiv einbricht. Das soziopolitisch bedingte, den Zeitgenossen bewusste ›Transitorische‹ der politischen, sozialen, wissenschaftlichen und literarischen Zustände findet (trotz aller weltanschaulichen Auseinandersetzungen um den in seinem Status als Reflexionsbegriff zumeist missverstandenen Epochenterminus; vgl. Erhardt 2008, S. 129–162) im Vormärz seinen angemessenen Begriff. In der Geschichtswissenschaft (vgl. u. a. Hachtmann 1997, S. 68ff. oder auch Mommsen 1998, S. 18ff.) wird der Terminus mit eben jener Semantik verwendet, die – ganz unteleologisch – die Entwicklungstendenzen der Zeit zwischen 1830 und 1848 auch unter differenzierter Berücksichtung der zeitgenössischen Eigenperspektive zu fassen vermag. Zur germanistischen Debatte über die konkurrierenden Epochenbegriffe ›Biedermeier‹ und ›Vormärz‹ vgl. neben Erhard 2008 auch Titzmann 2002, S. 1–7, spez. S. 5; Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, spez. S. 19; die Debatte rekonstruierend Schmidt 2015, S. 45ff. sowie Stein 2017, S. 36ff. 37 Vgl. vor allem die in der Forschung allerdings ungenügend gewürdigte monumentale Arbeit von Sengle 1971–1980 sowie die Bände von Köster 1983, Sautermeister u. Schmid (Hg.) 1998 und noch

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft schaftlichen Vormärzforschung überraschend gering ausfielen.38 Die europaweit bis in den Alltag aller Gesellschaftsschichten einwirkende Julirevolution und die daraus erfolgende politische Instabilität sowie die sozioökonomischen Umwälzungen,39 die sich in neuen Produktionsformen verwirklichten und sich in den diese begleitenden gesellschaftsstrukturellen Veränderungen bis hin zu dem in den 1840er Jahren drängenden Pauperismusproblem deutlich zeigten,40 hinterließen unverkennbar ihre form- und gehaltspezifischen Spuren in der Literatur der Zeit.41 Die erheblichen methodischen Probleme für einen exakten Nachweis der literarischen Reflexion auf soziopolitische Kontexte, die zumal in der Germanistik allzu häufig zu methodologischen Metadebatten führten, deren Fruchtbarkeit für die Literaturgeschichtsschreibung – auch des frühen 19. Jahrhunderts – durchaus in Frage steht,42 vor allem aber der sich seit den 1990er Jahren vollziehende Paradigmenwechsel zu einer kulturwissenschaftlichen Fundierung literaturtheoretischen und -historischen Arbeitens, der einen der profiliertesten literaturwissenschaftlichen Sozialhistoriker, Jörg Schönert, zu Recht davon sprechen ließ, dass die ›Sozialgeschichte der Literatur‹ gar nicht genug Zeit gehabt habe, ihre Ressourcen vollständig zu entwickeln,43 verstellte die Sicht darauf, dass dem unvergleichlichen soziopolitischen Umwälzungsprozess im frühen 19. Jahrhundert eine wissenschaftsgeschichtliche Revolution korrespondierte,44 die für die Literatur eine mindestens ebenbürtige Herausforderung darstellte. Zwischen 1800 und 1850 vollzog sich – in spezifischer Einbettung in die soziopolitischen Ereignisse und Struk-

 Titzmann (Hg.) 2002. Die in dem und um das Forum Vormärz-Forschung entstehenden Studien haben dieses Paradigma durch ihre diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven allerdings verlassen. 38 Vgl. hierzu die weitgehend äußerliche, handbuchartige Zitation der Wehlerschen Gesellschaftsgeschichte bei Stein 1998, S. 16–37; die diskursanalytische Vormärzforschung hat diese interdisziplinäre Verbindung mittlerweile gänzlich unterbrochen, vgl. die programmatische Studie von Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, S. 9–46; anders hierzu Eke 2005, der (S. 20–58) zwar weitgehend zu einer politischen Ereignis- und Kulturgeschichte als Kontext der Literatur des Vormärz übergegangen ist, immerhin aber wirtschafts- und sozialgeschichtliche Erläuterungen noch ausführt. 39 Zur Julirevolution aus politik- und sozialhistoriographischer Perspektive vgl. die exzellenten Studien von Pinkney 1972 und Pilbeam 1991; sowie in Bezug auf Büchner meine Ausführungen in Kap. 4. 40 Vgl. hierzu u. a. Matz 1980; Kukowski 1995, S. 188–218; Wehler 31996, S. 293f. sowie Hachtmann 1997, S. 79–86; Geisthövel 2008, S. 131–147; Winkler 32012, S. 545ff., sowie Siemann 2017, S. 764ff. 41 Vgl. hierzu u. a. Köster 2002 sowie Schönert 2002. 42 Vgl. hierzu die kritischen Hinweise von Ort 2000. 43 Vgl. Schönert 2000, S. 95. 44 Mit dem hier gewählten Begriff der ›Korrespondenz‹ zwischen ideen- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen soll der geringste Eindruck einseitiger Verursachungs- bzw. Ableitungsverhältnisse ebenso vermieden werden wie der Impetus, beide Entwicklungsgeschichten hätten nichts miteinander zu tun.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

turentwicklungen45 – ein Prozess, den die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu Recht als den »Aufstieg der Wissenschaften von einer Geistesbeschäftigung am Rande der geschichtlichen Bewegung zu einem ihrer wichtigsten Antriebe«46 charakterisiert.47 Das »Verhältnis von Wissenschaften und Gesellschaft nahm damals Züge an, die – im Guten wie im Schlechten – für die moderne Welt typisch werden sollten«, weshalb der »Entwicklungsprozeß der Wissenschaften [...] nicht nur wissenschaftsintern betrachtet werden« kann.48 Dabei zeichnet diesen Prozess aus, dass er sich nicht als lineare Erfolgsgeschichte im Sinne einer formellen Teleologie nach der Logik äußerer Zweckmäßigkeit vollzog,49 sondern durch eine wütende Kontroverse zwischen unterschiedlichen Formen der Naturphilosophie einerseits50 und der sich erst in den 1840er Jahren allmählich durchsetzenden empiristischen Naturwissenschaft andererseits.51 Olaf Breidbach hat mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, dass die sich ab 1800 machtvoll entwickelnde Naturphilosophie weder als ein deutscher Sonderbzw. Umweg der Naturwissenschaft in die Moderne, noch als reine Retardation des im 18. Jahrhundert sich entwickelten Paradigmas der analytischen Naturwissenschaft zu erklären ist, sondern vielmehr als ein erfolgreicher Versuch der Entwick 45 Dass auch die Entwicklungen der Naturwissenschaften mit den sie umgebenden soziopolitischen und -kulturellen Prozessen vermittelt sind, versuchen von Engelhardt 1981, S. 209–225, Erhart 2004, S. 120f. und Flasch 2003, S. 189–196 zu zeigen. Teile der neueren Wissenschaftshistoriographie (vgl. insbesondere Hagner 2001, S. 23) haben allerdings versucht, das methodisch durch die Kategorien der internen und externen Bedingungen der Wissenschaften (vgl. hierzu die exzellente Studie von Mayntz 2000, S. XXVII–XLII) geregelte Forschungsfeld mit Hilfe diskursanalytischer Entdifferenzierung, für die es keine sinnvolle Unterscheidung zwischen wissenschaftsinternen und -externen Bedingungen geben kann, zu zerstören. Zur Kritik hieran und einem Versuch des begründeten Nachweises für die Aufrechterhaltung dieser ertragreichen Distinktion vgl. Stiening 2007, S. 265–298. 46 So Zwick 1997, S. 120–139, hier S. 120. 47 Vgl. hierzu auch Osterhammel 2009, S. 1107ff. 48 Beide Zitate aus Poggi u. Röd 1989, S. 13–151, hier S. 18 u. S. 15. 49 Der in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen seit geraumer Zeit kultivierte affektive Anti-Teleologismus (vgl. u. a. Bauer 1999) wird in der vorliegenden Studie nicht geteilt. Reduziert man den Begriff der Teleologie nicht auf seine Form äußerer Zweckmäßigkeit, sondern nimmt ihn in der ganzen Fülle seiner systematischen Möglichkeiten, wie dies Kant (vgl. Kant 1983, VIII, S. 477–480 [KdU, § 63]) und Hegel (Hegel 1986, VI, S. 436–461 [Wissenschaft der Logik, II.2.3.: Die Teleologie]) vorführten, ergeben sich auch und in besonderem Maße für eine Methodik der Geisteswissenschaften kategoriale Potentiale, die vielerlei Bewegungsgesetze des poetischen oder wissenschaftlichen Denkens rekonstruieren lassen. Der affektive Anti-Teleologismus der Geistesund Sozialwissenschaften, der sich auf das Betrachten von Diskontinuitäten, Brüchen fokussiert, abstrahiert darüber hinaus von den logischen und methodischen Voraussetzungen seiner Reflexion im Begriff der Kontinuität (vgl. hierzu sowie Stiening 2009). 50 Vgl. hierzu Bonsiepen 1997, Mischer 1997, Bach u. Breidbach (Hg.) 2005 sowie Schwenzfeuer 2012. 51 Siehe hierzu Schleiden 1844 sowie Breidbach 1988.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft lung von Ordnungsprinzipien für die exponentiell anwachsende Menge empirischer Informationen in der Naturforschung.52 Dabei bestand eine der fundierenden Thesen der Naturphilosophie darin, dass diese Prinzipien nur als Momente eines Begriffs von der Natur als einer Einheit zu entwickeln und zu begründen seien, um den zunehmend sich durchsetzenden Gedanken von einer Evolution der Natur in einer kohärenten Konzeption Rechnung tragen zu können. Der wissenschaftliche, institutionelle und öffentliche Erfolg der Naturphilosophie wurde nicht nur bis in einzelne Inhalte in der Literatur der Zeit reflektiert,53 er induzierte auch intensive Wechselwirkungen zwischen der soziopolitischen und der naturwissenschaftlichen Sphäre. Nicht nur beanspruchten namhafte Naturphilosophen aufgrund eines postulierten Status ihrer Wissenschaft als einer scientia universalis, mithilfe naturphilosophischer Kategorien zu politischen und politiktheoretischen Fragen Stellung nehmen zu können;54 Lorenz Oken, Adam Müller oder auch Christian Gottfried Nees von Esenbeck trugen derartige Begründungen – wenngleich mit erheblich abweichenden politischen Voten – vor.55 Auch der sich seit den 1820er Jahren machtvoll entwickelnde Positivismus sah sich als Verwirklichung naturwissenschaftlicher Methodik und Systematik auf dem neuen Felde der Soziologie.56 Heinrich Heine hat den aus seiner Sicht ambivalenten Einfluss der Naturforschung auf die zeitgenössische Politik und Kultur prägnant zum Ausdruck gebracht: Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorgebracht, hat in anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt. Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit, begeisterte: ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien.57

Umgekehrt führten auch die soziopolitischen Rahmenbedingungen zu manchen Konsequenzen auf wissenschaftlicher Ebene.58 So wurde die Naturphilosophie zu 52 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 25f. sowie Breidbach 2004, S. 154. 53 Vgl. hierzu die Beiträge in den Bänden von Richter, Schönert, Titzmann (Hg.) 1997; Danneberg u. Vollhardt (Hg.) 2002; Elsner u. Frick (Hg.) 2004; von Engelhardt u. Wißkirchen (Hg.) 2006 sowie die Studien von Barkhoff 1995; Wanning 1999; Schmoller 2002; Breidbach 2006; Weder 2008 oder Specht 2010. 54 Siehe Breidbach 2001, S. 22: »Wissenschaft ist vielmehr in sich selbst politisch. Wissenschaft ist Freiheit. Diese Freiheit ist in der Natur gegründet, in der der Geist als Moment und Telos zu begreifen ist und in der die Geschichte dieser Natur auch zu realisieren ist. Naturphilosophie ist demnach bei Oken konsequent immer politische Naturphilosophie in eben diesem Sinne.« Vgl. auch Ries 2004, S. 188ff. sowie Brand 2006, S. 201f. 55 Vgl. hierzu den Band von von Engelhardt, Kleinert u. Bohley (Hg.) 2004. 56 Vgl. hierzu Comte 1994, S. 33ff. sowie Poggi u. Röd 1989, S. 120ff. und Wagner 2001, S. 49ff. 57 Heine 1976, III, S. 636f. 58 Vgl. hierzu auch Kremer 1991, S. 155–170.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

mindest bis in die 1830er Jahre durch die Einrichtung von Lehrstühlen an den Universitäten maßgeblich unterstützt59 und auch die länder- und disziplinenübergreifende Gründung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte markiert eine zeittypische Institutionalisierung, die ihren erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften verzeichnete.60 Kurz: Für die Inkubationszeit moderner Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1850, die sich durch wirkungsvolle Kontroversen zwischen den verschiedenen wissenschaftstheoretischen Positionen innerhalb der Naturphilosophie und dieser mit der analytischen Naturwissenschaft auszeichnete, ist darüber hinaus eine gegenüber dem 18. und dem späten 19. Jahrhundert verstärkte Interferenz zwischen wissenschaftsinternen und -externen Prozessen zu verzeichnen. Wie das Zitat aus Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland sowie die kurzen Andeutungen aus Melvilles Moby Dick und Balzacs La Peau de Chagrin zeigten, verfügte eine Reihe prägender Literaten der Zeit sowohl über erstaunlich detaillierte Kenntnisse wichtiger Teilbereiche der wissenschaftlichen Debatten als auch über das Interesse und die Fähigkeiten, das Interaktionverhältnis zwischen diesen Wissenschaften und den soziopolitischen Realitäten des Vormärz zu reflektieren. Dazu zählen die Naturforschung und Dichtung neben- oder nacheinander praktizierenden Achim von Arnim61 und Adalbert von Chamisso62 ebenso wie die wissenschaftlich mehr dilettierenden Heinrich Heine, Jean Paul63 oder E. T. A. Hoffmann,64 die allesamt umfangreiche Lektüreprogramme in der zeitgenössischen Naturforschung absolvierten. Auch Mary Shelley wies in Frankenstein der Auseinandersetzung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft einen konfliktkonstituierenden Status zu, weil diese Kontroverse für sie zugleich eine Auseinandersetzung mit der zerbröckelnden gesellschaftlichen Ordnung Alteuropas signalisierte.65 Noch die eher gesellschaftskritisch ausgerichteten Georg Herwegh,66 Karl

 59 Vgl. u. a. Breidbach 2000, S. 19–49. 60 Vgl. hierzu Jahn 32004, S. 300f. 61 Vgl. hierzu die Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften von Arnims (2007), die Reflexion des literarischen Autors auf diese abgelegte Tätigkeit, deren Erkenntnisleistungen und soziale Stellung in Hollins Liebeleben (von Arnim 2002, II, S. 7–81) sowie beider Interpretation durch Gerten 1997; Burwick 1997 sowie Höfler 2012. 62 Vgl. hierzu Wagenitz 2004, S. 273–292; Langer 2008, S. 159ff. sowie den Band von Federhofer u. Weber (Hg.) 2013. 63 Siehe hier Müller 1988 sowie Dietrich 2003, S. 208ff. 64 Zu Hoffmanns Wissenschaftskenntnis vgl. neben Barkhoff 1995, S. 195–237 insbesondere Schweizer 2008, S. 52ff. 65 Siehe Shelley 1993, S. 32–39 sowie von Engelhardt 2006, S. 113–129 und Knellwolf u. Godall (Hg.) 2016. 66 Vgl. hierzu Peperle 1990, S. 575–592.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Immermann67 oder Alfred de Musset68 verfügten über erstaunliche Kenntnisse im szientifischen Wissen der Zeit. Georg Büchner ist einer der wenigen literarischen Autoren des Zeitraumes, die eine wissenschaftliche Ausbildung mit einem aktiven politischen Handeln und dessen polittheoretischer Reflexion in ihrer Person vereinigten. Sein wissenschaftliches, politisches und literarisches Werk ist daher besonders geeignet, das spezifische Verhältnis von Wissen, Literatur und Gesellschaft, das den europäischen Vormärz in spezifischer Weise prägte, zu rekonstruieren. Weil die literarhistorische Vormärz-Forschung die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Entwicklung der Literatur von 1830 bis 1850 bisher nur in Ansätzen reflektierte,69 maß sie Büchner einen historischen Status der Unvergleichlichkeit zu.70 Die in der nachfolgenden Studie beabsichtigte wissensgeschichtliche Perspektive, die sich nicht als Ersetzung, sondern als Ergänzung der Sozialgeschichte versteht,71 versucht demgegenüber zu zeigen, dass Büchners ›Vermittlung‹ von Wissenschaft, Politik und Literatur als paradigmatisch für seine Zeit betrachtet werden kann. An Büchners Werken lässt sich daher aufzeigen, dass mit Hilfe eines Kontextualisierungsmodells Ideen- und Sozialgeschichte durch eine Umsetzung des Postulats der Kontexthierarchisierung so zu vermitteln sind, dass eine differenziertere Interpretation der Texte ermöglicht wird, ohne die substanziellen Unterschiede der Perspektiven in methodischer und systematischer Hinsicht aufzuheben, wie es die transdisziplinären Kulturwissenschaften vorschlugen.72 Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – verstärkt seit 1830 – ist mithin von einem intensiven Interdependenzverhältnis zwischen Literatur, Wissen und Gesellschaft zu sprechen, das sich vor allem durch eine Dominanz der fundamentalen

 67 Vgl. Barkhoff 1995, S. 281ff. 68 Vgl. Musset 1980, S. 724ff. 69 Vgl. noch, wenngleich unzureichend Sengle 1971–1980, I, S. 34ff.; Bezüge zur wissenschaftlichen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts fehlen dagegen bei Köster 1983, Sautermeister u. Schmidt 1998 und Eke 2005; erste Ansätze zu einer kontextuellen Berücksichtung erst wieder bei Engel 2002, Weckwerth 2003, S. 87–107 sowie jetzt Podewski u. Frank (Hg.) 2012, die punktuell die anthropologischen Systementwürfe romantischer Provenienz bearbeiten und Perspektiven der Korrelation mit den literarhistorischen Entwicklungen aufzeigen; vgl. vor allem die Arbeiten von Schweitzer 2008 und Höppner 2017. 70 Vgl. die hilflose Sonderrolle Büchners bei Frank 1998, Eke 2005, S. 91–99 oder Ehlich u. Kopp 2016; zur Kritik hieran schon Zeller 1986/87, S. 100f.: »Die Büchner-Interpretation hat sich, scheint mir, zu lange mit Büchner als einer singulären Erscheinung befaßt und hat vieles als Sicht Büchners interpretiert, was zum kulturellen Wissen seiner Zeit gehört.« 71 Zu Perspektiven eines Ideen- und Sozialgeschichte vermittelnden Modells von Literaturwissenschaft, das sich allerdings in unangemessener Weise unter das Label Kulturwissenschaften stellte, vgl. Müller 2003 und Vollhardt 2004, S. 29–48; unter Abwendung von Terminus und Konzept der Kulturwissenschaften bemühen sich um Konturen jener Vermittlung Benz u. Stiening (Hg.) 2020. 72 Zu dem hier favorisierten Text-Kontext-Modell vgl. Schweizer 2008, S. 18.

1830 bis 1850: Literatur zwischen gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Revolution  

Umwälzungen in der Staats- und den Gesellschaftssphären sowie in den Wissenschaften auszeichnet. Dieser historische Befund bedeutet für eine wissenschaftliche Rekonstruktion sowohl des gesamten Gefüges als auch seiner Momente, dass keiner der Teilbereiche durch Auflösung ihrer Bestimmtheit in einseitige Bedingungsverhältnisse zu beschreiben bzw. zu interpretieren ist. Die relative Eigenständigkeit in einer möglichst umfassenden, in sich differenzierten gegenseitigen Kontextualisierung bedeutet daher nicht eine Aufhebung der qualitativen Besonderheiten der zeitgenössischen Reflexions- und Handlungsfelder in methodischer, systematischer oder historischer Hinsicht. Gegen die auch in der Vormärz-Forschung sich durchsetzende Konzeption kulturwissenschaftlicher Transdisziplinarität73 muss an der Eigenständigkeit literarischer, wissenschaftlicher und politischer Reflexionsformen und deren wissenschaftlicher Bearbeitung festgehalten werden,74 gerade um eine methodisch gesicherte Rekonstruktion ihrer kontextuellen Korrelation zu ermöglichen. Weil aber die kulturwissenschaftliche Wende in den Literaturwissenschaften in ihrem methodologischen Zentrum eine strikte Abwehr jeglicher Formen sozialwissenschaftlicher Perspektiven darstellte,75 konnten die methodischen Erweiterungen, die dem sozialgeschichtlichen Paradigma in den Geschichtswissenschaften ermöglicht werden sollten, in den Philologien nicht realisiert werden. Dabei hatte HansUlrich Wehler schon 1998 deutlich gemacht, dass er eine Reduktion historischer Wirklichkeit – auch in ihrem gesetzmäßig rekonstruierbaren Wandel – auf deren wirtschafts-, politik- und kulturgeschichtliche Strukturen für unzulässig hält. In noch vorläufiger Diktion stellte Wehler fest: Der theoretische und methodische Schwachpunkt der neueren Sozialgeschichte bestand von Anfang an darin, daß kulturelle Traditionen, ›Weltbilder‹ und Sinnkonstruktionen, Religion, Weltdeutung und Perzeption der ›Realität‹ durch die Akteure, Kollektivmentalitäten und Habitus in ihrer wirklichkeitsprägenden Kraft unterschätzt, im Forschungsprozeß an den Rand gedrängt oder sogar völlig übergangen wurden. […] Mit anderen Worten, die doppelte Konstituierung der Realität: zum einen durch die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen  73 Vgl. erneut Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, S. 9–46 oder auch Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009. 74 Vgl. hierzu beispielhaft Breidbach 2006, S. 268ff.; es ist diese Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die den literaturwissenschaftlichen Übergriffen auf ihr Gebiet im Zeichen kulturwissenschaftlicher Diskursanalysen oder Poetologien des Wissens (vgl. Pethes 2003, S. 191) solide Formen interdisziplinärer Kooperation vorschlägt und die zu Recht von der relativen Eigenständigkeit poetischer und szientifischer Reflexionsformen ausgeht. 75 Vgl. hierzu die gegen Wehler gerichteten Invektiven bei Huber u. Lauer 2000, S. 1–11 oder Daniel 2001, S. 34ff.; dabei geht es den Kritikern der Strukturgeschichte zumeist weniger um die Einforderungen der Besonderheiten des Individuums bzw. des freien Subjekts, das aus dem starren Gerüst der sie determinierenden ökonomischen und politischen Entwicklungsgesetze zu befreien sei, als vielmehr um die Rehabilitierung der Kontingenz oder des unverfügbar Inkommensurablen, das gegen den Rationalismus der Strukturgeschichte zu retten sei. Zum Nachweis der grundlegenden Gegnerschaft der Kulturwissenschaften zur Sozialgeschichte vgl. Stiening 2009.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Bedingungen, zum anderen durch die Sinndeutung und Konstruktion von Wirklichkeit durch die Akteure selber, wurde nicht ernst genug genommen.76

Auch wenn der Dualismus des Bildes von der ›doppelten Realität‹ deshalb wenig überzeugt, weil keinerlei erkenntnistheoretische oder ontologische Begründungen ausgeführt werden – Wehlers Begründungstheorie ist von Beginn an anthropologisch77 –, können mit dieser Skizze sowohl die Tendenzen sozialgeschichtlicher Vereinseitigung durch Ableitung des Wissens aus den sozioökonomischen und -politischen Strukturen als auch die Neigung zur Entdifferenzierung der Realität durch einen universalistischen Diskurs- oder Wissensbegriff der Kulturwissenschaften vermieden werden. Weil jedoch die poetische Reflexion78 und deren literarische Realisationen weder auf sozialgeschichtliche Strukturen noch auf ideengeschichtliche Begriffe zurückgeführt werden können, wenngleich sie von beiden Feldern kontextuell umschlossen sind und beeinflußt werden, erweisen sie sich als besonders geeignete Gegenstände für eine methodisch geregelte Vermittlung von Ideen- und Sozialgeschichte. In Phasen des Umbruchs auf sozial- und ideengeschichtlicher Ebene wird die Notwendigkeit der Vermittlung beider Realitätssphären sichtbar, und dazu kann die Literaturwissenschaft, die sich einer differenzierten Kontextkonzeption bedient, aufgrund ihres eigentümlichen Gegenstands und dessen spezifischen Reflexionsleistungen beitragen. Der europäische Vormärz kann als eine solche Phase vielfältiger Revolutionen beurteilt werden.79 Für die in der Folge im Zentrum des Interesses stehende wissensgeschichtliche Perspektive auf literarische Texte bedeutet dies jedoch zum einen, dass eine Geschichte der Literatur des europäischen Vormärz nur durch eine spezifische Vermittlung von sozial- und ideengeschichtlicher Kontextualisierung zu schreiben ist, wobei sich die Sozialgeschichte vor allem auf politik- und wirtschaftshistorische Konturen und Ereignisse und die Wissensgeschichte auf die wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse konzentrieren kann. Es geht hierbei nicht um das Auflösen literarischer Gegenstände zu ›Schnittstellen‹ interagierender Diskursstränge, son 76 Wehler 1998, S. 145; Wehler hat insofern wichtige Kritikpunkte der Einwände von Eibl 1996, S. 8–11 produktiv aufgenommen. 77 Vgl. hierzu Wehler 1987, S. 6–31, spez. S. 19. 78 Im Folgenden wird als der Literatur und Wissen vermittelnde Begriff der der »Reflexion« verwandt, weil hiermit die beiden Erscheinungsformen des Selbstbewusstseins gemeinsame Rationalität und Selbstbezüglichkeit angemessen erfasst wird, ohne ihre substanzielle Differenz zu negieren. Zudem ermöglichen die internen Differenzierungen im Begriff der Reflexion (vgl. Hegel 1986, V, S. 17–35) kulturell oder individuell bedingte Komplexitätsniveaus zu unterscheiden. 79 Zum Urteil eines grundlegenden Wandels zwischen 1830 und 1850 vgl. die Stellungnahmen aus den unterschiedlichste Disziplinen, so Jaeschke 1995, S. VIIf.; Gedö 1995, S. 1ff.; Roth 2004, S. 1; Breidbach 2005, S. 6ff.; Sengle 1971–1980, I, S. 12ff.; Stein 1998, S. 17; Titzmann 2002, S. 5f.; Eke 2005, S. 18f.; Gall (Hg.) 1993; Bock 1995, S. 56ff.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

dern um eine Erfassung ihres je spezifischen Gehaltes durch ihre bedeutungskonstituierende Kontextverarbeitung80 im Medium der poetischen Reflexion. An den Texten Büchners, der sowohl wissenschaftliche als auch literarische sowie politische Formen und Gehalte reflektierte, lässt sich das Postulat einer erforderlichen Hierarchisierung der Kontexte in Bezug auf den je einzelnen Text exemplarisch vorstellen. Weil aber eine wissensgeschichtliche Bearbeitung der wissenschaftlichen und politischen Texte Büchners sowie deren Bedeutung für seine Dichtung bisher weitgehend unterblieb, wird in der nachfolgenden Untersuchung diese spezifische Form der ideengeschichtlichen Perspektive eingenommen; ausdrücklich sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass die folgende Korrelation von Wissen und Literatur in den Texten Georg Büchners in einer Weise erfolgt, die für eine sozialgeschichtliche Perspektive anschlussfähig bleibt. Insbesondere an der wissensgeschichtlichen Bearbeitung des Hessischen Landboten werden sich die Erfordernisse funktionaler Vermittlung zur Sozialgeschichte und damit die Grenzen wissensgeschichtlicher Kompetenzen aufzeigen lassen. Der im Vorstehenden aufgerufene Begriff des Wissens als historiographische Kategorie einer Ideengeschichte der Literatur bedarf jedoch vor dem Hintergrund der Forschungslandschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer näheren Erläuterung.

. Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?81 Die nach wie vor nicht abgeschlossene ›kulturwissenschaftliche Wende‹ der Geistesund Sozialwissenschaften, die die Wissenschaftslandschaft seit etwa 20 Jahren in Atem hält, allmählich jedoch an Zugkraft verliert, vollzog sich über die Ausrufung einer Fülle neuer Paradigmata des Forschens. Nach der überwältigenden Stellung der »Körpergeschichte« wurden in schneller Folge »Theatralität« bzw. »Performativität«, »Medien« oder »Textualität«, »Wissen« oder »Tiere« zu solchen Leitvorstellungen kulturwissenschaftlicher Forschung erhoben – ohne allerdings in den zahlreichen Selbstverständigungsdebatten aufeinander bezogen oder gar untereinander abgestimmt zu werden.82 Lange Zeit nahmen sogenannte »Poetologien des Wissens« eine unübersehbar prägende Bedeutung im Rahmen kulturwissenschaftlicher Lite-

 80 Zu den Bedingungen einer allgemeinen Bedeutungs- für eine jede Kontexttheorie vgl. Kablitz 2013. 81 Zum Folgenden vgl. auch ausführlicher Stiening 2011. 82 Zur Kritik an der Beliebigkeit kulturwissenschaftlicher Kategorienbildung vgl. Stiening 2002, Reinhard 2005, S. 1–16 oder auch Israel 2014.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft raturwissenschaft ein.83 Die Korrelation von Wissen und Literatur war unter poetologischer Perspektive zu einem Schwerpunkt literaturwissenschaftlichen Arbeitens avanciert. Der auch als »Wissenspoetik« firmierende Forschungsansatz, der mittlerweile die Erforschung des büchnerschen Œuvres erreichte,84 setzte sich als eigenständiges »Paradigma« durch.85 Der im Zusammenhang der Literaturwissenschaft – nicht allein in ihrer Ausrichtung als kulturwissenschaftliche Wissenspoetik – verwendete Begriff des Wissens stand und steht allerdings in der Kritik.86 Vor allem von Seiten einer so genannten ›analytischen Literaturtheorie‹ wurde bestritten, dass es überhaupt möglich sei, einen Wissensbegriff mit Literatur dergestalt zu korrelieren, dass man in Literatur nach Wissenskontexten suchen könne.87 Zwischen der Scylla eines ebenso unbegrenzten wie unbestimmten Wissensbegriffs und der Charybdis einer Austreibung des Wissens aus der Literaturgeschichtsschreibung kann durch eine kritische Darstellung beider Positionen die für die nachfolgende Studie favorisierte und praktizierte Wissensgeschichte als Kontext der Literaturgeschichte konturiert werden.88 Dafür muss ein präziser und daher begrenzter Wissensbegriff formuliert werden, der gegen die Kulturwissenschaften ebenso wie gegen die analytische Literaturwissenschaft zu profilieren ist. Es gibt drei konstitutive Momente des wissenspoetologischen Forschungsansatzes, die einer Kritik unterzogen werden müssen:89 (1) die spezifische Form der Historisierung des Wissens, (2) die Entdifferenzierung und Entgrenzung des Wissens und (3) seine Ästhetisierung bzw. Poetisierung. (1) Die erste Prämisse der Wissenspoetik besteht in der Annahme einer grundlegenden Diskontinuität von Geschichte. Diese These geht auf Michel Foucaults wissensarchäologische Zentralkategorie einer historischen Apriorität zurück, nach der es keinerlei historische Konstanten gebe – bis auf dieses Urteil selbst. Der in dieser Kategorie aufgehobene Historismus gehört zu den Fundamenten aller Kulturwissenschaft:  83 Vgl. u. a. Vogl (Hg.) 1999; Vogl 2002; Pethes 2003; Pethes 2004; Renneke 2008; Hörisch 2009; Specht 2010; Dillmann 2011; Borgards, Neumeyer u. a. (Hg.) 2013; Geß u. Janßen (Hg.) 2014 sowie Höppner 2017, S. 30f. 84 Vgl. Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 2003; Fortmann 2007 oder auch Borgards u. Neumeyer 2009. 85 So Brandes 2006. 86 Vgl. hierzu die in der Zeitschrift für Germanistik ausgetragene Debatte zwischen Köppe 2007, Borgards 2007 und Dittrich 2007. 87 So insbesondere Köppe 2007, S. 400ff. sowie Köppe 2011. 88 Unfruchtbar scheint mir dagegen der Versuch, die substanziellen Differenzen zwischen beiden Positionen einzuebnen oder von ihnen zu abstrahieren; vgl. hierzu Höppner 2017, S. 30ff., der mit einem (in den Kulturwissenschaften beliebten) »weiten« Begriff von Wissen operiert, damit aber das Spezifische der Frage nach einem klaren Verhältnis von Wissen und Literatur verpasst. 89 Zum Folgenden vgl. Stiening 2007a.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

Das […] moderne Konzept von Kulturwissenschaft beruht auf der Einsicht, daß es nur ein Apriori gibt, das historische Apriori der Kultur.90

Manfred Frank konnte jedoch schon vor 30 Jahren nachweisen, dass die abstrakte Setzung historischer Diskontinuitäten, die auf Foucaults historischem Apriori basiert, instabil ist, weil dieser Begriff an ihm selbst relational im Hinblick auf eine Kontinuität verfasst ist, von der er sich stets abstößt.91 Alle Versuche der Feststellung von historischen Brüchen sind mithin auf deren Korrelation mit Konstanten angewiesen, wie dies schon die hochdifferenzierten Geschichtstheorien der Aufklärung vorführten.92 »Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharret die Substanz,« so wusste schon Kant, und an der Gültigkeit dieser Erkenntnis hat sich auch für eine auf Brüche fixierte Geschichtswissenschaft nichts geändert.93 Eine methodisch stabile und historiographisch ertragreiche Wissensgeschichte, die tatsächlich die Leistungen der Sozialgeschichte ebenso wie die der Ideen- und Philosophiegeschichtsschreibung aufnehmen können will, wird sich daher vom antinomischen Historismus des historischen Apriori verabschieden müssen. Historiographie – sei es als ausdifferenzierte Literatur-, Philosophie-, Theologie- oder Wissenschaftsgeschichte, sei es als übergreifende Ideen- oder Wissensgeschichte – wird an der Formierung formaler Apriorismen nicht vorbei kommen. So hat Wolfgang Röd für die Philosophiegeschichtsschreibung die Möglichkeit und Produktivität der Begriffe des Fortschritts und Rückschritts als reflektierter historiographischer Kategorien nahegelegt.94 Auch in der Literaturwissenschaft wurden solche Überlegungen im Rahmen einer an Kurt Flasch anschließenden Problem- oder Wissensgeschichte angestellt.95 Und Olaf Breidbachs wissenschaftsgeschichtliches Modell einer interdisziplinären Wissensgeschichte ist ebenfalls dem Versuche der Formierung entwicklungsgeschichtlicher Kategorien verpflichtet, die alle Varianten unkritischer Teleologie wie die historistischer Diskontinuitätskonzeptionen unberührt lassen.96 Die nachfolgenden Überlegungen zu Büchners Schriften basieren daher auf der Annahme von rekonstruierbaren Verlaufsformen der Geschichte, die Kontinuität und Diskontinuität vermittelnd einzelne Gegenstände in übergreifende Zusammenhänge historischer Veränderung so integriert, dass sie als einzelne allererst durch ihren Zusammenhang konstituiert und als solche erkennbar werden. (2) Zweitens ist an den Modellen der Wissenspoetik ein undifferenzierter, unabgegrenzter und historisch unbestimmter Begriff des Wissens festzustellen, da er mit

 90 Böhme 1997–2004, II, S. 356–359, hier S. 357. 91 Vgl. hierzu Frank 1987, S. 97–130. 92 Vgl. hierzu Rohbeck 2004, S. 23–52. 93 KrV B 224. 94 Röd 1995a, S. 31–43; zum Anschluss hieran vgl. Stiening 2012. 95 Flasch 2003/05, I, S. 62–80 sowie Werle 2006, S. 478–498. 96 Vgl. Breidbach 2006, S. 310–319 sowie Breidbach 2008, S. 23f., S. 33ff. u. S. 42–61.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Vorstellungen überhaupt identisch ist. Anders formuliert: Für die Poetologen des Wissen ist jede mentale Repräsentation je schon Wissen.97 Systematisch ist dieser Wissensbegriff in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen bereitet der Begriff Schwierigkeiten, weil es vor dem Hintergrund des diskursiven Universalismus der diskursanalytischen Wissensgeschichte keinerlei Unterscheidung – weder interne noch externe, mentale noch extramentale – gegenüber dem bzw. vom Wissen geben kann. Auf der Grundlage dieses Begriffs muss Wissensgeschichte zur neuen scientia universalis erhoben werden, für die alles, was ist, Wissen ist. Zu welchen Ungereimtheiten jedoch diese Überpotenzierung führt, lässt sich an einem Beispiel aus der Geschichtswissenschaft erläutern: Dirk van Laak hat im Jahre 2004 eine Arbeit über den Deutschen Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, die sich selbst dezidiert wissensgeschichtlich versteht und begründet.98 Herfried Münkler hat diese Studie und ihr methodisches Selbstverständnis aber zu Recht in der folgenden Weise kritisiert: Nun zeigt aber gerade diese Arbeit, in welche Aporien eine Geschichte des Imperialismus gerät, die sich nicht auf einen politischen oder ökonomischen Kern konzentriert, sondern kultur- und wissensgeschichtlich angelegt ist: Sie wird tendenziell ununterscheidbar von der Geschichte der Entdeckungen und der Sammlung des Wissens über bis dato Unbekanntes.99

Münkler liefert mit seinen Argumenten ein überzeugendes Plädoyer dafür, Wissensgeschichte in ihrem methodischen, systematischen und historischen Anspruch zu begrenzen. Es gibt Gegenstände historischer Wissenschaften, die mit den Instrumenten einer Wissensgeschichte nicht angemessen zu erfassen sind, und daher muss jeder als historiographische Kategorie entworfene Wissensbegriff intensional und extensional eingeschränkt werden. Diese hier aufscheinende grundlegendere Debatte kann allerdings nicht ausschließlich auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Methodologie bzw. allgemeiner oder spezieller Literaturtheorie ausgetragen werden, denn die Frage nach dem Verhältnis von Vorstellungen und dem von und in ihnen vorgestellten Gegenständen ist nur auf der Grundlage erkenntnistheoretischer, metaphysischer und psychologischer Kategorien und Prinzipien zu beantworten. Dennoch ist daran festzuhalten, dass zwischen der Geschichte der Ideen und der Geschichte der Realien ein systematisch zu bestimmender, methodologisch zu reflektierender und inhaltlich zu

 97 Zum Begriff der »mentalen Repräsentation«, seiner historischen Verbindung und systematischen Äquivalenz zum lockeschen Begriff der »idea« und damit dem der »Vorstellung überhaupt« vgl. Kemmerling 2006, S. 7f. 98 Vgl. van Laak 2005. 99 Münkler 2005, S. 40.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

gestaltender Unterschied besteht, der in der nachfolgenden Untersuchung daher auch berücksichtigt wird.100 Zum anderen führt die Identifikation des Wissensbegriffes mit dem der Vorstellung überhaupt bzw. der mentalen Repräsentation ohne Not zu einer Entdifferenzierung eines seit Aristoteles wohldefinierten Begriffs. Demgegenüber scheint es aus begriffsgeschichtlichen und forschungspragmatischen Gründen einer zu Recht geforderten Anschlussfähigkeit an andere Fächer101 auch für die Literaturwissenschaft geboten, zwischen Wissen, Glauben, Meinen, Empfinden, Einbilden und Fühlen zu unterscheiden. Mit diesen Begriffen werden unterscheidbare mentale Prozesse bzw. Vermögen erfasst, die mit je unterschiedlichen Verfahren anhand unterschiedlicher Kriterien bestimmbar sind, sich in Literatur allerdings je anders realisieren und je anders analysiert und interpretiert werden müssen. Zu den Bestimmungen des Wissens gehört seit Aristoteles aus guten Gründen die Urteilsform ebenso wie der Wahrheitsanspruch und die Begründungsleistung.102 Dem Glauben wie dem Meinen oder Fühlen, wie auch dem Erzählen fehlen einzelne oder mehrere dieser Kriterien oder sie werden durch andere bestimmt. Deshalb ist Literatur kein Wissen,103 d. h. sie kann keinen Wissensanspruch erheben, auch wenn namhafte Autoren diesen Anspruch kultivierten.104 Georg Büchner hat als Wissenschaftler und Literat auf die zeitgenössisch und systematisch virulente Problemlage des Unterschieds zwischen Wissen und Literatur eine eigenständige Lösung entworfen. (3) Drittens ist auch die ›Poetologisierung‹ des (wissenschaftlichen) Wissens fragwürdig. Im Zentrum dieser Prämisse steht die erkenntnistheoretische Annahme von einer »unauflöslichen Verschränkung von Poetologie und Epistemologie«105 und damit die praemissa maxima des wissenspoetologischen Programms: Jede epistemologische Klärung ist mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft.106

Jede Beschäftigung mit Erkenntnistheorie lässt wissen, dass diese These nicht zu halten ist; es ist schlicht falsch, dass jeder Erkenntnisvorgang (oder jede erkenntnistheoretische These oder gar Demonstration) an ästhetische Kriterien gebunden sei –

 100 Wohin es führt, wenn Realien und Ideen nicht angemessen unterschieden werden, kann man an der großen Studie von Martus 2015 ablesen, für den das 18. Jahrhundert keineswegs nur ein Zeitalter der Aufklärung, sondern ein aufgeklärtes Zeitalter war; zur Kritik hieran vgl. Stiening 2017. 101 So zu Recht Köppe 2007, S. 398f. 102 Vgl. hierzu auch Klausnitzer 2008, S. 12. 103 Anders dazu u. a. Klinker 2010. 104 So zu Recht Köppe 2007, S. 403. 105 Dotzler 2005, S. 12. 106 Vogl 2002, S. 13.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft und das gilt insbesondere für das Wissen im eigentlichen Sinne.107 Zwar ist unbestreitbar, dass sowohl unter systematischen als auch unter historischen Gesichtspunkten Erkenntnistheorie und Ästhetik in einem engen Zusammenhang stehen;108 ihre »unauflösliche« Identität wird allerdings nur von den Wissenspoetologen eingefordert. Alles Wissen aber ist zunächst und zumeist durch seine konstitutiven Definitionsmomente der ›wahren gerechtfertigten Überzeugung‹ bestimmt und nur sekundär durch seine Darstellungsformen. Zwar kann mit guten Gründen gefragt werden, welche Rolle die Darstellungsformen der Wissenschaften für deren semantische und systematische Erkenntnisgehalte oder deren Verbreitung spielen. Diese Fragen sind aber ganz ohne apriorische Ästhetisierung des Wissens schon vor einiger Zeit gestellt und mit bemerkenswerten Ergebnissen beantwortet worden. Hier lässt sich entnehmen, dass die These, die Formen des wissenschaftlichen Schreibens würden deren Gehalte durchgehend bestimmen, zu differenzieren ist. Denn es gibt wissenschaftliche Texte, deren äußere Form gegenüber ihren Gehalten indifferent ist; schon Hegel zeigte das für Spinozas oder Christian Wolffs Paraphierung ihrer Deduktionen;109 und selbst Rousseaus Du Contrat Social mag zwar sprachlich ansprechender sein als Pufendorfs De officio; gegenüber den jeweiligen naturrechtlichen Gehalten ist diese Frage jedoch allerhöchstens zweitrangig. Vor allem sind diese Darstellungsformen des wissenschaftlichen Wissens nicht ausschließlich an literarische bzw. ästhetische oder auch nur allgemein narrative Kriterien gebunden, sie folgen – wie Hegels Phänomenologie oder Auerbachs Mimesis – ihren je eigenen formalen Gesetzen. Auch an Büchners Dissertation wie an seinen Vorlesungsskripten zur Geschichte der Philosophie wird sich die weitgehende Irrelevanz ihrer äußeren Form dokumentieren lassen. Alle drei Prämissen – die Diskontinuitätsthese, der unbestimmte Wissensbegriff und die apriorische Ästhetisierung des Wissens – legen es nahe, eine literaturgeschichtlich fruchtbare Wissensgeschichte grundlegend anders zu begründen und zu gestalten. Dazu ist es allerdings erforderlich, an einem Wissensbegriff überhaupt als historiographisch ertragreicher Kategorie für die Literaturwissenschaft festzuhalten. Diese Möglichkeit wurde jedoch mit dem Argument bestritten, Literatur entspreche in keiner Hinsicht den Bestimmungen eines nur epistemologisch eindeutig zu definierenden Wissensbegriffs. Zwar könne Literatur subjektive Überzeugungen gestal-

 107 Vgl. hierzu u. a. die von den Poetologen des Wissens nicht wahrgenommenen analytischen Debatten bei Ernst 2002, Enskat 2003, Hofmann 2007, S. 147–174 oder den für die Literaturwissenschaft besonders anschlussfähigen Band von Kern 2006. 108 Vgl. hierzu den in seinen Beiträgen allerdings methodisch und systematisch höchst divergierenden Band von Bauereisen, Pabst u. Vesper (Hg.) 2009. 109 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 163ff.

Wissen und Literatur: Poetik des Wissens oder Scientia Poetica?  

ten und ausdrücken, doch führe sie weder einen Wahrheitsanspruch aus noch enthalte sie systematische Begründungsformen.110 Dieser analytischen Austreibung des Wissens aus den Literaturwissenschaften ist jedoch mit gleichem Nachdruck zu widersprechen. Es lässt sich nämlich zeigen, dass diese Kritik auf einem Kategorienfehler beruht, den es zu vermeiden gilt. Gleichwohl kann zunächst einer methodischen Prämisse jener Kritik zugestimmt werden: Auch Literaturwissenschaftler sind dazu verpflichtet, die von ihnen verwendeten Begriffe klar und deutlich zu definieren. Dieses Postulat gilt nicht nur wegen der erforderlichen Anschlußfähigkeit an andere Disziplinen, sondern auch aufgrund des allgemeinen Wissenschaftsanspruches des Faches. Die Annahme, es gäbe so etwas wie weiche Kategorien oder ›idiosynkratisches‹ Denken, versucht von dieser unhintergehbaren Verpflichtung auf Wahrheitsanspruch oder Falschheitsnachweis, die jeder Wissenschaft zukommt, zu abstrahieren.111 Darüber hinaus ist im Anschluss an die Tradition einem Festhalten an der Definition des seit der Antike eindeutigen Wissensbegriffes zuzustimmen. Der Terminus »Wissen« ist aus guten Gründen gemäß seines Wahrheitsanspruchs seit Aristoteles zum Begriff bestimmt durch die Kriterien der wahren gerechtfertigten Überzeugung. Man kann auch vom ›subjektiven und objektiven Fürwahrhalten‹ sprechen, und das Wissen in Abgrenzung vom Meinen und Glauben wie folgt bestimmen: Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: M e i n e n, G l a u b e n und W i s s e n. M e i n e n ist ein mit Bewußtsein s o w o h l subjektiv, a l s objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es G l a u b e n. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das W i s s e n. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Ü b e r z e u g u n g (für mich selbst), die objektive, G e w i ß h e i t (für jedermann).112

Es bedarf mithin für jegliches Wissen, das mehr bzw. anderes sein will als Glauben oder Meinen, der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und einer diesen Anspruch realisierenden Begründungsleistung. Daraus folgt aber erneut und ohne alle Einschränkungen, dass Literatur kein Wissen ist. Auch wenn zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine methodologisch breit gefächerte Gruppierung in den Literaturwissenschaften diese Prämisse – unter anderen unter Verwendung des Hilfsbegriff vom ›kulturellen Wissen‹ – vertritt,113 ist dem Einwand der so genannten analytischen Literaturwissenschaft uneingeschränkt Recht zu geben, weil allein die Urteilsform in vielen poetischen Texten fehlt, mehr noch der Wahrheitsanspruch und vor allem  110 Vgl. hierzu Köppe 2007, S. 398–405. 111 Vgl. hierzu Vogl 2007, S. 249–258. 112 KrV B 850. 113 Hörisch 2008; siehe auch Vorwort der Herausgeber. In: Scientia Poetica 8 (2004), S. VII–IX; Schweizer 2008, S. 16ff.; Valenza 2009 oder auch Krämer u. Hufnagel (Hg.) 2015.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft die Begründungsleistung. Es macht die Besonderheit der poetischen Reflexion in der Bindung an die Darstellung des sinnlich Konkreten aus, kein Wissen zu sein.114 Verfehlt ist jedoch die hermeneutische These der so genannten analytischen Literaturwissenschaft, Literatur enthalte kein Wissen. Diese Annahme basiert auf einem Kategorienfehler, den die analytische Literaturwissenschaft begeht, wenn sie einen erkenntnistheoretischen mit einem wissensgeschichtlichen Wissensbegriff identifiziert. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Wissen nicht in seinem materialen Status als Wissen in Literatur gestaltet wird; so ist es nur als methodischer und systematischer Fehlgriff zu bezeichnen, Büchners Reflexionen auf Magnetismus und spekulative Naturphilosophie, die er in seiner Erzählung Lenz anstellt, unter philosophischen – also systematischen – Gesichtspunkten zu rekonstruieren.115 Dennoch ist der Literarhistoriker dazu verpflichtet, diesen Wissenskontext als Moment einer poetischen Gestaltung von zeitgenössischen Wissensansprüchen im Textganzen zu erkennen, zu analysieren und zu interpretieren. Ein gewichtiger Unterschied zwischen der erkenntnistheoretischen und der wissensgeschichtlichen Wissenskategorie besteht also darin, dass man das in Literatur gestaltete Wissen nicht auf seinen materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muss, denn dann käme man bei chiromantischen oder mystizistischen Wissensbeständen, die die Literatur u. a. von Ludwig Tieck bis Thomas Mann aufruft, nur zu einem historisch und historiographisch irrelevanten Urteil der Falsifizierung. Die Kriterien des Wissens sind gleichwohl in formaler Hinsicht aufrechtzuerhalten, um sie von anderen in Literatur gestalteten mentalen Prozessen und deren Historie zu unterscheiden. In diesem Status ermöglichen sie dem Literaturwissenschaftler zu überprüfen, ob der historische Autor in seinem literarischen Text mit historischen Wissensbeständen oder anderen Vorstellungsformen arbeitet. Durch die Erschließung des wissensgeschichtlichen Kontextes kann er darüber hinaus der Frage nachgehen, welche Stellung jenes historische Wissen innerhalb des poetischen Gefüges einnimmt. Dieses methodische Postulat einer angemessenen Erschließung des wissensgeschichtlichen Kontextes impliziert die Maxime einer mög 114 Das bedeutet allerdings nicht, wie Hegel zeigte, dass die Kunst als an sinnliche Gewissheit gebundenes Medium nicht selber auf den Begriff gebracht werden könnte. Hegels Begriff des Begriffs leistet auch die Erfassung des von ihm Unterschiedenen: »Und wenn auch die Kunstwerke nicht Gedanken und Begriff, sondern eine Entwicklung des Begriffs aus sich selber, eine Entfremdung zum Sinnlichen hin sind, so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr sich in seiner Entäußerung zur Empfindung und Sinnlichkeit wiederzuerkennen, sich in seinem Anderen zu begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt« (Hegel 1986, XIII, S. 27f.). 115 Auch diese Festlegung ist unter bestimmten methodischen Gesichtspunkten zu relativieren, leistet doch Dieter Henrich mit seiner Variante der Konstellationsforschung Interpretationen der literarischen Texte Hölderlins in philosophiehistorischer Absicht – ohne diese Texte allerdings auf jene epistemologische Funktion einzuschränken; vgl. Henrich 1992, S. 185–266.

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lichst umfassenden Bearbeitung des Wissensfeldes und seiner wissenschaftlichen Erforschung unabhängig von den Rezeptionsformen und -ergebnissen des literarischen Autors. Das Postulat bedeutet darüber hinaus, in einem zweiten Schritt die dilettantischen oder professionellen Rezeptionswege, -umfänge und die Auswahl zu berücksichtigen, die der literarische Autor tätigte. Die Aufrechterhaltung der traditionellen Wissenskriterien einer ›wahren gerechtfertigten Überzeugung‹ in einem formalen Status ermöglicht einerseits, Wissen von anderen Formen der Vorstellung abzugrenzen und so eine Wissensgeschichte von Glaubens-, Meinens-, Gefühls- oder Erfahrungsgeschichten zu unterscheiden. Weil sich ›wahre gerechtfertigte Überzeugungen‹ in den historisch variierenden Formen der Wissenschaften in ausgezeichneter Weise realisieren, tendiert eine präzise definierte Wissens- zu einer Wissenschaftsgeschichte, ohne mit ihr identisch zu sein.116 Das methodische und historiographische Programm einer scientia poetica zielt daher mit guten Gründen auf eine kritische Korrelation von Wissenschafts- und Literaturgeschichte ab.117 In dieser hier favorisierten Form ist Wissensgeschichte ein spezifisches Segment einer auf den Anschluss mit der Sozialgeschichte der Literatur bedachten ideengeschichtlichen Kontextualisierungskonzeption.118 Andererseits eröffnet die Einschränkung und Bestimmung der historisch und systematisch wirksamen Definitionselemente des Wissens auf einen rein formalen Status die Möglichkeit, eine Überprüfung der systematischen Virulenz des literarisch gestalteten Wissens als historiographisch irrational zurückzuweisen. Damit muss weder der Literatur überhaupt Wissen zugeschrieben bzw. eine qualitative Differenz zwischen beiden Reflexionsformen im Zeichen des Diskurses bzw. des kulturellen Wissens eingeebnet werden, noch muss der Literatur Wissen als gestaltbarer Gegenstand a priori abgesprochen werden, weil sie seinen Kriterien in der Tat materialiter nicht entspricht. Darüber hinaus ermöglicht das Festhalten an einem wohldefinierten Wissensbegriff, begründete Differenzierungen im Programm einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung von Literatur einzuhalten; so betont der Wissenshistoriker Peter Burke: Differenzieren müssen wir auch zwischen Wissen und Information, zwischen ›wissen, wie‹ und ›wissen, dass‹, zwischen Explizitem und Angenommenem. Der Einfachheit halber verwenden

 116 Vgl. hierzu Stiening 2007a, S. 240ff. 117 Vgl. hierzu das Vorwort der Herausgeber in Scientia Poetica 1, S. VIIf. sowie Richter, Schönert u. Titzmann 1997, S. 9–36, die allerdings mit einem übergreifenden Diskursbegriff arbeiten, der die substanziellen Differenzen zwischen Wissen und Literatur tendenziell einebnet und damit die Aufgabe ihrer spezifischen Vermittlung verzerrt. 118 Zu einem vergleichbaren Vorschlag in Bezug auf das Verhältnis von Medizin, Literatur und Gesellschaft vgl. Erhart 2004, S. 118–128; Stiening 2011 sowie Benz u. Stiening 2020.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft wir in diesem Buch den Begriff Information für das, was roh, spezifisch und praktisch ist, während Wissen das Gekochte bezeichnet, das gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte.119

Schon Jürgen Mittelstrass hatte weniger in historiographischen als vielmehr in systematischen und soziopolitischen Zusammenhängen empfohlen, an dieser Unterscheidung zwischen Wissen und Information festzuhalten: Maßgebend für diese Bestimmung ist, dass ›Informationswissen‹ stets in erster Linie ein Faktenwissen ist, d. h. ein Wissen darüber, was der Fall ist (oder als solcher ausgegeben wird). Demgegenüber lässt sich ein Orientierungswissen als ein Zwecke- und Zielewissen definieren, d. h. als ein Wissen darüber, was (begründet) der Fall sein soll. Oder noch anders, den ›Ort‹ eines ›Informationswissens‹ im System des Wissens verdeutlichend, formuliert: ›Informationswissen‹ ist Teil eines Verfügungswissens und dient dem Orientierungswissen.120

In der Anbindung an die Traditionen des Wissensbegriffes bietet Mittelstrass hiermit eine formale Unterscheidung, die auch in einer historiographischen Anwendung die historisch und disziplinär je unterschiedlichen Status spezifischer Inhalte der wissensgeschichtlich zu betrachtenden Vorstellungen zu differenzieren erlaubt. Nur eine Geschichte des Wissens, die diese von Mittelstrass und Burke verteidigte formale und daher transhistorische Differenzierung des Wissensbegriffes berücksichtigt, kann die qualitativen Unterschiede von historisch variierenden Reflexionsformen angemessen bestimmen. An Büchners Hessischem Landboten lässt sich die Fruchtbarkeit allein dieser, noch ganz basalen Differenzierung zwischen Information und Wissen anschaulich belegen. Auf der Grundlage eines formalen Wissensbegriffes können zudem die unterschiedlichen Entwicklungsstadien wissenschaftlicher oder philosophischer, aber auch weltanschaulicher Konzepte distinkt erfasst werden; überhaupt können zwischen empirischem und nichtempirischem Wissen sowie zwischen Wissenschaften und Weltanschauungsformen deutliche Grenzen gezogen werden,121 um erst auf der Basis dieser Differenzierung die sich historisch je verändernden Korrelationen zu überprüfen. Die hiermit skizzierte Variante von Wissensgeschichte, die ein Segment einer übergreifenden ideengeschichtlichen Kontextualisierung der Literaturgeschichte zu konturieren und zu praktizieren sucht, bewegt sich daher in ihrem Selbstverständnis zum einen keineswegs »nach der Sozialgeschichte«.122 An den Schriften Georg Büchners versucht diese Wissensgeschichte, die sozialgeschichtliche Perspektive vielmehr in regelgeleiteter Form zu ergänzen.123 Der an Büchner zu exemplifizieren-

 119 Burke 2001, S. 20. 120 Mittelstrass 2001, S. 44. 121 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Thomé 2002, S. 338–380. 122 Vgl. erneut Huber u. Lauer 2000. 123 Vonseiten der Sozialgeschichtsschreibung wurde eine für eine eigenständige Ideengeschichte anschlussfähige Konzeption entwickelt von Jörg Schönert; zusammengefasst in Schönert 2007.

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de Versuch von Wissensgeschichte bewegt sich daher zum anderen jenseits der Alternative zwischen der wissenspoetologischen Überpotenzierung und der wissensepistemologischen Depotenzierung des Wissensbegriffs. Die vermittelnde Stellung kann erstens eingenommen werden, weil gegen die Wissenspoetik an einem differenzierten Begriff des Wissens festgehalten wird, der die Bestimmungen der Tradition aufnimmt und so an dem eigenständigen Geltungsanspruch des Wissens gegen andere Vorstellungsformen sowie gegen literarische Reflexionen festhält.124 Zweitens ergibt sich für die hier gewählte wissensgeschichtliche Literaturforschung eine Mittelstellung, weil sie gegen die analytische Austreibung des Wissensbegriffes mit Hilfe eines rein formalen Status seiner Momente dessen historische Realisationen nicht an einem materialen Wahrheitsgehalt überprüfen muss. So lässt sich an einem bestimmten Segment einer umfassenderen Kontextualisierungsgeschichte literarhistorischer Gegenstände arbeiten, ohne in philosophisch-systematische Auseinandersetzung verstrickt zu werden. Literarische Reflexion vermittelt mithin in sich bestimmte Gehalte der sie umgebenden Kontexte, seien es ideengeschichtliche oder sozialgeschichtliche, und wirken – allerdings in erheblich geringerem Maße und in völlig anderer Weise – auf diese zurück. Dabei ist sowohl der Vermittlungsbegriff als auch die angedeutete asymmetrische Reziprozität zu erläutern: Zum einen nämlich ist jene Reziprozität zwar nicht von der Hand zu weisen, dennoch muss das Programm Wissen und Literatur noch deutlicher in sich differenziert werden. Denn die Frage nach der Bedeutung der literarischen Reflexionsformen für die Wissenschaften ist eine erheblich andere – nämlich wissenschaftsgeschichtliche –, als die nach der Bedeutung der Wissenschaften für die Literatur – das ist nämlich eine literarhistorische. Diese Fragen müssen jeweils mit anderen Methoden, Verfahren und Systematiken verbunden werden. Zudem scheint selbst die Bedeutung narrativer Strukturen u. a. für die Geschichtswissenschaften in der Literaturwissenschaft noch erheblich überschätzt zu werden.125 Zum anderen muss der oben verwendete Vermittlungsbegriff klar und deutlich bestimmt werden. Denn Vermittlung meint in diesem Zusammenhang nicht eine einfache Relationierung von unmittelbar Gegebenem. Vielmehr ist erstens »einfache Unmittelbarkeit« selbst ein Reflexionsausdruck und deren Gehalte werden damit durch Vermittlung allererst gesetzt, wie dies Hegel in der Wissenschaft der Logik zu Recht nachweist, wenn er festhält,

 124 Von dem neuerdings erhobenen vornehmen Ton einer praxeologischen Literaturwissenschaft (vgl. Martus 2016) sieht sich die Studie allerdings ebenso entfernt, weil die empiristische Prämisse der Möglichkeit einer Geltungsüberprüfung literaturwissenschaftlicher Methoden durch eine Reflexion auf deren Genese unhaltbar ist. 125 Vgl. hierzu den exzellenten Forschungsüberblick bei Krämer 2010.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener [ihr abstrakter] Gegensatz sich als nichtig zeigt.126

Erst durch die literarische Vermittlungsleistung werden die Wissenschaften mehr bzw. anders als Wissenschaften, nämlich zu Kontexten der Literatur und damit u. a. in ihrem Wissensstatus verändert. Warum und in welcher Form welche Wissenschaften zu bestimmten Zeiten zum Reflexionsgegenstand der Literatur werden, ist allerdings nicht nur ideen- bzw. wissensgeschichtlich zu beantworten, sondern durch eine umfassendere Kontextualisierung, die allerdings nicht auf ein additives Aggregat der Kontexte reduziert werden darf, sondern durch eine strenge Hierarchisierung vorerst für jedes einzelne literarische Werk in ein System zu überführen ist. Zweitens werden die Relata im Prozess der Vermittlung in ihrem Sein verändert. Man spricht daher von einem Transformationsprozess des Wissens in Literatur, und der Versuch einer wissensgeschichtlichen Distinktion zwischen materialem und formalem Wahrheitsanspruch suchte ein Moment dieses Transformationsprozesses zu bestimmen. Wenn es tatsächlich so ist, dass Literatur ideen- und realgeschichtliche Kontexte korreliert, und damit Reflexionen des Geistes auf sich und sein Anderes gelingt, und dies in der Reflexionsform sinnlicher Gewissheit realisiert,127 dann deuten sich erhebliche ›Vermittlungsleistungen‹ der Literatur an. Mit diesem Vermittlungsbegriff scheint daher das Eigenständige literarischer Reflexion gegenüber dem Wissen oder bestimmten Realien hinreichend berücksichtigt, d. h. in eine Aufgabe gestellt, deren eminente Leistung von der historiographischen Literaturwissenschaft allererst zu rekonstruieren und in ein neues Wissen zu überführen ist.

. Geschichte und Stand der Büchner-Forschung Das ebenso umfangreiche wie weit ausdifferenzierte Werk Georg Büchners128 bietet sich deshalb für die vorgestellte Form wissensgeschichtlicher Kontextualisierung literarischer Texte des frühen 19. Jahrhunderts an, weil der Autor selbst auch in wissenschaftlichen und politischen Bereichen agierte sowie publizierte und unpublizierte Texte hinterlassen hat. Viele der wissensgeschichtlich relevanten Kontexte seiner literarischen Texte liegen in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten vor bzw. in den dort direkt wie indirekt zitierten Kontexten. Selten genauer als bei Georg Büchner sind wir über den Wissensbestand eines literarischen Autors infor-

 126 Hegel 1986, V, S. 66. 127 So der Sache nach auch Kablitz 2013, S. 219ff. 128 Zu einem anderen Urteil kommt Pethes (2004, S. 351), der Büchners Werk in seiner literarischen und seiner wissenschaftlichen Spielart für überschaubar hält. Die Interpretationsvorschläge der Wissenspoetologie Pethes’ dokumentieren dann aufs Deutlichste die Gründe für dieses Urteil.

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miert. Zugleich bietet sich dieses methodische Konzept für eine grundlegend neue Erschließung des büchnerschen Œuvres an, weil er als professioneller Naturwissenschaftler, Philosophiehistoriker und Politiker ein Wissen akkumulierte, das in seine Literatur Eingang fand. Ausgehend von der Wissensschaftsgeschichte seines Werkes lässt sich ein deutlich verändertes Bild des Literaten und Politikers Büchner entwerfen. Dass mit Büchner ein literarischer Autor in den 1830er Jahren für kurze Zeit die Bühne betrat, der neben politischen Aktivitäten auch eine wissenschaftliche Ausbildung verfolgte, erfolgreich abschloss und gar als Universitätsdozent tätig war, hat die Forschung seit Karl Viëtors und Hans Mayers epochemachenden Monographien insoweit berücksichtigt,129 als sie die Reflexions- und Handlungsfelder der Politik, der Dichtung und der Wissenschaft von Büchner bearbeitet sah und durch die Titel und Konzeptionen ihrer Studien zu erfassen suchte.130 Dabei galt allerdings für Karl Viëtor wie für Hans Mayer trotz erheblicher Unterschiede in der inhaltlichen Ausgestaltung als ausgemacht, dass Büchners gesamtes Denken und Handeln als systematische Einheit zu verstehen und diese von seiner ›Politik‹ aus zu rekonstruieren sei: Auf die Frage nach der Einheit kommt alles an. Sie vom Politischen her zu stellen heißt nicht etwa, Dichterisches und Denkerisches fremder Gesetzlichkeit zu unterjochen; es geht nicht darum, die Dichtungen als ›Tendenzdichtungen‹ zu interpretieren, was sie im geläufigen Wortsinne wahrhaftig nicht sind. Auch darum nicht, Büchners Wissenschaft und Philosophie mit krasser vereinfachender tagespolitischer ›Spitze‹ zu versehen. Hier wird nach den Grundlagen der politischen Konzeption Büchners gefragt, die […] in weltanschaulichen Entscheidungen gründet. Man denkt nicht losgelöst von der Zeit und der in ihr gestellten Fragen.131

Schon Hans Mayers Forschungsthese lautet mithin, dass eine spezifische Einheit der Reflexions- und Handlungsfelder Büchners rekonstruiert werden müsse, um sie je einzeln und in ihrem Zusammenhang zu verstehen: »Auf die Frage der Einheit kommt alles an«! Diese methodische These wird mit der systematischen Annahme verknüpft, jene Einheit sei vom Politischen aus herzustellen. Mayer konturiert damit keine allgemeine Widerspiegelungstheorie wie einige seiner das politische Paradigma aufnehmenden Vorgänger bzw. Nachfolger.132 In Georg Büchner und seine Zeit wird vielmehr der Versuch unternommen, an einem und für einen Gegenstand seine sozial- oder politikgeschichtliche Kontexttheorie der Literatur und der Wissenschaften zu entwerfen, weil der gewählte Gegenstand – Büchners gesamtes Werk – eine

 129 Vgl. Viëtor 1949 und Hans Mayer 1972 [EA 1946]. 130 Vgl. hierzu Viëtor 1949: »Georg Büchner. Politik · Dichtung · Wissenschaft« sowie Hans Mayer 1972: »Georg Büchner und seine Zeit«. 131 Hans Mayer 1972, S. 22f. 132 Vgl. hierzu insbesondere Lukács 31973 [EA 1937] oder Poschmann 1985.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft in sich differenzierte Einheit dergestalt aufweise, dass sie nur aus einer Fundierungstheorie – hier vom Politischen her – zu verstehen sei.133 Gegenüber dieser methodischen Prämisse wird die Mayer eigentlich interessierende inhaltliche Demonstration einer revolutionären ›linken‹ Politik Büchners aus der Retrospektive zweitrangig, weil es nur dieser – problematische – Inhalt ist, in dem er sich von seines Konkurrenten Interpretationen unterschiedet: Denn auch Karl Viëtor hatte die weltanschauliche Position Büchners zum Fundament seines politischen Schaffens und seiner naturphilosophischen und literarischen Texte erklärt. Dabei sieht Viëtor Büchner allerdings nicht als handlungsbereiten revolutionären Sozialisten – wie dies nach Hans Mayer auch Friedrich Sengle, Walter Grab, Christoph Hauschild, Thomas Michael Mayer und Burghard Dedner vortrugen134 –, sondern als verzweifelten Geschichtsmetaphysiker im Sinne eines schopenhauerschen Pessimismus, dessen politisches Handeln wider besseres Wissen erfolgt sei. Im Zentrum dieser ebenfalls den ›ganzen Büchner‹ erfassen wollenden Perspektive steht eine Interpretation des so genannten ›Fatalismusbriefes‹: Selbstmord der Revolution, trostloses Ende aller Hoffnungen: die revolutionäre Kraft wütet gegen sich selbst. Unmöglich kann dies niederdrückende Schauspiel tragischer Verwirrung oder fatalistischer Sinnlosigkeit, wie man will, dazu dienen, die Revolution zu verherrlichen und revolutionären Enthusiasmus zu entfachen.135

Diese kontroverse Interpretationslage, die Büchner entweder als revolutionären Sozialisten oder als pessimistischen Metaphysiker – in beiden Fällen jedoch als Gegenstand einer Heldengeschichte, sei sie sozialistisch, sei sie nietzscheanisch – kultiviert, wird bei allen internen und externen Modifikationen die Forschungslandschaft bis in der 1990er Jahre bestimmen. Dabei gilt sowohl für die bis in die 1970er Jahre mit Interpreten wie Wolfgang Martens,136 Werner Lehmann137 und Wolfgang Wittkowski138 dominierende metaphysische bzw. religiöse Büchner-Deutung,139 die

 133 Zur Kontur der mayerschen Zielsetzung und ihrer induktiven Begründung vgl. Stiening 2008, S. 305–322. 134 Zur These von einem Sozialismus oder gar Frühkommunismus Büchners vgl. Sengle 1971– 1980, III, S. 290–297; Grab 1990, S. 67ff.; vor allem aber Mayer 1979a; noch Dedner 2012, Kurzke 2013, S. 104 (allerdings in der Variante »christlicher Sozialist«) sowie Hauschild 2013–15, S. 279; zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der letztlich unhaltbaren These vgl. meine Ausführungen in Kap. 4. 135 Viëtor 1949, S. 100; vgl. auch ebd., S. 172. 136 Vgl. Martens 31973, S. 406–443. 137 Vgl. Lehmann 1963, S. 210ff. 138 Vgl. Wittkowski 1978, S. 98ff. sowie noch Wittkowski 2009, S. 159ff. 139 Vgl. Viëtor 1973 [EA 1934], S. 98–137; Requadt 1974, S. 124ff.; Wittkowski 1976, S. 359f., S. 388– 398 u. S. 412ff.; Schwann 1997, S. 322ff.; Wagner 2000, S. 204–219; Faber 2002, S. 444f.; Wittkowski 2009, S. 61–74 u. S. 213–232, sowie Kurzke 2013.

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seit einigen Jahren mit Arnd Beise und Hermann Kurzke140 eine Renaissance erlebt, als auch für die mit der Studentenbewegung heranwachsende, durch Autoren wie Alfons Glück, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer, Herbert Wender oder JanChristoph Hauschild repräsentierte, ›revolutionäre‹ Büchner-Forschung, die sich ab den 1980er Jahren auch institutionell etablierte,141 dass beide Fraktionen den Wissenschaftler Büchner mehr am Rande bearbeiteten.142 Schon Karl Viëtor und Hans Mayer hatten ihre Kapitel zu Büchners Naturforschung weitgehend ohne eigene Recherchen aus den Ergebnissen der Studie von Jean Strohl gezogen, der im Jahre 1936 einen Vergleich zwischen Lorenz Okens und Georg Büchners Naturwissenschaft vorgelegt hatte.143 Aufgrund der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gängigen Verachtung der Naturphilosophie und der daraus resultierenden weitgehenden Unkenntnis des gesamten Forschungsfeldes fielen die Hinweise Strohls eher schematisch aus.144 Auch die umfangreichen Skripte Büchners zur Philosophie Descartes’ und Spinozas, die er als Vorbereitung einer philosophiehistorischen Vorlesung anfertigte,145 dienten seit Viëtor und Hans Mayer bis in die 1990er Jahre zumeist als Steinbruch zur Verifikation von Thesen zu Büchners kulturpolitischer Position,146 die an anderen Texten gewonnen worden waren.147 An dieser Forschungslage vermochte weder die Werk-Ausgabe Werner Lehmanns von 1967 noch vereinzelte Studien, die Büchners Naturforschung bearbeiteten,148 substanzielle Änderung zu bewirken. Die philosophischen Vorlesungsskripte und Exzerpte, die in Lehmanns Ausgabe erstmals vollständig ediert wurden und immerhin fast 270 Druckseiten umfassten, erfuhren dagegen als methodisch und systematisch eigenständige Arbeiten des Autors bis in die 1990er Jahre keine umfassende, disziplinär gebundene, d. h. philosophiehistoriographische Untersuchung. Bis auf die nachfolgende Untersuchung gibt es bislang überhaupt nur vier Studien,

 140 Vgl. Beise 2005–08; Kurzke 2013. 141 Vgl. hierzu die im Literaturverzeichnis angegebenen zahlreichen Publikationen der genannten Autoren sowie Schmitz 2000, S. 219–267. 142 Zu den wenigen Arbeiten zu Büchners Naturphilosophie und Philosophiegeschichte vgl. die Überblicke bei Stiening 1999, S. 100ff.; Roth 2004, S. 3–16; Stiening 2000–04, S. 207–239, Borgards 2009, S. 123–129, Röcken 2009, S. 130–137 sowie Elm 2015. 143 Vgl. Strohl 1936. 144 In diesem Zusammenhang fallen Viëtors Ausführungen (Viëtor 1949, S. 213–249) – trotz erheblicher Mängel – zutreffender aus als die Mayers, weil er wenigstens in Grundzügen um die Prämissen und die Ziele der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts weiß. 145 Abgedruckt erstmalig in HA II, S. 137–290. 146 Vgl. hierzu paradigmatisch Dedner 1987, S. 200ff. 147 Auch wenn Hans Mayer erkannte, dass es in diesen Texten um die Darstellung philosophiehistorischer Zusammenhänge ging, sind seine Überlegungen zur systematischen Perspektive Büchners auf die Philosophien der beiden rationalistischen Systematiker zutreffender als viele der späteren Thesen (vgl. Hans Mayer 1972, S. 348–365). 148 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Döhner 1967; Döhner 1982 und Oehler-Klein 1985.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft die sich dieser philosophiegeschichtlichen Texte unter wissenschaftshistorischen und philosophischen Gesichtspunkten widmen – allerdings zumeist auf der Grundlage einer selektiven Textauswahl.149 Es ist der Vorteil der wissensgeschichtlichen Methodik, dass sie erlaubt und gebietet, diese Texte erstmalig einer vollständigen Interpretation, die nicht ohne eine umfangreiche Kontextualisierung auskommt, zu unterziehen. Eine von der Frage nach ihrer Bedeutung für Büchners Literatur zunächst entlastete Interpretation seiner philosophiehistorischen Texte ermöglicht es, sie aus dem jahrzehntelangen Schattendasein zu entlassen, das sie in der polithistorisch oder weltanschaulich dominierten Büchner-Forschung ebenso führten wie in der Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichte im frühen 19. Jahrhundert. Erst auf der Grundlage dieser Rekonstruktion ihrer Gehalte wird die Frage nach deren Stellung in Büchners Literatur begründet zu beantworten sein. Ein gewichtiger Grund für die ephemere Beschäftigung mit Büchners umfangreichen, systematisch und methodisch unterschiedlichen, wissenschaftlichen Texten liegt – neben dem Jahrzehnte währenden Primat der polithistoriographischen bzw. weltanschaulichen Perspektive auf den Autor und seine politischen und literarischen Texte150 – ohne Zweifel in der disziplinären ›Eigentümlichkeit‹ seiner Wissenschaften. Büchner beendete nämlich nicht nur ein naturgeschichtliches Studium mit einer Promotion über das evolutionstheoretische Problem der Stellung des Nervensystems einer Wirbeltierart, der Barbe, innerhalb der Naturstufenleiter. Er ordnete darüber hinaus seine analytisch-darstellenden Auseinandersetzungen mit Descartes und Spinoza auf einen philosophiehistorischen Überblick hin, der die Bewegungsgesetze des philosophischen Denkens seit der Frühen Neuzeit rekonstruieren sollte und auf den Zielpunkt der »philosophischen Systeme der Deutschen« ausgerichtet war.151 Auch wenn er – wie zu zeigen sein wird – diese denkgeschichtliche Perspektive erst erlernen musste, weil ihm die systematischen Auseinandersetzungen mit Descartes’ Naturphilosophie und mit Spinozas Gottesbeweisen großes  149 Vgl. hierzu Vollhardt 1991; Stiening 2000–04; Röcken 2009 sowie Stiening 2012a; die Arbeiten von Glebke 1995, Osawa 1999 und der Kommentar von MBA IX sind weder methodisch noch systematisch auf dem Stand der seit Schneiders Braun-Übersetzung (vgl. Braun 1990) möglichen Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichte. 150 Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Wissenschaftshistorikers Manfred Wenzel, der darauf verwies, dass »die Gefahr, den Fokus allein auf den politischen Büchner zu richten«, darin besteht und – so sei ergänzt – stets darin bestand, zu verkennen, »dass Büchner […] vermutlich langfristig ohne den frühen Tod in Zürich als Naturforscher hervorgetreten wäre« (Wenzel 2007, S. 170). Bei aller Spekulation bleibt doch der Hinweis Wenzels zutreffend, dass die alleinige Fokussierung auf den ›Politiker‹ Büchner dessen wissenschaftliches Wissen, damit aber auch das Besondere seiner Literatur verkennen lässt. 151 Vgl. hierzu Büchners eigene Mitteilung an den Bruder vom 2. September 1836: »Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um […] Vorlesungen […] über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten« (P II, S. 44811–17 / MBA X.1, S. 10212–17).

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

Interesse bereitete; der Privatdozent der philosophischen Fakultät in Zürich müht sich um eine zeitgenössisch wirksame historische Perspektive auf die Philosophie.152 Büchner versuchte mithin, sich in zwei Fächern zum Wissenschaftler auszubilden,153 die im frühen 19. Jahrhundert als akademische Disziplinen ebenso neu wie aufstrebend waren: Vergleichende Anatomie und Philosophiegeschichtsschreibung.154 Deren umfangreiche und hochdifferenzierte Wissensbestände, die sich zwischen 1800 und 1850 entwickelt hatten,155 waren jedoch im 20. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen soweit verschüttet, dass eine angemessene Situierung der Stellung Büchners in diesen Wissenschaftslandschaften und damit eine Analyse der Gehalte seiner Text erheblich erschwert wurde. Hinzu kam, dass seit den vernichtenden Urteilen Liebigs, Du Bois-Reymonds oder Schleidens über die Naturphilosophie, die sie als »Pestilenz des Jahrhunderts«,156 als »Syndrom«157 oder als »Geisteskrankheit«158 gebrandmarkt hatten, dieses Paradigma der Naturforschung einen irreversiblen Ruf als unwissenschaftliche Ideologie genoss. Die literarhistorische Forschung wollte Büchner mit dieser Form der Naturwissenschaft, der er – wie noch Strohl und Viëtor wussten – verpflichtet war, offensichtlich nicht belasten, oder sie war ihnen unbekannt.159 Selbst die einzige wissenschaftsgeschichtliche Arbeit über Büchners Naturforschung, die im 20. Jahrhundert nach Strohl verfasst wurde, Otto Döhners Dissertation von 1967, bemüht sich nach Kräften, die unübersehbaren Verbindungen zur zeitgenössischen Naturphilosophie durch den Nachweis eines auch

 152 Anders dazu MBA IX.2, S. 169ff., die Büchner zum systematischen Fachphilosophen macht; zu einer Kritik hieran vgl. Stiening 2013b. 153 Zu Recht spricht Hauschild 1993, S. 526 von einer »Doppelqualifikation«; wiederholt in Hauschild 2013, S. 223. 154 Vgl. hierzu schon Stiening 1999. 155 Zur Geschichte der vergleichenden Anatomie im frühen 19. Jahrhundert vgl. Lubosch 1931, S. 3–76 und Rothschuh 1968, S. 178ff.; zur Geschichte der Philosophiegeschichte desselben Zeitraums vgl. Braun 1990, S. 254–355 sowie Schneider 1999. 156 Liebig 1840, S. 24. 157 Schleiden 1844, S. 18. 158 Du Bois-Reymond 1974, S. 212. 159 Vgl. u.a. die Versuche Hauschilds (1993, S. 521ff.), Büchner zum Empiristen zu erklären, weil der deskriptive Teil der Dissertation den philosophischen im Umfang überrage. Auch von MüllerSievers (2003, S. 175) ist das »Gewicht der empirischen Arbeit zu schwer, als dass er zur Naturphilosophie gerechnet werden dürfte«. Noch die MBA (VIII, S. 243ff. u. IX.2, S. 255 – hier mit Hauschild und Müller-Sievers einig) hat nicht die Kraft, Büchner als Naturphilosophen zu interpretieren, weil damit das jahrelang kultivierte Dogma des büchnerschen Materialismus zerbrochen wäre, zudem der Wissensbestand Büchners im wissenschaftlichen Feld ausschließlich historischer Natur wäre, was offenbar dem sorgsam gehegten Heldenbild nicht entspricht. Zum Nachweis Büchners als eines zeitgenössischen Naturphilosophen vgl. Stiening 1999 sowie ausführlich Roth 2004. Aufgenommen wurden deren Ergebnisse erstmalig von Beise 2010, S. 92ff. sowie – wenngleich ohne Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft – Kurzke 2013, S. 350–358.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft naturwissenschaftlich fundierten Materialismus Büchners zu marginalisieren;160 dass bei diesem ausschließlich weltanschaulich motivierten Unterfangen erhebliche Ungereimtheiten zu verzeichnen waren, entging der Forschung lange Zeit.161 Auch Büchners naturwissenschaftliches Wissen kann und muss – allerdings vor dem Hintergrund eines erheblich verbesserten Forschungsstandes zur Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts – einer eigenständigen wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Untersuchung unterzogen werden. Es wird sich zeigen, dass deren Interpretation selbst gegenüber den neueren Ergebnissen der Forschung162 Innovationen zu bieten versucht, um erst auf der Grundlage dieser Bearbeitung für die Rekonstruktion seiner spezifischen Poetisierung dienlich sein zu können. Die Forschungen der 1970er und 1980er Jahre, die in den Studien Thomas Michael Mayers und Jan-Christoph Hauschilds ihr ebenso wissenschaftstheoretisches wie -politisches Fundament sowie ihren rhetorisch charakteristischen Ausdruck erhielten,163 drängten die Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftler Büchner nahezu gänzlich an den Rand. »Revolutionär – Dichter – Wissenschaftler«, mit dem hierarchisierenden Titel des Katalogs zur Darmstädter Ausstellung anlässlich des 150. Todestages wurden die Wertung und Wertschätzung der Reflexions- und Handlungsfelder Büchners deutlich markiert.164 Auch mit Mayers Dissertation, der Gründung des Büchner-Jahrbuchs sowie der Planung und Durchführung der zwischen 2000 und 2013 erschienenen historisch-kritischen Ausgabe, die sowohl die Leistungen Lehmanns als auch die parallel entstehende Werk-Ausgabe Henri Poschmanns165 philologisch und historisch zu überbieten beanspruchte, fand das Programm des Nachweises eines zunächst und zumeist politischen, sozialrevolutionären Büchner seine wissenschaftsinternen und institutionellen Ausprägungen.166 Dabei ging es den Vertretern des Paradigmas nicht allein um den Nachweis eines Primats der Politik für Büchners gesamte Textproduktion; gegenüber dem – wie es hieß – »oberflächlich« recherchierten Buch von Hans Mayer167 sollte  160 Vgl. Döhner 1967, S. 11–20; selbst für Döhner, der sich mit Büchners Naturauffassung ausschließlich beschäftigte, ist die »unheimliche Einheit« seiner Arbeiten nur vom »Politischen« aus zu erfassen. Bei Holmes (1990, S. 62) führt dieser Zwang zur politischen Vereinheitlichung des Werkes dann zu folgendem Urteil: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser ›Politisierung‹ noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016 sowie meine Ausführungen in Kap. 3. 161 Zur lange fälligen Kritik an Döhners überholter Arbeit vgl. Stiening 1999; Stiening u. Roth 2000 sowie Roth 2004; eine Rehabilitierung erfährt Döhner bei Borgards 2009, S. 129. 162 Vgl. hierzu die Arbeiten von Roth 2004, Borgards 2009 und Elm 2015. 163 Vgl. insbesondere Mayer 1979a; alle weiteren von Mayer vorgelegten Studien basieren auf der hier entwickelten Systematik. 164 Vgl. Georg Büchner 1987. 165 Vgl. P I u. P II. 166 Vgl. hierzu Mayer 1981b, S. 9 sowie die so genannte Marburger Denkschrift 1984, S. 3–13. 167 So Mayer 1979a, S. 40.

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

der Nachweis einer bestimmten, nämlich »frühkommunistischen« Position erbracht werden, der alle weiteren Bereiche des büchnerschen Denkens und Handelns untergeordnet wurden und die daher auch von der Forschung in diesem Ableitungsverhältnis zu erfassen sei: Büchner versuchte politisch wie philosophisch nichts weniger, als die bislang unüberbrückbare Kluft zwischen dem anthropologischen Materialismus und der sozialen Revolution in einer theoretischen und praktischen Synthese zu schließen; der Text seines Revolutionsdramas zeigt, wie weit er dabei im Winter 1834/35 entlang der gleichsam für ihn selbst hermeneutischen Fragestellung nach dem Verhalten der ›radikalen‹ und der ›sensualistischen‹ Partei am Scheitelpunkt der für das gesamte 19. Jahrhundert paradigmatischen bürgerlichen Revolution fortgeschritten war.168

Es wird sich zeigen, dass wenige der einzelnen Momenten dieser These und keineswegs ihre Gesamtheit zu verifizieren ist. Weil aber nach Mayers Ansicht der als frühkommunistisch interpretierte »Neobabouvismus«, dem auch Büchner zuzuordnen sei,169 eine materialistische Philosophie vertreten habe, wurde der Straßburger und Gießener Student der Medizin forthin als ontologischer und epistemologischer Materialist sowie als ethischer Naturalist gehandelt.170 Zum Nachweis dieser These zog Mayer seit den 1970er Jahren ein von ihm zusammengestelltes Dokumentenkonvolut heran, das die Prozessakten und Verhörprotokolle der Mitverschwörer Büchners enthalte. Es sind mithin historische Sekundärdokumente, nicht etwa Interpretationen der Werke Büchners, die ihn zum ›Neobabouvisten‹ machten. Die seit Jahrzehnten zurückgehaltene Publikation dieser Materialien hat der Begeisterung weiter Teile der Forschung für Mayers Thesen keinen Abbruch leisten können.171 Dass es den Akteuren dieses Forschungszieles bei ihren historisch wie philologisch detaillierten Nachweisen vor allem um die Formierung einer linken Heldengeschichte im Dienste einer Revolution und weniger um eine historisch, methodisch und systematisch angemessene, wissenschaftliche Erfassung der Gehalte der Texte

 168 Ebd., S. 134. 169 Ebd., S. 5f., S. 25f. u. S. 31–66; Mayers These von Büchners Neobabouvismus gilt seither als eines der Dogmata der Forschung; weitgehend ungeprüft wiederholt wurde es u. a. von Hermand 1983, S. 115; Grab 1985, S. 73f.; Mayer 1987, S. 173f.; Hauschild 1993, S. 153–162; P II, S. 832ff.; Knapp 3 2000, S. 67f.; MBA V, S. 404; Hauschild 22004, S. 43f.; Hofmann 2009, S. 10f.; Neuhuber 2009, S. 14f.; Morawe 2012, S. 29ff.; Hofmann u. Kannig 2013, S. 36f.; Hauschild 2013–15, S. 279f.; kritisch dazu Kurzke 2013, S. 100, der Büchner allerdings zu einem christlichen Sozialisten macht; differenzierter dagegen Fortmann 2013, S. 13ff. und S. 72ff.; in den Monographien von Martin 2007 und Beise 2010 fehlt – allerdings ohne jede Begründung – ein Bezug auf Mayers prägende Behauptungen; zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser These vgl. meine Ausführungen in Kap. 4. 170 Vgl. Mayer 1979a, S. 73ff. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der These von einem Materialismus Büchners vgl. meine Ausführungen in Kap. 2 und 4. 171 Vgl. u. a. noch Hermand 2000.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Büchners zu tun war,172 dass hier also weder Literaturwissenschaft noch Literaturgeschichtsschreibung, sondern – wie in der Hölderlin-Forschung173 – Editionsphilologie als ›Arbeit an der Revolution‹ betrieben wurde, zeigte sich an den in den 1990er Jahren auftretenden Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, die jedwede wissenschaftliche Dignität vermissen ließen.174 Der auch von der polithistorischen Büchner-Forschung beanspruchte Nachweis einer Einheit des büchnerschen Werkes175 verlor sich jedoch in philologischer ›Dekonstruktionsarbeit‹. Die aufgrund der desolaten Text- und Quellenlage hochspekulativen Versuche einer Festlegung der Textanteile Büchners und Weidigs am Hessischen Landboten,176 der Identifizierung von Bearbeitungsstufen des Lenz177 und im Hinblick auf die philosophischen Skripte zu Spinoza dissoziierte unter der Maxime biographisch-politischer Identität oder philologischer Textgenese die Texte des Autors. Auch die Auflösung hermeneutischer Einheiten in Quellenensembles erschwerte die Rückkehr zu Fragen des systematischen Verhältnisses von wissenschaftlicher, politischer und literarischer Reflexion wie erst recht die nach der Einheit des Werkes. Nicht zufällig wurden und werden die historisch-philologischen Ergebnisse der Marburger Büchner-Ausgabe vom Poststrukturalismus produktiv rezipiert.178 Auch wenn das polithistorische Paradigma seit der Jahrtausendwende aufgebraucht scheint,179 die Historisch-kritische Ausgabe erschien zwischen 2000 und 2013 nach den philologischen und hermeneutischen Prinzipien der 1980er Jahre.180 In deren Zentrum steht neben den weitgehend von der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe übernommenen editionsphilologischen Textpräsentationsprinzipien die Aufgabe, in möglichst umfassendem Maße Quellen der Texte Büchners aufzufinden, weil dieser

 172 Vgl. hierzu das Bekenntnis bei Hauschild 1993, S. XII; die theonome Variante dieser Heldengeschichte schrieb dann Kurzke mit seiner Vorstellung vom ›Genie Büchner‹. 173 Vgl. hierzu Stiening 2007. 174 Als paradigmatisch für diese bis ins Feuilleton vordringende Auseinandersetzung zwischen Mayer und Hauschild, Mayer, Dedner und Poschmann, Mayer, Dedner und Wender und letztlich Mayer und Dedner erweist sich die von wissenschaftlicher Argumentation nur selten gestreifte 150seitige Rezension der Büchner-Biographie Hauschilds durch Mayer 1995–99c; das gilt auch für die Kontroverse zwischen Morawe 2014b und Dedner 2015. 175 Siehe hierzu auch Bittner 2010, S. 8f. 176 Vgl. Mayer 1979a, S. 183–287 sowie – mit einem neuen Vorschlag – Dedner 2009–12. 177 Dedner 1990–94. 178 Vgl. Guntersmann 2000; Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 2003; Schneider 2006, S. 136ff.; insbesondere aber den Band von Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009; Meyzaud 2012 sowie das Gros der Beiträge in GBJb 12 und 13. 179 Vgl. hierzu schon Stiening u. Roth 2000, S. 192–215. 180 Erste, behutsame Lösungen vom polithistorischen Paradigma weisen die Bände VIII und IX der MBA auf, so heißt es in MBA IX, S. 298: »Philosophie […] betrieb Büchner weder als Politiker noch als Dichter, sondern vor allem in seiner Spezialisierung als Naturwissenschaftler.«

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

nachweislich einen Großteil seiner literarischen Arbeiten durch zitierende Übernahmen aus anderen Texten bewerkstelligt habe. Im Hintergrund dieser Maxime steht eine eigenwillige Interpretation einiger poetologischer Reflexionen Büchners, nach der der Dichter Vergangenheit möglichst authentisch, d. h. wirklichkeitsnah und damit besser als die Geschichtsschreibung zu reproduzieren habe.181 Um diese prätendierte Nähe zur Vergangenheit zu erzielen, die in Dantonʼs Tod auf eine Reflexion auf die politischen Potentiale der Revolution und damit auf politischpraktische Fragen abziele,182 habe Büchner möglichst umfänglich aus historischen Quellen zitiert.183 Schon die diesem Programm zugrundeliegende Interpretation der skizzenhaften Poetik Büchners lässt sich jedoch bestreiten und vielmehr mit der von Victor Hugo in der Vorrede zum Cromwell oder auch der in Balzacs Avant-propos entwickelten Poetik kontextuell vermitteln,184 die von einer strikt politischen Reflexion auf die zeitgenössischen Möglichkeiten einer Revolution substanziell unterschieden sind.185 Dieser sich als Methodik ausgebende, in Wahrheit hermeneutisch begründete Positivismus führte allerdings seit den 1980er Jahren – verstärkt seit dem Erscheinen der MBA-Bände seit 2000 – zu einem verselbständigten, gegenüber Textsorten und Reflexionsformen indifferenten »Quellenfetischismus«,186 dessen systematische, methodische und historische Verengung früh schon auf den kritischen Begriff gebracht wurde. Mit scheinbarem Blick auf eine Studie Paul Requadts,187 der in Wirklichkeit die Prinzipien der MBA und der sie umgebenden Forschung in den Georg Büchner-Jahrbüchern trifft, hält Rosemarie Zeller schon 1990 fest: Dazu eine methodische Bemerkung: so nützlich der Nachweis einzelner übereinstimmender Stellen ist, so hängt das Verfahren doch mehr oder weniger vom Finderglück des Literaturwissenschaftlers ab und läuft letztlich auf positivistische Einflußphilologie hinaus, wobei man zudem nie sicher sein kann, ob die Übereinstimmung nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen ist. Rekonstruiert man dagegen, wie ich postuliere, den literarischen Kontext und das literarische Bewußtsein des Publikums, vermeidet man diese methodologischen Probleme: Es kommt nicht darauf an, ob Büchner diese oder jene Äußerung von Hugo oder von anderen Romantikern gekannt hat, sondern darauf, ob er die literarische Diskussion und die Dramen

 181 Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835, P II, S. 4106ff.. 182 So Mayer 1979a, S. 108ff.; aber auch Voges 1990, S. 9ff. oder noch Knapp 32000, S. 99, S. 106 u. S. 108; zur Kritik an dieser einseitig polittheoretischen Interpretation des Dramas schon Ruckhäberle 1981 sowie Ulrike Dedner 2003. 183 Vgl. hierzu die als Programmschrift zu wertende, allerdings nur halböffentliche Marburger Denkschrift 1984. 184 Vgl. hierzu Kablitz 2003, S. 91–122. 185 Vgl. hierzu schon Landau 31973a, S. 29; Wender 1988, S. 149ff. oder Knapp 32000, S. 103 sowie die exzellenten, in der Forschung allerdings weitgehend ohne Resonanz gebliebenen Studien von Zeller 1986/87 und Zeller 1990. 186 So zu Recht Berns 1987, S. 260f. 187 Vgl. Requadt 1974.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft jener Jahre gekannt hat, wobei er sie nicht einmal selbst gelesen haben muß, denn die Konkretisation, welche die Dramen durch die Kritiker erfahren haben, ist für das literarische Bewußtsein genauso wichtig.188

Am Zutreffenden wie Unabgegoltenen dieser Einwände und Hinweise hat sich seither nichts verändert. Friedrich Vollhardt hat die sich hier andeutende Kontexttheorie in Bezug auf eine Erforschung auch der wissenschaftlichen Texte Büchners und ihre Vermittlung mit seiner Literatur kritischer noch gegen den terminologischen Positivismus der Marburger Büchner-Forschung gewandt, wenn er schreibt: Denn die Semantik der philosophischen Anspielungen in Büchners literarischem Werk entschlüsseln sich nicht schon durch den Aufweis möglicher oder nur zufälliger sprachlicher Korrespondenzen, sondern erst mit der sorgfältigen Kommentierung solcher Stellen, die […] e i n e m Kontext angehören.189

Diese Auforderungen zu einer die positivistische Quellenorientierung nicht ersetzenden, wohl aber erweiternden Kontextforschung verhallten bis zum Abschluss der MBA im Jahre 2013 nahezu ohne Resonanz. Die nachfolgende Studie sieht sich jedoch als Versuch der Umsetzung ebendieser methodischen Postulate in wissensgeschichtlicher Hinsicht. Die Agonie der politischen Büchner-Forschung seit Mitte der 1990er Jahre, die nicht durch konkurrierende Perspektiven, sondern von innen verursacht wurde, hinterließ ein Vakuum, das nicht sofort gefüllt werden konnte. Anknüpfend an eine schon in den 1980er Jahren blühende kulturkritische Deutung190 entwickelte sich auf der Grundlage der kulturwissenschaftlichen Wende eine zunehmend Leitfunktion für die Entfaltung eines neuen Büchner-Bildes beanspruchende diskursanalytische Forschung.191 Deren von Foucault angeregte spezifische Form von Ideengeschichte192 erlaubte es nicht nur, sondern gebot geradezu, Büchners naturwissenschaftliche Texte mit seinen literarischen unmittelbar zu korrelieren. Es wird sich in der Folge allerdings zeigen, dass das Desinteresse dieses Paradigmas an einer methodisch und systematisch fachgerechten wissenschaftsgeschichtlichen Analyse und Interpretation der vergleichend-anatomischen Texte Büchners, die erst in einem zweiten, die substanzielle Differenz zwischen wissenschaftlicher und poetischer Reflexion berücksichtigenden Schritt eine Korrelation mit dessen Dichtung  188 Zeller 1990, S. 161f. 189 Vollhardt 1988/89, S. 67. 190 Vgl. hierzu beispielsweise schon Kittsteiner u. Lethen 1983 oder Oesterle 1983. 191 Vgl. hierzu u. a. Ludwig 1998; Guntermann 2000; Müller-Niebala 2001; Kimmich 2002, S. 135– 170; Müller-Sievers 2003; Pethes 2006; Pethes 2006a; Borgards 2007, Fortmann 2007; Ruf 2008; Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009; Beise 2010; Meyzaud 2012; Fortmann 2013; Morawe 2014b und Wübben 2016. 192 Zu Foucaults Verständnis von Ideengeschichte und dessen prägender Bedeutung für die Kulturwissenschaften vgl. Stiening 2009.

Geschichte und Stand der Büchner-Forschung  

unternehmen kann, zu sachlichen Fehlurteilen über Gehalt und Funktion allein der Wissenschaften Büchners führte.193 Die normative Fundierung dieser Perspektive im Sinne einer allgemeinen Rationalitäts- und Modernitätskritik194 setzt allerdings in formaler Hinsicht die politfunktionalen Tendenzen der 1970er und 1980er Jahre fort, so dass sich deren Vertreter – bei allen Modifikationen – zu Recht als deren legitime Nachfolger begreifen.195 Die gleichzeitig, weder von der allgemeinen Kulturwissenschaft noch von der besonderen Büchner-Forschung wahrgenommene ertragreiche Entwicklung der Erforschung der Naturphilosophie und -wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts196 sowie die Forschung zur Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung des nämlichen Zeitraums197 ermöglichte es allerdings, erste Schritte auf dem Weg einer streng wissenschaftsgeschichtlichen Bearbeitung der umfangreichen wissenschaftlichen Texte Büchners zu gehen.198 Auch wenn die Kommentare der Werk-Ausgaben Poschmanns und der MBA die Anregungen der Wissenschaftsforschung nicht aufnahmen,199 wird die nachfolgende Studie die Ergebnisse dieser Wissenschaftsgeschichte zu berücksichtigen haben und daher sowohl im Hinblick auf Büchners philosophiegeschichtliches, naturphilosophisches und politisches Wissen als auch – auf dieser Grundlage – im Hinblick auf seine Literatur Neuland zu betreten versuchen. Gegen die Tradition der philologischen ›Dekonstruktion‹ der Texte im Zeichen der Revolution sowie gegen den aktuelleren Trend zur Amalgamierung philosophischer, naturwissenschaftlicher und literarischer Reflexion in Zeichen des Diskurses wird zu zeigen sein, dass die von Karl Viëtor und Hans Mayer zu Recht gestellte Frage nach der Einheit des büchnerschen Werkes nur zu beantworten ist unter Berücksichtigung der vom Autor selbst hergestellten systematischen Differenz innerhalb seiner Wissensfelder einerseits und dieses in sich differenzierten Wissens zu seinen literarischen Reflexionen andererseits. Die Einheit von Büchners Werk ist nicht als analytische zu rekonstruieren – weder im Ausgang von der Politik, noch im Ausgang von der Philosophie oder Naturwissenschaft –, sondern nur als Synthesis.

 193 Zum Nachweis sachlicher Fehler dieser Sicht auf Büchners Neuroanatomie vgl. u.a. Roth 2004. 194 Vgl. hierzu Stiening 2007a, S. 247f. 195 Vgl. hierzu den affirmativen Bezug von Borgards 2007 auf Günter Oesterle und von Pethes 2004 auf Günter Oesterle und Alfons Glück; nicht zufällig ging die Leitung der Büchner-Forschungsstelle im Jahre 2018 an Roland Borgards, einen der profiliertesten deutschsprachigen Poststrukturalisten. 196 Vgl. hierzu insbesondere die im Literaturverzeichnis angegebenen zahlreichen Arbeiten von Dietrich von Engelhardt, Walther Zimmerli, Olaf Breidbach, Thomas Bach, Kai Torsten Kanz, Stefan Höppner oder Paul Ziche. 197 Vgl. hierzu u. a. Braun 1990, Schröpfer 1994, Schneider 1999, Sicco-Bruns 2004 oder auch Michalski 2010. 198 Vgl. die bahnbrechende Arbeit von Roth 2004. 199 Vgl. hierzu die Kritik in Stiening 2013b.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft Aus diesem Grunde steht Büchner den Superioritätsgesten, die die Literatur zwischen Balzac und Melville mit großem ästhetischen Gewinn kultivierte, und dem Anspruch auf Deutungskonkurrenz gegenüber den Wissenschaften ebenso distanziert gegenüber wie u. a. Grabbe und späterhin Flaubert. Sein Modell des Verhältnisses von Wissen und Literatur erweist sich – so werden die folgenden Seiten zu zeigen haben – als das einer Arbeitsteilung.200

. Aufbau der Arbeit Dem vorgestellten Modell wissensgeschichtlicher Kontextualisierung entsprechend werden in der nachfolgenden Studie zunächst die Bereiche des wissenschaftlichen Wissens Georg Büchners vorgestellt, und zwar in ihrer jeweiligen Systematik sowie in ihrer Verknüpfung zu anderen Wissensbereichen. Diese Rekonstruktionsarbeit muss unabhängig von den literarischen Texten des Naturforschers und Philosophiehistorikers erfolgen.201 Zu diesem Zweck wurde die Darstellungsreihenfolge der Wissensfelder Büchners ausdrücklich nicht nach einem genetischen, sondern nach einem systematischen Kriterium angelegt: Nach der Betrachtung der philosophischen und philosophiehistorischen Kompetenzen, die sachlich von ontologischen über epistemologische, geschichtsphilosophische, ethische bis hin zu ästhetischen Themen reichen, kommt Büchners naturphilosophisches und -wissenschaftliches Wissen in den Blick. Auch weil die Rekonstruktion beider wissenschaftlicher Reflexions- und Tätigkeitsfelder an ihnen selbst entwicklungsgeschichtlich und systematisch ausgerichtet ist, wird ersichtlich, dass Büchners Interesse an der zwischen empirischer und rationaler Epistemologie und Methodologie vermittelnden Naturforschung größer war als an der als Fundierungstheorie gleichwohl intensiv betriebenen Philosophie. Erst nach diesen Betrachtungen der Metaphysik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und Ästhetik, mithin der Felder der theoretischen Vernunft, erfolgt die analytische Darstellung von Büchners Überzeugungen im Bereich der praktischen Vernunft, d. h. seines politischen Wissens. Dabei erweist sich dieses Kapitel, in dessen Zentrum eine wissensgeschichtliche Interpretation des Hessischen Landboten steht, in seiner vermittelnden Stellung zwischen Wissenschaft und Literatur als fruchtbar, weil sich Büchners ›Politik‹ nicht allein als szientifisches Wissen, sondern auch als Erfahrungswissen ausweisen lässt.202 Es muss in diesem Wissensfeld eine Unterscheidung und Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft sowie zwischen dem Wissens der praktischen Vernunft und seiner Pragmatik in der empi 200 So schon die allerdings weder ausgeführten noch aufgenommenen Hinweise von Ingrid Oesterle 1995, S. 65. 201 Vgl. hierzu Stiening 2006 sowie Breidbach 2006, S. 312ff. 202 Zu diesen Distinktion vgl. schon Stiening 2012 und Stiening 2016.

Aufbau der Arbeit  

rischen Wirklichkeit beachtet werden, die in der Spannung zwischen ihrer unverfügbaren Kontingenz und einer prätendierten Ordnung durch das denkende und handelnde Subjekt auch in Büchners Literatur Gestalt findet. Nirgends deutlicher als in diesem Kapitel zu Büchners politischer Theorie und zum Hessischen Landboten wird sich zudem die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit zu einer methodisch geregelten Ergänzung der Wissens- durch eine Sozialgeschichte der Literatur ausweisen lassen. Im Anschluss und auf der Grundlage einer möglichst umfassenden Rekonstruktion und Kontextualisierung von Büchners vielfältigem Wissen werden seine literarischen Texte, deren kulturgeschichtlich weitaus bedeutendere Stellung unbestritten ist, betrachtet werden. In diesem zweiten, literaturwissenschaftlichen Teil der Untersuchung kann und muss die Anordnung der Interpretation der vier poetischen Werke und Fragmente zeitlich erfolgen, weil Büchner in seiner Literatur jeweils Momente aller seiner Wissensfelder gestaltete, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die der Genese seiner wissenschaftlichen und politischen Entwicklung korrespondieren. So wird sich das in Dantonʼs Tod gestaltete Verhältnis zwischen herrschafts- und kulturpolitischen Fragen, d. h. die Bedeutung der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre im Hinblick auf deren moraltheoretische Fundierung sowie deren Verhältnis zur omnipräsenten Sprache der Erotik,203 auf der Grundlage der in Kapitel 4 geleisteten Distinktion im politischen Wissen deutlicher aufzeigen lassen. Erst vor diesem Hintergrund kann in die Debatte um die Stellung des Dramas zu Büchners politischen Reflexionen auf die Möglichkeiten und Ziele einer politischen Revolution in den 1830er Jahren eingegriffen werden; vor allem aber werden die schon für Paul Landau enigmatischen Diskussionen zu philosophischen Fragen,204 wie dem Atheismus und der Unsterblichkeit der Seele, in das poetische Ganze des Dramas loziert werden können. Insbesondere das so genannte Philosophengespräch (III.1) kann aus seinem in der Forschung festgefügten Status als humoristische Reflexionseinlage befreit werden. Als besonders ertragreich wird sich die wissensgeschichtliche Perspektive der folgenden Untersuchung im Zusammenhang der Interpretation der Erzählung Lenz erweisen. Es wird sich nämlich zeigen, dass alle Versuche einer Politisierung der Erzählung im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einer bürgerlichen oder religiösen Ideologie an der Zurückhaltung des Autors in Bezug auf ätiologische Spekulationen über die psychische Erkrankung abprallen. Vielmehr kann die konstitutive Stellung des Gesprächs zwischen Lenz und Oberlin über Magnetismus und Naturphilosophie sowie die daran anknüpfende Kontroverse mit Kaufmann über Fragen der Kunst für den Gehalt der gesamten Erzählung nachgewiesen werden. Die Nähe des lenzschen Wissens zu Büchners eigener Naturphilosophie und Epistemo 203 Vgl. hierzu u .a. Horten 1988, S. 290–306 sowie Martin 2007, S. 156ff. 204 Landau 31973 [EA 1909], S. 16.

  Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft logie sowie deren wissenschaftsgeschichtlichen Kontexten wird eine gegenüber der bisherigen Forschung grundlegend neue Interpretation der Erzählung ermöglichen. Auch zu einer Interpretation der Komödie Leonce und Lena kann eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung neue Erkenntnisse beitragen, und dies nicht allein durch eine genaue Kommentierung der zumeist sarkastischen Anspielungen auf allgemeine zeitgenössische Philosopheme, sondern auch im Hinblick auf besondere anthropologische Themenfelder, wie die Liebe oder die Langeweile, die Büchner poetisch gestaltet. Insbesondere eine Betrachtung der so genannten Schlussvision wird durch die wissensgeschichtliche Perspektive zu neuen Überlegungen führen.205 Letztlich werden die in der Forschung schon geleisteten wissenschaftsgeschichtlichen Interpretationszugänge zum Woyzeck systematisiert und in ihrer kategorialen Konstruktion begrenzt werden können.206 Die Thesen von einer grundlegenden Kritik aller (Natur-)Wissenschaft, die im Woyzeck als Repressionsinstrument einer bürgerlichen207 oder ratiozentrierten208 Ideologie gestaltet sei, wird einer differenzierten Perspektive auf Büchners Dramenfragment weichen, dessen Autor zwischen einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und einer ethischen oder soziopolitischen Perspektive auf deren Stellung innerhalb der Gesellschaft wohl unterscheiden konnte. Insgesamt wird die wissensgeschichtliche Kontextualisierung der literarischen Texte Georg Büchners neue Akzente zu setzen versuchen, ohne die bisherigen Erkenntnisse der Forschung zu ignorieren. Es wird sich zeigen, dass die gewählte Methodik die Vorstellungen über Form und Gehalte der Literatur Büchners in unterschiedlichem Maße verändern kann und eben dadurch einen Anschluss an die bisherige Forschung und ihre Geschichte leisten wird.

 205 Vgl. hierzu insbesondere Dedner 1990 sowie Beise 2002, Beise 2005–08 und Beise 2009. 206 Vgl. hierzu in anschlussfähigen Ansätzen bei Roth 1990–94 sowie Roth 1995–99. 207 Vgl. hierzu insbesondere die bahnbrechenden Arbeiten von Glück 1984, Glück 1984a, Glück 1985, Glück 1985a, Glück 1990a und Glück 1990b. 208 Vgl. Ludwig 1998 oder Pethes 2006.

2 Philosophie und Philosophiegeschichte Die Bedeutung der Philosophie sowie ihrer wissenschaftlichen und institutionellen Entwicklung während der 1830er Jahre1 für die intellektuelle Biographie Georg Büchners gehört zu den unübersichtlichsten Feldern der Forschung. Der geringe Bearbeitungsstand dieses Themas ist nur zu einem Teil darin begründet, dass Büchners umfangreiche Vorlesungsskripte zur Philosophie Descartes’ und Spinozas sowie seine Exzerpte zur griechischen Philosophie erst im Jahre 1971 vollständig von Werner R. Lehmann publiziert wurden,2 nachdem schon eine lange Rezeptions-, Analyse- und Interpretationstradition der Dichtungen ausgebildet worden war, an die vielfach noch in den 1970er und 1980er Jahren angeknüpft wurde, ohne die neue textliche Grundlage zu berücksichtigen. Auch die neueren und umfassenderen Editionen der Texte durch Henri Poschmann und die MBA hat an der Tatsache, dass Büchners philosophiehistorische Interpretationen nicht gelesen oder tatsächlich interpretiert werden, nichts geändert.3 Ein weit gewichtigerer Grund für die Unklarheit über bzw. die Unkenntnis4 von Gehalt, Kontext sowie wissenschafts- und literarhistorischer Bedeutung dieser Vor-

|| 1 Vgl. hierzu den Überblick bei Gedö 1995 sowie Schneider 1999, S. 151–246. 2 HA II, S. 137–409; zur vorhergehenden wechselvollen Editionsgeschichte dieser Texte vgl. Osawa 1999, S. 26f. oder auch MBA IX.2, S. 196–198. 3 Bodo Morawe hat die Ignoranz der Forschung gegenüber einer detaillierten Textanalyse und -interpretation der büchnerschen Vorlesungsskripten eindrucksvoll bestätigt. Im Furor eines Modernitätsnachweises der Philosophie Spinozas, deren Immanenzgedanke den Materialismus des 18. Jahrhunderts und via Hegel, Heine, Feuerbach, Nietzsche und Freud die Moderne konstituiert habe, wird eine genauere Lektüre und angemessene historiographische Kontextualisierung Büchners (und Spinozas) bewusst vermieden. Dass Büchner allerdings gegen Spinozas rationalen Gottesbegriff und deren Beweise argumentativ angeht, weil es ihm um eine Widerlegung der Geltungsmöglichkeit eines jeglichen Gottes- und Vollkommenheitsbegriffs zu tun ist, Büchner also insgesamt gegen Spinoza argumentiert, kann den normativ überlagerten Ausführungen Morawes gleichgültig sein; mit Büchners Texten und deren Kontexten haben seine weltanschaulichen Insinuationen, die sich ausdrücklich auf die Ideologeme des Poststrukturalismus berufen (vgl. Morawe 2014b, S. 518), wenig zu tun; vgl. Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012b, S. 12ff. oder auch Morawe 2013, S. 129– 180. Zu einer ausführlichen Kritik des analogen Heinebildes bei Morawe vgl. Deinet 2007, S. 64f. 4 Zu Recht spricht Henri Poschmann davon, dass die »philosophiegeschichtlichen Schriften […] der Leserschaft und ihr voran der Büchner-Forschung ein Buch mit sieben Siegeln geblieben« sind (P II, S. 925); vgl. auch Vietta 1992, S. 133: »Angesichts der Bedeutung dieses Philosophiestudiums für Büchner ist dessen Vernachlässigung in der Büchner-Forschung bemerkenswert.« Die einführungsartigen Ausführungen von Röcken 2009, Beise 2010, S. 79–89, dessen Darstellungsversuch aufgrund seiner Unkenntnis der Metaphysik des 17. Jahrhundert besonders fehlerhaft ausfällt, oder Hofmann u. Kanning 2013, S. 61–65 haben daran nichts geändert. Andere Einführungen (Neuhuber https://doi.org/10.1515/9783050093215-002

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lesungsskripte liegt zum einen in den Perspektivverengungen des politischen bzw. polithistorischen Paradigmas, das die Büchner-Forschung seit den 1970er Jahren prägte.5 Aus dieser Perspektive, die eine systematische Geschlossenheit der Positionen Büchners mehr voraussetzte als begründete,6 wurde aus dessen politischer Position ein allgemeiner, d. h. naturtheoretischer, epistemologischer und soziohistorischer Materialismus ›abgeleitet‹.7 Auf eine Berücksichtigung der begründungstheoretischen und systematischen Differenzen dieser Materialismen im 18. und 19. Jahrhundert wurde und wird allerdings weitgehend verzichtet.8 Diese – gegen alle internen Unterscheidungen und Unterschiede – grundlegende Prämisse des polithistorischen Forschungs-Paradigmas, nach der Büchner sowohl theoretisch als auch praktisch »an der Schwelle zum historischen Materialismus«9 gedacht, geschrieben und gehandelt habe, führt aber in philosophischer Hinsicht noch im Jahre 2000 zu folgenden, die Sachlage verstellenden Thesen: Büchners äußerste philosophische Position, die in Danton’s Tod bereits aufscheint und in der Probevorlesung umrissen wird, läßt sich zwischen Relikten des spinozistischen Pantheismus, Feuerbachs späterem Materialismus und der Ideologiekritik des jungen Marx der Ökonomischphilosophischen Manuskripte lokalisieren.10

Diese in allen Punkten unhaltbare Behauptung wiederholt sich bei Jan-Christoph Hauschild, dem lange Zeit maßgeblichen Büchner-Biographen, im Hinblick auf eine Beurteilung der philosophischen Skripte Büchners noch im Jahre 2004 in der folgenden Weise: Während Büchner in der Darstellung von Descartes’ philosophischen Prinzipien »nirgends eigentlich über die Selbstverständigung oder lehrhafte Wiedergabe« hinausgeht, bewegt er sich in seinen Spinoza-Studien nach Ansicht von Silvio Vietta »methodologisch auf der Höhe der

|| 2009) oder gar Textausgaben (SWB) befassen sich mit diesen philosophischen Texten Büchners erneut gar nicht. 5 Vgl. hierzu Wetzel 1981; Schmitz 2000. 6 Vgl. schon Hans Mayer 1972 [EA 1946], S. 22ff. oder auch Döhner 1967, S. 14f. und Müller-Seidel 1968, S. 209; vor allem Mayer 1979a, aber auch schon Jancke 31979 oder später Poschmann 21985 und Wender 1985; noch Hauschild 1993 und die Bände der MBA sind diesem Forschungsparadigma zuzuordnen. Auch wenn sich die genaue Kontur der Thesen zu einer in sich geschlossenen Konzeption des 23-jährigen Büchner bei den Interpreten nicht unerheblich unterscheidet, soll Büchner doch – so die übereinstimmende Prämisse – ausgehend von seinen politischen Vorstellungen alle weiteren Denk- und Handlungsbereiche abgeleitet und daher aus einem einheitlichen System heraus gedacht und gehandelt haben. Kritisch dazu schon Bittner 2010; differenzierter Fortmann 2013. 7 So in der weithin prägenden Arbeit von Mayer 1979a, S. 73ff. 8 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Gregory 1977, S. 13–28 u. S. 51ff.; Jaeschke 2000, S. 25ff.; vor allem aber der das Feld materialistischer Argumentationssysteme im 19. Jahrhundert systematisch ordnende Beitrag von Bayertz 2007, S. 54ff. 9 Mayer 1979a, S. 134; zur Kritik an dieser polithistorischen Zuweisung vgl. schon Proß 1980, S. 172. 10 Knapp 32000, S. 32f.

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Philosophiegeschichtsschreibung seiner Zeit« und weist in seiner Kritik sogar deutlich darüber hinaus. Hans Mayer zufolge nimmt Büchner inhaltlich die Spinoza-Wertung Ludwig Feuerbachs aus den frühen 1840er Jahren vorweg. […] Für den Philosophen Büchner gilt, daß er »von der Forschung« erst »noch zu entdecken« ist.11

Auch diese Urteile sind je einzeln und in ihrem systematischen Zusammenhang schlicht falsch und das nicht nur, weil Hauschild sich auf zwei weitgehend veraltete Studien aus den Jahren 1972 und 1987 bezieht,12 sondern weil er dem philosophiehistoriographischen Kontext, in den die Vorlesungsskripte Büchners zu lozieren sind,13 offensichtlich keine Beachtung schenkt.14 Dieser Kontext aber wird in der Folge ausführlich zu betrachten sein; er wird zeigen, dass Büchner weder methodologisch – was nun überhaupt nicht zutrifft, weil der junge Dozent der Philosophiegeschichte keine Reflexionen auf seine Methode anstellt, und einzig dies ist in der Zeit ungewöhnlich15 – noch methodisch die Höhe der Philosophiegeschichtsschreibung seiner Zeit erklommen hatte, sondern hinter den in den 1830er Jahren stattfindenden Professionalisierungstendenzen, die u. a. durch Hegel, Erdmann, Schelling oder Feuerbach markiert wurden, durchaus zurückbleibt. Büchners Leistungen als Philosophiehistoriker sind also erst noch zu entdecken und zu überprüfen. Allerdings wird diese Prüfung in jüngster Zeit zum anderen von der Annahme versperrt, der Autor sei systematischer Philosoph gewesen.16 Trotz erheblicher Kenntnisse und Interessen war Büchner ein solcher Systematiker nicht, als Philosoph kann er daher sicher nicht entdeckt werden.17 Hierzu fehlt es vor allem an Dokumenten, in denen Büchner eine systematische Position differenziert und rekonstruierbar entfaltet. Beide Befunde bedeuten umgekehrt aber nicht, dass man die zeitlebens intensive Auseinandersetzung Büchners mit der Philosophie und ihrer Geschichte in der Weise ignorieren dürfte, wie es in der Forschung seit den

|| 11 Hauschild 22004, S. 127f.; vgl. weitgehend wort-, in jedem Falle aber sachlich identisch schon Hauschild 1993, S. 525–528 sowie Hauschild 2013, S. 226f.; zur angeblichen FeuerbachVorwegnahme vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 364; Vietta 1979, S. 424f.; Kahl 1982, S. 115ff., spez. S. 119; Taylor 1995, S. 60. 12 Nämlich auf Hans Mayer 1972, S. 348–365 sowie ein unpubliziertes Manuskript von Silvio Vietta aus dem Jahre 1987. 13 Vgl. auch Röcken 2009, S. 136f. 14 Vgl. noch Hauschild 2013, S. 223–227. 15 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968 sowie Stiening 2005. 16 So u. a. MBA IX.2, S. 169, oder Beise 2010, S. 79–89; besonders aufdringlich, weil von einer weitgehenden Unkenntnis der Philosophie Spinozas ebenso wie Büchners geschlagen: Morawe 2013, S. 129–180; zur Kritik an diesen grundlegend verfehlten Perspektiven schon Stiening 2002, S. 47 sowie Stiening 2012a, S. 168. 17 Vgl. auch Stiening 2012a, Stiening 2013a sowie Stiening 2013b.

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späten 1970er Jahren zu verzeichnen war und noch die jüngsten Ausgaben, Werkmonographien und Biographien charakterisiert.18 Eine unverstellte Betrachtung der büchnerschen Rezeption der Philosophie kann indes herausarbeiten, dass Georg Büchner seit der Schulzeit19 neben der seit 1831 qualitativ und quantitativ bedeutenderen naturwissenschaftlichen Ausbildung seine philosophischen und philosophiehistorischen Kenntnisse kontinuierlich erweiterte. Ab dem Sommer 1836 nahmen diese Kenntnisse Dimensionen an, die in die professionalisierte Form einer Vorlesungsvorbereitung übergehen konnten. Offenbar aufgrund einer Anfrage der Züricher philosophischen Fakultät im Frühsommer 1836 sah sich Büchner genötigt, aber auch in der Lage, Vorlesungen über die »philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza«20 vorzubereiten, was eine schon länger währende Kompetenz voraussetzt. Um das Spektrum des philosophischen Wissens Büchners sowie dessen Entwicklungsgang zu erfassen, ist es zunächst erforderlich, den gesamten Zeitraum zwischen 1830/31 und seinem frühen Tod, im Februar 1837, zu überblicken. Erst auf dieser Grundlage können die philosophiehistorischen Vorlesungen angemessen analysiert, kontextualisiert und interpretiert werden. Dabei lassen sich folgende Phasen und Schwerpunkte der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie und ihrer Geschichte ausmachen:21

2.1 Stationen der büchnerschen Philosophiestudien 2.1.1 Schulzeit bis 1831: Fichte und andere Idealisten Schon während der Schulzeit befasste sich Büchner mit der Philosophie, auch wurde er mit ihr im Latein- und Griechisch-, aber auch im Religions-Unterricht konfrontiert.22 Dabei ist für die nachfolgende Darstellung von erheblicher Bedeutung, dass diese Beschäftigung mit stoischer und epikureischer Philosophie gerade nicht in einem philosophischen Unterricht und somit nicht unter philosophiegeschichtlicher Perspektiven stattfand, sondern – neben den primär philologischen – unter philosophisch-systematischen Gesichtspunkten. Dass Büchners zu diesem Zeitpunkt

|| 18 Vgl. die sachlich völlig haltlosen Hinweise bei Hofmann u. Kanning 2013, S. 61–65 sowie Kurzke 2013, S. 359–366. Charakteristisch für diese verkürzte Sicht auf Büchner ist auch die sogenannte Werkausgabe von Martin (SWB), die auf den Abdruck der Dissertation sowie der philosophischen Skripten verzichtet. 19 Vgl. auch P II, S. 924; Röcken 2009, S. 130f. sowie MBA IX.2, S. 170–173. 20 P II, S. 44816f./MBA X.1, S. 10216f.. 21 Vgl. auch die kursorische und unvollständige Liste »biographische[r] Informationen« zu Büchners Beschäftigung mit Philosophie bei Mayer 1995–99a, S. 308f. sowie MBA IX.2, S. 170ff. 22 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 526; Lehmann 2005, S. 14ff.

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erworbene Kenntnisse nicht auf der Ebene äußerlichen Schulwissens verblieben, ist gut dokumentiert: Noch Jahrzehnte später erinnerten sich zwei seiner Schulfreunde übereinstimmend an eine deutliche, wenngleich nicht unkritische Affinität ihres Mitschülers zur Philosophie. So schreibt Friedrich Zimmermann im Jahre 1877 in einem Brief an Emil Franzos, dass Büchner sich »frühzeitig« – und Zimmermann berichtet über die Jahre 1829 bis 1831 – »auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme« geworfen habe.23 Auch Ludwig Wilhelm Luck erinnert sich lebhaft daran, dass Büchner »allezeit gradaus auf das los[ging], was er als das Wesen und den Kern der Dinge erkannte, auch in der Wissenschaft, besonders in der Philosophie«.24 Dabei bezieht Büchner offenbar stets kritisch Position; vor allem gießt er seinen »Hohn über Taschenspielerkünste Hegelscher Dialektik und Begriffsformulationen« aus,25 was eine mehr als äußerliche Kenntnis dieser Theoreme immerhin voraussetzt. Namentlich Zimmermann stellt mehrfach einen »inneren Zusammenhang«26 zwischen Büchners philosophischer Beschäftigung mit seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung her: Ich bin davon überzeugt, daß mein unvergeßlicher Jugendfreund und commilito in literis mehr zum Philosophen als zum Dichter geboren war; auch den Beruf zum bedeutenden Naturforscher scheint er mir schon damals entschieden angekündigt zu haben.27

Auch wenn die hier zitierten Dokumente mit großer Vorsicht zu behandeln sind, weil sie aus einem Abstand von 50 Jahren über Ereignisse aus der eigenen Schulzeit berichten,28 wird doch ersichtlich, dass Büchner ein deutliches Interesse an der Philosophie hatte und dies auch über den Schulalltag hinaus zu verwirklichen suchte. Unbestreitbar ist auch, dass die im letzten Zitat aufgerufenen Naturwissenschaften schon früh das gewichtigere Interesse Büchners ausmachten – ein Tatbestand, der in den 1820er und noch in den 1830er Jahren keineswegs eine Abkehr von der Philosophie bedeutete; deren differenzierte Kenntnis galt vielmehr als eine noch weitgehend unbestrittene Bedingung der Möglichkeit von Naturforschung.29

|| 23 Zitiert nach MA, S. 371, vgl. auch Friedrich Zimmermann: Georg Büchner: »Frühzeitig erwachte sein philosophischer Geist, der ihn alsbald auf den Weg des Zweifels, ja des Unglaubens führte.« Zitiert nach Hauschild 1985a, S. 333. 24 Zitiert nach MA, S. 374. 25 Ebd. 26 MA, S. 371. 27 Ebd., S. 372. 28 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 755. 29 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 7ff.; von Engelhardt 1997; Mischer 1997, S. 165ff.; Jahn (Hg.) 3 2004, S. 275–355; Richards 2002, S. 207–321; Breidbach 2006, S. 175ff. u. S. 211–222; Grindl (Hg.) 2015 sowie Danz (Hg.) 2017; dass auch Büchners empirische Studien auf der Grundlage einer naturphilosophischen Fundierung erfolgten, wussten noch Viёtor 1949, S. 247; Golz 1964 und Sengle

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Am deutlichsten zeigt sich Büchners nachhaltiges Interesse an zeitgenössischer Philosophie und sein Wille sowie seine Befähigung, deren Erkenntnisse als systematische anzuerkennen und anzuwenden, in einer seiner überlieferten Schülerschriften, der Rezension eines Mitschülertextes, die in den einschlägigen Ausgaben mit dem Herausgebertitel Über den Selbstmord versehen wird.30 In diesem Text, der formal als Rezension des Aufsatzes eines Mitschülers, material als Stellungnahme zur zeitgenössischen »ethisch-literarischen Suiziddebatte«31 zu bestimmen ist und dessen didaktisches Telos als Übung der rhetorischen Kompetenzen des Schülers richtig herausgearbeitet wurde,32 bemüht sich Büchner um die Widerlegung sowohl der religiösen als auch der moralischen Argumente, die den Selbstmord verurteilen bzw. negativ bewerten. Büchner ruft hierbei pragmatisch-anthropologische,33 moralund naturphilosophische Argumente auf, um die selbstmordkritische Haltung des rezensierten Textes zu widerlegen. So behauptet er gegen die christliche Verwerfung des Suizides, die zugleich den Tod des Cato legitimiert und diesen Widerspruch mit der These, Catos Tod sei subjektiv gerechtfertigt, objektiv aber nicht legitimierbar, zu vermitteln sucht, eine Nicht-Relativierbarkeit moralischer Urteile: Was sittlich ist, muß von jedem Standpunkte, von jeder Lehre aus betrachtet sittlich bleiben.34

Das Zentrum der Argumentation Büchners, die keineswegs den Selbstmord für uneingeschränkt legitimierbar erklärt, sondern eine gemäßigt kritische Position einnimmt,35 besteht jedoch nicht in einer moral-, sondern in einer naturphilosophi-

|| 1971–1980, III, S. 278; danach erst wieder Schramm 1989; Reddick 1990; Stiening 1999; Roth 2004 und Hauschild 2013, S. 216f.; die noch immer festzustellende Distinktion zwischen Büchners empirischen Arbeiten und dem angeblich nur spekulativen Verfahren der Naturphilosophie (vgl. MBA IX.2, S. 255; Beise 2010, S. 92f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 62 oder auch Kurzke 2013, S. 350ff.) basiert mithin auf einer historisch und systematisch unangemessenen Unterscheidung. 30 Vgl. hierzu HA II, S. 19–23; P II, 38–43; MBA I, S. 104–141; zum Folgenden vgl. Schaub 1975, S. 31f.; Schaub 1981, S. 224–232; Hauschild 1993, S. 99–103; Knapp 32000, S. 9f.; Lehmann 2005, S. 166–182 sowie Lehmann 2009, S. 5f., die allerdings zu den philosophischen Grundlegungen des Textes keine Ausführungen macht. 31 Knapp 32000, S. 9; zu dieser Debatte vgl. u. a. Decher 1999, Busche 2004 sowie Marx 2001. 32 Schaub 1981, S. 226ff.; zur durchaus berechtigen Kritik an der von Schaub vorgetragenen ausschließlich rhetorisch Funktion dieses Textes vgl. Wagner 2000, S. 199. 33 Vgl. hierzu P II, S. 3912–24/MBA I.1, S. 1122–19: »Es liegt ganz in der Natur des Menschen, daß er einen, ihm unerträglich gewordnen Zustand mit einem andern, wenn auch noch so unsichern zu vertauschen sucht, es ereignet sich dieß täglich, und niemand nimmt einen Anstoß daran. […] Ich behaupte also, daß man in dieser Hinsicht keineswegs den Selbstmörder unklug nennen könne.« Hvhb. im Text. 34 P II, S. 4018–20/MBA I.1, S. 11910–12; Hvhb. im Text. 35 Vgl. Büchners anthropologisches, eindeutig kritisches Argument: »Ich möchte nämlich eigentlich behaupten, der Selbstmord handle gegen unsre Natur, denn in ihr liegt unsre Bestimmung. Man könnte also in dießer Hinsicht den Selbstmord eine der Natur widerstrebende oder unnatürliche

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schen Argumentation, die gegen eine theologische Annahme vom Diesseits als »Prüfungsland« angeführt wird: Die Erde wird nämlich hier ein Prüfungsland genannt; dießer Gedanke war mir immer sehr anstößig, denn ihm gemäß wird das Leben nur als Mittel betrachtet, ich glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sey, denn: Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck. Von dießem Gesichtspunkte aus kann man auch den einzigen fast allgemein gültigen Vorwurf dem Selbstmord machen, weil derselbe unserm Zwecke und somit der Natur widerspricht, indem er die von der Natur uns gegebene, unserm Zweck angemessne Form des Lebens vor der Zeit zerstört.36

Diese These, nach der das Leben (des Menschen) nicht als Mittel zu einem außer ihm liegenden Zweck bestimmt und so missbraucht werden darf, weil der Zweck des Lebens nur in ihm selbst zu finden, das Leben mithin Selbstzweck sei, und zwar weil es wesentlich als Entwicklung bestimmt werden müsse,37 gehört nun aber zu den wichtigsten Erkenntnissen und Beweiszielen des deutschen Idealismus.38 Büchners ›syllogistische Argumentation‹39 ist insofern nicht als »antiteleologisch« zu qualifizieren, wie es weite Teile der Forschung zu dieser Passage der Schülerschrift und ihrem Zusammenhang mit späteren Positionen Büchners annehmen,40 weil sie positiv mit einem Zweck-, d.h. mit einem ›Telos‹-Begriff arbeitet, der in der allererst von Kant entwickelten Form der ›inneren Zweckmäßigkeit‹ mit dem Begriff eines ›Zweckes seiner selbst‹ wesentlich argumentiert.41 Das Leben ist – so argumentiert Büchner – als Entwicklung Selbstzweck und daher nicht auf ein Mittel für einen außer ihm liegenden Zweck – sei er nun transzendent in Gott42 oder immanent im Vater-

|| Handlung nennen, jedoch in einem von dem schon angeführten, sehr schwachen Einwurf ganz verschiednen Sinne.« P II, S. 3929–35/MBA I.1, S. 1137–15. Hvhb. im Text. Insofern ist die aufgespreizte Interpretation Franks (1998, S. 584), nach der Büchner den Selbstmord als Radikalisierung des ethischen Grundprinzip des freien Willens bestimmt habe, erheblich zu modifizieren. 36 P II, S. 4122–33/MBA I.1, S. 12414–12712; Hvhb. im Text. 37 Vgl. hierzu in präziser Zusammenfassung Jancke 31979, S. 24; Janckes weitere Ableitungen (S. 24f.) zu einem Begriff der äußeren Freiheit als Zentrum dieses frühen Zweckbegriffs müssen aber als haltlose Assoziation bezeichnet werden, weil Janckes Kurzschließen des teleologischen mit einem praktischen Zweckbegriff unter systematischen und historischen Gesichtspunkten unzulänglich ist; ähnlich konfus zu dieser Passage Proß 1980, S. 171f. 38 Vgl. hierzu u. a. Düsing 31995. 39 Natürlich liegt bei Büchners Schlussformel nur ein unreiner Syllogismus deshalb vor, weil im Objektbegriff des Obersatzes die Form der Conclusio schon enthalten ist; dennoch bedient sich Büchner eindeutig der Form des Syllogismus, die ihm also schon zu diesem Zeitpunkt geläufig ist. 40 So Hans Mayer 1972, S. 45; Kahl 1982, S. 106; Horn 1982, S. 210; Hauschild 1993, S. 101; Glebke 1995, S. 105–108; Morawe 2013, S. 151f.; Graff 2017, S. 155. 41 Kant 1983, VIII, S. 477ff. (KdU, § 63ff.); zu dieser Tradition im Hinblick auf Büchners Naturphilosophie vgl. Stiening 1999, S. 104, im Anschluss daran Roth 2004, S. 248, S. 278 u. ö. 42 Gegen Wagner 2000, S. 201, die in einer philosophiehistorisch uninformierten, systematisch haltlosen Polemik behauptet, Büchner habe auch an dieser Stelle seiner Schülerschriften seine

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land43 – zu reduzieren. Die Büchner-Forschung hat als eine Quelle dieser Thesen die achte der fichteschen Reden an die deutsche Nation ausgemacht,44 wohl auch, weil dieser Text nachweislich schon für Büchners Reden über den »Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer«45 und über »Kato von Uttika«46 als Quelle diente. Nun heißt es bei Fichte zwar in der Tat: In der regelmäßigen Ordnung der Dinge hingegen soll das irdische Leben selber wahrhaftig Leben seyn, dessen man sich erfreuen, und das man […] dankbar genießen könne.47

Im hier ausgelassenen Nebensatz fügt der Redner aber hinzu: »freilich in Erwartung eines höheren« Lebens; Fichte fasst seine Auffassung des funktionalen Verhältnisses von irdischem und höherem Leben in der folgenden Vermittlungskonzeption zusammen: Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen des wechselnden Daseyns, hat für ihn [den edlen Menschen] ja ohnehin nie Werth gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden, aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation.48

Es ist aber genau dieses Leben, »bloß als Leben«, das für Büchner Zweck seiner selbst ist. Fichtes Vermittlung des Lebenszwecks an den Gedanken der Nation muss zweifelsohne als das Gegenteil von Büchners ›lebensphilosophischer‹ Konzeption

|| lebenslang aufrechterhaltenen religiösen Argumentationsmuster nicht abgelegt, muss festgehalten werden, dass dieser Beweis von der Selbstzweckhaftigkeit des Lebens ausdrücklich gegen theologische Thesen vom Diesseits als Prüfungsland, mithin gegen die Versuche der Vermittlung des menschlichen Lebens auf einen außer ihm liegenden Zweck, gerichtet ist. Der die Überzeugung des Autors betonende Hinweis, diese Annahme sei ihm »immer schon anstößig«, also theoretisch falsch und praktisch unmoralisch erschienen, macht diese Abwehr religiöser Postulate in bezug auf das menschliche Leben nachdrücklich und unabweisbar. Eine »religiöse Büchnerdeutung« (Wittkowski 1989 oder Kurzke 2013), in deren Tradition Wagner argumentiert, tut sich – so sie denn diskutierbar bleiben will – mit solcher Verstocktheit keinen Gefallen. 43 Unübersehbar macht Büchner zwischen der Cato-Rede vom September 1830 bis zur Rezension vom März 1831 eine Entwicklung dergestalt durch, dass er dort noch den Selbstmord Catos für »Vaterland und Freiheit« (P II, S. 3416) als legitim und durch dessen gesamten Charakter gut gerechtfertigt ansah, während die Rezension eine solche Verzweckung des Lebens für selbstwidersprüchlich erklärt und daher als unnatürlich verwirft. 44 Vgl. Lehmann 1963, S. 203f.; im Anschluss hieran Jancke 31979, S. 14ff.; Schaub 1975, S. 31f.; Wittkowski 1976, S. 354–360; Mayer 1985, S. 55; Knapp 32000, S. 10; Taniguchi 2000–04, S. 84ff.; Lehmann 2005, die (S. 166–182) die bisherige Forschung zusammenfassend auch die Quellen der Rezension nennt, äußert sich ausgerechnet zu dieser ebenso wichtigen wie umstrittenen Passage und ihrem Hintergrund mit keinem Wort; Fichtes Reden gelten ihr aber offenbar nicht mehr als eine Quelle für diesen Text (vgl. S. 166). 45 So schon Lehmann 1963, S. 197–220; P II, S. 766 sowie Lehmann 2005, S. 455. 46 Lehmann 2005, S. 126. 47 Fichte 1971, VII, S. 379, auf diese Passage bezieht sich Lehmann 1963, S. 204. 48 Fichte 1971, VII, S. 383; Hvhb. von mir.

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bezeichnet werden, was deutlicher noch an folgender Passage aus der fünften Rede Fichtes abzulesen ist: Der einzige Selbstzweck, ausser welchem es keinen andern geben kann, ist das geistige Leben.49

Büchner hatte demgegenüber jedes (menschliche) Leben – weil eine zur Entwicklung fähige Existenz – als Selbstzweck bezeichnet; deutlicher kann eine Differenz zu Fichte nicht ausfallen. So umfangreich die Übernahmen Büchners aus Fichtes Reden an die deutsche Nation insbesondere in die Rede über den »Helden-Tod« ausfallen, hinsichtlich des idealistischen Grundsatzes der Rezension, der Selbstzweckhaftigkeit des Lebens, kann Fichte als Quelle wie als systematischer Hintergrund nicht dienen. Es lohnt sich also in diesem Zusammenhang, den zeitgenössischen Kontext in umfassenderer Weise zu berücksichtigen, um Gehalt und Stellung dieses Theorems angemessener zu erfassen und damit die Bedeutung der Auf- und Übernahme durch Georg Büchner.50 Denn schon Kant hatte – und zwar im Zusammenhang der Frage nach der Berechtigung des Selbstmordes – in der zweiten Auflage seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft festgehalten: Denn man darf zwar auf die Gefahr des Verlustes seines Lebens etwas wagen oder auch den Tod von den Händen eines anderen erdulden, wenn man ihm nicht ausweichen kann, ohne einer unnachlaßlichen Pflicht untreu zu werden, aber nicht über sich und sein Leben als Mittel, zu welchem Zweck es auch sei, disponieren und so Urheber seines Todes werden.51

Im Hintergrund dieses Selbstmordverbots, das Kant in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten gegenüber dem Verbrechen der Selbstentleibung wiederholt,52 stand allerdings nicht die Prämisse vom Leben als Entwicklung, sondern die vom menschlichen Dasein als einer der praktischen Vernunft und der moralischen Gesinnung fähigen »Persönlichkeit«,53 als die »der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten [war]: nämlich, in Ansehung des Anspruchs, selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden.«54 Die kantische Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist mithin moralphilosophisch durch seine Befähigung zur inneren Freiheit und der daraus resultierenden Fähigkeit zur moralischen Gesinnung begründet. Diese sowohl in theologischer

|| 49 Ebd., S. 330. 50 Zum Folgenden vgl. auch Petersen 1973, S. 247ff. 51 Kant 1983, VII, S. 737. 52 Ebd., S. 554ff.; zu dieser kontextuellen Korrelation vgl. auch Graff 2017, S. 155f. 53 Kant 1983, VII, S. 555. 54 Kant 1983, IX, S. 91.

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als auch in ethischer und politischer Hinsicht weitreichende These zählt zum Kernbestand der kantischen Ethik. Bei Büchner hingegen geht es um das Prädikat der »Entwicklung«, die das Leben zu einem Zweck seiner selbst mache; verwies die argumentative Verbindung von Selbstzweckhaftigkeit des Leben mit der These von einer Widersprüchlichkeit des Selbstmordes, die Büchner vornimmt, auf Kant, so stellt die Betonung der Prozessualität als definiens des Lebens eine kontextuelle Verbindung u. a. zu Hegels Philosophie her, der Büchner laut Luck vor allem in Hohn und Spott zugetan gewesen sein soll.55 Schon 1817 hatte Hegel im ersten Teil der enzyklopädischen Logik geschrieben, dass das »Lebendige […] so der Prozeß seines Zusammenschließens mit sich selbst [sei], das sich durch drei Prozesse verläuft«;56 und im naturphilosophischen Teil der Enzyklopädie von 1830 hieß es im Zusatz zu § 337, der die organische Physik und damit den Begriff des Lebens entwickelt: [D]as Leben hat aber sein Anderes an ihm selbst, es ist eine abgerundete Totalität in sich, – oder es ist Selbstzweck. […] Schon Kant bestimmte das Lebendige als Zweck für sich selbst.57

Dem 17-jährigen Büchner dürften diese Passagen ebenso unbekannt gewesen sein wie die aus Feuerbachs 1830 anonym veröffentlichter Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in der der Begriff des Lebens mit dem der Veränderung bzw. der Geschichte systematisch verbunden58 und daher geschlossen wird: Was daher lebt, hat den Grund und das Prinzip seines Seins in sich selbst, nur das, was in sich selbst und aus sich selbst ist, hat Leben. Leben heißt nichts anderes als der Grund seiner selbst sein. Insichsein, Selbstsein ist doch wohl die augenfälligste, unleugbarste Bestimmung des Lebens.59

Unübersehbar – zwischen Grund und Zweck liegen die Welten der idealistischen Logik und Metaphysik60 – diente auch dieser Text Büchner nicht als direkte Vorlage seiner Argumentation.61 Im Hinblick auf die Stellung des »Kerngedanken[s] der

|| 55 Vgl. MA, S. 374. 56 Hegel 1986, IX, S. 374 (§ 217); vgl. hierzu Fleischhacker 2002. 57 Hegel 1986, IX, S. 339; vgl. hierzu Breidbach 1982, S. 347–356; Düsing 1986, S. 280ff.; Frigo 2002, S. 117f.; Stekeler-Weithofer 2004, S. 316–336. 58 Vgl. Feuerbach 1975, I, S. 170: »Was daher Geschichte ist oder hat, folglich das Prinzip selbst seiner Veränderung ist, das hat sein Leben nicht von außen, sondern von innen, aus und von sich selbst. Geschichte ist darum Leben, Leben Geschichte, ein Leben ohne Geschichte ist ein Leben ohne Leben.« 59 Ebd., S. 171. 60 Vgl. hierzu Hegel 1986, VI, S. 80–124 u. S. 436–461 sowie Wolff 1986. 61 Zu einer kontextuellen Verbindung dieser Feuerbach-Stelle mit Büchners Zweckverständnis vgl. schon Zons 1976, S. 64f.; Hinderer 1977, S. 28; Taylor 1994; zu diesem Text Feuerbachs als möglicher Quelle von Danton’s Tod siehe MBA III.4, S. 170.

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Rezension«62 ist diese quellenpositivistische Frage allerdings auch nebensächlich. Wichtig ist vielmehr, dass Büchner in seinem antitheologischen Einspruch gegen eine Ver-Mittlung des Lebens auf ein jenseitiges Telos hin genuin idealistische Argumente aufruft,63 die von Kant über Hegel bis Feuerbach »das Leben« des Menschen als Selbstzweck zu begründen versuchten.64 Welch philosophischsystematische, aber auch religions- und staatspolitische Wucht dieser Erkenntnis noch in den 1830er Jahren zukommt, zeigt ein kleiner Text Heinrich Heines aus dem Jahre 1833, in dem es gegen eine Instrumentalisierung der Gegenwart für eine bessere staatliche Zukunft heißt: Und in der Tat, wir fühlen uns wichtiger gestimmt, als daß wir uns nur als Mittel zu einem Zwecke betrachten möchten; es will mich überhaupt bedünken, als seien Zweck und Mittel nur konventionelle Begriffe, die der Mensch in die Natur und in die Geschichte hineingrübelt, von denen aber der Schöpfer nichts wußte, indem jedes Erschaffnis sich selbst bezweckt und jedes Ereignis sich selbst bedingt, und alles, wie die Welt selbst, um seiner selbst willen da ist und geschieht.65

Publiziert wurde diese Skizze übrigens erst im Jahre 186966 und sie illustriert – wie auch das Feuerbach-Zitat – anschaulich, dass in den 1830er Jahren eine intensive Debatte über die Selbstzweckhaftigkeit des menschlichen Lebens gegen die Vermittlungsinteressen theologischer oder politischer Konzepte bzw. Institutionen geführt wurde. Dabei verbleibt das Gros der Theoretiker – so auch der Schüler Georg Büchner – im Rahmen der Begriffs- und Kategorienbildung des deutschen Idealismus,67 auch wenn sich Heine mit seinem Postulat explizit gegen eine »idealische Staatsform«,68 mit der er offenbar die Schillers und Fichtes verband,69 richtet und auch Büchner eindeutig gegen Fichte argumentiert.70 Heine wird auf diesem Reflexionsweg eine naturrechtliche Richtung einschlagen,71 indem er das Leben zu einem »Recht« erklärt,72 während Büchner sein Postulat vom menschlichen Leben als Zweck zu einem allgemeinen naturphilosophischen Gesetz im Hinblick auf alle

|| 62 Knapp 32000, S. 10. 63 So auch Graff 2017, S. 155f. 64 Dass Schelling in diesem Zusammenhang nicht von Büchner aufgerufen wird, zeigt dessen naturphilosophischer Lebensbegriff, der die Kategorie der inneren Zweckmäßigkeit gerade nicht bemüht, vgl. hierzu Rang 1988; Mischer 1997, S. 198ff. sowie Richards 2002, S. 289ff. 65 Heine 1976, V, S. 22f. [Verschiedenartige Geschichtsauffassungen]. 66 Ebd., S. 717. 67 Vgl. hierzu Gedö 1995, S. 7ff. 68 Heine 1976, V, S. 22. 69 Vgl. Höhn 32004, S. 323–326. 70 Zur Fundierung der heineschen Geschichtskonzeption im Idealismus trotz idealismuskritischer Momente vgl. Liedtke 1999, S. 602ff. 71 Vgl. hierzu auch Klippel 1995, S. 270ff. sowie Klippel 1997. 72 Heine 1976, V, S. 23: »Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht.«

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Naturerscheinungen ausweiten wird: Noch in der Probevorlesung, einem seiner letzten Texte vom November 1836, hält der nunmehrige Privatdozent der Philosophie als naturphilosophische Prämisse seines naturwissenschaftlichen Arbeitens fest: Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da.73

Die Forschung hat den motivlichen und thematischen Zusammenhang der oben zitierten Passage aus der Schüler-Rezension und der hier aufgerufenen Passage aus der Probevorlesung häufig – wenn auch nur thetisch – festgestellt74 und sich dabei vor allem auf die in beiden Argumentationen gültige Kritik der Vorstellungen äußerer Zweckmäßigkeit bezogen – allerdings unter der unzureichenden Verallgemeinerung, Büchners Position sei durch eine grundsätzliche Teleologiekritik charakterisiert.75 Das ist – wie erwähnt – allein deshalb unzutreffend, weil in beiden Argumenten ein spezifisches Telos, nämlich der Selbstzweck als konstitutive Kategorie in Anspruch genommen wird.76 Neben der Gemeinsamkeit einer Kritik an der Konzeption äußerer Zweckmäßigkeit, die 1831 und 1836 anzutreffen ist, sind aber auch die bedeutenden sachlichen Differenzen beider Passagen festzuhalten: Büchner spricht 1830 über das (menschliche) Leben als Selbstzweck und einer daraus abzuleitenden Kritik sowohl am theologischen Verständnis des Lebens als Mittel für eine jenseitige Existenz als auch an einer Widersprüchlichkeit des Selbstmordes, mithin im Rahmen einer naturphilosophischen und pragmatischen Anthropologie in religionsphilosophischer Absicht; 1836 aber formuliert er ein allgemeines Naturgesetz in naturphilosophischer und -wissenschaftlicher Absicht, dessen Gültigkeit zudem keineswegs auf den Menschen eingeschränkt ist. Dass Büchner mit diesem Bestimmungsmoment seiner Naturphilosophie erneut bzw. immer noch im Kontext idealistischer Naturphilosophie argumentiert, hat die neuere Forschung zu Büch-

|| 73 MBA VIII, S. 15340–43. 74 Vgl. u. a. Hans Mayer 1972, S. 44f.; MA, S. 437; Hinderer 1977, S. 28f.; Jancke 31979, S. 68ff.; Knapp 32000, S. 10; Roth 2004, S. 253; MBA VIII, S. 543; Beise 2010, S. 86 oder Morawe 2013, S. 151f. 75 Zur These einer umfassenden Teleologiekritik bzw. einer »antiteleologischen« Position Büchners vgl. schon Viёtor 1949, S. 235; Hans Mayer 1972, S. 45; Horn 1982, S. 210; Kahl 1982, S. 104; Holmes 1990; Kubik 1991, S. 215–218; Glebke 1995, S. 105–108; MBA VII.2, S. 521f.; Borgards 2009, S. 128; Wittkowski 2009, S. 136f.; Beise 2010, S. 89; Morawe 2013, S. 151f.; Graff 2017, S. 155. 76 Zu Büchners – wenngleich bewusstloser – Inanspruchnahme der Kategorie ›innerer Zweckmäßigkeit‹ vgl. Stiening 1999, S. 104 sowie Stiening 2013a, S. 345; einzig Hans Mayer (1972, S. 348) hatte – ohne nähere Begründung sich selbst revidierend (vgl. ebd., S. 45) – im späteren Teil seiner Studie festgehalten: »Nur oberflächlichen Betrachtungen möchte sein Weltbild als völlig antiteleologisch erscheinen. In Wirklichkeit geht es stets um die Frage nach dem Telos in der Welt, und es ist nur eine unzulängliche, allzu simple, selbstgenügsame Teleologie, die er verlacht.«

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ners Naturwissenschaften überzeugend nachweisen können.77 Im Begriff und der Kategorie des Selbstzwecks – einmal des Menschen, einmal jeder Naturerscheinung – zeigt sich eine Prämisse des büchnerschen Denkens, die durch alle Wandlungen seiner politischen, philosophischen oder einzelwissenschaftlichen Kenntnisse und Überzeugungen hindurch konstant bleibt.78 Und es sei eigens darauf hingewiesen, dass diese Kostante eine philosophische Kategorie ist.79

2.1.2 Straßburg 1831–1833: Zwischen anatomischen Studien und »französischer Gewitterluft« Über eine Beschäftigung mit philosophischen Gegenständen während des ersten Straßburger Aufenthaltes zwischen 1831 und 1833 ist wenig überliefert. Sicher scheint nur, dass Büchner die elsässische Metropole auch deshalb als Studienort wählt, weil »an der dortigen Akademie die Verbindung naturwissenschaftlicher und philosophischer Disziplinen gelehrt wird«.80 Die Freundschaft mit dem Anatomiedozenten Ernst-Alexander Lauth,81 der als Vertreter naturphilosophischen Denkens in Straßburg galt,82 dürfte ebenfalls für einigen – in diesem Falle naturphilosophischen – Gesprächsstoff gesorgt haben. Dass Büchner philosophische Veranstaltungen in Straßburg besucht hätte, ist nicht überliefert. Es spricht auch wenig dafür, da

|| 77 Vgl. hierzu Osawa 1999, S. 147f., der Schellings Ableitungen zum Organismus aus der Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur im Zusammenhang mit Büchners Ausführungen zur Selbstzweckhaftigkeit zitiert, die allerdings – aufgrund der verwendeten Grund-Kategorie (vgl. Schelling 1985, I, S. 278ff.) – mehr auf Feuerbach als auf Büchner verweisen, sowie Döhner 1967, S. 172, Stiening 1999, S. 104f., Roth 2004, S. 248 u. S. 478 und Fortmann 2013, S. 42f., die – angemessener – auf Johannes Müllers Schrift Vom Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung aus dem Jahre 1824 als Quelle Büchners hinweisen, damit aber auf eine der Hegelschule zugehörige naturphilosophische Programmatik; zu Müllers Hegelianismus vgl. von Engelhardt 1992 sowie Breidbach 2005, S. 6f. 78 Zu Recht hält Thomas Michael Mayer fest: »Mit der Polemik gegen die christliche Eschatologie (Erde als ›Prüfungsland‹) und der Definition des Lebens als ›Zweck‹ seiner selbst verläßt Büchner endgültig die teilweise noch religiösen Argumentationsmuster der vorangegangenen Gedichte und Schülerarbeiten.« Mayer 1985, S. 55. 79 Vgl. auch Jancke 31979, S. 250: »Daß das Leben, das Dasein jedes Wesens Selbstzweck sei und seinen Wert in sich selber trägt, ist aber gerade Büchners tiefste Überzeugung.« Ähnlich Graff 2017, S. 156. 80 Knapp 32000, S. 11, vgl. schon Mayer 1979b, S. 365, Stiening 2002, S. 47f.; zur wissenschaftlichen Situation der Universität Straßburg in den 1830er Jahren vgl. Livet 1996, S. 182ff., S. 212f. u. S. 244ff. 81 Zu diesem engen Verhältnis zu Lauth vgl. Ludwig Büchner in: Dedner (Hg.) 1990, S. 108: »Unter seinen Straßburger Freunden nennen wir Lauth […].« Siehe auch Kurzke 2013, S. 326ff. u. ö. sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 3. 82 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 25f. u. S. 29ff. und die dort angegebene, allerdings spärliche Literatur sowie Beise 2010, S. 31ff. und Fortmann 2013, S. 42.

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an der Straßburger Akademie ausschließlich der vom Rationalismus zur Rechtgläubigkeit konvertierte katholische Religions- und Moralphilosoph Louis-Eugène-Marie Bautain lehrte,83 der zwar während Büchners erstem Aufenthalt84 durch seinen Streit mit dem Klerus große Aufmerksamkeit in Straßburg erregte, jedoch durch seine offenbarungstheologische Fundierung aller Rationalität und Wissenschaft wenig Interesse bei Büchner geweckt haben dürfte. Allerdings könnte Büchner erstmalig mit der Professionalisierung der Disziplin ›Philosophiegeschichte‹ konfrontiert worden sein, denn im Jahre 1831 beantragt die Universität – wenngleich erfolglos – die Finanzierung eines Lehrstuhls für die »Geschichte der Philosophie«.85 Tatsächlich erlebte die Philosophiegeschichte als akademische Disziplin seit den späten 1820er Jahren eine Blütezeit; zu verbinden ist diese Konjunktur insbesondere mit dem Namen Victor Cousins, dessen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die er ab 1828 in Paris abhält, vor »überfüllten Rängen« stattfinden.86 Mit einiger Wahrscheinlichkeit (mehr aber auch nicht)87 führte Büchner zudem philosophisch-theologische Streitgespräche mit seinem Freund Adolphe Stoeber, der – allerdings erst im April 1834 und damit fast ein Jahr nach Büchners Abreise aus Straßburg – seine Dissertation über das religionsphilosophische Thema einer Offenbarung Gottes in der Natur verteidigte. Überliefert sind vor allem politische Gespräche mit Stoeber und Diskussionen in der von ihm maßgeblich geführten Studentenverbindung Eugenia, in die Büchner als Gast aufgenommen worden war.88 Insgesamt beherrschten den ersten Straßburg-Aufenthalt jedoch seine naturwissenschaftlichen Studien89 sowie politische Aktivitäten und Reflexionen.90

|| 83 Vgl. Livet 1996, S. 212ff. sowie Kselmann 2006, S. 178f. 84 Vgl. Livet 1996, S. 213f. 85 Werner 1987, S. 120. 86 Vgl. das anschauliche Kapitel »Victor Cousin« in Schneider 1999, S. 180–212, Livet 1996, S. 212; sowie Vermeren 2007. 87 Vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 377; auf die als reine Spekulation zu bezeichnenden Thesen Mayers, dass Büchner »sicher [sic] mit Stoeber über die Arbeit gesprochen, wahrscheinlich [sic] auch ein Druckexemplar der ersten selbständigen Veröffentlichung seines Freundes erhalten haben dürfte [sic]« (keine der beiden an Kriterien des common sense über akademische Freundschaften ermittelten Behauptungen lässt sich empirisch belegen), baut Vollhardt 1988/89 Überlegungen über den Einfluss der stoeberschen Dissertation auf das Philosophengespräch in Danton’s Tod auf, die auch durch die unkritische Aufnahme in MBA III.4, S. 165ff. u. MBA IX.2, S. 184f. nicht besser belegt werden. 88 Vgl. hierzu Mayer 1986/87; Hauschild 1993, S. 185–192; Martin 2007, S. 37ff. sowie Kurzke 2013, S. 341ff. 89 Vgl. hierzu Hauschild 1985, S. 359–379; Roth 2004, S. 24–33; MBA VIII, S. 178–182; Beise 2010, S. 23f. 90 Vgl. dazu Mayer 1979b, S. 365–368; Hauschild 1993, S. 123–225; Knapp 32000, S. 11–17; Martin 2007, S. 31–56; Neuhuber 2009, S. 14f.; Beise 2010, S. 23f. Weil den weiteren Gang der Argumentation nicht berührend, sei hier nur anmerkungsweise auf die These von einem eingehenden Studium

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2.1.3 »Mit aller Gewalt« in die Philosophie: Darmstadt und Gießen von Juli 1833 bis September 1834 2.1.3.1 Wintersemester 1833/34: Hegel und Psychologie? Erst nach seiner Rückkehr nach Darmstadt und während seines Studienaufenthaltes in Gießen finden sich wieder Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit der Philosophie, und zwar in einem zuvor unbekannten Ausmaß. Im Dezember 1833, während einer krankheitsbedingten Unterbrechung seines Studiums, schreibt Büchner an seinen Freund August Stoeber: Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, die Kunstsprache ist abscheulich, ich meine für menschliche Dinge, müßte man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich

|| des französischen Materialismus während des ersten Straßburger Aufenthaltes Bezug genommen. Vgl. hierzu Mayer 1979a, S. 69–86, spez. S. 75ff.; Dedner 1985, S. 367ff. oder – um nur einige weitere Beispiele zu nennen – Schwann 1997, S. 122ff.; Osawa, 1999, S. 110; Taniguchi 2000–04, S. 86ff.; Teraoka 2006, S. 169; Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012, S. 12ff.; Morawe 2013, S. 166 und Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f., die nach über 30 Jahren der ungeprüften Nachbeterei diese Thesen Mayers ohne jeden Nachweis reproduzieren: »Ferner scheint es gesichert zu sein, dass er sich in dieser Phase mit der materialistischen und sensualistischen Literatur der französischen Enzyklopädisten eingehend beschäftigte.« Nichts liegt ferner (so auch MBA IX.2, S. 263); denn Mayers Beweisführung, die nicht nur eine »Intensität seiner Beschäftigung« (Mayer 1979a, S. 75) mit den Materialisten, sondern eine dadurch herbeigeführte materialistische Überzeugung Büchners insinuiert, beruht auf einem Zitat Büchners aus Beaumarchais’ Le Mariage de Figaro, der »indessen seine Beeinflussung vom französischen Materialismus nicht verleugnen« (ebd., S. 76) könne und auf einem angeblichen Quellennachweis der goetheschen Übersetzung von Diderots Essai sur la Peinture, die Büchner sowohl in Danton’s Tod als auch im Lenz an zentralen Stellen übernommen habe. Diese Beweisführungen legen aber weder eine materialistische Überzeugung Büchners noch eine intensive Lektüre des französischen Materialismus nahe, sondern schlicht die schon von Maurice Benn nachgewiesene büchnersche Kenntnis des beaumarchaisschen Dramas, in dem eher die Menschenwürde als eine materialistische Anthropologie gefeiert wird (vgl. Grimm 52006, S. 251f.), sowie sprachliche Übereinstimmungen zwischen Goethes Übersetzung und einigen Textstellen Büchners, deren gehaltliches Verhältnis jedoch einer weiteren Überprüfung bedarf. Die zentrale These Mayers, Büchner sei spätestens im Februar 1834 auf der »Höhe der Debatte« um eine materialistische Fundierung des Neobabouvismus angelangt (Mayer 1979a, S. 74, und um diese Nähe zum Neobabouvismus war es Mayer einzig zu tun), die am Beispiel des Briefes Büchners an seine Eltern vorgestellt wird, der eine spezifische Anthropologie zum Ausdruck bringt, ist – wie weiter unten zu zeigen sein wird – ebenfalls brüchig, weil diese Anthropologie keinesfalls notwendig mit materialistischen Begründungstheorien zu verknüpfen ist. Weil aber diese lückenhaften ›Beweise‹ Mayers nicht einmal eine gediegene Kenntnis Büchners in Bezug auf den französischen Materialismus nahelegen können (geschweige denn eine Überzeugungsübernahme; vgl. hierzu auch Eibl 1981, S. 418), kann auf eine Darstellung dieser Tradition im Rahmen der obigen Rekonstruktion der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie in Straßburg verzichtet werden.

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nicht, ich lache über meine Narrheit; und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als taube Nüsse zu knacken.91

Gegen vielerlei Spekulationen, Büchner habe zu diesem Zeitpunkt im Dezember 1833 an jenen Texten oder wenigstens Vorstufen gearbeitet,92 die dann im Sommer 1836 zu Vorlesungsskripten über Descartes und Spinoza bzw. zu jenen Exzerpten zur griechischen Philosophie ausgearbeitet wurden, hat schon Thomas Michael Mayer mit Recht festgehalten, dass die überlieferten Dokumente keinen Aufschluss darüber geben, mit welcherart Philosophie Büchner sich im Herbst 1833 beschäftigte: »Büchner kann sich zu dieser Zeit genauso gut mit Leibniz, Jacobi, Schelling oder Hegel beschäftigt habe. Wir wissen es nicht.«93 Ausschließlich abgrenzend scheint mir aus Büchners Formulierung ersichtlich zu werden, dass er sich nicht – wie dann ein Jahr später und vor allem im Sommer 1836 – mit Fragen der Philosophiegeschichte befasste, sondern mit systematischen Problemen.94 Dieser wichtige, jedoch von der zwischen Philosophie und Philosophiegeschichte nicht differenzierenden Forschung bislang übersehene Sachverhalt erschließt sich aus zwei Anhaltspunkten: Zum einen eröffnet die Kritik Büchners an der »Kunstsprache«, in der die Philosophie befangen sei, die Möglichkeit anzunehmen, dass er sich – angeregt womöglich durch seinen in dieser Hinsicht versierten Gießener Professor für Philosophie Joseph Hillebrand95 – mit der hegelschen Philosophie befasste, deren sprachliche Form selbst von den Schülern des einflussreichsten Philosophen der 1830er Jahre als zu überwindende »Kunstsprache« bezeichnet wurde. In seiner Vorrede zur zwei-

|| 91 P II, S. 37622–27/MBA X.1, S. 2920–24; zu einem Kommentar der eigentümlichen Rhetorik dieser Passage vgl. MBA VI, S. 167. 92 So die wenig überzeugenden Thesen von Hauschild 1993, S. 260 (übernommen von P II, S. 929) und wiederholt – trotz der in der Form ausfallenden, der Sache nach überzeugenden Kritik von Mayer 1995–99a, S. 307 – in Hauschild 22004, S. 126. 93 Mayer 1995–99a, S. 296, vgl. auch S. 307ff. u. S. 317f. 94 Anders Osawa 1999, S. 23, der – ohne einen Beleg dafür zu liefern – annimmt, Büchner beschäftige sich Ende 1833 mit Spinoza; die MBA IX.2, S. 175 tippt dagegen – ebenfalls ohne Beleg – auf Hillebrand. 95 Zu Hillebrand vgl. insbesondere Uhde-Bernays 1955, S. 283–395, spez. S. 289–314 sowie MBA IX.2, S. 175ff.; zu Hillebrands Kenntnis der und Beeinflussung durch die Philosophie Hegels vgl. Noack 1879, S. 384; Prantl 1880, S. 417 sowie Schreiber 1937, S. 10f.

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ten Auflage der hegelschen Rechtsphilosophie,96 die vom 29. Mai 1833 datiert, hält Hegels bedeutendster unmittelbarer Schüler, Eduard Gans,97 fest: Indem ich dem Publikum somit dieses Buch, mit der treuen Angabe, wie es entstanden ist, überreiche, bleibt mir nur noch übrig, von seinem künftigen Schicksal zu sprechen. […] Vielleicht wird es, wie das ganze System, nach vielen Jahren in die Vorstellung und das allgemeine Bewußtsein übergehen: seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, und seine Tiefen werden ein Gemeingut werden.98

Das Zitat zeigt, dass – wie für Büchner, so auch für Gans – in der Kritik an der ›abscheulichen Kunstsprache‹ der hegelschen Philosophie weder eine grundsätzliche Abwehr aller Philosophie überhaupt noch auch der hegelschen zum Ausdruck kommt, die von der Forschung seit Emil Franzos in Büchners hier ausgedrückte Haltung gerne projiziert wird.99 Im Gegenteil spielt Gans mit seinen Ausführungen auf die seit der Auseinandersetzung des frühen Idealismus mit der Philosophie Kants topische Unterscheidung zwischen »Geist und Buchstabe«100 einer Philosophie an, indem er dem kunstsprachlichen ›Buchstaben‹ der hegelschen Philosophie Kontingenz und Historizität zuschreibt im Gegensatz zum philosophischen Gehalt, dem tiefen ›Geist‹, der sich erhalten werde. Büchner kontrastiert in ähnlicher Weise die Kunstsprache der Philosophie ihrem Gehalt, der sich menschlicher Dinge widme, für die es eine angemessene Ausdrucksweise geben müsse. Von einer grundlegenden Verwerfung der Philosophie also keine Spur.101 Zum anderen weisen zwei weitere briefliche Dokumente darauf hin, dass Büchner sich auch in anderen thematischen Zusammenhängen philosophischer Kategorien bediente, und zwar zumeist anthropologischer. Diese Briefe zeigen aber auch, dass die Philosophie, in die er sich »mit aller Gewalt« stürzte, systematischer Natur

|| 96 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. von Eduard Gans. Berlin 1833; dass Büchner Kenntnisse in der hegelschen Rechtslehre besaß, dokumentierte schon die Erinnerung Lucks, der Büchners Hohn über die hegelsche Dialektik besondern betont hatte, wofür er sich aber eines Beispiels aus der Vorrede der Rechtsphilosophie bediente, nämlich »z. B. Alles, was wirklich, ist auch vernünftig, und was vernünftig, auch wirklich«. (MA, S. 374 und Hegel 1986, VII, S. 24). 97 Zu Gans vgl. Blänkner, Göhler u. Waszek 2002. 98 Eduard Gans: Vorwort zur 2. Ausgabe der Rechtsphilosophie (1833), in: Riedel 1975, S. 242–248, hier 248. 99 Vgl. hierzu u. a. Emil Franzos: Georg Büchner, in Dedner (Hg.) 1990, S. 172ff.; Oesterle 1983, S. 225ff.; Kuningk 1987, S. 277f. mit einer besonders absurden, weil systematisch und historisch unzutreffenden Anbindung an Gutzkows Systemverdikt; Glebke 1995, S. 33ff.; Osawa 1999, S. 9ff. sowie Beise 2013–2015, S. 93–101. 100 Vgl. hierzu schon Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (1794), in: Fichte 1971, VIII, S. 270–300. 101 So aber, mit Bezug auf dieses Zitat vom Herbst 1833, Horn 1982; ähnlich Kuningh 1987; vgl. dagegen schon Stiening 2005.

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gewesen sein muss, bzw. dass die Perspektive, aus der er historische Systeme betrachtete, nicht – wie später dann – die »Entwickelung der […] Philosophie«102 reflektierte. Diese anthropologische Argumentation erweist sich als systematische Grundlage sowohl im Zusammenhang seiner geschichtstheoretischen Reflexionen im so genannten ›Fatalismusbrief‹ als auch in einer Passage aus einem Legitimationsbrief an die Eltern, die Momente einer bestimmten Sozialanthropologie ausführt. Beide Briefe, die in ihren anthropologischen Thesen eine systematische Einheit ausbilden,103 entstanden in den ersten Wochen des Jahres 1834 in Gießen. Im ersten Brief, in dem Büchner bekanntermaßen aus dem Studium der Geschichte der Revolutionen einen »gräßlichen Fatalismus« ableitet,104 heißt es, das geschichtsphilosophische Urteil begründend: »Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt.«105 Einige Wochen darauf heißt es in erneut anthropologischer Argumentation: Ich verachte Niemanden, am wenigstens wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen. Der Verstand nun gar ist nur eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben.106

In anthropologischer Hinsicht besagen beide Passagen durchaus das Gleiche107: Der Mensch ist hinsichtlich seiner natürlichen Grundausstattung mit einer ahistorischen Unveränderlichkeit – »Gleichheit« – ausgestattete, die vor allem darin besteht, durch äußere Bedingungsfaktoren konstituiert zu sein, welche zunächst ausschließlich als Gewaltverhältnisse bestimmt werden. In der eher moralischen Argumentation des zweiten Briefes, in dem er sich gegen den Vorwurf des intellektuellen Elitarismus zur Wehr zu setzen hat, behauptet Büchner, dass der Mensch im Hinblick auf seine theoretischen Verstandes- und Bildungsleistungen, aber auch seine moralisch-rechtlichen Handlungen grundlegend durch äußere Bedingungsfaktoren bestimmt würde, auch wenn er hinzufügt, dass die Verstandesleistungen, deren äußere Form die Bildung ausmache, nicht eben die höchste »Seite« des menschlichen Geistes ausmachten; ob die Determinanten der hier nur mittelbar angesprochenen höheren Formen des »geistigen Wesens« auch »außer uns« liegen, wird allerdings

|| 102 P II, S. 43919 f./MBA X.1, S. 931. 103 Vgl. hierzu schon Jancke 31979, S. 126ff. 104 Dieser sogenannte ›Fatalismusbrief‹ wird aufgrund seiner sachlichen Bedeutung für Büchners politische Theorie und Praxis im Kapitel 4 Büchners politisches Wissen eingehender analysiert und interpretiert. 105 P II, S. 37721–23/MBA X.1, S. 3030f.; Hvhb. von mir. 106 P II, S. 37824–30/MBA X.1, S. 3219–25. 107 Zum Zusammenhang beider Briefe vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 101ff.; Jancke 31979, S. 126ff.

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nicht ausgeführt – denkbar ist vor dem Hintergrund der abgrenzenden Äußerungen auch eine andere Konzeption, nach der die höheren Formen eines »heiligen Geistes im Menschen«108 einer Spontaneität der Begriffe bzw. der Autonomie der praktischen Vernunft entstammen.109 Ungeachtet der letzten These Büchners, die ein konstitutives Element der Argumentation ausmacht, hat die Forschung seit den 1970er Jahren – in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Viëtor110 – in diesen Passagen entweder eine – wenngleich noch abstrakte – Vorwegnahme der marxschen Feuerbachthesen gesehen111 oder aber eine »unabweisbar[e]« Fundierung im französischen Materialismus.112 Nun ist unbestreitbar, dass der Materialismus des 18. Jahrhunderts eine Anthropologie ausbildete, die den klimatischen, geographischen,113 vor allem aber den biologischen Bedingungsfaktoren114 menschlicher Existenz bestimmende, ja determinierende115 Ursächlichkeit für das als unabhängigen Geist nur illusionär wahrgenommene Bewusstsein zugeschrieben hatte. So führt d’Holbach im Système de la Nature aus: Exiger d’un homme qu’il pense comme nous, c’est exiger qu’il soit organisé comme nous; qu’il ait été modifié comme nous dans tous les instans de sa durée; qu’il ait reçu le même tempérament, la même nourriture, la même éducation; en un mot, c’est exiger qu’il soit nous-même, [… ]. Ses opinions ne sont-elles pas des suites nécessaires de sa nature et des circonstances particulières qui ont, dès l’enfance, nécessairement influé sur sa façon de penser et d’agir?116

Diese Ausführungen sind denen Büchners sprachlich durchaus verwandt,117 weil auch hier die äußeren Umstände für Denken und Handeln des Einzelnen als Determinanten aufgeführt werden. Allerdings teilt Büchner den anthropologischen Mate-

|| 108 So Büchner im selben Brief, vgl. P II, S. 37931/MBA X.1, S. 3225f.. 109 Insofern ist die vorschnelle Zuweisung einer antiidealistischen, insbesondere am freien Willen Kritik übenden Position (vgl. Dedner 2002, S. 292–294) nur unter Absehung von dieser Briefpassage zu erzielen. 110 Zum angeblichen Materialismus dieses Briefes vgl. schon Viëtor 1949, S. 28. 111 Vgl. Jancke 31979, S. 129 sowie Mayer 1979a, S. 75 u. S. 88ff. 112 Mayer 1979a, S. 74, der gleich »drei Hauptthemen des französischen Materialismus« im »Gießener Februar-Brief von 1834« realisiert sieht; vgl. auch Dedner 1985, S. 368f., Dedner 1990, S. 126ff.; Osawa 1999, S. 88ff.; MBA IX.2, S. 263; MBA X.2, S. 193f. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f. 113 Vgl. Fink 1987. 114 Mensching 2007, S. 27. 115 Zur Antinomie dieses materialistischen Determinismus der Aufklärung vgl. ebd., S. 31f. 116 D’Holbach 1966, I, S. 218; vgl. hierzu auch Dedner 1985, S. 368. 117 Zu Kritik am Kriterium rein sprachlicher Ähnlichkeiten für den Nachweis gehaltlicher Zusammenhänge vgl. Vollhardt 1989/89, S. 67: »Denn die Semantik der philosophischen Anspielungen in Büchners literarischem Werk entschlüsseln sich nicht schon durch den Aufweis möglicher oder nur zufälliger sprachlicher Korrespondenzen, sondern erst mit der sorgfältigen Kommentierung solcher Stellen, die […] einem Kontext angehören.«

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rialismus, nach dem der menschliche Geist bzw. die Seele nichts als Körperfunktionen darstellen, nicht,118 denn die Umstände, von denen Büchner spricht, sind keine »physischen Ursachen«, also keine körpereigenen Prozesse, wie bei d’Holbach,119 sondern als soziale Bedingungen ausschließlich »außer uns«. Hinsichtlich der Stellung der büchnerschen Thesen zum Materialismus des 18. Jahrhunderts ist dieser Mangel eines Bezuges auf die körperliche Natur des Menschen als Bewusstseinsdeterminante nur ein vorläufiges Indiz. Wichtig ist vielmehr, dass die Thesen von einer Prägung der intellektuellen und moralischen Eigenschaften, mithin – in zeitgenössischer Terminologie – des »Charakters« durch äußere Einflüsse wie Erziehung, Klasse, Religion keineswegs exklusiv dem philosophischen Materialismus zuzuschreiben sind. Schon die dezidiert antimaterialistischen Aufklärungsanthropologien behaupteten einen prägenden Einfluss natürlicher und sozialer Bedingungen auf den Charakter;120 selbst Friedrich Hölderlin – dem Materialismus ausschließlich kritisch zugetan – spekuliert über die Bedeutung von »Umständen und vom Klima« auf die Gedanken des Menschen;121 und ausgerechnet der dem Deismus zuneigende, von der Forschung seit Thomas Michael Mayer aber vor allem als Neobabouvist122 wahrgenommene Filippo Buonarroti, dessen Schriften Büchner gelesen haben soll,123 entwickelte im Jahre 1828 die folgende These: Die Verfechter der Ungleichheit sagen, es gäbe zwischen den Menschen noch einen anderen natürlichen Unterschied, der sich zwangsläufig auch auf ihre Bildung und gesellschaftliche Stellung auswirkt, den des Geistes. […] Eine innere Stimme scheint uns jedoch zu sagen, daß die Dinge vom Schöpfer der Natur nicht auf solche Weise geregelt worden sind. Wenn die Menschen, die gemeinhin einen ganz gut eingerichteten Organismus besitzen, nicht alle über die gleiche geistige Fähigkeit verfügen, dann rührt die Verschiedenheit, die in dieser Hinsicht zwischen ihnen besteht, weit weniger von einer unterschiedlichen Konstitution des Organismus her als von den andersgearteten Umständen, in die sie sich versetzt finden.124

|| 118 So zu Recht Eibl 1981, S. 418Anm. 14; anders dazu Dedner 1985 und Dedner 2002. 119 D’Holbach 1966, I, S. 187–223. 120 Vgl. hierzu in Bezug auf Wieland Beetz 2004, S. 280f. 121 So im Brief an Sinclair vom Dezember 1798: »[…] denn, wenn der Mensch in seiner eigensten, freiesten Thätigkeit, im unabhängigen Gedanken selbst von fremdem Einfluss abhängt, und wenn er auch da noch immer modifiziert ist von den Umständen und vom Klima, wie es sich unwidersprechlich zeigt, wo hätt’ er dann noch eine Herrschaft?« Hölderlin 1992/94, II, S. 722f.; vgl. hierzu auch Stiening 2005b, S. 340. 122 Vgl. auf der Grundlage einer höchst selektiven Lektüre von Höppner u. Seidel-Höppner 1975: Mayer 1979a, S. 31ff., darauf ›aufbauend‹ u. a. Knapp 32000, S. 13f.; Hauschild 22004, S. 84; Neuhuber 2009, S. 14f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36ff. 123 Zur angeblich prägenden Bedeutung Buonarrotis für Büchner vgl. Mayer 1979a, S. 43ff.; Matala de Mazza 2009, S. 173. 124 Buonarroti 1828; zitiert nach der Übersetzung von Höppner u. Seidel-Höppner 1975, S. 89; überraschenderweise wird ausgerechnet diese These Buonarrotis von Mayer nicht zitiert.

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Diese Überlegungen sind zwar mit der dezidierten Zurückweisung eines neurophysiologischen Materialismus Büchner näher als die d’Holbachs, bleiben jedoch durch den deistischen Bezug auf den Schöpfergott Büchners Brief vom Februar 1834 fremd. Der ganz beliebige Bezug auf die Anthropologie der Spätaufklärung, Hölderlins, Buonarrotis oder auch Étienne Pivert de Senancours125 deutet mithin schon darauf hin, dass ein positiver Bezug auf äußere Umstände als Determinanten für psychische und mentale Prozesse noch keinen Materialismus verlangte.126 Dass auch der stark der aufklärerischen Naturrechtstradition verpflichtete, als Frühsozialist bezeichnete Robert Owen die Ansicht vertrat, der Charakter des Menschen sei von äußeren Umständen geprägt und könne nur durch diese geändert werden, zeigt vielmehr die erhebliche Verbreitung sozialanthropologischer Determinationstheorien im frühen 19. Jahrhundert.127 Solcherart Theorien, die hier nur an einigen Beispielen nachgewiesen wurden, waren mithin im 18. und 19. Jahrhundert mit höchst unterschiedlichen Grundlagentheorien verknüpft und verlangten keineswegs eine Fundierung im Materialismus. Wenn Büchner also intellektuelle und moralische Bildung vollständig durch äußere Umstände determiniert sieht, dann richtet er sich zwar deutlich gegen Thesen von einer ausschließlich selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen; diese Überzeugung bedarf aber keineswegs eines begründungstheoretischen Materialismus. Noch an einem letzten Beispiel soll die kontextuelle Extension dieser anthropologischen Thesen Büchners in seinem Brief vom Anfang des Jahres 1834 erläutert werden: Es ist nach wie vor umstritten, ob Büchner im Wintersemester 1833/34 philosophische Vorlesungen besuchte; sicher ist einzig, dass er neben seinen naturwissenschaftlichen Studien philosophische Vorlesungen als Pflichtveranstaltungen besuchen musste,128 von denen eine die philosophische Psychologie zum Gegenstand hatte, die in jenem Wintersemester auch tatsächlich angeboten wurde.129 Jan-

|| 125 Vgl. auch den ganz unmaterialistisch denkenden Senancour 1982, S. 79f.: »Sie [die verschiedenen Eigenarten der Völker] werden nicht weniger als durch ihre Sitten und Gesetze, ja vielleicht stärker noch durch die Unterschiede der Lage, des Klimas und der Dünste geprägt. Denn in Wirklichkeit gehen auch Gegensätze in den Sitten und Gesetzen ursprünglich auf physische Ursachen zurück.« 126 So auch Kurzke 2013, S. 23f. 127 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 172f. 128 Vgl. hierzu Maaß 1987, S. 148 sowie die bei Hauschild 1993, S. 252 zitierte ministeriale Verordnung, nach der alle Kandidaten der Theologie, Juristerei und der Medizin durch Zeugnisse zu belegen hatten, dass sie »Vorlesungen über Logik, Psychologie, Reine Mathematik, Naturlehre und Geschichte« besucht hätten. 129 Vgl. Großherzoglich hessisches Regierungsblatt Nr. 56, Darmstadt am 25. September 1833: Verzeichnis der Vorlesungen, welche auf der Großherzoglich Hessischen Landesuniversität zu Gießen im bevorstehenden Winterhalbjahre vom 28. Oktober an gehalten werden sollen: Von den insgesamt acht Veranstaltungen jenes Semesters fielen vier auf Joseph Hillebrand (Logik, Psychologie, Ethik/Pädagogik und Ästhetik); drei auf Wilhelm Braubach (Logik und Psychologie, Principien

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Christoph Hauschild hat 1993 die Behauptung aufgestellt, Büchner könne diese von dem Gießener Ordinarius für Philosophie, Joseph Hillebrand,130 gehaltenen Vorlesungen besucht haben, seine These allerdings mit der unbelegten Begründung versehen, diese sei »historisch angelegt« gewesen, so dass Büchner sein philosophiehistorisches Interesse hier habe befriedigen können.131 Nun wurde schon darauf hingewiesen, dass es keinerlei Anzeichen für ein spezifisch philosophiehistorisches Erkenntnisinteresse Büchners zu diesem Zeitpunkt gibt. Betrachtet man darüber hinaus Hillebrands Lehrbuch der theoretischen Philosophie und philosophischen Propädeutik, das explizit »zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen«132 ausgewiesen wurde und einen umfangreichen psychologischen Abschnitt enthält, wird nicht nur deutlich, dass diese Vorlesung keineswegs historisch angelegt war, sondern vielmehr systematisch als anthropologisch-empirische Vermögenslehre, die nur unter eher nebensächlichem historischem Bezug auf anthropologische Standardwerke von Otto Casmann über Christian Wolff, Ernst Platner und Friedrich Herbart bis zu Hegel und Hillebrands eigener Anthropologie von 1823 zurückgriff.133 Ersichtlich wird an diesem Text, dass selbst der vom spekulativen Idealismus stark beeinflusste Gießener Philosoph nicht nur die Klimatheorie der aufklärerischen Anthropologien vertrat,134 weil »die klimatische und lokale Natureinrichtung sowohl unmittelbar als mittelbar die psychische Verschiedenheit mitbegründen«.135 Der Giessener Philosoph behauptet darüber hinaus einen prägenden Einfluss äußerer Umstände auf den Charakter des Menschen, mithin das, was Büchner als intellektuelle und moralisch-rechtliche Fähigkeiten bezeichnet hatte: Was der Mensch durch eigentliche Erziehung und Bildung werden könne, d.h. durch die Summe aller derjenigen Einwirkungen auf das ursprüngliche Seelenleben, welche aus dem Wech-

|| der Moral und Religion sowie Pädagogik) und eine auf den Privatdozenten August L. Th. Koch (Einleitung in die Philosophie); vgl. auch MBA IX.2, S. 176. 130 Zu Joseph Hillebrand vgl. Schreiber 1937; Mayer 1981, S. 195f.; Mayer 1985, S. 123f.; Honegger 1991, S. 123–125; Hauschild 1993, S. 261–263; Nowitzki 1998, S. 309–313; Schneider 1999, S. 244f.; MBA IX.2, S. 176ff. 131 Zu den Spekulationen über einen Besuch der Psychologie-Vorlesung Hillebrands durch Büchner vgl. Hauschild 1993, S. 261; Nowitzki 1998, S. 310; MBA IX.2, S. 178; kritisch dazu Mayer 1995– 99a, S. 307. 132 Vgl. Hillebrand 1826. 133 Vgl. die Bibliographie anthropologisch-psychologischer Standardwerke bei Hillebrand 1826, S. 79–81. 134 Vgl. hierzu u. a. LaMettrie 1990, S. 41: »Der Einfluß des Klimas ist so mächtig, daß ein Mensch, der es wechselt, diesen Wechsel unwillkürlich spürt. Er ist eine wandelnde Pflanze, die sich selbst umgepflanzt hat; wenn das Klima nicht mehr daßelbe ist, ist es nur richtig, daß sie entweder eingeht oder gedeiht.« Wezel 2000ff., VII, S. 100; zur Bedeutung der Klimatheorie im Rahmen der Geschichtskonzeptionen der Anthropologen des 18. Jahrhunderts vgl. Gisi 2007, S. 83–114. 135 Hillebrand 1826, S. 151 (§ 206); vgl. auch Hillebrand 1822/23, II, S. 382f.

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selverkehr in der Koexistenz der Menschen hervorgehen, spricht die Geschichte der Menschheit wie die tägliche Erfahrung gleich deutlich und vernehmlich aus.136

Zwar spricht Hillebrand auch von einem angeborenen »Naturell«,137 das sich vor allem auf Gefühlsbereiche des Menschen erstreckt – und in dieser die »Naturanlage« des Charakters betreffenden Voraussetzung der Sozialanthropologie wäre ihm Büchner nicht gefolgt – aber eine prägende Auswirkung äußerer Bedingungsfaktoren auf die intellektuellen und die moralischen Eigenschaften eines Menschen entwickeln beide, ohne dass für diese Annahme – wie Hillebrand zeigt – eine materialistische Grundlagentheorie vorausgesetzt werden muss. Bei Hillebrand konnte Büchner auch die systematischen Voraussetzungen seiner These finden, dass »[d]er Verstand nun gar […] nur eine sehr geringe Seite unsers geistigen Wesens [ist] und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben«.138 Bei den Materialisten waren solcherart Reflexionen über das geistige Wesen und dessen verschiedene, hierarchisch qualifizierbare Momente nicht zu finden. Hillebrand aber hatte in seiner Anthropologie zwischen dem Denken und dem Wissen und damit zwischen Verstand und Vernunft unterschieden,139 und diese Unterscheidung andernorts wie folgt ausgelegt: Jene durch das bloße Denken, durch die Reflexion und Abstraktion vermittelst der Verstandesthätigkeit, bewirkte Einheit in der Vielheit ist gleichsam nur eine vorläufige (provisorische). Dieselbe muß, dieses zu seyn, endlich aufhören und sich zu der wahren, ursprünglichen (nicht mehr abstrakten, sondern unmittelbaren) Einheit hinaufheben, oder das Denken muß zum eigentlichen Wissen werden. […] Der Verstand wird von der Vernunft abgelöst. Dieses geistige Streben ist das eigentliche Philosophiren.140

Weil auch Büchner von höheren als der »geringeren« Verstandes- und Bildungsseite des »geistigen Wesens« spricht, wird unübersehbar, dass der oben zitierten Briefpassage eine Anthropologie zugrunde liegt, die – wie Hillebrands Ausführungen – einem idealistischen oder empiristisch-anthropologischen Kontext entstammen, keineswegs aber einem materialistischen. Büchner musste für seine Thesen von der sozialen Determiniertheit des menschlichen Verstandesdenkens und Handelns nicht einmal von seinem ethischen Universalismus, den er in der Schülerschrift entwickelt hatte, abrücken. Denn entweder hatte Büchner den freien Willen, jene höhere Seite am geistigen Wesen des Menschen, mit seinem Determinismuskonzept gar nicht gemeint, dessen Zuständigkeit unterhalb dieser Ebene verblieb; oder er vertrat eine Position, in der Handlungen auch dann einer moralischen Bewertung

|| 136 Hillebrand 1826, S. 151f. (§ 208); vgl. auch Hillebrand 1822/23, II, S. 385ff. 137 Vgl. Hillebrand 1826, S. 153 (§ 211) sowie ausführlicher Hillebrand 1822/23, II, S. 385ff. 138 P II, S. 37828–30/MBA X.2, S. 3223f.. 139 Vgl. Hillebrand 1826, S. 114. 140 Hillebrand 1820, S. 5; vgl. auch Hillebrand 1830, S. 44.

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unterzogen werden, wenn ihre Verursachung nicht dem freien Willen zuzuschreiben ist. Lessing und die Utilitaristen des 18. und 19. Jahrhunderts hatten dies vorgeführt.141 Zwar weisen Hillebrands Texte eine Terminologie und Argumentationsbewegung auf, die es eher unwahrscheinlich macht, dass Büchner diese Vorlesung hörte.142 Für eine kontextgestützte systematische Interpretation seiner Briefaussagen zur Sozialanthropologie und Geschichtsphilosophie ist diese Frage aber nebensächlich. Auch wenn also nicht dokumentierbar ist, ob Büchner in diesem Wintersemester überhaupt philosophische Vorlesungen besuchte, und wenn ja, welche, kann doch festgehalten werden, dass er sich zu diesem Zeitpunkt – vor allem nach der krankheitsbedingten Rückkehr nach Darmstadt – »mit aller Gewalt« der Philosophie widmete. Ab Januar war er in Gießen offenbar mit geschichtsphilosophischen und anthropologischen Fragestellungen beschäftigt, die den Vorlesungen Hillebrands nicht fern standen. Diese philosophische Reflexionsarbeit schloss aber eine materialistische Systematik ebenso aus wie eine spezifische Perspektive auf die Geschichte der Philosophie.

2.1.3.2 Sommersemester 1834: Vorlesungen bei Joseph Hillebrand Im Sommersemester 1834 weiten sich Büchners Studienanstrengungen im Fach Philosophie erheblich aus. Ist nach wie vor nicht zu belegen, ob er PhilosophieVorlesungen im vorhergehenden Wintersemester 1833/34 besuchte, so kann man seit längerem durch ein Testat Joseph Hillebrands belegen,143 dass Büchner zwischen dem 28. April und dem 29. September 1834 bei dem Gießener Philosophen zwei Vorlesungen hörte, und zwar über Logik sowie über Naturrecht und allgemeine Politik. Nun hat Hillebrand zeitlebens zwar keine eigenständige Veröffentlichung zum Naturrecht vorgelegt, so dass sich seine politphilosophische bzw. naturrechtliche Konzeption nur aus verstreuten Ausführungen in seinen anthropologischen

|| 141 Zu Lessings Determinismus vgl. Timm 1974, S. 105ff.; zu den Utilitaristen Trapp 1992, S. 249ff. 142 Eines der wenigen Indizien, die für eine Teilnahme Büchners an dieser Vorlesung sprechen, liegt in Hillebrands Ausführungen zur »Normalität und Abnormalität der Seele« (Hillebrand 1826, S. 143–148). In diesem Abschnitt, der ausführlicher in seiner 1835 publizierten Philosophie des Geistes ausgeführt wird, beschäftigt sich Hillebrand mit dem Phänomen des »Somnambulismus« (Hillebrand 1826, S. 144, Hillebrand 1835/36, I, S. 372ff.) als einer »Erscheinungsform der subjektiven Thätigkeit des Geistes neben dem Traum«. In diesem seriösen wissenschaftlichen Kontext erscheint der Somnambulismus dann als Terminus und Begriff im Lenz; die Quellen Büchners für dieses die Psychologie der 1820er und 1830er Jahre erneut beherrschende Thema sind aber nach wie vor unbekannt; vgl. hierzu die Spekulationen in MBA V, S. 411f. sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 143 Vgl. hierzu Zimmermann 1980; Mayer 1985, S. 124.

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oder enzyklopädischen Publikationen rekonstruieren lässt; wohl aber hat er in zwei Publikationen seine ›Wissenschaft der Logik‹ vorgestellt, und zwar in beiden Fällen explizit »zum Gebrauche bei Vorlesungen«.144 Weitere Werke zur Logik hat Hillebrand nicht publiziert, so dass man davon ausgehen kann, dass er nach eben diesen Texten jene Vorlesung im Sommer 1834 bestritt, die Büchner hörte. Da dieser ausdrücklich von Hillebrand »lobenswerten Fleiß« beim Besuch beider Vorlesungen attestiert bekam,145 Büchner also in den Monaten Mai bis September den Gießener Philosophen wöchentlich dreimal zur Logik hörte146 und dies trotz der Belastung durch die geheimen politischen Aktivitäten um den Hessischen Landboten,147 verlohnt sich neben der Rekonstruktion des hillebrandschen Naturrechts ein kurzer Blick in dessen beide Publikationen zur Logik, zumal eine eingehendere Beschäftigung mit diesen Texten sowohl im Rahmen der Büchner-Forschung148 als auch im

|| 144 Vgl. Hillebrand 1820 sowie Hillebrand 1826. 145 Mayer 1985, S. 124. 146 Die Logik-Vorlesung erfolgte am Dienstag, Donnerstag und Freitag vormittags von 8.00 bis 9.00 Uhr; darüber hinaus hörte Büchner Hillebrand am Mittwoch und Samstag, jeweils von 8.00 bis 9.00 und von 11.00 bis 12.00 Uhr, so dass sich beide über ein halbes Jahr nahezu täglich sahen; vgl. hierzu auch Nowitzki 1998, S. 310; Nowitzki (ebd., S. 314) will allerdings mit dieser Auflistung plausibilisieren, dass Büchner auch die Ästhetik-Vorlesung Hillebrands gehört habe, weil diese ebenfalls mittwochs und sonnabends – gleichsam zwischen den Naturrechtsvorlesungen – von 10.00 bis 11.00 Uhr gehalten wurde; weshalb die Vermutung naheläge, Büchner sei einfach sitzengeblieben und habe so auch Hillebrands Ästhetik gehört. So verlockend diese Indizienkette wirkt, kein einziges Dokument spricht für Büchners Kenntnis der hillebrandschen Ästhetik. 147 So auch Mayer 1981, S. 196. 148 Einzig Nowitzki 1998 hat sich mit der Frage der Bedeutung des büchnerschen Studiums bei Hillebrand im Hinblick auf die Logik und deren Rezeption in den literarischen Texten näher befasst – allerdings auf der Grundlage des erst 1835/36 veröffentlichten Hauptwerkes Hillebrands (Philosophie des Geistes oder Enzyclopädie der gesamten Geisteslehre, 2 Teile, Heidelberg 1835/36), das Büchner im Exil in Straßburg kaum mehr zur Kenntnis genommen haben dürfte. Die wichtigen Anregungen Nowitzkis wurden von der Büchner-Forschung zwar nicht im Hinblick auf Leonce und Lena (vgl. MBA VI, spez. S. 444ff.), wohl aber – wenngleich nur kursorisch – in Bezug auf Büchners philosophische Arbeiten aufgegriffen (vgl. MBA IX.2, S. 176–180), und dies, obwohl Büchners regelmäßige Teilnahme an der Logik- und der Naturrechts-Vorlesung eindeutig dokumentiert ist sowie in Teilen der Forschung angenommen wird, dass es neben den für die philosophischen Skripte bekannten Vorlagen (Tennemann, Herbart, Kiesewetter, Kuhn und Schulze, vgl. hierzu meine Ausführungen weiter unten) »noch weitere unmittelbare Quellen gibt« (Osawa 1999, S. 14). Eine umfassende biographische und philosophie- wie literarhistorische Erschließung des hillebrandschen Werkes (letztmalig in der heute unzureichenden Arbeit von Schreiber 1937) ist daher dringend geboten. Wichtige Ansätze hierzu werden in nächster Zeit geboten durch die Edition und Kommentierung zweier Mitschriften der hillebrandschen Vorlesungen über Naturrecht und Politik sowie über Logik aus den 1830er Jahren; vgl. hierzu: Was Büchner hörte. Edition und Kommentierung einer Mitschrift einer Naturrechts- und Politik-Vorlesung Joseph Hillebrands aus dem Sommersemester 1834. Hg. von Doreen Haring, Udo Roth u. Gideon Stiening. Leiden 2019.

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Rahmen einer Philosophie-, speziell einer Logikgeschichte des 19. Jahrhunderts149 bislang unterblieb.

2.1.4 Exkurs: Büchner und Hillebrand oder: Vorlesungen über Logik und Naturrecht 2.1.4.1 Logik Beide Lehrbücher, nach denen Hillebrand wahrscheinlich seine Vorlesungen über Logik abhielt, beginnen mit einer allgemeinen Einführung in Begriff, enzyklopädische Struktur (System) und Methode der Philosophie. Diese Vorlesung zur Logik diente mithin auch zur Einführung in die Disziplin überhaupt und Büchner dürfte hier erstmalig mit einem mehr als ›dilettantischen‹ Verständnis von Philosophie konfrontiert worden sein. Hillebrand bezeichnet die Philosophie ausdrücklich als Wissenschaft; mit Anspielungen auf Fichte wird sie als »Wissenschaft der Wissenschaften« definiert.150 Im Abschnitt über die »Encyklopädie der Philosophie« entwickelt er seine systematische Stellung, die einerseits einen aus Anthropologie und Naturlehre bestehenden Bereich des Faches als »Phänomenologie« ausweist, welche »die allgemeine Lehre über die bloß empirischen Erkenntnisse des Menschen oder über die Erscheinungen im Daseyn« ausführt,151 andererseits die hiervon unterschiedene »Philosophie« in theoretische und praktische einteilt. Trotz dieser durch die Unterscheidung zwischen Phänomenologie und Philosophie auffälligen Anbindung an Hegel152 sucht Hillebrand eine Position zwischen Kant und Hegel einzunehmen. Die theoretische Philosophie enthält nach Hillebrand Logik und Metaphysik, die praktische führe Ästhetik, Ethik und Politik aus. Insbesondere die Einbindung der Ästhetik in die praktische Philosophie zeigt den starken Einfluss Kants noch in den 1820er Jahren. Die Logik hingegen – und hieran zeigt sich das ebenso ambivalente wie kenntnisreiche Verhältnis zur Philosophie Hegels – soll den Status einer rein formalen Wissenschaft übersteigen, indem Hillebrand es unternimmt, »ihr eine reale Bedeutung« zu geben. Dieser Versuch steht ersichtlich in der Tradition einer objektiven Logik, die über Christoph Gottfried Bardili153 zu Hegels spekulativem Konzept führte,154 von dem sich Hillebrand gleichwohl nachdrücklich abgrenzt.155 In beiden Publikationen schließen Ausführungen zur Methodik der

|| 149 Vgl. hierzu Hansen 2000, der Hillebrand nicht erwähnt. 150 Hillebrand 1820, S. 3 u. S. 7; Hillebrand 1826, S. 9ff. 151 Hillebrand 1820, S. 15ff.; Hillebrand 1826, S. 77ff. 152 Vgl. hierzu Hegel 1986, III, S. 39ff. 153 Zu Bardili vgl. Röd 2006, S. 166f. 154 Vgl. u. a. Koch u. Schick 2002. 155 Vgl. u. a. die fundamentale Kritik der für den komplexen Anfang der Hegelschen Logik konstitutiven Dialektik von Sein und Nichts bei Hillebrand 1820, S. 57 (§ 102).

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Philosophie diese propädeutischen Überlegungen ab,156 die in Abgrenzung von den Methodologien der Einzelwissenschaften eine enge systematische Verbindung von Gegenständlichkeit und Methode des Denkens als zentralem philosophischem Gehalt betonen.157 Hillebrand definiert nun trotz des starken Einflusses der hegelschen Philosophie158 die Logik zunächst in eher aristotelischer Tradition als eine Wissenschaft von den »Regeln und Gesetzen des reinen Denkens«159 und unterscheidet auf dieser Grundlage zwischen einer »logischen Elementar- oder Prinzipienlehre«, einer »logischen Funktionslehre« und einer »logischen Pragmatik«,160 weil die Wissenschaft der Logik einerseits »Selbstzweck«, andererseits »Kanon und Organon«161 der empirischen Einzelwissenschaften sei. Weder also schließt sich Hillebrand der ihm wohlbekannten spekulativen Logik der Hegelschule an,162 noch reduziert er die Logik – in der Tradition der Psychologie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts163 – auf ihre wissenschaftstheoretische Begründungsfunktion für die Erkenntnistheorie.164 Ausdrücklich heißt es gegen solcherart Tendenzen seit dem späten 18. Jahrhundert: »Unrichtigkeit der Ansicht, nach welcher einige Neuere die Logik zur Psychologie gerechnet haben.«165 In dieser Bestimmung der »Logik als Wissenschaft

|| 156 Hillebrand 1820, S. 75–79; Hillebrand 1826, S. 20ff. 157 Vgl. Hillebrand 1820, S. 75: »Dieses Eigenthümliche der Philosophie besteht aber darin, daß sie als Wissenschaft des Wissens nicht Gegebenes zum Gegenstande hat, sondern sich ihren Gegenstand erst selbst giebt; mithin ihren Anfang nicht voraussetzt, sondern ihn selber setzt. Aus jener Eigenthümlichkeit der Philosophie folgt nothwendig diese andere, daß bei ihr Inhalt und Methode identisch seyn müssen […].« 158 Zu Hillebrands Nähe und Distanz zu Hegel vgl. Hillebrand 1820, S. Vf.: »Denn die Ansicht, daß die Logik in ihrem starken Formalismus sich selbst in gewissem Sinne vernichte, kann der Verf. nicht anders als seine Ueberzeugung nennen, ihr aber, wie der scharf- und tiefsinnige Hegel, eine rein spekulative Bedeutung beyzulegen, oder sie vielmehr in gewisser Hinsicht für allein mögliche Spekulation auszugeben, scheint ihm bey aller Achtung gegen den Urheber des Versuches und gegen sein Werk eine Mißkennung des wahrhaften eigenthümlichen Wesens der Logik zu seyn.« 159 Hillebrand 1826, S. 35f. 160 Ebd., S. 37 u. S. 163ff. 161 Ebd., S. 164f. 162 Vgl. hierzu Hansen 2000, S. 11ff. 163 Vgl. hierzu u. a. Eckardt, John, van Zantwijk u. Ziche 2001 für das späte 18. Jahrhundert sowie die Darstellung der empiristischen Positionen Friedrich Eduard Benekes und der Herbart-Schule bei Poggi u. Röd 1989, S. 54–73 u. Poggi 2001 für das frühe 19. Jahrhundert. 164 Zu dieser Büchner möglicherweise durch Wilhelm Traugott Krug (nach Lehmann 2005, S. 500) bekannten Tradition vgl. Hansen 2000, S. 14ff. Dass Büchner schon auf der Schule formallogische Kenntnisse erworben haben muss, zeigt der – wenn auch nur unreine – Syllogismus im Zusammenhang der Reflexionen auf die Selbstzweckhaftigkeit des Lebens in der Rezension Über den Selbstmord. 165 Hillebrand 1820, S. 23; insofern ist die von Prantl 1880, S. 417 aufgestellte und von Nowitzki 1998, S. 311 übernommene These von einer »Mittelstellung [Hillebrands] zwischen herbartschen Psychologismus und Hegelschem System« unzutreffend; Hillebrand vermittelt vielmehr ganz klas-

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des Denkens« und als spezifisch erkenntnistheoretische Voraussetzung für diesen Begriff des Denkens liegt Hillebrands Verständnis objektiver Logik, die das eigentliche Telos seiner Arbeiten ausmacht: Aus allem folgt, wie nun auch die Lehre über die Gesetzmäßigkeit des Denkens (die logische Gesetzlehre) einmal nur die Grund- oder Hauptgesetze des Denkens (der Verstandesthätigkeit) enthalten könne, wie dann ferner die Grundgesetze denen der Natur analog oder eigentlich nur die Darstellung der Grundgesetze des Existenziellen überhaupt sind. In dieser letztern Eigenthümlichkeit der Denkgesetze (welche eine nothwendige ist) liegt wiederum die reale Bedeutung des Denkens, mithin der Logik ausgedrückt.166

In dieser logischen Prinzipienlehre entwickelt Hillebrand nun den Gehalt und den Status von vier »Grundgesetzen des Denkens«,167 nämlich das Gesetz der Identität, das des Widerspruchs, das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten sowie das des zureichenden Grundes.168 Die logische Funktionslehre endlich entfaltet die klassische Lehre von den Begriffen, Urteilen und Schlüssen, die zeigt, dass Hillebrand zumindest bis 1826 den kantischen Innovationen u. a. bezüglich der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen mehr zuneigte169 als der hegelschen Logik, die sich in ihrer Kritik an den Syllogismen als erkenntnisfördernden logischen Schlussformen auszeichnet.170 Nach Hillebrand aber bildet die Lehre von den Syllogismen als »mittelbaren Schlüssen« den Abschluss des »Systems des Schlusses«.171 Dass Büchner diesen zentralen Teil der Logik – die Schlusslehre – mit großer Wahrscheinlichkeit hörte, zeigt die Anwendung der von Hillebrand in durchaus konventioneller Weise ausgeführten Lehre172 von den ›relativen (hypothetischen) Schlüssen‹,173 die Büchner an zentraler Stelle der Descartes-Skripte abrufen wird.174 Selbstverständlich liefert Hillebrand auch Bestimmungen zu »falschen Schlüssen«, die er als »Fehlschlüsse (Paralogismen) und Trugschlüsse (Sophismen)« konkretisiert, ohne allerdings den

|| sisch zwischen kantischem Transzendentalismus und hegelscher Dialektik, mit Eklektizismus aber (so Beise 2010, S. 82) hat diese systematische Vermittlungsleistung nichts zu tun. 166 Hillebrand 1820, S. 131. 167 Hillebrand 1826, S. 170. 168 Ebd., S. 167–170 sowie Hillebrand 1820, S. 129–140. 169 Vgl. Hillebrand 1826, S. 191. 170 Hegel 1986, VI, S. 374ff. 171 Hillebrand 1826, S. 200. 172 Vgl. hierzu – um nur zwei Beispiele zu nennen – Kant 1983, V, S. 560f. sowie Hegel 1986, VI, S. 395–398. 173 Hillebrand 1820, S. 197. 174 Vgl. hierzu Büchners Analyse des cogito-Argumentes, das er (P II, S. 1775f./MBA IX.2, S. 4527) als »hypothetischen Vernunftschluß« interpretiert, wobei »Büchner […] den Schlüssel zu dieser präzisen Formulierung des Grundprinzips weder bei Tennemann noch bei Kuhn finden« konnte (so schon Vollhardt 1991, S. 202).

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dann von Büchner in Danton’s Tod verwendeten Terminus des »Circelschlusses« zu verwenden.175 Den abschließenden Teil bildet eine »logische Pragmatik«, die Hillebrand wie folgt definiert: Die logische Pragmatik ist die Lehre von der möglichen allgemeinen Anwendung des Denkens rücksichtlich des wissenschaftlichen und wahren Erkennens überhaupt.176

Es dürfte womöglich dieser Teil der Logik Hillebrands gewesen sein, der Büchner 1834 am stärksten anzog, werden hier doch allgemein wissenschaftstheoretische Ausführungen hinsichtlich der Systematik und Methodik szientifischen Arbeitens überhaupt dargelegt. Hillebrand entfaltet in seiner »Systematik« eine allgemeine Prinzipienlehre ebenso wie eine Erklärungs- und Einteilungskonzeption für jede Form wissenschaftlichen Arbeitens; den Abschluss bildet eine Theorie des Beweises, die in ein differenziertes Tableau von Beweisformen und deren Status mündet, so den rationalen und empirischen Beweis, den direkten und indirekten sowie den progressiven (synthetischen) und den regressiven (analytischen) Beweis.177 In der anschließenden »Methodik« geht es Hillebrand zufolge weniger um »die Erkenntnis selbst, als vielmehr um die Art ihrer Erwerbung und Aneignung«, weshalb die folgenden Bestimmungen auf der Grundlage der erkenntnistheoretischen Grunddistinktion der kantischen Philosophie, nämlich der Unterscheidung zwischen Erfahrung und Vernunft als »Quellen der Erkenntnis« entwickelt werden. Auf diesem erkenntnistheoretischen Fundament ergibt sich auch die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von einer »rationalen oder Vernunftwissenschaft« und »empirischen oder Erfahrungswissenschaften«;178 zu letzteren sind nach Hillebrand »die historischen (im engeren Sinne) und die Naturwissenschaften« zu zählen.179 Im abschließenden Abschnitt »Dialektik« wird zunächst die »logische Semiotik« als Theorie der spezifisch sprachlichen Realisation wissenschaftlichen Denkens betrachtet; hier zeigt Hillebrand, dass er um die Kritik seiner Studenten an der »Kunstsprache« der Philosophie durchhaus weiß, denn bei der Formulierung einiger »Anforderungen an eine Sprache« aus dem logischen Gesichtspunkte treten »Lebendigkeit« und »Bildsamkeit« ebenso auf wie die »elementarische Einfachheit« und »Bestimmtheit des Ausdrucks«.180 Im zweiten Teil des Abschnittes »Dialektik« entfaltet der Logiker Kriterien für eine angemessene logische Beurteilung und Prü-

|| 175 MBA III.1, S. 20222f. sowie MBA III.4, S. 170f., die allerdings keine Verbindung zu Hillebrand herstellen; zur völlig äußerlichen Verknüpfung dieser Passage aus Danton’s Tod mit der Vorlesung Hillebrands vgl. Mayer 1981, S. 196; Knemeyer 1984, S. 313 sowie Hauschild 1993, S. 261. 176 Hillebrand 1826, S. 207. 177 Ebd., S. 217f. 178 Vgl. Hillebrand 1826, S. 219 u. S. 221. 179 Ebd., S. 221. 180 Ebd., S. 232.

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fung von Gedanken, die explizit von einer materialen Beurteilung unterschieden wird. Den Abschluss dieses Lehrbuchs der Logik zum Gebrauche bei Vorlesungen bildet eine »allgemeine Schlussandeutung, die Logik (insgesamt) betreffend«, die aufgrund ihrer prägnanten Form, die die hillebrandsche Konzeption zusammenfasst und zugleich den Vorlesungscharakter dokumentiert, hier in Gänze zitiert sei: 1) Allgemeine Wiederholung dessen, was in der Logik als Hauptsache näher entwickelt worden ist, mit Hinweisung auf den Zweck, Nutzen und den eigenthümlichen Charakter dieser Wissenschaft. 2) Ueber die wahre logische Allgemeinheit und Abstraktion im Gegensatze mit der falschen, eingebildeten. 3) Ueber den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aus dem echt logischen Gesichtspunkte. 4) Ueber die Verschiedenheit der Wissenschaft und ihr besonderes Verhältnis zur Logik. 5) Ueber die wissenschaftliche Polemik aus dem Standpunkte der Logik. 6) Andeutungen über die wahrhafte wissenschaftliche Ausbildung und die Methode des akademischen Studiums, gleicher Weise nach Anforderungen der Logik.181

Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass Büchner solcherart Sätze gehört hat und daher in dieser Konzeption von Logik ausgebildet wurde, die mit einer Einführung in die Philosophie überhaupt und ihren Übergängen zur wissenschaftlichen Praxis über die rein formale Bestimmtheit dieser Wissenschaft weit hinausging. Dabei ist für die folgende Entwicklung Büchners nicht unerheblich, dass Hillebrand auch – allerdings nur illustrierende – Ausführungen zur »Geschichte der Logik«182 einstreute, die sich von den Vorsokratikern über Aristoteles, Leibniz und Wolff bis zu Kants Unterscheidung von transzendentaler und formaler Logik erstreckten. Insgesamt hörte Büchner eine in vielerlei Hinsicht für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts konventionelle Logik-Vorlesung,183 die in die Anfangsgründe der Logik als Wissenschaft einführte und ihn aufgrund ihrer allgemein wissenschaftstheoretischen und -methodischen Anmerkungen als Naturwissenschaftler durchaus angezogen haben dürfte; sein »lobenswerte[r] Fleiß«184 konnte also in einer Interessenslage der Sache gegenüber begründet sein.

2.1.4.2 Naturrecht und allgemeine Politik Anders als hinsichtlich der Logik fertigte Hillebrand für seine Vorlesungen über Naturrecht und allgemeine Politik kein eigenes Handbuch an. Zum Zwecke einer Rekonstruktion seiner Positionen im Rahmen dieser im frühen 19. Jahrhundert leb-

|| 181 Ebd., S. 248. 182 Ebd., S. 38ff. 183 Vgl. hierzu nochmals Hansen 2000, S. 14–27. 184 Vgl. erneut Mayer 1985, S. 124.

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haft diskutieren philosophischen Wissenschaft185 ist man auf die verstreuten Ausführungen des Gießener Professors in seinen enzyklopädischen Publikationen angewiesen. Trotz der seit langem bekannten Tatsache, dass Büchner im Sommersemester 1834 neben der Logik auch diese Vorlesungen Hillebrands besuchte und damit kurz nach der Abfassung des Hessischen Landboten,186 der sich zumindest an einer Stelle naturrechtlicher Argumente bedient,187 wurde eine solche Rekonstruktion von der Forschung bisher nicht versucht.188 Im Folgenden soll dieser Versuch unternommen werden: Hillebrand äußert sich in jeder seiner bis zum Sommer 1834 erschienenen Publikationen, die zumeist einführenden oder enzyklopädischen Charakters sind, zum Naturrecht,189 das er – so erklärt sich auch der Titel der Vorlesung – mit dem Begriff der Politik synonym setzt: Die dritte Disziplin der praktischen Philosophie ist die Politik (oder das sogenannte Naturrecht).190

Beide Bestimmungen sind jedoch – der Begriffs- und Sachgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend – mit der allgemeinen Staatslehre identisch,191 weshalb Hillebrand die Definition auch fortsetzt: Sie ist die wissenschaftliche Entwicklung und Darstellung des Staates, oder sie ist die Wissenschaft des Staats.192

Dabei besteht eine charakteristische Eigentümlichkeit des hillebrandschen Naturrechts als einer allgemeinen Staatswissenschaft darin, dass er den Staat nicht über eine kontraktualistische Argumentation193 deduziert und dadurch »Ursprung und Legitimation des Staates«194 generiert. Vielmehr weist Hillebrand – hier im Einklang

|| 185 Vgl. Klippel 1995, S. 271ff.; Klippel 1997, S. VI–XVI sowie Dietmeier 2002. 186 Vermutlich Mitte März 1834; vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 374; Görisch u. Mayer 1982, S. 375ff.; Schaub 1996, S. 182f.; P II, S. 825; anders Hauschild 1993, S. 314. 187 Vgl. P II, S. 5613f./MBA II.1, S. 710. 188 Osawa 1999, S. 25Anm. 1 hat sich anmerkungsweise zu Hillebrands »Deduktion des Staates« aus einem spekulativen Vernunftbegriff in den Prolegomena von 1830 und der Philosophie des Geistes von 1835 geäußert; wie erwähnt die MBA IX.2, S. 176–180 sowie Beise 2010, S. 81f. 189 Vgl. Hillebrand 1819, I, S. 158–178; Hillebrand 1820, S. 68–74; Hillebrand 1822/23, III, S. 22 u. S. 102–122; Hillebrand 1826, S. 60–68; Hillebrand 1830, S. 149–154; siehe auch Hillebrand 1835, II, S. 135–198. 190 Hillebrand 1820, S. 68; vgl. auch Hillebrand 1826, S. 60f. 191 Vgl. Stolleis 1997, S. 3. 192 Hillebrand 1820, S. 68. 193 Zum Kontraktualismus als einer entscheidenden rechtsphilosophischen Argumentationsfigur zwischen Hobbes und Rawls vgl. Kersting 1994. 194 Stolleis 1997, S. 4.

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mit den »deutschen Konservativen«,195 aber auch liberalen Ideengeschichtlern196 des Vormärz – jegliche Variante naturrechtlicher Vertragskonstruktion explizit zurück: Daß der Staat demnach weder seinen Ursprung und seine Begründung, noch seine Fortentwickelung und Vollendung einem sogenannten Ur- oder Grundvertrage verdanke, ist für sich klar. Ein solcher Vertrag würde den Staat, den er begründen soll, schon voraussetzen, also in sich selbst einen Widerspruch enthalten, abgesehn von seiner historischen Richtigkeit und seiner praktischen Unmöglichkeit und Gefährlichkeit.197

Für Hillebrand haben sich alle Vertragstheoretiker seit Hobbes daher des »Ultraliberalismus« schuldig gemacht,198 der unter allen Umständen abzulehnen sei.199 Demgegenüber wird die Ansicht vertreten, der Staat müsse und könne einzig aus der allgemeinen Idee der Vernunft abgeleitet und so legitimiert werden; in seinen Prolegomena von 1830 hält Hillebrand unmissverständlich fest: Der Staat ist diesem gemäß in seiner idealen und wesenhaften Bedeutung die objektive Vernunftordnung des menschlichen Handelns, mit dem Zwecke, die Anerkennung und Achtung der Vernunft ihrer selbst wegen unten den Menschen zu vermitteln und zu verbürgen. Es ergiebt sich hieraus zunächst, daß der Staat rein ideal oder ursprünglich in der Vernunft selbst gegründet liegt.200

Insofern der Staat mithin als notwendig praktische Konsequenz der spekulativen Vernunft dargestellt und legitimiert wird, ist er selbst – in welcher historischen Form auch immer, also grundsätzlich – vernünftiger Natur. Diese der hegelschen Staatstheorie verwandte Argumentation201 basiert auf der nach Hillebrand entscheidenden Einsicht in die Positivität des Staates als Rechtsrealisation und Freiheitsobjektivation,202 welche allererst ermögliche, die aus dem Kontraktualismus erwachsene Annahme, »daß der Staat B e s c h r ä n k u n g der Freiheit sey«,203 zu widerlegen:

|| 195 Ebd., S. 6 sowie Wehler 31996, S. 446. 196 Vgl. auch den spezifischen – Hillebrands Positionen verwandten – Antikontraktualismus bei Dahlmann 1997 [EA Göttingen 1835], S. 11: »Der Staat ist also keine Erfindung, weder der Noth noch der Kunst, keine Actiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervorspringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit, er ist eine ursprüngliche Ordnung, ein nothwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit und eines von den die Gattung zur Vollendung führenden Vermögen.« 197 Hillebrand 1822/23, III, S. 110; vgl. auch Hillebrand 1830, S. 150. 198 Hillebrand 1822/23, III, 111Anm.*. 199 Zur wirksamen Tradition dieses aufklärerischen Kontraktualismus noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Brand 2006. 200 Hillebrand 1830, S. 149f. 201 Vgl. Hegel 1986, VII, S. 398ff. (spez. § 258). 202 Hillebrand 1822/23, III, S. 111. 203 Ebd., S. 110.

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Ueberhaupt ist es eine falsche und das Wesen der Staates herabwürdigende Lehre, daß derselbe nur ein Institut zur Beherrschung der Menschen sey, da er in der That nur die S e l b s t s o r g e d e r V e r n u n f t ist, die wahre Freiheit immer mehr objektiv darzustellen, die Kräfte der Menschen stets wirksamer zu vereinen und so die Menschheit selbst mehr und mehr zu realisieren. Der Staat wirkt nicht bloß negativ, sondern vorzüglich positiv.204

Deshalb auch übt Hillebrand scharfe Kritik an einem durch Schiller popularisierten Verständnis des ›Not- und Verstandesstaates‹,205 der ausschließlich negativ als Instrument der unerlässlichen Beschränkung der Freiheit des Einzelnen bestimmt wird. Während vor ihm wenigstens ein Student sitzt, der kurz zuvor eine politische Flugschrift fertig stellte, in der der Staat als Instrument zur Ausbeutung der Armen durch eine kleine Gruppe korrupter Reicher bezeichnet wird, schließt Hillebrand aus seiner die Positivität des Staates voraussetzenden »Deduktion des Staates« als eines »rein ursprünglichen Selbsterzeugnis[ses] der Vernunft«206 auf »den Begriff und die Bedeutung des Rechts«.207 Als gleichursprüngliche Kategorie208 gründet dessen Geltung in der Autonomie und Autorität des Staates. Aus dieser Systematik einer Ableitung von Staat und Recht auseinander sowie dieses Rechtsstaatskomplexes aus einem spekulativen Vernunftbegriff ergeben sich zudem folgerichtig Hillebrands Ausführungen zum »Rechtszwang« und zur »Strafe«,209 die hegelschen Vorstellung erneut sehr nahe kommen.210 Wie dieser bestimmt Hillebrand nämlich das Verbrechen als »Vernunftwidrigkeit«, die durch den Staat aufgehoben werden müsse, damit dieser seine Vernunft und Autorität aufrechterhalten und nur in dieser Form realisieren könne: Zweck der Strafe ist also Vernichtung des Unrechts im Verbrechen, leitende Norm die Idee der Gerechtigkeit, eigentliches Princip aber die Selbsterhaltung des Staats als einer objektiven Vernunftforderung in der Socialität.211

Ausdrücklich kommt Hillebrand in diesem Zusammenhang auch auf »das Eigenthumsrecht« zu sprechen, das im Begriff der Person als Rechtsinhaberin analytisch

|| 204 Ebd., S. 105Anm. *; vgl. hierzu auch die Argumentation bei Dahlmann 1835, S. 11. 205 Hillebrand 1830, S. 154: »Eben so wenig darf man aber im Staate eine Zwangsanstalt finden wollen, gleichsam ein Institut der Noth, somit ein nothwendiges Uebel.« Zu Schillers Staatsvorstellung, die hier einer Kritik verfällt, vgl. Schiller 1981, V, S. 576ff. 206 Hillebrand 1830, S. 150. 207 Ebd., S. 151. 208 Vgl. ebd.: »Aus dem Wesen des Staats entwickelt sich von selbst die Bedeutung des Rechts, welches in ihm allein seine Begründung hat und ohne seine Voraussetzung bedeutungslos ist oder doch mit dem Sittlichen schlechthin zusammenfällt.« Hvhb. im Text. 209 Ebd., S. 153; zum zeitgenössischen Kontext in Strafrechtstheorie und -praxis sowie deren Interaktionen vgl. Klippel, Henze u. Kesper-Biermann 2006, S. 385ff. 210 Vgl. hierzu Hegel 1986, VII, S. 185ff. (§ 97ff.). 211 Hillebrand 1830, S. 153.

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enthalten sei.212 Die allgemein vernunfttheoretische und -praktische Deduktion des Staates als einer »Selbstsorge der Vernunft«213 führt bei Hillebrand auch zu einer historisierenden, allerdings geschichtsphilosophischen Perspektivierung des Staates, die nicht zufällig eine legitimierende Funktion innehat: Allein wo solche Ungestalt [die Despotie] hervortritt, bezeichnet sie mehr oder weniger den Verfall der bürgerlichen Ordnung selbst; und man darf es so ziemlich als einen allgemeinen historisch-philosophischen Grundsatz aufstellen, daß jedes Volk, welches der Despotie anheimfällt, derselben bedarf oder werth ist.214

Diese »metaphysische Begründung des Staates«215 ist zentraler Gegenstand des ersten von drei Bestandteilen des Naturrechts als einer Disziplin der praktischen Philosophie; als deren erstes Moment erhält sie die Bezeichnung »Politische Elementarlehre«.216 Das zweite Moment dieser Einteilung des Naturrechts macht die »Politische Principienlehre« aus, die die »wissenschaftliche Darstellung der Principien, Grundsätze und allgemeinen Mittel zur Realisirung des Staatsbegriffs« enthält; hier werden Begriffe des Staatszweckes, der Souveränität, der Herrschaft, Regierung und Verfassung entwickelt.217 Den dritten Teil des wissenschaftlichen Naturrechts macht laut Hillebrand die »Politische Pragmatik« aus, die »die empirisch-nothwendigen Bedingungen für die Realisierung des Staatsbegriffes« ausführt, zu denen u. a. die »Civil- und Criminalgesetzgebung«, die »Wohlfahrt« oder die »Polizeigesetzgebung« zu zählen sind.218 Wie bei Kant,219 so schließt auch bei Hillebrand die Staatszweckbestimmung einer rechtstaatlichen Freiheitsrealisation Wohlfahrtsziele als essentielle Funktion des Staates durchaus ein.220

|| 212 Ebd., S. 153; zum zeitgenössischen Kontext der naturrechtlich begründeten liberalen Eigentumstheorien im Vormärz vgl. Klippel 1995, S. 286f. 213 So Hillebrand 1822/23, III, S. 105Anm. *. 214 Ebd., III, S. 110Anm.*. 215 Hillebrand 1820, S. 69. 216 Ebd., S. 69–71; Hillebrand 1826, S. 61. 217 Hillebrand 1820, S. 71f.; Hillebrand 1826, S. 61. 218 Hillebrand 1820, S. 72–74; vgl. auch Hillebrand 1826, S. 61. 219 Vgl. hierzu Kant 1983, IX, S. 125–172, hier S. 155: »Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern als bloßes Mittel, den rechtlichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks, zu sichern«, weil, wie es in einer Anmerkung heißt, »der Staat, ohne Wohlhabenheit des Volks, nicht Kräfte genug besitzen würde, auswärtigen Feinden zu widerstehen, oder sich selbst als gemeines Wesen zu erhalten.« Zur Sozialstaatsfunktion als eine der »Bedingungen, ohne die Freiheit der Willkür überhaupt unmöglich wäre«, vgl. Merle 1999, S. 207ff. 220 Zum historischen Kontext der unterschiedlichen naturrechtsphilosophischen Wohlfahrtsstaatstheorien des 18. und 19. Jahrhundert vgl. Ebbinghaus 1986, I, S. 231–264 sowie Frischmann 2006, S. 570ff.

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Die politische Pragmatik stellt für Hillebrand mithin keine äußerliche, regierungspraktische Zugabe zur allgemeinen Staatswissenschaft dar, sondern ist eine Berücksichtigung der notwendigen empirischen Realisationsbedingungen jeder historisch konkreten Staatsform. Aufgrund dieser Vermittlung von Spekulation und Empirie im Naturrecht korrespondiert der ›allgemeinen Staatswissenschaft‹ Hillebrands in seiner Anthropologie aus den Jahren 1822/23 eine rechtsgeschichtliche Betrachtung des »Bildungsganges der Gesetze«,221 die zu einer »Rechtsgeschichte der Völker«222 ausgeweitet wird. Neben den strenger rechtsphilosophischen Deduktionen einer allgemeinen Staatswissenschaft, die in der Tradition eines Naturrechts des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts stehen,223 ist Hillebrand über die Entwicklungen des Faches zu einer historischen Rechtsschule224 im frühen 19. Jahrhundert also bestens informiert und darum bemüht, die Erklärens- und Verstehensansprüche beider Forschungsausrichtungen zu vermitteln. Dass diese Vermittlung von System und Geschichte letztlich geschichtsphilosophischen Charakter hat, zeigt seine Zurückweisung einer theoretischen Suche nach einer idealen Staatsform: Vielmehr ist die Frage nach einer absolut-besten Staatsform ohne Sinn und Bedeutung, indem jede die beste ist, welche in einer bestimmten Zeit für ein bestimmtes Volk nach den nothwendigen Forderungen der historischen Umstände und des eigentlichen Wesens des Staates die Autokratie der bürgerlichen Ordnung am zweckmäßigsten und angemessensten darstellt.225

Eine Geschichte der politischen Philosophie bzw. eine politische Ideengeschichte von den Vorsokratikern bis in die 1820er Jahre226 ergänzt letztlich Hillebrands Verständnis von »Politik« als einer von der Ästhetik und Ethik unterschiedenen Disziplin der praktischen Philosophie. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass der in den Sommermonaten des Jahres 1834 bis an die Grenzen der Erschöpfung227 die Möglichkeiten eines revolutionären Umsturzes auslotende Georg Büchner solcherart geschichtsphilosophische Legitimationen der Despotie zu hören bekam – und das auch noch freiwillig.228 Sicher ist, dass er die im Hessischen Landboten vorgeführte Ableitung der Gesetze eines Staates aus der volonté des tous229 als rechtsphilosophisch schlicht falsch erkennen konnte bzw. zu einer frühaufklärerischen Vorstellung der Ableitung der

|| 221 Hillebrand 1822/23, III, S. 114ff. 222 Ebd. 223 Vgl. erneut Stolleis 1997. 224 Klippel 1997, S. V. 225 Hillebrand 1822/23, III, S. 109f. 226 Vgl. Hillebrand 1826, S. 62–68. 227 Vgl. hierzu Mayer 1979b, S. 377–386; Mayer 1981, S. 195f. 228 Das Naturrechtskolleg gehörte nicht zum Pflichtprogramm der philosophischen Zwangskollegien, vgl. Hauschild 1993, S. 262. 229 Siehe hierzu Stiening 2012.

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Gesetze aus dem Gemeinwohl eine naturrechtlich moderne Alternative vorgeführt bekam. Denn wenn es im Hessischen Landboten, den Büchner im März 1834 und damit vor Beginn des Sommersemesters niederschrieb, heißt: Der Staat also sind Alle, die Ordner sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen,230

dann konnte er im Sommer bei Hillebrand lernen, dass Gesetze ihrem Begriffe nach anderes sein können als freiheitsbegrenzende »Ordner« im Staate und er hätte erst hier gelernt, dass Recht und Gesetze naturrechtlich, zumal bei Rousseau, keineswegs aus der volonté des tous, sondern aus der volonté generale abzuleiten waren.231 Selbst wenn – wie es in beiden Druckfassungen steht, von der Forschung allerdings einhellig als Druckfehler marginalisiert wird232 – tatsächlich das »Wohl Aller«, mithin das Gemeinwohl, als Ursprung der Gesetze gemeint war, hätte Büchner durch Hillebrands Einführung in die Grundlagen neuzeitlichen Naturrechts die aufklärerischen Alternativen zu dieser Staatszweckbestimmung durch das Gemeinwohl, nämlich in der Freiheitsrealisation, kennenlernen können.233 Ob Hillebrand als Logiker, Ästhetiker oder Naturrechtler einen prägenden Einfluss auf Georg Büchner ausübte, ist nach wie vor umstritten.234 Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer weit umfassenderen Erforschung des gesamten Werkes des Gießener Philosophen, die nach wie vor aussteht.235 Büchners oben erwähnter Freund Friedrich Zimmermann war 50 Jahre nach der gemeinsamen Studienzeit

|| 230 Büchner u. Weidig 1996, S. 824–30; vgl. auch die in den Text eingreifende Präsentation in P II, S. 5424–27; zutreffend dagegen MBA II.1, S. 66–8; es gehört zu den Eigentümlichkeiten einer bestimmten Büchner-Forschung, dass sie – obwohl in allen beiden erhaltenen Druckversionen des Hessischen Landboten die Gesetze aus dem »Wohl Aller« abgeleitet werden – behauptet, es könne sich hier nur um einen Druckfehler handeln (vgl. P II, S. 863f. oder auch Büchner u. Weidig 1996, S. 50, wo auch noch mit Bezug auf eine »freundliche Mitteilung« Herbert Wenders das schon ›verbesserte‹ »Wille aller« mit der »volonté générale« gleichgesetzt wird). Büchner habe sehr wohl gewusst, dass es sich bei einer Naturrechtsdeduktion der Gesetze nur um den Willen als Ausgangspunkt habe handeln können. Einzig Mayer (1979a, S. 269f.) behauptet, hier liege kein Druckfehler vor, sondern eine jener von ihm nachgewiesenen Verfälschungen Weidigs. Vgl. hierzu meine Ausführungen in Stiening 2012. 231 Vgl. Rousseau 1981, S. 279–281 u. S. 291f. (CS, I.6 u. II.3); zu Hillebrands RousseauInterpretation als Position des »Ultraliberalismus« vgl. Hillebrand 1822/23, III, S. 112. 232 Vgl. hierzu erneut Mayer 1979a, S. 269–281; Büchner u. Weidig 1996, S. 50; P II, S. 863f. 233 Vgl. Hillebrand 1822/23, III, S. 110ff.; zu den Differenzen dieser Staatszweckbestimmungen und ihres historischen Wandels im frühen 19. Jahrhundert vgl. Stolleis 1997, S. 8ff. 234 Vgl. – um nur eine Arbeit zu nennen, die sich tatsächlich mit Hillebrands Texten auseinandersetzt – Nowitzki 1998, der einen starken Einfluss annimmt, sowie die Kritik hieran von Roth u. Stiening 2000, die (S. 209f.) ein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis als nicht dokumentierbar zurückweisen. 235 Vgl. hierzu auch Fischer 1987, S. 349f.

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von einem nur geringen Einfluss überzeugt, auch wenn er Hillebrand als intellektuelle Ausnahmeerscheinung im provinziellen Gießen charakterisierte: Zu den Ausnahmen gehörte Joseph Hillebrand, ein ästhetischer Kritiker von ungewöhnlicher Begabung und feinster Bildung; ein Meister des Vortrags, der aber auf dem strengphilosophischen Gebiete durch seine speculative Terminologie wohl den meisten Zuhörern unverständlich oder doch fremdartig blieb. Wir bezweifeln, daß er auf Büchner eine tiefe und nachhaltige Wirkung geäußert habe.236

Diese nur mit einer psychischen Disposition Büchners zur Unruhe gegenüber der Geschichte der Philosophie mehr schlecht als recht begründete Annahme237 hat die Büchnerforschung von einer angemessenen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hillebrands bislang abgehalten.238 Immerhin lässt sich aufgrund der für Vorlesungszwecke verfassten Publikationen zur Logik und einer Rekonstruktion der hillebrandschen Positionen zum Naturrecht gut nachzeichnen, was Büchner im Sommer 1834 mehrmals die Woche hörte. Dass er den logischen und wissenschaftstheoretischen Ausführungen Hillebrands für seine naturwissenschaftlichen Arbeiten mehr abgewinnen konnte als den politphilosophischen, deren systematische und politische Affinität zum Liberalismus unverkennbar ist,239 liegt nach Sichtung der Texte auf der Hand; Büchners spätere Berufung auf einen »absoluten Rechtsgrundsatz«, der unübersehbar in den Kontext einer naturrechtlichen Argumentation zu lozieren ist,240 muss dennoch vor dem Hintergrund der Einführung in die Anfangsgründe dieser Wissenschaft durch Hillebrand berücksichtigt werden.241 Dass er darüber hinaus nachweislich noch im Sommer 1836 – und zwar sowohl in Leonce und Lena242 als auch in den philosophischen Skripten243 – formallogische Instrumentarien anzuwenden verstand, die er bei Hillebrand erlernte, wird sich bei einer näheren Betrachtung dieser Texte zeigen. Sicher ist, dass Büchner im Sommersemester 1834 zum ersten und einzigen Mal während seines kurzen Lebens in unmittelbaren Kontakt mit der professionellen Philosophie seiner Zeit kam.

|| 236 Zimmermann 1880, zitiert nach Hauschild 1985a, S. 336. 237 Zimmermann spricht davon, dass Büchner »die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie mehr beunruhigte als aufklärte« (ebd., S. 336), was im Abgleich mit Büchners brieflichen Äußerungen eher unwahrscheinlich wirkt; ein Argument für und gegen einen Einfluss Hillebrands auf Büchner bietet dieses freie Assoziieren Zimmermanns allerdings nicht. 238 Die Hinweise in MBA IX.2, S. 176–180 können dieses Desiderat nicht kompensieren. 239 Vgl. die aufschlussreichen Ausführungen von Klippel 1995, S. 288ff. 240 Vgl. P II, S. 44021 u. S. 1201/MBA X.1, S. 9330. 241 Vgl. hierzu Stiening 2012 sowie meine Ausführungen in Kap 4: Büchners politisches Wissen. 242 Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen bei Nowitzki 1998, S. 317ff. 243 Vgl. hierzu P II, S. 1775–9.

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2.1.5 Darmstadt, Oktober 1834 bis März 1835: Philosophiegeschichte? Nach dem Ende des Sommersemesters geht Büchner im September 1834 zurück nach Darmstadt und verbringt auf Anraten des Vaters den gesamten Herbst und Winter im Elternhaus.244 Wie vielfach in ebenso minutiöser wie kontroverser Form rekonstruiert (nicht ein einziger Brief Büchners aus der Zeit zwischen August 1834 und Februar 1835 ist überliefert),245 beschäftigt er sich neben seiner vordringlichen konspirativen Tätigkeit, die in besonders drängendem Maße um Fragen der Befreiung der gefangenen Freunde kreiste,246 mit dem ebenso heimlichen wie rastlosen Schreiben an Danton’s Tod.247 Vor allem aber hält Büchner unter der Anleitung seines Vaters »Vorlesungen über Anatomie für junge Leute«.248 Darüber hinaus »waren es, wie früher, Geschichte, Philosophie und Literatur, die ihn beschäftigten«.249 Welcherart Lektüre diese Reflexionsfelder zumindest auch ausfüllte, wissen wir durch die philologische Pionierarbeit Anna Jaspers, die in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1918 die Ausleihlisten der Darmstädter Bibliothek, deren Besuch schon Ludwig Büchner erwähnt hatte, auswerten konnte.250 Dabei sind neben historischen und literarischen Texten im vorliegenden Zusammenhang vor allem zwei Bände von besonderem Interesse: Büchner entleiht vom 9. bis 12. Oktober 1834 den ersten Band von Wilhelm Gottlieb Tennemanns 11-bändiger Geschichte der Philosophie, der neben einer systematisch und methodologisch ausgerichteten allgemeinen Einleitung in die Geschichte der Philosophie die Geschichte der griechischen Philosophie bis auf Sokrates enthält. Vom 1. bis 5. November leiht Büchner darüber hinaus einen Band mit politischen Schriften Jean-Jacques Rousseaus aus. Die vordringliche Auswertung dieser Liste im Hinblick auf die Quellen von Danton’s Tod251 hat allerdings zweierlei bislang übersehen lassen: Erstens scheint Büchner die im Sommersemester 1834 begonnene Unterweisung im neuzeitlichen Naturrecht mit einer Lektüre

|| 244 Vgl. Hauschild 1993, S. 395ff.; Beise 2010, S. 29. 245 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 395–437, kritisch hierzu – allerdings vor allem im Zusammenhang der Frage nach dem Vater-Sohn-Verhältnis – Mayer 1995–99, S. 38–46. 246 Ebd., S. 55ff. 247 Zur komplexen Gemengelage der Nöte, Interessen und Tätigkeitsfelder Büchners während der Herbst- und Wintermonate vgl. die – nur in ihrem unpolemischen Teil gelungene – Formulierung bei Mayer 1995–99a, S. 35: »Und tatsächlich überlagern sich im Winter 1834/35 die unterschiedlichen Bereiche von Politik (der von Büchners ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ wie der staatlichen Repression), der historischen und philosophischen Quellenstudien sowie der Abfassung eines Geschichtsdramas mit dem Privaten und Persönlichen – nicht zuletzt der ›Sorge‹ um die inhaftierten Freunde ebenso wie um die eigene Sicherheit – […] kompliziert und z. T. undurchsichtig […].« 248 So Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 116. 249 Ebd. 250 Vgl. Jaspers 1922, S. 15f.; wiederaufgenommen in Dedner (Hg.) 1990, S. 482; Hauschild 1993, S. 435; vgl. auch MBA III.3, S. 5–9. 251 So schon bei Jaspers 1922 und noch in MBA III.3, S. 9 u. S. 319–322.

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von Rousseaus politischen Schriften fortgesetzt zu haben. Unbestreitbar hat dies Auswirkungen auf Danton’s Tod,252 es zeigt aber auch, dass die im Hessischen Landboten noch unpräzisen Bezüge auf die naturrechtliche Willenstheorie Rousseaus einer Überprüfung bedurfte und dass Anregungen Hillebrands vermutlich weiterverfolgt wurden.253 Zweitens aber – und dies ist für die weitere Entwicklung der büchnerschen Beschäftigung mit der Philosophie ausschlaggebend – befasst sich der Student der ›Naturwissenschaften‹ erstmals mit Philosophiegeschichte als eigenständiger Disziplin. Dieser Nachweis einer Auseinandersetzung mit dem ersten Band der tennemannschen Philosophiegeschichte, die – wie die MBA ausdrücklich betont254 – kaum belegbare Spuren im Drama hinterließ und somit nicht als vorbereitende Lektüre für dessen Erarbeitung diente,255 zeigt, dass Büchner spätestens im Herbst 1834 die Philosophiegeschichtsschreibung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin entdeckt hatte;256 schon auf den ersten Seiten der Vorrede heißt es nämlich bei Tennemann: Die Geschichte der Philosophie kann […] weder Geschichte der Philosophen, noch der Philosopheme seyn. Jene begreift diese beiden in sich, aber sie ordnet sie einem höhern Zweck und Gesichtspuncte unter. Dieser ist nehmlich die Darstellung der Bildung und Entwickelung der Philosophie als Wissenschaft.257

Mit dieser Frage der Ausprägung einer Theorie und Methodologie der Geschichte der Philosophie beschäftigt sich Tennemann in seiner umfangreichen Einleitung zu diesem ersten Band; und dass jene Philosophie, mit der sich eine Geschichte der Philosophie einzig zu befassen habe, als Wissenschaft muss auftreten können, wird Büchner noch knapp zwei Jahre später intensiver reflektieren.258 Da er kaum fünf Wochen nach Erteilen des Testats durch seinen akademischen Lehrer Hillebrand, der selbst schon 1819 als Philosophiehistoriker hervorgetreten war,259 Tennemann in der Darmstädter Bibliothek ausleiht, liegt die Vermutung nahe, dass die Anregung für eine zuvor nicht belegbare Lektüre spezifisch philosophiehistoriographischer Texte durch Hillebrand erfolgte.

|| 252 Ebd. 253 Zu Büchners Rousseau-Lektüre vgl. Mayer 1979a, S. 112f.; dass Büchners politische und polittheoretische Positionen eine Entwicklung durchliefen, lässt sich nachlesen bei Stiening 2016. 254 MBA III.3, S. 9. 255 Vgl. u. a. MBA III.4, S. 163. 256 Diesen Sachverhalt verkennt MBA IX.2, S. 301–308. 257 Tennemann 1798–1819, I, S. V. 258 Vgl. hierzu den ersten Satz der Descartes-Vorlesung in P II, S. 1723: »Wie Cartesius die Philosophie als Wissenschaft sich dachte, […].« 259 Vgl. Hillebrand 1819, S. 237–590.

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Noch im Januar 1835 – nur Wochen vor seiner Flucht – hat Büchner Gelegenheit, eine andere, nicht wissenschaftliche Form der Philosophiegeschichtsschreibung zur Kenntnis zu nehmen, und zwar Heinrich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Diese der Form nach essayistische, ihrem Gehalt nach eher kulturgeschichtlich und -politisch interessierte Schrift260 wird Büchner für einige staatspolitische Debatten in Danton’s Tod auswerten,261 auf seine sich später ausbildende, disziplingebundene Form der wissenschaftlichen Historiographie der Philosophie wird dieser Text, obwohl Heine ebenfalls Tennemanns Philosophiegeschichte dem eigenen Schreiben zugrunde legte,262 kaum Einfluss gewinnen.263 Zumindest mittelbar ist letztlich nachweisbar, dass sich Büchner spätestens in diesem Winter mit der Philosophie Spinozas sowie mit Reflexionen auf eine aktuelle gesellschaftspolitische Bedeutung des Epikureismus und des Stoizismus befasst haben muss. Denn bekanntermaßen spielt die Philosophie Spinozas im Philosophengespräch von Danton’s Tod (III.1) eine zentrale Rolle, und zwar in den Deduktionsversuchen Thomas Paynes wider die Existenz Gottes.264 Einige Theorieelemente der genannten hellenistischen Schulen dienen darüber hinaus zur Charakterisierung der Positionen Robespierres und Dantons; letzterer erhebt den Epikureismus gar zur anthropologischen Konstante.265 Dass die poetische Transformation des Hellenismus vermutlich auf einem Wissen basiert, das der Schullektüre Büchners entsprang, hat – gegen die Kommentierungsvorschläge der MBA266 – Susanne Lehmann schlüssig nachgewiesen;267 welchen Texten aber die kritische Kenntnis der

|| 260 Heine 1976, V, S. 505–641. 261 Vgl. schon Mayer 1979a, S. 127ff.; Mayer 1979b, S. 390ff.; P I, S. 480ff.; MBA III.4, S. 43ff. sowie ausführlich und endlich auch in aufschlussreicher Interpretation Teraoka 2006, S. 96–128, spez. S. 121ff. 262 Vgl. Höhn 32004, S. 342. 263 Anders dazu P II, S. 957, der aber nur spekulierend von Heines Text als »Bezugspunkt, den Büchner mit Sicherheit im Auge hatte«, spricht; ungeprüft übernommen bei Martin 2007, S. 244; MBA IX.2, S. 183f. 264 Vgl. hierzu MBA III.1, S. 4724–5020; zur Interpretation dieser philosophischen Deduktionen und der Stellung Spinozas in ihnen vgl. Stiening 2002. 265 Vgl. MBA III.4, S. 46f. 266 MBA III.4, S. 46 vermutet, dass »Büchners Kenntnis der epikureischen und der ihr verwandten cyrenaischen Philosophie […] u. a. vermutlich auf der Epikur-Darstellung Tennemanns III« beruht. Mayer (1995–99a, S. 320f.) hat aber (gegen die ungenügend begründeten Spekulationen von Hauschild 1993, S. 527 und P II, S. 929) schlüssig gezeigt, dass Büchners Manuskripte zur griechischen Philosophie, die in der Tat (vgl. schon Bergemann 1922, S. 740f. sowie Stiening 2012a) vor allem ein Exzerpt aus den Bänden 1 bis 3 von Tennemanns Philosophiegeschichte darstellen, erst Mitte 1836 entstanden sein können. Nachweisbar ist – wie erwähnt – nur die Ausleihe von Band 1 dieses Kompendiums; MBA IX.2, S. 188 geht allerdings wieder von Sommer/Herbst 1835 aus. 267 Vgl. Lehmann 2005, S. 320ff.

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Philosophie Spinozas im Winter 1834 entstammte, ist nach wie vor ungeklärt.268 Die – empirisch nicht gesicherte269 – Auseinandersetzung mit der theologischen Dissertation seines Freundes Stoeber scheint eine mögliche, wenngleich nicht hinreichende Grundlage für diese Kenntnis und ihre poetische Gestaltung abzugeben.270

2.1.6 Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte: Straßburg, März 1835 bis Oktober 1836 Nach der nur äußerst knapp gelungenen Flucht aus Darmstadt271 werden die Dokumente für eine Auseinandersetzung Büchners mit der Philosophie oder der Philosophiegeschichte zunächst spärlicher; die finanzielle und politische Existenzsicherung des Exilanten steht im Vordergrund,272 auch wenn er seiner Familie noch auf der Flucht nachdrücklich versichert, dass er »das Studium der medicinischphilosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben« werde.273 Mit der Formel von den »medicinisch-philosophischen Wissenschaften« sind zweifelsfrei Büchners naturwissenschaftliche und -philosophische Ausbildungsstudien insbesondere in der vergleichenden Anatomie gemeint,274 die mit disziplinär gebundenen philosophischen oder philosophiehistorischen Themen nicht zu verwechseln sind.275 Auch die Versicherung gegenüber Gutzkow, er sei »entschlossen, [s]einen Studienplan nicht aufzugeben«,276 weisen ausschließlich in diese naturwissenschaftliche Richtung. Umso mehr muss es erstaunen, wenn Büchner noch im Oktober 1835 der Familie berichtet:

|| 268 Möglicherweise ließ sich Büchner durch das Spinoza-Kapitel in der Philosophiegeschichte Hillebrands anregen, der – wie Payne in Danton’s Tod – davon spricht, dass »eine gültige Deduktion des Guten und Bösen, nach einem wirklichen Gegensatze, unmöglich« sei, vgl. Hillebrand 1819, S. 529–533, spez. S. 531. 269 Anders, auf der Grundlage der Spekulationen Mayers, Vollhardt 1988/89, S. 47. 270 Vgl. hierzu ebd., S. 47, der davon spricht, dass die »Abhandlung Stoebers […] wie ein bedächtiger Kommentar zu den von Büchner nur ironisch oder provozierend gestellten Fragen« wirke. 271 Vgl. hierzu die detaillierte und anschauliche Darstellung bei Mayer 1995–99. 272 Vgl. Mayer 1985, S. 204 u. Mayer 1995–99, S. 55ff. 273 P II, S. 397; zur lebensweltlichen Bedeutung dieser Passage vgl. auch Hauschild 1985, S. 359f. 274 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 1046; Roth 2004, S. 38f.; MBA VIII, S. 189ff., S. 245f.; Beise 2010, S. 81. 275 So aber Kubik 1991, S. 203. Übrigens darf man die Formel ebensowenig mit einem vor allem erfahrungsgebundenen, »anti-metaphysische[n]« Verständnis der Medizin verwechseln, wie dies Seling-Dietz 1995–99, S. 193 und auf ihrer Grundlage MBA V, S. 132 in einem selbst antimetaphysischen Affekt tun (anders dagegen, allerdings ohne klare Ausrichtung MBA VIII, S. 190f.); vgl. hierzu auch meine Ausführung in Kap. 3. 276 P II, S. 40218f.; Hvhb. im Text.

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Auch sehe ich mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um.277

Büchner ist sich also noch im Oktober 1835 nicht nur über den konkreten Gegenstand seiner Promotion im Unklaren, selbst die Disziplin – Philosophie oder Naturwissenschaft – scheint zu diesem Zeitpunkt noch ›offen‹.278 Klar wird durch diesen Hinweis aber, dass er in dem halben Jahr seit März 1835 in Straßburg sowohl philosophische als auch naturwissenschaftliche Studien betrieben haben muss,279 denn er traut sich im Oktober 1835 immerhin auch eine Dissertation in der Philosophie zu, obwohl er dieses Fach nicht bzw. nur in den schon erwähnten »Zwangskollegien«280 studierte. Wenn er gar noch Mitte November 1835 an Karl Gutzkow schreibt: Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeiten des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen,281

dann muss noch der von Roth gegen Hauschild282 anvisierte Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung für die Wahl eines vergleichend anatomischen Themas und damit für die Disziplin der Naturwissenschaft weiter nach hinten verschoben werden. Der zwischen Naturgeschichte und Philosophie deutlich trennende Büchner spricht Mitte November in seinem Stoßseufzer über die »Armseligkeiten des menschlichen Geistes« eindeutig von Philosophie,283 so dass die Hoffnung vom 2. November, alsbald an »der Züricher Facultät den Doctorhut« zu erhalten und im Fach zu »dociren« sich ebenso auf ein philosophisches wie ein naturhistorisches Thema beziehen konnten.284 Wichtig ist auch hier, dass Büchner im Herbst 1835 zwar von einem potentiellen Dissertationsthema in der Philosophie, keineswegs aber einem der Philosophiegeschichte spricht;285 die Tennemann-Ausleihe im Jahre zuvor hatte

|| 277 Ebd., S. 4193–5; Hvhb. von mir. 278 So zu Recht P II, S. 877; Roth 2004, S. 22. 279 So auch MBA VIII, S. 188f., die allerdings fälschlicher Weise von philosophiehistorischen Gegenständen ausgeht. 280 Vgl. Knemeyer 1984, S. 312f. sowie Hauschild 1993, S. 252 und Roth 2004, S. 34. 281 P II, S. 420. 282 Vgl. Roth 2004, S. 22, der – ohne den Brief an Gutzkow von Mitte November zu zitieren – behauptet: »Etwa zu dieser Zeit [Ende Oktober/Anfang November] muß sich Büchner zur Abfassung einer naturwissenschaftlichen Dissertation entschlossen haben.« Hauschild 1985, S. 360f. hatte einen noch früheren Zeitpunkt vermutet. Beides aber muss als unpräzise bezeichnet werden. 283 Auch hier ist im Übrigen unklar, was Büchner gerade studierte. 284 Anders, aber unplausibel, weil psychologisierend dazu Roth 2004, S. 23; auch MBA VIII, S. 197 meint, dass sich die »Promotionshoffnung« von Anfang November »nur auf ein naturwissenschaftliches Thema beziehen« lasse, gibt für diese Spekulation aber keinerlei Gründe an. Sicher ist dagegen, dass Büchner noch Mitte November mit philosophischen Fragen beschäftigt ist, die ein ausschließlich anatomisches Arbeiten auf dem Felde der Naturforschung unmöglich machen. 285 Das übersieht MBA VIII, S. 191.

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also keinerlei Auswirkungen auf Büchners philosophisch-systematische Interessenausrichtung, etwa im Sinne einer schon 1834 erfolgten Spezialisierung auf den Bereich der Philosophiehistoriographie. Und erst nach Mitte November286 scheint sich Büchner endgültig für ein Thema im Gebiet der vergleichenden Anatomie als Gegenstand einer naturphilosophischen Dissertation an der philosophischen Fakultät in Zürich entschieden zu haben. Bis Anfang Juni des Jahres 1836 gibt es keine weiteren Dokumente einer Beschäftigung Büchners mit Philosophie oder Philosophiegeschichte; die theoretisch und praktisch aufwendige Arbeit am Dissertationsthema287 lässt in diesen Monaten keinen Raum für eine anderweitige Reflexionsarbeit. Doch schon kurz nach dem Absenden der Arbeit am 31. Mai 1836 lässt Büchner in einem Brief an Gutzkow verlautbaren: Ich habe nämlich die fixe Idee, im nächsten Semester zu Zürich einen Kurs über die Entwickelung der deutschen Philosophie seit Cartesius zu lesen.288

Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass dieser Hinweis Büchners auf seine berufliche Zukunft an der philosophischen Fakultät Zürich das erste tatsächliche Dokument (neben der Ausleihe des ersten Bandes von Tennemanns Kompendium im Oktober 1834) darstellt, das eine spezifisch philosophiehistoriographische Tätigkeit Büchners nachweist. Dienen die Anspielungen auf die Philosophie Spinozas sowie die epikureischen und stoischen Theoreme in Danton’s Tod eindeutig systematischen Extemporationen in geschichtsphilosophischer, ethischer oder politischer Hinsicht, so ist erst mit dieser brieflichen Aussage Büchners eine eigenständig philosophiehistorische Perspektive belegt. Dabei ist die Tatsache, dass er nicht die ganze, seit der Antike währende, sondern nur die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie zum Gegenstand seiner Vorlesungen machen will, ein erklärungsbedürftiges Phänomen, zu dem weiter unten Stellung bezogen werden soll. Wichtiger ist zunächst, dass Büchner zumindest in dieser Briefpassage mit dem Begriff der »Entwickelung« eine spezifisch philosophiegeschichtliche Kategorie verwendet, derer sich schon Tennemann bediente, um die Besonderheit einer philosophiehistorischen gegenüber einer philosophischen oder einer geschichtlichen Wissenschaft zu markieren: Als G e s c h i c h t e muß sie aber das Wirkliche in seinem Zusammenhange n a c h d e r Z e i t f o l g e d a r s t e l l e n , und gerade der Hauptzweck dieser Art von Geschichte, d i e D a r s t e l -

|| 286 So zu Recht Hauschild 1993, S. 512. 287 Vgl. hierzu das Kapitel über die Arbeitsweise Büchners bei Roth 2004, S. 70–78. 288 P II, S. 43918–20/MBA X.1, S. 9242–932.

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l u n g d e r E n t w i c k e l u n g u n d B i l d u n g d e r W i s s e n s c h a f t , ist nur unter der Bedingung möglich, daß sie c h r o n o l o g i s c h verfährt.289

Auch die ebenfalls 1834 und 1836 erschienenen philosophiehistorischen Kompendien von Erdmann und Hegel bedienen sich an zentraler Stelle ihrer methodologischen und systematischen Einleitungen des Begriffs der Entwicklung,290 so dass Büchners Verwendung dieses terminus technicus auf eine spezifisch philosophiehistoriographische Perspektive unmissverständlich hinweist.291 Offenbar aber ist diese Aussicht auch für Büchner neu, denn die Erwähnung dieser alsbaldigen Tätigkeit in Zürich lässt sich noch zwei weitere Male in seinen Briefen auffinden.292 Weil Büchner diesen Kurs, auf den er sich »in aller Gemächlichkeit fertig präparire[n]« will, schon am 1. Juni, also einen Tag nach Absendung der Dissertation nach Zürich,293 erwähnt,294 ist davon auszugehen, dass er noch während der Arbeit am naturwissenschaftlichen Mémoire Kontakte mit der Züricher Fakultät aufnahm, und von dort mit der Bitte um einen solch philosophiehistorischen Kurs konfrontiert wurde. Erst im Sommer des Jahres 1836 beginnt Büchner also – mit großer Wahrscheinlichkeit veranlasst durch äußere Interessen, nämlich die Lehrinteressen seiner zukünftigen Fakultät – mit einer intensiven Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Philosophiegeschichte, die in konkrete Vorlesungsskripte zu Descartes und Spinoza münden. Diese fertigt Büchner dann zwischen Juli und Oktober 1836 an; eine Arbeit, die ihn in diesen Monaten nahezu ausschließlich beschäftigt haben dürfte. Büchner arbeitet allerdings in den Sommermonaten 1836 an einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, dem gegenüber er in seinen Briefen eine sarkastische Verachtung zum Ausdruck bringt: Ich habe mich jetzt auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über so etwas ebenfalls höchst Überflüssiges,

|| 289 Tennemann 1798–1819, I, S. XVI. Hvhb. gesperrt im Text, kursiv von mir. 290 Hegel 1986, XVIII, S. 39–42; Erdmann 1932, S. 3, S. 24ff., S. 64, S. 71f. u. ö. 291 Das mag einem nicht passen (so Morawe 2005–08, S. 245f.; Morawe 2013, S. 132f.), weil man Büchner gerne zum Spinozisten erklären möchte (vgl. auch Beise 2010, S. 83ff.), dem die – 1836 wenig spektakuläre – Erkenntnis strenger Immanenz allen Seins an Spinoza aufgegangen sei; man muss dann aber zum einen Büchners frühe Abkehr von einem Gottesglauben, man muss zum anderen Büchners Kritik an Spinozas Gottesbegriff, und man muss letztlich den Entwicklungsbegriff erläutern, dessen sich Büchner im Zusammenhang seiner Züricher Vorlesungen zu bedienen versucht; zutreffend dagegen Röcken 2009, S. 136f. 292 Brief an Georg Geilfus vom 26. Juli 1836, P II, S. 44614–16, sowie Brief an Wilhelm Büchner vom 2. September 1836, P II, S. 44811–17; vgl. hierzu auch Stiening 2002, S. 48ff. 293 Vgl. hierzu Gillmann u. a. 1993, S. 150. 294 Vgl. Brief an Boeckel vom 1. Juni 1836; P II, S. 43726–28/MBA X.1, S. 9123–25.

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nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza zu halten.295

So Büchner im September 1836 in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm. Das scheint an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig zu lassen; die Philosophiegeschichte ist nach diesem Urteil für die Gesellschaft grundsätzlich nutzlos; und diese utilitaristische Perspektive macht sich Büchner auch offenbar zu eigen. Allerdings musste – wie Büchner durch seine naturwissenschaftlichen Studien wusste – eine solche Bewertung der Philosophie nach ihrem gesellschaftlichen Nutzwert nicht notwendig ihren wissenschaftlichen Wahrheitswert beeinflussen.296 Zu Recht schreibt schon Hans Mayer: »Der burschikose Ton solcher Zeilen sollte nicht über Ernst und Eifer der philosophischen Studien hinwegtäuschen.«297 Tatsächlich eröffnet die energische Insistenz seiner systematischen Auseinandersetzung mit Descartes und Spinoza, dass er dieser Beschäftigung neben der karrierefördernden Funktion auch wissenschaftstheoretisch mehr und anderes als ›Überflüssigkeit‹ abgewinnen konnte.298 Dass solcherart Beschäftigung soziopolitisch überflüssig ist, wusste Büchner schon länger;299 eine – gesellschaftlich oder wissenschaftsimmanent begründete – fundamentale Philosophiekritik lässt sich auch aus solcherart Invektiven nicht ableiten.300

|| 295 P II, S. 44811–17 u. MBA X.1, S. 10212–17. 296 Vgl. hierzu auch MBA VI, S. 166–169, die allerdings keine aspektuelle Differenzierung an diesen epistolaren Habitus Büchners heranträgt, sondern eine »humoristische Selbstverspottung« des auf die bürgerliche Karriere als eines Philosophiehistorikers angewiesenen Sozialrevolutionärs sieht. Ähnlich Teraoka 2006, S. 181: »Diese Äußerungen zeigen, wie das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit seines sozialen Status nicht nur zur bitteren Selbstironie, sondern auch zur radikalen Selbstkritik führte.« Dass diese angebliche Widersprüchlichkeit zwischen der sozialrevolutionären und einer wissenschaftlichen Existenz mehr den Verbalradikalismen der 1970er Jahre angehört als dem politischen und wissenschaftlichen Selbstverständnis Büchners und der 1830er Jahre, zeigt sich u. a. in Büchners letztem Brief, in dem er aus dem Schweizer Exil mit der Aussicht auf eine wissenschaftliche Karriere schreibt: » – aber ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund wie je.« Von radikaler Selbstkritik also keine Spur. 297 Hans Mayer 1972, S. 358; vgl. auch Vietta 1982, S. 150. 298 Insofern ist die neuere These, dass Büchner sich »hoffnungslos verstrickt« habe und »überfordert« gewesen sei (Kurzke 2013, S. 360) von der Unkenntnis der Philosophie Descartes und Spinozas ebenso getragen wie von der Ignoranz gegenüber dem zentralen Kontext, der Philosophiegeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts. 299 Vgl. hierzu Gedö 1995 sowie Stiening 2002, S. 47ff. 300 So aber schon Franzos (in Dedner [Hg.] 1990, S. 172ff.); Hans Mayer 1972; Kahl 1982; Horn 1982; Oesterle 1983, S. 225ff.; Kuhnigk 1987, S. 277ff.; Kubik 1991, S. 207; Glebke 1995, S. 7ff.; Osawa 1999, S. 22ff.; Beise 2013–15.

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2.1.7 In Zürich: Naturphilosophie Die Forschung hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass die letzten Seiten des Manuskripts zur Philosophie Spinozas rein exzerpierende Abschriften aus Tennemann ausmachen, die um Exzerpte aus Herbarts Allgemeiner Metaphysik ergänzt wurden.301 Thomas Michael Mayer hat die durchaus plausible Vermutung geäußert, dass Büchner Mitte Oktober aus Zeitdruck aufgrund der nahenden Abreise nach Zürich diese Exzerpte aus den beiden Bänden herstellte, weil er sie selbst nicht besaß.302 In Zürich angekommen aber wird er von der philosophischen Fakultät um eine Vorlesung in vergleichender Anatomie gebeten, die er tatsächlich auch beginnt,303 so dass seine philosophiehistorischen Vorlesungen nicht zu Stande kommen. Mit Ausnahme der naturphilosophischen Grundlagentheoreme seiner am 2. November gehaltenen Probevorlesung, die bestimmte theoretische Tendenzen des Mémoire präzisieren und erweitern, ist aus den wenigen Straßburger Wochen kein Dokument einer näheren philosophischen oder philosophiehistorischen Beschäftigung – schon gar nicht in der systematischen und professionalisierten Art der letzten Straßburger Monate – überliefert;304 die Erfahrungen eines neuen lebensweltlichen Umfeldes, die neuen politischen Verhältnisse und die neuen beruflichen Herausforderungen stehen im Vordergrund. Versucht man nach dieser Rekonstruktion der Entwicklung des philosophischen Denkens und Wissens, das sich Georg Büchner zwischen 1830 und 1837 aneignete, äußerte, poetisierte bzw. wissenschaftlich fundierte und funktionalisierte, die Bedeutung seiner philosophischen und philosophiehistorischen Reflexionen und Kenntnisse vorläufig zu resümieren und zu bewerten, so kann man festhalten, dass die Philosophie schon dem Schüler, aber auch dem Dichter, dem Politiker und dem Naturwissenschaftler ein Wissen zur Verfügung stellte, das er systematisch und pragmatisch auszuwerten und zu nutzen verstand. Sicher ist, dass die Philosophie kein äußerliches Schul- oder Gelehrtenwissen für Büchner darstellte, sondern ihm in logischen und wissenschaftstheoretischen, in ethischen und politischen, aber || 301 Bergemann 1922, S. 747; P II, S. 613–24 u. S. 926f.; MBA IX.2, S. 157–164. 302 Mayer 1995–99a, S. 319: »Prinzipiell könnten diese beiden Lagen daher auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt entstanden sein. Eindeutig dagegen sprechen Bergemanns Bemerkungen, daß die vorangehenden Teile der Vorlesung noch keine Spur der Herbart-Lektüre aufweisen und daß vor allem das Exzerpt aus Tennemann (Lage 21 oben Z. 1 mit ›T e n n e m a n n ‹ eingeleitet) an die bis zur vorletzten Seite von Lage 20 zitierten Seiten aus Tennemanns Schlußabschnitten zu Spinoza inhaltlich direkt anschließt. Dies vermittelt den Eindruck, als sei Büchner Mitte Oktober 1836 mit dem bis eine Seite vor Ende der Lage 20 reichenden darstellenden Teil seiner Vorlesung nicht mehr fertig geworden und habe sich, anscheinend selbst nicht im Besitz von Tennemann und Herbarts Werken, statt dessen die zur geplanten Beendigung in Zürich benötigten Passagen nur noch exzerpiert.« 303 Vgl. hierzu den brieflichen Bericht von August Lüning, eines damaligen Hörers der Vorlesung Büchners in MA, S. 384–387. 304 Vgl. auch MBA VIII, S. 214.

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auch in naturphilosophischen, anthropologischen und ästhetischen Hinsichten reflexions- und handlungsleitende Antworten bereithielt. Wenn Ludwig Büchner als sein erster Biograph leicht pathetisch festhielt: Die Philosophie betrieb Büchner nicht wie ein Gelehrter, sondern wie Einer, der von dem Baume der Wissenschaft die Früchte des Lebens pflücken will,305

dann entspricht diese Einschätzung einer die wissenschaftlichen und lebensweltlichen Positionen und Überzeugungen Büchners beeinflussenden Stellung der Philosophie den bis hierher gesichteten Dokumenten; die oben zitierten Hinweise der Schulfreunde Zimmermann und Luck weisen ebenfalls in diese Richtung. Selbst Wilhelm Schulz, der in seinem als biographisches Dokument stets fehlgedeuteten politischen Manifest über Büchner verlautbaren ließ, dieser habe »[a]n die ›welterlösende deutsche Philosophie‹« aufgrund seiner politischen Überzeugungen »keinen starken Glauben« gehabt, musste konzedieren, dass Büchner sich »eifrig« mit dieser Philosophie beschäftigt habe.306 Die Analyse und Interpretation der politischen, wissenschaftlichen und poetischen Texte Büchners wird zudem zeigen, dass sein philosophisches Wissen in diese Felder organisierend und bestimmend, und zwar systematisch und semantisch, eingriff. Daher kann schon vor einer eingehenden Betrachtung der philosophischen Skripte festgehalten werden, dass die seit Franzos topischen307 und durch die polithistorische Forschung der 1970er und 1980er Jahre mit neuen Argumenten forcierten Thesen von einer grundsätzlichen Kritik der Philosophie, die Büchner zugunsten einer modernen Wissenschaftstheorie überwunden habe, welche die politische Ökonomie ebenso wie die neue empirisch-experimentelle, mathematisch-physikalische Naturwissenschaft ermöglicht habe,308 durch die Dokumente ebenso wenig gedeckt werden wie die Annahme von einem systematischen, ›solidarisch-kritischen‹ Spinozismus309 oder einer intellektuellen Überforderung des genialischen Dichters.310 Büchner entwickelte schon in der Schulzeit und partizipierte noch in der Probevorlesung an einem Verständnis von Philosophie, das dem in den 1830er Jahren keineswegs als abgewirtschaftet geltenden Idealismus verpflichtet blieb; er versucht diese Grundhaltung mit anthropologischen Positionen zu vermitteln – eine von

|| 305 Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 133. 306 Schulz 1851, in Grab 1985, S. 68; zumindest für die zweite Straßburger Zeit hält Schulz schon in seinem Nekrolog 1837 fest: »Hier [in Straßburg] gab er entschieden die praktische Medizin auf, und widmete sich mit rastlosem Eifern dem Studium der neueren Philosophie« (Schulz 1837, in ebd., S. 139f.). 307 Franzos in Dedner (Hg.) 1990, S. 172f. 308 Vgl. Horn 1982; Kahl 1982; Osterle 1983; Kuningh 1987; Glebke 1995 und Osawa 1999, um nur die prägnantesten Ausprägungen dieser Position aufzurufen. 309 So MBA IX.2, S. 292ff.; Beise 2010, S. 85 oder Morawe 2013, S. 141ff. 310 Kurzke 2013, S. 359ff.

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seinem akademischen Lehrer Hillebrand ebenfalls, wenngleich mit stärker idealistischer Tendenz, unternommene Theoriekonzeption. Im Rahmen einer lustvollen Kritik an Hegel, die allerdings ohne ein vollständiges Verständnis dieser Philosophie bleibt und daher innerhalb der vom Hegelianismus gesetzten Grenzen agiert,311 erprobt Büchner diese neuen, zeitgenössischen Vermittlungen. Zugleich bilden sich schon seit seinem ersten Straßburgaufenthalt politische, polittheoretische und sozialphilosophische Positionen aus, die als deutlich idealismuskritisch bestimmt werden müssen, ohne wiederum einen ausdifferenzierten, wohl begründeten Materialismus im Sinne Feuerbachs oder gar Marxens zu konturieren.312 Ebenso wenig wie eine grundsätzliche Philosophiekritik in Büchners Positionen erkennbar ist, kann jedoch die Philosophie als das für Büchners politische, naturwissenschaftliche oder poetische Reflexionen entscheidende Wissensfeld inthronisiert werden. Die These Erwin Kobels, nach der Büchner »in wesentlichem Maß durch die Beschäftigung mit der Philosophie« seine poetischen Texte konfigurierte,313 die von Henri Poschmann dergestalt aufgenommen wurde, dass »Büchners philosophisches Interesse […] bis in jede Zeile von ihm« ausstrahle,314 ist nicht verifizierbar, weil die Naturphilosophie einschließlich ihrer empirischen Verifikationsinstrumente sowie die aktuelle Politik in mindestens ebenbürtiger Weise Büchners Denken und Handeln prägte; es wird sich darüber hinaus zeigen, dass im Hinblick auf seine poetischen Texte deutliche und je spezifische Kontexthierarchien dieser Felder herzustellen sind. Als Philosoph gar, wie eine hagiographische Forschung dies gerne sähe,315 ist Büchner unter keinen Umständen zu entdecken, und zwar weder in systematischer noch in philosophiehistorischer Hinsicht; selbst im Hinblick auf eine Rekonstruktion der Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung bilden Büchners Texte nur einen Nebenstrang aus,316 nicht nur weil seine Texte erst 1971 erstmalig vollständig publiziert wurden, sondern weil sie gegenüber zeitgenössischen Alternativen in ihrer systematischen wie begriffs- und argumentationsanalytischen Komplexität durchaus abfallen – was unter den Ausbildungsvoraussetzungen und zeitlichen Bedingungen auch nicht verwunderlich ist. Unter den Versuchen, Büchner zum Systematiker zu erklären, sind auch solcherart Konzeptionen zu verstehen, die im Anschluss an eine ältere Forschung seine Schriften unterschiedslos in den Kontext einer romantischen Kritik an Modernität

|| 311 Zur Struktur solcher Kritik an Hegel auf hegelschen Grundlagen als Grundmotiv der Philosophie der 1830er Jahre vgl. MEW III, S. 19; Gedö 1995 sowie Schmidt am Busch 2007. 312 Zu dessen Konturen vgl. Mensching 2007, S. 35ff. 313 Kobel 1974, S. 3ff. 314 P II, S. 925. 315 Vgl. hierzu insbesondere Hauschild 1993, S. 528; kritisch hierzu Stiening 2002, S. 47; unbeeindruckt davon aber Hauschild 22004, S. 128; MBA IX.2, S. 243–298 oder auch Morawe 2013. 316 Vgl. hierzu auch Stiening 2005.

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und damit Wissenschaftlichkeit und Rationalität überhaupt einschreiben, womit die Theorien Schopenhauers, Kierkegaards oder gar Baudelaires verbunden werden.317 Deren pessimistische Metaphysik und Anthropologie ist aber mit Büchners politischen, philosophischen oder poetischen Positionen in keiner Weise zu vermitteln, zumal – und hierin liegt ein wesentlicher methodischer Einwand – kein programmatischer philosophischer Text Büchners überliefert ist, an dem sich solcherart »Wahlverwandtschaft«318 angemessen auch nur überprüfen ließe. Die überlieferten Texte und Dokumente weisen Büchner nicht als systematischen Philosophen aus, weder als Idealisten noch als romantischen Antiidealisten, noch gar als Materialisten. Weil Büchner aber weder an der antiidealistischen Weltanschauungsphilosophie der europäischen Romantik319 noch an Auguste Comtes positivistischer Revolution der Philosophie,320 die in den 1830er Jahren von Paris ihren Ausgang nahm, teilhatte, noch auch der spätestens mit Strauss’ Leben Jesu (1835) einsetzenden und in Feuerbach kulminierenden, die 1830er Jahre bestimmenden Religionskritik321 oder der schon 1840 auftretenden modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Trendelenburgs322 auch nur entfernt zugehörte, sind auch unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten Georg Büchners Texte nicht sinnvoll zu analysieren und zu interpretieren. Als zeitgenössischer Philosoph der 1830er Jahre – und deren wichtigste Tendenzen wurden hiermit genannt – ist Büchner nicht zu entdecken; eine angemessene Berücksichtigung des historischen Kontextes und dessen Aufarbeitung durch die Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts lässt an diesem Urteil keinen Zweifel. Unter ideengeschichtlicher Perspektive aber ist seine energische Beschäftigung mit der Philosophie der Neuzeit entschiedener als bisher zu berücksichtigen.323 Das umfangreichste und differenzierteste Dokument dieser Beschäftigung liegt in den Vorlesungsskripten zu Descartes und Spinoza vor.

|| 317 Vgl. hierzu u. a. Wittkowski 1976, Wittkowski 1989; Vietta 1992, S. 131ff.; insbesondere aber die weitgehend haltlosen Assoziationen von Schwann 1997; Faber 2002; Schwann 2003 und Wittkowski 2009, S. 159ff. 318 So programmatisch Faber 2002 schon im Titel. 319 Zu deren Bedeutung schon in den 1830er und 1840er Jahren vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 251–301; Gedö 1995, S. 14–22; Röd 2006, S. 201ff. 320 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 22–34 sowie Wagner 2001; Lepenies 22006, S. 15–48; zur Abgrenzung Büchners gegenüber dem Positivismus vgl. schon Döhner 1967, S. 167–170. 321 Vgl. u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 194ff. u. S. 202–215 sowie Weckwerth 2003. 322 Vgl. hierzu Köhnke 1993, S. 22–57; Beiser 2014, S. 19ff. 323 Dies gilt es vor allem gegen neuere Marginalisierungen (Kurzke 2013, S. 359ff.) zu belegen.

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2.2 Die philosophischen Vorlesungsskripte Nach Vorarbeiten im Sommer und Herbst 1835 arbeitet Büchner zwischen Juli und Oktober 1836 fieberhaft an der Ausarbeitung seiner Vorlesungsskripte zur »Entwickelung der deutschen Philosophie seit Cartesius«.324 Von einer gemächlichen Bearbeitung, wie zunächst noch erhofft,325 war nach der den Juni und einen Teil des Juli 1836 verschlingenden Konzeptionierung und Niederschrift von Leonce und Lena326 nicht mehr zu denken. Dabei schreibt sich Büchner mit diesen philosophiehistorischen Texten in einen zeitgenössischen Kontext ein, der ihm selbst weitgehend unbekannt war und der auch der Büchner-Forschung in weiten Teilen verborgen geblieben ist.327 Im Folgenden wird daher eine Skizze der Entstehung und Entwicklung der Philosophiegeschichtsschreibung als akademischem Fach entworfen, und zwar in einem ersten Schritt in Bezug auf die Phase dieser Wissenschaftsentwicklung seit 1790 und in einem zweiten Schritt hinsichtlich der Besonderheit der epistemischen Situation dieser jungen Disziplin in den 1830er Jahren.

2.2.1 Philosophiegeschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert Bekanntlich entsteht die Philosophiegeschichtsschreibung nicht erst im späten 18. Jahrhundert.328 Mit Christoph August Heumanns,329 vor allem aber mit Jakob Bruckers330 umfangreichen, schnell wirksam werdenden Kompendien, die noch Hegel und Hillebrand ausgiebig nutzten,331 liefert schon die wissenschaftshistorisierende Aufklärung gewichtige Beiträge zur Entstehung einer eigenständig geschichtlichen Perspektive auf das philosophische Denken, die durch die Göttinger Empiristen um Christoph Meiners, Michael Hißmann und Johann Christian Garve kontinuierlich erweitert wird;332 schon im späten 18. Jahrhundert müssen und wollen auch systematisch ausgerichtete Philosophen ihren Werken philosophiegeschichtliche Erläuterungen oder Fundierungen hinzufügen: So veröffentlicht der Leipziger Mediziner und Philosoph Ernst Platner weitverbreitete Philosophische

|| 324 MBA IX.2, S. 188f.; vgl. auch P II, S. 43919f.. 325 Vgl. P II, S. 43726–28/MBA X.1, S. 9123–25: »Jedenfalls fange ich aber nächsten Wintersemester meinen Kurs an, auf den ich mich jetzt in aller Gemächlichkeit fertig präpariere.« 326 Vgl. MBA VI, S. 215ff. 327 Zur Bestimmung und Kontextualisierung als philosophiehistoriographische Texte vgl. Proß 1982, S. 84f.; Vollhardt 1991, S. 199; P II, S. 975f.; Stiening 2000–04, Stiening 2005; Röcken 2009. 328 Siehe hierzu u. a. Michalski 2010, S. 19ff. sowie Holzhey 2014, S. 1430. 329 Zu Heumann vgl. Braun 1990, S. 109 sowie Lehmann-Brauns 2004, S. 355–396. 330 Zu Brucker vgl. ebd., S. 131ff.; Albrecht 2005 sowie Keßler 2005. 331 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 14ff.; Hillebrand 1819, S. 425, 428 u. ö. 332 Vgl. hierzu Braun 1990, S. 182–192 sowie Grunert 2013.

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Aphorismen – ein erkenntnistheoretisches und metaphysisches Handbuch zum Gebrauch seiner Vorlesungen –, die in allen Auflagen bis 1800 den Zusatz tragen: »nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte«;333 auch Immanuel Kant beendet – unweit einflussreicher – die Kritik der reinen Vernunft mit einem Abschnitt über »Die Geschichte der reinen Vernunft.«334

2.2.1.1 Der »Methodenstreit« zwischen 1790 und 1820 Dennoch muss hinsichtlich der Entwicklung dieser Geschichtsschreibung von einem erkennbaren Einschnitt bzw. einem methodischen und systematischen Innovationsschritt seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gesprochen werden, der vom Problem der Wissenschaftlichkeit nicht allein der Philosophie, sondern der Philosophiegeschichte ausging. Seiner äußeren Form nach entwickelte sich dieser Paradigmenwechsel, dessen einzelne Etappen sich historisch über drei Jahrzehnte zwischen 1790 und 1820 erstreckten,335 als ein Streit über die Methode der Philosophiegeschichtsschreibung, der auf der Differenz unterschiedlicher systematischer Prämissen hinsichtlich des Begriffs von Geschichte überhaupt, dem Verständnis von Begriffs- und Denkgeschichte sowie deren Relation zur Politik- oder allgemeinen Kulturgeschichte beruhte.336 Ausgangspunkt der fruchtbaren Auseinandersetzung war die von Kant gegen den archivarischen Empirismus der Göttinger Schule aufgestellte These, eine wissenschaftliche Philosophiegeschichte könne nicht empirisch vorgehen.337 Dabei kann eine berühmte Passage aus dem opus postumum zeigen, worauf Kant abzielte und was sich als Kontroverse der Disziplin durch das 19. Jahrhundert – und letztlich bis heute338 – erhalten wird: Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch sondern rational d. i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft aufstellt so entlehnt sie solche nicht von der Geschichtserzählung sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.339

Natürlich konnten die Zeitgenossen diese Passage nicht kennen,340 und auch wenn die Kritik der reinen Vernunft diese transzendentale Begründung der Philosophiege-

|| 333 Vgl. u. a. Platner 1800; zu Platners Verständnis von Philosophiegeschichte vgl. Bondeli 2007. 334 Vgl. KrV B 880–884; vgl. hierzu Höffe 1998, S. 636ff. 335 Vgl. hierzu Geldsetzer 1966. 336 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 7–81. 337 Vgl. hierzu u. a. ebd., S. 21f.; Kaehler 1982, S. 30ff.; Braun 1990, S. 217–237; Stiening 2005, S. 226ff. 338 Vgl. hierzu Poser 1971, S. 67–76; Mittelstrass 1991, S. 11–30; Wilson 1992, S. 191–243; Kolmer 1998, S. 21–40; Kang 1998, S. 105ff.; Flasch 2003/2005 und Schmidt-Biggemann 2007. 339 Zitiert nach: Kant 1900, XX, S. 3418–11. 340 Zur wechselvollen Publikationsgeschichte des opus postumum vgl. Tuschling 1971, S. 3–14.

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schichte nicht vollends hergab,341 war Kantianern wie Karl Leonard Reinhold, Karl Heinrich Heydenreich oder Gottlieb Wilhelm Tennemann342 deutlich bewusst, welche Aufgabe sie als Philosophiehistoriker bei der Vermittlung von System und Geschichte zu lösen hatten: Die Geschichte der Philosophie hat dadurch eine eigene Art der Würde, daß sie die Thätigkeit des Geistes für einen Vernunftzweck darstellt.343

Dass dieses transzendentale Verständnis von Philosophiegeschichte – übrigens schon bei Kant – nicht ohne eine polemische Abgrenzung auskommt, und zwar sowohl gegen die »bisherigen«, d. h. seit »Diogenes Laertius« festzustellenden Versuche als auch insbesondere gegen die Alternativkonzeption der Göttinger Schule,344 deren psychologisch-empiristischer Ansatz einer scharfen Kritik verfällt, zeigt die folgende Passage: Der Mangel an philosophischem Geist, und an einem bestimmten Begriffe von Philosophie und den Erfordernissen einer Geschichte derselben setzt die meisten Schriftsteller dieses Faches in die Klasse der Compilatoren und Chronikenschreiber.345

Gelingen kann diese Abgrenzung gegen ein rein additives Aggregat346 der Philosophen und ihrer Theorien nur durch die Entwicklung eines »apriorischen Schemas der Geschichte der Philosophie«,347 mit Hilfe dessen in umgekehrter Beweisrichtung gezeigt werden sollte, dass Philosophiegeschichte ein nicht nur äußerlicher Zusatz, sondern notwendig integraler Bestandteil der Philosophie als Wissenschaft darstellt; Philosophiegeschichte wird so geschichtsphilosophisch zu einem Moment systematischer Philosophie. Auch wenn, ja gerade weil »die Kantischen Überlegungen ein abgerundetes Programm für eine philosophische Philosophiegeschichtsschreibung abgeben«,348 regte sich erheblicher Protest gegen diesen Apriorismus einer Geschichte des philosophischen Denkens, der als unhistorisch, empirisch unzulänglich und funktionalistisch kritisiert wurde, und zwar sowohl von der psychologisch argumentierenden Theorie einer Philosophiegeschichte bei Diedrich Tiedemann, Dietrich Jenisch oder später Georg Friedrich Daniel Goeß349 als auch von Seiten der systematischen Philo|| 341 So zu Recht Kaehler 1982, S. 29ff. 342 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968, S. 19–47. 343 Vgl. u. a. Tennemann 1798–1819, I, S. XLII. 344 Vgl. hierzu u. a. Braun 1990, S. 182–192. 345 Tennemann 1798–1819, I, S. LXIII. 346 Vgl. hierzu Tennemanns ganz kantische Unterscheidung zwischen Aggregat und System in ebd., I, S. XIII. 347 Geldsetzer 1968, S. 23. 348 Ebd., S. 24. 349 Vgl. ebd., S. 31ff. sowie Braun 1990, S. 193ff. u. S. 239ff.

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sophie, für die die Geschichte der Philosophie dieser selbst als Wissenschaft äußerlich bleiben musste und sollte.350 Trotz dieser Kritik, die von empiristischer Seite auch unter Aktualisierungsversuchen älterer Konzeptionen, so der Christian Garves,351 betrieben wurde, setzte sich in der bedeutendsten Philosophiegeschichte der Zeit, dem 11-bändigen Werk Gottlieb Wilhelm Tennemanns,352 die kantische Option durch, gemäß der der Marburger Philosophiehistoriker definierte: Geschichte der Philosophie ist die Darstellung der successiven Ausbildung der Philosophie oder der Darstellung der Bestrebungen der Vernunft, die Idee der Wissenschaft von den letzten Gründen und Gesetzen der Natur und Freiheit zu realisiren.353

Doch von Seiten alternativer Aufklärungskonzepte zur Philosophiegeschichtsschreibung wurde der kantische Entwurf und seine ebenso wuchtige wie wirkungsvolle Einlösung im tennemannschen Kompendium weiterhin einer Kritik unterzogen, die auch nach 1800 den übermäßigen Systematisierungsgedanken beklagt, der die empirischen Einzelheiten in Kontroversen, Zeitschriftendebatten u.v.a. vernachlässige. Dieser Standpunkt einer erneuerten Gelehrsamkeit wird insbesondere von dem einflussreichen Johann Gottlieb Buhle und dem Büchner möglicherweise bekannten354 Wilhelm Traugott Krug vertreten.355 Nach 1800 – und man muss bedenken, Tennemann arbeitet noch bis 1819 an seinem Werk, von dem nahezu jährlich ein neuer Band erscheint – werden aber auch andere Stimmen laut, die an der spezifisch kantianisierenden Systematisierung Tennemanns Grundsätzliches auszusetzen haben. Zu diesen Stimmen gehört die von Friedrich August Carus,356 der in Aufnahme jacobischer Prämissen eine genetisch-systematische Darstellung der Philosophie postulierte und entwickelte, die aufgrund ihrer Fundierung in Intuitionen und ähnlichen Gefühlslagen gegenüber Schuleinteilungen oder nationalen Besonderheiten indifferent sei. Dagegen meldete sich schon 1801 auch Hegel gegen Reinholds philosophiegeschichtliches Modell mit einem Beitrag zu Worte, der Elemente der späteren spekulativen Philosophiegeschichte andeutet.357 || 350 Vgl. hierzu die vermutlich von Fichte verfasste Übersicht des Vorzüglichsten, was für die Geschichte der Philosophie seit 1780 geleistet wurde in Niethammers Philosophischem Journal von 1795 und deren Darstellung bei Geldsetzer 1968, S. 27. 351 Vgl. hierzu ebd., S. 34. 352 Zu Tennemann vgl. u. a. Geldsetzer 1968, S. 35–40; Braun 1990, S. 254–266; Schröpfer 1994 passim; Franz 1996, S. 42f.; Schneider 1999, S. 161–166 u. S. 170ff. sowie Holzhey 2014, S. 1439ff. 353 Tennemann 1798–1819, I, S. XXIX. 354 Vgl. hierzu die Schulbibliothek Büchners bei Lehmann 2005, S. 500. 355 Vgl. Braun 1990, S. 268f. 356 Zu Carus vgl. Geldsetzer 1968, S. 59ff.; Braun 1990 269f. sowie Gisi 2007, S. 187ff. 357 Vgl. Hegel 1986, II, S. 15–20; schon hier kritisiert Hegel an Reinhold jenen systematischen Indifferentismus, den auch Kant und Reinhold schon den Göttingern vorgeworfen hatten: »Ein Zeitalter, das eine solche Menge philosophischer Systeme als eine Vergangenheit hinter sich liegen hat, scheint zu derjenigen Indifferenz kommen zu müssen, welche das Leben erlangt, nachdem es

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Vor allem aber wird durch Autoren wie Friedrich Ast, Christian Friedrich Krause, August Ludwig Hülsen oder Carl Friedrich Bachmann eine grundlegend neue Form der Philosophiegeschichte inthronisiert,358 die sich einer romantischen Geschichts- und Philosophievorstellung verdankt. Ein entscheidender Charakterzug dieser Variante von Philosophiegeschichtsschreibung im frühen 19. Jahrhundert besteht in einem dezidierten Anti-Apriorismus des Vernunft- und Geschichtskonzepts;359 zwar werden allgemeine Gesetze zur Verlaufsform der Geschichte des philosophischen Denkens formuliert, doch werden sie einerseits auf einen heuristischen Status begrenzt und andererseits schon seit einer frühen Stellungnahme Schellings mit Entwicklungsformen der Natur analogisiert.360 Insbesondere Friedrich Ast erweist sich in dieser naturphilosophischen Fundierung der Philosophiegeschichte als Programmatiker und Exekutor schellingscher Vorgaben.361 So sehr Büchner jedoch als Naturwissenschaftler und -philosoph in dieser Tradition der Schellingschule argumentiert – als Philosophiehistoriker steht er dieser Fraktion grundsätzlich fern. Die hermeneutischen Prinzipien zu Übersetzungen und zum Umgang mit der Geschichte des Denkens bei Schleiermacher, der eine besondere Form dieser romantischen Philosophiegeschichtsschreibung ausbildet, führen aufgrund der konstitutiven Funktion des Geniebegriffs u. a. zu einer Wiederkehr der intellektuellen Biographie.362 Schleiermachers Betonung der Intuition und sein religiöser AntiApriorismus belegen seine gegenaufklärerische Stellung auch in Fragen der Philosophiegeschichtsschreibung ebenso, wie seine philologische Präzision und seine sprachtheoretischen Grundlagen363 ihn von der spekulativen Philosophiegeschichte Hegels nachhaltig unterschieden. Bevor nun zum Tableau der philosophiehistorischen Wissenschaften in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Büchners Skripten überzugehen ist, kann man festhalten, dass der in Straßburg seine Vorlesungen vorbereitende Züricher Philosophiehistoriker von dieser sachlich hochkomplexen intellektuellen Landschaft, auf der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Gebiet der Wissenschaftsgeschichte epochenkonstitutive Auseinandersetzungen geführt wurden, offenbar keinerlei Kennt-

|| sich in allen Formen versucht hat; der Trieb zur Totalität äußert sich noch als Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse, wenn die verknöcherte Individualität sich nicht mehr selbst ins Leben wagt.« Zu dieser frühen philosophiehistoriographischen Position Hegels vgl. Geldsetzer 1968, S. 47ff. 358 Zu diesen Philosophiehistorikern und der durch sie ausgemachten Tendenz vgl. Braun 1990, S. 306ff. 359 Vgl. schon Schelling 1985, I, S. 299f. 360 Ebd. 361 Vgl. Braun 1990, S. 320ff. 362 Zu einer Aktualisierung dieser Konzeption vgl. Flasch 2003/05, I, S. 62–80 sowie – ganz anders begründet – Schmidt-Biggemann 2007, spez. S. 371ff. 363 Vgl. hierzu auch Schmidt 2005, S. 210ff. u. S. 253ff.

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nisse besaß; nicht nur das Fehlen einer Zweck, Ordnung und Methode der Vorlesungen legitimierenden Einleitung legt diese Vermutung nahe, auch das gänzliche Fehlen eines kritischen oder affirmativen Bezugs auf eine der genannten klar konturierten Positionen deutet auf Büchners Unkenntnis hin; für die wissenschafts- und kulturgeschichtliche Stellung seiner Texte ist diese gleichsam negative Kontextualisierung von essentieller Bedeutung – von der These nämlich, Büchners »Wahl der cartesianisch-spinozistischen Systemphilosophie« als Gegenstand einer philosophiehistorischen Vorlesung sei »›für die akademische Diskussion der Zeit ungewöhnlich‹«,364 muss sich die Büchner-Forschung verabschieden; weder die Wahl des Themas überhaupt noch das Niveau der begrifflich analytischen Durchdringung durch Büchner kann als »ungewöhnlich« bezeichnet werden; auf seine Hauptquelle Tennemann bezieht sich Büchner nicht aus wissenschaftstheoretischen, sondern aus pragmatischen Gründen, die sich auf die unvergleichliche Fülle und übersichtliche Organisation des präsentierten Materials durch Tennemann stützen; dies gilt aber auch für Victor Cousin, Samuel Taylor Coleridge, Hegel, Heine u.v.a., die sich in den 1830er und 1840er Jahren aus je unterschiedlichen Motiven und Erwägungen auf Tennemann stützten.365 Erst Eduard Erdmanns und nach ihm Friedrich Überwegs Philosophiegeschichten366 werden Tennemanns Kompendium aus dieser Stellung des Standardwerkes einer jeden philosophiehistorischen Studie oder Vorlesung ablösen. Die romantischen ebenso wie die neugelehrten empiristischen Konzeptionen, die methodologisch und systematisch gegen Tennemann optierten, scheint Büchner nicht wahrgenommen zu haben; dies gilt – jedoch in geringerem Maße – auch für die die 1830er Jahre prägende idealistische Revolution des Faches.

2.2.1.2 Dominanz des Idealismus: Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren Büchner beginnt die Ausarbeitung seiner philosophischen Skripte zu einem Zeitpunkt (Juli 1836), da in Frankreich eine von Victor Cousin ausgehende Konjunktur der Philosophiegeschichte ihre ersten einflussreichen Anfänge nimmt,367 in Deutschland dagegen nach einer konsolidierenden Phase in den 1820er Jahren368 die ersten

|| 364 So Hauschild 1993, S. 528 (mit Bezug auf einen ungedruckten Text von Silvio Vietta); Bergmann 1922, S. 741 u. S. 745 und die Marburger Denkschrift 1981, S. 161; der Büchner-Biograph wiederholt diese Thesen wortidentisch in Hauschild 22004, S. 126. 365 Zu einer fundierenden Tennemannrezeption bei Samuel Taylor Coleridge, vgl. Schneider 1999, S. 152f. u. S. 159; bei Cousin ebd., S. 180; bei Hegel ebd., S. 216f.; sowie bei Heine, vgl. Höhn 32004, S. 342. 366 Zum weiteren Gang der Philosophiegeschichte als Wissenschaft im 19. Jahrhundert vgl. Geldsetzer 1968, S. 81–114. 367 Vgl. hierzu Schneider 1999, S. 180–212 und Pätzold 2007, S. 85f. 368 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 81ff.

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idealistischen Kompendien der Hegelschule die systematische, methodische und historisch durchführende Forschung auf eine neue Grundlage stellen. Lutz Geldsetzer hat dieses Neue der epistemischen Situation der 1830er Jahre in der Disziplin ›Philosophiegeschichte‹ auf den Begriff gebracht, wenn er schreibt: »Mit dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnt dann der Einfluß Hegels sich stärker und schließlich dominierend bemerkbar zu machen.«369 Zwar ist Ulrich Johannes Schneider darin zuzustimmen, dass »das massive Interesse an der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert nicht mit dem Einflußbereich des Hegelianismus korreliert werden« kann.370 Für die 1830er Jahre muss aber von einer solch hegelianisierenden Tendenz gesprochen werden.371 Diese wissenschaftsgeschichtliche Konjunktur basiert allerdings nur zu einem Teil auf der Tatsache, dass die hegelschen Vorlesungen selbst zwischen 1833 und 1836 erstmals erschienen;372 schon vor dieser Publikation veröffentlichten Ludwig Andreas Feuerbach (1833)373 und Johann Eduard Erdmann (1834)374 erste Teile umfangreicher philosophiehistorischer Kompendien mit hegelianischer Systematik und Methodik, die auf der Grundlage und Weiterführung der zwischen 1790 und 1820 geführten Debatten weitreichende Wirkungen erzielten. Die theoretische Konkurrenz beider Philosophiehistoriker, die ihre Differenzen auch öffentlich austrugen, steigerte deren breite Wirkung.375

|| 369 Geldsetzer 1968, S. 83. 370 So zu Recht Schneider 1999, S. 244. 371 So auch Michalski 2010, S. 73ff. 372 Eine dreibändige Ausgabe der »Geschichte der Philosophie« Hegels erschien erstmals im Rahmen der ersten Werkausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. 18 Bde. Berlin 1832–1845, Bd. XIII–XV, Berlin 1833–1836; zu dieser Ausgabe vgl. Geldsetzer 1968, S. 49ff. 373 Ludwig Feuerbach: Geschichte der neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza. Ansbach 1833, zitiert nach Feuerbach 1990. 374 Johann Eduard Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 1.1 [Einleitung / Cartesius, Riga 1834]; zitiert nach Erdmann 1932; zu Erdmann vgl. Glockner 1932; Geldsetzer 1968, S. 86–90 sowie Schneider 2007, S. 16. 375 Schon im ersten Band seines Versuchs sucht Erdmann entschieden die Auseinandersetzung mit Feuerbachs ein Jahr zuvor erschienenem Entwurf, wenn er u. a. in Bezug auf die Interpretation des cogito-Arguments durch den Konkurrenten schreibt: »Wenn ich aber hier meine Freude aussprechen muß, mit F. an einem so wichtigen Punkte ganz zusammentreffen, sowie meinen Dank, daß er in Manchem, was mir noch dunkel schien, durch seine geistvolle Darstellung mir zu deutlicherer Einsicht verholfen hat, so kann ich doch wieder nicht umhin, auf Einiges aufmerksam zu machen, worin Feuerbach das Tiefe, was er gefunden, wenn nicht zu vergessen, so doch außer Acht zu lassen scheint, und selbst dem Cartesius Mängel nachweisen will.« Erdmann 1932, S. 284f. Feuerbachs Entgegnung ließ nicht lange auf sich warten; in einer Rezension eben dieses ersten Bandes von Erdmanns Versuch hält er fest: »So wie aber der Verf. den Begriff der Notwendigkeit durch die Idee der Totalität und Simultaneität der Vernunft, so hätte er auch den Begriff, der ihn bestimmte, unmittelbar Cartesius als den Anfang der neuern Philosophie zu setzen, synthetisch erweitern sollen.

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Selbst Schelling hält im Wintersemester 1833/34 eine Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie, die er mit Cartesius beginnen lässt;376 und dass der sich als Hegelschüler (miss)verstehende377 Heinrich Heine 1834 seinen Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland erscheinen lässt,378 ist ganz unstreitig auf diese in Frankreich und Deutschland zu verzeichnende Konjunktur (idealistischer) Philosophiegeschichtsschreibung zurückzuführen. Vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland verlässt die Philosophiegeschichte in den 1830er Jahren auch institutionell ihre Nischenstellung und wird zu einem das Fach prägenden Betätigungsfeld in Forschung und Lehre.379 An dieser Konjunktur will die philosophische Fakultät in Zürich offenbar partizipieren und bittet daher ihren zukünftigen Privatdozenten um eine historische Vorlesung. Hinsichtlich der Stellung der wichtigsten Kompendien zur Philosophiegeschichte der 1830er Jahre als Kontext – nicht als Quelle – der büchnerschen Skripte sind eine Reihe von Charakteristika von aussagekräftiger Bedeutung: So schalten Hegel, Erdmann und Feuerbach teils umfangreiche Allgemeine Einleitung[en] in die Geschichte der Philosophie überhaupt380 der konkreten historiographischen Arbeit vor, in denen die nachfolgenden Forschungen methodologisch und systematisch legitimiert werden.381 Selbst der einer geschichtsphilosophischen Legitimation382 der Philosophiegeschichte gegenüber abgeneigte Schelling versäumt nicht, eine wenigstens pragmatische Begründung seines Tuns zu liefern: Der Anfänger in der Philosophie lernt auf diese Weise, wenn auch bloß historisch, vorläufig schon die Gegenstände kennen, um die es zu thun ist und welche vorzugsweise die Geister der

|| Dann würde er – ich meine nicht etwa auf dem Papier, sondern dem Begriffe nach – Raum gefunden haben für die vorcartesischen Philosophen. Nicht mit Bacon noch mit Cartesius, in Italien beginnt die neuere Philosophie.« Feuerbach 1975, II, S. 133. Diese Konkurrenz wird die 1830er und noch die 1840er Jahre beleben. 376 Zu dieser Datierung vgl. Baumgartner u. Korten 1996, S. 243; anders dazu Proß 1982, S. 84. 377 Vgl. hierzu als eine der wenigen philosophiehistorisch versierten Studien zum Thema: Heise 1973. 378 Zu den bisherigen, ideengeschichtlich weitgehend uninformierten Ausführungen zur Entstehungsgeschichte dieses Essays vgl. Heine 1976, VI, S. 909–916; Höhn 32004, S. 340–342. 379 Vgl. Geldsetzer 1968, S. 81ff. sowie Schneider 1999, S. 151–246. 380 So der Titel bei Erdmann 1932, S. 1. 381 Zur Bedeutung solcher Einleitungen, insbesondere der hegelschen vgl. Schneider 1999, S. 227– 234 sowie Flasch 2003/2005, II, S. 16f. 382 Diese Abneigung basiert auf Schellings grundlegender Skepsis gegenüber einer Philosophie der Geschichte, vgl. Ist eine Philosophie der Geschichte möglich? In: Schelling 1985, I, S. 297–304, spez. S. 304: »Wenn also der Mensch nur insofern Geschichte haben kann, als sie nicht a priori bestimmt ist, so folgt auch daraus, daß eine Geschichte a priori widersprechend in sich selbst ist; und, wenn P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e so viel ist, als Wissenschaft der Geschichte a priori – d a ß e i n e P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e u n m ö g l i c h i s t . Was zu beweisen war.« Hvhb. im Text; vgl. hierzu auch Bonsiepen 1997, S. 185ff.

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letzten Jahrhunderte beschäftigt haben. Wenn es endlich, um die Wahrheit zu schätzen und beurtheilen zu lernen, nothwendig ist, auch den Irrthum zu kennen, so ist eine solche Darstellung wohl die beste und sanfteste Art, dem Anfänger den Irrthum, der überwunden werden soll, zu zeigen.383

In dieser äußersten Reduktion auf einen nurmehr didaktischen Wert ist die schellingsche Legitimation zwar den büchnerschen Sarkasmen über seine philosophiehistorische Arbeit am nächsten, bleibt aber wie diese hinter den Begründungstheorien der ›Kollegen‹ weit zurück. So bemüht sich Feuerbach die »Entwickelung« der Philosophie,384 die er – ganz in hegelschen Bahnen – als eine Entwicklung des freien Geistes zu sich selbst interpretiert, von der Antike über das theologisch dominierte Mittelalter bis in die Neuzeit zu rekonstruieren, in der diese Entfaltung des freien Geistes vor allem durch den Protestantismus befördert worden sei. Dabei wird diese Selbstentfaltung des Geistes seit der Neuzeit und damit im Protestantismus als nahezu ausschließlich wissenschaftsimmanenter Prozess verstanden: Es war daher auch keineswegs nur Folge äußerer Umstände und Verhältnisse, es war eine innere, im Protestantismus selber gelegene Notwendigkeit, daß sich in ihm erst die Philosophie der neuern Zeit welthistorisch bedeutsames Dasein gab und zu freier, fruchtbarer, immer weiterschreitender Entwickelung heranwuchs.385

In diesem Sinne kennzeichnet auch Hegels und Erdmanns Konzeption, dass sie das von Tennemann vorgegebene Postulat des vorsichtigen Bezugs jeder philosophischen Theorie auf den kulturellen und soziohistorischen Hintergrund, der im Medium der intellektuellen Biographie des einzelnen Philosophen berücksichtigt werden sollte,386 ablehnten, weil sie die Geschichte der Philosophie als Selbstbewegung des Begriffs, als logisch-systematische Realisation des Geistes und Selbsterkenntnis der Vernunft387 »in der Zeit«388 interpretierten.389 In Hegels berühmter Formulierung lautet der Kerngedanke dieser Konzeption: Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen

|| 383 Schelling 1985, IV, S. 419. 384 Feuerbach 1990, S. 20. 385 Ebd. 386 Tennemann 1798–1819, I, S. VIIIf.; vgl. hierzu Schröpfer 1994, S. 221 u. S. 225ff. 387 Vgl. hierzu Fulda 1999. 388 Hegel 1986, XVIII, S. 48. 389 Vgl. hierzu Krijnen 2005 sowie Fulda 2007.

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Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen –, aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält.390

Solcherart spekulative Philosophiegeschichte, die den Apriorismus in der Geschichtsschreibung ebenso kritisiert wie eine rein empirisch-chronologische Aufzählung philosophischer Theorien und Personen, wird auch von dem Hegelianer Johann Eduard Erdmann ausführlich legitimiert und verwirklicht; dessen Texte sollten bis in die 1860er Jahre den größten Einfluss auf das gesamte Fach ausüben. Dabei schreibt Erdmann einzig der beanspruchten Durchdringung von System und Geschichte zu, in der Lage zu sein, eine wissenschaftlich-philosophische Darstellung der Geschichte der Philosophie leisten zu können.391 Zwar konzediert Erdmann dieser Konzeptionen einen konstruktivistischen Charakter, nimmt für diese Konstruktion aber in Anspruch, die objektiven Dimensionen der Entwicklung des Geistes zu erfassen, und zwar als dessen selbstbewusstes Moment. Weil Erdmann daher auch energisch bestreitet, aus dem beschränkten Gesichtspunkt eines bestimmten Systems zu arbeiten, sondern seine Darstellung als eine objektive Philosophiegeschichte begreift, kann er auch zu der Maxime gelangen, jede einseitig systematische Perspektivierung der historischen Gegenstände müsse und könne unterbleiben: […] und gewissermaßen kann man sagen, daß eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Philosophie sich bei der Kritik eines Systems auf keine andere Stufe stellen darf, als auf die, des, unmittelbar jenem System, folgenden.392

Dieses systematisch begründete, methodisch strenge Wissenschaftlichkeitsverständnis wird aber von einer anderen Tradition der an Hegel sich anschließenden Philosophiegeschichtsschreibung schon in ihren Grundzügen nicht geteilt. Es ist Victor Cousin, der in Paris die Philosophiegeschichtsschreibung nicht nur populär macht, sondern als kulturpolitisches Instrument begreift und danach seine Methodologie ausrichtet. Ulrich Johannes Schneider fasst dieses Interesse und die daraus folgende methodische Kontur der cousinschen Wissenschaft treffend zusammen, wenn er schreibt: Cousins Philosophie ist von Anfang an von der Mission durchdrungen, seine Zeit in Gedanken weniger zu erfassen, als vielmehr zu bestimmen und zu verändern.393

|| 390 Hegel 1986, XVIII, S. 49. 391 Erdmann 1932, S. 64ff.; vgl. hierzu die präzisen Ausführungen von Geldsetzer 1968, S. 86–90. 392 Erdmann 1932, S. 75. 393 Schneider 1999, S. 185.

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Zwar sind die wissenschaftstheoretischen und forschungspragmatischen Dimensionen dieser Form von Philosophiegeschichtsschreibung nicht leicht auf den Begriff zu bringen, doch war die Philosophie für Cousin als »Anstrengung zur Aufklärung« auch für den Historiker »grundsätzlich ein politisches Unternehmen«.394 Bei der Inthronisation Descartes’ als Vater der neuzeitlichen Philosophie kam ihm – nach Hegel – eine besondere, kulturpolitisch begründete Rolle zu.395 Versucht man Büchner in dieses Tableau zu lozieren, so fällt sofort auf, dass er sich weder der von Erdmann geforderten ›gänzlichen Entäußerung des eigenen Standpunktes‹ fügt, noch die kulturpolitische Indienstnahme und eine daraus folgende ideologiekritische Perspektivierung durch Cousin übernimmt. Zwar bemüht sich Büchner einerseits – in den Spinoza-Studien schon erfolgreicher als noch in den von polemischen Invektiven beherrschten Descartes-Vorlesungen – um eine möglichst distanzierte Rekonstruktion der argumentationslogischen und systematischen Konturen der »philosophischen Systeme«, aber sein systematisches Interesse, insbesondere an einer Widerlegung der Gottesbeweise beider Rationalisten,396 ist nicht zu übersehen. Andererseits kann man an der Spinoza-Vorlesung besonders deutlich ablesen, dass er die von Cousin und Heine forcierte ideologiekritische Perspektive auf die Geschichte der Philosophie gerade nicht mitträgt; seine begriffsund argumentationsanalytische Rekonstruktionsarbeit, die in ihren systematischen Instrumentarien eher der tennemannschen Konzeption zuneigt,397 transformiert gerade nicht »Philosophiegeschichte zur Geschichte von Ideologien«,398 sondern verbleibt in einer wissenschaftsimmanenten Analyse- und Interpretationsmethodik. Dass Büchner dennoch in den Kontext der Entwicklungen der Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren verortet werden muss, zeigt sich an der Tatsache, dass seine Vorlesungen ausschließlich neuzeitliche Philosophien darstellen wollten, gar mit dem ›nationalisierenden‹ Zusatz, es ginge um die »philosophischen Systeme der Deutschen«399 bzw. »die deutsche Philosophie seit Cartesius«400 und Spinoza. Denn es war dem an Einfluss gewinnenden Hegelianismus der Philosophiegeschichtsschreibung geschuldet, dass in den 1830er Jahren »Philosophiegeschichtsdarstellungen in zunehmendem Maße neuere Philosophie« zum Thema machten. »Diese mußte ja in dieser [der hegelschen] Perspektive als die für das Verständnis der aktuellen Lage des Weltgeistes und seines Bewusstseinsstandes inte-

|| 394 Ebd., S. 224. 395 Vgl. hierzu Schütt 1998, S. 87ff. und Zijlstra 2005, S. 125–157. 396 Zu diesem Urteil gelangen auch Hans Mayer 1972, S. 349f.; Sanada 2001, S. 437f. und MBA IX.2, S. 266–269. 397 Vgl. hierzu auch Stiening 2005, S. 231–234. 398 So aber Dedner 1987, S. 208 sowie Martin 2007, S. 245; zur Kritik hieran schon Stiening 2000– 04, S. 233–236. 399 P II, S. 44816/MBA X.1, S. 10216; Hvhb. von mir. 400 P II, S. 43919f./MBA X.1, S. 931.

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ressante Zeitepoche imponieren. Die alte Philosophie, über die die alten Philosophiegeschichten zunächst ausschließlich handelten, wurde mehr und mehr in die Kompetenz der Altphilologen verwiesen.«401 Erdmanns hochambitionierte Geschichte der neueren Philosophie hatte in dieser Spezialisierung auf die Neuzeit ihren Grund und Zweck; auch Feuerbachs Konzeption beabsichtigte in der Konzentration auf die Neuzeit, die er mit Bacon und nicht mit Descartes beginnen ließ, eine historisch fundierte Analyse des Zeitgeschehens. Und selbst Schellings alternative Konzeption in der Vorlesung von 1833/34 findet mit ihrer historischen Extension, die von Descartes bis zu ihm selber reicht und insofern als Einleitung in seine Spätphilosophie gelesen werden kann, in dieser historiographischen Konjunktur neuzeitlicher Philosophie ihren Hintergrund. Denn Schelling war stets um die Kultivierung seiner Konkurrenz zum Hegelianismus bemüht.402 Büchners konkrete Vorlesungspläne, die – wie erwähnt – vermutlich von der Fakultät in Zürich angeregt wurden, haben hinsichtlich ihrer Fokussierung auf die Neuzeit ihren entscheidenden Grund in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der 1830er Jahre, die in Deutschland und Frankreich zu verzeichnen war. Die von der Büchner-Forschung häufig vorgetragene These, Büchner habe sich Descartes und Spinoza zu Gegenständen seiner philosophiehistorischen Vorlesungen gemacht, weil er eine systematische Auseinandersetzung, ja Widerlegung des Rationalismus gesucht habe,403 scheint vor diesem Kontext falsifiziert werden zu müssen. Büchner suchte zwar durchaus in seinen Skripten eine kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen und spinozanischen Rationalismus, auch galt diese systematische Analyse als zentrales Moment der wissenschaftlichen Methodik in der Tradition Tennemanns.404 Doch hatte Büchner keineswegs im Jahre 1836 ein vordringliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Rationalismus, sondern intendierte vielmehr eine Partizipation an einer aktuellen Forschungstendenz.405 Diese Tendenz zur Erforschung der Philosophie der Frühen Neuzeit im

|| 401 Geldsetzer 1968, S. 85. 402 Vgl. Briese 1998, S. 101–117 sowie Cesa 2002, S. 277ff. 403 Vgl. hierzu insbesondere Vietta 1979, S. 420; auch Glebke 1995, S. 10ff.; Knapp 32000, S. 32f. sowie letztlich auch MBA IX.2, S. 248. 404 Tennemann war kein Phänomenologe oder gelehrter Empirist, sondern verstand die systematische Analyse und Interpretation der historischen Gegenständen als wichtiges Moment seiner Konzeption: Tennemann 1798–1819, I, S. XLV–LXV; vgl. hierzu u. a. Zijlstra 2005, S. 166–170. 405 MBA IX.2, S. 268 sieht diese »aktuellen« Absichten Büchners in der Identitätsphilosophie Schellings, die er anhand der Auseinandersetzung mit Descartes und Spinoza zu widerlegen suchte; warum Büchner, dem Schellings Philosophie bekannt war (vgl. Stiening 2012a) dann nicht den Weg der direkten Auseinandersetzung suchte, bleibt das Geheimnis der Herausgeber. Darüber hinaus hatte Schelling in den 1830er Jahren kaum mehr Anhänger, weil er schon seit den 1820er Jahren nicht mehr publizierte (vgl. Baumgarten u. Korten 1996, S. 21f.), so dass Büchners Interesse wenig aktuell gewesen wäre und daher sein Interesse an einer – mittelbaren – systematischen Auseinandersetzung erst recht erklärungsbedürftig bliebe.

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19. Jahrhundert realisierte sich im Übrigen nicht nur in übergreifenden philosophiegeschichtlichen Zusammenhängen, sondern auch anhand einer Reihe von philosophiehistoriographischen Einzelstudien zu Descartes, Spinoza und deren systematischem und theoriegenealogischem Verhältnis.406 Büchner zitiert zumindest mittelbar eine der bekannteren Descartes-Studien,407 nämlich die Dissertation des Hegel-Schülers Gustav Hotho.408 Auch die Behauptung, es solle die »Philosophie der Deutschen« im eigentlichen Zentrum seiner Vorlesungen stehen, kann auf den Kontext der Philosophiegeschichtsschreibung im frühen 19. Jahrhundert zurückgeführt werden. Schon Tennemann hält nachdrücklich fest: Die deutsche Nation hat für die Urbarmachung und Cultur des Feldes der Geschichte der Philosophie weit mehr geleistet, als jede andere Nation. Dieses ist Faktum, welches keines Beweises bedarf. Je mehr die andern Nationen mit der deutschen Nation und ihrer Literatur bekannt werden, desto mehr erkennen sie dieses Verdienst der Deutschen, sowohl in dem fleißigen Sammeln der Materialien als in der Bearbeitung derselben.409

Auch Schelling beendet seine Münchener Vorlesung 1833/34 mit der These, man komme kaum umhin »zu urtheilen: Philosophie in diesem [wissenschaftlichen] Sinn existire zwar in Deutschland«, während »die andern europäischen Völker, Engländer und Franzosen insbesondere, eine große Abneigung gegen Speculation zeigen und den Betrieb wissenschaftlicher Philosophie seit geraumer Zeit ganz aufgegeben haben«.410 Für deren wissenschaftliche Entwicklung stellt er dagegen fest: Die wahren Beförderer der Philosophie in Frankreich und England sind ihre großen Naturforscher, und man kann es den Engländern insofern wohl zu gute halten, wenn Philosophie bei ihnen vorzugsweise, ja fast ausschließlich Physik bedeutet.411

In den spekulativen Konzepten der 1830er Jahren verlor sich dieser nationalisierende Impetus in der Philosophiegeschichte allmählich, weil Hegel, Erdmann und auch Feuerbach stärker auf religionsphilosophische denn auf kulturpolitische Differen-

|| 406 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Descartes-Forschung im 19. Jahrhundert bei Schütt 1998 und Zijlstra 2005, S. 75–188 sowie die der Spinoza-Forschung des Zeitraums bei Schneider 1999, S. 249–315. 407 Zum weiteren Kontext vgl. auch Vollhardt 1991, S. 199Anm. 10. 408 Heinrich Gustav Hotho: De Philosophia Cartesianae. Berlin 1826; zitiert bei Büchner in P II, S. 1774 u. S. 19526/MBA IX.2, S. 462 u. S. 6132. 409 Tennemann 1806, S. VII. 410 Schelling 1985, IV, S. 609. 411 Ebd., S. 616f.

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zierungskriterien setzten.412 Wenn Büchner dennoch von der »deutschen Philosophie seit Cartesius« spricht, dann weil die Verknüpfung spezifischer Wissenschaftsformen und vor allem -methoden mit einzelnen Nationen auch in der Naturphilosophie zum kennzeichnenden Standard der Debatten gehörte – häufig ohne nationalistische Untertöne.413 Eine Parallele ist auch in Büchners Naturforschung zu erkennen: Die so genannte »deutsche Schule« der Naturforschung, die er zu Beginn seiner Dissertation erwähnt, ist nur ein Name für die durch die Naturphilosophie inaugurierten Varianten der so genannten »méthode génétique«414 – einer evolutionsbiologischen Analyse- und Interpretationsmethode der Naturphilosophie. In philosophiehistoriographischer Hinsicht hatte Tennemann vor allem das Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz als ersten namhaften deutschen Beitrag zur Geschichte der Philosophie im Auge: [...] und von ihm [Leibniz] datirt sich eigentlich die Periode der deutschen Philosophie.415

Doch ist diese These auch ohne nationalisierende Untertöne topisch;416 Fichte nennt Leibniz in seinen Büchner bekannten Reden an die deutsche Nation den »eigentlichen Stifter der neuen deutschen Philosophie«,417 auch Friedrich Ast bezeichnet Leibniz als den »Gründer der deutschen Philosophie«,418 ebenso der von Büchner für seine Vorlesungen vermutlich herangezogene Gottlob Ernst Schulze,419 und selbst Büchners Gießener Philosophiedozent Joseph Hillebrand betont: Leibniz kann als der erste Deutsche gelten, welcher im philosophischen Gebiete der Denkart des Zeitalters eine neue Richtung gab.420

Wenn Büchner also über die »Systeme der Deutschen« Vorlesungen halten wollte, dann bezog er sich vor allem – oder auf jeden Fall – auf die Philosophie Leibniz’

|| 412 Vgl. hierzu insbesondere die Reflexionen auf das »Prinzip des Protestantismus« als Voraussetzung neuzeitlicher Subjektivität bei Hegel 1986, XX, S. 120ff.; Feuerbach 1990, S. 17ff. und Erdmann 1932, S. 99ff. 413 Vgl. hierzu Kanz 1997, S. 191–221, spez. S. 193ff. 414 Vgl. hierzu Georg Büchner: Mémoire sur le système nerveux du barbeau Strasbourg 1836; zitiert nach MBA VIII, S. 415. 415 Tennemann 1798–1819, XI, S. 202f. 416 Vgl. auch Hillebrand 1819, S. 541f., wo – die umgekehrte Wirkrichtung betonend – ausgeführt wird, dass »die leibniz-wolffsche Schule, welche […] in Deutschland so ungemein fruchtbar gewirkt hat« und zwar »auf den gesammten Kulturzustand unseres Vaterlandes (dem gleichsam mit der geförderten Bildung auch das Bedürfnis einer nationalen, einheimischen Philosophie erweckt war)«. 417 Fichte 1971, VII, S. 353. 418 Ast 1807, S. 407. 419 Schulze 1824, S. 282, zur »Philosophie der Deutschen« schon ebd. S. VIff., S. XI u. ö. 420 Hillebrand 1819, S. 534.

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und Wolffs als Autoren derjenigen Systeme des Rationalismus, die in der Tat von Philosophen aus deutschen Landen und zum Teil in deutscher Sprache verfasst wurden.421 Darüber hinaus galt die kantische und nachkantische Philosophie sowohl in Frankreich als auch in England und Deutschland als spezifischer und bedeutendster Beitrag deutschsprachiger Philosophen zur Geschichte der Philosophie, so dass eine Darstellung dieser Epoche der Philosophie sicher beabsichtigt war. Zu einer Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Philosophie, die Büchner mit Descartes und Spinoza begonnen hatte, ist es nicht mehr gekommen. Betrachtet man nun abschließend Büchners Stellung zu dem in den 1830er Jahren innovativen und forschungsprägenden Paradigma idealistischer Philosophiegeschichtsschreibung, dann lässt sich ohne großen Zweifel konstatieren, dass der kurz vor der Ernennung zum Privatdozenten der Philosophie stehende Naturwissenschaftler und -philosoph davon kaum Kenntnis hatte, geschweige denn eine wissenschaftlich fundierte Position dazu einnahm. Auch wenn er in zwei Aspekten der Themenwahl – dem Beginn der vorzustellenden Geschichte mit Descartes und der Konzentration auf die deutsche Philosophie – an diesen Entwicklungen partizipierte, muss ihm eine Unkenntnis dieser Wissenschaftsentwicklungen attestiert werden. Mit Ausnahme mittelbarer Zitate aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (und nicht den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie) sowie Gustav Hothos Dissertation zu Descartes422 sind ihm die Leistungen seiner Zeitgenossen auf dem Felde der Philosophiegeschichtsschreibung verborgen geblieben. Dass Büchner gar das eigentliche Zentrum der zwischen Erdmann, Feuerbach und Schleiermacher seit den 1830er Jahren ausgetragenen philosophiehistorischen Debatten, die Frage nach dem Verhältnis von System und Geschichte, unbekannt blieb, zeigt die signifikante Kombination seiner unmittelbaren Quellen, zu deren Betrachtung nunmehr überzugehen ist.

2.2.1.3 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Büchners Quellen Seit Längerem ist bekannt,423 dass Büchner für die Vorbereitung seiner Vorlesungen über die Philosophie Descartes’ und Spinozas einige wenige Quellen intensiv nutze. Dazu gehört – wie schon erwähnt und vor dem Hintergrund der Usancen im frühen 19. Jahrhundert wenig überraschend – der zehnte Band von Gottlieb Wilhelm Tennemanns Geschichte der Philosophie, der umfangreiche Kapitel zu Descartes und

|| 421 So auch Taylor 2003 sowie Taylor 2005. 422 Vgl. P II, S. 1772–5/MBA IX.2, S. 461–3. 423 Vgl. Bergemann 1922, S. 742–749; Hauschild 1993, S. 528; Vollhardt 1991, S. 199; Osawa 1999, S. 13f.; P II, S. 956f.; Knapp 32000, S. 32; MBA IX.2, S. 299ff.

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Spinoza enthält.424 Darüber hinaus zog Büchner insbesondere für die DescartesVorlesung die Studie Jacobi und die Philosophie seiner Zeit von Johannes Kuhn,425 den ersten Band von Johann Friedrich Herbarts Allgemeiner Metaphysik426 sowie die Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften Ernst Gottlob Schulzes hinzu.427 Schließlich ist durch eine Anmerkung in den Spinoza-Vorlesungen erkennbar,428 dass Büchner auf Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters zweibändigen Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen zurückgreifen konnte,429 der vermutlich die bei Hillebrand zwei Jahre zuvor erlernten logischen Instrumentarien aktualisieren sollte und vor allem Begriffsdefinitionen lieferte. Alle weiteren Texte, die von der Forschung im Laufe der Jahre als Grundlagen oder Quellen der Vorlesungen vorgestellt wurden, u. a. auch Heines Geschichte der Religion und Philosophie (die Büchner sicher gelesen hat) oder Adolphe Stoebers Dissertation (dessen Lektüre unsicher ist), sind als Quellen nicht nachweisbar.430 Eine Interpretation der büchnerschen Texte kann mit den genannten Kompendien und den Quellentexten Descartes’ und Spinozas allerdings auch hinreichend geleistet werden.431 Trotz streckenweise erheblicher Quellenabhängigkeit sind auch umfangreiche, selbständig analysierende Passagen zu verzeichnen. Wichtiger als eine erneute Suche nach weiteren Quellen, und bisher nur in Ansätzen geleistet,432 ist eine ideengeschichtliche Reflexion auf diese eigentümliche Liste an Quellen, die Büchner als Grundlage seiner Vorlesungen heranzog. Vorab ist jedoch daran zu erinnern, dass es weitgehend kontingente Gründe gewesen sein dürften, die diese Liste zustande brachten; denn – wie Udo Roth nachweisen konnte433 – musste Büchner, dessen prekäre finanzielle Lage in Straßburg den Kauf neuer Bücher verbot, auf das Angebot, Privat- und Leihbibliotheken zu nutzen, zurück-

|| 424 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 200–484. 425 Kuhn 1834. 426 Herbart 1828. 427 Schulze 31824. 428 Vgl. P II, S. 282Anm. 2; vgl. dazu auch P II, S. 1021f. 429 Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter: Grundriß einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen. Zum Gebrauch für Vorlesungen. Erster Theil, welcher die reine allgemeine Logik enthält. Leipzig 41824; ders.: Grundriß einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen. Zum Gebrauch für Vorlesungen. Zweiter Theil, welcher die angewandte allgemeine Logik enthält. Leipzig 31825; Büchners Zitate können sich auch auf vorherige Auflagen dieser Texte beziehen, sicher aber nicht auf die in P II, S. 1021f. angegebene 6. Auflage von 1795, die es schlicht nicht gibt. 430 Vgl. hierzu aber P II, S. 957, Knapp 32000, S. 32 und MBA IX.2, S. 184f. 431 Zu Büchners primärtextlichen Quellen vgl. P II, S. 955–957 sowie MBA IX.2, S. 202–206; weil mit der vorliegenden Arbeit keine lückenlose Quellenkommentierung verbunden wird, sondern eine philosophie- und ideengeschichtliche Interpretation, wird in der Folge bei Bedarf auf moderne Descartes- und Spinoza-Ausgaben zurückgegriffen. 432 Vgl. hierzu die allerdings sachlich abweichenden Ausführungen in MBA IX.2, S. 243ff. 433 Vgl. Roth 2004, S. 70–74.

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greifen.434 Welche dieser Bibliotheken Büchner tatsächlich benutze, ob die seines ehemaligen Dozenten Lauth und/oder die seines Mentors Duvernoy,435 scheint von geringerem Interesse; wichtig ist dagegen, dass diese Liste auch in ihrer Begrenztheit auf die lebensweltliche und daher in diesem Falle auch wissenschaftliche Not des angehenden Philosophiehistorikers zurückzuführen ist, wenngleich Büchners Rückgriff auf verschiedene Werkausgaben Descartes’ und Spinozas auf eine recht gute Versorgung mit philosophischen Primärtexten schließen lässt. Ideengeschichtlich sind zweierlei Sachverhalte an dieser Liste von Quellentexten auffällig: Erstens weist nur einer der vier Texte eine substanziell philosophiehistorische Kontur auf und zweitens wurden drei der fünf Quellenwerke von Kantianern verfasst. Im Folgenden sollen alle fünf Texte unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten kurz vorgestellt werden: Auf Gottlieb Wilhelm Tennemanns Geschichte der Philosophie treffen beide Prädikate zu; Tennemanns spätestens seit den 1820er Jahren als Standardwerk der Disziplin firmierendes 11-bändiges Kompendium wurde – wie schon erwähnt – von nahezu allen Philosophiehistorikern des 1830er Jahre als Grundlage ihrer Vorlesungen oder Kompendien verwendet.436 Begonnen noch in den letzten Jahren des 18. Jahrhundert, arbeitet Tennemann an diesem Lebenswerk bis kurz vor seinem Tode 1819 und schafft damit das bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichste, umfassendste und differenzierteste Werk seiner Gattung. Ohne eine vollständige Analyse und Interpretation dieses stupenden Werkes ausführen zu können,437 lassen sich doch einige Charakteristika bestimmen, die auf Büchners Rezeption eingewirkt haben. So betont Tennemann schon in seiner Einleitung, die in ihrem Umfang und in ihrer systematischen und methodischen Konzeptionierung im späten 18. Jahrhundert unerreicht war und eben jene oben erwähnten methodologischen Debatten zwischen 1790 und 1820 grundlegend beförderte, die Wissenschaftlichkeit sowohl des Gegenstandes als auch seiner Behandlungsart, d. h. der Philosophie und der Philosophiegeschichte, und definiert Wissenschaft und deren Geschichte wie folgt: Wissenschaft ist ein System gleichartiger Erkenntnisse, welche nach Grundsätzen unter einander verbunden sind. […] Geschichte einer Wissenschaft ist die Darstellung der auf eine Wissen-

|| 434 Vgl. P II, S. 422. Bei Ludwig Büchner, auf dessen Hinweise sich alle Spekulationen – auch die Döhners 1967, S. 53, Roths 2004, S. 73 und der MBA VIII, S. 194–196 – beziehen, heißt es: »Der berühmte Lauth und Düvernoy […] machten ihm den Gebrauch der Stadtbibliothek sowohl, als einiger bedeutender Privatbibliotheken möglich«. Zitiert nach Dedner (Hg.) 1990, S. 122. 435 Vgl. die überkomplexen Spekulationen bei Roth 2004, S. 73. 436 Zur Tennemann-Rezeption bei Coleridge, vgl. Schneider 1999, S. 152f. u. S. 159; bei Cousin, ebd., S. 180; bei Hegel, ebd., S. 216f.; sowie bei Heine, vgl. Höhn 32004, S. 342. 437 Zu Tennemanns nach wie vor nicht angemessen erschlossenem Werk vgl. die Studien von Geldsetzer 1968, S. 35–40; Braun 1990, S. 254–263; Schröpfer 1994; Schneider 1999, S. 161ff.; Zijlstra 2005, S. 166–170 und Holzhey 2014, S. 1439–1441.

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schaft gerichteten Bestrebungen und der dadurch bewirkten allmählichen Bildung derselben.438

Diese kantischen Vorgaben439 entsprechende Definition führt aber u. a. dazu, dass Tennemann aus ihr eine linear-evolutionäre Entwicklungskonzeption ableitet, die selbst nicht systematisch strukturiert ist, d. h. nicht einen Teil des geschichtsphilosophisch gedachten prozessualen Systems ausmacht. Ein System der Philosophie ist nur das Telos dieser Entwicklung – die Transzendentalphilosophie –, nicht aber die Entwicklung selbst,440 wie dann bei Hegel oder Erdmann. Auch der Begriff der Philosophie wird von Tennemann zwar mit einem allgemeingültigen Anspruch formuliert, lässt aber seine kantische Provenienz durchaus erkennen: Alle Gegenstände des Philosophirens aber betreffen entweder das, was ist, oder das, was seyn soll. Der Inbegriff der ersteren ist die Natur. Das Sollen drückt eine absolute Forderung an den Willen vernünftiger Wesen aus, welche sich auf Freiheit gründet. Natur und Freiheit sind es also, deren letzte Gründe und Gesetze den Gegenstand der Philosophie ausmachen. Die Wissenschaft der letzten Gründe und Gesetze der Natur und Freiheit und ihres Verhältnisses zueinander ist die Idee, welche von der Vernunft unzertrennlich ist, und daher jedem Denker vorschweben muß.441

Auch wenn Büchner nicht alle Elemente dieser tennemannschen Geschichts-, Wissenschafts- und Philosophiebegriffe vorbehaltlos geteilt hat, im Hinblick auf seine Ausübung einer Wissenschaft der Natur wird er nach solcherart letzten Gründen und Gesetzen forschen.442 Hinsichtlich seiner Analysen und Interpretationen der Philosophie Descartes’ und Spinozas wird er zudem Tennemanns Ergebnisse nicht nur bewusstlos abschreiben, sondern auch der Sache nach übernehmen. Sowohl die Descartes- als auch die Spinoza-Skripte Büchners gründen also – und das ist für ihre wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von essentieller Bedeutung – weder auf den zeitgenössischen Alternativkonzeptionen spekulativer Philosophiegeschichte Hegels oder Erdmanns, noch, wie es die Büchner-Forschung seit Hans Mayer stets wiederholt,443 auf einem von Feuerbach ausgehenden angeblich materialistischen Verständnis der Philosophiegeschichte; noch gar auf einer kulturpolitischen und -geschichtlichen Perspektive im Sinne Heines oder Cousins, sondern auf der transzendentalphilosophisch begründeten Systematik und Methodologie Tennemanns. Büchner ist deshalb nicht zum Kantianer geworden, allein weil er

|| 438 Tennemann 1798–1819, I, S. XII. 439 Vgl. KrV B 860ff. 440 Vgl. hierzu Geldsetzer 1968, S. 38. 441 Tennemann 1798–1819, I, S. XX. 442 Vgl. hierzu Schramm 1989, S. 128; Stiening 1999, S. 106ff.; Roth 2004, S. 253ff. und Elm 2015, S. 124f. 443 Hans Mayer 1972, S. 364; Vietta 1979, S. 424f.; Kahl 1982, S. 119; Taylor 1995, S. 60; Hauschild 1993, S. 528; Knapp 32000, S. 31f.; Wittkowski 2009, S. 107.

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von den Grundzügen der Transzendentalphilosophie zu geringe Kenntnisse hatte444 und weil er, wie sich noch zeigen wird, das spezifisch philosophiegeschichtliche Telos dieser Wissenschaft, nämlich die Rekonstruktion einer Entwicklung des philosophischen Denkens und ihrer Wirkmechanismen, nicht umsetzte. Dennoch müssen seine Vorlesungs-Texte wissenschaftsgeschichtlich in eine von Kant und Tennemann ausgehende Tradition dieser jungen Disziplin im 19. Jahrhundert eingeordnet werden.445 Ebenso aussagekräftig, wenngleich mit geringerem Einfluss auf die Vorlesungsskripte, sind die vier anderen Texte, die Büchner sich als Quellen seiner Vorlesungen auswählte. Die wichtigste Erkenntnis bei der Betrachtung dieser Werke Herbarts, Kuhns, Kiesewetters und Schulzes besteht darin, dass sie keine spezifisch philosophiehistoriographischen Darstellungen bieten, sondern systematische Absichten verfolgen. Die Bedeutung dieses Status der Argumentationen wird sich deshalb als wichtig erweisen, weil Büchner, obwohl er den Titel seiner Vorlesungen mit der philosophiehistorischen Formel von einer »Entwickelung der […] Philosophie« benennt,446 in weiten Teilen systematische Auseinandersetzungen mit Descartes und Spinozas betreibt – und dies nicht nur im Hinblick auf deren Gottesbeweise. Allein an der Verwendung dieser systematischen Studien als Quellen seiner historischen Vorlesungen zeigt sich, dass Büchner die philosophiehistoriographische Pointe seines Tuns offenbar nicht hinreichend reflektierte. Dabei ist in systematischer Hinsicht Kiesewetters Grundriß der tennemannschen Position deshalb am nächsten, weil der Autor als unmittelbarer Kant-Schüler eine textnahe und popularisierende Darstellung der kantischen Logik-Konzeption gibt, auch wenn dieses Logik-Kompendium zugleich disziplinär am weitesten von der Philosophiegeschichte entfernt liegt. Kiesewetter, der durch Kants Biographie447 und als »begeisterter Popularisierer«448 der kantischen Philosophie im Berlin des späten 18. Jahrhunderts bekannt ist,449 dürfte Büchners logische Kenntnisse aus der Hillebrand-Vorlesung in Gießen ergänzt oder aufgefrischt haben und diente ihm nachweislich als begriffdefinitorisches Lexikon. Festzuhalten bleibt, dass auch diese Quelle Büchners durch eine kantische Ausrichtung zu charakterisieren ist. Büchners Griff zu Johann Friedrich Herbarts Allgemeiner Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre hat zu Spekulationen über die Rezeption weiterer Werke des im frühen 19. Jahrhundert vor allem bei Naturwissenschaftlern

|| 444 Vgl. hierzu Stiening 2000–04, S. 217; Roth 2004, S. 202 und Heinz 2006, S. 249; anders dazu Petersen 1973, S. 245–266; Forssmann 1992, S. 146ff.; MBA IX.2, S. 263f. 445 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 231ff. 446 Vgl. nochmals P II, S. 43919f../MBA X.1, S. 931. 447 Am ausführlichsten und informativsten immer noch Vorländer 31992, II, S. 140ff. 448 So Kühn 2007, S. 417. 449 Zur Biographie des wenig erforschten Kiesewetters vgl. Flittner 1824 und Prantl 1882.

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geschätzten Philosophen geführt.450 Die Absicht dieses Versuches besteht offenbar darin, Büchner an Herbarts wissenschaftsgeschichtliche Stellung einer zwischen den empirischen Einzelwissenschaften und der Philosophie vermittelnden Wissenschaftstheorie heranzurücken.451 Im Vorwort zur Allgemeinen Metaphysik schreibt Herbart im Hinblick auf diese Ausrichtung seiner Philosophie auf die Naturwissenschaften: Naturphilosophie ist das Ziel des vorliegenden Werks. Zwar nur Physiker können vollständig, so weit die heutige empirische Naturkenntnis es erlaubt, dahin gelangen. Aber sie bedürfen hiezu einer metaphysischen Vorarbeit.452

Und diese wissenschaftstheoretische Ausrichtung entspricht in formaler Hinsicht durchaus büchnerschen Vorstellungen.453 In materialer Hinsicht aber hat die Thematik der herbartschen Studie wenig Spuren bei Büchner hinterlassen, u. a. in den teleologiekritischen Aspekten der an die Herbart-Lektüre unmittelbar anschließenden Niederschrift der Probevorlesung.454 Dabei benennt Herbart mit dem Telos seines Werkes einen grundlegenden Sachverhalt der zeitgenössischen Naturphilosophie: Der Plan dieses Werks liegt nun vor Augen. Allgemeine Metaphysik als Wissenschaft, und in ihr ganz besonders die Grundlehre von der Materie, ist die Hauptsache.455

Der angebliche Materialist Büchner hat aber an dieser Materietheorie Herbarts weder Anstoß genommen noch Interesse gefunden; sie bleibt – auch wenn Herbarts Teleologiekritik im Rahmen der Naturphilosophie der büchnerschen entspricht456 – ohne jede weitere Spur. Ebenfalls keinen Anstoß nimmt Büchner offenbar an der herbartschen Begründung für die Rekurse auf die Geschichte der Philosophie, die rein funktional auf das systematische Interesse ausgerichtet sind: Nur größere Deutlichkeit, welche in diesem Felde so schwer zu erreichen ist, wird hier durch die vorangehenden historisch-kritischen Betrachtungen beabsichtigt, […]. Zur Beleuchtung derselben [d. i. der Grundlehre von der Materie als dem Nachweisziel des Buches] von vorn her dient eine historische Darstellung, […]. Geschichte und Kritik gehen daher, wo es seyn kann,

|| 450 Vgl. Knapp 32000, S. 32. 451 Zu dieser philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Herbarts vgl. Cassirer 1991, III, S. 378–410; Heidelberger 1994, S. 175; Briese 1998, S. 78–89; Röd 2006, S. 183–191. 452 Herbart 1828, I, S. III. 453 Vgl. hierzu Schramm 1989; Stiening 1999 und Roth 2004. 454 Vgl. Stiening 1999, S. 103. 455 Herbart 1828, I, S. 8. 456 Vgl. Stiening 1999, S. 103; Roth 2004, S. 242–252 nimmt diese Kontextualisierung der Teleologie-Kritik Büchners allerdings nicht auf.

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unmittelbar über in Versuche, die wahren Umrisse des Systems vorläufig […] sichtbar zu machen.457

So bleiben nicht nur die Forschungs-Thesen zu einer umfangreicheren HerbartRezeption Büchners ohne jeden empirischen Nachweis, es lässt sich auch zeigen, dass Büchner aus systematischen Gründen dem herbartschen Modell insbesondere von Naturphilosophie grundsätzlich kritisch gegenüberstand.458 Gerade weil Büchner darüber hinaus erst gegen Ende seiner Arbeit an der Spinoza-Vorlesung zu Herbarts Allgemeiner Metaphysik griff459 und aus ihr ein Exzerpt der Analyse zur »Ontologie des Spinoza« und zur »Kosmologie des Spinoza« anfertigte,460 ist die Frage nach einem prägenden Einfluss Herbarts sowohl auf seine Philosophiegeschichtsschreibung als auch auf seine Naturwissenschaft erst im Durchgang durch das Vorlesungsskript zu beantworten. Es bleibt vorerst nur festzuhalten, dass sich Büchner mit dem Rückgriff auf Herbart – zumindest nach dessen Selbsteinschätzung – in jenem philosophischen Kontext befindet, den er schon mit den ersten beiden hier betrachteten Quellentexten herstellte, denn im Vorwort betont Herbart ausdrücklich: »Der Verfasser ist Kantianer.«461 Diese Zuweisung trifft ausdrücklich nicht auf Büchners vierte Quelle zu, die er vor allem zu Beginn der Descartes-Studien extensiv zitiert: Johannes Kuhns Jacobi und die Philosophie seiner Zeit. Mit Ausnahme einer Studie von Friedrich Vollhardt,462 die vor allem systematische Interessen im Hinblick auf Büchners Gefühlsbegriff verfolgt, und den kursorischen Ausführungen der MBA463 hat sich die Büchner-Forschung weder mit diesem Text, noch mit seinem Autor,464 noch gar mit der Tatsache beschäftigt, dass Kuhns Arbeit Büchner als Quelle seiner Vorlesungsskripte diente.465 Unabhängig von den historisch-positivistischen Unklarheiten – besaß Büchner diesen Text vielleicht selbst, weil er in Gießen mit dem seit 1832 dort lehrenden Ordinarius für neutestamentliche Exegese an der katholischen Fakultät der Universität Gießen466 bekannt war, ihn wenigstens hörte, oder stand dieser Text ebenso zufällig wie die anderen Vorlagen in den Privatbibliotheken, die Büchner in

|| 457 Herbart 1828, I, S. IV und S. 8. 458 Vgl. hierzu Roth u. Stiening 2001, S. 203–206. 459 Zu dieser Vermutung vgl. schon Bergemann 1922, S. 747 und Mayer 1995–99a, S. 319. 460 Vgl. hierzu Herbart 1828, I, S. 128–168 sowie P II, S. 618–624/MBA IX.2, S. 157–164. 461 Herbart 1828, I, S. XXVI, vgl. auch ebd., S. XXVIII sowie S. 6ff. Siehe hierzu auch MBA IX.2, S. 417. 462 Vollhardt 1991; Hinweise auch bei Hauschild 1993, S. 528. 463 MBA IX.2, S. 283–285 u. S. 398–402. 464 Zu Kuhns Biographie vgl. Wolf 1992, Oelsmann 1997 und Scharfenecker 1998, S. 456ff. 465 Vgl. hierzu in Ansätzen Taylor 2012, S. 80ff. 466 Vgl. hierzu Scharfenecker 1998, S. 114–119 u. S. 456–466.

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Straßburg benutzen durfte?467 – ist die Tatsache, dass er für seine philosophiehistorische Reflexions- und Darstellungsarbeit aus einer Studie der systematischen Theologie468 der »Tübinger Schule«469 zitiert, in ideengeschichtlicher Hinsicht von aussagekräftigem Wert. Zwar wird Büchner durch die Aufnahme kuhnscher DescartesInterpretationen nicht zum katholischen Theologen, wie er auch im Falle der Übernahme tennemannscher Exegese nicht zum Kantianer wurde, doch zeigt der Sachverhalt, dass er auch aus einer theologischen Studie Analyse-Ergebnisse übernahm, den eher unreflektierten systematischen und methodischen Status seiner Philosophiegeschichtsschreibung. Denn Kuhns historische Rekonstruktionen der Philosophie Descartes’, Spinozas und der leibniz-wolffschen Schule sind streng funktional auf das systematische Ziel ausgerichtet,470 anhand einer analytischen Darstellung der jacobischen Philosophie und ihrer Entwicklungsgeschichte das Verhältnis von Vernunft und Glauben, von Theologie und Philosophie in neuer Sicht zu bestimmen.471 In ebenso ambitionierter wie begriffs- und argumentationsanalytisch komplexer Weise zielt Kuhn auf eine Vermittlung des jacobischen Unmittelbarkeits- mit dem hegelschen Vermittlungsgedanken472 sowie einer Korrelation des jacobischen Theismus mit der kantischen Wissenschaftsmethodologie,473 um eine relative Eigenständigkeit theologischer von philosophischer Reflexionstätigkeit nachzuweisen. Für das Ziel des systematischen Aufbaus einer »Philosophie, die das Glaubensphänomen als Erkenntnisform und Erkenntnisinhalt aus der Vernunft heraus für sich selbst beansprucht« und die »primär daran interessiert [ist], den Glauben als Wissensform zu bestimmen«,474 liefert Kuhn eine hochkomplexe Auseinandersetzung nicht allein mit der Philosophie Jacobis, sondern – zu diesem Zweck475 – eine Kontextualisierung mit der gesamten, in den 1830er Jahren wirksamen systematischen Philosophie von Kant bis Schelling.476 Für diese Auseinandersetzung stellt Kuhn strenge methodische Maßstäbe auf, die dem Standpunkt der zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung in nichts nachstehen:

|| 467 So die – allerdings reinen – Spekulationen bei Knapp 32000, S. 32; die Hinweise der MBA IX.2, S. 398 bleiben rein negativ. 468 Vgl. hierzu Oelsmann 1997, S. 66–99. 469 Zur herausragenden Stellung Kuhns innerhalb der Tübinger Schule vgl. Kobusch 2004, S. 386– 388. 470 Zum expliziten Zurückweisen einer vordringlich philosophiehistorischen Intention vgl. Kuhn 1834, S. 296f. 471 Vgl. ebd., S. 488ff. 472 Vgl. Oelsmann 1997, S. 66ff. 473 Scharfenecker 1998, S. 460. 474 So in präziser Rekonstruktion Oelsmann 1997, S. 91. 475 Vgl. Kuhn 1834, S. 292–299. 476 Vgl. ebd., S. 435–558.

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Bei der Darstellung eines philosophischen Systems hat man sich des eigenen Standpunktes gänzlich zu entäußern. Denn sie soll ihrer Natur nach nichts anderes sein, als eine Rekonstruktion eines fremden Bewußtseins; und je mehr es gelingt sein An-sich zu erfassen, desto wahrer und gelungener wird die Darstellung sein.477

Diese methodologische Maxime, der sich Büchner erst nach und nach zu fügen vermochte,478 setzt Kuhn in seiner materialreichen und differenzierten Schrift um. Es wird sich im Zusammenhang der Descartes-Skripten Büchners zeigen, dass Kuhn hinsichtlich seiner philosophiehistorischen Interpretationsleistungen auf der Höhe dieser Wissenschaften in den 1830er Jahren steht und so zweifellos die philosophisch und philosophiegeschichtlich komplexeste Studie darstellt, die Büchner als Quelle heranzieht.479 Dennoch bleibt Kuhns systematische Intention eine theologische, deren spezifische Differenz zu einer jeden Philosophiegeschichtsschreibung480 von Büchner allerdings nicht reflektiert wird. Von Feuerbachs kritischer Einsicht in die engen Grenzen dieser ›Philosophie des unmittelbaren Wissens‹, die Kuhn mit (und gegen Jacobi) propagiert, ist Büchner Welten entfernt; Feuerbach aber resümiert in einer Rezension des kuhnschen Werkes schon im Mai 1835 treffend: Übrigens ist es freilich schon an und für sich selber ein höchst gewagtes und mißliches Unternehmen, von dem unmittelbaren Wissen, wie Jacobi es bestimmte, auch nur einen Übergang zum mittelbaren Wissen auffinden zu wollen, da gerade in seiner rigorosen Ausschließlichkeit, in seiner unvermittelbaren, lediglich mit der Persönlichkeit, dem Gefühl identischen Subjektivität das eigentümliche Wesen des unmittelbaren Wissens, das am Ende doch nichts ist als eine Idiosynkrasie der neuern Zeit, enthalten ist.481

Nur kurz sei noch Büchners fünfte Quelle betrachtet, die ebenfalls auf den Grundlagen der Glaubensphilosophie Jacobis aufruht und sich erkenntnistheoretisch zu einem »natürlichen Realismus« bekennt.482 Gottlob Ernst Schulzes dritte Auflage seine Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften hat ebenfalls einen systematischen Aufbau und ein ebensolches telos, und zwar in dem Versuch, den schnellen, beliebig wirkenden Wechsel der philosophischen Systeme nach Kant, deren »leere Speculationen«483 dem ›Realisten‹ zuwider sind, durch eine solide Grundlagenphilosophie abzustellen. Zugleich sieht Schulze 1824 seine Aufgabe darin, der prosperierenden Naturforschung, die von theonomen Begründungstheorien sich zu verab-

|| 477 Ebd., S. 7. 478 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 219–221. 479 Vgl. abermals Oelsmann 1997, S. 90ff. 480 Vgl. Kuhn 1834, S. 296: »Wollten wir eine kritische Geschichte der Philosophie überhaupt schreiben, […].« 481 Feuerbach 1975, II, S. 24 u. S. 340. 482 Schulze 1824, S. XIII. 483 Ebd.

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schieden scheint, mithilfe einer »Anthropo-Theologie«484 ein neues Fundament zu liefern und so vor einem methodischen Atheismus zu bewahren. Schulzes Enzyklopädieprojekt,485 aus dem Büchner nur im Zusammenhang der cartesischen LeibSeele-Theorie einen Absatz zitiert, ist allerdings von dessen Auseinandersetzung mit der Philosophie grundlegend verschieden, nicht allein in seiner konservativen Staatstheorie,486 sondern schon in seinem Spinoza-Verständnis, das dessen Pantheismus mit Materialismus und Atheismus gleichsetzt.487 Auch die eher didaktische Aufgaben der Philosophiegeschichte, die Schulze entwirft, weist zwar auf Schelling voraus, hat aber mit Büchners Vorstellung hiervon wenig zu tun: Indem sie aber die Verirrungen in der Speculation über die Welt und die menschliche Natur aufstellt, und den Antheil aufklärt, welchen ein fehlerhaftes Verfahren daran hatte, wirkt sie warnend gegen ähnliche Verirrungen, und schärft Vorsicht bei dem Bestreben ein, die Philosophie durch neue Ideen und ein neues Verfahren zu verbessern.488

Im Folgenden soll eine Analyse und Interpretation der beiden Vorlesungsskripte Büchners nicht allein unter Berücksichtigung der bekannten Quellen erfolgen, sondern auch hinsichtlich des oben skizzierten Tableaus zeitgenössischer Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre. Denn erst ein methodisch differenzierter Bezug auf beide Kontextarten ermöglicht eine angemessene Rekonstruktion der philosophiehistorischen Reflexionsarbeit Büchners und ihrer Stellung im zeitgenössischen Wissenschaftsgefüge. Dabei soll das jeweilige Ganze der bislang nur in kleinen Bruchstücken interpretierten Texte in den Blick kommen, indem die einzelnen Kapitel und deren Zusammenhang in ihrer argumentationslogischen Struktur, ihrer hermeneutischen Schwerpunktbildung, aber auch ihrer Adäquanz gegenüber den Quellentexten rekonstruiert werden. Das nahezu vollständige Fehlen von Gesamtinterpretationen489 der 181 bzw. 120 Manuskriptseiten490 umfassenden büchnerschen Texte macht diese differenzierte wissensgeschichtliche Betrachtung unerlässlich.

|| 484 Ebd., S. XVIII. 485 Vgl. hierzu Leibold 2009, S. 157ff. u. S. 256ff. 486 Schulze 1824, S. 137ff. 487 Ebd., S. 95ff. 488 Ebd., S. 255f. 489 Das Spinoza-Skript wurde als Ganzes bisher einzig betrachtet von Taylor 1995 und Stiening 2000–04; Teile des Descartes-Skripts betrachteten Vietta 1979 und Vollhardt 1991; Teile beider Skripten wurden von Kobel 1974, S. 112–125, Röcken 2009, S. 133–135 sowie Beise 2010, S. 84–89 interpretiert; MBA IX hat die Textordnung entstehungsgenetisch dekonstruiert und so eine philosophische Interpretation erschwert, die gleichwohl einführend versucht wird in ebd., S. 246–298. 490 Zu diesen Angaben vgl. Bergemann 1922, S. 742 u. S. 744f.; P II, S. 926f. sowie MBA IX.2, S. 187ff.

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2.2.2 Das Descartes-Skript Büchners Vorlesungs-Skript zu »Cartesius« lässt sich zunächst in sechs Abschnitte unterteilen, wie dies der Herausgeber einer der maßgeblichen Edition der Texte auch vorschlägt und durch – allerdings z. T. unglückliche – Herausgebertitel markiert. Im ersten Abschnitt (P II, S. 1733–21016)491 handelt Büchner Descartes’ Erkenntnistheorie und Metaphysik (I) ab, die das einleitende Thema, die Frage nach der »Philosophie als Wissenschaft« sowie die cartesische Antwort zwar enthält, in dieser aber nicht aufgeht, wie Poschmanns Herausgebertitel insinuiert. Im zweiten Abschnitt (P II, S. 21017–22320)492 wendet sich Büchner der »Physik«, d. h. der Naturphilosophie (II) Descartes’ zu, um im Anschluss daran nicht etwa nur die »Physiologie«, sondern Descartesʼ umfassendere Anthropologie (III) mit dem berühmten Körper-Seele-Verhältnis in deren Zentrum zu erfassen (P II, S. 22321–23816).493 Büchners Ausführungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik sowie zur Naturphilosophie sind als Kommentare zum Hauptwerk Descartes’, den Principia Philosophiae konzipiert, die daher dem ersten Teil der Vorlesung eine erste Überschrift verschaffen, wenngleich häufige Bezüge auf die Meditationen festzustellen sind;494 die Rekonstruktion der Anthropologie bezieht sich dagegen meistenteils auf De Homine und das berühmte Spätwerk Descartes’, Les Passions de l’Âme. Erst im vierten Abschnitt (P II, S. 23817–24118)495 stellt Büchner die Biographie (IV) auf kürzestem Raume dar; eine Berücksichtigung, die in Extension und Stellung innerhalb der Vorlesung sowohl gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann496 als auch gegenüber den Philosophiehistorikern der 1830er Jahre ungewöhnlich marginal ist. Breiten und in sich differenzierten Raum dagegen – und auch das ist ausschließlich bei Tennemann in Ansätzen durchgeführt – gewährt Büchner der Darstellung der Objectiones, d. h. der Einwände gegen Descartesʼ Meditationen, die von Theologen und Philosophen des 17. Jahrhunderts, wie Arnauld, Gassendi oder Hobbes in Briefen gegen Descartes vorgetragen wurde, sowie Descartes’ Erwiderungen darauf (V) (P II, S. 24119–2637).497 Abschließend analysiert Büchner noch einige als Nachfolger Descartes’ (VI) firmierende Autoren, wie Arnold Geulinx, Balthasar Bekker und Nicole Malebranche (P II, S. 2638–2796).498

|| 491 MBA IX.2, S. 431–746. 492 Ebd., S. 747–854. 493 MBA IX.2, S. 855–9815. 494 P II, S. 1732/MBA IX.2, S. 432. 495 MBA IX.2, S. 9818–10019. 496 Tennemann 1798–1819, X, S. 200–217. 497 MBA IX.2, S. 10020–1172. 498 Ebd., S. 1174–1283.

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Gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann, aber auch gegenüber den inneren Ordnungsstrukturen der Descartes-Kapitel von Feuerbach, Schelling und Hegel499 ist sowohl die nachgerückte Stellung der verhältnismäßig kurzen Biographie als auch die eigenständige und ausführliche Darstellung der Einwände auf die Meditationen samt den entsprechenden Erwiderungen Descartes’ auffällig.500 Die Grundzüge der Ordnung des cartesischen Systems in (1) Erkenntnistheorie und Metaphysik, (2) Naturphilosophie oder Physik und (3) Anthropologie entspricht den Quellen501 und den Vergleichstexten502 und ist selbst in aktuellen philosophiehistorischen Darstellungen zur Philosophie Descartes’ aufzufinden.503 Eine weitere Auffälligkeit des gesamten Descartes-Skriptes besteht in der mehrmals aufgeregten Polemik der zugleich systematischen Auseinandersetzungen mit Descartes; so wird den Erwiderungen Descartes’ auf die Einwände gegen seine Meditationen von Büchner mehrfach das Folgende attestiert: »Die Antwort des Cartesius ist erbärmlich.«504 Schon hinsichtlich der erkenntnissichernden Funktion des nach dem und unabhängig vom cogito-Argument ontologisch bewiesenen Gottes hält Büchner spöttisch fest: Gott ist es, der den Abgrund zwischen Denken und Erkennen, zwischen Subjekt und Objekt ausfüllt, er ist die Brücke, zwischen dem cogito ergo sum, zwischen dem einsamen, irren, nur einem, dem Selbstbewußtsein, gewissen, Denken und der Außenwelt. Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht doch, wie instinktartig scharf Cartesius schon das Grab der Philosophie abmaß; sonderbar ist es freilich wie er den lieben Gott als Leiter gebrauchte, um herauszukriechen.505

Die an den marxschen Polemiken geschulte Büchner-Forschung der 1970er und 1980er Jahre erkannte gegenüber solcherart Polemik gegen die Argumentationen Descartes’ keinerlei Erklärungsbedarf, das »Grab der Philosophie« sahen sie Büchner – »an der Schwelle zum historischen Materialismus«506 – notwendig und lustvoll schaufeln,507 und auch die selbstverständliche Annahme eines starken Einflusses jener Form der essayistischen Philosophiegeschichte, wie sie Heine betrieb, schien

|| 499 Drei dieser vier Descartes-Darstellungen beginnen ihre Rekonstruktionen mit der Biographie, vgl. Feuerbach 1990, S. 176–180; Schelling 1985, IV, S. 420; Hegel 1986, XX, S. 124f.; einzig Erdmann 1932, S. 321–336 verlegt seine biographischen Ausführungen an den Schluss seiner Abhandlung. 500 Eine unabhängig von der systematischen Rekonstruktion ausgeführte Darstellung der Objectiones ist bis auf eine kürzere Version bei Tennemann (1798–1819, X, S. 267–280) bei Hegel, Feuerbach, Erdmann oder Schelling nicht zu finden. 501 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 228–265. 502 Vgl. Erdmann 1932, S. 155–214; Hegel 1986, XX, S. 126–157; Feuerbach 1990, S. 187–232. 503 Vgl. hierzu u. a. Röd 31995, S. 76–144 oder Perler 22006, S. 89–230. 504 Vgl. P II, S. 2606/MBA IX.2, S. 11436. 505 P II, S. 19237–1938/MBA IX.2, S. 5910–16. 506 Mayer 1979a, S. 134. 507 So Dedner 2002, S. 303.

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diesen Stil zu erklären.508 Betrachtet man jedoch die nachweisbaren Quellen und die zeitgenössischen Kontexte zu Büchners Skript, dann sind solcherart Invektiven kaum zu entdecken;509 zwar macht auch Hegel Descartes den Vorwurf der Naivität;510 Feuerbach empfindet die »Art und Weise, wie C. seine Zweifel ausdrückt und vorstellt«, als »sehr unphilosophisch«,511 und selbst Tennemann attestiert Descartes, ihm habe »die Tiefe des Forschungsgeistes« gefehlt.512 Aber den Vorwurf der ›Erbärmlichkeit‹ erlaubt sich keine bekannte Philosophiegeschichte der Zeit. Im Gegenteil hält Eduard Erdmann schon gegen weniger polemische »Angriffe« Feuerbachs, Friedrich Asts und Thaddeus Anselm Rixners fest: Es ist zu bemerken, daß mit einem solchen Tadel die unerläßliche Forderung an jeden Kritiker, Alles auf seiner Stufe zu begreifen, außer Acht belassen ist.513

Dieser Einwand gegen tadelnde Kritik am historischen Gegenstand ist aber nicht ästhetischen oder rhetorischen Maximen geschuldet, sondern methodischen: »Kurz, dieser Tadel ist eben nur Tadel, nicht begreifende Kritik.«514 Um als Erklärung für Büchners ungewöhnliche Polemik weder auf Idiosynkrasien des Autors, mithin auf psychische Eigentümlichkeiten, noch auf die beliebte Insinuation einer Vorläuferschaft des marxschen Denkstils zurückgreifen,515 bieten sich zwei Überlegungen an: Büchners ausfällige Rhetorik lässt sich entweder dadurch erklären, dass er im Descartes-Manuskript noch nach der sprachlichen und rhetorischen Form des für ihn neuen Reflexionsfeldes suchen muss. Schon in der Darstellung der Philosophie des ›Mystikers‹ Nicole de Malebranche516 wie besonders in der Spinoza-Vorlesung finden sich solche Formen der Polemik nicht mehr, was sicher nicht auf die höhere Wertschätzung dieser Autoren durch Büchner zurückzuführen ist. Dagegen verfällt der Materialist Thomas Hobbes in der DescartesVorlesung dem (auf Tennemann zurückgehenden) Verdikt, »wenig Scharfsinn gezeigt«517 zu haben; kurz: in der Descartes-Vorlesung übte Büchner noch.518

|| 508 Zum angeblichen Einfluss des heineschen Essays auf Büchners Philosophiegeschichte vgl. Mayer 1979b, S. 390ff.; Osawa 1999, S. 79–85 und P II, S. 957. 509 Weder Tennemann noch Kuhn erlauben sich solche Formen der Auseinandersetzung und dies aus methodisch gesicherten Positionen; vgl. Tennemann 1798–1819, I, S. XVII und Kuhn 1834, S. 7. 510 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 126, S. 128 u. S. 136. 511 Feuerbach 1990, S. 181. 512 Tennemann 1798–1819, X, S. 265. 513 Erdmann 1932, S. 277. 514 Ebd., S. 278. 515 Hans Mayer 1972, S. 364f.; Knapp 32000, S. 33. 516 Vgl. P II, S. 2728–2796, spez. S. 27214/MBA IX.2, S. 1231–1283. 517 P II, S. 24717/MBA IX.2, S. 10435. 518 Vgl. hierzu Stiening 2005, S. 220.

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Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, dass sich der angehende Dozent zunächst bemühte, Ansprüchen zu genügen, die mit der Form der Vorlesung verbunden waren519 – auch einer philosophiehistorischen. Ulrich Johannes Schneider hat eine methodische Konsequenz dieser Ansprüche an den mündlichen Vortrag gegenüber der schriftlichen Studie schon für das frühe 19. Jahrhundert auf den Begriff gebracht: Die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte, wie sie das Dozieren vorführt, geht funktionsgemäß über historische Gelehrsamkeit hinaus. Entscheidend für das in der Vorlesung Vermittelte ist der Gesichtspunkt der Gegenwart.520

Möglicherweise also ging es Büchner mit dieser ungewöhnlichen Rhetorik auch um eine angemessene Ansprache des studentischen Publikums; ein Kriterium, wie es zuvor schon Coleridge mit einem Feuerwerk rhetorischer Mittel zu berücksichtigen versucht hatte.521 Im Folgenden sollen die vier thematischen Schwerpunkte, in die Büchner seine Descartes-Analyse differenziert, einzeln und in ihrem argumentationslogischen Zusammenhang betrachtet werden. Zum Zwecke der Konturierung des spezifischen Descartesbildes, das Büchner als Philosophiehistoriker entwirft, werden nicht nur die Argumentationsgänge selbst rekonstruiert, sondern auch die Quellenbezüge sowie die zeitgenössisch disziplinären Kontexte möglichst breit erschlossen. Weil die philosophiehistorischen Vorlesungs-Skripte Büchners ideen- und philosophiegeschichtlich noch nahezu unerschlossen sind und die Historiographie der Philosophiegeschichtsschreibung als Disziplin eine geringe methodische, systematische und historische Entwicklungsstufe aufweist,522 müssen die folgende Ausführungen differenzierter ausfallen, als von der Forschung bisher geleistet. Innerhalb des methodischen und systematischen Disziplinenrahmens der Philosophiegeschichtsschreibung ist im Folgenden eine Auslegung der spezifischen DescartesInterpretation Büchners unerlässlich. Dabei muss in Einzelfällen über den Tellerrand der epistemischen Situation der Philosophiegeschichtsschreibung in den 1830er Jahren hinausblickend nach der systematischen Adäquanz oder der forschungsgeschichtlichen Relevanz der büchnerschen Ergebnisse gefragt werden.

|| 519 Vgl. schon Bergemann 1922, S. 745. 520 Schneider 1999, S. 155. 521 Vgl. ebd., S. 173. 522 Vgl. hierzu einzig Geldsetzer 1968; Braun 1990; Schneider 1999; Lehmann-Brauns 2004 sowie Michalski 2010.

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2.2.2.1 Büchners kritische Perspektive auf Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ Büchner beginnt seine analytische Rekonstruktion der Philosophie Descartes’ mit der von Kuhn übernommenen Distinktion, man könne einen exoterischen von einem esoterischen Beweisgang der cartesischen Philosophie unterscheiden,523 wobei der esoterische mit dem nicht nur in der Philosophie, sondern auch der Philosophiegeschichtsschreibung zentralen Problem der »Philosophie als Wissenschaft« anhebe. Durch ein Wahrheitsgewissheitskriterium sowie ein Abstraktionsverfahren, die beide der Mathematik entlehnt seien, stieße man auf die einfachsten, also nicht zusammengesetzten, d. h. substanziellen Gegenstände, die am leichtesten zu erkennen und in ihrer Gewissheit nachzuweisen seien. Dieser mathematisch fundierte Szientismus, den auch Tennemann betont,524 sei das esoterische Zentrum der Philosophie Descartesʼ: Also Demonstration, Evidenz. Das Beispiel des Mathematikers hat den Neid des Philosophen erregt.525

Zur Ermöglichung solch wissenschaftlicher Wahrheitsgewissheit526 bedürfe es des Ausgangspunktes bei einem »ersten schlechthin gewisse[n] Satz«, der nur mit Hilfe eines uneingeschränkten Zweifels zu finden sei. Dabei erkennt Büchner und lässt daher seine gesamte Argumentation darauf zulaufen, dass der »Grundstein des cartesischen Gebäudes«, das cogito ergo sum, seine Geltung aus dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruches bezieht: Es ist ein Widerspruch zu denken, das, was denket, existieret zu der Zeit, da es denket, nicht. Daher ist die Erkenntnis ich denke, also bin ich, die allererste und gewisseste, welche einem methodisch Philosophierenden sich darstellt.527

Wie eng sich Büchner auch in diesem ersten Teil seiner Vorlesung auf seine Hauptquelle Tennemann stützt, zeigt die entsprechende Passage in dessen Kompendium, dort heißt es: Es ist ein Widerspruch zu denken; das, was denket, existirt zu der Zeit, da es denket, nicht. Daher ist die Erkenntniß: ich denke, folglich bin ich, die allererste und gewisseste, welche einem methodisch Philosophirenden sich darstellt.528

|| 523 Kuhn 1834, S. 68. 524 Tennemann 1798–1819, X, S. 221. 525 P II, S. 17330–1741/MBA IX.2, S. 4325f.; mit Zitat aus Kuhn 1834, S. 65. 526 Zur Koinzidenz von Wahrheit und Gewissheit, »d. i. Unbezweifelbarkeit und objektiver Gültigkeit« im cogito vgl. Röd 31995, S. 102. 527 P II, S. 17533–37/MBA IX.2, S. 4439–42. 528 Tennemann 1798–1819, X, S. 228.

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Auch Johannes Kuhn, Büchners wichtigste Quelle für den Beginn der Vorlesung, scheint hier Tennemann zu folgen, heißt es doch bei ihm: Denn es ist ein Widerspruch anzunehmen, daß das, (id, quid), was denkt, in demselben Augenblick, da es denkt, nicht existire. Demnach ist also die Erkenntnis: ich denke, also bin ich, die erste und gewisseste, die jedem, der ordentlich philosophirt, entgegentritt.529

Büchner ordnet also in diesem ersten Teil die Argumente Kuhns neu, versachlicht einige moralisierende Argumentationsfügungen, verbleibt aber hermeneutisch im Rahmen dieser Interpretation. Deren Besonderheiten gegenüber den DescartesKapiteln Erdmanns, Hegels oder Feuerbachs liegen in den Anwendung der für die zeitgenössische Platon-Forschung topischen Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Argumentationsgang530 auf Descartes, die allerdings auch auf die von Descartes selbst schon getroffene Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Methode zurückzuführen ist.531 Auch die eigentümlich leibnizianisierende532 Interpretation des cogito als »Kraft zu denken«,533 die in der Verwendung des Terminus »Denkkraft«534 auch bei Tennemann auftaucht und von Büchner übernommen wird, macht eine weitere Besonderheit der kuhnschen Interpretation gegenüber dem zeitgenössischen Kontext aus. Sie belegt, dass auch ein katholischer Theologe der ambitionierten Tübinger Schule in den 1830er Jahren um die von Leibniz übernommene kantische Bestimmung der Substanz nicht herumkommt, hatte Kant doch festgehalten: »Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden.«535 Im nächsten Abschnitt beschäftigt Büchner eine Frage, die nicht nur in der zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung kontrovers diskutiert wurde, sondern noch in namhaften Descartesinterpretation des 20. und 21. Jahrhunderts536 eine Rolle spielt: der Status des cogito-Arguments. Es geht in diesem Zusammenhang um die Frage, ob dem Satz cogito ergo sum ein Schlusscharakter attestiert werden könne bzw. müsse oder ob es sich um ein Axiom bzw. eine »unmittelbare Wahrheit« han-

|| 529 Kuhn 1834, S. 68. 530 Vgl. hierzu Franz 1996, S. 99–149. 531 Vgl. Descartes 1972, S. 140ff. sowie Spinoza 1987, S. 3f.; Büchner kommt anlässlich der Darstellung der cartesischen Erwiderungen auf die zweiten Einwände gegen die Meditationen (Mersenne) auf diese zeittypische Unterscheidung zu sprechen; vgl. P II, S. 2443–30. 532 Vgl. u. a. Baumgarten 2004, S. 112: »§ 371: Ich denke, und meine Seele wird dadurch verändert. Folglich sind die Gedanken Accidenzien meiner Seele, deren wenigstens einige den hinreichenden Grund ihrer Würklichkeit in meiner Seele haben. Folglich ist meine Seele eine Kraft.« 533 Kuhn 1834, S. 65; übernommen bei Büchner, vgl. P II, S. 17418f.. 534 Tennemann 1798–1819, X, S. 231. 535 KrV B 250. 536 Vgl. hierzu Röd 31995, S. 81 oder auch Perler 22006, S. 139ff.

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delt. Büchner zitiert zunächst die einschlägigen Passagen aus den Principia Philosophiae, deren Argumentationsbewegung auch dem weiteren Verlauf der Analyse zugrunde gelegt wird. Ergänzend zitiert Büchner aus Descartes’ Erwiderungen auf die Einwände zu den Meditationen. In diesen Texten bestimmt Descartes das cogito einmal als Schluss,537 einmal bestreitet er genau diesen Status.538 Büchner bietet nun unter Bezug auf alternative Positionen und mit systematischer Affinität zu Kuhns Interpretation539 folgende Lösung an, die von der Forschung als methodisch eigenständige, von Tennemann und Kuhn unabhängige Reflexionsleistung bezeichnet wurde:540 Gehört nun das cogito ergo sum zu den unmittelbaren Wahrheiten? Ebensowenig, ob es gleich vielfach ist behauptet worden, namentlich noch neuerdings von Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und von Hotho in seiner Dissertation über die Cartesianische Philosophie. Allenfalls ließe sich noch ein hypothetischer Vernunftschluß daraus bilden: Wenn etwas denkt, so ist es. Ich denke. Also bin ich.541

Weil Büchner mit Kuhn den »Grundcharakter aller unmittelbaren Wahrheit« als »das Ponieren, das Affirmieren, schlechthin« definiert, das »durch das sekundäre Geschäft des Denkens gar nicht vermittelt, wesentlich nicht einmal berührt« werde,542 das cogito-Argument damit kein unmittelbares Wissen sein könne, liefert er mit der These vom »hypothetischen Vernunftschluß« seine zentrale Interpretation, die Friedrich Vollhardt eine der »verba ipsissima« der Vorlesung nannte.543 Nun kann dieses positivistische Urteil bestehen bleiben und doch der Eindruck außergewöhnlicher Interpretationsleistungen des jungen Philosophiehistorikers auf den Boden der gewöhnlich sauren Begriffsarbeit philosophischer Hermeneutik zurückverbracht werden. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass Büchner die gängige Theorie vom »hypothetischen Schluß« der Sache nach in der Logik-Vorlesung Hillebrands im Gießener Sommersemester 1834 hörte544 und mit Hilfe des LogikHandbuches Kiesewetters aktualisieren konnte; dort heißt es unter Verwendung des ausschließlich kantischen Terminus vom »Vernunftschluß«:545

|| 537 Descartes 2005, S. 16ff. (§ 10) und P II, S. 1764–14. 538 Descartes 1972, S. 127f. und P II, S. 17621–25/MBA IX.2, S. 4512–16. 539 Vgl. Kuhn 1834, S. 70ff. 540 So Vollhardt 1991, S. 202ff. 541 P II, S. 17637–1779/MBA IX.2, S. 4525–463. 542 P II, S. 17716–19. Büchner zitiert hier Kuhn 1834, S. 72f. 543 Vollhardt 1991, S. 203, bestätigt wird dies noch durch die MBA IX.2, S. 45. 544 Vgl. hierzu Hillebrand 1820, S. 143 und Hillebrand 1826, S. 199ff. 545 Es sind ausschließlich die kantische Logik und die sie ausdifferenzierende Variante Kiesewetters, die zwischen Verstandes- und Vernunftschlüssen unterscheiden; vgl. Kant 1983, V, S. 545: »Die eigentümliche Natur der Verstandesschlüsse« u. S. 551: »Vernunftschlüsse überhaupt«; Kiesewetter

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Ein Vernunftschluß ist hypothetisch oder bedingt (syllogismus hypotheticus oder conditionalis), wenn sein Obersatz ein bedingtes Urtheil ist. Im Obersatze eines hypothetischen Urteils stehen Subjekt und Prädikat im Verhältnisses von Grund und Folge, und auf dieser Verbindung beruht also auch die ganze Schlußart […]. Die Grundregel für die hypothetischen Schlüsse ist also: Wenn der Vordersatz gesetzt wird, muß auch der Nachsatz gesetzt werden, und wenn der Nachsatz aufgehoben wird, so muß auch der Vordersatz aufgehoben werden, denn der Vordersatz steht mit dem Nachsatze in dem Verhältnisse von Grund und Folge.546

Büchner realisiert für seine Interpretation des Ich denke, also bin ich sein logisches Wissen, um seinen Zuhörern eine spezifische Interpretation des cogito-Arguments als Schlussform vorführen zu können. Betrachtet man den zeitgenössischen Kontext der philosophiehistorischen Descartes-Interpretationen, so wird erkennbar, dass durch diese Anwendung logischen Wissens auf das cogito-Argument tatsächlich eine gewisse Originalität der büchnerschen Interpretation behauptet werden kann: Denn schon der von Büchner zitierte Spinoza hatte in seinen Principia Philosophiae Cartesianae festgestellt, dass »der Satz: Ich zweifle, ich denke, also bin ich, kein Schluss ist, zu dem der Obersatz fehlt«.547 Auch der von Büchner aufgerufene Hegel hatte in § 63 seiner Enzyklopädie von 1830, und zwar im Zusammenhang der Darstellung des unmittelbaren Wissens, das cogito-Argument als Illustration der »dritten Stellung des Gedankens zu Objektivität« angeführt: Aber auch in der Weise der Unmittelbarkeit ist jener Satz, um den, wie man sagen kann, sich das ganze Interesse der neueren Philosophie dreht, sogleich von deren Urheber ausgesprochen worden: Cogito, ergo sum. Man muß von der Natur des Schlusses etwa nicht viel mehr wissen, als daß in einem Schlusse ›ergo‹ vorkomme, um jenen Satz für einen Schluß anzusehen; wo wäre der medius terminus? Und ein solcher gehört doch wohl wesentlicher zum Schlusse als das Wort ›ergo‹. Will man aber, um den Namen zu rechtfertigen, jene Verbindung bei Descartes einen unmittelbaren Schluß nennen, so heißt diese überflüssige Form nichts anderes als eine durch nichts vermittelte Verknüpfung unterschiedlicher Bestimmungen. Dann ist die Verknüpfung des Seins mit unseren Vorstellungen, welche der Satz des unmittelbaren Wissens ausdrückt, nicht mehr und nicht weniger ein Schluß. – Aus Herrn Hothos Dissertation über Cartesische Philosophie, die im Jahre 1826 erschienen ist, entnehme ich die Zitate, in denen auch

|| 1824, S. (77): »Von den Verstandesschlüssen« und S. (103): »Lehre von den Vernunftschlüssen« sowie S. 256ff. und S. 365ff. Der Aufbau beider Bände zur Logik folgt einem Kommentarschema, dem zufolge zunächst mit geklammerten Seitenzahlen die Doktrin und hernach mit normalen Seitenzahlen ein ausführlicher Kommentar mit Beispielen durchgeführt wird. Hegel (1986, V, S. 395–398) oder Hillebrand (siehe die vorhergehende Anmerkung) reden demgegenüber nur von »hypothetischen Schlüssen«, so dass eine Übernahme der Formel von den »hypothetischen Vernunftschlüssen« aus dem ersten Band des später noch direkt (aus Bd. 2) zitierten Kiesewetter sehr wahrscheinlich ist. 546 Kiesewetter 41824, S. (112). 547 Spinoza 1987, S. 14. 4

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Descartes selbst ausdrücklich sich darüber erklärt, daß der Satz, cogito, ergo sum kein Schluß ist.548

Auf diese Passage bezog sich Büchners Erwiderung,549 er hätte sich zudem auf die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie beziehen können, in denen Hegel nochmals ausführlich zu beweisen sucht, dass »[d]ies Also [...] hier nicht das Also eines Schlusses« ist.550 Auch Schelling beweist in seinen Münchener Vorlesungen, dass das cogito-Argument keinen Schlusscharakter haben kann, weil es damit die von Descartes gesuchte »unmittelbare Gewißheit« verlöre. Schelling interpretiert das cogito daher als analytischen Satz, in dem das Sein als im Denken analytisch enthalten bestimmt werden könne.551 Feuerbach weist nicht nur in seiner Philosophiegeschichte nach, dass »das ›cogito ergo sum‹ […] kein Schluß ist, wie einige bisher meinten«,552 sondern greift im Jahre 1835 in einer Rezension den kuhnschen Vorschlag direkt an: Die Verknüpfung oder Vermittlung der Existenz mit dem Wesen, wie sie die Schlußform enthält, hat keinen anderen Zweck, als gerade ihre unmittelbare Identität zu zeigen. Die Form des Schlusses verschwindet daher vor dem Inhalt des Schlusses als ein bloßer Notbehelf des Subjekts, der für das Objekt ohne alle reelle Bedeutung ist.553

Darüber hinaus entzündet sich zwischen Erdmann und Feuerbach an genau dieser Frage ihre langjährige Auseinandersetzung,554 obwohl beide Interpreten den Schlusscharakter des cogito-Argumentes begründet bestreiten. Doch Feuerbach erlaubt sich in diesem Zusammenhang erneut eine Rüge der »Inkonsequenz« und »Unbeholfenheit« Descartes’,555 was Erdmann unter methodischen Gesichtspunkten als unwissenschaftlich zurückweist.556 Zugleich entwickelt Erdmann eben jenen

|| 548 Hegel 1986, VIII, S. 154. 549 Die für eine ideengeschichtliche Interpretation auch dann heranzuziehen ist, wenn man der Vermutung nachhängt, Büchner habe weder Hegel noch Hotho gelesen, weil er diesen Bezug auf beide bei Kuhn (1834, S. 70) abschreiben konnte (vgl. Bergemann 1922, S. 743Anm.1; Voss 1987, S. 357; Osawa 1999, S. 44Anm. 6 sowie P II, S. 964). Dabei ist die These, Büchner habe Hegel nicht gelesen, genauso gut bzw. schlecht dokumentiert wie die Annahme, er sei Kuhns Anregungen nachgegangen; für beide empirischen Behauptungen gibt es keinerlei Hinweise. 550 Hegel 1986, XX, S. 131f.; zu Hegels Begründungsweg zu dieser Interpretation vgl. Pätzold 2007, S. 91f. 551 Schelling 1985, IV, S. 424ff. 552 Feuerbach 1990, S. 191. 553 Feuerbach 1975, II, S. 18. 554 Vgl. Feuerbachs Vorgabe im Jahre 1833 (Feuerbach 1990, S. 191f.), die kritische Reaktion hierauf von Erdmann im Jahre 1834 (Erdmann 1932, S. 284ff.) und Feuerbachs Rezension des ersten Bandes der erdmannschen Philosophiegeschichte im Jahre 1836 (Feuerbach 1975, II, S. 129–136, spez. S. 129–134). 555 Feuerbach 1990, S. 192. 556 Erdmann 1932, S. 301f.

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auch von Büchner unternommenen Versuch, das cogito in einen möglichen Schluss zu überführen, verwirft diesen Versuch aber mit der folgenden Begründung: Der Ausspruch: ich denke, also bin ich, ist nicht als Schluß eines Syllogismus anzusehen. Wenn einer sagt: Ich denke, also bin oder existire ich, so schließt er nicht durch einen Syllogismus von seinem Denken auf seine Existenz, sondern erkennt es, wie eine Sache, die an und für sich klar ist, in einer einfachen Anschauung; dies ist schon daraus klar, daß im entgegengesetzten Falle er erst den major jenes Syllogismus, nämlich: Alles, was denkt, ist oder existirt, kennen müßte. In der That aber lernt jeder diesen erst dadurch, daß er an sich erfahren hat, daß seine Existenz von seinem Denken untrennbar ist.557

Formal – das lässt sich schon der zeitgenössischen Interpretation Erdmanns von 1834 entnehmen – ist Büchners Vorschlag also korrekt und wird wegen der naheliegenden logischen Problematik auch von anderen Philosophiehistorikern erwogen, material-systematisch aber ist er nach Erdmann unzureichend, weil er in einen Voraussetzungszirkel führt. Dass Büchner mithin sein logisches Wissen für die Interpretation des cogito-Arguments aufruft, entspricht zwar den Usancen der zeitgenössischen Descartes-Interpretation, im systematischen Ergebnis unterscheiden sich diese allerdings grundlegend. Büchners Vorschlag zur Interpretation des Status des cogito-Arguments basiert auf einem spezifischen Verständnis des ›unmittelbaren Wissens‹ bei Kuhn, weil nach diesem die Unmittelbarkeit des Wissens alles Diskursive des Denkens, das als »bloß Negatives« bestimmt wird, abstrakt von sich ausschließt.558 Die idealistischen Interpreten mussten aufgrund eines fundamental abweichenden Unmittelbarkeitsbegriffes zu anderen Ergebnissen gelangen.559 Zwar weist auch Tennemanns kantianisierende Analyse dem cogito-Argument, das er als Selbstbewusstseinstheorie interpretiert, einen Schlusscharakter nach;560 Büchner bezieht sich in diesem Zusammenhang aber eindeutig auf Kuhns Überlegungen zum unmittelbaren Wissen. Dessen ›theologische‹ Variante der Unmittelbarkeitsbestimmung zwingt zu einer Interpretation des cogito-Arguments als eines – wenigstens – hypothetischen Schlusses, weil es jenen abstrakten Maßstäben561 der Positivität von Unmittelbarkeit nicht entspricht, die Kuhn in der Tradition Jacobis entwickelte. Als Urteil überhaupt muss das cogito-Argument ins Reich des Diskursiven verlegt werden.

|| 557 Ebd., S. 158f.; vgl. auch ebd., S. 281. 558 So Kuhn 1834, S. 72. 559 Zu einer alternativen Bestimmung von Unmittelbarkeit, die gerade nicht durch ein Verständnis von Positivität, das alle Negativität abstrakt negiert, gekennzeichnet ist, vgl. Hegel 1986, V, S. 65– 79. 560 Tennemann 1798–1819, X, S. 228–231: »Und wenn gleich das Seyn des Vorstellenden als Faktum in dem unentwickelten Bewußtsein lieget, so kann es doch nicht anders deutlich als in der Form des Denkens durch einen Schluss ausgedrückt werden.« 561 Vgl. hierzu Arndt 1995, S. 207–211.

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Auf der gleichen Ebene liegt der Vorschlag, das cogito sei ein »mathematischer Grundsatz«, wie dies Büchner im weiteren Verlauf der Argumentation mit Kuhn unterbreitet.562 Auch diese Überlegungen führen allerdings in die von Erdmann präzise erörterten Widersprüche, die Büchner erneut nicht erkennt. Der Problematik seiner Interpretation wird Büchner sich allerdings im weiteren Verlauf der Vorlesung bewusst, wenn er im Zusammenhang der systematischen Stellung der Gottessubstanz zum cogito-Argument vermutet: »Hotho und Hegel mögen doch Recht haben.«563 Die zunächst deutliche Anbindung an die Vorlagen Kuhns, die den Beginn der Vorlesung zu Descartes auszeichnete, nehmen in den späteren Passagen ab.564 Dennoch bleibt bei Büchner seit diesem Zeitpunkt ein spezifisches Unmittelbarkeitspathos nachweisbar, das sich in produktiver Aufnahme und kritischer Distanz zugleich der Kuhn-Lektüre verdankt: Einige Wochen nach der Arbeit an dieser Descartes-Vorlesung stellt er in seiner Probevorlesung im Hinblick auf epistemologische Voraussetzungen der als Zweck aller Naturforschung entwickelten Suche nach einem allgemeinen Naturgesetz fest: Die Frage nach einem solchen Gesetze führte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntnis, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je her berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste, sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.565

Mit diesem Verständnis von Wahrnehmung als einer unmittelbar-empirischen und damit vor- bzw. unbegrifflichen Gewahrnehmung der Natur566 ist allerdings weder Jacobis noch Kuhns Konzept unmittelbaren Wissens zu verbinden, das sich gerade nicht auf die endlichen Dinge der Welt richtet, sondern auf rational unbestimmbare, übersinnliche Entitäten, wie Gott und die Freiheit;567 noch ist mit dieser leicht dramatisierten Bestimmung aposteriorischer Erkenntnis, die Büchner von den Formen apriorischen Wissens schon in der Descartes-Vorlesung abgrenzt, eine der Formen jener ›Neuen Unmittelbarkeit‹ zu verbinden, die in ihrem dezidierten AntiHegelianismus seit den 1840er Jahren an Attraktivität gewannen, wie die Konzepte || 562 P II, S. 17729–17815/MBA IX.2, S. 4619–38. 563 P II, S. 19526f./MBA IX.2, S. 6132f.; vgl. hierzu auch die allerdings unpräzisen Ausführungen bei Osawa 1999, S. 44; systematisch und historisch zutreffend dagegen Sanada 2001, S. 435. 564 Vgl. auch MBA IX.2, S. 290–292. 565 MBA VIII, S. 15514–22; Hvhb. von mir; vgl. hierzu auch Taylor 1995, S. 47f. 566 Mit der nun eindeutig nicht die »mikroskopische Beobachtung von präparierten Gegenständen« gemeint ist, wie Osawa 1999, S. 43 vorschlägt, sondern die technisch und begrifflich vollkommen ungestützte unmittelbar sinnliche Wahrnehmung der Natur. 567 Vgl. hierzu die nach wie vor standardsetzende Jacobi-Interpretation durch Timm 1974, S. 136– 225.

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Feuerbachs, Trendelenburgs oder Kierkegaards zeigen.568 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Büchner jene Unmittelbarkeit der Naturwahrnehmung vor der begrifflich gestützten, mithin a priori fundierten Naturwissenschaft auszeichnet, weil sie das »frische grüne Leben der Natur« gewahr werden lasse, während die Philosophie a priori in der »trostlosen Wüste« begrifflicher Abstraktion verharre. Doch bleibt einerseits unklar, ob dies ein dauerhafter Zustand ist, weil es zumindest auch heißt, diese Philosophie sei noch in jener Wüste,569 auch wenn die Möglichkeit der Überbrückung jenes garstig breiten Grabens zum frischen grünen Leben grundlegend in Frage gestellt wird. Andererseits lässt die nachfolgende Argumentation der Probevorlesung keine Zweifel daran, dass es nur jene (Natur-)»Philosophie a priori« ist, die die Fragestellungen der empirischen Naturforschung in angemessener Weise methodisch und systematisch lenkt.570 Schon in diesen ersten zentralen Abschnitten der Descartes-Vorlesung zeigt sich also, dass Büchner trotz einer gewissen Eigenständigkeit – u. a. in der Anwendung logischer Instrumentarien – aufgrund der noch prägenden Abhängigkeit von seiner theologischen Quelle zu Ergebnissen kommt, die der gesamten zeitgenössischen Philosophiegeschichtsschreibung entgegen standen. Ohne eine zureichende Begründung für seine Interpretation vorzulegen, ohne auch eine entsprechende Auseinandersetzung mit den alternativen Vorschlägen ausführen zu können, kommt er allerdings durch die weitere Auseinandersetzung mit Descartes zu einer Reflexion auf die Problematik seiner anfänglichen Interpretationen. Diese mittelbare Eigenständigkeit seines hermeneutischen Geschäfts wird er auch im folgenden Abschnitt beweisen. Denn Büchner rekonstruiert nunmehr die cartesischen Ableitungen aus dem obersten Grundsatz des cogito, deren erste in der Gewissheit des Denkens als Eigenschaft des Ich besteht: Fragen wir was wir sind, so können wir weder Ausdehnung, noch Figur, noch örtliche Bewegung, noch sonst etwas, das vom Körper ausgesagt wird, zu unserem Wesen rechnen, sondern nur das Denken, welches folglich früher und gewisser, als irgend etwas Körperliches erkannt wird.571

Aus diesem erkenntnisgenetischen und -theoretischen Primat des Denkens schließt Büchner, jetzt in zitierender Anbindung an Tennemann,572 die Unerweislichkeit der Realität der Außenwelt, »da wir ja urteilen könnten, wir berührten die Erde, ohne

|| 568 Vgl. Arndt 1995, S. 211ff. sowie Breidbach 2006, S. 263. 569 Dies verkennt in seinem Lukács geschuldeten affektiven Anti-Idealismus Döhner 1967, S. 50, und noch MBA IX.2, S. 257 geht auf dieses »noch« mit keinem Wort ein. 570 Insofern kann von einem dezidierten Anti-Apriorismus Büchners (vgl. u. a. Dedner 1989, S. 576; MBA IX.2, S. 253ff.; S. 259 u.ö.) keine Rede sein; vgl. hierzu auch meine Ausführung in Kap. 3. 571 P II, S. 17911–15/MBA IX.2, S. 4719–23. 572 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 213.

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daß sie vorhanden ist«.573 Damit referiert er schon an dieser Stelle auf das weiter unten reflektierte Solipsismus-Problem des Cartesianismus. Die entscheidende Schlussfolgerung aus diesem Primat des Denkens zieht Büchner jedoch im unmittelbaren Anschluss, wenn er schreibt, dass: wir aber nicht urteilen können, wenn die Denkkraft, welche urteilet, Nichts ist. Folglich erkennen wir die Seele als das Denkende früher und gewisser als Jedes Andre (§ 8 und 11 princ.). Eine gute Widerlegung des Materialismus.574

Erfolgte die Rekonstruktion des Nachweises vom ontologischen Primat des Denkens in starker Anbindung an Tennemann, so ist Büchners systematische Schlussfolgerung, in dieser Beweiskette läge eine »gute Widerlegung des Materialismus«, in den Quellen ebenso wie in den kontextuellen Philosophiegeschichten nicht nachweisbar. Einzig Heinrich Heine referierte im Zusammenhang mit Descartes überhaupt auf den Materialismus – allerdings nicht als Widerlegungsverhältnis, sondern vielmehr als ein möglicher Anschluss in der Weiterentwicklung der mechanistischen Anthropologie. Wie der Idealismus, so sei auch der Materialismus eine mögliche Konsequenz des cartesischen Systems.575 Büchners anders lautende These muss mithin als eigenständige systematische Reflexion gewertet werden, die ihm über den ideenhistoriographischen Horizont hinaus von systematischem Interesse schien.

2.2.2.2 Exkurs: Büchner und Diderot oder: War Büchner Materialist ? Die Bemerkung, Descartes’ Deduktion der cogito-Gewissheit sei eine »gute Widerlegung des Materialismus«, setzt eine gewisse Kenntnis materialistischer Theoriebestände und Wissensansprüche voraus, scheint aber in ihrer Lakonie wenig Bemerkenswertes für den Interpreten zu enthalten. Spektakulär – und zwar so spektakulär, dass diese Reflexion kaum je zitiert wurde576 – wird diese Zeile erst vor

|| 573 P II, S. 17924f./MBA IX.2, S. 487f.. 574 Ebd., S. 17925–29/MBA IX.2, S. 488–11. 575 Heine 1976, V, S. 555: »Ich darf bei Franzosen eine zulängliche Bekanntschaft mit der Philosophie ihres großen Landsmannes voraussetzen, und ich brauche hier nicht erst zu zeigen, wie die entgegengesetzten Doktrinen aus ihr das nötige Material entlehnen konnten. Ich spreche hier vom Idealismus und vom Materialismus.« Zum Materialismusproblem vgl. auch Hillebrand 1826, S. 319f. Diese Interpretation der Entstehungsgeschichte des französischen Materialismus übernehmen dann in den 1840er Jahren – allerdings mit Bezug auf Spinoza – Bruno Bauer und Karl Marx, vgl. MEW 2, S. 131–134. 576 Vgl. hierzu Kobel 1974, S. 263; Vietta 1979 und Vietta 1982, die die Passage zitieren. Während aber Kobel durchaus zutreffende Schlüsse zieht, kann Vietta nur unter erheblichen Anstrengungen seine Thesen von einem »materialistischen Positivismus« Büchners (1979, S. 425; was immer das genau sei) legitimieren; differenzierter hierzu MBA IX.2, S. 261–263 u. S. 457.

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dem Hintergrund der durch die Forschung der 1970er Jahre, namentlich durch die von Thomas Michael Mayer inaugurierte These von einem systematischen Materialismus Büchners, wonach dessen politische und politiktheoretische Dimensionen auf einem philosophischen, d. h. ontologischen,577 anthropologischen578 und ethischen Konzept aufruhen sollen, das von d’Holbach und Diderot ausgeführt worden war. Kurz: Büchner gilt spätestens seit 1979 als Materialist in theoretischer und praktischer Hinsicht.579 Noch die Versuche der MBA, den Autor der psychopathologischen Studie Lenz ausschließlich in die Tradition einer »somatisch orientierten Psychiatrie in Deutschland« zu stellen,580 basieren auf der Annahme eines allgemeinen begründungstheoretischen, vor allem aber psychophysischen Materialismus Büchners.581 In welche Interpretationsprobleme Büchners lakonische Ableitung vor diesem Hintergrund führt, zeigt der ebenso aufgeregte wie irrlichternde Kommentar Henri Poschmanns: Die Bemerkung wirft die Frage nach Büchners vielmals behauptetem, aber auch oft bestrittenem weltanschaulichen Materialismus auf. Sie bejaht sicher nicht nur die formale Schlüssigkeit der Ausführungen Descartes’ (in Büchners Übersetzung) im Absatz davor. Klar erscheint jedenfalls das Einverständnis damit, daß Descartes die Priorität des Subjekts dem Objekten gegenüber behauptet. Doch heißt das, wie sich noch zeigt, nicht, daß Büchners Subjektbegriff mit dem von Descartes übereinstimmt.582

Es stellt sich an dieser Stelle der Rekonstruktion des Descartes-Skipts mithin die dringende Frage, ob Büchner tatsächlich Materialist war und sein bis zum Herbst 1836 stabiler Materialismus durch den cartesischen Subjekt-Substanzialismus destruiert wurde, was der Autor zwar lakonisch, aber unmissverständlich feststellt; oder aber, ob Büchner eine zwar richtige und für ihn durchaus bemerkenswerte, aber letztlich philosophiehistorische Aussage zum argumentationslogischen und systematischen Verhältnis von Rationalismus und Materialismus trifft. Zu einer

|| 577 Vgl. Mayer 1979a, S. 85, wo von »ontologischer Faktizität« gesprochen wird. 578 Vgl. ebd., S. 122 sowie Dedner 2002. 579 Ausgehend von Mayer 1979a, S. 75–108; vgl. u. a. Vietta 1979, S. 424, S. 427 u. ö.; Görlich u. Lehr 1981, passim; Ruckhäberle 1981, S. 170; Vietta 1982, S. 150–153; Kahl 1982, S. 99ff.; Poschmann 3 1988, S. 69; Dedner 1985, S. 367ff.; Vollhardt 88/89, S. 69; Werner 1992, S. 84–99; Glebke 1995, S. 39–81; Pilger 1990–94, S. 106; Schwann 1997, S. 122f.; Osawa 1999, S. 49, S. 87–97, S. 110; Dedner 2002, S. 292–302; Funk 2002, S. 19; Frick 2004, S. 263; Taniguchi 2000–04, passim; Teraoka 2006, S. 169; Schütte 2006, S. 179; Ritzer 2007, S. 276–282; Morawe 2005–08, S. 256ff.; Morawe 2012, S. 12– 23 u. ö.; Morawe 2013, S. 166; Hofmann u. Kanning 2013, S. 28f. Zu einer der seltenen Kritiken hieran vgl. Eibl 1981, S. 418. 580 MBA V, S. 131–137, hier S. 132. 581 Vgl. auch die Insinuationen zum angeblichen materialistischen Anti-Teleologismus Büchners im Woyzeck in der MBA VII.2, S. 521; eine Abkehr von dieser Position in MBA IX.2, S. 261ff. 582 P II, S. 967.

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angemessenen Beantwortung dieser Frage sind allerdings folgende Momente zu bedenken: Zum einen müsste Büchner tatsächlich Materialist gewesen sein, um sich an dieser Stelle durch Descartes von seiner vorherigen Position zu distanzieren. Dieser Frage ist gleich nachzugehen. Zum anderen müsste die eigentümliche Lakonie bei einer derart fundamentalen Änderung seiner philosophischen Grundhaltungen erklärt werden. Und letztlich wäre zu erläutern, wie ein Materialismus Büchners zu kontextualisieren ist und d. h. auch, welche Variante von ihm entworfen und vertreten wurde.583 Ausgangspunkt der Thesen von einem Materialismus Büchners sind zumeist584 die folgenden Briefpassagen aus den Jahren 1833 bis 1836: Ich […] habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist.585 [D]as Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickt, könnte ein Messias werden. Mästen Sie den Bauern und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf eines Bauern macht den gallischen Hahn verenden.586 Die Gesellschaft mittels der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell, wären Sie direkter politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.587

Büchner argumentiert in diesen Passagen, die sich mit der gesellschaftspolitischen Frage nach dem Wirkmechanismen politischer, und d. h. in den 1830er und 1840er Jahren revolutionärer Veränderungen beschäftigen, von einem Standpunkt aus, den man in der Tat als »materialistisch« bezeichnen kann. Die Geltung dieser Thesen ist aber extensional und intensional präzise bestimmt und so begrenzt: Zum einen gilt dieser Standpunkt für »unsere Zeit« und unterscheidet sich damit von einer ›Kritik der politischen Ökonomie‹, deren historischer Geltungsumfang als einzelwissenschaftliche und geschichtsphilosophische These gerade nicht beschränkt ist.588 Zum anderen weist Büchner eigens darauf hin, dass seine Argumente politische – und damit weder politiktheoretische noch geschichtsphilosophische – sind. Kurz: Büchners Aussagen sind aus politischer Erfahrung (so aus der Revolution von 1830, den Seidenweber-Aufständen in Lyon von 1832, seinen eigenen politischen Aktivitäten

|| 583 Das ist aber aus forschungsgeschichtlichen wie systematischen Gründen zu belegen und nicht wie selbstverständlich zurückzuweisen, so aber Beise 2010, S. 87. 584 Vgl. u. a. Glebke 1995, S. 39ff.; Osawa 1999, S. 15ff. 585 P II, S. 3693–7/MBA X.1, S. 2114–17. 586 P II, S. 4005–12/MBA X.1, S. 7136–41. 587 P II, S. 4406–12/MBA X.1, S. 9318–23; Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836. 588 Vgl. hierzu u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 240ff.

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u.v.m.) gewonnen und erheben den nicht größeren, aber auch nicht geringeren Anspruch, Maximen für das aktuelle politische Handeln aufzustellen. Ihr Geltungsanspruch ist mithin kein philosophischer – schon gar nicht »an der Schwelle zum historischen Materialismus«589 –, sondern der eines politischen Erfahrungsurteils. Für das politisch-empirische Wissen darum, dass der Gegensatz von arm und reich die entscheidende gesellschaftspolitische Wirkmacht der 1830er Jahre ausmacht, dass die politischen Zeitumstände ›materiell‹ sind, bedarf es allerdings – wie die Beispiele Honoré de Balzacs oder Eduard Gans’ zeigen590 – keines allgemeinen begründungstheoretischen Materialismus. Im Gegenteil grenzt seine politische These von der Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Veränderung »mittels der Idee« Büchner einerseits von Auguste Comtes zeitgleich entwickeltem ›Positivismus‹ und dessen politisch-praktischer Dimension scharf ab: Comte war nämlich der Überzeugung, »daß die Sozialtheorie notwendig, aber auch hinreichend sei für die Reorganisation der Gesellschaft.«591 Von dieser Vorstellung aber hatte sich Büchner längst verabschiedet. Andererseits unterscheiden die Thesen von der rein materiellen Zeit und der daraus abzuleitenden politischen Maxime einer Veränderung nur durch die »große Masse« Georg Büchner auch vom dogmatischen Materialismus seines Bruders Ludwig Büchner, Carl Vogts und Jacob Moleschotts, dessen politisches Selbstverständnis von Kurt Bayertz wie folgt auf den Begriff gebracht wurde: Nicht von der Politik, sondern von der Wissenschaft also haben wir die Lösung der sozialen Frage zu erwarten: Das ist die zentrale Botschaft.592

Büchners »direkter« politischer ›Materialismus‹, dessen spezifische Konturen noch genauer zu betrachten sind, unterscheidet ihn mithin – trotz wiederholter Versuche einer normativ überlagerten Forschung593 – eindeutig vom dogmatischen oder weltanschaulichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, und zwar ausgerechnet in soziopolitischen Fragen. Gerade weil er politisch – und nicht nur politikwissenschaftlich bzw. geschichtsphilosophisch – denkt und handelt, unterscheidet er sich vom Positivismus und Materialismus des frühen 19. Jahrhunderts.

|| 589 So Mayer 1979a, S. 134. 590 Vgl. Balzac 2002, S. 52; zu Gans vgl. auch Waszek 1988, S. 357ff. 591 Poggi u. Röd 1989, S. 25–29, hier S. 25; vgl. auch Wagner 2001, S. 23–48. 592 Bayertz 2007, S. 69; vgl. auch Gregory 1977, S. 189–212. 593 Vgl. u. a. Görlich u. Lehr 1981, S. 47; Kahl 1982, S. 99ff.; Glebke 1995, S. 146–170; Dedner 2002, S. 292ff. in der angeblich strikten Negation des freien Willens durch Büchner, was u. a. auf Vogt verweise (vgl. dazu allerdings Wittkau-Horby 1998, S. 89ff.); oder auch Morawe 2012, S. 20, der ebenfalls behauptet, Büchner habe wie dʼHolbach die Willensfreiheit verworfen. Wie man von dieser – übrigens für keinen der Texte Büchners zutreffenden – These zu einem politischen Engagement oder dem späten »absoluten Rechtsgrundsatz« gelangen will, muss Geheimnis der Interpreten bleiben.

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Thomas Michael Mayer, der für seine Thesen auf die oben schon betrachteten Briefe vom Januar und Februar 1834 zurückgreift, ging es allerdings um den Nachweis der notwendigen Verbindung des politischen mit einem philosophischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, um Büchner einer bestimmten Fraktion der Linken im Frankreich der 1830er Jahre – den Neobabouvisten – zuordnen zu können: Vor allem – und das ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig – verläuft diese Entwicklung, in der sich der Neobabouvismus seit etwa Mitte der 30er Jahre über die bei Babeuf und Maréchal selbst vorgefundenen Elemente hinaus materialistische und sensualistische Theorien aneignet, ohne danach reformistisch zu verkommen, nicht mehr primär über den Saint-Simonismus, sondern direkt und indirekt durch den Rückgriff auf den französischen Materialismus der Condillac, Holbach, Helvétius, Diderot und Volney, deren bislang von der rousseauistisch-robespierristischen Tradition als ›egoistisch‹ verworfene sensualistische Theorien über ›die Selbstliebe, de[n] Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse als Grundlage der Moral jetzt auf einer höheren Stufe des Arbeiterkommunismus produktiv rezipiert werden‹.594

Mayers Argumentationstaktik durchläuft mehrere Stufen, die jeweils erhebliche Konsequenzen enthalten: Büchner soll die politökonomischen Thesen Auguste Blanquis von dem Verhältnis von arm und reich, vor allem aber zum Gemeineigentum aus dem Januar 1832 übernommen595 und dann die philosophische Fundierung dieser Konzeption im französischen Materialismus mitvollzogen haben; dies alles zum Behuf der Entfaltung einer Heinrich Heine verwandten Position, die Mayer mit dem Titel einer angekündigten, doch nie gelieferten Arbeit zu Büchner in die Formel fasste: »Sensualismus und Revolution«.596 Vollständig wird dieses Thesenkonglomerat im Kapitel zu Büchners politischem Wissen in seiner philologischen Stimmigkeit und systematischen Kohärenz überprüft werden. Im Zusammenhang mit Büchners philosophischem Wissen muss aber die These seines grundlagentheoretischen, d. h. naturphilosophischen, erkenntnistheoretischen und anthropologischen Materialismus interessieren und einer Prüfung unterzogen werden. Sowohl Mayer als auch Dedner, Glebke, Osawa oder Morawe begründen diese Behauptung mit der oben schon betrachteten büchnerschen These vom Primat der äußeren Umstände bei der Konstitution von Verstand und Bildung des Einzelnen, die er im Februar-Brief an die Eltern entwickelt hatte. Es konnte jedoch gezeigt werde, dass diese These keineswegs exklusiv materialistischen Konzeptionen zuzuschreiben ist; selbst Hölderlin oder Büchners zwischen

|| 594 Mayer 1979a, S. 73. 595 Vgl. hierzu ebd., S. 27ff., vgl. auch Mayer 1987, S. 168ff.; dies ist allgemein akzeptierte Forschungsmeinung, vgl. u. a. Böhme 1987, S. 13; Hauschild 1993, S. 154ff.; Knapp 32000, S. 13ff. u. S. 80ff.; Hauschild 22004, S. 43; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36f. 596 Mayer erwähnt diese nie erschienene Schrift zweimal, in Mayer 1979a, S. 119 sowie Mayer 1980, S. 390.

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transzendentalem und absolutem Idealismus changierender Lehrer Joseph Hillebrand vertraten solcherart Thesen. Auch Mayers Thesen zur BeaumarchaisRezeption können – wie oben gezeigt – keinen philosophischen Materialismus Büchners belegen. Blickt man nach diesen misslungenen Verweisen zu einer ideengeschichtlichen Überprüfung der These aus der umgekehrten Richtung, d. h. vom »radikalen, atheistisch-materialistischen Flügel der französischen Aufklärungsphilosophie«597 auf Büchner, so lassen sich erneut wenig Gemeinsamkeiten in den zentralen Elementen der philosophischen Konzeptionen feststellen; im Gegenteil zeigen sich unüberbrückbare Differenzen.598 So ist die Bestimmung der mentalen Leistungen des Menschen ausschließlich als Bewegungsfunktionen des Gehirns, die sowohl von La Mettrie als auch von d’Holbach und Helvétius als zentrale Positionen ihrer Systeme vertreten wurden,599 an keiner Stelle des büchnerschen Œuvres auszumachen. Selbst die neueren Thesen zu Büchners angeblicher Kultivierung einer rein somatischen Psychopathologie sind durch die Textbefunde nicht gedeckt und führen auch nicht zwingend zu einem umfassenden Materialismus.600 Zwar bedient er sich in Leonce und Lena des Bildes des menschlichen Automaten – allerdings unter soziopsychologischen bzw. kulturkritischen Gesichtspunkten;601 auch kritisiert er im Woyzeck mit allem Nachdruck eine spezifische Anwendung der Theorien vom freien Willen, die zu einer menschenverachtenden Instrumentalisierung führen,602 doch – wie schon bei der Verwendung der Katze zur Demonstration des Fallgesetzes603 – widerlegt eine falsche Anwendung nicht die Geltung und den theoretischen Gehalt einer Kategorie.604 Kurz: Des Doktors unmenschliche Instrumentalisierung des Theorems vom freien Willen ist kein zureichender Grund, den Autor des Woyzeck zum materialistischen Deterministen zu machen.605 Im Gegenteil: Büchners Festhalten an einer höheren »Seite unsers geistigen Wesens«606 verweist auf eine antimaterialistische Vermögenspsychologie und Anthropologie. Auch der erkenntnistheoretische Empirismus, den die französischen Materialisten (bis auf Diderot, der hier Einschränkungen vornimmt607) grundsätzlich ihrer || 597 Röd 1984, S. 214. 598 Zu Recht weisen Alt (1987, S. 9) und die MBA IX.2, S. 263 auf die systematischen Differenzen zwischen Büchner und dem französischen Materialismus hin. 599 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Röd 1984, S. 214–230; Overmann 1993, S. 122ff. und Mensching 2007, S. 27–31. 600 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 7. 601 Vgl. MBA VI, S. 12130–12219. 602 MBA VII.2, S. 1611–17 sowie 272ff.. 603 Ebd., S. 2010. 604 Anders dazu Dedner 2002. 605 So auch zu Recht Kobel 1974, S. 277ff. 606 Vgl. P II, S. 37829/MBA X.1, S. 3223f.. 607 Vgl. hierzu Röd 1984, S. 187–191.

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Ontologie voraussetzen, ist mit Büchners epistemologischen Vorstellungen (von einer elaborierten Theorie kann hier keine Rede sein) nicht zu vermitteln. Zwar kritisiert er mit Nachdruck den rationalistischen Dogmatismus,608 nach dem im Begriff einer Sache deren Wahrheit enthalten sei;609 zwar scheint er das rationale und das empirische Ich zum Behuf einer zuspitzenden Descartes-Interpretation zu amalgamieren,610 doch im Rahmen seiner Naturforschung setzt er eindeutig auf die Leistungen einer (Natur-)Philosophie a priori,611 die Ordnungsbegriffe und -kategorien für die empirische Forschung allererst ermögliche. Einen dezidierten AntiApriorismus, wie er im Rüstzeug eines jeden Materialismus zu finden ist,612 sucht man bei Büchner vergebens. Weder in epistemologischer noch in methodischer Hinsicht ist Büchner mithin als Empirist zu bezeichnen,613 auch wenn er sich – wie alle apriorischen Naturforscher des frühen 19. Jahrhunderts614 – empirisch betätigte.615 Wenn Büchner darüber hinaus schon 1833 davon spricht, er habe seine moralischen »Grundsätze« und würde nach diesen stets handeln,616 was mit dem ethischen Universalismus der Schülerschriften zusammenstimmt,617 wenn er gar noch 1836 von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« spricht, auf dessen Grundlage eine neue Gesellschaft aufzubauen sei,618 dann ist zwar von einer ethischen und einer naturrechtlichen Fundierung seines politischen Denkens auszugehen, keineswegs aber mehr von einer alle ethische Normativität verunmöglichenden materialistischen Grundkonzeption.619 Ein »naturrechtlich fundierter Materialismus« aber,620 den

|| 608 Von der Annahme, Büchner sei Empirist, allein weil er eine naturwissenschaftliche Arbeit mit empirischem Anteil geschrieben habe (P II, S. 880–892, MBA VIII, S. 252 u. ö.) bzw. weil er eben Materialist sei, sollte sich die Forschung endgültig verabschieden. 609 Vgl. P II, S. 20425f./MBA IX.2, S. 6925f.. 610 Vgl. hierzu P II, S. 19237–19314/MBA IX.2, S. 5910–21. 611 Vgl. Roth 2004, S. 46566ff.. 612 Vgl. u. a. Nowitzki 2003, S. 292. 613 So aber in Umdeutung der vorliegenden Dokumentenlage P II, S. 880–892 und MBA VIII, S. 252ff.; vorsichtiger MBA IX.2, S. 262. 614 Vgl. hierzu sogar in Bezug auf Schelling: Breibach 2004 sowie Gerabek 1995. 615 Es sei noch einmal eigens darauf hingewiesen, dass eine nicht-empiristische Epistemologie und Methodologie keineswegs empirische Forschungen ausschloss. Im Gegenteil betrieben sowohl Descartes als auch Schelling ausführliche empirische Studien. Zu Descartes anatomischen Arbeiten vgl. Boenke 2005, S. 213; zu Schellings medizinischen Versuchen vgl. Gerabek 1995, S. 309–333. 616 Vgl. P II, S. 3693f./MBA X.1, S. 2114. 617 Vgl. P II, S. 4018–20/MBA I, S. 11910–12. 618 P II, S. 44021/MBA X.1, S. 9330. 619 Nur die dogmatisch vertretene Annahme einer materialistischen Anthropologie zwingt Dedner 2002, S. 309 dazu, Büchners eindeutig moralische Maximen (wie die Menschenliebe oder das Prinzip der Égalité etc.) seiner angeblich materialistischen Grundeinstellung vermittlungslos gegenüber zu stellen. Von diesem, dem Diktat des Materialismus geschuldeten haltlosen Nebeneinander büch-

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Büchner laut Mayer vertreten habe, bleibt – solange er nicht als kohärente Konzeption rekonstruiert wurde – ein hagiographischer Unsinn: eben ein »Kolibri, der schwimmt«.621 Auch Büchners wissenschaftliche Naturtheorie, die sich im Mémoire und in der Probevorlesung realisiert, erweist sich durch ihre Fundierung in einem allgemeinen Naturgesetz, das einem organologischen Lebensbegriff zugrunde liegen soll,622 von allen mechanistischen Naturvorstellungen d’Holbachs oder La Mettries weit entfernt. Büchner wird gar jeglichen Mechanismus der Materie – noch im weiteren Verlauf der Descartes-Vorlesung – bitter kommentieren und so seine grundlegende, naturphilosophisch begründete Distanz zum Materialismus in naturtheoretischer Hinsicht schlüssig dokumentieren. In einem durch Tennemann angeregten, gleichsam transzendentalphilosophisch überspitzen Kommentar zum cartesischen Begriff des cogitare, der keineswegs kritisch distanziert wird, zeigt sich letztlich die systematische Fundierung der ganz unmaterialistischen Konzeption von Philosophiegeschichte, wie sie Büchner betrieb: Was ist nun das Denken? Alles was den Akt des Selbstbewußtseins in mir hervorbringt, also jede Tätigkeit, also auch Wollen, Einbilden, Fühlen.623

Das ist nun in uneingeschränkter Anwendung auf Descartes jener transzendentale Idealismus, von dem die Forschung behauptet, Büchner habe ihm nur »Unterdrückung und Tötung anderer« als Konsequenz ablesen können.624 Die kantianisierende Interpretation Descartes’, die Büchner mit Tennemann hier vorlegt, ist aber keineswegs zwingend; von »Selbstbewußtsein« spricht Descartes an keiner Stelle, Büchner war also offenbar von der Interpretation Tennemanns überzeugt. In anthropologischer und epistemologischer, in ethischer und naturphilosophischer sowie in philosophiehistorischer Hinsicht sind mithin die zentralen Gehalte des französischen Materialismus bei Büchner nicht nachzuweisen. Zwar hatte schon Georg Lukács gezeigt, dass in Danton’s Tod eine eher kritische Reflexion auf diese Philosophie ausgeführt wurde,625 mit seinen präzisen Nachweisen jedoch in der

|| nerscher Auffassung zum postmodernen Diskursspiel (so u. a. bei Borgards 2007) ist es dann aber nur noch ein kleiner Schritt. 620 So Mayer 1979a, S. 123; vgl. hierzu schon die zutreffende Kritik von Görlich u. Lehr 1981, S. 35: »Hieraus resultieren denn auch die offensichtlichen Verwirrungen, die sich in Mayers eklektizistischer Formulierung eine ›hedonistischen und atheistischen, oder mindestens rationalistischen Materialismus, kurz […] heineschen Sensualismus‹ dokumentiert.« 621 Vgl. hierzu Mayer 1979a, S. 80. 622 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 178ff. 623 P II, S. 18010f./MBA IX.2, S. 4812–14. 624 Nochmals Dedner 2002, S. 294. 625 Vgl. Lukàcs 31973, S. 209ff.

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Forschung weniger Anklang gefunden, als man annehmen sollte. Die Vertreter der Thesen von Büchners philosophischem Materialismus haben daher noch zwei weitere Argumente aufgeführt, die es abschließend zu überprüfen gilt: Das wohl entscheidende Argument, das seit den 1970er Jahren vertreten wird, um Büchner zum Materialisten der französischen Schule des 18. Jahrhunderts zu erklären, liegt in der ausgreifenden Interpretation einer vom Autor schon 1834 vorgetragenen Überlegung. In ebenjenem Brief vom Februar dieses Jahres an die Eltern, in dem er seinen eingeschränkten sozialanthropologischen Determinismus bezüglich der Verstandes- und Bildungsleistungen des Menschen entwickelt hatte, schreibt Büchner weiter: Ich kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne ihn deshalb zu verachten, die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge; für ihre Existenz kann ich nichts, es kann mir aber Niemand wehren, Alles, was existiert, bei seinem Namen zu nennen und dem, was mir unangenehm ist, aus dem Wege zu gehen.626

Die als epikureisch interpretierte Maxime, zu erstreben und tun, was einem angenehm, zu meiden, was einem unangenehm ist, mit der Büchner seinen zurückgezogenen Habitus gegenüber der Gießener Studentenschaft legitimiert, taucht erneut in Danton’s Tod in verschiedenen Kontexten auf.627 Für einige dieser Kontexte – u. a. für Thomas Paynes ausführlich begründete Geltung jener Maxime sowie für Marions emotionalistische Legitimation derselben – wird ebenso emphatisch wie unbegründet behauptet, sie seien »Büchners Position sehr nahe«.628 Und tatsächlich gilt seit 1979 Dantons wuchtiger Ausspruch: »Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine […]. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut, was ihm wohltut«629 als Glaubenbekenntnis seines Autors und damit wichtigstes Moment eines sensualistisch modifizierten Materialismus, den Büchner »mit und über Heine hinaus« entwickelt habe.630 Dabei ist von erheblicher Bedeutung, dass die zunächst ethische Maxime eines epikureischen Eudämonismus von den Interpreten ins Politische gewendet wird, indem die von der Dramenfigur Camille Desmoulins in Dantonʼs Tod entfaltete Staatsutopie als Büchners eigene Position ausgegeben wird.631 Der Materialismus der ›natürlichen Bedürfnisse‹ ist nach Mayer mithin nicht nur einer der

|| 626 P II, S. 3791–7/MBA X.1, S. 3228–33; Hvhb. von mir. 627 Vgl. hierzu MBA III.2, S. 197f., S. 2520f., S. 501ff. u. ö. 628 Mayer 1979a, S. 122; Horton 1988, S. 292; Dedner 2002, S. 295ff. sowie der Kommentar zur Marion-Szene in MBA III.4, S. 78–83. 629 MBA III.2, S. 2518–21. 630 So der Untertitel der von Mayer angekündigten Studie zu Sensualismus und Revolution. Vgl. auch die Studie von Grimm 1979. 631 Schon Wilhelm Schultz vertrat diese These (vgl. Grab 1985, S. 70); Mayer 1979a, S. 123; Mayer 1979b, S. 390ff.; Poschmann 31988, S. 98ff.; anders dazu Hauschild 1993, S. 448ff.

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politischen Situation des 19. Jahrhunderts, sondern auch eine der Grundlagen einer anzustrebenden Staatsform.632 Versucht man von den normativen Überlagerungen der Debatten um Büchners angeblichen Epikureismus zu abstrahieren, so lässt sich festhalten, dass schon in Danton’s Tod die moralische und politische Desintegrationsmacht des epikureischen Egoismus zumindest auch demonstriert wird, und zwar am ›Monolog‹ Laflottes,633 in dem er aus dem epikureischen Grundsatz der legitimen Schmerzvermeidung seinen Verrat an Danton und dessen Partei begründet. Allein diese Szene – wie erst recht die angemessen interpretierte Marion-Szene634 – verunmöglichen schon methodisch, Büchner zum Parteigänger eines politischen und moralischen Epikureismus zu erheben, von den grundlegenden Problemen der Differenzierung zwischen Figuren- und Autorpositionen ganz zu schweigen. Darüber hinaus sind eine Reihe von moralischen Maximen in Büchners Briefen zu finden, die einem strengen Epikureismus entgegen stehen: Büchners Verachtung eines jeden intellektuellen Elitarismus, den er als »Aristocratismus«635 bezeichnet, seine Kritik an der Verteilungsungerechtigkeit im Hessischen Landboten, die begründungstheoretisch nicht ausschließlich auf politischen, sondern auch auf moralischen Argumenten basiert, sind weder mit einem Materialismus noch mit einem Epikureismus zu vereinbaren. Dass »Heines ›Sensualismus‹ mit dem Büchnerschen ›Materialismus der natürlichen Bedürfnisse‹« zudem nicht schlicht gleichzusetzen ist, hat die neuere Forschung zu Recht betont.636 Kurz: Paynes, Dantons und Marions Maxime, nach der ›der Mensch das tut und tun soll, was seiner Natur gut tut‹, wird von Büchner, dessen eigene Position von dieser Maxime weit entfernt liegt, kritisch reflektiert. Eine ihm notwendig erscheinende, auf Gewalt gründende Revolution basiert nach Büchner nicht auf einem praktischen Sensualismus und soll diesen auch keineswegs ermöglichen. Ein letztes Argument, das Büchner zum weltanschaulichen Materialisten erheben soll, bedarf nur noch einer kurzen Betrachtung: Mayer bemühte sich in nahezu allen seinen Texten darum, eine ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen Büchner und Denis Diderot zu begründen,637 die sich vor allem auf ästhetische, aber auch auf naturphilosophische und gesellschaftspolitische Bereiche erstrecke. Diderots Überwindung des Klassizismus, der als moralischer Indifferentismus interpretiert wird,

|| 632 Mayer 1979a, S. 133. 633 MBA III.2, S. 56–58. 634 Vgl. hierzu in ersten, gewichtigen Ansätzen Hildebrand 1999. 635 P II, S. 37930/MBA IX.2, S. 3311. 636 Vgl. Hildebrand 1999, S. 534 sowie Teraoka 2006, S. 168ff.; eingeebnet wird diese Differenz allerdings wieder von Morawe 2005–08, Morawe 2012a, Morawe 2013. 637 Übernommen wird diese ebenso suggestive wie assoziative Korrelation selbst von Mitgliedern der Wittkowski-Schule, also einer dezidiert antimaterialistischen Büchner-Interpretation, vgl. Schwann 1997, S. 122f.

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finde in Büchners »mitempfindende[m] Gefühl, das identisch ist mit sozialer Parteilichkeit«, eine kongeniale Aktualisierung und Politisierung im frühen 19. Jahrhundert.638 Von weiten Teilen der Forschung wird diese Annahme geteilt;639 Udo Roth hat die These einer engen Verbindung zwischen Diderot und Büchner gar auf den Bereich der Physiologie ausgeweitet.640 Gegen diese Behauptungen sei darauf verwiesen, dass es bislang nicht einen einzigen seriös vertretbaren Nachweis einer Lektüre Diderots durch Büchner gibt. Zwar ist seit den 1830er Jahren in Frankreich eine neuerliche Diderot-Rezeption zu verzeichnen, wobei in diesem Zusammenhang der Stilist Diderot im Zentrum steht.641 Vor allem Charles-Augustin Sainte-Beuve642 und später Charles Baudelaire643 haben ihrer Bewunderung für den Kunstkritiker Ausdruck verliehen. Doch findet sich von dieser in Paris merklichen Konjunktur644 bei Büchner keinerlei Widerhall. Der angebliche Nachweis einer engen Anbindung des Kunstgespräches im Lenz an die goethesche Übersetzung des diderotschen Essai sur la peinture645 erweist sich bei näherer Betrachtung als wenig überzeugend, schon allein weil es der diderotgoetheschen Konzeption an jener naturphilosophischen und ontologischen Dimension gebricht, die mit dem Lebensbegriff und der »Möglichkeit des Daseins« bei Büchner eine zentrale Funktion einnehmen.646 Nein, ob Büchner Diderots Texte überhaupt kannte, wissen wir ebenso wenig, wie eine Rezeption anderer Werke des philosophischen Materialismus nachzuweisen wäre. Weder positivistisch noch hermeneutisch lässt sich eine Wahrnehmung, geschweige denn eine systematische Affinität Büchners zum Materialismus des 18. Jahrhunderts dokumentieren.647 Seine Lakonie beim Hinweis auf eine mögliche Widerlegung des Materialismus durch Descartes’ Subjekt-Substanzialismus hatte ihren Grund mithin in dem rein philosophiehistorischen Interesse an dieser Frage. In philosophischer Hinsicht dürfte Büchner vor dem Hintergrund seiner Kompetenzen im Jahre 1836 zudem der Einschätzung Wolfgang Röds zugestimmt haben:

|| 638 Mayer 1979a, S. 5, S. 83, S. 85, S. 110 u. ö. 639 Nach Mayer 1979, S. 76ff.; Ruckhäberle 1981, 170; Kahl 1982, S. 109; Proß 1982, S. 88f.; Schaub 1987, S. 27f.; Vollhardt 1991, S. 205; Glebke 1995, S. 130; Schwann 1997, S. 122ff.; MBA III.4, S. 44f. u. S. 166; MBA V, S. 420; Taniguchi 2000–04, S. 100ff. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 28ff. 640 Roth 2004, S. 193f., S. 213f. 641 Vgl. Röd 1984, S. 196. 642 Vgl. hierzu Lepenies 2006, S. 141–145. 643 Vgl. hierzu vorerst Calasso 2008. 644 Vgl. auch Senancour 1982 [EA 1804, 21833], S. 75f. 645 Mayer 1979a, S. 76ff. sowie auf diesen so genannten ›Nachweis‹ vertrauend MBA V, S. 420. 646 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap 7. 647 So schon Kobel 1974, S. 263.

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Daß Diderot an spekulativer Kraft nicht an Spinoza heranreichte, steht außer Zweifel, da er sich des apriorischen Charakters der Idee der Einheit nicht klar bewußt war.648

Im direkten Anschluss an die kurze Reflexion auf systematische Konsequenzen der cartesischen Argumentation für einen jeden Materialismus setzt sich Büchner mit dem Gottesbegriff Descartes’ auseinander; er führt diese Auseinandersetzung in einer Weise und in einem Umfang, die ein systematisches Interesse an dieser Frage dokumentieren. Tatsächlich scheint es Büchner in diesem Zusammenhang darum zu gehen, die Leistungsfähigkeit der Philosophie Descartes’ in Frage zu stellen, weil er mit deren rationaler Theologie zugleich jede Form philosophischer Gotteslehre zurückweisen möchte – auch in der Spinoza-Vorlesung wird die Darstellung dieses Themas auffällig energisch ausfallen.649 In diesen Passagen löst sich Büchner auch am weitesten von seinen wichtigsten Quellen, Tennemann und Kuhn, und liefert anhand der cartesischen Texte eigenständige Analysen und Interpretationen. Dabei richtet er seine analytische Darstellung vor allem auf zwei Sachverhalte des cartesischen Gottesbegriffes aus, nämlich auf die Formen des Daseinsbeweises sowie die Funktionen der Gottesinstanz für die gesamte Erkenntnistheorie und Metaphysik. Büchner beginnt diese Analyse unter verstärktem Bezug auf die Meditationen bzw. Descartes’ Erwiderungen auf die Einwände zu denselben. Er weicht schon mit diesem philologischen Bezug, der sich besonders auf den Anhang zu den zweiten Erwiderungen stützt, in dem Descartes eine geometrische Deduktion seines Systems liefert, erheblich von Tennemanns Darstellung ab, der weiterhin nahezu ausschließlich den Argumentationsgang der Principia Philosophiae verfolgt. Es scheint, als habe sich Büchner im Rahmen dieser Analyse des cartesischen Gottesbegriffes von seinen philosophiehistoriographischen Vorlagen endlich emanzipiert.650 Diese Selbständigkeit zeigt sich schon bei der Rekonstruktion der beiden Gottesbeweise, die Descartes bekanntermaßen in seinen Schriften durchführt. Zwar gestaltet Büchner die Darstellung des Übergangs vom cogito-Argument zur Gotteserkenntnis, die Descartes als empirische Erkenntniserweiterung beschreibt,651 mit einer unmittelbaren Übernahme aus Tennemann.652 Die analytische Darstellung des

|| 648 Röd 1984, S. 194. 649 Vgl. P II, S. 29114ff./MBA IX.2, S. 1210ff.. 650 Die richtige Annahme Bergemanns, Büchner habe im anthropologischen Teil und der Darstellung der Objectiones zu einer Selbständigkeit gefunden (Bergemann 1922, S. 743), ist daher auf den Abschnitt der Rekonstruktion des Gottesbegriffes zu erweitern. Vgl. auch P II, S. 974, der zu Recht betont, »daß die Legende, der ›notorische Abschreiber‹ Büchner sei schlicht einer Vorlage aus zweiter Hand gefolgt, nicht aufrechtzuerhalten ist. Im Nachfolgenden […] tritt die Selbstständigkeit der Darstellung noch deutlicher hervor.« 651 Zum empirischen Status des Argumentationsgangs für das Dasein der Gottesidee im Geiste des Ich vgl. Hegel 1986, XX, S. 141; Schelling 1985, IV, S. 429; Erdmann 1932, S. 289. 652 Vgl. P II, S. 18021–33/MBA IX.2, S. 493–13; mit Tennemann 1798–1819, X, S. 231f.

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ontologischen Gottesbeweises leistet der Interpret653 jedoch durch eine ausführliche Textpräsentation des Originals sowie übersetzende Paraphrasen der fünften Meditation; vor allem die §§ 8 bis 12 dieser Meditation stellt Büchner in den beiden Formen des Zitats und der Übersetzung differenziert vor.654 Diese ausführliche Darstellung des ontologischen, von Büchner als apriorisch bezeichneten Gottesbeweises anhand der Fünften Meditation ist weder in den philosophiehistoriographischen Quellen noch in den zeitgenössischen Kontexten nachweisbar, auch wenn in den DescartesKapiteln Feuerbachs,655 Hegels,656 Schellings657 und Erdmanns658 unter philosophiegeschichtlichen und systematischen Gesichtspunkten präziser und differenzierter zu diesem Beweis Stellung genommen wird. Vor allem die Unabhängigkeit von seinen nachweisbaren Quellen, die sich vorerst nur in zitierender und paraphrasierender Darstellung der Texte Descartes’ begnügt – denn Büchner kommentiert den Argumentationsgang des ontologischen Gottesbeweises nicht –, zeigt das systematische Interesse des Interpreten an der Auseinandersetzung mit dem zentralen Thema rationaler Theologie: dem Gottesbeweis.659 Solches Interesse hatte sich schon in Danton’s Tod – wenngleich nur sarkastisch gebrochen – gezeigt;660 an dieser Stelle seiner Vorlesung kann es Büchner systematisch realisieren. Dennoch bleibt er mit eigenständigen Kommentaren und Interpretationen vorerst zurückhaltend. Nur eine These zur fundierenden Stellung des ontologischen Gottesbeweises für das gesamten Deduktionsgefüge der cartesischen Erkenntnistheorie und Metaphysik, die

|| 653 Anders als Tennemann, der es bei Bezügen auf die kurzen Ausführungen in den Principia belässt, vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 232. 654 P II, S. 18110–18221/MBA IX.2, S. 4923–5025. 655 Feuerbach 1990, S. 208–213, der nur am Rande (S. 211f.) auf die Fünfte Meditation eingeht, allerdings präzise Kenntnisse von der Geschichte dieses Beweises vorträgt. 656 Hegel 1986, XX, S. 137–142, der sich zwar auf die Principia, den ›Anhang zu den zweiten Erwiderungen‹ sowie auf Spinozas Darstellung in den Principiae philosophiae Cartesianae, die auch Büchner aufruft, bezieht, nicht aber auf den Beweis in der Fünfte Meditation. 657 Schelling 1985, IV, S. 429–439, dessen wuchtige systematische Auseinandersetzung mit dem »ontologischen Argument« (S. 430) zwar einen Bezug zur Fünften Meditation nahelegt; weil Schelling aber durch die ganze Vorlesung hindurch keinen Textnachweis erbringt, ist auch sein Bezug auf diese Meditation im systematischen Argumentationsgang versunken. 658 Erdmann 1932, S. 162–164 u. S. 287–301, der allerdings unter den zeitgenössischen Interpreten der cartesischen Gottesbeweise eine Sonderstellung einnimmt, weil er sie als Ableitungen aus dem cogito zu beweisen versucht (vgl. ebd., S. 293); daher bestreitet er auch den von den Zeitgenossen (u. a. Tennemann, Rixner und auch Büchner) in Descartes’ Konzept aufgespürten »Cirkel« im Ableitungsverhältnis von cogito und deus (ebd., S. 299); vgl. hierzu auch meine Ausführungen weiter unten. 659 Vgl. auch MBA IX.2, S. 266–269. 660 Vgl. MBA III.2, S. 4721–5020 sowie Stiening 2002, S. 51–54.

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Büchner in einer nachträglich eingefügten Anmerkung ausführt,661 beweist eine immanent kommentierende Perspektive auf den weitgehend paraphrasierten Text. Büchner schließt an diese textnahe, nahezu kommentar- und interpretationslose Darstellung des apriorischen eine Rekonstruktion des »a posteriori[schen]« Gottesbeweises »aus der Idee von Gott, die wir in uns finden«, an.662 Erneut weicht er von seiner Hauptquelle Tennemann darin ab, dass auch die Darstellung dieses Beweises anhand der dritten Meditation, den Erwiderungen auf die zweiten Einwände zu den Meditationen sowie Spinozas Schrift Principia philosophiae Cartesianae more geometrico demonstrata bestritten wird. Tennemann blieb derweil streng dem Beweisgang der Principia verhaftet.663 Dass sich Büchner hierbei dem zeitgenössischen Kontext annähert, zeigt die Tatsache, dass Hegel und Erdmann die von Büchner favorisierten Quellentexte ebenfalls bevorzugen.664 Wie Tennemann665 beginnt Büchner seine Rekonstruktion jedoch mit der These, dass dieser »ideentheoretische«666 Gottesbeweis fundiert sei in der logischontologischen Prämisse: ex nihilo nihil fit, weil nur aus diesem Grundsatz die kausalitätstheoretische Konsequenz abzuleiten sei, dass eine Ursache in qualitativer und quantitativer Hinsicht nicht weniger als ihre Wirkung enthalten könne. Ein Mehr in der Wirkung könne nur aus Nichts entstanden sein.667 Mit Bezug auf die dritte Meditation sowie den Anhang zu den zweiten Erwiderungen begründet Büchner diese These mit der Unmöglichkeit innerweltlicher Schöpfung aus dem Nichts. Diesen logisch-ontologischen Grundsatz des Rationalismus hatte er schon in Danton’s Tod hinsichtlich seiner anthropologischen Konsequenzen, der Angst Dantons vor der Unsterblichkeit seiner Seele, reflektiert,668 und noch in den Exzerpten zur griechi-

|| 661 P II, S. 18121–27/MBA IX.2, S. 4932f. u. S. 5028–32; dass hier eine Randnotiz und damit ein nachträglicher Kommentar zum eigenen Text vorliegt, ist dokumentiert in P II, S. 969. 662 P II, S. 18223–18925/MBA IX.2, S. 511–5622. 663 Tennemann 1798–1819, X, S. 232–235. 664 Hegel 1986, XX, S. 140f.; Erdmann 1932, S. 215–260. 665 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 233. 666 Zu diesem präziseren Begriff für den seit Kant als kosmologisch benannten Gottesbeweis vgl. Perler 22006, S. 188–197. 667 Vgl. die präzise Zusammenfassung dieser Argumentation bei Spinoza 1987, S. 26f.: »Kein Ding und keine wirklich vorhandene Vollkommenheit eines Dinges kann das Nichts oder ein nichtseiendes Ding zur Ursache seiner Existenz habe. […] Alles, was an Realität oder Vollkommenheit in einem Dinge ist, ist formal oder eminent in seiner ersten und zureichenden Ursache. Unter eminent verstehe ich den Fall, wo die Ursache alle Realität der Wirkung vollkommener in sich enthält, als die Wirkung; unter formal den Fall, wo die Ursache die Realität gleich vollkommen enthält. Dieser Grundsatz hängt von dem vorhergehenden ab, denn wenn man annehmen wollte, daß nichts oder weniger in der Ursache sei, als in der Wirkung, so wäre ein Nichts in der Ursache die Ursache der Wirkung.« Vgl. hierzu auch Stiening 2002a, S. 67ff. 668 Vgl. MBA III.2, S. 648–11; P I, S. 7223–27 sowie Stiening 2000–04, S. 224f.; vgl. dagegen den irrlichternden Kommentar in MBA III.4, S. 203.

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schen Philosophie wird er auf antike Vorformen dieser »ewigen Wahrheit« hinweisen.669 Zum ›Beweis vom Dasein Gottes‹ führt diese Prämisse, wie Büchner in enger Anlehnung an die cartesischen Texte ausführt, durch die Reflexion auf die unbezweifelbare Tatsache einer Idee Gottes im menschlichen Bewusstsein, deren Gehalt aber, weil qualitativ von allen endlichen Vorstellungsinhalten des menschlichen Geistes unterschieden, vom Menschen nicht verursacht worden sein kann. Das Vorhandensein einer Idee Gottes im menschlichen Bewusstsein ist auf der Grundlage der ontologischen und kausalitätstheoretischen Prämissen ein Beleg für die bewusstseinsunabhängige, objektive Existenz Gottes, die einzig vollkommen genug ist, jene Idee Gottes im Menschen hervorzubringen. Büchner erkennt in der Folge über eine Rekonstruktion des Innatismus670 der Gottesidee, dass dieser Gottesbeweis auf eine allgemeine Dependenz des Menschen nicht von seinem cogito, sondern von der Gottesinstanz hinausläuft: »Aus der Idee, die wir von der Existenz und den Vollkommenheiten Gottes haben, folgt noch, daß wir selbst durch Gott sind [...].« Erst nach der streng analytischen Darstellung des gesamten Argumentationsganges des zweiten Gottesbeweises bis hin zur intendierten Dependenzumkehr erlaubt sich Büchner den folgenden Kommentar: Es ist doch sonderbar welche Umwege Cartesius macht um unsern Ursprung aus Gott zu beweisen, er hätte es ganz im Sinne seines Systems schon kurzweg aus der in uns enthaltenen Idee von Gott demonstrieren können.671

Doch bleibt Büchners systematische Bewertung der cartesischen Argumentation vorerst unklar. Erst nachdem der Interpret auch die aus seinem Begriff folgenden Eigenschaften Gottes, die daraus ableitbare Negation des genius malignus672 und die aus diesem Nachweis deduzierte Einsicht in die Funktion Gottes als einzigem Garanten zur Überwindung des uneingeschränkten Skeptizismus textnah dargestellt hat, fasst er die erkenntnistheoretisch konstitutive Funktion Gottes und deren Konsequenzen in einem scharfen Kommentar zusammen: Gott ist es, der den Abgrund zwischen Denken und Erkennen, zwischen Subjekt und Objekt ausfüllt, er ist die Brücke, zwischen dem cogito ergo sum, zwischen dem einsamen, irren, nur einem, dem Selbstbewußtsein, gewissen, Denken und der Außenwelt. Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht doch, wie instinktartig scharf Cartesius schon das Grab der

|| 669 Vgl. HA II, S. 3165–15, S. 32921 u. S. 40527f.. 670 P II, S. 18718–20/MBA IX.2, S. 5432–34. 671 PP II, S. 18834–37/MBA IX.2, S. 5526–561. 672 PP II, S. 19036f. /MBA IX.2, S. 5731f., basierend auf Tennemann 1798–1819, X, S. 238.

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Philosophie abmaß; sonderbar ist es freilich wie er den lieben Gott als Leiter gebrauchte, um herauszukriechen.673

Diese im Vergleich zu den Quellen674 und den kontextuellen Referenztexten675 überanschauliche, leicht exaltierte Interpretation des cartesischen Solipsismusproblems und seiner Lösung, die von der Büchner-Forschung fälschlicherweise als Kommentar zum Lenz oder als Abrechnung mit der Philosophie überhaupt gelesen wurde,676 kann als Büchners eigene Stellungnahme gewertet werden.677 Überanschaulich ist diese Interpretation des jungen Privatdozenten in der Psychologisierung des systematisch isolierten Denkens als einsam und irre (das rationale Ich Descartesʼ wird von Büchner zum Zwecke einer Veranschaulichung als empirisches Ich behandelt),678 dramatisierend in der Metapher des Abgrundes zwischen Subjekt und Objekt.679 Dieser Abgrund wird zusätzlich noch zum »Grab der Philosophie« erkoren, weil mit ihren begrifflichen Instrumenten eine erkenntnisgarantierende Verbindung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr zu gewährleisten sei. Der Interpret abstrahiert aber in dieser Polemik von dem für die Neuzeit essentiellen Unterschied zwischen einer theologischen und einer philosophischen Gotteslehre. Büchners »lieber Gott« ist eben nicht der »Gott der Philosophen«,680 nur diesen aber hatte Descartes thematisiert. Mag diese Anschaulichkeit der Textsorte, mithin der Vorlesungsfunktion, oder aber dem systematischen Interesse an einer Widerlegung jeglicher Gotteslehre zuzuschreiben sein, deutlich wird in der Fortsetzung, dass Büchner auf den Nachweis

|| 673 P II, S. 19237–1938/MBA IX.2, S. 5910–16. 674 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 238, der nur von einem Aufheben des radikalen Zweifels spricht. 675 Vgl. die weitgehend nüchtern von »Vermittlung« oder »Affirmation« sprechenden Hegel 1986, XX, S. 144, Feuerbach 1990, S. 214f. oder Erdmann 1932, S. 287. 676 Vgl. Vietta 1992, S. 134ff. Falsch ist diese Zuweisung, weil das solipsistische Ich durch eine Bestimmung konstituiert wird, die Büchners Lenz sukzessive verliert: das Selbstbewusstsein; schon die Eingangsszene der Erzählung zeigt die Entgrenzungen eines kranken Ich. Genau solcherart Selbstverlust kann dem cartesischen cogito aber gerade nicht zugeschrieben werden. 677 Vgl. auch die farbenfrohen Veranschaulichung in MBA IX.2, S. 59. 678 Zu einer ganz unkritischen, ja Büchners »konsequentes Realitätsbewußtsein« in dieser Behandlung des rationalen als empirisches Ich rühmenden Betrachtung vgl. Osawa 1999, S. 58. Das Dogma des materialistischen, empirisch ausgerichteten Revolutionärs Georg Büchner verhindert so eine angemessene Interpretation seiner Leistungen und ihrer Grenzen in philosophiehistorischer Hinsicht. 679 Eine gewisse Nähe zu dieser aufgeregten Interpretation zeigt die Darstellung der SolipsismusProblematik durch Friedrich Hock, der in seiner Schrift von 1835 (Hock 1835, S. 52) explizit von einer »Kluft zwischen dem Geiste und der Außenwelt« spricht; vgl. hierzu auch P II, S. 975f.; zur Kritik allerdings an den Leistungen dieser Descartes-Interpretation vgl. die Rezension in Feuerbach 1975, II, S. 134–136. 680 Vgl. Röd 1992 sowie Röd 2002, S. 174.

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einer fundamentalen Inkohärenz der cartesischen Gotteslehre abzielt, wenn er im unmittelbaren Anschluss mit implizitem Bezug auf Gassendis Einwände681 festhält: Doch schon seine Zeitgenossen ließen ihn nicht über den Rand [des Grabes/Abgrundes], man fragte: Kann man von keiner Sache gewiß sein, noch irgend etwas klar und deutlich erkennen, ehe das Dasein Gottes mit Gewißheit erkannt worden ist, wie steht es dann mit den dem Beweis vom Dasein Gottes vorhergehenden Sätzen, wie mit dem cogito ergo sum, wie mit dem Beweis selbst?682

Büchner ist sich auf der ungenannten, aber erkennbaren Grundlage der Argumentationen Tennemanns683 zu Gassendis Einwänden sicher, Descartes einen »Widerspruch« nachgewiesen zu haben, den dieser gar selbst »geahnt« habe.684 Vor dem Hintergrund des nach Tennemann und Büchner zirkulären Ableitungsverhältnisses ist ein Blick auf den zeitgenössischen Kontext von einigem Aufschluss. Denn mit kritischem Bezug u. a. auf Tennemann ist laut Eduard Erdmann die cartesische Konzeption des Ableitungsverhältnisses von cogito und deus durchaus nicht widersprüchlich oder zirkulär: Was ferner den Vorwurf betrifft, den viele Zeitgenossen, namentlich Gassendi, dem Cartesius machten, und welchen Tennemann und Rixner als ›einen unwiderleglichen‹ wiederholen, daß es nämlich ein Cirkel sey, aus der Gewißheit seiner selbst das Daseyn Gottes zu beweisen, nachher aber alle Gewißheit davon abhängig zu machen, daß man Gottes gewiß sey, so widerlegt sich dieser leicht, wenn man zweierlei nicht außer Acht läßt: Das E r s t e hat, wenn gleich in ungeschickter Form, Cartesius selbst […] richtig hervorgehoben. Es muß nämlich nicht der Unterschied außer Acht gelassen werden zwischen dem, was unmittelbar gewiß, und dem, dessen Gewißheit eine vermittelte ist. Unmittelbar gewiß ist nur die Existenz des Ich, mit dieser ist alles Andere bezweifelt. Soll nun das Andere auch gewiß seyn, so muß das, was es uns gewiß macht, d. h. der Zweifel, aufgehoben werden, dann ist aber seine Gewißheit eine, durch Aufhebung des Zweifels, vermittelte. Also kann es von allem Uebrigen nur eine Gewißheit geben durch das, was den Zweifel aufhebt, d. h. Gott […] , also ist er das Princip aller (vermittelten) Gewißheit. […] Zweitens aber, wenn man nun daraus, daß Gott Princip aller Gewißheit geworden ist, folgern wollte, daß man auch der eignen Existenz nicht gewiß seyn könne, ohne Gottes gewiß zu seyn, (wie denn die Gegner das gethan haben), so ist zu viel gefolgert. Nämlich Gott ist allerdings, insofern als er die Selbstgewißheit dem Menschen gegeben hat (die Idee des Ich uns angeboren ist) Princip auch dieser Idee, aber nur Princip des Seyns dieser Idee, nicht ihrer Gewißheit; (an sich ist die Idee durch Gott, nicht aber für uns).685

Die Distinktion zwischen principium essendi und principium cognoscendi, die Erdmann hier differenziert und zu Recht anwendet, lässt mithin erkennen, dass die

|| 681 Die Büchner dann einige Seiten später explizit aufgreift; vgl. P II, S. 25421ff./MBA IX.2, S. 11037ff.. 682 P II, S. 1938–14/MBA IX.2, S. 5916–21. 683 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 278–280, der von einem unabweislichen »Cirkelbeweis« spricht. 684 P II, S. 19413f./MBA IX.2, S.6014f.; vgl. hierzu auch Sanada 2001, S. 438. 685 Erdmann 1932, S. 299f.

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Prinzipien des Ich denke und der Existenz Gottes durch Descartes nicht zirkulär vermittelt werden. Von dieser subtilen Interpretation ist Büchner aber weit entfernt, auch wenn er sich im Resümee seiner Rekonstruktion des Gottesbeweises durch Descartes in einer seine anfängliche Kritik an Hegel und Hotho revidierenden Weise annähert: Warum Cartesius nicht auf diesem Wege geblieben, läßt sich wohl aus der Natur des cogito ergo sum erklären; denn bei näherer Untersuchung desselben sah er wohl ein, daß es nur der Ausdruck für das mit jeder Tätigkeit notwendig verbundne Selbstbewußtsein sei, daß als solchem ihm ein höherer Grad der Gewißheit als allen übrigen Erkenntnisses zukommen müsse und daß es demnach verlorne Mühe sein würde einen zweiten Satz von gleicher Gewißheit zu suchen. Denn obgleich alle auf die 3 Denkgesetze gegründeten Sätze uns eben so wahr scheinen, so steht uns, nach Cartesius, doch niemand dafür, daß unsere Denkkraft selbst nicht so eingerichtet sei, daß wir irren müßten. Ein Umstand, der nur an der Gewißheit des cogito ergo sum nichts schmälern kann. (Hotho und Hegel mögen doch Recht haben.) Es bleibt ihm also um sich aus dem Abgrund seines Zweifels zu retten nur ein Strick, an den er sein ganzes System hängte und hakte, Gott. Denn es wäre ihm eigentlich, wie schon gesagt, bei der Art seines Zweifels ganz unmöglich denselben zu beweisen.686

Dass mit diesem Erdmann nahen Analyseangebot der kurz zuvor festgestellte Widerspruch Descartes nicht mehr vorzuwerfen ist,687 reflektiert Büchner im Furor seiner leicht schiefen Galgenmetaphorik nicht.688 Bewusst ist ihm demgegenüber die allmähliche Verschiebung seines Interpretationsstandpunktes, denn mit deutlichen Anleihen bei Tennemann, der als einzige der Quellen Büchners den Selbstbewusstseinsbegriff als Interpretament des cogito-Arguments nutzt,689 wird die durch Kuhn vermittelte scharfe Kritik an Hegel und Hotho als explizite Selbstrevision zurückgenommen. Büchner hat nicht, wie seit Hans Mayer in der Forschung stets wiederholt, den Feuerbach der 1840er Jahre vorweggenommen, er ist dessen Descartes-

|| 686 P II, S. 19513–31/MBA IX.2, S. 6122–36. 687 Das mag an dem noch nicht gänzlich überwundenen Einfluss Kuhns liegen, der in einer Erdmann implizit widersprechenden These ausgeführt hatte: »Nichts ist unklarer, als die Art, wie Gott Vorstellungen unmittelbar in uns bewirkt, und durch die Annahme, daß er sie mittelbar in uns hervorrufe, dreht man sich in einem Cirkel herum.« Kuhn 1834, S. 79f. 688 Schief ist diese Metaphorik natürlich deshalb, weil Büchner kurz zuvor die unableitbare Ursprünglichkeit und Autonomie Gottes als cartesisches Theorem nachgewiesen hatte; der Strick aber, an dem das System vor dem Absturz in den Abgrund gehalten werden soll, bedarf jedoch selbst einer stabilen Konstruktion – sei es ein Galgen, sei es das Ich –, an dem er zu befestigen wäre, um seine Funktion zu erfüllen. Büchner denkt vermutlich ein kuhnsches Bild weiter (ohne innere Konsistenz allerdings), hatte dieser doch ebenso polemisch festgehalten: »Das cogito, ergo sum ist der große Nagel, an dem die Kette befestigt ist, und er selbst ist in eine gar seltsame Wand eingeschlagen. Dieser Nagel hält eine ganze Kette, wie ein Glied immer das andere hält.« Kuhn 1834, S. 77. 689 Tennemann 1798–1819, X, S. 228: »Der Satz [cogito ergo sum] ist unstreitig wahr und unbezweifelt, er ist nichts weiter als das zur Deutlichkeit erhobene Selbstbewußtsein.«

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Interpretation von 1833 aber an keiner Stelle so nahe wie im Rahmen dieser Interpretation des cogito als »einfache Einheit des Denkens oder Selbstbewußtseins«.690 Deutlich wird an dieser Stelle also nicht nur Büchners exaltierte Metaphorik besonders in Angelegenheiten der Gottesbeweise sowie seine Arbeitsweise in diesem als Reinschrift vorliegenden Manuskript seiner Vorlesungen, das durchaus noch Spuren der Reflexionswege des Interpreten enthält; auch zeigt sich bei einem Blick in die Referenzstellen bei Kuhn, welche Positionsänderungen Büchners ›saure Arbeit des Begriffs‹ zeitigte. Hatte er zu Beginn der Vorlesung mit Kuhn Hegels und Hothos Interpretation des cogito als unmittelbarer Gewissheit zurückgewiesen, so wird sie an dieser Stelle vorsichtig bestätigt; Kuhn hatte aber mit polemischer Vehemenz festgehalten: Ich denke, wer diesen Satz versteht [cogito ergo sum], und das Jacobische unmittelbare Wissen, wird nicht mehr, wie Hegel, in Versuchung gerathen, Jacobi mit Cartesius zu verwechseln.691

Dieser Versuchung ist Büchner nach intensiver begriffs- und argumentationsanalytischer Arbeit und daher aus für ihn guten Gründen erlegen; die Abkehr vom strengen Anti-Rationalismus Kuhns ergibt sich somit aus einer philosophiehistorischen Rekonstruktionsarbeit, die ihn durchaus in die Nähe zu den Ergebnissen Erdmanns und Feuerbachs bringt. Die energische Insistenz dieser Auseinandersetzung um den rationalen Gottesbegriff, die unübersehbar systematische Interessen Büchners dokumentiert, der die Beweiskraft dieser Ableitungen erschüttern will, wird in der Folge dieser Vorlesungen kaum mehr erreicht; erst die Anthropologie Descartes’ und Spinozas Gott werden den hier zu beobachtenden Analyse- und Interpretationsaufwand wieder hervorrufen. Zunächst wendet sich Büchner jedoch wichtigen erkenntnistheoretischen Ableitungen aus den prinzipientheoretischen Grundlegungen Descartes’ zu, deren systematischen Zusammenhang er wie folgt resümiert: Das vollkommenste Wesen ist also bewiesen, eben so unser Ursprung aus demselben, ferner die Möglichkeit einer Erkenntnis aus der Wahrhaftigkeit Gottes. Denn, wenn Gott kein Lügner und Betrüger sein soll, so muß unsere Vernunft nicht zum Irren sondern zum Erkennen des Wahren eingerichtet sein und Alles ist wahr, was wir nach den Gesetzen der Vernunft denken d. h. klar und deutlich vorstellen (erkennen.)692

Die sich aus dieser Schlusskette aufdrängende weitere Problematik besteht in der Bestimmung eines »Kriteriums für klare und deutliche Vorstellungen«, die Büchner

|| 690 Feuerbach 1990, S. 231; vgl. auch Erdmann 1932, S. 295: »Ich ist sich seiner bewußt, weil das Selbstbewußtsein ihm angeboren, d. h. von Gott ihm gegeben ist.« 691 Kuhn 1834, S. 73. 692 P II, S. 19533–1963/MBA IX.2, S. 621–7.

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in einer nur mehr äußerlichen Anbindung an Tennemann693 mit Zitaten aus den Principia Philosophiae und dem Discours de la Méthode schlicht benennt. Eindringlicher – und zwar auch gegenüber seinen beiden Vorgaben Tennemann und Kuhn694 – setzt er sich dann mit Descartes’ Irrtumslehre auseinander, die er mit einem erheblich erweiterten Quellenaufwand kritisch darzustellen versucht. Begründet wird dieser Aufwand, der sich auf eine ausführliche Darstellung der Argumentationswege nicht nur auf die vierte Meditation und die §§ 31 bis 43 der Principia, sondern vor allem auf Spinozas Darstellung in den Prinicpia philosophiae Cartesianae stützt, methodisch: (Ich habe besonders den von Spinoza in dieser Proposition bezeichneten Weg verfolgt, weil das, was Cartesius in den Principien über diesen Gegenstand sagt, fast nicht zusammenhängt und seine Auseinandersetzung in der IV. med. zu weitläufig und in sich selbst nicht ganz klar ist.)695

Diese Anbindung an die Rekonstruktionsleistung Spinozas, die auch Erdmann mehrfach anwendet und ausführlich begründet,696 vollzieht Büchner, weil die logischen Probleme und die daraus resultierenden metaphysischen Unstimmigkeiten der Irrtumslehre Descartes’ präzise herausgearbeitet werden sollen.697 Der Irrtum kann nach Descartes als Unvollkommenheit nicht von Gott als allervollkommenstem Wesen verursacht werden. Der Mensch als zwischen Gott und dem Nichts stehend ist aufgrund seiner Endlichkeit der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt, und so müsste der Irrtum Konsequenz, ja Produkt seiner Partizipation am Nichts sein; dies

|| 693 Tennemann 1798–1819, X, S. 242. 694 Kuhns Decartes-Darstellung spielt in diesem Teil der Vorlesung auch deshalb keine Rolle mehr, weil er sich mit den weiteren Fragen der Philosophie Descartes’ aufgrund seines nur systematischen Interesses nicht beschäftigte; die kritische Volte gegen dessen Interpretation des Status des cogitoArguments wird ein Übriges getan haben. 695 P II, S. 2041–5/MBA IX.2, S. 695–8. 696 Vgl. Erdmann 1932, S. 223Anm.*: »Man wird es vielleicht seltsam finden, daß ich hier eine Stelle aus Spinoza als Belegstelle anführe […]. Dann aber sind die Princ. Phil. Cart. des Spinoza in der That nicht Spinozistische, sondern Cartesianische Philosophie, und da es bei der Aufstellung des Systems nicht auf das Individuum allein ankommt, und man auf den Cartesianer sich berufen kann, um zu zeigen, was das System des Cartesius ist, so habe ich ohne Scheu mich auf den berufen, von dem, weil er nachher selbst den Cartesianismus weiter gefördert hat, am meisten sich voraussetzen lässt, daß er in den Geist des Systems eingedrungen ist […].« 697 MBA IX.2, S. 218ff. sowie Beise 2010, S. 88 gehen dagegen davon aus, dass die DescartesVorlesung schon in Hinblick auf Spinoza konturiert wurde – erkennbar zu dem Zweck, die philosophiehistoriographische Substanz der Vorlesungen zu umgehen und die Spinoza-Interpretation zu einem systematischen Programm der Auseinandersetzung mit der Identitätsphilosophie umzudeuten; das lässt sich an den Texten aber nicht nachweisen; Büchners Descartes-Interpretation steht für sich selbst und zugleich im Betrachten von Übergängen zu Spinoza auf dem Boden einer philosophiehistorischen Verlaufsrekonstruktion.

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aber widerspricht dem metaphysischen Grundsatz des a nihilo nihil fit.698 Auf diese Inkonsistenz arbeitet Büchners Darstellungs- und Rekonstruktionsarbeit zu, da er neben den zitierenden, übersetzenden und paraphrasierenden Darstellungen die interpretatorischen Passagen ausschließlich durch ungekürzte Zitate aus Tennemann gestaltet, der für Descartes festgehalten hatte, dass nur »in der Art, wie wir von ihm [dem Willen] im Verhältnis zu unsern Erkenntnissen Gebrauch machen, [...] die Möglichkeit des Irrtums« liege. Diese ausführliche Auseinandersetzung mit der Irrtumslehre Descartesʼ, die Tennemann u. a. führt, weil sie schon von Kant ausgetragen wurde,699 trennt Büchner erneut deutlich von den idealistischen Rekonstruktionen, denn weder bei Hegel noch bei Erdmann noch gar bei Feuerbach sind derart umfängliche Betrachtungen zur Irrtumstheorie zu finden.700 Eigenständiger auch gegenüber Tennemann und die philosophiehistorischen Zusammenhänge nachzeichnend ist Büchners Resümee der bis zu diesem Deduktionsschritt geleisteten Rekonstruktionsarbeit: Hiermit wären wir denn jetzt auf der Höhe des Cartesianismus gelangt. Die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer Erkenntnis ist bewiesen und daraus der Grundsatz des Dogmatismus, was im Begriff einer Sache liegt ist wahr. Die Quelle des Irrtums ist entdeckt, das Kriterium der Wahrheit bewiesen.701

Erst mit der Entwicklung eines Wahrheits- und Irrtumsbegriffs sieht Büchner eine spezifisch cartesianische Philosophie voll entfaltet. Dabei legt er in diesem Resümee auf die Erkenntnistheorie ein besonderes Gewicht, weil er mit der kantianisierenden Formel vom »Dogmatismus«702 die Philosophie Descartes’ in die Tradition rationalistischer Epistemologie zu lozieren sucht. Tatsächlich gilt noch für Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff, dass die Wahrheit eines Urteils durch das analytische Enthaltensein des Prädikats im Subjekt zu garantieren sei: Nun steht soviel fest, daß jede wahre Aussage irgend einen Grund in der Natur der Dinge hat, daß also, wenn ein Satz nicht identisch ist, d. h. wenn das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekt enthalten ist, es doch virtuell in ihm enthalten sein muß. Die Philosophen geben diese Beziehung durch das Wort »in-esse« wieder, indem sie sagen, daß das Prädikat »in dem Subjekt ist«. Der Terminus, der das Subjekt bezeichnet, muß daher stets den des Prädikats in sich begreifen, sodaß derjenige, der vollkommene Einsicht in den Begriff des Subjekts besäße, sogleich das Urteil fällen müßte, daß das betreffende Prädikat ihm zugehört. Unter der Natur einer individuellen Substanz in sich vollständigen Seins wird daher ein Begriff zu verstehen sein,

|| 698 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Stiening 2002a, S. 74f. 699 Vgl. KrV B 351 und B 404ff. 700 Vgl. Hegels kurze Hinweise zu den »Quellen des Irrtums« in Hegel 1986, XX, S. 144. 701 P II, S. 20423–28/MBA IX.2, S. 6923–27. 702 Zum Kantianismus dieser Formel vgl. schon Horn 1982, S. 211; Horn stellt aber keine Verbindung zu Tennemanns kantianischer Kritik her, dies leistet in Ansätzen MBA IX.2, S. 264.

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der so vollendet ist, daß alle Prädikate des Subjekts, dem er beigelegt ist, aus ihm hinlänglich begriffen und deduktiv abgeleitet werden können.703

Erst Kant bezeichnet diese rationalistische Wahrheitstheorie, weil sie wahre Erkenntnis ohne Bezug auf Erfahrung zu konstituieren behauptet, als philosophischen Dogmatismus.704 Büchner wird sich – wie oben schon zitiert – einige Wochen später in seiner Probevorlesung auf ebendiesen »Dogmatismus der Vernunftphilosophen« verhalten affirmativ beziehen.705 Denn es sind die rational gewonnenen Begriffe und Grundsätze einer »Philosophie a priori«, die den heuristischen Rahmen für eine methodisch und systematisch reflektierte und so einzig wissenschaftliche Naturforschung abgeben.706 Büchners Kritik am »Grundsatz des Dogmatismus« ist also keineswegs aus der Perspektive eines strengen Empirismus formuliert,707 weil er in seiner Naturforschung ebenfalls mit apriorischen Begriffen operiert. Gleichwohl verfällt Descartes’ vollständige Abstraktion von Erfahrungsmomenten bei der Konstitution von Erkenntnissen einer Kritik, weil Büchner auf einer spezifischen, rational nicht einholbaren Eigenständigkeit der Erfahrung insistiert. In dieser Epistemologie bestehen die systematischen Hintergründe der büchnerschen Kritik an Descartes; philosophiegeschichtlich lautet dagegen das Resümee: Rationalistische Erkenntnis- sowie Wahrheits- und Irrtumstheorie machen für Büchner die Essenz des Cartesianismus aus; von den umfänglichen Auseinandersetzungen mit den Gottesbeweisen ist in diesem Resümee bemerkenswerter Weise keine Rede mehr.708 Büchner beschließt diesen ersten umfangreichen Abschnitt zur Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ mit einer Bestandsaufnahme der wichtigsten Bewusstseinskategorien, mit Hilfe derer nach Descartes die einzelnen Bewusstseinsinhalte erfasst und geordnet werden. Dazu gehören zunächst die eher formalen Gesetze des Denkens, die unter dem Begriff der »ewigen Wahrheiten« geführt werden, die angeboren seien.709 Dazu seien nicht nur das a nihilo nihil fit, sondern auch das cogito-Argument oder der Satz des Widerspruchs zu zählen. Kurz zuvor war mit Tennemann auch die Tatsache der Freiheit des Willens unter dieser Kategorie geführt worden.710 Abweichend von der ansonsten deutlichen Anlehnung an Tenne-

|| 703 Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Métaphysique, § 8, in: Leibniz 21966, S. 43; zu dieser Bestimmung von Wahrheits-, Grund- und Substanzbegriff bei Leibniz vgl. Wolff 1986, S. 95. 704 KrV B XXXV. 705 Roth 2004, S. 46457f.; zu einer mehr als heuristischen Stellung dieser apriorischen Vernunftphilosophie für Büchners Naturwissenschaftsverständnis vgl. Stiening 2006a, S. 144ff. sowie MBA IX.2, S. 297; anders dazu Döhner 1967, S. 154–156 sowie Roth 2004, S. 383–389. 706 Roth 2004, S. 46460–46573. 707 So aber Osawa 1999, S. 50ff. 708 Diese Entwicklung übersieht Sanada 2001, S. 437–440. 709 Zur Geschichte und Problematik des Konzepts der Ideae innatae äußert sich Büchner nicht, vgl. aber u. a. Hegel 1986, XX, S. 147. 710 P II, S. 20135–2021/MBA IX.2, S. 6715–18.

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manns Ausführungen zu diesem Komplex711 der ewigen angeborenen Ideen hält Büchner im Hinblick auf Anzahl, Status und Ordnung dieser Prinzipien fest: In den resp. ad II. objectio. werden 10 dergleichen Axiomen angeführt, wovon mehrere in dem Beweis des Daseins Gottes aus der Idee von Gott angeführt sind. Charakteristisch für die Erklärung des cogito sum ist diese Klassifikation. (Hotho, Hegel.)712

Kuhns anfänglich übernommene These ist an dieser Stelle der Deduktion endgültig zurückgewiesen,713 Hotho und Hegel haben nicht nur möglicherweise »recht«,714 der Status – Büchner spricht von »Klassifikation« – der Axiome als unmittelbarer Wahrheiten wird mit der Nennung beider Namen uneingeschränkt bestätigt.715 Die abschließenden Ausführungen zu den Kategorien der Substanz, des Attributs und des Modus, zu Ordnung, Dauer und Zahl werden nahezu ausschließlich durch Zitate aus Tennemann geleistet und verbleiben daher auf einer rein darstellenden Ebene. Nur die logisch problematische Relation von Substanz und Attribut, auf die Büchner in der Folge mehrfach zurückkommen wird,716 veranlasst ihn zu einer bewertenden Kritik: Hat jede Substanz nur ein Attribut, worauf sich alle übrigen Eigenschaften beziehen, was sollte dann der Satz, daß die Substanz aus jedem Attribut erkannt werde? Überhaupt ist es nicht leicht, hier etwas ganz Deutliches herauszubekommen, denn Cartesius spricht zu wenig im Zusammenhang, zu schwankend und unbestimmt.717

Tatsächlich gehört es noch heute zur communis opinio, dass nicht nur der Begriff der Substanz und die Anwendung desselben auf Gott, Denken und Ausdehnung, sondern auch das bestimmende Verhältnis des Attributs zur Substanz zu den problematischen Stücken der Substanzmetaphysik Descartes’ zu zählen sind.718 Schon Büchners Zeitgenossen wiesen ebenfalls auf den erheblichen Mangel jenes zentralen Theorieelementes hin.719 Ohne erneutes Resümee der »Philosophia prima des

|| 711 Tennemann 1798–1819, X, S. 243f. 712 P II, S. 2056–10/MBA IX.2, S. 701–4. 713 Vgl. auch die explizite Kritik an Kuhn im Spinoza-Skript, P II, S. 3404–19/MBA IX.2, S. 14131ff.: »Ich glaube Herr Kuhn irrt sich,[…].« 714 P II, S. 19525f./MBA IX.2, S. 6132f.. 715 Insofern ist gegen die abstrakte Behauptung von einer umfassenden Hegel-Kritik Büchners (vgl. Kuhnigk 1987) festzuhalten, dass Büchners Textarbeit ihn zu einem weit differenzierteren Umgang mit der idealistischen Philosophiegeschichtsschreibung kommen lässt, als seine Interpreten in ihrem antiidealistischen Affekt wahrhaben wollen. 716 Vgl. P II, S. 21333ff./MBA IX.2, S. 775ff.. 717 P II, S. 20623–28/MBA IX.2, S. 719–13. 718 Vgl. u. a. Röd 31995, S. 107f. sowie Perler 22006, S. 180ff. 719 Vgl. Hegel 1986, XX, S. 147–149; Erdmann 1932, S. 288f.; Feuerbach 1990, S. 205ff.

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Cartesius«720 sollte die Vorlesung nun zur Darstellung der Naturphilosophie übergehen.

2.2.2.3 Mechanistische Materietheorie und »abenteuerliche Kosmogonie«: Büchner über Descartes’ Naturphilosophie Der Abschnitt über Descartes’ Naturphilosophie gehört neben der biographischen Skizze zu den unselbständigsten Passagen der Vorlesung. Es werden nahezu ausschließlich Abschriften aus Tennemann geboten721 und mit Zitaten und Übersetzungen angereichert. Unabhängig von Tennemann ist nur die abschließende Darstellung der Bücher 3 und 4 der Principia Philosophiae, in denen eine allgemeine und eine spezielle Kosmologie entwickelt werden. Deutlich kürzer können und sollen daher die von Büchner in diesem Abschnitt vorgestellten Themen der cartesischen Naturphilosophie rekonstruiert werden, weil sie den reflektierten Kenntnisstand Büchners zu diesem zentralen Teil des Cartesianismus trotz der Abhängigkeit von Tennemann dokumentieren. Zu diesen zentralen Themen gehört zunächst der Nachweis der Außenweltrealität der ausgedehnten Substanz. Unter Rekurs auf die zuvor schon geleistete Negation des genius malignus stellt Büchner mit Tennemann als cartesischen Schluss vor, »daß eine ausgedehnte Substanz, welche wir Materie oder Körper nennen, wirklich existiere und daß ihr alle diejenigen Eigenschaften zukommen, welche wir in dem Begriffe eines ausgedehnten Dinges deutlich denken«.722 Büchner referiert auch Descartes’ konsequente These, dass die auf die Wesenseigenschaft der Ausdehnung reduzierten Körper nur durch »reine Anschauung« wahrgenommen werden können, d. h., dass der Mensch »durch die Sinne« nur erfahre, »daß ein Körper ist und daß etwas an ihm ist, was den oder den Eindruck auf ihn macht, […] aber keineswegs was dies eigentlich [an den Körpern] ist«.723 Dabei ist Büchner aufgrund seines ausschließlichen und engen Bezuges auf Tennemann von den Einsichten u. a. Feuerbachs in den Zusammenhang der naturphilosophischen Konzeption Descartes’ mit seiner Erkenntnistheorie weit entfernt; Feuerbach analysierte diesen Komplex zwischen Ausdehnungs-, Materie- und Anschauungsbegriff wie folgt: Diese abstrakte, von den sinnlichen Qualitäten abgesonderte, nur dem Geiste gegenständliche, evidente Natur ist aber eben die Materie oder die Natur als Materie, und zwar als eine Materie,

|| 720 So die zutreffende Prädikation für Erkenntnistheorie und Metaphysik Descartes’ durch Erdmann 1932, S. 155. 721 Vgl. insbesondere P II, S. 21018–21915/MBA IX.2, S. 717–8119 mit Tennemann 1798–1819, X, S. 251– 257. 722 P II, S. 2116–9/MBA IX.2, S. 7424–27; zu einer ähnlich textnahen Darstellung dieser Frage siehe Erdmann 1932, S. 183ff. 723 P II, S. 2134–16/MBA IX.2, S. 761–11.

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deren wesentliche Bestimmung die Ausdehnung ist. Die Materie ist zwar das direkt dem Geiste Entgegengesetzte, denn sie macht das Nichtgeistige zum Nichtgeistigen, den Körper zu dem, was er ist, seine wesentliche Bestimmung ist allein die Ausdehnung; aber doch ist gerade diese Betrachtungsweise der Natur als einer bloßen Materie und der Materie als bloßer Ausdehnung die Anschauung.724

Zu solcherart begriffs- und argumentationsanalytischen Ergebnissen fehlt es Büchner nicht nur an Zeit, sondern auch an Kompetenz. Das zeigt sich auch bei einem Blick in die ausführliche Darstellung und Kritik der cartesischen Naturphilosophie durch Erdmann, der ebenfalls schon bei der Rekonstruktion der begriffslogischen Entwicklung zwischen Ausdehnungs-, Materie- und Anschauungsbegriff die notwendigen Zusammenhänge erläutert.725 Büchner dagegen verbleibt zumeist auf der beschreibenden Ebene und stellt so die Raumtheorie Descartes’, die eine Negation der Vorstellungen vom »leeren Raum« enthält,726 sowie dessen mechanistische Materietheorie dar, die auf der Basis der Substanzialisierung der Materie durch Ruhe und Bewegung konstituiert wird.727 Diese in sich geschlossene, zeitgenössisch ambitionierte Materietheorie, innerhalb derer die Substanzialisierung der Materie die auch gegenüber Hobbes innovative Leistung darstellt,728 fordert allerdings weder den Naturwissenschaftler noch den Materialismustheoretiker Büchner zu einer Auseinandersetzung, ja nicht einmal zu einem Kommentar heraus. Vielmehr leitet Büchner wie Tennemann729 schließlich aus der »Unveränderlichkeit Gottes« und den Parametern der Materie, Bewegung und Ruhe, drei physikalische Naturgesetze ab.730 Büchner beschließt diesen eher verhuschten Abschnitt zur cartesischen Naturphilosophie mit einer kurzen Darstellung der »Kosmogonie« Descartes, die als »abenteuerlich« bezeichnet wird und charakterisiert sei durch die »willkürlichsten [...] Hypothesen«.731 Offensichtlich hielt der Interpret diesen Teil der Philosophie Descartesʼ für überholt und daher einer eigenständigen Auseinandersetzung nicht wert. Er anerkennt allerdings zuletzt, dass »Cartesius’ Absicht [….] eigentlich [war], die ganze Schöpfung aus seinen Prinzipien herzuleiten, die Harmonie zwischen der Erfahrung und seinem System nachzuweisen«.732

|| 724 Feuerbach 1990, S. 216. 725 Erdmann 1932, S. 183–200 u. S. 301–305. 726 P II, S. 21413–30/MBA IX.2, S. 7719–34; vgl. hierzu auch Tennemann 1798–1819, X, S. 252f. 727 P II, S. 21529–21812/MBA IX.2, S. 7820–8025. 728 Vgl. hierzu u. a. Kutzer 1998, S. 145f. sowie Perler 22006, S. 102–114. 729 Tennemann 1798–1819, X, S. 256f. 730 P II, S. 21813–21920/MBA IX.2, S. 8026–8123. 731 P II, S. 21924 u. S. 2237f./MBA IX.2, S. 8127 u. S. 8436. 732 P II, S. 22310–13/MBA IX.2, S. 8438–40.

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2.2.2.4

»Zusammengeschraubte« Menschen und »Gemeingefühl«: Zu Descartes’ mechanistischer Anthropologie und Psychologie Erheblich eigenständiger sowohl gegenüber seiner Hauptquelle Tennemann als auch gegenüber den kontextuellen Referenztexten Hegels, Erdmanns, Feuerbachs und Schellings sind Büchners Ausführungen zur Anthropologie Descartes’. Insbesondere die mehrfach hergestellten Verbindungen zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der eigenen Zeit geben diesem Abschnitt der Vorlesung ein eigenes Gepräge gegenüber Quellen und Kontexten. So zeigt sich vor allem an diesem Abschnitt der Vorlesungen zu Descartes, dass Büchner eine Verknüpfung zwischen Naturforschung und Philosophiegeschichte für möglich bzw. für erforderlich hielt.733 Im Hinblick auf die Anthropologie sieht Büchner in der Philosophie Descartes’ ein Potential als Methodologie und Wissenschaftstheorie aktueller Naturforschung – allerdings nicht ohne kritische Distanz: Dass Büchner Descartes auf einem Feld philosophisch arbeiten sieht, das er aus einzelwissenschaftlicher Perspektive als ureigene Kompetenz beansprucht, verdeutlicht schon der erste, gleich polemisch gefärbte Absatz dieses Abschnittes: In der Abhandlung De homine macht er den Versuch zur Begründung einer Physiologie aus mathematischen und physikalischen Prinzipien, der homme machine wird vollständig zusammengeschraubt. Ein Zentralfeuer im Herzen, die verflüchtigten zum Hirn aufsteigenden spiritus animales, die in einem Dunst von Nervengeist schwebende, nach verschiednen Richtungen sich neigende Zirbeldrüse, als Residenz der Seele, Nerven mit Klappen, Muskeln welche durch das Einpumpen des Nervengeistes mittelst der Nerven anschwellen, die Lunge als Kühlapparat und Vorlage zum Niederschlagen des im Herzen verflüchtigten Blutes, Milz, Leber, Nieren als künstliche Siebe, sind die Schrauben, Stifte und Walzen. Der echte Typus des Intermechanismus.734

Büchner positioniert sich hier als fundamentaler Kritiker einer nach mathematischen oder physikalischen Prinzipien entworfenen Physiologie und damit als naturphilosophischer Gegner nicht allein Descartes’, sondern auch eines in den 1830er Jahren noch gleichwertig konkurrierenden empiristisch-mechanistischen Naturwissenschaftsverständnisses.735 Auch die polemische Rekonstruktion einer cartesischen Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers und seiner Seele, die eine streng mechanistische Konzeption ironisiert und die Büchner abschließend als »echten Typus des Intermechanismus« zwischen Körper und Seele bezeichnet,736

|| 733 Im Hinblick auf Spinoza und Leibniz vgl. Stiening 1999; vgl. auch MBA IX.2, S. 246ff. 734 P II, S. 22322–24/MBA IX.2, S. 855–15. 735 Zu deren noch nicht gefestigter Stellung in den 1830er Jahren vgl. Breidbach 1988, S. 27–36; Poggi u. Röd 1989, S. 13–22 sowie Breidbach 2006, S. 65ff. u. S. 175ff. sowie S. 210–222. 736 P II, S. 22334/MBA IX.2, S. 8515. Dies ist offenbar eine Wortschöpfung Büchners; der Sache nach Kutzer 1998, S. 146.

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zeigt die angewandte Kenntnis des Humanbiologen in der philosophiehistorischen Auseinandersetzung. Dabei bedarf es keiner subtilen Interpretationskunst, um Büchners kritische Einstellung gegenüber dieser mechanistischen Humananatomie festzustellen. Der satirische Ton der oben zitierten Passage, den er leicht gedämpft in der Probevorlesung wieder aufnehmen wird,737 eröffnet Büchners weitgehend systematische Perspektive738 auf Descartes’ anthropologische Konzeptionen, die die historische Innovationsleistung jener mechanistischen Animal- und Humananatomie739 sowie einer mechanistischen Physiologie740 nicht in den Blick nimmt, weil sie inmitten einer aktuellen wissenschaftstheoretischen Kontroverse steht, innerhalb derer das mathematisch-physikalische Paradigma der Naturforschung741 die zunehmend erfolgreiche Gegenposition ausmacht. Dass die Substanzialisierung der Materie ein gegenüber der Tradition seit Platon und Aristoteles nachgerade brillanter Zug des cartesischen Systems genannt zu werden verdient, geht ebenfalls in Büchners polemischer Rekonstruktion unter.742 Es zeigt sich erneut, dass der angehende Privatdozent der Philosophie eine spezifisch philosophiehistorische Perspektive – welcher methodischen Ausrichtung auch immer – nur zaghaft entwickelt. In vier Abschnitten rekonstruiert Büchner diesen Systemteil der Philosophie Descartes’, indem er nach der zitierten allgemeinen Einleitung in die mechanistische Anthropologie und Physiologie (1) die cartesische »Psychologie« (2) sowie die daraus hervorgehende Anthropologie analysiert und interpretiert (3); kommentierende Betrachtungen zur Neuroanatomie und -physiologie Descartes’ sowie zu dessen psychologischer Vermögens- und Affektenlehre (4) schließen diesen Abschnitt ab. Dass Büchners systematisches Interesse an diesem Abschnitt der cartesischen || 737 Vgl. Roth 2004, S. 463f.: »Jeder Organismus ist für sie [die teleologische Methode] eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten. […] Sie macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn, zu schützen.« Dass Büchner an dieser Stelle (trotz des irreführenden Begriffs der Teleologie) vor allem den kurz zuvor bearbeiteten Descartes im Sinn hatte, zeigt dessen eigentümliche Verknüpfung von mechanistischer Physiologie und Psychologie mit dem Selbsterhaltungstheorem; vgl. Boenke 2005, S. 242f. 738 Vgl. auch P II, S. 1001: »Wie sehr Büchner aus eigenem, nicht etwa nur historischem Interesse nach Aufklärung in dieser zentralen Problematik [dem Körper-Seele-Verhältnis] bei Descartes suchte und wie sicher er darin den Schwachpunkt seiner genialen wissenschaftlichen Fundierung der Philosophie ausmacht, geht aus dem Folgenden hervor.« 739 Siehe Boenke 2005, S. 218ff. 740 Vgl. hierzu Rothschuh 1968, S. 100–122, spez. S. 111ff.; Rothschuh 1969, S. 135: »Descartes wollte zeigen, daß die allgemeinen kosmischen Gesetze der materiellen Welt genauso die Erscheinungen der toten wie der lebendigen Welt zu erklären vermögen. Das eröffnete für die Physiologie völlig neue Denkmöglichkeiten. Sie haben die weitere Entwicklung der Physiologie maßgeblich bestimmt.« Vgl. auch Röd 31995, S. 131ff. und Kutzer 1998, S. 145ff. 741 Vgl. hierzu nochmals Poggi u. Röd 1989, S. 13ff. 742 Vgl. hierzu aber Erdmann 1932, S. 183–200.

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Philosophie beträchtlich war, zeigen die erwähnten Zitate aus der zeitgenössischen Naturforschung,743 die zu De Homine, De Passionibus, dem Discours de la Méthode sowie einigen Passagen aus dem vierten Teil der Principia Philosophiae in Beziehung gesetzt werden: Descartes ist hinsichtlich seiner Anthropologie – wie schon beim cogito-Argument und beim Gottesbegriff – für Büchner wieder eine systematische Herausforderung. Schon bei der anfänglichen Betrachtung des berühmtesten Organs der cartesischen Anatomie – der Körper und Seele vermitteln sollenden »Zirbeldrüse« – zeigt sich Büchners naturwissenschaftliche Perspektive auf die mechanistische Anthropologie Descartes’: Besonders schlug die Lehre von der Zirbeldrüse als Sitz der Seele tiefe Wurzeln, denn Descartes hatte ja so schön deutlich nachgewiesen, wie die Nerven am Hirn gleich Stränge an einer Schelle ziehen, wie dadurch eine Pore auf der innern Oberfläche des Gehirns sich öffnet und wie dann die spiritus animales aus einer entsprechenden Pore der Zirbel heraus und in die offne Pore des Nerven fahren. Interessanter ist es, wie in den neuesten Zeiten diese Ansicht von der wichtigen Bedeutung der Zirbel von Carus in dem Werke über die Urteile des Knochen und Schalengerüstes wenn auch aus himmelweit verschiednen Gründen verteidigt wird. Carus findet sogar in dem Hirnsand eine Hinweisung auf die das Hirn im Allgemeinen umschließende Knochenschale.744

Dass der Interpret mit dieser Korrelation zwischen cartesischer Philosophie und Naturwissenschaft einer Tendenz zeitgenössischer Philosophiegeschichtsschreibung entsprach, zeigt eine Passage aus Feuerbachs Einleitung in sein Kompendium von 1833: »Der geistige, der mittelbare Vater der neuern Naturwissenschaft ist daher Cartesius.«745 Gegen Ende der sich noch weiter erstreckenden Passage in Büchners Vorlesung wird darüber hinaus deutlich, dass der Neuroanatom in Büchner die Reflexionsherrschaft über den Philosophiehistoriker für Momente übernommen hat, weil ausschließlich quantifizierende Fragen der Neuroanatomie in philosophisch indifferenter Weise abgehandelt werden. An solchen – leicht unkontrolliert wirkenden – Passagen zeigen sich Büchners Interessen an philosophiehistorischen Gegenständen als systematischen und methodologischen Grundlegungen seiner Naturfor-

|| 743 Neben dem Bezug auf Carl Gustav Carus (Von den Ur-Theilen des Knochen und Schaalengerüstes. Leipzig 1828, zitiert in P II, S. 2249f.), den Büchner für seine Dissertation nachweislich rezipierte (vgl. Roth 2004, S. 45; MBA VIII, S. 254), ist es vor allem ein Mémoire von Jean Baptist Dumas und Pierre Prévost, das Büchner im Zusammenhang der Analyse der cartesischen Neurologie so selbstverständlich zitiert (vgl. P II, S. 2362/MBA IX.2, S. 9530f.), dass es ihm mit Sicherheit bekannt war. Bei diesem Text (vgl. MBA IX.2, S. 473) handelt es sich um die in den 1820er Jahren Aufsehen erregende Studie Mémoire sur les Phénomènes qui Accompagnent la Contraction de la Fibre Musculaire, par MM. Prévost et Dumas. Lu à l’Académie des Sciences le 18. août 1823. Paris 1823; vgl. hierzu auch meine Ausführungen weiter unten. 744 P II, S. 2241–15/MBA IX.2, S. 8515–26. 745 Feuerbach 1990, S. 24.

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schungen.746 In diesen Reflexionsprozessen kann seine kritische Beschäftigung mit der Philosophie zu Konsequenzen in der Naturforschung führen: Zwar schätzt Büchner Carl Gustav Carus als vergleichenden Anatomen, Neurophysiologen und philosophischen Psychologen, wie seine naturwissenschaftlichen Schriften dokumentieren.747 Nur durch dessen Aktualisierung der Zirbeldrüsentheorie wird deren cartesischer Ursprung von systematischem Belang und der vorherigen Ironisierung der mechanistischen Anthropologie Grenzen gezogen. Im Rahmen der philosophischen Auseinandersetzung mit der Anthropologie zeigt sich jedoch, dass Büchner sowohl die cartesische als auch die carussche Variante der Zirbeldrüsentheorie für unzureichend hält und die Widerlegung Descartes’ zu einer merklichen Distanzierung gegenüber Carus’ physiologischer Anthropologie führt: Worin besteht aber eigentlich die Vereinigung der Seele mit dem Körper, wie ist eine Reaktion zwischen beiden möglich? Cartesius hat sich nie deutlich darüber erklärt, er gibt zwar, wie ich im Folgenden zeigen werde, Hypothesen über die Art und Weise wie körperliche Eindrücke sich zur Zirbeldrüse fortpflanzen, und wie Zirbeldrüse aus wieder Reaktionen erfolgen, aber worin die Reaktion zwischen Zirbeldrüse und Seele bestehe, darüber sagt er nichts. Bei dem scharfen Unterschied, den er in den ersten Grundsätzen seines Systems zwischen Denken und Ausdehnung macht, mußte er sich hier in keiner geringen Verlegenheit befinden, er mußte schon in dem, was er über die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele sagte fühlen, daß er aus der Konsequenz seines Systems sei.748

Die systematische Analyse des strengen Substanzendualismus, der – von Descartes als geleistet vorgestellt749 – gleichwohl eine Vermittlung zwischen Körper und Seele grundsätzlich verunmöglicht, beendet die einzelwissenschaftlichen Spekulationen Büchners über die Aktualisierungsmöglichkeit neuroanatomischer Vermittlungsmodelle. Mit der Bewertung der Substanzentheorie als eines unüberwindlichen Dualismus und den daraus folgenden Konsequenzen für die – trotz gegenteiliger Behauptungen – Unmöglichkeit einer Interaktion zwischen Körper und Seele steht Büchner inmitten der idealistischen Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre; so schreibt Hegel: Wie faßt Cartesius die Einheit von Seele und Leib? Die erste gehört dem Denken, der andere der Ausdehnung an: beide sind Substanz, keines bedarf des Begriffs des anderen; also sind Seele und Leib unabhängig voneinander.750

|| 746 Vgl. hierzu Stiening 1999 oder auch Beise 2010, S. 89. 747 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 44f., S. 331ff. u. ö. 748 P II, S. 23018–31. Diesen kritischen Bezug übersieht Sanada 2001, S. 432. 749 Vgl. hierzu u. a. Wolff 1992. 750 Hegel 1986, XX, S. 156; vgl. auch Schelling 1985, IV, S. 441: »Das Ding, das denkt, und das Ding, das ausgedehnt ist, sind ihm also zwei Dinge; die sich gegenseitig ausschließen und nichts

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Diese Erkenntnis mündet auch für Büchner in die Einsicht, dass die zeitgenössische Naturforschung beim Körper-Seele-Problem gegenüber Descartes’ Einsichten keine wesentlichen Fortschritte gemacht hatte. Nach der engagiert-polemischen Einleitung in die Grundzüge mechanistischer Anthropologie und Physiologie referiert Büchner seinen Zuhörern die »Psychologie des Cartesius« (2), die er in bekannter Manier als »sehr mangelhaft« abqualifiziert. Mit zwei längeren Zitaten aus den §§ 11 und 12 des fünften Teils des Discours de la Méthode kennzeichnet Büchner die Thesen zur rationalen Seele, zum Seelenbegriff überhaupt und zum Verhältnis der tierischen zur menschlichen Seele als zentrale Elemente dieser Psychologie. Der Interpret legt bei dieser Darstellung ein besonderes Augenmerk auf Passagen, in denen Descartes die Seele vom Körper und von der Materie überhaupt streng abtrennt, und zwar aufgrund ihrer rationalen Vermögen sowie ihrer Unsterblichkeit. Auch die von Descartes stets betonte Differenz der menschliche Seele zu der des Tieres751 durch das Vermögen der Sprache752 stellt die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der menschlichen Psyche heraus. Anhand des gesamten ersten Teils der cartesischen Spätschrift Passions de l’Âme führt Büchner sodann Descartes’ allgemeine Vermögenslehre aus, die ihn allerdings kaum zu Kommentaren veranlasst; nur die enge Verbindung von Denken und Willen sowie die Annahme Descartes’, es gebe sechs Grundleidenschaften, aus denen alle anderen durch Kombination ableitbar seien, scheinen dem Dozenten einer wenigstens leicht kommentierenden Darlegung wert.753 Im dritten Abschnitt dieser Vorlesung (3) betrachtet Büchner Descartes’ Thesen zum »Verhältnis von Seele und Körper«,754 das zunächst als eines ausgeführt wird, welches die Unabhängigkeit beider Substanzen, insbesondere des Körpers, betont, weil »die Glieder des lebenden Körpers […] durch die Gegenstände der Sinne, ohne Vermittlung der Seele bewegt werden« könnten.755 Anhand der §§ 30 und 31 der

|| miteinander gemein haben; das ausgedehnte Ding ist das völlig entgeistete, geistlose; hinwiederum ist das Geistige das schlechterdings immaterielle.« 751 Vgl. Descartes 1990, S. 93–97; zu diesem zentralen Thema frühneuzeitlicher Psychologie vgl. auch Kutzer 1998, S. 155ff. und Wild 2006, spez. S. 135–210 (zu Descartes). 752 P II, S. 2258/MBA IX.2, S. 8616f.. 753 P II, S. 22627f./MBA IX.2, S. 8721f.: »Das reine Denken scheint also Cartesius unter die Willensakte zu setzen.« Nur dem, der Büchner anhand zweier sarkastischer Passagen aus Leonce und Lena und Woyzeck zum allgemeinen Kritiker des »freien Willens« macht (vgl. Dedner 2002, S. 292–294; Martin 2012, S. 188), weil aus dieser Kategorie »Unterdrückung und Tötung anderer« erwachse (Dedner 2002, S. 294), muss die nachgerade gelassene Kommentierung Büchners an dieser Stelle auffallen. Sie wird daher von Dedner auch stillschweigend übergangen, um in einem antiidealistischen Furor Büchners angeblich materialistische Anthropologie zu feiern. Mit dessen poetischen und philosophischen Reflexionen auf das Problem des freien Willens bzw. seiner tatsächlichen Anthropologie hat solche ›Philologie‹ allerdings nichts zu tun. 754 P II, S. 22817/MBA IX.2, S. 897f.. 755 P II, S. 2292–4/MBA IX.2, S. 8924–901.

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Passions de l’Âme geht Büchner erneut zum Theorem der Zirbeldrüse über, weil es nach Descartes »doch einen Teil des Körpers« gebe, »worin die Seele ihre Funktionen mehr ausübt, als in den übrigen«.756 Dabei paraphrasiert Büchner zunächst ebenso ausführlich wie kommentarlos den »Beweis für diese Hypothese« in § 31, geht dann aber zu der oben schon zitierten Kritik über, die eine Vermittlung zwischen den Substanzen und damit auch die Zirbeldrüsentheorie für unmöglich und haltlos, mithin für »aus der Konsequenz seines Systems«,757 erklärt. In einer philosophiehistorischen Reflexionen fügt Büchner jedoch an: Seine [d. i. Descartes’] Schule faßte jedoch diese Frage schärfer im Sinne seines Systems und so entwickelte sich aus ihr notwendigerweise die Lehre von den gelegentlichen Ursachen, nach welcher Seele und Leib zwar keinen unmittelbaren Einfluß aufeinander haben, sondern allein Gott, durch seinen Einfluß auf beide.758

Büchner sieht also im Okkasionalismus Malebranches, den er weiter unten noch abhandeln wird,759 eine konsequente Weiterentwicklung des cartesischen Substanzendualismus. Auch im Hinblick auf Spinozas Monismus wird er diese These vertreten, was ihn in beiden Fällen in die (vom Autor nicht erkannte) Nähe zu Hegel bringt.760 Entscheidend bleibt jedoch, dass Büchner sich mit einem expliziten Zitat aus Tennemann kritisch zur »Verlegenheit dieses Denkers«761 in Bezug auf die Vermittlung von Körper und Seele verhält. Im vierten Abschnitt dieser Vorlesung zur Anthropologie beschäftigt sich Büchner dann eingehender mit Descartes’ Anatomie und Physiologie (4), d. h. der Lehre vom menschlichen Körper als Teil der Anthropologie. Im Zentrum steht aufgrund der anthropologiefunktionalen Ausrichtung die Neuroanatomie und -physiologie: Die Nerven nun sind die Leiter, welche die Eindrücke des Körpers zum Gehirn leiten; die Verschiedenheit der Empfindungen hängt teils von der Verschiedenheit der Nerven selbst, teils von der Verschiedenheit der Bewegungen in den einzelnen Nerven selbst ab.762

Büchner ist in seinem Element; erneut kann er – nach der Verbindung zu Carus – mit der »Theorie der Primitivfasern« eine aktuelle Debatte und deren Begrifflichkeit an die cartesischen Texte mit Gewinn herantragen.763 Büchner hatte den Terminus »nerfs primitifs« in seiner Dissertation im Rahmen einer Theorie neuronaler Evolution selbst verwandt. Darüber hinaus wusste er durch das von ihm häufig und syste|| 756 P II, S. 22931–33/MBA IX.2, S. 9023f. 757 P II, S. 23030f./MBA IX.2, S. 9124f.. 758 P II, S. 23031–36/MBA IX.2, S. 9125ff.. 759 Vgl. P II, S. 2728–2796/MBA IX.2, S. 1231–1283. 760 Hegel 1986, XX, S. 156f. u. S. 197ff. (Malebranche) sowie S. 157 (Spinoza). 761 Mit Zitat aus Tennemann 1798–1819, X, S. 259Anm. 67; vgl. auch P II, S. 2319. 762 P II, S. 23136–2323/MBA IX.2, S. 9213–16. 763 P II, S. 2328f u. S. 23215/MBA IX.2, S. 9220f. u. 26; vgl. hierzu Gaede 1979 sowie Roth 2004, S. 365ff.

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matisch genutzte Handbuch der Physiologie Johannes Müllers von dem Begriff und seiner Herkunft bei Johannes von Meckel.764 Trotz der unübersehbaren Überholtheit der Nerventheorien Descartes’ insbesondere durch den Bezug zum Theorem der »Lebensgeister«,765 deren rein materielle Konstitution Büchner allerdings verkennt,766 sowie durch das gänzliche Fehlen einer für Büchners Konzeption essentiellen entwicklungsgeschichtlichen Perspektive bei Descartes bleibt sein Referat der cartesischen Neuroanatomie erstaunlich nüchtern. Das gilt auch für die Darstellung der Sinnesorgane, deren fünf äußere bei Descartes von einer Reihe innerer Sinne begleitet werden. Büchners angemessene Rekonstruktion von »Hunger« und »Durst« sowie den sechs Grundleidenschaften als Formen des inneren Sinnes wird allerdings von einem leicht zu übersehenden Hinweis auf ein »innerliches Gemeingefühl« begleitet.767 Hierbei zeigt sich erneut, dass Büchner mit dem sinnesphysiologischen und -psychologischen Vorverständnis eines Naturforschers des frühen 19. Jahrhunderts an Descartes’ Vermögenslehre herantritt: Zwar ist unbestreitbar, dass Descartes Hunger und Durst sowie »alle Erregungen bzw. Gemütsbewegungen und Affekte« zum sensus internus rechnet.768 Der Bezug auf einen sensus communis jedoch, der zudem noch als »Gemeingefühl« und nicht als »Gemeinsinn« übersetzt wird, ist nur durch die Überbetonung einer gerafften Passage aus dem Discours de la Méthode sowie einer ebensolchen aus De homine zu erzielen, in denen Descartes davon spricht, »ce qui doit y être pris pour le sens commun, où ces idées sont reçues, pour la mémoire, qui les conserve.«769 Ganz richtig wird dieser sens commun oder sensus communis in neueren Übersetzungen auch als »Gemeinsinn«770 übersetzt – ein Vermögen, das dann als common sense über die Scottish Enlightement771 eine gesamteuropäische Karriere im 18. und 19. Jahrhundert durchläuft, bis ihn Hegel und Marx unter Weltanschauungsverdacht stellen. Büchner aber appliziert seine evolutionsbiologische Theorie des »Gemeingefühls«, dessen Begriffsgeschichte eine ganz andere, gleichwohl wechselvolle Karriere seit dem späten 18. Jahrhundert – und d. h. seit der Schrift Johann Christian Reils

|| 764 P II, S. 12218/MBA VIII, S. 7618; sowie Müller 1833/34, S. 777. 765 P II, S. 23231 sowie S. 23433: »Was die Lebensgeister anbelangt, so können dieselben reichlicher oder spärlicher vorhanden sein, aus feineren oder gröberen Teilen bestehen, mehr oder weniger bewegt, und endlich mehr oder weniger gleichartig sein, […].« 766 Vgl. hierzu jedoch präzise Röd 31995, S. 133f.; Boenke 2005, S. 215ff. 767 P II, S. 23325/MBA IX.2, S. 9323. 768 Vgl. hierzu Descartes 1968, S. 94–96 (De Homine); Descartes 1990, S. 90 (Discours de la Méthode V, 9); Descartes 2005, S. 604ff. (Principia IV, § 190). 769 Descartes 1990, S. 90; vgl. hierzu aber Kutzer 1998, S. 145–155. 770 Descartes 1990, S. 91. 771 Vgl. Röd 1984, S. 371ff. sowie Klemme 2003.

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Über das Gemeingefühl von 1794772 – durchlaufen hatte,773 auf Descartes’ Konzeption. Dass Büchner hier tatsächlich einen in seiner Naturforschung wirksamen Begriff anwendet, zeigt die Probevorlesung, in der es kurze Zeit später heißen wird: Die passive Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne sind nichts [als] Modificationen dießes allgemeinen Sinnes. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren Blüthen desselben. So ergiebt es sich aus der stufenweisen Betrachtung der Organismen. Man kann […] Schritt für Schritt verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus [an], wo alle Nerventhätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl besteht, nach und nach besondere Sinnesorgane sich abgliedern und ausbilden.774

Wie bei Reil angelegt, vor allem aber bei Karl Wilhelm Ideler, Bernhard Brach und Carl Gustav Carus weiterentwickelt,775 dient auch bei Büchner der Begriff des Gemeingefühls zur Entfaltung einer evolutionsbiologischen These (vordarwinscher Systematik)776 in sinnespsychologischer Hinsicht: Das Gemeingefühl ist derjenige substanzielle Sinn, aus dem sich im Laufe der Evolution die spezifischeren Formen der Sinnlichkeit modifikativ ausdifferenziert haben, der aber gleichwohl bestehen bleibt – eine These, die neben Reil, Carus und Büchner u. a. auch Joseph Hillebrand und Johann Bernhard Wilbrand vertraten.777 Doch wie schon im Zusammenhang der Neurologie appliziert Büchner auch in diesem Zusammenhang der Vermögenspsychologie evolutionistische Begriffe und Kategorien fälschlicherweise auf Descartes, der vom Gedanken einer (innerweltlichen) Entwicklung der Natur weit entfernt ist; zwar bedient sich Descartes einer Theorie des »sens commun«,778 mit Büchners »Gemeingefühl« hat dieser aber nichts gemein. Es zeigt sich mithin an dieser Stelle, dass Büchner bisweilen auch unangemessen aktualisiert. Noch an einem letzten Beispiel lässt sich Büchners Aktualisierungsinteresse in dieser Vorlesung veranschaulichen. Im Zusammenhang der rekonstruierenden Darstellung der mechanistischen Psychophysiologie aktiver Muskelbewegungen heißt es: Jede Bewegung entsteht dadurch, daß in dem Augenblick, wo durch die Reizung eines Nervenfadens, auf der innern Oberfläche des Gehirns eine Pore sich öffnet, die spiritus animales aus einer entsprechenden Pore der Zirbeldrüse heraus und in die Nerven fahren, wodurch dann die

|| 772 Reil 1794; auch Reil 1807, S. 233f.; vgl. hierzu Schott 1988, S. 185–190, Roelcke 1999, S. 39 sowie Roth 2004, S. 358f. 773 Vgl. hierzu Fuchs 1997, S. 89–102. 774 Roth 2004, S. 467. 775 Bis etwa 1850 gehen die Verwendungen des Terminus auf das reilsche Konzept zurück, vgl. Fuchs 1997, S. 93ff. 776 Vgl. hierzu Breidbach 1986 sowie in Bezug auf Büchner Stiening 1999. 777 Vgl. Hillebrand 1822/23, II, S. 231, Hillebrand 1826, S. 129 sowie Wilbrand 1824, S. 84ff. 778 Vgl. neben der Stelle aus dem Discours de la méthode (Descartes 1990, S. 90) auch De Homine (Descartes 1968, S. 135).

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Muskeln aufgeblasen und die Bewegungen bewirkt werden. (Prevost und Dumas, Zusammenziehung der Nerven!!) dioptric. IV. § 5, de homine § 19–26, ferner § 90, 91.779

In dieser Passage, die nach den passiven Reaktionsformen des nervösen Organismus dessen aktive Bewegungsweisen zu bestimmen sucht,780 zeigt sich erstens, dass der Vortragende in den ausformulierten Vorlesungstext kurze Notizen einfügte – deren rhetorische Bedeutung hier durch die zwei Ausrufungszeichen markiert werden –, auf die er im Vortrag vermutlich im freien Referat zurückkommen wollte. Klar ist durch diese Verwendung zweitens, dass Büchner die Studie von »Prevost und Dumas« so gut kannte, dass er sie aus dem Gedächtnis referieren konnte.781 Und drittens ist ersichtlich, dass Büchner erneut mit den Ergebnissen neuerer Naturforschung die cartesische Philosophie zu erläutern hoffte, et vice versa. Dabei bezieht sich Büchner an dieser Stelle entweder auf eine in den 1820er Jahren Aufsehen erregenden Studie des Neuroanatomen und Arztes Pierre Prévost und des nachmaligen Chemikers Jean-Baptiste Dumas, denen im Jahre 1823 gelang, mechanische, elektrische und chemische Enervationen des Muskels, die anschließenden Kontraktionen und deren spezifische Erscheinungsform (»le zigzag«782) unter dem Mikroskop zu visualisieren.783 Oder Büchner bezieht sich auf deren ins Deutsche übersetzte Studie zur Biochemie des Blutes und Harnes in ihrem Zusammenspiel mit dem Nervensystem.784 Überhaupt forcierten die beiden französischen Naturforscher in zahlreichen Kooperationsarbeiten die sich allererst formierende experimentelle Biochemie.785 Büchner geht es mit dieser als mündlichen Hinweis geplanten Notiz um empirische Verifikationen der mehr spekulativen bzw. unter ganz anderen technischen Voraussetzungen erfolgten neurologischen Theorien Descartes’. Bemerkenswerter Weise bezieht er sich hierfür auf den von ihm ansonsten gemiedenen Zweig der empirischen Biochemie. Mit einem längeren Zitat aus der Endpassage von De homine,786 in der Descartes die mechanistische Konzeption seiner Anthropologie unter Aufbietung des Uhrengleichnisses wiederholt, das »Organ des Senus communis« erneut thematisiert787

|| 779 P II, S. 23533–2363/MBA IX.2, S. 9526–31. 780 Zur Unterscheidung von actions und passions der Seele und des Körper in den Passions de l’Âme sowie zu deren Leistungsfähigkeit vgl. Boenke 2005, S. 244ff. 781 Diese eindeutig als Quelle der büchnerschen Naturwissenschaft zu bewertende Studie ist allerdings der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zu Büchner unbekannt; vgl. Döhner 1967, S. 72–74 sowie Roth 2004, S. 44–47, MBA VIII, S. 253f., die die gesichert von Büchner gelesene Literatur nennen, ohne einen Bezug auf obige Studie von Prévost und Dumas herzustellen. 782 Vgl. Prévost u. Dumas 1823, S. 39. 783 Ebd., S. 36–38. 784 Vgl. Prévost u. Dumas 1823a, S. 301–307. 785 Vgl. Rotschuh 1968a, S. 218–220. 786 Vgl. Descartes 1968, S. 135f. 787 Ebd., S. 135.

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und explizit animistische oder vitalistische Programme zurückweist, beschließt Büchner diesen ambitionierten Vorlesungsteil.

2.2.2.5 Widerlegungslust: Büchners Rekonstruktion der Objectiones Wie schon erwähnt, bietet der kurze biographische Abriss, den Büchner nunmehr anschließt, wenig eigenständige Reflexionen. Nahezu vollständig werden die Ausführungen Tennemanns übernommen.788 Grundlegend anders verhält es sich jedoch mit dem nachfolgenden Abschnitt, den Büchner einer ausführlichen Darstellung der Objectiones widmet, d. h. den Einwänden gegen die Meditationen, die namhafte philosophische Zeitgenossen – unter ihnen Hobbes, Gassendi und Arnauld – formulierten. Auch Descartes’ Erwiderungen werden von Büchner referiert. In keinem der Kontexte und nur in Ansätzen in Büchners Quelle Tennemann wird dieser wissenschaftlichen Kontroverse so viel Aufmerksamkeit gewidmet.789 Zwar betont Tennemann ausdrücklich: »Diese Urtheile sind mit den Antworten des Cartesius ein sehr wichtiges Actenstück.«790 Dennoch fehlt seiner Darstellung791 nicht nur der büchnersche Umfang, sondern auch die Leidenschaft in der Offenlegung der zeitgenössischen Einwände gegen diese Philosophie und ihre systematische Dignität. Zu Recht stellte schon Henri Poschmann fest: Von hier an setzt sich Büchner selbständig mit den Einwänden der Kritiker (objectiones) und den Erwiderungen Descartes’ auseinander. Der Vergleich mit dem Bericht Tennemanns (Bd. 10, S. 267–281) darüber macht das deutlich.792

Tatsächlich ist Büchners Text nicht nur in formaler Hinsicht eigenständig, weil er die Einwände autorenzentriert abhandelt, während Tennemann systematisierend kompiliert, sondern auch in materialer Hinsicht entschiedener als Tennemann. Für Büchner sind diese Einwände weitgehend zutreffend und daher für die philosophische und philosophiehistorische Wertung des Cartesianismus vernichtend: Schon mit seinem ersten Auftreten war es [das System des Cartesius] halb vernichtet durch die objectiones; es ist sonderbar, daß ein so scharfer Denker wie Cartesius sein System nicht lieber änderte, als es so gab in seinen Fetzen mit den Messern, die es zerschnitten hatten.793

Dennoch bleibt Büchner eine angemessene Bearbeitung dieser weitreichenden These schuldig; die Einwände der philosophischen und theologischen Zeitgenossen

|| 788 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 200–216. 789 So auch MBA IX.2, S. 227. 790 Tennemann 1798–1819, X, S. 267. 791 Ebd., S. 267–281. 792 P II, S. 1009. 793 P II, S. 24120–24/MBA IX.2, S. 10020–23.

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werden schlicht paraphrasiert und nicht in ihrer argumentativen Leistungsfähigkeit gegenüber der cartesischen Argumentation bewiesen. Nur die schon erwähnten massiv abwertenden Urteile über die Erwiderungen des Descartes (»Die Antwort des Cartesius ist erbärmlich«) transportieren jenes anfänglich thetische Urteil über die Bedeutung der berühmten Einwände. Eine tatsächlich angemessene begriffs- und argumentationsanalytische Auseinandersetzung mit den philosophischen Argumenten der Gegner sowie der Erwiderungen Descartes’ oder auch nur eine philosophiehistorische Einordnung bzw. Kontextualisierung der Begründungen und Positionen findet kaum statt. Selbst die Tatsache, dass sich die Einwände und Erwiderungen nahezu ausschließlich auf den ersten grundlegungstheoretischen Teil zur Erkenntnistheorie und Metaphysik beziehen, wird von Büchner nicht reflektiert oder kommentiert. Dennoch gibt es einige markante Passagen, die ein Licht auf Büchners methodisches und systematisches Selbstverständnis als Philosophiehistoriker sowie sein Interesse an einer ausführlichen Darstellung dieser Kontroversen werfen: Dazu zuhört zunächst, dass das Argument der Zirkularität von cogitoBeweisgang und Gottesbeweis nicht nur von Tennemann übernommen, sondern schon bei Mersenne und Arnauld ausgeführt wurde. Büchners ausführliche mehrfache Darstellung dieses Zirkel-Vorwurfes dient offensichtlich der Bestätigung der eigenen Analyseergebnisse. Darüber hinaus ist von nicht unerheblicher Auffälligkeit, dass Büchner zwar die eher historisierenden Einwände des Theologen Johann Cater gegen die Gültigkeit des ontologischen Gottesbeweises, den schon Thomas geführt und widerlegt habe, unkommentiert lässt, während er auf den Nominalisten und Materialisten Thomas Hobbes nachgerade einschlägt: Im Ganzen hat Hobbes in seinen Einwürfen, deren 16 an der Zahl sind, wenig Scharfsinn gezeigt, ich habe die unbedeutenden übergangen, in denen er von Cartesius meist gut abgefertigt ist worden.794

Noch ein weiteres Mal bezieht Büchner in dieser Kontroverse zwischen Hobbes und Descartes explizit die Position des ansonsten so gescholtenen Rationalisten, der »ihn [d. i. Hobbes] in seiner Antwort ganz gut zurecht« gewiesen habe.795 Gegenüber Hobbes, dessen kritische Argumente ihre Leistungsfähigkeit aus einem konsequenten Materialismus beziehen,796 ist selbst der ›erbärmliche‹ Descartes noch zu verteidigen. Letztlich zeigt sich an der umfangreichen Darstellung der Kontroverse zwischen Descartes und Gassendi, dass Büchner noch im Zusammenhang der zumeist nur paraphrasierten Objectiones an bestimmten, ihn interessierenden Passagen syste-

|| 794 P II, S. 24716–1/MBA IX.2, S. 10434–36. 795 P II, S. 2458/MBA IX.2, S. 1034. 796 Vgl. hierzu u. a. Stiening 2005a.

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matische Fragen klärt bzw. Lernstoff entdeckt, so in Bezug auf das von Gassendi kritisch gegen Descartes gewendete Verhältnis von Sein, Nichts und Vollkommenheit.797 Dieser Problemkomplex, der schon in Danton’s Tod und im Grundsatz des a nihilo nihil fit reflektiert wurde, wird von Büchner an dieser Stelle wie folgt zusammengefasst: Außerdem ist die Existenz keine Vollkommenheit, sondern sie ist nur das, ohne welches es keine Vollkommenheit geben kann. Denn das was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen. (Was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen. Nichtsein ist also keine Unvollkommenheit. Also ist Sein keine Vollkommenheit.)798

Unübersehbar ist der in Klammern gestellt Zusatz ein eigenes Reflexionsprodukt Büchners, nicht nur weil ostentativ die vorherige These von der Indifferenz der Inexistenz gegenüber Vollkommenheit und Unvollkommenheit wiederholt wird, sondern weil Büchners (unzulässiger) Schluss von der Existenz auf das Sein bei Gassendi nicht vorgeprägt ist. Was Büchner offenbar beeindruckt und zur eigenständigen Reflexion anregt, ist die Möglichkeit, Sein und Nichts gegenüber der Kategorie der Vollkommenheit indifferent zu setzen; im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Spinozas Gottesbegriff wird dies noch von Bedeutung sein,799 weil sich eine systematische Überflüssigkeit bzw. semantische Nichtigkeit des Begriffs der Vollkommenheit mit dieser Argumentation abzeichnet. Bei einem Blick auf die Kontexte zeigt sich aber auch, dass Büchners weitgehend paraphrasierende Darstellung der Objectiones hinter der philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Kontroverse u. a. durch Feuerbach durchaus zurückbleibt. Feuerbach hatte nämlich in analytischer Schärfe bezüglich der Kritik des cogito-Arguments durch Gassendi festgehalten: Ganz verkehrt, dem Gedanken zuwider, nur aus dem Standpunkt der gemeinsten Sinnlichkeit geschöpft ist der Einwurf Gassendis, daß C., um zu beweisen, daß er sei, keinen solchen Spektakel und Aufwand zu machen gebraucht habe, er hätte dies aus jeder andern Handlung ebensogut beweisen können, da alles, was handelt, notwendig auch sei. Wenn C. freilich, wie sich Gassendi vorstellt, weiter nichts zu beweisen gehabt hätte als seine Existenz, die Existenz des einzelnen, empirischen Subjekts, nicht aber die Existenz des Geistes, keine andere Existenz als eine sinnliche, empirische, die Existenz der Erscheinung, aber nicht eine reelle, unbezweifelbar gewisse, die nur eine solche sein kann, welche mit dem selbst unbezweifelbar Gewissen, dem vom Geiste Unabsonderlichen, den ihm Eigensten, dem Denken, eins ist, so hätte G. recht.800

|| 797 Vgl. Descartes 1972, S. 296–300. 798 P II, S. 26123–28/MBA IX.2, S. 11536–1161. 799 Vgl. P II, S. 29123–25/MBA IX.2, S. 1217f.. 800 Feuerbach 1990, S. 192.

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Dass Gassendi in seiner Verwechslung von empirischem und rationalem Ich aber unrecht hatte, daran lässt Feuerbach keinen Zweifel; Büchner aber kann diese analytische Kritik an Gassendis Vorwürfen nicht entwickeln, weil er selbst zur Indifferenz im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen rationaler und empirischer Psychologie neigt, wie oben schon gezeigt wurde. Auch wenn es Büchner an der analytischen Wucht dieser feuerbachschen Interpretation mangelt, kann es als sein Verdienst im Rahmen der epistemischen Situation der Philosophiegeschichtsschreibung der 1830er Jahre angesehen werden, dass er der erläuternden Potenz der Objectiones für eine Rekonstruktion der cartesischen Philosophie, die schon Tennemann betonte, in seiner Vorlesung Rechnung getragen hat.

2.2.2.6 Beschluss I: Büchners Descartes Wie schon angedeutet, schließt sich Büchner nach der weitgehend unabhängigen Darstellung der Objectiones beim Vortrag über die Nachfolger des Descartes wiederum eng an die Ausführungen Tennemanns an, wobei dessen umfangreiche und detaillierte Auseinandersetzung801 durch Büchner erheblich verkürzt wird. Dies gilt auch für die wuchtige, mehr philosophie- als ideengeschichtliche Lozierung Nicole de Malebranches: Im Jahr 1664 fielen ihm die Schriften des Cartesius in die Hände, welche sogleich seinem geistigen Streben die Grundrichtung gaben, indem er auf eine originale Weise den Idealismus, Mystizismus und Supernaturalismus, den Augustinus und den Cartesius vereinigte.802

Auch die kritische Gesamtwürdigung der Philosophie Malebranches basiert auf den Ergebnissen Tennemanns, die Büchner ermöglichen, zum nächsten der von ihm dargestellten Philosophen überzuleiten: Das ganze System des Malebranche läuft eigentlich auf den Pantheismus hinaus, noch einen Schritt und er ist Spinoza, so verschieden auch die Wege sind, die die beiden Denker eingeschlagen haben. Indem er den Körpern die Bewegkraft und den Geistern eigentlich den Willen nimmt und das Denken zu einem ganz passiven Akt macht, vernichtet er ihre Individualität, sie sind nur Schatten und es bleibt wenig mehr zwischen ihnen und den Akzidenzien des Spinozismus.803

Mit einer philosophiehistorischen These, die die Philosophie Malebranches an der Schwelle des Spinozismus wähnt,804 nachdem Büchner schon Malebranches Okka-

|| 801 Tennemann 1798–1819, X, S. 317–374. 802 P II, S. 27211–15/MBA IX.2, S. 1233–7; vgl. hierzu Tennemann 1798–1819, X, S. 318f. 803 P II, S. 27828–35/MBA IX.2, S. 12733–39. 804 Vgl. hierzu auch Hegel 1986, XX, S. 197.

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sionlismus als konsequente Weiterentwicklung des Cartesianismus interpretiert hatte, endet dieser Vorlesungsteil zur Philosophie Descartes’ und seiner Schule. Mit diesen Überlegungen zum gleichsam geschichtsphilosophischen Verhältnis von Cartesianismus und Spinozismus schlägt Büchner ein Thema an, das in den philosophiehistoriographischen Debatten der 1820er und 1830er Jahre häufig und kontrovers diskutiert wurde;805 nachgerade berühmt wurde die These Heinrich Christoph Wilhelm Sigwarts, dass Spinoza genau da einsetzte, »wo des Cartes endete«.806 Selbst Heine vertrat diese These einer engen systematischen Verbindung zwischen Descartes und Spinoza.807 Eine systematische oder philosophiehistorische Zusammenfassung dieses Abschnitts erspart sich Büchner und doch lässt sich eine spezifische Kontur seines Descartesbildes, der Arbeits- und Reflexionsgenese sowie seiner methodischen und systematischen Position als Philosophiehistoriker festhalten: Das sowohl im Hinblick auf seine Quellen als auch im Vergleich zu den kontextuellen Referenztexten zur Philosophiegeschichte der Frühen Neuzeit Auffälligste dieser Vorlesung ist sicherlich die kritische, bisweilen ausfällige Haltung zur Philosophie Descartes’. Dieser Stil hat jedoch weniger mit Büchners Versuchen einer Anknüpfung an den Essayismus Heines, mit dem der Fachhistoriker Büchner nicht konkurrieren wollte, sondern mit der noch geringen Erfahrung des angehenden Dozenten zu tun. Diesen Dilettantismus des Anfängers zeigt auch die Tatsache der deutlich sich ändernden Stellung zu den Interpretationsergebnissen Hegels und Hothos in Bezug auf den Status des cogito-Arguments, die sich im Laufe der Vorlesung grundlegend wandelt, was nur als Zeichen der noch in dieser Reinschrift geleisteten Reflexionsarbeit Büchners gewertet werden kann. Auch die zunächst starke, dann nachlassende und schließlich abbrechende Anbindung an die Ergebnisse Johannes Kuhns müssen als Zeichen von Büchners noch unklarer Orientierung in Disziplin und Lehrform der Philosophiegeschichte betrachtet werden. Dennoch ist die Strukturierung der gesamten Vorlesung zu Descartes nach Erkenntnistheorie und Metaphysik, Naturphilosophie, Anthropologie, Biographie, Objectiones und Nachfolgern nicht nur professionell und den Standards der Zeit entsprechend. Im Zusammenhang der Vorstellung der Anthropologie und Psychologie erweist sich Büchner mit seinen Bezügen zur zeitgenössischen Naturforschung gar als originell und innovativ. Hans Mayers lange tradiertes Urteil, dass die Descartes-Vorlesung »nirgends eigentlich über die Selbstverständigung oder lehrhafte Wiedergabe von Descartes’ Gedanken hinaus« gegangen sei,808 muss also revidiert werden. Das zeigte sich auch bei Büch-

|| 805 Vgl. Schneider 1999, S. 264ff. 806 Sigwart 1816, S. 85. 807 Heine 1976, V, S. 563. 808 Hans Mayer 1972, S. 358f.; vgl. noch Hauschild 1993, S. 528; Glebke 1995, S. 19 und Hauschild 2 2004, S. 126ff.

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ners Rekonstruktion der Objectiones, die in dieser detaillierten und kritischen Form auch bei Tennemann unerreicht blieb. Insgesamt ist Büchners Descartes-Vorlesung trotz seiner innovativen Momente uneingeschränkt in die durch Tennemann inaugurierte Tradition von Philosophiegeschichtsschreibung zu lozieren. Das unterscheidet sie von den idealistischen Kompendien der 1830er Jahre ebenso wie von der in Frankreich ausgeübten Form einer kulturkritischen Ideenhistoriographie. Trotz des Straßburger Umfelds kann im Zusammenhang der Philosophiegeschichte von einem Einfluss der französischen Forschung auf Büchner nicht gesprochen werden, was sich allein an der Tatsache ablesen lässt, dass Büchner nicht auf Cousins neue Descartes-Ausgabe von 1822 bis 1824,809 sondern auf ältere Textausgaben zurückgreift.810 Grundsätzlich aber muss Büchner ein Mangel an historiographischem Verständnis seiner Reflexionsarbeit zugeschrieben werden. Wie für seine Dramenfigur Thomas Payne in Danton’s Tod Spinoza, so ist für den Büchner dieser Vorlesungsskripte Descartes vor allem ein systematischer Gegner, den es zu widerlegen gilt. Dieses Interesse am Nachweis von Widersprüchen und Unzulänglichkeiten zielt weniger auf den allgemeinen Rationalismus811 als vielmehr auf die Gottesinstanz und die mechanistische Anthropologie im System des Cartesianismus.812 Die Beweisgänge zur Existenz Gottes sucht Büchner in allen Varianten energisch zu widerlegen. Offenbar erkennt er in dieser Form rationaler Theologie einen für seine eigene Position ernstzunehmenden Gegner. Das gilt in gleichem Maße für die mechanistische Anthropologie, der er keinerlei Fundierungsfunktion für die Naturforschung seiner Zeit zuschreibt. Zumindest die systematische Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen wird auch die Spinoza-Vorlesung prägen.

|| 809 Zum Kontext der Descartes-Rezeption im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts und der cousinschen Descartes-Ausgabe vgl. Schneider 1999, S. 183 sowie Zijlstra 2005, S. 147ff. 810 Vgl. hierzu P II, S. 956. 811 So aber Vietta 1979, S. 421ff.; Vollhardt 1991, S. 199; Vietta 1992, S. 134 und Knapp 32000, S. 31f. 812 Vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 350, der zu Recht betont, dass Büchner »immer wieder das Gottesproblem in den Mittelpunkt seines Trachtens« als Philosophiehistoriker gestellt habe, dies aber mit der nachweislich falschen These (vgl. dagegen Mayer 1993) in Verbindung bringt, dieses Interesse generiere aus der Enttäuschung als Sozialrevolutionär. Es scheint mir auch keineswegs erforderlich zu sein, als Revolutionär oder politisch Handelnder enttäuscht worden zu sein, um ein philosophisches Gottesproblem zu reflektieren.

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2.2.3 Das Spinoza-Skript813 Das insgesamt 120 Seiten umfassende Manuskript zur Philosophie Spinozas814 besticht durch eine gegenüber der Descartes-Vorlesung grundlegend geänderte Methode für die analytische Darstellung der Werke des Rationalisten. Hatte Büchner dort seine Reflexionen mit einer hermeneutischen These zur Differenzierungsnotwendigkeit zwischen esoterischem und exoterischem Beweisgang begonnen und anschließend das cartesische System unter Bezug auf verschiedene Texte rekonstruiert, so setzt er in dieser Vorlesung streng philologisch an, indem er den berühmten ersten Teil der Ethik Spinozas übersetzt und diese Übersetzung an Schlüsselpassagen mit Kommentaren versieht.815 Unverkennbar ist hierbei erneut Tennemann als Vorbild wirksam geworden, hatte dieser doch ebenfalls die Definitionen und Axiome sowie die ersten 15 Lehrsätze dieses ersten Teils der Ethik übersetzt. Büchner kam hiermit auch einer methodischen Maxime der professionalisierten Philosophiegeschichtsschreibung nach, die Herbart in seiner Allgemeinen Metaphysik wie folgt formuliert hatte: Dringend müssen wir dem Anfänger [...] anempfehlen, die Ethik des Spinoza zu lesen; und sich nicht bloß auf Jacobis Darstellung von derselben zu verlassen.816

Büchner übersetzt das gesamte erste Buch des Hauptwerkes Spinozas.817 Dabei können schon dieser Übersetzung einige Spezifika entnommen werden:818 Einerseits bedient sich Büchner bisweilen Übertragungen, die dem Original in besonderer Weise nahekommen. Andererseits lassen sich auch fehlerhafte819 oder entstellen-

|| 813 Zum Folgenden vgl. auch die – wenngleich mehr philosophie- als wissens- und ideengeschichtlich ausgerichtete – Studie von Stiening 2000–04. 814 Vgl. hierzu P II, S. 926; diese Zahl ergibt sich allerdings nur durch die in HA noch teilweise integrierte Auslagerung zweier Exzerpte zu Spinoza aus Tennemann und Herbart, vgl. P II, S. 613– 624. 815 Die in MBA IX entworfene Zerstückelung der Vorlesung aus textgenetischen Gründen wird hier nicht mitvollzogen; kein Wort nämlich verlieren die Marburger Herausgeber zu der Frage, warum denn eine 1835 erarbeitete kommentierte Übersetzung der Ethik nicht Teil der Vorlesung im Jahre 1836 sein sollte, zumal vor dem Hintergrund der methodischen Vorgaben Tennemanns eigene Übersetzung gewünscht waren; zur Kritik hieran schon Stiening 2013b. 816 Herbart 1828, I, S. 160; vgl. dazu auch das Postulat des eigenständigen Quellenstudiums durch die Göttinger Schule und Tennemann, dargestellt bei Schröpfer 1994, S. 221ff. 817 Die Texte Spinozas werden nach den in der Forschung üblichen Abkürzungen und den im Literaturverzeichnis angegebenen modernen Ausgaben zitiert, d. h. die Ethica als ETH, der Tractatus intellectus emendatione als TIE und der Tracatus theologico-politicus als TTP. 818 Vgl. auch, wenngleich in anderer Einschätzung, P II, S. 958. 819 So unterläuft dem Übersetzer bei der Anmerkung zu Lehrsatz 8 eine folgenschwere falsche Kasuszuordnung, wenn er »cum finitum revera sit ex parte negatio & infinitum absoluta affirmatio existentiae alicuius naturae« überträgt mit »Da die Endlichkeit eine Verneinung, die absolute Un-

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de820 Übersetzungen verzeichnen. So meint Büchner die wichtige Bestimmung des intellectus, d. h. des Verstandesvermögens bei Spinoza, durchgehend mit dem Terminus Vernunft übersetzen zu können.821 Auch die Kategorie des »in se esse«, deren konstitutive Bedeutung Büchner erfasst und kritisch analysiert,822 wird im Text des Beweises von Lehrsatz 5 mit »Sein an und für sich« übertragen.823 Insgesamt muss der büchnerschen Übersetzung – insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ihm mit der äußerst präzisen tennemannschen Übertragung der Ethik bis zum Lehrsatz 15 eine textnahe Vorgabe zur Verfügung stand824 – ein fehlerhafter und vorläufiger Charakter attestiert werden.825 Dennoch liegt in dem Sachverhalt, dass sich Büchner überhaupt der Anstrengung einer Übersetzung aussetzte, ein wesentlicher Aspekt des Skripts, weil er ein zentrales methodisches Postulat der philosophiehistorischen Wissenschaften nach exakter Textexegese erfüllte.826 Das gesamte Skript zu Spinoza enthält jedoch weit mehr als diese Übersetzung und Kommentierung von ETH I. Insgesamt lässt sich diese Vorlesung in drei Abschnitte untergliedern. Dabei macht den ersten Teil jene eigenständige Übersetzung und abschnittsweise Kommentierung des ersten Buches der Ethica, ordine geometrico demonstrata Baruch de Spinozas aus.827 Den zweiten Teil konstituiert eine analytische Darstellung des Tractatus de intellectus emendatione,828 den Büchner als »Wissenschaftslehre« Spinozas bezeichnet, die der Metaphysik der Ethik zugrunde

|| endlichkeit aber die Affirmation der Existenz einer Sache ist.« (P II, S. 28614–16). Bedeutsam ist insbesondere das Fehlen der Partialität der Negation sowie die verfehlte Zuordnung des Adjektivs »absoluta« zur Unendlichkeit. Büchner erkennt offenbar nicht, dass Spinoza mit dieser Bestimmung den Begriff der omnitudo realitatis näher erläutert. 820 Zweimal lässt Büchner die sicherlich schwer zu interpretierende Einschränkung von »extra intellectus« in prop. 4 und prop. 8, scholium stillschweigend unübersetzt. 821 So bei der Übersetzung von def. 4 (P II, S. 28023/MBA IX.2, S. 518f.) und bei einer Paraphrase aus dem TTP: »Da die Vernunft (intellectus) [...].« (P II, S. 33026). Einmal nur (P II, S. 3494f.) verwendet er im Rahmen einer Paraphrase einer tennemannnschen Paraphrase von § 107 des TIE (vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 418f.) die richtige Übersetzung. Daraus lässt sich schließen, dass dem angehenden Philosophiehistoriker Büchner die durch Kant kanonisierte Differenz von Verstand und Vernunft offenkundig nicht (mehr) geläufig war; auch wenn er sie schon 1834 (vermutlich mit Hillebrand) verwendet hatte; kanonisiert ist diese Unterscheidung schon in den 1790er Jahren, und dies nicht nur – wie das Beispiel Schillers zeigt – innerhalb der Philosophie. 822 Vgl. dazu seine Argumentation in P II, S. 29126–28/MBA IX.2, S. 1243–46. 823 Zur Formulierung eines »Seyn[s] an und für sich« für die Kategorie des »in se esse« vgl. auch Sigwart 1816, S. 83. 824 Vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 425–438. 825 Anders dazu MBA IX.2, S. 214f., die selbst die Abweichungen zum Falschen als »wohldurchdacht« bewertet. 826 Vgl. Tennemann 1798–1819, I, S. XLVIff.: »Quellen und ihre Benutzung«. 827 P II, S. 2801–32822. 828 Ebd., S. 32823–35019.

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liege.829 Der dritte, kürzeste und offenkundig unabgeschlossene Teil830 besteht aus dem Versuch einer Zusammenfassung der »Grundgedanken«831 Spinozas sowie zwei Exzerpten aus Tennemann und Herbart. Büchner bemüht sich in diesem Abschnitt um eine allgemeine Bestimmung und Bewertung des Verhältnisses von »Wissenschaftslehre und Metaphysik« sowie abschließend der Systematik der gesamten spinozanischen Philosophie. Dass gerade in diesem Teil der Vorlesung eine biographische Skizze gänzlich fehlt, auf die kaum einer der kontextuellen Referenztexte verzichten will, weil im Falle Spinozas theoriewirksame Momente des Lebenslaufes auszumachen seien,832 dokumentiert den tatsächlich unabgeschlossenen Charakter dieses Skripts. Darin ist Thomas Michael Mayer also zuzustimmen, dass Büchner die Exzerpte vermutlich kurz vor der Abreise nach Zürich im Oktober 1836 anfertigte, weil er – »selbst nicht im Besitz von Tennemanns und Herbarts Werken« – diese für die weitere Bearbeitung seiner Vorlesung dringend zu benötigen meinte.833 Für alle drei Teile sind zunächst folgende allgemeine Charakteristika festzuhalten: Auch Büchners Spinoza-Vorlesung ist in erheblichem Maße durch die SpinozaStudie Wilhelm Gottlieb Tennemanns geprägt, die dieser in Band 10 seiner Geschichte der Philosophie ausgeführt hatte.834 Allein dieser positive Bezug auf Tennemanns Spinoza-Interpretation unterscheidet ihn u. a. von der kurz zuvor erschienenen Philosophiegeschichte Feuerbachs, der im Rahmen seiner Spinoza-Darstellung mehrere Male eine deutliche Kritik an Tennemann zur Erläuterung des eigenen Standpunktes einstreut.835 Über die Prägungen durch Tennemann hinaus sind geringere Einflüsse Kuhns, Herbarts und Kiesewetters nachzuweisen, wobei die Heterogenität und Veränderung, die diese Einflüsse im Descartes-Skript hervorbrachten, nicht mehr zu erkennen sind. Vielmehr zeichnet sich die Spinoza-Vorlesung durch eine größere konzeptionelle und systematische Geschlossenheit aus. Durch die spezifische Auswahl, die Büchner aus den Analyse- und Interpretationsergebnissen Tennemanns, Kuhns und Herbarts tätigte, kann anhand der systematischen Anordnung sowie einiger eigen-

|| 829 Den Terminus »Wissenschaftslehre« (P II, S. 3349f., S. 34024, S. 34027, S. 35020 u.ö/MBA IX.2, S. 13531, 15131 u. ö.) übernimmt Büchner vermutlich aus der Schrift Kuhns von 1834, S. 16, S. 19. u.ö. Vgl. aber auch schon Hillebrand 1819, S. 526ff., der den Terminus auf Descartes (S. 526), Spinoza (S. 529) und Leibniz (S. 535) anwendet. 830 P II, S. 35020–35236 u. S. 613–624; die Entscheidung des Herausgebers Henri Poschmann, die Exzerpte aus Tennemann und Herbart in den Anhang zu verbannen, scheint mir verfehlt, weil sie den (unabgeschlossenen) Bearbeitungszustand der Spinoza-Vorlesung nicht angemessen dokumentiert und so den dritten Teil des Manuskripts auseinanderreißt; ähnlich MBA IX.2, S. 157ff. 831 P II, S. 3513/MBA IX.2, S. 15215. 832 Vgl. Erdmann 1933, S. 47–53; Hegel 1986, XX, S. 158–161; Feuerbach 1990, S. 301–306. 833 Mayer 1995–99a, S. 319 sowie MBA IX.2, S. 228. 834 Tennemann 1798–1819, X, S. 374–495. 835 Vgl. Feuerbach 1990, S. 310, S. 324 u. ö; zu Hegels ambivalenter Stellung zu Tennemann vgl. Hegel 1986, XIX, S. 145 sowie Stiening 2005, S. 219ff.

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ständiger Thesen das besondere Argumentationsziel bei seiner Beschäftigung mit Spinoza herausgearbeitet werden. Grundsätzlich lässt sich zeigen, dass sich Büchner den entscheidenden Prämissen der erst jungen Disziplin der Philosophie als historischer Wissenschaft stärker als in den Descartes-Skripten unterwirft, indem er um eine bewertungsfreie Analyse und Darstellung836 der spinozanischen Systematik bemüht ist.837 Zwar ist auch diesem Text ein Widerlegungsgestus zu eigen:838 Mehrfach meint Büchner einen »Widerspruch« in der Argumentationsbewegung feststellen zu können;839 auch lassen sich erneut rüde Bewertungen der Argumentationsleistungen Spinozas nachweisen.840 Dennoch bewegt sich die kritische Auseinandersetzung im Rahmen der Vorgaben zeitgenössischer Forschung841 und gefällt sich nicht mehr in Ausfälligkeiten wie noch gegenüber Descartes. Für den angehenden Dozenten der philosophischen Fakultät der Züricher Universität ist die wissenschaftlich exakte Beschäftigung mit Spinozas Philosophie durch präzise und differenzierte Texterfassung mit Hilfe von Übersetzung und Stellenkommentar jedoch nicht primär oder gar ausschließlich historiographisch ausgerichtet, sondern erneut auch Mittel zur Lösung religionsphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Problemstellungen. Wie schon bei Descartes, so überwiegt auch bei Spinoza das systematische Interesse – insbesondere an den Gottesbewei-

|| 836 Zu den methodologischen Vorgaben Tennemanns hinsichtlich einer angemessenen, d. h. wissenschaftlichen Form der Philosophiegeschichtsschreibung vgl. die Studie von Schröpfer 1994, spez. die S. 221ff. angegebenen Zitate. Vgl. auch die oben skizzierte Auseinandersetzung zwischen Erdmann und Feuerbach um angemessene Formen der Kritik am historischen Gegenstand. 837 Daher unterscheidet sich Büchners Spinoza-Betrachtung schon in methodischer Hinsicht deutlich von der Jacobis, der seine Darstellung der Philosophie Spinozas bisweilen ununterscheidbar mit seiner eigenen Philosophie verknüpfte; vgl. hierzu Timm 1974, S. 136–225 oder auch Stolzenberg 2004. 838 Vgl. dazu auch die hinsichtlich des kritischen Impetus, nicht aber bezüglich dessen Gegenstands angemessene Beschreibung von Hans Mayer 1972, S. 359: »Weitaus bedeutsamer dagegen [...] sind jene Hefte, in denen Büchner [...] zur Welt Spinozas findet. Sofort scheint die Temperatur gleichsam verändert. War die Bereitwilligkeit, für den Augenblick Descartes gleichsam nachzudenken, bei Büchner recht groß, so regt sich, bei Spinozas geometrischen Schlüssen, sofort reger Protest. Büchner hat zwar nicht sein ›Klima‹, aber unter fremdem Himmel seine Grundfragen wiedergefunden.« Dass es ausgerechnet die geometrischen Schlüsse nicht sind, die Büchners Protest hervorrufen, soll sich weiter unten noch zeigen; Beise 2010, S. 84f. hat die These vom Widerlegungsgestus zugunsten der Behauptung einer »solidarischen Kritik« verworfen, wobei er den szientifischen Status von Widerspruchsvorwürfen, die Büchner mehrfach erhebt, offenbar verkennt; zudem scheint der einer bestimmten Ideologie entnommene Begriff einer ›solidarischen Kritik‹ in ihrer Leistungsfähigkeit für eine Rekonstruktion philosophiehistoriographischer Arbeit noch zu erläutern. 839 P II, S. 3308f., S. 33017, S. 35013f./MBA IX.2, S. 13214, S. 13221, S. 15125. 840 Vgl. P II, S. 35015–17/MBA IX.2, S. 15126f.: »Überhaupt ist die ganze in dem tractatus de emend. angestellte Untersuchung höchst mangelhaft und zum Teil verworren; […].« 841 Vgl. u. a. Feuerbach 1990, S. 354–359: »Kritische Schlußbemerkung«.

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sen – den historischen Rekonstruktionsanspruch. Im Folgenden sollen die einzelnen Teile der büchnerschen Spinoza-Vorlesung und ihr historiographischer und systematischer Zusammenhang einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden.842 Und wie schon für die Descartes-Vorlesung sollen für diese Betrachtung sowohl Quellen als auch kontextuelle Vergleichstexte der zeitgenössischen SpinozaRezeption herangezogen werden.

2.2.3.1 Kommentierte Ethik: Das Problem der Gottesbeweise Büchners philologisch präzise und hermeneutisch detaillierte Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik realisiert sich nicht nur durch Übersetzung, sondern auch durch eigene Anmerkungen zu einzelnen Textpassagen. Dieses Kommentarverfahren enthält unterschiedliche Formen: Neben vereinzelten Randbemerkungen843 und kurzen Verweisen auf andere Texte Spinozas844 sind es erläuternde Fußnoten zu einzelnen Begriffen, die sich mehrfach auch anderer philosophischer Begriffssysteme bedienen. So wird der Begriff der spinozanischen Kategorie »Axiom« in einer Anmerkung wie folgt kommentiert: Kant sagt von den Axiomen, sie seien synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind. Diese unmittelbare Gewißheit bekommen sie in der Mathematik durch die reine Anschauung, in der Philosophie hingegen erfordert diese Synthesis noch eine Deduktion d. h. eine Darstellung der Befugnis derselben. (Ein Axiom nach Kiesewetter ist ein Satz, dessen Wahrheit unmittelbar erkannt wird, sobald man ihn versteht, und aus dem sich andere Sätze ableiten lassen.)845

Büchner versucht in dieser Randbemerkung die kantische Bestimmung des Begriffes »Axiom« durch ein Zitat aus dem schon erwähnten Logikhandbuch Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters zu erläutern und auf den spinozanischen Terminus anzuwenden.846 Der Interpret greift für diese nicht unproblematische Begriffsexpli-

|| 842 Vgl. dazu in ersten – allerdings übermäßig hegelianisierenden – Ansätzen Taylor 1995, S. 39– 69: »Georg Büchners’s Concept of Nature and its Relation to the Spinozan Absolute«. 843 So merkt Büchner bei der Übersetzung von ETH. I, def. 2 an der Stelle: »[s]ic cogitatio alia cogitatione terminatur« fragend an, ob das Denken tatsächlich »durch das Denken« begrenzt werden könne (P II, S. 28025/MBA IX.2, S. 541), was er letztlich verneint, wie der weitere Verlauf seiner Argumentation zeigt. 844 Vgl. P II, S. 28127/MBA IX.2, S. 540: Im Rahmen der Übersetzung der schwierigen def. 7 von ETH. I verweist Büchner auf die Cogitata metaphysica. 845 Vgl. dazu P II, S. 28221–29/MBA IX.2, S. 629–33. 846 Büchner zitiert in der Tat direkt aus dem zweiten, die angewandte Logik entfaltenden Teil des Grundrisses: vgl. Kiesewetter 31825, S. 364; übrigens gilt auch hier, wie im Zusammenhang der hypothetischen Vernunftschlüsse, dass Büchner aus vorherigen Ausgaben die wortidentischen Definitionen hat zitieren können; zum »Axiom« vgl. auch Kiesewetter 1796, S. 291.

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kation auch deshalb auf Kiesewetter zurück, weil er bei Tennemann solcherart basale Definitionsarbeit selten vorfinden konnte.847 Zwar zählt diese begriffsdefinitorische Bestimmung tatsächlich zu den u. a. von Tennemann oder auch Erdmann formulierten Aufgaben des Philosophiehistorikers.848 Doch bleibt die Anwendung transzendentalphilosophischer Definitionen auf den Begriff eines rationalistischen Systems deshalb problematisch, weil Spinoza die Synthetizität seiner Grundsätze bestritten hätte, gelten ihm doch – wie später explizit Leibniz – nur analytische Urteile als wahr.849 Auch die These, Axiome könnten durch Anschauung unmittelbare Gewissheit erlangen, musste Spinoza deutlich zurückweisen, bestimmte er doch alle Formen der mit Sinnlichkeit behafteten Vorstellungsformen (mit Ausnahme des amor dei) als grundlegend unzureichend.850 Solcherart begriffsgeschichtliche Differenzierungen bleiben Büchner aber fremd. Den größten und bedeutendsten Teil seiner Bearbeitungsformen machen ausführliche Kommentare zu den Lehrsätzen 5 bis 15 von ETH. I aus. In insgesamt 14 solcher – teils zweizeiliger, teils mehrseitiger – Kommentare entfaltet Büchner seine zumeist kritische Sicht auf die Metaphysik Spinozas. Der Grund für die auffällige Beschränkung der umfangreichen Auseinandersetzung gerade auf diese Theoriestücke aus ETH. I dürfte erneut in dem Einfluss der tennemannschen Interpretation bestehen. Denn für den Gießener Philosophiehistoriker kommt einerseits dem Lehrsatz 5 konstitutive Bedeutung zu, und zwar für das Scheitern des gesamten Systems Spinozas;851 und genau diese Kritik an Lehrsatz 5 und seiner fundierenden Stellung im »metaphysischen System des Spinoza«852 versucht auch Büchner zu begründen. Andererseits beendet Tennemann seine Übersetzung der Ethik mit dem Text des Beweises von Lehrsatz 15 und begründet dies damit, dass bis zu jenem Deduktionsschritt die wichtigsten Bestimmungen geleistet seien, so dass der Rest von Buch 1 auch hinreichend paraphrasiert werden könne.853 Mit dieser auf Tennemanns Einfluss zurückzuführenden Schwerpunktsetzung auf die Analyse und Interpretation

|| 847 Zu den Axiomen der Ethik, deren begriffliche Bestimmtheit nicht erläutert wird, vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 427. 848 Vgl. ebd., I, S. XLVIIf. sowie Erdmann 1932, S. 82ff. 849 Zu Leibniz vgl. Wolff 1986; zu Spinoza vgl. Stiening 2002a. 850 Vgl. ETH. II, prop. 40, schol. 2 (Spinoza 1999, S. 180ff.) sowie Feuerbach 1990, S. 310f.; Bartuschat 1993, S. 97ff. 851 Vgl. dazu Tennemann 1798–1819, X, S. 467. 852 Ebd., S. 462. 853 Ebd., S. 438. Sowohl Tennemann als auch Büchner scheinen hiermit allerdings einem Irrtum aufzusitzen, denn auch für ihre eigene Interpretation müssen sie auf die konstitutiven Lehrsätze 26 und 28 zurückgreifen (vgl. hierzu Schnepf 2006), weil erst in diesen der Versuch einer Ableitung der Endlichkeit aus der unendlichen Substanz unternommen wird. Dem Vorurteil, mit Lehrsatz 15 von Buch 1 sei der Grundzug der spinozanischen Systematik entfaltet, leisten beide Interpreten Vorschub. Vgl. dagegen die Studie von Bartuschat 1993, in der beispielsweise die besondere Funktion des Lehrsatzes 16 präzise herausgearbeitet wird.

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der Lehrsätze 5 bis 15 setzt sich Büchner – ihm selbst nicht bewusst – erneut von den idealistischen Spinoza-Kommentaren der 1830er Jahren ab, die u. a. größten Wert auf eine angemessene Rekonstruktion der Substanz als causa sui legten. Insbesondere dieser Begriff und seine Bestimmung fesselten sowohl Schelling854 als auch Feuerbach;855 sie sahen in ihm eine der bedeutenden Leistungen der Logik und Metaphysik Spinozas. Am deutlichsten ist aber auch hier Hegel: Die erste Definition ist die Ursache seiner selbst. […] Die Einheit des Gedankens und der Existenz ist sogleich von vornherein aufgestellt (das Wesen ist das allgemeine, der Gedanke); um diese Einheit wird es sich ewig handeln. Causa sui ist ein wichtiger Ausdruck. Wirkung wird der Ursache entgegengesetzt. Die Ursache seiner selbst ist die Ursache, die wirkt, ein Anderes separiert; was sie aber hervorbringt, ist sie selbst. Im Hervorbringen hebt sie den Unterschied zugleich auf; das Setzen ihrer als eines Andren ist der Abfall und zugleich die Negation dieses Verlustes. Es ist dies ein ganz spekulativer Begriff.856

Erneut ist Büchner von solchen Überlegungen weit entfernt; schon die Reflexion auf einen Zusammenhang zwischen Gottesbeweis und causa sui-Begriff gelingt ihm nicht.857 Er verbleibt in den von Tennemanns Kantianismus vorgegebenen Bahnen. Die folgende Rekonstruktion der Kommentare zu ETH. I, prop. 5–15 wird diejenigen drei Schwerpunkte der Analyse und Interpretation nachzeichnen, die Büchner selber setzt (prop. 5, prop. 11 und prop. 15), weil diese zugleich drei wesentliche Widerlegungsstrategien ausführen.

2.2.3.1.1 Kommentar zu Lehrsatz 5: Unhaltbar! Büchner beginnt seine kritische Analyse von ETH. I mit der Auseinandersetzung um die in Lehrsatz 5 entwickelte Bestimmung: In rerum natura non possunt dari duae aut plures substantiae ejusdem naturae sive attributi.858

Spinoza verfolgte mit dieser eng mit dem vorhergehenden Lehrsatz 4 verbundenen Bestimmung das gegen Descartes gerichtete Ziel, die Möglichkeit einer Zuschreibung identischer Bestimmungen zu verschiedenen Substanzen auszuschließen.859 Besondere Aufmerksamkeit erhielt dieser Lehrsatz seitdem in vielerlei Hinsicht: Schon Leibniz hat die Konsistenz dieses Theorems mit Nachdruck bestritten.860 He-

|| 854 Schelling 1985, IV, S. 451, S. 453 u. ö. 855 Feuerbach 1990, S. 333–338. 856 Hegel 1986, XX, S. 168; vgl. hierzu auch Düsing 1992, S. 171f. 857 Vgl. hierzu auch die zutreffende Analyse bei Osawa 1999, S. 52. 858 ETH. I, prop. 5 (Spinoza 1999, S. 10). 859 Zur Descartes-Kontroverse gerade in diesem Lehrsatz vgl. Cramer 1977, S. 527–544. 860 Vgl. dazu Leibniz 21966, I, S. 361: »Fünfter Lehrsatz: [...] Hier liegt, wie mir scheint, ein Fehlschluß vor. Denn es können sich zwei Substanzen durch ihre Attribute voneinander unterscheiden

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gel sieht den Gehalt von prop. 5 zwar als Konstituens im Beweisgang zur Einzigkeit der Substanz, bezeichnet den Beweis selber aber als »mühselige, unnütze Quälerei«.861 Feuerbach hält prop. 5 für grundlegend auf dem Weg zum substanziellen Monismus,862 wohingegen Erdmann keine ausführlichen Einlassungen zum Lehrsatz 5 und seiner Stellung im Beweisgang des ersten Teils der Ethik bietet, weil für ihn alle Bestimmungen der Metaphysik schon in den Definitionen und Axiomen enthalten sind.863 Selbst die neuere Forschung zu Spinozas Philosophie hat sowohl die Gültigkeit dieses Lehrsatzes bezweifelt864 als auch seine konstitutive Bedeutung für das Beweisziel des ersten Buches der Ethik, nämlich die Einzigkeit der Substanz Gottes, herauszuarbeiten versucht.865 Büchner ist hier also tatsächlich einem wichtigen Begründungsschritt und -problem der Metaphysik Spinozas auf der Spur. Entscheidend ist, dass die Argumente gegen die Haltbarkeit des Lehrsatzes nicht eine systemimmanente bzw. logische Kohärenzüberprüfung ausführen oder gar die Auseinandersetzung mit Descartes berühren, sondern gewissermaßen ›transzendentalphilosophische‹ Einwände formulieren, die unübersehbar auf den Interpretationen Tennemanns basieren. Zur Widerlegung der Bestimmung einer eindeutigen Zuordnung jedes Attributs zu genau einer Substanz setzt Büchner in zwei Schritten an: Der Satz [d. i. Lehrsatz 5] beweist nur, daß wir 2 Dinge von gleichen Eigenschaften, wenn wir sie successive betrachten (um die Sache von der sinnlichen Seite zu nehmen) nicht von einander unterscheiden können, wir können aber dennoch wissen daß es 2 sind, wenn wir beide zugleich sehen.866

Dieses scheinbar rein empirische Argument rekurriert implizit – vermittelt über Tennemann – auf ein Theorem Kants. Denn dieser hatte im so genannten ›Amphiboliekapitel‹ der Kritik der reinen Vernunft gezeigt, dass ein Gegenstand als Erscheinung, wenn er uns »mehrmalen, jedesmal aber mit ebendenselben inneren Bestimmungen, (qualitas et quantitas), dargestellt wird«, nicht »Ein Ding [...], sondern, so sehr in Ansehung derselben [Erscheinung] alles einerlei sein mag, doch die Verschiedenheit der Oerter dieser Erscheinung zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund

|| lassen, und dennoch irgendein gemeinsames Attribut haben, wenn sie nur neben diesem noch andere, ihnen eigentümliche Bestimmungen besitzen: wenn also z. B. der Substanz A die Bestimmungen c und d, der Substanz B die Bestimmungen d und e zukommen.« 861 Hegel 1986, XX, S. 173. 862 Feuerbach 1990, S. 308. 863 Erdmann 1933, S. 55. 864 So Cramer 1966, S. 58 unter Reproduktion des leibnizschen Arguments. 865 Cramer 1977, S. 531: »Lehrsatz 5 kommt somit innerhalb des Gedankengangs, mit dem Spinoza das Prinzip des Spinozismus zu begründen unternommen hat, zentrale Bedeutung zu.« 866 P II, S. 28418–22/MBA IX.2, S. 724–28.

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der numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst« ist.867 Genau diese Ableitung führt auch Büchners These aus, deren Geltung allerdings eingeschränkt wird, da »sich hier aber Alles auf die Substanz allein« beziehe,868 die nach Spinoza der Anschauung unmittelbar nicht zugängig ist. Dass der angehende Philosophiehistoriker tatsächlich auf dieses kantische Theoriestück – und zwar vermittelt über Tennemann869 – zurückgreift, eröffnet der folgende Absatz seines Kommentars, der die Differenzierung von »UnterscheidenKönnen« und »Denken« einer Substanz einführt. Dabei gesteht Büchner zwar zu, dass man zwei Substanzen mit denselben Attributen nicht unterscheiden könne, doch ließen sich solche Entitäten als unterschiedene doch durchaus noch denken. Terminologisch basiert diese Distinktion auf der kantischen Unterscheidung von reiner und empirischer Verstandeserkenntnis, die Tennemann ebenfalls auf den Lehrsatz 5 anwendet, was u. a. von Feuerbach – allerdings kritisch – rekonstruiert wird.870 Doch gelangte Tennemann zu einem von Büchners Ableitung abweichenden Resultat.871 Auf der Grundlage der von Kant im ›Amphiboliekapitel‹872 entwickelten Kritik des leibnizschen Prinzips der Identität des Nichtzuunterscheidenden,873 das zwar für eine reine Verstandeserkenntnis, mithin für die Dinge an sich, nicht aber für den Bereich der Erscheinungen und damit der empirischen Verstandeserkenntnis Gültigkeit habe, meint Tennemann dem Lehrsatz 5 die Kohärenz absprechen zu können: Außerdem liegt auch noch in dem fünften Satze ein anderer Fehlschluß verborgen, der mit dem Wesen des rationalen Dogmatismus ebenfalls sehr enge zusammenhängt, und aus welchem Leibnitzens Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden herfloß. [...] Dieser Beweis stützt sich auf den Grundsatz, daß dasjenige, was nicht unterschieden wird, auch nicht verschieden ist und was nicht verschieden ist, eine und dieselbe Sache ist, welches in der Sphäre des Denkens, aber nicht für die Objectenwelt gilt. 874

|| 867 KrV B 319; Hvhb. von mir. 868 P II, S. 28424f./MBA IX.2, S. 739f.. 869 Es darf als gesichert gelten (vgl. Stiening 2000–04, S. 214; Roth 2004, S. 202; Stiening 2005, S. 264; Heinz 2006, S. 249), dass Büchner die kantische Herkunft des tennemannschen Arguments, das er noch einmal direkt zitiert (P II, S. 35212–17), unbekannt war. Trotz der Lektüre der Studie von Kiesewetter 1824 kann eine dezidierte Kant-Kenntnis Büchners ausgeschlossen werden, was schon die fehlende Unterscheidung von Verstand und Vernunft andeutete. 870 Vgl. hierzu Feuerbach 1990, S. 310f. 871 Vgl. dazu die von Büchner (P II, 35217–36/MBA IX.2, S. 15324–40) zitierte Passage aus Tennemann 1798–1819, X, S. 467. 872 KrV B 319f., B 327f., B 337f. 873 Vgl. hierzu auch MBA IX.2, S. 270f. 874 Tennemann 1798–1819, X, S. 467.

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Büchner geht es mit seiner Anbindung an diese tennemannsche Passage, die er in seiner Zusammenfassung gegen Ende der Vorlesung sogar zitiert,875 insbesondere um die Widerlegung eben jenes Übergangs von einem Nicht-Unterscheiden-Können zur daraus abgeleiteten Identitätsbehauptung. Die Unmöglichkeit dieser Ableitung gilt für ihn grundsätzlich, d. h. auch im Bereich reiner Begriffsentwicklungen – ohne Rekurs auf die Eigenständigkeit der Bedingungen sinnlicher Anschauung:876 Spinoza verwechselt das unterscheiden und das sich denken können nach den vorhergehenden Sätzen können wir uns noch immer 2 Substanzen von gleicher Natur von denen jedes durch sich selbst begriffen wird, als nebeneinander existierend denken.877

Nicht nur aufgrund der nur mittelbaren Kenntnis der Kritik der reinen Vernunft, sondern insbesondere aufgrund der vorwiegend empiristischen Perspektive der büchnerschen Argumentation, die schon im Zusammenhang des cartesischen Ego auffällig war,878 dürfte die eigenwillige Anbindung des über Tennemann vermittelten kantischen Arguments zustande gekommen sein. Für Büchner ist mit diesem Einwand allerdings die Gültigkeit des in Lehrsatz 5 entwickelten Theorems aufgehoben und damit die gesamte Systemkonzeption Spinozas brüchig geworden; noch in der Anmerkung zu Lehrsatz 15 hält der Interpret fest: Gibt man einmal Spinoza die Unendlichkeit der Substanz zu, so muß man auch das Übrige zugestehen, diese Unendlichkeit beruht aber auf der 5. Prop. nämlich darauf, daß es keine 2 gleichen Substanzen gäbe, weil man sie nicht voneinander unterscheiden könne, weil sie dann indem sie sich gegenseitig begrenzen in Eins zusammenfließen würden. Dies nicht unterscheiden Können berechtigt aber doch nicht zu dem Schluß, daß es nicht in der Wirklichkeit so sein und daß wir es uns nicht denken könnten. Dies Unterscheiden bezieht sich bloß auf einen körperlichen aber nicht auf einen geistigen Akt, der Geist kann ja noch immer die Trennung machen, wenn es auch das körperliche Auge nicht im Stande ist. Auf dem transzendenten Standpunkte fragt es sich bloß, können wir uns 2 oder mehrere gleiche Substanzen nebeneinander denken und Spinoza gibt keinen Grund an der diese Möglichkeit unmöglich machte.879

Wie ein Teil der Spinoza-Forschung880 des 20. Jahrhunderts schreibt Büchner diesem Lehrsatz 5 aus ETH. I eine aus den Definitionen und Axiomen nicht ableitbare und daher selbst axiomatische Stellung zu, dessen Inkonsistenz das gesamte metaphysische Theoriegebäude zum Einsturz bringe. Mehrfach881 rekurriert er auf die Unhalt|| 875 Vgl. P II, S. 35217ff./MBA IX.2, S. 15324ff.. 876 Hierin unterscheidet sich Büchner wiederum von Kants Argumentation; vgl. KrV B 326f. 877 P II, S. 28435–2852/MBA IX.2, S. 733–37. 878 Vgl. hierzu Büchners Interpretation des cartesischen ›Ich‹ in P II, S. 19237–1935/MBA IX.2, S. 5910–14. 879 P II, S. 30427–3057/MBA IX.2, S. 217–20. 880 Vgl. dazu den Aufsatz von Cramer 1977, S. 531ff. 881 Vgl. P II, S. 2867 u. 12f., S. 29111f., S. 2981, S. 29829–31, S. 30429, u. ö.

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barkeit bestimmter Deduktionen aus der Fehlerhaftigkeit der in Lehrsatz 5 entfalteten Bestimmung: »Da Proportion 5. falsch ist, kann ich auch den aus ihr abgeleiteten Grund nicht anerkennen; [...].«882 Büchners Beweisziel bei der Widerlegung der Konsistenz des Lehrsatzes 5 und der aus ihm deduzierten Bestimmungen liegt unübersehbar in einer Destruktion der spinozanischen Demonstration der Einzigkeit der Substanz (prop. 14 und 15) und der damit verbundenen Existenz Gottes (prop. 11). Diese Betonung der konstitutiven Stellung und Inkonsistenz jenes Lehrsatzes stellt Büchner deutlich in die Tradition der tennemannschen Spinoza-Interpretation, die sich der leibnizschen Einwände in ihrer kantischen Verfeinerung bediente. Von Feuerbach aber, erst recht von Hegel oder Erdmann unterscheidet diese These Büchner jedoch, weil die idealistischen Interpreten an einer Widerlegung der Einzigkeit der Substanz wenig systematisches Interesse haben konnten.883 Doch ebendiese Widerlegung der Beweisbarkeit des Daseins Gottes steht im Zentrum der beiden weiteren thematischen Schwerpunkte von Büchners Analyse.

2.2.3.1.2 Kommentar zu Lehrsatz 11: Das ontologische Argument und das principium rationis sufficientis Dies zeigt sich in den Kommentaren zum Lehrsatz 11 und dessen insgesamt drei Demonstrationen, in denen Spinoza zunächst die Existenz der Gottessubstanz, die an diesem Deduktionsschritt noch nicht als einzige bewiesen sein soll,884 belegt: Deus sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.885

Spinoza beweist diesen Lehrsatz in drei verschiedenen Ansätzen: Im ersten, apriorischen Beweis bemüht er das ontologische Argument,886 im zweiten beweist er die || 882 P II, S. 29615f./MBA IX.2, S. 1522. 883 Vgl. hierzu u. a. Düsing 1992; Bartuschat 2007. 884 Vgl. dazu Bartuschat 1993, S. 42ff. 885 ETH. I, prop. 11 (Spinoza 1999, S. 20ff.). 886 Vgl. dazu Röd 1977, S. 84–100. Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich darüber diskutiert werden, ob Spinoza in diesem Beweis tatsächlich das ontologische Argument in reiner Form verwendet. Vieles spricht – entgegen der Annahme Röds – dafür, dass Spinoza nicht nur an dieser Stelle den ontologischen Gottesbeweis auf seine Kausalitätskonzeption gründet, wie es hier in ETH. I, prop. 11, demo. 1 durch den Rückgriff auf den Lehrsatz 7, der die apagogische Beweisführung stützen soll, deutlich wird, da in jenem Lehrsatz die Identität von Wesen und Existenz für die Substanz nicht durch den Vollkommenheitsbegriff, sondern mit Hilfe der causa sui begründet wird; vgl. hierzu ausführlich Stiening 2002a. Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch allein, dass Büchner in diesem ersten Beweis von Lehrsatz 11 das ontologische Argument wiederzufinden meint: »Dieser Beweis läuft so ziemlich auf den hinaus, daß Gott nicht anders als seiend gedacht werden könnte.« (P II, S. 29122f./MBA IX.2, S. 1217f.).

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Existenz Gottes aus der uneingeschränkten Gültigkeit einer bestimmten Version des principium rationis sufficientis und im dritten führt er einen aposteriorischen Beleg an, dem er allerdings keine eigenständige Beweiskraft beimisst. Wie schon bei Descartes setzt sich Büchner auch hier dezidiert mit allen drei Beweisen auseinander.887 Dem ontologischen Gottesbeweis entgegnet er mit zwei Argumenten: Zwar sei man »durch die Lehre von dem, was in sich oder in etwas Anderm ist, freilich gezwungen auf etwas zu kommen, was nicht anders als seiend gedacht werden kann«.888 Doch bestehe kein zureichender Grund dafür, »aus diesem Wesen das absolut vollkommne, Gott, zu machen«.889 An dieser Stelle wird deutlich, warum Büchner schon im Zusammenhang der Descartes-Vorlesung den Versuch unternahm, Semantik und Systematik der rationalistischen Kategorie der »Vollkommenheit« zu destruieren.890 Mit ihr zerfiele auch die Möglichkeit für den ontologischen und – so Büchners Spekulation – für jeden Gottesbeweis. Schon aus dieser Anmerkung ist abzulesen, dass Büchner aus der in Axiom 1 entwickelten Subsistenz- und Inhärenz-Theorie Spinozas den Beweis für eine notwendige Existenz abgeleitet sieht, weshalb er im dritten Teil des Manuskripts dieses Axiom als den Anfang des ganzen Systems bestimmt: Das ganze System fängt eigentlich mit dem […] I Axiom an: Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt.891

Darüber hinaus verbindet der angehende Philosophiehistoriker mit dem Begriff der Vollkommenheit ausschließlich die moralische Bestimmungsvariante »des Deismus«, wie er später explizit ausführt.892 Die spinozanische Definition der Vollkommenheit, »[p]er realitatem et perfectionem idem intellego«,893 scheint Büchner entweder nicht zur Kenntnis genommen zu haben894 oder sie als unsinnig zu verwerfen, || 887 Zum Folgenden vgl. schon in Ansätzen Kobel 1974, S. 112ff.; Taylor 1995, S. 56ff. sowie MBA IX.2, S. 266–269. 888 P II, S. 29126–28/MBA IX.2, S. 1243–46. 889 P II, S. 29129f./MBA IX.2, S. 1246. 890 Vgl. hierzu P II, S. 26126–29/MBA IX.2, S. 11540–1162. 891 P II, S. 3514–6/MBA IX.2, S. 15217–20. 892 P II, S. 29524f./MBA IX.2, S. 152f.. 893 ETH. II, def. 6 (Spinoza 1999, S. 100); vor dem Hintergrund dieses einfachen Textbefundes kann es nur irritierend anmuten, dass Morawe 2013, S. 149f. meint: »Das Unendliche lässt sich im Rahmen des spinozistischen Systems beweisen; das Vollkommene nicht.« Spinoza war da anderer Meinung. 894 Und dies, obwohl schon in ETH. I, prop. 11, demo. 3, schol. die Identität von Realität und Vollkommenheit angedeutet wird, wenn Spinoza schreibt: »Res enim, quae a causis externis fiunt, [...] quicquid perfectionis, sive realitatis habent, id omne virtuti causae externae debetur, [...].« (Spinoza 1999, S. 26). Büchner übersetzt diese Passage folgendermaßen: »Denn Dinge, welche von äußeren Ursachen hervorgebracht werden, [...] mögen sie noch so viel Vollkommenheit oder Realität haben,

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weil er schon in der Descartes-Vorlesung eine auch nur mögliche – sei es analytische, sei es synthetische – Verbindung von Sein und Vollkommenheit widerlegt hatte.895 Aussagekräftig an Büchners Fokussierung des Vollkommenheitsbegriffs auf moralische Perfektion ist, dass Spinoza mit der oben zitierten Definition zunächst die omnitudo realitatis meint, die zwar moralische Güte einschließt,896 sich jedoch keineswegs auf diese beschränkt. Das Vollkommenheitsargument im Gottesbeweis bezieht sich bei Spinoza insbesondere auf den Ausschluss aller logischontologischen Negativität aus der Gottessubstanz als absoluter Affirmation897 und steht daher mit dem Satz des Widerspruchs in enger Verbindung; eine Ableitung, die der Kommentator Büchner allerdings nur bedingt nachvollzieht, wenn er zum dritten Beweis von Lehrsatz 11 schreibt: Dieser Satz zeigt, daß das Vollkommne absolut dasein müsse, weil sein Dasein nicht gegen seinen Begriff streitet, während das Unvollkommne oder Endliche sehr wohl als nicht existierend gedacht werden könne. Wolle man also behaupten, das Endliche existiere notwendigerweise so müßte man dies von dem Unendlichen noch viel eher zugeben.898

Büchner geht es bei seiner Auseinandersetzung mit dem spinozanischen Vollkommenheitsbegriff aber nicht um systeminterne Kohärenzüberprüfungen, sondern zunächst und zumeist um die Widerlegung einer Beweisbarkeit der Existenz Gottes als moralisch vollkommener Instanz. Das zeigt sich noch bei einem Kommentar zum dritten Beweis des Lehrsatzes 11, wenn er zum Substanzbegriff Spinozas anführt: Sie [die Substanz] ist für ihn die Weltursache, worin Alles ist; sie ist ewig und unendlich, – aber sie ist nicht Gott, sie ist nicht das absolut vollkommne, moralische Wesen des Deismus, – sie ist nichts anderes als jeder Atheist selbst, wenn er einigermaßen konsequent verfahren will, anerkennen muß.899

|| so verdanken sie das Alles der Kraft der äußeren Ursache« (P II, S. 29417–21/MBA IX.2, S. 1414–17). Diese Übersetzung hat jedoch nicht zu einer angemessenen Bestimmung des spinozanischen Vollkommenheitsbegriffs durch Büchner geführt. 895 Vgl. erneut P II, 26126–29/MBA IX.2, S. 11540–1162; vor dem Hintergrund dieses Befundes muss Henri Poschmanns Versuch (vgl. P II, S. 1027f.), Spinozas praktischen Vollkommenheitsbegriff gegen das angeblich »von Tennemann festgeschriebene idealistisch gefilterte Spinoza-Bild« (ebd., S. 1027) an Büchner anzunähern (auch noch durch die völlig absurde Verbindung dieser perfectioKonzeption Spinozas an »materielle Bedingungsfaktoren«) als in mehrfacher Hinsicht verfehlt bezeichnet werden. Büchner will sich des Begriffs der Vollkommenheit grundsätzlich entledigen. 896 ETH. I, prop. 32 (Spinoza 1999, S. 66ff.). 897 ETH. I, def. 6, schol. u. prop. 8, schol. 1 (Spinoza 1999, S. 6 u. S. 14); zu Gehalt und Bedeutung dieser Negation aller Negativität im ens perfectissimum vgl. Hegel 1986, XX, S. 170ff.; Feuerbach 1990, S. 321; Erdmann 1933, S. 58. 898 P II, S. 29434–2952/MBA IX.2, S. 1426–31. 899 P II, S. 29523–27/MBA IX.2, S. 151–5.

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Anhand dieser Gleichsetzung der auf die Bestimmung der causa prima fokussierten Substanzkonzeption Spinozas mit einem kausal-deterministischen Atheismus soll zunächst nur die Ableitungsmöglichkeit der moralischen Vollkommenheit aus dieser so definierten Instanz destruiert werden. Büchners zweites Argument gegen den gesamten ontologischen Gottesbeweis geht allerdings einen Schritt weiter: Denn als Entgegnung auf die von Spinoza in def. 6 von ETH. I geleistete Bestimmung Gottes führt er das folgende Argument an: Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, so muß man auch das Dasein Gottes zugeben. Was berechtigt uns aber, diese Definition zu machen? Der Verstand? Er kennt das Unvollkommne. Das Gefühl? Es kennt den Schmerz.900

Die für das ontologische Argument konstitutive Annahme der absoluten Vollkommenheit Gottes, d. h. seine absolute, alle Negativität ausschließende Positivität,901 wird nach Büchner durch das rational ermittelbare Faktum der Unvollkommenheit und das empirisch wahrnehmbare Phänomen des Schmerzes deshalb problematisch, weil die unendliche Gottesinstanz als causa prima zugleich das von ihr kontradiktorisch Unterschiedene, das Endliche, bewirken können soll.902 Unter der Voraussetzung der schon von Tennemann analysierten wesentlichen Identität von Ursache und Wirkung903 in der Kausalitätskonzeption Spinozas muss daher entweder das vom menschlichen Erkenntnis- und Empfindungsvermögen Ermittelte aufgrund seiner Negativität zum Schein oder aber die Definition Gottes als absolute Vollkommenheit und damit der ontologische Beweis für nichtig erklärt werden. Eben letzteres ist Büchners Intention, dessen spezifische Zielrichtung durch einen Vergleich seiner Argumentation mit der berühmten Aussage Thomas Paynes in dem Philosophengespräch aus Danton’s Tod erkennbar wird: Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstriren, Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.904

Schon für die Dramenfigur Payne konnte der Verstand nur unter der Prämisse einer Verleugnung des Unvollkommenen Gott beweisen und scheiterte dennoch am Ge-

|| 900 P II, S. 29131–2921/MBA IX.2, S. 1221–27. 901 ETH. I, def. 6, expl. (Spinoza 1999, S. 6). 902 Zu einer ähnlichen Kritik vgl. Schelling 1985, IV, S. 453. 903 Vgl. dazu Tennemann 1798–1819, X, S. 466 u. S. 472ff. 904 P I, S. 5811–16/MBA III.3, S. 4921–25; vgl. dazu auch Kahl 1982, S. 99–125; Forssmann 1992, S. 143ff.; Dedner 2002, S. 304ff. sowie Stiening 2002, S. 54f.

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fühl des Schmerzes, das an einem ›emotionalistischen Atheismus‹ festzuhalten erlaubte. Der wesentliche und für die Bedeutung des Spinoza-Manuskripts konstitutive Unterschied zu Danton’s Tod besteht jedoch darin, dass der Schmerz hier nicht als Beweis der Inexistenz Gottes fungiert, sondern als Beleg der NichtDemonstrierbarkeit dieser Existenz.905 Verstand und Gefühl liefern im Herbst 1836 nur noch Argumente gegen die Berechtigung, d. h. Gültigkeit »diese[r] Definition«, nicht aber gegen die Existenz Gottes selbst. Hinsichtlich der Inexistenz Gottes können jedoch auch sie keinerlei Beweise liefern.906 Als Fels des Atheismus hat das Gefühl des Schmerzes, das gleichwohl grundlegend für die Widerlegung des ontologischen Arguments bleibt, für den Philosophiehistoriker Büchner abgedankt.907 Nicht zufällig wird daher im Woyzeck der »dogmatische Atheist« einer parodistischen Kritik unterzogen.908 Dass diese Argumentation allerdings nicht zur Restitution einer affirmativen Glaubensvorstellung führt,909 bedarf bei dem Furor der Gotteswiderlegung keiner eigenständigen Begründung: Im Spinoza-Skript erweist sich Büchner mithin als emotionalistischer und rationalistischer Agnostizist.

|| 905 Hans Mayer 1972 verhält sich zu dieser Fragestellung eher ambivalent, wenn er S. 349 zunächst formuliert: »Rationale Erkenntnis Gottes oder Atheismus – das eine oder das andere. Eine Teil- oder Zwischenlösung kann es für Büchner nicht geben.« Zugleich behauptet er S. 354: »Büchner selbst verhält sich, bei aller Anteilnahme doch gleichzeitig auch ironisch-reserviert zu seinen streitenden Geschöpfen, die die Gottlosigkeit ›nötig haben‹ wie andere den Gottesglauben.« Vgl. auch Vietta 1979, S. 418 u. S. 425f. 906 Mit der nötigen philosophiehistorischen Sorgfalt – allerdings zum Behuf eines Nachweises der Distanz Büchners zum Atheismus seiner Dramenfigur und damit einer theologischen BüchnerDeutung – hat schon Kobel (1974, S. 111–121; vgl. auch Jancke 31979, S. 250) die systematische Differenz der Argumentationsstrategie beider Passagen herausgearbeitet. Untergegangen sind diese Ergebnisse allerdings in der Forschung, weil die Meinungsführer des polithistorischen Paradigmas, die an Büchners Auseinandersetzungen mit Spinozas rationaler Theologie nur wahrnehmen können, dass er »Spinozas Definition und Beweis Gottes für scholastischen Unsinn« (Mayer 1979b, S. 348) erklärt habe. Aber zwischen emotionalistischem Atheismus und rationalem Agnostizismus ist jene substanzielle Differenz zu konstatieren, die die Argumentationsbewegungen beider Passagen ausmacht. Die Unlust bzw. Unfähigkeit, zwischen Payne und Büchner als Philosophiehistoriker zu unterscheiden, reicht bis in die Kommentare der historisch-kritischen Ausgabe (vgl. MBA III.4, S. 169; MBA V, S. 481; MBA IX.2, S. 268) oder neuere, Büchner als atheistischen Modernitätskritiker beanspruchende Interpretationen, vgl. Morawe 2013, S. 167ff., der den argumentationslogischen Gehalt der Passage schlicht verfälscht. 907 So zu Recht Jancke 31979, S. 250; vgl. hierzu auch die Kritik bei Mayer 1979b, S. 346. 908 P I, S. 19328ff./MBA VII.2, S. 1430ff.; tatsächlich arbeitete Büchner an beiden Texten (SpinozaSkripten, Woyzeck) gleichzeitig; MBA VII.2, S. 470 stellt allerdings keinerlei Verbindung zu Büchners eigenen Reflexionen im Spinoza-Skript an, sondern verweist lieber auf die ganz unwahrscheinliche Quelle Immanuel Kant; vgl. dagegen schon Mayer 1979a, S. 220; Mayer 1979b, S. 405 und Kahl 1982, S. 103. 909 So aber – ohne jede philosophische oder philosophiehistorische Reflexion auf Büchners Texte – u. a. Wittkowski 1976; Wittkowski 1989; Wagner 2000 sowie Kurzke 2013, S. 263ff.

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Auch die Auseinandersetzung mit dem zweiten Beweis des Lehrsatzes 11 eröffnet die gegenüber Paynes Deduktionen in Danton’s Tod modifizierte Stoßrichtung der Argumentation.910 In diesem Beweis versucht Spinoza, die Existenz Gottes aus einer bestimmten Version des Satzes vom zureichenden Grunde zu belegen,911 nach welcher alle qualitativen und quantitativen Bestimmungen einer Folge in ihrem Grund analytisch enthalten sein müssen, um nicht irgendeine Bestimmung aus dem Nichts zu erhalten und damit unbestimmt zu sein.912 In diesem Falle, einer innerweltlichen creatio ex nihilo, die Büchner schon bei Descartes abgewehrt sah,913 wäre nicht nur die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch gefährdet, sondern auch diejenige des principium rationis sufficientis einschränkt,914 wenn nicht gar vollständig negiert. Aus der konsequenten Anwendung des Satzes vom Widerspruch915 auf den Satz des Grundes916 folgert Spinoza, dass auch für die Inexistenz einer Entität der Grund in ihrem Begriffe zu suchen sein muss, indem er notwendigerweise einen Widerspruch enthalten müsse.917 Als Beispiel wählt Spinoza die Vorstellung eines viereckigen Kreises, die einen Widerspruch enthält, weshalb deren Gegenstand inexistent sei.918 Die wichtigste Konsequenz aus dieser Konzeption besteht nach Spinoza darin, dass Gott nur dann als inexistent gedacht werden könne, wenn sein Begriff einen Widerspruch enthielte. Als absolute Affirmation schließt die Gottessubstanz jedoch per definitionem jeden Widerspruch, der als Unvollkommenheit Negativität inhäriert, von sich aus und existiert daher qua apagogischem Beweis notwendig. Büchners bemerkenswerte Entgegnung entwirft nun die Infragestellung der Möglichkeit eines Begründungsverhältnisses zwischen Widerspruch und Inexistenz:

|| 910 Keineswegs also handelt Büchner den zweiten Beweis »schnell ab«; so aber MBA IX.2, S. 266. 911 Zur Problematik dieser analytischen Version des Satzes vom Grunde vgl. Stiening 2002a und Stiening 2002b sowie schon Tennemann 1798–1819 X, S. 472ff.; insbesondere aber Wolff 1986, S. 89–114. 912 Vgl. dazu auch die Argumentation bei Tennemann 1798–1819, X, S. 472ff., spez. S. 474. 913 P II, S. 18223ff./MBA IX.2, S. 511ff.; zu dieser Descartes und Spinoza gemeinsamen Geltung des Grundsatzes ex nihilo nihil fit, vgl. auch explizit Sigwart 1816, S. 113f. 914 Wenn ich richtig sehe, machen vor allem Röd 1985, S. 89–111, spez. S. 106f. und Della Rocca 2006, S. 18 auf das principium rationis sufficientis als prägende Voraussetzung der spinozanischen Metaphysik aufmerksam. 915 Den Büchner in einem späteren Teil des Manuskripts (P II, S. 3514–7) auch tatsächlich als Grundsatz des Spinozismus interpretiert. 916 Ein von Hegel (Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie) gegen Jacobi formulierter Einwand trifft insofern auch und zunächst auf Spinozas Metaphysik zu, wenn er schreibt, Jacobi begreife »den Satz des Grundes als reinen Satz des Widerspruchs« (Hegel 1986, II, S. 336); vgl. hierzu auch Röd 2002, S. 191 sowie Stiening 2002a, S. 67f. 917 Vgl. hierzu auch die präzise Rekonstruktion bei Röd 2002, S. 189. 918 ETH. I, prop. 11, demo. 2: »Cujuscunque rei assignari debet causa, seu ratio, tam cur existit, quam cur non existit.«

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Es ist falsch, daß es für das nicht Vorhandensein eines Dinges einen besondern Grund geben müßte; da aus etwas unmöglich nichts werden kann, so ist es auch unmöglich, daß ein Ding durch irgend etwas anderes an seinem Dasein absolut verhindert werden könnte. Für ein absolutes Nichts ist kein Grund oder keine Ursache möglich, denn wäre dies der Fall, so müßten Grund oder Ursache die Vernichtung eines Dinges bewirken, was unmöglich ist. Das Nichts kann keine Wirkung seyn, weil es als der absolute Gegensatz des Seins, etwas Seiendes nicht zur Ursache haben kann.919

Der Interpret bestreitet mithin zunächst, dass das fieri im absoluten Grundsatz des Rationalismus, dem a nihilo nihil fit, eine begründende und damit in Spinozas System kausale Relation implizieren könne. Das Nichts kann sich generell weder zu Etwas noch zu Nichts als Ursache oder als Wirkung verhalten.920 Dass diese Problematik der strengen Anwendung des Satzes vom zureichenden Grunde (als Satz der Kausalität) auf den erzrationalistischen Grundsatz des a nihilo nihil fit tatsächlich begriffslogische Schwierigkeiten enthält und damit ein systematisches Problem freilegt, zeigt schon ein Blick in neuere philosophiegeschichtliche Forschungen zu Spinoza.921 Büchners Analyse zielt in ihrem ersten Teil auf den Nachweis ab, dass die Unmöglichkeit und daher Inexistenz von Widersprüchen in der Definition Gottes nicht als Grund seiner Existenz, mithin als Existenzbeweis fungieren könne.922 Gegenüber seiner Quelle Tennemann ist diese Reflexion auf die notwendige Folgenlosigkeit des Nichts durchaus eigenständig; es findet sich jedoch an dieser markanten Stelle die Spur einer Herbart-Lektüre, die die Forschung für diesen Teil des Manuskripts bisher ausgeschlossen hatte.923 Im Zusammenhang des spinozanischen Beispiels vom viereckigen Kreis, das auch Büchner betrachtet, schreibt Herbart in § 42 seiner Allgemeinen Metaphysik: Freylich wenn sogar der viereckige Cirkel wirklich etwas in sich trägt, obgleich er nicht ist, und das, was er in sich trägt, gerade der Grund seines Nichts-Seyns ist: wie sollte da nicht die Natur der Substanz etwas in sich tragen, nämlich ihr eigenes Seyn?924

|| 919 P II, S. 2932–12/MBA IX.2, S. 1315–24. 920 Vgl. dazu die von meinen Überlegungen grundsätzlich abweichenden, gleichwohl produktiven Argumente bei Taylor 1995, S. 231–246, spez. S. 236f. 921 Vgl. hierzu Engfer 1996, S. 134–157, spez. S. 138f. sowie Röd 2002, S. 191f. 922 Insofern ist der philosophisch und philosophiehistorisch unbedarften Studie von Wittkowski (1989, spez. S. 444ff.), die aus Büchners wissenschaftlicher Indifferenz gegenüber Gottesbeweisen Thesen »für Gottes Existenz« herausklauben will, nachdrücklich zu widersprechen. Aus Büchners energischen Versuchen der Geltungsdestruktion der Gottesbeweise ist eine »dogmatisch-apriorische Glaubensvoraussetzung« (ebd., S. 450) in keiner Weise abzuleiten, sondern vielmehr die wohlbegründete Hoffnung auf ein philosophisches Denken ohne Gottesinstanz. 923 Vgl. Bergemann 1922, S. 747; Mayer 1995–99a, S. 319. 924 Herbart 1828, I, S. 132; vgl. auch schon ebd., S. 15.

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Wie wir seit der Ausgabe von Poschmann wissen, hat Büchner genau diese Passage aus Herbart exzerpiert, in diesem Falle gar vollständig abgeschrieben.925 Die bei Herbart in die rhetorische Frage gekleidete Zurückweisung der Annahme einer Ursächlichkeit des Nichts kann Büchner zu jener weitergehenden Überlegung angeregt haben, dass das fieri der Formel ex nihilo nihil fit nicht als Grund-Folge- bzw. Ursache-Wirkungs-Verhältnis begriffen werden könne. Ideengeschichtlich sind diese Reflexionen auf die radikale Indifferenz des Nichts in logischer und ontologischer Hinsicht zwar selten, aber nicht originell;926 schon Christian August Crusius hatte gegen Christian Wolffs Versionen des Satzes vom zureichenden Grunde nachgewiesen, dass das Nichts in keinerlei Hinsicht – und damit auch nicht für die Inexistenz einer Entität – ein »determinierender Grund« sein könne.927 Auch Joseph Hillebrand hatte in seiner Propädeutik von 1826, deren logischer und naturrechtlicher Teil Büchner durch Vorlesungen bekannt war,928 gegen die hegelsche Formel von einer »Identität des Sein und des Nichts« festgehalten, dass ein »eigentliches Nichts, d. h. ein wirkliches Nichtseyn […] undenkbar« sei.929 Die daraus fällige Konsequenz, dass das Nichts auch keine internen Relationen ausbilden kann, seien sie logischer oder ontologischer Natur, zieht allerdings erst Büchner im Furor seiner Spinoza-Widerlegung. Die entscheidende Pointe der büchnerschen Überlegungen zu Spinozas Lehrsatz 11 besteht daher in einem zweiten Schritt darin, dass auch die Inexistenz Gottes nicht aus möglichen Widersprüchen zu beweisen sei: Wenn es Gründe gegen das Dasein Gottes gibt, so beweisen sie nicht, daß das als Gott definierte Wesen nicht existieren könne, sondern sie beweisen, daß wir durch nichts berechtigt sind, eine solche Definition zu machen.930

Diese philosophisch bedeutendsten Reflexionen des gesamten Spinoza-Manuskripts entwerfen zwei grundlegende Positionen: Zum einen führt – wie schon in der Anmerkung zu ETH. I, prop. 11, demo. 1 – die Widerlegung des Beweises vom Dasein Gottes nicht mehr zur Behauptung seiner Inexistenz (wie noch bei Payne in Danton’s Tod), sondern sie dient einzig zur These der Unbeweisbarkeit und damit Unhaltbarkeit der Existenzbehauptung. Die Argumentation steht unübersehbar in der über Tennemann vermittelten Tradition der kantischen Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen in der Kritik der reinen Vernunft,931 in der ebenfalls die theoreti-

|| 925 P II, S. 6206–10/MBA IX.2, S. 16116–20. 926 Falsch hierzu Stiening 2000–2004, S. 223. 927 Vgl. Crusius 1744, S. 50. 928 Vgl. hierzu den Exkurs weiter oben. 929 Hillebrand 1826, S. 291f. 930 P II, S. 29312–15/MBA IX.2, S. 1324–27. 931 Vgl. KrV B 611–619.

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sche Unbeweisbarkeit der Existenz Gottes entwickelt wird.932 Zum anderen aber lässt sich anhand dieser Passagen belegen, dass auch für Büchner der von Descartes und Spinoza als ewige Wahrheit bezeichnete Grundsatz des a nihilo nihil fit jene grundsätzliche Funktion und systematische Stellung innehatte, die schon Jacobi und nach ihm Sigwart und Erdmann für den Rationalismus behauptet hatten.933 In dieser grundlagentheoretischen Hinsicht ist Büchner kein Kritiker des Rationalismus,934 sondern dessen Parteigänger. Insbesondere aber anerkannte er den Satz des Widerspruchs als wichtigste Grundlage, mithin obersten Grundsatz des spinozanischen Rationalismus.935 Dass Büchner allerdings mit diesen zentralen Prämissen des Rationalismus schon länger bekannt war, eröffnet die bedrückende Reflexion Dantons, der den Tod ebenso ersehnt wie befürchtet: PHILIPPEAU. Was willst du denn? DANTON. Ruhe. PHILIPPEAU. Die ist in Gott: DANTON. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer! Die Schöpfung hat sich breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet.936

Danton quält hier die Angst vor der Unsterblichkeit, weil er ob seiner SeptemberMorde eine postmortale Aburteilung Gottes fürchten muss. Da er nicht zu nichts werden kann, verwünscht er die unbezweifelbare Geltung des rationalistischen Grundsatzes a nihilo nihil fit.937 Büchners Beschäftigung mit Philosophiegeschichte ist auch an dieser Stelle eine philosophische. Denn an der bedrückenden Konsequenz eines ›vernichteten Nichts‹ hat sich auch für den Büchner des SpinozaSkripts nichts geändert. An Spinozas Argumentation in ETH. I, prop. 11, demo. 2

|| 932 Zu dieser über Tennemann vermittelten Tradition kantianischer Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen vgl. schon – allerdings ohne Bezug zu Kant bzw. Tennemann – Kobel 1974, S. 112ff., Jancke 31979, S. 250 (ebenfalls ohne angemessene Kontextualisierung) sowie Stiening 2005, S. 231ff. 933 Jacobi 2000, S. 24; vgl. hierzu auch Stiening 2002a, S. 61f. sowie Sigwart 1816, S. 113 und Erdmann 1933, S. 89. 934 So aber Vietta 1979, S. 421ff.; Vollhardt 1991, S. 199; Kubik 1991, S. 207 und Knapp 32000, S. 32f. 935 Vgl. erneut P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217–20. 936 MBA III.2, S. 645–14. 937 Vgl. dagegen Voges 1990, S. 47, der Dantons Reflexionen über das Nichts einzig in ihren psychohistorischen Dimensionen betrachtet: »Das Nichts artikuliert noch immer das Bedürfnis nach einer Verdrängung der eigenen Geschichte. Die Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt.« Dabei unterschlägt Voges jedoch die metaphysische Ebene der Argumente Dantons, die sich erst durch den impliziten Rekurs auf die rationalistische Tradition, speziell Spinozas, verdeutlichen lässt. Auch dem das Materialismus-Diktat Mayers ausformulierenden Taniguchi kann Dantons Reflexion nur »befremdlich« erscheinen, vgl. Taniguchi 2000–04, S. 100.

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kritisiert er einzig »den falschen Schluß«938 aus dem a nihilo nihil fit – er bestreitet aber nicht die Gültigkeit dieses Grundsatzes. In ähnlicher, die Anmerkungen zu den ersten beiden Beweisen zusammenfassender Weise verfährt Büchner in seinem Kommentar zum 3. Beweis von Lehrsatz 11, indem er zunächst die aposteriorische Demonstration der Existenz Gottes auf das ontologische Argument zurückführt,939 welches jener vorausgesetzt sei.940 Insbesondere aber versucht der Kommentator, die Identifizierung der als »Weltursache« angemessen bestimmten Substanz mit dem moralischen Wesen des Deismus, d.h. die Erhebung des philosophischen Substanzbegriffes zum Theologumenon des gütigen Gottes, als unabgeleitete und somit unhaltbare Annahme nachzuweisen: Hier hört der Philosoph auf und er vergöttert willkürlich das, was in sich und worin Alles ist.941

2.2.3.1.3 Kommentar zu Lehrsatz 15: Einheit oder Pluralität der Substanz Noch ein letzter thematischer Schwerpunkt des Kommentars von ETH. I soll drittens Erwähnung finden, um die gesamte Palette der Argumentationsstrategien des Philosophiehistorikers Georg Büchner zu erfassen. In seinem Kommentar zu Beweis und Anmerkung des zentralen Lehrsatzes 15,942 in denen Spinoza die Einzigkeit der Gottessubstanz sowie die vollständige Inhärenz und Subsistenz alles Seienden in und von dieser Instanz beweist,943 bemüht sich Büchner nämlich um eine Rekonstruktion des weitgehend apagogischen Beweisganges. Dem hält er allerdings einmal mehr den Zusammenhang der zentralen Prämisse mit dem problematischen Lehrsatz 5 entgegen: Gibt man einmal Spinoza die Unendlichkeit der Substanz zu, so muß man auch das Übrige zugestehen, diese Unendlichkeit beruht aber auf der 5. Prop. Nämlich darauf, daß es keine 2 gleichen Substanzen gäbe.944

Büchner wiederholt anschließend seine Argumente wider die Gültigkeit von Lehrsatz 5 und schließt daraus erneut:

|| 938 P II, S. 34023/MBA IX.2, S. 14134. 939 Vgl. die Darstellung bei Röd 2002, S. 190. 940 Auch diese Reduktion des kosmologischen Gottesbeweises auf das ontologische Argument ist bei Kant vorgegeben, vgl. KrV B 631ff. 941 P II, S. 29529f./MBA IX.2, S. 157f.. 942 Zu Stellung und Bedeutung von prop. 15 im Beweisgang von ETH. I vgl. Bartuschat 1993, S. 38ff. 943 ETH. I, prop. 15 (Spinoza 1999, S. 30): »Quicquid est, in deo est, et nihil sine Deo esse neque concipi potest.« 944 P II, S. 30427–30/MBA IX.2, S. 217–9.

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Er hat also von seinem eignen System aus noch keineswegs die Unendlichkeit der ausgedehnten Substanz bewiesen.945

In einem zweiten Schritt versucht er Spinozas Argumentation innersystematisch zu überbieten. Spinoza hatte nämlich die Unteilbarkeit der Ausdehnung gegen Descartes mit ihrem attributiven Status begründet, der als Moment der Substanz Unendlichkeit und damit Ausschluss aller Negativität zukomme.946 Feuerbach hatte 1833 diese Überlegungen, die zur Substanzialisierung der Materie führten, in einem eigenen Abschnitt rekonstruiert und in ihrer philosophiehistorischen Innovationsleistung herausgearbeitet.947 Büchner kritisierte demgegenüber schon in vorherigen Kommentaren das für ihn ungeklärte Verhältnis von Substanz und Attributen.948 Auf dieser Grundlage versucht er nun die Möglichkeit eines unendlichen und dennoch aus Teilen bestehenden Ganzen zu entfalten949 und schlussfolgert aus dem Misslingen des Beweises für die Einzigkeit der Substanz: Wir hätten somit ein unendliches Ganze aus sich selbst gegenseitig begrenzenden und in sofern endlichen Teilen, die aber Substanzen sein müßten, denn sonst wäre diese Behauptung so absurd, als die Gegner Spinozas sagten. […] Wir hätten dann nur eine Ausdehnung mit Spinoza aber aus unendlichen (Zahl) Substanzen oder vielmehr Attributen, ein räumlich unendliches Meer aus der Zahl nach unendlichen Quellen, doch paßt dies nur insofern als überhaupt ein Bild in philosophische Deduktion paßt.950

Der Interpret versucht also, die Denkmöglichkeit, d. h. die widerspruchsfreie Konzeption einer Pluralität körperlicher Substanzen, zu entwickeln, die als in sich unendlich und daher ungeschaffen zugleich sich räumlich gegenseitig begrenzen können sollen – allerdings beziehungslos. Diese relationslose Relation soll mit dem mathematischen Begriff der ›Parallelen‹, die sich nur im Unendlichen schneiden,951 veranschaulicht werden, wobei Büchner diesem Bild eines »unendliche[n] Meer[es] aus der Zahl nach unendlichen Quellen«952 den Status einer »philosophischen Deduktion« abspricht.953 Der Interpret versucht also durch eine interne Differenzierung

|| 945 P II, S. 3055–7/MBA IX.2, S. 2120f.. 946 Vgl. ETH. I, prop. 15, schol. (Spinoza 1999, S. 3217ff.). 947 Feuerbach 1990, S. 318–323. 948 Vgl. hierzu P II, S. 29031–29113 sowie S. 29824–29919. Eine dezidiertere Auseinandersetzung mit Büchners Interpretation der spinozanischen Substanz-Attribut-Problematik unterbleibt hier aus Gründen des Umfangs, vgl. aber Taylor 1995, S. 53. 949 Dabei scheint mir Büchner mit diesem Grundzug seines Vorschlags den neueren Überlegungen von Bartuschat 1993, S. 80ff., spez. S. 83 durchaus nahezukommen. 950 P II, S. 30526–3063/MBA IX.2, S. 2138–224. 951 P II, S. 3056f./MBA IX.2, S. 2120f.. 952 P II, S. 3061f./MBA IX.2, S. 223. 953 Übrigens zeigt dieses Spiel mit den mathematischen und philosophischen Unendlichkeitsbegriffen, dass Büchner die präzise Unterscheidung beider durch Spinoza (vgl. dazu Ep. XII, Spinoza

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des Begriffs der Ausdehnung der spinozanischen Substanzmetaphysik eine Pluralität von Substanzen zuzuschreiben, indem er eine quantitative Endlosigkeit zugleich qualitativ unendlicher Substanzen, die sich gegenseitig begrenzen und so räumlich verendlichen können sollen, entwirft. Unabhängig von der Haltbarkeit dieses Alternativentwurfes zeigt Büchners Versuch eine gegenüber den beiden vorherigen Analyse- und Darstellungsweisen veränderte Strategie, und zwar in dem Versuch einer theoretischen Überbietung der spinozanischen Systematik mit deren eigenen Mitteln.954 Das argumentative Ziel Büchners bleibt dabei unverändert: die Theorie der Einzigkeit der Substanz und deren damit verbundene Göttlichkeit zu widerlegen. Zusammenfassend lassen sich somit in der büchnerschen Textexegese und -kommentierung der Lehrsätze 5 bis 15 des 1. Buches der Ethik folgende Argumentationsverfahren festhalten: Neben einer Kritik mit Hilfe externer, ›transzendentalphilosophischer‹ Kriterien (prop. 5), die dem Einfluss Tennemanns geschuldet sind, versucht der Kommentar die interne Konsistenz der spinozanischen Argumentation durch Kohärenzüberprüfungen zu destruieren (prop. 11, demo. 1–3) sowie letztlich mit den Kategorien der analysierten Systematik selbst diese zu überbieten (prop. 15, schol.). Alle drei Strategien versuchen, den spinozanischen Beweis der Existenz Gottes als eines ens perfectissimum zu widerlegen, indem dieses Theorem als unbeweisbar bestimmt wird. Das ist ›Büchners Ziel‹ in seiner Analyse von »Spinozas Ziel«,955 wobei er eine wissenschaftlich exakte Begründung in den genannten Verfahren zu liefern bemüht ist.

2.2.3.2 »Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«: »Wissenschaftslehre« und Methodologie des TIE Die Prämisse, nach welcher die philosophiehistorische Beschäftigung mit Spinoza als Wissenschaft auszuweisen ist, setzt Büchner im zweiten Teil der Vorlesung956 mit Hilfe einer grundlegend veränderten Methode um. Kommentierte er die paragraphenweise übersetze Ethik entlang des Textverlaufes seiner Primärquelle, so kehrt er für die analytische Darstellung des Tractatus de intellectus emendatione zu jener systematisierten, Originalzitate, Übersetzungen und Paraphrasen verwendenden Methodik des Descartes-Skripts zurück. Den »tractatus de emendatione intellec-

|| 1986, S. 47ff.) nicht angemessen zur Kenntnis genommen hat. Dass er gleichwohl diese Unterscheidung kennt, zeigt die Konkretisierung des Unendlichkeitsbegriffs, den er auf die Substanzen anwendet, durch den Begriff der »Zahl«; vgl. P II, S. 30533/MBA IX.2, S. 222. 954 Vgl. dazu auch MBA IX.2, S. 275. 955 P II, S. 32824/MBA IX.2, S. 1311. 956 Für MBA IX.2 ist dieser zweite Teil ein eigenständiges Manuskript, so dass eine zusammenhängenden Interpretation des gesamten Textes erschwert bzw. verunmöglicht wird.

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tus«957 bezeichnet Büchner als »Wissenschaftslehre« Spinozas, die sowohl die Prämissen als auch das Ziel und die Methode seines Rationalismus in anschaulicher Weise präsentiere, »denn erst durch sie [die Wissenschaftslehre] erhält die Metaphysik ihre wissenschaftliche Bedeutung«.958 Dabei hatte der Interpret auch mit der Bearbeitung dieses Textes einige Schwierigkeiten. Nicht nur sein bewertendes Resümee am Schluss dieses Teils: Überhaupt ist die ganze in dem tractatus de emend. angestellte Untersuchung höchst mangelhaft und zum Teil verworren,959

sondern auch die gegenüber dem Kommentar der Ethik wieder stärkere Anlehnung an Kuhns Ergebnisse960 und die Darstellungen Tennemanns lassen auf diesen Sachverhalt schließen. Es werden lange Zitate und Paraphrasen der durch Tennemann schon zitierten und paraphrasierten Inhalte des TIE geliefert – insbesondere bei der Darstellung der Erkenntnis- und Definitionslehre sowie der Theorie der ideae fictae.961 Auch werden die direkten Zitate aus dem TIE kaum übersetzt.962 Büchner steht offensichtlich unter Zeitnot. Dennoch lassen sich an der Analyse und Interpretation auch dieses spinozanischen Textes prägnante Positionsbestimmungen ablesen. Dies gilt insbesondere für die Wahrheitstheorie und die allgemeine Rationalitätskonzeption. Dazu gehört zunächst die mehrfach im Text963 – allerdings nur thesenhaft – entfaltete Annahme des engen Begründungsverhältnisses zwischen dem Cartesianismus und der Philosophie Spinozas: Erst unter Voraussetzung des Cartesianismus erhält, wie ich schon gesagt habe, der Spinozismus sein wissenschaftliches Fundament.964

Büchner verbindet mit dieser in der zeitgenössischen Diskussion häufig aufgestellten965 Behauptung zwei philosophische Gehalte: Zum einen führe Spinoza die von

|| 957 Wie er durchgehend falsch zitiert (P II, S. 32825/MBA IX.2, S. 1311f.), was wahrscheinlich auf den gleichen Fehler bei Kuhn 1834, S. 88ff. zurückzuführen ist. 958 P II, S. 33412f./MBA IX.2, S. 13533f.. Erneut sei darauf hingewiesen, dass Büchner den Terminus »Wissenschaftslehre« (P II, S. 3349f., S. 34024, S. 35020 u. ö.) vermutlich aus der Schrift Kuhns 1834, S. 16, S. 19. u. ö. entlehnt. Vgl. aber auch schon Hillebrand 1819, S. 526ff. 959 P II, S. 35015–17/MBA IX.2, S. 15126f. 960 Vgl. u. a. das direkte Zitat in P II, S. 3402f./MBA IX.2, S. 14114f. aus Kuhn 1834, S. 89. 961 Zu letzterem siehe P II, S. 34237–34621/MBA IX.2, S. 14410–1486. 962 Vgl. insbesondere das ungekürzte Zitat aus TIE § 33–42 in P II, S. 33634–3398/MBA IX.2, S. 13528– 14018. 963 Neben der oben zitierten Passage wird diese These noch an folgenden Stellen des Manuskripts wiederholt: P II, S. 33129–31, S. 34013f. (Zitat aus Kuhn 1834, S. 91), S. 33416f., S. 35026–29. 964 P II, S. 3343–5/MBA IX.2, S. 13526f..

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Descartes deduzierte paradigmatische Funktion der Mathematik konsequent weiter.966 Zum anderen meint Büchner,967 dass der synthetischen Argumentationsmethode der Ethik die gesamte Ableitung Descartes’ vom cogito ergo sum bis zum Existenzbeweis Gottes (2. und 3. Meditation) zugrunde liege. Der Interpret begründet die zweite These damit, dass dem durch das ontologische Argument als existierend bewiesenen Gott nur deshalb die Funktion eines obersten Grundsatzes, aus dem sich alles »herleiten läßt«,968 zukommen könne, weil »die ganze Schlußreihe, die demselben im Cartesianischen System vorhergeht, vorausgesetzt« sei.969 Das Bemühen ist unverkennbar, den schon für Descartes’ Metaphysik und Erkenntnislehre nachgewiesenen begründungtheoretischen Zirkel970 zwischen dem cogito-Argument und dem ontologisches Beweis auch für Spinoza zu belegen: So wiederholt also Spinoza nicht nur den Cartesius, sondern ergänzt ihn auch noch, indem er durch das modo eam habemus den bekannten Zirkel, den Cartesius in seiner Schlußreihe macht, zu umgehen sucht. Ich sehe also keinen neuen, keinen absoluten Standpunkt, in der Art, wie Spinoza die Identitätslehre an die Spitze seines Systems stellt.971

Diese kaum zu haltende Annahme,972 die schon die zeitgenössische Studie von Sigwart widerlegt hatte,973 basiert auf einer von Kuhn angeregten974 Interpretation der || 965 Vgl. dazu Schneider 1994, S. 313–316 sowie Schneider 1999, S. 264–272, der beispielsweise Hegel (1986, XX, S. 157, S. 161) und Büchners Gießener Philosophieprofessor Hillebrand (1842, S. 407f.) nennt; vgl. aber schon Hillebrand 1819, S. 529. Bekannt war der gesamten Zunft die Schrift Sigwarts 1816 (vgl. hierzu erneut Schneider 1999, S. 265–267). Siehe aber auch Tennemann 1798– 1819, X, S. 374, S. 421; Kuhn 1834, S. 87f.; Schelling 1985, IV, S. 449; Feuerbach 1990, S. 286–296 und Erdmann 1933, S. 15ff. Selbst Heine (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland) berührt in seiner essayistischen Darstellung der Philosophie Spinozas diesen Punkt: »So hat die Philosophie des Descartes keineswegs die des Spinoza hervorgebracht, sondern nur befördert. Daher zunächst finden wir bei dem Schüler die Methode des Meisters; dieses ist ein großer Gewinn. Dann finden wir bei Spinoza, wie bei Descartes, die der Mathematik abgeborgte Beweisführung« (Heine 1976, V, S. 563). 966 P II, S. 33337–3345/MBA IX.2, S. 13523–27. 967 Angeregt in diesem Falle durch Kuhn 1834, S. 86ff. 968 P II, S. 34032/MBA IX.2, S. 1425. 969 P II, S. 34111–13/MBA IX.2, S. 1426f.. 970 Vgl. hierzu P II, S. 19413ff./MBA IX.2, S. 6014ff.. 971 P II, S. 3423–10/MBA IX.2, S. 14314–17. 972 Vgl. dazu den Aufsatz von Röd 1977, die vergleichende Studie von Röd 1992 sowie Della Rocca 2006. 973 Vgl. insbesondere Sigwart 1816, S. 57f. 974 Vgl. dazu Kuhn 1834, S. 87ff., spez. S. 89. Möglicherweise hat sich Büchner an dieser Stelle von Heine zumindest bestärken lassen, der das Verhältnis von Denken und Sein bei Spinoza folgendermaßen referiert: »Der Gedanke ist am Ende nur die unsichtbare Ausdehnung und die Ausdehnung ist nur der sichtbare Gedanke. Hier geraten wir in den Hauptsatz der deutschen Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist« (Heine 1976, V, S. 565).

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Wahrheitstheorie beider Rationalisten. Diese entfalte eine »Identitätslehre«,975 nach welcher die unmittelbare Identität von Denken und Sein durch eine Ableitung vom cogito bis zum Beweis des Daseins Gottes nachweisbar sei, was bei Descartes expliziert, bei Spinoza jedoch unausgeführt vorausgesetzt sei: Er [Spinoza] fängt an, wo Cartesius die Identität des Gedankens mit seinem Objekt aus der Wahrhaftigkeit Gottes schließt. Cartesius war so gut als Spinoza Identitätsphilosoph, wie es überhaupt jeder dogmatische Philosoph sein muß. Spinoza setzt beständig die Schlußreihe des Cartesius, vom cogito ergo sum an, voraus, die er nicht wiederholte, weil er sie als erwiesen ansah, und er kann nicht anders, wenn er die mathematische Evidenz, auf die er beständig Anspruch macht, behaupten will.976

Dabei verfängt sich Büchner jedoch in der Folge in den Fallstricken eines unbestimmten Voraussetzungsbegriffes.977 Hatte nämlich Kuhn behauptet, dass »Spinoza den Mangel des Cartesianischen Systems [verbessere], indem er die Identität des Denkens und Seins zur Voraussetzung erhob«,978 und Voraussetzung hier als ein unmittelbares Setzen jener Identität verstanden, so begreift Büchner die cartesische Deduktion der Wahrheitskonzeption als begrifflich vermittelte Voraussetzung für das spinozanische System. Daraus muss er im weiteren Verlauf seiner Interpretation jedoch schließen, dass die Identitätskonzeption »vor dem ganzen System«979 der Metaphysik Spinozas stehe, wodurch das zuvor als oberster Grundsatz bestimmte ontologische Argument, an dem »Alles, Metaphysik und Wissenschaftslehre, hängt«,980 zu einer Ableitung aus dem 6. Axiom von ETH. I erklärt werden muss. Damit befindet sich der Spinoza-Interpret Büchner in dem Dilemma, ein zirkuläres Begründungsverhältnis zwischen ontologischem Gottesbeweis und Wahrheitstheorie zu behaupten, das insbesondere seine im ersten, die Ethik kommentierenden Teil vollzogene Anstrengung einer Widerlegung des ontologischen Arguments überflüssig zu machen scheint. Büchner klärt diesen Widerspruch seiner Interpretation keineswegs auf,981 doch dürfte die intensive Auseinandersetzung mit der spinozanischen Theorie der »mate-

|| 975 Vgl. zu diesem Terminus P II, S. 33633, S. 3402, S. 3429, S. 35031 sowie die Erläuterungen Poschmanns in P II, S. 1036–1038; MBA IX.2, S. 248ff., S. 257ff. u. S. 296f. erhebt diesen Teil der Rekonstruktion Büchners zum systematischen Zentrum, um Büchner an identitätsphilosophischer Systembildung teilhaben zu lassen; seine davon abweichenden Analyse- und Interpretationsergebnisse müssen dann aber (vgl. insbesondere der Umgang mit Beweis 2 von Lehrsatz 11) marginalisiert werden. 976 P II, S. 34216–24/MBA IX.2, S. 14326–32; vgl. hierzu auch die Interpretation von Osawa 1999, S. 40ff. 977 Vgl. hierzu auch ähnlich Sigwart 1816, S. 57 versus S. 86: »Er [Spinoza] fieng an, wo des Cartes endete.« 978 Kuhn 1834, S. 86f. 979 P II, S. 35032/MBA IX.2, S.15211f.. 980 P II, S. 34024f./MBA IX.2, S. 14135f.. 981 Auch nicht dadurch, dass er diesen Zirkel als im System Spinozas selbst enthalten bezeichnete.

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rialen Wahrheit«, die als kriterienlos verworfen wird,982 durch diese Schwierigkeiten veranlasst worden sein. Auch der Abbruch des Manuskripts kurz nach der Erhebung der »Identitätslehre« zum absoluten Grundsatz des Systems steht zumindest unter anderem in diesem Zusammenhang. Die starke Anbindung der Philosophie Spinozas an den cartesischen Argumentationsgang, mit welcher der angehende Dozent der Philosophie offensichtlich in einer aktuellen philosophiehistorischen Debatte zur Metaphysik Spinozas Position beziehen wollte,983 bringt ihn zugleich in erhebliche systematische Schwierigkeiten, deren Lösung oder Auflösung ihm nicht gelingt. Es lässt sich allerdings ein Argumentationshintergrund dieses büchnerschen Analysedilemmas angeben, der zugleich ins Zentrum seiner Spinoza-Interpretation führt und in der ersten der obigen Thesen zum Verhältnis von Descartes und Spinoza schon reflektiert wurde: Büchner bemüht sich um eine begrifflich exakte Darstellung und Kritik der spinozanischen Philosophie durch das gesamte Manuskript hindurch. Diese methodische Prämisse, die auch dem Anliegen Rechnung trägt, die Argumentation des Philosophengespräches in Danton’s Tod systematisch zu prüfen, verschafft der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas ihre besondere Färbung. Denn Büchner betont – entgegen nicht nur romantischen Interpretationen,984 sondern auch dem Gros der Philosophiehistoriker seiner Zeit985 –, dass das dem mathematischen Paradigma verpflichtete Rationalitätskonzept einer durchgängig begrifflichen Bestimmung allen Seins in der Philosophie Spinozas unhintergehbar sei:

|| 982 P II, S. 34225–28/MBA IX.2, S. 1441–4: »Außer dem Erfordernis der Klarheit und Deutlichkeit gibt übrigens Spinoza kein Kriterium der material wahren Ideen; er sagt nur, was eine wahre Idee sei, lerne man erst aus dem Besitz derselben kennen.« 983 Vgl. dazu nochmals Schneider 1994, S. 313ff. 984 Zur Überwältigung Spinozas und seiner Transformation zum »gottbegeisterten Dichter« (Schlegel) oder zum »Schwärmer« (Schelling) vgl. die Studien von Bollacher 1994, S. 275–288 sowie Timm 1978. 985 Nicht nur Hegel, der die »demonstrative Methode« Spinozas als äußerliche »Weise des verständigen Erkennens« (Hegel 1986, XX, S. 163ff. u. S. 167) kritisiert, oder etwa Heine, der die bei Descartes abgeborgte Beweisführung der Mathematik als »großes Gebrechen« bezeichnet, weil »[d]ie mathematische Form dem Spinoza ein herbes Äußeres gebe« (Heine 1976, V, S. 561), sondern auch Feuerbach (1990, S. 314) und Erdmann (1933, S. 54f.) halten die Beweisform der Ethik für etwas »Formelles«. Selbst Kuhn 1834, S. 110 verurteilt die »mathematische Form« in vergleichbarer Manier: »Jacobi hat den Spinozismus von seiner wissenschaftlichen Seite überschätzt. Man kann daraus ersehen, was hinter der äusseren mathematischen Form der Spinozistischen Ethik für eine innere Evidenz verborgen liege. Insgemein ließ man sich durch diesen äusseren Schein täuschen, und glaubte bei Spinoza ein durchgehend begreifliches, wahrhaft demonstratives System der Philosophie finden zu können. Es mag sonst alle Vorzüge haben, aber diesen hat es nicht.« Ohne die jacobischen Thesen zu teilen, vertrat Büchner jedoch offensichtlich die Annahme, dass das mathematische Paradigma dem Wissenschaftskonzept Spinozas keineswegs äußerlich war; neuere Forschungen (vgl. Röd 2002, S. 82–84 u. S. 150ff.) geben ihm hierin Recht.

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[D]er Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik. Nur mathematisch gewisse Erkenntnis konnte ihn befriedigen, [...]. Zeigt ihm einen falschen Schluß und er läßt sein ganzes System fallen.986

Der mos geometricus ist nach dieser Argumentation dem spinozanischen System keineswegs äußerlich, sondern für dieses konstitutiv.987 Hierin sah Büchner die Besonderheit und die »Höhe des Spinozismus«,988 die ihn vor allem von der mystischen »Schau aller Dinge in Gott«, die den Standpunkt Malebranches charakterisiere, unterscheide:989 Hier ist die große Kluft zwischen Malebranche und Spinoza. Beide haben nur unter Voraussetzung des Cartesius eine wissenschaftliche Bedeutung, beide setzen das Fundament des Cartesianismus nur voraus, aber Malebranche wird seinem Lehrer untreu, er wendet sich zur Anschauung, er sieht alle Dinge in Gott, aber unmittelbar ohne Räsonnement, ohne Schluß, Spinoza dagegen bleibt treu, die Demonstration ist ihm das einzige Band zwischen dem Absoluten und der Vernunft, ja er ist kühner als Cartesius, er dehnt das Recht der Demonstration weiter aus, der demonstrierende Verstand ist Alles und ist Allem gewachsen, […].990

Dieser uneingeschränkte Rationalismus und mathematische Szientismus wird von Büchner mit einem Zitat aus der Vorrede Ludovico Meyers zu den Principia Philosophiae Cartesianae nochmals bekräftigt; im Folgenden wird die deutsche Übersetzung der von Büchner im Original zitierten Passage zitiert: Ich kann auch nicht unerwähnt lassen, daß der an einigen Stellen vorkommende Ausdruck »dies oder jenes übersteigt die menschliche Fassungskraft« […] nur im Sinne des Descartes gebraucht wird, und man darf dies nicht so verstehen, als wenn der Verfasser dies als seine eigne

|| 986 P II, S. 34020–24/MBA IX.2, S. 14131–33; Büchner mißt dieser Formel offenbar eine besondere Bedeutung zu, denn sie wird an der obigen Stelle schon zum zweiten Mal ausgeführt (zuvor schon P II, S. 33337/MBA IX.2, S. 13524). Es liegt nahe, dass er sich dabei von einer Formulierung Tennemanns anregen ließ, der von einem »Enthusiasmus für die Spekulation« bei Spinoza spricht (Tennemann 1798–1819, X, S. 374). Fraglich erscheint mir hingegen die Zurückführung beider Formeln auf Jacobis Konzept eines »logischen Enthusiasmus«. Denn weder Büchners »Enthusiasmus der Mathematik« noch Tennemanns »Enthusiasmus für die Spekulation« beabsichtigt eine Kritik der »Hybris universalen Wissens«, die in Spinozas Philosophie ihren Höhe- und Endpunkt gefunden habe. Vielmehr scheinen beide Philosophiehistoriker den Wissenschaftsoptimismus Spinozas positiv zu werten, wenngleich sie ihn nicht vollauf zu teilen vermögen. Eine an Jacobi sich anlehnende allgemeine Rationalitätskritik ist jedoch mit keiner der Enthusiasmus-Formeln gemeint. 987 Bemerkenswerter Weise reduziert Büchner diesen mathematischen Rationalismus auf die wissenschaftstheoretische Dimension, die ontologische Ebene der Argumentation Spinozas (vgl. hierzu Röd 2002, S. 176f.) spart er dagegen aus. 988 P II, S. 33633/MBA IX.2, S. 13732. 989 Vgl. dazu auch Cramer 1985, S. 151–179, spez. S. 176: »Die Position der Alleinheit [= Spinozas rationalistische Metaphysik] ist im Gegenzug zur mystischen Schau der Indifferenz von Einem und Vielem gerade um willen der Eigenbedeutsamkeit des Vielen zu entwickeln.« 990 P II, S. 33128–3322/MBA IX.2, S. 13329–37.

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Ansicht ausspräche. Nach seiner [d. i. Spinozas] Meinung kann vielmehr dies alles und noch mehr und Höheres und Feineres nicht bloß deutlich und klar von uns begriffen, sondern auch ohne Schwierigkeiten erklärt werden, wenn nur der menschliche Verstand auf einem anderen als dem von Descartes eröffneten und gebahnten Wege zur Erforschung der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge geführt wird.991

Doch zitiert und entwickelt Büchner diese Thesen eines unbegrenzten rationalistischen Erkenntnis-Optimismus keineswegs aus der Perspektive Jacobis992 oder der – abgeschwächten – Kritik Kuhns,993 nach denen Spinozas Rationalismus die konsequenteste Weise des Denkens sei, die Widersprüche in seiner Philosophie mithin objektive Antinomien des rationalen Erkennens und Denkens überhaupt realisierten, welche nur durch jenen berühmten salto mortale in den Glauben bzw. das unmittelbare Wissen des Gefühls überwunden werden könnten. Im Gegenteil ist Büchner daran interessiert, die dem spinozanischen System immanenten Widersprüche nicht nur aufzuzeigen, sondern deren jeweilige Gründe zu rekonstruieren. Weil Büchner vielmehr die rationalistischen Prämissen Spinozas in begrenztem Umfange teilte, werden die kritisierten Widersprüche nicht als objektive überhöht, sondern zumeist als subjektive Ableitungsfehler bestimmt, bei denen Spinoza »aus seinem eigenen System« herausgetreten sei.994 Als Philosophiehistoriker geht Büchner bei der Herausbildung der rationalistischen Grundstruktur der spinozanischen Philosophie so weit, alle nichtdeduzierbaren, vor-rationalen Momente dieser Philosophie zu ignorieren, denn in der oben zitierten Passage zum Enthusiasmus der Mathematik heißt es erläuternd, dass »von intuitiver Erkenntnis […] bei ihm [Spinoza] nicht die Rede« sei.995 Zwar zeigt sich an dieser falschen These, dass Büchner weder Buch II996 noch Buch V der Ethik studierte997 und ihm daher Spinozas Theorie der scientia intuitiva unbekannt

|| 991 Spinoza 1987, S. 8; zitiert bei Büchner P II, S. 3323ff./MBA IX.2, S. 13338ff.. 992 Dazu immer noch grundlegend Timm 1974, S. 135–225 sowie Horstmann 1991, S. 53–69. 993 Kuhn 1834, S. 100f. Zur Kritik Kuhns an Jacobis Thesen von der objektiven Wissenschaftlichkeit des Spinozismus vgl. ebd., S. 116: »Jacobi hat den Spinozism von seiner wissenschaftlichen Seite überschätzt.« 994 P II, S. 35216f./MBA IX.2, S. 15322f.. Insofern muss der Versuch, Büchner zum Jacobianer zu machen (vgl. Vollhardt 1988/89, S. 46–82, spez. S. 50, wo von einem »auf Jacobi zurückgehenden Standpunkt Büchners« gesprochen wird) problematisch erscheinen, und zwar nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern insbesondere bezüglich des Gehalts der büchnerschen SpinozaInterpretation und -Kritik. 995 P II, S. 34022f./MBA IX.2, S. 14133f.. 996 In diesem Falle ETH. II, prop. 40, schol. 2 (Spinoza 1999, S. 180f.). 997 Spätestens an dieser Stelle wird Büchners fehlende Kenntnisnahme von Buch II bis V der Ethik Spinozas zur Gewissheit. Insofern erweist sich die Annahme Oesterles, »[i]m Werk Woyzeck gehen die moderne Physiologie- und Pathologielehre ein antiidealistisches Bündnis mit der in metaphysischem und ethischem Horizont argumentierenden spinozistischen Affektenlehre ein«, als durchaus

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war. Doch liegt der entscheidende Aspekt der Annahme Büchners in dem Interesse, Spinozas Rationalismus von allen Elementen »mystischer Anschauung«, d. h. unmittelbaren Wissens, frei zu halten. Erst aufgrund des strengen wissenschaftlichen Rationalismus, dessen wesentliche Prämissen Büchner in bestimmter Hinsicht teilte, konnte die Metaphysik des Spinozismus zu einem herausfordernden Widerpart für ihn werden.998 Dennoch birgt das Wissenschaftskonzept Büchners auch den Grund für das oben beschriebene Analysedilemma, das sich im Verlauf des Skripts verschärfen sollte. Denn zu jener analytischen Durchdringung eines philosophischen Systems, das die philosophiehistorische Methodik der Zeit erforderte, gehörte es, eine Prinzipiierung der Prämissen und Grundsätze zu leisten, d. h. im Falle Spinozas eine Zurückführung der Pluralität von Definitionen und Axiomen auf einen obersten Grundsatz. Schon Tennemann hatte das 6. Axiom von ETH. I als eine derartige Voraussetzung bestimmt, die »allen seinen Definitionen und Axiomen zum Grunde« liege.999 Und auch Kuhn suchte nach dem »Princip des Spinozism«, den »höchsten Höhen des spinozistischen Denkens«, das er dann im monistischen Gedanken der »All-Einheit« zu finden glaubte.1000 Büchners unterschiedliche Interpretationsansätze sind vor diesem Hintergrund als Prozess der Suche nach jenem obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas zu werten. Nachdem er zunächst den ontologischen Gottesbeweis in dieser Fundierungsfunktion sah und hernach die Wahrheitstheorie des TIE, wird er in der Folge noch zu einer weiteren These gelangen. Diese wissenschaftstheoretische Vorgabe in der Analyse und Interpretation der Philosophie Spinozas bewirkt ein weiteres methodisch auffälliges Moment in der Darstellung des TIE: Büchner enthält sich bei eindeutig mit politischen bzw. weltanschaulichen Implikationen behafteten Theoremen einer ideologie- bzw. kulturkritischen Bewertung. Weder bei der Darlegung des von Spinoza zu Beginn des TIE entwickelten Weges zur Glückseligkeit, der einzig über die Abkehr vom Streben nach irdischen und daher vergänglichen Gütern und der Suche nach ewigen Wahrheiten einzuschlagen sei,1001 noch bei der von Büchner im Original zitierten Passage, die eine Übertragung dieser Maxime auf die Gesellschaft formuliert,1002 welche nach Spinoza so organisiert werden muss, dass möglichst viele Menschen an jenem Weg zur Glückseligkeit teilhaben können, findet sich eine einschlägige Kritik dieser theo-

|| irrig, da Büchner die im Buch III und IV der Ethik entfaltete Affektenlehre sicher nicht studiert hat; vgl. Oesterle 1983, S. 200–239, spez. S. 238. 998 Siehe abermals Hans Mayer 1972, S. 359. 999 Tennemann 1798–1819, X, S. 464. 1000 Kuhn 1834, S. 91f. 1001 Vgl. TIE § I, 1–17 (Spinoza 1993, S. 6–16); referiert bei Büchner P II, S. 32824–3306/MBA IX.2, S. 1311–13212. 1002 TIE § 14: »Deinde formare talem societatem, qualis est desiderande, ut quamplurimi quam facillime et secure eo perveniant« (Spinoza 1993, S. 1416f.; zitiert bei Büchner P II, S. 32928–30).

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logischen Vorstellung. Am deutlichsten zeigt sich die Zurückhaltung Büchners am Referat der Gesellschafts- und Bildungstheorie des Tractatus theologico-politicus, der in einigen Auszügen zitiert wird.1003 Vor allem die »Grenzlinie zwischen dem Glauben (der Religion) und der Philosophie«1004 weckt Büchners Interesse: Spinoza vertritt nämlich in TTP XIV und XV die These, dass Glauben und Wissen vollständig voneinander zu trennen seien, wobei der eigentliche Weg zur Glückseligkeit ausschließlich im wahren Wissen bestehe. Dennoch müsse dieser Weg ein privilegierter der Wenigen bleiben, während die »Menge« zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung des biblischen Glaubens bedürfe.1005 Diese oftmals kritisierte Position, die auch einen Teil der aktuellen SpinozaForschung dazu veranlasst, Spinozas Philosophie insgesamt als Moment der Gegenaufklärung zu bestimmen,1006 wird von Büchner in eher zurückhaltender, zunächst die Widersprüche des Konzepts beleuchtenden Weise bewertet: Diese Widersprüche lassen sich leicht erklären, wenn man bedenkt, daß der tractatus theologicopoliticus zu einer Zeit erschien, wo Spinoza wohl die Grundlinien seines Systems gezogen haben mochte, aber wahrscheinlich noch nicht alle seine Konsequenzen entwickelt hatte. Außerdem ist es wohl möglich, daß er seine Gedanken noch nicht ganz unverhohlen auszusprechen wagte und dem Glauben noch Konzessionen machte, die er später zurücknahm.1007

Den Widerspruch sieht Büchner vor allem in der uneingeschränkten Wissensbefähigung des Menschen und dem Ausschluss des Volkes von diesem Weg zur Glückseligkeit. Aus dieser geradezu als Entlastung Spinozas zu bezeichnenden Argumentation ist zunächst zu schließen, dass Büchner selbst bei ideologisch problematischen Positionen des spinozanischen Systems um eine Erläuterung der begrifflichen oder historischen Zusammenhänge bemüht ist. Zumal gegenüber dem Descartes-Exzerpt, das noch von Invektiven gegen das cartesische System bestimmt wurde, charakterisiert sich das Spinoza-Manuskript durch sachliche Strenge, auf deren Grundlage erst eine systematisch begründende Kritik erfolgt.1008

|| 1003 P II, S. 33020–33119 (Zitate und Übersetzungen aus TTP III und IV) sowie P II, S. 33219–33328 (Zitate und Übersetzungen aus TTP XIII bis XV). 1004 P II, S. 33231f./MBA IX.2, S. 13419. 1005 Vgl. dazu TTP, XIV (Spinoza 1984, S. 220). 1006 Vgl. dazu Schroeder 2002; bei Spinoza ist an dieser Stelle auch wenig Radikalaufklärung zu entdecken, die aber Morawe 2013, S. 174ff. allein aufgrund des Immanenzgedankens mit Spinoza und daher mit Büchner verknüpft. 1007 P II, S. 33329–36/MBA IX.2, S. 13516–22. 1008 Vor allem mit seinem zweiten Argument, der Vorsicht Spinozas vor den Zensurinstanzen der Zeit, verwirklicht Büchner zudem eine weitere methodische Prämisse Tennemanns, der gefordert hatte, dass der Philosophiehistoriker auch realgeschichtliche Bedingungsfaktoren der philosophischen Systeme für eine vollständige Interpretation zu berücksichtigen habe. Vgl. dazu Schröpfer 1994, S. 221, S. 225ff.

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Dieses Charakteristikum des Spinoza-Manuskripts erweist sich auch bei Büchners Darstellung der vielleicht brisantesten Thematik des Spinozismus, den moralischen Bestimmungen von gut und böse: Zunächst werden die Argumente Spinozas aus TIE § 12 paraphrasiert, nach denen »bös und gut [...] nur relativ gesagt werden« kann.1009 Sodann werden die §§ 13–16 vollständig aus dem Original zitiert. Büchner beurteilte diese Passagen zunächst als »bedeutendes Geständnis, ganz im Sinne seines Systems«, indem sie »doch zugleich einen Widerspruch« enthielten: Nur die menschliche Schwäche, nur der Mangel an Erkenntnis macht, daß wir nach etwas Vollkommnem streben [...]. Und doch, wie kann er von menschlicher Schwäche reden? Eben so, wie er in seiner Metaphysik das Endliche aus dem Unendlichen, wie er das Böse aus unsern Vorstellungen herleitet.1010

Diese Problematik in der Konzeption Spinozas, überhaupt von Schwächen, d. h. von Bestimmungen, die mit Negativität behaftet sind, sprechen zu können, unter der Voraussetzung, dass zugleich alles, was ist, von Gott – definiert als absolute Positivität – hervorgebracht wurde, führt Büchner zurück auf das grundlegende Problem dieser Metaphysik: den »ewige[n] Widerspruch zwischen dem, was ist in der Endlichkeit, und dem Ewigen, an das wir dasselbe zu knüpfen suchen.«1011 Berücksichtigt man Büchners ethischen Universalismus aus der Schülerzeit, der sich auch durch die sozialanthropologischen Thesen von der Determiniertheit von Verstandes- und Bildungsleistungen nicht vollständig relativierte,1012 muss diese Zurückhaltung in der Bewertung der ›relativistischen‹ Moralität Spinozas überraschen. Der auffällige Befund kann aber auch zu der Einsicht führen, dass Büchner jene historische Distanz zu seinem Gegenstand herzustellen versuchte, die der Philosophiegeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts als methodische Maxime diente.1013 Mit jener Thematik des Verhältnisses von Substanz und Modi, dem Unendlichen und Endlichen in der Metaphysik Spinozas, wird sich erst der letzte Teil des Manuskripts befassen. Schon an dieser Stelle versucht Büchner die Moralitätskonzeption der spinozanischen Philosophie, die noch in Danton’s Tod im Zentrum der konventionellen Spinoza-Kritik Paynes stand, durch eine Reflexion auf die philosophischen Grundlagen zu erläutern. Im Manuskript von 1836 sind die ideologiekritischen Perspektiven aus Danton’s Tod zunächst hinter die systematische Argumentation zurückgetreten. Der Philosophiehistoriker zieht offenkundig eine systematische Aus-

|| 1009 P II, S. 3296; so Büchners Übersetzung von folgender Passage: »Quod ut recte intelligatur, notandum est, quod bonum et malum non, nisi respective, dicantur« (TIE § 12; Spinoza 1993, S. 1223ff.). 1010 P II, S. 3307–17/MBA IX.2, S. 13213–21. 1011 P II, S. 33017–19/MBA IX.2, S. 13221–23. 1012 P II, S. 4018–20/MBA I, S. 11910–12. 1013 Anders zu dieser Stelle: Dedner 2002, S. 294f., der allerdings jede philosophiehistoriographische Reflexion vermeidet und so einen Widerspruch in Büchners Spinoza-Interpretation feststellt.

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einandersetzung mit den »philosophischen Systemen seit Cartesius«1014 einer ideologiekritischen Bewertung vor.1015 In einer eher konventionellen – von Goethe1016 und Heine1017 beeinflussten – Weise wird die Relativierung der Moralität durch deren Erklärung aus der endlichen und daher beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen und die Begründung einer demgegenüber anzustrebenden Glückseligkeit in der »Anschauung des Ewigen, Unendlichen« interpretiert durch jene »unendliche Ruhe«, die über den »ersten Rissen des Spinozismus«1018 liege. Auch Schelling wies 1834 darauf hin: Daher kann man allerdings auch dem Spinozismus jene beruhigende Wirkung zuschreiben, die unter anderem Goethe an ihm gepriesen hat; der Spinozismus ist wirklich die das Denken in Ruhestand, in völlige Quiescenz versetzende Lehre, in ihren höchsten Folgerungen das System des vollendeten theoretischen und praktischen Quietismus.1019

Noch dieser philosophisch legitimierte Quietismus aber reizt Büchner nicht zum vehementen Einspruch. Er verbleibt vielmehr auch gegenüber der »unendlichen Ruhe des Spinozismus« bei seiner Erörterung der philosophischen Systematik und einer begründeten Erklärung der von ihm analysierten Widersprüche.

|| 1014 Vgl. den Brief an den Bruder vom 2. September 1836, P II, S. 44816f. /MBA X.1, S. 10216. 1015 Vgl. dagegen – ohne nähere Interpretation bzw. Kontextualisierung – Dedner 1990, S. 136: »Geplant war hier das Projekt einer Geschichte der Philosophie offenbar nicht, um eine Fortschrittsgeschichte des Denkens zu entwerfen, sondern als Revision in ideologie- und kulturkritischer Absicht.« An Büchners Auseinandersetzung mit dem TTP lässt sich diese These allerdings nicht verifizieren; dennoch wird die Annahme von der ›Philosophiegeschichte als Ideologiegeschichte‹ gerne wiederholt; vgl. Martin 2007, S. 245. 1016 Vgl. dazu die folgende Passage aus dem 16. Buch von Dichtung und Wahrheit, das Büchner nachweislich gelesen hat: »Ich erinnere mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblätterte« (Goethe 1988, X, S. 76). 1017 Auch Heine bemühte diesen Topos: »Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe« (Heine 1976, V, S. 561). 1018 P II, S. 33120f./MBA IX.2, S. 13321f.. Büchner verwendet den Terminus »Riß« in zweifacher Bedeutung. Einerseits findet man jenen »Riß in der Schöpfung von oben bis unten« (Danton’s Tod, P I, S. 4817f./MBA III.2, S. 4926), der eine Zerrissenheit meint. Andererseits wird der Terminus in folgender Weise angewandt: »[...] das Gesetz der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt« (Probevorlesung; MBA VIII, S. 1556f.). In dieser letzteren Bedeutung, die als Grundrisse zu bestimmen ist, sind auch die obigen »Risse des Spinozismus« gemeint; vgl. dazu schon Stiening 1999, S. 108f. In keinem der beiden Fälle hat dieser Terminus jedoch kategorialen Status (so aber Glück 2009–2012, S. 56f.). 1019 Schelling 1985, IV, S. 451.

198 | Philosophie und Philosophiegeschichte

2.2.3.3 Unter Zeitdruck: Zusammenfassung und Exzerpte aus Tennemann und Herbart Dies zeigt sich auch bei einer Betrachtung des letzten, kürzesten und unabgeschlossenen Teils des Manuskripts,1020 in dem der Interpret versucht, die in den ersten Abschnitten gewonnenen Ergebnisse für eine Darstellung der gesamten Systematik der spinozanischen Philosophie, der »Grundgedanken«, wie er sagt,1021 zu verwerten. Doch gelangt Büchner in dieser Zusammenfassung auch zu neuen Ergebnissen. Dabei bemüht er sich zunächst, den »Übergang von der Wissenschaftslehre zur Metaphysik« zu rekonstruieren,1022 der explizit bei Spinoza nicht formuliert worden sei. Zu diesem Zweck wird die methodische Funktion der »Idee des höchsten Wesens« im TIE mit der systematischen Position der Gottessubstanz in der Ethik korreliert.1023 Ferner werden die Thesen zum Descartes-Bezug und der »synthetischen Methode« kursorisch wiederholt sowie die Kritik am »sehr unphilosophisch[en]« Beweis des Lehrsatzes 5.1024 Eine Bestimmung der Substanz-Attribut-Relation, durch die Büchner zu dem Ergebnis gelangt, dass »die Begriffe Substanz und Attribut identisch« sind, knüpft ebenfalls an Analyseergebnisse aus dem Kommentar zu ETH. I an.1025 Im Zentrum dieser letzten Seiten des Manuskripts steht jedoch eine ausführliche Erörterung des Substanzbegriffs, und zwar hinsichtlich seiner Funktion im Relationsgefüge der Modi, d. h. das Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit bei Spinoza. Dazu bemüht sich der Interpret in einem erneuten Anlauf, den Ausgangspunkt der Deduktionen, mithin den obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas, festzulegen: Das ganze System fängt eigentlich mit dem auf dem Satz des ausschließenden Dritten gegründeten 1. Axiom an.1026

Nach dem ontologischen Argument und der Wahrheitskonzeption des TIE liegt mit dieser These der dritte Versuch Büchners vor, den Deduktionsanfang im System Spinozas zu bestimmen. Dabei betont der Interpret zunächst das streng kontradiktorische Verhältnis der Bestimmungen des in se esse und des in alio esse, indem er auf den universellen und ausschließlichen Charakter, d. h. die unbegrenzt auf alles anwendbare Extension dieser Bestimmung aufmerksam macht. Keiner denkbaren || 1020 P II, S. 35020–35236/MBA IX.2, S. 15231–15340. 1021 P II, S. 3513/MBA IX.2, S. 15215. 1022 P II, S. 35020f. /MBA IX.2, S. 15231ff.. 1023 Vgl. dazu ähnliche Ausführungen bei Röd 1977, S. 92ff. Allerdings geht Büchner mit keinem Wort auf die doch erheblichen Unterschiede beider Werke Spinozas ein, die jene von ihm intendierte Korrelation nur bedingt erlaubt. Vgl. dazu die exzellente Studie von Schneider 1981, S. 212–241. 1024 Vgl. P II, S. 35034–37 u. S. 35212f./MBA IX.2, S. 15211–13 u. S. 15319. 1025 P II, S. 35127f./MBA IX.2, S. 15240f.; vgl. schon P II, S. 29031–34/MBA IX.2, S. 1135–38. 1026 P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217f..

Die philosophischen Vorlesungsskripte | 199

Entität könnten nach Spinoza entweder beide oder gar keine dieser Prädikate zugeschrieben werden. Eine an diese Bestimmung des Satzes vom Widerspruch als oberstem Grundsatz des spinozanischen Systems1027 sich anschließende Frage nach dem genauen Status dieses Satzes sowie dessen Bedeutung für die zuvor analysierten Widersprüche im weiteren Programm Spinozas wird von Büchner allerdings nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet. Vielmehr gibt der Interpret im Zusammenhang der Rekonstruktion des »Verhältnis[ses] der endlichen Dinge zu Gott«,1028 das in den Lehrsätzen 28 bis 30 von ETH. I reflektiert wird, seine selbständige Bearbeitungsleistung vollständig auf und zitiert ausschließlich die einschlägigen Passagen aus Tennemann.1029 Dieser gelangte durch eine Analyse sowohl des Kausalitäts- als auch des Substantialitätsbegriffs zu dem von Büchner offenbar geteilten Ergebnis: Nach beyden Grundsätzen kommt man von d. Endlichen nie auf das Unendliche und von dießem nie auf das Endliche. Es ist zwischen beyden eine Kluft, die Spinoza zu umgehen sucht, aber nie gänzlich verdecken konnte.1030

Hierin liegt für Büchner – zumindest in diesem dritten Teil seines Manuskripts – offensichtlich der grundlegende Widerspruch des spinozanischen Systems, aus dem sich alle weiteren von ihm zuvor analysierten Konzeptionsbrüche ergeben. Jedoch wird weder diese Zurückführung noch die angestoßene Überlegung der Bedeutung des Satzes vom Widerspruch in seiner universellen Gültigkeit für die ontologische Grundstruktur geleistet und kann aus dem vorhergehenden Text nur mehr in Andeutungen erschlossen werden. Erst hiermit aber erreicht Büchner eine Einsicht in die von allen idealistischen Interpretationen herausgearbeiteten zentralen Widersprüche des Spinozismus. So schreibt Schelling: Ich komme also nie auf einen Punkt, wo ich die Frage aufwerfen könnte, wie die Dinge aus Gott folgen oder gefolgt sind. Spinoza leugnet also jeden wahren Anfang des Endlichen, von jedem Endlichen werden immer nur wieder anderes Endliches gewiesen, von dem jenes zum Daseyn bestimmt ist, dies geht ins Unendliche zurück, so daß wir nie fertig werden und nirgends ein unmittelbarer Uebergang aus dem Unendlichen ins Endliche nachweisen können.1031

Aufgrund der weiteren Themen, die Büchner aus Tennemann und Herbart exzerpiert – so u. a. das Verhältnis von ordo rerum und ordo idearum,1032 das Postulat der

|| 1027 Vgl. dazu auch Lovejoy 1985, 184ff. sowie Engfer 1996, S. 134–157, spez. S. 138f. 1028 P II, S. 61312/MBA IX.2, S. 1577. 1029 Tennemann 1798–1819, X, S. 472ff. 1030 P II, S. 61331–6143/MBA IX.2, S. 15722–24; zitiert nach Tennemann 1798–1819, X, S. 473. 1031 Schelling 1985, IV, S. 458.; vgl. auch Hegel 1986, XX, S. 179ff., Feuerbach 1990, S. 333ff. sowie Kuhn 1834, S. 98ff. 1032 P II, S. 61418ff./MBA IX.2, S.15738ff..

200 | Philosophie und Philosophiegeschichte

Inhärenz aller Dinge in Gott,1033 das Problem des Werdens1034 oder die Konzeptionen von Kausalität1035 und Selbstbewusstsein1036 –, wird deutlich, dass der angehende Dozent der Philosophiegeschichte mit seinem Spinoza-Skript noch lange nicht zu Ende war und das offensichtlich auch wusste. Das Lozieren seiner SpinozaInterpretation in das Tableau der zeitgenössischen Philosophiehistoriographie muss mithin diesen vorläufigen Charakter des Textes und seiner Ergebnisse stets berücksichtigen.

2.2.3.4 Beschluss II: Büchners Spinoza Erst in der Korrelation mit dem Descartes-Skript wird deutlich,1037 dass ein wichtiges Spezifikum der büchnerschen Spinoza-Interpretation in dem Versuch besteht, dessen Metaphysik an die zuvor ermittelten konzeptionellen Brüche und Inkohärenzen des Cartesianismus anzunähern. Büchner vermeint daher vor allem im ersten Teil des Skripts, den begründungstheoretischen Zirkel zwischen Cogito-Argument und Gottesbeweis auch auf Spinoza übertragen zu können, was allerdings scheitert. In immer neuen Anläufen bemüht er sich, den Deduktionsausgangspunkt der Metaphysik Spinozas zu ermitteln. Als Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker legt er dabei seiner wissenschaftlichen Reflexionsarbeit eine Rationalitätskonzeption zugrunde, die – in unbegrenzter Form – auch die spinozanische Philosophie konstituierte. Deshalb waltet im Spinoza-Skript des angehenden Dozenten der Philosophiegeschichte das eherne Gesetz des »Satz[es] des ausschließenden Dritten«,1038 auf dessen Grundlage – also mit Spinoza – der Gottesbeweis der Ethik in allen seinen Teilen widerlegt werden soll – also gegen Spinoza. Erst die partielle Identität der Voraussetzungen bewirkt die begriffliche Anstrengung, der sich Büchner in seinen Widerlegungen aussetzte. Dem Beweis vom Dasein Gottes – als moralisch absolut vollkommenem Wesen – wollte er nicht nur abstrakt, d. h. hier empirisch,1039 die »Leiden der Menschheit« entgegengehalten. Büchner wollte vielmehr diese Demonstration als Konzept aus »falschen Schlüssen« erweisen und dadurch begriffslogisch und systematisch widerlegen.1040 Die »Philosophie als Wissenschaft«1041 bewirkte nicht nur die darge-

|| 1033 P II, S. 61431ff./MBA IX.2, S. 1581ff.. 1034 P II, S. 61520ff./MBA IX.2, S. 15823ff.. 1035 P II, S. 62014ff./MBA IX.2, S. 16125ff.. 1036 P II, S. 62430ff./MBA IX.2, S. 16433ff.. 1037 Diese Vermittlung der Interpretationen fehlt den Studien von Taylor 1995 und Stiening 2000– 04. 1038 P II, S. 3514f./MBA IX.2, S. 15217f.. 1039 Vgl. dazu Hans Mayer 1972, S. 354. 1040 Zu Recht spricht MBA IX.2, S. 259 von der Haltung einer »systeminternen Analyse und Kritik«. 1041 P II, S. 1734.

Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen | 201

stellten spezifischen Modifikationen seiner eigenen Auffassungen hinsichtlich des Systems Spinozas, sondern ermöglichte allererst eine begründbare Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Philosophemen. Insgesamt steht Büchner mit seiner äußerst kritischen, mehr systematisch als historisch ausgerichteten Rekonstruktion der Erkenntnistheorie, Methodologie und Metaphysik Spinozas in der Tradition Tennemanns und Herbarts. Denn die Schwerpunkte der Darstellung und Kritik des Spinozismus, die der Deutsche Idealismus vortrug, sind bei Büchner kaum zu finden. Die sowohl von Schelling als auch von Hegel vorgetragene These, dass man in die »Abgründe« des Spinozismus gesehen haben (Schelling)1042 bzw. dass man einmal Spinozist gewesen sein müsse, um Philosoph zu werden (Hegel),1043 sind von Büchners Furor der Gottesbeweiswiderlegung grundlegend unterschieden. Auch die von Hegel, Schelling, Feuerbach und Erdmann vorgetragene Kritik am fehlenden Freiheitsbegriff Spinozas1044 wird bemerkenswerter Weise bei Büchner nicht reflektiert. Jacobis Fatalismusvorwurf, dem er bei Tennemann und Kuhn begegnen konnte,1045 scheint ihn nicht interessiert zu haben.1046

2.3 Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen Dass Büchner allerdings auch in anderer Weise mit Begriffen der rationalistischen Metaphysik umgehen konnte, zeigt nicht nur das Philosophengespräch in Danton’s Tod, das mehrere naturalistische Widerlegungen des Gottesbeweises Spinozas durch Thomas Payne vorstellt, zugleich aber die Ohnmacht des philosophischen Gedankens in politischen und existenziellen Extremsituationen zeigt.1047 Auch ein vorläufiger Blick auf eine Passage aus dem im Sommer 1836 entstandenen Lustspiel Leonce und Lena belegt Büchners kritische Fähigkeit zu einer wissenschaftsexternen Perspektive auf die Philosophie: P e t e r . (Während er angekleidet wird) Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das an sich, das

|| 1042 Vgl. Schelling 1985, IV, S. 452. 1043 Hegel 1986, XX, S. 161ff. 1044 Vgl. Erdmann 1933, S. 59; Feuerbach 1990, S. 347ff.; Hegel 1986, XX, S. 179ff.; Schelling 1985, IV, S. 452 u. S. 463f. 1045 Siehe Tennemann 1798–1819, X, S. 479; Kuhn 1834, S. 111f.; vgl. schon Sigwart 1816, S. 146ff. 1046 Dieses Desinteresse ist allein deshalb bemerkenswert, weil Büchner im so genannten Fatalismus-Brief vom Januar 1834 einem metaphysischen Fatalismus verfallen sei, vgl. u. a. Jancke 31979, S. 123–138; Hauschild 1993, S. 270ff. Siehe dagegen die empirisch und hermeneutisch angemessene Interpretation bei Mayer 1979a, S. 86ff. 1047 Vgl. hierzu ausführlicher Stiening 2002, S. 56f.

202 | Philosophie und Philosophiegeschichte

bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum.) Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidentien, wo ist mein Hemd, meine Hose? – Halt pfui! der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruinirt.1048

Ohne diese Passage an dieser Stelle weiter auszudeuten,1049 liegt doch ein Interesse Büchners an ihr unübersehbar darin, einen bestimmten »Zusammenhang [...] zwischen cartesianischer und spinozistischer Philosophie auf der einen, dem absolutistischen Herrschaftssystem auf der anderen Seite«1050 herzustellen.1051 Doch scheint mir eine Deutung seiner philosophiehistorischen Forschung nur dann im Hinblick auf eine derartige ideologiekritische Perspektivierung möglich, wenn man den vorgängigen, ideologieindifferenten, d. h. streng wissenschaftstheoretischen Impetus bei der Analyse und Interpretation der philosophischen Systeme, mithin die Übernahme der philosophiehistoriographischen Methodologie Tennemanns, berücksichtigt. Nur die Einsicht in das für seine philosophische Beschäftigung konstitutive Bemühen einer wissenschaftlich exakten Fundierung der Erkenntnis und Kritik im Hinblick auf Spinoza kann Büchners Begriff der Philosophie überhaupt erkennbar machen. Anders als viele Interpreten scheint der Büchner vom Sommer und Herbst 1836 zwischen wissenschaftsinternen und -externen Bedingungsfaktoren unterscheiden zu können.1052 Descartes und Spinoza waren für Büchner keine Witzfiguren des überlebten Absolutismus, sondern als Vertreter einer philosophischen Theologie und der darauf aufbauenden metaphysischen, naturphilosophischen und anthropologischen Systemteile ernstzunehmende wissenschaftliche Philosophen. Dennoch beabsichtigte Büchner offenbar, eine arbeitsteilige Struktur in der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie zu kultivieren, die der Wissenschaft zunächst eine systematische, wissenschaftsinterne Auseinandersetzung mit jenen Philosophien zuschrieb und eine ethische, politische oder ideologiekritische, mithin wissenschaftsexterne Auseinandersetzung der Dichtung überantwortete.1053 »Komisch«, grotesk oder gar tragisch wird damit die Philosophie schlechthin in Büchners Konzeption nicht.1054 Problematisch in unterschiedlichster Form werden aller-

|| 1048 MBA VI, S. 10219–28. 1049 Vgl. hierzu die philosophiehistorische Interpretation bei Nowitzki 1998, S. 319ff. sowie meine Ausführungen in Kap. 8. 1050 So Dedner 1990, S. 119–176, spez. S. 136; Knapp 32000, S. 33. 1051 Dedner 1989, S. 571–594, spez. S. 587. 1052 Vgl. hierzu Mayntz 2000, S. XXVIII. 1053 Zu Schwierigkeit und Produktivität der Unterscheidung zwischen externen und internen Faktoren der Wissenschaftsentwicklung vgl. Wolff 1994, S. 420 sowie Stiening 2007, S. 267f. u. S. 295–298. 1054 So die unhaltbare Annahme von Kuhnigk 1987, S. 276–281, spez. S. 278; Oesterle 1983, S. 200– 239 sowie Martin 2013.

Fazit: Büchners philosophisches und philosophiehistorisches Wissen | 203

erst jene Systeme, die sich durch ihre Inkonsistenzen ausgewiesen haben. Auf der Grundlage eines begründenden Beweises kann und muss jenen Philosophemen sodann ihre Funktion in derjenigen Wirklichkeit zugewiesen werden, die nach Büchner der Dichter darzustellen hat: Seine [des Dichters] höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.1055

Mit diesem Hinweis ist jedoch der Rahmen der Betrachtung von Büchners philosophiehistoriographischer Rekonstruktion der Systeme Descartes’ und Spinozas und damit seiner philosophiegeschichtlichen Wissenschaftsanstrengungen überschritten und eine These zur Stellung des philosophischen Wissens in der intellektuellen Biographie Büchners überhaupt angedeutet: Georg Büchners wissenschaftliche Rezeption der Philosophie Descartes’ und Spinozas ist erklärtermaßen zu einem Teil seinem Interesse an einer universitären Laufbahn an der philosophischen Fakultät in Zürich zu verdanken. Die energische Intensität der kritischen Bearbeitung lässt sich durch dieses äußere Movens jedoch nicht hinreichend erklären.1056 Die Geschichte der Philosophie bot ihm offenbar nicht nur Auseinandersetzungsmöglichkeiten in systematischer Hinsicht, so im Zusammenhang des ihn stets herausfordernden Gottesbeweises oder auch spezifischer Anthropologeme, sondern auch für die begründete Formulierung einer naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Methodologie, Systematik und szientifischen Praxis. Zu dieser durch Büchner hergestellten Interaktion zwischen Philosophie und den Naturwissenschaften ist nunmehr überzugehen.

|| 1055 P II, S. 41014–16/MBA X.1, S. 6625–27. 1056 Vgl. hierzu auch Stiening 1999, S. 101ff.

 Naturphilosophie Im Unterschied zu den philosophischen Schriften hat sich die Forschung wenigstens vereinzelt der naturwissenschaftlichen Texte Büchners angenommen – wenngleich zumeist aus einer wissenschaftsgeschichtlich dilettierenden, literarhistorischen Perspektive. Auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zum frühen 19. Jahrhunderts wurde noch kaum auf Büchner aufmerksam.1 Dennoch kann in den letzten Jahren ein ansteigendes Interesse an den vergleichend anatomischen Arbeiten des Autors verzeichnet werden. Dieses Interesse ist zwar zu einem Teil der spezifischen Perspektive poststrukturalistisch inspirierter Literatur-Forschung und deren diskursanalytischer Ineinanderblendung von wissenschaftlichen und literarischen Texten geschuldet,2 doch haben einige wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Arbeiten3 die durch die gelegentlichen Studien und Kommentare der älteren Forschung4 erreichten Wissens- und Interpretationsbestände soweit erweitert und ausdifferenziert, dass Büchners Naturwissenschaften auch für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung zum frühen 19. Jahrhundert anschlussfähig werden.5 Im Folgenden soll im kritischen Anschluss an diese neueren Studien6 sowie durch die Aufnahme der innovativen Leistungen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsforschung zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, die in den letzten Jahren in bedeutendem Maße erbracht wurden,7 die Entwicklung sowie die systematische und methodische Kontur der büchnerschen Naturwissenschaft und -philosophie dargestellt werden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass die empirischen Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1840 als Einzelwissenschaften zugleich durch das naturphilosophische Paradigma und die kritische

 1 Vgl. hierzu in ersten Ansätzen Bach, Breidbach u. von Engelhardt 2007, S. XVI sowie die Rezension von Kanz 2006. 2 Vgl. insbesondere Ludwig 1998, S. 160ff.; Guntermann 2000, S. 95ff.; Müller-Nielaba 2000; Müller-Nielaba 2001; Müller-Sievers 1999; Müller-Sievers 2003, S. 51–100; Müller-Sievers 2003a; Borgards 2007, S. 421–520; Borgards 2009; Beise 2010, S. 89–98; Elm 2015; Wimmer 2015; Burks 2017. 3 Stiening 1999; Roth 2002a; Roth 2004 und Roth 2016. 4 Döhner 1967; Gaede 1979; Döhner 1982; Hauschild 1985, S. 359–378; Schramm 1989; P II, S. 872– 923; Fortmann 2013, S. 39ff.; Hauschild 2013, S. 209ff. 5 Vgl. Roth 2002 sowie Bach, Breidbach u. von Engelhardt 2007, S. XI–XXVI. Dem Band VIII der MBA, der die naturwissenschaftlichen Schriften präsentiert, kann diese Anschlussfähigkeit allerdings nicht attestiert werden; er verbleibt in den Bahnen der wissens- und wissenschaftsgeschichtlich beschränkten Büchner-Philologie der 1980er Jahre; vgl. hierzu Stiening 2013b. 6 Zu einer Auseinandersetzung mit der Studie von Roth vgl. Stiening 2006a. 7 Vgl. hierzu vorläufig zusammenfassend Breidbach 2004; von Engelhardt 2004; Bach u. Breidbach (Hg.) 2005; Breidbach 2006; McBirney u. Cook 2009 sowie Ziche 2017. https://doi.org/10.1515/9783050093215-003

  Naturphilosophie Auseinandersetzung mit diesem eine konstitutive Funktion im Rahmen allgemeiner philosophischer Begründungstheorien innehatten.8 Naturforschende Einzelwissenschaft dieses Zeitraums hatte somit je schon einen – kritischen oder affirmativen – Bezug zu allgemeinen Naturtheorien und deren zumeist fundierender Stellung für Erkenntnistheorie, Ethik, Politik und Ästhetik: »Die Philosophie muß sich aus der Naturphilosophie entwickeln, wie die Blüthe aus dem Stamm«, so Lorenz Oken in seiner die zeitgenössische Debatte nachhaltig prägenden Naturphilosophie.9 Unbestreitbar ist vor diesem Hintergrund, dass die Naturwissenschaften schon früh das gegenüber der Philosophie und der Dichtung gewichtigere Interesse Büchners ausmachten – ein Tatbestand, der in den 1820er und noch in den 1830er Jahren keineswegs eine Abkehr von der Philosophie bedeutete;10 deren differenzierte Kenntnis galt vielmehr als eine noch weitgehend unbestrittene Bedingung der Möglichkeit von Naturforschung.11 Dabei sah schon Friedrich Sengle richtig: »Seine [d. i. Büchners] Naturwissenschaft ist in ihrem Kern Naturphilosophie.«12 Die Bedeutung einzelner, höchst unterschiedlicher Modelle dieser Naturphilosophie13 für Büchner wird in der Folge neben und in Konkurrenz zu anderen Ausprägungen der zeitgenössischen Naturforschung zu überprüfen sein.14 Im Zusammenhang dieser kontextuellen Bedingungen für Büchners Naturforschung, die in einem ersten Schritt das direkte Umfeld seiner Ausbildung zu betrachten hat und in einem zweiten Schritt den umfassenderen Kontext der zeitgenössischen Naturforschung berücksichtigen muss, ist zunächst dessen besondere Entwicklung vom Studenten der praktischen Medizin zum ›evolutionstheoretischen‹ Naturforscher (vordarwinscher Provenienz)15 nachzuzeichnen. Diese zweiteilige Kontextualisierung ist auch deshalb erforderlich, weil sie gegenüber den Ergebnissen Udo Roths  8 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 1988, S. 1–56; Poggi u. Röd 1989; von Engelhardt 1997, S. 35ff.; Breidbach 2006, S. 211ff.; Breidbach 2012; Höppner 2017, S. 109–165. 9 Oken 2007, II, S. 428 (Ax. 3457); zur Stellung der okenschen Naturphilosophie im Tableau europäischer Naturwissenschaften im ersten Drittel des 19. Jahrhundert vgl. Breidbach u. Ghiselin 2002 sowie Höppner 2017, S. 705ff. 10 Erst die 1840er Jahre bringen mit ihrer radikalen Wende zu den empirischen Einzelwissenschaften einen durch Feuerbrach verstärkten Trend zur Negation von Philosophie überhaupt, vgl. Lefèvre 1992, S. 81ff. 11 Vgl. hierzu u.a. Breidbach 1988, S. 7ff.; von Engelhardt 1997; Mischer 1997, S. 165ff.; Jahn (Hg.) 3 2004, S. 275–355; Richards 2002, S. 207–321 und Breidbach 2006, S. 175ff. u. S. 211–222; dass auch Büchners empirische Studien auf der Grundlage naturphilosophischer Kategorien erfolgten, wussten noch Löbel 1937, S. 116; Viёtor 1949, S. 247 und Golz 1964; danach erst wieder Schramm 1989; Reddick 1990; Stiening 1999 und Roth 2004, auf deren Grundlage jetzt Beise 2010, S. 89ff.; Hauschild 2013, S. 209ff. und Kurzke 2013, S. 359ff. 12 Sengle 1971–1980, III, S. 278. 13 Zu diesen z. T. erheblichen Differenzen vgl. schon Bonsiepen 1997. 14 Vgl. hierzu u. a. Strohl 1936, Schramm 1989 sowie Roth 2002. 15 Zu den begründungstheoretischen Konturen und einem Tableau vordarwinscher Evolutionstheorien vgl. Breidbach 1986; Corsi 2005 sowie Lefèvre 2009.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

einige Erweiterungen und Präzisierungen bietet und gegenüber den Angaben der Marburger Büchner-Ausgabe Richtigstellungen vornehmen kann. Im Zentrum der Erörterung wird eine systematische Rekonstruktion der Begründungformen, Gehalte und Ziele der büchnerschen Naturforschung stehen, die allerdings aufgrund ihrer erheblichen Abhängigkeit vom historischen Kontext einer Einbettung in ihre Entwicklungsgeschichte bedürfen.16

. Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler Auch wenn es einer älteren ebenso wie einer neueren, poststrukturalistisch inspirierten Forschung17 schwer fällt: Büchner ist weder Mediziner geworden, noch je schon Naturwissenschaftler gewesen.18 Es macht gerade den nicht eben konfliktfreien Entwicklungsgang seiner Ausbildung aus, vom Studium der praktischen Medizin zur Naturforschung und damit sowohl institutionell als auch disziplinär von der medizinischen zur philosophischen Fakultät zu wechseln. Büchners Vater, lange Jahre gesellschaftlich und fachlich hochangesehener Arzt in Darmstadt,19 hat diesen Fächer-, Institutionen- und damit Berufswechsel seines Sohnes kritisch verfolgt, und zwar auch deshalb, weil er um die schwierigen beruflichen Bedingungen einer akademischen Existenz als Naturforscher in den 1820er und 1830er Jahren wusste.20 Die von der Forschung in eigentümlicher Weise überbewertete persönliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn Büchner,21 die nach der Flucht des Sohnes im Februar 1835 vor allem mit Georgs politischen Geheimaktivitäten zusammenhing,22 wurde auch um die Frage der beruflichen Existenz des Sohnes aus 16 Insofern ist die auch in diesem Kapitel realisierte methodische Vermittlung von Entwicklungsgeschichte und Systematik nicht einem Vollständigkeitspostulat geschuldet, sondern vielmehr dem Versuch eines systematischen Verständnisses eines heute weitgehend enigmatischen Textes. 17 So die um die Bedeutung der Neuroanatomie für Büchners Literatur bemühte Arbeit von MüllerNielaba 2001, S. 10, in der Büchner als Mediziner behandelt wird. 18 So aber vereinfachend MBA VIII, S. 176f. und Kurzke 2013, S. 230f. 19 Zu Karl Ernst Büchner vgl. Franz u. Loch 1987, S. 66–73; Hauschild 1993, S. 2–11, S. 16ff. u. ö.; Martin 2007, S. 21f.; Kurzke 2013, S. 114ff. 20 Vgl. hierzu u. a. Wehler 31996, S. 504–520. 21 Vgl. – ausgehend von Hauschild 1993, S. 2–11, S. 16–21 – die Angriffe Mayers 1995–2000c, S. 452f., die in eine eigentümliche Apologie Ernst Büchners münden. Zurückhaltender die gleichwohl ebenso problematischen Thesen der MBA (VIII, S. 176f.), die durch den Abgrenzungszwang zu Hauschilds angeblich narrativem Muster zu einer Marginalisierung des institutionellen und beruflichen Konfliktes zwischen Medizin und Naturforschung gezwungen ist; zum ungebrochenen Interesse an einer fabulierenden Überhöhung dieses biographischen Details vgl. auch Kurzke 2013, S. 114– 123. 22 Vgl. den Brief Ernst Büchners an Georg vom 18. Dezember 1836, in: P II, S. 458–460/MBA X.1, S. 112–114.

  Naturphilosophie getragen. Sicher unterstützte der Vater spät die wissenschaftliche Laufbahn des Sohnes,23 zunächst aber scheint er von Georgs naturphilosophischen Ausflügen wenig überzeugt gewesen zu sein. Auch wenn Georg Büchner sich noch vor Beginn des Studiums über die Ausrichtung seiner Studien mit dem Vater einig gewesen zu sein scheint,24 so dürfte schon im Laufe der ersten beiden Straßburger Jahre die Entscheidung gegen die Medizin und für die Naturforschung gefallen sein. In dieser konfliktreichen Trennung erweist sich Büchner als Kind der 1830er Jahre, in denen – anders als noch während der Blütezeit romantischer Medizin und Naturforschung bis 182025 – die »enge Verbindung« beider Bereiche sich allmählich löste.26 So trennt Rudolph Wagner, der 1834/35 – also während der Studien- und Promotionszeit Büchners – ein Standardwerk zum Forschungszweig, das Lehrbuch der vergleichenden Anatomie, veröffentlichte, in seiner Vorrede nachdrücklich zwischen seiner Ausbildung zur praktischen Medizin und zur Naturforschung.27 Zwar wurden nach wie vor enge Verbindungen zwischen Naturphilosophie und Medizin postuliert, und um diese Vermittlung wurden auch erhebliche Kontroversen ausgetragen,28 so bei Büchners Gießener Dozenten in allgemeiner Naturphilosophie und vergleichender Anatomie, Johann Bernhard Wilbrand.29 Doch hatten sich in den 1830er Jahren die auf die Praxis ausgerichtete Medizin und die auf wissenschaftliche Theoriebildung ausgerichtete Naturforschung so weit ausdifferenziert, dass deutlich unterschiedliche Berufsbilder zu isolieren waren. Büchner tendierte ganz offensichtlich schon früh zur Forscherlaufbahn, ohne sich von der Ausbildung zum Brotberuf des Mediziners loszusagen: [I]n den ersten Tagen des October [1831] traf er in Straßburg ein, um dort hauptsächlich die Naturwissenschaften zu studiren und sich nebenbei für den Beruf des Arztes vorzubereiten […]. Er studirte seine Fachwissenschaft mit regem Eifer, machte in ihr ungewöhnliche Fortschritte und erwarb sich die Anerkennung der Lehrer. […] und Büchner’s Lieblingsfächer, die Anatomie und

 23 Vgl. P II, S. 45829–4596. 24 Vgl. die den Konflikt entschärfende Formulierung bei Ludwig Büchner: »Der Wunsch des Vaters und eigene Neigung bestimmten ihn für das Studium der Medicin und der damit verwandten Naturwissenschaften.« Zitiert nach Dedner (Hg.) 1990, S. 107. 25 Vgl. hierzu neben Rothschuh 1968, Rothschuh 1968a, S. 191–230; Rothschuh 1978, S. 248ff. und Rothschuh 1981, S. 146 insbesondere Wiesing 1995. 26 Siehe hierzu Bynum 1994, S. 37ff.; Gerabek 1995, S. 45ff.; von Engelhardt 1997, S. 20: »Naturforschung im Zeitalter der Romantik steht durchgängig in einer engen Verbindung zur Medizin.« Vgl. auch Breidbach 1998 und von Engelhardt 2008, S. 507–512. 27 Wagner 1834/35, S. V. 28 Vgl. Rothschuh 1981. 29 Vgl. Wilbrand 1815, S. VIII u. S. 5f. sowie Wilbrand 1831.

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Zoologie, waren von zwei ausgezeichneten Professoren, Lauth und Duvernoy, vertreten. Gegen die Medicin empfand er eine wachsende Abneigung.30

So hält der Freund, Georg Zimmermann, die Problemlage 50 Jahre später fest. Im folgenden soll zunächst die Entwicklung Büchners nachgezeichnet werden, die ihn vom anfänglichen Medizinstudium bis in eine Dozentur für Vergleichende Anatomie in Zürich führte. Schon vor Beginn des Studiums gab es erste Indizien für seine Berufswahl.

.. Schulzeit bis 1831: »Ich darf werden, wozu ich einzig tauge.« Anders als im Zusammenhang seiner philosophischen Beschäftigungen ist hinsichtlich etwaiger naturwissenschaftlicher, naturphilosophischer bzw. medizinischer Interessen Büchners während der Schulzeit kaum Nennenswertes dokumentiert. Sicher ist, dass er einen an Linné orientierten Unterricht in Pflanzenkunde erhielt;31 auch konnten sich die Schulkameraden an seine spezifischen Interessen für Naturwissenschaft erinnern und früh schon soll er »eifrig […] naturwissenschaftliche Bücher« gelesen haben.32 Erneut kann ein Blick auf Friedrich Zimmermanns Erinnerungen diese zeitige Ausrichtung der intellektuellen Biographie Büchners auf die Naturforschung illustrieren: Er warf sich frühzeitig auf religiöse Fragen, auf metaphysische und ethische Probleme, in einem inneren Zusammenhang mit Angelegenheiten der Naturwissenschaften.33

Schon während der Schulzeit befasste sich Büchner also sowohl mit spezifischen Erkenntnissen einzelwissenschaftlicher Naturforschung als auch mit deren allgemeiner, zu metaphysischen und ethischen Fragen Verbindung aufnehmender, begründungs- und geltungstheoretischer Funktion – noch im Woyzeck wird sich dieser Zusammenhang dokumentieren.34 Auch wenn die über Jahrzehnte rückprojizierte Behauptung, Büchner habe schon während der letzten Schulzeit »einen entschiedenen Beruf zum bedeutenden Naturforscher« gezeigt, zu einer Form nachträglicher Verklärung zu gehören scheint,35 wird doch deutlich, dass seine beruflichen und intellektuellen Interessen der wissenschaftlichen Naturforschung galten.

 30 Vgl. hierzu Erinnerungen Georg Zimmermanns an seinen Studienkollegen Georg Büchner; zitiert nach Hauschild 1985a, S. 330–346, hier S. 334. 31 Vgl. Lehmann 2005, S. 29–35. 32 Zitiert nach Hauschild 1985a, S. 333. 33 Zitiert nach MA, S. 371. 34 So auch Döhner 1967, S. 27–33, spez. S. 30. 35 MA, S. 372.

  Naturphilosophie Dass diese Interessen sich zunächst in einem Medizinstudium verwirklichen mussten, dürfte weniger einem »Lebensplan« des Vaters »für seinen Ältesten«36 bzw. einer wirksamen »Familientradition«37 geschuldet sein als vielmehr der wissenschaftstheoretischen, institutionellen und soziopolitischen Entwicklung der Universitäten und der an ihnen gelehrten Naturwissenschaften in den 1820er und 1830er Jahren. Zum einen begann sich an den deutschen Hochschulen erst in diesen Jahrzehnten des frühen 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen aus den medizinischen und philosophischen Fächern zu vollziehen, und dies in wissenschaftstheoretischer wie institutioneller Hinsicht.38 Berücksichtigt man, dass erst ab den späten 1830er Jahren Institute für Physiologie gegründet wurden,39 die – wie Johannes Müllers lange Kämpfe zeigen – zum Teil erst in den 1850er Jahren institutionelle Eigenständigkeit erlangten,40 wird erkennbar, in welch tiefgreifende Umbruchphase Büchners Studienbeginn fällt. Darüber hinaus werden die wissenschaftstheoretischen Kämpfe, die innerhalb der Naturwissenschaften zwischen philosophischer und experimentell-analytischer Ausrichtung ausgetragen werden, auch auf dem Felde der Medizin geführt.41 Es gibt in Naturforschung und Medizin zwischen 1800 und 1840 nicht nur einen allgemeinen Ausdifferenzierungsprozess, sondern auch eine besondere wissenschaftstheoretische Kontroverse, die in einen Verdrängungswettbewerb mündet, der erst nach 1840 von der analytischen Naturwissenschaft für sich entschieden wurde.42 Auch die Literatur reflektiert diesen kontroversen Prozess; so stellt etwa der Arzt in Immermanns Epigonen 1836 in seiner »Bekenntnisgeschichte« fest: Unsrer Wissenschaft steht überhaupt eine Umbildung bevor, und wenn es erlaubt ist, der Entwicklung der Dinge vorzugreifen, so möchte ich sagten: Wir werden uns der antiken Richtung wieder näher anschließen. Lange genug haben wir mit Pulvern und Pillen die Natur zu zwingen gewähnt, oder den lebendigen Leib an das Kreuz des Systems geschlagen, in Zukunft werden wir mehr beobachten.43

Büchner selbst wird seine vergleichend anatomischen Studien noch unter dem Dach der medizinischen (Gießen) und hernach der philosophischen Fakultät in Zürich

 36 So die den persönlichen Konflikt dramatisierenden Thesen Hauschilds 1993, S. 118f. 37 So ähnlich ratlos P II, S. 879. 38 Vgl. u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 13–89; Nipperdey 1994, S. 485–498. 39 Vgl. Kremer 1991 sowie Kremer 1992. 40 Vgl. Lohff 2005, S. 336f. 41 Vgl. Rothschuh 1981, S. 147; Lenoir 1992, S. 23ff. sowie Wiesing 1995, S. 120ff. u. S. 231ff. 42 Vgl. Breidbach 1988; Kremer 1991; Scheele 1991; Sawicki 2002, S. 131 sowie Engel 2002, S. 66Anm. 4 für die Anthropologie. 43 Immermann 1971, II, S. 561.

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ausüben und damit innerhalb eines gegenüber den institutionellen Innovationen, die in Frankreich, aber auch in Berlin statthatten,44 rückständigen Rahmens. Die grundlegende Umbruchs- und Verunsicherungssituation an den deutschen Universitäten der späten 1820er Jahre wird neben den disziplinären und wissenschaftstheoretischen Ausdifferenzierungen und Kontroversen auch dadurch gekennzeichnet, dass der seit 1805 stetige und in den 1820er Jahren massive Anstieg der Studentenzahlen just zu Studienbeginn Büchners seinen Höhepunkt überschritten hatte: Seit Beginn der 30er Jahre setzte jedoch ein drastischer Rückgang der Einschreibungen ein, als sich die relative Sättigung der vertrauten Arbeitsmärkte für Akademiker, scharfe Einschnitte wie der preußische Stellenstop im Zuge der Sparpolitik, die offiziellen Warnungen vor dem Studium, die Angst vor einem arbeitslosen Akademikerproletariat an allen Universitäten gleichartig als Abschreckung auswirkten.45

Dass Büchner seine naturwissenschaftlichen Interessen an ein Medizinstudium band, dürfte also zum einen institutionellen Gründen geschuldet gewesen sein, weil bestimmte Teilbereiche – u. a. allgemeine und vergleichende Anatomie und Physiologie – an medizinische Fakultäten gebunden waren. Zum anderen aber dürfte diese Studienwahl auch berufspragmatische Ziele verfolgt haben, weil Büchner als ausgebildeter Mediziner bessere Berufsaussichten hatte als im ›Heer‹ arbeitsloser Akademiker an den Universitäten.46 Die politische Verfolgung, die ungesicherte Existenz als Flüchtling ließen letztere Überlegungen allerdings Makulatur werden und ermöglichten so auch die Versuche einer von der medizinischen Praxis freien Existenz als Naturwissenschaftler und -philosoph. Im Frühjahr und Herbst 1831 scheint Büchner jedoch mit der anvisierten Form der Ausbildung durchaus zufrieden zu sein, er freut sich offenbar auf sein Studium: Ich fühle mich glücklich! Ich darf werden, wozu ich einzig tauge: Ich bin nie, auch nicht eine Sekunde lang im Zweifel über meinen Beruf gewesen.47

 44 Vgl. u. a. die Darstellung der Bildungs- und Studienentwicklung Matthias Jacob Schleidens in den mittleren und späten 1830er Jahren bei Charpa 2005, S. 630–635. 45 Wehler 31996, S. 514. 46 Insofern bleibt die in ihrer polemischen Abgrenzung gegen Hauschilds überpotenzierten VaterSohn-Konflikt bemüht »nüchterne Darstellung« der MBA VIII, S. 177ff., die Büchners Studium ausschließlich zu einem solchen der Naturwissenschaft macht, ebenso unzutreffend wie der psychologisierende Hauschild. Es gab in den 1830er Jahren gerade für Kinder aus Bildungsbürgerfamilien (vgl. Wehler 31996, S. 506ff.) erhebliche Probleme, Naturforschung zu studieren, die auch Georg Büchner nicht ignorieren konnte. Der von der MBA (VIII, S. 177) so gelobte Schulz hält im Übrigen fest, dass Büchner sich erst in Straßburg von der »praktischen Medizin […] entschieden« abgewendet habe. 47 Franzos nach Dedner (Hg.) 1990, S. 156; vgl. auch Bergemann 1922, S. 605.

  Naturphilosophie Auch wenn diese Aussage nur durch Emil Franzos übermittelt wurde, somit als ungesichert zu gelten hat,48 drückt sie in angemessener Weise Büchners Verhältnis zu seinen Studien- und Ausbildungsaussichten aus;49 ein nicht unerheblicher Grund für diese Freude lag womöglich in einer Besonderheit der Straßburger Universität.

.. Straßburg 1831–1833: Zwischen zwei gegensätzlichen Mentoren: ErnestAlexandre Lauth und Georges-Louis Duvernoy Straßburg und dessen Universität wählten Vater und Sohn Büchner als Studienort für Georg50 offenbar aus mehreren Gründen: Zum einen entsprach es dem Wunsch des Vaters, dass sich sein Sohn »mit der französischen Mentalität vertraut machen« sollte,51 was in ›Strasbourg‹, dieser internationalen Schnittstelle zwischen Deutschland und Frankreich, besonders einprägsam erfolgen konnte.52 Dies galt zumal, seit in den späten 1820er Jahren ein aktives politisch-liberales Bürgertum die kommunalen Obliegenheiten übernommen hatte, das die sprachlichen und nationalen Differenzen mehr produktiv kultivierte als zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zu machen,53 weil es eine gegenüber den nationalstaatlichen Interessen eigenständige kommunale Identität in politischer und kultureller Hinsicht ausprägte.54 Wenn überhaupt in diesen Jahren aus den Reihen der institutionalisierten Politik, dann entstanden im Straßburg der 1830er Jahre im Rahmen kommunalpolitischer Obliegenheiten erste Formen öffentlicher Sozial- und Bildungspolitik.55 Darüber hinaus – und das dürfte Georg Büchner besonders angezogen haben – waren an der Straßburger Akademie die Naturwissenschaften institutionell von der Medizin abgetrennt, auch wenn es personelle Überschneidungen im Lehrkörper gab: Seit 1810 existierte die eigenständige Faculté des Sciences neben der traditionellen Faculté de Médecine, und hier konnte Büchner neben Mathematik, Chemie und Physik auch Naturgeschichte und Botanik studieren.56 Obwohl die Philosophie schlecht besetzt war, wurde doch in einer Reihe von Fächern der medizinischen und der naturforschenden Fakultät »die Verbindung naturwissenschaftlicher und philo-

 48 Vgl. Dedner (Hg.) 1990, S. 496. 49 Vgl. hierzu auch zu Recht Gundolf 1973 [EA 1929], S. 82: »In der Naturwissenschaft ahnte er schon früh seine eigentliche Bestimmung.« 50 Zum Folgenden vgl. auch Döhner 1967, S. 34–36; Hauschild 1993, S. 139–145; P II, S. 880; Roth 2004, S. 24–33; MBA VIII, S. 178–182. 51 Hauschild 1993, S. 120. 52 Vgl. hierzu auch anschaulich Hauschild 1993, S. 169–181. 53 So auch Werner 1987, S. 119. 54 Vgl. hierzu Lutterbeck 2011, S. 85–160. 55 Vgl. ebd., S. 122ff. 56 Vgl. Livet 1996, S. 181–203.

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sophischer Disziplinen gelehrt«;57 auch das dürfte Büchner an die Straßburger Akademie gezogen haben.58 Eingeschrieben war Büchner in der medizinischen Fakultät,59 und dies wohl auch, weil es seinem Ziel wie dem seines Vaters entsprach, in Hessen das Studium beenden zu können, was nur bei einer Ausbildung im Rahmen einer medizinischen Fakultät möglich war. Welche Veranstaltungen, d. h. Vorlesungen und praktische Übungen (u. a. in der Anatomie) Büchner in Straßburg besuchte, ist unbekannt, da es zu dieser Zeit noch keine Studienordnung gab, und zwar weder für das Medizin- noch für das Naturwissenschaftsstudium.60 Dennoch dürfte Büchner zu Beginn seines Studiums vor allem vorklinische, d. h. allgemein naturgeschichtliche bzw. -wissenschaftliche Vorlesungen und Übungen besucht haben. Größten Einfluss, so sagen alle zeitlich nahen Dokumente,61 übten dabei der Naturhistoriker und vergleichende Anatom Georges-Louis Duvernoy62 und der Anatom und Physiologe Ernest-Alexandre Lauth63 auf Büchner aus. Beide stellten ihm während des späteren Exils ihre Bibliotheken für seine Promotion zur Verfügung;64 nach Lauth hat sich Büchner auch im Hinblick auf persönliche Erlebnisse und Ereignisse erkundigt.65 Es ist in der Forschung üblich geworden, diese beiden »Mentoren«66 Büchners als Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftstheorien und -methodologien zu beschreiben, wobei Lauth als Repräsentant einer an Schelling bzw. Geoffroy SaintHilaire orientierten Naturphilosophie, Duvernoy dagegen als Repräsentant einer an Cuvier geschulten empirisch-einzelwissenschaftlichen Naturforschung charakterisiert wird.67 Vor allem die neuere Büchner-Forschung ist bei dieser Gegenüberstellung daran interessiert, Büchner stärker an Duvernoy als an Lauth anzubinden,68 weil man Büchner als Ikone einer kritischen Moderne offenbar ungern in eine als

 57 So auch Mayer 1985, S. 77; Knapp 32000, S. 11; vgl. auch P II, S. 1027 sowie Stiening 2002, S. 47f. 58 Anders hier – allerdings von den Ergebnissen der neueren Forschung völlig unberührt – Oesterle u. Oesterle 2008, S. 257, die von der »empir. Wissenschaftsmethode der Franzosen« sprechen. Ein Blick in Livet 1996 hätte diesen paradigmatischen Fehler verhindern helfen. 59 Vgl. Hauschild 1993, S. 139f.; MBA VIII, S. 178. 60 Vgl. Wieger 1885, S. 152. 61 Vgl. Ludwig Büchner in: Dedner (Hg.) 1990, S. 108; Zimmermann in: Hauschild 1985a, S. 334. 62 Zu Duvernoy vgl. ausführlich Guillerey 1968 sowie Livet 1996, S. 188f. 63 Zu Lauth vgl. ausführlich Becker 1972 sowie Livet 1996, S. 245f. 64 Vgl. Hauschild 1993, S. 231; Roth 2004, S. 33; MBA VIII, S. 181. 65 Brief von Boeckel an Büchner vom 3. September 1833, in: P II, S. 372–374/MBA X.1, S. 25–27. 66 So MBA VIII, S. 192. 67 Vgl. hierzu u. a. Strohl 1936, S. 41f.; Mayer 1972, S. 57; Viëtor 1949, S. 217; Döhner 1967, S. 34f.; Hauschild 1985, S. 360; Dedner 1989, S. 572; Hauschild 1993, S. 141–143; Arz 1996, S. 78; P II, S. 880; Roth 2004, S. 29–31; Wenzel 2007, S. 170f.; MBA VIII, S. 181f. bzw. S. 192–194; Borgards 2009, S. 124; Beise 2010, S. 312f.; Kurzke 2013, S. 346ff.; Elms 2015, S. 120–126. 68 Vgl. u. a. P II, S. 880; MBA VIII, S. 192–194; Beise 2010, S. 92f.

  Naturphilosophie überholt bewertete naturphilosophische Tradition einbetten möchte.69 Indem man Duvernoy zum Empiristen erklärt und Büchner zu seinem Schüler,70 sieht man zudem die Möglichkeit, diesen in die Übergangsgeschichte zur analytischen Naturwissenschaft einzuschreiben,71 die sich ausgehend von Johannes Müller um die Mitte des Jahrhunderts ereignete.72 So unzulänglich sich die wissenschaftstheoriegeschichtlichen wie methodologiehistorischen Darstellungen der Differenzen zwischen Duvernoy und Lauth ausnehmen, so normativ überlagert wirken die an einem ›empirischen‹ Büchner orientierten Thesen seiner Nähe zu Duvernoy und Cuvier. Gegenüber solcherart Spekulationen ist vielmehr gesichert, dass Büchner zu einem Zeitpunkt (November 1831) an die Straßburger Universität kam, an dem der berühmt-berüchtigte Akademie-Streit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire73 im Oktober 1830 kaum ein Jahr vergangen war und daher noch seine Nachwirkungen weit über Paris hinaus zeitigte. Bekanntermaßen hat sich Goethe für diese Wissenschaftskontroverse in hohem Maße interessiert, auch wenn oder gerade weil er die Prominenz dieses Streites, die noch die Pariser Fisch-Weiber davon parlieren ließ, beneidete.74 In den Repräsentanten Duvernoy (Cuvier-Schule) und Lauth (Geoffroy-Schule), aber auch durch die Mediziner und Naturwissenschaftler Ehrmann, Meunir oder Bérot75 wurde die Kontroverse auch in Straßburg fortgesetzt. Erfahrungsfundierung wurde allerdings – wenn auch in je unterschiedener Form und Begründung – von beiden Fraktionen für die eigene Naturforschung in Anspruch genommen.76 Der Bezug auf Empirie überhaupt reicht mithin für eine qualifizierende Differenzierung der unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Ausrichtungen nicht aus.77

 69 Zurückhaltender, aber unentschieden Martin 2007, S. 33; anders dazu und einzig angemessen Roth 2004, S. 33: »Vieles deutet jedoch darauf hin, daß er bereits während seiner ersten Semester die naturphilosophische Ansicht und deren spezifische Ausformung in der Lehre Lauths favorisierte.« 70 Als der er auch von Duvernoy beansprucht wird, vgl. MBA VIII, S. 193. 71 Vgl. Poggi u. Röd 1989. 72 Döhner 1967 und MBA VIII, S. 246ff. 73 Vgl. hierzu ausführlich Apelt 1987 sowie Le Guyader 2004, S. 225ff. 74 Vgl. hierzu Goethe 1988, S. 219–250 sowie Kuhn 1967; Breidbach 2006, S. 175–181 und McBirney 2009, S. 99–108. 75 Zu diesen medizinischen und naturwissenschaftlichen Professoren der Akademie vgl. Roth 2004, S. 25ff. 76 Vgl. u. a. Bach 2001, S. 81f.; Breidbach 2004, S. 153–159; Breidbach 2006, S. 175–181. 77 Vgl. hierzu auch Jahn 32004a, S. 290ff.; Geus 32004, S. 325ff. sowie Höppner 2017, S. 58.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

... Büchner und die Cuvier-Schule Eine von den normativen Implikationen der analytischen Naturwissenschaft kategorial nicht mehr überformte Wissenschaftsgeschichte78 hat die Position Cuviers und Duvernoys, der sich zu Recht als Freund und Schüler Cuviers bezeichnete,79 in einer Weise rekonstruiert, die nicht nur die je spezifische Bedeutung von Erfahrung und Experiment in Cuviers klassifikatorischer Naturforschung einerseits sowie in der Naturphilosophie Schellings oder Geoffroy Saint-Hilaires andererseits zu bestimmen erlaubt,80 sondern – auf dieser Grundlage – auch die erheblichen systematischen und methodischen Differenzen des Naturforschers Georg Büchner zur Cuvier-Schule sichtbar werden lässt.81 Dabei erweist sich Cuviers ›strenger Empirismus‹ durch die theonome Begründungskonzeption für Essenz und Existenz der Natur überhaupt sowie durch die daraus resultierende typologische Kontur der Naturordnung in epistemologischer wie methodologischer Hinsicht als erheblich eingeschränkt.82 Von einer »strikt empirisch beschreibenden Vorgehensweise«83 im Sinne einer »empiristisch-experimentellen, mathematisch-physikalischen Methode«84 der analytischen Naturforschung ist weder für Cuvier noch für Duvernoy zu sprechen.85 Das unterscheidet sie allerdings noch nicht von Büchner, für den ebenfalls von einem strengen Empirismus weder in wissenschaftsmethodischer noch in erkenntnistheo-

 78 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 2004 und Breidbach 2006, S. 211–222, spez. S. 216f. 79 Vgl. Duvernoy 1839, S. 4; siehe auch Le Guyader 2004, S. 13. 80 Vgl. hierzu Rieppel 2001 und Rieppel 2001a sowie Breidbach 2004. 81 Zum Folgenden vgl. Cheung 2000, S. 17–39; Rieppel 2001, S. 139–156; Backenköhler 2002 sowie Breidbach 2006, S. 175–181. 82 Vgl. hierzu schon Coleman 1964, S. 170ff. sowie Rieppel 2001, S. 151. 83 So P II, S. 880. 84 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 20. 85 Insofern ist der Versuch, Cuvier zum »Empiriker« zum machen (P II, S. 880 u. S. 892; MBA VIII, S. 252), um damit Büchner in eine Geschichte der analytischen Naturwissenschaften einzuschreiben, ebenso falsch wie plump. Wenn darüber hinaus behauptet wird, Büchner habe die »Anwendung der romantischen Naturphilosophie« nur soweit getrieben, wie es »auch die Cuvier-Schule noch akzeptieren konnte« (ebd.), ist der Bogen weltanschaulicher Wahrheitsabwehr endgültig überspannt. Büchner hat sich vor allem (hier u. a. Wilbrand verwandt) von der theonomen Legitimation der angeblich natürlichen Klassifikationssysteme der Cuvier-Schule abgegrenzt und mit der Naturphilosophie einen von Cuvier strikt abgewiesenen Erklärungsanspruch verfolgt. Dass er den empirischen Ergebnissen der vergleichenden Anatomie Cuviers gleichwohl verpflichtet war, wie die gesamte Zunft, spricht nicht für eine systematische oder methodische Nähe. Ausgerechnet die theologisch fundierte Cuvier-Schule als den Hort empirischer Vernunft gegen die Spekulationen der Naturphilosophie (deren »romantische« Provenienz es für Büchner erst noch zu überprüfen gilt) zu inthronisieren, stellt die Forschungslandschaft zur Naturwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts auf den Kopf.

  Naturphilosophie retischer Hinsicht gesprochen werden kann.86 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass sich der schon im späten 18. Jahrhundert machtvoll entfaltende experimentelle Empirismus der analytischen Schule auch gegen die naturphilosophischen Tendenzen im frühen 19. Jahrhundert in schweren Kontroversen zu behaupten wusste;87 welch prekäre, ja unsichere Stellung dem rechtlich und moralisch unbegrenzten Experimentalismus im frühen 19. Jahrhundert im öffentlichen Diskurs zukam, zeigt jedoch nicht nur Büchners Woyzeck, sondern ein schnell berühmt werdender Roman, dessen erste Kapitel im Februar 1837 veröffentlicht wurden: Oliver Twist. Hier heißt es im zweiten Kapitel: Everybody knows the story of another experimental philosopher who had a great theory about a horse being able to live without eating, and who demonstrated it so well, that he had got his own horse down to a straw a day, and would unquestionable have rendered him a very spirited and rampacious animal on nothing at all, if he had not died, four-and-twenty hours before he was to have had his first comfortable bait of air. Unfortunately for, the experimental philosophy of the female to whose protecting care Oliver Twist was delivered over, a similar result usually attended the operation of her system.88

Es ist die gehaltliche Universalität und die aus dieser Unbegrenztheit resultierende ethische Indifferenz des Experimentalismus, der europaweit in den 1830er Jahren in Frage steht. Hinsichtlich der grundlegenden Differenzen der büchnerschen Naturforschung zur Cuvier-Schule ist vielmehr entscheidend, dass sowohl Cuvier als auch Duvernoy eine letztlich theonome Naturtheorie entwerfen, nach der die »Vielfalt der Formen als Resultat einer Göttlichen Schöpfung«89 zu interpretieren bzw. zu erklären ist.90 Bis in die Einzelheiten beispielsweise seiner katastrophischen Naturgeschichtstheorie, nach der in sich entwicklungsfreie Zeitalter durch sintflutartige Katastrophen beendet würden, um hernach durch neue abgelöst zu werden, reichen die »theologische[n] Gründe« ihres Argumentierens.91 Im Hinblick auf die aus dieser Prämisse einzig mögliche präformationistische Entstehungstheorie,92 nach der die Keime aller Arten und Gattungen schon durch die Schöpfung Gottes vollständig hervorgebracht worden seien – was für Cuvier alle Entwicklungsgeschichte als kontinuierliche ver-

 86 Das wusste schon Sengle 1971–1980, III, S. 276–279; insofern ist die These Fricks (2004, S. 264), Büchner sei »Anhänger der neuen experimentellen Richtung der physiologischen Forschung«, mithin der analytischen Schule gewesen, wissenschaftsgeschichtlich unzutreffend. 87 Vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 13ff. 88 Dickens 1982, S. 4f. 89 Breidbach 2006, S. 177. 90 Vgl. auch Coleman 1964, S. 26ff. 91 Müller 1990, S. 284. 92 Vgl. hierzu ausführlich Lepenies 1978, S. 52ff. und Jantzen 1994, S. 580ff.; Goy 2017, S. 288ff.; in Bezug auf Cuvier: Rieppel 2001, S. 148.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

unmöglichte und die »Variabilität der Arten« erheblich begrenzte93 –, hält Duvernoy in einer 1839 veröffentlichten Vorlesung mit Bezug auf Cuvier deutlich fest: M. Cuvier avait indiqué ce quì lui restait à dire pour vider la grande question de l’évolution et de l’épìgénèse, et pour développer ensuite sa proper manière d’envisager l’étude de la création.94

Auch für den Schüler und Nachfolger Cuviers auf dem Pariser Lehrstuhl für Zoologie, Georges-Louis Duvernoy, betont einer seiner ersten Biographen die theologische Fundierung der Natur- und Naturwissenschaftsvorstellung: Eminemment religieux, il comprit la science des êtres organisés comme une éclatante démonstration du Dieu qui les a conçus et créés. L’homme, spectacteur intelligent de cette longue manifestation de son Dieu, lui apparaissait comme destiné à une vie future dont la ferme croyance a soutenu son courage dans une lente et douloureuse agonie, et rasséréné son visage jusque sous les droigts glacés de la mort. Ses idées de haute philosophie dominaient toutes ses doctrines purement scientifiques.95

Büchners ›Natur‹ aber ist – wie sich zeigen wird – keineswegs eine Schöpfung Gottes, weil es die Instanz einer transzendenten »Intelligence suprême«96 in seiner Naturphilosophie gar nicht gibt bzw. nicht geben kann, denn die Natur wird als eigenständig handelnde immanente Substanz bestimmt.97 Seine allgemeine Naturkonzeption schließt den Schöpfungsgedanken a priori aus. Zwar neigte er – wie die Probevorlesung zeigt98 – einer präformationistischen Entwicklungstheorie zu, doch in der Form einer kontinuierlichen Realgenese,99 die der theonomen Katastrophentheorie Cuviers entgegenstand;100 zudem greift Büchner auch für die Erklärung von natürlichen Entwicklungsprozessen nicht auf eine Gottesinstanz zurück. Im Zusammenhang seiner Evolutionstheorie ist er seinen Gießener Lehrern, Joseph Hillebrand und Johann Bernhard Wilbrand, deutlich näher als der Cuvier-Schule. Nirgends klarer als an bestimmten Konsequenzen der jeweiligen Evolutionstheorien lässt sich die substanzielle Differenz Büchners zu Cuvier-Schule verdeutlichen: Denn wie Oliver Rieppel präzise herausarbeitete, führt Cuviers statische Typo-

 93 Ebd.; Müller 1990, S. 284. 94 Duvernoy 1839, S. 3. 95 Focillon 1855, S. 7. 96 Duvernoy 1839, S. 3. 97 Vgl. u. a. MBA VIII, S. 10037–41; siehe hierzu auch Stiening 1999, S. 104 u. S. 108. 98 Vgl. MBA VIII, S. 15914ff.. 99 Zu den Formen vordarwinscher Evolutionstheorien vgl. Breidbach 1986, zu Büchners Stellung in diesem Tableau vgl. Stiening 1999, S. 111f. 100 Vgl. hierzu Coleman 1964, S. 107–140; Müller 1990, S. 281–300; Rieppel 2001, S. 148–153; Backenköhler 2002; dass Büchner wusste, gegen was er sich wandte, zeigt eine Anspielung in Dantonʼs Tod. Vgl. MBA III.2, S. 753–5.

  Naturphilosophie logie der Tierklassen zu einer merklichen Distanz zum Konzept einer ›Kette der Wesen‹; gegenüber seinem Freund und Kollegen Christian Heinrich Pfaff meditiert Cuvier schon in den 1790er Jahren: Ich glaube, daß im Wasser lebende Tiere für das Wasser geschaffen wurden und andere für das Leben in der Luft.101

Aus dieser Prämisse wird Cuvier im Rahmen der Auseinandersetzung mit Geoffroy Saint-Hilaire ableiten, dass ein »Vergleich des Kiemendeckels der Fische mit dem Gehörknöchelchen der Terapoden« unzulässig sei.102 In expliziter Anlehnung an Lorenz Oken wird Büchner jedoch einen solchen Vergleich im Rahmen seiner komparativ-anatomischen Studien ziehen: […] denn das Ohr ist, wie Oken nachgewiesen hat, mit Ausnahme des Labyrinths nichts anderes als eine Umbildung der Kiemenhöhle.103

Eine zweite wesentliche Differenz zeigt sich darin, dass sich die Cuvier-Schule im Zusammenhang ihrer Organismustheorie und dem dafür entwickelten »Gesetz der Korrelation der Teile«104 ausdrücklich der Kategorie der »Zweckursache« bediente;105 in der Vorrede von Le Règne Animal von 1817 führt Cuvier unmissverständlich aus: L’histore naturelle a cependant aussi un principe rationnel qui lui est particulier, et qu’elle emploie avec avantage en beaucoup d’occasions; c’est celui des conditions d’existence, vulgairement nommé des causes finales. Comme rien ne peut exister s’il ne réunit les conditions qui rendent son existence possible, les différentes parties de chaque être doivent être coordonnées de manière à rendre possible l’être total, non-seulement en lui-même, mais dans ses rapports avec ceux qui l’entourent; et l’analyse de ces conditions conduit souvent à des lois générales tout aussi démontrées que celles qui dérivent du calcul ou de l’expérience.106

Demgegenüber verwarf Büchner ausdrücklich die Kategorie der Zweckursachen, weil sie für jede seriöse Naturforschung unbrauchbar sei; mit allem Nachdruck hält er fest: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken; sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf […].«107  101 Rieppel 2001, S. 141. 102 Ebd. 103 MBA VIII, S. 7116f.. 104 Zu diesem Gesetz vgl. Geus 32004, S. 327. 105 Vgl. auch Lubosch 1931, S. 19; Coleman 1964, S. 38–43; Probst 1966, S. 162. 106 Cuvier 1829, S. 5f.; die These aber, dass dieses Teleologiekonzept aristotelisch sei (Coleman 1964, S. 42f. sowie Rieppel 2001, S. 146), ist unzutreffend. 107 MBA VIII, S. 15340f.; in ihrem Kommentar sehen die Autoren der MBA gerade in dieser büchnerschen Konzeption eine Nähe zu Duvernoys »Glaube an die relative Vollkommenheit jedes Organismus«. Bezug nimmt man auf Duvernoy 1839, S. 3, wo der Straßburger Naturhistoriker davon spricht, dass »chaque être est parfait et variable«. Es hatte sich aber schon im Zusammenhang der philoso-

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

In einem dritten zentralen Theoriemoment widersprechen sich Büchner und die Cuvier-Schule erneut kontradiktorisch: Wie für das Gros der zeitgenössischen Naturforschung stellt auch für Cuvier das Prinzip der Selbsterhaltung eines der fundamentalen Gesetze aller natürlichen Lebenswesen dar: Un corps organisé, comme une plante, un animal, est composé d’un tissu de solides qui contiennent des fluides en mouvement. Toutes ses parties ont une action réciproque les unes sur les autres, et concourent à un but commun, qui est l’entretien de la vie.108

Auch Duvernoy spricht axiomatisch von der »continuation du mouvement vital, […] que la mort naturelle devienne ainsi la suite nécessaire de l’action de la vie et de sa durée, dont la mesure est dans l’essence de notre organisation«.109 Büchner aber führt in seiner allgemeinen Naturtheorie aus, dass für die »philosophische Methode« der Naturforschung, die er als seine eigene emphatisch in Anspruch nimmt, »das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht« werde.110 Theonome Verursachung, Zweckursache und Selbsterhaltungsprinzip gehören zu den systematischen und methodischen Fundamenten der cuvierschen Natur- und Naturwissenschaftskonzeption sowie seiner Schule; Büchners Naturforschung weicht in diesen grundlegenden Prinzipien und Axiomen von deren Gehalten ab, so dass der Versuch Duvernoys, Büchner als seinen Schüler in diese wissenschaftstheoretische Position und ihre Tradition zu integrieren,111 nur wissenschaftspolitisch erklärt werden kann: Duvernoy ist es offensichtlich darum zu tun, die empirischen Ergebnisse der büchnerschen Arbeit als Produkte der Methodik und Systematik der von ihm vertretenen Schule auszuweisen. Dass Büchner tatsächlich empirische Ergebnisse vorzuweisen hatte, auch wenn die vergleichend-anatomische Interpreta phischen Skripte gezeigt, dass Büchner jedweden Vollkommenheitsbegriff als kategorial tragfähigen zurückzuweisen bemüht war, weil er ihn als Ideologem verstand; zudem darf die Selbstzweckhaftigkeit allen Seins keineswegs mit der Kategorie der Vollkommenheit verwechselt werden (vgl. hierzu grundlegend Kant 1983, VI, S. 154), und letztlich ist die Zuschreibung eines »Glaubens« zu Büchners Naturforschung (MBA VIII, S. 192) seiner methodischen Position unangemessen. Die MBA hätte hier stärker auf Schramm (1989, S. 128) und Roth (2004, S. 232–236) zurückgreifen sollen, die den Unterschied zu Cuvier in Hinsicht auf das Teleologieproblem klar herausarbeiten. 108 Cuvier 1798, S. 5; vgl. auch Cuvier 21829, Bd. I, S. 36; zur Stellung des Selbsterhaltungstheorems in der allgemeinen Naturtheorie Cuviers vgl. Cheung 2000, S. 24ff. 109 Duvernoy 1839, S. 11. 110 MBA VIII, S. 1553–5. MBA VIII, S. 544 kommentiert dieses Theorem nicht und bleibt daher bei ihrer Anbindung Büchners an Duvernoy. 111 Vgl. hierzu Duvernoy 1839, S. 25, wo der mittlerweile in Paris residierende Duvernoy von »M. Büchner, mon élève« spricht; MBA VIII, S. 181f. u. S. 192ff. macht daraus, weil man den CuvierSchüler als Empiristen missversteht und sich um eine systematische Rekonstruktion der theonomen Klassifikationssysteme nicht bemüht, ein enges Schüler-Lehrer-Verhältnis: Das bleibt aber, weil Büchner selbst zwar Empiriker, aber kein Empirist war, wenig überzeugend.

  Naturphilosophie tion dieser Befunde nicht durchgängig geteilt wurde, zeigt die Rezension des Mémoire durch keinen Geringeren als Johannes Müller,112 der sich im Hinblick auf allgemein naturphilosophische und selbst speziell neuroanatomische Erklärungsmodelle von Büchner erheblich unterschied und dennoch vor allem Lob für die empirischen Erkenntnisse, aber auch Momente von deren Deutung spendete.113 Von den naturphilosophischen Differenzen in methodischer und systematischer Hinsicht, die Büchner zwar schon in der ›partie philosophique‹ des Mémoire in Grundzügen deutlich machte, jedoch erst in der Probevorlesung vollständig entwickelte, konnte und wollte Duvernoy offenbar absehen; sicher war zudem, dass sich Büchner dieser Vereinnahmung nicht mehr erwehren konnte; und auch Lauth, der auf den Titel eines ›Lehrers‹ eher hätte Anspruch erheben können, war 1837 verstorben. Qualität und Quantität der grundlegenden Differenzen Büchners zur CuvierSchule sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch gewichtige Gemeinsamkeiten zwischen Duvernoys Naturforschung und der seines Studenten und Protegés gab. Dazu gehört zunächst die inhaltliche Nähe der Arbeitsschwerpunkte: Duvernoy – der über Hysterie promoviert worden war,114 was bei Büchner spätestens im Zusammenhang seiner Lenz-Novelle erhebliches Interesse geweckt haben dürfte – unterrichtet während dessen erstem Aufenthalt in Straßburg 1831 bis 1833 im Schwerpunkt Zoologie; diese Veranstaltungen hat Büchner offenbar besucht.115 Dabei konnte er von den Differenzen in begründungstheoretischer und methodischer Hinsicht durchaus absehen, weil die nur formelle Typologie Duvernoys genügend Raum für beobachtende oder experimentelle Erfahrungsakkumulation zuließ. Darüber hinaus war der Straßburger Zoologe und Naturhistoriker, dessen Freundschaft sich Johann Friedrich Meckel ausdrücklich rühmte,116 stets exzellent über den Stand der europaweiten Forschung informiert; das zeigen noch seine Leçons aus dem Jahre 1839, in denen er die französische, die englische und die deutsche Naturforschung systematisiert vorzustellen weiß. Eine sowohl begriffliche – und nicht nur terminologische – als auch sachliche Nähe ergibt sich zudem bei der Verwendung eines Begriffs der ›Harmonie‹, den Cuvier und mit ihm Duvernoy für das Verhältnis der Momente eines Organismus, mithin der Organe und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegungen annehmen, sowie der Interaktion dieses Organismus mit seiner Umwelt:

 112 Vgl. Müller 1837; abgedruckt in P II, S. 607–612 sowie MBA VIII, S. 598–601. 113 Ebd., S. 598–601; zu Müllers Stellung in den kontroversen Debatten der 1830er Jahre vgl. Gregory 1992; Breidbach 2005; Lohff 2005 sowie Otis 2007, S. 3ff. 114 Vgl. Duvernoy 1800. 115 Vgl. Roth 2004, S. 32. 116 Vgl. Meckel 1806, Vorrede [unpag,]; vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2002, S. 307.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Die ganze Organisation eines Tieres steht in notwendiger Harmonie zu seiner Lebensweise. Die Kauorgane müssen in Beziehung zur Nahrung stehen, und konsequenterweise in Beziehung zur ganzen Organisation.117

Cuvier geht es mithin um die Festlegung einer apriorischen, inneren und äußeren Harmonie, die er auch mit dem übergeordneten Begriff einer »économie organique« belegt.118 Diese Prämissen und ihre begriffliche Fassung teilt auch uneingeschränkt sein Schüler Georges-Louis Duvernoy: C’est dans cette partie surtout qu’on a renouvelé les idées de la philosophie ancienne, qui devinait la nature au lieu de l’observer, qui la créait dans ses conceptions, faute de la connaître dans ses admirables détails et de parvenir, par cette seule voie, à en comprendre, avec vérité, l’ensemble et l’harmonie. Dans ces théories on a cherché à établir un certain nombre de lois que l’esprit humain se flatte d’avoir découvertes, et qui réglent, selon ses vues, l’économie générale de la nature.119

Büchner nun bedient sich ebenfalls eines solchen Harmoniebegriffs – allerdings zur Bestimmung der »Aeußerungen eines und desselben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören«.120 Es geht Büchner mithin nicht um die Kompossibilität der Teile eines Organismus, sondern um die Kompatibilität und Widerspruchsfreiheit von gesetzmäßigen Naturphänomenen und -prozessen.121 So distanziert Duvernoy solcherart »philosophische Reflexionen« ausführt und so klar sie – wie bei Cuvier – in die Erkenntnis der Geschöpflichkeit der innerlich und äußerlich harmonisierten Organismen münden, Büchner dürfte zumindest in seinen ersten Semestern Anknüpfungspunkte bei Duvernoy gefunden und sich so neue Lernbereiche erschlossen haben. ... Büchner und die Geoffroy-Saint-Hilaire-Schule Ungleich näher an seiner späteren, in Dissertation und Probevorlesung niedergelegten Natur- und Wissenschaftskonzeption lagen die physiologischen, aber auch vergleichend anatomischen Konzeptionen seines zweiten Straßburger Mentors, ErnestAlexandre Lauths.122 Auch persönlich muss Büchner dem nur zehn Jahre älteren Lauth näher gestanden haben als dem arrivierten und deutlich älteren Duvernoy.123

 117 Cuvier 1791, zitiert nach Cheung 2000, S. 29ff. 118 Vgl. hierzu auch Balan 1975, S. 291f. 119 Duvernoy 1839, S. 53; Hvhb. von mir. 120 MBA VIII, S. 15511–13. 121 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 116ff. 122 So auch Roth 2004, S. 33 sowie – wenngleich theologisch verstellt – Kurzke 2013, S. 350ff. oder auch Hauschild 2013, S. 209ff. und Elm 2015, S. 120ff. 123 Ludwig Büchner zählt Lauth zu den Straßburger Freunden seines Bruders; vgl. Ludwig Büchner in Dedner (Hg.) 1990, S. 108.

  Naturphilosophie Dabei dürften es vor allem zwei Kompetenzen Lauths gewesen sein, die Büchner in besonderer Weise anzogen: Zum einen galt Lauth als einer der bedeutendsten Präparatoren seiner Zeit,124 sein Handbuch für praktische Anatomie von 1829 bzw. 1835/36 galt – auch wegen des Abschnitts zu der »Angabe über die Art, dieselben [d.i. die Teile des Körpers] zu zergliedern und anatomische Präparate zu verfertigen« – als Standardwerk der Zunft.125 Gegen die bisherige Forschungsthese, Büchner habe vor allem bei Friedrich Christian Gregor Wernekinck in Gießen das Sezieren und Präparieren gelernt,126 scheint es erheblich wahrscheinlicher, dass er schon während seiner ersten Straßburger Zeit von Lauth in diesen technisch-praktischen Befähigungen der anatomia practica127 unterrichtet wurde,128 die er selbst während seiner Promotion und als Dozent in Zürich offenbar gut beherrschte.129 Lauths Buch, das 1829 erstmals auf Französisch erschienen war, um 1835 in überarbeiteter Auflage gleichzeitig in französischer und deutscher Ausgabe publiziert zu werden, gehörte während des 19. Jahrhunderts zu den Standardwerken des Faches;130 noch in Gustav Flauberts Bouvard et Pécuchet (1880) heißt es im Kapitel III: »Ce doit être une belle étude que l’Anatomie?« M. Vaucorbeil s’étendit sur le charme qu’il éprouvait autrefois dans les discussions; – et Bouvard demanda quels sont les rapports entre l’intérieur de la femme et celui de l’homme. Afin de la satisfaire, le médecin tira de sa bibliothèque un recueil de planches anatomiques. »Emportez-les! Vous les regarderez chez vous plus à votre aise!« Le sequelette les étonna par la proéminence de sa mâchoire, les trous de ses yeux, la longueur effrayante de ses mains. – Un ouvrage explicatif leur manquait; ils retournèrent chez M. Vaucorbeil, et grâce au manuel d’Alexandre Lauth ils apprirent les divisions de la charpente, en s’ébahissant de l’épine dorsale seize fois plus forte, dit-on, que si le Créateur l’eût faite droite. Pourquoi seize fois, précisément?131

Auch wenn die ironische Distanzierung, die das Wissenschaftsverständnis Flauberts in diesem Text insgesamt prägt,132 den Status der vorgestellten wissenschaftlichen Gehalte relativiert, wird doch ersichtlich, dass Lauths Handbuch auch nach über 40 Jahren noch immer als erste Wahl für den anatomischen Unterricht galt.133

 124 Vgl. Schultka u. Göbbel 2003, S. 59. 125 Vgl. Lauth 1835/36 sowie Ehrmann 1837, S. 12. 126 So schon Strohl 1936, S. 41ff.; Hauschild 1985, S. 361f.; Roth 2004, S. 37f.; Beise 2010, S. 90. 127 So Schultka u. Göbbel 2003, S. 49f. 128 So auch zu Recht MBA VIII, S. 181. 129 Vgl. hierzu den nachmaligen Bericht des Züricher Hörers August Lüning in MBA VIII, S. 221. 130 Vgl. Becker 1972, S. 30ff. 131 Flaubert 1964/65, XVII, S. 88f. 132 Vgl. Scholler 2002. 133 Vgl. dazu auch Wieger 1885, S. 162f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Doch ging Büchners Straßburger Lehrer nicht nur der Ruf als Koryphäe in allgemeiner und vergleichender Anatomie, spezieller Neuroanatomie134 sowie als Präparator voraus; seinen Lehrstuhl an der medizinischen Fakultät der Straßburger Akademie erhielt er für das Fachgebiet Physiologie.135 Promoviert wurde er zwar mit einer anatomischen Arbeit über das Lymphsystem des Menschen.136 In der Folge war er aber auch mit physiologischen Forschungen hervorgetreten,137 für die er 1832 sogar einen Preis erhielt.138 Zuvor hatte er umfangreiche Reisen zu namhaften Forschungsinstituten in Deutschland, England und den Niederlanden unternommen,139 und brachte so gleichsam europäisches Format an die Straßburger Fakultät.140 Prägend für Büchner, aber auch für den Ruf Lauths in und über Straßburg hinaus war zum anderen die Fundierung seiner physiologischen, anatomischen und komparativen Arbeit in einer naturphilosophischen Systematik, die den wissenschaftlichen Prinzipien der Naturforschungen Étienne Geoffroys Saint-Hilaires und Étienne-Rénaud-Augustin Serresʼ verpflichtet war.141 Nicht zufällig zitiert Büchner letzteren mehrfach in seinem Mémoire.142 Schon in methodischer Hinsicht zeigt sich in nahezu allen Publikationen Lauths, dass er der Maxime Geoffroy Saint Hilaires, nach der »Wissenschaft […] nicht im Speziellen steckenbleiben«, sondern vielmehr »vom Speziellen zum Allgemeinen fortschreitend allgemeingültige Gesetze entdecken« sollte,143 zu entsprechen versuchte.144 Dieser Zug zum Allgemeinen der Natur zeigt sich auch in der physiologischen Dissertation zu den muskelanatomischmechanischen und physiologischen Dimensionen des Verdauungsprozesses bei Tieren, die Lauth unter dem Titel Du Mécanisme par Lequel les Matières alimentaires parcourent leur Trajet de la Bouche a l’Anus zur Übernahme des Lehrstuhls für Physiologie an der Straßburger Universität verfasste und die Büchner kannte.145 In deren Einleitung heißt es:

 134 Vgl. Lauth 1835, S. 2. 135 Vgl. Becker 1972, S. 12f.; Vetter 1994, S. 2245. 136 Lauth 1824; vgl. hierzu Olry u. Motomiya 1997, S. 6. 137 Vgl. Lauth 1833. 138 Vgl. NBG 29 (1862), Sp. 951. 139 Vgl. Vetter 1994, S. 2244f. 140 Vgl. hierzu die Danksagung auch für viele mündliche Fachgespräche in Lauth 1833, S. 2. 141 Zum Folgenden vgl. Le Guyader 2004, S. 96ff. 142 Vgl. MBA VIII, S. 6, S. 12, S. 16–28 sowie Roth 2004, S. 45. 143 So treffend Rieppel 2001, S. 166. 144 Vgl. u. a. Lauth 1833, S. 2 u. S. 91ff. 145 Büchner hatte sich diese Arbeit Lauths durch seinen Freund Eugen Boeckel zuschicken lassen; vgl. P II, S. 37211f. u. S. 37327f.; vgl. auch Mayer 1985, S. 205.

  Naturphilosophie Il nous suffira de faire remarquer ici […] 2.° que, considérées sous le rapport du mode d’alimentation des animaux, la longueur du canal intestinal et la perfection des appareils de division sont en général en rapport inverse avec la digestibilité des alimens.146

Büchner teilt in seinen Forschungen diese systematische und methodische Ausrichtung am Allgemeinen; nicht nur formuliert er ein allgemeines Naturgesetz,147 auf das hin alle besonderen Erscheinungen zu ordnen seien; auch seine wissenschaftliche Reflexionsarbeit begreift er als Herstellung von Einheit: In der vergleichenden Anatomie strebte Alles nach einer gewissen Einheit, nach dem Zurückführen aller Formen auf den einfachsten primitiven Typus.148

Aufgrund dieser notwendigen Einbettung des erfahrungsfundiert Besonderen ins naturgesetzlich Allgemeine drängt jede Untersuchung anatomischer und physiologischer Einzelheiten – auch die des tierischen Verdauungskanals – zu vergleichender Forschung: Ce n’est en général qu’à partir des animaux dont le canal intestinal offre deux ouvertures, une bouche et un anus, que nous établirons quelques considérations d’anatomie et de physiologie comparées.149

Diese stete Vermitteltheit von Besonderem und Allgemeinem in der Naturphilosophie der Geoffroy-Schule basiert aber keineswegs auf einem abstrakten Apriorismus, sondern – zumindest dem Anspruch nach – auf einer gegenüber dem abstrakten Empirismus Cuviers angemessenen Vermittlung von Erfahrung und Begriff, von Beobachtung und Abstraktion: La matière organisée constitue le champ de l’anatomiste, la philosophie lui fournit les instrumens pour l’exploiter. L’observation est le premier de ses moyens, l’abstraction en est le second.150

Im Hintergrund dieser Distinktion steht das Wissen darum, dass man bestimmte Beziehungen in der Natur, Geoffroy und Lauth sprechen von »rapport«, nicht sehen, d. h. empirisch nicht nachweisen kann, die sich mithin aus Beobachtungen nur erschließen lassen; zu Recht wird dieses Schließen als ein rationaler Prozess bestimmt. Hegels kurz zuvor entfaltete Kritik am epistemologischen und methodologischen Empirismus, in der es heißt:

 146 Lauth 1833, S. 4. 147 Vgl. MBA VIII, S. 10037–41 u. S. 1551–13; zu Status und Gehalt dieses Naturgesetzes vgl. Stiening 1999. 148 MBA VIII, S. 15545–47; vgl. hierzu schon Reddick 1990, S. 325ff. 149 Lauth 1833, S. 4. 150 Serres 1827, S. 49.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Die Grundtäuschung im wissenschaftlichen Empirismus ist immer diese, daß er die metaphysischen Kategorien von Materie, Kraft, ohnehin von Einem, Vielem, Allgemeinheit, auch Unendlichem usf. gebraucht, ferner am Faden solcher Kategorien weiter fortschließt, dabei die Formen des Schließens voraussetzt und anwendet und bei allem nicht weiß, daß er so selbst Metaphysik enthält und treibt und jene Kategorie und deren Verbindung auf eine völlig unkritische und bewußtlose Weise gebraucht,151

hatte die naturwissenschaftliche Geoffroy-Schule je schon reflektierend bedacht, gerade weil sie ihre Empirie methodisch und systematisch rational fundierte. Es ist mithin nur als ein tiefes Missverständnis zu bezeichnen, Lauth ›trotz‹ der naturphilosophischen Grundlegung seines wissenschaftlichen Ansatzes damit zu charakterisieren, er sei »zugleich ein dezidierter Empiriker gewesen«.152 Zum Selbstverständnis der Geoffroy-Schule – wie der gesamten von Schelling ausgehenden Naturphilosophie153 – gehörte es, sich als die eigentlichen Empiriker zu begreifen, weil man sich laut Geoffroy in der methodisch und systematisch ungeregelten, abstrakt klassifikatorischen Ordnung der Cuvier-Schule in einer letztlich beliebigen »pluralité des choses« verlor.154 Gegen diese Formen blinden Sammelns, die auch Büchner in seiner Probevorlesung beklagt,155 setzten Geoffroy, Serres und Lauth die These von einer rationalen Ordnung der Natur und ihrer daher gut begründeten Erforschung durch eine Ausrichtung an dem Prinzip einer »unité dans la varieté« bzw. einer »unité d’essence«.156 Hatten Cuvier und seine Schule die Suche nach einer solchen Einheit der Natur in ihrer Vielfalt als Überforderung des geschöpflichen Menschen und seiner Wissenschaften zurückgewiesen,157 so behaupten die französischen wie die deutschen Naturphilosophen, dass jene Prämisse einer unité de composition der Natur dem Gegenstand selbst und damit seiner Erforschung notwendig zukomme und so aller Naturwissenschaft axiomatisch zugrunde liegen müsse, gerade um die Einzelheiten angemessen – d. h. in einem methodisch und systematisch geregelten empirischen Verfahren – zu erfassen.158 Selbst Schopenhauer – durchaus in kritischer Distanz gegenüber der Jagd nach Analogien in der Natur – hielt die Suche  151 Hegel 1986, VIII, S. 108f. 152 MBA VIII, S. 194; Hvhb. von mir. 153 Im Hinblick auf Oken vgl. Bach 2001, S. 81f.; vgl. auch Höppner 2017, S. 110–127 sowie Ziche 2017. 154 Geoffroy 1830, S. 86. 155 Vgl. MBA VIII, S. 15541 sowie die Interpretation bei Roth 2004, S. 200ff. 156 Geoffroy 1830, S. 22; vgl. hierzu auch Jahn 32004a, S. 299. 157 Vgl. Rieppel 2001, S. 145; siehe hierzu auch die eher höflich distanzierenden Ausführungen bei Duvernoy 1839, S. 53–55; welcher Verbiegungen es bedarf, um eine positive Bezugnahme des Cuvier-Schülers an dieser Stelle auf Geoffroys Programm einschließlich der teratologischen Ableitungen zu sehen, zeigt MBA VIII, S. 192ff. 158 Für die deutsche Naturforschung vgl. von Engelhardt 1997, S. 36f.; für Frankreich Le Guyader 2004.

  Naturphilosophie nach »l’unité de plan« bzw. »l’unifomité de l’élément anatomique« für die »löblichste Bestrebung der Naturphilosophie der Schellingschen Schule«.159 Es ist diese und keine andere wissenschaftstheoretische Tradition naturphilosophischer Forschung, in die auch Büchner zu lozieren ist,160 indem er sich in seiner Dissertation affirmativ auf die Formel von »une uniformité de plan dans l’organisation des êtres«161 bezieht; auch in seiner Probevorlesung geht es ihm darum, seine empirisch-anatomische Forschung in ein »Grundgesetze für die gesammte Organisation«162 zu integrieren, dem ein formales »Urgesetz« korrespondiert und dessen materiale Bestimmung Büchners wissenschaftlichen Erklärungsanspruch realisiert.163 Dass Georg Büchner mithin unübersehbar der durch Ernest-Alexandre Lauth in Straßburg repräsentierten naturphilosophischen Schule Geoffroy Saint-Hilaires zugehörte, zeigt neben den erkenntnismethodischen und allgemein naturtheoretischen Übereinstimmungen auch ein Blick auf die seit 1820 von Geoffroy,164 insbesondere aber von Étienne-Rénaud-Augustin Serres vertretene Wirbeltheorie des Schädels, die zu den Fundamenten der büchnerschen Dissertation zählt.165 Wie für Büchner, so erweis sich schon für Serres der »Schädel als metaphorisierter Wirbel«,166 weil sich in dieser Prozessform, die »den Wirbel als Urform des Knochensystems« erfasste,167 die Einheit in der Vielheit der als Entwicklung gedachten Natur lückenlos dokumentieren ließ. Nicht zufällig hatten schon Goethe und Oken im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts den Versuch unternommen, »die Schädelknochen als modifizierte und fusionierte Wirbelknochen« zu interpretieren.168 Ab den 1820er-Jahren gerieten auch Geoffroy und Serres unter den Einfluss dieser Theoriebildung,169 die über Lauth170 noch auf Büchner erhebliche Nachwirkungen hatte. Es  159 Schopenhauer 1988, I, S. 203f. 160 Insofern ist die These der MBA (VIII, S. 246), dass der Gehalt des so genannten Akademiestreites zwischen Cuvier und Geoffroy für Büchner »keine Rolle« gespielt habe, wenig überzeugend. Büchner hat sich eindeutig gegen Cuviers typologische Klassifikationstheorie und für Geoffroys genetischen Universalismus entschieden. 161 MBA VIII, S. 507. 162 MBA VIII, S. 1552f.. 163 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 106ff.; Roth 2004, S. 256ff. Es ist diese Suche nach einem Grundgesetz der gesamten Natur, die Büchner auch dezidiert von Auguste Comte unterschiedet, der in seiner Rede über den Geist des Positivismus festhielt: »Alle in den letzten beiden Jahrhunderten unternommenen Versuche, zu einer universellen Naturerklärung zu gelangen, haben jedoch nur dazu geführt, dieses Vorhaben gänzlich in Mißkredit zu bringen, so daß es fortan den Ungebildeten überlassen bleibt« (Comte 1994, S. 27). 164 Vgl. MBA VIII, S. 283. 165 Vgl. hierzu Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 307–333 sowie MBA VIII, S. 279–290. 166 Zitiert nach Rieppel 2001, S. 168. 167 Mann 1992, S. 67. 168 Vgl. Breidbach 2006, S. 59. 169 Vgl. Breidbach 2001a, S. 27; Roth 2004, S. 326ff. 170 Vgl. Lauth 1829, S. 18–39.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

ist für die folgenden Konstellationen wichtig zu erkennen, dass sich Cuvier – bis zu einer Passage in einem posthum 1837, und damit nach Büchners Tod, veröffentlichten Band der Leçons d’anatomie171 – ausschließlich ablehnend bis schroff zurückweisend zu den naturgeschichtlichen Ordnungs- und Erklärungsprinzipien der ›Wirbeltheorie‹ äußerte.172 Dass sich im Zusammenhang dieser naturgeschichtlichen Dimensionen der Forschung auch Differenzen zwischen Büchner und der Schule um Geoffroy SaintHilaire manifestierten, eröffnet ein vorläufiger Blick auf die schwer erkämpften Konzepte der Epigenese bzw. des Transformationismus, die Geoffroy mit Lamarck gegen den Präformationismus Cuviers entwickelte;173 Lauth ist seinem SchulOberhaupt hierin nachdrücklich gefolgt.174 Büchner dagegen – in diesem Zusammenhang stärker von seinen deutschsprachigen Lehrern, insbesondere Carus, Wilbrand und Oken beeinflusst175 – entfaltet in der Probevorlesung ein deutlich präformationistisches Modell der Sinnengenese,176 das ihn von Geoffroy und Lauth – und ganz grundlegend von Lamarck – unterscheidet und durchaus Cuvier und Teilen der deutschen Naturphilosophie annähert. Darüber hinaus teilt Büchner zwar die Thesen des Meckel-Serres-Gesetzes, nach dem es eine Parallelität der Embryonalentwicklung und der naturstufigen Kette der Wesen gibt.177 Er hegt aber sowohl gegen Oken und Meckel als auch gegen Geoffroy und Serres deutliche Bedenken hinsichtlich der empirischen Nachweisbarkeit dieses Gesetzes. In der Probevorlesung heißt es u. a. im Hinblick auf die »Metamorphose, ja Metempsychose des Fötus« (was nichts anderes darstellt als das MeckelSerres-Gesetz): Wie aber dieß im Einzelnen nachzuweisen sey, bleibt bis jetzt ein schweres Rätsel.178

 171 Cuviers überraschend positiver Bezug auf dieses naturphilosophische Theorem, das seiner antigenetischen, diskontinuierlichen Entwicklungskonzeption grundlegend widerspricht, dürfte vor allem als Reminiszenz an seinen Lehrer Carl Friedrich Kielmeyer (vgl. hierzu Bach 2001) gemeint gewesen sein (vgl. auch den von Cuvier selbst hergestellten Bezug in den Leçons, zitiert bei Roth 2004, S. 319); der Sache nach konnte Cuvier dieses naturphilosophische Erklärungsmodell nicht vertreten; vgl. hierzu auch Lepenies 1978, S. 55f. 172 Vgl. Strack 1980, S. 47 sowie das Zitat aus Okens Isis bei Roth 2004, S. 317f.; MBA VIII, S. 279ff. lässt die lebenslange Gegnerschaft Cuviers gegen diese Theorie unerwähnt. 173 Zu Entstehung und Entwicklung der Epigenesis-Theorien im 18. Jahrhundert vgl. Jantzen 1994, S. 602ff.; Corsi 2005 sowie Wellmann 2010, S. 107–136; in Bezug auf Geoffroy: Rieppel 2001, S. 169– 172, Le Guyader 2004, S. 96ff. u. Goy 2017, S. 315ff. 174 Vgl. Lauth 1833, S. 83ff. 175 Vgl. Oken 2007, II, S. 165. 176 MBA VIII, S. 15913–25. 177 Vgl. Rieppel 2001, S. 169ff., sowie Jahn 2002. 178 MBA VIII, S. 1576f..

  Naturphilosophie Trotz dieser dezidierten, allerdings mehr methodischen als systematischen Kritik an bestimmten Ausprägungen des Apriorismus naturphilosophischer Ordnungsbegriffe und -kategorien dürfte der junge Student mit großem Erkenntnisgewinn die physiologischen Vorlesungen Lauths besucht haben, die dieser seit April 1832 interimistisch, ab 1834 dann als Lehrstuhlinhaber regelmäßig vortrug.179 Viele der konstitutiven Prämissen, Begriffe, Kategorien und Grundsätze, die Büchner in seiner Dissertation erneut unter Hilfestellungen Lauths und doch für die Zürcher Fakultät während des zweiten Aufenthaltes in Straßburg (März 1835 bis Oktober 1836) abfasst, kann er schon hier gehört haben. Weil Lauth in diesen Jahren an einem umfassenden Kompendium zur Physiologie arbeitete,180 dürfte der Austausch mit dem alsbaldigen ›Freund‹ auch über die institutionellen Grenzen hinausgegangen sein. Bei aller dürftigen Dokumentationslage ist gleichwohl ersichtlich, dass Büchner zwar bei Duvernoy hörte und von dessen Kenntnissen profitierte, obwohl die Unterschiede in den systematischen und methodischen Grundlagen alsbald zutage traten. Sicher ist dagegen, dass die Gemeinsamkeiten mit Lauth trotz einiger Differenzen in Grundlagen und Zweckbestimmungen der Naturforschung in qualitativer und in quantitativer Hinsicht bedeutender waren.181

.. Gießen und Darmstadt 1833–1835: Zwischen Wernekinck und Wilbrand – aber ohne Liebig Im Sommer 1833 musste Büchner, um sein Anrecht auf eine staatliche MedizinerAusbildung nicht zu verwirken, nach Hessen-Darmstadt zurückkehren und an der dortigen Landesuniversität in Gießen das Studium fortsetzen und beenden. Dass ihm dieser Schritt vor allem aus persönlichen, aber auch aus politischen Gründen nicht leicht fiel, ist bekannt; dass er dieses Studium der Medizin aus ebenso politischen Gründen in Gießen nicht beenden konnte, ebenfalls.182

 179 Vgl. Livet 1996, S. 245f. 180 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 30f. 181 Insofern ist die These der MBA (VIII, S. 194), dass »diese Unterschiede [d. i. zwischen Lauth und Duvernoy und damit zwischen Cuvier- und Geoffroy-Schule] keine unüberwindlichen Gräben« ausmachten, wissenschaftstheoretisch falsch und institutionengeschichtlich unpräzise. Sicher ist, dass Duvernoy und Lauth in den unterschiedlichsten Gremien zusammenarbeiteten und ganz offenbar ihren Studenten nicht untersagten, beim jeweils anderen zu studieren. Unübersehbar ist aber auch, dass die naturwissenschaftlichen Ansätze, Verfahren und Ziele beider grundlegend verschieden waren. Eine angemessene Bearbeitung der intellektuellen und institutionengeschichtlichen Biographien beider Autoren steht noch aus; Ansätze bei Roth 2004, S. 24–33. 182 Vgl. hierzu die ausführlichen Schilderungen bei Hauschild 1993, S. 395–474; Mayer 1995–99, S. 32–92; Hauschild 2013, S. 21–138.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Weil aber das Gros der Universitätsunterlagen aus diesen Jahren verlorenging,183 besteht auch im Hinblick auf diese Studienzeit Unklarheit darüber, welche Veranstaltungen Büchner in den zwei Semestern, die er in Gießen noch absolvierte, tatsächlich besuchte. Im Kapitel über Büchners philosophisches Wissen wurde auf die Dokumente des Besuchs philosophischer Veranstaltungen, den so genannten ›Zwangskollegien‹ sowie seinen freiwilligen Besuch der Naturrechts-Vorlesung bei Joseph Hillebrand, hingewiesen und deren Gehalte rekonstruiert.184 Welche Veranstaltungen Büchner in seinem eigentlichen Studiengebiet, der Medizin, besuchte, ist aber mit Ausnahme eines anatomischen Privatissimum bei Friedrich Christian Gregor Wernekinck, dessen Besuch durch Carl Vogt übermittelt wurde,185 nicht nachweisbar. Die MBA hat in ihrem Band zu den naturwissenschaftlichen Schriften und zu Woyzeck aus der Tatsache, dass Büchner damals bekannte sprachliche und habituelle Eigenheiten Johann Bernhard Wilbrands in seinem Dramenfragment karikierte, zu Recht geschlossen, dass er wenigstens eine der Vorlesungen dieses Gießener Naturphilosophen besucht haben muss.186 Aufgrund der bekannten Karikatur des bis zu einem Aufsatz Udo Roths187 ausschließlich als dilettantische Figur interpretierten Arztes in Woyzeck begnügte sich die Forschung lange Zeit – trotz der nachdrücklichen Hinweise des WilbrandForschers Christian Maaß188 –, den vergleichenden Anatomen Johann Bernhard Wilbrand als »verkalkte[n] Schellingianer«189 zu betrachten und daher wissenschaftsgeschichtlich zu ignorieren.190 Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dessen umfangreichen und bis in die 1820er Jahre in der Naturforschung hochgeschätzten Werk unterblieb daher. Selbst Roth und die MBA haben trotz ihres richtigen Schlusses bezüglich eines Besuches der wilbrandschen Veranstaltungen keine weiteren Erkenntnisse zu bieten.191 Gleiches gilt für den als »Empiriker«192 missverstandenen Friedrich Christian Gregor Wernekinck, über dessen wissenschaftliche Position noch weniger bekannt ist.

 183 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 33f. 184 Vgl. mein Ausführungen in Kap. 2. 185 Vgl. hierzu die einschlägig bekannten Zitate aus dessen Autobiographie in Hauschild 1993, S. 262f., Roth 2004, S. 37 und MBA VIII, S. 187. 186 MBA VII.2, S. 474ff., S. 485ff.; MBA VIII, S. 185f.; ausführlicher und präzise allerdings Haaser 2014, S. 205–224. 187 Vgl. Roth 1990–94, wo gezeigt wird, dass der Arzt durchaus hochaktuelle Forschungsergebnisse aufzurufen weiß. 188 Vgl. Maaß 1987, S. 152. 189 Mayer 1979b, S. 370, in ähnlichem Tenor: Mayer 1985, S. 122; Dedner 2002, S. 293f.; Ritzer 2007, S. 279 oder auch MBA VIII, S. 185f.; zur berechtigten Kritik hieran Haaser 2014. 190 Das gilt auch für die einseitige Betrachtung bei Döhner 1967, S. 40–44. 191 Vgl. Roth 2004, S. 36f. u. MBA VIII, S. 185f. 192 So u.a. Mayer 1985, S. 122 u. Wenzel 2007, S. 176.

  Naturphilosophie Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über die systematische, methodische und institutionelle Position beider Dozenten Büchners geboten werden. Zu rekonstruieren sind vor allem die naturwissenschaftlichen Gehalte, die Methodologien und Systematiken beider Ansätze, die die Straßburger Konstellation der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Kontroversen zwischen cuvierscher Typologie und schellingscher Naturphilosophie reproduzierten, allerdings in einer spezifischen Variante. ... Vergleichende Anatomie in Gießen: Friedrich Christian Gregor Wernekinck Wernekincks Vorlesungen waren unter den Gießener Studenten sehr beliebt; in einem zwei Jahre nach seinem frühen Tode 1835 erschienenen Nekrolog heißt es ausdrücklich: Die Lehrfächer, welche W. vortrug, waren Hirn- und Nervenlehre, vergleichende Anatomie und Mineralogie. Er arbeitete sie mit Fleiß und Liebe und die Studirenden nannten sie vortrefflich.193

Noch Jahrzehnte später wird auf Wernekincks Lehrerfolge, denen bis zu seinem frühen Tod keine ebensolchen Forschungsleistungen korrespondierten,194 hingewiesen.195 Studiert hatte Wernekinck Medizin in Münster und Göttingen, u. a. bei Johann Friedrich Blumenbach, einem der bedeutendsten Naturforscher, vergleichenden Anatomen und Mediziner des späten 18. Jahrhunderts, der durch das Modell eines Bildungstriebes als Fundament des organischen Lebens den Anschluss der empirischen Naturforschung an die gegen Ende des 18. Jahrhunderts ambitioniertere Philosophie erzielt hatte.196 Blumenbach gehört zu den Inauguratoren der vergleichenden Anatomie als akademischer Disziplin,197 und es ist dieses um 1800 ebenso umkämpfte wie prosperierende Fach,198 auf das sich der junge Wernekinck konzentriert. Er beendete sein Studium allerdings nicht in Münster oder Göttingen, sondern an der Universität Gießen und wurde dort im Jahre 1820 promoviert und habilitiert. Wernekincks Wahl des Studien-, Prüfungs- und späteren Forschungsortes dürfte nicht ganz zufällig auf Gießen gefallen sein, arbeitete dort doch seit 1809 Johann

 193 Neuer Nekrolog 1837, S. 311. 194 Vgl. hierzu u. a. Wernekinck 1824 und Wernekinck 1824a; zu dessen insgesamt schmalen Forschungsbibliographie vgl. Scriba 1831, S. 452. 195 Heß 1897, S. 22. 196 Zu Blumenbach vgl. McLaughlin 1982; Jantzen 1994, S. 636–668; Bonsiepen 1997, S. 112ff.; Richards 2002, S. 216–229; Wellmann 2010, S. 49f.; Rupke u. Lauer (Hg.): 2017 sowie Höppner 2017, S. 69ff. 197 Vgl. Lubosch 1931, S. 30ff. 198 Vgl. Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Bernhard Wilbrand als Lehrstuhlinhaber für allgemeine und vergleichende Anatomie, Physiologie und Naturgeschichte. Wilbrand nahm 1820 den jungen Wernekinck unter seine Fittiche: so erhält er ein Jahr nach der bei Wilbrand angefertigten Dissertation199 und Habilitation das Prosektorenamt des anatomischen Theaters sowie ab 1825 eine außerordentliche Professur an der medizinischen Fakultät. Wilbrand dürfte sich auch deshalb so intensiv um diesen begabten Studenten und Promovenden gekümmert haben, weil er bei dessen Vater, Franz Wernekinck,200 in Münster studiert und von diesem erhebliche Unterstützung in wissenschaftlicher, institutioneller und finanzieller Hinsicht erfahren hatte.201 Wilbrand bezeichnet Franz Wernekinck in seiner Autobiographie als seinen »Lehrer«, dessen »Enthusiasmus […] für diese Wissenschaft [d. i. Botantik]« ihn nachhaltig beeinflusst habe.202 So hatte Franz Wernekinck dem Studierenden Wilbrand seine Bibliothek zur Verfügung gestellt, was dieser »in einem ausgedehnten Maße« nutzte.203 Ab 1820 machte Wilbrand den Sohns seines ehemaligen Lehrers dann in Absprache mit dessen Vater204 zu einem Teil seines Lehrstuhls (Prosektor) und ab 1826 zu einem Kollegen an der philosophischen Fakultät. Eine in das Verhältnis Wernekincks zu Wilbrand durch Äußerungen Carl Vogts205 aus dem Jahre 1896 gerne hineininterpretierte Geringschätzung mag es als Differenz in wissenschaftspraktischer Hinsicht gegeben haben; die hohe Kunst des Herstellens anatomischer Präparate,206 die Wernekinck ausgebildet hatte, wurde von Wilbrand offenbar weder angemessen geschätzt noch geteilt. In institutioneller Hinsicht, die durch Rücksichten und Erfordernisse in Lehrangelegenheiten gekennzeichnet war,207 und auch in persönlicher Hinsicht, die durch die Freundschaft Wilbrands und Franz Wernekincks durchaus private, wenngleich nicht spannungsfreie Züge trug, scheint sich dieses Verhältnis anders gestaltet zu haben als bislang angenommen.208

 199 Neuer Nekrolog 1837, S. 311. 200 Zu dessen wissenschaftlichen Leistungen, vor allem auf den Gebiet der Botanik, vgl. Kaja 1995. 201 Vgl. Wilbrand 1831, S. 18ff. 202 Ebd., S. 21. 203 Ebd., S. 21 u. S. 23. 204 Vgl. hierzu den Brief Wilbrands an die medizinische Fakultät vom 22. Januar 1822, eine Besoldung Wernekincks als Prosektor betreffend, in Maaß 1994, S. 388f. 205 Vgl. Vogt 1896, S. 120; kritiklos übernommen bei Döhner 1967, S. 45 und Hauschild 1993, S. 262f. 206 Vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2003. 207 Vgl. Wilbrand 1838, S. IIIf., wo die Absprachen in Lehrfragen dargestellt werden. Wilbrand zog sich aus dem Bereich der vergleichenden Anatomie trotz größter Interessen zurück, weil Wernekinck hier einen wichtigen Schwerpunkt seiner Kompetenzen besaß; vgl. auch Maaß 1994, S. 390. 208 Vgl. Murken 1983, S. 312 sowie Maaß 1994, S. 390; die dort angekündigte Dokumentation der Korrespondenz Wilbrands steht allerdings noch aus.

  Naturphilosophie Die fachlichen Schwerpunkte Wernekincks zeigen zudem, dass auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht eine größere Nähe zwischen Wilbrand und seinem Protegé vorhanden waren, als es die Forschung glauben machen möchte. Diese Kernkompetenzen erstreckten sich nämlich von der vergleichenden Anatomie über die Neurologie und Neuroanatomie bis zur Mineralogie. Für letztere erhielt Wernekinck im Jahre 1826 eine frei gewordenen Professur an der philosophischen Fakultät, lehrte aber weiter auch am medizinischen Fachbereich. Ohne den erheblichen Einfluss Wilbrands an der Gießener Universität in den 1820er Jahren ist dieses Verfahren einer Stellenbesetzung an der philosophischen Fakultät kaum vorstellbar.209 Man darf also auch in diesem Falle von Wilbrands Protektion ausgehen. Wernekinck unterrichtete mit großem Erfolg in einem Bereich, den Büchner schon in Straßburg bei Lauth in kompetenter Form kennengelernt hatte: das praktische Sezieren und Präparieren. Den Zeitgenossen galt Wernekinck auf diesem Feld als besonders befähigter Anatomietechniker: »Als Anatom ist er höchst ausgezeichnet und seine Geschicklichkeit und Gewandtheit im Präparieren feinerer Gegenstände kann nicht genug gepriesen werden.«210 Bei Büchners bekanntem Interesse an dieser technisch-praktischen Hilfstätigkeit für die anatomische Forschung verwundert es nicht, dass er ausgerechnet das dieser speziellen Kompetenz gewidmete Privatissimum bei Wernekinck besuchte.211 Aber wie schon bei Lauth, so verbindet sich auch bei Wernekinck die Befähigung für die technisch-praktischen Voraussetzungen der Anatomie mit der Überzeugung, nur mit Hilfe naturphilosophischer Modelle die aufbereiteten Erscheinungen wissenschaftlich erklären zu können. Es ist erneut Carl Vogt, der dieses Interesse deutlich dokumentiert, wenn er festhält: Dieses Privatissimum hatte mich sehr interessiert; Wernekinck demonstrierte uns die damals landläufige Wirbeltheorie und gab sich alle Mühe, uns in das Heiligtum der vergleichenden Anatomie an der Hand Cuviers und Meckels einzuführen.212

Diese in der Forschung immer wieder zitierte Passage scheint doch ebenso häufig missverstanden zu werden:213 Dass Wernekinck die oben schon erwähnte Wirbeltheorie des Schädels in seinen Veranstaltungen »demonstrierte«, also bewies oder we-

 209 Vgl. Feist 1848, S. 283ff. 210 Kilian 1828, S. 292. 211 Vgl. Vogt 1896, S. 120f.; auf dieser kaum je erweiterten Grundlage der Ausführungen Vogts kommt die Büchner-Forschung seit über 100 Jahren zu ihren Urteilen zu Wernekinck; vgl. u. a. Strohl 1936, S. 42f.; Döhner 1967, S. 44–46 (der immerhin Kilian zu Rate zieht); Bergemann 1922, S. 829f.; Hauschild 1985, S. 361f.; Hauschild 1993, S. 262f.; P II, S. 881; Roth 2004, S. 37; Wenzel 2007, S. 172–177; MBA VIII, S. 186f. 212 Vogt 1896, S. 120. 213 Vgl. hierzu beispielhaft P II, S. 881 sowie MBA VIII, S. 187.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

nigsten reproduzierte, war eben keinesfalls »landläufig« in dem Sinne,214 dass sie gegenüber den diversen Naturforschungsvarianten indifferent gewesen wäre.215 Cuviers Ablehnung dieser Theorie gegenüber Oken, der neben Goethe als einer der Inauguratoren und prominentesten Propagatoren zu bezeichnen ist,216 war weithin bekannt.217 Büchner hat dieses evolutionäre Erklärungsmodell einer naturphilosophischen Neuroanatomie, das zwischen 1800 und 1850 europaweit Geltung beanspruchte,218 mit Bezug auf Carus, Meckel, Wilbrand und Oken ebenfalls vertreten;219 noch in Moby Dick hinterlässt dieses Modell 1851 seine keineswegs nur ironisierten Spuren: But if from the comparative dimensions of the whale’s proper brain, you deem it incapable of being adequately charted, then I have another idea for you. If you attentively regard almost any quadruped’s spine, you will be struck with the resemblance of its vertebræ to a strung necklace of dwarfed skulls, all bearing rudimental resemblance to the skull proper. It is a German conceit, that the vertebræ are absolutely undeveloped skulls. But the curious external resemblance, I take it the Germans were not the first men to perceive.220

Die Wirbeltheorie des Schädels ist mithin eine Zeit lang Kernstück einer naturphilosophisch begründeten natürlichen Evolutionstheorie. Dabei eröffnet Wernekincks Bezug auf Meckel, der neben Oken und Goethe der ausdauerndste und wirksamste Vertreter dieser These war,221 und Cuvier, einem entschiedenen Gegner derselben, die eigentümliche Gemengelage der Naturforschung in den 1830er Jahren.222 Trotz aller (nicht unerheblichen) Differenzen im Detail gelten die Werke beider Autoren als Standard der vergleichenden Anatomie. Bedenkt man darüber hinaus, dass Meckel sich zugleich als Schüler Cuviers und als dezidierter Gegner der Naturphilosophie verstand,223 wird ersichtlich, dass Carl Vogt in den 1890er Jahren die Komplexität der Forschungslandschaft um 1830 nicht mehr angemessen wiedergeben konnte. Wernekinck wird sich in Bezug auf die Wirbeltheorie des Schädels als essentiellem Moment naturphilosophischer Evolutionstheorie auf Meckel bezogen haben, und er

 214 So aber, im Versuch Büchner aus dem Kontext der Naturphilosophie herauszuschreiben, MBA VIII, S. 187. 215 Vgl. Mann 1992; Junker 42004, S. 371f. 216 Vgl. hierzu Oken 2007, I, S. 370–378 sowie Zittel 2001. 217 Vgl. Roth 2004, S. 317f. 218 Vgl. Stark 1980; Mann 1992, passim sowie Junker 32004, S. 371f. 219 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Debatte und Büchners Stellung in ihr bei Roth 2004, S. 307–333, die verkürzte Variante in MBA VIII, S. 279–290 sowie meine Ausführungen weiter unten. 220 Melville 1994, S. 336. 221 Vgl. Göbbel u. Schultka 2002. 222 Vgl. hierzu auch Breidbach 1988. 223 Vgl. u. a. Meckel 1806, S. 277ff. sowie Backenköhler 2002

  Naturphilosophie wird eine Einführung in vergleichende Anatomie nicht ohne Cuvier gestaltet haben können. Überhaupt mussten Meckels Arbeiten im Fachgebiet der vergleichenden Anatomie noch in den 1830er Jahren ausführlich zur Kenntnis genommen werden, wie u. a. Lauths Publikationen und Büchners Dissertation belegen.224 Auch der Bezug auf Cuvier war unverzichtbar; selbst der systematisch und methodisch vom Cuvierismus abweichende Wilbrand rühmt sich eines Besuches in den vergleichend anatomischen Vorlesungen bei der Pariser Koryphäe im Jahre 1806.225 An »the great Cuvier«226 kam zwischen 1800 und 1850 in allgemein zoologischer Hinsicht – wie erst recht im Rahmen vergleichender Anatomie227 – niemand vorbei, auch nicht Melville. Wernekinck gehörte also allein durch seinen Bezug zur so genannten Wirbeltheorie des Schädels, die von Goethe, Carus, Oken und Meckel vertreten wurde, eindeutig zu jener wissenschaftstheoretischen Gruppierung, die man der Naturphilosophie zuzuordnen hat.228 Dabei scheint er – was erneut durch den Bezug auf Meckel und Cuvier dokumentierbar ist – auf der Grundlage intensiver empirischer Studien an der Ausbildung einer eigenständigen Position im Rahmen der vergleichenden Anatomie, einem genuin naturphilosophischen Felde, interessiert gewesen zu sein. Die dokumentierte Aufforderung Thomas Samuel Soemmerrings, seine Ergebnisse der »Hirn- und Nervenlehre für den Druck zu bearbeiten«,229 weist auf diese auch erreichte Eigenständigkeit hin. Das bei seinem Tode vorliegende umfangreiche Manuskript ging allerdings verloren.230 Dabei liegt der Schwerpunkt der komparativen Kompetenzen Wernekincks auf der humanen Neuroanatomie und -physiologie, wie seine Vorlesungen im Wintersemester 1833/34 dokumentieren.231 Büchner, den es mehr zur Zoologie als zur Humanbiologie zog, dürfte allerdings von Wernekincks Vermittlung von präziser empirisch-technischer Autopsie innerhalb der anatomia practica mit den grundlegenden Erklärungsmodellen vergleichend-anatomischer Naturphilosophie angezogen worden sein; beides nämlich gehörte zu seinen erklärten Schwerpunkten. Entscheidend ist im Hinblick auf die Einordnung Wernekincks in das Tableau der Naturforschung in den 1830er Jahren

 224 Vgl. Lauth 1833, S. 2 sowie MBA VIII, S. 90–99 und Roth 2004, S. 47. 225 Wilbrand 1831, S. 32f. 226 Melville 1994, S. 137. 227 Vgl. u.a. den von Büchner als Forschungsliteratur für seine Dissertation herangezogenen Gottsche 1835, S. 288. 228 Insofern ist die These Döhners (1967, S. 45), Wernekinck seien »naturphilosophische Spekulationen ferne« gelegen, völlig aus der Luft gegriffen; das gilt auch für die Reproduktion dieser These bei Maaß 1994, S. 390. 229 Nekrolog 1835.1, S. 311. 230 Vgl. Maaß 1994, S. 389f. 231 Vgl. MBA VIII, S. 187; vgl. auch Kilian 1828, S. 292.

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und damit auf seinen spezifischen Einfluss auf Büchner, dass er als anatomischer Praktiker, der eine Zusammenarbeit mit Liebig in Angelegenheiten der Lehre nicht scheute,232 den vergleichend-naturphilosophischen Erklärungsprogrammen seines langjährigen Vorgesetzten, Johann Bernhard Wilbrand, nicht ablehnend gegenüberstand, sondern bei aller prätendierten Eigenständigkeit in das von diesem prominent ausgefüllte Paradigma einzuordnen ist. ... Die »gesammte Organisation« der Natur: Die Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands Johann Bernhard Wilbrand gehört zu den meist unterschätzten Gestalten der wissenschaftlichen Naturphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.233 Selbst die neuere Forschung zu den Begründungstheorien, disziplinären Gehalten und beider Verlaufsformen in der Naturforschung zwischen 1800 und 1840 hat sich dieser den Zeitgenossen wohlbekannten Gestalt, die Hermann Friedrich Kilian 1828 immerhin als einen der »ausgezeichnetsten, geistvollsten und bekanntesten Professoren« der Gießener Universität charakterisiert,234 bislang nicht angenommen.235 Vielmehr wurde und wird Wilbrand als »totes Holz« denunziert.236 Auch die Büchner-Forschung beschränkte sich darauf, Wilbrands Funktion für die Karikatur des Arztes im Woyzeck zu benennen;237 von einer wissenschaftsgeschichtlich angemessenen Bearbeitung von Systematik und Semantik seiner Naturphilosophie meinte man bislang absehen zu können. Selbst die umfassendste wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung der büchnerschen Naturwissenschaften, die Studie Udo Roths, setzt im Hinblick auf Wilbrand keinerlei neue Akzente; und noch im Jahre 2008 wird diese wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Ignoranz mit der – durch keinerlei Nachweis fundierten – These begründet, Wilbrand habe »nie wegweisende Forschungsergebnisse« hervorgebracht.238  232 Vgl. Maaß 1994, S. 389. 233 Zur spärlichen Wilbrand-Forschung vgl. Kilian 1828, S. 288; Feist 1848; Probst 1966; Döhner 1967, S. 40ff.; Rothschuh 1968a, S. 200–203 u. S. 206–208; Murken 1983; Maaß 1987, S. 152ff.; Lohff 1990, S. 88; Tsouyopoulos 1992, S. 74; Maaß 1994; Dedner 2002, S. 293ff.; Jahn 32004a, S. 293f. u. S. 993; Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27; Wenzel 2007, S. 175f.; MBA VIII, S. 185; zu ersten Ansätzen einer differenzierteren Einschätzung der wissenschaftsgeschichtlichen Stellung Wilbrands vgl. Wenzel 2005, S. 1495f.: »Gegen diesen [d. i. Wilbrand] ausschließlich als spekulativen Phantasten zu polemisieren, wie dies Exponenten einer empirisch-naturwissenschaftlichen Richtung grundsätzlich gegenüber Vertretern der romantischen Naturphilosophie taten, verhindert eine differenzierende Würdigung.« Vgl. jetzt auch Haaser 2014. 234 Kilian 1828, S. 292. 235 Vgl. Bach u. Breidbach (Hg.) 2005, wo ein Eintrag zu Wilbrand fehlt; vgl. aber Wenzel 2005. 236 So Brock 1999, S. 36; vgl. auch P II, S. 880. 237 Vgl. schon Rath 1949; Maaß 1987, S. 154; Kubik 1991, S. 176; Dedner 2002, S. 293ff.; MBA VII.2, S. 474–479 u. S. 485ff.; MBA VIII, S. 185f. 238 MBA VIII, S. 186; zur berechtigen Kritik hieran Haaser 2014.

  Naturphilosophie Dabei hinterließ Wilbrand nicht nur ein umfangreiches monographisches Œuvre, das weite Teile der zeitgenössischen Naturphilosophie und -wissenschaft bearbeitete, er publizierte auch in namhaften Fachzeitschriften, so in Okens Isis oder der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung;239 auch Goethe hat Wilbrands Arbeiten geschätzt.240 In dem spezifisch wissenschaftsgeschichtlichen Fokus der vorliegenden Arbeit ist darüber hinaus von entscheidender Bedeutung, dass Büchner wenigstens eine Vorlesung bei Wilbrand besuchte.241 Ein gewichtiger Grund für die eigentümliche Zurückhaltung nicht nur der Wissenschaftsgeschichte, sondern auch der Büchner-Forschung gegenüber der Naturphilosophie Johann Bernhard Wilbrands liegt ohne Zweifel in einigen berühmtberüchtigten Thesen und Theoremen des Gießener Mediziners und Philosophen, die schon von den Zeitgenossen242 und erst recht von einer den Siegeszug der analytischen Naturwissenschaft als Normalität begreifenden Wissenschaftsgeschichte243 als obskur wahrgenommen wurden. Dazu zählt u. a. die Leugnung des schon von William Harvey nachgewiesenen Blutkreislaufs im menschlichen Organismus244 sowie die Zurückweisung der Thesen von einer Respiration des Sauerstoffs durch die Luft aufnehmende Lunge bei Säugetieren.245 Allerdings gehen beide negativen Thesen nicht auf idiosynkratische Machenschaften eines »verkalkte[n] Schellingianer[s]«246 zurück, sondern – wie schon Christian Probst und Christian Maaß nachweisen konnten247 – auf eine naturphilosophische Prämisse, nach der es zwischen dem Mechanismus der unbelebten und dem Organizismus der belebten Natur keinerlei konstitutive Vermischungen – wenn auch durchaus Interaktionen – geben könne.248 Ein isolierter Kreislauf des Blutes im Organismus widerspricht nach Wilbrand – solange er nicht mit der Bewegung aller Säfte im Körper vermittelt würde – den Eigengesetzlichkeiten des Lebens. Darüber hinaus mangele es der Kreislauftheorie an einer Erklärung für die Möglichkeit eines Übergangs von arteriellem zu venösem Blut, der in einer lückenlosen »Circulation« nicht angemessen erklärt würde: Zwei zuvor kontradiktorisch bestimmte Entitäten – hier arterielles und venöses Blut  239 Siehe die Angaben in Wilbrand 1831, S. 41f. sowie Maaß 1994, S. 782–785. 240 Vgl. hierzu die Nachweise bei Murken 1983. 241 In diesem Punkte völlig einig: Hauschild 1993, S. 262; Roth 2004, S. 35f.; MBA VII.2, S. 474–479; MBA VIII, S. 185f. 242 Vgl. Probst 1966, S. 157f. 243 Paradigmatisch hierfür Brock 1999, S. 36 sowie Jahn 32004a, S. 293f. 244 So in Wilbrand 1815, S. 152ff. sowie insbesondere Wilbrand 1826. 245 Siehe vor allem Wilbrand 1807 und Wilbrand 1827. 246 Mayer 1979b, S. 370; ähnlich, wenngleich abgeschwächter: Dedner 2002, S. 293f. und MBA VIII, S. 185f. 247 Probst 1966, S. 158ff.; Maaß 1994, S. 633–636. 248 Wilbrand 1809, S. 21ff.; Wilbrand 1813, S. 6ff.; Wilbrand 1815, S. 4f.; Wilbrand 1824, S. 63–68; Wilbrand 1827, S. 17ff.; vgl. dazu Probst 1966, S. 158: »Jede mechanische Erklärung wird der Eigengesetzlichkeit organischen Lebens nicht gerecht, […].«

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

– könnten nicht vermittlungslos ineinander übergehen.249 Auch die Annahme, es könne so etwas wie rein biochemische Prozesse in lebenden Organismen geben, beruht für Wilbrand auf einem Kategorienfehler,250 nämlich einer unzulässigen Vermischung von anorganischer und organischer Natur; in seiner Autobiographie führt Wilbrand dazu ausdrücklich und emphatisch aus: Er [d. i. Wilbrand] will geradwegs alle chemischen Erklärungen aus der Physiologie verbannet wissen, und verwirft auch die meisten Vivisektionen, weil sie das natürlich Verhalten der Thiere in der Regel verrücken. Er behauptet, daß es keine chemischen Analysen und Synthesen in der Natur gebe, sondern nur Metamorphosen, worin also kein sogenannter Stoff, keine Materie einen bleibenden Bestand jemals haben könne.251

Wilbrands Leugnung des Blutkreislaufes, die schon von Zeitgenossen zumeist verärgert zurückgewiesen wurde,252 sowie seine kategorische Ablehnung der durch Justus Liebig in Gießen forcierten Biochemie waren also keineswegs Ausdruck verstockter Rückwärtsgewandtheit oder intellektueller ›Verkalkung‹,253 sondern Produkt strenger Anwendung naturphilosophischer Prämissen.254 Das durch einen  249 Vgl. Wilbrand 1815, S. 123ff. 250 Vgl. u.a. Wilbrand 1813, S. IXf. 251 Wilbrand 1831, S. 39. 252 Vgl. die Reaktionen auf Wilbrands Vorstellung seiner Thesen auf der »Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte« im Jahre 1826 bei Probst 1966, S. 157–161. 253 So Mayer 1979b, S. 370 u. Dedner 2002, S. 293f.; Dedner bedient sich bei seinem kritischen Nachweis der Physiologie Wilbrands als Quelle für irrige Positionen des Doktors im Woyzeck einer Zitatverkürzung, die die Form der Auseinandersetzung der Büchner-Forschung mit Wilbrand eindrucksvoll belegt. Denn als Quelle für des Doktors Vorwurf an Woyzeck, der seinen Harn nicht halten konnte, der Blasenschließmuskel sei dem Willen unterworfen, wird der § 671 der Physiologie des Menschen (Wilbrand 1815, S. 324) zitiert, in dem die »Function des Verdauungssystems« als »mittelbar der Willkür« unterworfen bestimmt wird. Auf dieses »mittelbar« legt Dedner (wiederholt wird die These eines ironisierenden Quellenbezuges zu Wilbrand in MBA VII.2, S. 474) aber offenbar keinen Wert. Nun heißt es allerdings im § 670 der wilbrandschen Physiologie, also unmittelbar davor und d. h. auf derselben Seite des Werkes: »Daher ist es begreiflich, daß beyde Functionen [d. i. körperliche Bewegung überhaupt und Verdauung] in ihrem eigentlichen Wesen, der Willkühr nicht unterworfen seyn können, denn sie beruhen gleichfalls auf einer Bewegung« (ebd., Hvhb. von mir). Der nachfolgende Paragraph führt erst auf der Grundlage dieser Bestimmung einer grundlegenden Unwillkürlichkeit der Verdauung wenig spektakulär und schon gar nicht »töricht« (Dedner 2002, S. 294) aus: »Mittelbar stehen freylich diese Functionen allerdings unter der Willkühr, mithin unter der Herrschaft des geistigen Lebens. Die Willkühr zieht gleichsam einen Kreis um diese Functionen, innerhalb dessen sie vor sich gehen. Wir nehmen unsere Nahrung willkührlich in den Mund, zerkauen sie willkührlich und schlucken sie willkührlich hinunter, und nach geendigter Verdauung werden die Reste willkührlich wieder ausgeleert. Ebenso atmen wir willkührlich, wir können dasselbe unterdrücken, auch unter Voraussetzung einer völligen Gesundheit, von neuem wieder beginnen.« Unter der von Wilbrand ausdrücklich entwickelten Voraussetzung der Unwillkürlichkeit der Verdauung ist keine dieser Ausführungen töricht oder eindimensional ironisierbar. 254 Vgl. auch Probst 1966, S. 158.

  Naturphilosophie emphatischen, d. h. die Totalität des Seins übergreifenden Organismusbegriff problematische Verhältnis von anorganischer und organischer Natur beschäftigte die Naturphilosophie und -wissenschaft – u. a. durch den Brownianismus255 – seit der Jahrhundertwende.256 Schelling entwickelte eine systematische Lösung,257 indem er eine ursprüngliche Eigenständigkeit der unbelebten Natur bestritt und sie zu einem Moment der an sich belebten Materie, aus der heraus sich Leben entwickelt habe, bestimmte: E s g i b t k e i n e a n o r g a n i s c h e N a t u r a n s i c h . […] Von einem andern Standpunkt aus erscheint der Gegensatz von Organischem und Unorganischem nicht minder als ein bloßer Gegensatz der Erscheinung. Die Materie und jeder Theil der Materie ist eine Welt für sich, ist actu unendlich. In der unorganisch erscheinenden Materie liegt also, und zwar in jedem Theil, jederzeit der Typus des Ganzen, so daß es nur der Entwicklung desselben bedürfte, damit die Materie als organisch erscheine; die sogenannte unorganische Natur ist also potentialiter organisch in jedem Theil; sie ist nur eine schlafende Thier- und Pflanzenwelt, die durch einen Blick der absoluten Identität zum Leben erwachen würde.258

Vor allem die Phänomene des Galvanismus, des Chemismus und des Magnetismus,259 die mögliche Einwirkungen der physikalischen Natur auf den Körper von Tier oder Mensch belegten, bereiteten der zeitgenössischen Forschung große Verstehens- und Erklärungsprobleme.260 Dabei wies auch Schopenhauer, hierin mit seinem Gießener Kollegen einer Meinung, das »Absurde dieser Meinung […], daß der Organismus nur ein Aggregat von Erscheinungen physischer, chemischer und mechanischer Kräfte sei«, zurück.261 Wilbrand nahm in dieser Frage eine explizit an Schelling angelehnte, dennoch prägnantere Position ein, die u. a. die evolutionäre Auflösung der abstrakten Unterscheidung von organisch und unorganisch im Hinblick auf eine besondere Physiologie des Menschen verwarf, und so zu den heute obskur wirkenden Konsequenzen in Bezug auf Blutkreislauf und Atmung führte.262 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass auch Liebigs Versuche zur Biochemie, insbesondere seine Arbeiten zum Verhältnis von Thierchemie und Thierphysiologie noch in den 1840 Jahren erheblicher Kritik ausgesetzt waren; Jörn Jacob Berzelius, einer der bedeutendsten Chemiker vor Liebig, schrieb eine vernichtende Kritik und bezeichnete Liebigs Buch im Vertrauen als »Gefasel«.263 Es ist mithin viel zu einfach,  255 Zum Brownianismus vgl. u. a. Gerabek 1995, S. 351–375; Wiesing 1995, S. 66–71; Schott 1997, S. 242ff.; Bonsiepen 1997, S. 250–256. 256 Vgl. u. a. Lenoir 1982, S. 105ff.; Mischer 1997, S. 156ff. und von Engelhardt 1997, S. 38f. 257 Vgl. schon Schelling 1798, S. IXf. 258 Vgl. hierzu Schelling 1985, III, S. 389f. 259 Vgl. ausführlich Moiso 1994 sowie Durner 1994. 260 Vgl. Rang 1988, S. 182ff.; Richards 2002, S. 128ff. 261 Schopenhauer 1988, I, S. 203. 262 Vgl. auch Probst 1966, S. 158. 263 Vgl. Brock 1999, S. 155–165.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

sich Liebigs Perspektive zur Beurteilung der Stellung Wilbrands in der epistemischen Situation der 1820er und 1830er Jahre zu eigen zu machen. Johannes Müllers brillante Lösung dieses Problems, die Differenz zwischen Anorganik und Organik im Hinblick auf die sie konstituierenden Elemente zu quantifizieren, stand selbst Liebig nicht zur Verfügung; ihre Bedeutung wurde auch erst in den 1840er Jahren erkennbar.264 Die Zeitgenossen – einschließlich Goethe265, Alexander von Humboldt266 und Henrik Steffens267 – nahmen Wilbrand zumindest in den 1820er Jahren als einen der herausragenden Vertreter des Faches, ja des gesamten wissenschaftlichen und philosophischen Paradigmas, wahr: Mit Johann Bernhard Wilbrand wirkte also in Gießen einer der wesentlichen Vertreter der naturphilosophischen Richtung.268

Dass die Stellung des Gießener Naturwissenschaftlers in der scientific community spätestens seit seinem Auftritt auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte im Jahre 1832, bei dem er eine empirische Verifikation seiner Thesen zum Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos bei Ernährung und Atmung öffentlich verweigerte, prekär wurde,269 verunmöglicht keineswegs einen Einfluss seiner allgemeinen Naturtheorie bzw. spezifischer Teilbereiche – u. a. der Botanik – auf die zeitgenössische Forschung,270 und so auch auf Büchner. Im Folgenden soll daher eine kurze, auf einen Vergleich mit der Entwicklung und Systematik von Büchners Naturwissenschaften ausgerichtete Skizze der wissenschaftlichen Positionen Wilbrands entworfen werden. Bevor auf einige überraschende Gemeinsamkeiten in Prämissenapparat und Demonstrationsbereich der büchnerschen mit der wilbrandschen Naturphilosophie hingewiesen werden soll, muss auf einen der zentralen Unterschiede aufmerksam gemacht werden: Wilbrand beginnt nämlich sein gesamtes, deduktives System der Natur mit einem Lebensbegriff, dessen Voraussetzungen weitgehend den schellingschen Ableitungen verpflichtet sind,271 so im Ausgang vom Absoluten und des-

 264 Vgl. hierzu Breidbach 2005, S. 10f. 265 Zu Goethes Verhältnis zu Wilbrand vgl. Feist 1848, S. 284f. sowie Murken 1983, S. 315ff. 266 Vgl. Feist 1848, S. 286. 267 Steffens 1843, VII, S. 314f.: »In Gießen erlebte ich einige sehr angenehme Tage, vor Allem im Hause des Professors Wilbrand, der sich durch wichtige physiologische Untersuchungen einen Ruf erwoben hatte und für speculative Naturansichten nicht scheute, sich in einen bedenklichen Kampf einzulassen.« 268 Maaß 1987, S. 152. 269 Vgl. hierzu Probst 1966, S. 160f. 270 Vgl. hierzu Feist 1848, S. 291; Haaser 2014, S. 205ff. 271 Zum gewussten und bewussten Ausgang von Schelling in dieser Frage vgl. Wilbrand 1831, S. 23; Feist 1848, S. 278; zu Schellings, bei Wilbrand und Büchner aufgenommenem Lebensbegriff

  Naturphilosophie sen Bestimmung als Polarität von Idealem und Realem, Licht und Dunkel.272 Wie für Schelling ist auch für Wilbrand »das Leben in seiner Ursprünglichkeit betrachtet, […] das Absolute in seiner Selbstaffirmation«.273 Einzig der beim späteren Schelling realisierte Bezug des Absoluten zu einer Gottesinstanz fehlt bei Wilbrand, der sich theologischer Kategorien stets enthielt. Das Leben aber als »ewigen Act der Selbstaffirmation des Absoluten« in seiner stetigen Ineinsbildung des Idealen und Realen274 zu begreifen und dies zum Ausgangspunkt eines naturwissenschaftlichen Systems zu machen, hat Büchner in seiner Probevorlesung ausdrücklich zurückgewiesen: Denn ein Wissen des Absoluten, das Wilbrand hier als Deduktionsausgangspunkt propagiert, setzt je schon ein »absolutes Wissen« voraus, dem Büchner stets eine – wenn auch gemäßigte – methodologische Skepsis entgegenbrachte.275 Solcherart Ontologie hat er als Voraussetzung seiner naturphilosophischen Begründungstheorie daher unzweideutig zurückgewiesen. Dennoch steht Büchner der Annahme Wilbrands nahe, dass es »zwei Gesetze in der Natur« gebe, die Allgemeingültigkeit haben: »das der graduellen Entwicklung und das des polaren Verhaltens«276 – auch wenn er diese Prinzipien aus einem allgemeinen Grundgesetz der gesamten Natur ableitet,277 das Wilbrands Absolutem nicht entspricht. Gleichwohl teilt Büchner darüber hinaus ein wichtiges Moment jener allgemeinsten Bestimmungen der wilbrandschen Naturphilosophie: Denn in Anlehnung an Schelling278 bestimmt dieser »Leben« als grundlegende Kategorie einer Natur, die als Einheit und Ganzheit durch unausgesetzte Bewegung, d. h. Veränderung, konstituiert wird: »Ein unendlicher Strom des Lebens durchfließt stätig, und in ewiger Gegenwart, jede besondere Erscheinung«:279 Es gibt nur ein Leben, und dieses eine Leben durchströmt die ganze Natur, wie den Menschen insbesondere. Dieses Leben äussert sich in der Bewegung, und diese Bewegung regt sich im Menschen, wie in der ganzen Natur, und es ist ein und dasselbe Princip, was die Bewegung der Gestirne, wie die Bewegung im Menschen erzeugt.280

 vgl. Rang 1988; zu Schellings Begriff des Absoluten als Vermittlung von Idealem und Realem vgl. Schelling 1985, III, S. 589–610 sowie van Zantwijk 2000. 272 Vgl. Schelling 1985, III, S. 215ff. sowie Wilbrand 1809, S. 1ff. 273 Wilbrand 1813, S. 2. 274 Wilbrand 1809, S. 1. 275 Vgl. MBA VIII, S. 15514–25 sowie meine Ausführungen hierzu weiter unten. 276 Wilbrand 1809, S. 78ff. sowie Feist 1848, S. 289. 277 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 108ff. sowie Roth 2004, S. 253ff. 278 Zur engen Anbindung an Schelling vgl. Feist 1848, S. 278f. 279 Wilbrand 1815, S. 1. 280 Ebd., S. 16.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Diese strenge Überordnung des »Werdens« über das Sein, der »Bewegung« über die »Ruhe« für einen allgemeinen Lebensbegriff281 wird Büchner für die Skizze eines solchen Begriffs durch seinen Protagonisten Lenz aufgreifen, der eine »unendliche Schönheit« als Kategorie seiner anti-idealistischen Ästhetik dadurch bestimmt, dass sie »aus einer Form in die andre« unaufhaltsam trete, »ewig aufgeblättert, verändert«.282 In normativer Wendung fordert Büchners Lenz daher für alle Kunst »Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut«.283 Bei der Betrachtung der Erzählung wird sich zeigen, dass ein bedeutender Kontext dieser Passage sowie des gesamten Kunstgespräches im Lenz dem naturphilosophischen Wissen Büchners entstammt.284 Eine ungleich konkretere Verbindung zwischen Wilbrands und Büchners Positionen ergibt sich im Hinblick auf eine Konsequenz dieses Lebensbegriffes für die Erforschung seiner natürlichen Erscheinungen, mithin für eine wissenschaftliche Naturforschung überhaupt. Dazu hält Wilbrand fest: Die Physiologie beabsichtigt eine wissenschaftliche, mithin eine in sich klare, Darstellung des Lebens in der Natur. Sie hat also alle Erscheinungen in der Natur, als Aeusserungen des Lebens, in ihrer inneren Harmonie, in ein Totalgemälde aufzufassen, welches für den schauenden Geist, oder auf ideale Weise, dasselbe ist mit demjenigen, was in der Natur real vor uns liegt. Alle sogenannte Definitionen, Erklärungen, dunkle Hypothesen, chemische Zerlegungen der materiellen Stoffe, sind so wenig dazu geeignet, ein wissenschaftlich klares Gemälde des Lebens in der Natur zu schaffen, daß sie vielmehr in jeder Hinsicht die wahre Wirklichkeit tödten.285

Wilbrands methodische Skepsis gilt mithin den reinen Analyseverfahren einer auf Verstandeslogik basierenden Forschung, die zur begrifflichen und anschauenden Erfassung der Natur im Ganzen und ihrer einzelnen Erscheinungen als eines Prozesses nicht in der Lage seien. Deshalb wendet er sich ebenso gegen die chemischen Analysen Lavoirsiers und später Liebigs wie gegen die Hypothesenbildung der kantischen Naturwissenschaftsmethodik. Hierin Goethe,286 aber auch spezifischer Varianten der Anthropologie der Spätaufklärung verwandt,287 setzt er dieser analytischen Verstandeslogik eine Anschauungen und Begriffe vermittelnde, im Anspruch beide vollständig synthetisierende Konzeption entgegen, die die einzelnen Naturerscheinungen als Moment des ewigen Lebensprozesses bestimmen können soll. Die 281 Vgl. Wilbrand 1813, S. 12f. 282 MBA V, S. 3742–381. 283 Ebd., S. 3716f.; zu einer Verbindung dieser Passage aus Lenz mit Büchners Naturphilosophie vgl. auch Hinderer 1990, S. 102. 284 Vgl. hierzu in mehr thetischen Ansätzen Will 2000, I, S. 310f. sowie meine Ausführungen in Kap 7. 285 Wilbrand 1815, S. 3. 286 Vgl. Breidbach 2006, S. 58ff. sowie Stiening 2011. 287 Vgl. Wezel 2000ff., VIII, S. 11f.; siehe hierzu auch Stiening 2004, S. 132f.

  Naturphilosophie ser Versuch einer begrifflich gestützten Erfassung der Natur als Prozess kristallisiert sich u. a. im Entwerfen und stetigen Bearbeiten des Begriffs einer »Metamorphose«, die sich von den zeitgenössischen Varianten dieser Kategorie abhebt und zu Recht als wichtigste »selbständige Leistung und Kerngedanke« der wilbrandschen Physiologie bezeichnet wurde.288 Büchners Vorstellung von Metamorphose steht dabei der Wilbrands näher, als die Forschung bislang herausarbeiten konnte.289 Dass in Wilbrands Darstellung seiner naturphilosophischen Methodologie die kritische Abgrenzung präziser ausfällt als die eigene doktrinale Konstruktion, verweist auf die Grenzen der szientifischen, vor allem aber der begrifflichen Leistungsfähigkeit des Gießeners; in seiner Autobiographie heißt es zusammenfassend: Er charakterisiert die Physiologie als eine wissenschaftlich klare Darstellung des Lebens in der Natur und darnach die Physiologie des Menschen als eine wissenschaftlich klare Darstellung des Lebens im Menschen, und verwirft hiermit jede sogenannte Erklärung der Naturerscheinungen aus irgend einer Hypothese, z. B. die Kantische Erklärung der Materie als das Resultat einer Attraktiv- und Repulsivkraft, desgleichen die atomistische Erklärung aus Urstoffen, die Erklärung der Chemie aus den in der Chemie angenommenen Stoffen, ferner alle Erklärungen aus angenommenen Naturkräften, z. B. die Erklärung der Schwere aus einer Schwerkraft, die Erklärung der Bewegung der Himmelkörper aus einer Zentrifugal- und Zentripetal-Kraft, die Erklärung der Flut und Ebbe durch eine Attraktion, die der Mond auf das Meerwasser ausüben soll, er verwirft mit Göthe und Steffens Newton’s Erklärung von der Entstehung der Farben in der Natur. Er verwirft alle diese Erklärungen, weil sie auf Hypothesen, mithin auf PhantasieErzeugnissen beruhen, er setzt an die Stelle dieser Erklärungen die wissenschaftliche Darstellung der Natur, worin alle diese Naturerscheinungen, die man aus den Hypothesen zu erklären sucht, als nothwendige Aeußerungsweisen der Natur selbst in ihrem unendlichen Leben von selbst hervortreten. Unter der wissenschaftlich klaren Darstellung versteht er ein dem Auge des Geistes, mithin dem klaren Erkennen vorgelegtes Gemälde der Natur selbst, welches als Gemälde, mithin auf ideale Weise in der möglichsten Vollkommenheit dasselbe seyn soll, was die Natur auf reale Weise ist.290

Wilbrand meint also, den Vagheiten eines probabilistischen Empirismus der Naturforschung durch die Formierung eines Objektivität beanspruchenden, begrifflichen Systems zu entkommen, in das hinein die Beobachtungen der Naturwissenschaft zu stellen seien. Das bleibt aber zum großen Teil postulativ und führt u.a. zu den oben beschriebenen Eigenheiten in Bezug auf Blutkreislauf und Atmung. Dennoch legt auch der Systematiker Wilbrand großen Wert auf die relative Eigenständigkeit von Beobachtung und Erfahrung im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. So übt er scharfe Kritik an bestimmten Erscheinungen der Naturphilosophie: Andere haben dagegen, eben so unstreitig, die wirkliche Beobachtung über leere Spekulationen […] vernachlässigt. […] Würden die Beobachtungen der Natur jedesmal mit einem gehöri 288 Probst 1966, S. 167. 289 Vgl. Roth 2004, S. 303 sowie MBA VIII, S. 15542f.. 290 Wilbrand 1831, S. 37f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

gen Scharfblicke, in einem universellen Sinne gemacht, so würden nicht so viele Widersprüche unten den Beobachtungen obwalten.291 Warum bleiben wir nicht in der Physiologie der Natur der wirklichen Beobachtung getreu, und stellen dagegen Hypothesen auf, die in der Wissenschaft nicht bestehen können und der Beobachtung widersprechen.292

Allerdings wird in gleicher Schärfe einem strengen Empirismus der Naturforschung die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, weil er zu unbestimmten Ansammlungen von Informationen führe, die kein systematisches Wissen ermöglichten – eine Distinktion, die auch in aktuellen Debatten um den Wissensbegriff in Philosophie und Historiographie wirksam ist.293 Eine durch die Philosophie, die nach Wilbrand allererst und einzig die Wissenschaftlichkeit der Naturbetrachtungen ermögliche,294 systematisch und methodisch nicht regelgeleitete Naturforschung »würde auch hiedurch für die Empierie [sic] selbst zerstörend, indem sie das blinde Herumtappen, das zügellose Rathen nach einem Ungefehr, begünstigt«.295 Nur eine stete Vermittlung von Anschauung und Begriff, von Beobachtung und Philosophie könne die Wissenschaftlichkeit der Naturforschung garantieren: Die nüchterne Naturbeobachtung und das nüchtere innere Forschen, – beide geben auf gleiche Weise das Resultat, daß es wahrhaft nur eine Natur gibt, welche einerseits materiell, andererseits innerlich belebt ist, […].296

Büchner hat konstitutive Momente dieser Methodologie geteilt, wenn nicht gar in Vorlesungen oder Schriften Wilbrands bestätigt gefunden. Nicht nur weist er einer »philosophischen Methode« die Aufgabe zu, die stetig anwachsende »Unzahl von Tatsachen« wissensermöglichenden Ordnungsmustern zu unterwerfen,297 auch steht er – wie Wilbrand – einer rein begrifflich entwickelten, die Eigenständigkeit der Beobachtung lebendiger Naturorganisation vernachlässigen Forschung kritisch gegenüber: Die Frage […] führte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem  291 Wilbrand 1815, S. VIf. 292 Ebd., S. 159. 293 Vgl. hierzu Mittelstrass 2001, S. 44 sowie Breidbach 2008, S. 12ff. 294 So Wilbrand 1831, S. 19, wo der Naturphilosoph ausführt, dass er schon während des Studiums »zu der festen und lebendigen Überzeugung gekommen war, daß nur die Philosophie der Leitstern im ganzen Gebiete des Wissens, und daher auch in der Naturkunde seyn könne, falls diese auf Wissenschaftlichkeit Anspruch mache.« Vgl. hierzu auch Probst 1966, S. 161; dass auch für Büchner die Philosophie einen methodisch und systematisch wirksamen Kategorienlieferanten für seine Naturforschung abgab, zeigen Stiening 1999 und Roth 2004, S. 153–163. 295 Wilbrand 1809, S. X; vgl. auch Wilbrand 1815, S. VIII. 296 Wilbrand 1827, S. 31. 297 MBA VIII, S. 15541; vgl. auch Döhner 1967, S. 50.

  Naturphilosophie Dogmatismus des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste; sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.298

Diese in der Forschung zumeist als Absage Büchners an die Naturphilosophie Schellings und Hegels interpretierte Passage299 kann angemessener aus dem Kontext seiner durch Wilbrand vermittelten Kenntnisse und damit innerhalb des naturphilosophischen Paradigmas erläutert werden: Wie Wilbrand bestimmt Büchner die Natur in Anlehnung an Schelling durch den Begriff des »Leben[s]«, dem abstrakte begriffliche Konstruktionen (Hypothesen oder Erklärungen, apriorische Vernunftbegriffe) äußerlich bleiben müssen;300 zugleich sieht er einzig in den Konstruktionen der Vernunftphilosophen überprüfbare Modelle für eine Rekonstruktion der Natur als einer Ganzheit, weil schon der »Sinn dießer Bestrebungen« der Vernunftphilosophen,301 nämlich Ordnung in das unübersichtlich werdende Ganze der Natur und ihrer Erforschung zu bringen,302 genügte, um dem Naturstudium eine »andere«, eine bessere »Gestalt« gegeben zu haben.303 Büchner und Wilbrand teilen die Skepsis gegenüber abstrakten begrifflichen und methodischen Konzeptionen; Büchner ist jedoch – ohne ein ausgeführtes philosophisches System – hinsichtlich der methodisch geregelten Anwendung kategorialer und begrifflicher Konzeptionen der Philosophie zurückhaltender als Wilbrand, der auf der Grundlage eines entwickelten Systems einen objektiven Geltungsanspruch seiner begrifflichen und anschauenden Konstruktionen in methodischer und systematischer Hinsicht erhebt. Auch der Bezug jedes einzelnen Ergebnisses der Naturwissenschaften auf die Natur in ihrer Ganzheit, die beide Forscher mit der Formel von der »gesammten Organisation« der Natur in Anlehnung an Schelling304 zu fassen suchen,305 wird als

 298 MBA VIII, S. 15514–22. 299 Vgl. Döhner 1967, S. 147–165; zuletzt noch Roth 2004, S. 388 und MBA VIII, S. 544ff. 300 Diese abstrakte Gegenüberstellung von »Leben« und ›wissenschaftlichem Wissen‹ kann Büchner auch von Kuhn übernommen haben, dessen Monographie er wenige Wochen vor der Probevorlesung intensiv studiert hatte; dort heißt es im Hinblick auf einen der Hauptpunkte der neueren und neuesten Philosophie: »Der Kampf zwischen Wissenschaft (oder eigentlich Speculation) und Leben ist ein dieses großartige Ganze durchherrschendes Moment« (Kuhn 1934, S. 55). Dabei wird Büchner allerdings an keiner Stelle zum Vertreter jener »Anschauung des Mystikers«, die er hier aufruft, so aber Kurzke 2013, S. 355. 301 MBA VIII, S. 15527. 302 Zu dieser wissenschaftsgeschichtlichen Funktion der Naturphilosophie um 1800 vgl. auch Breidbach 2004, S. 154ff. 303 MBA VIII, S. 15526ff.. 304 Schelling 1985, I, S. 278ff., spez. S. 279: »Jede Organisation ist also ein Ganzes; ihre Einheit liegt in ihr selbst.« Vgl. hierzu auch Höppner 2017, S. 90ff.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Wissenschaftlichkeit garantierendes Telos aller Forschung von Büchner und Wilbrand ausgewiesen; so hält Wilbrand ausdrücklich fest: Jede gründliche Erklärung einer Naturerscheinung kann nur darin bestehen, daß man zeigt, wie diese Naturerscheinung, welche erklärt werden soll, mit anderen Naturerscheinungen zusammenhängt, und wie so die Natur in ihrer Einheit auf verschiedene Weise in den zahllosen Erscheinungen sich darstellt. Mit anderen Worten, es muß die zu erklärende Naturerscheinung auf die Einheit der Natur klar zurückgeführt werden.306

Auch Büchner fasst diese auf die Synthesis einer »gewissen Einheit«307 ausgerichtete praemissa maxima der Naturphilosophie in die folgende Formulierung: Diese Frage, die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetz für die gesammte Organisation finden, und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums […] als die Manifestation eines Urgesetzes [bestimmt].308

Wilbrand und Büchner konturieren ihre auf eine synthetische Einheit der Natur ausgerichtete Naturwissenschaftskonzeption sowohl positiv durch eine spezifische Epistemologie und Methodologie als auch negativ durch zwei Abgrenzungen, die erneut in auffälliger Weise übereinstimmen: Zum einen grenzen sich beide Forscher von der so genannten teleologischen Naturbetrachtung ab, die den Zusammenhang der Natur nach dem Prinzip äußerer Zweckmäßigkeit konstituiert, d. h. die als Grund für die Bestimmtheit einer einzelnen Erscheinung ihre Funktion für eine andere Entität bzw. den Gesamtzusammenhang annimmt. Ausdrücklich lehnt Wilbrand »alle Deutungen aus Naturzwecken, welche man zuvor in die Natur hineindenkt, also alle sogenannten teleologischen Ansichten« ab.309 Und auch Büchner entwickelt seine philosophische Methode an der strikten Unterscheidung von einer teleologischen Perspektive: Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. […] Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins zu suchen ist das Ziel der, der teleologischen gegenüberstehenden Ansicht, die ich die philosophische nennen will. Alles, was für jene Zweck

 305 MBA VIII, S. 1552f. sowie Wilbrand 1809 schon im Titel; Wilbrand 1813, S. III; Wilbrand 1815, S. V; Wilbrand 1831, S. 26. 306 Wilbrand 1827, S. 32. 307 MBA VIII, S. 15546. 308 Ebd., S. 1551–7. 309 Wilbrand 1827a, S. 10f.

  Naturphilosophie ist, wird für diese Wirkung. Wo die teleologische Schule mit ihrer Antwort fertig ist, fängt die Frage für die philosophische an.310

Zwar wird dieser antiteleologische Habitus von der zeitgenössischen Naturforschung – mit Ausnahme Cuviers und seiner Schule sowie François Magendies311 – geteilt: Kant weist auf das Mangelhafte solcher Natursicht hin,312 ebenso Goethe,313 aber auch Gotthilf Heinrich Schubert,314 Carl Gustav Carus,315 Johannes Müller,316 Jakob Friedrich Fries317 oder Hegel318. Und es ist Friedrich Herbart, der schon 1828 die allseits anerkannte Ablehnung der Teleologie in der Naturwissenschaft auf den Begriff bringt: Es ist bey den Naturforschern längst anerkannt, daß man sich der Gewöhnung an teleologische Betrachtungen durchaus nicht hingeben darf, wenn man in der Physik klar sehen will.319

Die unterschiedlichsten Wissenschaftstheorien der zeitgenössischen Naturphilosophie vereint mithin diese Ablehnung, sodass ein spezifischer Bezug Büchners auf Wilbrand nicht nachweisbar ist. Dennoch liegt es durchaus nahe, dass Büchner in der Vorlesung Wilbrands diesem kritischen Urteil zur Methodologie der Naturforschung begegnete, das eine gemeinsame Argumentationsbasis in methodischer und ontologischer Hinsicht dokumentiert; ideengeschichtlich stehen sie sich auch in diesem Zusammenhang erheblicher näher als bislang angenommen. Zum anderen weist Büchners oben zitierte Abgrenzung von der zweiten Form absoluten Wissens, den »Anschauung des Mystikers«, erneut deutliche Parallelen zu Wilbrands ausdrücklicher Zurückweisung religiöser Kategorien in der Naturforschung auf: Im Zusammenhang des von Büchner im Lenz gestalteten,320 in den 1820er und noch den 1830er Jahren in Wissenschaft, Literatur und Publizistik weithin diskutierten Magnetismus-Phänomens,321 dem Wilbrand – wie Büchner, E. T. A. Hoffmann,322 aber auch Hegel323 – durchaus wissenschaftliche Dignität zuschreibt,  310 MBA VIII, S. 15326–1551. 311 Vgl. hierzu Brooke 1994 sowie Stanisch 2003, S. 54–62, S. 247ff. u. ö. 312 Kant 1983, VIII, S. 477–480 (KdU § 63). 313 Goethe 1887–1919, II.7, S. 214–224, hier S. 217ff. (Einleitung zu einer allgemeinen Vergleichungslehre). 314 Schubert 1968, S. 24ff. (Symbolik des Traumes). 315 Carus 1831, S. 12ff. (Vorlesungen über Psychologie). 316 Müller 1826, S. 17ff. (Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes). 317 Fries 1967ff., XIII, S. 2f. (Mathematische Naturphilosophie). 318 Hegel 1986, IX, S. 23f. (Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, § 245). 319 Herbart 1828, I, S. 568 (Allgemeine Metaphysik). 320 Vgl. Will 2000, I, S. 310f.; Martin 2007, S. 213 u. S. 218 sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 321 Vgl. hierzu u. a. Wolters 1988; Barkhoff 1995; Schott 1998 oder auch Wedder 2008. 322 Siehe Barkhoff 1995, S. 195–237.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

stellt der Gießener Naturphilosoph, der sich als »Freund einer wahren Aufklärung«,324 keineswegs als Romantiker versteht, kategorisch fest: Wenn aber hinsichtlich der Wirklichkeit von Naturerscheinungen, die auf den ersten Blick seltsam sind, von denen, welche sich der Beobachtung derselben widmen, ohne weiteres an den Glauben verwiesen, und dieser als Leitstern gepriesen wird: so findet sich jeder geistig gesunde Mensch, der über die Sache belehrt zu seyn wünscht, nothwendig beleidigt. Wird aber die Hinweisung an den Glauben noch obendrein mit einer Mystik umhüllt, so verdient dieses eine vielfache wissenschaftliche Rüge, und zwar um so mehr, jemehr die Mystik dem Aberglauben das Wort redet, und in’s wirkliche Leben auf eine vielfach nachtheilige Weise einzuwirken drohet.325

Zwar kann man Büchners Zurückweisung der »Anschauung des Mystiker« als einer Wissenschaft verunmöglichenden Epistemologie auch auf seine MalebrancheStudien zurückführen,326 doch wurde diese Kritik der Sache nach auch von Wilbrand formuliert, mit dem Büchner auch in diesem Falle übereinstimmt. Von religiösen oder theologischen Kategorien, seien sie epistemologischer, methodischer oder – im Falle des Schöpfungsgedankens – ontologischer Natur, grenzten beide Wissenschaftler ihre Naturforschung grundsätzlich ab. Büchners ›gottlose‹, aber vernunftgesetzlich organisierte Natur327 hat ebenso wie Wilbrands Absolutes einen streng immanenten Status.328 Gerade in diesem Zusammenhang lässt sich die Nähe Büchners zu Wilbrand und die Distanz zu Cuvier oder Duvernoy nachweisen.329 Abschließend sei noch eine letzte Gemeinsamkeit zwischen Wilbrand und Büchner im Hinblick auf eine evolutionäre Vermögenspsychologie betrachtet, die Wilbrand im Zusammenhang seiner Magnetismus-Studie entwickelt und Büchner als Moment seiner vergleichenden Neuroanatomie vorträgt: In seiner 1824 erschienenen monographischen Abhandlung Darstellung des thierischen Magnetismus als einer in den Gesetzen der Natur vollkommen gegründeten Erscheinung bemüht sich Wilbrand, die unterschiedlichen Formen somnambuler und magnetisierter Erscheinungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.330 Explizit richtet sich sein Unternehmen gegen die »Albernheiten« und den »Fanatismus« eines »Mysticismus«, jene schwer zu erklärenden psychischen Phänomene als Belege einer jensei 323 Vgl. u. a. Petry 1991. 324 Wilbrand 1824, S. 3. 325 Ebd., S. 17f. 326 Vgl. hierzu P II, S. 27214ff. und Stiening 2000–2004, S. 230ff. sowie meine Ausführungen in Kap. 2; MBA VIII, S. 545 sieht eher Spinoza, Heine und Müller als Quellen dieser Abgrenzung. 327 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 107f. 328 Wofür es folglich keiner emphatisch-affirmativen Spinoza-Lektüre bedurfte; so aber Morawe 2005–08; Beise 2010; Morawe 2012; Morawe 2013. 329 Diese antireligiöse Haltung Wilbrands im wissenschaftlichen Feld ist umso bemerkenswerter, als er den Zeitgenossen als »streng religiös« galt; vgl. Nekrolog 1846, Sp. 368. 330 Vgl. Wilbrand 1824, S. 1–9.

  Naturphilosophie tigen Welt in Anspruch zu nehmen.331 Büchner wird ein Jahr nach dem Besuch der Vorlesung Wilbrands seinen ›Lenz‹ noch eben dieser religiösen Instrumentalisierung ›anormaler‹ psychischer Phänomene hilflos aussetzen.332 Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Überprüfungsarbeit muss Wilbrand auch einen Abschnitt über »Die Natur des Nervensystems in seinen verschiedenen Verzweigungen, und die Natur der Sinnorgane, wie sie sich beide auf den einzeln Stufen der Thierbildung darstellen«, einrücken, mithin eine neurologische und vermögenspsychologische Epistemologie. Begründet wird dieser – im weitesten Sinne – psychologische Exkurs damit, dass der magnetische Schlaf als eine höhere, gleichsam bewusstlose und doch Erkenntnisse generierende Erscheinung »nur gehörig begreiflich« wird, »wenn das Verhalten des Nervensystems in seinen verschiedenen Verzweigungen« berücksichtigt wird. Systematisch ergänzt wird diese neurologische These durch die evolutionspsychologische Erweiterung, dass in eins damit »über den Ursprung und die allmähliche Entwicklung der verschiedenen Sinne ein gehöriges Licht« verbreitet werden muss.333 Neuroanatomie und Sinneslehre sind mithin für Wilbrand in ihrem systematischen Zentrum nur als evolutionäre Vermögenspsychologie und vergleichende Anatomie zu begreifen. Nun entwickelt Wilbrand in einem aufwendigen Verfahren die Theorie einer Nerven- und Sinnengenese, nach der sich die ausdifferenzierten Nervensysteme und Sinne höherer Organismen aus einem ursprünglichen Gefühlssinn einfachster Organismen, die er mit Oken334 und wie Büchner335 als »Infusorien« bezeichnet, entwickelt haben sollen: Bei den Infusorienthierchen und bei den Strahlenpolypen ist der Gefühlssinn, so wie der Sinn für das Licht, der erst späterhin mit der Hervorbildung eigenthümlicher Gesichtsorgane, sich zum Gesichtssinn entfaltet, mit jeder Molekül [sic] des Körpers verschmolzen […]. Aber unstreitig hat der Gesichtssinn in der Empfindlichkeit, welche die Infusorienthierchen und Strahlenpolypen für das Licht verrathen, seine erste Wurzel.336

Dieses gleichsam analytisch-genetische Verhältnis von ursprünglichem Sinn und ausdifferenzierten Sinnesorganen, das für die höheren Entwicklungsformen bedeutet, dass sie die in den unteren Formen vorhandenen undifferenzierten Fähigkeiten nicht vollständig ablegen, gilt in lückenloser Stufenleiter von den Infusorien bis zum Menschen:  331 Ebd., S. 3 u. S. 16–25. 332 Vgl. hierzu u. a. Seling-Dietz 1995–99. 333 Beide Zitate Wilbrand 1824, S. 81. 334 Vgl. hierzu Oken 2007, II, S. 163–165; dass Oken Terminus und Begriff dieser kleinsten lebenden Entitäten der Natur von dem dänischen Zoologen Otto Frederik Müller übernahm, weist nach Beidbach 2001a, S. 17. 335 Vgl. hierzu schon Roth 1990–94 sowie MBA VIII, S. 1626 u. S. 477. 336 Wilbrand 1824, S. 84f.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Von allen Sinnorganen sind, vom Infusorienthierchen bis zu den Insecten und Mollusken einschließlich, noch keine andere bestimmt wahrnehmbar, als die Organe des Gefühlssinns und die Augen. Am Schlusse der Molluskenwelt erscheinen in den Kopffüsslern (Cephalopoden) auch die ersten Spuren eines Gehörorgans. Wenn aber im Strahlenpolypen der Sinn fürs Licht, so wie der Gefühlssinn in einander verschmolzen sind: so dürfte auch mit Recht gesagt werden können, daß die übrigen Sinne, die wir bei höheren Thieren und beim Menschen unterscheiden, wenigstens der Anlage nach, in den unteren Thieren in einander verschmolzen sind; oder mit andern Worten, daß die Sinne des Menschen eben so aus einer und derselben Wurzel hervorsprossen, wie die einzelnen Theile des Nervensystems in den Seesternen allmählig hervorgehen, und wie die ganze Thierschöpfung mit den Infusorienthierchen beginnt.337

Die diversen Erscheinungen des Magnetismus erklärt Wilbrand nun dadurch, dass der Mensch in diesem »eigenthümlichen Zustand« in sinnespsychologischer und physiologischer Hinsicht auf die in ihm enthaltene, im entfalteten Bewusstsein jedoch verschüttete Stufe des ursprünglichen Gefühlssinnes zurücksinkt: Ist dieses unverkennbar, so werden auch bei einer Person im magnetischen Schlafe, wenn sie auf der Stufenleiter der Thierwelt zu der Natur der unteren Thiere hinabsinkt, alle Sinne gleichfalls in einen Sinn, in eine verkörperte Wahrnehmung zusammen schmelzen müssen.338

Büchner wird seiner Figur Lenz eine systematisch übereinstimmende Erklärung des Somnambulismus zuschreiben.339 Entscheidend ist im Zusammenhang seines wissenschaftlichen Wissens zunächst, dass er die von Wilbrand hier entwickelte evolutionäre Neurologie und Psychologie in seiner Probevorlesung ebenfalls entfaltet;340 dort heißt es nämlich: Die passive Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne sind nichts als Modificationen dießes allgemeinen Sinnes. Sehen Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren Blüthen desselben. So ergiebt es sich aus der stufenweisen Betrachtung der Organismen. Man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus an, wo alle Nerventhätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl besteht, nach und nach besondre Sinnesorgane sich abgliedern und ausbilden. Ihre Sinne sind nichts neu Hinzugefügtes, sie sind nur Modificationen in einer höheren Potenz. Das Nämliche gilt natürlich von den Nerven, welche ihre Functionen vermitteln, sie erscheinen unter einer vollkommeneren Form, als die übrigen Empfindungsnerven, ohne deßwegen ihren ursprünglichen Typus zu verlieren.341

Zwar wird diese analytisch-genetische Evolutionstheorie auch von Carl Gustav Carus,342 Lorenz Oken343 oder auch Gotthilf Heinrich Schubert344 vertreten. Doch sind  337 Ebd., S. 91. 338 Ebd., S. 92f. 339 MBA V, S. 365–40 sowie meine Ausführungen in Kap. 7. 340 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 111 sowie Roth 2004, S. 355–368. 341 MBA VIII, S. 15913–25. 342 Carus 1831, S. 110f.; vgl. hierzu auch Schweizer 2008, S. 384ff.

  Naturphilosophie deren Ausführungen zu einer naturgeschichtlichen Neurologie und Psychologie,345 die die ursprünglichen, einfachen Formen zu Substanzen der aus ihr hervorgehenden höheren Formen als deren Modifikationen begreift,346 auch in jeder Hinsicht mit den Positionen Wilbrands identisch. Kaum näher als in diesem Punkte sind sich der Gießener Professor der Medizin und Naturgeschichte und sein kurzzeitiger Student und nachmaliger Dozent für vergleichende Anatomie in Zürich, Georg Büchner. Das Spezifische dieser gemeinsamen Position zeigt sich bei einem kurzen Blick auf eines der einflussreichsten Evolutionsmodelle der Zeit, Jean-Baptist Lamarcks epigenetische Entwicklungstheorie. Auch Lamarck hält den wissenschaftlichen Ausgang jeder natürlichen Evolutionstheorie »bei den allereinfachsten Organismen« für unumgänglich, weil »das auf der niedrigsten Organisationsstufe stehende Wesen kein besonderes Organ, auch keine besondere Fähigkeit, die nicht jedem belebten Körper zukäme, besitzt«.347 Die Komplexitätszunahme auf der Stufenleiter der Natur erfolgt mithin nicht systemisch, sondern additiv. Die Gründe für die Ausprägung höherer Stufen sind nach Lamarck jedoch nicht in den ursprünglichen Formen angelegt, sondern von dem »Wechsel der Lebensbedingungen« abhängig.348 Die komplexeren Organismen sind also keine »Modifikationen in einer höheren Potenz« wie für Büchner, Carus oder Wilbrand,349 sondern substanziell neue Arten von Lebewesen; nach Lamarck gilt für sie, was Büchner ihnen explizit abspricht: dass sie durch »neu Hinzugefügtes«350 definiert werden. Ergänzend sei angemerkt, dass Büchner diese spezifische Variante evolutionärer Psychologie auch in den Vorlesungen und Schriften Joseph Hillebrands hatte hören oder nachlesen können, der schon in seiner Anthropologie von 1822/23 in Bezug auf eine evolutionäre Gefühlspsychologie festhielt: Alle einzelnen Gefühle sind nach früheren Bemerkungen zunächst zu betrachten als Modifikationen des einen Urgefühls, […].351 Ein anderer Grund [für prophetische Träume] aber dürfte in dem früher angedeuteten Gemeingefühl oder allgemeinen Sinne zu suchen seyn. In diesem vereinigen sich nämlich […] alle ein-

 343 Zu Oken vgl. Ghiselin 2005, S. 441: »Entsprechend war die Scala so zu betrachten, daß mit fortlaufender Organisationshöhe sukzessive neue Eigenschaften zu den alten der niederen Stufen hinzu kamen.« 344 Schubert 1808, S. 24ff. 345 Vgl. hierzu auch Poggi 1994, S. 143–160. 346 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f. 347 Lamarck 2002, S. 44f. 348 Ebd., S. 45f.; vgl. hierzu auch Lefèvre 22009, S. 32–76. 349 MBA VIII, S. 15922. 350 Ebd., S. 15921. 351 Hillebrand 1822/23, II, S. 283.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

zelnen Organsinne, aus ihm entwickeln sie sich, er liegt ihnen fortdauernd zum Grunde, wirkt in allen und ersetzt den Mangel der Einzelnen.352

Wilbrand war mit seiner Form von Naturgeschichte und evolutionärer Psychologie, die ein Modell analytischer Realgenese entwarf,353 also auch in Gießen nicht allein, sondern wurde darin gar von namhaften Philosophen unterstützt. Büchner folgte diesem Modell und ist damit in wesentlichen Punkten seiner eigenen Naturphilosophie derjenigen Wilbrands und Hillebrands näher als Cuvier und Duvernoy einerseits oder gar Liebig andererseits. Insbesondere für eine nur kontextuell zu erschließende und zu interpretierende Passage des Lenz und ihre Stellung im poetischen Gesamtgefüge der Erzählung wird sich diese systematische Nähe als prägend erweisen. Büchner konnte mithin nicht nur in der Vorlesung Wilbrands, die er besuchte,354 sondern auch über dessen Schriften Prinzipien, Theoreme und auch empirische Ergebnisse einer philosophisch fundierten Naturforschung kennenlernen oder bestätigt finden, die er in seinen späteren Texten ebenfalls vertrat. Hierbei geht es nicht um empirische Einzelerkenntnisse, sondern um methodische und systematische Grundlagen des Naturbegriffs und der Naturforschung überhaupt, sowie – das zeigte die evolutionäre Neurologie und Psychologie – um begriffliche und systematische Grundlagen für eine wissenschaftliche Erklärung problematischer, bislang unerklärter Erscheinungen. Dass Büchner die von Wilbrand vertretenen wissenschaftlichen Gehalte von dem Habitus des Hochschullehrers, den er im Woyzeck karikierte, unterscheiden konnte, darf man dem 22-Jährigen getrost zutrauen.355 Eine umfassendere, hier nur skizzenhaft zu leistende Rekonstruktion der Naturphilosophie Wilbrands an ihr selbst und im Hinblick auf Büchners Positionen steht allerdings noch aus; erst eine wissenschafts- und philosophiegeschichtlich angemessene Bearbeitung seines Werkes, die die bislang zumeist biographischen und institutionengeschichtlichen Perspektiven ergänzen müsste,356 kann den spezifischen Einfluss auf Büchners Wissenschaften weitergehend aufarbeiten. Nach der Sichtung der Grundzüge der Naturphilosophie Wilbrands liegt die Annahme nahe, dass Büchner an dessen Vorlesung mehr interessiert haben und durch diese stärker geprägt worden sein dürfte, als durch bzw. in Bezug auf das ›Wackeln von Ohren‹.357  352 Ebd., S. 361; vgl. auch noch Hillebrand 1835/36, S. 131–170. 353 Vgl. hierzu auf der Grundlage von Breidbach 1986 und Mischer 1997, S. 168ff. schon Stiening 1999, S. 112 und Roth 2004, S. 360. 354 MBA VII.2, S. 474ff. sowie MBA VIII, S. 185f. 355 So auch Haaser 2014. 356 So die umfangreiche Arbeit von Maaß 1994. 357 Wilbrand ließ – laut Carl Vogt (1896, S. 55) – seinen Sohn in seinen Vorlesungen mit den Ohren wackeln, ein Phänomen, das er als Eigenschaft des Affen beschrieb, womit er seinen Sohn vor der versammelten Hörerschafft gedemütigt habe. Büchner soll diese Episode im Woyzeck kritisch gestaltet haben (vgl. MBA VII.2, S. 2030–35); auch wenn beides längstens widerlegt wurde (vgl. Maaß 1994,

  Naturphilosophie ... Gießener Paläontologie: Johann Jakob Kaup Büchner wurde jedoch nicht nur durch seinen Lehrer Lauth in Straßburg sowie Hillebrand, Wilbrand und Wernekinck in Gießen mit naturphilosophischer Theoriebildung vertraut gemacht. Auch eine durch Alexis Muston, einen Freund Büchners, bezeugte engere Bekanntschaft mit dem nachmaligen Leiter der naturgeschichtlichen Sammlung in Darmstadt, Johann Jakob Kaup,358 kann einen Einfluss der in den 1830er Jahren weithin akzeptierten philosophischen Naturforschung verdeutlichen. Weil Kaup Georgs Bruder Wilhelm Privatunterreicht erteilte,359 kann man von einer näheren Bekanntschaft Büchners mit dem in den 1830er Jahren europaweit zu wissenschaftlichem Ansehen gelangenden Paläontologen ausgehen. Denn Kaup führte Büchner und den in Darmstadt auf Archivreise befindlichen Muston im Sommer 1834 wie selbstverständlich durch sein Kabinett und erwies ihnen die besondere Ehre, »uns seinen berühmten Dinotheriumkinnbacken« zu präsentieren.360 Kaup hatte sich mit einer Studie zu diesem berühmten fossilen Fund, die auf Vermittlung Liebigs auch Cuvier vorgelegt wurde,361 und mit einer umfangreicheren Arbeit zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Thierwelt (1829), die Büchners Vater dem Sohn noch nach Zürich nachschickte,362 einen Namen in der sich erst entwickelnden Paläontologie und der (vordarwinschen) Evolutionstheorie gemacht.363 Kaup sah sich in seinen wissenschaftlichen Prinzipien als »Anhänger der Naturphilosophie«364 und fühlte sich in diesem Sinne seinem »Lehrmeister« Oken verpflichtet.365 Gleichzeitig pflegte er mit Büchners Straßburger Dozenten GeorgesLouis Duvernoy eine enge Freundschaft.366 Auch methodisch und systematisch schwankt Kaup bei der ihn lebenslang beschäftigenden »Einteilung der Natur«

 S. 351f. sowie Haaser 2014, S. 215), reduziert die Büchner-Forschung das Verhältnis zwischen Büchner und Wilbrand seit Bergemann (1922, S. 830) auf diese Anekdote; vgl. u. a. Glück 1985b, S. 150; Hauschild 1993, S. 559 oder auch Elm 2004, S. 127f.; einzig ausführlicher, wenngleich ebenfalls tendenziös Dedner 2000, S. 178–182; Wenzel 2007, S. 171; MBA VII.2, S. 474–479 u. S. 485ff.; Schiemann 2017, S. 158. 358 Zu Kaup vgl. Heldmann 1955 sowie Franzen u. Gruber 2004; Engels 2013, S. 99ff. 359 Vgl. P II, S. 35516ff.; vgl. auch ebd., S. 1220. 360 Fischer 1987, S. 259; siehe auch Kurz u. Gruber 2004; eine Abbildung dieses fossilen Unterkiefers findet sich ebd. S. 74 sowie in Engels 2013, S. 106. 361 Ebd., S. 262 sowie Franzen u. Gruber 2004, S. 5. 362 P II, S. 4609–11; vgl. hierzu schon James 1982, S. 61. 363 Vgl. Franzen u. Gruber 2004, S. 5: »So modern diese Formulierung heute klingt, so weit ist Kaups Werk von der Idee einer natürlichen Evolution des Organismus im Sinne von Charles Darwin entfernt.« Die Büchner auf dem Wege zu Darwin sehende MBA (VIII, S. 246) hätte bei solcherart differenzierter Forschung zu Büchners Umfeld genauer nachschlagen sollen; vgl. auch Breidbach 2004a, S. 181; Junker 32004. 364 So zu Recht Geus 32004, S. 330. 365 Vgl. Heldmann 1955, S. 6. 366 Vgl. Franzen u. Gruber 2004, S. 7.

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zwischen Cuviers typologischem Klassifikationsprogramm und Okens deduktivem System.367 Selbst wenn alle Überlegungen zu einer möglichen Protektion Büchners durch Kaup bei Oken oder schon früher bei Duvernoy Spekulationen bleiben müssen,368 zeigt doch der offenbar engere Kontakt369 zu diesem – im zeitgenössischen Sinne – innovationsfreudigen Naturgeschichtler Büchners engmaschige Einbindung ins Netz europäischer Naturphilosophie in den 1820er und 1830er Jahren. ... Gründe einer verpassten Begegnung: Büchner und Liebig Vor dem Hintergrund dieser studien- und theoriekonstituierenden Stellung Büchners im Tableau naturphilosophischer und -wissenschaftlicher Forschung, die sich dadurch auszeichnete, dass sie eine stete Vermittlung zum Problem der Natur als »einer gewissen Einheit«370 begründet aufrecht erhielt, nimmt es nicht Wunder, dass der Gießener Medizin-Student mit der analytisch-phänomenologischen Naturwissenschaftsvariante Justus Liebigs kaum Berührung aufnahm. Liebig, der 1833 und 1834 – also während Büchners kurzem Aufenthalt in Gießen – an den Konsequenzen seiner Radikaltheorie arbeitete sowie im Rahmen der praktischen Chemie an einem neuen Verfahren zur Herstellung von Silberspiegeln forschte,371 ließ schon in dieser Zeit – also nicht erst ab den 1840er Jahren, in denen er auch publizierend gegen die Naturphilosophie auftrat372 – keine Gelegenheit aus, die Konkurrenz der philosophischen Naturforschung zu bekämpfen, obwohl er u. a. mit Wernekinck das private Institut für Pharmazie und technisches Gewerbe betrieb.373 An dem Entzug der Professur für Anatomie und Physiologie, die Johann Bernhard Wilbrand 1844 ereilte, hatte Liebig maßgeblichen Anteil.374 Auch wenn in der vom Siegeszug der analytischen Naturforschung beeinflussten Büchner-Forschung immer wieder über eine etwaige Hörerschaft und/oder Nähe Büchners zu Liebig spekuliert wurde und wird,375 kann man, nachdem die Mär von einer Auseinandersetzung mit Versuchen

 367 Vgl. ebd. 368 Vgl. Fischer 1987, S. 263f. sowie P II, S. 1220. 369 So auch zu Recht, wenngleich ohne jede wissenschaftsgeschichtliche Interpretation, Hauschild 1993, S. 119. 370 MBA VIII, S. 15546. 371 Vgl. hierzu Schwenk 1998, S. 241f. sowie Brock 1999, S. 114ff. 372 Vgl. Liebig 1840; hier gießt Liebig seine Kritik in jene nachmals berühmt werdende Formel von der Naturphilosophie als »Pestilenz [...] unseres Jahrhunderts« (S. 24). 373 Vgl. Maaß 1994, S. 229–320. 374 Ebd., S. 276ff. sowie Brock 1999, S. 161f.; Felschow 2003, S. 74f. und Giese 2007, S. 200–204. 375 Vgl. hierzu schon Strohl 1936, S. 39f.; vor allem aber Bornscheuer 1972, S. 11–15; weitgehend ungeprüft wurden diese Thesen übernommen durch Glück 1985, S. 156ff.; Kubrik 1991, S. 181–194, Hauschild 1993, S. 256; Arz 1996, S. 79Anm. 195; Selbmann 1996, S. 160 u. Knapp 32000, S. 203; zur Kritik an den haltlosen Spekulationen vgl. schon Roth 1995–99, S. 503f. sowie Roth 2004, S. 33–38;

  Naturphilosophie Liebigs an Soldaten im Woyzeck endgültig verabschiedet wurde,376 von einer verpassten Begegnung zweier bedeutender kulturhistorischer Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts sprechen. Eine nicht unerhebliche Rolle für diese vollständige gegenseitige Ignoranz dürfte die Tatsache gespielt haben, dass Joseph Hillebrand, den Büchner hörte, sich mit Kritik an Liebigs Wissenschafts- und Lehrverständnis keineswegs zurückhielt. Dabei nahm der Philosoph, der institutionell unter dem Dach der philosophischen Fakultät mit Liebig zusammenarbeiten musste, vor allem den methodisch und systematisch unbegründeten Empirismus der liebigschen »Barbaren-Kohorte« auf’s Korn.377 Büchners naturwissenschaftliche und -philosophische Ausrichtung auf die Formulierung eines allgemeinen Naturgesetzes, seine mit Wilbrand konforme explizite Ablehnung einer so genannten Lebenskraft,378 deren Existenz Liebig – bei aller schroffen Kritik an philosophischer Forschung – lebenslang verteidigte,379 sowie die Einbindung der empirisch-anatomischen Arbeiten Büchners in eine qualitative und eben nicht analytisch quantitative Forschung verweisen auf die grundlegende wissenschaftstheoretische Differenz zwischen dem Chemiker und dem angehenden vergleichenden Anatomen. Das heißt allerdings nicht, dass Büchner Liebigs Forschungsausrichtung in allen Punkten ignorierte; keineswegs zeigte er sich als grundlegender Gegner der Biochemie, wie seine offenbar intime Kenntnis der Forschung Pierre Prévosts und Jean Baptist Dumas’ zur Biochemie des Harnstoffs zeigt.380 Die Ablehnung Liebigs durch Büchner richtete sich also weniger gegen die empirischen Ergebnisse seiner Forschungsausrichtung als vielmehr gegen den empiristischen Methodiker und auftrumpfenden Lehrstuhlinhaber. Der Experimentalismus des Doktors, ja sogar dessen Ausrichtung auf Menschenversuche381 im Woyzeck hat mit Liebigs analytischer Naturwissenschaft allerdings nichts zu tun und teilt auch nicht den »gleichen Denkraum«.382 Vielmehr hatte schon der naturphilosophische Physiker Johann Wilhelm Ritter, dem es – wie Büchner – darum ging, ein »allgemeines, bisher noch nicht bekanntes Naturgesetz« zu formulieren,383 gezeigt, in welchem Umfang und in welch humanitär prekären  dennoch wurde die These wiederholt in Pethes 2004, S. 352; MBA VII.2, S. 474; Elm 2004, S. 127; Hauschild 22004, S. 148 sowie Wenzel 2007, S. 174f.; erstmals richtigstellend aufgenommen bei Pethes 2006, S. 73 sowie Pethes 2009, S. 264. 376 Vgl. Dedner 1993, S. 116; Roth 1995–99, S. 504ff.; Dedner 2000, S. 183f.; Wenzel 2007, S. 174 sowie MBA VII.2, S. 519f. 377 Vgl. Schreiber 1937, S. 14–16. 378 Vgl. hierzu Wilbrand 1831, S. 24ff. 379 Vgl. Rothschuh 1968, S. 74 sowie Brock 1999, S. 249f. 380 Vgl. hierzu meine Ausführungen zu den philosophischen Skripten in Kap. 2. 381 Vgl. Glück 1990. 382 Vgl. aber auf der Grundlage von Glück (1985b, S. 156ff.) Pethes 2004, S. 352 sowie MBA VII.2, S. 474. 383 Ritter 1798, S. 171; vgl. hierzu Höppner 2017, S. 209–334.

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Dimensionen er Menschenversuche – insbesondere als Selbstversuche384 – zu unternehmen bereit war.385 Auch war die Ausrichtung der Forschungspraxis auf experimentelle Verifikation konstitutiver Teil des naturphilosophischen Wissenschaftsverständnisses.386 Liebig und Büchner hatten sich folglich in den Jahren 1833 bis 1835 gegenseitig wenig zu bieten: der sich zum Großmanager theoretischer und praktischer Chemie herausbildende Liebig und der zwischen Philosophiegeschichte und Naturphilosophie nach allgemeinen Begründungtheorien für eine kohärente Naturtheorie suchende vergleichende Anatom Georg Büchner.

.. Straßburg 1835–1836: Ausbildung zum selbständigen Wissenschaftler: Die Dissertation Nach seiner Flucht aus Darmstadt, die ihn ungesäumt nach Straßburg zurückführte, ist Büchner nicht nur um eine gesicherte Existenz gebracht, sondern auch der Verpflichtung entledigt, ein Studium der praktischen Medizin zu beenden.387 Die noch auf der Reise übermittelte Versicherung an die Eltern, er werde »das Studium der medicinisch-philosophischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben«,388 ist sowohl positiv als Garantie der Fortsetzung der beruflichen Ausbildung überhaupt als auch negativ als Absage an eine medizinisch-praktische Ausbildung zum Arzt zu lesen. Denn der Terminus »medicinisch-philosophische Wissenschaften« bezieht sich eindeutig und ausschließlich auf die naturphilosophischen Studien Büchners im Fachgebiet der vergleichenden Anatomie.389 Ausdrücklich hatte schon Georg Ferdinand Zimmermann in seinem Philosophisch-medicinischen Wörterbuch von 1807 festgehalten, dass das Telos dieses jungen Forschungszweiges darin bestehe, alle »animalischen Erscheinungen als eine Natur, d. i. als ein gesetzmäßig verknüpftes Ganzes von Gegenständen unserer Wahrnehmung« mit Hilfe philosophischer Kategorien zu erfassen.390 Doch vorerst hält sich Büchner an diese Versicherungen nicht. Vielmehr hofft er, wie er an Karl Gutzkow schreibt, »[s]eine Faulheit wenigstens ein Vierteljahr

 384 Vgl. die eindrückliche Dokumentation bei Strickland 1998. 385 Richter 1997 sowie Weber 2005, S. 507–535. 386 Vgl. hierzu u. a. Wetzels 1973, S. 29–36; Schulz 1993; Steinle 2002 und Höppner 2017, S. 82ff. 387 Vgl. auch Ludwig Büchner (in Dedner [Hg.] 1990, S. 122): »In Straßburg wandte sich Büchner wieder ganz seinen ernsten Studien zu […]. Wenn er auch die praktische Medicin entschieden aufgab, so setzte er doch die naturwissenschaftlichen Studien um so eifriger fort.« 388 P II, S. 3973–5. 389 Vgl. hierzu zu Recht P II, S. 1046; Roth 2004, S. 38f.; MBA VIII, S. 189ff., S. 245f.; eine eindeutig falsche historische Semantik des Begriffs liefert dagegen MBA V, S. 132. 390 Zimmermann 1807, S. 364; vgl. hierzu auch MBA VIII, S. 190.

  Naturphilosophie lang fristen zu können«.391 Die Bemerkung scheint jedoch mehr einem unter Jungdeutschen der Zeit modischen Sensualismus heinescher Provenienz392 geschuldet als Büchners tatsächlichen Plänen; er ist in den ersten Wochen und Monaten vor allem politisch aktiv, u. a. im Hinblick auf Hilfe für seine in Hessen inhaftierten Freunde.393 Zudem muss er sich um die rechtliche und wirtschaftliche Sicherung seiner Existenz in Straßburg kümmern,394 wobei er sich im Hinblick auf seinen Status als Exilant allerdings der Unterstützung der »Professoren Lauth, Duvernoy und des Doctor Boeckel« sicher ist.395 Die Sorge um seine wirtschaftliche Existenz veranlasst u. a. die Arbeit an der Übersetzung zweier Hugo-Dramen,396 und auch die Suche nach einem institutionell möglichen und wissenschaftlich geeigneten Thema zum Promotionsabschluss seiner Naturforschung bedrängt den Flüchtling. Dennoch scheinen die ersten Monate bis in den Herbst des Jahres 1835 nicht nur mit den Übersetzungen und der Suche nach einer geeigneten wissenschaftlichen Thematik für die angestrebte wissenschaftliche Qualifikation ausgefüllt worden zu sein, sondern auch mit der Arbeit an der »Novelle Lenz«, deren Verfertigung schon im Mai Gutzkow gegenüber angedeutet wurde.397 Muss deren poetische Gestaltung wissensgeschichtlicher Kontexte im Folgenden eigens untersucht werden, so ist doch schon im Rahmen der Rekonstruktion des Entwicklungsganges der büchnerschen Aneignung naturwissenschaftlichen und -philosophischen Wissens darauf hinzuweisen, dass sich der Autor der Erzählung im französischen Exil ausführlich mit allgemein vermögenspsychologischen, psychopathologischen und psychiatrischen Fragestellungen und entsprechender Literatur befasst haben muss.398 Dass diese Beschäftigung mit Psychologie erneut nicht ohne naturphilosophische Fundierungen auskommen kann und will, wird die nähere Betrachtung der Erzählung, insbesondere das oben schon erwähnte Gespräch zwischen Oberlin und Lenz über Erscheinungen des Magnetismus und des Somnambulismus, zeigen. Entscheidend ist vorerst, dass Büchner sein wissenschaftliches Wissen um den Bereich der Psychopathologie erweitert bzw. so weit bündelt, dass er die psychographischen und allgemein psychologischen Momente im Lenz zu gestalten wusste. Diese Erweite-

 391 P II, S. 39725f.. 392 Vgl. u. a. Teraoka 2006, S, 96ff. 393 Vgl. hierzu Mayer 1993. 394 Vgl. MBA V, S. 139. 395 Brief an die Familie von Ende Juni 1835, P II, S. 40720f.; vgl. Hauschild 1993, S. 478; Knapp 2000, S. 25–34 sowie Martin 2007, S. 88–111. 396 Vgl. MBA IV, S. 264ff. 397 Vgl. P II, S. 4051. 398 Vgl. hierzu Seling-Dietz 1995–99 sowie MBA V, S. 131–137; allerdings müssen gegenüber deren einseitigen Kontextualisierungen im wissenschaftlichen Feld zugunsten einer »somatisch orientierten Psychiatrie« (ebd., S. 132) erhebliche Modifikationen vorgenommen werden.

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rung seines Wissens ist nicht wissenschafts-intrinsisch motiviert, sondern auf die Gestaltung eines literarischen Themas ausgerichtet.

.. Exkurs: Büchner und Schleiden oder: Anatomia practica zwischen Empirismus und Naturphilosophie Ab dem Spätsommer verstärkt Büchner jedoch die Suche nach einem geeigneten Promotionsthema, auch wenn er – wie erwähnt – sich erst im November dazu entschließt, einen naturwissenschaftlichen Gegenstand zu bearbeiten.399 Büchner liest mithin intensiv philosophische und naturwissenschaftliche Texte, forciert aber zugleich eine Tätigkeit, die seine spezifische Stellung im Tableau der zeitgenössischen Naturforschung veranschaulicht. Udo Roth hat diese Tätigkeit, die einen entscheidenden empirischen Bedingungsfaktor für Büchners Naturforschung abgibt, wie folgt beschrieben: Büchner vertraute letztlich nur seinen eigenen Sektionsergebnissen […]. Dabei präparierte er manuell mit Skalpell, Nadel und Pinzette, mehrenteils unter Wasser, da die Gewebe in diesem Medium ihre natürlichen Formen und Lagen behielten und aufgrund des Auftriebs auch feinste Häute zu erkennen waren. Als einzige optische Hilfsmittel standen ihm bei diesen Arbeiten unterschiedlich starke Lupen zur Verfügung, ein Umstand, der dem stark kurzsichtigen Büchner sicherlich einige Schwierigkeiten bereitete.400

Nun können zwei unterschiedliche kontextuelle Bezüge aufweisen, dass diese schon an sich und erst recht für den Kurzsichtigen beschwerliche empirischtechnische Arbeit401 keineswegs eine Affinität Büchners zur empiristischanalytischen Naturforschung dokumentiert, die sich zum gleichen Zeitpunkt in Berlin um Johannes Müller Bahn bricht.402 Denn es ist der Naturphilosoph und vergleichende Anatom Carl Gustav Carus, der im Anhang seines Lehrbuchs zur vergleichenden Anatomie, das Büchner explizit in seiner Dissertation zitiert,403 solcherart Praktiken ausführlich beschreibt und jedem Anatomen anempfiehlt: Zuvörderst aber scheint es mir nöthig anzumerken, daß alle Zergliederungen kleiner, weicher Thierkörper (z. B. von Würmern, Insekten, Mollusken und Embryonen), wenn sie nur einigermaßen genaue Resultate geben sollen, nothwendig unter Wasser, als durch welches die Theile fluktuierend und gesondert, folglich deutlicher dargestellt werden, vorzunehmen sind. [...] Noch kann ich endlich die Bemerkung über die Untersuchung sehr zarter Organisationen nicht schließen, ohne anzuführen, daß viele derselben weit leichter und schärfer untersucht werden  399 Vgl. auch Martin 2007, S. 106. 400 Roth 2004, S. 75f.; vgl. schon Döhner 1967, S. 66. 401 Zu deren Umfang vgl. MBA VIII, S. 202. 402 Vgl. Kremer 1991; Lenoir 1992; Breidbach 2005 sowie Otis 2007. 403 Vgl. Roth 2004, S. 44 sowie MBA VIII, S. 255f. u. S. 479–484.

  Naturphilosophie können, wenn sie zuvor eine gewisse freilich genau anzumessende Zeit in Weingeist gelegt, und durch denselben zusammengezogen und erhärtet worden sind. Es gilt dies namentlich vom Zergliederung der Nervengebilde, [...].404

Schon die Rekonstruktion der Lehren auf diesem Feld der anatomia practica, die Büchner bei Lauth und Wernekinck erhalten hatte, konnte zeigen, dass beide Anatomen und Präparatoren ihre technisch-praktische Befähigung mit naturphilosophischen Begründungtheorien zu vermitteln wussten, gerade um ihren Vorstellungen wissenschaftlicher Erklärungsansprüche gerecht zu werden. Dem von Büchner mehrfach herangezogenen Carus gelingt ebendiese Vermittlung zwischen Präparationstechnik und philosophischem Deutungsanspruch ebenfalls. Empirisch beansprucht mithin auch die Naturphilosophie zu arbeiten, nicht aber empiristisch, weil sie weder in epistemologischer Hinsicht nur von der Erfahrung ausgeht noch in methodischer Hinsicht nur durch Induktion verfährt.405 Gleichwohl müssen die von Carus benannten technischen Voraussetzungen der empirischen Forschung bei einem vergleichenden Blick nach Berlin zu weiteren Präzisierungen bei der Interpretation der büchnerschen Naturwissenschaft führen. Zieht man nämlich einen zweiten Kontext zu Rate, so eröffnet sich eine Reihe von Anschlussüberlegungen, durch die sich Büchners Stellung im Feld der Naturforschung der 1830er Jahre deutlicher bestimmen lässt: Denn zum gleichen Zeitpunkt, in den Jahren 1835 bis 1838, arbeitet der in den 1840er Jahren als Botaniker, Zelltheoretiker und wütender Gegner der Naturphilosophie zu großer Berühmtheit gelangende Matthias Jacob Schleiden406 ebenfalls an anatomischen Studien – allerdings unter der Anleitung Johannes Müllers in Berlin zur Botanik.407 Zu berücksichtigen ist dabei, und zwar auch für die sich abzeichnende Zelltheorie,408 dass Schleiden in Berlin mit den damals leistungsfähigsten, ganz neuen Mikroskopen arbeiten kann,409 während Büchner in Straßburg im Weingeistdunst und unter Wasser schnipselt.410 Büchner und Schleiden hatten keinerlei Kontakt, mit der mittelbaren Ausnahme des unterschiedlichen Bezuges zu Johannes Müller; doch lassen sich folgende Schlüsse aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Vergleich ziehen: Beide, Büchner und Schleiden, arbeiten zum gleichen Zeitpunkt empirisch; Schleiden mit dem Anspruch streng empiristischer Epistemologie und Methodologie;411 Büchner dagegen

 404 Carus 21834, S. 833–835. 405 Vgl. hierzu u. a. Schulz 1993; Steinle 2002; Breidbach 2004. 406 Vgl. Schleiden 1844. 407 Vgl. hierzu Charpa 2005, S. 632f. 408 Vgl. hierzu u. a. Lenoir 1982, S. 112ff. 409 Ebd. 410 Göbbel u. Schultka 2003, S. 49–81. 411 Vgl. ebd. S. 647f.

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unter – methodisch eingeschränkten – apriorischen Voraussetzungen. Während Büchner seiner vergleichenden Anatomie eine systematische Naturtheorie zugrunde legt, die eine spezifisch vordarwinsche Evolutionstheorie ausführt,412 setzt Schleiden zumindest im Selbstanspruch ausschließlich methodologische Prämissen voraus, die eine strenge Induktion ermöglichen sollen.413 Die von der Naturphilosophie und so auch von Büchner betriebene Suche nach einem allgemeinen Naturgesetz hält Schleiden für »geistlosen Dogmatismus«.414 Unbestreitbar ist, dass Schleiden mit seinen Arbeiten seit 1835, die alsbald in erste Grundlagen der Zelltheorie münden, die Zukunft der Naturforschung als analytischer Naturwissenschaft ausmacht. Schon in Publikationen des Jahres 1838, also sehr nahe an Büchner, kündigt sich diese Zukunft öffentlich wirksam an. Klar ist auch, dass Büchner Welten von dieser Entwicklung zu einer analytischen Naturwissenschaft entfernt agiert und dennoch zu empirischen Ergebnissen kommt, die Johannes Müller ausdrücklich lobt.415 Vor diesem Hintergrund ist die wissenschaftsgeschichtlich ebenso wie die büchnerphilologisch interessierende Frage, was den Unterschied zwischen Büchner und Schleiden ausmache, von einigem Interesse: die Technik, die dem im Zentrum des ›naturwissenschaftlichen Weltgeistes‹ agierenden Schleiden zur Verfügung steht, oder die allgemeine Begründungstheorie, die unter apriorischen oder empiristischen Vorgaben zum analytischen Induktionismus oder zu einer synthetisierenden Naturphilosophie führen? Die scheinbar unmittelbare Evidenz der Innovationsleistungen technischer Bedingungen wird schon allein dadurch geschwächt – keineswegs negiert –, dass Büchner in Gießen mit einer anderen, gleichwohl ebenso wirksamen wie zukunftsträchtigen analytischen Schule, der Liebigs nämlich, in Kontakt kam, zudem mit den oben zitierten Texten Prévosts und Dumas’ biochemische Ergebnisse dieses Paradigmas zur Kenntnis nahm und sich dennoch – wie gezeigt – zu den in Gießen öffentlich agierenden Liebig-Gegnern schlägt: zu dem die »Barbaren-Kohorten« Liebigs bekämpfenden Philosophiedozenten Hillebrand sowie dem von Liebig stets denunzierten Wilbrand. Büchner hätte also die Möglichkeit gehabt, nicht nur innerhalb der Bahnen naturphilosophisch begründeter Empirie, sondern einer empiristischen Methodik der analytischen Naturwissenschaften zu arbeiten; er hat dies aber unterlassen. Für eine Erklärung dieser Tatsache sind aber die Versuche, Büchner entweder zum verstockten Sünder oder zum vermeintlichen Empiriker der Cuvier 412 Vgl. hierzu ausführlich Breidbach 1986; von Engelhardt 1997, S. 39f.; Junker 32004, spez. S. 371ff.; vor dem Hintergrund der Erkenntnisse Breidbachs, von Engelhardts oder Junkers sind die Insinuationen der MBA (VIII, S. 246), diese Evolutionstheorie Büchners habe irgendetwas mit Darwin zu tun, bzw. sie gehöre in die unmittelbare Vorgeschichte seiner Dezenz-Konzeption, durchaus irritierend; vgl. auch Lefèvre 2009, S. 23ff. 413 Vgl. u. a. Schleiden 1844, S. 18ff. 414 Ebd., S. 20. 415 Vgl. Müllers Sammelrezension von 1837, abgedruckt in P II, S. 607–612/MBA VIII, S. 598–601.

  Naturphilosophie Schule zu erklären und ihm zugleich eine Nähe zur Liebig-Schule zu attestieren, wenig hilfreich.416 Es muss vielmehr angenommen werden, dass er den Erklärungsleistungen der naturphilosophischen Modelle Hillebrands, Wilbrands oder Lauths mehr zutraute als der typologischen Konzeption der Cuvier-Schule einerseits und der Phänomenologie der analytischen Naturwissenschaft Liebigs andererseits. Büchners Haltung ist somit auch Ausdruck einer generellen Unentschiedenheit der Kontroverse zwischen den verschiedenen, in den 1830er Jahren gleichzeitig wirksamen Paradigmata der Naturforschung.417 Zu berücksichtigen ist zudem, dass Schleiden, wie auch seine Lehrer Johannes Müller418 und Jakob Friedrich Fries,419 durchaus philosophischer Systematik und Methodologie verpflichtet blieb, wenngleich – zumindest bei Schleiden – weitgehend unbewusst.420 Es sind mithin die – nicht vollends konsequent ausgeführten bzw. reflektierten – allgemein systematischen und methodologischen Begründungstheorien,421 die in Verbindung mit den durch sie allererst generierten technischen Bedingungen die erheblichen Unterschiede der gleichzeitig experimentierenden und sezierenden ›Nachwuchsforscher‹ Georg Büchner und Matthias Jacob Schleiden hervorbringen.422 Dennoch konnte Büchner mit seinen – veralteten – Methoden nicht nur in der Wissenschaft (Promotion und Habilitation), sondern auch in der Lehre einige Erfolge verbuchen. Einer der wenigen Hörer der einzigen Vorlesung, die Büchner je in Zürich gehalten hat, erinnert sich noch Jahrzehnte später nicht nur der gemäßigt naturphilosophischen Inhalte, sondern auch der spezifischen Lehrmethoden des Dozenten: […] was aber diesen Vorlesungen vor allem ihren Wert verlieh, […] das waren ferner die ungemein faßlichen, anschaulichen Demonstrationen an frischen Präparaten, die B., bei dem völligen Mangel daran an der noch so jungen Universität, sich größtenteils selbst beschaffen mußte. So präparierte er z.B. das gesamte Kopfnervensystem der Fische u. der Batrachier auf das

 416 Vgl. Pethes 2004, S. 352 sowie insbesondere MBA VII.2, S. 474 und Wenzel 2007, S. 174f. 417 Dass sich erst in den 1840er Jahren die Waage den analytischen Naturwissenschaften zuneigte, zeigen Breidbach 1988, S. 29; Sawicki 2002, S. 131; Breidbach 2005, S. 5; Schott. u. Tölle 2005, S. 66ff.; Breidbach 2006, S. 62 u. S. 202f. sowie Stiening 2006a, S. 111f. 418 Vgl. hierzu den bahnbrechenden Sammelband von Hagner u. Wahrig-Schmidt 1992. 419 Vgl. hierzu insbesondere Pulte 1999 sowie Breidbach 1999. 420 So zu Recht Charpa 2005. 421 So auch in Bezug auf die Innovationsleistungen Johannes Müllers in den 1830er Jahren Breidbach 2005, S. 7: »Neu sind hierbei weder der Gegenstandbereich noch die Geräte, die Müller nutzte, hierin war er auf dem Stand seiner Zeit […]. Innovativ war dabei allerdings seine Art der Gedankenführung, die die Beobachtung und das Experiment in einer neuartigen, in sich konsistenten Weise in einen Argumentationsgang einband.« 422 Vgl. auch Döhner 1967, S. 50: »Der Versuch einer philosophisch begründeten Naturwissenschaft war für Büchner auch kein Kompromiß, sondern beruhte im Gegenteil auf der Überzeugung, daß nur eine kritisch-philosophische Klärung der Methoden einen Weg aus der ›trostlosen Wüste‹ der spekulativen Naturphilosophie weisen könnte.«

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Sorgfältigste an frischen Exemplaren, um diese Präparate jedesmal zu den Vorlesungen verwenden zu können.423

Wie schon für Straßburg, so muss man sich auch für Zürich vor Augen führen, dass Büchner nicht nur die Vorlesungen selbst, sondern auch die Präparation der Fische auf seinem Privatzimmer vornahm. Von den hygienischen und olfaktorischen Belästigungen, die mit diesen Tätigkeiten einhergingen, wird sich noch der strengste Historist keinerlei Vorstellungen machen können. Klar aber ist, dass diese besondere technisch-praktische Befähigung Büchners eine – wenn auch kritisch gemäßigte – naturphilosophische Begründungstheorie nicht behinderte. August Lünnig, der soeben zitierte Hörer, betont denn auch neben der Anschaulichkeit Büchners Interesse und bedeutende Fähigkeit, die anatomische Deskriptionen durch »die fortwährende Beziehung auf die Bedeutung der einzelnen Teile der Organe u. auf die Vergleichung derselben mit denen der höheren Tierklassen«424 zu ergänzen – mithin evolutionsgeschichtliche Deutungen der vergleichend anatomischen Analysen vorzunehmen. Wie schon im Zusammenhang der Genese seines philosophischen Wissens rekonstruiert, entschließt sich Büchner erst nach Mitte November zu einem Dissertationsthema auf dem Felde der Naturforschung. Bis zum 31. Mai 1836 arbeitet er fieberhaft an seiner Thèse; am Tage darauf kann er seinem Freund, Eugène Boeckel, erleichtert vermelden: Erst gestern ist meine Abhandlung vollständig fertig geworden. Sie hat sich viel weiter ausgedehnt als ich Anfangs dachte und ich habe viel gute Zeit [da]mit verloren; doch bilde ich mir ein, sie sei gut ausgefallen.425

Tatsächlich war Büchner noch anfangs davon überzeugt, innerhalb weniger Wochen die Arbeit beenden zu können, um schon nach Ostern in Zürich zu lehren.426 Doch vor allem die Möglichkeit, die Ergebnisse seiner Forschungen der Société d’histoire naturelle zu Straßburg in einigen Vorträgen vorzustellen – sowie die damit verbundene Aussicht auf eine Aufnahme in diese Gesellschaft und den Abdruck der Arbeit in deren Reihe –, verzögert die Fertigstellung der Dissertation.427 Diese von

 423 August Lünning an Emil Franzos, 9. November 1877, zitiert nach MA, S. 385. 424 Ebd. 425 Brief an Eugène Boeckel vom 1. Juni 1836, P II, S. 43632–4371/MBA X.1, S. 9035–963. 426 Vgl. den Brief an Ludwig Büchner vom 1. Januar 1836, P II, S. 42132; Brief an Wilhelm Brauchbach vom 26. Januar 1836, P II, S. 42810. 427 Es scheinen mir eher diese pragmatischen Gründe als der von der MBA in Büchners Arbeit imputierte Widerspruch (MBA VIII, S. 198, S. 262f. u. ö.) zu sein, die jene erheblichen Verzögerungen mit sich brachten. Es wird sich zudem zeigen, dass der vermeintliche Widerspruch gar keiner ist.

  Naturphilosophie Lauth und Duvernoy, die beide Mitglieder der Société waren, gebotenen Möglichkeiten verwirklichten sich tatsächlich, so dass Büchner als korrespondierendes Mitglied aufgenommen und die Arbeit in der Reihe der Société gedruckt wurde.428 Welches Ansehen mit dieser Aufnahme verbunden war, zeigen die Gratulationen des Freundes Boeckel: Was Du von Deiner These mir schreibst freuet mich, ich hoffe Du läßt mir ein Exemplar davon in Strasburg. Zu Deinem Beitritt zur société d’hist. nat. gratuliere ich, Du hast also die Ehre der Collega d. prof. Duvernoy zu sein.429

Zuvor hatte Büchner jedoch in drei Vorträgen die empirischen Ergebnisse seiner anatomischen Forschungen und deren partielle Deutung den Mitgliedern der Gesellschaft vorzustellen. Überliefert ist ein Ergebnis-Protokoll des Sekretärs der Société,430 aus dem zu ersehen ist, dass Büchner vor allem in Bezug auf die naturphilosophische Interpretation seiner anatomischen Beobachtungen noch nachzuarbeiten hatte oder diese aus Rücksicht auf die wissenschaftstheoretisch heterogene Besetzung der Société aussparte – Lauth und Duvernoy saßen im Publikum. Immerhin trug er gegen Ende seiner Präsentation die von der Cuvier-Schule abgelehnte Wirbeltheorie vor und positionierte sich damit deutlich. Dennoch hat Büchner offensichtlich im letzten Monat vor allem an den interpretierenden Passagen aus der Partie philosophique noch gearbeitet. Erst recht gegenüber der Probevorlesung, die noch weitergehende und differenziertere Erklärungsmodelle naturphilosophischer Provenienz ausführt, verbleiben die Vorträge vor der Société in Straßburg weitgehend auf der Ebene anatomischer Morphologie. Da die anatomischen Einzelanalysen der von Büchner bei der Barbe nachgewiesenen Gehirnnerven von der Forschung mehrfach hinreichend paraphrasiert wurden,431 kann sich die folgende Darstellung auf die Rekonstruktion der systematischen Momente des Textgehaltes beschränken: Büchner bemüht sich am Beispiel der Barbe, die er mit Carus als besonders einfachen Typus der Vertebraten interpretiert,432 Anzahl, Anordnung und Verlaufsform jener Hirnnerven, die »dans l’intérieur de la cavité« entspringen,433 zu bestimmen. Wenn der Protokollant vermerkt, Büchner sei es dabei vor allem um den Nachweis der »origine« jener »10 paires cérébrales« zu tun gewesen,434 dann bezieht sich dieser Begriff des ›Ursprungs‹ in diesem  428 Vgl. Roth 2002, S. 63f. 429 Brief von Boeckel, 18. Juni 1836, P II, S. 44221–23. 430 Vgl. Hauschild 1985, S. 366–368; Roth 2004, S. 391–410 u. S. 450–462. Der gegenüber der MBA differenzierteren und präziseren Präsentation wegen werden in der Folge diese Texte nach Roth zitiert. 431 Vgl. Roth 2004, S. 86–91 sowie MBA VIII, S. 202–208. 432 Vgl. hierzu Carus 1828, S. 115. 433 Roth 2004, S. 3918. 434 Ebd., S. 39221f..

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

Falle nicht auf deren evolutionäre Herkunft, sondern auf den räumlichen Anfang der Nerven.435 Gleichwohl zielt Büchners Analyse nicht nur auf eine reine Deskription der zehn wichtigsten Hirnnerven ab, sondern auf eine interne Qualifizierung nach entwicklungsgeschichtlichen Kriterien. Denn »[s]i l’on compare les nerfs cérébraux des poissons aux nerfs des autres vertébrés«,436 entwickelt man mithin eine vergleichende Interpretation aus der anatomischen Analyse, so folgt nach Büchner zwingend, dass man die Gruppe jener zehn Gehirnnerven in eine Klasse der »nerfs primitifs« und eine der »nerfs derivés« unterteilen kann.437 Die Primitivnerven können auf dieser Grundlage als »l’expression la plus pure de la vie animale«,438 mithin als entwicklungsgeschichtlich ältere und so ursprünglichere gelten, während die abgeleiteten Nerven erst auf höheren Entwicklungsstufen des animalischen Lebens entstehen. Es ist von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass dieser entwicklungsgeschichtlichen Deutung neuroanatomischer Befunde jenes Modell evolutionärer Realgenese präformationistischer Provenienz zugrunde liegt, das Büchner bei Wilbrand und Hillebrand hören, aber ebenso bei Johann Christian Reil,439 Carl Gustav Carus440 oder Lorenz Oken441 nachlesen konnte und das er in der Probevorlesung konkreter ausführen wird.442 Es gibt keinen zureichenden Grund zwischen ursprünglich primitiven und abgeleiteten Nerven zu unterscheiden, wenn man nicht in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht die späteren Formen als »Modificationen in einer höheren Potenz«443 einer substanziellen Ursprungsform begreifen will.444 So lässt sich diese Distinktion auch in Johann Friedrich Meckels System der vergleichenden Anatomie finden, dem das gleiche Evolutionsmodell zugrunde liegt.445 Doch Büchner geht in seinem Deutungsanspruch noch einen Schritt weiter, wenn er im ›Protokoll‹ gegen Ende festhalten lässt:

 435 Vgl. hierzu ebenso Gottsche 1835, S. 475ff. 436 Roth 2004, S. 394116f.. 437 Ebd., S. 394124; zu Büchners Konzept eines ›nerf primitif‹ vgl. auch Gaede 1979, der erstmals präzise den diesem Modell zugrundeliegenden Typus-Begriff von demjenigen Goethes unterschied. 438 Roth 2004, S. 394138. 439 Reil 1794, S. 9ff. 440 Carus 1831, S. 111: »[…], daß alles, was wir b e s o n d e r e S i n n e zu nennen pflegen, nichts anderes sein könne, als M o d i f i c a t i o n e n d i e s e s G e m e i n g e f ü h l s .« 441 Oken 2007, II, S. 302: »Der Gefühlsinn ist der allgemeinste im Thier […]. Aus dem Gefühlsinn müssen sich alle anderen Sinne entwickeln, wie sich alle anderen Systeme aus der Hautformation entwickelten.« 442 Zu dieser kontextuellen Einbindung Büchners in den neuro- und psychoevolutionären Diskurs der Zeit vgl. auch die Darstellung bei Roth 2004, S. 355–365. 443 So die entwicklungstheoretisch entscheidende Formel in der Probevorlesung (MBA VIII, S. 15922). 444 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f. 445 Vgl. Roth 2004, S. 401f.

  Naturphilosophie Les nerfs primitifs se divisent aussi en deux groupes; l’un qui comprend l’optique et l’acoustique, nerfs de la lumière et du son, est l’expression la plus pure de la vie animale; l’autre groupe, qui comprend les nerfs olfactif, trijumeau, vague et hypoglosse, forme le passage de la vie de nutrition à la vie animale, et se comporte à l’égard des organes de la vie de nutrition: le poumon, le canal digestif, le nez, la cavité buccale et la langue, comme les nerfs lombaires à l’égard des organes de la reproduction.446

Nicht nur werden noch die ursprünglichen Nerven einer weiteren Distinktion unterzogen, um den Seh- und Hörnerv der Barbe als Ausdruck der Naturstufe des animalisches Leben in reinster Form zu isolieren, womit eindeutig Oken aufgerufen wird, der schon 1807 behauptet hatte: Nun möget ihr die Höhe der Sinne und ihre Stellung zu einander leicht erwägen. Aug und Ohr sind Ursinne, ohne Vororgan entstanden, […].447

Darüber hinaus beendet Büchner diese Interpretation seiner anatomischen Analyseergebnisse mit einer naturphilosophischen Analogiebildung, d. h. mit Hilfe eines der wichtigsten Analyseinstrumentarien der zeitgenössischen Naturphilosophie.448 Analogiebildungen gehörten einerseits zu den konstitutiven Interpretationsinstrumenten der Naturphilosophie bei der Konstruktion von Zusammenhängen in der Natur, sie galten jedoch andererseits, weil nur schwer an objektive Kriterien zu binden, als eine der im wissenschaftlichen Status umstrittensten Erscheinungen der Forschung nach 1800. Dennoch fand die Analogie bei den unterschiedlichsten Fraktionen der Naturwissenschaft umfassende Anwendung. Selbst für den gegen Schellings spekulative Begründungstheorie eine ›anschauende Naturphilosophie‹ propagierenden Karl Friedrich Burdach »blieb auch nach 1830 die Analogie die zentrale Methode der physiologischen Analyse«.449 Indem Büchner nun die zweite Gruppe der Primitivnerven als Phänomen des Übergangs von der Stufe des vegetativen zu der des animalischen Lebens deutet, kann er sie als Analogie zur Relation von Ernährung und Fortpflanzung und deren Organen interpretieren. Meckel, der ausdrücklich von einer »Aehnlichkeit zwischen Genitalien und dem Darmkanal« spricht,450 oder auch Oken dürften für diese Argumentation, die auf eine Ordnung durch Ähnlichkeitsbeziehungen abzielt, als Vorlage gedient haben.451 Büchner beschließt seinen Vortrag darüber hinaus mit Andeutungen zur Einbettung seiner Analyse- und Interpretationsergebnisse in jene allgemeine Wirbeltheo 446 Ebd., S. 405f. 447 Oken 2007, I, S. 378. 448 Zu einer begrifflichen Bestimmung der Analogie als analytischer Kategorie der Naturphilosophie vgl. Hegel 1986, VIII, S. 343; zu wissenschaftshistorischen Rekonstruktionen siehe Bäumer 1989, von Engelhardt 1997, S. 37f. und Bach 2001, S. 112f. 449 Breidbach 2005, S. 7. 450 Meckel 1812. 451 Vgl. Oken 2007, II, S. 312.

Stationen der Entwicklung Büchners zum Naturwissenschaftler  

rie des Schädels,452 die er schon bei Lauth und Wernekinck kennengelernt hatte und deren empirische und hermeneutische Verifikation eines der wesentlichen Nachweisziele des Mémoire ausmachen werden.453 Am 4. Mai 1836 hält Büchner den dritten und letzten seiner Vorträge vor der Straßburger Wissenschaftsgesellschaft und wird auf Antrag der Professoren Lauth und Duvernoy zum korrespondieren Mitglied ernannt.454 Bis zum 31. des Monates, dem Tag der endgültigen Abgabe des Textes, hatte er noch eine Fülle hermeneutischer und methodischer Arbeit zu leisten. Büchner hat sich in der letzten Phase seines Aufenthaltes in Straßburg, in den Monaten nach der Fertigstellung der Dissertation und vor der Abreise nach Zürich, zwischen Mai und Oktober also, nicht nur mit Leonce und Lena und den Vorbereitungen auf seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, sondern offenbar auch mit ersten Plänen zum Woyzeck befasst. Die durch die MBA ermöglichte Tintenanalyse ergab zweifelsfrei, dass die ersten beiden Entwurfstufen des Dramenfragments noch in Straßburg entstanden sind,455 so dass im Zusammenhang der Fragen nach Büchners naturwissenschaftlichem Wissen nicht nur das Spektrum des von der Figur des Doktors präsentierten Wissens zu berücksichtigen ist, sondern auch die strukturelle Reflexionsarbeit des Autors auf ethische und soziopolitische Konsequenzen einer rechtlich und moralisch uneingeschränkten Forschungstätigkeit. Darüber hinaus zeigt das Dramenfragment, dass Büchner auf den Feldern der Kriminalpsychologie und der Forensik Kenntnisse besaß. Lässt sich letzteres nur im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Arbeit klären, so zeigt sich bei ersterem, dass Büchner seinen Doktor mit Kenntnissen ausstattete,456 die weit über den Tellerrand der vor allem zoologisch-komparatistischen Kompetenzen seiner Qualifikationstexte hinausgehen und sich bei näherer Betrachtung als aktuelle Kenntnisse erweisen. Hatte sich schon in Rahmen der philosophischen Skripte gezeigt, dass Büchner auch wichtige Ergebnisse der neurophysiologischen Forschungen der 1820er und 1830er Jahre gut kannte,457 so dringt Woyzeck in disziplinäre Felder vor, die einerseits der biochemischen Pathologie und Ernährungswissenschaft, andererseits Bereichen allgemeiner Naturtheorie und ihrer einfachsten Elemente, der »Infusorien« angehören. Doch wird er die Arbeit an diesem Drama, das erstmals soziokulturelle Überlegungen zur modernen Naturforschung gestaltet, ohne diese grundsätzlich zu verwerfen, erst in Zürich fortsetzen können.

 452 Vgl. Mann 1992 und Junker 42004, S. 371f. 453 Vgl. Roth 2004, S. 333ff. 454 Vgl. P II, S. 4374–6. 455 Vgl. MBA VII.2, S. 86. 456 Vgl. hierzu schon Roth 1990–94. 457 Vgl. Büchners Bezug auf die Versuche von Prévost und Dumas von 1822 in P II, S. 2362.

  Naturphilosophie .. Zürich 1836/37: Die Probevorlesung und eine glänzende Zukunft als Naturforscher Um den 20. Oktober 1836 erreicht Büchner Zürich. Sofort steht er wieder unter Zeitdruck, denn er soll in wenigen Tagen die zur Erlangung des Status eines Privatdozenten erforderliche Probevorlesung halten. Am 5. November gelingt vor der versammelten philosophischen Fakultät dieser Prüfungsteil und Büchner wird im unmittelbaren Anschluss in den Lehrkörper der Universität Zürich aufgenommen. Büchner nutzt die Darstellung seiner wissenschaftlichen Position zu einer grundlegenden und in sich differenzierten Entfaltung seiner Wissenschaftstheorie und -methodologie sowie deren Fundierung in einer systematischen Naturtheorie. Entgegen der lange Zeit in der Forschung geltenden Ansicht, Büchner habe die gegenüber dem Mémoire deutlich feststellbare naturphilosophische Forcierung seiner Argumentation aus opportunistischen Gründen gegenüber dem anwesenden Oken vorgenommen,458 wurde vor einiger Zeit erkennbar, dass Büchner keineswegs den anwesenden Granden der Naturphilosophie das Wort redete, sondern – gerade indem er ihnen in spezifischen Momenten widersprach – seine eigene methodologische und systematische Begründungtheorie vorstellte.459 Im unmittelbaren Anschluss muss Büchner seine Vorbereitung auf die Lehrtätigkeit beginnen, denn nach Absprache mit dem Dekan soll er eine Vorlesung zur vergleichenden Anatomie halten. Die langwierigen Vorbereitungen auf die Geschichte der Philosophie seit Descartes sind damit Makulatur. Dagegen scheint sich Büchner gewehrt zu haben; nur so ist die Ermahnung des Vaters, die in einem Brief der Mutter übermittelt wurde, zu verstehen: Er [Ernst Büchner] stimmt ganz mit Beiter [d. i. Johann Georg Baiter, Dekan der philosophischen Fakultät] überein und ermahnt Dich dringend ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten, er glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen festen Fuß fassen und Dich am ehrenvollsten emporhelfen könntest.460

Dass die Historiographie der Philosophie eines der akademischen Fächer mit großer Zukunft war, hatte sich bis in die bildungsbürgerlichen Kreise der Darmstädter Provinz offenbar noch nicht herumgesprochen. Dabei scheinen Baiters Argumente für eine Vorlesung in vergleichender Anatomie zum einen darin bestanden zu haben, dass Büchner mit dem in Zürich lehrenden Herbartianer Eduard Brobik in Konkurrenz geraten wäre,461 weil dieser für das Wintersemester 1836/37 den zweiten Teil

 458 Vgl. hierzu u. a. Döhner 1967, S. 87 u.ö.; Hauschild 1993, S. 523. 459 Vgl. Stiening 1999, S. 99 sowie Roth 2002, S. 81. 460 Brief der Mutter an Georg vom 30. Oktober 1936, P II, S. 4555–9. 461 Vgl. hierzu schon Ludwig Büchners Biographie, in: Dedner (Hg.) 1990, S. 127 sowie u. a. Mayer 1979b, S. 420; Hauschild 1993, S. 576; Roth 2004, S. 204 und MBA VIII, S. 214.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

einer »Vorlesung über Geschichte der Philosophie vom Mittelalter bis auf die neueste Zeit« angekündigt hatte.462 Zwar war Bobrik wissenschaftlich auf dem Felde der Philosophiegeschichte nicht ausgewiesen, doch lehrte er diese Disziplin schon seit 1834.463 Publizierend trat Bobrik als Logiker und Ästhetiker, mithin als Systematiker, nicht aber als Historiker hervor, wobei er – insbesondere hinsichtlich der Logik – um deren Vermittlung zu einer Ethik bemüht war.464 Ein weiteres wichtiges Argument des Dekans Baiter dürfte zum anderen gewesen sein, Büchner eine außerordentliche Professur für das Fach der vergleichenden Anatomie in Aussicht zu stellen, für die er in den Züricher Universitätsgremien offenbar im Gespräch war.465 Tatsächlich hielt Büchner dann vor drei Hörern seine erste Vorlesung zum Thema »Zootomische Demonstrationen«, an deren Dokumentation durch August Lüning weiter oben schon erinnert wurde. Er plante zudem für das kommende Sommersemester eine Vorlesung über vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, so dass sich die Ausweitung seiner in Dissertation und Probevorlesung erworbenen Kompetenzen in der vergleichenden Anatomie ankündigte.466 Oken scheint dieses Ansinnen nachdrücklich unterstützt zu haben. Trotz einiger methodischer und systematischer Kritik an dessen Forschungsergebnissen in der Probevorlesung467 hat der Naturphilosoph auch Dritten gegenüber geäußert, »er sei überzeugt, Büchner werde mit der Zeit auch als Naturforscher Bedeutendes leisten«.468

. Büchners naturwissenschaftliche Schriften Büchner hat die Ergebnisse seiner empirischen und begrifflichen Naturwissenschaft und -philosophie in nur zwei Texte gießen können. Bevor nach der Darstellung der entwicklungsgeschichtlichen Kontextfaktoren zu einer systematischen Rekonstruktion der büchnerschen Naturforschung überzugehen ist, muss aufgrund der erheblichen Spezialisierung ihrer Themen in einem historisch weit abgesunkenen Wissensbestand ein weiterer Kontext skizziert werden, in den die Wissensgehalte dieser Texte Büchners zu lozieren sind. In zwei Schritten muss die Kontur der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften zwischen 1800 und 1840 entwickelt wer-

 462 Vgl. Roth 2004, S. 161f. 463 Ebd. 464 Vgl. Bobrik 1838 sowie Poggi 2001, S. 136–140. 465 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 575ff.; Knapp 2000, S. 35 und Roth 2004, S. 171f. 466 Vgl. MBA VIII, S. 219–223; ob sich damit gleich »eine größere Publikation über die vergleichende Anatomie der Wirbeltiere« (ebd., S. 219) ankündigte, mag dahin gestellt sein; in seinen naturphilosophischen Schwerpunkten blieb Büchner jedoch unbeirrt. 467 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 100; Roth 2002, S. 66ff. sowie Roth 2004, S. 166; die MBA (VIII, S. 217ff.) hat diese Hinweise ignoriert. 468 Johann Jakob Tschudi, zitiert nach Hauschild 1985, S. 392.

  Naturphilosophie den, nämlich im Hinblick auf die allgemeinen Begründungstheorien für eine wissenschaftliche Naturforschung (1) sowie in Bezug auf die Ausprägung und Fortentwicklung jener Disziplinen, wie Zoologie und vergleichende Anatomie, in denen Büchner wirkte (2). Diese Kontextskizze ist umso erforderlicher, als sie wissenschaftliche Gehalte darzustellen hat, die sowohl in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte als auch in der besonderen Büchner-Forschung lange Zeit ein Schattendasein führten. So nachhaltig wirkten die Verurteilungen der Naturphilosophie durch die ersten berühmten Vertreter der analytischen Naturwissenschaft,469 dass eine historiographisch angemessene Bearbeitung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Epoche lange Zeit unterblieb. Erst in den letzten Jahrzehnten konnten die Naturwissenschaften des »romantischen Zeitalters« in einer von normativen Überlagerungen befreiten und so methodisch und systematisch angemessenen Form bearbeitet werden.470 Trotz erheblicher Erfolge ist die Forschung allerdings noch weit davon entfernt, eine den quantitativen Zuwächsen und qualitativen Ausdifferenzierungen der Naturforschung jenes Zeitraums angemessene historische Systematik der Forschungsentwicklung und deren Durchführung zu liefern.471 Nach wie vor beherrschen themen- bzw. disziplinspezifische oder biographisch orientierte Studien das Feld.472 Dennoch bleibt eine solche Kontextskizze unerlässlich, weil die BüchnerForschung sich lange Zeit473 dagegen sperrte, Büchner in dieser Landschaft empirischer und rationaler Naturphilosophie zwischen 1800 und 1840 zu verorten.474 Büchners ›Materialismus‹ galt selbst im Zusammenhang seiner Naturforschung als unerschütterliches Dogma und daher blieb die These von einem »primär k r i t i -

 469 Vgl. u. a. Breidbach 1988 und von Engelhardt 1997, S. 46f. 470 Vgl. hierzu u. a. von Engelhardt 1979; Röd u. Poggi 1989; Hagner u. Wahrig-Schmidt (Hg.) 1992; Cunnigham u. Jardin (Hg.) 1990; Poggi u. Bossi (Hg.) 1994; Richards 2002; Höppner 2017. 471 Vgl. hierzu u. a. die Entwürfe bei Breibach 1988; Stein 2004; von Engelhard 2004 sowie Breidbach 2006. 472 Vgl. hierzu beispielhaft Bach u. Breidbach (Hg.) 2005. 473 Vgl. dazu die nahezu 40 Jahre als Standard firmierende Studie von Döhner 1967, die – wie der common sense – die Naturphilosophie des Zeitraums für eine Verirrung des Geistes hielt und daher darum bemüht war, Büchner von dieser zu distanzieren. Vgl. auch MBA VIII, die zwar nicht mehr von einem Materialismus Büchners ausgeht, wohl aber versucht, Büchners naturphilosophische Erklärungsansprüche in die Grenzen eines angeblichen Empirismus Cuviers einzuschließen. Ob Cuvier Empirist war, und warum eigentlich der Empirismus anderen Wissenschaftsformen überlegen sei, wird nicht begründet. Eine tatsächlich wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf Büchner wird so aber verstellt. 474 Durchgedrungen sind die Thesen Roths bei Hauschild 2013, S. 209ff.; Kurzke 2013, S. 350ff.; Fortmann 2013, S. 39; Elms 2015 sowie Burks 2017.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

s c h e [n ] Verhältnis zur Naturphilosophie« unwidersprochen;475 selbst als Naturforscher sollte ihm das Prädikat »Kommunist« zugeschrieben werden.476 Erst neuere Forschungen vermochten an diesem desolaten Forschungsstand grundlegende Änderungen vorzunehmen.477 Im Furor einer wuchernden Quellensuche und Kontextualisierung verlor sich die spezifische Kontur der büchnerschen Position. An diesem Defizit ansetzend soll die folgende Skizze eine Weiterführung und Präzisierung liefern.

.. Zur Wissenschaftslandschaft zwischen 1800 und 1840 ... Konturen einer Karriere: Naturphilosophie zwischen Wissenschaften, Philosophie, Politik und Kultur Wenn Büchner in seiner Probevorlesung vom Streben der Forschung »nach einer gewissen Einheit« in der Natur spricht478 und seine Forschung an der materialen Ausgestaltung eines zunächst formal bestimmten allgemeinen »Grundgesetz[es]« für die »gesammte Organisation« der Natur ausrichtet,479 dann partizipiert er an einem wissenschaftstheoretischen Paradigma, das von den späten 90er Jahren des 18. Jahrhunderts bis in die 1840er Jahre weite Teile der Naturforschung – und zwar europaweit480 – prägte. Gegen den im späten 18. Jahrhundert sich verstärkenden Trend empiristisch-phänomenologischer Beschränkung auf den Einzelfall suchte die Naturphilosophie des Zeitraums nach einer solchen Einheit der Natur,481 die die beobachtend und experimentell zu ermittelnde Vielheit nicht nur nicht ausschloss, sondern – dem Anspruch nach – erst angemessen bestimmen können sollte;482 Ale-

 475 Döhner 1967, S. 20, Hvhb. im Text; vgl. selbst Roth 1990–94, S. 277, der seine Position aber in Roth 2004 und Roth 2016 änderte. 476 Vgl. hierzu die zu den aussagekräftigsten Blüten des polithistorischen Paradigmas der Forschung zählenden Ausführungen bei Holmes 1990, S. 62: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser ›Politisierung‹ noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016. 477 Zu dieser Kritik an Roth 2004 vgl. Stiening 2006a. 478 MBA VIII, S. 15546. 479 Ebd., S. 1552f.. 480 Die lange Zeit wirksame These von der Naturphilosophie als einer deutschen Sonder- bzw. »Fehlentwicklung« (vgl. paradigmatisch Gerlach 1986, S. 238ff.; Nipperdey 1994, S. 484–498, spez. S. 485f.; Kraus 2007, S. 19–21) wurde mit überzeugenden Befunden widerlegt; vgl. u. a. Breidbach 1998, S. 12; Breidbach u. Ghiselin 2002 sowie Breidbach 2004, S. 153f. und die dort (Anm. 5) angegebene Literatur. 481 Zu dieser Suche nach einer Einheit der Natur als spezifischem Moment der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts vgl. von Engelhardt 1997, S. 36 sowie von Engelhardt 2008, S. 503f. 482 Vgl. Breidbach 1988, S. 14.

  Naturphilosophie xander von Humboldt fasst diese Konzeption von Naturforschung 1827 wie folgt zusammen: Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes.483

Dabei lag der Ausgangspunkt, d. h. das Bedingungsgefüge für die außergewöhnliche ›Karriere‹ dieser philosophischen Naturwissenschaft nicht in den Idiosynkrasien eines philosophischen oder poetischen, immerhin romantischen Konservativismus, dessen wissenschaftstheoretische Retardationen mit Kant einsetzten und mit Hegels Tod ihren gespenstischen Abschluss fanden.484 Vielmehr – und darauf hat die neuere Wissenschaftsgeschichtsschreibung hingewiesen485 – entwickeln sich die unterschiedlichen Formen einer philosophisch fundierten Methodologie und Systematik von Naturforschung, um der exponential anwachsenden Menge empirischer Informationen der Naturwissenschaft Herr zu werden,486 d. h. neue Ordnungsmöglichkeiten für jene wachsenden Datenmengen zu offerieren: »Die spekulative Naturphilosophie setzt in der Phase einer Desorientierung der deskriptiven Wissenschaften an. Schon in der Systematisierung des Wissens war die seinerzeitige Naturforschung an ihre Grenzen geführt. D. h. im Letzten wußte die ihre Kenntnisse bloß aufreihende Wissenschaft noch nicht einmal um ihr Wissen, das sie zwar kannte, das ihr aber eben nicht geordnet war.«487 Goethe beklagt diesen Zustand und sein Interesse an einer Lösung ausdrücklich schon in den 1790er Jahren für die Anatomie: Wir befinden uns [in der Anatomie] in einem Chaos von Kenntnissen, und keiner ordnet es; die Masse liegt da, und man schüttet zu, […].488

Dabei wirkt nicht nur die quantitative Zunahme an Informationen beschleunigend auf die schnelle und begierige Aufnahme naturphilosophischer Erklärungsmodelle, auch die zunehmende Differenzierung der Daten, die durch die Taxonomien des 18.  483 Humboldt 2008, VII.1, S. 14. 484 So aber die Wissenschaftsgeschichte bei Riedel 2004, S. 17. 485 Vgl. u. a. Mischer 1997, S. 34ff.; Neuser 1998; Bach 2001, S. 2ff.; Bach u. Breidbach 2005, S. IX; Breidbach 2006, S. 215: »Ein Entwicklungsmodell, das die spekulativ getragene Wissenschaft nur als eine temporäre Übergangphase von einer eben nicht analytischen Naturgeschichte zu einer Naturwissenschaft betrachtet und dabei die spekulative Naturphilosophie als eine nur vorübergehende Erscheinung begreift, trägt der Situation dieser Philosophie, aber auch der seinerzeitigen Wissenschaften bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nur unzureichend Rechnung.« Siehe auch Höppner 2017, S. 57ff. 486 Vgl. auch Breidbach 1988, S. 25f. 487 Breidbach 2004, S. 154; vgl. auch Breidbach 2012. 488 Zitiert nach Mann 1992, S. 53.

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Jahrhunderts – seien sie von linnéscher Statik oder buffonscher Dynamik489 – nicht mehr angemessen erfasst werden konnten, erhöhte den spekulativen Druck.490 Zudem – und das ist für das Erodieren der künstlichen Klassifikationssysteme um 1800 von erheblicher Bedeutung491 – basierten diese auf der Prämisse von der Natur als Schöpfung Gottes, der als Ordnungsgarant fungierte.492 »In den von Linné erschlossenen Ordnungssystemen eröffnete sich für die Zeitgenossen die von Gott vorgegebene Naturordnung.«493 Cuviers Fähigkeiten, diese Prämissen – unabgeleitete, d. h. gleichursprüngliche Klassifikationsgruppen und der diese generierende Schöpfungsgedanke – in die kontroverse Wissenschaftslandschaft des frühen 19. Jahrhunderts hinüberzuretten, gehört zu den Geheimnissen seines Erfolges.494 Schon Balzac weist auf diesen Umstand einer theologischen Fundierung der cuvierschen Naturforschung, die sich im Schöpfungsgedanken der Gottesinstanz, aber auch in der Vorstellung vom Dichter als eines alter deus manifestierte, hin: Vous êtes-vous jamais lancé dans l’immensité de l’espace et du temps, en lisant les œuvres géologiques de Cuvier? […] Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? […] Il réveille le néant sans prononcer des paroles artificiellement magiques, il fouille une parcelle de gypse, y aperçoit une empreinte et vous crie: Voyez! Soudain les marbres s’animalisent, la mort se vivifie, le monde se déroule! Après d’innombrables dynasties de créatures gigantesques, après des races de poisons et des clans de mollusques, arrive enfin le genre humain, produit dégénéré d’un type grandiose, brisé peut-être par le Créateur.495

Auch dem zutiefst gläubigen Melville waren – trotz Konkurrenz gegen den Erklärungsanspruch von Naturwissenschaft überhaupt, die er in Cuvier personifiziert sah496 – dessen theonome Naturvorstellungen weniger suspekt als die Modelle Kants oder Schellings.497 Büchners genuin ›gottlose‹ Natur- und Naturwissenschaftskonzeption löst sich gerade in ihrer Anbindung an die Naturphilosophie Schellings, Wilbrands oder Meckels von den Grundlegungen der Ordnungsgarantien in trans-

 489 Vgl. Lepenies 1978, S. 41–77; Mann 1992, S. 55; Bach 2001, S. 227ff. sowie Geus 32004, S. 325; Breidbach 2006, S. 80–83 und Müller-Wille u. Charmantier 2012, S. 4–15. 490 Zu diesem Prozess der Ablösung der Naturgeschichte durch Modelle einer Geschichte der Natur vgl. Lepenies 1978, S. 52–77 sowie Diekmann 1992, S. 103ff. 491 Siehe hierzu Lepenies 1978, S. 9ff. 492 So zu Recht Breidbach 2004, S. 155f. 493 Breidbach 2006, S. 82. 494 In eine verwandte Richtung interpretiert Breidbach ebd., S. 175–178. 495 Balzac 1974, S. 47f. 496 Vgl. die von Hohn und Spott ebenso wie von großem Respekt gegenüber Cuvier zeugenden Passagen in Melville 1994, S. 137, S. 182, S. 261, u. ö.; vgl. auch Otter 1999, S. 101–171. 497 Vgl. Pechmann 2003, S. 84f.

  Naturphilosophie zendenten Instanzen und damit auch von den Klassifikationssystemen Cuviers.498 Weil Büchner Atheist ist, wird er kritischer Naturphilosoph. Dass die zeitgenössische Quantitätszunahme, die qualitative Ausdifferenzierung und der Wegfall einer ordnungsgarantierenden transzendenten Instanz nicht nur durch Stärkung und Ausbau der durchaus schon vorhandenen,499 analytischdeskriptiven, mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft beantwortet wurde,500 sondern während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch philosophische Konzeptionen, die das Ganze der Natur als Struktur und Prozess erklärten sowie deren Gründe und Ursachen zu bestimmen suchten, ist nicht ausschließlich durch Rekonstruktion wissenschaftsinterner Prozesse der Naturforschung zu erläutern.501 Denn ab den späten 1790er Jahren entwickelten Schelling und seine Nachfolger eine Naturphilosophie, die nur zum Teil als konkurrierende Fundierungstheorie für eine systematisch und methodisch geregelte Naturwissenschaft konzipiert wurde. Inauguiert wurde der naturphilosophische Ansatz durch Schelling vielmehr als Moment einer spezifischen Kant-Interpretation und -Kritik, die den als unbegründet beklagten Dualismen der Transzendentalphilosophie ein monistisches Fundament zu verschaffen suchte502 – nicht etwa, um sie aufzuheben, sondern um sie in der von Kant entworfenen Form allererst zu ermöglichen. Schellings frühe Naturphilosophie will keineswegs zunächst und zumeist der zeitgenössischen Naturwissenschaft ein haltbares Fundament für deren neue, Prozessualität erkennen und bestimmen wollende Ordnungsmodelle verschaffen, mithin eine Wissenschaftstheorie entwerfen.503 Er beabsichtigte mit dieser neuen Grundlagentheorie vielmehr, die in den 1790er Jahren als bedrängend wahrgenommene Frage nach der Begründung und damit Ermöglichung der kantischen Distinktionen in analytisches und synthetisches Urteil, Geist bzw. Kultur und Natur, theoretische und praktische Philosophie oder Attraktion und Repulsion als Grundkräfte einer dynamischen Materietheorie der Metaphysischen Anfangsgründe zu beantworten.504

 498 Deshalb sind alle Versuche, in Büchners Natur- und Naturwissenschaftskonzeption transzendente Instanzen zu suchen (vgl. u. a. Döhner 1982, S. 126–132) verfehlt, Büchners Metaphysik bleibt strikt immanent. Vgl. schon Stiening 1999, S. 107. 499 Vgl. Breidbach 2004, S. 157: »Analytik ist nicht erst ein Programm der Moderne.« 500 Vgl. auch Poggi 1989, S. 13ff. 501 So zu Recht schon von Engelhardt 1997, S. 31ff.; Breidbach 2004, S. 155ff. 502 Vgl. hierzu Baum 2000. 503 So zu Recht auch Breidbach 1988, S. 1f.; siehe auch Breidbach 2012, S. 230ff. 504 Kant 1983, V, S. 49ff. Zum Einsatz Armins, Ritters und Baaders bei dieser dynamischen Materietheorie Kants vgl. Stein 2004, S. 17–26; allgemein zur Bedeutung der kantischen Naturwissenschaftsphilosophie für die Entwicklungen um 1800: Lohff 1990, S. 42ff.; Wahrig-Schmidt 1992, passim; Wiesing 1995, S. 51ff.; Bach 2001, S. 125–135 u. S. 208–226; Richards 2002, S. 229ff. sowie Höppner 2017, S. 61ff.

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Schellings umfassende Antwort,505 nach der Geist und Natur an sich identisch seien und nur für uns getrennt erscheinen, wobei im Prozess der Erkenntnis der Natur diese Trennung vermittelbar sei, führt funktional zu den Formen der diesen Erkenntnisprozess realisierenden Naturforschung. Naturwissenschaft ist vor diesem Hintergrund für Schelling eingebunden in ein Programm zum empirischen Nachweis eines transzendentalen Monismus. Bei diesem Programm und der Stellung der empirischen Naturwissenschaften in ihm ist zu berücksichtigen, dass Schelling Beobachtung und Erfahrung – auch durch das Experiment506 – einen eigenständigen, begrifflich nicht einholbaren Status zuerkannte. Es befand sich hiermit in einem Gegensatz zu vielen seiner Schüler, für die jedes natürliche Einzelne Gegenstand einer Deduktion werden konnte.507 Ebenso wird erkennbar, dass allererst Schellings naturphilosophisches Programm und die durch dieses deduzierte selbsteigene Natur als Darstellung des Absoluten die Stellung einer systematisch anspruchsvollen Alternative zu der im 18. Jahrhundert der Naturforschung abhanden gekommenen Schöpfungskonzeption beanspruchen konnte. Dass für die Ausrichtung an diesem übergreifenden Programm die methodische und systematische Kontur der Naturwissenschaft gegenüber den empiristisch-deskriptiven bzw. -klassifikatorischen Modellen des späten 18. Jahrhunderts erheblich zu modifizieren war, die Naturwissenschaftler mithin in ihrer Methodik und Systematik nach naturphilosophischen Kriterien angeleitet werden sollten, liegt auf der Hand. Und so korrespondierte die »Desorientierung der deskriptiven Wissenschaften« um 1800508 mit Schellings philosophischer Interessenlage.509 Noch ein weiteres bedingendes Moment ist für ein Verständnis der außergewöhnlichen wissenschaftsinternen und kulturellen Karriere der Naturphilosophie zwischen 1800 und 1840 zu berücksichtigen. Anschaulich begegnet diese wissenschaftsexterne Bedingung in einem Brief Georg von Cottas an Alexander von Humboldt anlässlich der Auslieferung des zweiten Bandes von dessen Hauptwerk Kosmos im April 1847: Der Kommissionär der I. G. Cottaschen Buchhandlung kann nicht Worte finden, den Sturm zu schildern, den sein Haus zu bestehen hatte, als dieser zweite Band bei ihm ankam. Er mußte sich recht eigentlich gegen das Andrängen der Nachfragenden und Abholenden in Vertheidigungsstand setzen, um nicht beraubt zu werden und die Abgabe der Pakete in Ordnung zu vollbringen, und so geschah es, daß Pakete, die nach Petersburg bestimmt waren oder nach

 505 Vgl. zum Folgenden auch Bonsiepen 1997, S. 147–163 u. S. 186ff. 506 Schelling 1985, I, S. 345; vgl. hierzu Poser 1981, S. 129–138; Lohff 1990, S. 140–149; Gerabek 1995, S. 309ff.; Wiesing 1995, S. 193–199; Breidbach 2004, S. 157f. 507 Vgl. die ebenso anschauliche wie differenzierte Darstellung des Schellingianismus in Jena bei Breidbach 2000. 508 Breidbach 2004, S. 155 sowie Breidbach 2006, S. 214–221. 509 Vgl. hierzu auch Breidbach 1988, S. 27ff.; Bonsiepen 1997, S. 151ff. u. S. 186f.; Jaeschke u. Arndt 2012, S,. 162ff.; Höppner 2017, S. 150ff.

  Naturphilosophie London, geradezu geplündert wurden (ohne daß man es hindern konnte), um sie nach Wien oder nach Hamburg zu schicken oder umgekehrt. Es wurden wirkliche Schlachten geschlagen, um in den Besitz dieses Werkes zu kommen, sich denselben abzuringen, ja es hat selbst an Bestechungsversuchen nicht gefehlt, um zu bewirken, daß dieser oder jener die Priorität erziele.510

Tatsächlich erfreute sich ein Teil der naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Publikationen einer außerordentlichen Beliebtheit beim Publikum des 19. Jahrhunderts – so neben Humboldts Werken einige der Schriften zum Magnetismus511 oder auch Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft.512 Die von vielen Protagonisten dieser Naturforschung forcierte Verbindung zwischen Wissenschaft und Poesie erwirkte darüber hinaus das große Interesse an der poetischen Gestaltung naturwissenschaftlich bestimmter Gegenstände bzw. den Prozessen ihrer Gewinnung. Selbst der Jurist Immermann führte in seiner Bibliothek naturwissenschaftliche Texte und lässt einen der Protagonisten seiner Epigonen von natürlichen »Potenzen« sprechen,513 und wenn schon Heinrich Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland feststellt: Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorbrachte, hat in anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt. Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte, und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit begeisterte: ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien […],514

dann zeigt sich, dass der Einfluss der Naturphilosophie die Hörsäle längst überschritten hatte. Tatsächlich versuchten u. a. Lorenz Oken oder auch Christian Nees von Esenbeck aus ihrer Naturphilosophie eine politische Theorie und Praxis abzuleiten und nahmen daher, wie auch Jakob Friedrich Fries, unter der politisierten Studentenschaft der 1830er Jahre die Stellung von Vorbildern ein.515 Es lässt sich mithin präzise aufzeigen, dass eine Reihe literarischer Autoren der Epoche, zu denen auch Karl Gutzkow, Joseph von Eichendorf und Annette von Droste-Hülshoff zu zählen sind,516 den allmählichen Aufstieg der Wissenschaften im 19. Jahrhundert auch an den Formen der Naturphilosophie wahrnahmen und in unter-

 510 Humboldt 22008, VII.2, S. 341. 511 Vgl. hierzu vor allem Kieser 1826 sowie Barkhoff 1995, S. 85–136. 512 Schubert 1808; zu dessen immensem Erfolg vgl. Dietzsch 2005, S. 685ff.; Schweizer 2008, S. 428ff. sowie Leipold 2009, S. 142ff. 513 Immermann 1971, II, 234. 514 Heine 1976, V, S. 636f. 515 Vgl. von Engelhardt 2004, S. 154–158; Ries 2004, S. 189f.; Bonsiepen 2005, S. 185f. und Ries 2007, S. 240–278. 516 Vgl. hierzu die Beiträge in von Engelhardt u. Wißkirchen (Hg.) 2006.

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schiedlicher Hinsicht kritisch oder affirmativ reflektierten. Über diesen Aufstieg wurde zu Recht festgehalten, dass er die Wissenschaften »von einer Geistesbeschäftigung am Rande der geschichtlichen Bewegung zu einem ihrer wichtigsten Antriebe«517 machte und das »Verhältnis von Wissenschaften und Gesellschaft damals Züge annahm, die – im Guten wie im Schlechten – für die moderne Welt typisch werden sollten«, weshalb dieser »Entwicklungsprozeß der Wissenschaften [...] nicht nur wissenschaftsintern betrachtet werden«518 darf. Das gilt erneut europaweit, denn in Frankreich wurde die Entwicklung der empirischen Naturwissenschaft keineswegs von derjenigen der rationalen Naturphilosophie abgetrennt;519 vielmehr sah sich u. a. Balzac – wie die deutsche literarische Romantik520 – zu beidem in Konkurrenz,521 und Madame de Staël informiert in De Allmagne die europäische Öffentlichkeit ausführlich über den Stand der naturphilosophischen Bewegung.522 Auch in Mary Shelleys Frankenstein wird die Auseinandersetzung zwischen naturphilosophischer und mathematisch-experimenteller Naturforschung geführt und für die Katastrophe gar verantwortlich gemacht, d. h. weil Frankenstein sich der analytischen Naturwissenschaft bedingungslos verschreibt, wird er zu einem Forscher, dessen ethische Monstrosität sich in den Produkten der Wissenschaft buchstäblich spiegelt.523 Die Naturphilosophie erwies sich gerade aufgrund ihres umfassenden Erklärungsanspruches, der eine Fundierung der empirischen Naturwissenschaften ebenso zu leisten versuchte wie er ihre Ergebnissee zu übersteigen annahm, als bedeutender Gegenstand und Konkurrent der europäischen Literatur, und dies bis zu Melville und Flaubert.524 ... Naturphilosophie in der Kritik Die soziokulturelle und wissenschaftspolitische Bedeutung der Naturphilosophie basierte allerdings keineswegs auf einem reibungslosen Triumphzug durch Forschungslabore, universitäre Hörsäle und private Lesekabinette. Im Gegenteil wurde diese Form philosophischer Naturforschung seit ihren ersten Anfängen von energischen Kritiken und heftigen Polemiken begleitet. Schon in den Jahren 1798 bis 1801 verfasste der Kant-Schüler Carl Christian Erhard Schmid eine Physiologie, die er  517 So in pointierter Formulierung Zwick 1997, S. 120. 518 Beide Zitate aus Poggi 1989, S. 13–151, hier S. 18 u. S. 15. 519 Vgl. hierzu u. a. Rehbock 1990, S. 144–160. 520 Vgl. insbesondere den sowohl begrifflich reflektierten als auch literarisch gestalteten Abschied Achim von Arnims von der naturphilosophisch begründeten Chemie zur Poesie in Verhältnis der chemischen Ausbildung zur poetischen (Zimmerli, Stein u. Gerten 1997, S. 485f.) sowie Hollins Liebeleben (von Arnim 2002, II, S. 7–81). 521 Vgl. Wanning 1999, S. 144–195; Lepenies 22006, S. 15–48 sowie Otis 2009. 522 Vgl. hierzu die detaillierte Arbeit von von Engelhardt 1998. 523 Vgl. insbesondere Shelley 2005, S. 55–64. 524 Vgl. u. a. Lepenies 1989, S. 61–79; Wanning 1999; Engel 2002, S. 65–91 und Scholler 2002.

  Naturphilosophie zwar als philosophisch betrachtet bezeichnete, von den Formen der schellingschen Naturphilosophie aber dringend abgrenzte, weil er die spekulative Vermittlung von Natur und Geist für einen Rückfall in vorkritische Metaphysik erachtete.525 Schmid hielt dem ein Aprioritätskonzept von Naturforschung als Lebenswissenschaft bzw. Physiologie entgegen, das der Erfahrung substanziellen Eigenwert auch im Hinblick auf die Grundlegungen eines allgemeinen Natur- und Lebensbegriffs zuschrieb. Doch gab es auch deutlichere Formen der Kritik, insbesondere aus den Reihen der empiristischen Naturforschung. So verfasste der irische Chemiker Richard Chevenix (1774–1830) im Jahre 1805 einen Bericht über seine Erfahrungen an deutschen und ungarischen Universitäten und platzierte ihn in den Annalen der Physik, einer schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts besonderes renommierten Fachzeitschrift. Chevenix nimmt bei seinen Urteilen über die von ihm so genannte »Secte von Transcendental- und Naturphilosophen, die sich seit einiger Zeit in Deutschland erhoben« habe, kein Blatt vor den Mund: Diese Philosophie, welche in England und in Frankreich noch keine Anhänger gefunden hat, und hoffentlich auch keine finden wird, ist auf mehr als Einer deutschen Universität öffentlich gelehrt worden. Nach Verschiedenheit der Meister, von denen sie getrieben worden, hat sie einige kleine Modificationen erhalten, und zeigt sich unter etwas abgeänderten Formen; doch vereinigen sich alle, sie mit den mächtigen Reizen zu schmücken, indem sie sich vor allen Dingen des Triebes zu bemächtigen suchen, welcher im menschlichen Herzen am Tiefsten Wurzel hat. Um die Eigenliebe dessen, den sie initiiren wollen, aufzuregen, enthüllen sie vor ihm die Geheimnisse, welche die Natur nur ihnen geoffenbart hat, und thun groß mit Genie, welches sie über die andern Menschen erhebe.526

Schon weit vor Liebig und Schleiden, die die Naturphilosophie ab den 1840er Jahren als »Syndrom«, als »Pestilenz des Jahrhunderts« kritisierten,527 gab es öffentlich harsche Kritik an der Wissenschaftstheorie der Naturphilosophen. Auch der Chemiker Friedrich Wöhler bezeichnete in einem Brief an Berzelius vom März 1825 Henrik Steffens als »Charlatan«.528 Der Vorwurf der Charlatanerie wurde jedoch nicht nur aus den Reihen der Empiristen, zu denen sich Chevenix explizit rechnete,529 erhoben, sondern auch zwischen den diversen Fraktionen der Naturphilosophie wurden solcherart Kontroversen um den jeweiligen Wissenschaftsstatus geführt. So hält Hegel, späterhin selbst an Formen einer spekulativen Naturphilosophie maßgeblich beteiligt, im Jahre 1805 fest:

 525 Vgl. hierzu Probst 1966, S. 162f.; Rothschuh 1968a, S. 175f.; Wiesing 1995, S. 110–117; John 2001 sowie Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 10ff. 526 Chenevix 1805, S. 455 u. S. 448f. 527 Schleiden 1844, S. 18 sowie Liebig 1840, S. 24. 528 Vgl. von Engelhardt 1997, S. 46. 529 Chenevix 1805, S. 477.

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Wie es eine dichterische Genieperiode gegeben hat, so scheint es gegenwärtig die philosophische Genieperiode zu sein. Etwas Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff zusammengeknetet und in ein von anderen mit Polarität usw. beschriebenes Papier gesteckt, mit einem hölzernen Zopf der Eitelkeit etc. Rakete in die Luft geschossen, meinen sie, das Empyreum darzustellen. So Görres, Wagner u. a. Die roheste Empirie mit Formalismus von Stoffen und Polen, verbrämt mit vernunftlosen Analogien und besoffenen Gedankenblitzen.530

Auch später wird sich Hegel mit Kritik an konkurrierenden Formen der Naturphilosophie nicht zurückhalten: Oken bezichtigt er eines Formalismus, der »an Verücktheit« grenze,531 über Steffens Arbeiten sagt er, sie seien »naturphilosophisches Gebraue«,532 und Schelling wirft er vor, »unter Naturphilosophie oft das Ganze der Philosophie verstanden« zu haben. Resümierend hält er in der dritten Auflage der Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 fest: Was man in der neueren Zeit Naturphilosophie genannt hat, das besteht zum großen Teil in einem nichtigen Spiel mit leeren, äußerlichen Analogien, welche gleichwohl als tiefe Resultate gelten sollen. Die philosophische Naturbetrachtung ist dadurch in verdienten Mißkredit geraten.533

Schelling selbst, Inaugurator und unumstrittener Begründungstheoretiker der Theoriebewegung,534 wandte sich aufgrund eines von ihm beklagten Missbrauches schon 1807 von dem Paradigma – sowohl in Hinsicht auf eine allgemeine Fundierungstheorie als auch im Hinblick auf eine Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften – angewidert ab: Seit ich den Mißbrauch, der mit den Ideen der Naturphilosophie getrieben worden, gesehen, entschloß ich mich, das Ganze bis auf die Zeit, wo jener nicht mehr zu besorgen steht, einzig der lebendigen Mittheilung vorzubehalten.535

Bis zu seinem Lebensende nahezu 50 Jahre später ist er jene Sorge nicht mehr losgeworden, er hat sich der Naturphilosophie nie wieder zugewandt, doch konnte er deren Karriere mit seiner Zurückhaltung nicht aufhalten. Noch in den 1820er Jahren aber unterscheidet ausgerechnet das nachmalige Oberhaupt der analytischen Naturwissenschaft, Johannes Müller, präzise zwischen einer »falschen« und einer »wahren Naturphilosophie«, wobei er die erstere durch schematische Verwendung von Verstandeskategorien, die mithin den Prozessen des Lebendigen begrifflich und  530 Hegel 1986, II, S. 542. 531 Ebd., XX, S. 454. 532 Hegel 2007, S. 172130. 533 Hegel 1986, V, S. 343. 534 Zu dieser Stellung Schellings vgl. Lohff 1990, S. 47–56; Wiesing 1995, S. 187ff.; Bonsiepen 1997, S. 307ff.; Breidbach 2000, passim; Bach 2001, S. 262ff.; Richards 2002, S. 114–192; Breidbach 2004, S. 165f.; Breidbach 2012; Ziche 2017 sowie Höppner 2017, S. 150ff. 535 Schelling 1807, S. 303f.

  Naturphilosophie systematisch nicht gewachsen seien, einen ungezügelten Gebrauch der Analogie und eine Verleugnung des metaphysischen Status der eigenen »Betrachtung der Dinge« charakterisiert.536 Büchner hat sich diese Distinktion hinsichtlich seiner Unterscheidung in teleologische und philosophische Methode der Naturforschung, und damit einer kritischen Unterscheidung innerhalb des Paradigmas der Naturphilosophie, zu eigen gemacht.537 Doch bedeutet dieser seit 1790 zu verzeichnende basso continuo einer fundamentalen, d. h. den Wissenschaftsstatus der Naturphilosophie anzweifelnden Kritik innerhalb und außerhalb des Paradigmas538 keineswegs, dass nicht auch Erfolge zu verzeichnen gewesen wären. Eine erhebliche Anzahl von Lehrstühlen wurde von Naturphilosophen mit unterschiedlicher disziplinärer und systematischer Ausrichtung besetzt – sogar für den umstrittenen Spezialbereich des animalischen Magnetismus wurden deutschlandweit einige Professuren eingerichtet.539 Die von Chevenix befürchtete Ausweitung dieser Art der Naturforschung auf das europäische Ausland fand ab den 1820er Jahren unaufhaltsam statt.540 Wilbrands wissenschaftspolitisch und -theoretisch einflussreiche Stellung an der Universität Gießen in den 1820er Jahren kam mithin, wie die vieler anderer Naturphilosophen an ihren Universitäten, nicht von ungefähr.541 Zwar nahm die Kritik sowohl in Grundlegungsfragen als auch hinsichtlich der fraglichen Empirizität der Ergebnisse zu, wie der Auftritt Johann Bernhard Wilbrands auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte 1832 belegen kann.542 Dennoch war die Auseinandersetzung zwischen philosophischen und analytischen Naturwissenschaftlern in den 1830er Jahren keineswegs entschieden.543 Auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass sich im Berlin der späten 1830er Jahre mit dem Einsatz der Müller-Schule eine Zeitenwende in der Naturforschung anbahnte, schreibt der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach zur wissenschaftsepistemischen Situation der 1830er Jahre dennoch zu Recht: Nach 1830 wird aber die Empirie in neuer Weise thematisch, steht sie doch zumindest im deutschen Sprachraum, in dem Müller seine Ausbildung fand, in einem Begründungszusammenhang, der interessanterweise zunächst innerphilosophischen Vorgaben folgt.544

 536 Vgl. Müller 1826, S. 13–15. 537 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 224–252. 538 Vgl. auch von Engelhardt 1997, S. 46. 539 Barkhoff 1995, S. 107. 540 Vgl. Ghiselin u. Breidbach 2002. 541 Vgl. Maaß 1994, S. 73–205 sowie Haaser 2014. 542 Vgl. Probst 1966, S. 160ff. 543 Der Einschätzung dieser historischen Verlaufsform, die Thesen Rothschuhs (1978, S. 266) und von Engelhardts (u. a. 1995, S. 35*; 1997, S. 45f.), nach denen schon ab 1825 die Auseinandersetzung entschieden gewesen sei, widersprechen Breidbach 1988, S. 29 und Stiening 2006a, S. 111. 544 Breidbach 2005, S. 5.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

Erst in den 1840er Jahren wird an der publizierten und wissenschaftspolitisch organisierten Gegenwehr der analytischen Schule erkennbar, dass die Zeit der Naturphilosophie abgelaufen war; erst jetzt traute sich Schleiden mit seiner Polemik gegen Schelling und Hegel an die Öffentlichkeit,545 jetzt erst war Liebigs jahrelangen Versuchen der institutionellen Entmachtung Wilbrands in Gießen Erfolg beschieden;546 erst jetzt trat Wilhelm Griesinger zugunsten einer materialistischen Psychiatrie öffentlich gegen die naturphilosophischen Ordnungs- und Begründungsformen der Medizin auf.547 Dennoch zeigt die Vehemenz, mit der Matthias Jacob Schleiden oder Justus von Liebig die Naturphilosophie kritisierten,548 den nach wie vor machtvollen Einfluss dieser wissenschaftstheoretischen Ausrichtung bis zur Jahrhundertmitte. Wenn Büchner sich in den 1830er Jahren für eine naturphilosophische Ausrichtung seiner Naturforschung in der vergleichenden Anatomie entscheidet – und damit ebenso gegen Liebigs analytische Schule wie gegen Cuviers theonome Klassifikationssystematik –, so bewegt er sich durchaus souverän in einem hochkontroversen Feld unterschiedlicher Forschungsansätze. Seine methodologischen Reflexionen zu Beginn der Probevorlesung zeigen, dass er um seine relativ eigenständige Stellung bei klarer Anbindung an eine bestimmte Ausrichtung wusste. Der Ausgang jener wissenschaftlichen Kontroverse war aber zu Lebzeiten Büchners nicht abzusehen. ... Zum Tableau naturphilosophischer Theoriebildungen Liebig, Schleiden oder auch Carl Friedrich Gauß können in den 1840er Jahren allerdings schon weitgehend undifferenziert auf »Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Consorten« einschlagen.549 Damit nivellieren sich jedoch Differenzen, die noch den Zeitgenossen der 1830er Jahre bewusst und von erheblicher Bedeutung waren; auch für eine angemessene Lozierung Büchners ins Feld der philosophischen Naturwissenschaft bleiben sie unverzichtbar. Denn ob Büchner ein über Wilbrand vermittelter Schellingianer, ein über Müller vermittelter Hegelianer, ein OkenSchüler oder ein Goethe-Anhänger war,550 ist für eine angemessene Interpretation seiner wissenschaftlichen und literarischen Texte von einiger Bedeutung.

 545 Vgl. Schleiden 1844. 546 Zu diesem Vorgang vgl. erneut Maaß 1994, S. 276ff.; Brock 1999, S. 161f.; Felschow 2003, S. 74f.; Giese 2007, S. 200–204. 547 Vgl. hierzu Roelcke 1999, S. 68–79. 548 Schleiden 1844, S. 18 sowie Liebig 1840, S. 24; zu Liebig vgl. auch Döhner 1967, S. 39f. 549 Gauß’ Brief an H. C. Schuhmacher vom 1. November 1844, zitiert nach von Engelhardt 1997, S. 46. 550 Vgl. hierzu u. a. Hans Mayer 1972, S. 373; Golz 1964, S. 69; Mayer 1979a, S. 80; Dedner 1987, S. 208ff.; Dedner 1989, S. 576; Müller-Nielaba 2001, S. 11 u. S. 22 und jetzt erneut MBA VIII, S. 541– 544. Die wichtigen Erkenntnisse Gaedes (1979), die zeigen, dass Büchner systematisch von der

  Naturphilosophie Weil aber auch die wissenschaftshistorische Fachforschung zu einem systematisch und historisch vollständigen Tableau ihres ebenso weitverzweigten wie hochdifferenzierten Gegenstandes noch nicht vorgedrungen ist,551 kann in der Folge lediglich eine Skizze der wichtigsten Varianten der Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts gezeichnet werden. Diese vorläufige Skizze ist aber zureichend, um Büchners Stellung in diesem Feld deutlicher als bisher zu konturieren. Zu Recht weist Dietrich von Engelhardt seit Jahrzehnten darauf hin, dass die Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts wenigstens in einem ersten Ordnungsschritt gemäß ihrer transzendentalen, spekulativen oder romantischen Begründungstheorien unterschieden werden könne, wobei sich die hier so genannte ›romantische‹ Naturforschung durch theologische oder vorkritisch-metaphysische Fundierungstheorien auszeichnet. Darüber hinaus gab es eine Anzahl von wissenschaftstheoretischen Sonderformen einzelner Forscher wie Goethe, Schopenhauer oder Alexander von Humboldt, die die Kontur des Tableaus der philosophischen Naturforschung zwischen 1790 und 1840 ergänzen. Auch diese Sonderformen der Naturphilosophie lassen sich nur mit Hilfe einer Reflexion auf ihre allgemeinen Begründungstheorien präzise im Feld verorten. Diese philosophiegeschichtliche Differenzierung ist für den gesamten Zeitraum gegenüber einer wissenschaftsgeschichtlich-disziplinären in Botanik, Zoologie und vergleichende Anatomie insofern vorzuziehen, als die spezifische Ausübung der Disziplinen, ihre Entstehung und Veränderung innerhalb des naturphilosophischen Paradigmas maßgeblich durch die jeweiligen Begründungstheorien geprägt wurde. Im Folgenden sollen die oben benannten größeren Gruppen kurz vorgestellt und auf die systematische Stellung der büchnerschen Forschungen zu ihnen reflektiert werden. .... Transzendentale Naturphilosophie Für Kant stellt eine Philosophie der Natur einen zentralen »doktrinalen« Systemteil im Hinblick auf den Nachweis konstitutiver theoretischer Urteile, d. h. der Möglichkeit objektiv wahrer Urteile dar. Unter bedeutenden Abweichungen gilt dieser Status der Naturphilosophie auch für Carl Christian Erhard Schmid und Jakob Friedrich Fries.552 Ein wesentliches Charakteristikum dieser Form der Naturphilosophie besteht darin, einen substanziellen Unterschied zu Fragen der praktischen, d. h. der ethischen und politischen Theorie zu behaupten. Es kann kaum nachdrücklich genug betont werden, dass Büchner vor allem in diesem Punkte einer substanziel goetheschen Naturforschung entfernt arbeitet, wurden unbeachtet gelassen; aufgenommen einzig bei P II, S. 894; Stiening 1999, S. 102 und Roth 2004, S. 260. 551 Vgl. hierzu den expliziten Verzicht auf eine systematisierende Interpretation in dem personenzentriert angelegten Handbuch von Bach u. Breidbach 2005, S. XI.; wichtige Vorgaben hierzu aber bei Bonsiepen 1997. 552 Vgl. hierzu John 2001 und Hermann 2000, S. 141ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

len Unterscheidung zwischen den Gesetzen der Natur und denen der Politik jener transzendentalen Position zuzurechnen ist. Für die Transzendentalphilosophie und ihre empiristischen Nachfolger sind nicht alle Fragen der Philosophie durch die Naturphilosophie zu beantworten, oder aus ihr abzuleiten. Es gehört mithin zu den Besonderheiten transzendentaler Naturphilosophie, dass sie keine allgemeine Begründungtheorie für alles weitere Wissen oder gar das Handeln abgibt, sondern nur den Naturwissenschaften systematische und methodische Prinzipien bereitstellen will, um deren Wissenschaftscharakter zu garantieren, d. h. eine Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft sowie eine allgemeine Metaphysik der Natur zu ermöglichen.553 Schon vor den späten Versuchen einer Metaphysik der Natur bemühte sich Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft darum, die philosophische Grundlage für eine nicht-atomistische, vielmehr dynamische Naturtheorie zu legen, und zwar durch eine Konzeption, nach der die Materie aus den Kräften Attraktion und Repulsion besteht.554 Ziel dieser Arbeit blieb es, den Naturwissenschaften ein philosophisches und damit einzig wissenschaftliches Fundament zu legen. Bis in die spätesten Teile seines letzten unveröffentlichten Werkes, des so genannten opus postumum, hat Kant versucht, auf der Grundlage dieser Bestimmungen eine »Metaphysik der Natur« zu entwerfen,555 die den konstitutiven Momenten seiner Vernunftkritik gerecht wird und zugleich seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer dynamischen Materietheorie Rechnung tragen sollte.556 Dass er dabei – zumindest versuchsweise – auf Wegen des transzendentalen Idealismus wandelte, gehört weitgehend zu den Geheimnissen der Kant-Forschung;557 dass seine dynamische Materietheorie jedoch von erheblichen Teilen der Naturforschung um 1800 kritisch und affirmativ aufgenommen wurde – so u. a. von Achim von Arnim und Jakob Friedrich Fries – ist schon weiteren Bereichen der Forschung bekannt.558 Dabei verbleibt die Form ›objektiver‹ Naturforschung, d. h. des Möglichkeitsraums konstitutiver Urteile, im Bereich der Rekonstruktion mechanistischer, d. h. Kausalitäten bestimmender Konstruktionen. Im Rahmen seiner publizierten Werke gehörte daher die Einschränkung des Geltungsstatus teleologischer Urteile, d.h. solcher Theorien, die sich zum natürlichen Organismus und damit zum Prinzip des Lebens als eines natürlichen Systems äußern, auf die Leistungsfähigkeit einer reflektierenden Urteilskraft, zu den Eckpfeilern der kantischen Transzendentalphilosophie. So unumgänglich diese Art der Erkenntnis der Naturerscheinungen als Zwecke ist, so notwendig bleibt solcherart Erkenntnis im Geltungsstatus einge 553 Vgl. hierzu Bonsiepen 1997, S. 417–453 sowie Goy 2017. 554 Kant 1983, VIII, S. 11–135. 555 Vgl. hierzu Falkenburg 2000, S. 263–305. 556 Vgl. hierzu Tuschling 1991. 557 So Tuschling 1971. 558 Vgl. ebd. 1971, S. 39ff.; Bonsiepen 1997, S. 117ff.; Stein 2004, S. 17ff. sowie van Zantwijk 2012.

  Naturphilosophie schränkt.559 Deshalb auch ist nach Kant ein »Newton des Grashalms«, mithin eine den Objektivitätskriterien der mechanistischen Naturforschung entsprechende Biologie nicht zu erwarten: Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde; sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.560

Es machte eines der skandalisierenden Momente der schellingschen Naturphilosophie aus, dass ihr Autor – ohne sich je so zu nennen – jener ›Newton des Grashalms‹ zu sein begehren musste, weil er den teleologischen Urteilen konstitutiven Status zuschrieb.561 Dennoch hat niemand strenger als Jakob Friedrich Fries eine Naturphilosophie entworfen, die auf den kantischen Prinzipien aufbaute. Schon früh verteidigt er Kants Variante einer dynamischen Naturauffassung gegen die spekulative Variante Schellings und schreibt im Jahre 1822 eine Mathematische Naturphilosophie in kantischer Traditionslinie.562 Gleichwohl lag eine grundlegende empiristischanthropologische »Revision der Kantischen Philosophie«, die nicht den Bahnen des Idealismus folgte, dieser Theorie zugrunde.563 Dabei kehrt die kantische Distinktion zwischen mechanistischen und teleologischen Naturprinzipien und ihren unterschiedlichen Status für eine Naturforschung, die als Wissenschaft will auftreten können, bei Fries in der Differenzierung zwischen einer Objektivität ermöglichenden mathematischen Naturphilosophie einerseits und den ergänzenden Formen phänomenologischer Naturforschung andererseits wieder.564 Die allgemeine Naturlehre oder mathematische Physik formuliert in diesem Konstrukt die allgemeinen »Naturgesetze«, die zunächst und zumeist Bewegungsgesetze darstellen, während die Naturbeschreibung mit »inductorischen Hülfsmittel[n]« die – vorausgesetzten – drei Naturstufen in »Klassensysteme« ausfüllt.565 Um einen Bereich objektiver Naturforschung, die sich auf eine mathematisierte Physik beschränken muss, zu erhalten, ist Fries mithin bereit, den gesamten übrigen Bereich der Naturwissenschaft dem Status klassifikatorischer Phänomeno-

 559 Vgl. hierzu u. a. Düsing 1968, S. 86ff. oder auch Roth 2008, S. 275f. 560 Kant 1983, VIII, S. 516 (KdU, § 75); vgl. hierzu Förster 2002. 561 So zu Recht Bonsiepen 1997, S. 193 sowie Mischer 1997, S. 198–204. 562 Vgl. Fries 1967ff., XIII sowie Bonsiepen 2005, S. 184. 563 Vgl. Gregory 1994, passim; Bonsiepen 1997, S. 325ff.; Pulte 1999, S. 58f.; Hermann 2000, S. 25– 30; Sachs-Hombach 2002; van Zantwijk 2012. 564 Vgl. hierzu und zum Folgenden Fries 1967ff., XIII, S. 4–32. 565 Ebd., S. 8 u. S. 5ff. sowie Bonsiepen 1997, S. 416–453.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

logie in Sinne Cuviers zu überlassen.566 Weil aber Fries’ Mathematisierung der Naturforschung und ihr empirischer Induktionismus auseinanderfallen, wird sein Modell von Naturwissenschaftstheorie – auch ihm selbst – unbefriedigend bleiben.567 Dennoch machen einige wichtige Momente der Erkenntnistheorie und Methodologie der transzendentalen Konzeption eine spezifische Besonderheit dieser Naturphilosophie aus, die sich bei Büchner wiederfinden. Erstens bleiben zwar die methodisch streng getrennten Bereiche der Naturwissenschaft stets aufeinander bezogen: Allein in der Ausführung werden diese Wissenschaften [Naturlehre und Naturbeschreibung] mannigfaltig in einander greifen, indem es uns in den meisten Fällen um eine Erklärung der Thatsachen aus allgemeinen Gesetzen zu thun ist und die Gesetze oft nur inductorisch aus Beobachtung erkannt werden können.568

Allerdings bleiben beide Bereiche subjektiv, d. h. im Hinblick auf die sie erfassenden Vermögen, und objektiv, d. h. im Hinblick auf die durch sie bestimmten Naturbereiche, strikt getrennt. Die ›Metaphysik‹ der reinen Bewegungslehre und der ›Empirismus‹ der induktiven Naturwissenschaft werden klar unterschieden, und es ergeht das stete Postulat ihrer Vermittlung: Die reine Bewegungslehre selbst ist aber nur das Product der speculativen Abstractionen aus unsrer Naturerkenntniß und muß, um ein Ganzes der Erkenntniß darzustellen, erst wieder mit Wahrnehmung und Erfahrung verbunden werden.569

Fries generiert aus dieser epistemologischen Konstellation von metaphysischem Begriff einerseits und empirieermöglichender Anschauung andererseits ein methodisches Postulat; Büchner wird eine ähnliche Korrelation der seine Naturforschung ermöglichenden Erkenntnisvermögen und einer daraus resultierenden Methodologie entwerfen, weil er die Apriorität rationaler Begriffe und Kategorien seiner Naturforschung einerseits dem »Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen,« andererseits gleichursprünglich gegenüberstellt und dennoch eine Vermittlung beider postuliert.570 Zweitens aber gehört Fries zu den wenigen Naturphilosophen nach Kant, die das von diesem aktualisierte Ökonomieprinzip zumindest als methodische Maxime reflektieren und für die Naturforschung als gültig erklären. Sowohl im System der

 566 Fries 1967ff., XIII, S. 8. 567 Zu dieser Selbstkritik vgl. Bonsiepen 2005, S. 214ff. 568 Fries 1967ff., XIII, S. 5. 569 Ebd., S. 10. 570 Vgl. MBA VIII, S. 15514–30.

  Naturphilosophie Logik571 von 1837 als auch in der Naturlehre von 1826 entwickelt Fries diese Maxime und den Umfang ihrer Geltung.572 In Aufnahme der vier berühmten Regeln einer methodisch geregelten empirischen Naturlehre aus Isaac Newtons Principia, in deren ersten beiden tatsächlich ein methodisches Ökonomieprinzip entwickelt wird,573 hält Fries bestätigend fest: Das Interesse der ersten beiden Regeln ist das der von andern sogenannten Regel der Sparsamkeit: wir müssen uns mit den Erklärungsgründen ganz an die Erfahrung anschließen, alle willkührlichen Voraussetzungen verwerfen und so wenig Erklärungsgründe als möglich zulassen.574

Büchner wird – hierin Kant näher als Fries575 – dieses Prinzip nicht als methodologisches, sondern als der Natur selbst zukommendes, mithin ontologisches Gesetz der Natur formulieren.576 Betrachtet man die grundsätzliche und weithin akzeptierte Ablehnung dieses Prinzips, u. a. durch Herbart,577 drängt sich eine gewisse, zumindest ideengeschichtliche Nähe Büchners zu Kant und Fries auf. Diese wird drittens dadurch hergestellt, dass Büchner, wie auch die beiden Transzendentalphilosophen, die Prinzipien der praktischen Philosophie, insbesondere der Ethik und der Politik, nicht aus einer als Fundamentaltheorie begriffenen Naturphilosophie ableitet, sondern vielmehr als systematisch eigenständig entwickelt.578 Sowohl in seiner politischen Schrift als auch in seiner privaten Korrespondenz wird Büchner dokumentieren, dass er einem Dualismus zwischen theoretischer und praktischer Vernunft der transzendentalen Tradition näher steht als den Monismen der spekulativen Naturphilosophie oder der romantischen Staatstheorie. In Dantonʼs Tod wird er in der Rede St. Justs vor dem Konvent gar die gewaltlegitimierenden Konsequenzen einer Ableitung soziopolitischen Handelns aus Naturkategorien kritisch gestalten.579 .... Spekulative Naturphilosophie Dieser erste Befund zur transzendentalen Naturphilosophie bedeutet jedoch nicht, dass Büchner der Form spekulativer Naturphilosophie vollständig ablehnend ge 571 Vgl. Fries 1967ff., VII, S. 334. 572 Vgl. hierzu Pulte 1999a, S. 312ff. 573 Vgl. hierzu Falkenburg 2000, S. 43. 574 Fries 1967ff., XV, S. 27. 575 Vgl. hierzu Kants Ableitungen des Ökonomieprinzips als eines Naturgesetzes in der Kritik der reinen Vernunft, KrV B 678–690. 576 Vgl. hierzu Stiening 1999. 577 Vgl. Herbart 1993, S. 77; zur substanziellen Differenz Büchners zu Herbart in Sachen Naturforschung vgl. auch Roth u. Stiening 2001, S. 204–206. 578 Vgl. hierzu Stiening 2006; Roth 2016. 579 Vgl. Stiening 2006 sowie meine Ausführungen in Kap. 6.

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genüber gestanden hätte; im Gegenteil darf er in institutioneller Hinsicht als OkenSchüler und damit als Schüler eines genuin spekulativen Naturphilosophen gelten.580 Zudem hörte er bei Lauth und Wilbrand, deren wissenschaftliche Nähe zu Oken zu Recht von der Forschung betont wurde.581 Nun sind allerdings die Systementwürfe, die von dieser Fraktion der Naturphilosophie vorgelegt wurden, zu umfangreich und zudem in sich zu unterschiedlich, als dass an dieser Stelle mehr als eine Skizze entworfen werden könnte. Auch wenn die philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Konzeptionen Schellings, Okens oder Hegels in den letzten Jahrzehnten erheblich vorangetragen wurde,582 mangelt es nach wie vor an einer vergleichend systematisierenden Darstellung ihrer Modelle sowie der Abgrenzung ihrer Gemeinsamkeiten gegen andere Begründungstheorien und Ausprägungen der Naturphilosophie im frühen 19. Jahrhundert.583 Dennoch können im Hinblick auf Büchners Naturforschung einige Momente jener Theorien isoliert werden, die seine Stellung zu diesem spekulativen Modell illustrieren. Zu den grundlegenden Prämissen spekulativer Naturphilosophie gehört die These von einer ursprünglichen Identität von Geist und Natur, die Schelling gegen Kants und Fichtes abstrakte, d. h. ebenso unaufhebbare wie unabgeleitete Gegenüberstellung von Subjekt und Natur entwirft.584 Diese Identitätsbehauptung enthält nun aber weder eine mystische Be-Geisterung der Natur im Sinne eines naturreligiösen Weltverhältnisses oder homöopathischer Irrationalismen,585 noch führt diese Prämisse zu einem Materialismus, der die Autonomie rationaler und freier Subjektivität bestritte.586 Vielmehr geht es Schelling wie auch Oken587 darum, mit Hilfe einer Substanzialisierung des Naturprozesses588 eine Garantie dafür abzuleiten, dass die  580 Vgl. hierzu Roth 2002. 581 Lauths systematische Nähe zu Oken ergibt sich über die Grundlegung seines Ansatzes in den Positionen Geoffroys, der in den frühen 1820er Jahren in den Einfluss Okens geriet, vgl. hierzu Mann 1992. 582 Zu Schellings Naturphilosophie vgl. u. a Mischer 1997; Bonsiepen 1997, S. 147–323; Bach 2001, S. 199–283; Breidbach 2004; Breidbach 2012; Höppner 2017. Zu Okens Naturphilosophie vgl. die Bände von Breidbach, Flieder u. Ries (Hg.) 2001; von Engelhardt u. Nolte (Hg.): 2002; Ghiselin 2005; die vierbändige Werkausgabe Oken 2007ff. sowie Höppner 2017, S. 705ff. Zu Hegels Naturphilosophie vgl. die Bände von Breidbach 1982; Petry (Hg.) 1987; Vieweg (Hg.) 1998; Breibach u. von Engelhardt (Hg.) 2002; Neuser 2009. 583 Vgl. hierzu in ertragreichen Ansätzen Bonsiepen 1997; Mischer 1997; Breidbach 2006, S. 211– 222 sowie Burswick u. Breidbach (Hg.) 2012. 584 Von den nicht unerheblichen Modifikationen, die dem naturphilosophischen Programm Schellings zwischen 1797 und 1800 widerfahren, muss hier abgesehen werden; vgl. aber Bonsiepen 1997, S. 307ff., Mischer 1997, S. 113ff.; Ziche 2017. 585 Obwohl diese um 1800 ebenfalls entstehen; vgl. Schott 1997, S. 247ff. sowie Schmaus 2009. 586 In diese Richtung einer materialistischen Schellinginterpretation führen jedoch einige Beiträge in dem Band Sandkühler (Hg.) 1984. 587 Ghiselin 2005, S. 438. 588 Vgl. hierzu Breidbach 2004, S. 164f.

  Naturphilosophie »Gesetze unseres Geistes« mit den »Gesetze[n] der Natur« tatsächlich übereinstimmen;589 ohne abstrakte Setzung, die Schelling als metaphysischen Dogmatismus vermeiden will, ist dies nur möglich durch die begründete Voraussetzung einer sich als Naturkräfte realisierenden Einheit von Geist und Materie: Philosophie ist also nichts anders, als eine Naturlehre unseres Geistes. Von nun an ist aller Dogmatismus von Grund aus umgekehrt. Wir betrachten das System unserer Vorstellungen nicht in seinem Seyn, sondern in seinem Werden. Die Philosophie wird genetisch, d. h. sie läßt die ganze nothwendige Reihe unserer Vorstellungen vor unsern Augen gleichsam entstehen und ablaufen. Von nun an ist zwischen Erfahrung und Spekulation keine Trennung mehr. Das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes, und erst jetzt, nachdem die große Synthesis vollendet ist, kehrt unser Wissen zur Analysis (zum Forschen und Versuchen) zurück.590

Diese Vermittlung der »zwei feindlichen Wesen Geist und Materie«591 bedarf im Selbstanspruch keiner extramundanen Instanz, ja nicht einmal mehr einer immanenten Ursache, die sich von den beiden Relata substanziell unterschiede; sie erfolgt durch das der Struktur selbst zukommende dynamische Prinzip der Polarität und seiner stetigen Aufhebung. Dieser Anspruch ist nur deshalb aufrechtzuerhalten, weil Schelling als Grundstruktur der Natur den Organismus bzw. die »organische Organisation« inthronisiert, in der nicht nur ein Begriff zur Ursache dient, sondern die auch objektiv der Struktur des subjektiven Selbstbewusstseins entspricht und dabei das Werden, den Prozess als Prinzip enthält, ja hervorbringt.592 Natur und Geist sind also nicht an sich identisch, sodass in einem lückenlosen Deduktionssystem noch ihre kleinsten und differenziertesten Einzelheiten der Natur zu ermitteln wären – diese fehlerhafte Annahme verbreiten viele der Schüler Schellings593 –, sondern nur in formaler Hinsicht, die im Prozess der gegenseitigen Selbsterkenntnis von Materie und Geist ihre materiale Verwirklichung erhält. Um aber diesen Prozess der materialen Selbstaffirmation der formalen Identität von Geist und Materie zu erwirken, bedarf es eines diesen in Gang setzenden Gegensatzes, den Schelling in das Verhältnis des Ideellen und Reellen verlegt,594 das nur die allgemeinste Komponente einer die Natur ausmachenden »Polarität« und der durch sie initiierten stufenweisen Organisation der gesamten Natur ausmacht. Schelling übernimmt also aus der Tradition das Konzept einer scala naturae,595 weiß ihm aber eine allgemeine Begründungstheorie für Essenz und Existenz zu geben.

 589 Vgl. hierzu Oken 2007, I, S. 35ff. 590 Schelling 1985, I, S. 277. 591 Ebd., S. 254. 592 Vgl. ebd., S. 278f. 593 Vgl. ebd. 594 Vgl. Schelling 1798, S. XIXff. 595 Vgl. hierzu die exzellenten Darstellungen bei Diekmann 1992 sowie Jahn 32004b, S. 245–248.

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Dass also im Zentrum dieser Konzeption der Begriff und das Sein des Organismus steht, den Schelling wegen der Abgrenzung gegen das Prinzip des Mechanismus mit dem kantischen Terminus der »Organisation« fasst, geht aus der folgenden Passage, die den Unterschied zum Kausalitätsprinzip ausführt, anschaulich hervor: Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur übertreten, hört für uns alle mechanische Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf. […] Die Organisation aber produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst; jede einzelne Pflanze ist nur Product eines Individuums ihrer Art, und so produziert und reproduziert jede einzelne Organisation ins Unendliche fort nur ihre Gattung. […] Jedes organische Produkt trägt den Grund seines Daseyns in sich selbst, denn es ist von sich selbst Ursache und Wirkung.596

Es ist dieser Begriff von »Organisation« als Grundkategorie aller philosophischen Naturforschung in der Nachfolge Schellings, die auch bei Wilbrand und Büchner begegnet.597 Zweierlei ist aus der nur grob skizzierten Grundkonzeption der schellingschen Naturphilosophie zwanglos zu entwickeln: Ersichtlich steht erstens im Mittelpunkt dieser Ableitung ein Begriff und eine Konzeption des »Lebens«,598 das aus den strukturellen Grundmomenten der als Organismus bestimmten Natur besteht, sodass die zeitgenössisch wirksame Theorie einer substanziell eigenständigen »Lebenskraft« überflüssig wird. Die Organisation des Organismus wird konstituiert durch Zweck-Mittel- und Teil-Ganze-Verhältnisse, die an ihnen selbst Vitalitätsstrukturen enthalten und generieren, so dass eine gegenüber diesen Relationsformen eigenständige »Lebenskraft« funktionslos wird. Schelling bezeichnet das »Prinzip Lebenskraft« denn auch als »völlig widersprechende[n] Begriff«.599 Noch Johann Bernhard Wilbrand wird auf genau diese Argumentation zurückgreifen, um Johann Dietrich Brandis’ und Johann Christian Reils kategoriale Bestimmung einer Lebenskraft600 zurückzuweisen: Brandis’ Schrift über Lebenskraft schätzte er [d. i. Wilbrand] zwar sehr, aber die Lebenskraft erschien in derselben als die causa efficiens des Lebens, und wenn er nun die Frage stellte: was ist dann diese Lebenskraft? Wo ist sie? Wie kann sie geschieden seyn von dem realen Daseyn? – so fand er auf diese Fragen in der Schrift selbst nirgends eine Antwort. Es lag überhaupt klar genug vor, daß das Wort Lebenskraft nur einen Begriff bezeichnete; in der Natur selbst ist aber

 596 Schelling 1985, I, S. 278. 597 In wenig überraschender Weise hält MBA VIII, S. 543ff. diesen Begriff für nicht erläuterungsbedürftig. 598 Vgl. hierzu die Studie von Rang 1988. 599 Schelling 1985, I, S. 287. 600 Vgl. Brandis 1795 sowie Reil 1796; zur kontroversen Stellung dieser Kategorie einer »Lebenskraft« in den zeitgenössischen Debatten vgl. die Darstellung bei Rothschuh 1968a, S. 164–177; die exzellenten Ausführungen von Jantzen 1994, S. 498–565 sowie Bonsiepen 1997, S. 264–268; Richards 2002, S. 258ff.; Jahn 32004a, S. 280–284; Wellmann 2010, S. 169ff.; Leibold 2009, S. 236– 248 sowie Höppner 2017, S. 115ff.

  Naturphilosophie die Kraft nirgends von der Materie geschieden, also nirgends abstrahirt, obschon die Seite in der Natur, die man mit Kraft bezeichnet, nicht einerlei ist mit derjenigen, die man durch Materie andeutet.601

Nachdem Kant die Materie durch Kräfte definiert hatte, war ein Rückfall in eine Konzeption, die zwischen Materie und Kräften substanziell unterschied, für den informierten Naturphilosophen ebenso unerwünscht wie unmöglich; dass ausgerechnet Justus von Liebig an einem solchen Konzept von Lebenskraft zeitlebens festhielt,602 verdeutlicht, warum sich die philosophische Fraktion in Gießen lange Zeit der liebigschen »Barbaren-Kohorte«603 durchaus überlegen fühlen konnte. Zweitens aber hat Schelling mit diesem Modell einer sich selbst realisierenden formalen Identität, die er in der Folge auch als »Absolutes« bezeichnet, aus dem die Polarität von Ideellem und Reellem generiere,604 die Notwendigkeit eines Entwicklungsgedankens aufgezeigt, der für den Geist zu einer Geschichte des Selbstbewusstseins führt und für die Natur zum Gedanken einer Evolution.605 Beide Prozessformen sind aber nicht als Real-, sondern als Idealgenese gedacht, die einen lückenlosen begrifflichen Zusammenhang der stufenartig zusammenhängenden und in sich differenzierten Natur postuliert.606 Bei allen auch erheblichen Differenzen in der systematischen Anlage, dem Status und der Durchführung der allgemeinen Naturphilosophie gilt dieses Theorem der Idealgenese auch für Hegel, der ausdrücklich gegen andere Überlegungen feststellt: Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee.607

Für Hegel – wie auch für Schelling – ist daher die Einheit der Natur als Stufenleiter ein nur begrifflicher, zeitlich indifferenter Zusammenhang und die Vorstellung von einem realen »Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser eine nebu-

 601 Wilbrand 1831, S. 25. 602 Vgl. hierzu Rothschuh 1968, S. 174 sowie Lenoir 1982, S. 158–168. 603 Vgl. Schreiber 1937, S. 14–16. 604 Vgl. Schelling 1798, S. XIXff. 605 Vgl. hierzu die Darstellung bei Mischer 1997, S. 136–139 sowie Breidbach 2004, S. 167f. 606 Vgl. hierzu Breidbach 1986; von Engelhardt 1997, S. 39: »Evolution der Natur heißt für die romantischen Naturforscher – wie ebenfalls für die idealistischen Naturphilosophen – aber Idealgenese und nicht Realdeszendenz; wesentlich ist der innere metaphysische Zusammenhang und nicht die äußere historische Verbindung der Erscheinungen.« 607 Hegel 1986, IX, S. 31; vgl. hierzu auch Bach 2006, S. 78–80.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

lose, im Grunde sinnliche [und daher unwissenschaftliche] Vorstellung«.608 Oken, von Hegel ansonsten aufs Heftigste bekämpft, ist hierin mit ihm einer Meinung.609 Bei aller Abstraktheit dieser Skizze schellingscher Naturphilosophie lässt sich detailliert zeigen, dass Büchner zunächst die Grundvoraussetzung dieser Deduktion, den systematischen Ausgangspunkt beim Absoluten, nicht teilt. Das absolute Wissen als Wissen vom Absoluten bzw. einer formalen Identität von Geist und Materie bleibt seiner dualistischen Epistemologie durchgehend fremd, weil die »Philosophie apriori« der ›unmittelbaren Wahrnehmung‹ der Natur nach Büchner stets äußerlich bleibt.610 Doch schon hinsichtlich der aus dem genetisch gedachten Absoluten Schellings abgeleiteten Polaritätskonzeption,611 wie erst recht beim Begriff der die Stufenleiter der Natur612 dynamisierenden Potenzen613 steht Büchner in der Tradition der durch diese spekulative Naturphilosophie inaugurierten Konzeption. Vor allem aber hinsichtlich der terminologischen, begrifflichen und systematischen Verwendung der Kategorien des »Lebens« und der »Organisation«, die Büchner – wie Schelling und Wilbrand614 – auf die gesamte Natur appliziert,615 muss eine konzeptionelle Nähe konstatiert werden. Deutlich wird auch Büchners Nähe zu Evolutionsmodellen dieser spekulativen Naturphilosophie, die vor allem Oken entworfen hatte.616 Bemerkenswert bleibt insgesamt, dass Büchner wesentliche Elemente jener allgemeinen Konzeption der durch Schelling entworfenen und von Oken und Wilbrand weiterentwickelten spekulativen Naturphilosophie übernimmt, während er sie allerdings in ihrem spekulativem Zentrum – der Bestimmung und Ableitung des Systems aus einer formalen Identität von Geist und Materie bzw. aus einem Absoluten – strikt zurückweist. .... Theologische und metaphysische Naturphilosophie Auch im Hinblick auf die dritte hier vorzustellende Form von Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts, die in der Forschung als genuin ›romantische‹ firmiert,617

 608 Hegel 1986, IX, S. 31. 609 Vgl. Oken 2007, I, S. 37. 610 Vgl. MBA VIII, S. 15514–25. 611 Ebd., S. 414ff.. 612 Ebd., S. 1412, S. 6631, S. 8023 u. ö. 613 Ebd., S. 7617, S. 8030, S. 15922 u. ö einerseits und Schelling 1985, I, S. 370ff. sowie Oken 2007, I, S. 5ff. andererseits. 614 Vgl. Schelling 1985, I, S. 285f.; Wilbrand 1808/09. 615 MBA VIII, S. 1552f.. 616 Vgl. hierzu Mischer 1997, S. 139. 617 Vgl. u. a. von Engelhardt 1980, S. 11f. Allerdings kann dieses Prädikat nur als Hilfskonstruktion bezeichnet werden; den Kern dieser Konzeptionen macht ihre transzendente, sei es theologisch, sei es metaphysisch begründete Fundierung aus.

  Naturphilosophie kann von einer partiellen Übernahme nicht nur empirischer Einzelergebnisse, sondern auch begrifflicher und kategorialer Konzeptionen durch Büchner gesprochen werden.618 Dabei stellt sich diese Variante in begründungtheoretischer Hinsicht zugleich als die von Büchners Modell am weitesten entfernte dar, weil sie in ihrem systematischen Zentrum mit einer transzendenten Fundierungs- und Zweckinstanz operiert, die Büchners Naturvorstellung grundlegend abweist.619 Sowohl für Carl Gustav Carus, der die wohl differenziertesten Konzeptionen dieser Variante entwirft,620 als auch für Gotthilf Heinrich Schubert oder Franz von Baader liegen die Fundamente der natürlichen Ordnung in den Schöpfungs- und Erhaltungsleistungen jener transzendenten Instanz, die entweder als Gott oder als Ideenhimmel konkretisiert wird,621 allemal aber die transzendentalphilosophische oder spekulative Immanenz zurückweist. Ausdrücklich grenzt sich Carl Gustav Carus in dieser Hinsicht von der spekulativen Naturphilosophie ab: So war mir auch jene Vorstellung, welche Natur und Gott vollkommen identificirt und das eine gleichsam nur als Kehrseite des anderen betrachtet, ebenso wenig genügend und störte mich in den Schriften der neueren Naturphilosophen vielfältig.622

Wenn es also auch Carus mit seiner Naturforschung erklärtermaßen um die Bestimmung der »Einheit der Natur als lebendigem Ganzen« geht, dann nur in der Weise, dass sich in dieser Einheit »zwei ganz verschiedenen Welten«, Gott und die Natur, vermitteln.623 Auch Gotthilf Heinrich Schubert macht in seinen schnell zu großer Popularität aufsteigenden Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft keinen Hehl daraus, dass es ihm bei der Betrachtung, ja Herstellung empirischer Erkenntnisse in der Naturforschung um den Nachweis der Existenz einer extramundanen Instanz sowie der Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu tun ist.624 Zur Ausprägung einer von ihm anvisierten Physica sacra625 legt er den Schwerpunkt seiner Arbeit auf solcherart Phänomene, die sich den Erklärungsleistungen der von ihm mit atomistischer Ontologie identifizierten mechanistischen Naturforschung scheinbar entziehen. Erklär-

 618 Zur These starker Anleihen Büchners bei Carus vgl. Roth 2004, S. 260–271 sowie MBA VIII, S. 285–290. 619 So zu Recht Gaede 1979, S. 46. 620 Vgl. hierzu Müller-Tamm 1995, S. 9–50 sowie Schweizer 2008, S. 332ff. 621 Zu Carusʼ epistemologischem Platonismus vgl. Müller-Tamm 1995, S. 14 sowie Schweizer 2008, S. 333. 622 Carus 1865/66, I, S. 127. 623 Vgl. hierzu Müller-Tamm 2005, S. 117f. Diese fundierende Funktion der Gottesinstanz für Carus’ Naturforschungsprogramm verkennt Schweizer 2008, S. 333ff. 624 Schubert 1808, S. 301ff.; vgl. auch von Engelhardt 1980, S. 15f.; Leiplod 2009, S. 256ff. sowie Höppner 2017, S. 338–534. 625 Vgl. hierzu Dietzsch 2005; Schweizer 2008, S. 426–515; Höppner 2017, S. 427ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

termaßen sucht Schubert in diesen Erscheinungen der Natur, die er vor allem in Traum,626 im Magnetismus und Somnambulismus findet, den Nachweis einer über sie selbst hinausweisenden »höheren Welt«,627 die zugleich die eigentlichen Bestimmungsmomente für die diesseitige Natur enthalten soll: Am erhabendsten und schönsten offenbart sich aber jener höhere Einfluß, wo er als geistiges Band um alle verschiedenen Stufen des Daseyns der Dinge geschlungen, den Uebergang bildet von einem jetzigen Daseyn in ein höheres künftiges. Wir sahen aus vielen Thatsachen […], wie jedes Wesen, während es sich noch in der Bestimmung des gegenwärtigen Daseyns vollendet, schon den Keim eines künftigen in sich trägt, welcher in den höchsten Momenten des jetzigen erwachend, sich zuweilen auf kurze Augenblicke sichtbar macht.628

Diese theologische Fundierung der Natur und damit ihrer Erforschung, die für Carus und Schubert in unterschiedlichem Maße und in differierenden Formen gilt, bedeutet allerdings – wie schon angedeutet – nicht, dass Büchner eine positive Haltung zu einzelnen Begriffen oder empirischen Erkenntnissen dieser Forschungsrichtung abgesprochen werden müsste. Eine auffällige Nähe der technisch-praktischen Arbeit des Sezierens und Präparierens zu Carus’ Anweisungen wurde schon erörtert. Die ebenfalls eigentümliche Nähe der anatomischen Verifikationsarbeiten zur Wirbeltheorie des Schädels zu Carl Gustav Carus, die keineswegs einer Identität mit der Interpretation dieser empirischen Ergebnisse entspricht, wurde von der Forschung wiederholt analysiert.629 Dass sich jedoch darüber hinaus die evolutionäre Nerven- und Sinnestheorie Büchners, innerhalb derer aus einem substanziellen »Gemeingefühl« die höheren Formen der Sinne und deren neuronale Grundlagen hervorgehen, ebenso bei Carus wie bei Schubert vorgebildet findet,630 wurde bislang übersehen. Ausdrücklich spricht Schubert (wie neben Carus auch Wilbrand) von einem »ursprünglichen Gemeingefühl«, und zwar – erneut wie auch Wilbrand631 – im Zusammenhang mit den Erscheinungen des Magnetismus,632 konkreter gar – wie im Lenz – von Formen der

 626 Vgl. Schubert 1967 [EA 1814]; siehe dazu auch Leipold 2009, S. 321ff. sowie Höppner 2017, S. 482ff. 627 So Schubert 1808, S. 323. 628 Ebd., S. 380f. 629 Vgl. Roth 2004, S. 93ff. sowie MBA VIII, S. 295–291. Die Versuche dieser Forschung (vgl. Roth 2004, S. 260–263 sowie S. 478; MBA VIII, S. 544), Büchners Begriff der Schönheit, den er im Rahmen seiner Naturphilosophie verwendet (MBA VIII, S. 1556), mit Carus’ platonisierendem Konzept zu verknüpfen, müssen als gescheitert betrachtet werden; vgl. hierzu meine Ausführungen weiter unten. 630 Vgl. Carus 1831, S. 110f.; dazu Müller-Tamm 1995, S. 83–96 sowie Schubert 1808, S. 326–360; dazu Leipold 2009, S. 184, 189f. u.ö. 631 Vgl. Wilbrand 1824, S. 91. 632 Schubert 1808, S. 337ff.

  Naturphilosophie Rhabdomantie (d.i. des Wasserfühlens).633 Erst die Interpretation, die dieses Gemeingefühl zum Widerschein einer anderen Welt in dieser macht, unterscheidet Schubert von Büchner. Auch die weiteren Momente der evolutionären Nerven- und Sinnestheorie, wonach dieser Prozess nicht durch äußere Einwirkungen verursacht wird, sondern in den ursprünglichen Formen als ein Ausdifferenzierungsprozess angelegt ist, wurde von der Forschung bislang nur durch positivistische Wortfeldidentitäten zu Carus nahegelegt,634 nicht aber systematisch herausgearbeitet. Die wohl wichtigste Gemeinsamkeit der büchnerschen Naturtheorie zu diesem metaphysischen Ansatz der Naturphilosophie besteht in der Annahme einer realen Geschichte der Natur, die allerdings nicht durch Realdeszendenz, sondern als präformierter Ausdifferenzierungsprozess in den ursprünglichen Formen idealiter angelegt ist. Wenn Schubert ausdrücklich – und in dieser These von Hegel, Schelling oder Oken kritisiert – festhält: Auch die uns umgebende Natur ist übrigens (selbst nach der heiligen Tradition) nicht auf einmal, sondern in verschiedenen Zeiten nach einander entstanden,635

dann stand Büchner zwar – wie gegenüber Cuvier – der Vermittlung zur »heiligen Tradition« ablehnend gegenüber, nicht aber dieser Vorstellung einer tatsächlichen Entwicklung der Natur. .... Humboldts und Goethes ›spekulativer Empirismus‹ Die systematisierende Skizze der philosophischen Naturforschung abschließend sei ein kurzer Blick auf zwei Sonderformen geworfen, die durch den ›spekulativen Empirismus‹ Goethes und Alexander von Humboldts ausgeprägt wurden. Unübersehbar ging es beiden Naturforschern – wie der naturphilosophischen Tradition zwischen 1790 und 1840 überhaupt – um die Formulierung von Regeln und Gesetzen zur Bestimmung der Natur als eines lebendigen Ganzen. Goethe mehr als Humboldt arbeitete für dieses Ziel zunehmend an Konzepten, die die Prozessstruktur der Natur erfassen können sollten. Über unterschiedliche Ansätze, die das Modell einer Urpflanze, in der sich das Allgemeine der Natur unmittelbar repräsentieren können sollte, verabschieden, gelangt Goethe schließlich zum Konzept der Metamorphose, das die Prozessstrukturen nicht allein einzelner Teilbereiche, sondern der ganzen Natur als deren Substanz beschreiben können soll.636 Trotz erheblicher begrifflicher

 633 Vgl. hierzu ebd., S. 336, wo er von magnetisiertem Wasser und einem »Gefühl für Metalle« spricht, wie Oberlin und Lenz in Büchners Erzählung. 634 Vgl. MBA VIII, S. 549. 635 Schubert 1967, S. 38; vgl. dazu auch Leipold 2009, S. 222f. 636 Vgl. hierzu Breidbach 2006 sowie Wellmann 2010, S. 151ff.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

Voraussetzungen der jeweiligen Konzepte nahmen beide Forscher für sich in Anspruch, streng empirisch, d. h. grundlegend beobachtungs- und anschauungsfundiert zu arbeiten.637 Dies führt bei Goethe zum einen zu einer Einschränkung des Wissensanspruchs auf eine Phänomenologie der Naturprozesse, die sich aller Erklärungen zu enthalten hat. Zum anderen musste Goethe eine in mehrfacher Hinsicht monströse Theorie der ›Anschauung‹ entwickeln, deren antinomische Kontur sich in der Befähigung der Wahrnehmung rationaler Strukturen und Relationen ebenso offenbart wie in der strengen Bindung an die eigene Person: letztlich ist es nur Goethes eigene Anschauung, die den von ihm entworfenen Kriterien zu entsprechen vermag.638 Schon Friedrich Gaede hat im Hinblick auf den für Goethe zentralen Begriff des Typus herausgearbeitet,639 dass Büchners begriffliche Bestimmung dieser Kategorie deshalb grundsätzlich anders ausfällt, weil Goethes »Typus« der Status einer begrifflichen Konstruktion zukomme, die einer unmittelbaren realen Präsenz entbehre, während Büchners Typus sich als einfachste, zugleich substanzielle Form tatsächlich auffinden, anatomisch analysieren und entwicklungsgeschichtlich interpretieren lasse. Anders als Goethe denkt Büchner zudem den Naturprozess keineswegs als Substanz, weil nur die Ursprungsformen substanziellen Charakter haben, gegenüber dem die Entwicklung akzidentiell bleibt. Er kann daher ein allgemeines Gesetz der Natur als »Urgesetz für die gesammte Organisation« formulieren, das sowohl deren Struktur als auch ihrem Prozess in formaler Hinsicht zugrunde liegt. Trotz vielerlei Anleihen im literarischen Zusammenhang bleibt die Distanz Büchners zu Goethe als Naturforscher grundsätzlich.640 Büchner hat sich keiner der hier skizzierten Formen der philosophisch begründeten Naturforschung, der er grundsätzlich selbst nachging, bedingungslos angeschlossen. In epistemologischer und methodologischer Hinsicht ist die Nähe zu den transzendentalen Formationen, insbesondere derjenigen Schmids und Fries’, unverkennbar, zumal auch nach Fries das Ökonomieprinzip in formaler Hinsicht Geltung beanspruchen kann. Darüber hinaus hält die transzendentale Konzeption an einer grundlegenden Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft gegen die monistischen Naturphilosophien fest, was auch für Büchner gilt. Hinsichtlich wichtiger allgemeiner Kategorien wie der Stufenfolge als ›Potenzenfolge der Natur‹, dem Organisationsbegriff und der Polaritätskonzeption, gibt es Anleihen bei der spekula 637 Zu Goethe Anschauungskonzept vgl. Breitbach 2006, S. 231–233 sowie Stiening 2011. 638 Es gehört zu den Problemen einer weitgehend affirmativen Goethe-Forschung, die mehrfachen Antinomien in dessen Anschauungsbegriff zu nivellieren. Vgl. hierzu aber Breidbach 2006, S. 307– 319. 639 Vgl. Gaede 1979, S. 46. 640 Zu Recht hält schon Roth 2004, S. 260 fest: »Indem die philosophische Ansicht [Büchners] das ›Urgesetz‹ als das der Schönheit definiert, tritt sie aus der Tradition Goethes heraus.«

  Naturphilosophie tiven Naturphilosophie Schellings, Okens und Wilbrands. Und im Zusammenhang der Prozess- und Evolutionsformen der Natur lassen sich überdeutliche Nähen zur metaphysischen Naturlehre Carus’ und Schuberts nachweisen. Es wird im Folgenden darum gehen, den Schein eklektizistischer Beliebigkeit durch eine systematische Rekonstruktion der empirischen Naturforschung Büchners sowie ihrer begrifflichen und kategorialen Voraussetzungen zu durchstoßen. Schon die nähere disziplingeschichtliche Verortung seiner Forschungen wird hier größere Klarheiten schaffen können. ... Disziplinäre Ausdifferenzierung der philosophischen Naturforschung Auch wenn alle Formen philosophisch fundierter Naturforschung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf das Ganze der Natur als lebendiger Einheit und damit auf alle denkbaren Felder der Naturwissenschaft und ihre diversen Zusammenhänge ausgerichtet sein mussten, gab es disziplinäre Schwerpunktbildungen, innerhalb derer das Paradigma in besonderer Weise ausgebildet werden konnte. Dazu zählten zunächst und zumeist Reflexionen zu einer allgemeinen Naturtheorie und den hiermit unmittelbar zusammenhängenden Fragen nach dem Verhältnis von Physik, Chemie und Biologie.641 Schellings »spekulative Physik« lieferte diesem grundlegenden und kontrovers ausgetragenen Diskussionsstrang die Vorgaben, die im Hinblick auf eine allgemeine Lebenswissenschaft mit einiger Verve ausgetragen wurden.642 Darüber hinaus standen seit 1815 erneut die schon seit den 1780er Jahren modischen Themen, wie der tierische Magnetismus und Formen der Psychologie und Psychopathologie, im Fokus der naturphilosophischen Debatten.643 .... Anatomia comparata Die stärker wissenschaftlich ausgerichteten Debattenstränge beschäftigten sich mit Fragen der natürlichen Entwicklungsgeschichte,644 und zwar im Hinblick auf ihre spezifischen Verlaufsformen, Verursachungen und Ausrichtungen. Um dem intendierten Wechselspiel von Spekulation und Erfahrung gerecht zu werden645 und damit die ebenso künstlichen wie um 1800 ungenügend werdenden Klassifikations-

 641 Vgl. hierzu die Arbeiten von Janzen 1994, Durner 1994 und Moiso 1994. 642 Vgl. hierzu Liedtke 2003, S. 154ff.; Stein 2004, S. 147ff. 643 Vgl. hierzu Barkhoff 1995, spez. S. 85–136. 644 Breidbach 1986 sowie von Engelhardt 1997 und Mischer 1997, S. 165–197. 645 Vgl. hierzu u. a. Wagner 1834/35, S. XIII: »Ein Irrthum aber ist es, wenn selbst Bessere glauben, daß die wahre Empirie blos aus der sinnlichen Anschauung hervorgehe, als ob der äußere Sinn nicht eben so gut die Wahrheit verfehlen könne, wie der innere. Eine richtige Vermittelung der sinnlichen Beobachtung und der reflektierenden, vergleichenden Forschung giebt erst eine wahre Erfahrung.«

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

systeme des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu überbieten,646 wird die vergleichende Anatomie als empirisches Pendant zu den zumeist rationalen Evolutionstheorien zielstrebig ausgebaut.647 Denn in dieser Disziplin, die von ihren Vertretern nachdrücklich von der allgemeinen Anatomie, die auf eine medizinische Praxis abzielte, unterschieden wird,648 sollen die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge einzelner Organe oder Organgruppen von den einfachsten bis zu den komplexesten Lebewesen morphologisch und funktional mit Hilfe anatomisch-empirischer Rekonstruktionen überprüft werden. Eine der präzisesten Definitionen seiner Disziplin liefert Johann Bernhard Wilbrand in seinem Handbuch der vergleichenden Anatomie, das ein Jahr nach Büchners Tod erscheint: Unter Anatomie versteht man die mechanische Zergliederung organischer Körper. […] Wenn man von der Anatomie schlechtweg spricht, so versteht man auch darunter nur die Anatomie des menschlichen Körpers, […]. Dehnt man die Erweiterung der anatomischen Kenntnisse auf den Bau der Körper des gesammten Thierreiches aus, und stellt hierbei Vergleichung des Baus der verschiedenen Thiere in der Art an, daß man die einzelnen Organe, wie sie in den verschiedenen Thieren sich darstellen, mit einander vergleicht: so wird diese Anatomie zur vergleichenden Anatomie.649

Indem die vergleichende Anatomie nach Wilbrand damit zu einer Voraussetzung der vergleichenden Physiologie wird,650 die recht eigentlich erst die funktionalen Zusammenhänge des lebenden Organismus zu bestimmen vermöge, wird die Disziplin zu einer der entscheidenden Austragungsorte für eine empirische Verifikation der rationalen Konstruktionen naturphilosophischer Begriffs- und Systembildung.651 Diesen systematischen und methodischen Zusammenhang zwischen naturphilosophischer Evolutionstheorie und vergleichender Anatomie als deren empirischer Verifikationsdisziplin konstatiert in den 1850er Jahren, also nach dem Ende der naturphilosophischen Konjunktur, der Philosophiehistoriker Johann Eduard Erdmann, wenn er schreibt:

 646 Vgl. hierzu auch Lepenies 1978, S. 61ff.; Lenoir 1982, S. 99–101; Diekmann 1992, S. 103–122; Breidbach 2006, S. 80–83. 647 Zum Folgenden vgl. Lubosch 1931, S. 17–37. 648 Das gilt auch und in besonderem Maße für Büchners Studien- und Forschungszeit; so unterscheidet sein Studienfreund Eugène Boeckel in einem Brief vom Januar 1837 präzise zwischen der »Anatomie simple et comparée«; P II, S. 4625f../MBA X.1, S. 1154f.. 649 Wilbrand 1838, S. 1f. 650 Vgl. ebd., S. 3: »Die vergleichende Anatomie führet zu einer gründlichern und klarern Physiologie, und dieses ist ihr Hauptzweck, – und der Hauptnutzen, den sie im Gebiete der wissenschaftlichen Naturkunde leistet.« Dieser funktionale Zusammenhang zwischen Anatomie und Physiologie geht auf Anregungen Schellings zurück; vgl. Bonsiepen 1997, S. 288. 651 Vgl. hierzu auch Wagner 1834/35, S. 1 sowie Lubosch 1931, S. 21ff.

  Naturphilosophie Das Interesse an dieser [d. i. der durch Döllinger inaugurierten Entwicklungsgeschichte], namentlich aber an der vergleichenden Anatomie konnte nicht gut auftreten, als wo die Ideen der Naturphilosophie mächtig waren, indem der Gedanke, welcher der ›Deutung der einzelnen Organe zu Grunde‹ liegt, selbst eine solche Idee ist. Alle die, welche heut zu Tage über die Arbeiten von Carl Gustav Carus wegen des poetischen Naturpantheismus spotten, der sie durchdringt, übersehen, daß es kein Zufall ist, wenn gerade er einer der Ersten ist, welche vergleichende Anatomie gelehrt haben; alle die, welche Meckel’s Durchgangstheorie nur als Verirrung ansehn, bedenken nicht, daß ohne den Gedanken der ihr zu Grunde liegt, (der freilich in ihr mißverstanden ist) die vergleichende Anatomie höchstens Notizen geben aber keine Wissenschaft bilden würde.652

Zwar gab es namhafte Versuche zur vergleichenden Anatomie schon auf der naturgeschichtlichen Grundlage des 18. Jahrhunderts, sodass sich selbst so unterschiedliche Theoretiker wie La Mettrie und Rousseau große Erkenntnisfortschritte der Naturforschung von dieser Disziplin erhofften.653 Blumenbach bündelte und systematisierte diese naturgeschichtlich fundierten Formen der anatomia comparata gegen Ende des Jahrhunderts; seit 1777 hielt er schnell berühmt werdende Vorlesungen zu diesem Thema in Göttingen.654 Die methodische und systematische Begründung der Disziplin durch den Göttinger Naturforscher verblieb jedoch im Rahmen künstlicher Klassifikationssysteme, deren rein heuristischer Status in der Einleitung zum Handbuch der vergleichenden Anatomie von 1805 ausdrücklich festgeschrieben wird.655 Cuvier zeigte seit den 1790er Jahren zudem, dass diese Form klassifikatorisch ausgerichteter anatomia comparata bei leichten Modifikationen zu erheblichen Erfolgen auf empirischem Felde führen konnte.656 Dennoch erbrachte erst die philosophische Fundierung der Naturforschung um 1800, speziell das Interesse an einem Rekonstruktionsmodell der Natur als einer in sich differenzierten Einheit, die als ideelle oder reelle Entwicklungsgeschichte zu denken war, eine völlig neue Grundlage der vergleichenden Anatomie und damit der Disziplin eine ungeahnte Konjunktur.657 Wenn Blumenbach noch 1805 festhält, dass sein Handbuch neben den bedeutenden Publikationen Cuviers die erste deutschsprachige Buchveröffentlichung zur vergleichenden Anatomie darstellt,658 dann kann Carl Gustav Carus in der Einleitung zur zweiten Auflage seines Lehrbuchs für vergleichende Zootomie aus dem Jahre 1834 schon auf eine stattliche Anzahl neuer Publikationen verweisen.659 Auch eine Reihe methodologischer Abhandlun 652 Erdmann 1931, VII, S. 232f. 653 Vgl. La Mettrie 1990, S. 42/43 sowie Rousseau 31993, S. 76/77. 654 Vgl. die Angaben in Blumenbach 1805, S. VI. 655 Ebd., S. XI; vgl. hierzu auch Lubosch 1931, S. 30. 656 Vgl. ebd., S. 19 sowie Geus 32004, S. 325–331. 657 Zu dieser Konjunktur vgl. Regenspurger u. van Zantwijk 2005, S. 27f. 658 Blumenbach 1805, S. VII. 659 Carus 21834, I, S. XV– XXXII: »Allgemeine Uebersicht der Literatur für vergleichende Zootomie«.

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gen zur Wissenschaftstheorie und Methodik der vergleichenden Anatomie waren zu verzeichnen.660 In einer der einflussreichsten dieser Programmschriften, in Ignaz Döllingers Ueber den Werth und die Bedeutung der vergleichenden Anatomie, wird nicht nur die These vertreten, die vergleichende Anatomie sei unstreitig »unter allen Zweigen der Naturlehre bey weitem der bedeutungsvollste, gehaltreichste«, sondern diese These wird auch mit einer naturphilosophischen Begründung versehen: Die Aufgabe der Zootomie ist, den Bau der Thiere zu entwickeln, und in demselben die Natur des Lebensprozesses nachzuweisen; durch letzteres erhält die Zootomie das Gepräge einer Wissenschaft, weil die Idee des Lebens den zahllosen einzelnen Wahrnehmungen Zusammenhang verschaffen kann, und es zuläßt, daß das Zufällige als nothwendig erkannt werde. Damit wird das Vergleichen des Zootomen Geschäft; er soll Thatsachen zusammenstellen, und untersuchen, worin sie sich ähnlich und worin sie sich unähnlich sind, er soll sie mit der Idee des Lebens zusammenhalten, und erforschen, wie sich das eine und selbe durch eine Reihe von Metamorphosen durchbilde, er soll den Grundtypus des Thierkörpers und eines jeden Organs durch Abstraction festsetzen, und die Gesetze der vielseitigen Abweichungen vom Grundtypus aufsuchen. Durch diese Bemühungen wird die Zootomie zur vergleichenden Anatomie.661

Damit ist das methodische und systematische Programm der büchnerschen Dissertation auf den Begriff gebracht. Doch gab es im Rahmen dieser allgemeinen Konzeption der Disziplin sowohl thematische Schwerpunkte als auch erhebliche methodische Differenzen. So betonte Blumenbach im Jahre 1805 im Hinblick auf die Organgruppe Vom Gehirne und dem Nervensystem überhaupt: In keiner andern Classe von Functionen der thierischen Oekonomie ist eine so reine einleuchtende Stufenfolge vom einfachsten Bau zum zusammengesetzten bemerklich, als in der, zu welcher wir jetzt übergehen [d. i. Gehirn und Nervensystem], die den Hauptcharakter der Animalität bestimmt.662

Deutlich wird hiermit jene strenge Einbettung neurologischer Fragen in die übergeordnete Perspektive der anatomia comparata, die noch und in besonderem Maße für Büchners Fragestellung gilt.663 Trotz dieser herausgehobenen Stellung der Neurologie für eine vergleichende Zootomie, die schon Blumenbach betonte, muss Rudolph Wagner noch 30 Jahre später und damit just zum Zeitpunkt der büchnerschen Suche nach einem Promotionsthema feststellen: Am unvollständigsten werden Nervensystem und Sinnesorgane bleiben müssen; hier kann das nothwendige, schwierige und zeitraubende Detail nur langsam der Vollendung näher gebracht

 660 Vgl. hierzu insbesondere Doellinger 1814; Carus 1826 u. Carus 1828. 661 Doellinger 1814, S. 25f. u. S. 17f.; vgl. hierzu auch Gerabek 1995, S. 331ff. 662 Blumenbach 1805, S. 291. 663 Insofern ist der Versuch der MBA (VIII, S. 261–279), Büchners Arbeit ausschließlich in die Geschichte der empirischen Neurologie einzuschreiben, wissenschaftstheoriegeschichtlich schlicht falsch; zutreffend dazu Hagner 2013, S. 329.

  Naturphilosophie werden; so dankenswerth auch die Arbeiten zahlreicher Beobachter, wie namentlich die von Carus, Tiedemann, Serres, Treviranuis, E. H. Weber u. a. sind.664

Büchner wagt sich mit seinem Thema zur Neurologie der Fische also auf ein Teilgebiet der vergleichenden Anatomie, das als noch wenig erarbeitet gilt; nicht nur die terminologischen Unklarheiten auf diesem Felde,665 auch die technischen Voraussetzungen zum Sezieren dieses Organbereiches bewirkten jenen defizitären Zustand der komparativen Neurologie in den 1830er Jahren, den Wagner beklagt. Darüber hinaus gilt zwar der lückenlose Zusammenhang der Natur auch im Hinblick auf die in der vergleichenden Anatomie zu rekonstruierenden Organgruppen als wirksame Prämisse naturphilosophisch begründeter, disziplinärer Systematik. Dennoch kann methodisch der Ausgang einer Darstellung entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge entweder von höher entwickelten Organformen genommen werden, um aus diesen die niederen, einfacheren Erscheinungen zu rekonstruieren. Oder aber der Nachweis des natürlichen Zusammenhangs der unterschiedlichen Naturstufen erfolgt ausgehend von den einfachsten Formen, aus denen die komplexeren in einer Rekonstruktion des Ausdifferenzierungsprozesses entwickelt werden.666 Die erstere Methodik, den Ausgang bei der Komplexitätsspitze, bevorzugten Goethe und Oken. Der Jenaer Naturphilosoph konnte daher die These, die zugleich als Maxime der komparativen Anatomie dienen konnte, formulieren: »Was ist das Theirreich anders als der anatomirte Mensch, das Makrozoon des Mikrozoon?«667 Büchner dagegen suchte, wie Doellinger oder der frühe Lamarck,668 nach den einfachsten Erscheinungen von Organgruppen, um an ihnen den substanziellen Ursprung einer Entwicklungsreihe darstellen zu können, aus dem sich die höheren Stufen als »Modificationen in einer höheren Potenz«669 entfalten. Es ist diese grundlegend methodische Differenz zu Oken, die der Habilitand noch in der Probevorlesung vortragen wird:

 664 Wagner 1834/35, S. Xf. 665 Vgl. hierzu zu Recht MBA VIII, S. 259f. 666 Vgl. hierzu Breidbach 1982, S. 50ff.; Breidbach 2006, S. 181ff. 667 Oken 2007, I, S. 19; vgl. hierzu die exzellente Studie von Bach 2001a, S. 79–84. 668 Vgl. hierzu Lamarck 2002, S. 45: »Ich unterließ es umso weniger, mich mit dieser Untersuchung zu beschäftigen, als ich damals überzeugt war, daß man einzig und allein bei den einfachsten Organismen Mittel und Wege finden könne, um der Lösung eines scheinbar so schwierigen Problems zu gelangen, da nur ein solcher alle zur Existenz des Lebens nötigen Bedingungen darbieten könnte.« 669 MBA VIII, S. 15922.

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Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickelsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen. Die einfachsten Formen leiten immer am Sichersten, weil in ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt. 670

Im Hintergrund steht auch hier die Vorstellung jenes allgemeinen Entwicklungsmodells, das Büchner seiner Arbeit zugrunde legte und in den Nerven- und Sinnestheorien671 entwickelte. Diese Variante der Evolutionstheorie ist auch an einer der naturphilosophischen Grundthesen seines Ansatzes ablesbar: der Wirbeltheorie des Schädels. .... Büchners Variante der Wirbeltheorie des Schädels Dass Büchner die von Oken, Goethe, Carus oder Meckel prominent vertretene, so genannte Wirbeltheorie des Schädels seiner naturwissenschaftlichen Arbeit zugrunde legte, hat die Forschung der letzten Jahre mehrfach herausgearbeitet;672 Büchners positiver Bezug auf diese Theorie und ihre Anwendung auf seine neurologische Frage ist auch nicht zu übersehen: Da man aber gesagt hatte: der Schädel ist eine Wirbelsäule, so mußte man auch sagen das Hirn ist ein metamorphotisirtes Rückenmark und die Hirnnerven sind Spinalnerven.673

Büchner wendet mithin zunächst thetisch ein in der vergleichenden Osteologie entworfenes Modell der Entwicklungsgeschichte auf seine evolutionäre Neurologie an. Das osteologische Modell besagt,674 dass die Schädelknochen entwicklungsgeschichtlich aus den Wirbeln des Rückgrades entstanden seien und dies an einer spezifischen Aufteilung des Schädels in Segmente nachzuvollziehen sei. Doch wie schon die vergleichende Anatomie Cuviers keineswegs mit der anatomia comparata Okens, Carus’ oder Wagners zu identifizieren ist,675 so firmierten unter dem Forschungsprogramm Wirbeltheorie des Schädels aufgrund der Unterschiede in allgemeiner Natur- und besonderer Evolutionstheorie höchst divergierende Varianten.676 Im Hinblick auf Büchners Vorstellung von »den Schädelwirbeln«677 sind diese grundlegenden Unterschiede von der neueren Forschung aber nicht berücksichtigt

 670 Vgl. hierzu ebd., S. 15936–39. 671 Vgl. hierzu ebd., S. 15913–25. 672 Vgl. Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 307–335, spez. S. 333ff.; MBA VIII, S. 379–390. 673 Ebd., S. 1573–5. 674 Zum Folgenden vgl. Starck 1980, S. 47f.; Mann 1992, passim; Junker 32004, S. 371ff.; Jahn 32004, S. 290f. sowie Breidbach 2006, S. 59. 675 So zu Recht Lubosch 1931, S. 18ff. 676 Vgl. hierzu Mann 1992 sowie in Bezug auf Oken und Goethe Breidbach 2006, S. 59. 677 MBA VIII, S. 511.

  Naturphilosophie worden.678 Dabei hatte schon Friedrich Gaede darauf hingewiesen,679 dass Büchner jene Wirbeltheorie als Moment seiner allgemeinen Entwicklungstheorie begreift, nach der aus ursprünglichen einfachen Formen, die als Substanzen dem Prozess ihrer Ausdifferenzierung zugrunde liegen, die höheren Formen entstehen. Die Wirbeltheorie des Schädels ist insofern ein Realisationsbereich dieser allgemeinen Entwicklungstheorie, weil hier die Schädelknochen als Ausdifferenzierungen der Rückgradwirbel, das Hirn als »metamorphorisirtes Rückenmark« interpretiert werden. Empirisch wird der Nachweis dieser Thesen durch eine Analyse der Anzahl und Anordnung bestimmter Knochenteile des Schädels bzw. des Ursprungs der Hirnnerven in den Spinalnerven des Rückenmarks erbracht. Doch nicht wegen der Anzahl der angenommenen Schädelwirbel, die – das macht Johannes Müller in seiner Rezension deutlich680 – relativ kontingent ist,681 sondern wegen des in dieser Theorie verwirklichten Entwicklungsmodells steht Büchner bestimmten Varianten der Wirbelschädeltheorie näher als anderen. Das vorausgesetzte Evolutionsmodell und damit Büchners Variante der Wirbeltheorie unterscheidet sich nämlich grundlegend von anderen Erklärungen namhafter Naturforscher, die diese seit Okens Antrittsvorlesung 1807 spektakuläre Theorie übernahmen und weiterentwickelten: Von der Konzeption Goethes, der sich bekanntermaßen jahrelang mit Oken in einem Streit über die Entdeckung dieser These befand,682 unterscheidet sich Büchners Vorstellung deshalb, weil für den Weimarer Naturforscher die einfacheren Formen keineswegs substanziellen Charakter hatten; vielmehr bestimmt nach Goethe einzig die Form des Prozesses die Zusammenhänge der Natur und damit den konkreteren Sachverhalt, dass »sämtliche Schädelknochen […] aus verwandelten Wirbelknochen entstanden« seien.683 Deshalb fundiert nach Goethe ausschließlich das Metamorphosentheorem eine vergleichende Naturlehre684 und nicht etwa die Substanzialität der einfachen Formen.

 678 Vgl. Müller-Sievers 2003, S. 61ff.; Roth 2004, S. 333–335 sowie MBA VIII, S. 379–390, die in einer ununterschiedenen Menge von Referenztexten zur Wirbeltheorie des Schädels Büchners spezifische Position aus den Augen verlieren, einzig eine Nähe zu Carus – allerdings nur aufgrund empirischer Einzelanalysen – wird von MBA VIII, S. 285ff. konstatiert. 679 Vgl. Gaede 1979, S. 45f. 680 Vgl. MBA VIII, S. 598–601. 681 Auf die Frage, wie viele Wirbel für den Schädel angenommen werden, gründen Roth 2004, S. 321ff. sowie MBA VIII, S. 285ff. ihre Thesen von der Quellenabhängigkeit Büchners von Carus; der Positivismus dieser Nachweisform verhindert hier jedoch eine angemessene wissenschaftstheoriegeschichtliche Kontextualisierung der büchnerschen Konzeption. 682 Vgl. die bezüglich einer Rekonstruktion dieser Kontroverse nüchternste Darstellung bei Roth 2004, S. 308ff.; siehe auch Richards 2002, S. 491ff. 683 Vgl. Goethe 1988, XIII, S. 169ff.; dazu Mann 1992, S. 61. 684 Breidbach 2006, S. 59.

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Auch von der Variante, die Johann Friedrich Meckel im Anschluss an Oken vertrat, unterscheidet sich Büchners Modell in signifikanter Weise.685 Denn für Meckel ergeben sich die Zusammenhänge zwischen Wirbelknochen und Schädel als Analogiebildungen. Grundsätzlich konstituierten sich für Meckel die Zusammenhänge der von ihm verglichenen Organismen als Realisationen einer übergreifenden Analogie aller Naturformen, deren begrifflichen Gehalt er – trotz seiner prätendierten und z. T. auch erzielten Nähe zu Cuvier – von Geoffroy Saint-Hilaire übernahm, aber in ihrer Geltung erheblich ausweitete.686 Zwar bediente sich – wie gezeigt – auch Büchner der Analogie, allerdings in einem im Status eingeschränkten Maße. Denn er sieht zwischen Wirbelknochen und Schädel sowie zwischen Rückenmark und Gehirn vor allem einen realgenetischen Zusammenhang zwischen Urformen und Ausdifferenzierungen; eine Entwicklungsform, der Meckel weitgehend ablehnend gegenüberstand.687 Wie im Zusammenhang der allgemeinen Entwicklungstheorie der naturphilosophischen Grundlagenprogramme rekonstruiert, steht Büchner im Zusammenhang der Wirbeltheorie des Schädels und damit im Rahmen der Wirbeltheorie einzig Oken, Carus oder Wilbrand nahe, die in ähnlicher Form den Ursprungsformen Substanzialität zuschrieben. So heißt es in Okens berühmter Jenaer Antrittsvorlesung: Das Skelet ist nur ein aufgewachsenes, verzweigtes, wiederhohltes Wirbelbein; und ein Wirbelbein ist der präformirte Keim des Skelets. […] Das Hirn ist das zu kräftigern Organen voluminöser entwickelte Rückenmark, so die Hirnschale die voluminösere Rückensäule.688

Wie für Carus, Wilbrand und Büchner sind auch für Oken die Ursachen jener Entwicklung in den Ursprungsformen enthalten;689 anders aber als die präformationistischen Evolutionsmodelle Carus’ und Okens, besteht der zureichende Grund für das Enthaltensein der Entwicklung, ihrer Momente und der Qualität ihres Telos in den substanziellen Formen nach Büchner und Wilbrand nicht in einer Gottesinstanz. Weder teilt Büchner Okens naturalen Kreationismus690 noch entspricht seine Naturtheorie des Dresdener Romantikers transzendenter Begründungtheorie für eine allgemeine Naturphilosophie; beidem steht er deutlich ablehnend gegenüber. Es wird sich vielmehr zeigen, dass Büchners Präformationismus im Rahmen einer im-

 685 Vgl. zum Folgenden Meckel 1812. 686 Vgl. hierzu Göbbel u. Schultka 2002, S. 321. 687 Ebd., S. 320ff. 688 Oken 2007, I, S. 370; zu Okens Schädelwirbeltheorie vgl. auch Breidbach 2001a, S. 16. 689 Vgl. hierzu die an Büchner erinnernde Formulierung zu Okens Entwicklungstheorie bei Breidbach 2001a, S. 18: »Die Entwicklung ist eine Ontogenese, ein Erwachsen der Natur zu der ihr eigenen Form, die sich am Ende dieses Reifungsprozesses im Menschen konstituiert.« 690 Vgl. Oken 2007, II, S. 45: »Die Natur ist aus dem Nichts entstanden, mit ihr die Zeit und der Raum, oder mit diesen ist auch die Natur gewesen. Himmel und Erde hat Gott aus Nichts gemacht.«

  Naturphilosophie manenten Konstruktion entfaltet wird, die der Natur selbst die Funktion der causa prima zuschreiben kann. ... Prägende Einflüsse? Wie schon nach der Rekonstruktion der allgemeinen Naturtheorie sowie der Betrachtung des Feldes der vergleichenden Anatomie fragt sich nach dieser Skizze zur Wirbeltheorie des Schädels erneut: Welcher Theorieeinfluss, welcher Naturphilosoph prägte nun die Naturwissenschaft Georg Büchners am nachhaltigsten? Ist er einer bestimmten Schule oder Fraktion der philosophischen Naturforschung zuzuschreiben? Die ältere und selbst Teile der neueren Forschung scheinen sich über diese Frage einig zu sein, man spricht von einer entscheidenden Prägung durch Lorenz Oken: Denn von keinem hatte er philosophisch mehr für seine Forschung gelernt als von Oken.691

Das kann aber sicher nicht gelten für Okens Schöpfungsverständnis sowie dessen eigentümlichen mathematischen Universalismus.692 Darüber hinaus unterscheidet sich Büchners Epistemologie und Methodologie insofern von der Okens, als er eine begrifflich uneinholbare Eigenständigkeit der unmittelbaren Wahrnehmung postuliert, die in Okens spekulativem Ansatz – trotz relativer Autonomie der Erfahrung – keinen Platz hatte. Zudem wirkt der von Büchner in der Probevorlesung auch ausgeführte methodische Unterschied zwischen einem Ausgang der vergleichend anatomischen Analyse beim komplexen Allgemeinen (Oken) oder beim einfachen Besonderen (Büchner) trennend. Dennoch bleibt Büchners Nähe zu Oken in Fragen der Evolutionsbiologie. Auch von Carl Gustav Carus, von dem er eine Reihe begrifflicher und empirischer Einzelheiten insbesondere hinsichtlich der Wirbeltheorie des Schädels übernimmt,693 trennt Büchner dessen metaphysischer Dualismus, mithin die Annahme, die Naturformen seien Ausprägungen transzendenter, präexistenter Ideenkomplexe; Büchners Naturmodell bleibt – trotz metaphysischer Fundierungen – immanent und lässt sich mit Carus’ epistemologischem und ontologischem Platonismus nicht vermitteln. Johann Friedrich Meckel d. J., von dem Büchner vielfältige Anregungen im Hinblick auf eine spezielle Methodologie der anatomia comparata sowie eine Vielzahl  691 Viëtor 1949, S. 225; zur These einer entscheidenden Prägung durch Oken vgl. auch Strohl 1936, S. 54ff.; Golz 1964, S. 68; Döhner 1967, S. 73f.; Roth 2002, passim; Roth 2004, S. 339ff. u. S. 359ff.; MBA VIII, S. 217–219; kritisch dazu P II, S. 894. 692 Vgl. hierzu Neuser 2001. 693 Vgl. MBA VIII, S. 16–27, S. 82–85 u. S. 90–95; Roth 2004, S. 330ff. u. S. 360ff.; beide Forschungstexte referieren nicht auf Carus’ Metaphysik und verpassen daher eine angemessen differenzierte Betrachtung der Verhältnisses Büchners zu Carus.

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anatomischer Einzelkenntnisse übernimmt,694 erweist sich begründungtheoretisch als zu unpräzise, als dass Büchner von diesem ›deutschen Cuvier‹695 entscheidende systematische Anregungen erhalten haben könnte. Dem Meckel-Serres-Gesetz steht Büchner zudem aus methodischen Gründen skeptisch gegenüber. Johannes Müllers Naturforschungen, die sich in den 1830er Jahren unter dem Einfluss einiger Schüler erst allmählich zu einer methodischen Einschränkung des wissenschaftlichen Erklärungsanspruches auf eine analytische Naturwissenschaft bereit finden,696 kommen in den Texten Büchners nur am Rande vor,697 er kennt Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen und weiß um die institutionelle, nicht aber die wissenschaftstheoretische Stellung von Autor und Standardwerk.698 Dennoch dürfte es vor allem der evolutionstheoretische Hegelianismus Müllers gewesen sein, dessen Entwicklungsbegriff seinen Ausgang beim Allgemeinen nimmt, um aus der ihm immanenten Spannung zum Besonderen die einzelnen Stufen der Natur zu entfalten, der Büchner zurückgestoßen hat. Im Rahmen einer neurologischen Studie aus dem Jahre 1828 hält Müller aber unmissverständlich fest: So entwickelt sich das Nervensystem (actu) durch Vereinzelung der in dem Ganzen ruhig und unvereinzelt (potentia) enthaltenen Momente. Dies ist überall der wahre physiologische Begriff der Entwickelung, der in der ganzen Natur, in den thierischen und geistigen Energien, in der Erzeugung der Organismen, wie in der Erzeugung der Gedanken, sich gleichbleibend erscheint.699

Deshalb auch schreibt Müller eine »Physiologie des Menschen«, um von diesem differenziertesten Standpunkt aus eine vergleichende Physiologie und Evolutionstheorie zu entwickeln. Büchners methodischer Ausgangspunkt liegt – bei gleichem Ziel einer umfassenden Physiologie – auf der entgegengesetzten Seite der scala naturae: bei den einfachsten Formen und Erscheinungen einer Entwicklungsreihe. Vor allem aber entwickelt Müller in den 1830er Jahren – also parallel zu Büchners vergleichend-neurologischen Arbeiten – eine »Physik der Nerven«,700 die auf experimenteller Basis die Bestimmtheiten der Nerven durch den Nachweis ihrer »physikalisch-chemischen Grundfunktionen« eruiert.701 Eine entwicklungsgeschichtliche  694 Vgl. MBA VIII, S. 90–99. 695 Vgl. hierzu und zur problematischen Anbindung Meckels an die Cuvier-Schule: Göbbel u. Schultka 2002. 696 Vgl. hierzu u. a. Gregory 1992; von Engelhardt 1992 und Breidbach 2005. 697 Insofern ist die unbegründete These von Arz (1996, S. 79f.), Müllers Werk sei für Büchner »zentral« gewesen, erheblich zu modifizieren. 698 Zum methodischen und systematischen Innovationsgehalt des müllerschen Handbuchs der Physiologie des Menschen für die 1830er Jahre vgl. Breidbach 2005; zu Büchners Kenntnis dieses Standardwerkes vgl. Roth 2004, S. 247 sowie MBA VIII, S. 506ff. 699 Müller 1828, S. 16. 700 Vgl. Müller 1834, I, S. 597ff. 701 Breidbach 2005, S. 16.

  Naturphilosophie Standortzuweisung zum Behuf der funktionalen Qualifizierung der einzelnen Nerven, wie Büchner dies unternahm, ist damit überflüssig. Obwohl also Müller und Büchner nicht nur in der Kritik an einer falschen Naturphilosophie, die Müller schon 1826 und 1830 vortrug,702 sondern auch bei der Bestimmung jeder natürlichen Erscheinung als Selbstzweck übereinstimmen,703 bleiben die Differenzen zwischen dem in Zürich promoviert und habilitiert werdenden Büchner und dem seit 1833 auf den Weg in die analytische Naturwissenschaft sich bewegenden Müller grundsätzlicher Natur. Von einer ausschließlichen Prägung durch eine bestimmte Schule kann im Hinblick auf Büchners Naturwissenschaft mithin keine Rede sein, schon gar nicht im Hinblick auf die neuerdings wieder stark gemachte Anbindung an die CuvierSchule.704 Epistemologisch und methodologisch steht er vor allem der Fries-Schule nahe, naturtheoretisch der Schelling-Schule und evolutionstheoretisch den Modellen Carus’ und Wilbrands. Büchner bemüht sich mithin um eine eigenständige Kontur seiner Forschung in wissenschaftstheoretischer und systematischer Hinsicht. Auch aufgrund dieser relativen Eigenständigkeit in Grundlegungsfragen sah Oken für ihn eine glänzende Zukunft als Naturforscher voraus.705 Im Hinblick auf die spezifisch zoologisch-neurologischen Wissensvoraussetzungen bediente sich Büchner der Arbeiten Carl Moritz Gottsches über das Gehirn der Grätenfische, der die terminologische Vielfalt der Nervenbenennungen vereinheitlichte, Ludwig Wilhelm Theodor Bischoffs Dissertation über die ›Anatomie und Physiologie des Nervus accesorius Wilisii‹, Heinrich Rathkes Arbeit über den Kiemenapparat und das Zungenbein der Wirbelthiere und Carl Gustav Carus’ entwicklungsgeschichtlicher Studie über die Ur-Theile des Knochen- und Schalengerüstes.706 Steht Carus’ Abhandlung explizit im Zusammenhang der Wirbeltheorie des Schädels,707 so changieren die anderen Studien in ihren beschreibend-empirischen Ausrichtungen zwischen naturphilosophischen Versatzstücken, methodisch unreflektierten Deskriptionen anatomischer Befunde und systematischer Beliebigkeit.708 Selbst ein erklärter Gegner naturphilosophischer Systembildungen wie Martin Heinrich Rathke,709 gleichwohl von Johannes Müller schon 1830 hoch gelobt,710 teilt die

 702 Vgl. Müller 1826, S. 9–15 und Müller 1830, S. VIIIff. 703 Zum Nachweis dieser Nähe zu Müller vgl. Roth 2004, S. 247ff. u. S. 386ff., der die eher spekulativen Assoziationen Döhners (1967, S. 142) philologisch manifestiert. 704 Vgl. P II, S. 880 u. S. 892 sowie MBA VIII, S. 192–194, S. 252 u. ö. 705 Vgl. erneut Johann Jakob Tschudi, zitiert nach Hauschild 1985, S. 392. 706 Vgl. Gottsche 1835; Bischoff 1832; Rathke 1832 sowie Carus 1828a. 707 Vgl. hierzu Mann 1992, S. 67f. sowie Roth 2004, S. 325ff. 708 Zu Bischoffs frühen Ausflügen in die hernach bekämpfte Naturphilosophie vgl. Giese 2007, S. 198. 709 Zu Rathke vgl. Menz 2000, spez. S. 34–73. 710 Vgl. Müller 1830, S. 2f.

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naturphilosophische Maxime Büchners, den Ausgang anatomischer Untersuchungen in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht beim Einfachen, den ursprünglichen Formen zu machen, ohne allerdings auf die begründungtheoretischen Dimensionen dieser spezifischen Evolutionskonzeption zu reflektieren: Stellen wir uns nun aber den Vorsatz, den Gesetzen nachzuforschen, die der thierischen Schöpfung zum Grunde liegen, so werden wir nicht lediglich nur die schon völlig ausgebildeten Thiere in’s Auge fassen müssen, sondern wir werden unsere Aufmerksamkeit auch den noch in der Bildung begriffenen zuwenden müssen. Denn ein Organ oder System, das uns bei einem schon ausgebildeten Thiere durch seine Zusammensetzung oder durch seine ganz ungewöhnliche Form, mitunter verwirrt, wird uns in allen seinen Verhältnisses und Beziehungen nicht selten verständlich, wenn wir gehörig dessen Entwickelung verfolgen, wenn wir es also von einem Einfachen sich allmählich in ein Zusammengesetztes umwandeln sehen.711

Dieses Postulat stellten auch Oken, Carus oder Wilbrand auf; anders als Rathke konnten sie es jedoch systematisch begründen. Rathkes prätendierte Pragmatik erweist sich bei näherem Zusehen jedoch als schlichter Begründungsmangel.712 Es lässt sich mithin vor dem Hintergrund der hier aufgeführten wichtigsten Theoriekonzepte einer allgemeinen und entwicklungsgeschichtlichen Naturforschung zwischen 1800 und 1840 keine Wissenschaftstheorie ausmachen, der Büchners Form der Naturforschung uneingeschränkt zuzuordnen wäre.713 Die Konzeption  711 Rathke 1832, S. IVf. 712 Zu den Dimensionen des Verzichts auf Erklärung beim Übergang von der Naturphilosophie zur analytischen Naturwissenschaft um 1840 siehe auch Breidbach 1988, S. 21ff. 713 Nur anmerkungsweise sei einer empiristischen Konzeption der zeitgenössischen Neurologie gedacht, weil sie von der MBA (VIII, S. 247ff., S. 252–254, S. 506–509 u. ö.; auf deren Grundlage Beise 2010, S. 92) zum entscheidenden Grundlagenmodell für Büchners Arbeiten erhoben wurde. So soll Büchner ausgerechnet den »Schlußsatz des Mémoire«, also seine Variante eines allgemeinen Naturgesetzes, »mit Bezug auf« Charles Bells Physiologische und pathologische Untersuchungen des Nervensystems (vgl. Bell 1836) formuliert haben (MBA VIII, S. 247). Einmal mehr war auch hier der Wunsch (nach einem empiristischen Büchner) der Vater des Gedankens. Denn Bell enthält sich als strenger Empirist und Empiriker der Neuroanatomie jeglicher Spekulationen über die Natur als Ganzes – genau das aber ist ein Zweck der Naturforschung nach Büchner. Bell seziert und analysiert darüber hinaus den neuronalen Apparat des menschlichen Körpers (vgl. Bell 1836, S. XI–XVI), um, auch mit Hilfe einzelner Experimente, dessen in sich hochdifferenzierte Wirkweisen nomologisch (Bell-Magendie-Gesetz) zu erfassen. Bell spricht ausdrücklich davon, dass diese analytischanatomischen Arbeiten auf praktische Zwecke, nämlich medizinische Therapien ausgerichtet seien (ebd., S. XVIIf.). Büchner hält den Ansatz beim menschlichen Nervensystem deshalb für verfehlt, weil der Forschungsstand der allgemeinen und vergleichenden Neuroanatomie und -physiologie noch viel zu dürftig sei, um diese komplexe Form zu erfassen, sodass er die anatomische Arbeit in neuronalem Zusammenhang auf Lebewesen niedrigerer Stufe für wichtiger hält – u. a. deshalb befasst er sich mit der Barbe. Büchner betreibt diese Forschungen auch nicht zu praktischmedizinischen Zwecken, sondern zur Ausgestaltung einer natürlichen Entwicklungs- bzw. Evolutionstheorie. Letztlich sei noch darauf hingewiesen, dass der philosophisch unbedarfte Bell – wie Liebig – an der Kategorie der »Lebenskraft« festhielt (vgl. ebd., S. 6), von der sich Büchner mit

  Naturphilosophie analytischer Realgenese seines Evolutionsmodells bringt ihn in die Nähe Okens und Carusʼ, auch wenn er – wie Wilbrand – die Begründungsinstanz dieser präformationistischen Konzeption nicht übernimmt; seine dualistische Epistemologie und Methodologie verbindet ihn mit Schmid und Fries, seine allgemeine Naturtheorie aber mit Schelling. Zu einem näheren Aufschluss über Büchners Naturforschung erweist es sich daher als erforderlich, eine systematische Rekonstruktion seiner Naturforschungen anzuschließen.

.. Zur Systematik der büchnerschen Naturphilosophie und -wissenschaft ... Die nomologische Einheit der Natur Die formative Grundlage der Naturforschung Büchners besteht in der axiomatischen Annahme der Geltung eines einzigen Gesetzes für die gesamte Natur;714 sowohl im Mémoire als auch in der Probevorlesung kommt Büchner explizit auf dieses Gesetz zu sprechen: La nature est grande et riche, non parce qu’à chaque instant elle crée arbitrairement des organes nouveaux pour de nouvelles fonctions; mais parce qu’elle produit, d’après le plan le plus simple, les formes les plus élevées et les plus pures.715 Diese Frage [der philosophischen Methode], die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesammte Organisation finden, und so wird […] das ganze körperliche Dasein des Individuums […] die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.716

Für eine angemessene Rekonstruktion der büchnerschen Naturforschung und ihrer Stellung im Tableau der Naturwissenschaften der 1830er Jahre ist es unerlässlich, dieses Gesetz in seinem Gehalt, seinem Status und damit in seiner Stellung im systematischen Gesamtgefüge der philosophischen Naturwissenschaft zu bestimmen.717 Denn Büchner stellt an diesen zentralen Passagen seiner Argumentation keineswegs einen nur topischen Bezug718 zu dem aus der philosophischen Tradition bekannten und bei Kant und Fries zu einem Prinzip der Natur bzw. der Naturforschung inthro Schelling und Wilbrand längst verabschiedet hatte. Kurz: Auch Bell ist für Büchners Naturphilosophie kein Kategorienlieferant, und zwar gerade weil er deskriptiver Empirist ist. 714 Dass diese Suche nach dem einen grundlegenden Gesetz zu den wichtigsten Prinzipien romantischer Naturforschung zählte, zeigt Höppner 2017, S. 90ff. 715 MBA VIII, S. 10037–41. 716 Ebd., S. 1551–7. 717 Vgl. hierzu in ersten Ansätzen die Studie von Reddick 1990, S. 327 sowie Stiening 1999, S. 103ff. und Roth 2004, S. 256–266. 718 So aber MBA VIII, S. 537, in der entstellenden Absicht, durch Geltungsentschärfung dieses Gesetzes Büchner in die Tradition der empiristischen Naturforschung einzuschreiben.

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nisierten Ökonomieprinzip her.719 Die »Sparsamkeit der Grundursachen« bei einer »Mannigfaltigkeit der Wirkungen«720 erlangt bei Kant den Status eines »inneren Gesetzes der Natur«721 und stellt somit – wie er ausdrücklich betont – nicht bloß einen »Handgriff der Methode« dar.722 Zwar firmiert dieser »ökonomische Grundsatz der Vernunft«723 im Rahmen der transzendentalen Dialektik nur als einer unter mehreren, auch bleibt er in der Kritik der Urteilskraft ein rein regulatives Prinzip der Urteilskraft für die empirische Naturforschung724 und ist daher nicht – wie bei Büchner – »Grundgesetz für die gesammte Organisation« der Natur. Dennoch kommt das Ökonomie-Prinzip auch bei Kant der Natur selber zu und hat noch beim Kantianer Jakob Friedrich Fries in der Mathematischen Naturphilosophie wie im System der Logik fundierende Geltung.725 Büchner formuliert hiermit also die praemissa maxima und das zentrale Telos seiner Naturforschung, weil jenes Urgesetz nur das formale Generierungsprinzip alles »körperlichen Daseins« darstellt, nach dem der evolutionäre Ausdifferenzierungsprozess bis hin zu den »höchsten und reinsten Formen« erfolgt. Laut Kant und Fries, die sich hier beide auf Newton beziehen,726 bezeichnet das Prinzip der »Sparsamkeit der Natur« eben jenes auch von Büchner entwickelte Verhältnis von minimalen Mitteln bei maximalen Zwecken, und es wird seit Ockham zu Recht als Ökonomieprinzip gefasst.727 Anders aber als für Ockham und Fries kommt diesem Prinzip nach Büchner – wie nach Kant – nicht ein methodologischer, sondern ein ontologischer Status zu.728 Die Aufgabe nun, die Büchner auf der Grundlage dieser Voraussetzungen der philosophischen Naturforschung gestellt sieht, besteht in der Formulierung eines materialen »Grundgesetze[s] für die gesammte Organisation«, das mit jenem formalen Urgesetz zusammenstimmt. Diese Aufgabe sieht er allerdings nur in ersten, wenngleich »bedeutenden« Ansätzen erfüllt. In der weiteren Folge der Probevorle-

 719 Zur Stellung des Ökonomieprinzips als einer der Natur selbst zukommenden Gesetzmäßigkeit bei Kant vgl. Düsing 1968, S. 38ff. 720 KrV B 689. 721 KrV B 678. 722 KrV B 690. 723 KrV B 678. 724 Zum gleichwohl prekären begründungstheoretischen Status des Ökonomiegesetzes bei Kant vgl. Bonsiepen 1997, S. 96ff. 725 Vgl. Fries 1967ff., VII, S. 334. 726 Zu diesem Zusammenhang vgl. Falkenburg 2000, S. 43f. 727 Vgl. hierzu Beckmann 1990, S. 191–207. 728 Vgl. hierzu schon Stiening 1999, S. 108–115 sowie Roth 2004, S. 256–266; insofern ist auch die These von P II, S. 894, Büchners »philosophische Voraussetzungen« hätten nur den »Status einer Hypothese«, unzutreffend; MBA (VIII, S. 537 u. S. 544) enthält sich in ihren Kommentaren und Interpretationen einer Bestimmung des Gesetzesgehaltes ebenso wie sie versucht, die fundierende Bedeutung dieses allgemeinen Naturgesetzes zu depotenzieren.

  Naturphilosophie sung betont Büchner, dass in Botanik und Zoologie, Physiologie und vergleichender Anatomie schon Teilbereiche der Natur als Zusammenhänge erfasst worden seien, und nennt in diesem Zusammenhang die allgemeine ›Wirbeltheorie des Schädels‹, die »Metamorphose der Pflanze«, die »Metempsychose des Fötus« und »die Repräsentationsidee Okens«.729 All diese Theoriebeispiele sind ihrer Systematik und Semantik nach relativ ähnliche, zumeist auf Oken, Carus oder Wilbrand zurückgehende Entwicklungskonzeptionen, die unterschiedliche Teilbereiche der Naturforschung bzw. deren Disziplinen betreffen. Das Verhältnis dieser Teilgesetze der Natur als ganzer zum gesuchten Grundgesetz wird mit den Metaphern von »Strom« und »Quelle« gefasst,730 d. h. als eine Ableitung bestimmt: aus dem noch gesuchten materialen Grundgesetz sollen jene speziellen Gesetze hervorgehen können. Aufgrund dieses systematischen Zusammenhangs dürfen sich die genannten und weiterhin gesuchten Teilgesetze nicht gegenseitig widersprechen, um ihren nomologischen Charakter aufrechtzuerhalten. Wenn Büchner also von einer »nothwendige[n] Harmonie in den Aeußerungen eines und desselben Gesetzes« in der Natur spricht,731 dann geht es ihm um eben diese Kompossibilität der Naturgesetze, die als Ableitungen aus einem übergreifenden Grundgesetz keine Widersprüche aufweisen dürfen. Dieses logische und methodische Postulat der Widerspruchsvermeidung ruft auch die scientific community der Naturforscher zu angemessen Formen von Kooperationen auf. Das gesuchte »Grundgesetz für die gesammte Organisation« muss also dem formalen Kriterium des Ökonomieprinzips entsprechen, das nach Büchner einen durch Linné entworfenen und von Kant weiterentwickelten ontologischen Status innehat,732 d. h. der Natur selber zukommt. Weil die Natur mit den einfachsten Mitteln die komplexesten Formen hervorbringt, muss dieses Grundgesetz in materialer Hinsicht so gefasst werden, dass aus ihm die von Büchner als wahre Teilgesetze genannten Theorien ableitbar werden. Büchner geht es mit seinem Programm mithin um eine Vereinheitlichung der Naturforschung durch Vermittlung ihrer Ergebnisse auf der Grundlage der erznaturphilosophischen Voraussetzung von der Einheit der Natur, die nicht als abstrakte Prämisse gesetzt, sondern als konkretes Ziel aller philosophischen und so einzig wahren Naturforschung entwickelt wird.

 729 MBA VIII, S. 15542–45. 730 Ebd., S. 15528f.. 731 Vgl. MBA VIII, S. 15511f.. 732 Zum Ökonomieprinzip bei Linné vgl. Jahn 32004b, S. 235f.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

... Das Ökonomieprinzip und das »Gesetz der Schönheit« Nun bestimmt Büchner jenes bekannte formale Urgesetz, das er als Ökonomieprinzips konkretisiert, auch als »Gesetz der Schönheit«.733 Schön sind nach Büchner im natürlichen Zusammenhang mithin die Formen und Produkte eines Generierungsprinzips, das eine möglichst effiziente Mittel-Zweck-Relation ausbildet. Büchners ›explizite Ästhetik‹ bestimmt Schönheit nomologisch als rational rekonstruierbare Relation organisierter und bestimmbarer Prozessualität und den aus dieser hervorgehenden Produkten.734 Der Naturforscher entwickelt hiermit zugleich einen ontologischen Schönheitsbegriff, der allerdings formal restringiert ist,735 weil er sich zu materialen Prinzipien oder Gehalten des Schönen nicht äußert – bis auf den Sachverhalt, dass es sich um den Bereich des Naturschönen handelt. Alle Versuche, Büchners ›implizite Ästhetik‹ zu erfassen,736 müssen bei dieser ebenso komplexen wie enigmatischen Bestimmung der Schönheit durch den naturphilosophisch arbeitenden Autor beginnen. Dabei erweist sich eine Kontextualisierung als besonders problematisch, weil es zwar eine Fülle von Definitions- oder Begründungsversuchen des Naturschönen im frühen 19. Jahrhundert als Blütezeit der philosophischen Äs 733 Zu Recht schreibt schon Döhner 1967, S. 176: »Büchners Begriff der ›Schönheit‹ ist demgegenüber mit dem ›Urgesetz‹ identisch.« Allerdings erweisen sich die anschließenden Interpretationen dieser Konstellation als irrig, weil Döhner weder erkennt, dass das Gesetz der Schönheit mit dem Ökonomieprinzip identisch ist und dennoch nur die formale Seite des nomologisch gefassten Naturganzen bestimmen soll, noch in der Lage ist, zwischen einem ontologischen Status überhaupt und einer materialistischen Variante desselben zu unterscheiden. Weil aber nach Döhner der Begriff der Schönheit bei Büchner nicht mehr ein bloßes Prinzip der Urteilskraft ausmache, soll er Moment einer materialistischen Transformation des Idealismus darstellen. Dieses philosophiegeschichtliche und systematische Durcheinander reproduzierte und verstärkte Mayer (1979a, S. 80 u. S. 85), indem er dem büchnerschen Schönheitsbegriff den Status einer »ontologische[n] Faktizität« (ebd., S. 85) attestiert – was immer genau das ist –, und diese Konstruktion auch noch mit Verbindungen zur politischen Position Büchners versieht. 734 Weil Büchners Schönheitsbegriff in seinem Zentrum eine Form von Prozessualität erfassen will, kann der Spinozismus mit seiner statischen Ontologie für dieses Theorem keine Referenz darstellen. Dass zudem der von Büchner verwendete Harmoniebegriff mit seiner Schönheitskonzeption nichts zu tun hat, sondern mit seiner Vorstellung der Natur als gesetzmäßig organisiertem Ganzen, wurde oben schon gezeigt. Zur Unübersichtlichkeit in der Büchner-Forschung, die den Schönheit- und Harmoniebegriff Büchners identifiziert und dieses Amalgam auch noch spinozistisch interpretiert, vgl. P I, S. 840. 735 So auch zu Recht Borgards 2007, S. 448; weil der Interpret den rein formalen Charakter des büchnerschen Schönheitsbegriffs richtig benennt, sind seine anschließenden Ausführungen zu einer hieraus für Büchner abzuleitenden »Physio-Ästhetik« und Mitleidsethik mit dem Zentrum einer subjekttheoretischen Nobilitierung des Schmerzes jedoch abwegig. Aus einem formalen Konzept ist der Inhalt des Schmerzes nicht herauszuklauben. Weder hat Büchner im Medium des Schmerzes ein körperliches Substitut für Kants transzendentale Subjektkonstitution entworfen, noch ist der Schmerz für Lenz bewusstseinskonstitutiv. Er ist kurzzeitiges Instrument der Rettung des empirischen Bewusstseins einer kranken Seele vor dem Selbstverlust. 736 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Meier 1983 und Schwann 1997.

  Naturphilosophie thetik gibt,737 keine aber – schon gar nicht die Goethes738 oder Carl Gustav Carus’739 – auch nur Annäherungen an Büchners Vorstellungen aufweisen.740 Die schon vor einigen Jahren vom Verfasser vorgeschlagene Verbindung zu Leibniz, den Büchner im Rahmen seiner philosophiehistorischen Vorlesungen zu bearbeiten gehabt hätte,741 und der als einer der wenigen bekannten Theoretiker vor Büchner eine unmittelbare Identität zwischen Ökonomieprinzip und Schönheitsgesetz entfaltete, ist unwiderlegt geblieben.742 Es ist also weiterhin von einem in diesem Zeitraum nicht unüblichen Leibnizianismus Büchners in Fragen einer allgemeinen Natur- und Schönheitstheorie auszugehen.743 ... Selbsterhaltung versus Mechanismus Büchner reichert diese allgemeinsten Bestimmungen seiner Naturforschung sowie der ihr zugrundeliegenden Naturvorstellung mit weiteren charakteristischen Momenten an: So betont er ausdrücklich, dass »für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht« werde,744 d. h., dass das formale Urgesetz gerade nicht mit Hilfe der Kategorie des Selbsterhaltungstriebs erfasst werden kann. Obwohl für Büchner alle natürlichen Entitäten »um [ihrer] selbst willen da« sind, mithin als Selbstzweck bestimmt werden,745 wird ihnen ein essentieller Selbsterhaltungstrieb abgesprochen, d. h. sie werden weder durch sich selbst hervorgebracht noch durch sich selbst im Leben  737 Vgl. hierzu u. a. Hilmer 1997, S. 79ff.; Dohrn 2003, S.124ff. und Kablitz 2008, S. 167f. 738 Zwar denkt auch Goethe Naturschönheit als Prozess (vgl. Breidbach 2006, S. 268ff.), doch fehlt dieser empirisierenden Metaphysik jeder Bezug zu einer formalen Restriktion des Begriffs. Auch wird das Ökonomieprinzip bei Goethe nicht verhandelt. 739 Zur These einer systematischen Verbindung des büchnerschen Schönheitskonzeptes an dieser Stelle der Probevorlesung zu Carl Gustav Carus’ platonistischer Poetik vgl. Roth 2004, S. 257–263 u. S. 478 sowie MBA VIII, S. 544. Diese These ist allein deshalb zu falsifizieren, weil Carus mit dem Begriff der Schönheit das Kriterium der Vollkommenheit verknüpft, die Büchner – wie im Zusammenhang seines philosophischen Wissens gesehen – als Begriff und Kategorie nicht nur der Ästhetik, sondern auch der Metaphysik und der Naturphilosophie grundsätzlich ablehnt. Zu falsifizieren ist diese These darüber hinaus, weil Carus einen materialen Schönheitsbegriff ausführt, der zudem mit dem Ökonomieprinzip nicht das Geringste zu tun hat. Kurz: Carus ästhetischer »Platonismus« (vgl. hierzu Müller-Tamm 1995, S. 14) stimmt mit Büchners leibnizianisierender Naturästhetik in keinem Punkte überein. 740 Auch ein Bezug auf den Geißener Philosophiedozenten Joseph Hillebrand hilft nicht weiter, hatte dieser doch die von Büchner entworfene »absolute Naturschönheit« als inexistent zurückgewiesen; vgl. Hillebrand 1830, S. 158. 741 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 115ff.; Stiening 2005, S. 234f. sowie Taylor 2005, S. 179ff. 742 Zu einer positiven Aufnahme der These vom Leibnizbezug der Naturforschungen Büchners vgl. Taylor 2003, S. 296. 743 Vgl. hierzu die Studie von Taylor 2005. 744 MBA VIII, S. 1553–5; Hvhb. von mir. 745 Ebd., S. 15343.

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erhalten. Diese eigentümliche Negation des Selbsterhaltungsprinzips entpuppt sich bei einem näheren Blick auf die zeitgenössischen Kontexte als eine höchst eigenständige, wenn nicht eigenwillige Prämisse. Denn Selbsterhaltung, u. a. für dʼHolbach Joachim Dietrich Brandis das »Wesen des lebendigen Organismus«,746 ist für Büchner erklärtermaßen nicht der Wirkmechanismus zur Hervorbringung und Erhaltung der Essenz sowie der Existenz eines natürlichen Organismus. Diese Negation der ›Selbsterhaltung‹ als Prinzip der Natur zieht auch zwischen Büchner und den unterschiedlichsten Vertretern der Naturforschung im frühen 19. Jahrhundert eine deutliche Grenzlinie. So gilt die Selbsterhaltung als grundlegendes Prinzip der belebten Natur u. a. für Cuvier,747 Fries748 oder Hegel749 und Schelling.750 Auch für Herbart gilt, dass sich die an sich relationslosen substanziellen Naturphänomene in »Selbsterhaltung« und »Störung« zueinander in Beziehung setzen, und das heißt in einem Mechanismus des Hemmens und Verbindens.751 Selbst Dietrich Georg Kieser schreibt in seinem von Büchner für die Lenz-Erzählung konsultierten Standardwerk System des Tellurismus oder Thierischen Magnetismus ausdrücklich einem »Selbsterhaltungstrieb« den Status zu, wesentliches Moment des Lebensprozesses zu sein.752 Und noch Joseph Hillebrand führt in seiner Anthropologie von 1822 aus: Eine der vorzüglichsten Eigenthümlichkeiten des Organischen thut sich in dem selbständigen Streben nach Selbsterhaltung, oder in dem Vermögen der Reproduktion (der weitesten Bedeutung nach) kund (in der Ernährung, dem Wachstume, der Fortpflanzung), einem Vermögen, von dem auch nicht das fernste Analogon bei den unorganischen Wesen entdeckt werden kann.753

Selbst der von Büchner hochgeschätzte Alfred de Musset lässt in seinen Confessions dʼun enfant du siècle den väterlichen Freund des Protagonisten, Desgenais, ausführen: La nature, avant tout, veut la reproduction des êtres; partout, depuis, le sommet des montagnes jusqu’au fond de l’Océan, la vie a peur de mourir. Dieu, pour conserver son ouvrage, a

 746 dʼHolbach 1966, I, S. 41ff.; Brandis 1833, spez. S. VIII. 747 Siehe Cuvier 1798, S. 5. 748 Fries 1967ff., XIII, S. 593. 749 Hegel 1986, IX, S. 335. 750 Schelling 1985, I, S. 278. 751 Vgl. hierzu u. a. Herbart 1993, S. 276–279; zur Genesis des Selbsterhaltungsbegriffs in der Naturphilosophie der Frühen Neuzeit vgl. Mulsow 1998; vgl. auch Mulsow 1996, Sp. 393–408. 752 Kieser 1826, I, S. 3f.; zur prägenden Stellung Kiesers in dieser Debatte vgl. Schweizer 2007 sowie Schweizer 2008, S. 694–697. 753 Hillebrand 1822/23, I, S. 163.

  Naturphilosophie donc établi cette loi, que la plus grande jouissance de tous les êtres vivants fût l’acte de la génération.754

Mit seiner eigenwilligen Zurückweisung der Selbsterhaltung als Prinzip der Natur steht Büchner in der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Philosophie ebenso allein wie in der Anthropologie der Zeit.755 Wenn Büchner allerdings im Lenz von einem »Trieb der geistigen Erhaltung« spricht, die den Protagonisten in der Abwehr des Wahnsinns jagte,756 so zeigt dies an, dass die vom Autor vertretene Vermögenspsychologie anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist als die Natur.757 Nur für das »körperliche Dasein des Individuums« gilt, dass es nicht auf seine Selbsterhaltung ausgerichtet, nicht durch sie als Prinzip bestimmt wird. Büchner entwirft diese Zurückweisung des Selbsterhaltungsprinzips in der Natur jedoch nicht aus idiosynkratischen oder gar antimodernistischen Impulsen;758 seine Argumentation basiert auf einer Alternativkonzeption für Entstehung und Erhaltung des natürlichen Individuums, die zu dieser Negation zwangsläufig führt. Denn er ergänzt die Formulierung des Urgesetzes dahingehend, dass das körperli-

 754 Musset 2002, S. 58. 755 Das bereitet der Forschung offenbar so große Probleme, dass sie diese These Büchners weitgehend unerwähnt lässt; Roth 2004, S. 193, S. 219, S. 229, S. 231, S. 239 u. ö. äußerst sich zwar zu einer Reihe von Selbsterhaltungstheoremen in der Naturphilosophie und -wissenschaft; zu Büchners Negation dieses Prinzips wird allerdings auch in den Kommentarteilen zu dieser Passage (vgl. ebd., S. 478) keine Stellung genommen. Auch die MBA (VIII, S. 543) scheint die Brisanz der Thematik nicht zu erkennen oder durch Schweigen zu übergehen. 756 MBA V, S. 4712 u. 22f.. 757 Zum Nachweis einer substanziellen Distinktion zwischen Natur und Kultur bei Büchner vgl. in ersten Ansätzen Stiening 2006a sowie Roth 2016. 758 So die allerdings ungenügend begründete These von Broese 2006 in Bezug auf Schopenhauer, der die »Vorrangstellung des Selbsterhaltungstheorems«, das als Kern »neuzeitlicher Rationalität« interpretiert wird, überwunden habe (ebd., S. 230). Schon die Voraussetzung aber, dass die Kategorie der Selbsterhaltung das Wesen neuzeitlicher Vernunftmodelle ausmache, trifft nicht zu. Für Hobbes ist die Selbsterhaltung ein natürlicher Trieb, der erst durch eine komplexe Ableitung zu einer gerechtfertigten Maxime praktischer Anthropologie wird. Von neuzeitlicher Rationalität (im theoretischen, nicht im praktischen Sinne) ist zudem bei Hobbes weder an sich noch im Hinblick auf das Selbsterhaltungstheorem zu sprechen (vgl. hierzu Stiening 2005a). Und dass Schopenhauer die Selbsterhaltung als Fundierungstheorem praktischer Anthropologie im § 27 der Welt als Wille und Vorstellung (Schopenhauer 1991, I, S. 198–215) überwunden habe, widerspricht ebenfalls den Textbefunden; dort wird vielmehr »die Erhaltung des Individuums« als Bestreben aller organischen Natur zu einer Objektivation des Willens, d. h. zur Realisation der entscheidenden metaphysischen Instanz des Systems erhoben, selbst die menschliche Erkenntnis wird ihrer theoretischen Selbständigkeit beraubt und zu einem praktisch interpretierten »Mittel zur Erhaltung des Individuums« systematisch integriert. Von einer ›Überwindung der Selbsterhaltung‹ als Kategorie mithin keine Spur. Daher ist auch im Zusammenhang der Selbsterhaltungsdebatte des frühen 19. Jahrhunderts eine Nähe zwischen Schopenhauer und Büchner nicht zu belegen (vgl. dagegen Faber 2002 und Schwann 2003).

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che Dasein des Individuums nur zu begreifen sei als »Manifestation« dieses Urgesetzes und führt zur Erläuterung dieses Manifestationsbegriffes aus: Alles, Form und Stoff, ist für sie [die von Büchner als einzig wissenschaftlich bezeichnete philosophische Methode] an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben.759

Alle natürlichen Entitäten sind in ihrer formalen und materialen Existenz an ein Kausalitätsprinzip »gebunden«, das ein Selbsterhaltungsprinzip erübrigt. Denn die Besonderheit dieser Kausalitätskonzeption besteht darin, dass das Verursachungsprinzip mit jenem Urgesetz identisch ist. Die einem geschlossenen Kausalzusammenhang der Naturdinge notwendig eignende Kategorie einer causa prima ist als Grundgesetz selbst der Natur immanent. Denn »[a]lles, Form und Stoff, ist für sie an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben.« Für Büchner besteht das Problem eines kausalen »progressus ad infinitum« der endlichen Dinge eben deshalb nicht, weil die einzelnen Naturphänomene nicht untereinander kausal verbunden,760 sondern als einzelne Manifestationen stets kausal an jenes »Urgesetz« gebunden bleiben, das der gesamten Organisation der Natur als Ursache zugrunde liegt. Dieses Grundgesetz ist mithin nicht causa prima, obwohl causa immanens,761 sondern causa sola, einzige Ursache der Natur in allen ihren »Manifestationen«. Der hier vorausgesetzte Gesetzesbegriff wirkt zunächst irritierend. Denn in der neuzeitlichen Philosophie enthält der Begriff des Gesetzes zwar die »Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin nach einerlei Art) [...] gesetzt werden muß«,762 d. h. den notwendigen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen. »Nichts aber« – so betont der Philosophiehistoriker Michael Hampe – »geschieht infolge eines Gesetzes, bewirkt durch ein Gesetz, sondern immer nur gemäß dieses oder jenes Gesetzes.«763 Bei Büchner jedoch ist »[a]lles, Form und Stoff« an ein Gesetz als »Wirkungen desselben« gebunden. Dieses Konzept, das Büchner von naturphilosophischen Modellen der Zeit deutlich abhebt, lässt sich allerdings mit einem Rekurs auf seine philosophiehistorischen Studien erläutern: Denn im Rahmen seiner Exzerpte zur griechischen Philosophie hatte sich der angehende Privatdozent der Philosophie mit einem Autor befasst, der ebenfalls eine rationale Gesetzmäßigkeit zur Ursache allen Seins erhoben hatte: Heraklit. Tatsächlich scheint Büchners Grundgesetz der gesamten Orga 759 MBA VIII, S. 1557–9. 760 Dass auf der Grundlage des universellen Gesetzes der Selbstzweckmäßigkeit allen Seins eine solche Version der Kausalitätsrelation als Grundkategorie wissenschaftlicher Naturforschung zustande kommt und eine absolute Vereinzelung des Einzelnen bedingen muss, hat schon Gaede 1979, S. 51f. angedeutet. 761 Insofern ist Büchners Metaphysik durchgehend immanent und somit keineswegs transzendent, wie Döhner 1967 S. 174ff. annimmt; vgl. auch und noch verstärkt Döhner 1982, S. 126–132. 762 KrV A 113. 763 Hampe 2007, S. 15f.

  Naturphilosophie nisation in seiner Logik, seinem Geltungsstatus und vor allem seiner Wirkungsweise dem herakliteischen Logos-Konzept wenigstens verwandt zu sein. Denn auch Heraklit suchte – nach der Lesart Tennemanns764 – »eine Urkraft« und fand sie im jenem ontologischen Prinzip des Logos, der als Verbindung von Identität und Differenz alle Erscheinungen der Natur verursachen können soll: Alles ist also durch diese Gesetze des Streites und der Einigkeit.765

Mit dieser Konzeption, die die Natur zu einer nomologisch-dynamischen Substanz erhebt, gelingt Büchner eine Vermittlung der naturphilosophischen Prämisse von der Einheit der Natur mit seinem in den philosophischen Skripten unübersehbaren Interesse an der begründeten Abstraktion von jeglicher Gottesinstanz. Drängten selbst die spekulativen Naturphilosophien – zumindest bei Oken und Schelling – zum Rekurs auf eine, wenn auch innerweltliche Gottesinstanz,766 die sich von der Natur (selbst als natura naturans) noch unterscheidet, so kann Büchner mit seiner Erhebung des Naturgesetzes selbst zur grundlegenden Ursache »alles dessen, was ist,« auf diese Instanz verzichten. Zugleich kann er mit jenem streng immanenten Kausalitätskonzept einen formalen Begriff von einer Ganzheit der Natur entwerfen, der die empirische Naturforschung nicht nur nicht überflüssig macht, sondern ihr die entscheidende Aufgabe zuweist, jene materiale Dimension der nomologisch geordneten Natur zu ermitteln. Büchner will auf dem Gebiet der evolutionären Neurologie zur Konkretisierung dieses Gesetzes einen Beitrag leisten. Das ist kein naturphilosophisches Kolorit oder existenzsichernde Rhetorik im Angesicht Okens,767 sondern wissenschaftstheoretischer Grund und Zweck von Büchners Naturforschung.768 Dabei bleibt die als immanente Substanz und nomologische organisierte Kausalität gedachte Natur als Einheit substanziell unterschieden vom menschlichen Geist, dessen Generierungsprinzipien und interne Organisationsformen systematisch von der Natur abweichen. Büchner verhält sich zu diesem in seinen Einzelkonzepten angelegten Dualismus von Natur und Geist theoretisch nicht; für eine angemessen begründete, kohärente Fundierungstheorie fehlte ihm die Lebenszeit. Dass dieses Programm allerdings nicht ohne schlichte Setzungen im Bereich der rationalen Konstruktionen auskommt, liegt auf der Hand: Warum nämlich das Öko-

 764 Die Exzerpte Büchners zur griechischen Philosophie werden erst allmählich vom Verdikt befreit, das »Niveau einer bloßen Abschrift« aus Tennemann nicht zu überschreiten; vgl. hierzu zu Recht Hauschild 1993, S. 527; Stiening 2012. 765 MBA IX.1, S. 38515f.; Hvhb. von mir. 766 Vgl. Mischer 1997, S. 32f. 767 So ein beliebtes Argument der Büchner-Forschung, die sich mit der unabweisbaren Tatsache einer naturphilosophischen Systematik der Naturforschung Büchners nicht abfinden will, vgl. Hauschild 1993, S. 523. 768 Vgl. hierzu auch Stiening 2006a.

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nomieprinzip als ontologisches, wenn auch formales Naturgesetz Gültigkeit beansprucht, wird nicht erläutert. Leibniz konnte für die Geltung dieses Prinzips als eines ontologischen immerhin auf eine machtvolle Gottesinstanz zurückgreifen, und Kant leitete die »Sparsamkeit der Natur« aus einer allgemeinen Teleologie der Natur zielsicher ab; Büchner hingegen müssen wir diese axiomatische Voraussetzungen seiner empirischen Naturforschung ›glauben‹. ... Büchners Modell natürlicher Evolution Einen Schein wissenschaftlicher Evidenz stellt Büchner jedoch über die Entfaltung eines weiteren systematischen Moments seiner allgemeinen Natur- und Naturwissenschaftskonzeption her. Gemeint ist hiermit das schon mehrfach skizzierte Modell natürlicher Entwicklung, das Büchner seinen Forschungen zugrunde legt. Ein erneuter Blick auf den letzten Satz des Mémoire bietet einigen Aufschluss: »Die Natur ist groß und reich [...], weil sie nach dem einfachsten Plane die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.«769 Die »Risse und Linien« der Probevorlesung sind also Grundrisse und -linien, die einen Plan der Natur konturieren und somit als deren Organisations- und Strukturprinzipien zu bestimmen sind.770 Wichtig ist, dass diese Prinzipien möglichst einfach sein sollen, d. h. dem Grundsatz größtmöglicher Simplizität folgen. Aus diesen quantitativ wie qualitativ möglichst einfachen Prinzipien sollen nun die höchsten und reinsten Formen der Natur hervorgehen, d. h. sich durch sie und in ihnen realisieren. Für deren Verständnis gilt, dass diesem Formbegriff nicht jene Bedeutung zukommt, die ihm im Rahmen einer transzendentalen oder idealistischen Philosophie zugeschrieben wird, der stets korrelativ zur Kategorie des Stoffs bestimmt wurde – auch wenn Büchner genau diese Semantik im folgenden Satz verwendet. Vielmehr sind an dieser Stelle Ausformungen gemeint, konkrete Erscheinungen der Natur, die eine nähere Bestimmung durch ihren Reinheitsgrad sowie ihre Stellung innerhalb einer stufenartigen Hierarchie der Natur erfahren. Insbesondere diese Hierarchie der Naturphänomene – der relationale Begriff »höchste Formen« setzt die Existenz niederer voraus771 – deutet auf eine Grundkategorie der Naturphilosophie und -wissenschaft hin, die spätestens seit Leibniz772 die Forschung antreibt: die Stufenleiter der Natur, oder – in Büchners Formulierung – die »stufenweise Betrachtung der Organismen«.773

 769 MBA VIII, S. 10141–44. 770 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 108 sowie Roth 2004, S. 263–266. 771 So heißt es auch im Lenz, dass das kosmologische Ganze als eine »unaussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit« sich in »höhern« und »niedrigen Formen« realisiere, vgl. MBA V, S. 3630–32. 772 Schon Kant weist in der KrV B 696 auf Leibniz als Inaugurator dieses vom Kontinuitätsbegriff abgeleiteten Konzepts der Stufenleiter hin, wenn er das »von Leibniz in Gang gebrachte und durch Buffon trefflich aufgestutzte Gesetz der kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe« zugleich als

  Naturphilosophie Tatsächlich liegt dieses Modell der büchnerschen Dissertation zugrunde, da sie den Nachweis der Stellung des Nervensystems der Barbe innerhalb der Naturhierarchie zu erbringen sucht: Il s’agit maintenant de déterminer à quelles parties du système nerveux des animaux placés plus haut dans l’échelle on peut comparer les nerfs dont nous venons de donner la description.774

Mithilfe dieser das Naturganze betreffenden Organisationskategorie sollte ein systematischer Zusammenhang der Komplexitätsniveaus aller Naturerscheinungen hergestellt werden, nach der die basalen, einfachsten Elemente mit den ausdifferenziertesten Organismen zu vermitteln wären. Wie erwähnt, galt für eine Reihe einflussreicher naturphilosophischer Systeme des frühen 19. Jahrhunderts dieses hierarchische Natursystem als statische Konstruktion.775 Die Natur war dieser Annahme zufolge von Anfang an so, wie sie sich uns heute noch präsentiert, allerdings dergestalt strukturiert, dass sich von den basalen Momenten bis zu den »höchsten Formen« ein lückenloser begrifflicher Zusammenhang ergibt.776 Diese Vorstellung veränderte sich seit dem späten 18. Jahrhundert durch die These einer realgenetischen Dynamisierung der Naturhierarchie: Die je komplexeren Formen sollten sich nunmehr in einer tatsächlich zeitlichen Sukzession nach und aus den zuvor vorhandenen einfacheren Phänomenen entwickeln.777 Dabei bildeten sich zweierlei Formen heraus, die Wirkmechanismen dieser zeitlichen Ausdifferenzierung zu begründen:778 Entweder man nahm an, dass durch einen Prozess synthetischer Entwicklung die jeweiligen Spezifitäten einer höheren Stufe durch äußere Einflüsse (natürlicher oder auch übernatürlicher Art) als tatsächlich neue Elemente zu den basaleren Stufen hinzukämen und so substanziell neue Arten entstünden; dieses Modell konturierte der Lamarckismus. Oder aber  »treffliches regulatives Prinzip der Vernunft« bezeichnet. Zu Leibniz’ Gesetz der natürlichen Stufenleiter vgl. auch Lovejoy 1985, S. 176ff.; zur Stellung des Theorems der scala naturae in der Naturforschung des 18. Jahrhunderts vgl. Diekmann 1992. 773 MBA VIII, S. 15917f.. 774 Ebd., S. 6630–32. 775 Hierzu müssen vor allem die naturphilosophischen Systeme Schellings, Okens und auch Hegels gezählt werden, die sich vehement gegen die sich durchsetzende Vorstellung einer realgenetischen Evolution zu erwehren suchten. Zum zähen Übergang zu realgenetischen und transformationistischen Vorstellungen der Naturgenese vgl. Lepenies 1978, spez. S. 52ff. 776 Vgl. hierzu die eindeutige Formulierung Hegels: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriff als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist.« (Hegel 1986, IX, S. 31). 777 Vgl. hierzu Lepenies 1978, S. 56ff.; Breidbach 1986 sowie Mischer 1997, S. 165ff. 778 Zum Folgenden vgl. auch Mischer 1997, S. 168–173 sowie Breidbach 1986, S. 82–95.

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man vertrat die Ansicht, dass das je Eigentümliche einer höheren Stufe in der ihr vorhergehenden als Möglichkeit – d.h. idealiter – vollständig enthalten sei, ja alle Stufen in potentia in der ersten präformiert seien; dieses Modell favorisierten Naturphilosophen wie Carus, Schubert oder Oken. Büchners Naturphilosophie basiert nun eindeutig auf der präformationistischen Variante der dynamischen Naturstufenvorstellung, nach der sich die Evolution in einem empirisch real verstandenen, gleichwohl analytischen Entwicklungsprozess realisiert. Realgenetisch ist dieses Verständnis, weil es eine tatsächlich zeitliche Aufeinanderfolge der höheren Komplexitätsstufen aus den niedrigeren Formen annimmt; analytisch ist es insofern, als die in der ursprünglichen Substanz enthaltenen Möglichkeiten gleichsam in einem Analyseprozess realisiert werden. Wie in den Monaden Leibnizens sind in den substanziellen Ursprungsformen Büchners alle ausdifferenzierten Eigenschaften ihrer höheren Stufen und das Programm ihrer sukzessiven Realisation enthalten. Dabei ist zu konstatieren, dass Büchner die allen sonstigen präformationistischen Entwicklungstheorien eignende Gottesinstanz ersetzt durch eine nomologische Instanz, aus der und gemäß der die Natur in ihren einzelnen Erscheinung hervorgehen können soll. Diese substanzialistische, dezidiert antiepigenetische Evolutionstheorie markiert erneut – wie schon in Zusammenhang der Negation des Selbsterhaltungstriebs – eine klare Grenzlinie zwischen Büchners Naturtheorie und seiner Vorstellung von der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Zumindest für die Verstandesund Bildungsleistungen sowie für die moralischen Auffassungen des Menschen gilt nach Büchner – wie im Zusammenhang seines philosophischen Wissens rekonstruiert –, dass sie weitgehend durch »äußere Umstände« hervorgerufen werden.779 Im Hinblick auf die intellektuellen und moralischen Befähigungen des Menschen ist Büchner mithin ›Epigenetiker‹. Seine allgemeine Naturtheorie und seine Sozialanthropologie sind mithin nicht – wie in der Forschung häufig angenommen780 – auseinander abzuleiten. Deutlich wird die Geltung des präformationistischen Evolutionsmodells für die Natur – wie schon skizziert – an der in der Probevorlesung ausgeführten evolutionären Neurologie und Vermögenspsychologie. Das Sinnesvermögen bildet in seinen höheren Formen, wie »Sehen, Hören, Riechen, Schmecken«, nur »Modificationen dießes allgemeinen Sinnes«, des so genannten »Gemeingefühl[s]«, aus.781 Dieses Gemeingefühl als ursprüngliche, evolutionär vorhergehende Form sinnlicher Wahrnehmung entfaltet als Substanz aus sich heraus jene höheren Formen, die – das

 779 Vgl. Brief an die Familie; P II, S. 37824–30. 780 Vgl. hierzu Roth 2016 sowie meine Ausführungen und Darstellungen in Kap. 4. 781 MBA VIII, S. 15916–20. Zur Theorie und Geschichte des Gemeingefühls vgl. Müller-Tamm 1995, S. 83–96 sowie Fuchs 1997, S. 89–102.

  Naturphilosophie betont Büchner ausdrücklich – »nichts neu Hinzugefügtes« seien.782 Dass Modifikationen in den Bestimmungen ihrer Substanz analytisch enthalten sein müssen, um ihrem begriffslogischen Status zu entsprechen, hatte Büchner bei Spinoza gelernt, den er einige Wochen zuvor bearbeitet hatte.783 In evolutionstheoretischer Hinsicht ist diese Aussage die zentrale Passage der philosophischen Naturforschung Büchners. Daher richtet sich die kritische Ausführung explizit gegen die Argumente synthetischer Evolutionstheorie im Sinne des Lamarckismus. Als »Modificationen in einer höheren Potenz« sind die fünf Sinne in potentia im allgemeinen Sinn enthalten, aus dem heraus sie sich als »feinere Blüthen« ›aufblättern‹,784 ohne allerdings die substanziellen Eigenschaften des Gemeingefühls vollständig aufzuheben. Zwar können – wie es im Lenz in enger Anlehnung an Büchners evolutionäre Vermögenspsychologie heißt – die rationalen Befähigungen des Menschen jenen »elementarischen Sinn« zunehmend ›abstumpfen‹785, doch bleibt das Gemeingefühl letztlich durch seinen substanziellen Charakter unaufhebbar786 und kann sich beispielsweise in somnambulen Zuständen unverändert realisieren. Das Naturleben auf jeder Stufe der Leiter ist aufgrund der analytischen Verfasstheit des Entwicklungsprozesses daher Notwendigkeit des Daseins alles Vorhergehenden, Wirklichkeit des Daseins des je Eigentümlichen und »Möglichkeit des Daseins«787 höherstufiger Formen. Eine gewichtige Konsequenz dieser Evolutionstheorie besteht darin, dass in dieser sich entwickelnden Natur nichts aussterben kann788 – eine These, die insbesondere für das Verhältnis zwischen Büchners Naturwissenschaft und Politik von erheblicher Bedeutung sein wird. ... Exkurs: Büchner und Darwin – »Unterschiedenes ist gut« Es gehört zu den aufschlussreichen Kontingenzen der wissensgeschichtlichen Perspektive der vorliegenden Arbeit, dass, während Büchner im Oktober 1835 letzte Überlegungen zu seinem letztlich evolutionstheoretischen Promotionsthema anstellt, Charles Darwin über die Galapagos-Inseln streift. Der britische Gelehrte wird noch fast 25 Jahre benötigen, ehe er seine die Forschungs- und Weltanschauungslandschaft des 19. Jahrhunderts grundstürzenden Thesen zur Entstehung der Arten veröffentlichen kann. Diese Jahre werden zum großen Teil durch die saure Arbeit  782 MBA VIII, S. 15921. 783 Zu Büchners kritischer Analyse des Substanzbegriffes der cartesischen Metaphysik vgl. P II, S. 2811–3/MBA IX. 2, S. 520f.. 784 So die Formulierung in MBA VIII, S. 15916f. und im Lenz hinsichtlich der »unendlichen Schönheit«, die ebenfalls eine analytische Entwicklungsstruktur benennt; vgl. MBA V, S. 381. 785 Ebd., S. 3622f.. Zum systematischen Zusammenhang dieser naturphilosophischen Spekulationen im Lenz mit Büchners Evolutionstheorie vgl. meine Ausführungen im Kap. 7. 786 Vgl. hierzu schon Gaede 1979, S. 46f.; Stiening 1999, S. 111f. sowie Roth 2004, S. 355ff. 787 MBA V, S. 3717. 788 Vgl. hierzu auch Breidbach 1986, S. 323.

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des Begriffs – d. h. eine angemessene Interpretation der auf der Fahrt mit der Beagle gesammelten Informationen – ausgefüllt. Im Jahre 1835 ist Darwin jedoch – und das veranschaulicht die kontextuelle Landschaft der büchnerschen Evolutionstheorie besser als alle angestrengten Versuche, seine Überlegungen in die Traditionslinie zur Entstehung der Arten zu stellen – von seinen nachmaligen Einsichten Welten entfernt. So vermutet er am 8. Oktober 1835 – Büchner brütet zum gleichen Zeitpunkt über einen »Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand«789 – im Hinblick auf jene berühmte Erdfinkenart, deren erstaunliche interne Ausdifferenzierung auf Galapagos für seine Dezenztheorie von 1859 essentielle Bedeutung einnehmen sollte, die Wirkung einer gleichsam unsichtbaren Ordnungsmacht: Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, daß von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.790

Unbestreitbar denkt Darwin auch schon über unterschiedliche »Existenzbedingungen« zur Ausprägung artspezifischer Eigenheiten nach;791 dennoch ist er als theonomer Naturhistoriker mit starken Anlehnungen an Lamarck, der er in theoretischer Hinsicht auf Galapagos ist,792 von seiner späteren Konzeption weiter entfernt als der in Straßburg sezierende Büchner. Beide arbeiten – wenngleich auf gegenteiligen Positionen – innerhalb des gleichen Paradigmas oder Kontextraumes und der ist von der Dezenztheorie von 1859 noch grundsätzlich unterschieden.793 Zu einem ersten Zweifel an der Konstanz der Arten gelangt auch Darwin erst im Sommer 1836.794 ... Méthode génétique Erst auf der Grundlage dieser evolutionären Naturtheorie, die jene »dynamische Stufenfolge der Natur«795 in einer spezifischen, nämlich realgenetisch-analytischen Version realisiert, ergeben sich für Büchner methodische Erfordernisse, denen er durch die Übernahme der so genannten »genetische[n] Methode« gerecht wird. Diesen Zusammenhang zwischen systematischen Voraussetzungen, den daraus generierenden Fragestellungen einer evolutionären Naturforschung und den me-

 789 Brief an die Eltern vom Oktober 1835; P II, S. 4195f./MBA X.1, S. 7516f.. 790 Darwin 2008, S. 500f. 791 Ebd., S. 502. 792 Vgl. hierzu Junker 32004, S. 357f. 793 Vgl. auch Breidbach 1986. 794 Ebd., S. 358. 795 Schelling 1985, I, S. 370.

  Naturphilosophie thodischen Konsequenzen stellt Büchner gleich im ersten Satz des Mémoire selber her: Quel est le rapport des nerfs cérébraux aves les nerfs spinaux, les vertèbres crâniennes et les renflemens du cerveau? Quels sont ceux d’entre eux qui se trouvent les premiers au bas de l’échelle des animaux verébrés? Quelles sont les lois d’après lesquelles leur nombre est augmenté ou diminué, leur distribution plus compliquée ou plus simple? – Questions importantes, qui ne pourront être résolues que par la méthode génétique, c’est-à-dire par une comparaison scrupuleuse du système nerveux des vertébrés en partant des organisations les plus simples et en s’élevant peu à peu aux plus développées.796

Sind die ersten Fragen aus den bisherigen Kontextualisierungsbemühungen leicht in ihrer Rahmung durch die spezielle Wirbeltheorie des Schädels, durch die sich daraus ergebende Neurologie und durch die spezifische Variante der analytischrealgenetischen Stufenleitertheorie zu erkennen, die Büchner zum Vertreter einer bevorzugten Analyse der einfachen Formen machte, so ersieht man aus der Stellung der methodologischen Reflexion, dass die »genetische Methode« erst durch die systematischen Fragen notwendig wird. Ausdrücklich und zu Recht erwähnt Büchner, dass der Terminus »méthode génétique« der »école allemande« der Naturforschung, mithin der Naturphilosophie, entstammt.797 In der Probevorlesung hat Büchner dieses methodische Argument wiederholt und in seiner Anbindung an die von ihm vertretene Naturstufentheorie, die den einfachsten Formen Substanzialität zuschreibt, noch präziser erläutert: Es dürfte wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickeltsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen. Die einfachsten Formen leiten immer an Sichersten, weil in ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt.798

Bei allen Versuchen der Forschung, gerade dieses Bekenntnis Büchners durch umfangreiche Kontextualisierung von Herder über Goethe bis Carus zu erläutern,799 ist doch aufgrund der engen Verknüpfung von naturgeschichtlicher Systematik und Methodologie unbestreitbar, dass sich Büchner – wie schon bei der Variante der

 796 MBA VIII, S. 410–13. 797 Ebd., S. 435; zum historischen Kontext dieser naturphilosophischen Methodik vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 57 u. S. 65 sowie Breidbach 2006, S. 180f. 798 MBA VIII, S. 15936–39. 799 Vgl. hierzu Döhner 1967, S. 205–214; Roth 2004, S. 266–269; MBA VIII, S. 248f. u. S. 514; einzig Mayer (1979a, S. 84) stellte einen Bezug der genetischen Methode zu Denis Diderot her. Diderots Naturstufentheorie ist aber ebenso statisch wie die des gesamten 18. Jahrhunderts (vgl. Diderot 1961, I, S. 415–471, spez. S. 468f. und deren Interpretation durch Cassirer 31973, S. 98ff.). Von den weit elaborierteren Vorstellungen Carus’, Goethes oder Büchners sind die des französischen Materialisten Welten entfernt.

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natürlichen Evolution in dessen Nähe – auch hier ausschließlich auf Carus stützt.800 Die strenge Verbindung, die gleichsam ein Ableitungsverhältnis ausbildet, zwischen evolutionärer Systematik und genetischer Methodik, die der Forschung bisher entging, legt diese Anbindung an Carus nahe; es sei allerdings erneut erwähnt, dass Büchner auf einer substanziell anderen metaphysischen und epistemologischen Grundlage als der in beidem platonisierende Carus argumentiert.801 ... Wider die »teleologische Ansicht der Natur« Erst aus dem systematischen Zusammenhang der folgenden Theoriehorizonte: (1) das Grundgesetz für die gesamte Organisation, (2) dessen formaler Gehalt durch das Ökonomieprinzip konkretisiert wird, und (3) dessen materiales Pedant als universelle Ursache »alles, was ist«, zu seinerWirkung macht, weshalb das Kausalitätsprinzip als nomologisches umfas-send gilt, und damit (4) den Selbsterhaltungstrieb als Grundlagenprinzip der Natur zurückweisen kann sowie (5) der realgenetisch-analytischen Version der dynamischen Stufenfolge der Natur, die (6) eine genetische Methode erforderlich macht, ergibt sich zwanglos Büchners polemische Abgrenzung gegen die von ihm so genannte teleologische Ansicht der Naturforschung: Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. Sie sagt zum Beispiel: soll das Auge seine Funktion versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten werden, und somit ist eine Thränendrüse nöthig. Diese ist also vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werden, und somit ist das Auftreten dieses Organs erklärt; es gibt nichts weiter zu fragen, – die entgegengesetze Ansicht sagt dagegen: die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist, oder, um ein anderes Beispiel zu geben, wir haben nicht Hände, damit wir greifen können, sondern wir greifen, weil wir Hände haben. Die g r ö ß t m ö g l i c h s t e Z w e c k m ä ß i g k e i t ist das einzige Gesetz der teleologischen Methode; nun fragt man aber natürlich nach dem Zwecke dieses Zweckes, und so macht sie auch ebenso natürlich bei jeder Frage einen progressus in infinitum.802

Mit dieser Polemik ist Büchner jedoch, wie schon erwähnt, wenig originell; das Gros aller Fraktionen der Naturforschung zwischen 1800 und 1840 teilte diese Ablehnung der äußeren Zweckmäßigkeit, auf die Büchner in der Folge noch explizit anspielt, als Organisationsprinzip der Natur. Kant weist auf den Mangel dieser Naturansicht  800 Vgl. u. a. Carus 1831, S. XI sowie Müller-Tamm 1995, S. 29–38; Müller-Tamm 2005, S. 122f. 801 Zum Platonismus Carus’ vgl. erneut Müller-Tamm 1995, S. 13. 802 MBA VIII, S. 15326–39.

  Naturphilosophie hin,803 ebenso Goethe,804 aber auch Gotthilf Heinrich Schubert,805 Carl Gustav Carus,806 Johann Bernhard Wilbrand,807 Johannes Müller,808 Jakob Friedrich Fries809 oder Hegel.810 Friedrich Herbart rekurriert 1828 mit Nachdruck auf die allseits anerkannte Ablehnung der Teleologie in der Naturwissenschaft: Es ist bey den Naturforschern längst anerkannt, daß man sich der Gewöhnung an teleologische Betrachtungen durchaus nicht hingeben darf, wenn man in der Physik klar sehen will.811

Nur die Cuvier-Schule812 und der ihr nahestehende François Magendie813 kultivierten mit Hilfe eines Funktionsbegriffes diese Vorstellung einer teleologischen Einrichtung der Natur. Zu Recht schreibt Büchner dieser Konzeption eine Affinität zum Rückgriff auf Gottesinstanzen zu, auf die einzig jener progressus in infinitum zulaufen kann. Den Argumenten seines Lehrers Wilbrand verwandt hat Büchner solch theonomer Naturforschung die Wissenschaftlichkeit grundsätzlich abgesprochen.814 Wie aber schon im Zusammenhang seines philosophischen Wissens erörtert, hält Büchner diesem abgelehnten Modell neben einem allgemeinen Mechanismus ein alternatives Teleologiekonzept entgegen, das in der Tradition idealistischer Naturphilosophie steht, wenn er allen einzelnen, durch das allgemeine Naturgesetz hervorgebrachten Entitäten eine »innere Zweckmäßigkeit«, einen Selbstzweck zuschreibt. Diese universelle Selbstzweckmäßigkeit realisiert sich einerseits auf der Ebene der gesamten Natur, weil diese »in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar s e l b s t g e n u g « ist; andererseits sollen auch deren einzelne Erscheinungen nur als Selbstzwecke angemessen zu erfassen sein: »Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.«815

 803 Kant 1983, VIII, S. 477–480. 804 Goethe 1887–1919, II.7, S. 214–224, hier S. 217ff. 805 Schubert 1968, S. 24ff. 806 Carus 1831, S. 12ff. 807 Wilbrand 1827a, S. 10f. 808 Müller 1826, S. 17ff. 809 Fries 1967ff., XIII, S. 2f. 810 Hegel 1986, IX, S. 23f. 811 Herbart 1828, I, S. 568; unzutreffend ist allerdings die philosophiegeschichtliche These der MBA (VIII, S. 543), dass die in »Deutschland um 1800 verbreitete Teleologiekritik weitgehend auf Spinoza« zurückgehe. Denn weder Kant noch Schubert, Hegel oder Fries waren für ihre Kritik auf Spinoza angewiesen. Zudem unterschied sich ihre Alternativkonzeption erheblich von der des Rationalisten, was auch für Büchners Kausalitätskonzept gilt; darauf weist schon hin Stiening 2000–04, S. 232Anm. 100. 812 Vgl. auch Lubosch 1931, S. 19; Coleman 1964, S. 38–43; Probst 1966, S. 162. 813 Vgl. hierzu Brooke 1994 sowie Stanisch 2003, S. 54–62, S. 247ff. u. ö. 814 Zur Abgrenzung Büchners von Cuvier und Magendie in dieser Hinsicht vgl. Roth 2004, S. 224– 242. 815 MBA VIII, S. 15343.

Büchners naturwissenschaftliche Schriften  

... Zoologische Neuroanatomie Seine allgemeinen Vorstellung von Natur und ihrer wissenschaftlichen Erforschung, die in einer naturphilosophischen Systematik und Wissenschaftstheorie gründen, realisiert der empirisch arbeitende Naturphilosoph Georg Büchner im materialen Teilgebiet der Neuroanatomie, das hier als Moment der vergleichenden Anatomie verstanden wird.816 Aus den oben schon zitierten Ausführungen Blumenbachs und Wagners ging hervor, dass die Neuroanatomie als eines der schwierigsten Teilgebiete der anatomia comparata galt.817 Es geht Büchner um den empirischen Nachweis einer Ordnung der Hirnnerven der Barbe, weil er darauf abzielt, eine Analyse der substanziellen Urformen der Hirnnerven aller Wirbeltiere zu erstellen. Wie schon aus den Vorträgen vor der Straßburger Société zu ersehen, geht es Büchner bei seinen neuroanatomischen Feldforschungen im Kern darum, in die Fülle nachweisbarer Gehirnnerven und ihrer Verbindung zum Rückenmark (Büchner benennt und analysiert insgesamt zehn verschiedene Hirn- und weitere Rückenmarksnerven) Ordnung mit Hilfe der evolutionären Qualifizierung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Nerven zu bringen; dazu werden Vergleiche zwischen Fischen, höherstufigen Wirbeltieren, aber auch mit anderen Arten von Lebewesen hergestellt: En comparant les nerfs cérébraux des poissons à ceux des autres vertébrés, l’on trouve six paires, savoir: l’olfactif, l’optique, le trijumeau, l’acoustique, le vague et l’hypoglosse, qui se rencontrent dans toutes les classes, et qui, dans toutes, se présentent comme des nerfs séparés et, pour ainsi dire, comme des nerfs spinaux d’une puissance supérieure, ainsi que je vais le démontrer. Je donne le nom de nerfs primitifs à ces nerfs, comme à tous les autres nerfs qui s’insèrent à la moelle, en y formant un segment auquel rèpond une vertèbre. […] De même le facial se trouve chez les poissons comme une branche de la cinquième paire, disparaît ensuite chez la plupart des reptiles et des oiseaux, et se montre, enfin de nouveau chez les mammifères au fur et à mesure que la face acquiert plus d’expression, et la respiration du nez plus de développement. Par cette raison je nomme ces nerfs, nerfs dérivés, qui naissaent des nerfs vague et trijumeau, et dont l’existence isolée dépend de la fonction plus développée à laquelle président leurs nerfs primitifs.818

 816 Zur neurologiegeschichtlichen Stellung der vergleichenden Anatomie vgl. Clarke u. Jacyna 1987, S. 29ff. 817 Dieser Status der Neurologie hatte weniger – wie Müller-Nielaba in seiner Studie entwickelt – damit zu tun, dass »der ›Nerv‹ als das Medium der ›Empfindung‹ seine eigene Medialität, seine Vermittler- und Transmitter-›Funktionen‹ zu ›vermitteln‹ vermag« (2001, S. 16), weil Büchner weder über die Medialität noch über die Mittelbarkeit der Nerven meditierte, als vielmehr damit, dass empirische Forschungen am lebenden Objekt nur mit größten Schwierigkeiten möglich waren. Zugleich war aber jedem Evolutionstheoretiker und vergleichenden Anatomen klar, dass die Bildungsgeschichte der Gehirns ins Zentrum der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Lebewesen führen würde. 818 MBA VIII, S. 7613–787.

  Naturphilosophie Büchner ist es gelungen, seine Differenzierung in ursprüngliche und abgeleitete Nerven in ein gut begründetes evolutionstheoretisches Gerüst einzubinden. Zugleich kommen der Barbe neben ihren typologischen Eigenschaften für die neurologische Evolution artspezifische Eigenheiten zu, die Büchner – nun ganz Zoologe – nachweisen muss.819 Letztlich will Büchner die Grundlagen für die Erforschung der »verwickeltsten Form, nämlich« des menschlichen Gehirns,820 legen, in dem sich aber als Grundstrukturen jene Urformen realisieren, die sich bei der Barbe in »reinster Form« finden lassen. Büchner ist mithin Zoologe nur als vergleichender Anatom und Neurologe nur als Evolutionstheoretiker. Alle Versuche, Büchner in die Geschichte der empiristischen, d. h. rein deskriptiven Neurologie als Teil einer Humanbiologie oder Medizin einzuschreiben, müssen an den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlegungen und Zielen Büchners scheitern.821 Sicher hat er sich von den »damaligen Uebertreibungen der s. g. naturphilosophischen Schule« ferngehalten,822 und das gilt vor allem aufgrund seiner Epistemologie und Methodologie, die eine relative Autonomie der Wahrnehmung postulierte und daher eine deduktive Ableitung des natürlichen Einzelnen verunmöglichte; aber die rationalen Grundlagen seiner auf die Eigenständigkeit der Erfahrung setzenden Wissenschaftskonzeption sind unübersehbar philosophischer Natur.

. Fazit: Naturwissenschaft und Politik? Die unter dem Axiom eines zunächst und zumeist politischen Georg Büchner stehende Forschung hat, wie eingangs erwähnt, Büchner auch als »Naturforscher« zum »Kommunisten« erklärt.823 Schon Hans Mayers Versuch aber, die Kategorien der Naturwissenschaft Büchners aus seinen politischen Überzeugungen zu erläutern, scheiterte.824 In dieser Interpretationstradition steht auch, Büchners Wahl der

 819 Insofern ist der Versuch der MBA (VIII, S. 261 u. ö.), Büchner gleich auf der ersten Seite seiner Dissertation einen Widerspruch zu attestieren, weil er neben dem Nachweis des reinsten Typus zugleich »bemerkenswerte Eigenheiten« der Barbe nachweisen will – letzteres auf der Grundlage neuerer Ergebnisse der vergleichend anatomischen Neurologie der Wirbeltiere –, grundlegend verfehlt. Typologische und artspezifische Eigenschaften einer bestimmten niedrigstufigen Art schließen sich eben keineswegs aus, unterscheidet man nur angemessen die Perspektiven, unter denen Büchner auf der Grundlage seiner Wissenschaftstheorie und -methodologie an den Fischen arbeitete. 820 MBA VIII, S. 15936f.. 821 So aber der Versuch von P II, S. 880–892 sowie der MBA VIII, S. 261ff. 822 So sein Hörer August Lüning, zitiert nach P II, S. 893. 823 So der oben schon zitierte Holmes 1990, S. 62: »Mir will scheinen, daß Büchner auch als Naturforscher Kommunist war.« Zur Kritik an dieser Politisierung noch der anatomischen Naturforschung vgl. Stiening 1999, S. 98f.; Roth 2002, S. 65; Stiening 2006a, S. 113f.; Roth 2016. 824 Vgl. hierzu Stiening 2008.

Fazit: Naturwissenschaft und Politik?  

Barbe als Gegenstand seiner anatomischen Forschungen darauf zurückzuführen, dieser Fisch habe »viele Gräten, wenig Fleisch« und sei daher der »Proletarier unter den Fischen«.825 Die vorstehende Analyse und Interpretation der büchnerschen Entwicklung zu und Ausprägung einer naturphilosophisch fundierten Naturforschung ergeben dagegen keinerlei Anbindungen an politische Kategorienbildungen. Unabhängig von dem politromantischen Dilettantismus der politisierenden Büchner-Forschung ist diese vollständige Abstinenz von politischen Fragestellungen jedoch im Kontext der zeitgenössischen Naturphilosophie durchaus von charakteristischer Aussagekraft für Büchners naturwissenschaftliche und politische Position. Denn kein Geringerer als sein akademischer Protektor Lorenz Oken nahm für sich in Anspruch, aus seiner Naturphilosophie, ein weitgehend liberales Rechts-, Staats- und Politikverständnis abzuleiten.826 Auch Christian Gottfried Nees von Esenbeck und Georges Cuvier meinten in ihrer Naturforschung die Kriterien für eine bürgerliche Staatsund Gesellschaftspolitik zu finden.827 Der Einfluss dieser Thesen zur Ableitung des Politischen aus einem Naturmodell auf romantische Gesellschafts- und Staatskonzeptionen, wie die Adam von Müllers, ist bekannt. Schon 1819 hatte der Bonner Mediziner Christian Friedrich Harless die umgekehrte Bedingungsrichtung mit Thesen zu einem Republicanismus in der Naturwissenschaft und Medizin entwickelt.828 Im Jahre der Bearbeitung und Fertigstellung der büchnerschen Dissertation 1836 veröffentlicht der böhmische Mathematiker, Naturwissenschaftler und Ökonom Georg von Buquoy in Okens Isis einen mehrteiligen Aufsatz Zur Staatskunst in Lichte der Physiologie.829 Ab den 1840er Jahren versuchten bekanntermaßen auch sozialistische Theoretiker den »Gegensatz von Natur und Geschichte« aufhebend830 die »Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtli-

 825 So Hauschild 1993, S. 521; wiederholt in Hauschild 22004, S. 120; zur berechtigten Kritik hieran P II, S. 891; Stiening 1999; Roth 2016; den gelungensten Kommentar zu diesem Unsinn liefert Hauschild selbst in einer Studie zu neueren Büchnerdeutungen, die er als »originell daherkommende, Aufmerksamkeit erheischende, bei näherem Hinsehen jedoch seifenblasenartig zerplatzende und insofern von kurzer Verfallszeit bestimmte Extravaganzen und Übertreibungen« bezeichnet (Hauschild 2013–2015, S. 276). Dem lässt sich im Hinblick auf seine ›Interpretation‹ der Barbe nichts hinzufügen. 826 Siehe Breidbach 2001, S. 22: »Wissenschaft ist vielmehr in sich selbst politisch. Wissenschaft ist Freiheit. Diese Freiheit ist in der Natur gegründet, in der der Geist als Moment und Telos zu begreifen ist und in der die Geschichte dieser Natur auch zu realisieren ist. Naturphilosophie ist demnach bei Oken konsequent immer politische Naturphilosophie in eben diesem Sinne.« Vgl. auch Ries 2004, S. 188ff. sowie Brand 2006, S. 201f. 827 Vgl. von Engelhardt 2004 sowie Cheung 2004. 828 Harless 1819. Zu den allgemeinen Tendenzen der Politisierung der Naturforschung sowie ihrer methodischen und systematischen Kategorien im frühen 19. Jahrhundert vgl. Kanz 1997. 829 Buquoy 1836. 830 MEW 3, S. 39.

  Naturphilosophie chen Prozeß« zu begreifen;831 und schon 1842 hatte Balzac in Avant-Propos die menschliche Gesellschaft partiell als ein Natursystem begriffen. Sowohl im Rahmen der konservativ-romantischen als auch im Kontext der sozialistischen Naturalisierung von Politik und Geschichte wird durch den Anspruch des Auffindens und Rekonstruierens nomologischer Strukturen für den Bereich interpersonaler Relationen in Gesellschaft, Staat und deren Geschichte Natur und Kultur identifiziert und damit jede Vorstellung und Wirksamkeit von Freiheit verunmöglicht. Trotz gewichtiger Thesen der im Folgenden noch genauer zu betrachtenden Forschung, nach der auch Büchner nach einem »Naturgesetz der Gesellschaft« gesucht habe,832 lässt sich vielmehr nachweisen, dass der angehende Naturforscher, Politiker und Dichter die Bereiche der Naturphilosophie, der Erkenntnistheorie, der politischen Theorie und der Historik in Methodik und Systematik klar unterschied. Von Ableitungen einer begründeten Politik aus einem wissenschaftlichen Naturverständnis bzw. einer Naturtheorie aus einem Rechts-, Staats-, Gesellschaft- oder Geschichtsverständnis hat sich Büchner grundlegend distanziert.833 Nicht nur seine politische Flugschrift, auch eine Reihe brieflicher Äußerungen weisen auf diese grundlegende Differenz zwischen theoretischer Naturphilosophie und praktischer Politik-, Gesellschafts- und Geschichtstheorie hin.834 Er folgte hierin seinem Gießener Lehrer im Fach Philosophie Joseph Hillebrand, der schon 1830 unmissverständlich festgehalten hatte: Daher waltet im Menschen die Freiheit. Er ist somit keine höhere Potenz der Natur, sondern von dieser wesentlich unterschieden, indem die Natur für ihn ist, seines eigenen Daseyns nothwendige Voraussetzung. Daher kann denn auch der Mensch nicht als ein Produkt unterer und unvollkommener Daseynsstufen betrachtet werden, wie es die Naturphilosophie vielfach versucht hat, eine Ansicht, welche weder durch die Erfahrung bestätiget wird, noch sich im Gedanken bewährt.835

Nachweisbar wird die These, dass Büchner diese Ansicht geteilt hat, die sich bei der Betrachtung seiner Naturforschung schon nahelegte, allererst in einer Auseinandersetzung mit seinem politischen Wissen, zu der nunmehr überzugehen ist.

 831 MEW 23, S. 16. 832 So Frank 1998, S. 590; vgl. schon Müller-Seidel 1968, S. 209; Grab 1987, S. 357 u. v. m. 833 Siehe hierzu Roth 2016. 834 Vgl. hierzu schon Stiening 2006. 835 Hillebrand 1830, S. 160.

4 Politik 4.1 Wissenshistoriographie vs. politische Gesellschaftsgeschichte Georg Büchners politische Flugschrift, Der Hessischer Landbote, und seine in Briefen verstreuten politischen Äußerungen sind – anders als seine wissenschaftlichen Texte – mit Hilfe wissensgeschichtlicher Analyse- und Interpretationsverfahren nicht vollständig zu erschließen. Eine politische Flugschrift1 ist kein politikwissenschaftlicher, naturrechtlicher oder historiographischer Text mit Anspruch auf szientifische Objektivität, sondern ein aus politischen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungszwängen gewonnenes und auf politisches Handeln ausgerichtetes sprachliches Interaktionsprodukt.2 Gleichwohl kann eine Flugschrift – und dies gilt im Falle des Hessischen Landboten in eminentem Sinne – Wissenselemente enthalten, die ihre Rhetorik und Argumentation konstituieren; ihr Grund und Zweck richtet sich jedoch nicht auf eine Akkumulation von Wissen, sondern auf das politische Reflektieren und Initiieren von Handlungen. Dass allerdings die politisch-praktischen Interessen und Kompetenzen Büchners ebenso wenig mit der in den 1970er Jahren billigen Münze der »Parteilichkeit« zu identifizieren und schon gar nicht zu rekonstruieren sind,3 werden die folgenden Überlegungen zeigen. Es lässt sich vielmehr nachweisen, dass Büchner – gemäß der von ihm philosophisch ermittelten Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis – sein Wissen und sein politisches Handeln keineswegs an der Maxime »eingreifender Untersuchung« ausrichtete.4 Die Forschung der 1970er und 1980er Jahre meinte jedoch dieses Theorie-Praxis-Verhältnis bei Büchner vorzufinden, obwohl jene Formel erst einer »der chinesischen Revolution« entsprechenden Strategie entstammt.5 Unabhängig von derartigem Anachronismus lässt sich allerdings selbst die von

|| 1 Zur Gattungsfrage vgl. Hofmann 2009, S. 11–13; Hofmann u. Kanning 2013, S. 73–77. 2 Vgl. hierzu Ruckhäberle 1975, S. 15–34; Klotz 1975, S. 388ff. 3 Mayer 1979a, S. 5, S. 83 u. S. 110 sowie Mayer 1979b, S. 366; dass diese Zuweisung einer angeblichen Parteilichkeit Büchners selbst parteilich ist, also nur bedingt wissenschaftlichen Standards entspricht, zeigt schon Wetzel 1981, S. 248. Darüber hinaus klärt Mayer auch nicht, welche der zeitgenössisch erheblich divergierenden Modelle von Parteilichkeit (vgl. hier Leyh u. Fetscher 1989, Sp. 138–146, spez. Sp. 140ff.) von Büchner übernommen bzw. vertreten und praktisch ausgestaltet würden. Gleichwohl gefallen sich auch andere Interpreten Büchners in dieser Attitüde und damit in der Verwendung der politischen Kategorie der Parteilichkeit, so in seltener Einmütigkeit mit Mayer: Wender 1988, S. 208ff. u. S. 239ff.; Hinderer 1990, S. 89 oder auch Hauschild 2013, S. 121. 4 So aber Mayer 1987, S. 182; affirmierend aufgenommen noch bei Hauschild 22004, S. 65. 5 Ebd. https://doi.org/10.1515/9783050093215-004

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Marx und Engels kurze Zeit später entworfene Annahme einer politisch-praktischen Relevanz von Theoriearbeit6 bei Büchner nicht nachweisen.7 Im Gegenteil hält er aus begrifflichen und erfahrungsbedingten Gründen an einer Trennung von politischer Theorie und politischer Praxis fest, die vermittelte Importe von Wissen in seine politischen Texte aber durchaus zulässt. Büchners briefliche Äußerungen sind mithin weitgehend auf eine konkrete politische Praxis bezogen und ausgerichtet, der er keineswegs – wie viele seiner literarischen Zeitgenossen – nur beobachtend gegenüberstand. Er griff vielmehr während seiner Gießener Zeit handelnd in diese »politischen Verhältnisse« ein. Dabei sind seine Motive und Interessen sowie seine Handlungsbereitschaft und -fähigkeit auf diesem politischen Feld vor allem herrschafts- und sozialpolitisch ausgerichtet: Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d. Laternen.8

Die ebenso zynische wie affektierte Schlussformulierung, die keineswegs an einen politisch Gleichgesinnten, sondern an den eher liberal-konservativen Freund August Stöber adressiert ist,9 der also provoziert werden soll,10 zeigt zugleich die Dimensionen der Bereitschaft Büchners zur Gewalt und deren Ausrichtung auf eine revolutionäre Form. Deutlich wird zudem, dass er schon früh nicht nur den aristokratischen Konservativismus, sondern auch den bürgerlichen Liberalismus als politischen Gegner ausgemacht hatte.11 Büchner gehört damit zu jenen barrikadebereiten Studenten radikaldemokratischer Provenienz, die spätestens seit der Julirevolution die revolutionäre Atmosphäre erheblich mitprägten.12 Die Dokumente dieses Handlungs- und Reflexionsbereiches Büchners sind also weniger als Momente einer reinen Ideen- bzw. Wissensgeschichte denn vielmehr als solche einer soziopolitischen Realgeschichte zu interpretieren. Wie einleitend bemerkt, muss sich die Wissensgeschichte der Grenzen ihrer Erklärungsleistungen bewusst sein, um innerhalb dieser frei agieren zu können; am Hessischen Landboten erweisen sich diese Grenzen als eng gesteckt. Wenn auch zumeist ohne methodische Begründung, wurde der Text des Hessischen Landboten zu Recht als Gegenstand einer allgemeinen Politik- und Sozialge-

|| 6 Vgl. die präzisen Ausführungen bei Deppe 2008, S. 41. 7 So aber Mayer 1979a, S. 62. 8 Brief an August Stöber vom 9. Dezember 1833; P II, S. 37637–3773/MBA X.1, S. 2932–35. 9 Zu August Stöbers politischer Position vgl. Hauschild 1993, S. 149f. 10 Vgl. auch Büchners provokante Auftritte in der von den Gebrüdern Stöber geleiteten Studentenverbindung Eugenia, in Mayer 1986/87, S. 368ff. 11 Vgl. hierzu Leonhardt 2001, S. 386f. 12 Zur Sozialstruktur der Barrikadenkämpfer der Julirevolution vgl. Deinet 2001, S. 75f.

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schichte bzw. einer Sozialgeschichte der Literatur der 1830er Jahre interpretiert.13 Zwar verzerrte sich diese methodische Perspektive in den vielfach weltanschaulich fundierten Studien der 1970er und 1980er Jahre zu Formen einer linken Heldengeschichte,14 die in Hans Mayers Studie ihr – allerdings methodologisch reflektiertes15 – Fundament hatte.16 Doch konnten diese – erklärtermaßen mehr einer politischen Tendenz denn den Kriterien wertneutraler Szientifität verpflichteten17 – Instrumentalisierungen Büchners nicht hindern, dass sein Landbote auch als Moment einer wissenschaftlichen politik- und gesellschaftshistorischen Ereignis- oder Strukturgeschichte interpretiert wurde, die – wenn auch in abgeschwächter Relevanzzuweisung18 – auf den berühmten Text referierte. So stellt Wolfgang Mommsen im Zusammenhang einer Darstellung der politischen Parteiungen der 1830er Jahre, speziell des demokratischen Radikalismus, fest: Der demokratische Radikalismus war aus den kleinen Intellektuellenzirkeln der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hervorgegangen, welche der bestehenden Gesellschaft radikal den Kampf angesagt hatten. Zu ihnen gehörten Georg Büchner, der in seinem Hessischen Landboten nicht nur gegen die monarchische Ordnung, sondern auch gegen die Halbheiten des liberalen Konstitutionalismus polemisierte hatte, und der Geheimzirkel der ›Unbedingten‹, die die Idee einer unitaristischen Republik in freilich religiös verbrämter Form propagiert hatten.19

Auch die dieser eher beiläufigen Erwähnung durch die allgemeine Historiographie20 entgegenstehende These der Büchner-Forschung, der Hessische Landbote sei als die »bedeutendste sozialrevolutionäre Flugschrift« bzw. »das wichtigste sozialrevolutionäre Manifest des deutschen Vormärz«, ja als »der Höhepunkt der politischen Publizistik im Vormärz« zu bewerten, wird weniger gattungsgeschichtlich als politgeschichtlich begründet.21 Über die erhebliche Differenz bei der Zuweisung der historischen Relevanz dieses Textes, dessen politischer Programmatik Mommsen durchaus illusionäre Züge zuschreibt,22 während die Büchner-Forschung von Walter

|| 13 Vgl. u. a. Sengle 1971–1980, III, S. 290ff.; Frank 1998, S. 588–591; Stein 2017, S. 243ff. 14 So vor allem in den Studien von Mayer 1979a; Mayer 1980; Mayer 1981; Hauschild 1993, S. 609ff.; vgl. noch die haltlosen Assoziationen bei Elm 2004, S. 111. 15 Vgl. hierzu Stiening 2008, S. 305–322. 16 Vgl. Hans Mayer 1972, S. 68–199. 17 Vgl. den diese Weltanschauungsphilologie treffend explizierenden und zusammenfassenden Text von Hermand 2000. 18 Vgl. hierzu u. a. Wehler 31996, S. 352, der eher en passant von »Büchners bauernrevolutionäre[m] ›hessische[m] Landbote[n]‹« spricht. 19 Mommsen 1998, S. 95. 20 Vgl. eine ähnliche Einschätzung Büchners im Rahmen frühsozialistischer Theoriebildung bei Graf 1983, S. 700. 21 So Mayer 1979a, S. 94; Grab 1990, S. 82; Hauschild 1993, S. 317; Knapp 32000, S. 88; Hauschild 2013, S. 47f.; Fortmann 2013, S. 71. 22 Vgl. Mommsen 1998, S. 95.

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Grab bis Jan-Christoph Hauschild sich in Superlativen überbot, wird in der Folge noch zu verhandeln sein. Trotz dieses dem Gegenstand angemessenen Schwerpunktes sozial- und politikgeschichtlicher Interpretationen lassen sich sowohl im Hessischen Landboten als auch in Büchners Briefen politische Gehalte nachweisen, die nur über eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung angemessen interpretiert werden können. Tatsächlich ist diese Perspektive in der langen und kontroversen Interpretationsgeschichte des Hessischen Landboten auch stets – wenngleich bewusstlos gegenüber der Distinktion zwischen politischer Theorie und Praxis – eingenommen worden: Entweder wurde seit Hans Mayer und bis in die Rekonstruktionsversuche der MBA versucht, eine in sich geschlossene politische Theorie Büchners zu rekonstruieren, die man – nach den Forschungen Thomas Michael Mayers weithin akzeptiert – mit dem radikallinken Konzept des »Neobabouvismus« identifizierte.23 Oder aber aus einem von Karl Viëtor und Werner R. Lehmann ermittelten Missverhältnis zwischen einer fatalistischen Geschichtstheorie einerseits und der politischen Aktivität Büchners andererseits wurde und wird über Wittkowski bis zu Schwann, Wagner und Faber eine paradoxale Heroik des Autors auf der Grundlage einer pessimistischen Metaphysik schopenhauerscher Provenienz abgeleitet.24 Anders als in Bezug auf die großen Protagonisten der politischen Bühne der 1830er Jahren, etwa Adolphe Thiers,25 Filippo Buonarroti26 oder Wilhelm Schulz,27 scheint die Forschung im Hinblick auf die Rekonstruktion von Büchners ›Politik‹ nicht ohne Rekurs auf eine theoretische Fundierung seiner Position auszukommen. Im Unterschied zu seinen philosophiegeschichtlichen und naturphilosophischen Arbeiten gehört Büchners Hessischer Landbote allerdings zu den bekanntes-

|| 23 Ausgehend von Mayer 1979a, S. 5f., S. 25f. u. S. 31–66; Sengle 1971–1980, III, S. 293; Hermand 1983, S. 115; Grab 1985, S. 73f.; Mayer 1987, S. 173f.; Hauschild 1993, S. 153–162; P II, S. 832ff.; Knapp 3 2000, S. 67f.; MBA III.2, S. 175ff.; MBA V, S. 404; Hauschild 2004, S. 43f.; Glück 2009–2012, S. 65ff.; Morawe 2012, S. 29f.; Hofmann u. Kannig 2013, S. 36f.; Hauschild 2013–15, S. 279f.; kritisch dazu Kurzke 2013, S. 100, der Büchner allerdings zu einem christlichen Sozialisten macht; differenzierter dagegen Fortmann 2013, S. 13ff. u. S. 72ff.; bemerkenswerter Weise nehmen einige neuere Einführungen (Martin 2007, Beise 2010) zu dieser These gar keine Stellung mehr. 24 Vgl. hierzu Viëtor 1949, S. 297ff.; Lehmann 1963, S. 210; Martens 1973a, S. 407; Viëtor 1973 [EA 1934], S. 98–137; Wittkowski 1976, S. 359f., S. 388–398 u. S. 412ff.; Schwann 1997, S. 322ff.; Wagner 2000, S. 204–219; Faber 2002, S. 444f.; Wittkowski 2009, S. 61–74 u. S. 213–232; Kurzke 2013, S. 23, S. 105f. u. ö. 25 Zu Thiers als Geschichtsschreiber vgl. Deinet 2001, S. 38ff. 26 Zu Buonarroti vgl. die nach wie vor unüberbotene Studie von Saitta 1951; Höppner u. SeidelHöppner 1975, I, S. 227ff.; Ruckhäberle 1977, S. 40–60; Pilbeam 2000, S. 30ff. sowie Deinet 2001, S. 140ff. 27 Zu Wilhelm Schulz vgl. die biographische Arbeit von Grab 1987.

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ten und am intensivsten bearbeiteten Texten des Autors.28 »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« zählte zu den Schachtrufen nicht nur einer ›linken‹ Germanistik seit Hans Mayer, sondern auch und vor allem zu den Slogans einer politisierten Studentenschaft der 1970er Jahre sowie einem ihrer szientifischen Pendants, der bis in die 1990er Jahre prosperierenden Büchner-Forschung.29 Auch die sich in Ost- und Westdeutschland seit den 1960er Jahren ergebnisreich und wirkungsvoll entfaltende Sozialgeschichte der Literatur fand in Büchners politischer Flugschrift einen gewichtigen Gegenstand zur Erprobung und Ausführung ihrer innovativen Perspektiven.30 In auffälliger Weise bricht die wissenschaftliche Erforschung des Hessischen Landboten und damit der politischen Position seines Autors Mitte der 1990er Jahre weitgehend ab. Mit Ausnahme der Kommentare Henri Poschmanns in seiner WerkAusgabe von 1992/9931 und den Kapiteln zur Flugschrift in Gerhard P. Knapps, Ariane Martins, Christian Neuhubers, Arnd Beises oder Michael Hofmanns und Julian Kannigs Einführungen32 mussten eine rhetorikgeschichtliche Studie von 199433 und das Nachwort zur Studienausgabe des Landboten aus dem Jahre 199634 lange Zeit als letzte wissenschaftliche Arbeiten zu diesem berühmten Text Büchners angesehen werden. Mit der Vorabpublikation zweier neu aufgefundener Briefe Büchners35 und der weithin wahrgenommenen Biographie im Jahre 1993 stellten insbesondere die in den 1980er Jahren die engere Landboten- wie die weitere Büchner-Forschung prägenden Thomas Michael Mayer und Jan-Christoph Hauschild ihre Veröffentlichungen zu Büchners politischer Flugschrift weitgehend ein. Erst im zeitlichen und kontextuellen Umfeld der 2013 erschienenen Neu-Edition des Hessischen Landboten im || 28 Vgl. hierzu – um nur die das Interpretationsfeld konstituierenden Arbeiten zu nennen – Viëtor 1949, S. 72–92; Viëtor 1950; Hans Mayer 1972, S. 178–188; Jancke 31979, S. 75–106 [hier auch eine präzise und ausführliche Auseinandersetzung mit der älteren Literatur]; Ruckhäberle 1975, S. 220ff.; Klotz 1975; Schaub 1977; Mayer 1979a, S. 183–287; Mayer 1980, passim; Mayer 1981, passim; Mayer 1985, S. 147–168; Mayer 1987, passim; Promies 1989; Hauschild 1993, S. 313–323; Müller-Nielaba 1994; Schaub 1996; P II, S. 804–874; Knapp 32000, S. 67–88; Hauschild 22004, S. 59–68; Hofmann 2009; Dedner 2009–2012; Till 2009–2012; Meyzaud 2012, S. 149–188; MBA II.1, S. 55–134 u. II.2, S. 339–398; Hofmann u. Kanning 2013, S. 66–86; Fortmann 2013, S. 46–55 u. S. 71–125; die Beiträge in May, Roth u. Stiening (Hg.) 2016 sowie Graff 2017, S. 157–165. Ein Forschungsbericht, der sowohl die umfangreiche ältere als auch die kontroverse neuere und neueste Forschung umfasste, ist als ein Desiderat der Forschung zu bezeichnen. 29 Vgl. hierzu Wetzel 1981; Schmitz 2000. 30 Vgl. hierzu die Arbeiten von Sengle 1971–1980, III, S. 265ff.; Jancke 31979; Poschmann 1985 oder Frank 1998. 31 P II, S. 804–871. 32 Knapp 32000, S. 67–88; Martin 2007, S. 130–135; Neuhuber 2009, S. 13–42; Beise 2010, S. 46–54; Hofmann u. Kanning 2013, S. 66–86. 33 Müller-Nielaba 1994. 34 Büchner u. Weidig 1996, S. 181–212. 35 Vgl. Gillmann, Mayer, Pabst u. Wolf 1993.

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Rahmen der MBA, Abschluss und Höhepunkt der gesamten Ausgabe, wurden neuere Interpretationen publiziert. Dabei ragen insbesondere die Bände der MBA selbst, die auf der Grundlage der Materialien Thomas Michael Mayers zu einer deutlich veränderten Auslegung tendieren, sowie die kulturwissenschaftlichen Arbeiten zur sogenannten Biopolitik bei Büchner heraus.36 Weil die nachfolgende Interpretation des politischen Wissens Georg Büchners, die eine Rekonstruktion seiner praktischen Überzeugungen auf diesem Feld keineswegs ausschließt, vor allem wissensgeschichtlich ausgerichtet ist, bedarf sie aus methodischen und systematischen Gründen des konkreten politgeschichtlichen Kontextes nur bedingt – schon gar nicht in den Formen jener minutiösen Rekonstruktionen der Genese der politischen Aktivitäten im Umfeld und der Nachgeschichte des Textes, die letztlich von nur hagiographischem bzw. regionalgeschichtlichem Erkenntniswert sind.37 Politisches Wissen, so sehr es sich bemüht, die Praxis auf den Begriff zu bringen, entwickelt sich nicht ausschließlich aus empirischen Interessens- und Handlungszusammenhängen, sondern auch – weil Wahrheit beanspruchend – aus der Theorie. Es sei gleichwohl ausdrücklich und erneut darauf hingewiesen, dass mit diesem wissensgeschichtlichen Konzept eine umfassende Rekonstruktion des politischen Gehalts des Hessischen Landboten nicht erbracht werden kann. Dennoch lässt sich nachzeichnen, dass sowohl der Text der Flugschrift als auch Büchners briefliche Äußerungen zu politischen und polittheoretischen Sachverhalten konstitutive Begründungsmomente enthalten, die durch eine Analyse der wissensgeschichtlichen Kontexte polit-, sozial- und geschichtsphilosophischer bzw. -wissenschaftlicher Provenienz näherhin bestimmt werden können. Die politische Ausrichtung der Flugschrift sowie die forschungsgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch einflussreiche These von Büchners »Frühkommunismus« bzw. »Neobabouvismus«38 können zudem mit dieser Perspektive überprüft werden. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt ein notwendig skizzenhafter Überblick über jene die 1830er Jahre prägenden soziopolitischen Ereignisse und Entwicklungen geboten, die für Genese und Systematik der ›politischen Theorie‹ Büchners von konstitutiver Bedeutung sind. Diese realgeschichtliche Kontextskizze erweist sich im vorliegenden Kapitel als erforderlich, weil Büchners Wissen vom Politischen unmittelbar korrespondiert mit – keineswegs aber dependiert von – den politischen Geschehnissen und Erscheinungen struktureller Entwicklungen des Zeitraums. Die Gegenstände politischer Ideengeschichte sind zumeist – nicht a priori, weil sie auch von wissenschaftsinternen Prozessen abhängen – für die politischen Realien und

|| 36 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten von Meyzaud 2012 und Fortmann 2013. 37 Vgl. hierzu u. a. Hans Mayer 1972, S. 144–200; Mayer 1981; Mayer 1987; Hauschild 1993, S. 275ff.; Mayer 1995–99a; Gröbel 1995–99; Hauschild 2013 sowie MBA II.2. S. 3–334. 38 Vgl. die in Anm. 23 dieses Kapitels aufgeführten Arbeiten.

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sozialen Lebenswelten ihrer Autoren prägender als andere Bereiche der Ideen- und Wissensgeschichte, wie etwa das Nervensystem der Fische. Das gilt insbesondere für Phasen politischer Instabilität wie die 1830er Jahre.39 Denn polittheoretische oder -philosophische Problemlagen versuchen eine Wirklichkeit zu erfassen und ggf. gar zu verändern, die ihre Autoren unmittelbar umgibt, ja bisweilen existentiell bedrängt. Politische Ideengeschichte stellt mithin je schon eine Geschichte der Theorien politischer Praxis und ihrer realgeschichtlichen Kontexte dar.40 Büchners politische Theorie – soweit sie aus den fragmentarischen Dokumenten zu ermitteln ist – bezieht sich in weiten Teilen auf die konkrete empirische Praxis seiner revolutionären, geheimgesellschaftlichen Aktivitäten; sie basiert aber auch auf normativen Prämissen und Beweisansprüchen, die aus dieser Praxis nicht abzuleiten sind, sie aber zugleich anleiten; in einer expliziten Abgrenzung zwischen normativen Grundlagen und empirisch-deskriptiven Erfahrungsurteilen heißt es schon in einem Brief vom Juni 1833: Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, dass nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann […].41

Insbesondere um die polittheoretische Dimension der in diesen Grundsätzen aufgehobenen Konzeption wird es der nachfolgenden wissensgeschichtlichen Analyse von Büchners politischem Wissen gehen müssen. Um deren Kontur und Valenz aber angemessen zu verstehen, ist es unabdingbar, die für dieses Wissen konstitutiven politischen Realien zu skizzieren. Dabei muss – zumindest in repräsentativer Auswahl – auf die historische Forschung zum frühen 19. Jahrhundert rekurriert werden. Denn die Erforschung der Sozio- und Politikgeschichte des europäischen Vormärz konnte seit den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte verzeichnen,42 die allerdings weder in einer allgemeinen Sozialgeschichte der Literatur noch in der besonderen Büchner-Forschung angemessenen Widerhall fanden. Hatte jene allgemeine Sozialgeschichte der Literatur mehr mit sich selbst und ihrer Selbstabschaffung zu tun,43 so scheint der gegenwärtigen Büchner-Forschung sowohl in ihrer positivistischen als auch in ihrer kulturwissenschaftlichen Variante die Sozialgeschichtsschreibung überhaupt abhandengekommen zu sein.44 Demgegenüber kann und

|| 39 So auch Pilbeam 1991, Winkler 2012, S. 508–542; Morawe 2012a. 40 Zu dieser spezifischen Theorie-Praxis-Relation der politischen Ideengeschichte vgl. Skinner 2003, S. 57–89; Llanque u. Münckler 2006, S. 13–45 sowie insbesondere Lutterbeck 2011, S. 1–35. 41 P II, S. 3693–6/MBA X.1, S. 2114–16; Hvhb. von mir. 42 Das gilt vor allem für die von Wehler 1996 erbrachte und an ihn anschließende Forschung; zu Forschungsüberblicken vgl. Bohlender 2007, S. 7–28; Geisthövel 2008, S. 9–11. 43 Vgl. hierzu Huber u. Lauer 2000, S. 1–11 sowie für den Vormärz Bunzel, Stein u. Vaßen 2003, S. 9–46; vgl. aber Stein 2017, S. 61ff. 44 Vgl. paradigmatisch Borgards u. Neumeyer (Hg.) 2009; Beise 2010; Meyzaud 2012 oder auch Weber 2018.

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muss im Folgenden an einen gegenüber den 1970er und 1980er Jahren erheblich differenzierteren und erweiterten Forschungsstand der soziopolitischen Historiographie zum frühen 19. Jahrhundert angeschlossen werden.45 In einem zweiten Schritt soll – eingebettet in diesen Kontext der soziopolitischen Kultur der 1830er Jahre – aus den vorhandenen Dokumenten eine systematische Rekonstruktion der ›politischen Theorie‹ Büchners vorgenommen werden.46 Weil diese theoretische Position einerseits zwischen 1833 und 1837 geringe, gleichwohl signifikante Veränderungen erfährt47 und von der Forschung andererseits seit den Thesen Thomas Michael Mayers und bis in die Bände der MBA hinsichtlich ihrer Genese zwar minutiös, doch in einem weitgehend undifferenzierten Amalgam aus politpraktischen und -theoretischen Positionen rekonstruiert wurde, können sich die folgenden Überlegungen auf eine Analyse der systematischen Gestalt und der Geltungsansprüche der büchnerschen ›Politica‹ konzentrieren. Erst in einem dritten Schritt soll der Text des Hessischen Landboten analysiert und interpretiert werden, um seine Stellung in der politische Theorie der 1830er Jahre und damit der büchnerschen Positionen lozieren zu können. Das Telos der folgenden Analysen und Interpretationen bleibt eine Rekonstruktion der Gehalte der büchnerschen Texte. Die für die Büchner-Forschung der letzten Jahrzehnte ins Zentrum ihrer Arbeiten gerückte biographische Dimension an ›der Politik‹ des Autors kann in vorliegendem Zusammenhang zurückgestellt werden. Nicht nur wird sich zeigen, dass ein umfassendes Büchner-Bild keineswegs aus seinen politischen Positionen zu gewinnen ist, auch ist ein biographischer Fokus in der vorliegenden wissensgeschichtlichen Arbeit unerheblich und daher nicht vorgesehen. Darüber hinaus geben die Texte genügend deutliche Anhaltspunkte für eine angemessene Bestimmung einer politischen Theorie ihres Autors.

4.2 Die 1830er Jahre als politischer Erfahrungsraum: Julirevolution, Pauperismus und politische Parteiungen Die folgende Skizze beschränkt sich auf die Darstellung jener Elemente einer Sozialund Politikgeschichte der 1830er Jahre, die für Büchners intellektuelle Entwicklung und politische Praxis maßgeblich waren. Die Momente dieser Skizze werden mithin nicht deduktiv aus einem allgemeinen Bild der Gesellschaftsgeschichte der 1830er Jahre gewonnen, sondern wurden induktiv aus den Gehalten der büchnerschen Texte und ihrer Funktion für diese ermittelt. In diesem methodischen Grundsatz einer induktiv gewonnen Sozialgeschichte des politischen und literarischen Den-

|| 45 So auch bei Fortmann 2013 sowie MBA II.2. 46 Dass eine solche durchaus zu rekonstruieren ist, behauptet zu Recht Jancke 31979, S. 107. 47 So auch ebd., S. 107f. sowie Stiening 2016.

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kens Georg Büchners sehen sich die folgenden Überlegungen der Konzeption Hans Mayers verpflichtet.48 Nur in dieser präformierten bzw. fokussierten Form ist die Realgeschichte dieses Zeitraums für einen wissensgeschichtlichen Ansatz der Auseinandersetzung mit Büchners Flugschrift von Belang.49

4.2.1 Ein ›Riß durch das Zeitalter‹: Die Julirevolution 1830 Das enge Interdependenzverhältnis zwischen politischer Theorie einerseits und praktischer Politik andererseits gilt in besonderem Maße für diejenige Zeit, die die intellektuelle Biographie Georg Büchners nachhaltig prägte und konstituierte: die 1830er Jahre. Deren kulturhistorische Besonderheit gegenüber dem vorhergehenden Restaurationsjahrzehnt50 wurde einerseits durch jene Instabilität ausgemacht, in die nahezu ganz Europa durch die Julirevolution und die nachfolgenden Unruhen bis 1835 gestürzt wurde.51 Auch wenn die strukturgeschichtliche Stellung der revolutionären Veränderungen von 1830 von begrenzter Bedeutung ist,52 so galt die Julirevolution doch den »Zeitgenossen als Epochenereignis«,53 das »Politik und öffentliche Meinung jäh in tiefste Unruhe versetzte«54 und bei weiten Bevölkerungsteilen den Eindruck tiefer Verunsicherung zurückließ.55 Diese Erosion, die alle lebensweltlichen Bereiche erfasste, von politischen, religiösen und moralischen Normen, Überzeugung und Weltanschauungen56 manifestierte sich in dem Schlagwort von einer »Übergangszeit«, das den europäischen Zeitgeist und seine Fundierung in den politischen Ereignissen des Jahrzehnts treffend erfasste. So hält Karl Immermann 1836 in seinem Epochenroman Die Epigonen fest:

|| 48 Vgl. hierzu Stiening 2008, S. 311–317. 49 Solcherart induktiver Sozialgeschichte, die ausgehend von den literarischen Texten eine mögliche Bedingtheit durch realgeschichtliche Kontexte zu ermitteln sucht und sich um Anschlussstellen zu mentalitäts- und ideengeschichtlichen Perspektiven auf die Texte von sich aus bemüht, um eine angemessene Hierarchisierung der Kontexte und damit ihrer Stellung in der Rekonstruktion der literarischen Gehalte zu ermessen, scheint nach den voreiligen Verabschiedungen an der Zeit. 50 Vgl. hierzu Gersmann u. Kohle 1993; Schulze 1993; Deinet 2001, S. 28–33 sowie Scholz 2006, S. 58ff. 51 Zur Julirevolution aus politik- und sozialhistoriographischer Perspektive vgl. Pinkney 1972; Pilbeam 1991; Wohlrap 1997, S. 207ff. und Winkler 2012, S. 508ff.; zu deren Bedeutung für Büchner vgl. u. a. Hans Mayer 1972, S. 68ff.; Hauschild 1993, S. 123f.; Hauschild 2004, S. 32; Hörmann 2009– 12, S. 151ff.; Morawe 2012a. 52 Vgl. Wehler 31996, S. 345–360; Mommsen 1998, S. 42–67. 53 Hammer 1997, S. 57. 54 Wehler 31996, S. 345; differenzierter Winkler 2012, S. 515ff. 55 Vgl. hierzu u. a. im Hinblick auf Grabbes Irritationen Beßlich 2007, S. 248f.; zu Goethes und Börnes Reaktionen vgl. Kaiser 2008, S. 41–73; Stein 2017, S. 230ff. 56 Zu Recht spricht Leonhardt (2001, S. 361) von einer »Fundamentalpolitisierung«.

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»Ja, wir leben in einer Übergangsperiode«, sagte Wilhelmi. »Das ist ein trivial gewordnes Wort, welches alle Schulknaben jetzt nachplappern. Schwieriger ist es, die ganze Bedeutung desselben zu fühlen, sympathetisch nachzuempfinden, wie viele Menschen an einem solchen Übergange zugrunde gehn.«57

Dass man diesen endgültigen Zusammenbruch der alteuropäischen Feudalordnung auch als Befreiung empfand und feierte, kann man Heinrich Heines Briefen aus Helgoland oder Adalbert von Chamissos Briefen an Louis La Foye im Sommer 1830 entnehmen.58 Gleichwohl überwog nach den mehrfachen Systemwechseln zwischen 1789 und 1830 das Misstrauen, die Sorge nicht allein um die Zukunft, sondern schon um die Stabilität der Gegenwart.59 Im berühmten zweiten Kapitel von La Confessions dʼun enfant du siècle findet der ultrakonservative, als Literat aber von Büchner geschätzte Alfred de Musset60 für dieses Epochengefühl des Übergangs und seine politischen Bedingungsfaktoren ebenso eindrückliche wie einflussreiche Bilder: Trois éléments partageaient donc la vie qui s’offrait alors aux jeunes gens: derrière eux un passé à jamais détruit, s’agitant encore sur ses ruines, avec tous les fossiles des siècles de l’abolutisme; devant eux l’aurore d’un immense horizon, les premières clartés de l’avenir; et entre ces deux mondes … quelque chose de semblable à l’Océan qui sépare le vieux continent de la jeune Amérique, je ne sais quoi de vague et de flottant, une mer houleuse et pleine de naufrages, traversée de temps en temps par quelque blanche voile lointaine ou par quelque navire soufflant une lourde vapeur; le siècle présent, en un mot, qui sépare le passé de l’avenir, qui n’est ni l’un ni l’autre et qui ressemble à tous deux à la fois, et où l’on ne sait, à chaque pas qu’on fait, si l’on marche sur une semence ou sur un débris.61

Das Bewusstsein, in einer Phase des Übergangs aus einer ökonomisch, politisch und kulturell unmöglich, weil instabil gewordenen Ordnung in eine ungewisse, von Eruptionen und ungeahnten Veränderungen, aber auch neuen Möglichkeiten geprägte Zukunft zu leben, setzte sich »unter den sensiblen Köpfen gleich welcher politischen Orientierung« durch und fand erst nach 1848 eine vorläufige Beruhigung.62 Ausgehend von der Eigenperspektive der Zeitgenossen konnte dieser Befund in den unterschiedlichsten Historiographien zu den 1830er Jahren verifiziert werden.63 Sowohl die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichts-64 als auch die Litera-

|| 57 Immermann 1971, II, S. 386. 58 Vgl. Heine 1976 VII, S. 50ff. sowie Langner 2008, S. 279–282. 59 Vgl. hierzu auch die anschaulichen Ausführungen bei Hans Mayer 1972, S. 26–33. 60 Vgl. MBA VI, S. 356–359. 61 Musset 2002, S. 20. 62 Wehler 31996, S. 346f. 63 Zur ertragreichen Unterscheidung zwischen zeitgenössischer Eigen- und szientifischer Fremdperspektive für eine historische Semantik vgl. Vollhardt 2003, S. 198ff. 64 Vgl. Jaeschke 1995, S. VIIf.; Gedö 1995, S. 1ff.; Roth 2004, S. 1 sowie Breidbach 2005, S. 6ff.

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turgeschichtsschreibung65 sprechen den 1830er Jahren den Charakter einer Übergangsphase zu,66 auch wenn dies aus der strukturgeschichtlichen Perspektive – wie erwähnt – nicht zu bestätigen ist.67 In allen Tätigkeitsfeldern Büchners – ausgehend von seinen politischen Aktivitäten über sein philosophiehistorisches und naturwissenschaftliches Arbeitsfeld bis hin zum Bereich seiner literarischen Reflexionen – wirkte das Bewusstsein, in einem Zeitalter des Übergangs zu leben. Dieser die zeitgenössischen Wissens- und Handlungsbereiche nahezu umfassend prägende Veränderungscharakter wirkte zurück auf die politischen Überzeugungen Büchners und seiner Zeitgenossen, die trotz der ab 1832 verschärften Reaktion der politischen Machtzentren in einer europaweit organisierten »Repressionspolitik«68 an der Überzeugung einer grundsätzlichen Herstellbarkeit substanzieller politsystemischer Veränderungen festhielten.69 Büchners strategisch langfristig ausgerichtete Aktivitäten in Führungsrollen politischer Geheimgesellschaften bis ins Straßburger Exil 183570 sowie sein maßgeblicher Anteil am Hessischen Landboten, die er trotz seines taktischen Wissens um die ungünstige Lage für revolutionäre Umtriebe ab 1833 ausübte,71 hat u. a. in diesem Bewusstsein von einer umfassenden Umbruchphase und der Möglichkeit ihrer mittelbaren Gestaltung einen ihrer wichtigsten Gründe. Die bis 1834 nachfolgenden Versuche neuerlicher Aufstände,72 u. a. einer sich herausbildenden Arbeiterklasse in Lyon und Paris,73 aber auch maschinenstürmen-

|| 65 Vgl. schon Sengle 1971–1980, I, S. 12ff.; Köster 1984, S. 10; Titzmann 2002, S. 5f.; Eke 2005, S. 18f. sowie Bittner 2010, S. 131. 66 Vgl. auch Bock 1995, S. 56ff. 67 Vgl. hierzu Wehler 31996, S. 345ff. Vor dem Hintergrund dieser erheblichen Differenz der Bedeutung der Julirevolution für das intersubjektive zeitgenössische Selbstverständnis einerseits und die objektiven wirtschaftlichen und herrschaftspolitischen Entwicklungen andererseits, die für eine rekonstruierende Betrachtung beider Relata zu berücksichtigen ist, scheint mir die These vom einem literarhistorischen Arbeiten »Nach der Sozialgeschichte« (so aber Huber u. Lauer 2000) wenig überzeugend. Die modische Entdifferenzierung von Reflexions- und Wirklichkeitsbereichen im Zeichen der Diskursanalyse verunmöglicht die erforderliche Berücksichtigung jener Differenz zwischen der politökonomischen Irrelevanz der Julirevolution und ihrer wissens- und mentalitätsgeschichtlichen Virulenz. Eine reflektierte Wissensgeschichte aber kann und muss die eigenständigen Einsichten der Sozialgeschichte berücksichtigen. 68 So zu Recht Stein 1998, S. 30; vgl. auch Wehler 31996, S. 366–369; Winkler 2012, S. 524ff.; Stein 2017, S. 71ff. 69 So schon Jancke 31979, S. 108. 70 Vgl. hierzu Mayer 1993, passim; trotz dieser eindeutigen Ergebnisse scheint die Mär von Büchners politischer Resignation nach 1834 ihre Attraktivität zu behalten, vgl. u. a. Kurzke 2013, S. 13, S. 73–83 u. ö. 71 Vgl. diese mehrfach geäußerte Überzeugung Büchners, »jeden direkten revolutionären Versuch unter den jetzigen Verhältnissen für Unsinn« zu halten; Brief an die Familie von Ende Mai/Anfang Juni 1836; P II, S. 43532f./MBA X.1, S. 9415f.; vgl. hierzu die zutreffende Bewertung als »taktisch ratsamen Handlungsverzicht« bei Alt 1987, S. 6. 72 Vgl. Langewiesche 42004, S. 51f.

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der Handwerker74 sowie studentische Burschenschaften in Frankfurt75 und Göttingen verstärkte die Überzeugung vieler Zeitgenossen, in einer Zeit zu leben, die – nach den Versuchen der Restitution des politischen, sozialen und kulturellen Systems Alteuropas zwischen 1815 und 183076 – durch die Notwendigkeit substanzieller Veränderungen auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet charakterisiert wurde. Noch 1839 war Heine trotz nachhaltiger Enttäuschungen über die mäßigen Erfolge davon überzeugt, dass die »Juliusrevolution […] unsere Zeit gleichsam in zwei Hälften auseinander« gesprengt habe.77 Es hatte sich 1830 nämlich gezeigt, dass die Revolution von 1789 keineswegs ein einzigartiges, d. h. ebenso unvergleichliches wie unwiederholbares Ereignis darstellte.78 Damit schien erwiesen, dass – zumindest in bedingter Form und unter erheblichen Gefahren – herrschafts-, ordnungs- und wirtschaftspolitische Strukturen zu verändern, mithin oppositionelle Politik aktiv zu gestalten war. Darüber hinaus zeigte sich schnell, dass dieses Mal der Wirkungskreis der politischen Revolution nicht auf Frankreich beschränkt bleiben würde.79 Wenn auch nicht in allen, so tobte doch in einigen deutschen Staaten die Revolte mächtiger denn je zuvor, so in Braunschweig,80 Kurhessen,81 Sachsen82 und Bayern.83 In diesen Aufständen der frühen 1830er Jahre zeigt sich auch, dass sich die soziale Struktur der Aufständischen seit 1789 nicht wesentlich verändert hatte,84 nur »waren seit der Restauration die Studenten als wichtiger Teil des sozialen Erscheinungsbildes hinzugekommen«.85 Vor allem in Paris86 und im so genannten »Göttinger Aufstand« von 1830/31 gingen »radikale Studenten wieder zur direkten Aktion über«, und zwar mit nicht unerheblichem Erfolg.87 Schon im Laufe seines ersten Straßburg-Aufenthaltes zwischen 1831 und 1833, der ihn im Sinne eines demokrati|| 73 Zur Signalwirkung der Revolte der Lyoner Seidenweber vgl. Giesselmann 1993, I, S. 189–193; Rude 2007 und Morawe 2012b, S. 307–328. 74 Vgl. hierzu die exzellente Darstellung von Spehr 2000, S. 22–57. 75 Die allerdings eher ihren »revolutionären Dilettantismus« dokumentierten, vgl. Mommsen 1998, S. 55. 76 Vgl. Scholz 2006, S. 1–38. 77 Heine 1976, VII, S. 59; vgl. hierzu auch Ulrike Dedner 2003, S. 126 sowie Deinet 2007. 78 So auch Gedö 1995, S. 2; Wehler 31996, S. 345. 79 Vgl. hierzu Hammer 1997; Schmidt-Funke 2009 sowie Winkler 2012, S. 515ff. 80 Zu den Vorgängen in Braunschweig vgl. Wehler 31996, S. 347–349. 81 Vgl. hierzu die Dokumentation bei Görisch u. Mayer 1982. 82 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Studie von Hammer 1997. 83 Siehe Mayring 1990. 84 Das ändert sich für die deutschen Länder erst mit der Märzrevolution, die – zumindest in wichtigen Zentren – weitgehend von den Unterschichten getragen wurde, vgl. Hachtmann 1997, S. 423ff. 85 Deinet 2001, S. 75; vgl. auch die biographischen Ausführungen zum Rechtsstudenten Blanqui und dessen studentischem Umfeld in den Tagen der Revolution bei Bergmann 1986, S. 63–69. 86 Vgl. Pinkney 1972, S. 269f. 87 Wehler 31996, S. 354f.

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schen Radikalismus politisierte,88 erlebte Büchner diese Führungsrolle der Studentenschaft. In den Protokollen der ›Eugenia‹, einer theologischen Studentenverbindung, der Büchner als korrespondierendes Mitglied angehörte, lässt sich diese durchaus noch unspezifische Politisierung Straßburger Studenten in den frühen 1830er Jahren nachlesen: [28. Juni 1832] Es wird mit außerordentlicher Lebhaftigkeit über verschiedene Gegenstände, nahmentlich das sittliche Bewußtsein, über Huß, Ravaillac, u. Sand, welche die Dialektik von Freund Büchner in eine Reihe stellt, über Strafgesetze, u. über das Unnatürliche unsers gesellschaftlichen Zustandes, besonders in Beziehung auf Reich und Arm, debattiert. […] [5. Juli 1832] Freund Bügner [d. i. Büchner] dieser so feurige u so streng republikanisch gesinnte deutsche Patriot, schleudert einmal wieder, alle möglichen Blitze u Donnerkeile, gegen alles was sich Fürst u König nennt; u selbst die constitutionelle Verfassung unseres Vaterlands bleibt v ihm nicht unangetastet; weil sie seiner Meinung nach, nie das Wohl u das Glück Frankreichs befördern wird, so lange noch eine aristocratische Macht, wie die Pairs Cammer, eine mächtige Hand an das Staatsruder zu legen berechtigt ist.89

Diese noch weitgehend unscharfe, eher reflektierende als bestimmte Politisierung wurde in anderen Kreisen zu diesem Zeitpunkt durchaus schon ins Praktische transformiert: So wurde die Straßburger Sektion der Société des Droits de l’Homme et du Citoyen, eines als Amis du Peuple während der Julirevolution gegründeten, nach den Juniaufständen 1832 sich radikalisierenden politischen Vereins,90 zu dem Büchner möglicherweise Kontakte pflegte,91 von Medizinstudenten und damit von Büchners unmittelbaren Kommilitonen geleitet.92 Kurz: Büchners schon während der Schülerzeiten ausgeprägtes politisches Interesse93 fand in den 1830er Jahren gerade wegen seines Status als Student umfassende Realisierungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Auch wenn er durch die Erfahrungen des Exils und die aus der politischen Lage gezogenen Erfahrungsurteile seit 1835 keine unmittelbaren Umsturzpläne mehr verfolgte, weil durch die massive Repressionspolitik »von 1834 bis 1840 […] in

|| 88 Vgl. Hans Mayer 1972, S. 68ff.; Jancke 31979, S. 29ff.; Mayer 1979a, S. 41f.; Mayer 1985, S. 77ff.; Hauschild 1993, S. 153ff.; Knapp 32000, S. 11ff.; Hauschild 2004, S. 30–45; Hofmann 2009, S. 9f.; Beise 2010, S. 23f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36ff.; Beil u. Dedner (Hg.) 2013, S. 133–187. 89 Zitiert nach der vorläufigen Edition bei Mayer 1986/87, S. 368. 90 Vgl. u. a. die allerdings tendenziöse Darstellung bei Höppner u. Seidel-Höppner 1975, I, S. 214ff. sowie die hiervon vollständig abhängigen Ausführungen bei Hauschild 1993, S. 157f.; präziser und methodisch angemessener Deinet 2001, S. 99, S. 140ff. u. S. 161ff.; die exzellente Studie von Pilbeam 2000, S. 32ff. sowie MBA II.2, S. 363ff. 91 Vgl. Mayer 1987; Hauschild 1993, S. 218; MBA II.2, S. 367ff. 92 Vgl. Mayer 1985, S. 89; Hauschild 1993, S. 219 und Elm 2004, S. 110; dass die studentische Dominanz in der Société ab 1833 auch zu Spannungen führte, zeigt Deinet 2001, S. 168. 93 Vgl. u. a. Lehmann 2005, S. 107ff.; MBA II.1, S. 68ff.

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Deutschland jede öffentliche Bewegung« ausstarb,94 blieben die durch die Julirevolution und ihre mehr mentalitätsgeschichtlichen als objektiv politischen Folgen induzierten Erfahrungen und ein daraus resultierendes politisches Selbstverständnis bis zu seinem Tode wirksam; nur einige Wochen vor seiner tödlichen Erkrankung schreibt er an die Eltern aus Zürich: Die Straßen laufen hier nicht voll Soldaten, Accessisten und faulen Staatsdienern, man riskiert nicht von einer adligen Kutsche überfahren zu werden; dafür überall ein gesundes, kräftiges Volk, und um wenig Geld eine einfache, gute, rein republikanische Regierung, die sich durch eine Vermögenssteuer erhält, eine Art Steuer, die man bei uns überall als den Gipfel der Anarchie ausschreien würde …95

Nicht nur die herrschafts- und ordnungspolitischen, zumal die finanzpolitischen Antinomien des hessischen ancien régimes sieht Büchner in der fortschrittlichen Schweiz aufgelöst, auch deren fatale Konsequenzen, eine durch Armut und Hunger ›ungesunde‹ Bevölkerung, sieht er überwunden. Vor allem letzteres hatte seine soziopolitischen Erfahrungen und Überzeugungen sowohl in Hessen als auch in Straßburg geprägt.

4.2.2 Die »Krankheit der Gesellschaft«: Pauperismus in den 1830er Jahren Am 1. Januar 1836 – nach knapp einem Jahr im erzwungenen Exil – schreibt Büchner an seine Familie: Ich komme vom Christkindlsmarkt, überall Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.96

Tatsächlich gehörte eine neue, in jenem auftretenden Maße unbekannte Massenarmut in ganz Europa97 zu den beherrschenden gesellschaftlichen Erscheinungen der 1830er Jahre.98 Obwohl diese Entwicklung erst in den 1840er Jahren ihren Höhepunkt erreichte,99 erlebte schon Büchner u. a. die Entstehung und Entwicklung jener barackenähnlichen Slumbereiche, die an den Rändern der Dörfer und Städte stets

|| 94 So Engels 1846 in MEW II, S. 583. 95 P II, S. 45720–2/MBA X.1, S. 11039–1113. 96 P II, S. 42324–30/MBA X.1, S. 7914–19. 97 Zu den Internationalität generierenden Debatten über die soziale Frage vgl. Bienenstock 2002. 98 Vgl. hierzu auch Matz 1980; Wohlrab 1997, S. 205ff.; Bohlender 2007, S. 143ff.; Kocka 2015, S. 86ff. 99 Vgl. u. a. Kukowski 1995, S. 188–218; Wehler 31996, S. 293f. sowie Hachtmann 1997, S. 79–86.

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anwuchsen und in denen der Hunger zum Alltag gehörte.100 Auch wenn der noch 1770/71 in umfänglichem Maße zu beobachtende Hungertod in den Mangelperioden des frühen 19. Jahrhunderts eher die Ausnahme blieb,101 erkannten die Zeitgenossen schnell, »daß der allseits sichtbare, krebsartig weiterwuchernde Pauperismus die ohnehin wache Revolutionssorge nährte, und es kann nicht überraschen, daß immer häufiger vom Staat eine gesetzliche Neuregelung der Armenpolitik erwartet wurde, damit diese Gefahr nach Kräften entschärft würde«.102 Insbesondere in Hessen zeigten sich die Auswirkungen des erst in den späten 1830er Jahren terminologisch fixierten ›Pauperismus‹103 in unübersehbarer Form, und zwar im Alltag und auf den unterschiedlichen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung.104 In seltener Eindringlichkeit hat der Historiker Jürgen Osterhammel die alltagsgeschichtlichen Erscheinungen des gesellschaftlich induzierten Hungers beschrieben: Die Auswirkungen intensiven Hungers sind kulturübergreifend dieselben: Menschen aller Altergruppen, die ganz Jungen und ganz Alten zuerst, finden immer weniger und immer schlechtere Nahrung: Gras, Baumrinde, unreine Tiere. Die Menschen magern ›zu Skeletten‹ ab. Nebenerscheinungen wie Skorbut sind nahezu unvermeidlich, vor allem wo man (wie in Irland) an eine vitaminreiche Nahrung gewöhnt war. Die Notwendigkeit zu überleben zerstört gesellschaftliche, auch familiäre Bande. Der Kampf um Nahrungsmittel stellt Nachbarn gegen Nachbarn. Menschen begehen Selbstmord, Kinder werden verkauft, Wehrlose von Tieren angefallen. Kannibalismus, so unzuverlässig die Nachrichten darüber stets sind, liegt immerhin in der Fluchtlinie der Verzweiflung. Die Überlebenden sind traumatisiert, Kinder einer Hungergeneration sind häufig physisch geschädigt, Regierungen, denen ursächliche Schuld oder unterlassene Hilfestellung angelastet wird, oft auf Jahrzehnte diskreditiert. Erinnerungen haften im kollektiven Gedächtnis.105

Im Hinblick auf die Gründe für die Entstehung dieses die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ökonomisch, politisch, sozial und kulturell weithin prägenden Problems,106 dem sich kaum eine der gesellschaftlichen Gruppierungen verschließen konnte,107 erweist es sich als erforderlich, zwischen der Eigenperspektive der Epoche und den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Historiographie des 20. und 21. Jahr-

|| 100 Vgl. Kukowski 1995, S. 142ff. 101 Vgl. Geisthövel 2008, S. 136 und Osterhammel 2009, S. 300ff. 102 Wehler 31996, S. 291. 103 Ebd., S. 282. 104 Vgl. hierzu Kukowski 1995 und für die entwickelteren englischen Verhältnisse Bohlender 2007, S. 143ff. u. S. 286ff. 105 Osterhammel 2009, S. 301. 106 Vgl. hierzu Matz 1980. 107 Vgl. hierzu u. a. Tocqueville 2007. Auch Justus von Liebigs Schwerpunktbildung auf die ernährungswissenschaftliche Biochemie seit den 1840er Jahren hatte in den schmerzhaften Erfahrungen der Hungersnöte des frühen 19. Jahrhunderts einen prägenden Erfahrungshintergrund, vgl. hierzu Brock 1999, S. 234ff.

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hunderts deutlich zu differenzieren.108 Denn »[d]ie zeitgenössische Ursachendebatte über den Pauperismus erwog buchstäblich Hunderte von Gründen«,109 zu denen ebenso schnell wie einflussreich die moralische Diskriminierung der Armut durch einen weltanschaulichen Konservativismus gehörte, der schon seit dem späten 18. Jahrhundert den »arbeitsscheuen Pöbel« für die Misere verantwortlich macht.110 Andererseits fand auch die von Engels schon 1845 vorgetragene These der maßgeblichen Verantwortung des entstehenden Industriekapitalismus für jene massenhafte Pauperisierung, die zwischen 1845 und 1847 ihren Höhepunkt erreichte,111 bis ins späte 20. Jahrhundert – und so auch in der Büchner-Forschung112 – eine große Anhängerschaft.113 Die hierzu bedeutendste Alternativerklärung, die ebenfalls bis ins 20. Jahrhundert von erheblichem Einfluss war, sah im allgemeinen Zusammenbruch Alteuropas und der schwierigen Geburt der Moderne, also im zivilisationsgeschichtlichen Systemwechsel überhaupt114 und dem letztlich unerklärlichen Bevölkerungswachstum während der Sattelzeit die entscheidenden Gründe für das Entstehen der Massenarmut.115 Hans Ulrich Wehler hat mit überzeugenden Gründen dargelegt, dass die beiden letzteren Erklärungsmodelle (das erste bedarf keiner ernsthaften Auseinandersetzung) ungenügend sind, weil sie einerseits die komplexe Verursachung des Bevölkerungswachstums – eines der wichtigsten ursächlichen Momente des Pauperismus und damit der politischen und ökonomischen Revolutionierungsprozesse des frühen 19. Jahrhunderts – durch die Frühformen des Agrar- und des Handelkapitalismus (keineswegs durch eine verbesserte medizinische oder hygienische Versorgung bzw. Kultur) verkennen.116 Andererseits wird in der durch Engels inaugurierten Erklärungsweise der Entwicklungsstatus des industriellen Kapitalismus in Deutschland für die 1830er und noch die 1840er Jahre falsch eingeschätzt; insbesondere für die Entstehung eines industriellen Arbeiterproletariats ist diese kritische These Wehlers zum sozioökonomischen Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft

|| 108 Vgl. Vollhardt 2003, S. 195ff. 109 Wehler 31996, S. 288 sowie Kukowski 1995, S. 445–546. 110 Vgl. hierzu insbesondere die Urteile von Seiten des Liberalismus, dokumentiert und analysiert in Bohlender 2007, S. 298ff. sowie des Konservativismus bei Hegel 1986, VII, S. 387ff. (Rph §§ 241ff.) sowie Wohlrab 1997, S. 28ff. 111 Vgl. MEW II, S. 225–506, spez. S. 253ff. 112 Vgl. Ullman 1972, S. 87f. sowie Mayer 1980, S. 364ff. und noch Dedner 2000, S. 189. 113 Vgl. u. a. Köhler 1977, S. 80f. und noch Gray 2008. 114 Zu dieser kulturkritischen Armutsanalyse vgl. Tocqueville 2007, S. 9–21. 115 Vgl. hierzu Wehler 31996, S. 283f. 116 Vgl. hierzu insbesondere ebd., S. 283ff. und Kocka 2015, S. 89ff.; zur Zurückweisung einer angeblichen Rolle der Medizin für das Bevölkerungswachstum seit 1750 vgl. Wehler 31996, S. 21: »Der Einfluß der Medizin wird für diese Zeit häufig überschätzt.« Dies gilt u. a. für die als Standardwerk firmierende diskursanalytische Arbeit von Sarazin 2001, der allerdings eine Auseinandersetzung mit Wehlers Thesen nicht führt.

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in den 1830er Jahren auch von anderer Seite – selbst für die Berliner Metropole – bestätigt worden.117 Wehler zeigt auch, dass dieser Erklärungsansatz wegen einer mehr politischen als politökonomischen Betrachtung der entwickelteren Form des Industriekapitalismus dessen Leistungen bei der Überwindung jener Armutswelle übersieht.118 Das Gros der Zeitgenossen – politisierte wie politisch uninteressierte – waren von diesen Einsichten allerdings Welten entfernt. Erst in den 1840er Jahren erkannten einige wenige – so der liberale Nationalökonom Friedrich List –, dass die »Fabrikindustrie« nicht die entscheidende Verursacherin, sondern deren Ausbau vielmehr ein – zumindest mittelfristig wirksames – Hilfsmittel gegen die schlimmste Not darstelle.119 In den 1820er und 1830er Jahren erwiesen sich jedoch selbst die klügsten Zeitgenossen gegenüber diesem wohl drängendsten sozioökonomischen und -politischen Problem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als hilf- und kopflos. Kaum einer erkannte, dass bestimmte Folgen der nach 1806 einsetzenden Reformpolitik selbst armutsfördernd wirkten, so die Unklarheit über die bürokratische und finanzpolitische Zuständigkeit der Armenbetreuung durch die Gemeindereformen und die ›Verstaatlichung‹ der zuvor korporativen Gemeindeaufgaben.120 Doch auch ideologische Verstocktheit der gesellschaftlichen Funktionseliten verschärfte das Problem: Der Pauperismus in Preußen wuchs sich auch deshalb so gravierend aus, weil die Bürokratie in wirtschaftsliberaler Gesinnung, grundsatztreu und prinzipienfest, selbst gegenüber der größten Not Abstinenz statt Sozialpolitik praktizierte.121

Blickt man in die maßgeblichen politischen Theorien und Sozialphilosophien der 1830er Jahre, dann wird die Irritation der Zeitgenossen über Ursprünge, Ausmaße und Instrumente zur Überwindung der Massenarmut offensichtlich: So erkennt Georg Wilhelm Friedrich Hegel – ein gegenüber den herrschafts-, d. h. institutionenund ordnungspolitischen Veränderungen in den europäischen Staaten noch in den 1830er Jahren sensibler Beobachter und Interpret122 – zwar klar, dass »[d]ie wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, […] eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende« ist.123 Dennoch sieht er den ›modernen‹ – d. h. laut Hegel leicht reformierten – Ständestaat in der Lage, durch Anleitung zu einer Kom-

|| 117 Vgl. die exzellente Studie von Hachtmann 1997, S. 487ff. 118 Wehler 31996, S. 284f. sowie Wohlrab 1997, S. 237ff. 119 Vgl. hierzu Wehler 31996, S. 288f. 120 Siehe ebd., S. 295. 121 Ebd., S. 293. 122 Vgl. hierzu Hegels politische Reflexionen »Über die englische Reformbill« aus dem Jahre 1831, in Hegel 1986, XI, S. 83–128. 123 Rph § 244A, Hegel 1986, VII, S. 390; vgl. hierzu auch Wohlrab 1997, S. 180ff.

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bination von privater und öffentlicher Armenfürsorge der Problematik zu steuern.124 Den Fähigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber – in seiner Rechtsphilosophie substanziell vom Staat getrennt – bleibt Hegel dagegen schon 1821 skeptisch: Und so kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.125

Schon in den 1820er Jahren arbeitete der Berliner Philosoph mithin die der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsform eignende Notwendigkeit und Unaufhebbarkeit der sozialen Frage heraus. Allerdings ist er zugleich davon überzeugt, dass die durch den Staat beförderte moderne Ökonomie durch Welthandels- und Kolonisationsformen, mithin durch die zeitgenössischen Formen der Globalisierung, diese drängenden Probleme aufzulösen vermag.126

|| 124 Es ist diese Kombination, die Tocqueville für unmöglich hält. Seiner Ansicht nach zerstört staatliche Armenfürsorge die Formen individueller, aus christlicher Nächstenliebe motivierter Unterstützung für Bedürftige (vgl. Tocqueville 2007, S, 22–41). An dieser Hegels Konservativismus überbietenden Argumentation gegen die Herstellung von Arbeitsscheu und Müßiggängertum durch Sozialstaatlichkeit erweist sich die tiefe Verwurzelung Tocquevilles in vormoderner Weltanschauung. Dass die politische Praxis gegenüber dieser politischen Theorie zumindest auf kommunaler Ebene die Probleme – auch theoretisch – weit schärfer sah, zeigt Lutterbeck 2011, S. 109ff. 125 Rph § 245, Hegel 1986, VII, S. 390; wie aus dieser Formulierung ersichtlich, unterscheidet Hegel mit Nachdruck zwischen der Armut und dem Pöbel: »Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, dass der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird, wie z. B. die Lazzaroni in Neapel.« Es sind solcherart Distinktionen eines politischen Liberalismus, die ab den 1830er-Unruhen fragwürdig werden, weil die Quantität der unverkennbaren Massenarmut und die dadurch erwirkte politische Instabilität gegenüber der »Gesinnung« ihrer Träger indifferent werden. Büchner wird demgegenüber einerseits gerade das mangelnde politische Bewusstsein der Armen beklagen (und die Leichtigkeit, sie durchs Spektakel abzulenken, vgl. die Szene auf dem Revolutionsplatz kurz vor der Hinrichtung der Dantonisten in Dantonʼs Tod IV/7: »E i n W e i b m i t K i n d e r n . Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz.« [MBA III.2, S. 7815f.]), damit aber das moralisierende Urteil Hegels über den »Pöbel« politisieren. Zugleich wird er in Leonce und Lena der Frage der ›Arbeitsscheu‹ – ebenfalls unter Rückgriff auf das Beispiel der Lazzaroni (MBA VI, S. 10939) – eine andere als nur politisch bedrohliche Perspektive abgewinnen. Weil aber auch für Hegel Armut mehr als physische Not, nämlich »Beraubung der Persönlichkeit und Menschlichkeit« (so zu Recht Avineri 1976, S. 165) darstellt, ist seine Position von der Büchners zur Frage der ethischen Bedeutung der Armut nicht substanziell unterschieden. Erst die Überlegungen zu den Ursachen der Pauperismusproblematik und den Wegen ihrer Lösung trennt Büchner von Hegel. 126 Zu Hegels Globalisierungs- und Imperialismus-Theorie vgl. Rph. § 246 u. § 248, Hegel 1986, VII, S. 391f.; Hegels Vorstellungen entsprachen allerdings den politischen Programmen der englischen Parteien, die seit den 1830er Jahren das Konzept des »shovelling out of the paupers« im Rahmen des Empire-Ausbaus praktizierten; vgl. Wende 2008, S. 135ff.

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Skeptischer gegenüber den hegelschen Lösungsvorschlägen zeigte sich noch zu dessen Lebzeiten sein Schüler Eduard Gans.127 Wie sein Jugendfreund Heine128 hatte Gans England besucht und damit den Industriekapitalismus in seiner damals fortgeschrittensten Form erlebt.129 Dessen armutsproduzierende Dimensionen beschreibt er in den 1830er Jahren wie folgt: Man besuche die Fabriken Englands, und man wird Hunderte von Männern und Frauen finden, die abgemagert und elend dem Dienste eines einzigen ihre Gesundheit, ihren Lebensgenuß, bloß der ärmlichen Erhaltung wegen, zum Opfer bringen.130

In einer kritischen Annäherung an den Saint-Simonismus, den schon Hegel rezipierte und seinen Schülern zur kritischen Lektüre anempfahl,131 sieht Gans die Lösungen des modernen Pauperismus weniger in der Expansion der nationalen Ökonomien (wie Hegel) als vielmehr in der rechtlichen Garantie von Arbeitnehmerinteressen, d. h. dem Aufbau von Gewerkschaften und Tarifmodellen auf rechtstaatlicher Grundlage.132 Wie sein Lehrer ist er zudem davon überzeugt, dass die Armut zu den zwar zu lindernden, letztlich aber unaufhebbaren Erscheinungen moderner Wirtschaftsformen gehört. In seiner Vorlesung über Naturrecht und Universalphilosophie von 1832 heißt es im Zusammenhang einer kritischen Vorstellung des SaintSimonismus: Dagegen ist etwas anderes wahr: Wir täuschen uns, wenn wir die Sklaverei für ganz aufgehoben ansehen, sie ist in der Tat noch da und nur in ihrer Erscheinung modifiziert. Wie die SaintSimonisten gesagt haben, setzt sich in der Gesellschaft beständig eine Kruste ab, die man Pöbel oder Proletarier nennt, Leute, die nicht wissen, wovon sie leben sollen, die täglich dem Zufall, dem Schmutz überlassen sind. Im Altertum waren es Sklaven, im Mittelalter Lehnsherren und Vasall, heute ist es der Herr und der Knecht. Die Herren bedienen sich der Individuen wie eines Organs. Zwischen der Sklaverei und der Lohndienerei ist kein großer Unterschied. Allerdings können die Knechte weggehen und ihr Glück versuchen, aber sie werden dann untergehen. Ist es nicht die Pflicht des Staates, jene Kruste oder Hefe der Gesellschaft, die sich nicht auf dem Lande, wohl aber in den Städten findet, abzuschaffen und den Pöbel zu zerstören? Dies ist wahrscheinlich unmöglich, er ist ein Niederschlag, der sich nicht aufheben läßt. Aber vermindert kann er werden. Der Staat kann Arbeitsanstalten errichten, wo jeder arbeiten kann. Dies ist ein Goldkorn der Saint-Simonisten, das zur Heilung dieser Krankheit der Gesellschaft führen kann.133

|| 127 Zum Folgenden vgl. auch Waszek 1988, S. 357f. sowie Waszek 2015. 128 Zu Heine und Gans vgl. Pinkard 2007. 129 Vgl. Hobsbawm 91980, S. 55–78. 130 Gans 1995, S. 100. 131 Vgl. Waszek 2007, S. 20f. 132 Vgl. Waszek 1988, S. 355–363. 133 Gans 2005, S. 63.

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An diesen Passagen der Vorlesung erkennt man nicht nur Gansens erhebliche Abhängigkeit von hegelschen Begriffen und Kategorien – selbst der Begriff des »Pöbels« wird in Absetzung von der Armut mit Hilfe der neapolitanischen Lazzaroni erläutert134 –, sondern auch die spezifischen Differenzen des in Theorie und Praxis die rasanten Entwicklungen der 1830er Jahre reflektierenden ›Schülers‹: Denn eine Analogisierung von Sklaverei und Lohnarbeit, die man in polemischer Absicht noch 30 Jahre später im Kapital nachlesen konnte,135 hätte sich Hegel unter allen Umständen verbeten. Zugleich eröffnet die These von der Unüberwindlichkeit der Armut eine Hilflosigkeit noch avancierter Gesellschaftstheorien der 1830er Jahre vor jener »Krankheit der Gesellschaft«.136 Darüber hinaus zeigen sich in dieser Kapitulation vor dem Elend der Massenarmut gewichtige Gründe für eine Radikalisierung jener Zeitgenossen, die schon vor Marx nur in der politischen und sozialen Revolution Abhilfe erblickten.137 Spätestens seit Beginn des Jahrzehnts kam kein Zeitgenosse am Phänomen der Armut und seiner den Alltag prägenden und die politische Stabilität bedrohenden Bedeutung vorbei;138 selbst erzkonservative Vertreter in Politik und Wissenschaft, wie der Marburger Jurist und Staatswissenschaftler Karl Vollgraff, konnten sich des sozialen und daher politischen Problems eines »bedrohlichen Pauperismus« nicht entziehen.139 Diese Position erklärte die Armut jedoch ausschließlich als Erscheinungen der bürgerlich-modernen Politik- und Wirtschaftsformen, d. h. im Rahmen einer kulturkritischen Modernitätsschelte. So hält der Protagonist aus Immermanns Die Epigonen nach dem Besuch einer durch seinen Onkel frühindustrialisierten Berggegend fest: Abschreckend war die kränkliche Gesichtsfarbe der Arbeiter. Jener zweite Stand, von welchem die Vorsteher geredet hatten, unterschied sich auch dadurch von den dem Ackerbau Treugebliebenen, daß seine Genossen bei Feuer und Erz oder hinter dem Webstuhle nicht nur sich selbst bereits den Keim des Todes eingeimpft, sondern denselben auch schon ihren Kindern vermacht hatten, welche, bleich und aufgedunsen, auf Wegen und Stegen umherkrochen. Wie

|| 134 Ebd., S. 194: »Trotz aller Vorsorge für den Menschen überhaupt wird sich in jeder bürgerlichen Gesellschaft eine gewisse Kruste des Volkes absetzen, eine Hefe, welche nicht weiß, wovon sie den andern Tag lebt, hingegeben der Schlechtigkeit, dem Trunke, Geschäften aller Art, welche alles tut und allen untergeben ist […]. Dies ist der Pöbel. Der Pöbel ist weiter nichts als das Zurückgebliebene, die Hefe des Staates, die jeder Staat ansetzt. Denn Luxus bringt Armut hervor, große Bildung ist behaftet mit der Kruste des Pöbels. Wo die reichsten Menschen sind, gibt es auch die ärmsten (z. B. in England). Bei uns ist dieser Pöbel noch nicht organisiert, aber in London. Die Lazzaroni sind eine privilegierte Pöbelrasse.« 135 MEW XXIV, S. 245–320 u. S. 758Anm. 217. 136 Gans 2005, S. 63. 137 Vgl. u. a. Sieferle 1979, S. 31ff.; Wohlrab 1997, S. 209ff. sowie Pilbeam 2000, S. 12ff. 138 Im Hinblick auf die spezifische Wirkung dieses Phänomens auf die Literatur des Zeitraums, die allerdings unterschätzt wird, beschreiben dies Sengle 1971–1980, I, S. 13–17 und Stein 1998, S. 27f. 139 Zu Karl Vollgraff vgl. Speitkam 1997, S. 28.

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die beiden Beschäftigungen, die natürliche und die künstliche, dem Menschen zuschlagen, sah Hermann in diesem Gebirge oft im härtesten Gegensatze. Während er hinter den Pflügen Gesichter erblickte, die von Wohlsein strotzten, nahm er bei den Maschinen andre mit eingefallenen Wangen und hohlen Augen wahr, deren Ähnlichkeit die Brüder oder Vettern jener Gesunden erkennen ließ.140

Auch wenn sie gänzlich andere Erklärungen vorlegten und auch substanziell unterschiedliche Handlungsmaximen daraus ableiteten, macht eine der Gemeinsamkeiten zwischen Georg Büchner, Jeremias Gotthelf und Honoré de Balzac aus, dass sie von der europaweit bitteren Armut der bäuerlichen Bevölkerung wussten und sie je unterschiedlich politisch und poetisch reflektierten.141 Nur der kulturkonservative Immermann konnte sich den obigen Romantizismus und den damit verbundenen Kulturpessimismus in den 1830er Jahren noch leisten.142 Selbst Heinrich Heine wusste schon in den späten 1820er Jahren, dass nur eine einzige fehlende staatliche Maßnahme bei der Bereitstellung von Armengeldern »eine halbe Millionen Menschen in und um London […] vor Hunger sterben« ließe.143 Wie das Zitat aus dem Brief an die Eltern vom Januar 1836 zeigt, hatte Büchner nicht nur ein rationales, d. h. politisches Verhältnis zum Problem des Pauperismus, wie es die Vernunft- oder Naturrechtsphilosophien bzw. politische Theorien des Zeitraums einzunehmen wussten.144 Das Elend dauerte ihn auch, sein »mitleidiger Blick« galt ihm seit 1834 durchaus als programmatische ethische Grundlage politischer Positionierung. Unbestreitbar war er jedoch ebenso in der Lage, das Hungerproblem der Zeit soweit zu distanzieren, dass er es zum Gegenstand einer sarkastischen Pointe einer Komödie machen konnte: In Leonce und Lena heißt es in Bezug auf eine Gruppe von Bauern, die für die geplante Hochzeitsfeier der Protagonisten zum Jubeln zusammengerufen wurden: L a n d r a t h . Lieber Herr Schulmeister, wie halten sich Eure Leute? S c h u l m e i s t e r . Sie halten sich so gut in ihrem Leiden, daß sie sich schon seit geraumer Zeit an einander halten.145

Dass diese sich kaum auf den Beinen haltenden Bauern gegen Ende der Szene auch noch die Vivat-Rufe einzuüben bereit sind für ein fürstliches Paar, das nach Büchners Überzeugung Repräsentant jener gesellschaftlichen Gruppierung war, die die

|| 140 Immermann 1971, II, S. 421. 141 Vgl. hierzu Gotthelf 1986, S. 26ff. (Die schwarze Spinne) und Balzac 1975 (Les Paysans). 142 Zu dem widersprüchlichen sozioökonomischen und -politischen Erfahrungshintergrund Immermanns vgl. Sengle 1971–1980, III, S. 864. 143 Heine 1976, II, S. 569. 144 Siehe hierzu Wohlrab 1997. 145 MBA VI, S. 11811–13; zur Stellung dieser Bauernszene innerhalb der Komödie vgl. Berns 1987, S. 231f. und Dedner 1990, S. 129–133; Drux 2001, S. 305f.; Beise 2005–08, S. 96f.; Beise 2009, S. 82f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 50 sowie meine Ausführungen in Kap. 8.

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entscheidende Ursache der Armut ausmachte, verdeutlicht das Ausmaß der sarkastischen Verachtung, die der Autor der bäuerlichen Bevölkerung als politisch inaktivem Kollektivsubjekt gegenüber aufbrachte.146 Das mangelnde Widerstandspotential der ›Erniedrigten und Beleidigten‹ hat Büchner stets frappiert und er hat sich dadurch zu wütenden Sarkasmen hinreißen lassen.147 Zugleich nimmt er – wie der Bericht über die hungernden Kinder vom Straßburger Christkindlsmarkt zeigt – eine ethische Haltung gegenüber dem Leid des Einzelnen für sich in Anspruch.148 In dem Brief an die Eltern vom Februar 1834, in dem er sich gegen den Vorwurf des intellektuellen Elitarismus zu Wehr setzen muss, heißt es: Ich hoffe noch immer, daß ich leidenden, gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe.149

Verachtung und Mitleid gegenüber hungernden Bauern der 1830er Jahre vermittelt Büchner mithin durch die Unterscheidung zwischen der soziopolitischen Gruppierung und dem Einzelnen;150 unterschiedliche Akzentuierungen dieser Vermittlung generieren die je spezifischen Konturen des Hessischen Landboten und des Woyzeck. Es gab aber auch ganz andere als wissenschaftliche oder literarische Bezugnahmen auf die durch die Julirevolution inaugurierten politischen und die durch den Pauperismus beherrschten sozioökonomischen Verhältnisse. Nicht nur die Methode, auch die Inhalte der Antworten auf diese drängenden Probleme waren verschieden; die sachlichen Differenzen der Lösungsvorschläge kristallisierten sich aufgrund des enormen Handlungsdruckes sowie der objektiven Interessensunterschiede in politische Parteiungen.

|| 146 Zu Büchners durchaus kritischem Verständnis der politischen Rolle der »großen Klasse« vgl. Mayer 1993, S. 57ff. sowie die auf die poetische Gestaltung ausgerichteten komplementären Ausführungen von Pornschlegel 1997; Pornschlegel 2009 sowie Greiner 2015, S. 58f.; es ist diese genuin politische Problematik des sich nicht zum politischen Subjekt formieren wollenden Volks, die die kulturwissenschaftlichen Assoziationen Meyzauds (2012, S. 149–188) zum Hessischen Landboten verpassen. 147 Vgl. u. a. P II, S. 36516–19/MBA X.1, S. 186–9 und den Kommentar von Neuhuber 2009, S. 15 hierzu; siehe auch P II, S. 1200f.; dass er damit ein objektives Problem der oppositionellen Gruppierungen aufgrund ihrer heterogenen sozialen Zusammensetzungen reproduziert, lässt sich nachlesen bei Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 90ff. 148 Diese Haltung entspringt aber schon seit der Schülerzeit nicht mehr einer christlichen Überzeugung (so aber Kurzke 2013, S. 101 u. ö.), weil weder Geltungs- noch Verbindlichkeitsgründe normativer Sätze mit der Gottesinstanz verbunden werden, sondern – ganz kantischen – mit dem ›höheren geistigen Wesen‹ am Menschen. 149 P II, S. 3801–3/MBA X.1, S. 3317–19. 150 Insofern bedarf es für die Vermittlung beider Positionen Büchners keiner Reflexion auf »Texte, die unter Zensurdruck entstehen«, wie Dedner (1990, S. 133) meint. Büchner konnte beide Aspekte, die politische Kritik und das ethische Mitleid, ganz ohne Theorie des Lachens bzw. gattungstheoretische Überlegungen vermitteln. Vgl. hierzu schon Landau 31973a, S. 27.

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4.2.3 Politische Parteiungen der 1830er Jahre Als letzten realgeschichtlichen Kontext für Büchners politisches Wissen soll eine Skizze derjenigen politischen Parteiungen gezeichnet werden, die sich während der 1830er Jahre in unterschiedlichen Formen ausprägten. Diese Aufsplitterung der politischen Interessensbildung und ihre praktische Realisation ist zu einer weiteren spezifischen Erscheinung der 1830er Jahre zu zählen, die Büchner nachhaltig beeinflusste und sein eigenes politisches Wissen (und Handeln) allererst generierte. Bekanntermaßen differenzierten sich bis 1848 bei allen weiteren Strömungen und Einzelgruppierung – so den schwer zu verortenden Bonapartisten in Frankreich151 – drei zentrale politische Parteiungen heraus, die die politische Kultur der Zeit prägten: Konservative, Liberale und Radikaldemokraten.152 Der politische Konservativismus, der in Frankreich auf die Rückkehr der Bourbonen setzte und in deutschen Landen am »monarchischen Prinzip« Metternichs festhielt,153 war keineswegs auf die von Büchner stets attackierte Aristokratie als Trägerschaft begrenzt. In der Politischen Romantik, insbesondere durch die Theorien Friedrich Schlegels, Franz von Baaders und Adam Müllers, verfügte diese die Einheit von Staat und Kirche, den Ständestaat und die »uneingeschränkte autokratische Ritterherrschaft über schollenartige, erbuntertänige Adelsbauern« wieder anstrebende Position eine sprach- und wirkmächtige Unterstützung.154 In seiner Form als altständig-patrimonialer Konservativismus strahlte dieses Konzept am stärksten in Adelskreisen und in einflussreichen Intellektuellenzirkeln eine erhebliche Attraktivität aus. In Frankreich hatten die »Ultras« in Honoré de Balzac eine der wirkmächtigsten und in Alfred de Musset eine der poetisch brillantesten Stimmen der europäischen Literatur der 1830er Jahre auf ihrer Seite.155 Die vor allem negativen Ziele der Konservativen betrafen die Zerstörung des politischen Liberalismus, den Abbau der sich entwickelnden neuen Formen industriekapitalistischer Wirtschaft und die Verhinderung jeglicher Revolution, die – als Form unkontrollierbarer ›Pöbelherrschaft‹ interpretiert – zum Anathema des Konservativismus wurde.156

|| 151 Vgl. hierzu Pilbeam 1991, S. 18–22. 152 Vgl. zum Folgenden Wehler 31996, S. 413–457; Mommsen 1998, S. 88–103; Reinhalter (Hg.) 2005 sowie Erbentraut 2016, S. 277ff. 153 Gegen das sich Büchner laut dem verhörten August Becker ausdrücklich erklärte, vgl. MBA II.2, S. 90. 154 Vgl. Wehler 31996, S. 446–449 sowie die Beiträge in Ries (Hg.) 2012. 155 Zu Balzacs spezifischem Konservativismus vgl. Stierle 1980, S. 177ff. 156 Vgl. Wehler 31996, S. 441 u. S. 446; daher ist der Versuch einer Rehabilitierung der Politischen Romantik durch den Nachweis ihrer – zumindest relativen – Revolutionsaffinität (vgl. Ries [Hg.] 2012) insofern undifferenziert, als die Ablehnung der Revolution durch die Romantik nicht dieser politischen Veränderungsform überhaupt, sondern den spezifischen Zielen von 1789 und 1830 galt. Es ging den Protagonisten der Romantik – wie schon Novalis – um die Verhinderung eines allge-

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Die wirkungsvollste, aber noch in der bürgerlichen Revolution von 1848 unterlegene Opposition bildeten die diversen Arten des bürgerlichen Liberalismus aus.157 Wie auch der Konservativismus und die Radikale Linke bildeten die Liberalen keine Partei im Sinne eines organisierten Interessenverbandes innerhalb einer parlamentarischen Demokratie aus, sondern vielmehr eine »Gesinnungsgefolgschaft«,158 die sich als Vertretung eines politischen, sozialen und kulturellen Fortschritts verstand.159 Schon in den 1830er Jahren, verstärkt nach 1848 lehnte der Liberalismus die Revolution in politischem und ökonomischem Sinne160 ab. Seine diversen Formen setzten nach der Julirevolution vielmehr auf eine natur- oder vernunftrechtlich fundierte, umfassende Reformierung der bestehenden Verhältnisse.161 Vor allem der bürokratische Liberalismus der preußischen Verwaltungseliten hatte sich schon seit 1815 um Verwirklichungen wirtschaftsliberaler Konzepte bemüht und verstärkte diese Aktivitäten seit 1830 erheblich.162 Aufgrund des am weitesten fortgeschrittenen Stadiums des nicht von allen Liberalen geförderten Industriekapitalismus in den Gegenden um Leipzig und Köln entwickelten sich dort die innovationsfreudigsten Konzepte eines modernen ökonomischen, politischen und kulturellen Liberalismus. Setzte selbst das von Carl von Rotteck und Carl Welcker prominent besorgte Staatslexikon – bedeutendstes Erzeugnis des konstitutionellen Liberalismus seit den 1830er Jahren – auf die »Autorität des Königtums«, das den Autoren gegen Pöbelherrschaft und soziale Anarchie als einziger Stabilitätsgarant galt,163 so partizipierte der rheinische Liberalismus theoretisch und praktisch an den Rechtstaatsformen der politischen Kultur Frankreichs bis 1815, die sich von einer monarchistischen Fundierung ihres Konstitutionalismus zumindest zeitweise verabschiedet hatten und auf halbwegs demokratische Souveränitätsmodelle setzten.164 Auf dieser Grundlage entwickelten sich im Rheinland schon in den späten 1830er Jahren Formen eines aufgeklärten Sozial-Liberalismus,165 der seine Forderungen nach einer dem fortgeschrittenen Stand seiner industrie- und handelskapitalistischen Produktionsweise angemessenen Wirtschafts- und Ordnungspolitik mit dem Ruf nach einer verfassungsförmigen Garantie dieser Politik und einer ange|| meinen Rechtstaates und die Rückkehr zu vormodernen Eigentums- und Wirtschaftformen; daraus lässt sich jedoch kein »Reformpotential« formen; vgl. auch Schmitz 2009, S. 71ff. 157 Vgl. hierzu maßgeblich Leonhardt 2001, S. 349–417, spez. S. 361ff. 158 Mommsen 1998, S. 88. 159 Wehler 31996, S. 415. 160 Vgl. ebd., S. 423: »Diese Liberalen [d. i. der konstitutionelle Liberalismus mit sozialkonservativem Wertekanon] wollten weder die politische noch die industrielle Revolution.« 161 Vgl. Leonhard 2001, S. 361–387. 162 Vgl. Wehler 31996, S. 416ff. 163 Vgl. von Rotteck u. Welcker 21845, I, S. XXVII; zum grundlegenden Rousseauismus dieser Konzeption von Liberalismus vgl. Brand 2006, S. 204f. sowie Schöttle 2018, S. 213ff. 164 Vgl. hierzu die exzellente Studie von Stein 1997, S. 259–305. 165 Vgl. hierzu Leonhard 2001, S. 304ff.

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messenen politischen Partizipation der ökonomischen Handlungsträger verband. Darüber hinaus leitete dieser Liberalismus aus seinen Forderungen den Anspruch auf staatliche Sozialpolitik, öffentliche Schulbildung und freie Interessenassoziationen für Handwerker und Arbeiter ab.166 So trat der Kölner Unternehmer und Politiker Gustav von Mevissen, einer der profiliertesten Vertreter dieses sozialen Liberalismus in Deutschland, neben den genannten Forderungen auch für ein allgemeines Wahlrecht ein.167 Büchner ist mit seiner vergleichbaren Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht,168 die ihm einen heftigen Streit mit Friedrich Ludwig Weidig eintrug, von diesen Vorstellungen Mevissens keineswegs weit entfernt. Es muss dennoch betont werden, dass der ›Revolutionär, Dichter und Wissenschaftler‹ Georg Büchner mit dieser entwickelten Form des Liberalismus weder theoretisch noch praktisch, weder in Darmstadt oder Gießen noch in Straßburg oder Zürich in Kontakt kam.169 Wenn er – wie eingangs zitiert – die Aristokraten und die Liberalen als herrschende Klassen begreift und kritisiert, dann hat er im Hinblick auf letztere jene Form eines konstitutionellen Liberalismus vor Augen, die Welcker und von Rotteck repräsentierten.170 Im Großherzogtum Hessen wie auch in Kurhessen verband sich dieser Liberalismus durchaus mit sozialkonservativen Wertvorstellungen insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit unterprivilegierten Schichten, und so hat Büchners Radikalisierung einen ihrer Bedingungsfaktoren in der relativen Rückständigkeit der hessischen Zustände – auch auf der Ebene seiner oppositionellen Konzeptionen.171 Drittens entwickelten sich aus den diversen und durch grundlegende Konflikte verbundenen liberalen Fraktionen heraus Formen eines demokratischen Radikalismus,172 der erst seit den 1840er Jahren mit den allerdings noch weitgehend ungeschiedenen Prädikaten ›Sozialismus‹ und ›Kommunismus‹ belegt wurde.173 In

|| 166 Vgl. Wehler 31996, S. 425f. 167 Zu Mevissen vgl. Eyll 1994, S. 277–281 und Wehler 31996, S. 425f. 168 Vgl. Noellner 1844, S. 425, zitiert nach der Dokumentation in Büchner u. Weidig 1996, S. 112; MBA II.2, S. 91. 169 Allerdings hatte er in Straßburg wohl die besten Möglichkeiten, mit dieser entwickelten Form eines sozialen Liberalismus in Kontakt zu kommen, war dort doch seit den 1830er Jahren GeorgesFrédéric Schützenberger als Bürgermeister tätig, der früh schon sozialstaatliche Maßnahmen gegen den Pauperismus zu entwickeln suchte, auch und gerade auf kommunaler Ebene; vgl. Lutterbeck 2011, S. 197–209. 170 Siehe erneut Schöttle 2018. 171 Zum Liberalismus in beiden Hessen vgl. Seier 1995, S. 109–134. 172 Zu diesem konfliktuösen Ausdifferenzierungsprozess und seinen Gründen vgl. Leonhard 2001, S. 474ff. 173 Vgl. hierzu den exzellenten Artikel von Graf 1983, S. 689f. sowie Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 145ff.

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Frankreich waren mit dem Saint-Simonismus seit den 1820er Jahren,174 dem Neojakobinismus und dem Babouvismus seit den 1830er Jahren herrschafts- und sozialpolitische Konzeptionen und deren politisch-praktische Umsetzung in Organisationseinheiten entstanden, die erhebliche Erfolge zu verzeichnen hatten.175 So versammelte die oben erwähnte, am demokratischen Rechtstaatsprinzip Robbespierres176 orientierte Société des Droits de l’Homme et du Citoyen eine Anzahl von landesweit 6.000 Mitgliedern unter sich und erlangte dadurch einen zunehmenden politischen Einfluss.177 Es ist allerdings auch in diesem Zusammenhang deutlich zu betonen, dass noch für die 1830er Jahre keineswegs von politischen Parteien im Sinne strukturierter, wohl organisierter Verbände gesprochen werden kann, sondern ausschließlich von weitgehend losen »Zirkeln« bzw. »Sekten«.178 Zu den wesentlichen Eigenheiten des politischen Konzepts der Radikaldemokraten gehörte das Ziel einer politischen – zum Teil auch schon einer sozialen – Revolution;179 die ›Linke‹ war in den 1830er Jahren die einzige politische Richtung, die überhaupt ein zustimmendes Verhältnis zu revolutionären Politikformen entwickelte180 – auch wenn diese Revolutionsbegeisterung zunächst einem »jacobinisme d’imagination«, d. h. mehr einem Provokationsbedürfnis, geschuldet war denn einer tatsächlichen politischen Analyse.181 Der Grund für diese Haltung lag in der Annahme, dass nur eine fundamentale Negation des bestehenden politischen Systems, das für die sozialen Missstände weitgehend verantwortlich gemacht wurde, wirksame Änderungen herbeiführen könnte.182 Büchner, der seit seinem ersten Straßburg-Aufenthalt, spätestens aber seit dem Frühjahr 1833 zu dieser keineswegs einheitlichen Gruppierung radikaler Demokraten Kontakt hatte,183 war ebenfalls

|| 174 Vgl. hierzu die systematische Analyse der Sozialphilosophie des Saint-Simonismus durch Schmidt am Busch 2007a, S. 108–116. 175 Vgl. hierzu die allerdings methodisch zu überarbeitende Darstellung bei Höppner u. SeidelHöppner 1975, I, S. 95–283; die ideengeschichtlich ausgerichteten Studien von Deinet 2001, S. 99ff. und Pilbeam 2000, S. 1–11; Sieferle 2007, S. 26–30; MBA II.1, S. 91ff. 176 Diese Orientierung am robespierreschen Verfassungsentwurf von 1793 gilt u. a. auch für den nach Frankreich exilierten »Bund der Geächteten«; vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 96. 177 So Höppner u. Seidel-Höppner 1975, I, S. 218; andere Angaben bei Hauschild 1993, S. 157f. sowie Pilbeam 2000, S. 32f. 178 Vgl. Sieferle 2007, S. 24ff.; zur spezifischen Organisationsform der zumeist verbotenen und daher geheimen Bünde vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 94ff. 179 Zur Überzeugung der Notwendigkeit einer politischen und sozialen Revolution beispielsweise bei Auguste Blanqui vgl. Bergmann 1986, S. 65; Wehler 31996, S. 281; Wohlrab 1997, S. 209; Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 102. Büchner reflektiert das Verhältnis beider Revolutionsdimensionen in Dantonʼs Tod, vgl. MBA III.2, S. 2415f.. 180 Vgl. hierzu auch Sieferle 1979, S. 31ff. 181 Vgl. hierzu die exzellenten Ausführungen zu den Amis du Peuple bei Deinet 2001, S. 100f. und Pilbeam 2000, S. 31f. 182 Vgl. u. a. für den Bund der Geächteten Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 102. 183 Vgl. ebd., S. 99.

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davon überzeugt, dass nur eine durch politische Gewalt zu erzwingende Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse eine Verbesserung der Lage herbeiführen könne: Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen.184

Es kann nach den Thesen der Büchner-Forschung zu einem angeblichen »Frühkommunismus« Büchners185 nicht deutlich genug betont werden, dass hier keine Spur einer politökonomischen Argumentation186 – schon gar nicht »an der Schwelle zum historischen Materialismus«187 – vorliegt. Wie seine politischen Mitstreiter sah Büchner die entscheidenden Ursachen der Missstände in politischen Fehlentwicklungen und d. h. im Mangel an Rechtstaatlichkeit, keineswegs in sozioökonomischen Bewegungsgesetzen.188 Zwar war Büchner davon überzeugt, dass »[u]nsere Zeit […] rein materiell« sei,189 und daher politische Veränderungen nur entlang der materiellen Bedürfnisse der an der Massenarmut leidenden Bevölkerung – zumal der Bauern – zu erwirken sein würden; im Juni 1833 schreibt er an die Familie: Ich […] habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann.190

Auch weiß Büchner von der zunehmend wirksamen Bedeutung eines ›Krieges der Armen gegen die Reichen‹, d. h. den weit reichenden politischen Auswirkungen des Pauperismus. Aber von einer fundierten Kapitalismuskritik, der daraus resultierenden Beweisführung für die objektive Notwendigkeit einer Revolution191 und damit von einem »Frühkommunismus« ist Büchners politische Position – wie sich noch zeigen wird – deutlich abzugrenzen.192 An keiner Stelle seines überlieferten Werkes betreibt er – wie schon seit den 1820er Jahren der Saint-Simonismus oder die institutionalisierte europäische Nationalökonomie – Analysen wirtschaftlicher Prozesse,

|| 184 Brief an die Familie vom 5. April 1833; P II, S. 3669–12/MBA X.1, S. 194–7. 185 Vgl. nochmals ausgehend von Mayer 1979a, S. 47ff. u.a. Grab 1985, S. 73f.; Hauschild 1993, S. 346–48; Knapp 32000, S. 13ff.; Hauschild 2013–15, S. 279; kritisch hierzu Stiening 2012 sowie Kurzke 2013, S. 100ff. 186 Zu deren Entstehen vgl. u. a. Bohlender 2007, S. 101ff. 187 Vgl. erneut Mayer 1979a, S. 134. 188 So zu Recht schon Jancke 31979, S. 93. 189 So Büchner im Brief an Gutzkow vom Juni 1836; P II, S. 4407f./MBA X.1, S. 9319f.. 190 Brief an die Familie vom Juni 1833; P II, S. 3693–6/MBA X.1, S. 2114–16. 191 Vgl. hierzu u. a. Sieferle 1979, S. 31ff. u. S. 194ff. 192 So auch Karl Eibl, nach einem Hinweis bei Schaub 1977, S. 370f.Anm. 99.

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geschweige denn solche der Produktionsverhältnisse.193 Seine Befürwortung einer sozialen Revolution ist weder politökonomisch noch auch nur polittheoretisch fundiert, sondern hat ausschließlich – wie bei vielen seiner Zeitgenossen – den Status eines politischen Erfahrungsurteils. Nur deshalb kann er auch zeitweilig davon überzeugt sein, dass »wohl die Regierung nach und nach, ohne gewaltsame Umwälzung von selbst zusammenfallen« wird.194 Ein geschichtsphilosophischer oder polittheoretischer Revolutionsbefürworter hätte solcherart Erfahrungsurteile nicht fällen können oder wollen.195 Einer der entscheidenden Ausgangspunkte der Analysen der radikalen Demokraten ist das Phänomen der Massenarmut, gegen die nur systematisch angegangen werden könne, die aber auch die politischen Konstellationen nach 1830 erneut umstürzen würde. Büchner ist 1835 fest davon überzeugt: Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten geteilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin […] werden.196

Wie am letzten Bild des Briefes zu ersehen, wird in dieser Passage mit Hilfe einer politischen Argumentation eine soziale Republik angestrebt, die durch die Verwirklichung der Freiheit die Grundlage zu einer umfassenden Verbesserung der Lebensverhältnisse aller abgeben soll.197 Mit dieser politischen Argumentation zur Lösung der sozialen Frage steht Büchner innerhalb der Fraktionierungen im Bund der Geächteten, einer im Pariser Exil 1834 gegründeten radikaldemokratischen Oppositionsvereinigung, auf Seiten der sich um Johann August Wirth und Jacob Venedey gruppierenden ›Republikaner‹, denen eine von Theodor Schuster angeführte Gruppierung gegenüber steht, der politische Veränderungen nicht ausreichend erschei-

|| 193 So zu Recht und gegen die Thesen Mayers (1979a, S. 25ff.; übernommen u. a. bei Osawa 1999, S. 13 und MBA II.1, S. 57 u. II.2, S. 354ff.) Jancke 31979, S. 93 u. ö. Dass solche Kritik am Privateigentum an Produktionsmitteln schon seit den frühen 1830er Jahren durchaus betrieben wurde, zeigen die Schriften Constantin Pecqueurs, die aber von Büchner nicht wahrgenommen wurden. 194 Vgl. Brief an die Eltern vom 5. Mai 1835; P II, S. 40410–12; MBA X.1, S. 6013f.; Hvhb. von mir. 195 Insofern ist Wilhelm Schulz (in Grab 1985, S. 76f.) zwar darin zu bestätigen, dass Büchner von einem »Recht der Revolution« ausging, nicht aber, dass er diese Politikform zur »Natur der Deutschen« oder anderer Nationen erklärt habe. Wie in vielen anderen Belangen liegt Schulz mit seiner als biographische Skizze mehr schlecht als recht getarnten politischen Agitationsschrift im Hinblick auf Büchner schlicht falsch. Trotz der oben zitierten Briefpassage wird an der These von Büchners Revolutionsdogmatismus munter weiter gestrickt, vgl. Benn 21979, 149ff.; Knapp 32000, S. 109; MBA II.2, S. 394ff. 196 P II, S. 4003–9/MBA X.1, S. 7135ff.. 197 Vgl. hierzu Mommsen 1998, S. 95f.

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nen und die tatsächlich auf eine Form von Gütergemeinschaft setzt.198 Für Büchner hingegen soll zwar diese Revolution durch die »ungebildete und arme Klasse« ausgelöst und getragen werden; doch wird weder eine Gütergemeinschaft angestrebt,199 sondern die politische Freiheit, noch werden Überlegungen zu einer sozialen Revolution, die über die politische Programmatik hinauswiesen, angestellt.200 Die entscheidende Schwachstelle der gesamten Argumentation der radikalen Demokraten bleibt das sich zum ›revolutionären Subjekt‹ nur ungern formierende Volk, das die Revolution tragen müsste, es aber gar nicht will, wie dies auch Grabbe in seinen politischen Dramen reflektiert.201 Vor allem dieses Problem wird auch Büchner nicht zu lösen vermögen. Unklar ist man sich unter den französischen Radikaldemokraten darüber hinaus über kulturpolitische Fragen, so der Stellung der Ehe in der zukünftigen Gesellschaft, die die Saint-Simonisten ablehnen, was wiederum Büchner ebenso abstößt wie den Bund der Geächteten.202 Auch die Frage der Stellung der Wissenschaften im politischen Gefüge der alten und neuen Gesellschaften steht in der Kontroverse: Ist der Saint-Simonismus203 ähnlich wie später Proudhon204 in Anbindung an Auguste Comte von einer fundierenden Stellung der positiven Wissenschaften zumal in einer erneuerten Gesellschaft überzeugt, so betont Büchner zumindest für den revolutio-

|| 198 Vgl. hierzu die ausführliche Beschreibungen bei Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 99f. sowie Wohlrab 1997, S. 207f.; zu einer Korrelation dieser Positionen mit denen Büchners vgl. Morawe 2013c, S. 230ff. 199 Anders dazu MBA II.2, S. 354ff.; besonders irritierend bei diesem erneuten Versuch des Nachweises einer Apologie der Gütergemeinschaft durch Büchner ist die Referenz (MBA II.2, S. 355) auf jenen Satz im Landboten, nach dem »[d]as Gesetz […] das Eigenthum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten« sei (MBA II.1, S. 3126–321). Denn dieser Satz sagt doch nicht viel mehr, als dass das Gesetz – an sich allgemein und gleich – zu einem Unterdrückungsinstrument einer kleinen Gruppe von Mächtigen geworden sei; von materialen Eigentumsverhältnisses zumal an Produktionsmitteln (MBA II.1, S. 57) ist hier keineswegs die Rede. 200 Insofern ist die Behauptung, »das Konzept einer sozialen Revolution wurde [für Büchner ab 1831] wichtiger als das der politischen« schlicht falsch; so aber MBA III.2, S. 176. Büchner erwartet vielmehr von der politischen eine soziale Revolution. 201 Vgl. hierzu u. a. Grabbe 1975, II, S. 67ff. (Napoleon oder die hundert Tage, III, 1); vgl. hierzu auch Baumgarten 2016. 202 Zur saint-simonistischen Stellung zur Ehe, vgl. Schmidt am Busch 2007, S. 43ff.; Büchners Kritik hieran im Brief an die Familie vom Mai 1833 (P II, S. 36817ff.; MBA X.1, S. 2932–41) sowie zur Verteidigung der Ehe durch den Bund der Geächteten Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 98f. 203 Schmidt am Busch 2007, S. 76ff.; vgl. schon Poggi u. Röd 1989, S. 162: »Das entscheidende Mittel der Emanzipation ist in seinen Augen die Wissenschaft.« Siehe auch Wanning 1999, S. 13 in Bezug auf Comte. 204 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 176: »Wie auch andere Vertreter des frühen Sozialismus setzte Proudhon seine sozialreformerischen Hoffnungen in den Einfluß der Wissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaft, namentlich der politischen Ökonomie.«

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nären Wandel die Unmöglichkeit von politischer Veränderung im Ausgang von der (auch wissenschaftlichen) Idee; an Gutzkow schreibt er Anfang Juni 1836: Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell, wären Sie je direkter politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte.205

Insgesamt ist dem Konglomerat ›linker‹ Theorien und Praxisformen in den 1830er Jahren keine systematisch präzise Kontur und Begründungstheorie zuzuschreiben, zu Recht sprechen Kritiker bisweilen von einer »mélange de jacobinisme et de religion saint-simonnienne«;206 Wehlers Resümee in seiner Darstellung der Linken im Vormärz trifft zumindest für Büchners politische Theorie und Praxis weitgehend zu: Von einer programmatischen Einheit waren die sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftskritiker freilich noch weit entfernt. Auch gaben oft das verletzte Gerechtigkeitsgefühl, die humanitäre Hilfsbereitschaft, der ungetrübte Blick für das Elend ringsum mindestens so stark den Ausschlag für ihr Engagement wie das Aufgreifen frühsozialistischer Ideen – durchweg theoretische Fragmente der unterschiedlichsten Herkunft – und die ›socialwissenschaftliche‹ Analyse der politisch-sozialen Deformationen im eigenen Land. Über alle Unterschiede hinweg verband sie jedoch der Wille zur schnellen, aktiven Veränderung, die vage, gleichwohl noble Utopie einer gerechten, freien Gesellschaft aller Bürger.207

Dass auch Büchner einer solchen Utopie anhing,208 ohne deren saint-simonistische Variante zu teilen,209 wird sich im Folgenden noch zeigen. Zunächst kann resümierend festgehalten werden, dass Büchner durch seine allgemeine Revolutionsvorstellung und besondere Gewaltkonzeption eindeutig der kleinen Gruppe der radikalen Demokraten zuzurechnen ist, die sich im Anschluss an die Julirevolution und das nach 1830 zunehmend drängende Pauperismus-Problem allmählich ausbildete.210 Seine Forderungen nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sind aber von den Vorstellungen der (rheinischen) Liberalen nicht so weit entfernt, wie es die ForschungsThesen zum »Frühkommunismus« insinuierten. Erst eine sozialhistoriographische Perspektive, die die Verzerrungen einer ›linken‹ Identifikationsgeschichte hinter

|| 205 Brief an Gutzkow vom Juni 1836; P II, S. 4406–10/MBA 9318–23; vgl. hierzu auch Teraoka 2006, S. 120f. u. S. 129ff. 206 Vgl. hierzu auch Mayer 1979a, S. 69; MBA III.2, S. 178 und Deinet 2001, S. 101. 207 Wehler 31996, S. 437. 208 Vgl. hierzu u. a. Alexis Mustons Aufzeichnungen in Fischer 1987, S. 251: »Repartis de bonne heure; causé ST Simonismne rénovation sociale et religieuse, république universelle, états-unis de l’Europe, et autres utopies.« Das bedeutet allerding auch, dass Büchner der so genannten Schlussutopie in Leonce und Lena kritisch gegenüber stand. 209 Zu Büchners Distanz zum Saint-Simonismus vgl. Mayer 1979a, S. 22. 210 Vgl. erneut Mommsen 1998, S. 92ff.; Leonhard 2001, S. 374ff. sowie Höppner u. Seidel-Höppner 2005, passim.

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sich lässt,211 kann die in der Büchner-Forschung topische Lobpreisung des radikalsten deutschen Sozialrevolutionärs212 durch eine angemessene polithistorische Analyse ersetzten. Wolfgang Mommsen, Hans-Ulrich Wehler und Pamela Pilbeam haben in ihren Überblicksstudien auf den vor dem Hintergrund der politischen Lage illusionären Charakter der radikalen Demokraten in den 1830er Jahren hingewiesen;213 unter anderen Voraussetzungen gilt dies auch für die ideen- und philosophiegeschichtlichen Studien Deinets und Schmidt am Buschs.214 Insbesondere der eher intellektualistische Radikalismus, dessen analytische Leistungen vor allem nach der 1848-Revolution unstreitig ist,215 weist Dimensionen einer politischen Isolation auf, die auch für Büchner – zumindest nach seiner Flucht im Frühjahr 1835 – weitgehend zutrifft.216 Eine besondere Einsicht Büchners besteht vor dem Hintergrund dieser Problemlage vor allem darin, die taktisch prekäre Lage für radikaldemokratische Überzeugungen präzise erkannt zu haben. So aufrüttelnd, moralisch integer und rhetorisch brillant der Hessische Landbote geschrieben wurde, er steht – auch in der von Weidig redigierten Weise – politisch-praktisch im Lager jener dilettantischen Revolutionsromantiker,217 die schon beim Frankfurter Wachensturm kläglich scheiterten;218 und er steht soziopolitisch im Lager einer radikaldemokratischen Minderheit, denen die Zeitgenossen wie die Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts illusionäre Züge zuweist: »Der intellektuelle Radikalismus blieb freilich vor 1848 eine Speerspitze ohne Schaft – lauter Führer ohne Anhang.«219

4.2.4 Exkurs: Büchner und Blanqui – oder: War Büchner Neobabouvist? Diese typologische Skizze der politischen Parteibildungen der 1830er Jahre kann im Folgenden zur Grundlage dienen, eine seit 1979 gültige Forschungsthese erneut zu

|| 211 Zu einer präzisen Kritik an den unwissenschaftlichen Formen identifikatorischer Heldengeschichten in linker Tradition vgl. Deinet 2001, S. 23ff. 212 Vgl. u. a. Mayer 1979a, S. 51; Dedner 1990, S. 125ff. sowie – allerdings unpassend für eine historisch-kritische Ausgabe – MBA VI, S. 166ff. 213 Vgl. Wehler 31996, S. 431–440; Mommsen 1998, S. 92ff. sowie Pilbeam 2001, S. 1–12. 214 Vgl. Deinet 2001, S. 119ff. u. S. 452f. 215 Vgl. hierzu Seiferle 2007, S. 48ff. 216 Zur These einer Isolation Büchners in der politischen Konstellation der zweiten Hälfte der 1830er Jahre vgl. Mayer 1993, S. 58. 217 Vgl. auch Mayer 1993, S. 59, der von einer »(fast sozialromantisch anmutenden) Illusion« spricht. 218 Zu einer detaillierten Quellendokumentation des 1833er Aufstandsversuches vgl. Görisch u. Mayer 1982, S. 37–137; zu einer politisch-historischen Bewertung dieses Versuches vgl. Mommsen 1998, S. 55. 219 Wehler 31996, S. 435; vgl. auch Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 91f.

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überprüfen. Unbestreitbar wendet sich Büchner von den Formen idealistischer oder auch anthropologisch fundierter Geschichts- und Politikkonzeptionen ab,220 nach denen die freien Handlungen des Einzelnen – zumindest des großen Individuums221 – prägenden Einfluss auf die politischen und historischen Verlaufsformen nehmen könnten; schon im berühmten ›Fatalismusbrief‹ heißt es: Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.222

Kaum 30 Jahre zuvor hatte Hegel einen dieser »Ecksteher« als ›Weltgeist zu Pferde‹ bewundert223 und eine spannungsreiche Theorie großer Individuen gegen seinen eigenen geschichtsphilosophischen Strukturalismus entwickelt. Büchner hält im Straßburger Exil – wie schon zitiert – dem Jungdeutschen Gutzkow unmissverständlich entgegen, dass »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen […] das einzige revolutionäre Element in der Welt« sei und daher »der Hunger allein […] die Freiheitsgöttin […] werden« könne.224 In einer an Heine gemahnenden, in ihrer aggressiven Prägnanz aber Büchner eigentümlichen Formel fügt er an: Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.225

Hinsichtlich einer genauen Analyse und Interpretation von Gehalt und Status dieses Urteils in seinem Kontext ist zunächst festzuhalten, dass Büchner ein deskriptives politisches Erfahrungsurteil fällt, das das Verhältnis zwischen Arm und Reich ins Zentrum möglicher revolutionärer Prozesse nach 1830 rückt. An keiner Stelle dieses Briefausschnittes ist zu erkennen, dass er jedes sozialpolitisch wünschbare »Huhn im Topf« eines Bauern aus machtpolitischen Gründen bedauern würde. Büchner ist kein bedingungsloser Befürworter der Revolution.226 Sie bleibt für ihn politisches Instrument zum Erreichen eines praktischen – nicht geschichtsphilosophischen – Ziels: der Beseitigung des Pauperismus, politischer und sozialer Ungerechtigkeiten und – wie sich noch zeigen wird – der Errichtung rechts- und sozialstaatlicher Strukturen.227

|| 220 Zu diesen Begründungsformen vgl. Weckwerth 2003, S. 87–107. 221 Zu diesem im Kern romantischen Individualitätskonzept vgl. die Eberlein 2000. 222 Brief an Minna Jaeglé vom Januar 1834; P II, S. 37727–29/MBA X.1, S. 3035f.. 223 Vgl. Brief an Niethammer vom 13. Oktober 1806, Hegel 1991, I, S. 120. 224 P II, S. 4003–9. 225 Ebd., S. 4009–12. 226 Anders dazu Wilhelm Schulz, in Grab 1985, S. 76f.; Holmes 1986/87, S. 63ff. sowie MBA II.2, S. 394ff. 227 Insofern ist die insbesondere auf den Agitationstext Wilhelm Schulz’ zurückgehende These Mayers (1979a, S. 136f.), für Büchner sei die Wahrheit revolutionär, schlicht falsch.

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Die Forschung hat seit den Thesen Hans Mayers, Joachim Ruckhäberles, Gerhard Schaubs und Thomas Michael Mayers allerdings behauptet,228 Büchners These von der grundlegenden politischen Funktion des Verhältnisses zwischen Arm und Reich sei auf eine in den ersten Straßburger Jahren erfolgte intensive Rezeption des seit 1828 bzw. 1830 durch Filippo Buonarroti machtvoll agierenden »Neobabouvismus« zurückzuführen, genauer auf seine Lektüre einer Flugschrift der Bewegung, die eine Verteidigungsrede Louis Auguste Blanquis, eines ihrer bedeutendsten Köpfe, enthält.229 Aus dieser zunächst philologischen These wurde ohne größeren Verifikationsaufwand nicht nur eine intensivere Beschäftigung Büchners mit der Theorie dieser radikalen Linken geschlossen,230 sondern auch eine Überzeugungsübernahme und die daraus resultierenden politischen Aktivitäten des hessischen Studenten in der Straßburger Geheimgesellschaft.231 Blanqui hatte diese Rede vor den Schranken eines Pariser Gerichts im Zusammenhang des berühmt-berüchtigten Procès de Quinze im Januar 1832 gehalten, die von der Société des Amis du Peuple noch im gleichen Jahr veröffentlicht worden und auch in einer deutschen Übersetzung erschienen war.232 Und tatsächlich hatte sich Blanqui in seiner schnell berühmt werdenden Rede auf das Verhältnis zwischen Armen und Reichen als Zentrum des vor Gericht verhandelten Konfliktes bezogen und dieses Verhältnis in Aufnahme einer Formel des amtierenden Premiers Casimir Periér233 als »Krieg zwischen den Armen und Reichen« bezeichnet:

|| 228 Vgl. Ruckhäberle 1975, S. 207–242, spez. S. 230f.; Schaub 1977, S. 356f.; Mayer 1979a, S. 5 u. S. 25f.; MBA II.2, S. 378ff. u. ö.; schon Hans Mayer 1972, S. 81f. und Jancke 31979, S. 32 stellten allerdings eine – wenngleich behutsamere – Relation zwischen Büchner und Blanqui her. Darauf macht zu Recht aufmerksam Schaub 1996, S. 207. 229 Vgl. hierzu Dedner 1989, S. 579; Mayer 1993, S. 52; aber auch Schaub 1996, S. 206; P II, S. 824 u. S. 832ff.; Dedner 2000, S. 189f.; Knapp 32000, S. 13f. u. S. 75f.; Hauschild 2004, S. 43f.; Neuhuber 2009, S. 26ff.; Hörmann 2009–12, S. 145f.; Meyzaud 2012, S. 156; Hofmann u. Kanning 2013, S. 18, S. 37f. u. ö.; MBA II.2, S. 378ff.; Fortmann 2013, S. 52; 230 So die These von einer intensiven Lektüre der Programmschrift Buonarrotis Conspiration pour l’égalité dite Babeuf (Paris 1828) bei Mayer 1979a, S. 31ff.; Wender 1988, S. 11; Knapp 32000, S. 89; Poschmann 2009, S. 139; Glück 2009–12, S. 65f.; MBA II.2, S. 360. Was bei Mayer und Wender noch »zu vermuten« war, wird bei Knapp und Poschmann – ohne weitere Belege – zur Gewissheit; Glück und die MBA bleiben bei »Indizien«. 231 Vgl. hierzu Mayer 1985, S. 93f.; Grab 1987a, S. 158; Knapp 32000, S. 11–17; MBA II.2, S. 378ff. 232 Vgl. hierzu Procès des Quinze, S. 77–86. Zu einer Übersetzung vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 1975, II, S. 507–514. Zu einer weitgehend nüchternen Darstellung von Prozess und Broschüre sowie der Vorgeschichte des Vorgangs vgl. Bergmann 1986, S. 73–80; zur Dokumentation der für Büchners politische Position wichtigen Passagen der Rede vgl. u. a. Mayer 1979a, S. 68ff.; Mayer 1985, S. 95ff.; Hauschild 1993, S. 153–162; Büchner u. Weidig 1996, S. 80–101; Knapp 32000, S. 75f.; Poschmann 2009, S. 140; Morawe 2012, S. 29ff.; MBA II.2, S. 404ff. 233 Dokumentiert u.a. bei Börne 1986, S. 371.

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Qui Messieurs, ceci est la guerre entre les riches et les pauvres: les riche l’ont ainsi voulu, car ils sont les agresseurs; seulement ils trouvent mauvais que les pauvres fassent résistance.234

Blanqui hatte in seiner Rede allerdings deutlich darauf hingewiesen, dass er diese Formel aus dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft entnommen hatte, die sich ihrerseits die Ansichten ihres Premiers zueigen gemacht hatte.235 Überhaupt scheint diese zunächst konservative Kampfparole weiter verbreitet gewesen zu sein, als lange Zeit mit einer strengen Ausrichtung auf Blanqui angenommen wurde.236 So konnte Hans-Ulrich Wehler dokumentieren, dass schon am 15. September 1830 – Büchner ist noch Schüler in Darmstadt – der Kasseler Bürgermeister »›ein[en] allgemeine[n] Krieg der Armen gegen die Vermögenden‹« ausbrechen sah.237 Kurze Zeit später sprach auch Balzac davon, dass es »im Oktober 1830 […] noch zwei Klassen von Menschen« gebe: »Arme und Reiche, solche, die mit der Kutsche fahren und solche, die zu Fuß gegen«.238 Karl von Rotteck sprach 1834 im Artikel »Eigenthum« seines Staatslexikons vom »Krieg der Eigenthumslosen wider die Eigenthümer«.239 Schon einige Monate vor der Verteidigungsrede Blanquis, am 1. Dezember 1831, wütete Ludwig Börne in seinen Briefen aus Paris über Périer: Dieser Kasimir Périer hat darüber frohlockt, daß in den blutigen Geschichten von Lyon gar nichts von Politik zum Vorschein gekommen, und daß es nichts als Mord, Raub und Brand gewesen! Es sei nichts weiter als ein Krieg der Armen gegen die Reichen, derjenigen, die nichts zu verlieren hätten, gegen diejenigen, die etwas besitzen! Und diese fürchterliche Wahrheit, die, weil sie eine ist, man in den tiefsten Brunnen versenken müßte, hielt der wahnsinnige Mensch hoch empor und zeigte sie aller Welt! Die dunkeln Triebe des Volks hat er ihm klar gemacht; seiner wilden Laune des Augenblicks hat er durch Grundsätze Dauer gegeben; seinen kurzsichtigen Sorgen des Tages den Blick in ewige Not eröffnet. Den höchsten Grad des Wahnsinns mögen jetzt die Ärzte Staatskunst nennen. Um den reichen Leuten sagen zu können: Seht, ihr seid bedroht, ihr müßt es um eurer Sicherheit mit mir halten – um diese elenden Krämervorteile eines Tages opfert Kasimir Périer das Glück Frankreichs, Europas, vielleicht um ein Jahrhundert auf. Es ist wahr, der Krieg der Armen gegen die Reichen hat begonnen, und wehe jenen

|| 234 Procès des Quinze, S. 78. 235 Vgl. ebd. 236 Vgl. hierzu die These bei Mayer 1979a, S. 68f.: »Die Tradition des ›unvermeidlichen Krieges zwischen Arm und Reich‹, der ›guerre entre les pauvres et les riches‹, ist jedenfalls weder diejenige des Jakobinismus, noch des Saint-Simonismus; es ist die Tradition des frühen französischen Kommunismus von Babeuf über Buonarroti bis Blanqui.« Sieht man sich nicht nur die Herkunft der Formel bei Périer, sondern auch die weiteren Quellen an, kann man diese Behauptung nur falsifizieren; ausführliche Hinweise auf frühere Verwendungen MBA II.2, S. 380ff.; gleichwohl wird Büchners Position erneut auf Blanqui ausgerichtet. 237 Wehler 31996, S. 350. 238 Balzac 2002, S. 52. 239 Rotteck und Welcker 1834, IV, S. 633.

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Staatsmännern, die zu dumm oder zu schlecht sind, zu begreifen, daß man nicht gegen die Armen, sondern gegen die Armut zu Felde ziehen müsse.240

Börne fürchtete diesen Krieg; er sah in ihm jedoch keine polithistorische Notwendigkeit, sondern die Folgen politischer Inkompetenz des herrschenden juste milieu.241 Dass man jenen »Krieg zwischen Armen und Reichen« befürchtete oder erhoffte, in jedem Falle aber aufziehen sah, machte mithin keineswegs den spezifischen Wissensbestand des Babouvismus aus. Sicher sah Büchner, der übrigens die Vokabel vom »Krieg« ein keiner Stelle verwendete, anders als Börne oder Heine, aber wie Blanqui und in den 1840er Jahren Engels242 dieser revolutionären Auseinandersetzung mit einiger Zuversicht entgegen, weil er nur von ihr eine substanzielle Verbesserung der politischen und sozialen Lage der unterprivilegierten Schichten erwartete. Mit einigen hermeneutischen Anstrengungen lässt sich der Aufruf »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« auch als postulative Wendung der Formel vom »Krieg der Armen gegen die Reichen« lesen.243 Aber zum »Neobabouvisten« wird Büchner durch seine Formulierungen des Sachverhaltes nicht; zudem kann selbst seine Rezeption dieser Position, mithin eine Lektüre der Rede Blanquis, keineswegs als gesichert gelten.244

|| 240 Börne 1986, S. 371; vgl. hierzu auch Bock 1995, S. 58, der allerdings die Nähe zu Büchner verwischt, sowie Teraoka 2006, S. 130 und Poschmann 2009, S. 139f., die aus dieser Nähe keine Konsequenzen ziehen. 241 Dabei ist allerdings nicht zu erkennen, dass Büchner den soziopolitischen Konflikt »[n]och genauer als der Börne der Briefe aus Paris sah« (Hinderer 1977, S. 35). Er bewertet ihn nur anders; vgl. hierzu überzeugend Hörmann 2009–2012. 242 Vgl. MEW II, S. 555: »Eine soziale Revolution, meine Herren, ist ganz etwas anderes als die bisherigen politischen Revolutionen; sie geht nicht, wie diese gegen das Eigentum des Monopols, sondern gegen das Monopol des Eigentums; eine soziale Revolution, meine Herren, das ist der offene Krieg der Armen gegen die Reichen.« 243 So Ruckhäberle 1975, S. 224ff.; MBA II.2, S. 387ff. 244 So aber Mayer, der (1985, S. 95) davon spricht, dass eine produktive Lektüre Büchners »als gesichert gelten« darf (vgl. schon Hans Mayer 1972, S. 81f.; übernommen wurde diese Rezeptionsthese dann u. a. bei Schaub 1996, S. 205f.; P II, S. 832; Knapp 32000, S. 23f. u. S. 75f.; Morawe 2012, S. 29ff. sowie MBA II.2, S. 339ff. u. S. 404ff.). Das ist aber wenig überzeugend, weil es nicht ein einziges Dokument gibt, das eine Lektüre tatsächlich nachwiese. Die angeblich philologischen Nachweise sind vor allem Ausweise sprachlicher Ähnlichkeiten vermischt mit hermeneutischen Betrachtungen der Gehalte. Diese vergleichenden Interpretationen bleiben aber in erheblichem Maße selektiv, vor allem gegenüber der babouvistischen Religionstheorie. Auch wäre in anderem als vorliegendem Zusammenhang über die Frage zu debattieren, wie avanciert die Position Blanquis im Jahre 1832 tatsächlich war. Für Mayer ist Blanquis Rede Ausdruck der politisch fortschrittlichsten Position dieser Zeit, weshalb Büchners Übernahme ihn zu einem Teil der politischen Avantgarde der 1830er Jahre, zur Speerspitze des sozialrevolutionären Weltgeistes, mache (vgl. Mayer 1979a, S. 5). Für Morawe gar (2005–08, S. 256ff.) offenbart sich an der Rede Blanquis der »republikanische Kairos des Krisenjahrs 1832«; allerdings ist solcherart säkularisierte Revolutionsmythologie selten geworden: Selbst ausgewiesene Blanqui-Forscher sehen den 25-jährigen Revolutionär mit seiner

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Doch die Forschung bietet seit Ruckhäberle und Mayer noch ein weiteres, gewichtigeres Argument für einen konzeptionellen Neobabouvismus Büchners auf: Bei diesem Argument handelt es sich um die These, Büchner habe nicht nur als entscheidendes politisches Mittel die Revolution als einzig angemessene Form der notwendigen Veränderung propagiert, sondern auch als das Ziel dieses Prozesses die »Gütergemeinschaft« oder das »Gemeingut« anvisiert, in jedem Falle aber eine Kritik des Privateigentums zugunsten von Vergesellschaftungsvorstellungen vertreten.245 Diese These ist allerdings mit einem erheblichen methodischen Problem belastet, das die weitgehend biographisch oder politisch ausgerichtete Forschung bislang beiseite schob: Es gibt nicht ein einziges Dokument aus der Hand Georg Büchners selber, das das Ziel der »Abschaffung des Eigentums«,246 einer Vergesellschaftung von Produktionsmitteln247 oder auch nur das Modell des Gemeineigentums ausführte. Die überlieferten Fassungen des Hessischen Landboten geben in Hinsicht auf solcherart Eigentumsreflexionen ebenso wenig her wie ein berühmt-berüchtigtes Konzeptpapier Büchners, das die von ihm gegründeten Geheimgesellschaften in Darmstadt und Gießen auf jene frühkommunistischen Grundsätze verpflichtet habe, jedoch verloren gegangen ist.248 Auch Büchners Briefe weisen an keiner Stelle auf eine abgezweckte Vergesellschaftung von Eigentum hin; kurz: ›Frühkommunist‹ ist Büchner nur durch sekundäre Quellen, die entweder in den 1840er Jahren verfasst

|| Rede von 1832 nüchterner: »Die Rede ist eindrucksvoll und findet Beifall im Publikum. In der Theorie geht sie nicht über das hinaus, was andere Sozialreformer vor ihm gefordert hatten. [Hier folgt ein Verweis auf Bazard, der schon 1829 von einem Klassenantagonismus sprach.] Nicht die unmittelbaren Bedürfnisse und Sorgen der Arbeiter beschäftigten Blanqui in erster Linie, sondern das Fernziel, die erträumte Republik der Gleichen. Aber er hat seinen eigenen Stil gefunden: und das ist immerhin etwas« (Bergmann 1986, S. 79). Trifft dies aber zu, dann ist das leidenschaftliche Anliegen eines gewichtigen Teils der Büchner-Forschung, Büchner zum Neobabouvisten zu erklären, deshalb fraglich, weil es schlicht ebenso unwichtig wie unbedeutend ist. Dass der Babouvismus insgesamt eher als rückwärtsgewandte, kulturkonservative Utopie zur interpretieren ist, zeigen Graf 1983, S. 691f.; Sieferle 2007, S. 26f.; Israel 2017, S. 765f. 245 Vgl. hierzu ausgehend von Ruckhäberle 1975, S. 230ff. und Mayer 1979a, S. 25f. auch Mayer 1980, S. 378; Meier 1983, S. 150; Mayer 1985, S. 144; Mayer 1987, S. 174–178; Holmes 1986/87, S. 72; Grab 1987, S. 357; Grab 1987a, S. 158; Poschmann 1988, S. 129; Grab 1990, S. 67; Hauschild 1993, S. 348; Holmes 1990–94, S. 243ff.; P II, S. 820f., S. 823ff.; Osawa 1999, S. 17; Knapp 32000, S. 14; Schütte 2006, S. 179; Glück 2009–12, S. 65f.; MBA II.2, S. 177, S. 397ff. u. ö.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 38; Hauschild 2013, S. 29ff.; zu einer Kritik hieran vgl. schon Wetzel 1981, S. 253; zurückhaltender Kurzke 2013, S. 101. 246 So P II, S. 824 und MBA II.2, S. 354ff. 247 So Mayer 1979a, S. 26 und MBA II.1, S. 57. 248 Vgl. hierzu auf der Grundlage der Aussagen von Adam Koch aus dem Jahre 1842 (abgedruckt in P II, S. 689f. u. MBA II.2, S. 329ff.) Mayer 1987, S. 173; Hauschild 1993, S. 335ff.; P II, S. 823; Hofmann u. Kanning 2013, S. 38.

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oder aber in der Gefangenschaft in Verhören erpresst wurden.249 Mit letzteren geht die Forschung allerdings eigentümlich selektiv um.250 Darüber hinaus ist die Frage, wie politisch avanciert der Babouvismus in den 1830er Jahren war, in der politikgeschichtlichen Forschung durchaus umstrittener. So hat Rolf Peter Sieferle die abstrakte Zivilisationskritik und den rückwärtsgewandten Utopismus des modernitätskritischen Babouvismus freigelegt, der im Hinblick auf seine Kategorienbildung dem 18. Jahrhundert nachhaltiger verpflichtet war als den sozialpolitischen Problemen des 19. Jahrhunderts251 und selbst Jonathan Israel analysierte die »kruden Ansichten über das Eigentum« Babeufs, nach denen »die Abschaffung des Eigentums […] das Glück aller« garantiere.252 Georg Büchner hat in Gießen und Darmstadt zwar versucht, mit einigen Studenten und Herdwerksgesellen Sektionen einer Gesellschaft der Menschenrechte zu gründen, um sich so an die in Frankreich insbesondere zwischen 1832 und 1834 machtvoll wirkende Societé des Droits de l’Homme et du Citoyen anzubinden.253 Diese Gesellschaft aber hatte sich weitgehend den Prinzipien Robespierres, genauer dessen Erklärung der Menschenrechte vom April 1793, verschrieben254 und wurde in ihrer Pariser Sektion nur zu einem Teil auf Buonarrotis und Blanquis Babouvismus ausgerichtet.255 Deren Einfluss mehrte sich erst im Jahre 1834, während Büchner also schon wieder in Gießen studierte, weshalb er deren Prinzipien vor allem in seinem heimlichen zweiwöchigen Straßburg-Besuch zu Ostern 1834 internalisiert haben soll.256 Doch auch Büchner dürfte nicht entgangen sein, dass die Société durch ständig neue Abspaltungen zusehends geschwächt wurde.257 Spätestens mit den großen Prozessen im April 1835 war die gesamte radikaldemokratische Bewegung als politische Parteiung zerschlagen. || 249 Vgl. hierzu die Sammlungen dieser zeitgenössischen Dokumente in Büchner u. Weidig 1996, S. 107–127; P II, S. 646–674 u. S. 687–694; MBA II.2, S. 47–334. 250 So wird u. a. August Beckers Aussage, nach der man das »ursprüngliche [d. i. das von Büchner verfasste] Manuskript [des Hessischen Landboten] allenfalls als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde, betrachten könne« (Büchner u. Weidig 1996, S. 109), als taktische Verschleierung der eigentlichen Sachverhalte interpretiert (vgl. Mayer 1979a, S. 50ff.), wohingegen Beckers Hinweise zur Gütergemeinschaft als Telos der Staats- und Gesellschaftsauffassung uneingeschränkt den Überzeugungen Büchners entsprechen sollen. Nachgewiesen werden solche Urteile aber nicht, nur als nachgewiesen behauptet; Kritik an solchen Verfahren (vgl. Stiening 2012b) wird allerdings mit dem Verdacht politischer Interessen beantwortet (vgl. Hauschild 2013–15, S. 281); zur methodischen Sache aber wurde kein neues Argument vorgetragen. 251 Vgl. Sieferle 2007, S. 26f. 252 Israel 2017, S. 766. 253 Vgl. hierzu Mayer 1987, passim; Hauschild 1993, S. 333–353 und MBA III.2, S. 177. 254 Vgl. hierzu Dipper 1997, S. 119 sowie Deinet 2001, S. 169ff. 255 So zu Recht Hauschild 1993, S. 153 sowie Deinet 2001, S. 105. 256 So Mayer 1979a, S. 45ff. und Hauschild 1993, S. 324–333. 257 Vgl. hierzu Deinet 2001, S. 172ff.

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Bei näherer Betrachtung wirken also die angeblich philologischen und empirischen Nachweise eines büchnerschen ›Neobabouvismus‹ aus systematischen, methodischen wie historischen Gründen wenig überzeugend. Neben dem methodischen Problem, dass wir von einer angeblichen fundamentalen Kritik der bürgerlichen Eigentumsvorstellungen durch Büchner nur durch sich widersprechende, sekundäre Quellen wissen, bleibt das Spektrum der linken Positionen in den 1830er Jahren, an die Büchner sich hat anbinden können, zu groß,258 als dass er ausschließlich dem Neobabouvismus zuzuordnen wäre. Den vormodernen Asketismus des Babouvismus259 hat er zudem nicht geteilt. Darüber hinaus fehlt es der büchnerschen Politikkonzeption an weiteren spezifischen Elementen der neobabouvistischen Theorie,260 so der Vorstellung eines Klassenkampfes zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Zwar spricht Büchner von einer Auseinandersetzung zwischen der »gebildeten und wohlhabenderen Minorität« und der »großen Klasse«. Von einem ausgeprägten Klassenkampf im Sinne der Auseinandersetzung um die politischen und ökonomischen Herrschaftsverhältnisse spricht er aber keineswegs.261 Zudem fehlt die für Buonarroti zentrale Vorstellung einer Übergangsdiktatur262 bei Büchner ebenso, wie er – was im Abschnitt über sein philosophisches Wissen nachgewiesen wurde263 – kein Materialist war. Auch eine dem Deismus Buonarrotis entsprechende theologische Vorstellung sowie die theoriekonstitutiven religiösen Prinzipien seiner politischen Konzeption264 fehlen bei Büchner gänzlich. Kurz: Es gibt letztlich mit Ausnahme der sekundären Dokumente zu Büchners angeblicher Auffassung von der zu erstrebenden »Gütergemeinschaft« keinerlei Anhaltspunkte für einen konsequenten Neobabouvismus. Weil aber dieser Status der Nachweisinstrumente für die These von Büchners »Frühkommunismus« unsicher bleibt, muss jeder Versuch, auf dieser Grundlage nicht nur seine politische Theorie und Praxis, sondern gar sein ganzes, auch wissenschaftliches und literarisches Werk zu rekonstruieren, zu verstehen oder zu erklären,265 als systematisch unmöglich und methodisch unseriös bezeichnet werden. Neben den methodisch bislang unüberwindlichen Problemlagen zu einer politischen || 258 Vgl. hierzu Pilbeam 2000, S. 1–12 sowie den ausführlichen Artikel von Höppner u. SeidelHöppner 2005, passim. 259 Vgl. erneut Sieferle 2007, S. 26f. 260 Zum Folgenden vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 1975, S. 228f. sowie Ruckhäberle 1977, S. 43ff.; Graf 1983, S. 691f. 261 So aber die Insinuationen bei Ruckhäberle 1975, S. 131; Jancke 31979, S. 191–121; Mayer 1979a, S. 26 u. S. 270f.; Holmes 1986/87, S. 71 sowie Dedner 1989, S. 579. 262 Vgl. hierzu Holmes 1990–94, S. 244ff. 263 Vgl. hierzu meine Ausführungen im Kap. I. 264 Vgl. hierzu Graf 1983, S. 692: »Nicht zuletzt wegen seiner religiösen Motive vermag der Babouvismus nach der Julirevolution auf bestimmte Gruppen einer allmählich sich formierenden französischen Arbeiterbewegung einen erheblichen Einfluß auszuüben.« 265 So aber Mayer 1979a, S. 5ff.

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Theorie werden die weiteren Ausführungen zudem zeigen, dass auch aus systematischen Gründen die ›Politik‹ Büchners nicht angemessen als frühkommunistisch zu bezeichnen ist und darüber hinaus nicht der Ausgangspunkt zur Erschließung seines gesamten wissenschaftlichen oder literarischen Werkes sein kann.266 Gegen die These vom Frühkommunismus sprechen auch die gegenüber den erpressten oder späteren Ausführungen Clemms, Beckers oder Kochs authentischen Aufzeichnungen Alexis Mustons aus dem Sommer 1833; hier heißt es an einigen markanten Passagen zu den vielfältigen Feldern des büchnerschen Politikverständnisses: Ce brave George est enthousiaste de liberté. […] Chemin faisant il me raconte son histoire; passionné en tout: pour l’étude, pour l’amitié, dans ses admirations et ses antipathies: idolâtre de la révolution française, contempteur de Napoléon, aspirant de tout son être à l’unité de la famille allemande; […]. Repartis de bonne heure; causé ST Simonisme, rénovation sociale et religieuse, république universelle, états-unis de l’Europe, et autres utopies, dont quelques unes peut-être deviendront des réalités.267

Dass es neben dem Pauperismus-Problem vor allem Freiheits- und Rechtsverständnisse sind, die Büchners sozialphilosophische und -politische Theorie ausmachen, wird sich in der folgenden systematischen Rekonstruktion noch zeigen. Als einen glühenden Verehrer der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands, der er offenbar neben seinen bekannten Positionen als Verehrer der Französischen Revolution und Verächter Napoleons auch war, hat die Forschung ihn seit Hans Mayer allerdings selten präsentiert.268 Ausgehend von diesem tatsächlich authentischen Dokument sollen im Folgenden die primären Quellen zu Büchners politischer Position in systematischer Absicht analysiert und interpretiert werden.

4.3 Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners Büchner vertrat im Hinblick auf den Veränderungsmodus der bestehenden Verhältnisse zweifellos eine auf Gewaltanwendung basierende sozialrevolutionäre Politik.269 Dass er damit den Fraktionen der radikalen Demokraten der 1830er Jahre angehörte, steht außer Zweifel. Allerdings wird er durch die sozialpolitische Begründung seiner Revolutionsüberzeugung – so zeigte sich – keineswegs zu einem Parteigänger des Neobabouvismus oder des Saint-Simonismus.270 Seine Revoluti-

|| 266 So auch MBA II.2, S. 337ff. 267 Fischer 1987, S. 264, S. 272 u. S. 284. 268 Vgl. aber Martin 2007, S. 59 und – mit kritischer Absicht – Meyzaud 2012, S. 161, S. 174ff. u. ö. 269 Vgl. hierzu u. a. Jancke 31979, S. 110ff.; Beise 2010, S. 24; MBA II.2, S. 394ff. 270 Die Zeitgenossen haben sich übrigens solcher, eher die 1970er Jahre beschäftigenden internen Differenzierungen innerhalb der Linken weniger ausgesetzt gesehen. So spricht Balzac in Une

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onsauffassung ging vielmehr mit einer spezifischen Vorstellung der durch die Revolution zu ermöglichenden neuen Gesellschaft einher, die mehr auf allgemeine und gleiche Rechtsprinzipien denn auf Vergesellschaftung von Eigentum abzielte. Deren genaue Konturen rufen aber im Hinblick auf ihre Prinzipien erheblich divergierende Interpretationen hervor.271 Im Folgenden soll versucht werden, aus den überlieferten primären Quellen272 eine ›politische Theorie‹ Büchners – soweit möglich – zu rekonstruieren.

4.3.1 Der »absolute Rechtsgrundsatz« einer neuen Gesellschaftsordnung Büchner formuliert – seine Revolutionsvorstellungen mit dem Telos einer neuen Gesellschaft verbindend – die Prinzipien seiner Politik im Juni 1836 gegenüber Gutzkow: Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, so viel Concessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brot – und dann ein Kreuz oder sonst so was. Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze

|| Ténébreuse Affaire (1841) von einem »zuverlässigen Republikaner der Verschwörung von Babeuf« (Balzac 1991, S. 143ff.), und auch Heine prädiziert 1840 die im Folgenden charakterisierte Gruppe radikaler Babouvisten als Republikaner: »›Erzähle mir, was du heute gesäet hast und ich will dir voraussagen, was du morgen ernten wirst!‹ An dieses Sprichwort des kernichten Sancho dachte ich dieser Tage, als ich im Faubourg Saint-Marceau einige Ateliers besuchte und dort entdeckte, welche Lektüre unter den Ouvriers, dem kräftigsten Teile der untern Klasse, verbreitet wird. Dort fand ich nämlich mehrere neue Ausgaben von den Reden des alten Robespierre, auch von Marats Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte des Cabet, Cormenins giftige Libelle, Baboeufs Lehre und Verschwörung von Buonarroti, Schriften, die wie nach Blut rochen« (Heine 1976, V, S. 251). Vgl. hierzu auch zutreffend Morawe 2005–08, S. 258. 271 So insbesondere die Arbeiten von Jancke 31979; Mayer 1979a; Hauschild 1993; P II, S. 804–871; Knapp 32000, S. 67–88 und Glück 2009–12. 272 Damit sind neben dem Hessischen Landboten vor allem die Briefe Büchners gemeint, die hinsichtlich der in ihnen entwickelten ›politischen Theorie‹ keineswegs angemessen ausgewertet wurden. Die in der Forschung – auch aufgrund der prekären Quellenlage – üblich gewordene ununterschiedene Verwertung primärer und sekundärer Dokumente sowie – Gipfel der methodologischen Naivität und des methodischen Chaos – Passagen aus der Dichtung wird in der Folge zu vermeiden versucht. Zur Kritik an der methodologisch unabgesicherten, politisch funktionalen Interpretation der Dichtungen Büchners vgl. schon Zeller 1986/87, S. 83.

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Leben desselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.273

Im Hinblick auf eine ›politische Theorie‹, die mehr bzw. anderes darstellt als ein situationsgebundenes politisches Erfahrungsurteil, weil sie einen empirischen und rationalen Wissensanspruch erhebt, ist diese Aussage zweifellos eine der wichtigsten Passagen im überlieferten büchnerschen Œuvre.274 Schon auf den ersten Blick ist nämlich ersichtlich, dass die Argumentation sich keineswegs auf ein begrifflich und kategorial wohlgeordnetes politökonomisches oder herrschaftspolitisches Instrumentarium stützt, sondern mit Hilfe politpragmatischer und kulturpolitischer Argumente verfährt.275 In jenen ersten Sätzen dieser Passage zeigt sich zudem, dass Büchner den benannten gesellschaftlichen Gegensatz nicht als Klassenantagonismus denkt – weder argumentiert er mit Hilfe einer Kategorie der Klasse276 noch mit Hilfe jener eines Antagonismus –, weil er die als »Reiche« bezeichnete »Minorität« durch Wohlhabenheit und Bildung definiert.277 »Bildung« ist aber seit 1834 für Büchner vollständig durch äußere Faktoren determiniert278 und damit unmöglich Moment einer Klassenbewusstsein konstituierenden politischen Identität, die mit Notwendigkeit in einen agonalen Konflikt mit der konkurrierenden Klasse eintritt.279 ›Bildung‹ firmiert in dieser Argumentation vielmehr – erneut anders als im Babouvismus280 – zum einen als Gegenstand einer moralisierenden Kritik an der privilegierten Klasse und zum anderen als Ideal einer ›geistigen Kultur des Volkes‹. ›Bildung‹ soll somit zum In-

|| 273 Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836; P II, S. 44013–28/MBA X.2, S. 9324–35. 274 So auch P II, S. 1199f.; in bemerkenswerter Weise haben sich die beiden einflussreichsten Interpreten der politischen Theorie und Praxis Büchners (Thomas Michael Mayer und Jan-Christoph Hauschild) zu dieser Briefstelle nie geäußert; wenigstens genannt wird sie bei Viëtor 1950, S. 50; Hans Mayer 1972, S. 267f.; Sengle 1971–1980, III, S. 297 u. S. 312; Jancke 31979, S. 121; Bohn 1981, S. 116; Kahl 1982, S. 106; Hermand 1983, S. 116f.; Wender 1988, S. 244; Knapp 32000, S. 111; Drux 2001, S. 302ff.; Morawe 2005–08, S. 256ff.; Sanna 2010, S. 46; Hörmann 2009–12, S. 147f.; Meyzaud 2012, S. 157f. Neuerdings wird die substanzielle Bedeutung dieser Briefpassage für Büchners Politik erkannt, vgl. u. a. Glück 2009–12, S. 62ff.; Morawe 2012c, S. 33ff.; MBA II.2, S. 339. 275 Zum Folgenden vgl. auch Stiening 2012 u. Stiening 2016. 276 Und zwar weder im früh- oder spät-marxschen Sinne (vgl. MEW III, S. 62 u. MEW XIX, S. 224f.) noch in einer erweiterten dahrendorfschen Semantik (Dahrendorf 1973). Allerdings dürfte Büchner den von ihm verwendeten Terminus »Klasse« aus saint-simonistischen Zusammenhängen übernommen haben, führte dessen Gründer doch den Klassenbegriff in die soziopolitischen Debatten des frühen 19. Jahrhunderts ein; vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 161. 277 So aber Mayer 1979a, S. 14 und Šmulovič 1981, S. 214 sowie – fast 30 Jahre später und ohne die Anmutung einer empirischen oder rationalen Überprüfung – Schütte 2006, S. 175, der gar das Kommunistische Manifest bei Büchner vorgeprägt findet. 278 Vgl. Brief an die Eltern vom Februar 1834; P II, S. 37824–30/MBA X.1, S. 3220ff.. 279 Diesen Faktor verkennt Jancke 31979, S. 119ff. 280 Vgl. erneut Sieferle 2007, S. 26f.

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strument überrechtlicher Vergemeinschaftung dienen, die eine vorausgesetzte rechtstaatliche Vergesellschaftung gleichsam als Zivilreligion ergänzt. Von Klassenantagonismen, wie sie u. a. Theodor Schuster im Bund der Geächteten in ersten Ansätzen seit Mitte der 1830er Jahre denkt,281 ist das alles weit entfernt. 4.3.1.1 Subjektive »Hebel« der Revolution: Hunger und religiöser Fanatismus Zudem sieht Büchner den Konflikt zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppierungen keineswegs als historisch determinierten, sondern als einen allererst durch politische Parteien herzustellenden an. Daher sind seine Kategorien für den auch 1836 nur durch Revolutionen lösbaren sozialen Konflikt eher kulturpolitisch semantisiert. Dem Wirkmechanismus der sozialen Konflikte liegt nach Büchner kein geschichtsphilosophisch oder politökonomisch begründetes allgemeines Bewegungsgesetz zugrunde,282 sondern die Kontingenz und Subjektivität soziopolitischer Problemlagen: Erst der für Büchner durch eine rücksichtslose Ausbeutung hergestellte Grad der Verelendung und deren politische Instrumentalisierung können revolutionäre Veränderungen hervorbringen. Der Schreiber des Briefes vom Juni 1836 ist offenbar fest davon überzeugt, dass ausschließlich die politisch gewollte und so auch veränderbare Herrschaftsform der entscheidende Grund für die politischen und sozialen Ungerechtigkeiten darstellt. Dabei zeigt sich auch, dass für den ›Revolutionär‹ die Massenarmut keineswegs nur Gegenstand ethischer oder polittheoretischer Reflexionen ist, sondern auch als Instrument polittaktischer Überlegungen dient. Sie ist – so furchtbar und mitleiderregend die hungernden Kinder auf dem Christkindlmarkt dem Betrachter auch erscheinen – einer der entscheidenden »Hebel« zur grundlegenden, d. h. theoretischen und handlungsfähigen Politisierung der »großen Klasse«. Gleichrangig neben dieses erste Instrument zur Politisierung der Bevölkerung stellt Büchner allerdings einen »religiösen Fanatismus«, d. h. einen ideologischen oder weltanschaulichen »Hebel«. Dieses Argument – das seine Aktualität stärker als das Verelendungsargument bis heute erhalten hat – drängt sich deshalb in besonderer Weise als erklärungsbedürftig auf, weil Büchner im unmittelbar vorhergehenden Abschnitt eine Veränderung der Gesellschaft von der Idee aus zurückgewiesen hatte: Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell.283

|| 281 Vgl. hierzu Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 100. 282 Das ist – unabhängig von allen Geltungsfragen – erst eine Erkenntnis des späten Marx, vgl. MEW XXIV, S. 15ff. 283 P II, S. 4406–8/MBA X.1, S. 9318–20.

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Büchner unterscheidet mithin präzise zwischen den zu Recht mit Wahrheitsanspruch versehenen Ideen einer Gesellschaftstheorie bzw. -analyse und jenen Vorstellungen weltanschaulicher Konzepte, die zwar ebenso einen Wahrheitsanspruch mit sich führen,284 diesen aber nicht als wahre gerechtfertigte Überzeugung – mithin als Wissen – ausweisen können, weil sie auf einem Glauben basieren.285 Im politischen Zusammenhang differenziert Büchner präzise das Wissen vom Meinen bzw. Glauben und kommt damit einmal mehr kantischen Distinktionen erstaunlich nahe. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es nämlich: Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: M e i n e n , G l a u b e n u n d W i s s e n . M e i n e n ist ein mit Bewußtsein s o w o h l subjektiv, a l s objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzueichend gehalten, so heißt es G l a u b e n . Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das W i s s e n . Die subjektive Zulänglichkeit heißt Ü b e r z e u g u n g (für mich selbst), die objektive, G e w i ß h e i t (für jedermann).286

Doch wie in Dantonʼs Tod 1½ Jahre zuvor für die Philosophie gestaltet, ist der Briefeschreiber von 1836 von der Hilflosigkeit dieses Wissens gegenüber einem politisch wirksameren Glauben überzeugt,287 denn dem Wissen fehlt offenbar die Befähigung, zum politischen Handeln zu motivieren, nicht aber dem religiösen Fanatismus. Büchner weiß allerdings darum, dass das religiöse Bewusstsein in seiner Form als Fanatismus einerseits zur Politisierung, in seiner Form als institutionalisierter Trost jedoch andererseits auch zum politischen Quietismus führen kann; im Lenz lässt er seinen Protagonisten während einer Predigt folgende Genugtuung empfinden: […] und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälte Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.288

Darin mag sich zwar eine ethische oder gar ästhetische Abneigung gegen die politische Unmündigkeit der »großen Klasse« ausdrücken,289 keineswegs aber hat sich Büchner von der Religion als politischem Instrument distanziert.290 Schon im Hessi-

|| 284 Zum notwendigen und notwendig antinomischen Alleinvertretungsanspruch religiöser Überzeugungen vgl. Stiening 2015. 285 Vgl. hierzu die Studie von Thomé 2002, S. 338–380. 286 Kant, KrV B 850. 287 Vgl. hierzu Stiening 2002, S. 51–54. 288 MBA V, S. 3525–28. 289 Mayer 1993, S. 56. 290 So P II, S. 1200.

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schen Landboten zitiert er mit großer Selbstverständlichkeit die Bibel.291 Auch in der oben zitierten Briefpassage kann von einer Abwendung von der politischen Instrumentalisierung der Religion keine Rede sein. Unter der in diesem Brief gewählten politischen Perspektive ist die »große Klasse« nur über materielles Elend oder religiöse Ideologien als politische Handlungsträger zu erreichen bzw. zum Handelns zu bewegen.292 Weil Büchner aber ausdrücklich auf die konstitutive politische Funktion religiöser Weltanschauung hinweist, scheint seine vorhergehende These, die Zeit sei rein materiell, nur unter Vorbehalt gelten zu können. Die sich hiermit andeutenden konzeptionellen Brüche bzw. Vorläufigkeiten werden auch in der Folge weiterhin sichtbar werden. 4.3.1.2 Recht – Gemeinwohl – Eigentum: Die Grundlagen der neuen Gesellschaft Die wohl irritierendste Aussage der Briefpassage erfolgt aber erst im Anschluss an diese polittaktischen Überlegungen. Denn Büchner behauptet nun, in »socialen Dingen« – und d.h. an dieser Stelle: hinsichtlich der Konzeption einer neuen Gesellschaftsordnung – müsse man einen »absoluten Rechtsgrundsatz« als Ausgangspunkt wählen. Die Interpretationsangebote der sich in diesem Punkte selten aufeinander beziehenden Forschung reichen von der These, Büchner habe an dieser Stelle auf einen »naturrechtlich fundierten Materialismus«, mithin eine materialistische Naturrechtskonzeption, referiert,293 über die schlichtere Annahme, »[d]ie damit verbundene Konzeption der gleichen Menschen- und Bürgerrechte für alle« folge »den Voraussetzungen des Naturrechts«294 bis hin zu der Überzeugung, dass »Büchners Rückgriff auf den ›absoluten Rechtsgrundsatz‹, dem Wortsinn von ›absolut‹ nach, die Dimension der Transzendenz, des Immateriellen, als Bedingung der

|| 291 So zu Recht Ruckhäberle 1975, S. 147–151 und Mayer 1979a, S. 187, gegen die zuvor vertretene (u. a. durch Beckers Verhöraussagen induzierte) Auffassung, die Bibelstellen stammten sämtlich von Weidig; zu Beckers Aussagen vgl. Büchner u. Weidig 1996, S. 109; MBA II.2, S. 7–45. 292 Was allerdings nicht heißt, dass Büchner an dieser oder irgendeiner anderen Stelle seines Werkes der christlichen Religion einen theoretisch und praktisch positiven Status, gar als »Aufklärungsmedium, als Mittel zur Belehrung und Besserung des Volkes«, zugeschrieben hätte (so aber Wagner 2000, S. 217; vgl. auch Wittkowski 2009 oder Kurzke 2013, S. 104). Schon in den Schülerschriften lehnt er die Vorstellung eines Jenseits kategorisch ab und in seinen philosophischen Skripten sucht er mit großer Energie alle möglichen Gottesbeweise zu widerlegen. Auch die neueren Varianten einer religiösen Büchner-Interpretation, nämlich die Versuche, seinen Texten, vor allem aber dem Landboten, eine politische Theologie zu unterstellen (vgl. insbesondere Meyzaud 2012, S. 153ff., S. 161, u. ö; Fortmann 2013, S. 83, S. 109 u. ö.), abstrahieren davon, dass zentrale Begriffe der politischen Theorie – u. a. Rechts- und Staatsverständnis, Politik- und Revolutionsvorstellung – allesamt ohne Referenz auf Theologumena auskommen; vgl. hierzu auch May 2016. 293 So Mayer 1979a, S. 123 und noch Morawe 2012c, S. 33ff. und Glück 2009–12, S. 62ff.; vgl. hierzu auch die zutreffende Kritik von Görlich u. Lehr 1981, S. 35. 294 P II, S. 1201.

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Möglichkeit von Recht überhaupt einschließt«;295 auch ist die These vertreten worden, Büchner beziehe sich auf Kants Interpretation der spätmittelalterlichen Maxime Fiat iustituia et pereat mundus, die in Vom ewigen Frieden als »Rechtsgrundsatz« interpretiert worden war.296 Nun ist allerdings zunächst darauf hinzuweisen, dass sich Büchner bei diesen Überlegungen zu den Prinzipien der neuen Gesellschaft mit keiner Silbe zur Gütergemeinschaft oder anderen Formen der Vergesellschaftung im politökonomischen Sinne äußert. Überhaupt ist der Ausgangspunkt seiner Rechtsbestimmungen nicht das Eigentumsproblem, sondern die Frage einer allgemeinen Rechtstaatlichkeit. Und tatsächlich scheint auch nicht mehr oder weniger gemeint zu sein, als eine absolute, mithin unhintergehbare, allgemeine und für alle gleiche Rechts- als Verfassungsstaatlichkeit überhaupt,297 die Büchner als conditio sine qua non einer durch Revolution herzustellenden neuen Gesellschaftsordnung postuliert.298 Nichts mehr als dieser oberste Grundsatz der von Büchner skizzierten Gesellschaftsordnung verbindet ihn mit den unterschiedlichen Formen des Republikanismus, einschließlich dem rheinischen Liberalismus,299 aber auch den »Erklärungen der Bürger und Menschenrechte« der jakobinischen Tradition Frankreichs;300 nichts mehr unterscheidet ihn vom organizistischen Gesellschaftsmodell des SaintSimonismus301 und nichts mehr von Buonarrotis und Blanquis Vorstellungen einer Übergangsdiktatur.302 Ob der Geltung dieses Postulats allerdings eine natur- oder vernunftrechtliche Begründungstheorie zugrunde gelegt wird,303 ist aus der Passage nicht zu ersehen. Sicher dagegen ist, dass Büchner zwei Jahre bevor er diesen Brief schrieb, eine Naturrechts-Vorlesung hörte, deren Autor von seinen Vorbehalten gegen das Naturrecht und von seiner Überzeugung einer konstruktiven Vernunftrechtskonzeption keinen Hehl machte. In seiner, kurze Zeit nach jener Vorlesung veröffentlichten Philosophie des Geistes (1835/36) führt Joseph Hillebrand im Abschnitt über das »Recht« aus:

|| 295 Schwann 1997, S. 56. 296 So Morawe 2010, S. 309f. sowie Glück 2009–2012, S. 174. 297 Vgl. schon Viëtor 1949, S. 50, vor allem aber MBA X.2, S. 333. 298 Damit steht er – wie durch die Studie Christoph Dippers nachweisbar wird – inmitten des Lagers der radikalen Demokraten bzw. der frühen Arbeiterbewegung (vgl. Dipper 1997, S. 101). 299 Vgl. erneut Wehler 1996, S. 425ff. sowie Leonhard 2001, S. 439ff. 300 V gl. hierzu die bei Ruckhäberle (1977, S. 125–129) abgedruckte deutsche Version. 301 Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen bei Schmidt am Busch 2007a, S. 108–116, spez. S. 115f. 302 Vgl. hierzu Höppner u. Höppner-Seidel 1975, S. 228; Graf 1983, S. 697 und Holmes 1990–94, S. 244f. 303 Zur Tradition und Wirksamkeit beider Begründungslinien in der Rechtsphilosophie der 1830er Jahre vgl. Klippel 1995 sowie Brand 2006.

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Vielmehr ist, wie bemerkt worden, die Freiheit in ihrem objektiven Daseyn überhaupt, also der Staat als solcher, der einzig mögliche Grund und Endzweck des Rechts. Die Freiheit produciert damit das Recht für sich selbst und hat in ihm ein wesentliches Moment ihrer existentiellen Selbstbestimmtheit.304

Büchners von Muston dokumentierter ›enthousiasme de liberté‹305 stimmte mit dieser Ableitung des Rechts aus der Freiheit und seinen Rechtsgrundsätzen systematisch zusammen. Dennoch zeigt der völlige Mangel eines Bezuges auf eine Instanz des Staates, die bei Hillebrand in Anlehnung an Hegel von der Kategorie der Gesellschaft unterschieden wird,306 dass Büchner in anderen als streng idealistischen Begründungszusammenhängen argumentierte. Das Beispiel Hillebrands kann aber zeigen, dass Büchners Postulat von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« keineswegs antiidealistisch ausgerichtet ist.307 Zwar bedarf es für die Forderung nach einer uneingeschränkten Geltung des Rechts durchaus nicht der Voraussetzung einer »Transzendenz«, um die Absolutheit des Postulats zu legitimieren, wie es die Tradition der an einem christlichen Büchner interessierten Forschung annimmt.308 Aber natur- oder vernunftrechtliche Prämissen transzendentaler oder spekulativer Provenienz sind für ein Postulat nach uneingeschränkter Rechtsgeltung unabdingbar vorauszusetzen. Selbst Karl Wilhelm Theodor Schuster, der einige wichtige Programmschriften des Bundes der Geächteten verfasste,309 hat sich der Anleihen bei der Naturrechtslehre seines Lehrers Karl Christian Friedrich Krause stets versichert.310 Solcherart rationale Prämissen lassen sich nicht auf geschichtsphilosophische oder polittaktische Demonstrationen zurückführen. Mit der Annahme eines absoluten Rechtsgrundsatzes zeigt sich mithin eine rational-normative Dimension des büchnerschen Denkens, die in der Setzung einer uneingeschränkten Rechtstaatlichkeit ihren wesentlichen Gehalt hat. Auch im Hessischen Landboten wird der »Freistaat«311 – seit dem späten 18. Jahrhundert Synonym für die rechtstaatlich verfasste Republik312 – als entscheidendes politisches Telos vertreten. »Ich werde […] immer meinen Grundsätzen gemäß handeln«,313 so || 304 Hillebrand 1835/36, II, S. 163. 305 Vgl. erneut Fischer 1987, S. 264. 306 Vgl. hierzu Hegel 1986, VII, S. 398–403. 307 Vgl. hierzu u. a. Pilger 1990–94; Osawa 1999, S. 124; Drux 2001, S. 309f.; Dedner 2002, S. 292ff.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 129; diese Rekonstruktionen eines angeblich strengen Antiidealismus Büchners kranken allesamt an einem undifferenzierten, und so für die 1830er Jahre unbrauchbaren Begriff von Idealismus; zu einem solchen vgl. aber Jaeschke u. Arndt 2012, S. 547ff. 308 Vgl. Schwann 1997, S. 56 oder Kurzke 2013, S. 101ff. 309 Dokumentiert in Ruckhäberle 1977, S. 152–204 sowie Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 100f. 310 Zu Krauses Rechtsphilosophie und ihrer Verbindung zu einer Gesellschaftheorie vgl. Peter Landau 1985, S. 80–92, spez. S. 88ff. sowie Hartung 2008, S. 303ff. 311 Vgl. P II, S. 6032/MBA II.1, S. 2144. 312 Vgl. hierzu u. a. Kant 1983, VII, S. 761. 313 P II, S. 3693f./MBA X.1, S. 2114–16.

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hatte Büchner an die Eltern geschrieben, und zu diesen Grundsätzen gehörte offenbar – wie sich noch deutlicher zeigen soll – schon früh eine uneingeschränkte, nämliche absolute, also durch nichts relativierbare Rechtstaatlichkeit.314 Dennoch legt eine Reihe von Indizien nahe, dass Büchner – trotz rational begründetem rechtsstaatlichem Fundament – durchaus nicht in der ihm über Hillebrand vermittelten vernunftrechtlichen Tradition argumentierte: Dazu gehört zunächst und zumeist, dass er sowohl in seinen Briefen als auch im Hessischen Landboten das Recht und die Gesetze, die er präzise unterscheidet, nicht als Realisationen einer vernunftrechtlich begründeten Freiheit begreift, sondern vielmehr als staatliche »Ordner«,315 und damit als Begrenzungen der Freiheit.316 Darüber hinaus lässt es Büchner an einer Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat in seinen skizzenhaften Überlegungen zur zukünftigen Gesellschaft mangeln.317 Es ist aber genau diese Differenzierung, die einerseits in den philosophischen und juristischen Debatten seit 1800 intensiv reflektiert wurden,318 andererseits in den Programmtexten der radikalen Demokraten eingeebnet wurde.319 Es liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass Büchner sich mit seiner Formel vom »absoluten Rechtsgrundsatz« auch auf die Rechtstaats- und Gesetzesbestimmungen der radikalen Demokraten der 1830er Jahre bezieht. In jener oben schon erwähnten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Société des Droits de l’Homme et du Citoyen, die im Frankreich der 1830er Jahre dem Republikanismus als politische Programmschrift diente, heißt es ausdrücklich: Art. 5. Das Gesetz schützt die öffentliche und persönliche Freiheit gegen die Unterdrückung derer, welche regieren. Es hält das Volk für gut. […] Art. 11. Eigenthum ist das Recht, welches jeder Bürger auf den Genuß desjenigen Gütertheils hat, der ihm von Gesetz zugesichert ist. Art. 12. Das Recht des Eigenthümers ist wie alle übrigen Rechte beschränkt durch die Verpflichtung, die Rechte Anderer zu achten. […]

|| 314 So auch MBA II.2, S. 339ff. 315 P II, S. 5425/MBA II.1, S. 66. 316 Gegen diese Rechts- und Gesetzesinterpretation hatte Hillebrand energisch argumentiert: »Ueberhaupt ist es eine falsche und das Wesen der Staates herabwürdigende Lehre, daß derselbe nur ein Institut zur Beherrschung der Menschen sey, da er in der That nur die S e l b s t s o r g e d e r V e r n u n f t ist, die wahre Freiheit immer mehr objektiv darzustellen, die Kräfte der Menschen stets wirksamer zu vereinen und so die Menschheit selbst mehr und mehr zu realisiren. Der Staat wirkt nicht bloß negativ, sondern vorzüglich positiv« (Hillebrand 1822/23, III, S. 105Anm.). 317 Zu Ansätzen zu einer solchen Distinktion in Danton’s Tod vgl. Stiening 2016. 318 Vgl. Klippel 1999, S. 87: »Anders als im älteren Naturrecht der deutschen Aufklärung traten Staat und Gesellschaft im Naturrecht seit Ende des 18. Jahrhunderts deutlich auseinander.« 319 Vgl. hierzu u. a. Graf 1983, S. 690ff.

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Art. 15. Die Gesellschaft soll ohne Unterlaß dahin streben, das Elend zu verbannen und die Güter der Bürger der Gleichheit näher zu bringen.320

Nimmt man diesen republikanisch-politischen Gesetzes- und Rechtsbegriff als systematische Grundlage der büchnerschen Skizze, dann ergibt sich zwar in der Tat ein substanzieller Bezug zu einem Eigentumsverständnis. Doch selbst diese – allein philologisch kaum zu verifizierende – These führte keineswegs, trotz einer Einschränkung durch den übergeordneten Grundsatz der Gleichheit, auf das Konzept des Gemeingutes, sondern vielmehr auf den Begriff des privaten Eigentümers als Rechtstitel. Nun zeigen aber seine Briefe wie auch die Flugschrift, dass Büchner erstens genau zwischen Recht und Gesetz unterscheidet,321 wie das Gros der radikaldemokratischen Konzeptionen.322 Zweitens aber bezieht er in diesem Zusammenhang den Rechtsbegriff durchaus nicht auf eine Eigentumsgarantie. Im Brief an die Eltern vom 6. April 1833, in dem er die Anwendung physischer Gewalt gegen die bestehenden Verhältnisse damit legitimiert, dass die positiven Gesetze in den deutschen Staaten um 1830 Instrumente eines »ewigen Gewaltzustandes« – mithin Erscheinungen des Naturzustandes – seien, verteidigt er seinen Standpunkt mit der folgenden Argumentation: Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann.323

Trotz des moralischen Substrats des Ausbeutungsvorwurfes ist erkennbar, dass Büchner das geltende, positive Gesetz als Gewaltinstrument gegen das Recht begreift, das schon hier naturrechtlich bestimmt wird.324 Er steht mit dieser Argumentation in der Tradition eines aufklärerischen Naturrechts, das sich in den 1830er Jahren in radikaldemokratischen Kreisen großer Beliebtheit erfreute:

|| 320 Zitiert nach der deutschen Übersetzung Paris 1834, abgedruckt in Ruckhäberle 1977, S. 125–129. 321 Vgl. u. a. Brief an die Eltern vom 8. August 1834, in dem er zwischen seinen »heiligsten Rechten« auf Unantastbarkeit der Persönlichkeit und des privaten Eigentums (an Briefen nämlich), die er offenbar naturrechtlich versteht, und dem positiven »Gesetz«, das man je unterschiedlich »auslegen« kann, klar unterscheidet; P II, S. 3899f. u. 27/MBA X.1, S. 445 u. 20; vgl. hierzu auch Stiening 2012 sowie Graff 2017, S. 164. 322 Vgl. Ruckhäberle 1977, S. 18f. 323 P II, S. 36629–3673/MBA X.1, S. 1921–28. 324 So zu Recht Martens 31973a, S. 441.

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 375

Der Radikalismus und vor allem die frühe deutsche Arbeiterbewegung argumentierten naturrechtlich und versprachen sich vom Übergang zur Republik die Lösung der sozialen Freiheit, ein Begriff, der nicht von ungefähr bei ihnen besonders populär war.325

Das gilt auch für Büchner. Denn in dem von ihm angesprochenen herrschaftspolitischen Zusammenhang knüpft er keinerlei Verbindung zu Eigentumsfragen. Vielmehr würde durch die geltenden Gesetze dem Recht, das hier als Naturrecht auf Freiheit – d. h. auf Freiheit von der Gewalt einer Minderheit – interpretiert wird, rohe Gewalt angetan. Dass mit diesem Rechtsbegriff tatsächlich ein naturrechtlicher Gehalt zu verbinden ist, zeigt der erweiternde Bezug auf die recta ratio (die »gesunde Vernunft«), die seit Cicero das praktische Vermögen zur Bestimmung natürlicher Gesetze darstellt.326 Nur die Annahme, dass es eine andere als die staatliche Zwangsgewalt gibt, die Recht schafft – für Büchner in der Tradition des Naturrechts die praktische Natur des Menschen – ermöglicht jene argumentationslogische Konfrontation zwischen positiven Gesetzen und dem Recht. Dass Büchner unter Berücksichtigung dieser substanziellen Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz das jakobinische Rechtsverständnis der Société des Droits de l’Homme et du Citoyen bei seinem Postulat eines »absoluten Rechtsgrundsatzes« vor Augen hatte und damit eine Vermittlung von Eigentumsgarantien und Elendsverhinderung durch Gleichheitsprinzipien in seiner kurzen Skizze anstrebte, zeigen einige weitere Bestimmungen jener Erklärung der Société, mit denen die politische Theorie Büchners durchaus zusammenstimmt. So wird sich bei allen Brüchen im Folgenden noch zeigen, dass auch Büchner im Hinblick auf eine neu zu errichtende Gesellschaft »das Volk für gut« hält.327 Auch dass die Gesellschaft zu Sozialstaatlichkeit durch Gewährleistung der Gleichheit verpflichtet werden soll, liegt – wie gezeigt – im Rahmen jener Systematik der soziopolitischen Konzeption Büchners.328 Vor allem aber lässt sich die Lehre von den Staats-, bzw. allgemeiner: von den Vergemeinschaftungszwecken, die diese Erklärung in der Tradition des Eudämonismus entwirft, mit Büchners Vorstellungen korrelieren. Denn gleich im ersten Artikel dieser Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte heißt es: Art. 1. Der Zweck der Gesellschaft ist das Glück aller ihrer Glieder.329

Unübersehbar steht diese Definition der Gesellschaftszwecke in der Tradition utilitaristischer Spezifizierungen eudämonistischer Gemeinwohlbestimmung seit der

|| 325 Dipper 1997, S. 101. 326 Vgl. hierzu ausführlich Hüning 1998, S. 107ff. 327 Vgl. hierzu auch Jancke 31979, S. 123. 328 Zum Kontext vgl. Wohlrab 1997, S. 143ff. u. 165–167. 329 Ruckhäberle 1977, S. 125.

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Antike.330 Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass erst aus diesem übergeordneten materialen Staatszweck die »Freiheit« als Mittel der Zweckverbürgung abgeleitet wird: »Um dieses Glück zu sichern, muß die Gesellschaft einem Jeden verbürgen: […] Freiheit.« Freiheit ist damit nicht – wie bei Kant, Hegel oder Hillebrand – Grund und Zweck des Rechts, sondern Mittel zur Glücksverwirklichung. Es ist aber genau diese eudämonistische Staatszweckelehre, der auch im Hessischen Landboten Geltung zugesprochen wird: Was ist den nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind Alle, die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen.331

Die Forschung hat aus dieser eher traditionellen, volksdidaktischen Passage lange Zeit ein philologisches und politgeschichtliches Problem ersten Ranges gemacht: Weil man sich nicht vorstellen konnte oder wollte, dass Büchner weniger in der naturrechtlichen Tradition Rousseaus stand als in der des ursprünglich aristotelischen »Gemeinwohls«, das über vielerlei Metamorphosen und gegen den vernunftrechtlichen Widerstand im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert uneingeschränkt Geltung beanspruchte,332 erklärte man diese in beiden Druckfassungen der Flugschrift unveränderte Passage entweder zum »bare[n], dennoch spezifischen Unsinn« und schrieb sie Weidig und seiner »Vorstellung von Nutzen oder Gemeinwohl« zu.333 Oder aber die Passage blieb doch der Autorschaft Büchners vorbehalten, wurde aber als Druckfehler gewertet und daraus die Konsequenz gezogen, dass das letzte »Wohl Aller« durch das rousseausche »Wille Aller« zu ersetzen sei; begründet wurde diese philologisch weitreichende – weil in den gedruckten Text eingreifende These334 – dadurch, dass die Kategorie der volonté de tous einige Zeilen später Verwendung findet; tatsächlich heißt es im Landboten: Die höchste Gewalt ist in dem Willen Aller oder der Mehrheit.335

Spätestens an dieser Stelle, die eine relative Identität zwischen der Mehrheit und der numerischen Vollständigkeit der Einzelwillen behauptet, wird aber unüberseh-

|| 330 Vgl. Herzog 1974, Sp. 248–248; Wohlrab 1997, S. 14–21; Bohlender 2002, S. 247ff. und Wischmeyer 2015, S. 17ff. u. S. 35ff. 331 MBA II.1, S. 63–8; vgl. auch Büchner u. Weidig 1996, S. 824–30. 332 Vgl. Wohlrab 1997, S. 131ff.; Hoffmann 2002, S. 303–325; Wischmeyer 2015, S. 17ff.; Erbentraut 2016, S. 119ff. 333 So Mayer 1979a, S. 270. 334 Vgl. insbesondere P II, S. 5426; reproduziert noch bei Fortmann 2013, S. 83. 335 MBA II.1, S. 938; Büchner u. Weidig 1996, S. 2211f..

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 377

bar, dass für diese Flugschrift die für die rousseausche Vernunftrechtsdeduktion essentielle Unterscheidung zwischen einer empirischen volonté de tous und einer rationalen volonté générale336 eingeebnet wurde bzw. unberücksichtigt blieb. Für den Hessischen Landboten und auch für Büchners spätere politische Theorie gibt es ausschließlich die empirische Bezugsgröße einer volonté de tous, aus der die Souveränität der höchsten Gewalt abgeleitet wird, wie die zuletzt zitierte Passage zeigt.337 An der Abstraktion von der Differenz innerhalb der Kategorie des allgemeinen Willens wird kenntlich, dass Büchner zwar noch eine terminologische, nicht aber mehr eine begriffliche oder systematische Anbindung an Rousseau und die ihm folgende vernunftrechtliche Tradition zuzuschreiben ist, die über Kant, Hegel und Hillebrand an ihn vermittelt wurde. In der ein materiales Gemeinwohl als Zweck staatlicher Vergemeinschaftung deduzierenden aristotelischen Tradition, die über Christian Wolff und die anthropologiefundierten Naturrechtstheoretiker des späten 18. Jahrhunderts an das 19. vermittelt wurde,338 gibt es dagegen eine enge Verbindung zwischen den auch hier als Grenzen der Freiheit begriffenen Gesetzen und dem Staatszweck des Gemeinwohls. Schon Thomas von Aquin339 und noch weite Teile der Naturrechtslehre des frühen 19. Jahrhunderts verbanden mit dem Staatszweck des Gemeinwohls dessen Garantie durch Gesetze.340 Deren Inhalte sowie deren Geltung hatte mithin im »Wohl Aller« ihren Grund und Zweck. Zu einer, den gedruckten Wortlaut des Hessischen Landboten zu Grunde legenden Kontextualisierung jener Vermittlung von Gemeinwohl und Gesetzen bedarf es mithin keineswegs einer Zuweisung zur Autorschaft Weidigs.341 Denn auch Büchners gesamte politische Argumentation und deren radikaldemokratischer Kontext weisen auf dieses gemeinwohlorientierte Vergemeinschaftungstelos hin.342 Daher liegt es durchaus nahe, seine Formel von dem »absoluten Rechtsgrundsatz«, den Büchner als erste und entscheidende Bedingung der Möglichkeit einer neuen Gesellschaft bestimmt, auf das Rechtsverständnis dieser gemeinwohlorientierten Tradition recht- und politiktheoretischer Konzeptionen zu beziehen; deren Rechtsbegriff bezog sich ausdrücklich – im expliziten und begründeten Unterschied

|| 336 Vgl. Riley 2000, S. 107–132. 337 Zum historischen Kontext dieser Empirisierung der volonté générale vgl. Erbentraut 2016, S. 129ff. 338 Vgl. hierzu die Studien von Hellmuth 1985, S. 122ff.; Wohlrab 1997, passim; Reulecke 2007, S. 265ff. und Wischmeyer 2015, S. 35ff. 339 Vgl. hierzu Böckenförde 22006, S. 247f. 340 Vgl. Stolleis 1997, S. 8–12. 341 Dass Weidig gleichwohl ausführliche Reflexionen zum Gemeinwohl anstellte, lässt sich nachlesen in Weidig 1987, S. 193–214. 342 Vgl. hierzu auch Müller-Dietz 1990, S. 273; MBA II.2, S. 226.

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zum Gesetzesbegriff – auf die Garantie und Sicherung der durch Gleichheitsprinzipien eingeschränkten Kategorie des Privateigentums.343 Es lassen sich mit Büchners Formel also beide Rechtsinhalte verbinden, die Garantie der Freiheit von willkürlicher Gewaltherrschaft durch allgemeine und verbindliche Rechtstaatlichkeit ebenso wie die Sicherung des Eigentums in den Schranken sozialer Gleichheit. Dass sich dieses Rechtsverständnis in den Bahnen einer Staatslehre bewegt, die die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft nicht verlässt, wie Gerhard Jancke in Bezug auf Büchners Theorie revolutionärer Gewalt schon vermutete,344 ist – gegen alle Thesen vom Frühkommunismus – nicht von der Hand zu weisen. Unter Berücksichtigung dieser rechts- und politikphilosophischen Kontexte ist es nicht nur offensichtlich, dass zu Beginn des Hessischen Landboten eine enge Verbindung zwischen Gemeinwohl und Gesetzen hergestellt wird, sodass – wie zu Recht in der MBA geschehen – die philologischen ›Verbesserungen‹ des Textes von der Forschung rückgängig zu machen sind.345 Auch Büchners Postulat eines »absoluten Rechtsgrundsatzes« situiert ihn in jene radikaldemokratische Begründungstheorie, die sich deutlich von Buonarrotis und Blanquis babouvistischen Vergemeinschaftungsmodellen unterscheiden. Bei einer angemessenen Interpretation der büchnerschen Rechtsvorstellung im Hinblick auf die durch eine Revolution zu errichtende Gesellschaft muss man sich von den schon terminologisch wie erst recht begrifflich und systematisch problematischen Prädikationen wie Frühsozialismus oder Frühkommunismus verabschieden.346 4.3.1.3 Moderner ›Ennui‹ als Argument? – Soziopolitik und Kulturkritik Die Kontur der kulturpolitischen Argumentationsbewegung Büchners in diesem Brief vom Juni 1836 zeigt sich deutlicher noch, beachtet man abschließend die weiteren Attribute der anvisierten neuen Gesellschaft sowie die vorgetragenen Kritikpunkte an der bestehenden: Nach dem Postulat einer rechtlichen Grundlegung der neuen Gesellschaftsordnung fügt Büchner an, man solle auf dieser Grundlage »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen«.347 Nimmt man den letzten Teil der Formulierung als Rekurs auf den soziopolitisch und -kulturell umfassenden Anspruch der Veränderungsabsichten Büchners, so muss der erste Teil des Satzes aufmerken

|| 343 Vgl. erneut Ruckhäberle 1977, S. 126; zu den zeitgenössischen Versuchen der Vermittlung von Gemeinwohl und Privateigentum vgl. Wohlrab 1997, S. 217ff. 344 Vgl. Jancke 31979, S. 113. 345 MBA II.1, S. 3027–311 u. S. 226. 346 Zur allgemeinen Problematik einer angemessen Verwendung dieser Termini vgl. Graf 1983, S. 689f. 347 P II, S. 44022–24/MBA X.1, S. 9331f..

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 379

lassen. Vor dem Hintergrund der Forschungslage zu »Büchners politischer Position«348 ist erneut darauf hinzuweisen, dass keinerlei Bezug zu sozioökonomischen Bedingungen hergestellt wird, sondern vielmehr einer eher sozialromantisch anmutenden Hoffnung auf die »Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk«349 Ausdruck verliehen wird. Dabei liegt das entscheidende Problem für jede Interpretation dieser Passage zunächst und zumeist in dem von Büchner gewählten Prädikat: die erwähnte »Bildung« des Volkes solle man nämlich »suchen«,350 keineswegs herstellen. Zum Problem muss jedem Interpreten dieses Prädikat deshalb werden, weil im schon mehrfach erwähnten Brief an die Eltern vom Februar 1834 »Bildung«, die er als Verstandesbildung von höheren Seiten am Geist des Menschen präzise unterschied, bestimmt wurde als vollständig von äußeren Bedingungsfaktoren konstituiert, »weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen«.351 Ein neues geistiges Leben müsste nach diesem Sozialdeterminismus intellektueller und moralischer Bildung auch und gerade in dem durch die Massenarmut geprägten Volk der 1830er Jahre hergestellt, keineswegs gesucht werden. Hat Büchner doch erhebliche Änderungen u. a. an seiner empirischen Psychologie vorgenommen? Gibt es nunmehr doch durch äußere Einflüsse unzerstörbare Momente theoretischer und vor allem moralisch-praktischer Verstandesbildung im Volk, auf die nach einer Revolution und der Inthronisation eines Eigentum und Freiheit garantierenden Rechtstaates zurückgegriffen werden kann, um eine neue Gesellschaftsordnung zu kultivieren? Bei aller schwer zu überbrückenden Unsicherheit im Hinblick auf den genauen Gehalt der büchnerschen Vorstellung ist doch ersichtlich, dass es ihm neben dem Rechtstaatsprinzip um einen soziokulturellen Neuanfang geht, um »im Volk« spezifische Formen eines Geistes der Vergemeinschaftung zu kultivieren, die über den rechtlichen Rahmen hinausgehen. Büchner verbindet offenbar mit dem Terminus »geistiges Leben« Formen der durch Rousseau inaugurierten und vom SaintSimonismus reaktivierten Vorstellungen einer Zivilreligion oder Zivilgesellschaft, die zwar nicht – wie bei Saint-Simon – die Rechtsverhältnisse ersetzen,352 wohl aber diese ergänzen sollen. Tatsächlich hatte Büchner gegenüber Alexis Muston, nachdem er zuvor seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, dass alsbald die Insignien christlicher Religiosität überlebt seien, behauptet: Pourvu qu’alors la religion elle-même ne soit pas reléguée parmi les vieilleries. – Les formes ecclestiastiques peuvent bien ne pas demeurer toujours l’expression la plus convenable du

|| 348 Vgl. Hermand 2000; Glück 2009–2012; MBA II.2, S. 339ff. 349 P II, S. 44022/MBA X.1, S. 9331. 350 P II, S. 44023/MBA X.1, S. 9331. 351 P II, S. 37827f./MBA X.1, S. 3222f.. 352 Vgl. hierzu Schmidt am Busch 2007a, S. 115f.

380 | Politik

sentiment religieux. L’objet du sentiment religieux, c’est l’idéal, sa culture c’est le progrès […].353

Nun ist es von jenem »geistigen Leben« zu diesem »sentiment religieux« durchaus kein kleiner Schritt. Dennoch ist sowohl das geistige Leben im Volk als auch das auf ein praktisches Ideal ausgerichtete religiöse Gefühl auf eine überrechtliche Vergemeinschaftung bezogen, die Rousseau als Zivilreligion,354 Kant als ethisches gemeines Wesen355 und Hegel als Sittlichkeit356 bestimmten. Sicher ist darüber hinaus, dass dieses »geistige Leben« auf der Grundlage des Rechtstaatsprinzips in der Lage sein soll, die »abgelebte moderne Gesellschaft« aufzuheben bzw. abzuschaffen, eben »zum Teufel gehen zu lassen«. Büchners Begründung für die praktische Notwendigkeit ihrer Aufhebung verlässt allerdings endgültig herrschafts- oder sozialpolitische Wissensbestände357 bzw. Argumentationsformen und begibt sich auf das Feld der Kulturkritik: Zu was soll ein Ding, wie diese [d. i. die abgelebte moderne Gesellschaft], zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben desselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.358

Erkennbar betrifft Büchners Kritik an der modernen Gesellschaft in dieser programmatischen Briefpassage nicht deren Potential an sozialer und politischer Ungerechtigkeit, auch nicht deren zeitgenössisch kontrovers debattierte Verursachung durch Massenarmut. Der Grund für das ›Überlebtsein‹ der modernen Gesellschaft besteht für den Briefschreiber darin, dass sich ihre Funktion auf das ›Vertreiben der Langeweile‹ reduziert habe, damit aber jedes Leben im emphatischen Sinne, das Büchner seit der Schulzeit mit »Entwicklung« und Entwicklungsfähigkeit verbindet,359 verhindere. Das ›Leben‹ der modernen Gesellschaft entspricht jenen Dimensionen von Stagnation, denen Büchner den Status des ›lebendigen Toten‹ zugeschrieben hatte.360

|| 353 Fischer 1987, S. 258ff. 354 Vgl. Rousseau 1981, S. 380–390. 355 Kant 1983, VII, S. 755–759. 356 Hegel 1986, VII, S. 292–307. 357 Anders dazu MBA VI, S. 175f., die von einer sozialkritischen Tradition dieser Kritik an der Langeweile im Sinne Diderots spricht. Nur der laxe Umgang mit Begriffen der allgemeinen Historiographie sowie das Dogma einer nach wie vor unbewiesenen Diderot-Rezeption Büchners lassen solche Thesen zu. 358 P II, S. 44024–28/MBA X.1, S. 9332–34; vgl. dazu Wittkowski 1976, S. 357f. 359 Vgl. hierzu schon die Rezension Über Selbstmord, in der es heißt: »[I]ch glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sei, denn: Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck« (P II, S. 4125–28/MBA I.1, S. 1271–5). 360 Vgl. hierzu P II, S. 3812ff. sowie Jancke 31979, S. 102–104 und Reuchlein 1996, S. 102.

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 381

Zu berücksichtigen ist für eine Interpretation dieser Bestimmung der modernen Gesellschaft allerdings, dass Büchner – während er diesen Brief verfasst – an einem Konzept für Leonce und Lena arbeitet. In dieser Komödie wird in der Tat das Empfinden der Langeweile als prägendes Charakteristikum der reichen und herrschenden Müßiggänger, des herrschenden Adels, ausgestaltet und in allen, auch unmoralischen und grausamen Facetten vorgestellt.361 Im letzten Gespräch mit seiner Maitresse Rosetta, die ihn offenbar tatsächlich liebt, entgegnet die Titelfigur Leonce: R o s e t t a . So liebst Du mich aus Langeweile? L e o n c e . Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe diese Langeweile wie dich. Ihr seid eins. O dolce far niente, ich träume über deinen Augen, wie an wunderheimlichen tiefen Quellen, das Kosen deiner Lippen schläfert mich ein, wie Wellenrauschen (Er umfaßt sie). Komm liebe Langeweile, deine Küsse sind ein wollüstiges Gähnen, und deine Schritte sind ein zierlicher Hiatus.362

Diese in der Forschung mehrfach herausgearbeitet Bedeutungsschicht des Dramas363 partizipiert an der im Frankreich der 1830er Jahre mit großem öffentlichen Interesse gestalteten Thematik des ennui,364 der von Balzac, dessen kapriziöse Figuren selbst durch den »long suicide« Raphael de Valentins, den er mit Hilfe eines »système dissipationnelle« erzwingen will, gelangweilt werden,365 über Stendhal, der gar von »ce siècle ennuyé« spricht,366 bis zu Senancour, der der Langeweile existentielle Facetten abgewinnt,367 in den unterschiedlichsten Formen und mit unterschiedlichen Resultaten in zumeist kulturkritischer Perspektive ausgestaltet wur-

|| 361 Vgl. zusammenfassend MBA VI, S. 174–176 sowie meine Ausführungen in Kap. 8. 362 Ebd., S. 10415–21. 363 Vgl. u. a. Mosler 1974; Voss 1987, S. 364ff.; MBA VI, S. 174–176 sowie Pethes 2006, S. 526–532, der allerdings mit seiner existenzialistischen Interpretation der büchnerschen Vorstellungen von Langeweile eine Entpolitisierung der rechts- und sozialpolitischen Gleichheitsvorstellungen des Autors betreibt: Das Gleichheitspostulat der Französischen Revolution schlage semantisch, so Pethes, um in die fatalistische Wiederholung des immer schon Gewesenen (ebd., S. 532). Wirksamer kann eine kulturwissenschaftliche Dekonstruktion politischer Argumente kaum ausfallen; Büchner – wie seinem Robbespiere – aber ging es mit seinem Gleichheitspostulat um die Aufhebung rechtlicher und sozialer Ungleichheit, der gegenüber die Langeweile der Privilegierten indifferent ist. Wie im Poststrukturalismus üblich, so vermengt auch Pethes die systematisch entlegensten und bei Büchner klar und begründet unterschiedenen Reflexionsbereiche (politisch-praktische Vernunft [Gleichheit] und empirische Psychologie [Langeweile]) in assoziativer Weise, verzerrt damit aber wichtige, bei Büchner in Ansätzen schon vorhandene Einsichten bis zur Unkenntlichkeit. 364 Vgl. hierzu u. a. Mandelkow 1999 sowie MBA II.4, S. 112. 365 Balzac 1974, S. 222. 366 Stendhal 2013, S. 320. 367 Vgl. Senancours 1982, S. 81: »Ich spüre in mir eine Verwirrung, etwas wie ein Fieber, nicht das der Leidenschaft, auch nicht des Wahnsinns, es ist die Verwirrung der Langeweile; es ist das gestörte Verhältnis zwischen mir und der Welt, in das sie mich allmählich bringt, es ist die Unruhe, die von lange unterdrückten Bedürfnissen an die Stelle der Hoffnung gesetzt worden ist.«

382 | Politik

de.368 Büchner – und das wird die Auseinandersetzung mit seinem Erzählfragment sowie mit seiner Komödie zeigen – gewinnt dieser in den 1830er Jahren modischen Thematik durchaus originelle Züge ab, indem er den soziokulturellen und den psychopathologischen Dimensionen dieser Befindlichkeit besondere Aufmerksamkeit widmet.369 Doch erstaunen muss die Stellung und Funktion dieser zeittypischen Kulturkritik an der Langeweile in einer brieflichen Skizze zur soziopolitischen Erneuerung, die immerhin mit dem sozialen Phänomen des Hiatus zwischen Armen und Reichen und dessen politischen Konsequenzen begann. Vor allem solcherart Vermischung – von einer systematischen Vermittlung kann keine Rede sein – von soziopolitischen Kategorien, wie der Auseinandersetzung zwischen Armen und Reichen, einerseits mit kulturkritischen Invektiven, wie der Langeweile, andererseits verstärkt den Eindruck des Vorläufigen, noch weithin Unabgeschlossenen der ›politischen Theorie‹ Georg Büchners.370 4.3.1.4 »Bildung« und »[A]ussterben« – Naturgeschichte und Gesellschaft? Dabei ist – erneut vor dem Hintergrund einflussreicher Forschungsergebnisse371 – auf die Metaphorik des letzten Satzes der oben zitierten Briefpassage zurückzukommen. Büchner spricht davon, dass jener modernen Gesellschaft nichts besseres passieren könne als ›auszusterben‹; darüber hinaus kommt im Rahmen ideengeschichtlicher Kontexte um 1800 auch dem Begriff der »Bildung«, den Büchner in diesem Brief verwendet, ein naturgeschichtlicher Gehalt zu. Mit beiden Begriffen wird also scheinbar eine naturtheoretische Kategorie aufgerufen, die die Gesetze der Natur und der Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf deren Veränderungsformen und -prinzipien, in eine Parallele bzw. in ein begründungstheoretisches Verhältnis setzt. Ein namhafter Teil der Forschung hat daher behauptet, dass Büchner nach einem »Naturgesetz der Gesellschaft« suche,372 und es sei genau diese Suche, die Büchner über Schultz an die marxsche Tradition weiterreiche:

|| 368 Vgl. hierzu schon Hans Mayer 1972, S. 281f. sowie die kritische Revision der Thematik und ihrer poetischen Reflexion für das Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts bei Steigerwald 2007, S. 107– 127. 369 Zu den psychopathologischen Formen des Ennui und seiner poetischen Gestaltung im Lenz vgl. die allerdings methodisch ergänzungsbedürftigen Arbeiten von Seling-Dietz 1995–99, S. 218f. und Fauser 2005–08, S. 66ff. 370 Dass hier überhaupt eine eigentümliche Vermengung der Kategorien politischer Kritik vorliegt, erkennt kaum einer der ›linken‹ Interpreten, vgl. paradigmatisch im Furor des (irgendwie) Kritischen Drux 2001, S. 302–305. 371 Vgl. u.a. Drux 2001, S. 311ff.; Poschmann 2009, S. 154; Morawe 2012c, S. 33ff.; Meyzaud 2012, S. 157; Hofmann u. Kanning 2013, S. 9; Gentilin 2017, S. 60. 372 So Müller-Seidel 1968, S. 209; Grab 1987, S. 357; Frank 1998, S. 590.

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 383

Was Marx mit Büchner verband, war, daß beide über bürgerliche Eigentumsverhältnisse hinausstießen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung anvisierten; was aber Marx mit Schulz verknüpfte, war die Überzeugung, durch intensives Studium und Analyse der empirischen Zustände und des statistisch meßbaren und verifizierbaren demographischen und wirtschaftlichen Wandels die objektiven, von menschlicher Willkür unabhängigen gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze entdecken zu können.373

Vorsichtiger – in systematischer Hinsicht jedoch in die gleiche Richtung argumentierend – lauten Thesen, die eine »Einheit von Naturwissenschaft und Politik« im Denken Büchners nachzeichnen,374 wobei die »soziale Leitidee« dessen »Verhältnis zu den Naturgegenständen« bestimme,375 ja die Naturansicht »implizit mit seinen politischen Zielen« verbunden sei.376 Gegenüber diesen Annahmen einer systematischen Verknüpfung der Naturund Politiktheorie lässt sich jedoch auf der Grundlage der im vorherigen Kapitel rekonstruierten Naturtheorie und anhand beider im Brief an Gutzkow vom Juni 1836 verwendeter Begriffe zeigen, dass Büchner das politische und das naturwissenschaftliche Feld des Wissens im Sinne einer Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft systematisch trennte: 1.) Prima vista mag es befremdlich erscheinen, Büchners Bildungsbegriff erst in einen naturtheoretischen Kontext zu stellen, um ihn hernach systematisch daraus zu entfernen. ›Bildung‹ gilt uns heute »sowohl als die geistige Gestalt eines Menschen, die er an den sittlichen und geistigen Werten seines Kulturkreises erworben hat, als auch als Prozeß der Erziehung, Selbsterziehung, Beeinflussung, Prägung, der zu dieser Gestalt führt.«377 Diese semantische Eingrenzung des Bildungsbegriffes auf die Ausbildung emotionaler, intellektueller und sozialer Kompetenzen des Menschen als Person war in der zeitgenössischen Debatte des frühen 19. Jahrhunderts jedoch keineswegs selbstverständlich. Spätestens seit Johann Friedrich Blumenbachs einflussreicher Studie Ueber den Bildungstrieb (1789) verband auch die Naturforschung mit diesem Terminus einen »lebenslang tätigen Trieb«, durch den der »vorher rohe ungebildete Zeugungsstoff der organisierten Körper« seine »bestimmte Gestalt anfangs« annimmt und durch diesen dann »lebenslang« erhalten wird, und »wenn sie etwa verstümmelt worden, womöglich wieder« hergestellt wird:378

|| 373 Grab 1987, S. 357. 374 Müller-Seidel 1968, S. 209. 375 Proß 1978, S. 228–259, hier S. 259; diese Positionen werden durch die biopolitischen Perspektiven der letzten Jahre aktualisiert, vgl. Schäfer 2009; Meyzaud 2012 und insbesondere Fortmann 2013, S. 115ff. 376 Holmes 1986/87, S. 59. 377 Schischkoff 221991, S. 78. 378 So Rothschuh 1968, 166.

384 | Politik

Ein Trieb, der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu sein scheint und den man [...] mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kann. Die Ursache dieser Kraft ist unbekannt.379

»Bildung« als Begriff für einen Trieb zur spezifischen Formung natürlicher Organismen dient seit den 1780er Jahren des 18. Jahrhunderts als Terminus für eine besondere »Lebenskraft«, d. h. eine mechanistisch nicht zu erklärende Reproduktionsfähigkeit des natürlichen Organismus.380 Noch am Titel eines weiteren Standardwerks des den Naturwissenschaftler Büchner weithin prägenden Johannes Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien, lässt sich die rein naturphilosophische Bedeutung des Bildungsbegriffes im Rahmen evolutionstheoretischer Erörterungen auch in den 1830er Jahren veranschaulichen. In dem, wie Müller schreibt, »geheimnisvollen Prozeß der Bildung aller Organe aus dem Keime des Ganzen« führt der Terminus »Bildung« mithin eine Semantik aus, die für eine spezifische Form phylogenetischer Entwicklung, d. h. natürlicher Evolution, steht.381 Trotz dieser allgemeinen terminologischen Nähe zwischen Blumenbach und Müller in Bezug auf den naturwissenschaftlichen Bildungsbegriff gilt es allerdings einen wesentlichen systematischen Unterschied festzuhalten: Für Blumenbach erlaubt sein Begriff des Bildungstriebes den Nachweis einer Unhaltbarkeit präformationistischer Evolutionstheorien,382 nach welchen – wie in Cuviers Entwicklungsmodell – alle Gattungen, Arten sowie Individuen keimhaft am Anfang der Schöpfung vorhanden waren und sich erst im Prozess der Naturentwicklung sukzessive realisierten. Laut Blumenbach aber – oder in Varianten auch nach Carl Friedrich Kielmeyer383 oder Jean-Baptiste de Lamarck384 – müssen Außeneinflüsse angenommen werden, die über einen synthetischen, epigenetischen Prozess tatsächlich neue Arten der Natur hervorbringen.385 Nach Büchners Evolutionstheorie ist zwar – wie gezeigt386 – eine empirisch reale Naturentfaltung anzunehmen, nach welcher sich die Gattungen und Arten sukzessive ausdifferenzieren, dies soll aber so geschehen, dass der gesamte Prozess in den ersten Stufen der Natur potentiell vollständig enthalten ist.

|| 379 Blumenbach 1789, S. 24f. 380 Vgl. u. a. Brandis 1795 sowie Reil 1796; siehe auch die Darstellungen bei Rothschuh 1968a, S. 164–177; Jantzen 1994, S. 498–565; Bonsiepen 1997, S. 264–268; Richards 2002, S. 258ff.; Jahn 3 2004a, S. 280–284; Goy 2017, S. 342ff. 381 Müller 1830, S. 1. 382 Blumenbach 1789, S. 24. 383 Vgl. Bach 2001, S. 113–125. 384 Vgl. Lamarck 2002, S. 64ff. sowie Lefèvre 2001, S. 196ff. und Lefèvre 2009, S. 32ff. 385 Vgl. hierzu McLaughlin 1982, S. 357–371 und Richards 2002, S. 216–229. 386 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3.

Systematische Konturen einer Politischen Theorie Büchners | 385

Im Zusammenhang des obigen Briefzitats ist entscheidend, dass Büchner von der »Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk« spricht,387 die seinen eigenen Ausführungen zum intellektuellen Bildungsprozess des Menschen gemäß388 vollkommen anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als jene Ausbildung der Naturstufen. Der Bildungsbegriff dieses Briefes ist also nicht von naturtheoretischer Semantik. Denn solcherart Bildung des »geistigen Lebens«, d. h. der Verstandesleistungen und moralischen Gesinnung des menschlichen Individuums, sind – nach jenem Brief an die Eltern aus der zweiten Februarhälfte 1834 – gerade nicht im Einzelnen oder in einer Art (Klasse) keimhaft präformiert, in ihnen gleichsam angelegt, sondern vollständig von äußeren Umständen diktiert, »weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen.«389 Der naturtheoretische als auch der anthropologische Bildungsbegriff Büchners unterscheiden sich mithin substanziell in der Weise ihrer Determination: Interne, präformationistische Ausbildung in der Natur; externe, von äußeren Einflüssen konstituierte Bildung des menschlichen Geistes. Wenn Büchner also »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen« will,390 dann nicht, weil sich in dieser Klasse gleichsam naturwüchsig präformiert eine spezifische intellektuelle und charakterliche Bildung realisieren müsste.391 Vielmehr bedürfte es – jenem postulierten absoluten Rechtsgrundsatz folgend – der Schaffung neuer Umstände, die als außerhalb der Verstandesbildung liegend diese Bedingungen allererst hervorbringen und nur so zu tatsächlich neuen Formen der Vergemeinschaftung führen – auch dies eine Unmöglichkeit in der Natur. Die Suche nach der Realisation eines neuen geistigen Lebens im Volke kann mithin als Revolutionsaufruf zur Schaffung neuer Umstände rechts- und sozialstaatlicher Natur, keineswegs aber als Hoffnung auf das Wirken von Naturgesetzen im gesellschaftlichen Zusammenhang interpretiert werden.392 2.) Auch der Begriff des ›Aussterbens‹, der schon den durch Cuvier geschulten Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts als Anspielung auf naturrevolutionäre Konzepte erscheinen musste,393 ist vor dem Hintergrund der Naturtheorie Büchners von dieser nachdrücklich abzugrenzen. Denn im Rahmen der von ihm vertretenen präformationistischen, gleichwohl realgenetischen Evolutionskonzeption entsteht

|| 387 P II, S. 44022; MBA X.1, S. 9331. 388 Vgl. hierzu den Brief an die Eltern vom Februar 1834 (P II, S. 37824ff./MBA X.1, S. 3220ff.) sowie meine Ausführungen hierzu in Kap 2. 389 P II, S. 37827f./MBA X.1, S. 3222f.. 390 P II, S. 44022f./MBA X.1, S. 9331. 391 Solcherart Sozialromantik war ihm eben als Wissenschaftler zutiefst fremd; vgl. zu Recht Mayer 1993, S. 56ff. 392 Meyzaud 2012, S. 157f. sieht hier eher ein Plädoyer kirchlicher Bildungsarbeit für den Bauernstand. 393 Vgl. Müller 1990, S. 286ff. sowie Rieppel 2001, S. 148–153.

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zwar aus jeder Stufe der Naturleiter die jeweils höhere.394 Und dies erfolgt nach Büchner so, dass auf jeder Stufe alle Besonderheiten der höheren vollständig in potentia enthalten sind, zugleich geht aber jene vorherige Stufe keineswegs nach Ausbilden der höheren zugrunde. Es wurde im Kapitel 3 dieser Studie gezeigt, dass – weil der Prozess der Ausdifferenzierung höherer, komplexerer Naturformen aus einfacheren, basaleren Stufen bei Büchner durch das begriffliche Verhältnis von Substanz und Modifikation gefasst wird395 – noch im Menschen alle vorherigen Evolutionsstufen nachweisbar sind und ungebrochen realisierbar bleiben; daraus folgt aber zwangsläufig, dass in Büchners Natur nichts aussterben kann.396 Eine als geschlossener Ausdifferenzierungsprozess verstandene Evolution sieht für die Natur den Verlust erreichter Standards nicht vor. Was im Prozess der Evolution erreicht ist, bleibt bestehen und entwickelt aus sich heraus höhere Formen, denen es als Substanz dienen und daher erhalten bleiben muss. Demgegenüber können offenbar innerhalb der Entwicklungslogik der sozialen Geschichte als gesetzmäßiger Abfolge von Gesellschaftsformationen bestimmte Stufen aussterben: »Die abgelebte moderne Gesellschaft kann zum Teufel gehen«, »[s]ie mag aussterben«.397 Anders aber als bei der Naturevolution ergibt sich diese historische Abfolge von Gesellschaftssystemen nicht von selbst, keineswegs ist in der einen die folgende vollständig in potentia angelegt. Es bedarf hierfür der handelnden Individuen, die – je unterschiedlich bestimmbare – »Hebel« ansetzen müssen, um in diesem Falle die moderne Gesellschaft »gehen«, d. h. aufheben »zu lassen«. Offensichtlich aber kann dieser Schritt auch ausbleiben, so dass von einer naturgesetzlichen Notwendigkeit der Revolution in Büchners Geschichtskonzept nicht die Rede ein kann.398 Ist die Entwicklung der Natur nach Büchner durchgehend determiniert, so keineswegs die Geschichte der Gesellschaft. Die Evolution der Natur und die Geschichte der Gesellschaft folgen einer je eigenen Logik.

|| 394 Vgl. hierzu auch allgemein Breidbach 1986. 395 Vgl. hierzu MBA VIII, S. 15922. 396 Vgl. Breidbach 1986, S. 323; Stiening 1999 sowie Stiening 2012. 397 P II, S. 44023f. u. 27/MBA X.1, S. 9332 u. 35. Insofern ist es wenig hilfreich, Büchners Terminus des Aussterbens mit Beispielen aus der zeitgenössischen Literatur zu korrelieren (vgl. Drux 2001, S. 312f.). Dass dieser Begriff gerade nicht »biologischen Vorstellungen« des Autors entspringen kann, daher auch nicht natürliche Determinanten enthält, lässt sich nur über eine differenzierte Rekonstruktion der büchnerschen Naturforschung ermitteln. 398 So aber die politagitatorischen Ausführungen von Schulz, in Grab 1985, S. 76–81, auf deren Grundlage und daher ebenso falsch Mayer 1979a, S. 99ff. oder auch Holmes 1986/87, S. 69ff.

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4.3.2 »Heilige Rechte«: Büchners Rechtsverständnis399 Büchner hat sich zu seinem Rechts- und Gesetzesverständnis und dessen zentraler Stellung in seiner politischen Theorie schon vor diesem Brief vom Juni 1836 geäußert. Im Rahmen eines entrüsteten Berichts an die Eltern über die Durchsuchung seines Studentenzimmers, speziell seines Schreibtisches, die von der Universitätsgerichtsbarkeit wegen des Verdachts einer Beteiligung an geheimen Umsturzplänen vorgenommen wurde, heißt es in zwei Briefen vom 5. und 8. August 1834 ausdrücklich: Als ich hier ankam, fand ich meinen Schrank versiegelt, und man sagte mir, meine Papiere seien durchsucht worden. Auf mein Verlangen wurden die Siegel sogleich abgenommen, auch gab man mir meine Papiere (nichts als Briefe von Euch und meinen Freunden) zurück, nur einige französische Briefe von Wilhelmine, Muston, Lambossy und Boeckel wurden zurückbehalten, wahrscheinlich weil die Leute sich erst einen Sprachlehrer müssen kommen lassen, um sie zu lesen. Ich bin empört über ein solches Benehmen, es wird mir übel, wenn ich meine heiligsten Geheimnisse in den Händen dieser schmutzigen Menschen denke. Und das Alles – wißt ihr auch warum? Weil ich an dem nämlichen Tag abgereist, an dem Minnigerode verhaftet wurde. Auf einen vagen Verdacht hin verletzte man d i e h e i l i g s t e n R e c h t e und verlangte dann weiter Nichts, als daß ich mich über meine Reise ausweisen sollte!!! […] Das Verletzten m e i n e r h e i l i g s t e n R e c h t e und das Einbrechen in alle meine Geheimnisse, das Berühren von Papieren, die mir Heiligtümer sind, empören mich zu tief, als das ich nicht jedes Mittel ergreifen sollte, um mich an dem Urheber dieser Gewalttat zu rächen.400

Die Passage ist hier in einiger Ausführlichkeit zitiert worden, weil sie verdeutlicht, dass Büchner schon 1834 mit einem Rechtsbegriff operiert, der naturrechtlicher Provenienz ist.401 Unabhängig von dem Umstand, dass seine Empörung auch der Vertuschung seiner tatsächlichen Beteiligung an den durch Minnigerodes Enttarnung öffentlich gewordenen Widerstandsmaßnahmen dient, ist ersichtlich, dass er den staatlichen Zugriff auf seine private Briefschaft als Verletzung »heiligste[r] Rechte«, d. h. seiner Persönlichkeitsrechte begreift.402 Schon in einer seiner Schülerschriften hatte er mit der Formel von den »heiligsten Rechten der Menschheit« vor allem Freiheitsrechte bezeichnet,403 doch auch die von Adam Smith oder der Erklärung der Menschrechte von 1789 verwandte Semantik der Eigentumssicherheit404

|| 399 Zum Folgenden vgl. auch Stiening 2012 sowie Graff 2017, S. 164f. 400 P II, S. 38729–38913/MBA X.1, S. 4233–448; gesperrte Hvhb. von mir. 401 Vgl. erneut Martens 31973a, S. 441. 402 Dabei scheint mir die Argumentation Büchners – trotz der Verschleierungstaktik – durchaus klar und einsichtig, sodass von »juristischen Spitzfindigkeiten« (so aber Müller-Dietz 1990, S. 275) keine Spur zu entdecken ist. 403 P II, S. 224. 404 Vgl. Smith 112005, S. 106 sowie Furet u. Ozouf 1996, S. 1196f. In Artikel XVII der Erklärung hieß es nämlich: »Da das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, kann es niemand genom-

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kann an der Briefstelle mit jenem »heiligen Recht« aufgerufen sein. Ersichtlich aber beruft sich Büchner auf ein überpositives Recht, das auch naturrechtlich fundiert ist. Dieser geltungstheoretische Hintergrund wird im weiteren Verlauf des zweiten Briefes erweitert, in dem er die Gesetzesauslegung durch die universitäre Gerichtsbarkeit als Rechtsbruch nicht allein gegen das Naturrecht, sondern auch gegen bestehendes positives Recht interpretiert: Das Gesetz sagt, nur in Fällen sehr dringenden Verdachts, ja nur eines Verdachtes, der statt halben Beweises gelten könne, dürfe eine Haussuchung vorgenommen werden. Ihr seht, wie man das Gesetz auslegt. […] Eine solche Gewalttat stillschweigend ertragen, hieße die Regierung zur Mitschuldigen machen; hieße aussprechen, daß es keine gesetzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das verletzte Recht keine Genugtuung mehr erhalte.405

Dass in einer Straftat, als die er das Handeln der universitären Gerichtsbarkeit interpretiert, das bestehende Recht verletzt wird und dieses verletzte Recht nur durch Strafe eine »Genugtuung« erhalte, womit ihm allererst zu seiner uneingeschränkten Geltung wieder verholfen würde, konnte Büchner zum Zeitpunkt des Verfassens der Briefe in den Naturrechts-Vorlesungen Joseph Hillebrands hören, die er – wie ausgeführt – in diesem Sommersemester besuchte. Hillebrand schreibt nämlich zum Strafrecht: Das Verbrechen ist stets ein Brechen des Gesetzes, d. h. eben ein subjektiv-abstraktes Selbstsetzen, dem Gesetze als solchem gegenüber, also in positivem Widerspruche zu demselben […]. In der Strafe muß das Gesetz sich genugthun, indem es seine Kraft an dem Verbrecher blos als solchem durchsetzt.406

Büchners Applikation des Strafbegriffs auf staatliches Handeln zeigt zudem, dass er von einer positiven Gewaltenteilungskonzeption ausgeht, innerhalb derer staatliche Auctoritas zwar Recht schafft, ihr exekutives Handeln aber nicht unmittelbar mit

|| men werden, wenn es nicht die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entscheidung.« 405 P II, S. 38924–3902/MBA X.1, S. 4413–30. 406 Hillebrand 1835/36, II, S. 170ff. Zum Motiv der Genugtuung des Rechts in der Ahndung des Rechtsbruchs durch Strafe vgl. auch Hegel 1986, VII, S. 374: »Das Recht gegen das Verbrechen in der Form der Rache ist nur Recht an sich, nicht in der Form Rechtens, d. i. nicht in seiner Existenz gerecht. Statt der verletzten Partei tritt das verletzte Allgemeine auf, das im Gerichte eigentümliche Wirklichkeit hat, und übernimmt die Verfolgung und Ahndung des Verbrechens, welche damit die nur subjektive und zufällige Wiedervergeltung durch Rache zu sein aufhört und sich in die wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst, in Strafe verwandelt, – in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit, nur die Tat des Seinigen findet« (Rph, § 220).

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Rechtsförmigkeit identisch ist, sodass es zu Gesetzesbrüchen auch im Regierungshandeln oder der Rechtspflege kommen kann. Es lässt sich also konstatieren, dass Büchner sowohl in seiner naturrechtlichen als auch mit seiner strafrechtlichen Bewertung des staatlichen Handelns gegen ihn mit rechtspolitischen Argumenten operiert, die auf einer natur- und positiv rechtlichen Geltung von Rechtstaatsprinzipien basieren bzw. auf solche abzielen.407 Von einer rein herrschaftspolitischen Argumentation, die auf eine Unterdrückung politischer Opposition referierte, ist dieser Brief vollkommen frei – sicher auch, weil er seine revolutionären Umtriebe vor den Eltern verbergen musste und wollte. Dennoch ist festzuhalten, dass Büchner schon im Jahre 1834 – also während seiner Aktivitäten im politischen Untergrund – ein naturrechtlich fundiertes Rechtstaatsverständnis ausgebildet hatte, das in den 1830er Jahren ebenso von den Radikaldemokraten wie vom Liberalismus vertreten wurde.

4.3.3 Büchners Geschichts- und Revolutionsverständnis – der ›Fatalismusbrief‹ Büchner hat sein politisches und politiktheoretisches Verständnis der soziopolitischen Verhältnisse seiner Gegenwart zumindest zeit- und ansatzweise in ein Geschichtsmodell zu integrieren versucht. Diese systematische Vermittlung von Politik und Geschichte entsprach den intellektuellen Tendenzen der 1820er und 1830er Jahre: Nicht nur Hegels Geschichtsphilosophie verstand sich als Moment und Erweiterung seiner politischen Philosophie,408 auch Leopold Ranke entwirft in diesen Jahren sein historistisches Modell von Geschichtswissenschaft und gibt zwischen 1832 und 1836 eine Historisch-Politische Zeitschrift heraus. Selbst der Büchner nähere Joseph Hillebrand beendet seine Vorlesungen zum Naturrecht mit einer Skizze zur »Philosophie der Geschichte«.409 Den kulturpolitischen Tendenzen in Frankreich seit den 1820er Jahren entsprechend befasst sich Büchner jedoch zunächst und zumeist mit der Geschichte der Französischen Revolution. Die Reflexion auf ihren Verlauf und dessen Bedingungen sowie auf ihre Bedeutung für die aktuelle Politik prägten seit den Arbeiten Adolphe Thiersʼ und François Mignets die politischen, historischen und kulturpolitischen Debatten.410 Zwar verbanden beide Autoren mit ihren historiographischen Werken die Absicht einer »geistigen Beendigung« und damit szientifischen Überwindung der Revolution, faktisch erreichten sie jedoch eine »Wiederauferstehung der Revolu-

|| 407 Zum Kontext von Naturrecht und Strafrechtstheorie im Vormärz vgl. Reulecke 2007, S. 307– 343. 408 Hegel 1986, VII, S. 503. 409 Vgl. Hillebrand 1830, S. 160–168. 410 Vgl. hierzu Deinet 2001, S. 27–59.

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tion, die bald in eine neue Mythisierung münden sollte«.411 Klaus Deinet konnte in seiner bahnbrechenden Studie nachweisen, dass diese an »das Erscheinen des Thiers-Mignet’schen Doppelwerkes geknüpft[e] Wiederauferstehung der Revolution in der Imagination der Nachgeborenen« kein rein rezeptiver Vorgang blieb, sondern durch Formen der »Mimesis« zum Moment einer »politischen Praxis« transformiert wurde.412 Spätestens seit der Julirevolution 1830 nahm die Große Revolution jene Stellung eines Vor- bzw. Schreckensbildes an, das es nachzubilden bzw. dessen Wiederholung es zu verhindern gelte. In diesem, von Radikalen, Liberalen und Konservativen intonierten »Konzert der Vergangenheitsbeschwörung« ging es seit dem Jahreswechsel 1830/31 vor allem um eine Bedeutungszuweisung für die »magische Jahreszahl 1793« und deren Folgen.413 Büchner dürfte diese Debatten schon während seines ersten Straßburger Aufenthaltes verfolgt haben, der »jacobinisme d’imagination der ›Amis du Peuple‹«414 kann ihm auch in der Elsässischen Metropole, wo er vermutlich nicht nur Kontakte zu diesen radikaloppositionellen Kreise hatte, sondern am kulturellen Leben intensiv teilnahm,415 nicht entgangen sein. Sicher ist, dass er mit seinem Drama Dantonʼs Tod wenigstens in die kultur-, vermutlich aber auch in die herrschaftspolitische Kontroverse um Stellung und Bedeutung der Revolution für die Gegenwart der 1830er Jahre einzugreifen beabsichtigte bzw. sie nach Deutschland zu transferieren hoffte.416 Schon zuvor jedoch, im Winter 1833/34, beschäftigt ihn die »Geschichte der Revolution«, weniger aus politpragmatischen Gründen, um aus deren Verlauf Hinweise für das eigene revolutionäre Handeln zu erhalten,417 als vielmehr, um sich an den in Frankreich tobenden kulturpolitischen Debatten über die Große Revolution betei|| 411 Ebd., S. 58f. 412 Ebd., S. 61. 413 Zum realgeschichtlichen Hintergrund dieser Zahl vgl. Furet u. Ozouf 1996, I, S. 193–215; zur politischen Symbolik in den 1830er Jahren Deinet 2001, S. 90–99. 414 So ebd., S. 99ff. 415 Vgl. hierzu Hauschild 1993, S. 127ff.; Roth 2004, S. 24ff.; Morawe 2012a; Kurzke 2013, S. 160ff. 416 Zur gänzlich anders verlaufenden Debatte über die Große Revolution in Deutschland vgl. auch Ulrike Dedner 2003, S. 128ff. 417 So aber Mayer 1979, S. 108ff.; zur Kritik an dieser politisierenden Interpretation der Dichtung Büchners schon Ruckhäberle 1981, S. 169–176; dennoch wiederholt bei Wender 1987, S. 221 und Hauschild 1993, S. 271: »Anlaß für Büchners erneute Beschäftigung mit der Großen Revolution war das gut dokumentierte historische Modell. Um aktuelle Handlungsstrategien entwerfen zu können, vergewisserte man sich ein weiteres Mal der Geschichte.« Übernommen noch in MBA III.2, S. 175ff.; Borgards 2009, S. 22 oder Beise 2010, S. 58. Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass es nicht ein einziges Dokument für eine politische Motivation Büchners für diese historische Beschäftigung gibt; die exzellente Studie von Klaus Deinet (2001) macht aber deutlich, dass die Diversität der Gründe jener Konjunktur der Großen Revolution in den kulturpolitischen Debatten der 1820er und 1830er Jahre in Frankreich viel zu groß war, um sie eindimensional auf die von Mayer, Wender und Hauschild bestimmte politische Motivationslage zu reduzieren.

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ligen zu können. Die Reihenfolge ist hier eindeutig: Erst beschäftigte sich Büchner mit der Geschichte der Revolution im Zusammenhang der französischen Debatten, die kulturpolitisch und weniger realpolitisch waren, und erst dann begann er über August Becker vermittelt in die praktische Politik des Großherzogtums einzugreifen.418 Dennoch scheint weder in die eine noch in die andere Richtung ein wirkungsmächtiges Bedingungsverhältnis zu bestehen: Büchner beschäftigt sich mit der Geschichte der Großen Revolution aus kulturpolitischen Gründen; noch Dantonʼs Tod wird diese Form der Beschäftigung vorantreiben. Politisch tätig wird Büchner jedoch aus politisch-praktischen Gründen. Denn die Frage nach der Bedeutung der Geschichte (auch der Revolution) ist keineswegs identisch mit Fragen zur Lösung der sozialen Frage.419 Hinsichtlich der kulturgeschichtlichen Reflexionsarbeit zeigte sich aber schnell, dass die mit den Debatten über die Bedeutung der Französischen Revolution in den 1820er Jahren verbundene ›Aufbruchstimmung‹420 nicht mehr zu reproduzieren war. An Minna Jaeglé schreibt er wohl Ende Januar 1834: Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.421

Diese wenigen Zeilen formieren das Zentrum des in der Forschung so genannten ›Fatalismusbriefes‹, dessen Interpretation zu einer der längsten und wirkungsmächtigsten Kontroversen führte, mithin als ein »Angelpunkt der Büchner-Deutung, vor allem im Zeichen der heftigen ideologischen Auseinandersetzungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts um Persönlichkeit und Werk« gilt.422 An der Interpretation des Gehaltes dieser Zeilen und ihrer Bedeutung für Büchners Wissen und Handeln entschied und entscheidet sich zumeist, ob der Interpret zu den von Viëtor, Lehmann und Martens ausgehenden nietzscheanischen oder christlichen Büchner-Deutungen || 418 Zu dieser Vermittlung der Kontakte durch seinen Freund Becker vgl. Hauschild 1993, S. 277ff. 419 Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass Büchner als ›historischer Materialist‹ in der Praxis die eigentliche Lösung der Theorie sah (so aber Poschmann 31988, S. 23). Er war nur – anders als viele seiner Interpreten – in der Lage, Politik und Politiktheorie zu unterscheiden. 420 Vgl. hierzu Deinet 2001, S. 37. 421 Brief vom Februar 1834 an Wilhelmine Jaeglé; P II, S. 37721–3781/MBA X.1, S. 3028–314. 422 So P II, S. 1102 sowie Poschmann 2009, S. 146f.

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oder aber zu der polithistorischen Fraktion der Forschung zu rechnen ist. Im Zentrum des Streites steht die Frage, ob Büchner den in diesem Brief entworfenen historischen Determinismus als einen universellen Fatalismus vertreten habe, der sein in den unmittelbar anschließenden Wochen und Monaten des Jahres 1834 nachweisbares politisches Engagement delegitimierte bzw. als Ausfluss eines heroischexistenzialistischen Ankämpfens wider die Sinnlosigkeiten der menschlichen Existenz verstehen ließe.423 Oder aber – so die alternative Interpretation, die von Gerhard Jancke über Thomas Michael Mayer bis zu Jan-Christoph Hauschild und Henri Poschmann an die aktuelle Forschung weitergereicht wurde424 – Büchner beziehe sich mit seinem Fatalismus-Begriff auf den Fatalité-Terminus der école fataliste, der sich von einem allgemeinen philosophischen Determinismus grundlegend unterscheide.425 Der vor allem von konservativer,426 aber auch von liberaler Seite gegen den ›Geist der Geometrie‹ erhobene Vorwurf der fatalité, gemäß der Thiers und Mignet den Verlauf der Revolution rekonstruiert hätten, werde von Büchner vielmehr übernommen, um »die zernichtende Erkenntnis, daß in den ›politischen‹ Revolutionen von 1789 und 1830 immer das Volk, die große Klasse gekämpft und damit, anscheinend unvermeidlich, doch nur die Interessen eines neuen Geldaristokratismus durchgesetzt hatte«,427 auf den Begriff zu bringen. In dieser politisierten Form sei Büchners Einsicht in die Notwendigkeit der Verlaufsformen politischer Geschichte als Revolutionsgeschichte geradezu als Voraussetzung seiner politischen Aktivitäten zu begreifen.428 Nun lässt sich allerdings in jener Briefpassage an keiner Stelle ausmachen, dass der verzweifelt konstatierte historische Fatalismus, der in der Tat einen überindividuellen Determinismus beklagt, in der von Mayer insinuierten, erneut mit Blanqui legitimierten klassenspezifischen Politizität ausgeführt würde.429 Büchner redet nicht darüber – wie Blanqui –, dass der bürgerliche Liberalismus sich des Volkes zur Durchführung seiner Revolution bedient und sich hernach seiner berechtigten Forderungen entledigt habe, und zwar 1789 und 1830, was einen fatalen Eindruck hin-

|| 423 Vgl. u. a. Viëtor 1949, S. 99ff.; Lehmann 1963, S. 210f.; Martens 31973a, S. 416ff.; Benn 21979, S. 14; Fuhrmann 1991, S. 212–217, spez. S. 214f.; Schwann 1997, S. 42f.; Wagner 2000, S. 208ff.; Fortmann 2007; Poschmann 2009, S. 146f.; Beise 2010, S. 55f.; Kurzke 2013, 105f. 424 Vgl. Jancke 31979, S. 130–135; Mayer 1979, S. 88ff.; Hauschild 1993, S. 270ff. sowie – allerdings kritisch – P II, S. 1102f.; affirmativ wieder Beise 2010, S. 55; MBA X.2, S. 181f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 41f.; Greiner 2015, S. 56. 425 Hans Mayer 1972, S. 94ff.; Jancke 31979, S. 125–135; Mayer 1979a, S. 86–95; Holmes 1986/87, passim; Hauschild 1989, passim; Hauschild 1993, S. 270ff.; P II, S. 1098–1107; Knapp 32000, S. 18f. 426 Zu Chateaubriands berühmtem Diktum von der école fataliste vgl. Deinet 2001, S. 56f. 427 Mayer 1979a, S. 91. 428 So Holmes 1986/87, S. 65ff.; Alt 1987, S. 8f. sowie Martin 2007, S. 70. 429 Mayer 1979a, S. 91.

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terlassen habe. Erneut wird durch diese Interpretation auch den Unterscheid zwischen primären und sekundären Quellen verwischt, denn der Begriff »Geldaristokratismus« fällt nicht in Büchners Brief, sondern in einem der Verhörprotokolle.430 Büchner redet dagegen über jenen allgemeinen Determinismus geschichtlicher Prozesse, den auch François-Auguste Mignet durch den Entwurf eines »biologischen Phasenmodells« nachzuweisen suchte, was ihm den Vorwurf des fatalisme eintrug, der »konterrevolutionärem Gedankengut« entsprang.431 Nicht zufällig zitiert Mignet in seiner Histoire de la Révolution française von 1824 zustimmend Joseph de Maistre,432 und zwar im Hinblick auf die – wenn auch unterschiedlich bewertete – Notwendigkeit des Auftretens und des Verlaufes politischer Revolutionen.433 In einer Besprechung der ersten beiden Bände der Revolutionsgeschichte Adolphe Thiers’ erläutert Mignet sein Verständnis einer »fatalité des révolutions« im Sinne einer solchen überindividuellen Notwendigkeit.434 Die kritische Öffentlichkeit Frankreichs – namentlich Benjamin Constant und Charles Sainte-Beuve – hat denn auch Mignets Studie einhellig des Fatalismus bezichtigt und ihr die Studie Thiers’, deren narrative Darstellungsform intentionalistischen Handlungsmustern zumindest einigen Raum ließ, vorgezogen.435 Büchner beklagt nun aber ausdrücklich einen allgemeinen »Fatalismus der Geschichte«, so dass es – entgegen dem Gros der neueren Forschungsmeinung436 – nahe liegt, dass er sich im Winter 1834 mehr mit der Studie Mignets und Teilen der öffentlichen Debatte um die école fataliste als mit Thiers beschäftigt hat. Tatsächlich ist es von Mignets »esprit de géometrie«, der den Verlaufsformen der politischen Ereignisse eine nahezu uneinschränkbare Notwendigkeit attestierte, zu Büchners

|| 430 Vgl. Büchner u. Weidig 1996, S. 112; MBA II.2, S. 90. 431 Deinet 2001, S. 57. 432 Zu de Maistres Stellung im Tableau einer »Philosophie der Restauration« vgl. Poggi u. Röd 1989, S. 256ff.; Müller 2007, S. 152ff. 433 Vgl. Mignet 1838, S. 173. 434 Mignet 1823. 435 Deinet 2001, S. 55ff. 436 Vgl. u. a. Dedner 1986/87, S. 112ff.; Wender 1988, S. 101–146; Knapp 32000, S. 19; Funk 2002, S. 141; MBA X.2, S. 181f., die den ›Fatalismusbrief‹ bzw. Dantonʼs Tod unmittelbar in Zusammenhang mit einer Lektüre Thiers’ bringen, sowie Hauschild 1993, S. 432, der Mignet nur als Quelle für Dantonʼs Tod, nicht aber als Kontext des ›Fatalismusbriefes‹ betrachtet; einzig Mayer 1979a, S. 150Anm. 506 betont Mignets Ausrichtung seiner Darstellung des Revolutionsverlaufes auf eine spezifische Notwendigkeit, zieht aber aus dieser richtigen Erkenntnis nicht die Konsequenz einer näheren Prüfung des Einflusses auf Büchners ›Fatalismusbrief‹. Die MBA (III.3, S. 382–392) konterkariert die eigene positivistische Methodik und marginalisiert trotz erheblicher konzeptioneller und sprachlicher Gemeinsamkeiten eine Bedeutung Mignets für Dantonʼs Tod aus unersichtlichen Gründen. Die hermeneutischen Ausführungen zu den »Prämissen von Mignets Geschichtsschreibung« (ebd., S. 384), die weitgehend zutreffend ausfallen, werden so vertan und für eine Betrachtung des ›Fatalismusbriefes‹ nicht genutzt. Bei von Becker (21985, S. 142–146) werden wenigstens Teile des VII. Kapitels der Histoire als panoramatischer Kontext aufgeführt.

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»eherne[m] Gesetz«, das zwar zu erkennen, in das aber nicht einzugreifen sei, nur ein kleiner Schritt: Ces diverses phases ont été presque obliges: tant les événements qui les ont produites ont eu une irrésistible puissance! Il serait pourtant téméraire d’affirmer que la face des choses n’eût pas pu devenir différente; mais ce qu’ il y a de certain, c’est que la révolution, avec les causes qui l’ont amenée et les passions qu’elle a employées ou soulevées devait avoir cette marche et cette issue. Avant d’en suivre l’histoire, voyons ce qui a conduit à la convocation des états généraux, qui ont conduit eux-mêmes à tout le reste. J’espère, en retraçant les préliminaires de la révolution, montrer qu’il n’a pas été plus possible de l’éviter que de la conduire.437

Schon die Annahme, nur Gewalt beherrsche die polithistorischen Veränderungen und damit die Handlungen des Menschen, nicht aber deren freie Entscheidung, lässt sich bei Mignet nachlesen: Mais jusqu’ici les annales des peuples n’offrent aucun exemple de cette prudence dans les sacrifices: ceux qui devraient les faire les refusent; ceux qui les désirent les imposent; et le bien s’opère comme le mal, par le moyen et avec la violence de l’usurpation. Il n’y a pas encore eu d’autre souverain que la force.438

Ohne jeden Zweifel entfaltet Büchner in den wenigen Zeilen des Briefes einen ähnlichen polithistorischen Determinismus, der dem Einzelnen gegenüber den »menschlichen Verhältnissen«, die ausschließlich durch Gewalt strukturiert würden, keinen Handlungsspielraum im Sinne einer freien Gestaltungsmöglichkeit gewähre. Nur die Annahme eines solch strengen Determinismus generiert auch jene Klage Büchners über das »muß« als anthropologischer Konstante,439 das in diesem Status die ›Verdammung‹ des Menschen, mithin den ewigen Ausschluss von aller Glückseligkeit, garantiert.440 Auch das Zitat aus Mt. 18,7 rekurriert auf einen Determinismus des moralisch Bösen, beklagt dabei aber nicht die erzwungene Abwesenheit von Glück, sondern die Wirksamkeit moralischer Verurteilung trotz der Voraussetzung fehlender Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen.441 Die durch Gewaltverhältnisse determinierten Handlungen des Menschen münden unabwendbar – weil anthropologisch fundiert – ins Unglück bzw. ins moralisch Böse und sind trotzdem

|| 437 Vgl. Mignet 1838, S. 7; vgl. hierzu Deinet 2001, S. 57 sowie MBA III.3, S. 384. 438 Mignet 1838, S. 6. 439 So auch Poschmann 2009, S. 147. 440 So zu Recht und gegen Lukács Kobel 1974, S. 13, der die eigentümlich religiöse Dimension des Urteils betont. 441 So schon Petersen 1973, S. 246; Jancke 31979, S. 162f. oder Fink 1990, S. 177.

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als Schuld vom Einzelnen zu verantworten – eine für Büchner »schauderhaft[e]« Vorstellung.442 Nimmt man nicht erneut den für das Verständnis dieser Briefpassage gänzlich unwahrscheinlichen Umweg über Blanqui,443 sondern verbleibt auf den Spuren der von Jancke und Mayer angegebenen kulturhistorischen Debatte um die école fataliste, so kommt man um die Tatsache nicht herum, dass Büchner aus einem Studium der französischen Historiographie zur Französischen Revolution einen strengen, anthropologisch fundierten, historischen Determinismus formuliert, der durch Gewaltverhältnisse konstituiert wird und demgegenüber die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, selbst des genialen Einzelnen, nichtig sind.444 Sicher liegt diesen Ausführungen keine ausgeformte Konzeption einer metaphysischen oder materialistischen Geschichtsphilosophie zugrunde, gegen die man Büchner hier gar nicht zu verteidigen braucht,445 aber eine positive Umdeutung dieser anthropologisch begründeten, alle historischen Gesellschaftsformen übergreifenden Gewaltverhältnisse in einen notwendigen Klassenkampf des Proletariats gegen die sich durchsetzende bürgerliche ›Geldaristokratie‹ ist aus den Briefzeilen ebenso wenig herauszuklauben.446 Büchners Ausführungen verbleiben auf der Ebene einer allgemeinen Geschichtsanthropologie mit durchaus »philosophischer Dimension«447 und biblischen Illustrationen. Erkennt man die enge Anbindung dieser Argumentation an den Entwurf Mignets, dann scheint eine Interpretation der kurz nach diesem Brief einsetzenden politischen Aktivitäten Büchners nur mit Hilfe jener kulturpessimistischen Perspektive möglich, die Werner R. Lehmann in die Formel fasste, Büchners Arbeit am Hessischen Landboten sei »eine heroisch glaubenslose Anstrengung, der Versuch einer kritischen Selbstverleugnung«.448 Schon Karl Viëtor hatte diese Antinomie, deren deterministische Seite er auf Dantonʼs Tod ausweitete, in die folgende pathetische Formel verpackt: Die metaphysische Idee in Dantons Tod und Büchners politische Existenz verhalten sich zueinander wie Ja und Nein; aber noch war sein Ich stark genug, diese Spannung auszuhalten. […]

|| 442 Das ist in der vorgetragenen Allgemeinheit durchaus philosophisch gemeint und ausgeführt; die penetrante Politisierung aller büchnerschen Reflexionen führt auch Hauschild (1993, S. 274) zu der durchaus irrigen Annahme, Büchner argumentiere hier als »Revolutionär«. Vielmehr gewinnt Büchner seine Überzeugungen zwar aus dem Nachvollzug der Geschichte der Revolution; der Geltungsanspruch der daraus entwickelten Thesen zum Fatalismus der Geschichte geht aber über dieses politische Feld weit hinaus, weshalb sie aber keineswegs unpolitisch werden. 443 So aber Mayer 1979a, S. 91f. und P II, S. 1101f. 444 Vgl. auch Hauschild 1993, S. 273 und Poschmann 2009, S. 147. 445 So aber Jancke 31979, S. 107–135 und Mayer 1979a, S. 94ff. oder noch Hauschild 2004, S. 51f. 446 So aber, auf der Grundlage Mayers 1979a und Grabs 1985, Holmes 1986/87, S. 67ff. 447 P II, S. 1103. 448 Lehmann 1963, S. 211.

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Im Stande eines so quälenden Widerspruchs befand sich Georg Büchner, als der Tod ihn hinwegnahm.449

Ersichtlich arbeiten Viëtor, Lehmann und noch Kurzke an einer nietzscheanischen bzw. christlichen Heldengeschichte, während seit Hans Mayer an einem sozialistischen Heros geformt wurde.450 Die Forschung seit den 1970er Jahren ist in Ost und West lange Zeit der Hans Mayerʼschen Variante gefolgt,451 ohne zu erkennen, dass die revolutionäre Heldengeschichte als Gegenentwurf zum existentialistischen oder christlichen Büchner von einem Absetzen gegen diese Vorgabe nachgerade lebte und daher ebenso fragwürdig ist.452 Eine wissensgeschichtliche Perspektive erlaubt – auch und gerade in Fragen der »politische Position Büchners« – eine vom Schreiben an Heldengeschichten distanzierte Haltung.453 Eine nüchterne Betrachtung der genannten Briefstelle vom Januar 1834 und ihres Kontextes muss allerdings zu dem Schluss kommen, dass Büchner zwar über den Kontakt mit der Revolutionsgeschichte der école fataliste einen allgemeinen Geschichtsdeterminismus konstatiert, ja als in den anthropologisch gegründeten und so unaufhebbaren Gewaltverhältnissen zwischen den Menschen beklagt. An ihrem Unglück und an ihrer moralischen Depravation können sie laut Büchner aufgrund ihrer Unfreiheit gegenüber den geschichtlichen Verhältnissen nichts ändern.454 Aber der Schreiber des Briefes bekundet ausdrücklich die Vorläufigkeit und

|| 449 Viëtor 1949, S. 298f. 450 Vgl. hierzu Stiening 2008, S. 317ff. 451 Vgl. insbesondere Grab 1985; Schaub 1996, S. 205f.; P II, S. 1098–1107; Bernhardt 22007, S. 24ff. 452 Insofern ist – wie in der Hölderlin-Forschung (vgl. Stiening 2007) – ein Interdependenzverhältnis zwischen einer so genannten linken und einer so genannten konservativen Forschungsausrichtung zu verzeichnen. Die weltanschauliche Fundierung des Forschens ist dabei durch die gegenseitige Fixierung gesichert. 453 Vgl. als besonderes Beispiel der linken Heldengeschichtsschreibung, dem allerdings neben Büchner auch schon Thomas Michael Mayer zum Helden der Arbeiterklasse geworden ist, Hermand 2000. 454 Diese bedrückende geschichtsanthropologische und moraltheologische Reflexion als Konsequenz eines strengen Determinismus, die Büchner schnell überwindet, hat allerdings wenig zu tun mit methodischen Überlegungen zur Darstellungsformen von Geschichte, deren »erzählt-werdenMüssen« als »gräßlicher Fatalismus« erfahren werde: »Büchner gibt eine Interpretation von ›Geschichte‹, die sich als eine Geschichte ihrer Interpretationen, als ein Darstellen von Geschichtsdarstellungen entfaltet« (Nielaba 2001, S. 88). Der an keinerlei Textbefund gebundene kolossale Blödsinn dieser Assoziationen wird nur noch überboten durch die These, die im Brief beklagte Gleichheit der Menschennatur bezöge sich auf eine Langeweile produzierende Wiederholung aller geschichtlichen Prozesse: »Angesichts der Wiederholung der Geschichte manifestiert sich der Fatalismus als jene ›Gleichheit‹, die Büchner in der ›Menschennatur‹ sieht« (Pethes 2006, S. 530). Büchners Begriff der Gleichheit enthält durchaus nicht die Semantik der Wiederholung, sondern die durch individuelle Freiheit nicht aufhebbare Anthropologie der Gewalt, die ohne jede systematische Referenz auf die Vorstellung christlicher Sündhaftigkeit auskommt (so aber MBA X.2, S. 182) und die sich auch keineswegs wiederholt, sondern stets die nämlichen Erscheinungen zeitigt. Das ist auch keineswegs

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Unabgeschlossenheit seines Raisonnements: »Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.«455 Und damit meint er vor allem die aus diesem Determinismus abgeleitete unabänderliche Schuldhaftigkeit des Einzelnen.456 Unbestreitbar ist darüber hinaus, dass Büchner gerade diese Dimension, die er in die Formel gießt: »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?«, in Dantonʼs Tod – leicht modifiziert – erneut aufgreift und reflektiert.457 Gleichwohl ist er von der Annahme einer geschichtlichen Notwendigkeit der Schuldhaftigkeit des Einzelnen abgerückt; auch wenn er diese Problematik von einer Dramenfigur reflektieren lässt.458 Trotz der Wiederaufnahme im Drama ist unübersehbar, dass Büchner die kulturpolitischen und -geschichtlichen Überlegungen im Januar 1834 noch nicht zu Ende gedacht hatte, sodass von den unabgeschlossenen Überlegungen auch keinerlei Impulse für sein politisch-praktisches Verhalten ausgehen konnten. Sicher ist, dass er den historischen Individualismus und Heroismus, die er noch in seinen Schülerschriften vertrat,459 nunmehr für unsinnig erklärt und bei dieser Einschätzung auch bleiben wird;460 sicher ist aber auch, dass er in den oben betrachteten Briefen vom August 1834, in denen er von »heiligen Rechten« spricht, jenen – Handlungsfreiheit grundsätzlich verunmöglichenden – Determinismus aus dem ›Fatalismusbrief‹ überwunden haben muss, weil er auf natur- und positivrechtlich fundierte Rechte des Einzelnen pocht, die seit der Frühen Neuzeit – auch im Zusammenhang der sozialen Frage – ausschließlich auf der Grundlage der Annahme äußerer Freiheit begründet wurden.461 Spätestens die Naturrechts-Vorlesung Joseph Hillebrands, die er ab Ende April 1834 besucht, dürfte ihn von seinen Vorstellungen eines eindimensionalen fatalistischen Determinismus der Geschichte befreit haben. Hillebrand hatte nämlich als systematischen Abschluss einer »Theorie des menschlichen Handelns«, die das rechtlich-politische Handeln einschloss, eine »Philosophie der Geschichte« entwickelt, die zum einen die auch von Büchner vertretene substanzielle Differenz zwischen Natur und Politik voraussetzte462 und

|| langweilig, sondern in seiner moraltheologischen Konsequenz für den Büchner vom Januar 1834 wie noch für seinen Danton angsterregend und furchtbar. 455 P II, S. 37734–3781/MBA X.1, S. 314. 456 Vgl. auch Hinderer 1977, S. 34. 457 Vgl. MBA III.2, S. 4127f.: »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« Zur These einer substanziellen Differenz der Überlegungen zu Determinismus und Verantwortung trotz wörtlicher Identität vgl. die Ausführungen bei Jancke 31979, S. 166. 458 Vgl. hierzu Eibl 1981, S. 413f. sowie meine Ausführungen in Kap. 6. 459 Vgl. u. a. P II, S. 387ff.. 460 So auch Hinderer 1977, S. 35; Hauschild 1993, S. 273 und Poschmann 2009, S. 146. 461 Vgl. u.a. Klippel 1997, S. VIIf.; Dipper 1997, S. 102ff. oder auch Wohlrab 1997. 462 Hillebrand 1830, S. 160: »Daher waltet im Menschen die Freiheit. Er ist somit keine höhere Potenz der Natur, sondern von dieser wesentlich unterschieden, indem die Natur für ihn ist, seines eigenen Daseyns nothwendige Voraussetzung. Daher kann denn auch der Mensch nicht als ein Produkt unterer und unvollkommener Daseynsstufen betrachtet werden, wie es die Naturphiloso-

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zum anderen eine Vermittlung von Notwendigkeit und Freiheit als Gestaltungsmöglichkeit des Einzelnen ausführte: Ungeachtet die Geschichte eine Selbstdarstellung des Begriffs des Menschlichen ist im Interesse der Freiheit an sich selbst; so herrscht dennoch in ihr das Gesetz der Nothwendigkeit. Dieses wird gerade darin gegründet, daß es die objektive Freiheit selbst ist, welche sich vollzieht, also die subjektive Willkür eben so sehr, als den bloßen Zufall, von sich ausschließt. Die Nothwendigkeit der Geschichte ist demnach nur von relativer Bedeutung, insofern nämlich darunter die Unabhängigkeit von der individuellen Absicht und die Bewältigung und Ausgleichung der subjektiven Einseitigkeit gedacht wird. Der Natur gegenüber ist die Geschichte das Freieste, indem in ihr die Freiheit die Natur besiegt und den Triumph ihrer idealen Macht darstellt.463

Büchner dürfte diesen Freiheitsidealismus keineswegs uneingeschränkt geteilt haben,464 dennoch sollte er in Hillebrands Vorlesungen erkannt haben, dass es elaboriertere Formen von Geschichtstheorien gab, die einen Notwendigkeitsbegriff einschlossen, ohne einem planen Determinismus zu verfallen. Doch schon vor Beginn dieser Vorlesung Ende April und nur wenige Wochen nach dem ›Fatalismusbrief‹ verfasste Büchner im Februar 1834 jene Apologie seines Verhaltens gegenüber seinen Kommilitonen, die auf Thesen zu einer sozialanthropologischen Determination von Verstandes-, d. h. Bildungsfähigkeiten und moralischen Befähigungen basierte, von der gleichwohl die höheren Vermögen des »geistigen Wesens« am Menschen ausgenommen worden waren.465 Eine eingehendere Analyse des Briefes hat gezeigt, dass Büchner in seinem Argumentationsgang keineswegs eine materialistische Bewusstseinskonzeption entwarf, sondern in Bahnen von teils idealistischen, teils anthropologischen Modellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts argumentierte. Kurz: Der starke Eindruck, den der erst 20-jährige Büchner durch seine Lektüre der Revolutionsgeschichten Mignets und Thiers’ sowie der angrenzenden Debatten erhielt, wird zwar auf der Ebene kulturpolitischer Raisonnements im Zusammenhang seines ersten Dramas von ihm weiter reflektiert, scheint aber im Hinblick auf seine theoretischen Vorstellungen von menschlichem Handeln und dessen Historizität nur kurzzeitig wirksam sowie für seine politischpragmatischen Aktivitäten von keinerlei Bedeutung gewesen zu sein.466 Die erhebliche Vorläufigkeit seiner Überlegungen zu einem »Fatalismus der Geschichte« legt diese praktische Irrelevanz nahe.

|| phie vielfach versucht hat, eine Ansicht, welche weder durch die Erfahrung bestätiget wird, noch sich im Gedanken bewährt.« 463 Ebd., S. 165f. 464 Er hat sich im Gegenteil kritisch-ironisch auf Hillebrands Freiheitsvorstellungen im Woyzeck bezogen; gleichwohl hatte schon Muston von Büchner als einem »enthousiaste de liberté« gesprochen; Fischer 1987, S. 264. 465 Vgl. hierzu den Brief an die Eltern vom Februar 1834; P II, S. 37825ff./MBA II.1, S. 3220ff.. 466 So auch zu Recht Kurzke 2013, S. 106f.

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Büchners grundlegende Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zeigt ihre Wirkungen auch im Hinblick auf eine pragmatische Abfederung der Bedeutung unabgeschlossener Reflexionen. Von einem heroischen Aushalten der Paradoxie seiner politischen Handlungen, wie dies Viëtor, Lehmann, Benn oder noch Fuhrmann behaupteten,467 ist also bei Büchner ebenso wenig zu erkennen, wie von einer klassenkämpferischen Fundierung seiner Überlegungen zu den Determinationsfaktoren historischer Bewegungsverläufe, wie dies seit Jancke und Mayer Konsens der Forschung scheint.468 Seine Briefe von Februar und August 1834 machen deutlich, dass der – auch durch eine physische Erkrankung und psychische Belastungen krisenhaft verschärfte – so genannte ›Fatalismus-Brief‹ an Wilhelmine Jaeglé von Januar 1834 von der Forschung überbewertet wurde.469

4.3.4 Theorie und Praxis – War Büchner ein Frühsozialist? Büchner hat sich aber nicht nur praktisch an Revolutionsvorbereitungen beteiligt, er hat – diese politische Tätigkeit reflektierend – die Notwendigkeit einer politischen und sozialen Revolution in seinen Briefen stets hervorgehoben: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.«470 Dabei war er – wie die Analyse des Briefes vom Juni 1836 zeigte – davon überzeugt, dass revolutionäre Veränderungen nur aus dem sozialen Spannungsverhältnis zwischen Armen und Reichen hervorgehen könnten, dass aber dieses ›materielle‹ Fundament revolutionärer Politik nicht gleichsam automatisch, d. h. gemäß einer geschichtsphilosophischen Determination, wirksam würde. Im Gegenteil sieht Büchner die Notwendigkeit der Anwendung von politischen »Hebeln« durch Parteiungen, die entweder in der Bewusstmachung jenes materiellen Spannungsverhältnisses oder aber in der Instrumentalisierung eines religiösen Fanatismus bestünden. Büchner ist sich allerdings darüber im Klaren, dass sich die notwendige Gewalt revolutionärer Politik zwar gegen Personen richten muss, diese selbst aber nur als Repräsentanten eines politischen Systems betrachtet werden dürfen. Der Radikaldemokrat bekämpft systemisch den »Aristocratismus«, den er als »schändlichste Verachtung des heiliges Geistes im Menschen« betrachtet,471 und zwar in politischer

|| 467 Vgl. Viëtor 1949, S. 99ff.; Lehmann 1963, S. 210f.; Martens 31973a, S. 416ff.; Benn 21979, S. 14; Fuhrmann 1991, S. 212–217, spez. S. 214f. 468 Vgl. hierzu zusammenfassend Knapp 32000, S. 18f. und Martin 2007, S. 68–72. 469 So auch Behrmann u. Wohlleben 1980, S. 213ff. 470 Brief an die Eltern vom 5. April 1833; P II, S. 3669f.; MBA X.1, S. 194f.. 471 Vgl. hierzu den Brief an die Eltern vom Februar 1834 (P II, S. 37930–32/MBA X.1, S. 3311–13): »Der Aristocratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen; Hochmut gegen Hochmut, Spott gegen Spott.«

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wie in kultureller Hinsicht.472 Der einzelne Aristokrat ist für ihn dagegen ebenso Opfer des politischen und sozialen Systems, wie der Liberale und der Bauer. Büchners politische Theorie ist mithin polit-systematisch ausgerichtet,473 auch wenn sich seine politische Agitation – wie die Analyse des Hessischen Landboten zeigen wird – der Moralisierung politischen Handelns durch den herrschenden Feudaladel bedient. Nach dieser, weitgehend auf den primären Quellen, d. h. Briefen Büchners basierenden Rekonstruktion seines politischen und polittheoretischen Wissens kann abschließend erneut die durch die Forschung seit den 1970er Jahren bedeutsame Frage nach einem etwaigen Frühsozialismus bzw. gar Frühkommunismus des jungen ›Revolutionärs, Dichters und Wissenschaftlers‹ gestellt werden. Sicher ist, dass er – aufgrund der systematischen Trennung der Vernunft-, Reflexions- und Handlungsbereiche und damit unabhängig von allen vertretenen Inhalten – weder als Literat noch als Naturwissenschaftler und Philosoph Politiker, geschweige denn Frühsozialist gewesen ist. Die politromantischen Überformungen von Literatur und Wissenschaft Büchners durch einen angeblichen Kommunismus474 wie auch die These von der Politik als kategorienlieferndem Reflexionsfeld für alles weitere Wissen und Handeln475 kann weder von Seiten der Wissenschaft noch von Seiten der Politik Büchners verifiziert werden. Doch auch die engeren politischen und polittheoretischen Positionen des Autors, die er nicht immer von kulturkritischen bzw. -politischen Überlegungen trennt, legen das Prädikat des Frühsozialismus kaum nahe. Betrachtet man den Kriterienapparat Friedrich Wilhelm Grafs im Hinblick auf die diversen Formen von Frühsozialismus in den 1830er und 1840er Jahren, so lässt sich das Folgende konstatieren: || 472 Vgl. die eindeutig politische Semantik des »Aristokratismus«-Terminus im Brief an die Eltern vom März 1834: »[D]abei engten mich die politischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen.« (P II, S. 38532–3863/MBA X.1, S. 3830–32). 473 So zu Recht Mayer 1979a, S. 98ff. sowie Alt 1987, S. 9f. 474 Vgl. hierzu erneut Holmes 1990, S. 62; Hauschild 1993, S. 521; wiederholt in Hauschild 22004, S. 120; neuerdings auch Meyzaud 2012, S. 176ff.; Fortmann 2013, S. 115ff.; zur Kritik hieran Roth 2016. 475 So schon Hans Mayer 1972, S. 22f.: »Auf die Frage nach der Einheit kommt alles an. Sie vom Politischen her zu stellen heißt nicht etwa, Dichterisches und Denkerisches fremder Gesetzlichkeit zu unterjochen; es geht nicht darum, die Dichtungen als ›Tendenzdichtungen‹ zu interpretieren, was sie im geläufigen Wortsinne wahrhaftig nicht sind. Auch darum nicht, Büchners Wissenschaft und Philosophie mit krasser vereinfachender tagespolitischer Spitze zu versehen. Hier wird nach den Grundlagen der politischen Konzeption Büchners gefragt, die […] in weltanschaulichen Entscheidungen gründet. Man denkt nicht losgelöst von der Zeit und der in ihr gestellten Fragen.« Aufgenommen, inhaltlich modifiziert und ausgebaut wurde diese These von der Politik als Grundlagenwissen Büchners für alle weiteren Reflexions- und Handlungsbereiche durch das von Mayer (1979a) ausgehende politische Paradigma der Forschung. Zur Kritik an dieser These Stiening 2008, S. 320ff. sowie meine Ausführungen in Kap. 2.

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Für alle frühsozialistischen Positionen sind deshalb drei Elemente konstitutiv: Mit der Analyse der als krisenhaft erfahrenen, tendenziell bürgerlichen Gesellschaft verbindet sich die Kritik der materiellen Lage der mit der Durchsetzung industrieller Produktion entstandenen neuen, zumeist städtischen Unterschichten (Arbeiter); diese Sozialkritik setzt den Entwurf eines alternativen Gesellschaftsmodells frei.476

Zwar können sowohl die Analyse der krisenhaften Gesellschaft und die Kritik der materiellen Lage der Unterschichten als auch der Entwurf eines alternativen Gesellschaftsmodells bei Büchner nachgewiesen werden; zudem findet sich die Überzeugung von einer nur durch Revolutionen zu erwirkenden soziopolitischen Veränderung. Doch schon eine Spezifizierung der Gesellschaft als »bürgerliche« ist bei Büchner nur in Ansätzen ausgeprägt, wird doch deren systematischer Unterschied zum Staat eingeebnet und deren historische Differenz zur Feudalgesellschaft nicht eigens reflektiert. Darüber hinaus weisen weder primäre noch sekundäre Quellen Büchner als Interpreten und Kritiker des Industriekapitalismus aus, den er in seinem kurzen Leben wohl gar nicht (bewusst) erlebte.477 Letztlich drängt die fundierende Bedeutung, die Büchner sowohl bei seiner politischen Kritik als auch in seinem polithistorischen Alternativmodell dem Recht bzw. einer allgemeinen Rechtstaatlichkeit zuschreibt, keineswegs in frühsozialistische, sondern in jene neojakobinischen Richtungen, die schon Gerhard Jancke – allerdings mit anderen Argumenten – in Ansätzen für Büchners politische Position auswies.478 Die neuere Forschung zur jakobinischen Naturrechtslehre479 ermöglicht es deutlicher als bisher, die Anleihen, die Büchner bei diesen Modellen machte, herauszuarbeiten. Die in der Forschung noch immer wirksame These vom Frühkommunismus Büchners kann und muss also für sein politisches Wissen und Handeln falsifiziert werden. Unbestreitbar besaß Büchner eine hohe Sensibilität für soziale Ungerechtigkeiten und die analytischen Fähigkeiten, deren soziopolitische Gründe und Bedingungen sowie mögliche Formen ihrer Überwindung zu reflektieren. Er war davon überzeugt, dass eine politische Revolution, die er für eine substanzielle Verbesserung der Lebensbedingungen der unterprivilegierten Schichten erforderlich hielt, allererst durch eine soziale Revolution der angemessenen Reichtumsverteilung erfolgreich vollendet werden könne. Unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang aber nicht seine Insistenz auf eine zukünftige Rechtstaatlichkeit, von der er sich die Lösung der sozialen Frage erhoffte. Sozialrevolutionär ist Büchner nicht im Sinne

|| 476 Graf 1983, S. 690. 477 Ähnlich Hauschild 2013, S. 36. 478 Vgl. Jancke 31979, S. 75–123. 479 Vgl. u. a. den exzellenten Artikel von Klippel 1995.

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des Ideals einer vormodernen Gütergemeinschaft,480 sondern durch sein Wissen um die sozialen Zwecke revolutionärer, auf Rechtstaatlichkeit abzielender Politik. Er erkannte zudem, dass die politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts auf den immensen sozialen Unterschieden basieren, und zwar sowohl in ihrer ursächlichen Entstehung als auch in ihrer Lösung: »Unsere Zeit ist rein materiell«.481 Anders aber als die Überbewertung der sekundären, zweifelhaften Dokumente zu einem angeblichen Postulat Büchners nach Gütergemeinschaft nahe legte,482 lässt sich die grundlegende Ausrichtung an der Rechtstaatlichkeit eines »absolute[n] Rechtsgrundsatzes« für sein alternatives Gesellschaftsmodell aus primären Quellen nachweisen. Dass er mit dieser Verbindung der Forderungen nach einer durch Revolution zu erzielenden Rechts- und Sozialstaatlichkeit unterschiedliche Positionen seiner Zeit kombinierte – auch wenn der Katalog eher radikaldemokratische Züge denn sozialistische trägt483 –, steht außer Frage. Von einem ›frühkommunistischen‹ Büchner aber sollte sich die Forschung wie die interessierte Öffentlichkeit endlich verabschieden. Seinen literarischen Fähigkeiten und der Bedeutung ihrer Produkte tut diese modifizierte polithistorische Ortsbestimmung zudem keinerlei Abbruch.484

4.4 Wissensmomente im Hessischen Landboten Sind die Konturen einer politischen Theorie Georg Büchners aus dessen fragmentarisch überlieferten Briefen nur in systematisierenden Umrissen zu rekonstruieren,485

|| 480 So, um nur eine neuere Studie zu zitieren, Hauschild 2013, S. 29; differenzierter MBA II.2, S. 369ff. 481 Brief an Gutzkow vom Juni 1836; P II, S. 4407f./MBA I.1, S. 9319f.. 482 Vgl. erneut Ruckhäberle 1975, S. 230ff. und Mayer 1979a, S. 25f.; auch Mayer 1980, S. 378; Meier 1983, S. 150; Mayer 1985, S. 144; Mayer 1987, S. 175–178; Holmes 1986/87, S. 72; Grab 1987, S. 357; Grab 1987a, S. 158; Poschmann 31988, S. 129; Grab 1990, S. 67; Hauschild 1993, S. 348; Holmes 1990– 94, S. 243ff.; P II, S. 820f. u. S. 823ff.; Osawa 1999, S. 17; Knapp 32000, S. 14; Schütte 2006, S. 179; Matala de Mazza 2009, S. 172f.; Glück 2009–2012, S. 65ff.; Dedner 2012, S. 65ff.; Hauschild 2013, S. 29; Hofmann u. Kanning 2013, S. 36ff.; MBA II.2, S. 104–111. 483 Insofern kann und muss nach einer Analyse der primären Dokumente die politisch motivierte Aussage Ludwig Büchners, nach der Georg »mehr Socialist, als Republikaner« (vgl. Dedner [Hg.] 1990, S. 133; Hauschild 1993, S. 275ff. sowie Dedner 2012) gewesen sei, die seit Wilhelm Schulz (vgl. Grab 1985, S. 73) ganze Generationen von Germanisten elektrisierte, zurückgewiesen werden. Sicher gibt es, wie zu zeigen war, Nähen zu frühsozialistischen Vorstellungen; insgesamt aber verbleibt Büchner mit seinem Rechtstaatsverständnis in den Bahnen radikaler Demokraten; so zu Recht Jancke 31979, S. 117. 484 So schon Promies 1989, S. 97ff. 485 Wenngleich diese naturrechtlich fundierten Konturen der Politik Büchners weiter gehen, als die systemabwehrenden Thesen Müller-Dietz’ (1990, S. 270 u. S. 279) dies nahelegen. Der Interpret scheint aber selber wenig Kenntnisse der Naturrechtsdebatte des frühen 19. Jahrhunderts aufweisen

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so liegt mit dem Hessischen Landboten ein in sich geschlossener Text vor, der als einheitliches Gebilde interpretiert werden kann. Dass aber gerade diese Flugschrift von der Philologie bis an die Grenzen ihrer analytischen Leistungsfähigkeit als Einheit dekonstruiert wurde,486 hat mit der ereignisreichen Entstehungsgeschichte des Textes sowie mit einigen hermeneutischen Vorannahmen der Forschung zu tun. Die Textgenese verhinderte deshalb eine einheitliche Perspektive auf die Gehalte der Flugschrift, weil durch August Beckers Verhöraussagen gesichert schien,487 dass Büchner zwar eine erste Fassung der hernach gedruckten Variante des Hessischen Landboten verfasste, dieser ›Ur-Landbote‹488 jedoch von Weidig erheblich modifiziert wurde. Weil aber die an einer – sei es christlichen, sei es existentialistischen, sei es sozialistischen – Heldengeschichte, mithin vor allem biographisch interessierte Forschung »Büchners politische Position« – nicht aber den Gehalt des Textes – ins Zentrum ihrer Bemühungen stellte, musste man daran interessiert sein, die »Anteile Büchners« von denen Weidigs zu unterscheiden.489 Welche Bedeutung die unter dem politischen Paradigma stehende Büchner-Forschung dieser Frage beimisst, ersieht man an dem Postulat Henri Poschmanns: Für die Bestimmung der Position des Politikers Büchner, doch darüber hinaus auch für die Interpretation des literarischen Werks, ja für die tragfähige Fundierung eines jeden BüchnerBildes schlechthin, besteht der unabweisliche Anspruch, möglichst genau zu wissen, auf welche philologische Basis im Hessischen Landboten sich die Einschätzung wirklich stützen kann.490

Schon Fritz Bergemann hatte 1922 diese Frage auch editionsphilologisch durch verschiedene Schriftformen zu beantworten versucht,491 Hans-Magnus Enzensberger lieferte 1965 alternative Vorschläge,492 mit der Dissertation von Thomas Michael Mayer lag seit 1979 der für lange Zeit elaborierteste Versuch einer Scheidung der

|| zu können, sodass er es bei einer Paraphrase der büchnerschen Briefe und literarischen Texte belässt; anders Graff 2017, S. 161ff. 486 Zur Skizze einer Forschungsgeschichte des Hessischen Landboten vgl. P II, S. 804ff.; MBA II.1, S. 193ff. 487 Vgl. Büchner u. Weidig 1996, S. 109f. 488 So Holmes 1986/87, S. 69. 489 Vgl. auch Knapp 32000, S. 83–88; Dedner 2009–2012; dass dieses Interesse ungebrochen ist, zeigt sich bei Hofmann 2009, S. 8f. oder Fortmann 2013, S. 48ff. 490 P II, S. 807; vgl. auch Hermand 2000, S. 395ff., dem es ebenfalls mehr um »Büchners politischen Ort« als um eine vorbehaltlose Interpretation seiner Texte geht, wobei abweichende Meinungen vor allem politisch denunziert werden (vgl. ebd., S. 407). 491 Vgl. Bergemann 1922, S. 165–177. 492 Vgl. hierzu den kritischen Bericht in P II, S. 807f. sowie MBA II.1, S. 193ff.

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Anteile Weidigs und Büchners vor,493 der von Burghard Dedner 2012 einer kritischen Revision unterzogen wurde.494 Die noch weitgehend ungeschriebene, hier auch nicht beabsichtigte Geschichte dieser Suche nach den jeweiligen Anteilen hat allerdings gezeigt,495 dass jene Frage – weil wichtige Dokumente, wie die handschriftlichen Manuskripte, weitgehend verloren gingen – unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht zu beantworten ist.496 Die Debatte um die Anteile ist daher zu einer weltanschaulichen Kampfstätte geworden, auf der die unterschiedlichsten Fraktionen der Forschung ihre hermeneutischen Vorannahmen austragen.497 Der von Mayer kultivierte Schein philologisch exakter Beantwortbarkeit dieser Frage durch Rekurs auf unveröffentlichte »Prozeßakten« verschärfte die Problemlage erneut. Der Anspruch Mayers auf eine gleichsam naturwissenschaftlich exakte Philologie, die sich ihrer hermeneutischen Prämissen entschlagen konnte, brachte die Landboten-Philologie und ihre Frage nach den Anteilen der Autoren lange Zeit zum Erliegen. Zu Recht aber hält Henri Poschmann im Kommentar seiner Ausgabe fest: Mayers weit ausgreifender Versuch einer Zuweisung der Textanteile zur Beweisführung für die Abhebung des frühkommunistischen Sozialrevolutionärs Büchner von dem patriotisch revolutionären Demokraten Weidig mußte indessen daran scheitern, daß er den Text überforderte. Die durch die Zwei-Autoren-These Enzensbergers nahegelegte Annahme einer Aufteilbarkeit des Textes in zwei Teile, deren jeder dann auch noch möglichst eine uneingeschränkte Selbstoffenbarung enthalten sollte, konnte nicht aufgehen. Das Unterfangen zwang zum Rückgriff auf ein hypothetisches Original, dessen Rekonstruktion rein spekulativ bleiben mußte.498

Das gilt ungebrochen für die MBA und deren Herausgeber.499 An dieser spekulativen Philologie zum Behuf biographischer Präzisierungen über den »Politiker Büchner« werden sich die folgenden Ausführungen zur historischen Semantik und zur funktionalen Stellung des Wissens im Hessischen Landboten nicht beteiligen. Neben der philologisch-dokumentarischen Unsicherheit ist es die wissenschaftsmethodische Unsinnigkeit der Bearbeitung einer linken Heldengeschichte, die einen weiteren Anlauf zur Unterscheidung der Autorenanteile am Hessischen Landboten verbietet.

|| 493 Vgl. Mayer 1979a, S. 183–276. 494 Dedner 2009–12. 495 Siehe hierzu MBA II.1, S. 195ff. 496 So Schaub 1996, S. 194–200 und P II, S. 811f. 497 Vgl. insbesondere die Frage nach der Rechts- und Gesetzesbegründung im Hessischen Landboten in Mayer 1979a, S. 269f.; Büchner u. Weidig 1996, S. 50 sowie P II, S. 863f.; noch Dedner (2009– 2012) muss immer wieder auf Mutmaßungen und hermeneutische Tricks zurückgreifen (so »hört« er aus bestimmten Passagen in den Verhörprotokolle »heraus«, anstatt sie zu analysieren; vgl. ebd., S. 88). 498 P II, S. 811. 499 Dedner 2009–12; MBA II.1, S. 193ff.

Wissensmomente im Hessischen Landboten | 405

Darüber hinaus sind es vor allem gattungsspezifische Argumente, die die Versuche einer unmittelbaren Rückkopplung zwischen dem Gehalt der Flugschrift und der politischen Theorie einer ihrer Autoren zur vergeblichen Mühe werden lassen: Denn die Rhetorik einer Flugschrift zielt auf eine bestimmte Praxis bzw. Handlungsbereitschaft der Rezipienten ab.500 Dieses praktische Interesse am Text senkt die Wahrscheinlichkeit, komplexe polittheoretische Überzeugungen ihrer Autoren unmittelbar abgebildet zu finden – zumal die Prämisse, politökonomische Theoriebildung sei Moment einer revolutionären Praxis, erst in den späten 1840er Jahren von Marx und Engels entworfen wurde.501 Büchners ›Philosophie‹, die auf einer Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft basierte, erzwang eine ähnliche Distinktion zwischen Theorie und Praxis der Politik und war auch in diesem Zusammenhang auf dualistische Prämissen gegründet, sodass an seinem auf eine empirische politische Praxis abzielenden Text seine rationale, naturrechtlich fundierte politische Theorie kaum ungebrochen abgelesen werden kann.502 Das gilt vor allem für den Einsatz biblischer Rhetorik, die Büchner nicht zum ›religiösen Fanatiker‹ oder politischen Theologen macht.503 Im Folgenden wird der Text des Hessischen Landboten daher als ein in sich geschlossenes Argumentationsgefüge behandelt, das im weiteren Kontext der politischen Theorie und Praxis des 1830er Jahre zu betrachten ist. Denn die in diesem Text verarbeiteten Wissensanteile lassen durchaus Rückschlüsse auf die Stellung und den Umfang ›wahrer gerechtfertigter Überzeugungen‹ im politischen Kontext der Zeit zu. Dass mit Georg Büchner ein Wissenschaftler als Autor an dieser Flugschrift beteiligt war, ergibt sich schon aus der formalen Stellung empirischen Wissens im Text.

4.4.1 Statistik als politisches Instrument – finanzpolitisches Wissen Eine im Kontext politischer Flugschriften der Zeit auffällige Besonderheit der Argumentation des Hessischen Landboten besteht in der Verwendung von statistischem Material der politischen Verwaltung Kurhessens.504 Diese Eigentümlichkeit gilt bei

|| 500 Vgl. Ruckhäberle 1975; Ruckhäberle 1977; zur Rhetorik des Hessischen Landboten vgl. auch Promies 1989, S. 98ff.; Müller-Nielaba 1994 sowie Till 2009–2012. 501 Vgl. Deppe 2008, S. 41f. 502 So auch zu Recht P II, S. 824. 503 Grundlegend anders dazu Meyzaud 2012, S. 161, die meint, »mit guten Recht behaupten« zu können, »dass der Umgang mit der Bibel im Hessischen Landboten sich, anders als von der herkömmlichen Büchner-Forschung angenommen, nicht auf die taktische Ebene reduzieren lässt«; vgl. auch Kurzke 2013, S. 101ff. Zur angemessenen Kritik an diesen Versuchen, den Landboten zu einem Stück politischer Theologie zu verharmlosen, vgl. May 2016. 504 Vgl. hierzu ausführlich Schaub 1977; Mayer 1979a, S. 67–69 und MBA II.2, S. 374ff.

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einem Vergleich mit politischen Flugschriften sowohl in Frankreich als auch in deutschen Territorien, und es ist eindeutig überliefert, dass die Idee zur dieser Argumentationsform und ihre Durchführung auf Büchner zurückgehen.505 Dabei ist die positivistische Tatsache möglicher Vorbilder, die es mit Flugschriften und Parlamentsreden in Süddeutschland durchaus gab,506 im wissensgeschichtlichen Kontext weniger interessant als die Frage, welche Arten von Wissen in welcher Weise für die politische Agitation aktiviert werden. Darüber hinaus ist stärker als bisher zu berücksichtigen, dass ein wissenschaftsgeschichtlicher Kontext die intellektuelle Atmosphäre der Zeit prägte, der sich in den Leistungen und der öffentlichen Stellung des Spätaufklärers August Friedrich Wilhelm Crome darstellen lässt.507 Mit diesem Namen verbindet sich nämlich das aus einer innovativen Kameralistik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hervorgehende und für die Entwicklung einer zeitgemäßen politischen Ökonomie konstitutive Entstehen einer wissenschaftlichen Statistik, die Crome an der Universität Gießen entwickelte und ihn bis zu seiner Emeritierung 1830 zu europaweitem Ansehen verhalf. Statistisches Argumentieren, d. h. das Entwerfen von Begriffen, Urteilen und Schlüssen zum Behuf der Formierung von verwaltungs- und finanzpolitischem Wissen und dessen praktischen Schlussfolgerungen gehörte mithin zum Inventar staatswissenschaftlicher Forschung und deren praktischer Anwendung auf der Ebene des Regierungshandelns seit den 1820er Jahren. Büchner hält diesem statistisch gestützten ›Herrschaftswissen‹ ein auf die gleiche Statistik gegründetes ›Oppositionswissen‹ entgegen, indem er die empirischen Informationen unter neuen Prämissen anders interpretiert. Wenn überhaupt, dann lässt sich an diesem Transformationsprozess von finanzstatistischen Informationen in unterschiedliches politisches Wissen die Enge oder Weite des Konnexes zwischen ›Erkenntnis und Interesse‹ nachzeichnen. Unverkennbar ist nämlich zunächst, dass die empirischen Informationen des statistischen Materials von den Autoren des Hessischen Landboten allererst in ein bestimmtes Wissen als einer Form ›wahrer gerechtfertigter Überzeugung‹ transformiert werden. Keineswegs geht es ihnen um eine einfache Reproduktion der statistischen Informationen, sondern sie verwandeln dieses Kenntnisaggregat in eine finanzpolitische Argumentation, deren Wissensanteile durch eine Korrelation von Werterwerb und Wertveräußerung hergestellt wird: Im Großherzogtum Hessen sind 718,373 Einwohner, die geben an den Staat jährlich an 6,363,364 Gulden […]. Seht nun, was man in dem Großherzogtum aus dem Staat gemacht hat; seht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700,000 Menschen bezahlen dafür 6 Millio-

|| 505 Büchner lieh sich Georg Wilhelm Justin Wagners Statistisch-topographisch-historische Beschreibung der Großherzogthums Hessen, Bd. 4: Statistik des Ganzen, Darmstadt 1831 von Weidig aus; vgl. P II, S. 835 und MBA II.2, S. 451ff. 506 Vgl. Schaub 1977, S. 351–555; P II, S. 835f. 507 Vgl. u. a. Kirmis 1908; als Quelle erwähnt in MBA II.1, S. 222 u. S. 224.

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nen, d. h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugtieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. Wer sind denn die, welche die Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten!? Das ist die Großherzogliche Regierung. […] Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren, d. h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben.508

Es geht Büchner in der auffälligen Wiederholung der Bevölkerungszahl und des durch diese erwirtschafteten Steueraufkommens, dessen annuale Dimension er unerwähnt lässt, um das Missverhältnis zwischen den Lebensverhältnissen der wertschöpfenden Bevölkerung einerseits und den Lebensverhältnissen der wertverbrauchenden Regierungsklasse andererseits. Es ist nur als Missverständnis zu bezeichnen, in dieser Kritik eine allgemeine, anarchistisch ausgerichtete Herrschaftskritik zu sehen. Büchner zielt mit diesem Text nicht auf eine Aufhebung von Staatlichkeit überhaupt,509 sondern auf eine Kritik der ungerechten und politisch instabilen Instrumentalisierung des Staates für Partikularinteressen. Zu diesem Zweck listen die Autoren nicht nur die spezifischen Steuerarten auf, die die Gesamtsumme von 6 Millionen Gulden ergeben, sie benennen auch die Ausgaben der einzelnen Teile der Exekutive – wie etwa des Ministeriums des Innern, des Militärs oder des Finanzministeriums – und interpretieren deren Verwendung als weitere staatliche Belastung der Bevölkerung. Letztere hat also nicht nur für die Wertschöpfung aufzukommen, sondern auch die Lasten der Wertvernutzung zu tragen: Für das Militär wird bezahlt 914,820 Gulden. Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen, und erzählen, wie die Herren vom Hof, und die ungeratenen Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen, und mit ihnen in den breiten Straßen der Städte herumziehen mit Trommeln und Trompeten. Für jene 900,000 Gulden müssen eure Söhne den Tyrannen schwören und Wache halten an ihren Palästen. Mit ihren Trommeln übertäuben sie eure Seufzer, mit ihren Kolben zerschmettern sie euch den Schädel, wenn ihr zu denken wagt, daß ihr freie Menschen seid. Sie sind die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen, […].510

Das argumentationslogische Telos des Textes besteht also darin, den Bauern des Großherzogtums, die als Produzenten eines Großteils der Steuern511 zugleich die wichtigsten Adressaten der Flugschrift ausmachen, Informationen nicht allein bezüglich des Umfangs der Abgaben sowie der Aufteilung ihrer Verausgabung bereitzustellen, sondern auch ein Wissen über den Widersinn ihrer Doppelbelastung

|| 508 P II, S. 547–5514/MBA II.1, S. 532–626. 509 So aber in Verkennung der positiven Rechts- und Staatstheorie Büchners Jancke 31979, S. 111; Ruckhäberle 1981, S, 173, aber auch Schäfer 2009, S. 179f. 510 P II, S. 5634–5710/MBA II.1, S. 727–37. 511 Vgl. hierzu ausführlich Kukowski 1995, S. 49ff.

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durch Erwirtschaftung und Verausgabung der Steuern zu ermöglichen: So bezahlen die Bauern – laut Hessischem Landboten – ein Militär, das durch ihre Söhne bemannschaftet wird und das als innenpolitisches Instrument zur Unterdrückung von Freiheit und Meinungsäußerung verwandt wird; beides kann nur geleistet werden, wenn die Bauern zahlen. Büchner geht es mithin um das Aufweisen eines grundlegenden Widerspruchs in der politischen Ökonomie der Großherzogtums Hessen, den er jenen Bevölkerungsteil wissen lassen will und muss, der diese Antinomie auszutragen hat.512 Das Wissen um diesen Widerspruch, den er mit der Formel eines »Diebstahls […] von Staatswegen« belegt,513 soll einen Bewusstseinswandel der Bauern erwirken, und zwar im Hinblick auf die Akzeptanz der herrschaftspolitischen Verhältnisse, um damit letztlich die Stabilität des als ungerecht und widersprüchlich dargestellten »Aristocratismus« zu unterminieren. Dass dies in der Mitte der 1830er Jahre wenig Aussicht auf Erfolg hatte, zeigte die geringe Resonanz bzw. tragische Konsequenz der Flugschrift. Auch wenn die Mär von den massenhaft zurückgegebenen Exemplaren seit einiger Zeit ausgeräumt ist,514 zeigen die nahezu vollständige politische Ineffektivität des Hessischen Landboten und die desaströsen Folgen für seine Autoren und deren Unterstützer, dass das Wissen um jene Widersprüche der politischen Ökonomie 1834 keine Adressaten fand.515

4.4.2 Naturrecht und Staatstheorie – politisches Wissen Büchner entfaltet aber nicht nur einen politökonomischen Widerspruch des großherzoglichen Finanzwesens, seine Argumentation bedient sich weiterer fundierender Wissensbereiche, ohne deren Stellung als Prämissen der politische Systematik kein Verständnis der spezifischen Argumentation und Rhetorik der Flugschrift herzustellen wäre. Dazu gehört zunächst und zumeist das gleich zu Beginn des Textes ausgeführte Feld einer allgemeinen Staatstheorie.516 Nachdem das Steueraufkommen differenziert vorgestellt und in seinem Zweck der Staatsfinanzierung benannt wurde, geht der Text unmittelbar zu einer gemeinverständlichen Staatstheorie über: Was ist denn nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten

|| 512 Vgl. hierzu auch Glück 2009–2012, S. 47f.; es ist aber eben dieser zentrale Widerspruch, der den neueren, biopolitischen Arbeiten zum Landboten (vgl. Schäfer 2009, Meyzaud 2012, Fortmann 2013) entgeht. 513 P II, S. 567f./MBA II.1, S. 75. 514 Vgl. hierzu ausführlich Mayer 1981, passim. 515 Anders dazu Fortmann 2013, S. 48, der von einem »Erfolg« des Landboten spricht. 516 Vgl. zum Folgenden auch Stiening 2016.

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muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind A l l e ; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl A l l e r gesichert wird, und die aus dem Wohl A l l e r hervorgehen sollen.517

Dieser, in beiden gedruckten Fassungen518 identische Wortlaut entfaltet in einfachster Form eine Theorie des Staates, die – entgegen der seit dem späten 18. Jahrhundert sich durchsetzenden Differenzierung zwischen Gesellschaft und Staat519 – Verstaatlichung als allgemeine Form der Vergesellschaftung begreift.520 Die seit der Frühaufklärung gebräuchliche Bestimmung des Gemeinwohls als Grund und Zweck jener Vergesellschaftung521 bedingt den hier verwendeten Begriff des Gesetzes als Garanten seines Telos: Verordnungen und Gesetze als wesentliche Bestimmungsmomente von Staatlichkeit werden in ihrer Ordnungsfunktion erfasst. Dieses gemeinwohlorientierte Rechts- und Staatsverständnis steht in der Tradition einer über Grotius, Pufendorf und Thomasius bis ins 19. Jahrhundert übermittelten, letztlich anthropologisch fundierten Naturrechtskonzeption,522 der gegenüber einer von Hobbes über Rousseau und Kant verlaufenden Linie vernunftrechtlicher Begründung das Recht als Verwirklichung (nicht Begrenzung) der Freiheit versteht und damit Staatlichkeit als diese äußere Freiheit garantierende und realisierende praktische Notwendigkeit bestimmt.523 Erst in Hillebrands Naturrechts-Vorlesung – also nach der Abfassung des Landboten – lernte Büchner diese zweite begründungtheoretische Tradition kennen.524 Die zitierte Passage des Hessischen Landboten steht jedoch eindeutig in der ersten gemeinwohlorientierten und daher anthropologiefundierten Traditionslinie, die auch und in besonderem Maße die radikaldemokratischen Naturrechtsmodelle prägte.525 Denn »das Recht und das gemeine Wohl«526 – und nicht zunächst die Freiheit – werden im Hessischen Landboten unmittelbar verknüpft.

|| 517 Büchner u. Weidig 1996, S. 824–30; MBA II.1, S. 63–8. 518 Zur entscheidenden Differenz zwischen der Gießener Juli-Fassung und der Marburger Fassung vom November 1834 vgl. Frank 1998, S. 588ff.: »Die Anklage von Mißständen auf der Grundlage statistischer und religiöser Argumente, die das Problem der politischen Zustände mit dem des Hungers verknüpft, bleibt gleich, während jede Fassung den Kreis der Verursacher enger zieht.« 519 Vgl. hierzu Klippel 2001, S. 80ff. 520 Diese Ununterschiedenheit von Staat und Gesellschaft geht eindeutig aus der Formel »Der Staat […] sind Alle« hervor; verstärkend kommt hinzu, dass die Gesetze nicht als staatliche Form der Einwohner, d. h. der Gesellschaft, bezeichnet wird, sondern als »Ordner im Staat«, der also in Form und Stoff durch die Gemeinschaft der Einwohner konstituiert wird. Schon in Dantonʼs Tod wird Büchner anzeigen, dass er Staat und Gesellschaft nunmehr klar zu unterscheiden weiß; vgl. hierzu Stiening 2016. 521 Vgl. hierzu ausführlich Grunert 2000, S. 231ff. 522 Vgl. hierzu auch Vollhardt 2001, S. 51–196; Stiening 2017a. 523 Vgl. Kersting 1994, S. 246–249. 524 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 2. 525 Vgl. hierzu insbesondere die Studie von Brand 2006.

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Deshalb weisen alle Versuche, entweder den gedruckten Wortlaut dieser Passage in Frage zu stellen, um sie in die Tradition einer rousseauschen Theorie der volonté des tous zu rücken, oder aber eine Autorschaft Weidigs zu belegen, einen Mangel an Kenntnissen der Naturrechtstradition des 18. und 19. Jahrhunderts aus.527 Büchner wie Weidig konnten in diesem Punkte problemlos übereinstimmen und das Gemeinwohl – ebenso der Tradition wie den polittheoretischen Tendenzen ihrer Zeit entsprechend – als Grund und Zweck aller Vergemeinschaftung voraussetzen. Gerade weil der materiale Staatszweck als Gemeinwohl bestimmt wurde, konnte er gegen die empirische Realität, die dieses Telos durch eine ungerechte Partikularisierung der Staatszwecke für Einzelinteressen verfehlte, eingefordert werden. An sich – so die Argumentation – dient der Staat der Verwirklichung des Gemeinwohls und seine Gesetze haben ihren Grund und Inhalt in diesem Telos; an und für sich aber, also in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, wird der Staat durch die »Willkür einiger Fettwänste« zu einem Instrument von Einzelnen.528 Nicht die Instrumentalität des Staates überhaupt verfällt der Kritik,529 sondern die ungerechte Verschiebung des Telos vom »Wohle Aller« auf das Wohl Einzelner. Büchner, der erst nach der Abfassung des Hessischen Landboten die Naturrechts-Vorlesung Hillebrands hörte und erst im Anschluss an diese Rousseaus politische Theorie las, dürfte das Konzept der staatlichen Gemeinwohlorientierung im Frühjahr 1834 ebenso vertreten haben wie Weidig. Als Autoren dieser populären Staatstheorie des Hessischen Landboten kommen mithin beide Autoren in Betracht. Der Nachweis jenes realen Widerspruchs, der in der Instrumentalisierung des an sich dem gemeinen Wohl verpflichteten Staates für Partikularinteressen besteht, strukturiert die weiteren Abschnitte der Flugschrift, die die finanzielle Aufwendung für die einzelnen Ministerien mit den tatsächlichen Aufgabenfeldern kontrastieren. So werden dem Innen- und Justizministerium sowohl in seiner legislativen als auch in seiner judikativen Funktion praktische Widersprüche nachgewiesen: Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht. Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde; […].530

Dabei unterlaufen den Autoren allerdings auch Vorwürfe, die den historischen Realien nicht vollends entsprachen:

|| 526 P II, S. 5619/MBA II.1, S. 715. 527 Vgl. hierzu erneut Klippel (Hg.) 1997 sowie Wohlrab 1997. 528 P II, S. 5611/MBA II.1, S. 78. 529 Darin besteht die Kritik Kants an gemeinwohlorientierten Staatstheorien, vgl. Herb u. Ludwig 1994, S. 459ff. 530 P II, S. 5521–26/MBA II.1, S. 633–36.

Wissensmomente im Hessischen Landboten | 411

Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten. Jeden Schritt zu ihr müßt ihr mit Silber pflastern, und mit Armut und Erniedrigung erkauft ihr ihre Sprüche.531

Das Argument entspricht dem nachmals mit dem Begriff der ›Klassenjustiz‹ erhobenen Vorwurf, kann aber ausgerechnet – wie Christa von Hodenberg in ihrer exzellenten Studie nachweisen konnte – für die Richterschaft des Vormärz, insbesondere die der preußischen Justiz, nicht bestätigt werden.532 Im Gegenteil stand eine erhebliche Anzahl der preußischen Richter auf Seiten des politischen Liberalismus mit seinen Forderungen nach Rechtstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz. Ein bedeutender Teil der preußischen Richterschaft bildete mithin zwischen 1815 und 1848 jene »Partei der Unparteiischen«, die weniger als »Hure der deutschen Fürsten« denn als gewichtiger Teil der bürgerlichen Opposition zu bestimmen ist: »Zwar nicht radikal, nicht staatsgefährdend, aber immerhin auf Reformen drängend, führte der Justizflügel zu unablässigen Reibungen in der Bürokratie und damit zur Schwächung des Staatsapparates.«533 Zwar zielt eine politische Flugschrift nicht auf historische oder politische Angemessenheit, sondern auf die Empörung und affektive Handlungsbereitschaft der Leser, sodass sie sich rhetorischer Überzeichnungen durchaus bedienen muss. Im vorliegenden Falle der Juristenbeschimpfung durch den Vorwurf der Klassenjustiz und der Korruption scheint aber mehr eine inneroppositionelle Kontroverse die Feder geführt zu haben denn die Gegnerschaft gegen das herrschende politische System. Bekannt ist Büchners Kritik an den Liberalen, deren Reformprogramm er als unzureichend erachtete; er befürchtete gar, dass es die Lage der hungernden Massen noch weiter verschlechtern würde.534 Da jedoch Weidig diese radikaldemokratische Ausrichtung der Urfassung des Landboten als politisch falsch bewertete, weil sie die Opposition spalten und somit schwächen würde, weshalb er massive Umarbeitungen dieser ersten Fassung vornahm, ist es umso aussagekräftiger, dass er Büchners Kritik an der Justiz übernahm. Erneut erweist sich, dass die objektiv-historischen Sachlagen von den intersubjektiven, mentalitätsgeschichtlichen Stellungen derselben Tatsachen deutlich unterschieden werden müssen; und erst aus dieser Differenzierung lassen sich angemessene historiographische Rückschlüsse ziehen. Für Weidig und Büchner stellte sich die Richterschaft als korrupt und parteiisch dar, weshalb sie in ihrer Agitation auf die Widersprüche solcher Justiz abhoben, tatsächlich aber gehörte das Gros der preußischen und der kurhessischen Justiz – anders als die finanz- und wirtschaftpo-

|| 531 P II, S. 5536–563/MBA II.1, S. 645–71. 532 Vgl. von Hodenberg 1996. 533 Ebd., S. 13. 534 Vgl. hierzu u. a. Hauschild 1993, S. 275ff.

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litische Verwaltungsbürokratie – zumindest dem rechtstaatsorientierten Liberalismus an, der auf eine Unabhängigkeit der Justiz drängte.535 In einer Reihe von rhetorischen und argumentationslogischen Anläufen wird dieser ›Klassenjustiz‹ und ihrem instrumentellen, Gewalt und Willkür legitimierenden Gesetzesverständnis ein Rechts- und (juridisches) Gerechtigkeitskonzept entgegengehalten, das sowohl natur- als auch vernunftrechtliche Begründungstheorien andeutet und sich im Hinblick auf das Souveränitäts- und Regierungsmodell auch religiöser Argumente bedient; im Rahmen eines noch zu betrachtenden Bezugs auf die Französische Revolution heißt es: Dann schafften die Franzosen die erbliche Königswürde ab und wählten frei eine neue Obrigkeit, wozu jedes Volk nach der Vernunft und der heiligen Schrift das Recht hat.536

Es gibt also nach den Autoren des Hessischen Landboten ein Vernunftrecht auf Volkssouveränität, das mit einer demokratischen Regierungsform unmittelbar verbunden wird.537 Legitimiert würde dieses Vernunftrecht auf Volkssouveränität zusätzlich durch »die heilige Schrift«. In dieser Konzeption drücken sich für die Autoren die »Rechte des Menschen« aus, die mithin ebenfalls vernunftrechtlich und theologisch begründet werden.538 Insgesamt erweist sich die Rechts- und Staatstheorie, die der als widersprüchlich vorgestellten, weil ausschließlich Partikularinteressen bedienenden Realität entgegengestellt wird, als wenig konzise und konsistent. Das »Recht« wird sowohl als Instrument eines staatlichen Gemeinwohlzweckes als auch als Realisation der Freiheit dargestellt, die juridische Staatsgewalt wird zum einen aus dem Gemeinwohl legitimiert und ist zum anderen Produkt des Willens Aller. Eindeutig ist nur, dass, weil die staatliche Gewalt nicht aus der volonté générale legitimiert wird, eine strenge vernunftrechtliche Argumentation – wie bei Rousseau oder Kant – nicht durchgeführt wird. Die unterschiedlichen Theorie- und Traditionsanleihen scheinen aber weniger der doppelten Autorschaft als vielmehr dem praktischen Zweck der

|| 535 Vgl. erneut von Hodenberg 1996, S. 183ff. für Preußen und Seier 1995, S. 113ff. für Kurhessen. 536 P II, S. 6025–28/MBA II.1, S. 946–101; Hvhb. von mir. 537 So auch zu Recht Jancke 31979, S. 113. 538 Siehe auch Meyzaud 2012, S. 155ff.; allerdings scheint der Autorin der Begriff der Souveränität als oberste staatliche Gewalt bzw. als rechtliche Selbstbestimmung nicht vollends geläufig, weil sie ihn mit Obrigkeit, d. h. mit Herrschaft identifiziert; in der oben zitierten Passage des Landboten wird aber beides explizit unterschieden. Darüber hinaus verpasst sie in ihrem – ausdrücklich als kulturwissenschaftlich ausgewiesenen – Interesse an einer politischen Theologie als Fundament des Textes dessen ganz säkulare naturrechtliche Argumentation. Nur die Texthermeneutik einer von der Autorin kritisierten Philologie (selbst Thomas Michael Mayer wird leicht herablassend als »BüchnerPhilologe« tituliert [S. 150Anm. 342]) kann aber die ganz säkularen Argumente des Naturrechts erkennen und das Problem des Verhältnisses von biblischer Rhetorik und naturrechtlicher und politischer Systematik herausarbeiten; zutreffend hierzu Graff 2017, S. 158.

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Schrift, der politischen Agitation der Bauernschaft Hessens, geschuldet. Für diesen Adressaten sind vor allem die herauspräparierten Widersprüche der realen Rechtsund Staatsverhältnisse von Bedeutung – auch wenn die alternative, theoretische Position einen essentiellen Teil der Argumentation und Rhetorik darstellt. Dennoch scheinen beiden Autoren die unterschiedlichen rechtsphilosophischen Traditionsstränge, auf die sie sich beziehen, nicht vollends bekannt gewesen zu sein. In ihrer leicht diffusen Systematik bleibt aber das rechts- und staatstheoretische neben dem statistisch-empirischen Wissen ein konstitutiver Bestandteil von Argumentation und Rhetorik des Hessischen Landboten. Selbst für die politische Arbeit gilt mithin, dass philosophisches Wissen in seiner Form als Rechts- und Staatsphilosophie sowohl für Büchner als auch für Weidig von praktischer Bedeutung war. Eine von Feuerbach, vor allem aber von Marx und Engels seit den späten 1840er Jahren forcierte ›Überwindung‹ der Philosophie hin zu einer neuen einzelwissenschaftlichen, d. h. ökonomischen Fundierung alles Wissens und Handelns539 ist für den Hessischen Landboten, der sich in diesem Punkte vom Kommunistischen Manifest unterscheidet,540 nicht zu erkennen.541

4.4.3 Der Fürst als Mensch – anthropologisches Wissen Neben dem rechts- und staatstheoretischen Wissen bedient sich die politische Argumentation des Hessischen Landboten einer aufklärerischen, d. h. sozial indifferenten, physischen Anthropologie. Erst die spezifische Einbettung in eine politische Argumentation macht aus jener Anthropologie ein politisches Wissen und generiert aus diesem epistemologischen Status eine politische Rhetorik.542 Denn auch im 19. Jahrhundert wurde das Gottesgnadentum des Fürsten vom Gros der Bauern akzeptiert und – wie sich zeigen sollte – gegen Angriffe verteidigt,543 sodass an diesem nicht nur religiösen, sondern qua politischer Instrumentalität weltanschaulichen Dogma eine gelingende Kritik vorgetragen werden musste, wollte man tatsächlich Veränderungen bewirken. Daher versucht der Text durch eine spezifische Anthropologisierung des Fürsten, jene religiöse Legitimation seiner staatlichen Gewalt zunächst politisch zu unterminieren:

|| 539 Vgl. hierzu u. a. Arndt 1995, S. 225f. 540 Anders dazu Schütte 2006, S. 175; Hörmann 2009–12, S. 148f.; Meyzaud 2012, S. 150; man kann diese enge Korrelation von Hessischem Landboten und Kommunistischem Manifest nur als ›linken Kitsch‹ bezeichnen. 541 Vgl. hierzu auch Stiening 2002, S. 49. 542 Vgl. hierzu Till 2009–2012. 543 Vgl. hierzu Schaub 1976, S. 57f.; P II, S. 868 sowie Schlosser 2016, S. 55ff.

414 | Politik

Sie [d. i. die Verwaltungsbeamten] tun nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem Amt, steht ein L. das bedeutet Ludwig von Gottes Gnaden und sie sprechen mit Ehrfurcht: ›im Namen des Großherzogs‹. […] Im Namen des Großherzogs sagen sie, und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverain, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf eurem Nacken, […].544

Indem jene, die das Gottesgnadentum des hessischen Fürsten akzeptieren, als Götzendiener tituliert werden, weiten die Autoren die politische Kritik in eine religiöse Kontroverse aus. Unübersehbar arbeitet diese Argumentation mit der Einebnung der seit dem Mittelalter topischen und politisch wirksamen Unterscheidung der zwei Körper des Königs.545 Denn als unverletzlich, heilig und souverän galt der Fürst nur als politischer Funktionsträger, keineswegs als sterbliches Individuum, wenngleich die Identifizierung beider ›Körper‹ seit Ludwig XIV. zu den Herrschaftsinstrumenten des Absolutismus zählte.546 Die Beschreibung der Körperlichkeit und damit Bedürftigkeit und Sterblichkeit des Fürsten als Menschen wird genutzt, um seine Herrschaftsgewalt zu delegitimieren, weil die anthropologischen Bedingungen seiner Existenz mit denen der Bauern identisch sind, und doch ein Herrschaftsgefälle zu verzeichnen bleibt. Die physische Anthropologie des Fürsten als eines menschlichen Individuums dient in dieser Passage also in aufklärerischer Tradition zur Delegitimierung seiner politischen Herrschaft. Darüber hinaus ermöglicht diese Anthropologisierung des politischen Funktionsträgers durch insistierende Reflexion auf seine Körperlichkeit die folgende Metaphorik: Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren, denen er die hohen Stellen verteilt, sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt.547

Nicht zufällig sind diese Passagen durch Jean Pauls Hesperus in vielfältiger Weise beeinflusst,548 weil auch dessen Interessen an einer Reflexion auf bzw. der poetischen Gestaltung von humaner und animalischer Körperlichkeit seinen anthropologischen Kenntnissen, die er vor allem bei Ernst Platner erlernte, geschuldet sind.549

|| 544 P II, S. 5737–5812/MBA II.1, S. 812–22. 545 So auch Müller-Nielaba 1994, S. 128ff.; Meyzaud 2012, S. 153ff.; Fortmann 2013, S. 98ff.; Fortmann 2013–2015, S. 74f.; unerkannt bleibt in allen vier Studien, das der Text des Landboten mit der Nivellierung dieser beiden Körper arbeitet. 546 Vgl. hierzu Kantorowicz 2000, S. 342ff. 547 P II, S. 5826–30/MBA II.1, S. 834–37. 548 Vgl. Büchner u. Weidig 1996, S. 56f. sowie P II, S. 869; MBA II.1, S. 239. 549 Requadt (1974, S. 116) hat aus dem von ihm gemachten Fund auf eine »tiefgreifende Wirkung Jean Pauls schon auf den politischen Büchner« geschlossen, was allerdings als unzutreffend be-

Wissensmomente im Hessischen Landboten | 415

Die rationale Anthropologisierung des Fürsten als menschliches Individuum mit körperlichen Bedürfnissen leistet der metaphorischen Bildlichkeit der animalisierenden Verkörperlichung seiner politischen Despotie Vorschub. Auch in dieser Kombination von anthropologischem Wissen und politischer Metaphorik ist die Rhetorik des Textes präzise durchkomponiert.550

4.4.4 Die Große Revolution der Franzosen – historisches Wissen Als letzten größeren Wissensbereich der Flugschrift soll der ausführliche Rekurs auf die Französische Revolution betrachtet werden. Historisches Wissen wird an dieser Stelle des Hessischen Landboten unmittelbar zum politischen Argument transformiert, weil aus der Rekonstruktion des Verlaufes der Revolution Rückschlüsse auf die politische Gegenwart gezogen werden sollen. Die Darstellung der höchst wechselvollen politischen Ereignisgeschichte mündet erneut in die Einsicht, dass das Volk in Frankreich und Deutschland nach 1830 betrogen wurde. Nicht nur die politischen Verhältnisse der Gegenwart, auch deren Geschichte beweist – trotz hoffnungsvoller Ansätze zu Beginn der Revolution – die durch das betrogene Volk auszutragenden Widersprüche einer die Partikularinteressen »der Adeligen und Vornehmen« realisierenden politischen Ordnung. Dabei beginnt der Exkurs mit einer Anbindung an die vorgehende Anthropologisierung: Im Jahr 1789 war das Volk in Frankreich müde, länger die Schindmähre seines Königs zu sein. Es erhob sich und berief Männer, denen es vertraute, und die Männer traten zusammen und sagten, ein König sei ein Mensch wie ein anderer auch, er sei nur der erste Diener im Staat, er müsse sich vor dem Volk verantworten und wenn er sein Amt schlecht verwalte, könne er zur Strafe gezogen werden.551

Nach der physischen Anthropologie zur Delegitimierung des fürstlichen Gottesgnadentums erfolgt in diesem historischen Exkurs eine Ausweitung der Argumentation auf die praktische Anthropologie, die den König zum Menschen, d. h. zu einer der Rechtsordnung unterworfenen Person erklärt. Eine Sonderstellung als rechtsgarantierender Souverän ober- bzw. außerhalb der Rechtsordnung – die seit dem Mittelalter bekannte und noch im 19. Jahrhundert wirkliche Konstruktion des princeps legibus solutus552 – wird mit Rekurs auf das aufgeklärte Rechtstaatverständnis der

|| zeichnet werden muss. Wirkung auf Büchner hatte ohne Zweifel Jean Pauls Stil und Rhetorik; aus diesem Rezeptionsverhältnis jedoch auf eine politische Gemeinsamkeit zu schließen, ist bei Jean Pauls Abneigung gegen die Sphäre der öffentlichen Politik (vgl. Wölfel 1989, S. 140–170, spez. S. 143f.) abwegig. 550 Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen von Müller-Nielaba 1994, S. 123–140, spez. S. 132ff. 551 P II, S. 605–11/MBA II.1, S. 930–35; Hvhb. von mir. 552 Siehe hierzu Wyduckel 1979.

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Französische Revolution zurückgewiesen; damit wird dem König als »Diener« des Staates zugleich eine straffähige Personalität zugeschrieben. Im Hinblick auf diese straffähige Stellung eines königlichen Souveräns ist die Position in der Tat noch eine im frühen 19. Jahrhundert höchst umstrittene Theorie.553 Auf der Grundlage dieser Kritik an der absoluten, religiös im Gottesgnadentum legitimierten Königsgewalt, die aus einer praktischen Anthropologie geführt wird, stellen die Autoren des Hessischen Landboten einen Bezug zur Erklärung der Menschenrechte her, die sie wie folgt referieren: Dann erklärten sie [d. i. die Männer der Revolution] die Rechte des Menschen: ›Keiner erbt von dem andern mit der Geburt ein Recht oder einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigentum ein Recht vor dem andern. Die höchste Gewalt ist in dem Willen Aller oder der Mehrzahl. Dieser Wille ist das Gesetz, er tut sich kund durch die Landstände oder die Vertreter des Volks, sie werden von Allen gewählt und Jeder kann gewählt werden; diese Gewählten sprechen den Willen ihrer Wähler aus, und so entspricht der Wille der Mehrzahl unter ihnen dem Willen der Mehrzahl unter dem Volke; der König hat nur für die Ausübung der von ihnen erlassenen Gesetze zu sorgen.‹554

Dass diese Ausführungen keineswegs der historischen Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 entsprachen, mithin kein präzises historisches Wissen ausbreiteten, obwohl sie den Eindruck erwecken wollten, hat die Forschung penibel herausgearbeitet. Doch nutzte sie diese philologische Arbeit erneut ausschließlich, um den Streit über die Autorschaft dieser Passage zu forcieren.555 Dabei erweist sich eine wissensgeschichtliche Interpretation als aufschlussreicher, zeigt sie doch, dass die rechtliche Zurückweisung aristokratischer oder besitzbürgerlicher Privilegien mit einer empirischen, gleichsam demokratietheoretischen Souveränitätstheorie verbunden wird. Es sei mit allem Nachdruck darauf verwiesen, dass die These, die höchste staatliche Gewalt gehe von dem »Willen Aller oder der Mehrzahl« aus, mit vernunftrechtlichen Legitimationstheorien staatlicher Zwangsgewalt nichts zu tun hat, die stets auf die rationale Konstruktion einer volonté générale referierte.556 Die im Hessischen Landboten auf die empirische Allgemeinheit des Volkswillen, gar nur dessen Mehrheit abzielende Souveränitätstheorie fügt sich zwanglos zur Gemeinwohlorientierung der Staatszwecketheorie zu Beginn des Textes. Das aus dieser Souveränitätskonzeption abgeleitete aktive und passive, allgemeine Wahlrecht entsprach laut den Dokumenten eher den Positionen Büchners denn Weidigs, so dass

|| 553 So u. a. auch in Hegels Rechtsphilosophie von 1821, vgl. hierzu Hegel 1986, VII, S. 441–457 (§§ 275–286: »Die fürstliche Gewalt«). 554 P II, S. 6012–22/MBA II.1, S. 935–44. 555 Vgl. u. a. Mayer 1979a, S. 256–265, für den ausgemacht ist, dass »er [der Exkurs] nicht von Büchner stammt«; anders dagegen Hauschild 1993, S. 316; vermittelnd Schaub in Büchner und Weidig 1996, S. 60f.; dagegen P II, S. 870 sowie MBA II.1, S. 200 u. S. 249f. 556 Vgl. u. a. Friedrich 2004, S. 165ff.

Wissensmomente im Hessischen Landboten | 417

erneut eher ein gemeinsamer Kompromiss bei den Textgehalten denn eine klar zu unterscheidende Autorschaft bestimmter Passagen anzunehmen ist. Auch das Legitimationsargument für die Geltung dieses allgemeinen und freien Wahlrechts, nach dem die Franzosen »frei eine neue Obrigkeit [wählten], wozu jedes Volk nach der Vernunft und der heiligen Schrift das Recht hat«,557 scheint in der unvermittelten Vermischung von vernunftrechtlichen und religiösen Begründungen einer von beiden Autoren geteilten Taktik zu entsprechen. Ohne Rekurs auf die religiöse Weltanschauung der Bauern – das wussten Weidig und Büchner – war eine politische Handlungsbereitschaft nicht zu erlangen.558 Der weitere Verlauf des historischen Exkurses, der die Geschichte der Französischen Revolution bis 1830 nachzeichnet, versucht die Grundthese der Flugschrift narrativ zu illustrieren, nach der der Verlauf der politischen Veränderungen seit 1789 eine Struktur aufweist, die stets zuungunsten des Volkes – und damit zuungunsten von Freiheit und Gleichheit – ausfällt. Die bis zum Ende des Textes zunehmende Metaphorisierung und Einbettung der aktuellen Geschehnisse in religiöse Wertungsmuster soll in einer rhetorischen Klimax, die mithin vom anfänglichen Wissen weg zur religiösen Weltanschauung führt, die folgenreiche Schlussfolgerung legitimieren: Das »Maas ist voll«.559

4.4.5 Fazit: Wissen und Rhetorik im Hessischen Landboten Büchner mehr als Weidig, der sich allerdings überzeugen ließ, setzte für seinen Versuch einer politischen Agitation der hessischen Bauern in der Mitte der 1830er Jahre auf unterschiedliche Formen des Wissens. Es macht das Charakteristische des Hessischen Landboten aus, dass er mit einer Fülle finanzpolitischer Information aufwartet, die durch die spezifische Argumentation zu einem politischen Wissen transformiert werden. Auch und gerade gegenüber dem Kommunistischen Manifest, mit dem eine linke Traditionsgeschichte die Flugschrift ebenso leichthändig wie unbegründet vergleicht,560 obwohl Marx und Engels vor allem rationale Argumentationsbewegungen verwenden und weniger Bilder oder Vergleiche, kommt dieser Einbettung des Wissens in die politische Rhetorik eine spezifizierende Rolle zu. Weil Büchner aber ebenso wie Weidig wusste, dass Wissen allein nicht handlungskonstitutiv ist, vermittelt er die verwendeten Kenntnisse mit jenen Elementen eines »religiösen Fanatismus«,561 von dessen Wirksamkeit er auch für die hessische Provinz

|| 557 P II, S. 6026–28/MBA II.1, S. 947–101. 558 Vgl. hierzu auch zu Recht Mayer 1979a, S. 159ff. sowie MBA II.2, S. 197f. 559 P II, S. 6429/MBA II.1, S. 1230. 560 Vgl. noch Schütte 2006, S. 175; Hörmann 2009–12, S. 148f.; Meyzaud 2012, S. 150. 561 Vgl. erneut den Brief an Gutzkow vom Juni 1836; P II, S. 44017f./MBA X.1, S. 9327f..

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überzeugt ist. Noch in Dantonʼs Tod wird er die Hilflosigkeit des philosophischen Wissens vor der religiösen Ideologie eindrucksvoll demonstrieren.562 Nur im Verbund mit weltanschaulicher Rhetorik – so zeigt der Hessische Landbote – kann nach Büchner empirisches und rationales Wissen politisch wirksam werden. Damit wird Wissen nicht politisch irrelevant, es bedarf jedoch der Einbindung in praktisch wirksamere Weltanschauung.563 Diese reflektierte Distanz des Wissenschaftlers Georg Büchner zum Wissen in politischer Hinsicht dokumentiert – bei aller Überarbeitung durch Weidig – der Hessische Landboten mit Nachdruck. Bemerkenswerter Weise wird auf jenes materielle Elend, das er 1836 neben dem Fanatismus als zweiten wirkungsvollen Hebel für einen revolutionären Aufstand begreift564 und das als Pauperismus in den 1830er Jahren auch in Hessen Wirklichkeit hatte,565 in der Flugschrift kaum rekurriert. Auch dieser eigentümliche Mangel steht mit dem Verhältnis des Pauperismus zu einem rhetorisch eingebundenen Wissen in politischer Absicht in Zusammenhang. Denn jenes »materielle Elend«, das Büchner als revolutionären Hebel begreift, bedarf, um wirksam zu werden, nicht des Umweges über ein durch politische Agitation hervorgerufenes politisches Bewusstsein. Wie sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zeigte und wie offenbar schon Büchner und Weidig wussten, wirkt der Hunger entweder gar nicht politisierend oder unmittelbar. Hungeraufstände bedürfen der Flugschriften nicht – auch nicht rhetorisch brillanter. Es zeigt sich also, dass der Hessische Landbote aufgrund des spezifischen Einsatzes von Informationen und Wissen von einem Wissenschaftler verfasst wurde, der allerdings – und das wird nicht nur Dantonʼs Tod, sondern auch Woyzeck zeigen – von der nur mittelbaren, mithin bedingten praktischen Politik der ›wissenschaftlichen‹ Idee wusste.

|| 562 Vgl. hierzu Stiening 2002, S. 51–54. 563 Vgl. hierzu Thomé 2002. 564 P II, S. 44017f./MBA X.1, S. 9327f.. 565 Vgl. erneut die ausführliche Studie von Kukowski 1995.

 Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz Georg Büchner hat sich, daran kann nach den vorhergehenden Überlegungen kaum Zweifel bestehen, vor allem als Naturwissenschaftler verstanden, der als vergleichender Anatom an einer naturphilosophischen Evolutionskonzeption im Bereich der Wirbeltiere arbeitete. Aus der Semantik und der Systematik dieser Naturforschung leitet er zwar eine Ästhetik ab, die in einen Begriff von Naturschönheit mündete, der Natur als System und Prozess denkmöglich machten sollte.1 Aus diesem für Büchners Selbstverständnis als Wissenschaftler wichtigstem Segment seines Wissen sind jedoch weder seine philosophiegeschichtlichen Kenntnisse noch seine politischen Überzeugungen abzuleiten. Umgekehrt bietet auch keines der beiden anderen Felder des Wissens die Möglichkeit einer analytischen Ableitung: Büchners Auseinandersetzungen mit den Gottesbeweisen Descartes’ und Spinozas, auch seine Rekonstruktionen der Epistemologie oder Naturphilosophie beider Philosophien sind in systematischer Hinsicht weder aus seiner Naturphilosophie noch aus seiner Politik zu entwickeln. Vor allem seine politischen und politiktheoretischen Überzeugungen sind in ihrer naturrechts- und geschichtstheoretischen Begründung weder aus seinem philosophiegeschichtlichen noch aus seinem naturphilosophischen Wissen herzuleiten. Dieser Befund bedeutet jedoch nicht, dass die Felder des Wissens keinerlei Interaktionen ausbildeten. Vielmehr dient die Philosophiegeschichte Büchner zur Überprüfung und Modifikation seiner naturphilosophischen Kategorienbildung und auch innerhalb seiner philosophiehistorischen Arbeiten nutzt er sein naturphilosophisches Wissen zur Prüfung der systematischen Relevanz oder Irrelevanz der vorgestellten philosophischen Konzeptionen. Und noch in seiner politischen Flugschrift zeigt sich die allgemein wissenschaftstheoretische Kompetenz des Wissenschaftlers, wenn erst in einem vorgeführten Interpretationsakt aus fiskalischen Informationen politisches Wissen gewonnen wird. Schon innerhalb des Wissens zeigt sich mithin, dass seine wahren gerechtfertigten Überzeugungen keine »Einheit« im Sinne eines Systems ausbildeten, bei dem aus einem obersten Grundsatz alle weitere Momente analytisch abzuleiten wären.2 Vielmehr zeigt schon sein Wissen einen durch und durch synthetischen Zusammenhang, der auf der Grundlage einer von Büchner früh reflektierten Unterscheidung

 1 Vgl. hierzu MBA VIII, S. 1556. 2 So aber die Vorstellung Hans Mayers 1972, S. 22f. https://doi.org/10.1515/9783050093215-005

  Zwischenbilanz und Ausblick: Büchners Wissen und seine poetische Valenz zwischen theoretischer und praktischer Vernunft3 metaphysische, epistemologische und naturphilosophische Reflexionen einerseits von ethischem und politischem Wissen andererseits kategorial differenzieren lässt. Damit fallen die Wissensfelder Büchners nicht zusammenhanglos auseinander; sie bilden vielmehr eine synthetische Einheit aus, deren oberste Prinzipien keine materialen Grundsätze – seien es politische, seien es religiöse – ausbilden, sondern von den formalen Bestimmungen der Rationalität und Freiheit der Person ausgemacht werden. Darüber hinaus ist aus dieser Semantik und Systematik des Büchnerschen Wissens für die nachfolgenden Überlegungen von entscheidender Bedeutung, dass es – trotz seiner oder gerade wegen dieser ästhetischen Komponente – keinen Übergang zu literarischen Reflexionen aufdrängt. Anders als die einer religiösen Metaphysik entspringenden Konzeptionen Jean Pauls, E. T. A. Hoffmanns oder Ludwig Tiecks, deren Theologie und Naturphilosophie, vor allem aber deren Epistemologie zu einer literarischen Gestaltung des Gedankens drängen,4 und damit anders als innerhalb einer romantischer Systematik fehlt es dem Büchnerschen Wissen an einer begrifflichen Entwicklung für die Notwendigkeit von Dichtung.5 Im Zusammenhang seiner Literatur wird er ex post durchaus komplexe, jedoch mehr den Pariser Diskussionen um eine romantische Poetik, die durch Victor Hugo, Honoré de Balzac oder Alfred de Musset seit den späten 1820er Jahren angezettelt worden waren,6 verpflichtete Hinweise geben.7 Aus seinem epistemologischen oder naturphilosophischen sowie aus seinem naturrechtlichen oder ethischen Wissen sind seine literarischen Reflexionsanstrengungen jedoch nicht zu erläutern. Auch hierfür bedarf es mithin eines nicht-analytischen Grundes ihrer Ermöglichungsbedingung. Zu finden ist dieser einzig in Büchners Dichtung.

 3 Vgl. hierzu HA II, S. 377. 4 Vgl. u. a. die aufschlussreichen Hinweise in den Studien von Schmidt-Hannisa 2001; Engel 2002; Schwingenschlögl 2019; Schweizer 2008 über Thesen Jean Pauls oder Karl Gustav Carus’ zum engen Verhältnis von Traum und Dichtung. 5 So aber für Autoren der romantischen Naturphilosophie; vgl. die exzellente Studie von Höppner 2017. 6 Vgl. hierzu die exzellenten Studien von Zeller 1986/87 und Zeller 1990. 7 Vgl. Brief an die Eltern von 28. Juli 1835; P II, S. 409–411/MBA X.1, S. 66f.

6 Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod Die Rekonstruktion seines politischen Wissens, vor allem die Betrachtungen zum so genannten ›Fatalismusbrief‹ von Januar 1834 haben gezeigt, dass Büchner schon während seines ersten Straßburg-Aufenthaltes politische Kontakte zur Sektion der radikaldemokratischen Société des droits de l’Homme et du Citoyen über seine medizinischen Kommilitonen pflegte.1 Darüber hinaus ließ sich nachzeichnen, dass er sich mit der Geschichte der Französischen Revolution beschäftigte: »Ich studierte die Geschichte der Revolution.«2 Unter Berücksichtigung gewichtiger Ergebnisse der Studie Klaus Deinets zur Mimetischen Revolution ließ sich zudem erkennen, dass Büchner mit diesem Interesse, das er nach seiner Rückkehr im Sommer 1833 durch intensive Lektüren beförderte, an kulturpolitischen Debatten teilnahm, die in Frankreich seit den revolutionsgeschichtlichen Studien Adolphe Thiersʼ und François-Auguste Mignets – politisch verschärft seit den Pariser Juniaufständen von 1832 – über die Bedeutung der Großen Revolution, ihrer Protagonisten sowie deren rechts- und staatspolitische Überzeugungen für das historische und das aktuellpolitische Selbstverständnis des Landes geführt wurden.3 Weniger das polithistorische Phänomen selbst als vielmehr die Debatten über dessen Bedeutung für die 1830er Jahre bilden den prägenden Kontext für Büchners Drama.4 Ein Blick in das zweite Kapitel von Alfred Mussets La Confessions d’un enfant du siècle kann die spezifische Perspektive und die Dimensionen der Ängste des politischen Konservatismus vor der Revolution und ihrer Aktualisierung dokumentieren: Cependant, il monta à la tribune aux harangues un homme qui tenait à la main un contrat entre le roi et le peuple; il commença à dire que la gloire ètait une belle chose, et l’ambition et la guerre aussi; mais qu’il y en avait une plus belle, qui s’appelait la liberté. Les enfants relevèrent la tête et se souvinrent de leurs grands-pères, qui en avaient aussi parlé. Ils se souvinrent d’avoir rencontré, dans les coins obscurs de la maison paternelle, des bustes mystérieux avec de longs cheveux de marbre et une inscription romaine; ils se souvinrent d’avoir vu le soir, à la veillée, leurs aїeules branler la tête et parler d’un fleuve de sang bien plus terrible encore que celui de l’empereur. Il y avait pour eux dans ce mot de liberté quelque chose qui leur

|| 1 So Mayer 1985, S. 89; Hauschild 1993, S. 219; MBA II.1, S. 86ff. 2 P II, S. 37719/MBA X.1, S. 3028. 3 Zu prägenden Bedeutung der kulturhistorischen Debatten über die Große Revolution im Frankreich der 1830er Jahre für eine Interpretation von Danton’s Tod vgl. auch Campe 2009, S. 18 sowie Morawe 2012, S. 45ff.; dass diese Debatte über eine mögliche Vorbildfunktion der Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert ab den frühen 1840er Jahren auch in Berlin geführt wurde (vgl. Bauer 1843/44), Büchner somit einen tatsächlich ›guten Riecher‹ für die politische Kultur auch in Deutschland hatte, entging dieser Forschung allerdings. 4 Vgl. auch Morawe 2010. https://doi.org/10.1515/9783050093215-006

422 | Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod

faisait battre le cœur à la fois comme un lointain et terrible souvenir et comme une chére espérance, plus lointaine encore. Ils tressaillirent en l’entendant; mais, en rentrant au logis, ils virent trois paniers qu’on portrait à Clamart: c’étaient trois jeunes gens qui avaient prononce trop haut ce mot de liberté.5

Diesem »Angstreflex« des Konservatismus6 standen unterschiedliche Versuche einer zunächst kulturpolitischen Gedächtnis- und Traditionspolitik gegenüber, die ein zustimmendes Gedenken an die rechts- und staatspolitischen Leistungen der Revolution propagierte. Spätestens seit 1832 ging dieser affirmative kulturpolitische Bezug auf die Tradition der Großen Revolution in Forderungen nach einer Reaktualisierung ihrer Programme, Methoden und soziopolitischen Ziele über.7 Mit Repräsentations- und politischen Führungsfiguren der radikalen Linken, wie Albert Laponneraye, der monatelang öffentliche Vorlesungen über die Geschichte der Französischen Revolution abhielt und durch den Nachweis der Vorbildlichkeit der Vorgänge ab 1792 zum Sturz der Julimonarchie aufrief,8 oder Godefroy Cavaignac, der 1833 Robespierres Verfassungserklärung von 1793 zum offiziellen politischen Ziel erhob,9 entwickelte sich aus der in weiten Teilen kulturpolitischen Diskussion über die Französische Revolution auch und erneut eine rechts- und staatspolitische Kontroverse. Wurde die herrschafts- und sozialpolitische Debatte vor allem in den Gremien und Organen der radikaldemokratischen Société des droits de l’Homme et du Citoyen bis 1834 ausgetragen, so realisierte sich die gleichzeitig und noch bis in die späten 1830er Jahre andauernde kulturpolitische Kontroverse im liberalen und konservativen Journalismus sowie in der Literatur. Beispielsweise lässt Stendhal in Le Rouge et le Noir den Protagonisten Julien Sorel als glühenden Revolutionsverehrer mit dem Grafen Altamira, einem desillusionierten Veteranen der Großen Revolution, über die unüberwindlichen Unterschiede zwischen den 1830er Jahren und der Revolutionszeit anhand der Figur ›Danton‹ reflektieren:

|| 5 Musset 2002, S. 18f. 6 Deinet 2001, S. 159. 7 Zum Folgenden siehe ebd., S. 139–175; die spezifischen Gründe, Formen und Verfahren der Revolutionsmimesis, die Deinets Studie minutiös nachweisen, lassen die Selbstverständlichkeit, mit der laut Jancke (31979, S. 182ff.), Poschmann (31988, S. 94), Voges (1990, S. 9) und noch laut MBA (III.2, S. 178) im Rahmen einer politischen Problemlage über einen historischen Gegenstand gestritten werde, fragwürdig erscheinen. Die Ergebnisse Deinets zeigen, dass Büchners Drama keineswegs selbstverständlich als Moment seines politischen Wissens und Handelns, sondern vielmehr als Beitrag zu einer bzw. Reflexion auf eine kulturpolitische Debatte, die im Frankreich der 1830er Jahre aus spezifischen Gründen mit einer spezifischen Kontur ausgetragen wurde, entstand; so auch Morawe 2010 sowie Morawe 2012a. 8 Deinet 2001, S. 140–145; zur Stellung Laponnerayes in dieser Debatte vgl. auch die Ausführungen von Morawe 2010, S. 314ff. 9 Deinet 2001, S. 161–166.

Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod | 423

Que serait Danton aujourd’hui, dans ce siècle des Valenod et des Rênal? pas même substitut du procureur du roi… Que dis-je? Il se serait vendu à la congrégation; il serait ministre; car enfin ce grand Danton a volé. Mirabeau aussi s’est vendu. Napoléon avait volé des millions en Italie, sans quoi il eût été arrêté tout court par la pauvreté, comme Pichegru. La Fayette seul n’a jamais volé. Faut-il voler, faut-il se vendre? pensa Julien. Cette question l’arrêta tout court. Il passa le reste de la nuit à lire l’histoire de la Révolution.10

Nicht zufällig lässt Stendhal die engagierte Debatte über die Revolution und eine ihrer Repräsentationsfiguren in der nächtlichen Lektüre einer Revolutionsgeschichte enden. Anders als Altamira, der um die Historizität der politischen Revolution und ihrer Gehalte weiß, ist der politische Revolutionsmimetiker Julien, der sich durch Altamiras Realismus in kulturkritischen Pessimismus verstricken lässt, auf die Historiographie der Revolution angewiesen. Wie diejenige Fraktion der Radikaldemokraten, der es um eine Reaktualisierung der Revolution zu tun war, abstrahiert Julien jedoch von der Historizität des Gegenstands dieser Historiographie; er verwechselt nach Stendhal Politgeschichte mit Politik. Schon 1832 erkannte allerdings Achille Roche, der als einer der »Wiedererwecker der jakobinischen Tradition« gilt,11 in einem Artikel Sur les prétendues doctrines de 93, dass sich beide politischen Varianten des Bezugs auf die Französische Revolution in ihrer Kontroverse bedingen: Nur weil sich die radikale Linke die Prinzipien und Personen von 1793 zum politischen Vorbild nähme, könnten die Konservativen und gemäßigten Liberalen eine Mimesis der Revolution als Gefahr beschwören, und nur weil die Gegner der Revolution deren Wiederholung als reale Bedrohung öffentlich anzeigten, bezöge sich die Linke auf deren politische Prinzipien und Symbolik.12 Der politischen Instrumentalisierung der Revolution hielt er die Notwendigkeit eines historiographisch und kulturpolitisch angemessenen Umgangs mit den Ereignissen um 1793 entgegen: Il y a quelques choses de grossièrement ridicule à faire d’un temps de guerre acharnée le type de la république chose de coupable à représenter sans cesse cette conflagration comme l’essai d’une forme de gouvernement […]. Non, 93 ne représente pas la démocratie.13

Damit wurde ersichtlich, dass die politische Problemlage der 1830er nicht mit den Instrumenten der 1790er Jahre zu lösen war. Und wie verhielt sich Büchner zu dieser Frage? Ohne Zweifel hat er nach seiner Rückkehr aus Straßburg den Versuch unternommen, mit Hilfe politischer Geheimgesellschaften, die schon in der Namensgebung an die Société des Droits de

|| 10 Stendhal 2013, S. 371. 11 Eine kurze biographische Skizze liefert Deinet 2001, S. 459. 12 Vgl. ebd., S. 156ff. 13 Ebd., S. 157f.

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l’Homme et du Citoyen anschlossen,14 sowie Verbindungen zu anderen oppositionellen Vereinigungen die revolutionäre Lage in Hessen auszuloten.15 Der Hessische Landbote ist eines der mit vielen Kompromissen behafteten Ergebnisse dieser politischen Aktivitäten des radikaldemokratischen Medizinstudenten. Die Aufdeckung der geheimen Aktionen im Zusammenhang der Herstellung und Verteilung der Flugschrift, die Festsetzung vieler seiner Mitverschwörer und die nur knapp vereitelte eigene Festnahme zwangen Büchner jedoch zunächst, politisch zurückhaltender zu agieren – auch wenn er bis zu seiner Flucht im März 1835 fieberhaft an Plänen zur Befreiung seiner Freunde und Genossen arbeitete.16 Vor dem Hintergrund der obigen Kontextskizze zur kultur- und herrschaftspolitischen Diskussion über die Französische Revolution im Frankreich der 1830er Jahre kann man also festhalten, dass Büchner sich zum einen im Hessischen Landboten durch eine rechts- und staatsphilosophische sowie regierungstheoretische Interpretation der Vorgänge nach 1789 auf die Französische Revolution bezogen hatte17 und ihr damit jene politische Vorbildfunktion zukommen ließ, die ihr bis 1834 auch führende Radikaldemokraten in Frankreich zuschrieben. Deren politische Bedeutung für die deutschen Verhältnisse hatte er jedoch offenkundig überschätzt. Zum anderen erwies er sich kurze Zeit später in den Gesprächen mit Alexis Muston im Sommer 1834 in mehr kulturhistorischer Allgemeinheit als »idolâtre de la révolution française«; zugleich sei er – so Muston – ebenso durch eine Verachtung Napoleons wie durch den Wunsch nach einer »unité de la famille allemande« ausgezeichnet.18 Büchners Referenz auf die Große Revolution schloss also beide, in Frankreich politisch und sozial deutlich getrennten Bezugnahmen ein.19 Ab Oktober 1834 arbeitet er jedoch an einer literarischen Reflexion auf bestimmte Ereignisse der Revolutionsjahre, die zu dem im Februar 1835 abgeschlossenen

|| 14 Vgl. hierzu Mayer 1985, S. 156 u. S. 188; Mayer 1987, passim; MBA III.2, S. 197–203; MBA II.1, S. 117ff. u. S. 127ff. 15 Dass dieser Überprüfungsprozess ambivalent ausfiel, zeigt Mayer 1981; sicher nicht zeitigen die brisanten Ereignisse die Konsequenz eines »schockierten Rückzug[s] Büchners aus der Politik« (so aber Kurzke 2013, S. 107). 16 Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen bei Mayer 1995–99, S. 33–92. 17 Vgl. P II, S. 605–6133/MBA II.1, S. 930–1035 sowie meine Ausführung zu diesem historischen Wissen im politischen Kontext in Kap. 4. 18 Fischer 1987, S. 264 u. S. 272. 19 Insofern ist eine Bezugnahme auf die Revolution von 1789 in den politischen Zusammenhängen der 1830er Jahre keineswegs als selbstverständlich zu qualifizieren; so aber – auf der Grundlage des Revolutionsverständnisses von Mayer 1979a, S. 99ff., Grab 1990, S. 67ff. oder Holmes 1986/87, S. 69 – noch MBA III.2, S. 175ff.; Funk 2002, S. 16ff.; Morawe 2014a, S. 67f.; wie die Position Roches zeigt, gab es auch gewichtige radikaldemokratische Positionen, die einen unmittelbar politischen Bezug zur Revolution für politisch irrational hielten.

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Drama Danton’s Tod führen.20 Der Autor selber hat seinem Stück scheinbar beide Funktionen – einerseits eine politische, andererseits eine kulturhistorische – zugeschrieben. An Karl Gutzkow schreibt er noch im März 1835, also unmittelbar nach seiner Flucht: Meine Zukunft ist so problematisch, daß sie mich selbst zu interessieren anfängt, was viel heißen will. […] Aber Sie sollen noch erleben, zu was ein Deutscher nicht fähig ist, wenn er Hunger hat. Ich wollte, es ginge der ganzen Nation wie mir. Wenn es einmal ein Mißjahr gibt, worin nur der Hanf gerät! Das sollte lustig gehen, wir wollten schon eine Boa Constriktor zusammen flechten. Mein Danton ist vorläufig ein seidnes Schnürchen und meine Muse ein verkleideter Samson.21

Wie noch gut ein Jahr später entfaltet Büchner seine Thesen vom materiellen Elend als Hebel der Revolution,22 an dieser Stelle allerdings in einer manierierten Metaphorik, die Gutzkow offensichtlich beeindrucken soll.23 Anders aber als im Brief vom Juni 1836, in dem er »der Idee« – auch in ihrer literarischen Erscheinung – keinerlei politische Wirkmacht zuschreibt, erhebt er in dieser Gewaltphantasie den Anspruch, mit seinem Drama immerhin ein solcherart »seidnes Schnürchen« gebunden zu haben, das laut zeitgenössischem Wissen nach asiatischen Sitten Todeskandidaten zum ehrenvollen Selbstmordakt gereicht wurde.24 Wie gezwungen und selbstgefällig das Bild auch immer ausgefallen sein mag – Büchner erhebt zumindest Gutzkow gegenüber einen Anspruch auf politische Wirksamkeit des Dramas, und zwar gegenüber der herrschenden Klasse, die offenbar ihre politische und existentielle Aussichtslosigkeit erkennen soll. Diese Behauptung kann sich ausschließlich auf seine Darstellung der bedingungslosen, auch innenpolitischen Gewaltbereitschaft aller Revolutionsfraktionen – einschließlich der Volkes25 – beziehen. Berücksichtigt man allerdings die Tatsache, dass Büchner einerseits schon einige Wochen später das »Verhältnis zwischen Armen und Reichen« als »das einzige revolutionäre Element in der Welt« bezeichnet,26 dass er jedoch andererseits mit Gutzkow einen Adressaten und potentiellen Mentor anschreibt, der von der politischen Wirkmacht der Literatur überzeugt war,27 wird ersichtlich, dass die auf sein

|| 20 Zur längeren Entwicklungs- und sehr kurzen Entstehungsgeschichte des Dramas vgl. die ausführlichen Überlegungen bei Dedner 1986/87, S. 106–131; P I, S. 447–456; Hauschild 1993, S. 431– 438; Knapp 32000, S. 88–93; MBA III.2, S. 159–254; Funk 2002, S. 11–16; Campe 2009, S. 19ff. 21 P II, S. 39722–3984/MBA X.1, S. 5336–548. 22 Vgl. hierzu den Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836 (P II, S. 439f./MBA X.1, S. 92f.) und meine Auseinandersetzung mit dessen politischen und politiktheoretischen Gehalten in Kap. 4. 23 Vgl. auch MBA III.2, S. 250, die von der »angestrengte[n] Ironie« des Briefes spricht. 24 Vgl. hierzu P II, S. 1148f. 25 Vgl. hierzu Eibl 1981 und Greiner 2015. 26 Brief an Gutzkow vom 19. März bzw. September 1935; P II, S. 4006/MBA X.1, S. 7137. 27 Vgl. u. a. den Brief an Büchner vom 17. März 1835: »Treiben Sie wie ich den Schmuggelhandel der Freiheit: Wein verhüllt in Novellenstroh, nichts in seinem natürlichen Gewande: ich glaube,

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Drama bezogenen Gewaltphantasien eher taktischer Natur gewesen sein dürften.28 Der erfahrene politische Revolutionär Georg Büchner wusste 1835 schon längstens um die substanziellen Differenzen zwischen der politischen Tat und der höchst mittelbaren Wirkmacht poetischer Reflexion.29 Grundlegend anders stellt sich allerdings Büchners Verständnis der kulturpolitischen Bedeutung seines dramatischen Versuches dar. In einem auch für die innerfiktionale und strukturelle Poetik der Novelle Lenz konstitutiven Brief an die Eltern vom 28. Juli 183530 entwickelt Büchner im Rahmen einer Apologie seines Stückes wichtige Momente einer Poetologie, die auf historische Realität und daher auch auf die Französische Revolution zu beziehen ist und die im Folgenden näher betrachtet werden soll.

6.1 »Obscöne Sprache« für die »Banditen der Revolution« 6.1.1 »Quecksilberblüthen« und Autopsie – Büchners szientifischer Blick Es zeigte sich nämlich rasch nach Erscheinen des Dramas, dass keineswegs die gegenüber Gutzkow markierte politische Thematik die Reaktionen prägte.31 Schon vor dem Druck und noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind es zunächst und zumeist die erotischen Anspielungen sowie die sexuellen Metaphern und Vergleiche, kurz die »obscöne Sprache« vieler Dramenfiguren, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog. Schon die ersten Rezensenten fanden vor allem »Auswüchse der Unsittlichkeit« oder »Pestbeulen der Frechheit«.32 Auch Karl Gutzkow sprach von den »Quecksilberblumen Ihrer Phantasie« und machte im Namen des Verlegers Sauerländer deren Streichung oder Abmilderung zur Bedingung einer Drucklegung: 10 Friedrichsd’or will Ihnen Sauerländer geben unter der Bedingung, daß […] Sie sich bereitwillig finden lassen, die Quecksilberblumen Ihrer Phantasie, und Alles, was zu offenbar in die Frankfurter Brunnengasse und die Berliner Königsmauer ablenkt, halb und halb zu kastrieren. Mir freilich ist das so ganz recht, wie Sie es gegeben haben; aber Sauerl. ist ein Familienvater, der 7 rechtmäßige Kinder im Ehebett gezeugt hat, und dem ich schon mit meinen Zweideutig-

|| man nützt so mehr, als wenn man blind in die Gewehre läuft, die keineswegs blindgeladen sind« (P II, S. 39823–27/MBA X.1, S. 5434–37). 28 Vgl. auch zu Recht MBA III.2, S. 251: »Daß er der Gattung des Dramas eine unmittelbare gesellschaftsverändernde Kraft zugetraut hätte, ist unwahrscheinlich.« 29 Insofern ist der Versuch der MBA (III.2, S. 178ff.), Danton’s Tod mit Büchners politischen Aktivitäten gleichsam als Moment oder Ausdruck seiner sozialrevolutionären Position zu verbinden, nur als methodischer Kategorienfehler zu bezeichnen. 30 Zur Bedeutung des Briefes für die Erzählung Lenz vgl. meine Ausführungen in Kap. 7. 31 So auch Kurz 1991, S. 550. 32 Zitiert nach P I, S. 475.

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keiten ein Alp bin: wieviel mehr Sie mit Ihren ganz grellen und nur auf Eines bezüglichen Eindeutigkeiten! Also dies ist sehr notwendig.33

Auch wenn es zur Umsetzung der Vorschläge zur ›Heraustreibung‹ der »Veneria« wegen Büchners Flucht nicht mehr kommen konnte, deutlich wird schon in Gutzkows Brief, dass es nicht allein die ständigen Bezüge zur Prostitution bzw. zur Sexualität überhaupt sind, die die Grenzen des Zeitgeschmackes überstiegen – die hatten Victor Hugo in Marion de Lorme oder selbst Karl Gutzkow in Wally, die Zweiflerin durchaus auch überschritten.34 Es war die als schonungslos empfundene medizinische Perspektive auf die Phänomene der Erotik und Sexualität, die als charakteristisch und abschreckend wahrgenommen wurde.35 Denn die auch im Drama auftauchenden »Quecksilberblüthen« waren allseits bekannte, weil sichtbare, wenngleich tabuisierte Erscheinungen der medizinischen Syphilisbehandlung.36 Als einer der wenigen Interpreten hat Paul Landau den spezifisch medizinischen, mithin pathologischen Fokus des Dramas auf das Thema der Sexualität erkannt: Aber das wesentliche Element des Zynismus im Drama, das über das ganze Werk einen schweren schwülen Moderduft, die verpestete Luft des Spitals legt, ist das spezifisch medizinische, die ätzende Schärfe des Witzes. Der historische Danton liebte die freien Unanständigkeiten, die groben Zoten; Büchner verwendete den sarkastischen Spott eines jungen Arztes. Sein geschlechtlicher Humor hat als Hauptzielscheibe die Geschlechtskrankheiten.37

Sowohl in den Figuren der zumeist erkrankten Grisetten als auch in der sexualisierten Sprache der männlichen Revolutionäre erscheint Sexualität als soziokulturell oder psychopathologisch erzwungene, vor allem aber pathologisierende Form körperlicher Interpersonalität, die aufgrund ihrer Depravation den ärztlichen Blick herausfordert.38 Schon Karl Gutzkow hatte aber erkannt, dass die auf dem beruflichen Feld gewonnene und für die poetische Gestaltung der Sexualität als »Veneria« genutzte Perspektive auch auf andere thematische Bereiche übertragen worden war: Sie scheinen die Arzeneikunst verlassen zu wollen, womit Sie, wie ich höre, Ihrem Vater keine Freude machen. Seien Sie nicht ungerecht gegen dies Studium; denn diesem scheinen Sie mir

|| 33 Brief Gutzkows an Büchner vom 3. März 1835; P II, S. 39422–34/MBA X.1, S. 5015–24. 34 Zum ideengeschichtlichen und quellenkundlichen Verhältnis zwischen Danton’s Tod und Hugos Marion vgl. Buck 1990, S. 365–385; zu einem Bezug zu Gutzkows Wally u. a. Kurzke 2013, S. 26ff. 35 Vgl. hierzu Bornscheuer 1991, S. 1–13. 36 Vgl. MBA III.2, S. 2117 sowie die Erläuterungen hierzu in MBA III.4, S. 85. 37 Landau 31973a, S. 25. 38 Es wird sich daher auch zeigen, dass die eigentümliche Romantisierung des Themas ›Liebe‹ durch die Forschung seit den 1970er Jahren (vgl. insbesondere Grimm 1979, aber noch Milz 2005–08 sowie Lehmann 2009) die im Drama überdeutlich inszenierte Trennung zwischen Sexualität und Liebe nicht berücksichtigte.

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Ihre hauptsächliche Force zu verdanken, ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht’ ich sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.39

So sehr diese Formel von der medizinischen »Autopsie« als Bestimmung der Besonderheit der dramatischen Reflexionsform Büchners im Metaphorischen verbleiben muss, sie dokumentiert in erhellender Weise, dass dessen Kunst in Form und Gehalt von seinem naturwissenschaftlichen Wissen durchaus geprägt wurde. Wie weit diese Prägung reicht, muss im Folgenden ermittelt werden. Dabei fokussierte sich schon früh die Kritik an der scheinbaren Teilnahmslosigkeit der alle Themen umund erfassenden ›Autopsie‹ auf die aufdringliche »Unsittlichkeit« der Revolutionäre – insbesondere der Dantonisten, d. h. auf jene ›Ferkeleien‹, die Gutzkow besonders schätzte.40 An seine offenbar in heller Empörung auf die namentliche Publikation dieses Dramas reagierende Familie schreibt Büchner am 28. Juli 1835: Was übrigens die sogenannte Unsittlichkeit meines Buches angeht, so habe ich Folgendes zu antworten: der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst; aber die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist. Ich kann doch aus einem Danton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen! Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen wollte, so mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen. Wenn einige unanständige Ausdrücke vorkommen, so denke man an die weltbekannte, obscöne Sprache der damaligen Zeit, wovon das, was ich meine Leute sagen lasse, nur ein schwacher Abriß ist.41

Büchner liefert in dieser Passage zwei unterschiedlich abstrakte und doch zusammenhängende Argumente für die Notwendigkeit einer dramatischen Darstellung von ›Unsittlichkeit‹: Zum einen definiert er den Dramatiker schlechthin über ein Verhältnis zur Geschichte, der dramatische Dichter ist in Büchners Verständnis ein Historiker und daher das Drama seinem Wesen nach historisch.42 Der Autor von Dramen, denen nach Büchner also a priori die Eigenschaft des Historischen zu-

|| 39 Brief an Büchner vom 10. Juni 1836; P II, S. 4413–8/MBA X.1, S. 957–11. 40 Ebd., S. 44125ff.: »Von Ihren ›Ferkeldramen‹ erwarte ich mehr als Ferkelhaftes.« 41 Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835; P II, S. 4106–29/MBA X.1, S. 6619–38. 42 Insofern steht in Danton’s Tod keineswegs »die theatralische Anschaulichkeit von Geschichte […] auf dem Prüfstand«, wie Schneider (2006, S. 132) meint, diese wird vielmehr vorausgesetzt. Auf dem Prüfstand steht in Danton’s Tod vielmehr die Aktualität der Großen Revolution für die kulturelle und politische Lage der 1830er Jahre. Und diese Frage wird – »Es lebe der König! […] Im Namen der Republik« – negativ beantwortet.

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kommt, ist dem wissenschaftlichen Historiker gar überlegen, weil er die Vergangenheit als empirische Realität »zum zweiten Mal erschafft« und so für den Rezipienten erlebbar macht.43 Büchners Annahme von der Möglichkeit und Aufgabe der Herstellung historistischer Unmittelbarkeit für Anschauung und Empfinden des Dramenrezipienten zielt darauf ab, der »Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen«. Historiographische Phänomenologie bedarf, weil sie der Möglichkeit unmittelbarer Abbildung empirischer Wirklichkeit evidentermaßen entbehrt, eines poietischen Aktes, der jene vergangene Realität neu erschafft, sie bedarf mithin der Dichtung. Büchner liefert mit dieser Theorie des historischen Dramas eine Mimesis und Poiesis vermittelnde Poetik, die ebenso deutlich an aristotelische Traditionen anschließt44 wie sie an kulturpolitischen Tendenzen der französischen Romantik seit Hugos Cromwell-Vorrede zu partizipieren sucht.45 In dieser Form vermittelter Unmittelbarkeit, die erfinden muss, um empirische Wirklichkeit abbilden zu können, liegen die konzeptionellen Gründe für die Integration spezifischer Anachronismen oder interkultureller Überblendungen, wie der Verwendung deutschen Volksliedgutes des frühen 19. Jahrhunderts.46 Nur mit Hilfe solcher die deutsche Kultur der 1830er mehr als die französische der 1790er Jahre charakterisierenden Elemente konnte – so Büchners Kalkül – jenes Verhältnis der Unmittelbarkeit zur historischen Vergangenheit hergestellt werden, das er als Aufgabe seiner Dichtung begriff. Auf der Grundlagen dieser allgemeinen Dramentheorie nimmt Büchner zum anderen für sich in Anspruch, die »Unsittlichkeit« der Revolutionäre – und damit sind die Bordellbesuche der Dantonisten ebenso gemeint wie ihre stets sexualisierte Sprache – sowie die Prostitution der hungernden weiblichen Bevölkerung von Pa-

|| 43 Zwar ist die Begründung eine relativ eigenständige (vgl. Zeller 1990, S. 151ff.); im Hinblick auf den in aristotelischer Tradition stehenden Superioritätsgestus gegenüber der Historiographie weiß jedoch auch Büchner – wie u. a. Immermann – »die überwiegende Mehrheit der Autoren und Kritiker seiner Zeit auf seiner Seite« (Dainat 2001, S. 30). Den Aristotelismus der Vermittlungskonzeption Büchners verkennt die Arbeit von Niehoff (1991, spez. S. 9ff.) und verbleibt damit auf der Ebene vager Vermittlungsversuche zwischen empiristischem Positivismus und historischer Hermeneutik; Vergleichbares gilt für die These Morawes 2013a, S. 30f., dessen Versuche der Anbindung von Heines Apologie eines Gegenwartsbezugs jeder Geschichtsschreibung oder der – davon ganz verschiedenen – Geschichtstheologie Benjamins lediglich erkennen lassen, dass er das poetologische Problem Büchners nicht erkannt hat. 44 Vgl. hierzu Schmitt 2008, S. 92ff. 45 Vgl. hierzu Zeller 1990, passim; weil also Büchner in dieser Argumentation die Vermittlung von Poiesis und Mimesis gelingt, kann gerade nicht von einem »paradoxalen Zusammenfall von künstlerischer Schöpfung und reiner Wiedergabe« (Campe 2009, S. 25) gesprochen werden; Büchner leugnet auch nicht die aristotelische Differenz zwischen Poetik und Geschichte (Beise 2010, S. 58), sondern vermittelt sie. 46 Vgl. hierzu Kurz 2008, S. 155ff. sowie jetzt Weber 2018, in dessen kulturwissenschaftlichem Furor aber eben diese Vermittlungsfunktion des Volksliedes unerkannt bleibt.

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ris47 darstellen zu müssen, weil sie der empirischen Wirklichkeit des dramatisierten raum-zeitlichen Gefüges entsprächen. Im Paris des Jahres 1794 waren laut Büchners Quellen nicht nur die Guillotine, die außenpolitische und innenpolitische Instabilität und der Hunger, sondern auch die sexuellen Ausschweifungen der Revolutionsgewinnler und die durch Not erzwungene Prostitution an der Tagesordnung.48 Büchner bezieht sich zudem auf eine in den 1820er und 1830er Jahren zum Topos geronnene Vorstellung von der »weltbekannte[n], obscöne[n] Sprache der damaligen Zeit«. Tatsächlich waren vor allem Hébert und seine ultrarevolutionäre Fraktion, die Hébertisten, noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrer Obszönitäten in Sprache und Gebärden wegen berüchtigt;49 zeitweise galt ihr sexualisierter Habitus gar als Grund für ihre politische Niederlage.50 Aber auch Danton genoss schon in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung den Ruf als Repräsentant einer ›demokratischen Lasterhaftigkeit‹. In einer mit energischen Pinselstrichen gezeichneten Charakteristik lässt François-Auguste Mignet in seiner Histoire de la Révolution française depuis 1789 jusqu’en 1814 keinen Zweifel an der direkten Verknüpfung von politischer Begabung und moralischer Depraviertheit in der Persönlichkeit des Revolutionärs: Danton était un révolutionnaire gigantesque. Aucun moyen ne lui paraissait condamnable, pourvu qu’il lui fût utile; et, selon lui, on pouvait tout ce qu’on osait. Danton, qu’on a nommé le Mirabeau de la populace, avait de la ressemblance avec ce tribun des hautes classes, des traits heurtés, une voix forte, un geste impétueux, une élonquence hardie, un front dominateur. Leurs vices aussi étaient les mêmes; mais ceux de Mirabeau étaient d’un patricien, ceux de Danton d’un démocrate; et ce qu’il y avait de hardi dans les conceptions de Mirabeau se retrouvait dans Danton, mais d’une autre manière, parce qu’il était, dans la revolution, d’une autre classe et d’une autre époque. Ardent, accablé de dettes et de besoins, de mœurs relâchées, s’abandonnant tour à tour à ses passions ou à son parti, il était formidable dans sa politique, lorsqu’il s’agissait d’arriver à son but, et redevenait nonchalant après l’avoir attaint. Ce puissant démagogue offrait un mélange de vices et de qualitiés contraire.51

Büchner hatte mithin gute Gründe, von der »weltbekannte[n], obscöne[n] Sprache der damaligen Zeit« zu sprechen und sie poetisch zu gestalten. Er nahm aufgrund seiner historiographischen Funktionsbestimmung dramatischer Dichtung die Notwendigkeit ihrer möglichst unverstellten Darstellung in Anspruch. Vor allem Danton, der von Büchner als eine zutiefst widersprüchliche Persönlichkeit nach dem

|| 47 Vgl. auch Fink 1990, S. 179. 48 Nachweis in MBA III.4, S. 52. 49 Vgl. hierzu Furet u. Ozouf 1996, I, S. 603–613. 50 Vgl. hierzu Deinet 2001, S. 311. 51 Mignet 1838, S. 177.

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mignetschen Charakterbild gestaltet wurde,52 sucht mit Hilfe sexualisierter Bilder die soziale Mentalität seiner revolutionären Gegenwart zu erfassen: D a n t o n. Geht das nicht lustig? Ich wittre was in der Atmosphäre, es ist als brüte die Sonne Unzucht aus. Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?53

Der Wunsch, gemäß der schwülen, d. h. politische und existenzielle Instabilität signalisierenden Atmosphäre, sich in Sexualakten öffentlich zu animalisieren, wird mit kosmologischen Bildern legitimiert: die Sonne brüte Unzucht aus. Noch die nach dem Zeitgeschmack ordinärsten Ausfälle Dantons werden von Büchner nach den Prinzipien seiner Naturforschung einer Ordnung unterzogen; als Atheist kann || 52 Nach den positivistischen Nachweisen Mayers (1969 und 1971) gelten in der Forschung ältere Ergebnisse einer engen (keineswegs wörtlichen, sondern mehr konzeptionellen) Anbindung Büchners an Mignet im Zusammenhang von Danton’s Tod (vgl. u. a. Viëtor 1933, S. 363ff.; Thieberger 1953, S. 37ff.; aber auch noch Zöllner 1972, S. 60ff.) als widerlegt (vgl. hierzu insbesondere MBA III.3, S. 382 sowie in ungeprüfter Übernahme Funk 2002, S. 140; Martin 2007, S. 151; Campe 2009, S. 19ff.; Beise 2010, S. 56f.; Bittner 2010, S. 108f.; behutsamer Hofmann u. Kanning 2013, S. 93). Der Grund für die Abkehr von Mignet als konzeptionelle und sprachliche Vorlage für Büchners Verständnis der Französischen Revolution liegt auf der Hand: Mignets deterministische Geschichtsvorstellung gilt als »in der Nachfolge Maistres« stehend und damit einer konservativen Tradition zugehörend, in die man Büchners Geschichts- und Revolutionsverständnis nicht rücken will. Eine nähere Betrachtung des auch brillant geschriebenen und gegenüber der Weitschweifigkeit der thiersschen Revolutionsgeschichte erkenntnisfördernden Prägnanz des mignetschen Kompendiums zeigt dagegen, dass nicht nur vielerlei wörtliche Übernahmen, die die MBA unter erheblichen Anstrengungen in abgelegenen Quellen aufsuchen muss, bei Mignet vorgezeichnet sind, sondern auch ganze Szenen in ihrem dramaturgischen Aufbau den Darstellungen seiner Revolutionsgeschichte entsprechen. So heißt es zu den ersten Reaktionen auf die Verhaftung Dantons bei Mignet: »Son arrestation produisit une inquiétude sombre, une rumeur générale. Le lendemain, dans l’assermblée, à l’ouverture de la séance, on se parlait bas, on se demandait avec épouvante quell était le prétexte de ce nouveau coup d’état contre des représentants du peuple« (Mignet 1838, S. 269f.). Mit einer solch leisen und zugleich empörten Unterhaltung lässt Büchner die Szene II.7 beginnen, und auch die nachfolgende Rede Legendres ist nahezu vollständig bei Mignet (1838, S. 270) vorgebildet. Die Ignoranz gegenüber Mignet geht in der MBA soweit, dass einzelne Passagen eher unkommentiert gelassen werden, als die offensichtliche Herkunft aus Mignet anzuzeigen. So ist die Replik Dantons auf die Aufforderung der Freunde, sich durch Flucht der Guillotinierung zu entziehen: »Nimmt man das Vaterland an den Schuhsolen mit?« (MBA III.2, S. 3223) bei Mignet im Zusammenhang eben der Forderung der Freunde nach Flucht ausgeführt: »›Est-ce qu’on emporte da patrie à la semelle de son soulier?‹» (Mignet 1838, S. 269). Während die Klassiker-Ausgabe in ihrem Kommentar immerhin abstrakt auf Mignet verweist (vgl. P I, S. 528), lässt die MBA (III.4, S. 119) dieses berühmte Zitat unkommentiert. Die vielfältigen konzeptionellen, sachlichen, aber auch wörtlichen Bezüge von Danton’s Tod zu Mignet, deren Fülle auffällig ist, bedürfen einer neuerlichen Überprüfung. Die durch die MBA scheinbar abgeschlossene, in Wahrheit durch die eingeschränkte wortpositivistische und ideologisch überlagerte Perspektive unnötig beschränkte Auseinandersetzung mit den historiographischen Quellen des Dramas muss neu eröffnet werden. 53 MBA III.2, S. 3512–16.

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Danton nur die Natur als allgemeine Legitimationsinstanz beschwören, seine hierin aufgehobene Sehnsucht ist die nach gesellschaftlich legitimierter Animalität, die ihn vom Alpdruck der Gewissensnöte erlösen könnte. Ihm als Autor eines Stückes, das die entscheidenden Tage des Revolutionszeitalters rekonstruiert, vorzuhalten, er habe ein unsittliches Drama geschrieben, weil er Obszönitäten poetisch gestaltete, grenzt für Büchner an die Irrationalität des Vorwurfes, sich überhaupt mit Geschichte oder mit der gesellschaftlichen Gegenwart zu beschäftigen. In Danton’s Tod sucht Büchner vielmehr den Gründen für jenen Drang nach sprachlichen Obszönitäten in der spezifischen Kombination der außergewöhnlichen soziopolitischen Bedingungen und dem eigentümlichen Charakter Dantons nachzuspüren; in der Fortsetzung des Legitimationsbriefes an die Eltern heißt es: Man könnte mir nur noch vorwerfen, daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte. Aber der Einwurf ist längst widerlegt. Wollte man ihn gelten lassen, so müßten die größten Meisterwerke der Poesie verworfen werden. Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen.54

Büchner weist hier jede Form einer moralisch fundierten Poetik bzw. moralischer Kriterien für eine angemessene Rezeption von Dichtung zurück; der Dichter sei »kein Lehrer der Moral« und daher seine Produkte unter moralischen Gesichtspunkten indifferent. Damit hat der Autor ein entscheidendes Element dessen fixiert, was zum Eindruck unnachgiebiger Autopsie führte: Der ›ärztliche Blick‹ muss sich von moralischen Wertungen des betrachteten gesellschaftlichen Elends zunächst frei halten, um eine angemessene, d. h. vollständige und in sich differenzierte Diagnose erstellen zu können. Erst aus einer solcherart normativ vorbehaltlosen Diagnose der dramatischen oder wissenschaftlichen Historiographie könne eine mögliche ›Therapie‹ erschlossen werden: »die Leute mögen dann daraus lernen«. Auf der Grundlage dieser in mehrfacher Hinsicht mittelbaren poetologischen Legitimationskonzeption müssen die in der Forschung seit den 1970er Jahren unverändert wirksamen Thesen von einer unmittelbaren Fortsetzung der politischen Reflexionen Büchners im Medium der Literatur fragwürdig werden.

|| 54 P II, S. 41029–4116/MBA X.1, S. 6638–678; erste Hvhb. von mir.

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6.1.2 »Revolutionärer Erotiker«? Über die Grenzen des polithistorischen Paradigmas Was aber ließe sich gemäß diesem poetologischen Selbstverständnis, das das Konzept einer möglichst wertneutralen historiographischen Phänomenologie skizziert, aus einem Drama »lernen«,55 das die wenigen Entscheidungstage einer den gesamten Verlauf der Revolution prägenden Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden politischen Fraktionen vorführt? Vor dem Hintergrund eines bestimmten Segments der Biographie Büchners im Jahr vor der Niederschrift des Dramas – seinen politischen Geheimaktivitäten – hat die Forschung nicht gezögert, eine zunächst und zumeist politische Funktion des Stückes abzuleiten: Während sich aber ein großer Teil der bürgerlichen Opposition im Vormärz um eine ideologisch motivierte Aktualisierung der historischen Programme der bürgerlichen Revolution bemühte, ging es Büchner im Gegenteil um eine konsequente Historisierung gegenwärtiger Probleme der politischen Praxis der sozialen Revolution. Der Rekurs auf die Geschichte ist somit politisch motiviert. […] im ästhetischen Medium praktiziert Büchner revolutionäre Ideologiekritik: ein Jahrzehnt vor Marx werden zentrale Positionen der bürgerlichen Opposition einer materialistischen Kritik unterzogen.56 Bedenkt man, daß er zur Entstehungszeit von Danton’s Tod selbst mitten in der – potentiell lebensbedrohlichen – revolutionären Aktion steht, so wird klar, daß der Text die nahtlose Verlängerung revolutionärer Praxis in den ästhetischen Denk- und Spielraum ist.57

Büchners präzise Kenntnis der Differenz zwischen politischem Erfahrungswissen und polittheoretischem bzw. polithistorischem Erklärungsansprüchen macht es allerdings unwahrscheinlich,58 dass er selber mit seinem Stück politische Erkenntnisse zu erlangen oder gar handlungsrelevante Überlegungen vorzutragen hoffte. Die nur mittelbare Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns in politischer Hinsicht, die Büchner einer vorbehaltlosen Darstellung historischer Wirklichkeit im Medium dramatischer Reflexion zugestand, konterkariert die zitierten Versuche, politische Gründe oder Zwecke unmittelbar auf das Stück zu applizieren. Die politromantische Nobilitierung poetischer Reflexion durch eine revolutionsenthusiasmierte For-

|| 55 Vgl. hierzu auch Eibl 1981, S. 413, der zu Recht, wenn auch ohne größere Resonanz in der Forschung, ausführte: »Denn wenn er davon überzeugt ist, daß die Gesellschaft nicht von der gebildeten Klasse aus zu reformieren ist – was will er dann mit einem Drama, das, wie immer man es interpretiert, doch nur von dieser gebildeten Klasse verstanden werden kann und als verkleideter Samson nur zum Irrläufer taugt? Als Antwort sei vorgeschlagen: Nur die poetische Form ermöglichte es Büchner, seine Problemerfahrungen in ihrer ganzen Komplexität zu formulieren.« Hvhb. von mir. Diese Komplexität geht allerdings über politische Fragen hinaus. 56 Voges 1990, S. 10f. 57 Knapp 32000, S. 110; vgl. auch Wender 1988, S. 68 oder Hauschild 1993, S. 447. 58 Vgl. u. a. meine Ausführungen in Kap. 4.

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schung59 bleibt hinter dem theoretischen und praktischen Komplexitätsniveau Büchners, der spätestens seit der Inhaftierung seiner Mitverschwörer und den staatlichen Übergriffen auf seine Privatsphäre zwischen Politik und Politiktheorie klar unterschied, erheblich zurück.60 »Ein Drama ist kein Thesenpapier« – so meinte auch die Forschung, ohne allerdings aus dieser prätendierten Einsicht Gewinn für ihre Interpretationen zu ziehen.61 Die differenziertere Forschung hat allerdings seit langem erkannt, dass das Drama in formaler und inhaltlicher Hinsicht Gehalte poetisch formte, die mit Hilfe politischer oder soziohistorischer Kategorien nicht zu erfassen sind.62 Dazu gehört die oben erwähnte Darstellung der Sexualität, die Büchner dezidiert aller normativen Perspektivierung entzieht,63 ebenso wie die Ebene der weitgehend entsexualisierten Liebe zwischen den Ehepartnern Camille und Lucile Desmoulin sowie Georg und Julie Danton, die zumeist als glückliche Gegenentwürfe zur scheiternden Vergemeinschaft auf politischer Ebene interpretiert werden.64 Darüber hinaus zeigen nicht allein die Philosophiegespräche in III.1, III.7 und IV.5, sondern eine Fülle wei-

|| 59 Paradigmatisch fokussiert in dem keineswegs historiographischen, sondern politischen Statement Mayers 1979a, S. 138: »Die Wahrheit ist revolutionär.« 60 Es ist – spätestens aufgrund einiger Brieffunde (vgl. Mayer 1993) – nicht zu bestreiten, dass die Thesen der Forschung (vgl. insbesondere Viëtor 1949, Lehmann 1963, Hans Mayer 1972, Kurzke 2013, S. 73ff., S. 107, u. ö.), nach denen sich Büchner auf das Feld der Literatur begeben habe, weil er von seinen politischen Revolutionsversuchen um den Hessischen Landboten enttäuscht gewesen sei, nur als falsch zu bezeichnen sind. Weder gaben die Reaktion auf die Flugschrift Anlass zur Enttäuschung (vgl. Mayer 1981), noch hat Büchner seine politischen Aktivitäten vollständig abgebrochen (Mayer 1993). Dennoch ist aus diesem politischen Standpunkt Büchners keineswegs zu erschließen, er habe sein Drama als Verlängerung seiner politischen Reflexionen begriffen. Gerade weil Büchner von der »Idee« keinerlei revolutionäre Potenz erwartete, kann auch sein Drama nicht in diesen Kontext integriert werden; vgl. hierzu auch Campe 2009, S. 20f. 61 So Ruckhäberle 1981, S. 169; kritisch erweitert in Hildebrand 1999, S. 534f. 62 Vgl. u. a. Sengle 1980; Eibl 1981; Fink 1990; Kurz 1991; Neuhuber 2009, S. 58f. 63 Was nicht bedeutet, dass er die soziopolitischen Bedingungen der Armutsprostitution nicht ausführlich darstellte: »Ja ein Messer, aber nicht für die arme Hure, was that sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und bettelt« (MBA III.2, S. 104f.). Büchner verweigert sich einer moralischen Verurteilung des Phänomens; vgl. hierzu weitgehend anders, nämlich im Sinne einer utopistischen Befreiung der Sexualität von den Fesseln der Moralität, die Büchner inszeniere, Grimm 1979, S. 318ff.; Knapp 3 2000, S. 121; Weineck 2000, S. 351–365; Teraoka 2006, S. 79ff.; Martin 2007, S. 156; Hofmann u. Kanning 2013, S. 108; die befreiende Wirkung von als »Quecksilbergruben« verunglimpften Grisetten müsste allerdings deutlicher erläutert werden; zutreffend dagegen Horton 1988, S. 293ff.; Fink 1990, S. 179; Kitzbichler 1993, S. 37 oder Hildebrand 1999, passim. Darüber hinaus – darauf wies schon Kobel 1974, S. 288 zu Recht hin – inszeniert Büchner aber auch andere Gründe der Prostitution als Armut. Marion, so die Fiktion aus Danton’s Tod, geht diesem Beruf aus Leidenschaft nach, weil es ihrer Natur entspricht. Wenn es einen – männlichen – Romantizismus bei Büchner gibt, dann jene Vorstellung einer Prostituierten aus Leidenschaft; vgl. auch Beise 2010, S. 58. 64 Siehe u. a. Broch 1987, S. 241–246; Hillebrand 1999, S. 550ff.; Knapp 32000, S. 118–121; Teraoka 2006, S. 40; Sanna 2010, S. 93–106.

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terer Aussagen der Revolutionäre aller Fraktionen zu Fragen der Staatstheorie, der Geschichtsphilosophie, der Ethik, des Atheismus oder der Unsterblichkeit der Seele, dass allein mit politischen, ja selbst mit politiktheoretischen Kriterien das Stück in seiner Gänze nicht zu erfassen ist. Noch die politische Auseinanderssetzung zwischen Danton und Robespierre erweist sich bei näherer Betrachtung als in unterschiedlichen Ethiken bzw. konträren Vorstellungen des Verhältnisses von Moral und Politik fundiert. Die im Folgenden versuchte wissensgeschichtliche Perspektive wird nicht allein eine Präzisierung der entwickelten Gehalte des in Danton’s Tod reflektierten Wissens und seiner Kontexte ermöglichen, sondern durch eine Interpretation ihrer Stellung im poetischen Gefüge des Dramas Gründe für die engen Grenzen einer politischen Perspektive auf Büchners erstes Drama aufweisen können. Zwar gehört es zu den Leistungen des polithistorischen Paradigmas, mit den Thesen von Büchners angeblichem ›Neobabouvismus‹ überhaupt eine sozialphilosophische Theorie der Zeit präsentiert zu haben, die die unterschiedlichen Momente der im Drama entfalteten thematischen Felder – die polithistorischen, die sozialpsychologischen oder mentalitätsgeschichtlichen und die philosophischen – systematisch vermitteln konnte. Wenn auch der anthropologische Sensualismus und ethische Naturalismus eines Danton weder bei Blanqui noch bei Buonarroti aufzufinden war65 und von des Letztgenannten Deismus stillschweigend abstrahiert werden musste,66 schien ein von politischen Kategorien getragenes sozialphilosophisches Konzept als Kontext der büchnerschen Überzeugungen und damit seines Dramas gefunden. Die These von Büchners Neobabouvismus auch in Fragen seines Revolutionsdramas wurde auch deshalb so enthusiastisch aufgenommen, weil die noch weitgehend spekulative Politisierung des Autors durch Hans Mayer scheinbar lückenlos empirisch verifiziert werden konnte. Zu einem methodischen Problem wurde dieser Position allerdings, dass sie eines der vorgestellten staats- und kulturpolitischen Modelle zu der von Büchner favorisierten Position erklären musste. Gegen Gerhard Jancke,67 Herbert Wender68

|| 65 Vgl. die erheblichen Anstrengungen Mayers (1979a, S. 119–136), seine Thesen vom Neobabouvismus Büchners, der den an sich modernitätskritischen Asketismus Blanquis hätte transformieren müssen, mit einem angeblich ethischen Sensualismus des Autors zu verbinden. Der Unwille, sich mit der sachlichen Kritik an dieser ›Vermittlung‹ von »Sensualismus und Revolution« (ebd., S. 119) auch nur zu befassen (vgl. u. a. Eibl 1981, S. 413ff.; Hildebrand 1999, S. 534ff.), führte zu einer unkritischen, nahezu unveränderten Aufnahme dieser weitgehend assoziativen Thesen in die MBA III.2, S. 159–255. 66 Zu Buonarrotis Deismus vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 1975, S. 89; Graf 1983, S. 692 sowie meine Ausführungen in Kap. I und III. 67 Jancke 31979, S. 212ff. 68 Wender 1992, S. 117–132.

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und noch gegen Jan-Christoph Hauschild69 und Gerhard P. Knapp70 sahen Thomas Michael Mayer, Burghard Dedner,71 Seji Osawa72 oder Arnd Beise73 in Dantons, vor allem aber in Camille Demoulins’ Ausführungen zur Staats- und Kulturpolitik, die den Staat als Instrument der möglichst uneingeschränkten Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen – versinnbildlicht in der »Venus mit dem schönen Hintern«74 – bestimmte und beschränkte, Büchners eigene Auffassung gebündelt: Daß jedenfalls Camille Desmoulins diejenige poetische Gestalt geworden ist, die am meisten und intimsten Büchners eigene Konfession ablegt, […] erschließt sich dem Betrachter jeder denkbare Inszenierung oder dem Leser, der die betreffenden Verweise nicht gegenwärtig hat, aus jedem Satz und Gestus der Figur gewissermaßen mit Evidenz. […] die ursprüngliche Formulierung der Staatsutopie [durch Camille] schöpft zunächst den von Büchner bislang erreichten Stand eines naturrechtlichen Materialismus der ›Bedürfnisse‹ aus.75

Die abweichende Meinung, deren Vertreter oben exemplarisch benannt wurden, vertrat die Ansicht, Robespierre sei das Sprachrohr des Autors. Es gehört zu den unfruchtbarsten, wenn auch wirkungsmächtigsten Kontroversen der Büchnerforschung, entweder die Fraktion um Robespierre oder die um Danton oder – methodisch und historisch noch prekärer – das Volk76 jeweils zum »Sprachrohr« ihres Autors zu erheben.77 Dazu wurde mit den detailliertesten Argumenten und Nachweisen die Prämisse konturiert, dass Büchner vor allem eine »bürgerliche Revolution« kritisch dramatisiert hätte, was allerdings dem Diskussionstand der 1830er Jahre keineswegs entspricht.78 Die Große Revolution war in diesen Jahren – auch bei Büchner – ein negatives oder positives Vorbild,79 das – wie auch die Aufstände seit 1830 – der hungernden Bevölkerung keine Verbesserung der Lebensbedingungen erbracht hatte und damit – bei aller Bewunderung – in seiner Legitimität einer Kri-

|| 69 Hauschild 1993, S. 447ff. 70 Knapp 32000, S. 116ff. 71 Dedner 1985, S. 360ff. u. S. 375ff. 72 Osawa 1999, S. 98ff. 73 Beise 2010, S. 60. 74 MBA III.2, S. 79. 75 Mayer 1979a, S. 123; vgl. Mayer 1979b, S. 390ff. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 100f. 76 Vgl. hierzu u. a. Mayer 1979a, S. 110; Pornschlegel 1997; Knapp 32000, S. 114; Pornschlegel 2009, vor allem aber Greiner 2015. 77 Zur berechtigten, und zwar methodischen Kritik an solcherart Interpretation vgl. schon Kobel 1974, S. 7ff. sowie Sengle 1971–1980, III, S. 306. 78 So aber Jancke 31979, S. 183ff.; Görlich u. Lehr 1981, S. 53ff.; Poschmann 31988, S. 90ff.; Wender 1988, S. 230ff.; Voges 1990, S. 8; Knapp 32000, S. 108 und noch Hauschild 2013, S. 39, die von einer Kritik Büchners an der »bürgerlichen Revolution« sprechen. 79 Vgl. hierzu Deinet 2001, S. 132–176.

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tik verfiel.80 Diese Kritik entzündete sich aber nicht – oder erst nach 1848 – an der Bürgerlichkeit aller oder bestimmter Akteure.81 Die Rekonstruktion des politischen Wissens Büchners hat jedoch gezeigt, dass die Differenzen seiner Überzeugungen schon auf politischer und erst recht auf polittheoretischer und polithistorischer Ebene zu gravierend ausfielen, als dass er als ›Frühkommunist‹ oder ›Neobabouvist‹ zu bezeichnen wäre.82 Auch wenn die Versuche, zum einen das Thema der Sexualität unter den Kategorienapparat einer Kulturpolitik zu zerren, indem auf der Grundlage einer spezifischen Interpretation der Marionszene (I.4) der Autor von Danton’s Tod zu einem »erotischen Revolutionär und revolutionären Erotiker« erklärt wurde und wird,83 oder zum anderen die religionsphilosophischen Fragen nach der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele als Momente einer soziopolitischen Konzeption interpretiert wurden,84 die auch Marx in den 1840er Jahre eine religionspolitische Zeitschrift »Atheismus« planen ließ,85 weitgehend positiv rezipiert wurden,86 – es wird sich zeigen, dass Büchners kulturgeschichtliche Reflexion auf das politische Ende Dantons eines umfassenderen Kategorienkonzepts bedarf als eines polittheoretischen oder kulturpolitischen Erklärungsmodells. Im Folgenden werden einige wichtige, durch wissensgeschichtliche Gehalte geprägte oder auch nur angereicherte Szenen betrachtet. Es wird sich dokumentieren lassen, dass Büchner nicht allein politisches, philosophisches und philosophiehistorisches, sondern auch naturwissenschaftliches Wissen in seinem und durch sein Drama reflektierend gestaltete. Dabei wird nicht nur der Philosophie, sondern auch dem eigentümlichen Thema der Sexualität die ihnen entsprechende Position innerhalb des poetischen Gefüges zugeschrieben werden können.

|| 80 Vgl. u. a. Heine 1976, VII, S. 50ff. sowie Deinet 2007, S. 68f. 81 Vgl. Deinet 2001, S. 221ff. 82 Vgl. meine Ausführungen in Kap. 4. 83 Vgl. hierzu die schon klassische Studie von Grimm 1979, S. 318, deren positive Rezeption bei Oesterle 1992, S. 79 und Milz 2005–08, S. 25–38. 84 Vgl. hierzu u. a. Mayer 1979a, S. 121, oder auch Knapp 32000, S. 125f., für den das Gespräch zwischen Payne und Chaumette (III.1) schlicht eine »Verlängerung der Revolution in die Metaphysik« darstellt, was immer genau das bedeuten mag. 85 Vgl. hierzu Fetscher 1990, S. 331. 86 Vgl. Schmitz 2000.

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6.2 Natur und Geschichte – die Rede St. Justs 6.2.1 Zur Frage der Legitimation revolutionärer Gewalt Eine der seit jeher in der Forschung umstrittenen Passagen des Dramas ist die das Ende der Szene II.7 gestaltende Rede St. Justs, die das durch Robespierres vorhergehende Rede beantragte Todesurteil über die Dantonisten besiegelt. St. Just geht allerdings mit keinem Wort auf den konkreten Fall um Danton und seine Fraktion ein; vielmehr entwirft er eine allgemeine Legitimationstheorie für den Einsatz physischer Gewalt in (innen-)politischen Zusammenhängen, die eine scheinbar zunehmende Skrupulosität gegenüber der Guillotine als politischem Instrument hinwegfegen soll und auch tatsächlich erfolgreich ausfällt. Dieser Legitimation staatlicher Terreur liegt aber keine verteidigungspolitische Konzeption, wie bei Danton, und auch keine stabilitätspolitische Argumentation, wie bei Robespierre, zugrunde, sondern sie basiert auf einer allgemeinen Geschichtsanthropologie, die sich einer Parallelisierung der Menschheitsgeschichte mit naturevolutionären Prozessen bedient: S t . J u s t. Es scheint in dießer Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort Blut nicht wohl vertragen können. Einige allgemeine Betrachtungen mögen sie überzeugen, daß wir nicht grausamer sind als die Natur und als die Zeit. Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen, der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Conflict kommt. Eine Veränderung in den Bestandtheilen der Luft, ein Auflodern des tellurischen Feuers, ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer Wassermasse und eine Seuche, ein vulkanischer Ausbruch, eine Ueberschwemmung begraben Tausende. Was ist das Resultat? Eine unbedeutende, im großen Ganzen kaum bemerkbare Veränderung der physischen Natur, die fast spurlos vorübergegangen seyn würde, wenn nicht Leichen auf ihrem Weg lägen. Ich frage nun: soll die moralische Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen, als die physische? Soll eine Idee nicht eben so gut wie ein Gesetz der Physik, vernichten dürfen, was sich ihr widersezt? Soll überhaupt ein Ereigniß, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur d. h. der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie er in der physischen Vulcane oder Wasserfluthen gebraucht. Was liegt daran ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution streben? Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie nur nach Jahrhunderten zählen, hinter jedem erheben sich die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den einfachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Athem kommen?87

St. Just wird im weiteren Verlauf der Rede noch eine schlusslogische und eine mythologische Legitimation der Schreckensherrschaft liefern, die den Krieg und die Guillotine zu gerechtfertigten und wirksamen Instrumenten der revolutionären

|| 87 MBA III.2, S. 4527–4620.

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Menschheitserneuerung erklären. Anders als für Danton, dem der drohende Kriegsverlust zum Zielargument für die Septembermorde gereichte,88 ist das Telos St. Justs kein politisches, sondern ein anthropologisches, für das der Krieg und die Guillotine als ebenso notwendige wie angemessene Mittel gelten: die Erneuerung der Menschheit. Nicht nur die Rede überhaupt, sondern vor allem die Verwendung naturevolutionärer Begriffe und Grundsätze hat die Forschung nachhaltig beschäftigt.89 Dabei stand und steht die Frage des politischen Nutzens sowie der ethischen Legitimität von Gewaltanwendung in revolutionären Zusammenhängen im Zentrum der Kontroversen. Tatsächlich hatte sich Büchner selbst – wie auch sein Danton, sein Robespierre und sein St. Just – zur Notwendigkeit der Anwendung von Gewalt in bestimmten politischen Prozessen bekannt: Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen.90

Weil auch Büchner also zweifellos die Gewalt als Instrument revolutionärer Politik befürwortete,91 nutzte die Forschung die Vergleiche der politischen Revolution mit natürlichen Katastrophen und Umwälzungsprozessen als Indiz für die Annahme, auch St. Just entfalte hier eine solche Legitimationstheorie des Schreckens, wie sie Büchner vertreten habe: St Just’s speech as a whole cries out for an interpretation in the overall context of Büchner’s scientific thinking.92

|| 88 Vgl. hierzu die Argumentation seiner Frau Julie in II.5; MBA III.2, S. 4113ff.. 89 Vgl. u. a. Landau 31973a [EA 1909], S. 26; Viëtor 1949, S. 142ff.; Mayer 1972, S. 220; Martens 3 1973a, S. 424–431; Zons 1976, S. 298–306; Jancke 31979, S. 180ff.; Wittkowski 1978, S. 232ff.; Sengle 1971–1980 III, S. 305; Eibl 1981, S. 418; James 1982, S. 60ff.; Kahl 1982, S. 107f.; Dedner 1985, S. 369– 373; Wender 1988, S. 175–207; Nagel 1988/89, S. 83–90; Vollhardt 1988/89, S. 68f.; Voges 1990, S. 21ff.; Werner 1992, S. 89; Dedner 1992, S. 56–62; P I, S. 545–549; MBA III.4, S. 151–162; Knapp 3 2000, S. 110f.; Müller-Sievers 2003, S. 118ff.; Port 2004, S. 213f.; Bittner 2010, S. 115ff.; Sanna 2010, S. 27ff. u. S. 58; Morawe 2010, S. 301f. sowie insbesondere Morawe 2012b. 90 Brief an die Familie vom 6. April 1833; P II, S. 3669–12/MBA X.1, S. 194–7. 91 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 4. 92 James 1982, S. 63; vgl. hierzu der Sache nach auch schon Landau 31973a, S. 26 sowie – wenngleich verzweifelter – Wender 1988, S. 177: »Es fällt mir schwer zu glauben, Büchner habe solche Metaphern und die darin zum Ausdruck kommende Geschichtsauffassung schlechthin verworfen.« Von solchen Skrupel dagegen völlig frei Morawe 2012b, S. 52: »Es kann nicht den geringsten Zweifel geben, daß die in der Konventsrede gesetzten ›Interpunctionszeichen‹, die den Ausbruch der Revolution, den Sturz der Monarchie und den Kampf gegen die Geldaristokratie programmieren, Büchners eigene gewesen sind.«

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Philologisch untermauert wurde und wird diese Kontextualisierungsthese mit Hinweisen auf eine enge Anbindung dieser Verknüpfung von nature morale und nature physique an d’Holbachs im Système de la Nature entwickelte »Widerlegung der Illusion, daß der Mensch in der Natur Vorrechte genieße«.93 Thomas Michael Mayer hat, von der Forschung begeistert gefeiert,94 neben d’Holbach Anklänge an de Sade vernehmen wollen,95 weshalb die gesamte Argumentationsbewegung dem Materialismus Büchners nahestehe.96 Wie sein Autor versuche sich St. Just an der Entfaltung einer ›Naturgeschichte der Gesellschaft‹: »In Danton’s Tod erscheint die Revolution als Teil der Naturgeschichte.«97 Mit entgegengesetzter Interpretation – nämlich der These, Büchner habe sich kritisch von der Revolution und ihrer geschichtsphilosophischen Ideologie distanziert – hatte auch Wolfgang Martens eine materialistische Anmutung in der Argumentation St. Justs vernommen: Die menschliche Geschichte wird bedenkenlos den Prozessen der Natur gleichgesetzt, der Mensch als physische Größe, als Bestandteil der Körperwelt, zum verfügbaren Objekt gemacht.98

Es wurde bei der Entfaltung und Verifikationsarbeit dieser Thesen jedoch kaum darauf geachtet, in welches genaue – logische und ontologische – Verhältnis Büchners St. Just die Erscheinungen natürlicher und gesellschaftlicher Revolutionen stellte. Sieht man nämlich genauer zu, lässt sich leicht erkennen, dass die für eine materialistische Grundlegung seiner Argumentation erforderliche Ableitung der politischen Erscheinungen aus den natürlichen Prozessen nicht zu entdecken ist. Schon Gerhard Jancke hatte an Martens Interpretation kritisch bemerkt: Das ist nicht ganz richtig. Keineswegs wird die Geschichte als identisch mit der Natur betrachtet; beide Bereiche werden nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt miteinander verglichen:

|| 93 Vgl. MBA III.4, S. 151f. auf der Grundlage von Mayer 1979c, S. 344f. und Dedner 1985, S. 372; differenzierter ausgeführt bei Morawe 2012b, passim 94 Vgl. Wender 1988, S. 176; ähnlich auch Morawe 2012b, S. 15ff. 95 Mayer 21985, S. 74. 96 Zu einer Kritik an dieser These vgl. Eibl 1981, S. 418Anm. 14. Diese Widerlegung blieb aber weitgehend unerkannt. Port 2004, S. 213 behauptet ohne jede weitere Prüfung: »Die Büchner-Forschung hat als diskursiven Bezugspunkt dieser Argumentation den Aufklärungs-Materialismus, insbesondere d’Holbachs ›Système de la nature‹ und seine Fatalitätslehre plausibilisieren können.« Es ist dies ein prägnantes Beispiel für den kritiklosen Umgang mit Ergebnissen der Marburger BüchnerForschung. Eibls Kritik, deren argumentative Leistung es allererst zu überprüfen gilt, wird bei Port nicht einmal mehr erwähnt; Gleiches gilt für die Arbeiten von Morawe 2012b, Morawe 2013b und Morawe 2014a. 97 Rößer 2000–04, S. 187; zu Büchners angeblicher Suche nach einem ›Naturgesetz der Geschichte‹ vgl. u. a. Müller-Seidel 1968, S. 209; Grab 1987, S. 357; Frank 1998, S. 590; Morawe 2012b, S. 23ff. 98 Martens 31973a, S. 428.

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in beiden Bereichen wirken objektive, d. h. über die Individuen hinweg sich durchsetzende Gesetze; während die Gesetze der Natur physikalische Gesetze sind, wirken in der moralischen Natur durchaus Ideen, d. h. die Vernunft.99

Eine genaue Textanalyse kann bestätigen, dass Jancke gegen die unterschiedlich begründeten Thesen von einem Materialismus der St. Justʼschen Argumentation zu Recht darauf hinweist, dass der Redner keinerlei Ableitungs- bzw. materiales Identitätsverhältnis zwischen der nature morale und der nature physique behauptet.100 Vielmehr entwickelt St. Just auf der Grundlage der Kategorie eines Natur und Kultur übergreifenden »Weltgeistes« das mehr als politisches Postulat denn als metaphysische Demonstration formierte Argument einer strukturellen Isomorphie der Entwicklungsformen beider Sphären. Natur- und Menschheitsgeschichte werden einer Fortschrittsteleologie unterworfen, der gegenüber der einzelne Mensch bedeutungslos wird.101 St. Just formuliert mithin eine klassisch totalitäre Wertehierarchie zwischen Allgemeinem und Besonderem. Zudem gilt für dieses natürliche und kulturelle Evolutionsmodell, dass es sich nach unterschiedlichen Tempi vollzieht, die proportional zur Menge der Opfer bestimmt werden können. Ist diese ganz immanente Analyse der Argumentationslogik und Systematik der Aussagen St. Justs erkannt,102 dann lässt sich über eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung die Stellung dieser Passage im Gesamtgefüge des Dramas leichter beurteilen.

6.2.2 Evolution der Natur versus Geschichte der Gesellschaft Schon die genauere Betrachtung der allgemeinen Systematik und besonderen Evolutionstheorie der Naturforschungen Büchners einerseits sowie seines politischen Wissens andererseits hat gezeigt, dass eine substanzielle Differenz zwischen seinen Vorstellungen einer Naturevolution und seinen Überlegungen zu einer Geschichte der Gesellschaft festzustellen war.103 Die Logik der Naturevolution, die sich – bei allen Katastrophen und Umwälzungen – als sukzessiver Ausdifferenzierungspro-

|| 99 Jancke 31979, S. 181. 100 Vgl. u.a. die zeitgenössische Charakterisierung des Materialismus durch diese Ableitung der natur morale aus der natur physique bei Spurzheim 1820, S. 90ff. 101 Von solchen Feinheiten, die allerdings für eine Interpretation der Rede St. Justs essentiell sind, muss eine jede Empörungshermeneutik abstrahieren (so Morawe 2012b, S. 11), der es schon hinreicht, eine ›Verbindung‹ zwischen Natur und Geschichte zu erkennen, um einen Materialismus zu behaupten. Nicht nur die komplexen Formen des Materialismus im 18. und 19. Jahrhundert werden dadurch unproduktiv und verfälschend amalgamiert, auch die durchaus anders begründete Vermittlung von Natur und Geschichte in der Romantik müssen unbeachtet bleiben. 102 Was bis zu Morawe 2012b nicht der Fall ist. 103 Vgl. hierzu Stiening 2004, meine Ausführungen in Kap. 3 und 4 sowie Roth 2016.

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zess einer hierarchisch geordneten Naturstufenleiter realisierte, und die Logik der Gesellschaftsgeschichte, innerhalb derer bestimmte Entwicklungsstufen vollständig überwunden werden konnten und sollten, waren von Büchner einer grundlegend unterschiedenen Systematik unterworfen worden, und daher weder wissenschaftstheoretisch, noch systematisch, noch gar politisch zu vermitteln.104 Büchners Gießener Philosophiedozent Joseph Hillebrand hatte diesen Gedanken auf den Begriff gebracht: Daher waltet im Menschen die Freiheit. Er ist somit keine höhere Potenz der Natur, sondern von dieser wesentlich unterschieden, indem die Natur für ihn ist, seines eigenen Daseyns nothwendige Voraussetzung. Daher kann denn auch der Mensch nicht als ein Produkt unterer und unvollkommener Daseynsstufen betrachtet werden, wie es die Naturphilosophie vielfach versucht hat, eine Ansicht, welche weder durch die Erfahrung bestätiget wird, noch sich im Gedanken bewährt.105

Büchners strikte Trennung zwischen theoretischer Vernunft und damit Naturtheorie einerseits und praktischer Vernunft und damit Ethik, Politik und Geschichte andererseits, die sich sowohl an seiner Naturphilosophie als auch an seinen politischen Vorstellungen ablesen lässt, stellt ihn auf wissens- und wissenschaftsgeschichtlicher Ebene in der Nähe eines friesschen Kantianismus; ein Eindruck, der durch die anvisierte Rechtstaatlichkeit, auf die Büchner gemäß einem »absoluten Rechtsgrundsatz« die durch Revolution zu erreichende Gesellschaftsordnung fundieren wollte, noch verstärkt wurde.106 Es lässt sich also mit Hilfe des Briefes von Anfang Juni 1836 an Karl Gutzkow zeigen,107 dass Büchner selbst einer kategorialen Engführung von Natur- und Gesellschaftsgeschichte ablehnend gegenüberstand. Eindeutig sind die Verlaufsformen und Gesetze der Naturgeschichte in der von Büchner vertretenen Erklärungsvariante so organisiert, dass sie der Entwicklungsstruktur der Politik- und Sozialgeschichte entgegenstehen. So soll nach Büchner die »abgelebte moderne Gesellschaft [...] aussterben«,108 ein Prozess, der innerhalb seiner Naturtheorie unmöglich ist. Im Rahmen der von dem Naturphilosophen Büchner konturierten präformationistischen, gleichwohl realgenetischen Evolutionskonzeption entsteht zwar aus jeder Stufe der Naturleiter die jeweils höhere und zwar so, dass in ihr alle Besonderheiten der höheren vollständig angelegt sind, zugleich geht aber jene vorherige Stufe keineswegs nach Ausbilden der höheren zugrunde.109 Schon Friedrich Gaede hat gezeigt, dass – weil der Prozess der Ausdifferenzierung höherer, komplexerer Natur-

|| 104 Es ist diese Differenz, die James (1982, S. 58–69) übersieht. 105 Hillebrand 1830, S. 160. 106 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4. 107 P II, S. 439f./MBA X.1, S. 92f. 108 P II S. 44021/MBA X.1, S. 9335. 109 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 110ff.

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formen aus einfacheren, basaleren Stufen bei Büchner durch das begriffliche Verhältnis von Substanz und Modifikation gefasst wird – noch im Menschen alle vorherigen Evolutionsstufen nachweisbar bleiben.110 In Büchners Natur kann mithin überhaupt nichts aussterben. Was im Prozess der natürlichen Evolution erreicht ist, bleibt bestehen und entwickelt aus sich heraus höhere Formen, denen es als Substanz erhalten bleiben muss. Trifft diese grundlegende Differenz zwischen Natur und Geschichte für Büchner zu, dann können und dürfen Prozesse der einen, der Natur, nicht zur Legitimation der anderen, der Gesellschaftsgeschichte, herangezogen werden. Wird dies dennoch getan, wie bei St. Just, dann muss man nach Büchner von falschem Bewusstsein, von Ideologieproduktion sprechen.111 Um dies zu erkennen, bedarf es keineswegs eines Rekurses auf die »Gesamtkonstellation des Stückes« oder auf die nur schwer objektivierbare »Sympathieverteilung auf die Figuren«,112 sondern eines wissensgeschichtlichen Rückgriffs auf Büchners eigene Natur- und Geschichtstheorie. Wenn aber St. Just – neben Robespierre und Danton – als »eine der Schlüsselfiguren des Dramas« zu bezeichnen ist,113 stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Rede, von der man seit Langem weiß, dass sie nicht den historiographischen Quellen des Autors entstammt.114 Auch der mit großem Aufwand, allerdings nur geringem Ertrag, weil mäßiger Evidenz geführte Nachweis, der Rede St. Justs liege ein Reisebericht Joseph Görres als Quelle zugrunde,115 konnte das abstrakte Gegenüber der Thesen zur Stellung der Gehalte jener Rede im Gesamtgefüge des Dramas nicht überwinden: War sich Herbert Wender in dem Glauben sicher, dass Büchner die von seiner Figur entworfene Geschichtsauffassung nicht verworfen haben könne,116 wie auch Morawe davon überzeugt ist, »authentischen ›Büchner‹« zu hören,117 so zeigte sich der ›Entdecker‹ jener Quelle, Ivan Nagel, von »Büchners Widerwillen

|| 110 Gaede 1979, S. 42–52, spez. S. 47. 111 Vgl. auch Neuhuber 2009, S. 69. 112 Vgl. jedoch P I, S. 546: »Die Gesamtkonstellation des Stücks und die Sympathieverteilung auf die Figuren lassen keinen Zweifel an Büchners kritischer Distanz gegenüber St. Justs Rechtfertigung des menschenverachtenden Terrors im Namen einer quasinaturgesetzlichen historischen Notwendigkeit.« 113 Knapp 32000, S. 110 sowie Morawe 2012b. 114 Vgl. schon Viëtor 1949, S. 142 sowie Wender 1988, S. 175ff. 115 Vgl. Nagel 1988/89, S. 83–90; übernommen wurde die These vom Quellencharakter des görreschen Textes in MBA III.3, S. 405ff. und Funk 2002, S. 154f. Eine Analyse der Systematiken beider Texte hätte allerdings gut getan, denn Görres referiert eine Konzeption, nach der Geist und Natur gleichsam naturphilosophisch durch Über- und Unterordnung vermittelt werden, während Büchners St. Just von gleichgeordneten Strukturanalogien unter der Ägide des Weltgeistes spricht; vgl. hierzu Neuhuber 2009, S. 69. 116 Wender 1988, S. 177. 117 Morawe 2012b, S. 99.

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gegen die Natur-Geschichte-Analogie« ebenso begründungslos überzeugt.118 Ausgetauscht werden dabei allerdings lediglich Glaubensfragen auf der Grundlage methodisch fragwürdiger Aktualisierung. Eine mehr systematisch kontextualisierende Forschung hätte nicht nur die spezifische Vermittlung von Natur- und Staatsmodellen der politischen Romantik erkennen können, innerhalb derer Görres neben Adam Müller oder Friedrich Schlegel nur eine weniger bedeutende, weil begründungtheoretisch unbedarftere Rolle spielte,119 sondern auch und in besonderem Maße die Rolle Georges Cuviers oder anderer Naturforscher120 im Hinblick auf eine Analogisierung natürlicher und gesellschaftlicher Revolutionen zu berücksichtigen.121 Der Pariser Naturgeschichtler hatte nämlich in der Vorrede seines Discours sur les Révolutions de la Surface du Globe in Anspruch genommen, untersuchen zu können, »jusqu’à quel point l’historie civile et religieuse des peuples s’accorde avec les résultats de l’observation sur l’historie physique de la terre«.122 Büchners systematisch begründete Gegnerschaft zu Cuviers Naturforschung,123 die im Zusammenhang seines naturwissenschaftlichen Wissens ermittelt werden konnte,124 sowie seine deutliche Frontstellung gegen die politische Romantik und deren restaurative Tendenzen ermöglicht ganz ohne Rekurs auf einfühlungshermeneutische Prinzipien125 die wissensgeschichtlich fundierte Feststel-

|| 118 Nagel 1988/89, S. 85. 119 Vgl. hierzu die exzellente, explizit auf das gebrochene Revolutionsverhältnis Görres’ eingehende Studie von Peter 2007, S. 47–88. 120 Vgl. hierzu die Ausführungen von Lambert Quételet zu einer »Sozialen Physik« in Pethes, Griesecke, Krause u. Sabisch (Hg.) 2008, S. 391–398. 121 In nur vagen Andeutungen ohne Textnachweis taucht Cuvier im Kommentar der MBA zu jener Szene auf, vgl. MBA III.4, S. 152f. 122 Cuvier 1825, S. 6, vgl. auch Rieppel 2001, S. 143; dass Büchner diese Korrelation von Naturrevolutionen in ihren sintflutartigen Katastrophen und den politischen Revolutionen durch Cuvier bekannt war, zeigt noch Dantons sarkastisches Echo auf diese Konzeption: »Die Sündfluth der Revolutionen mag unsere Leichen absetzen wo sie will, mit unsern fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können« (MBA III.2, S. 753–5). Der eindeutig cuviersche Hintergrund, den Poschmann gar nicht (vgl. P I, S. 577) und die MBA (III.4, S. 224f.) mit dem Brockhaus kommentiert, lässt sich nachlesen bei Müller 1990, S. 281–299. 123 Insofern ist der Versuch Eibls (1981, S. 418), St. Just über Duvernoy zu erläutern, durchaus überzeugend, wenngleich der kritische Impetus – also gegen Cuvier und Duvernoy – zu betonen bleibt, dies allerdings nicht wegen deren Idealismus, sondern vielmehr aufgrund der methodologischen und systematischen Instabilität ihrer typologischen Naturforschung sowie der Übertragung naturgeschichtlicher Kategorien auf gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungsformen. 124 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 33 sowie meine Ausführungen in Kap. 3. 125 Vgl. hierzu das oben zitierte Argument Poschmanns, das von der »Sympathieverteilung an die Figuren« (P I, S. 546) spricht; diese einfühlungshermeneutische Haltung wird übrigens zumeist mit Büchners eigener Poetik begründet und selbst von Politikhistorikern vertreten, vgl. Mayer 1979a, S. 66, bei dem man sich in Büchners Situation zur Zeit der Abfassung des Hessischen Landboten einfühlen soll. Bei Beise (2010, S. 60) ist das auf Lukács zurückgehende Sympathie-Argument zu

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lung, dass St. Justs Rede eindeutig einer kritischen Intention des Autors zu verdanken ist.126 Büchner ging es mit dieser in weiten Teilen frei konzipierten Rede um eine Kritik an prinzipientheoretischen Begründungen revolutionärer Gewalt, die zu dergestalt abstrakten Ideologien mutieren, dass sie eine Betrachtung und Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls – auf den St. Just, wie gesehen, gar nicht zu sprechen kommt – übergehen können bzw. verhindern. St. Justs Geschichtsanthropologie, die aus der Objektivität natürlicher Gesetze per analogiam die Legitimität revolutionärer Gewalt bezog, lieferte die für die 1790er Jahre127 und verstärkt noch für die 1830er Jahre128 gültige Konzeption, der die tödliche Wirkmacht nicht etwa der Rationalität überhaupt,129 wohl aber bestimmter ihrer Formen zukommen kann: Ist die Übertragung natürlicher Kategorien auf politische Prozesse nach Büchner wissenschaftstheoretisch falsch, so ist eine Bindung politischer Entscheidungen an abstrakt allgemeine Prinzipien weltanschaulich verzerrend und damit im Kern unpolitisch. Sowohl Dantons als auch – wie sich noch zeigen soll – Robespierres politisch-praktische Begründung für die Anwendung innenpolitischer Gewalt erweist sich gegenüber dieser Gewaltideologie als pragmatisch im Sinne eines Politikverständnisses, das Büchner selber im Hinblick auf revolutionäre Gewalt vertrat.130 Gegen die lange wirksame These, Büchner habe ein »Recht der Revolution« vertreten,131 ist daran zu erinnern, dass er zeitweilig eine systemstürzende politische Veränderung auch ohne Revolution für möglich hielt.132 Eine Legitimation des Einsatzes politischer Gewalt zur Erzwingung eines Staates, der nach dem Prinzip eines »absoluten Rechtsgrundsatzes« zu organisieren ist,133 bedarf der politischen Argumente, womöglich gar einer natur- oder vernunftrechtlichen Geltungstheorie, nicht aber abstrakter Anthropologie. Es wird sich zeigen, dass Büchner die hier – via negatio-

|| einem Interesse geronnen, das wir angeblich mehr für »die Schicksale Dantons und seiner Freunde hätten […] als für ihre Gegner«. 126 Vgl. hierzu in Ansätzen Stiening 2006 sowie Stiening 2012. 127 Vgl. hierzu Proß 1978, passim. 128 Zu den diversen Formen allgemeiner Geschichtsanthropologie und -philosophie in der 1830er Jahren vgl. Rohbeck 2004, S. 52ff. u. S. 85ff. 129 So in der Tradition der kritischen Theorie Nagel 1988/89, S. 85, der in der »Gewaltvergötzung« der Jakobiner (die er allerdings nicht nachweist, sondern offensichtlich an Büchners St. Just, der allerdings eher die Romantiker bzw. Cuvier meinte, ermittelte) eine ›entfesselte Aufklärung‹ am Werke sieht. Dass solcherart weltanschaulich überlagerte Hermeneutik ungebrochene Aktualität genießt, zeigt sich an Bittner 2010, S. 116f. An Büchners Drama ist diese These nicht zu verifizieren. 130 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4. 131 Vgl. insbesondere Grab 1985, S. 76f.; Benn 21979, 149ff.; Knapp 32000, S. 109; vergleichbar auch Morawe 2012b, S. 50ff. 132 Vgl. den Brief an die Eltern vom 5. Mai 1835; P II, S. 40410–12/MBA X.1, S. 6013f.. 133 So Büchners anvisiertes politisches Ziel, formuliert im Brief an Gutzkow von Juni 1836; P II, S. 44021/MBA X.1, S. 9330; vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4.

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nis einer Kritik an der (cuvierschen) Legitimationsideologie St. Justs – gestaltete Einsicht, dass politische Entscheidung nur nach politischen Kriterien und mit politischen Argumenten zu begründen und zu legitimieren sind, für die Kontroverse zwischen Danton und Robespierre schon berücksichtigte; deren Auseinandersetzung gestaltet sich auf der Grundlage dieser Erkenntnis mithin komplizierter und weist auf nicht nur legitime, sondern notwendige Voraussetzungen des Politischen hin. Bevor zu einer Betrachtung dieser Kontroverse überzugehen ist, soll anhand der philosophischen Gespräche aufgezeigt werden, dass Büchner sich darüber im Klaren war und präzise in seinem Drama gestaltete, dass politische Entscheidungen auch Konsequenzen mit sich bringen, die das kategoriale Feld der Politik weit übersteigen und dadurch auch die Grenzen des Wissens ausmessen.

6.3 Gottesbeweise und die Unsterblichkeit der Seele: Das Philosophengespräch Dass Büchner schon vor seiner Entscheidung von 1836, Philosophiegeschichte an der Universität zu lehren, einschlägige Kenntnisse der Philosophie, vor allem derjenigen Spinozas besaß, zeigt eine Reihe von Szenen und Szenenelementen in Danton’s Tod. Zu den berühmtesten Passagen mit philosophischem Gehalt zählt das so genannte Philosophengespräch zu Beginn des 3. Aktes. Die Szene befindet sich in der Abfolge also unmittelbar nach der soeben betrachteten Rede St. Justs und bildet mit ihr das sachlich kontrastreiche, raum-zeitliche Zentrum des Dramas. Vor allem Inhalt seien zunächst die äußeren Bedingungen dieses zwischen Thomas Payne, Pierre-Gaspard Chaumette, Louis-Sébastien Mercier und Marie-Jean Hérault de Séchelles geführten Gespräches betrachtet: Alle vier sind Insassen des berüchtigten Luxemburg-Gefängnisses, in dem sie auf ihre Hinrichtung warten. Im Angesicht des zu erwartenden Todes überkommen Chaumette Ängste hinsichtlich der Wahrheitsgewissheit des von ihm stets vertretenen Atheismus, kurz: Chaumette ist »ganz unheimlich zu Muth«,134 weil er befürchtet, nach dem Tode doch einer Strafe Gottes ausgesetzt zu sein, die für ihn besonders drastisch ausfallen dürfte, da er »als schreckenerregender Atheist und wütender Initiator der Entchristianisierung bekannt war«.135 Unter vorläufiger Abstraktion von der komödienartigen Ironisierung des Gespräches soll zunächst der rationale Gehalt der Kontroversen um einen Beweis der Inexistenz Gottes rekonstruiert werden, indem sowohl die Argumentationsbewegung als auch die Systematik der philosophischen Streitfrage detailliert betrachtet

|| 134 MBA III.2, S. 4723. 135 So P I, S. 550; zu Chaumette vgl. u. a. Furt u. Ozouf 1996, I, S. 605; Forssmann 1992, S. 136 sowie Israel 2017, S. 545ff.

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wird. Neben der Tatsache der erheblichen Sachkenntnis des Autors wird sich zeigen, dass das eigentliche Telos der Debatte durch die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ausgebildet wird. Erst im Anschluss daran kann die Art und Funktion des Humors dieser Szene erörtert werden.

6.3.1 Deus non est causa rerum? Chaumette bittet also Payne, ihm nochmals die Gültigkeit der Beweise von der Inexistenz Gottes vorzuführen, und dieser setzt bereitwillig zu einem ersten Beweis des Atheismus136 an: »Es gibt keinen Gott«, denn, so Payne, zum Begriff Gottes gehört notwendig die Funktion eines Schöpfers der Welt – philosophisch des Grundes ihrer Existenz –, zugleich aber ist im Begriff der Schöpfung enthalten, dass sie einen Anfang haben muss; daher müsste jener Schöpfergott die ihm zukommende Ewigkeit aufgegeben haben, um in einem bestimmten Moment die Welt zu erschaffen.137 Damit aber – so Payne weiter – müsste der ewige Gott sich verändert haben, was seiner begrifflichen Bestimmung widerspricht. Die Vorstellung eines Schöpfergottes ist mithin aufgrund der kontradiktorischen Ewigkeit-Zeit-Dichotomie des Schöpfungsgedankens zugleich notwendig und widersprüchlich. Weil aber – und dies ist eine nicht explizierte Prämisse jener Demonstration – Entitäten, die nur durch widersprüchliche Bestimmungen erfasst werden können, gar nicht existieren,138 kommt Payne zu folgendem komplexen Schluss: P a y n e. […] Gott kann also die Welt nicht geschaffen haben. Da wir nun aber sehr deutlich wissen, daß die Welt oder daß unser Ich wenigstens vorhanden ist und daß sie dem Vorhergehenden nach also auch ihren Grund in sich oder in etwas haben muß, das nicht Gott ist, so kann es keinen Gott geben. quod erat demonstrandum.139

|| 136 Zu den bisherigen Kommentaren und Interpretationen dieses Gespräches vgl. Viëtor 1949, S. 140–142; Mayer 1972, S. 353f.; Martens 31973, S. 408f.; Kobel 1974, S. 94–137; Zons 1976, S. 345– 348; Kahl 1982, S. 112ff.; Taylor 1990, S. 60ff.; Werner 1992, S. 94ff.; Forssmann 1992, passim; P I, S. 550–554; Reddick 1994, S. 154–166; Taylor 1995, S. 231–246; Osawa 1999, S. 120–132; Knapp 3 2000, S. 123ff.; MBA III.4, S. 163–172; Stiening 2002, S. 51–57; Härle 2008, S. 367–388; Beise 2010, S. 85f.; Morawe 2013b, S. 167ff. sowie insbesondere Taylor 2012, S. 65–90. 137 MBA III.2, S. 4724–486. 138 Vgl. hierzu Spinoza 1999, S. 22 (ETH. I, prop. 11, demo II.): »Cuiuscunque rei assignari debet causa seu ratio, tam cur existit quam cur non existit. Ex. gr. si triangulus existit, ratio seu causa dari debet cur existit; si autem non existit, ratio seu causa dari debet, quae impedit quominus existat, sive quae ejus existentiam tollat. […] Ex. gr. rationem, cur circulus quadratus non existat, ipas ejus natura indicat; nimirum, quia contradictionem involvit.« Hvhb. von mir. 139 MBA III.2, S. 486–11.

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Payne führt mithin seinen Beweis der Inexistenz Gottes durch eine Widerlegung des kosmologischen Gottesbeweises durch,140 wobei er zwei Prämissen voraussetzt, die den philosophiegeschichtlichen Kontext des Beweisganges gut belegen können: Wie seit Thomas von Aquin, verschärft seit Descartes, Hobbes und Spinoza wird der Widerspruch zum konstitutiven Prädikat der Inexistenz141 und wie bei beiden Rationalisten ist die Wahrheitsgewissheit der Existenz der Welt – wenigstens aber des cogito – empirisch vorausgesetzt.142 Was Hegel an der Kohärenz der Metaphysik Spinozas kritisierte, dass sie trotz prätendierter restloser Ableitung das Besondere empirisch auflese, weil es aus der unendlichen Substanz nicht deduziert werde,143 macht sich Payne für einen Beweis der Inexistenz Gottes zunutze: Die durch die Bestimmung der Ewigkeit von der Zeitlichkeit endlicher Existenz substanziell unterschiedene Gottesinstanz kann nicht als deren Grund bzw. Ursache in Anspruch genommen werden. Weil die Welt zeitlich ist, kann sie einen als ewig definierten Gott nicht zu ihrer Ursache haben, sodass er als essentiell durch seine Schöpfung bestimmte Entität für die Welt oder das Ich inexistent sein muss. Payne bedient sich mithin der Inkohärenzen rationalistischer Metaphysik, um seinen Atheismus zu begründen.144 Nun hatte Payne aber an einer Stelle dieser Ableitung eine Alternative aufgezeigt, die er im weiteren Verlauf nicht wieder aufgreift: Zentral für den bisherigen Beweis der Inexistenz Gottes ist die Annahme, dass die Schöpfung zeitlich ist, d. h. dass sie einen Anfang hat und damit im ewigen Wesen Gottes während der Schöp-

|| 140 Insofern ist die begriffliche Bestimmung des durch Payne widerlegten Gottesbeweises als ontologischer durch Forssmann (1992, S. 139) schlicht falsch. 141 Vgl. hierzu Stiening 2002a, S. 67f. 142 So zu Recht Osawa 1999, S. 123. 143 Vgl. insbesondere Hegel 1986, XX, S. 193–197. 144 Daher ist auch die These der MBA (III.4, S. 163f.), Paynes Gotteswiderlegung dürfte »durch Epikur angeregt sein« – gemeint ist durch eine Lektüre der philosophiegeschichtlichen Darstellung der Theorie Epikurs bei Tennemann (1798–1819, III, S. 347–432) durch Büchner, die an Exzerpten belegbar ist (vgl. MBA IX, S. 466–473) – nicht zu verifizieren. Zwar ging es laut den Aufzeichnungen Büchners aus Tennemann auch Epikur um die Dekonstruktion einer schöpferischen Gotteinstanz: »Gegen die Bildung des Universums durch eine G o t t h e i t streitet die Unvollkommenheit der Welt und das Wesen Gottes. Denn welche Ursache hätte das seelige, vollkommne Wesen bestimmen können, die Welt zu schaffen?« (MBA IX, S. 46926–29). Doch verbindet Epikur diesen Gedanken der göttlichen Funktionslosigkeit bei der Schöpfung der Welt ausdrücklich nicht mit einem prinzipiellen Atheismus. In den Aufzeichnungen Büchners heißt es dazu: »Epicur gebraucht die Theologie zur Befestigung einiger Hauptsätze, daß die Welt keine verständige Ursache habe, daß es daher auch keine Vorsehung gebe u. daß daher alle Furcht vor d. Göttern thöricht sey. Er sucht d. Glauben an Gott nicht zu vernichten, sondern ihn zu entwaffnen und unfruchtbar zu machen. Der Beweis für das Daseyn der Götter wird aus der Allgemeinheit dießes Begriffs hergenommen, er ist ein W e r k d e r N a t u r .« (MBA IX.1, S. 47115–21). Ebendieses für Epikur zurückgewiesene Ziel, den Glauben zu vernichten, verfolgt aber Payne. Dessen Atheismus ist also keineswegs nach Büchners Epikur-Bild geformt.

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fung eine Veränderung hätte bewirken müssen, was seiner Bestimmung widerspricht. Payne hatte aber auch angedeutet, dass auch die Schöpfung »ewig, wie Gott« sein könne,145 womit das zentrale Argument seines ersten Beweises zerstört wäre; genau diese Alternative greift nun Mercier auf und nötig Payne damit zu weiteren Erläuterungen: M e r c i e r. Halten Sie, Payne, wenn aber die Schöpfung ewig ist?146

Die zunächst ganz theologische These einer ewigen Schöpfung, die in der zeitgenössischen Theologie u.a. von Schleiermacher historisch und systematisch reflektiert wurde,147 wird von Payne erneut auf der Grundlage von Begriffen, Kategorien und Grundsätzen der rationalistischen Philosophie beantwortet: Selbst wenn die Schöpfung ewig sein sollte, gibt es keinen Gott, weil dieser dann mit dieser Schöpfung identisch sein müsste: die Welt wäre »Eins mit Gott«, ein Gedanke, der in der berühmten Formulierung Spinozas vom Deus sive Natura zum Ausdruck kommt.148 Im Rahmen dieses immanenten metaphysischen Monismus, den Payne mit der Namensnennung Spinozas direkt aufruft, wären jedoch alle Elemente der Welt mit diesem Gott identisch, auch jedes »Zahnweh« und jeder »Tripper«. Diese Vorstellung eines ›göttlichen Trippers‹ impliziere jedoch eine Konzeption, die der »himmlischen Majestät« Gottes – und jenes Prädikat bedeutet schon an dieser Stelle die Substanzkategorie der Vollkommenheit – widerspricht.149 Allerdings hatten Descartes und Spinoza diese logisch und theologisch desaströse Konsequenz vermieden: So hatte Descartes alle mit Negativität behafteten Entitäten im Hinblick auf diese negativen Eigenschaften als Folgen einer Teilhabe am Nichts interpretiert,150 zwischen welchem und der göttlichen Vollkommenheit die endlichen Dinge stünden; Spinoza hatte dagegen dieses cartesische Modell überbietend alle endlichen Dinge zu »auxilia imaginationis« erklärt,151 die allererst sub specie aeternitatis in ihrer Wahrheit erkannt werden könnten. Warum also Paynes Überlegung zu Zahnweh und Tripper als Produkten der göttlichen Vollkommenheit für die Diskutanten ein ausreichender Beleg für die Inexistenz Gottes ist, wird nicht sofort ersichtlich; Mercier lässt denn auch nicht locker und behauptet:

|| 145 Dass Payne diese Alternative selber angedeutet hatte, übersieht Osawa 1999, S. 128f. 146 MBA III.2, S. 4814. 147 Vgl. Schleiermacher 1972ff., I, 7.1, S. 145ff. 148 Vgl. u. a. Spinoza 1999, S. 78ff. (ETH. I, Appendix). 149 Alle drei Zitate in MBA III.2, 4815–21. 150 Descartes 1972, S. 45f. 151 Spinoza 1999, S. 50ff. (ETH. I, prop. 21ff.).

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M e r c i e r. Aber eine Ursache muß doch da seyn.152

Dieses erzrationalistische Axiom153 wird von Payne nicht bestritten; doch gibt ihm der Einwand die Möglichkeit, seine Position ausführlicher zu begründen: In der Tradition neuzeitlicher Rationalität und Wissenschaft bestätigt Payne vielmehr Merciers Annahme, dass es eine (erste) Ursache der Welt geben müsse. Er bestreitet jedoch, dass diese Ursache Gott sein könne. Denn sowohl in der christlichen Theologie als auch in der rationalistischen Philosophie wird Gott seit dem Mittelalter die Eigenschaft der »Vollkommenheit« zugeschrieben.154 Dieser Begriff bedeutete nichts anderes, als dass Gott ausschließlich positive Prädikate zugeschrieben werden können, wie Weisheit, Güte oder Macht, und zwar jeweils in der höchstmöglichen Form. Gott galt als »ens perfectissimum«, als allervollkommenstes Wesen, das alles Negative von sich ausschließt.155 So hatte Spinoza definiert: DEFINITIO VI. Per deum intellego ens absolute infinitum, hoc est substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam expimit. EXPLICATIO. Dico absolute infitium, non autem in suo genere, quicquid enim in suo genere tantum infinitum est, infinita de eo attributa negare possumus; quod autem absolute infinitum est, ad ejus essentiam pertinet, quicquid essentiam exprimit et negationem nullam involvit.156

Das Unvollkommene und damit Negativität Einschließende, das Payne mit Zahnweh und Tripper schon exemplifiziert hatte, gehört aber evidentermaßen zur Welt. Um den Beweisgang für Paynes Atheismus an dieser Stelle zu verstehen, muss eine weitere unausgeführte Prämisse berücksichtigt werden: Wie schon im Zusammenhang der philosophischen Skripten Büchners entwickelt,157 galt spätestens seit Descartes als eine grundlegende Prämisse aller Metaphysik,158 dass in jeder Wirkung nur enthalten sein könne, was zuvor in der Ursache war.159 Andernfalls müsse die || 152 MBA III.2, S. 4822. 153 Siehe Spinoza 1999, S. 78 (ETH. I, prop. 36): »Nihil existit, ex cuijus natura aliquis effectus non sequatur.« Zu diesem universalistischen Mechanismus vgl. auch Stiening 2002a, S. 66. 154 Vgl. hierzu u. a. Descartes 1972, S. 296–300. 155 Vgl. hierzu Röd 1992. 156 Spinoza 1999, S. 5ff. (ETH. I, Def. 6); Hvhb. von mir. 157 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 2. 158 Vgl. die präzise Zusammenfassung dieser Argumentation bei Spinoza 1986, S. 26: »Kein Ding und keine wirklich vorhandene Vollkommenheit eines Dinges kann das Nichts oder ein nichtseiendes Ding zur Ursache seiner Existenz haben. […] Alles, was an Realität oder Vollkommenheit in einem Dinge ist, ist formal oder eminent in seiner ersten und zureichenden Ursache. Unter eminent verstehe ich den Fall, wo die Ursache aller Realität der Wirkung vollkommener in sich enthält, als die Wirkung; unter formal den Fall, wo die Ursache die Realität gleich vollkommen enthält. Dieser Grundsatz hängt von dem vorhergehenden ab, denn wenn man annehmen wollte, daß nichts oder weniger in der Ursache sei, als in der Wirkung, so wäre ein Nichts in der Ursache die Ursache der Wirkung.« Vgl. hierzu auch Stiening 2002a, S. 67ff. 159 Vgl. hierzu Tennemann 1798–1819, X, S. 466 u. S. 472–476.

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Wirkung Momente ihrer selbst aus dem Nichts erhalten haben, was aber der ewigen Wahrheit des a nihilo nihil fit widerspreche, mithin keinerlei Geltung beanspruchen könne. Wenn also die Welt, so das paynesche Argument, unbestreitbar Unvollkommenheit aufweise, dann muss sie diese Eigenschaften aus ihrer ersten Ursache erhalten haben; weil Gott aber per definitionem nur Vollkommenheit enthält, kann er die unvollkommene Welt nicht hervorgebracht haben. Als Ursache der Welt, die Gott seinem Begriff nach sein muss, kann er zugleich nicht bewiesen werden; deshalb ist er nach Payne inexistent. Doch Mercier gibt sich noch immer nicht geschlagen, und er wartet mit einem Argument auf, das nicht nur Chaumette zu dem angstvollen Ausruf nötigt, »Schweigen Sie, schweigen Sie«,160 sondern auch Payne zu einem zweiten, gänzlich neuen Beweisgang zwingen wird: M e r c i e r. Ich frage dagegen kann eine vollkommne Ursache eine vollkommne Wirkung haben d. h. kann etwas Vollkommnes, was Vollkommnes schaffen? Ist das nicht unmöglich, weil das Geschaffne doch nie seinen Grund in sich haben kann, was doch wie sie sagten zur Vollkommenheit gehört?161

Mercier bestreitet mit seinem Einwand die Kohärenz des zentralen payneschen Arguments, dass die Unvollkommenheit der Welt das allervollkommenste Wesen, Gott, als ihre Ursache ausschlösse; er unternimmt diese Widerlegung auf dem Gebiet der von Payne nur implizit vorausgesetzten, und dennoch für seine Argumentation grundlegenden Kausalitätstheorie. Mercier bedient sich hierbei eines in der Philosophie so genannten apagogischen Beweises, d. h. er belegt die Existenzmöglichkeit Gottes durch die Widerlegung ihres Gegenteils, des payneschen ›Atheismus‹: Dass die Welt etwas Geschaffenes, also von einer ersten Ursache Bewirktes ist, hatte Payne selbst zugegeben. Alles Geschaffene aber ist so definiert, dass es sich von seinem Schöpfer grundlegend unterscheidet; nur Gott als vollkommenstes Wesen kann Ursache seiner selbst sein, alle Endlichkeit dagegen – und d. h. die Welt und das Ich – muss eine von ihr unterschiedene Ursache voraussetzen. Mercier wendet folglich die Prämissen der payneschen Argumentation gegen diese selbst und bestreitet ihr damit jegliche Kohärenz. Die letzte Argumentationsbewegung der Kontroverse rekonstruiert eine schon von Tennemann erkannte Inkonsistenz in der Kausalitätskonzeption Spinozas:162 Einerseits hatte dieser mit Descartes behauptet, dass »[a]lles, was an Realität oder Vollkommenheit in einem Ding« sei, »formal oder eminent in seiner ersten und zureichenden Ursache« sei;163 andererseits entwickelte er zur Aufrechterhaltung der

|| 160 MBA III.2, S. 496. 161 Ebd., S. 491–5; siehe hierzu auch Taylor 2012, S. 73ff. 162 Tennemann 1798–1819, X, S. 474. 163 Spinoza 1986, S. 26.

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nötigen Differenz zwischen göttlicher Substanz und endlich-weltlichen Modifikationen die These von einer konstitutiven Differenz zwischen Ursache und ihrer Wirkung: Nam causatum differt a sua causa praecise in eo, quod a causa habet.164

Die Kontroverse zwischen Payne und Mercier, die Chaumette, der sich vor einem rächenden Gott fürchtet, an dieser Stelle die Haare raufen lässt, betrifft mithin eine objektive Antinomie des Rationalismus,165 die zugleich einem auf der Widerlegung seiner Gottesvorstellung basierenden Atheismus den argumentationslogischen und systematischen Boden entzieht. Ist Spinozas Prämissenapparat für den Beweis der Existenz Gottes mit formalen Widersprüchen versetzt, scheitert Paynes materialer Beweis der Inexistenz Gottes, dessen apagogische Form der Geltung rationalistischer Prämissen bedarf: Ohne Spinoza kein Payne! Dabei geht es Büchner weder um den Nachweis, dass ein »dogmatischer Atheismus […] Merkmal einer privilegierten Klasse« sei,166 noch darum, jeglichen Atheismus zu widerlegen im Sinne eines apagogischen Beweises für den Glauben an einen persönlichen Gott.167 Büchner scheint vielmehr – wie dann zweieinhalb Jahre später in seinen philosophischen Skripten zu Descartes und Spinoza – darauf abzuzielen, die Kohärenz eines rationalen Beweises sowohl für die Existenz als für die Inexistenz Gottes grundsätzlich zu bestreiten. Was aber in den Skripten eine rein systematische Problematik kosmologischer Metaphysik ausführt, bringt Chaumette in der gegebenen Situation in die größte Bedrängnis, fürchtet er doch nach seinen mörderischen Auftritten als Hébertist eine Strafe Gottes – so es ihn denn gibt. Dass Büchner dieser theologisch-philosophischen Problemlage im Hinblick auf die Frage der Verantwortung politischer Gewalttaten tatsächlich lebensweltliche Bedeutung beimaß, zeigt deren ironiefreie Aufnahme in die Schilderung der Gewissensqualen Dantons.168 Wie schon im Zusammenhang der philosophischen Skripten vorgestellt, war Büchner durch die Hilfestellungen Tennemanns bekannt, dass der

|| 164 Spinoza 1999, S. 46 (ETH. I, prop. 17, schol.). 165 Und deshalb auch in keiner Weise den »physikotheologischen Gottesbeweis«, wie Forssmann (1992, S. 142) annimmt. Die Aporien im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, das von einer streng zweiwertigen Logik und einer darauf aufbauenden Metaphysik entworfen wird, hat mit teleologischen Vollkommenheitsbegriffen nichts zu tun. 166 Jancke 31979, S. 118; diese These kann vor dem Hintergrund der tödlichen Bedingungen, unter denen die Debatte stattfindet, nur als zynische Interpretation bezeichnet werden, dennoch wiederholt bei Hauschild 1993, S. 440. 167 Kobel 1974, S. 95–112. 168 Die banalisierende Psychologisierung dieser ebenso politischen wie moralischen Problemlage durch die Titulierung des Protagonisten als »frustrierter Revolutionsversager« (Morawe 2014a, S. 72), dokumentiert ebenso das trübe Reflexionsniveau wie die sprachliche Verrohung dieser ›neueren‹ Büchner-Forschung.

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rationalistischen Metaphysik der logisch-ontologische Grundsatz a nihilo nihil fit zugrunde liegt.169 Unabhängig von der Frage, wann genau Büchner Tennemann zur Kenntnis genommen hat, wird aus seinem Drama ersichtlich, dass er die Logik und systematische Stellung dieses dem Schöpfungsgedanken einer creatio ex nihilo entgegenstehenden Axioms verstanden und in seiner Konsequenz für die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele detailliert reflektiert hatte. Nicht zufällig dürfte er sich daher auch die Figur des Chaumette als Opfer der philosophischen Streitfragen um die Existenz Gottes auserwählt haben, hatte dieser sich doch der antikisierenden Konvention der Revolution gemäß den Namen Anaxagoras zugelegt.170 Nun wusste Büchner aus Tennemann, dass schon der antike Philosoph jenes Axiom seiner Metaphysik zugrundegelegt hatte: Sein [d.i. des Anaxagoras] ganzes System beruhte auf dem Grundsatze: Aus nichts wird Nichts. Er forschte also nach dem letzten Grunde.171

Dem für die Zeitgenossen bekanntermaßen ungebildeten Chaumette hilft diese Tatsache weder, noch bringt sie ihn in Bedrängnis. Das gilt jedoch nicht für Danton, der sich als bekennender Atheist nur Hoffnungen auf das Nichts machen kann, in das er seiner Weltanschauung entsprechend nach dem Tode eingehen müsste. Den unerträglichen Gewissensqualen ob der von ihm zu verantwortenden Septembermorde entsprechend172 liegen auf dieser Vorstellung seine erlösenden Hoffnungen. Dennoch säen gerade die von Payne in Anspruch genommenen logischontologischen Voraussetzungen des strengen Rationalismus neue Zweifel. Nach außen vertritt Danton allerdings tapfer seine Überzeugung: D a n t o n. Die Revolution nennt meinen Namen. Meine Wohnung ist bald im Nichts und mein Namen im Pantheon der Geschichte.173

Tatsächlich aber fürchtet er ein Weiterleben nach dem Tode; wie Chaumette ängstigt ihn die Vorstellung von einer Unsterblichkeit der Seele. Und es ist jener rationalistische Grundsatz, der diese Ängste schürt: P h i l i p p e a u. Was willst du denn? D a n t o n. Ruhe.

|| 169 Vgl. P II, S. 20433ff.; vgl. Tennemann 1798–1819, X, S. 233; dieser Grundsatz ist einer der spekulativen Metaphysik und damit keineswegs eine »materialistische Spekulation« (so aber Hofmann u. Kanning 2013, S. 107f.). 170 Vgl. MBA III.4, S. 163. 171 Tennemann 1798–1819, I, S. 380. 172 Zu Recht hat Sengle (1971–1980, S. 304) auf die essentielle Bedeutung der Septembermorde für das gesamte Drama hingewiesen: »Wer die Septembermorde bagatellisiert, verfehlt den Nerv des Dramas.« 173 MBA III.2, S. 547f..

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P h i l i p p e a u. Die ist in Gott: D a n t o n. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer! Die Schöpfung hat sich breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet.174

Danton quält die Angst vor der Unsterblichkeit, weil er wegen der von ihm zu verantwortenden Septembermorde eine Strafe Gottes fürchten muss, wenigstens aber ein unendliches Weiterleben seiner gequälten Seele. Da er aufgrund der Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch als ein »Etwas« nicht zu »Nichts« werden kann, verwünscht er die unbezweifelbare Geltung des für Epikur175 ebenso wie für Descartes176 oder Spinoza177 gültigen Grundsatzes a nihilo nihil fit.178 Noch in den philosophischen Skripten wird Büchner diese Konsequenz des Rationalismus, die zumindest eine Unsterblichkeit der Seele apagogisch bewiese, kritisch reflektieren. Für Danton aber, der schon sein hiesiges Leben nicht durch eine Flucht retten will, weil er den Gewissensdruck nicht länger erträgt,179 birgt dieser Grundsatz der rationalistischen Philosophie, der für Payne zum Instrument des Atheismus gereichte, nur die Aussicht auf eine Fortsetzung seiner Qualen.180 Diese Furcht vor der eigenen Unsterblichkeit kann das philosophische Wissen nicht lindern – »das ist der Jammer«.181

|| 174 Ebd., S. 645–14. 175 Vgl. Büchners Aufzeichnungen zu Epikur aus Tennemann in HA II, S. 40527f.: »Aus Nichts wird Nichts; ebensowenig kann aus Etwas Nichts werden.« 176 Descartes 2005, S. 54: »Cum autem agnoscimus fieri non posse, ut ex nihilo aliquid fiat, tunc propositio haec: Ex nililo nihil fit, non tanquam res aliqua existens, neque etiam ut rei modus consideratur, sed ut veritas quaedam aeterna.« 177 Spinoza 1986, S. 41: »›Aus nichts wird nichts.‹ Diese und ähnliche Lehrsätze werden eben schlechthin ewige Wahrheiten genannt.« 178 Vgl. auch Taylor 1994, S. 4; dagegen Voges 1990, S. 47, der Dantons Reflexionen über das Nichts einzig in ihren psychischen Dimensionen betrachtet: »Das Nichts artikuliert noch immer das Bedürfnis nach einer Verdrängung der eigenen Geschichte. Die Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt.« Dabei unterschlägt Voges jedoch die metaphysische Ebene der Argumente Dantons, die sich erst durch den impliziten Rekurs auf die rationalistische Tradition, speziell Spinozas, verdeutlichen lässt. Auch dem die Materialismus-These Mayers ausformulierenden Taniguchi kann Dantons Reflexion nur »befremdlich« erscheinen, vgl. Taniguchi 2000–04, S. 100; die Apologeten eines ›solidarisch-kritischen Spinozismus‹ (Beise 2010, S. 85f.; Morawe 2013b, S. 167ff.) lassen diese Passagen allerdings unkommentiert. 179 Siehe MBA III.2, S. 3920ff.: »[M]ir giebt das Grab mehr Sicherheit, es schafft mir wenigstens V e r g e s s e n! Es tödtet mein Gedächtniß. Dort aber lebt mein Gedächtniß und tödtet mich. Ich oder es? Die Antwort ist leicht.« Vgl. hierzu auch Taylor 1994, S. 5. 180 Dieses ganz metaphysische Problem hat daher nichts zu tun mit einer kulturkritischen Klage über die Abschaffung der Bedeutung des individuellen Todes, die »die Jakobiner […] geschaffen haben«, indem sie an einer Welt arbeiteten, »in der nicht nur alles schon gesagt, sondern alles logisch Gesagte auch verwirklicht worden ist« (Müller-Sievers 2003, S. 112). Mit Büchners Drama,

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6.3.2 »Der Schmerz ist der Fels des Atheismus« – Anthropologie und Theologie Kehren wir noch einmal zum Gespräch zwischen Payne, Mercier und Chaumette zurück: Überraschenderweise stimmt Payne dem Einwand seines Gegners, Ursache und Wirkung müssten sich unterscheiden, zu: »Sie haben Recht.«182 Doch setzt er daraufhin zu einem zweiten Beweisgang an, der sich einer Strategie bedient, die einige Jahre später als Anthropomorphismus-Argument Ludwig Feuerbachs in die Philosophiegeschichte183 eingehen wird: Ist’s nicht sehr menschlich, uns Gott nur als schaffend denken zu können?184

Aber dieses Argument mündet in eine subjektivistisch eingefärbte Wiederholung jener zuvor ausgeführten Unmöglichkeit, Gott zum Urheber dafür zu machen, den Menschen »unter seinem Stande in Schweinställen oder auf Galeeren« zu erziehen.185 Zur Vollkommenheit Gottes wollen die Erscheinungen der Leiden der Menschheit, die per definitionem Unvollkommenheit implizieren, nicht passen. Das Leben des Menschen in Armut (Schweineställe) und Gefangenschaft (Galeere) widerspricht dem Gedanken, Geschöpf eines ens perfectissumum zu sein. Erst in einem weiteren Schritt zeigt sich Paynes neue Grundlegung seines atheistischen Beweisganges: Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt Ihr Gott demonstriren, Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke Dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist

|| speziell mit der Aussage Dantons zum Nichts, hat dieser affektive Antihegelianismus nicht das Geringste zu tun. 181 Die Problematik, die durch eine Anbindung an die Grundlagen rationalistischer Logik und Metaphysik präzise zu erläutern ist, hat der an einem epikureischen Materialismus Dantons (wie Büchners) festhaltenden Forschung größere Schwierigkeiten bereitet. Diese werden auch bereitwillig eingestanden: »Dieser Gedankengang bleibt auch bei der zweiten Lektüre so schwer verständlich wie bei der ersten« (Dedner 1992, S. 76). Auch im Kommentar der MBA (III.4, S. 203) wird nur das aufgrund der eigenen Prämisse unüberwindliche Unverständnis bekundet: »Mit Dantons Epikureismus […] ist dieser Gedankengang freilich nicht oder höchstens dann vereinbar, wenn man gegen Epikur das Ich unter die Atome zählt oder wenigstens eine Weiterexistenz der die Seele bildenden Atome annimmt.« Büchner sucht jedoch in seinem Drama nach den theologischen Implikationen rationalistischer Metaphysik; das erprobt er ausschließlich, weil ihm diese Philosophie als widerlegenswert erscheint. 182 MBA III.2, S. 498. 183 Vgl. hierzu Poggi u. Röd 1989, S. 202–215, spez. S. 205ff. 184 MBA III.2, S. 499f.. 185 Ebd., S. 4919f..

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der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.186

Payne bricht hier mit seiner gesamten vorherigen Deduktion.187 Hatte er doch mit dem Verstand die Existenz Gottes widerlegen wollen, der nunmehr zum alleinigen Vermögen erklärt wird, das Gottes Dasein beweisen könne. Spinozas Versuch, jede mit logischer Negativität, d. h. mit Endlichkeit behaftete Entität zur Privatio, zu einer nur subjektiven Erkenntnis des endlichen Verstandes, mithin zu einer ontologischen Nichtigkeit und anthropologischen Illusion zu erklären,188 wird als zwar möglich, gegenüber einem bestimmten Phänomen jedoch unzureichend erklärt: Jetzt ist es das »Gefühl des Schmerzes«, das als anthropologisches Paradigma der Unvollkommenheit zum atheistischen Fels in der Brandung rationalistischer Gottesbeweise erhoben wird. Solange der Mensch, ja das kleinste »Atom«, Schmerzen empfinde, könne die Welt nicht als Schöpfung eines Gottes bestimmt werden. Drastischer noch und polemischer gegen das Christentum, das aus der Passion Christi dessen Gottessohnschaft ableitet, lautet Paynes Argument: Damit der Mensch um die Inexistenz Gottes weiß, muss er leiden: »Merke Dir es, Anaxagoras, warum ich leide? Das ist der Fels des Atheismus.«189 Erst mit dieser gleichsam emotionalistischen Grundlegung einer gottlosen Welt ist für Payne seine Gotteswiderlegung abgeschlossen.190 Um diese ebenso kurze wie berühmte Passage angemessen interpretieren zu können,191 muss man berücksichtigen, dass Payne mit seiner zweiten Argumentationsbewegung tatsächlich die Inexistenz Gottes bewiesen zu haben glaubt. Büchner, der eineinhalb Jahre später in seinen Spinoza-Skripten auf die gleiche Frage zu-

|| 186 Ebd., S. 4921–26. 187 So zu Recht auch Forssmann 1992, S. 143. 188 Dass diese Interpretation zutreffend ist, lässt sich bei Spinoza nachlesen, der die Begriffe »Zeit, Dauer und Maß« als »auxilia imaginationis« bestimmte; vgl. Spinoza 1986, S. 51. 189 Diese gleichsam positive Funktion für eine vernunfttheoretische Widerlegung der Gottesexistenz unterscheidet Payne auch vom Epikureismus, den die Forschung mit seiner Position gleichwohl gerne verbindet: Denn Epikur, der einer theoretischen Widerlegung der Gottesinstanz indifferent gegenüber stand, hatte ausschließlich glückseligkeitsfunktionale, d. h. vernunftpraktische Gründe für sein atheistisches Bekenntnis. In der für Büchner maßgeblichen tennemannschen Interpretation lautet das Argument denn auch wie folgt: »Er betrachtete den Glauben an eine weltregierende Gottheit und an ein künftiges Leben als Hindernisse der Glückseligkeit, und seine Naturlehre ist darauf berechnet, diesen Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen, den Menschen von dem lästigen Gedanken an Gott und Fortdauer zu befreien« (Tennemann 1798–1819, III, S. 374). 190 Zur Bedeutung des Gefühls als Garanten einer unmittelbaren Gewissheit in Büchners Descartes-Skripten vgl. Vollhardt 1991, S. 196–211. 191 Vgl. u. a. Martens 31973, S. 416; Wittkowski 1978, S. 143ff.; Jancke 31979, S. 250ff., Mayer 1979b, S. 346; Eibl 1981, S. 424; Kahl 1982, S. 99–125; Forssmann 1992, S. 143ff.; Osawa 1999, S. 32; Dedner 2002, S. 304ff.; Stiening 2002, S. 54f.; Härle 2008, S. 367–388; Beise 2010, S. 86; Taylor 2012, S. 86ff.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 105f.

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rückkommt,192 ist in diesem Zusammenhang zurückhaltender: Denn in seinen Skripten behauptet er lediglich, dass der Schmerz als Beleg der Nicht-Demonstrierbarkeit der Gottesinstanz fungieren könne. Verstand und Gefühl liefern Argumente gegen die Berechtigung, d. h. Gültigkeit »dieße[r] Definition«. Hinsichtlich der Inexistenz Gottes können jedoch auch sie keinerlei Evidenzen liefern, sodass Büchner in seinen Skripten nicht behauptet, es gebe keinen Gott, sondern vielmehr in der kantischen Tradition annimmt, Gott sei weder zu beweisen noch zu widerlegen. Als Fels des Atheismus hat das ›Gefühl des Schmerzes‹, das für den zum Tode verurteilten Payne schließlich alle Beweiskraft innehatte, beim Philosophiehistoriker Büchner ausgedient.193 Für die Stellung des emotionalistischen Arguments zum Beleg der uneingeschränkten Gültigkeit des Atheismusbeweises bleibt jedoch entscheidend, dass Payne auf diese anthropologische Ableitung erst gerät, nachdem seine rationalen Deduktionen in Aporien endeten. Beide Beweisgänge haben kaum argumentationslogische Berührungspunkte, mit Ausnahme des in beiden Gotteswiderlegungen essentiellen Schöpfungsgedankens. Nach den mehr uneigentlichen Deduktionsversuchen mit Hilfe der Widerlegung des rationalistischen Gottes, die im Stile intellektuellen Elitarismusʼ zur Beruhigung des verunsicherten Chaumette leicht gönnerhaft geführt wurden – »So komm Philosoph Anaxagoras ich will dich katechisiren«194 –, zeigt sich Paynes Rhetorik bei seiner anthropologischen Argumentation in pathetischer Eigentlichkeit engagiert. Doch belegt der weitere Gesprächsverlauf, dass ihm all sein Pathos nicht viel hilft.195

6.3.3 »Und die Moral?« – Zur praktischen Funktion der Gottesinstanz Payne muss sich nämlich im weiteren Verlauf der Kontroverse noch zweier weiterer Einwände erwehren, die seinen zentralen Beweisgang erschüttern; zunächst fragt ihn Mercier nach den Konsequenzen seines Atheismus für die Geltung moralischer Normen. Der philosophische Zusammenhang zwischen einem Gottesbegriff und der

|| 192 Vgl. hierzu P II, S. 291ff. sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 2. 193 Vgl. auch Stiening 2000–04, S. 224f.; das mag einem nicht passen, weil man Büchner partout zum Atheisten erklären will (so Morawe 2013b, S. 169f.), entspricht aber dem ausschließlich philosophisch zu interpretierenden Textbefund. 194 MBA III.2, S. 4724. 195 Die in der Forschung lange Zeit übliche Interpretation der emotionalistischen Widerlegung der Existenz Gottes als Auffassung ihres Autors (gebündelt in MBA III.4, S. 169ff. mit dem als Position Büchners vorausgesetzten Nachweis des systematischen Epikureismus) muss alleine schon durch eine Berücksichtigung des gesamten Argumentationsverlaufs des Philosophengespräches in III.1 falsifiziert werden; denn selbst Paynes emotionalistischer »Fels des Atheismus« wird noch von Herault geschliffen.

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Begründung einer Ethik, der aufgrund der religionskritischen Tendenzen in den 1830er Jahren auf der philosophischen Agenda stand,196 lässt sich anschaulich aus Heines Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland erläutern: Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen tragirt, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es giebt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabey mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmüthig und halb ironisch spricht er: »der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der Mensch nicht glücklich seyn – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich seyn – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.« In Folge dieses Arguments, unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getödtet.197

Eine problematische Folgeerscheinung des Atheismus sah man also hinsichtlich der Gültigkeit moralischer Grundsätze, denn nur Gott könne deren Geltung garantieren. Payne zeigt auch deutlich an, dass er bereit ist, diese Folgen konsequent zu Ende zu denken: Erst beweist Ihr Gott aus der Moral und dann die Moral aus Gott. Was wollt Ihr denn mit Eurer Moral? Ich weiß nicht ob es an und für sich was Böses oder was Gutes giebt, und habe deßwegen doch nicht nöthig meinen Handlungsweise zu ändern.198

Dezidiert lehnt Payne also den seit Leibniz’ Théodicée üblichen, spätestens mit Kants Kritik der praktischen Vernunft prominent gewordenen ›praktischen Gottesbeweis‹ ab,199 weil er ihn als letztlich zirkulär begreift: »Ein schöner Cirkelschluß der sich selbst im Hintern leckt«, hatte Büchner in einer für den Druck gestrichenen Ergänzung Payne noch sagen lassen.200 Auch hierbei also bezweifelt Payne die Kohärenz der philosophischen Beweisführung, weil zirkuläre Ableitungsverhältnisse jede Beweiskraft zerstören. Konsequent lehnt er die Geltung einer allgemeinen, aus rationalen oder natürlichen Prinzipien deduzierbaren Moral ab. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist – wie für Spinoza201 – nach Payne unbeweisbar und da-

|| 196 Vgl. u. a. Poggi u. Röd 1989, S. 194ff. 197 Heine 1976, V, S. 89. 198 MBA III.2, S. 4928–501. 199 Vgl. hierzu den Kommentar bei Beck 21985, S. 250–256. 200 MBA III.1, S. 20222f.. 201 Vgl. hierzu Spinoza 1999, S. 379 (ETH. IV, prefatio): »Was gut und schlecht betrifft, so zeigen auch diese Ausdrücke nichts Positives in den Dingen an, wenigstens wenn diese in sich selbst

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her ungültig. Demgegenüber entwickelt er eine naturalistische Konzeption, nach der ihm seine Natur die Maximen seines Handelns vorgibt. Diese natürlichen Maximen können allerdings notgedrungen keine überindividuelle Geltung beanspruchen. Trotz dieser auf »anthropologischem Zwang« basierenden »egoistischen Moral«202 glaubt Payne nicht, auf eine Unterscheidung zwischen tugendhaftem und lasterhaftem Verhalten verzichten zu müssen: Ich handle meiner Natur gemäß, was ihr angemessen, ist für mich gut und ich thu’ es und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich thue es nicht und vertheidige mich dagegen, wenn es mir in den Weg kommt. Sie können, wie man so sagt, tugendhaft bleiben und sich gegen das sogenannte Laster wehren, ohne deßwegen ihre Gegner verachten zu müssen, was ein gar trauriges Gefühl ist.203

Das im Hintergrund dieser Argumentation stehende deterministische Programm impliziert, dass zwar alle menschlichen Handlungen in einem Streben nach Lust und einer Vermeidung aller Unlust von der Natur bewirkt würden – womit eine moralische Bewertung eigentlich entfiele, weil gegen eine determinierende Natur sich niemand zur Wehr setzen kann. Dennoch soll ein moralisches Bewertungssystem als subjektive Urteilsmöglichkeit aufrechterhalten werden können, weil damit Handlungen ex post für jeden Einzelnen nach ihrem Tugendwert beurteilbar seien: Moralität wird damit zu einem rein privaten Selbstverhältnis. Weil der Einzelne um die natürliche Determiniertheit alles menschlichen Handelns weiß, wird eine bewertende Beurteilung der Handlungen anderer unmöglich: Verachtung für das lasterhafte, moralisch böse Verhalten – ebenso wie eine nicht erwähnte Bewunderung oder Achtung für tugendhaftes, moralisch gutes Handeln – entbehrt aufgrund der durchgehend natürlichen Determination des menschlichen Tuns jeglicher Grundlage. Diesem Bekenntnis Paynes zu einer Form naturalistischer Ethik, die weniger einem antiken Epikureismus204 oder einem hochaufklärerischen Materialismus205 als

|| betrachtet werden, sie sind nichts anderes als Modi des Denkens, d. h. Begriffe, die wir bilden, weil wir Dinge miteinander vergleichen.« 202 Vgl. hierzu Fink 1990, S. 185. 203 MBA III.2, S. 501–507. 204 So aber die durchgehend auf die Epikur-Darstellung Tennemanns und Büchners Exzerpte rekurrierende MBA III.4, S. 98 u. S. 171. Dabei fehlt es der payneschen Ausführung nicht nur an der für Epikur (vgl. Hossenfelder 21995, S. 105ff.) zentralen, auch in der philosophiehistorischen Rezeption betonten (vgl. Tennemann 1798–1819, III, S. 361) Asymmetrie zwischen dem Streben nach Lust und der Vermeidung von Unlust. Für Epikur nämlich ist die Freiheit von Schmerz schon identisch mit der angestrebten, als Glück interpretierten Ataraxia, von der bei Payne erstens nichts zu erkennen ist, weil er zweitens dem Streben nach dem Angenehmen einen gegenüber der Vermeidung des Unangenehmen eigenständigen Status zumisst. Darüber hinaus mangelt es bei Payne drittens an der für Epikurs Ethik essentiellen, hierarchisierenden Differenzierung zwischen körperlicher und geistiger Freude.

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vielmehr einer spezifischen Variante des spätaufklärerischen Utilitarismus entspricht,206 kommt innerhalb des Dramas deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie – wenn auch nicht in dieser differenzierten Weise begründet – auch von anderen Figuren emphatisch vertreten wird. Dazu zählen die Prostituierte Marion207 ebenso wie Danton,208 der die naturalistische Maxime im Gespräch mit Robespierre offensiv vertritt. Letztlich wird die zentrale Maxime dieser Ethik noch von dem Denunzianten Laflotte für seinen Verrat namhaft gemacht, der ihm die Schmerzen der Guillotinierung erspart.209 Der von Payne aus seinem emotionalistisch begründeten Atheismus abgeleitete praktische Naturalismus wird mithin von den unterschiedlichsten, sich gar politisch und persönlich bekämpfenden Figuren vertreten. So bewertet der Girondist Payne die politische Leistung des Jakobiners Danton – trotz gleicher Ethikkonzeption – verheerend: P a y n e. Sein Leben und sein Tod sind ein gleich großes Unglück.210

Politisch ist der ethische Naturalismus, das zeigen auch seine Auswirkungen bei Marion und Laflotte, indifferent. Er ist aber auch, wie die tödliche Denunziation Laflottes211 oder die Konsequenzen einer bedingungslosen Umsetzung in den Alltag bei Marion eröffnen, in moralischer Hinsicht problematisch, weil er zerstörerische, d. h. tödliche Konsequenzen für die Mitmenschen seiner Vertreter in Kauf nimmt oder allererst hervorbringt. Darüber hinaus demonstriert Büchner vor allem an Marion und Laflotte die Auswirkungen des schon von Hume aufgespießten naturalisti-

|| 205 So erneut in Anbindung an die Thesen Mayers (1979a, S. 118ff.) und Dedners (1985, S. 372) MBA III.4, S. 98 u. S. 171; Morawe 2005–2008 sowie Morawe 2013b, die zwar im Hinblick auf Paynes Relativierung der Differenz zwischen gut und böse kurz zuvor Spinoza aufriefen, neben Epikur aber – ununterschieden – auch d’Holbach zur Quelle des payneschen Naturalismus erheben. Übersehen werden hierbei jedoch erneut systematische Unterschiede: Ist Paynes ›Moral‹ eindeutig individualistisch ausgerichtet, so entsteht nach d’Holbach Moral allererst als Regel für das gesellschaftliche Zusammenleben (vgl. u. a. Röd 1984, S. 228). 206 Vgl. hierzu u. a. Jeremy Bentham, der das Streben nach Lust und das Vermeiden von Unlust als zwei verschiedene Ansprüche des Glücksbestrebens des Menschen bezeichnet: »Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab für Richtig und Falsch als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht« (Höffe [Hg.] 1992, S. 55). Das kommt Büchners Payne sehr nahe. Darüber hinaus formuliert Payne seinen Hedonismus als anthropologische Konstante, nicht nur als ethische Maxime, was ebenfalls den utilitaristischen Konzepten entsprach. 207 Vgl. MBA III.2, S. 197f.. 208 Ebd., S. 2520f.. 209 Ebd., S. 5811f.. 210 Ebd., S. 5029. 211 Vgl. hierzu zu Recht Jancke 31979, S. 171.

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schen Fehlschlusses, der fälschlicherweise vom Sein natürlicher Bedürfnisse auf das Sollen ihrer uneingeschränkten Realisationen schließt.212 Allerdings hat ein gewichtiger Teil der Forschung darauf hingewiesen,213 dass der Autor selber ein halbes Jahr vor dem Beginn der Arbeit an seinem Drama diesen naturalistischen Grundsatz in einem Brief als Maxime seines Handelns in Anspruch genommen hatte. Vor allem Paynes These von der Überwindung jeder Verachtung gegen andere aufgrund der deterministischen Fundierung des ethischen Naturalismus hatte Büchner gegen den Vorwurf eines intellektuellen Elitarismus ins Spiel gebracht: Ich kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne ihn deshalb zu verachten; die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge; für ihre Existenz kann ich nichts, es kann mir aber Niemand wehren, Alles, was existiert, bei seinem Namen zu nennen und dem, was mir unangenehm ist, aus dem Wege zu gehn. Jemanden kränken, ist eine Grausamkeit, ihn aber zu suchen oder zu meiden, bleibt meinem Gutdünken überlassen.214

Im Zeichen einer materialistischen Anthropologie und eines ethischen Epikureismus, den er auf der Grundlage seines politischen Neobabouvismus vertreten habe, übertrage Büchner seinen Figuren Payne und Danton diese emotionalistische Anthropologie und naturalistische Ethik, um zu demonstrieren, dass ihr noch im Kontext revolutionärer Politik Geltung zukomme.215 Allein die Tatsache, dass Büchner zwei politische Antipoden – Payne und Danton – mit einer identischen Ethik ausstattete, wurde jedoch bislang mit kaum einer Erläuterung bedacht. Zudem hat sich im Kapitel über Büchners philosophisches Wissen die Unhaltbarkeit der Thesen von einem ontologischen bzw. anthropologischen Materialismus ergeben216 und im Kapitel über Büchners Politik die Falsifikation der Thesen von einem Neobabouvismus aufgedrängt.217 Darüber hinaus hat die Auseinandersetzung mit dem ›Fatalismusbrief‹ gezeigt, dass dessen deterministische Geschichtsanthropologie spätestens ab Mitte 1834 für Büchners Überzeugungen keinerlei Geltung mehr beanspruchen konnte, weil er auf die Freiheitsrechte des Einzelnen pochte, die mit historischen Determinismen nicht zu vereinbaren sind.218 Zwar fügt sich der ethische Naturalismus, den er im Brief von Februar 1834, also zeitnah zum Fatalismusbrief, vertrat, zu dessen historischem Determinismus.

|| 212 Vgl. hierzu Hume 2000, S. 293–302. 213 Vgl. erneut MBA III.4, S. 171; siehe auch Dedner 2002, S. 304ff. 214 Brief an die Eltern vom Februar 1834; P II, S. 3791–9/MBA X.1, S. 3228–35. Zur systematischen Entsprechung zwischen Privatbrief und den Thesen der Dramenfigur vgl. MBA III.2, S. 171. 215 Vgl. paradigmatisch Mayer 1979a, S. 119ff.; Dedner 2002, S. 300ff.; Beise 2010, S. 60 und Morawe 2013b. 216 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 2 217 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap 4. 218 Siehe hierzu ebd.

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In seinem Drama aber lässt er diese Ethik von Figuren vertreten, die an eben dieser Überzeugung scheitern bzw. andere in tödliches Scheitern zwingen. Wie seinen zeitweiligen Fatalismus,219 so reflektiert er in seinem Drama auch seine naturalistische Ethik von Winter 1833/34 kritisch. Denn im Rahmen des betrachteten Philosophengespräches wird dem naturalistischen Bekenntnis Paynes von dem einfältigen Chaumette aus eigennützigen Gründen zugestimmt – »Wahr, sehr wahr!« –, was die Überzeugungsmacht seiner Argumente schwächt. Die scheinbar moralische Absicherung des Naturalismus zerstört der erst jetzt in die Debatten eingreifende Hérault de Séchelles darüber hinaus, indem er nicht nur den metaphysischen Emotionalismus, sondern auch den ethischen Naturalismus Paynes destruiert. Erneut bemüht er ein Argument rationaler Metaphysik zum Nachweis der Inexistenz Gottes: H e r a u l t. O Philosoph Anaxagoras, man könnte aber auch sagen, damit Gott Alles sey, müsse er auch sein eignes Gegentheil seyn, d. h. vollkommen und unvollkommen, bös und gut, seelig und leidend, das Resultat freilich würde gleich Null seyn, es würde sich gegenseitig heben, wir kämen zum Nichts.220

Die Forschung, die das gesamte Gespräch gerne als »kleines metaphysisches Kolloquium« marginalisiert,221 hat spätestens mit dieser Replik kaum mehr sachliche Bedeutung verbunden.222 Dabei ist unübersehbar, dass erneut die Geltung des Satzes vom Widerspruch aufgerufen wird, diesmal aber gegen Paynes Emotionalismus. Auch die nur subjektive Indifferenz zwischen gut und böse, die Payne aus Spinoza beziehen konnte, wird mit dem metaphysischen Nihilismus objektiv überboten. Die systematische Realisation des Begriffs vom ens perfectissimum, die – das zeigte schon Lessing223 – unter konsequenter Anwendung rationalistischer Prämissen zu einem ontologischen Monismus führen muss, zwingt zu einem Gottesbegriff, der den Gesetzen der Logik ontologisch und deontologisch widerspricht und daher nichtig wird. Mit Hérault de Séchellesʼ Argumentation, die den Überbietungen der traditionellen Metaphysik durch die zeitgenössische spekulative Logik entstammt,224 vor allem mit dem Bezug auf die Zahl »Null« aber kritisch auf okensche Deduktio-

|| 219 Vgl. hierzu P II, S. 37730ff./MBA III.2, S. 4127f.. 220 Ebd., S. 509–13. 221 Martens 31973, S. 408. 222 Vgl. hierzu die irrlichternden Kommentare in P I, S. 553 sowie MBA III.4, S. 171f., oder auch der sich in die spätmittelalterliche Lehre von der coincidentia oppositorum verlaufende Forssmann 1992, S. 145; überzeugender dagegen Taylor 2012, S. 87ff. 223 Vgl. hierzu Stiening 2002b, S. 215ff. 224 Vgl. die Widerspruchsvermittlungen bei Hegel 1986, V, S. 82ff.

Gottesbeweise und die Unsterblichkeit der Seele: Das Philosophengespräch | 463

nen anspielen soll,225 werden alle vorherigen Deduktionen zur Makulatur. Weder der metaphysische Rationalismus noch der anthropologische Emotionalismus können gegenüber dieser Atheismusdeduktion aus dem Begriff des ens perfectissimum bestehen; Payne hat letztendlich die Kontroverse verloren. Mit Hérault de Séchellesʼ Kommentar aber gibt sich Chaumette zufrieden; Paynes Anstrengungen waren umsonst.

6.3.4 ›Politische Religion‹ oder über die pragmatischen Grenzen des Wissens Es ist nach wie vor in hohem Maße umstritten, ob Büchner die vorgestellten Positionen einer rationalistischen Metaphysik, einer naturalistischen Anthropologie und Ethik oder eines spekulativen Nihilismus teilte.226 Wichtig ist vorerst nur die Erkenntnis, dass er seine Dramenfigur Thomas Payne die anthropologische Position konsequent zu Ende führen lässt – und dies in einer Situation, in der ihm der Tod vor Augen steht. Büchner zeichnet also einerseits den philosophischen Atheisten und naturalistischen Tugendethiker als »Sympathieträger«227 des Stückes, der sich in seinen Grundsatzpositionen durch nichts beirren lässt und sie brillant noch in bedrängender Lage und gegen philosophischen Widerstand zu beweisen versteht. Büchner zeigt aber andererseits auch, dass die Überzeugungsfähigkeiten der Vernunft in diesen Extremsituationen nachhaltig schwinden: Payne ahnt selbst, dass – nachdem sich Chaumette für die Beweise der Inexistenz Gottes bedankend verabschiedete – seine gesamten Reflexionsanstrengungen umsonst waren: Er traut noch nicht, er wird sich zu guter Letzt noch die Oelung geben, die Füße nach Mecca zu legen, und sich beschneiden lassen um ja keinen Weg zu verfehlen.228

Bei aller brillanten, wenn auch systematisch vielfältigen Beweiskunst seiner Gesprächspartner zieht es Chaumette nach Payne doch vor, sich politisch-taktisch zur Frage einer möglichen Unsterblichkeit zu verhalten. Weil er in jeder denkbaren monotheistischen Religion einer Strafe entgegen zu sehen hätte, versucht er im Sinne des umfassenden Opportunisten alle nur denkbaren Götter zu besänftigen. Es ist nicht allein Chaumettes geckenhaft-geschäftige Unsicherheit und intellektuelle Minderbemittlung, die den eigentümlichen Humor dieser Szene ausmacht, sondern eben auch die pragmatische Universalisierung des politisch-taktischen Verhaltens

|| 225 Vgl. Oken 2007, II, S. 27ff., spez. S. 31: »Gott ist das selbstbewußte Nichts, oder das seiende (selbstbewußte) Nichts ist Gott.« Aus diesem ontologisch-mathematischen Gottesbeweis macht Büchner allerdings ein atheistisches Argument. 226 Vgl. hierzu Stiening 2002, S. 54. 227 So zu Recht Poschmann in seinem Kommentar, P I, S. 550. 228 MBA III.2, S. 5018–20.

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in metaphysischen Fragen. Letzterem kann Payne jedoch nur noch mit Sarkasmus begegnen. Büchners ambivalentes Verhältnis zum philosophischen Wissen wird in dieser Szene aufs Deutlichste gestaltet: Auf der einen Seite ist es nur diese Wissenschaft, die alle, auch die individuelle Existenz betreffenden und bewegenden Grundlagenfragen zu klären in der Lage ist, selbst gegen namhaften, nämlich selbst philosophischen Widerstand. Auf der anderen Seite ist sie aufgrund ihrer Angewiesenheit auf diskursive Beweisstrukturen und -praktiken in ihrer Überzeugungskraft sichtlich beschränkt – dem der Angst geschuldeten »religiösen Fanatismus« ist sie in keinem Falle,229 weder in politischer noch in ethischer Hinsicht gewachsen. Kaum drastischer als an diesem Ausgang des Gespräches konnte Büchner die Grenzen des Wissens in Zeiten politischer Ausnahmesituationen illustrieren.230

6.3.5 Revolutionäre Politik und philosophisches Wissen – une liaison dangereuse? Büchner führt in zwei direkt aufeinander folgenden Szenen seines Dramas vor, in welcher Weise einzelwissenschaftliches und philosophisches Wissen in den Extremsituationen politischer Revolutionen wirksam werden können: als weltanschauliches Instrument der gewaltsam-politischen Macht und als hilfloses Instrument vernünftiger Wahrheit. Entscheidend bleibt, dass dem Wissen diese jeweilige Funktion nicht durch es selbst zugeschrieben wird, sondern durch politische Vorentscheidungen, die sich als Ideologeme deshalb ausweisen, weil sie auf unbegründeten Prämissen oder misslungenen Demonstrationen beruhen. Weil aber sowohl die Rede St. Justs als auch das Philosophengespräch Begründungstheorien oder Anschlussreflexionen des Politischen in ihrer lebensweltlichen Bedeutung poetisch entfalten und gestalten, mithin das Verhältnis von Natur- und Religionsphilosophie, Metaphysik und Ethik zum politischen Wissen als einem Erfahrungswissen thematisieren, sind sie nicht als ›witzige‹ Reminiszenzen des Dramenautors an seine professionellen Kompetenzen zu interpretieren, sondern als zentrale Passagen im Hinblick auf die Probleme einer lebensentscheidenden Politik. Das philosophische Themenspektrum, das Büchner allein in diesem Drama vorführt, ist groß. Es reicht von ontologischen über erkenntnistheoretische bis hin zu ethischen, politischen und geschichtsphilosophischen Themen. Eines aber scheint Büchner in den hier betrachteten Texten nicht vorzuführen: das »Komischwerden

|| 229 So Büchners nüchternes politisches Urteil über die politischen »Hebel« für eine revolutionäre Veränderung; P II, S. 44017f./MBA X.1, S. 9327f.. 230 Vgl. auch Stiening 2002.

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der Philosophie« als Wissenschaft.231 Vielmehr gehört es zu den ebenso tödlichen wie unvermeidlichen Konsequenzen einer revolutionären Politik, dass das wissenschaftliche Wissen im Hinblick auf eine rationale Gestaltung ebendieser Politik hilflos wird. Denn entweder wird jenes Wissen als gewaltlegitimierendes Ideologem missbraucht oder es muss in Bereichen notwendiger Unsicherheit hinsichtlich übersinnlicher Fragen seiner Überformung durch einen religiösen Fanatismus hilflos zusehen. Der das Philosophengespräch anfänglich und zum Ende hin prägende »komödiantische Gestus«232 verweist auf die politische Irrelevanz der metaphysischen Problematik – auch wenn sie Chaumette letztlich politisch zu lösen versucht. Der zeitweilige ironische Habitus entlastet aber auch vom existenziellen Druck, der jener Frage nach der Unsterblichkeit der Seele für Todeskandidaten zukommt. Er verdeutlicht aber auch – wie Nodiers Le Dernier Banquet des Girondins, auf das Büchner in vielfältiger Weise anspielt233 – die verzweifelten Versuche der Bewahrung individueller Souveränität im Angesicht eines in seinen Konsequenzen ungewissen Todes.

6.4 Danton versus Robespierre, oder moralische Politik und politische Moral Neben den Fragen zum begründungstheoretischen Verhältnis von Natur und Geschichte und zu metaphysischen Konsequenzen gewaltsamer Politik steht durch die Kontroverse zwischen Danton und Robespierre das Verhältnis von Moral und Politik im Zentrum des Dramas. Beide Politiker begründen ihre allgemeinen Positionen zur Revolution und deren Zielen, zum Mittel der Gewalt im politischen Prozess und zu ihren konkreten Handlungen im aktuellen Streit mit unterschiedlichen ethischen Theorien, die eine je spezifische Relation zwischen Politik und Moral ausbilden. Büchner zeigt mit seiner dramatischen Reflexion auf diese Vorgänge der Großen Revolution zwischen zweien ihrer bedeutendsten Protagonisten, dass Politik nicht allein durch politische Kriterien bestimmt, sondern auch durch weltanschauliche Vorannahmen sowie persönliche Motive ihrer Vertreter geprägt wird. Dabei webt der Autor das Netz dieser Motivlagen so eng, dass nur mit Hilfe eines dichten Analyse- und Kontexualisierungsverfahrens Aufschluss über das jeweilige Verhältnis von Wissen und Politik geboten werden kann. Im politischen Duell zwischen Robespierre und Danton werden deren Grenzen durch Überschreitungen beider Seiten deutlich markiert.

|| 231 Vgl. hierzu die Arbeit von Oesterle 1983. 232 Forssmann 1992, S. 141. 233 Vgl. die allerdings unzureichende Verkürzung in MBA III.3, S. 355–366 sowie die rhetorikgeschichtlichen Hinweise von Campe 2004, S. 559f. und Campe 2009, S. 21.

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Jede politisch unvoreingenommene Betrachtung des Stückes – und solche Unvoreingenommenheit muss die wissenschaftliche Perspektive wenigstens als regulatives Ideal für sich in Anspruch nehmen234 – kann gegen die Forschungs-Usancen ohne größere Interpretationsleistung kenntlich machen, dass Büchner weder Danton und seine Fraktion noch Robespierre und seine Gruppierung uneingeschränkt positiv gestaltete.235 Büchner war weder Dantonist, noch war er Robespierrist,236 er hat an der für beide Fraktionen letztlich tödlichen Auseinandersetzung237 Grundzüge – d. h. Bedingungen und Konsequenzen – revolutionärer Politik des späten 18. Jahrhunderts reflektiert, die selber nicht politisch waren.238 Er hat die Grenzen der Politik ebenso ausgemessen wie die Grenzen des Wissens. Diese Darstellungsabsicht gelang ihm im besonderen Maße in der direkten Konfrontation der beiden Protagonisten, die er in eigenwilliger Anbindung an seine Quellen in der Szene I.6 gestaltete. Dabei wird sich zeigen, dass Büchner bei aller Nähe zu seinen historiographischen Vorgaben diese politische Auseinandersetzung zu einer Kontroverse um politische Theorien erhebt, deren Grundzüge positivistisch nicht nachweisbar sind. Vielmehr hatte er die Konturen jener ethisch-politischen Problemlage in der

|| 234 Damit sei nochmals deutlich die Grenze zu einer bestimmten Büchner-Forschung gezogen, deren politische Motivlage sich explizit in »Parteilichkeit« als Kriterium der Interpretation ausdrückte; vgl. Mayer 1979a, S. 5, S. 83, S. 85, S. 110 u. ö. oder auch Hauschild 2004, S. 65 sowie Hauschild 2013, S. 121. 235 Vgl. hierzu auch zu Recht Hildebrand 1999, S. 535. 236 So zu Recht schon Petersen 1973, S. 251; Kobel 1974, S. 17 sowie Sengle 1971–1980, III, S. 306. 237 Dass die geschilderten Prozesse – obwohl sie unmittelbar nur für Danton in die Niederlage führen – auch für seinen Kontrahenten mit dem Tode enden, konnte der Autor nicht nur als kontextuelles historisches Wissen voraussetzen, er hat Anzeichen für das absehbare Ende auch Robespierres dem Text eingeschrieben: Schon sein Entrée in die Dramenhandlung ist durch die Anspielung auf Catherine Théot und deren angebliche Erhebung Robespierres in den Status eines Messias auf dessen Scheitern angelegt. Denn u. a. bei Mignet dient diese Episode als erstes Anzeichen seines Machtverlustes (vgl. Mignet 1838, S. 283f.). Dabei ist entscheidend, dass der Autor Informationsund Handlungsmomente aus späteren Episoden der Revolution in diese Phase des Sturzes Dantons hineinwebt; kurz: nicht nur das 8., auch das 9. Kapitel Mignets wird von Büchner ausführlich zu Rate gezogen und in den Text eingearbeitet. Darin besteht u. a. des Autors Interpretation, dass er in den Gründen und Bedingungen von Dantons Tod auch den Robespierres und damit der gesamten Terreur ausgeprägt findet. 238 Vgl. hierzu schon Landau 31973, S. 20: »Mit unvergeßlicher Wucht stoßen da in der großen Szene des ersten Aktes die geniale Sinnlichkeit einer bedeutend und reich angelegten, aber zynisch unbeherrschten Natur mit dem nüchtern starren, doktrinären Verstandeshochmut eines sich selbst belügenden, in Theorien verrannten Moralisten zusammen.« Auch wenn diese leicht blümeranten Formeln nicht immer die Waage einer symmetrischen Kontroverse treffen (was genau wohl »geniale Sinnlichkeit« sei, wird nicht erläutert), sie sind dem Text in seiner komplexen Konstruktion durchaus nahe.

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Vorlesung Josef Hillebrands über Allgemeines Naturrecht und Politik gehört, die kurz vor Beginn der Arbeit am Drama abschlossen worden war.239

6.4.1 Mignets Vorgaben – und Büchners Gestaltungen Gegen die in der historisch-kritischen Büchner-Ausgabe kultivierte Betonung der Bedeutung der thiersschen Revolutionsgeschichte sowie der populären Darstellung der Ereignisse in Unsere Zeit als historiographischen Quellen240 muss insbesondere für die Gestaltung des ebenso kurzen wie entscheidenden Dialogs zwischen Danton und Robespierre an der prägenden Bedeutung der analytischen Schilderungen Auguste-François Mignets festgehalten werden; dort heißt es nämlich im achten Kapitel: Après ce commencement d’hostilités, Danton, qui n’avait pas cessé ses relations avec Robespierre, lui demanda une entruvue, elle eut lieu chez Robespierre même; mais ils furent froids, aigres. Danton se plaignit violemment, et Robespierre se tint sur la reserve. »Je connais«, lui dit Danton, »toute la haine que me porte le comité; mais je ne la redoute pas«. – »Vous avez tort«, répondit Robespierre: »il n’y a pas de mauvaises intentions contre vous; mai il est bon de s’expliquer«. – »S’expliquer! S’expliquer!« répliqua Danton, »pour céla il faudrait de la bonne foi.« Et voyant Robespierre prendre un air sombre à ces mots: »Sans doute, ajouta-t-il, il faut comprimer les royalistes, mais nous ne devons frapper que des coups utiles à la république, et il ne faut pas confondre l’innocent avec le coupable.« – »Eh! qui vous a dit«, reprit Robespierre avec aigreur, »qu’on ait fait périr un innocent?« Danton se tourna alors vers un de ses amis qui l’avait accompagné, et avec un sourire amer: »Qu’en dis-tu? pas un innocent n’a péri!« Après ces paroles, ils se séparèrent; toute amilié fut rompue entre eux.241

Unverkennbar sind einige der hier ausgestellten Einzelheiten des berüchtigten Gespräches von anderen – späteren – Darstellungen übernommen worden, die Büchner ebenfalls als Quelle dienten;242 dennoch fehlt diesen populären Sekundärverwertern die von Mignet herausgearbeitete agonale Kontur des Gespräches, dessen Ausgang für den Historiker von vornherein feststeht. Es ist diese politisch motivierte Agonalität, die Büchner seinem Drama einverleibt. Dennoch sind insbesondere die politischen und psychologischen Motivlagen vom literarischen Autor nicht nur

|| 239 Vgl. hierzu meine Rekonstruktion in Kap. 2 sowie demnächst: Was Büchner hörte. Edition und Kommentierung einer Mitschrift einer Naturrechts- und Politik-Vorlesung Joseph Hillebrands aus dem SS 1834. Hg. von Doreen Haring, Udo Roth u. Gideon Stiening. Leiden 2019. 240 Vgl. MBA III.3, S. 31ff. u. S. 382f. 241 Mignet 1838, S. 266f.; insofern gibt es durchaus eine Quelle für die ›Darstellung des Gespräches‹, was Campe 2009, S. 26 bestreitet. 242 Dies gilt vor allem für die ausführliche Darstellung des Gespräches in der Galerie historique des contemporains, vgl. MBA III.3, S. 285.

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erweitert, sondern in einen systematischen Zusammenhang gebracht worden,243 die der historiographischen Darstellung notwendig mangelt, weil die empirischen Details sowie die wissensgeschichtlichen Fundamente der ideologischen Hintergründe der Kontroverse dem (Struktur-)Historiker kein Interesse abverlangen; vor allem für Mignet sind jene Details nur Anreicherungen seiner Thesen vom gesetzesförmig strukturierten Verlauf der Revolution. Büchner, für den der Dichter den Historiker darin überragt, dass er die empirische Wirklichkeit »zum zweiten Mal erschaff[en]« könne und müsse, um »Geschichte« zu zeigen, »wie sie sich wirklich begeben«,244 hat genau diese eigentümliche Gemengelage von persönlichen und politischen Motiven der Kontroverse ausgestaltet. Er zeigt mit Hilfe dieses kurzen Dialogs, dass erst durch Differenzen auf der Ebene ethisch-politischer Begründungstheorien der persönliche zum politischen Konflikt gerät und der politische als persönlicher Streit begriffen wird. In dieser Problemlage moraltheoretischer, politisch-taktischer und persönlicher Begründungen für politische Entscheidungen kann Wissen zur tödlichen Weltanschauung werden.

6.4.2 Das Duell (I.6) Das Gespräch zwischen Robespierre und Danton, das bei Mignet in der Abfolge der geschilderten Ereignisse eine späte Stellung innehat, wird von Büchner schon im ersten Akt – und damit im Rahmen der Dramenhandlung frühzeitig – präsentiert. Wie der Ausschnitt aus Mignet oder auch Passagen aus die Galerie historique zei-

|| 243 Insofern ist das Urteil Dedners (1992, S. 35), Büchner habe bei der Ausgestaltung des Gesprächs seine »Gestaltungsfreiheit« genutzt, durchaus zutreffend, auch wenn die Quelle Mignet (ebenso wie die der Galerie historique [MBA III.3, S. 273–293, spez. S. 285]) über den Inhalt »Genaueres« berichteten. Es ist gerade die besondere Leistung Büchners, bekannte Informationen durch eigene, häufig wissensgeschichtlich zu rekonstruierende Reflexionen zu erweitern und dadurch zu interpretieren. Wie wenig der Positivismus mit jenen, die Szene in formaler und materialer Hinsicht organisierenden Wissensbeständen anzufangen weiß, zeigt die Fortführung der Argumentation Dedners: »Dem Rest des Dialogs [nach dem anfänglichen Scharmützel über die Beendigung der revolutionären Gewalt] – einem philosophischen Gespräch über Wahrhaftigkeit, über Gottes Toleranz und über die Unbegründbarkeit von Strafe, Tugend und Laster – kann man diesen Status historischer Wahrscheinlichkeit dagegen beim besten Willen nicht zusprechen. Worüber Danton und Robespierre sich unterhalten haben mögen, darüber gewiß nicht« (Dedner 1992, S. 36). Die parenthetische Auflistung der philosophischen Themen des Dialogs mündet jedoch nicht in eine erforderliche Deutung ihres Gehaltes und damit ihrer poetischen Funktion, sondern in den ausführlichen Nachweis ihrer literarischen Quellen. Kaum deutlicher als an diesen Ausführungen lassen sich die erkenntnisverhindernden Auswirkungen eines sich als Deutung missverstehenden, allerhöchstens historisch kommentierenden Quellenpositivismus dokumentieren. Vgl. auch Fuhrmann 1991, S. 228ff. und Morawe 2010, S. 310. 244 Vgl. erneut den Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835; P II, S. 4106–14/MBA X.1, S. 6626.

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gen,245 wussten die Zeitgenossen Büchners von diesem Gespräch und maßen ihm politische, wenigstens aber ereigniskonstitutive Bedeutung bei. Dennoch unterlässt es der Autor nicht, die subjektive Motivation Dantons zu diesem Gespräch in jene eskapistische Melancholie zu tauchen, die seine Figur grundlegend auszeichnet: Nicht nur fällt er die Entscheidung zu diesem Gespräch während seines Besuches bei der Prostituierten Marion, den er zudem – trotz der sich abzeichnenden Todesgefahr – nicht zu unterbrechen gedenkt; auch begründet er seinen Entschluss, den Lacroix ihm aus Verantwortung für seine Getreuen abverlangt hatte, unpolitisch: Morgen geh’ ich zu Robespierre, ich werde ihn ärgern, da kann er nicht schweigen. Morgen also!246

Dennoch beginnt das Gespräch keineswegs mit einer Provokation Dantons, auch führt bzw. prägt er das Gespräch nicht allein. Robespierre – obwohl dem intellektuellen Esprit seines Widersachers gegenüber als mittelmäßig geltend247 – weiß seine politische Macht und rhetorische Kompetenz auch in diesem Gespräch zu realisieren. Die beiden Kontrahenten begegnen sich auf Augenhöhe.248 Dabei führt Büchner schon zu Beginn des Gesprächs dieses Politische auf einen Robespierres Handeln prägenden subjektiven Bezugsrahmen zurück, der ihm mit dem Vorwurf der Eitelkeit noch von der Historiographie der 1820er Jahre zugeschrieben wurde:249 Schon das erste politische Argument, das die Auseinandersetzung mit Danton legitimieren können soll, bezieht Büchners Figur nicht auf die objektiv-politische Problemlage, sondern auf das Verständnis seiner eigenen Rolle im politischen Geschehen: R o b e s p i e r r e. Ich sage dir, wer mir in den Arm fällt, wenn ich das Schwert ziehe, ist mein Feind, seine Absicht thut nichts zur Sache, wer mich verhindert mich zu vertheidigen, tödtet mich so gut, als wenn er mich angriffe.250

Die nachfolgende Debatte zwischen den Kontrahenten wird zeigen, dass Robespierre mit diesem Kommentar zu der Frage nach einer weiteren Anwendung innenpoli-

|| 245 Vgl. MBA III.3, S. 285. 246 MBA III.2, S. 2333–241. 247 Vgl. erneut Mignet 1838, S. 190: »Cette homme, dont les talents étaient ordinaires et le caractère vain, dut à son infériorité de paraitre des derniers, ce qui est un grand avantage en révolution.« 248 Zu den notwendigen Gemeinsamkeiten der entscheidenden Gegenspieler des Dramas vgl. Kurz 1991, S. 559: »Der Gegensatz Robespierre und Danton wird durch Äquivalenzen relativiert. Beide verachten das Volk, beide sind unfähig, auf sein materielles Elend einzugehen. Beide verstehen ihre Handlungen als Überbietungen der Leiden Christi – gerade weil sie andere opfern.« Zu ergänzen bliebe lediglich, dass der Gegensatz zwischen beiden durch diese Gemeinsamkeiten nicht relativiert, sondern allererst als eine hochrangige Kontroverse auf Augenhöhe konstituiert wird. 249 Vgl. Mignet 1838, S. 190, wo Mignet von »sa vanité« spricht. 250 MBA III.2, S. 249–12; Hvhb. von mir.

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tischer Gewalt Stellung bezieht, die im Prozess der Stabilisierung der durch die Revolution erzielten Errungenschaft erforderlich sei. Demgegenüber hatte Büchner schon in I.1 der dantonistischen Fraktion eine Überzeugung zugeschrieben, nach der die Phase der Revolution als abgeschlossen zu betrachten und damit die Guillotine als politisches Instrument abzuschaffen sei: H é r a u l t. Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt. Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen.251

Damit ist evident, dass die Dantonisten die politische Entwicklung dergestalt bewerten, dass die Errichtung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien und Institutionen die revolutionäre Lage, die durch verteidigungspolitische Maximen beherrscht wird, ablösen kann.252 Es wird sich allerdings noch zeigen, dass Danton selbst von anderen als diesen politischen Motiven gedrängt wird, der tötenden Gewalt als politischem Instrument abzuschwören. Robespierre dagegen beurteilt die Versuche als konterrevolutionär und kündigt seinen Widerstand gegen diese Politik an. Das Besondere seiner Argumentation besteht allerdings in der Personalisierung seiner politischen Position – und zwar mit ausschließlichem Bezug auf seine eigene Person: ›La Révolution, ce moi‹, scheint Büchner ihn sagen zu lassen, und die ist noch keineswegs zu Ende. Erneut zieht Büchner Informationen aus unterschiedlichen Phasen der Revolution zusammen. Erst nach dem Sturz Dantons – so am ausführlichsten Mignet – wurde Robespierre nämlich mit der Revolution identifiziert und auch er selbst sah sich nach der Beseitigung Dantons offenbar als primus inter pares: Robespierre reçut les marques de la plus enivrante adulation. Aux Jacobins et dans la convention, on attribua son salut au bon génie de la république et à l’Être Suprême, dont il avait fait décréter l’existence, le 18 floréal. La célébration du nouveau culte avait été fixée pour le 20 prairial dans toute l’etendue de la France. Le 16, Robespierre fut nommé président de la convention à l’unanimité, pour qu’il servit de pontife à la fête. Il parut, dans cette cérémonie, à tête de l’assemblée, la figure rayonnante de confiance et de joie, ce qui ne lui était pas ordinaire. Il marchait à quinze pas en avant de ses collègues, seul, dans un constume brilliant, tenant des fleurs et des épis à la main, et l’objet de l’attention générale.253

Nur aufgrund der Verschränkung dieser Erscheinungen seiner letzten Lebensphase nach dem Tode Dantons mit dem vorherigen Abschnitt seit der Einkerkerung der Hébertisten kann Büchner seinen Robespierre eine Identifikation von Revolution und eigener Individualität vornehmen lassen. Damit weist der Autor unmissver-

|| 251 Ebd., S. 616f.. 252 Anders dazu Neuhuber 2009, S. 66, der eine »hochverräterische Naivität« ausmacht. 253 Mignet 1838, S. 279; diese Passage steht allerdings im 9. Kapitel, das die Zeit zwischen dem Tode Dantons und dem 9. Thermidor darstellt.

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ständlich darauf hin, dass der für sein Scheitern verantwortliche Personenkult Robespierre schon in die Auseinandersetzung mit Dantons trieb; es sind nicht die Errungenschaften der Revolution, es ist seine eigene Person – »wer mir in den Arm fällt« –, die Robespierre als Legitimation für eine Hinrichtung Dantons androht.254 Dessen Gegenargument ist nach seinen eher eskapistischen Ankündigungen im Gespräch mit Marion und Lacroix erstaunlich politisch: D a n t o n. Wo die Nothwehr aufhört fängt der Mord an, ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Tödten zwänge.255

Danton bezweifelt mithin die Möglichkeit einer zureichenden politischen Legitimation für den weiteren Einsatz der Guillotine. Hatte er selber die von ihm angeordnete und zu verantwortende Hinrichtung inhaftierter Aristokraten im September 1792 mit stabilitätspolitischen Argumenten legitimiert – was ihm im weiteren Verlauf des Dramas immer weniger überzeugend erscheint –, so bestreitet er Robespierre und sich selbst als führenden Politikern der Revolution eine politisch legitime Fortsetzung der ›Hinrichtungspolitik‹. Es geht zu Beginn des Gespräches keineswegs um eine grundsatztheoretische Frage über die Legitimität politischer Gewaltanwendung in revolutionären Prozessen überhaupt,256 sondern vielmehr um die politische Frage, ob es in der gegebenen Situation nach der Hinrichtung der Hébertisten und der Gironde immer noch angemessen bzw. notwendig ist, von einer revolutionären – und nur so Gewalt gegen politische Gegner legitimierenden – Lage zu sprechen. Danton behauptet gegen Robespierre, dass eine Notwehrsituation, die einzig zu solcherart Gewalt berechtige, nicht mehr gegeben sei,257 und daher alle Hinrichtungen Morde, d. h. Tötungen aus persönlichen Motiven und damit strafrechtlich relevant seien.258 Danton und Robespierre führen also zu Beginn ihres Gesprächs eine

|| 254 Diese deutliche, und zwar politische Kritik an der Position Robespierres muss dem an einer weltanschaulichen Verortung Büchners interessierten Interpreten allerdings entgehen, weil er nicht auf eine Interpretation des Dramas, sondern auf »programmatische Sprengsätze« einer »hybriden Politik« (Morawe 2014a, S. 76) abzielt. Die bedeutenden Leistungen des Stückes gehen aber unter diesem ebenso schlichten wie pathetischen Geraune verloren. 255 MBA III.2, S. 2413f.. 256 So aber die Hinweise der MBA III.2, S. 181–185. 257 Insofern ist die für den weiteren Verlauf der Debatte richtige Beobachtung Lukács’, dass Danton »mit keinem Wort die politische Anschauung Robespierre« widerlege (Lukács 31973, S. 209), schlicht falsch. Der Beginn wird sehr wohl auch von Danton politisch gestaltet. 258 Es sei gegen Forschungen, die diese Passagen unter politsystematischen Gesichtspunkten debattierten (vgl. u.a. Mayer 1979a, S. 5–14; Thorn-Pikker 1978, S. 52ff.; Wender 1988, S. 186 u.v.m.), erstens darauf hingewiesen, dass die beiden zum politischen Führungspersonal der Revolution gehörenden Figuren keine Debatte über das seit den 1790er Jahren wieder aktuell gewordene Widerstandsrecht führen, weil es um den Umgang mit politischen Gegnern einer zwar nicht gefestigten, wohl aber regierenden Partei geht, und dass diese Debatten zweitens lange vor der tatsächlichen Einführung von Rechtsstaatsprinzipien sowie Menschen- und Völkerrechten geführt wurden.

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rechtspolitische Diskussion, die über den Status der Todesstrafe unter den gegebenen politischen Bedingungen und damit über den rechtsstaatlichen Status Frankreichs im April 1794 streitet. Robespierres Antwort dokumentiert allerdings mit Nachdruck, dass der Text in den 1830er Jahren geschrieben wurde, mithin seinen Status als historisches Drama deutlich kenntlich macht: Die sociale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht todt, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dießer nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.259

Mit dem ersten Teil dieser Aussage reflektiert Büchner eine politische Entwicklung seit den 1830er Jahren, weil erst nach der Julirevolution die terminologische Trennung zwischen den Dimensionen einer politischen und einer sozialen Revolution erfolgte.260 Auch Büchner selber hatte – wie vor ihm Heine oder Börne261 – zwischen einer politischen und einer sozialen Revolution, die keineswegs die allgemeinen Besitzverhältnisse,262 wohl aber die Einkommens- und Eigentumsverteilung verändern sollte, unterschieden und beiderlei Umwälzungsformen für erforderlich gehalten. Die Rekonstruktion seiner ›politischen Theorie‹ konnte nachzeichnen, dass der hessische Sozialrevolutionär von politischen Umwälzungen im Sinne der Errichtung eines demokratischen Rechtsstaats schon substanzielle soziale Verbesserungen erwartete.263 Auch in Danton’s Tod bezieht sich der Begriff der »socialen Revolution« auf die Beseitigung des Hungers unter der Bevölkerung von Paris, der mehrfach und eindrückliche Auftritte feiert. Theorien zur sozialen Revolution waren allerdings in den 1830er Jahren keineswegs ausschließliches Ideengut der radikalen Linken:264 Selbst der Konservative Josef von Radowitz hatte sich schon in den 1830er Jahren

|| Nur weil es an der Wirklichkeit dieser Prinzipien mangelt, führen die beiden eine politische Diskussion. Schon für Büchner ist die Kontroverse – darauf wird noch zurückzukommen sein – eine historische, wieviel mehr für Zeitgenossen des 20. und 21. Jahrhunderts. 259 MBA III.2, S. 2415–19. 260 Vgl. hierzu Becker 1999, S. 153ff. 261 Vgl. hierzu Höhn 32004, S. 12–15. 262 So aber der Kommentar zu der Aussage des büchnerschen Robespierres in MBA III.4, S. 92f., v. a. S. 93: »Daß andererseits der Begriff ›Révolution sociale‹ schon während der Französischen Revolution selbst als Angriff auch auf bürgerliche Besitzverhältnisse gedeutet wurde«. Warum Büchners Robespierre, der an anderer Stelle den Hébertisten zum Vorwurf macht, sie hätten »der Gottheit und dem Eigentum den Krieg« erklärt (MBA III.2, S. 1431), an dieser Stelle aber eine Kritik der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse im Auge gehabt haben soll, bleibt unerklärt. 263 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4. 264 Zur Überzeugung der Notwendigkeit einer politischen und sozialen Revolution auf Seiten der radikalen Linken, beispielsweise bei Auguste Blanqui, vgl. Bergmann 1986, S. 65; Wehler 31996, S. 281; Höppner u. Seidel-Höppner 2005, S. 102.

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von den Tendenzen zu einer politischen und sozialen Revolution überzeugt, die es zu verhindern gelte: Die Revolution kann und wird nicht auf halbem Weg stehen bleiben, sondern früh oder spät erst in Frankreich ihre vollen Consequenzen entwickeln, dann in den übrigen Staaten. Man nehme ihre Forderungen freiwillig an oder man bekämpfe sie! Eins von Beidem!265

Robespierre legitimiert mithin die Fortsetzung der Terreur durch die Notwendigkeit, deren soziale Ziele allererst noch zu verwirklichen, ohne die – wie bei Radowitz – die Revolution nicht vollständig und damit auch ihre politischen Errungenschaften nicht stabil wären. Vor dem Hintergrund des weiteren Gesprächsverlaufs ist allerdings zum einen festzuhalten, dass dieses Argument eine sozialpolitische Begründung ausführt, die Robespierre dem rechtspolitischen Statement Dantons entgegenhält. Ebenso entscheidend ist jedoch zum anderen, dass das Drama die Adäquanz und damit die Wahrheit dieses sozialpolitischen Urteils konterkariert. Denn warum und auf welchen Wegen die Guillotine soziale Probleme lösen können sollte, wird weder von Robespierre noch von Danton oder anderen führenden Köpfen der Revolution begründet.266 Vielmehr zeigt Büchners nüchterne ›Autopsie‹,267 dass und in welcher Weise das Schauspiel der Guillotinierung die sozialen Probleme verdeckte, ohne sie zu lösen. Die angebliche »Guillotinenromantik« Robespierres268 ist in Wahrheit ein ordnungs- und stabilitätspolitisch erforderliches ›Opium für’s hungernde Volk‹: Der Revolutionsplatz Die Wagen kommen angefahren und halten vor der Guillotine. Männer und Weiber singen und tanzen die Carmagnole. Die Gefangenen stimmen die Marseillaise an. E i n W e i b m i t K i n d e r n. Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz!269

Die Theatralität revolutionärer Politik, jenes »erhabne Drama der Revolution«,270 das Robespierre ebenso wie die kulturwissenschaftliche Danton-Forschung der letzten Jahre zur Essenz der Revolution erhebt, und das als Büchners kritisches Statement zu einer gleichsam ontologischen Grundstruktur der Revolution gilt,271 wird vielmehr als politisches Instrument der jeweils herrschenden Partei inszeniert. Büchner

|| 265 Radowitz 1852/53, IV, S. 43. 266 So auch Greiner 2015, S. 62. 267 So auch Fortmann 2013. 268 Vgl. hierzu den Vorwurf der Dantonisten in MBA III.2, S. 529. 269 Ebd., S. 7810–16. 270 Ebd., S. 1433. 271 Vgl. u. a. Voges 1990, S. 11 u. S. 36; Knapp 32000, S. 107f.; Breuer 2002; Ulrike Dedner 2003, S. 149–156; Ulrike Dedner 2000–04, S. 112–120; Martin 2007, S. 162ff.; Campe 2009, S. 33ff.; Neuhuber 2009, S. 65.

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zeigt nicht, dass die ganze Revolution nur ein theatralischer Budenzauber war, sondern er gestaltet eindringlich, dass sich – wie schon die feudalaristokratischen Vorläufer – auch die Revolutionäre in Krisenphasen der Öffentlichkeit als Bühne bedienen, auf der sie vom unveränderten sozialen Elend ablenken können: »Der letzte Ort, als Bühne auf der Bühne, ist die Guillotine«, so zu Recht Gerhard Kurz.272 Diese Inszenierungspolitik gerät so umfassend und gelingt – wie auch Mignet dokumentierte273 – so weitreichend, dass sie bis in die Mentalitäten der Pariser Bevölkerung vordringt. Der Souffleur Simon, von der Kulturwissenschaft zur Symbolfigur des sich in Diskurse auflösenden Dramas erhoben,274 ist vielmehr Sinnbild für eine am eigenen Elend betrogene Bevölkerung, die aufgrund der Unfähigkeit der politischen Führung, die sozialen Probleme zu lösen, ihre Töchter in die Prostitution zwingen muss und diesem Elend nur durch hohle Phrasen der Poesie und der Rhetorik sowie durch Alkohol entkommt.275 Wenn auch nicht Danton, so widerlegt doch das Stück Robespierres zentrales politisches Argument für eine Kontinuität der Terreur zugunsten einer sozialen Revolution. Mit dem zweiten Satz seiner Replik verlässt der ›Unbestechliche‹ allerdings das streng politische Feld und erweitert es um das Programm einer geschichtsphilosophischen Gesellschaftstheorie. Nach diesem Modell ist der Prozess des vollständigen Ersetzens der Aristokratie durch das »Volk« noch nicht abgeschlossen. Bemerkenswert ist auch die Begründung für diesen soziopolitischen Ersetzungsprozess. Denn die metaphorisierende Formel von der »nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse« bezieht sich auf den Adel als eine der historischen Antiquiertheit überführte gesellschaftliche Gruppierung, deren historische Aufgabe als erfüllt betrachtet wird. Nach Robespierre hat sich die Aristokratie überlebt und ist im Hinblick auf eine politisch stabile und sozial gerechte Gesellschaft nur durch eine »gesunde Volkskraft« zu ersetzen.276

|| 272 Kurz 1991, S. 555ff. 273 Vgl. Mignet 1838, S. 278ff. 274 Vgl. insbesondere Pornschlegel 1997, S. 564ff.; Breuer 2002, S. 10ff. sowie Port 2004, S. 210ff. 275 Insofern ist die Einschätzung Härters (2002, S. 88), die »Rhetorik und vor allem das Spiel mit ihr lässt sich als eigentlicher Schauplatz des Stücks bezeichnen« nicht ganz zutreffend, weil die Reflexion auf politische Rhetorik, ihre Leistungen und Grenzen unbestreitbar ein Gegenstand des Dramas ausmacht, kaum aber dessen eigentlicher Schauplatz ist. 276 Zu Recht weist die MBA (III.4, S. 94) darauf hin, dass diese Formel auf den oben interpretierten Brief Büchners an Gutzkow von Juni 1836 verweist: »Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben desselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann« (P II, S. 44020–28/MBA X.1, S. 9329–35). Versäumt aber wurde darauf hinzuweisen, dass die Argumentationsführung bei Robespierre erstens eines Bezuges auf jenen von Büchner zugrunde gelegten »absoluten Rechtsgrundsatz« entbehrt, und zweitens beide Begrün-

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Dieser zwischen kulturgeschichtlicher Phänomenologie und geschichtsphilosophischer Nomologie changierende Satz steht allerdings in keinerlei systematischer Verbindung zu der vorherigen Debatte um rechts- und sozialpolitische Fragen der Zeit. In zwei aufeinanderfolgenden Sätzen wechselt Robespierre also von einer auf Erfahrung sich berufenden, auf Handlung bezogenen politischen Argumentation zu einer mehr rational gewonnenen philosophischen Geschichtskonstruktion bezüglich eines historischen Wandels führender Gesellschaftsklassen. Büchner dokumentiert allein mit diesen beiden Sätzen die unvermittelten, d. h. auch unbegründeten Verbindungen politischer und weltanschaulicher Argumente in den Überzeugungsmodellen führender Politiker der Revolution. Auch mit dem nachfolgenden Satz führt der Autor diese Demonstration ideologischer Fundierung politischer Entscheidungen in Krisenzeiten weiter: Denn mit seinem dritten Satz wendet sich Robespierre einer ethischen Programmatik zu, die er schon kurz zuvor in seiner berühmten Rede vor dem Jakobinerklub hinsichtlich ihrer politischen Funktion entwickelt hatte. Der unvermittelt moralisch-postulative Satz, dem gemäß »das Laster« zu bestrafen sei und »die Tugend« mit Hilfe des Schreckens herrschen müsse, weil sie es nur so könne, ist in seinem vollständigen Gehalt und seiner Stellung innerhalb der Argumentation Robespierres nur aufgrund verborgener Implikationen zu verstehen: Zum einen kann die Tugend-LasterDichotomie als praktische Realisation der vorhergehenden klassenbezogenen Geschichtskonzeption aufgefasst werden, weil der als lasterhaft geltende Adel nur dann durch das Volk abgelöst werden könne, wenn es sich durch seine Tugenden als so ›gesund‹ erweise, wie es politisch für die Übernahme der Macht erforderlich sei.277 Zum anderen erhält die erste These von der ›sozialen Revolution‹ eine ethischpolitische Wendung: Denn – so das wohl gewichtigste Argumentationsziel – in dieser systematischen Vermittlung kann das moralische Argument eine mittelbare Legitimation für die Kontinuität der Terreur durch den Nachweis der Erfordernis des gewalttätigen Schreckens für die Realisierung der Moralität abgeben. Auffällig ist allerdings, dass es Robespierre in seiner Replik auf Danton an ebendieser argumentativen Verknüpfung fehlen lässt: Erst dieser Mangel an begründender Vermittlung der rein thetisch vorgetragenen politischen, geschichtsphilosophischen und ethischen Argumente ermöglicht Danton eine eigentümliche Wendung des Gespräches. In einer Rede vor dem Jakobinerklub hatte Robespierre dagegen kurz zuvor seine Absichten an der Tugend als politischem Instrument präzise entwickelt und dieses Konzept wie folgt begründet: || dungen in ihrer Systematik kulturhistorisch sind und daher mit dem rechts- oder sozialpolitischen Gerüst der vorhergehenden Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre um Gewaltanwendung und Pauperismus nichts zu tun haben. 277 So hatte Büchner ihn in seiner Rede vor dem Jakobinerklub explizit entwickeln lassen: »Das Laster ist das Kainszeichen des Aristocratismus. In einer Republik ist es nicht nur ein moralisches sondern auch ein politisches Verbrechen« (MBA III.2, S. 164–6).

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Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik ist die Tugend. Die Tugend, weil ohne sie der Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist. Der Schrecken ist ein Ausfluß der Tugend, er ist nichts anders als die schnelle, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Sie sagen der Schrecken sey die Waffe einer despotischen Regierung, die unsrige gliche also dem Despotismus. Freilich, aber so wie das Schwert in den Händen eines Freiheitshelden dem Säbel gleicht, womit der Satellit der Tyrannen bewaffnet ist. Regiere der Despot seine thierähnlichen Unterthanen durch den Schrecken, er hat Recht als Despot, zerschmettert durch den Schrecken die Feinde der Freiheit und ihr habt als Stifter der Republik nicht minder Recht. Die Revolutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.278

Bei aller blutrünstigen Rhetorik ist doch unübersehbar, dass Büchner seinen Robespierre – auf der Grundlage einer engen Anbindung an seine Quellen279 – ein ausschließlich politisch-instrumentelles Verhältnis zum Tugendrigorismus entwerfen lässt. Ein wirksamer Tugendkanon soll neben einer Funktion zur Abgrenzung vom Adel als Instrument zur Begrenzung der Terreur dienen und damit als Garant der anvisierten freiheitlichen Republik. Diese muss sich zwar gegen ihre Feinde auch unter Einsatz von Gewalt zu wehren wissen, dennoch soll diese Gewalt nicht »verderblich« werden, d. h. unbegrenzt und unlegitimiert, was ein gesellschaftlich wirksamer Tugendkatalog verhindern können soll. Die von Kant mit deutlichem Bezug auf die während der Niederschrift seiner Religionslehre aktuelle Herrschaft Robespierres geäußerte Warnung: Wehe aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen,280

trifft den Robespierre Büchners deshalb nicht, weil er – zumindest in dieser Rede – die Staatspolitik nicht zum Instrument einer Tugendtyrannis reduziert, sondern umgekehrt die Tugend als Instrument zur Verteidigung eines zugleich gewaltbewehrten Freistaates zu bestimmen sucht, der als Zweck, nicht als Mittel vorgestellt wird. Die Voraussetzung dieser Ver-Mittlung der Moral an die Politik ist jedoch deren kategoriale Unterscheidung.281 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Danton sich nach Kräften bemüht, seinen Widerpart in ebenjene Rolle eines auf ethische Zwecke ausgerichteten Gesetzgebers, eines Tugendtyrannen, zu drängen. Dieser hat es ihm mit der parataktischen, mithin thetischen Addition seiner Argumente allerdings auch leicht gemacht: So kann Danton unter Absehung sowohl des politischen

|| 278 MBA III.2, S. 1511–22. 279 Vgl. hierzu vor allem Mignet 1838, S. 266 sowie MBA III.4, S. 73. 280 Kant 1983, VII, S. 754. 281 Daher ist die These Finks (1990, S. 182), in der Position des büchnerschen Robespierre werde der »Konvergenzpunkt zwischen Politik und Moral« bezeichnet, unzutreffend.

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Arguments zur sozialen Revolution als auch der geschichtsphilosophischen These zur historischen Antiquiertheit des Adels entgegnen: Mit deiner Tugend Robespierre! du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bey keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken. Robespierre du bist empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen 30 Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen bloß um des elenden Vergnügens willen Andre schlechter zu finden, als mich. Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganze leise, heimlich sagt, du lügst, du lügst!282

Damit hat Danton nicht nur das Gespräch vollends auf das Gebiet der Moralprinzipien verlagert,283 er unterstellt dieser politisch mehr schlecht als recht legitimierten Moral eine psychische Eigennützigkeit, weil es ihren Verfechtern nur um das Superioritätsempfinden gegenüber jenen ginge, die den moralischen Maximen des Handelns nicht zu entsprechen vermögen.284 Dantons politischer und ethischer Liberalismus basiert mithin auf einer empirischen Psychologie und Anthropologie, die alle überindividuelle Normativität leugnet, indem sie die Möglichkeit menschlicher Handlungszwecke auf die Vermehrung des je eigenen Glücks reduziert. Auch Robespierre wirft er daher vor, mit seinem theoretischen und praktischen Tugendrigorismus und seinem Berufen auf ein reines Gewissen nur »auf seine eigne Art auf seinen Spaß« auszusein, denn: D a n t o n. Das Gewissen ist ein Spiegel vor dem ein Affe sich quält.285

Schon hier kündigt sich nicht nur Dantons universeller Epikureismus an, der auch polemisch jedwede Gültigkeit überindividueller Normen, die nicht der individuellen Glückseligkeitsmaximierung dienten, bestreitet: »Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine.«286 Auch Büchners Suche nach einer Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Ethik macht sich kenntlich. Zwar ist das Bild vom Gewissen als Spiegel des eigenen Ego in der Literatur um 1800 häufiger anzutreffen,287 der ethischen Theorie des frühen 19. Jahrhunderts nach ist die Kritik an einer leeren Selbstbezüglichkeit des Gewissens aber vor allem auf einen philosophischen Bestseller der Zeit zurückzuführen: auf Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807. Hier hatte Hegel in einer Kritik des rein formalen Pflichtbegriffes der Transzendentalphilosophie entwickelt, dass die Berufung auf das je eigene Gewissen aufgrund der unmöglichen Ableitung irgendwelcher, in ihm notwendig wirksamen Inhalte aus einer wahr-

|| 282 MBA III.2, S. 2421–252. 283 So zu Recht Lukàcs 31973, S. 209. 284 So auch Petersen 1973, S. 255. 285 MBA III.2, S. 254. 286 Ebd., S. 2518f.. 287 Vgl. MBA III.4, S. 96.

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heitsgarantierenden Instanz letztlich zu einem hohlen, sich selbst bespiegelnden Selbstverhältnis herabsinkt: Dem Gewissen aber ist die Gewißheit seiner selbst die reine unmittelbare Wahrheit; und diese Wahrheit ist also seine als Inhalt vorgestellte unmittelbare Gewißheit seiner selbst, d. h. überhaupt die Willkür des Einzelnen und die Zufälligkeit seines bewußtlosen natürlichen Seins.288

Weil aber dieses inhaltsleere, sich auf sich als ein abstraktes Selbst beziehende Gewissen die »absolute Unwahrheit« darstellt, kann es sich sowohl als unglückliche schöne Seele als auch als Heuchelei verwirklichen.289 Büchner zeigt nun, dass Robespierre als melancholischer Revolutionär schöne Seele und Heuchler in eins ist, weil er sich selbst und die Bevölkerung über die rein subjektiven Motive seiner an sich politischen Moralität täuscht. Zugleich ermöglicht Büchner dem ethisch vermeintlich indifferenten Sensualisten Danton Einblicke in die spekulative Kritik abstrakter Moralität, deren Geltung er allerdings selbst in Frage stellen wird. Eine entscheidende Voraussetzung der Wirksamkeit dieser Kritik besteht jedoch darin, dass Büchner seinen Robespierre als ebenso widersprüchlichen Charakter anlegt wie seinen Danton. Denn das besonders Auffällige an der politischmoralischen Problemlage der Kontroverse zwischen Danton und Robespierre liegt darin, dass der sich auf eine allgemeine Ethik und sein besonderes Gewissen berufende Robespierre die psychologisierende Infragestellung seiner politischmoralischen Integrität ernst nimmt. Den triumphalen Aufschrei Dantons nach der für ihn erfolgreichen Entlarvung der moralischen Heuchelei seines Gegners: Nicht wahr Unbestechlicher, es ist grausam dir die Absätze so von den Schuhen zu treten?290

begegnet Robespierre im anschließenden Monolog mit tiefen Selbstzweifeln und einer ausschließlich am subjektiven Motiv des konkurrierenden Ehrgeizes orientierten Überlegung: Mir die Absätze von den Schuhen treten! Um bey deinen Begriffen zu bleiben! Halt! Halt! Ist’s das eigentlich? Sie werden sagen seine gigantische Gestalt hätte zuviel Schatten auf mich geworfen, ich hätte ihn deßwegen aus der Sonne gehen heißen. Und wenn sie recht hätten? Ist’s denn so nothwendig? Ja, ja! Die Republik! Er muß weg.291

Die politische Argumentation für die Geltung moralischer Normen, die Robespierre im Jakobinerklub und gegenüber Danton vehement vertreten hatte, wird hier als || 288 Hegel 1986, III, S. 473. 289 Vgl. ebd., S. 484ff. 290 MBA III.2, S. 2522f.. 291 Ebd., S. 269–15.

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Instrument solcher individueller Zwecke entlarvt, wie sie Dantons eudämonistischer Dogmatismus als einzig mögliche zugelassen hatte. Büchner bedarf jedoch des Monologes, den er an historische Quellen nicht zu binden braucht, um seine Figur zu entlarven: Keine Tugend! die Tugend ein Absatz meiner Schuhe! Bey meinen Begriffen! Wie das immer wieder kommt. Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag soviel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer durch. – (Nach einer Pause) Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt.292

Selbst Robespierre also gibt Dantons Analyse einer ausschließlich psychischen Fundierung aller Moralität recht, konterkariert damit aber eine eigene politische Legitimationstheorie. Erst seine Konkurrenz und sein Ehrgeiz aber machen ihn zu jenem »Affen«, den Danton in ihm je schon sah. Auf der anderen Seite – und das verdeutlicht die interne und funktionale Komplexität das Gesprächsduells – ist der das Gewissen als leere Selbstbespiegelung und alle Moral als verfeinerten Epikureismus diskreditierende Danton gequält durch die Erinnerung an die Septembermorde, für die er die Verantwortung objektiv trägt und auch subjektiv übernimmt. Vor allem der nächtliche Traum kurz vor der Verhaftung verdeutlicht eindringlich, dass es das schlechte Gewissen ist, das Danton bedrängt.293 Es ist mithin die Titelfigur des Dramas selbst, die ihre Worte vom ›Gewissen als sich bespiegelnden Affen‹ Lügen straft.294 Wenn es eine dramatische Äquivalenz der beiden Hauptfiguren des Dramas gibt, dann besteht sie darin, dass beide eben jene Form von Moralität erleben oder ausleben müssen, die ihnen der Gegner als von ihnen verleugnete Wahrheit entgegengehalten hatte. Mit der konsequenten Begrenzung des zunächst politischen Disputs auf Fragen der Moralität hat Danton seinen Kontrahenten schon während ihres Gespräches in

|| 292 Ebd., S. 2625–272. 293 Vgl. auch Kurz 1991, S. 560f. 294 Es ist genau diese Stelle, an der Danton die von ihm theoretisch bestrittene Existenz eines Gewissens am eigenen Leibe erfahren muss, damit aber die Wirklichkeit und Wirksamkeit moralischer Werte, die nur auf der Grundlage eines freien Willens Geltung beanspruchen können. Büchner lässt seine Figur aufgrund dieses Erlebnisses auf eben jenen Fatalismus als Erklärungsmodell zurückgreifen, der ihn im Brief von Anfang 1834 selber drückte. »J u l i e. Du hast das Vaterland gerettet. D a n t o n. Ja das hab’ ich, das war Nothwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt. Es muß, das war dieß Muß kommen. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das M u s s gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« (MBA III.2, S. 4122–28). Es ist mithin die Furcht vor den Konsequenzen moralischer Verfehlung, die Zuflucht zu deterministischen Erklärungsmodellen nehmen lässt. Diese Position eines historischen Determinismus stellt Büchner mithin als ein asylum ignorantiae (vgl. Spinoza 1999, S. 8815f.) des schlechten Gewissens vor; vgl. hierzu auch Taylor 2005, S. 190f.

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eine defensive Haltung gezwungen, weil der einer Psychologisierung seiner politischen Moral hilflos gegenüber steht. Von diesem Standpunkt aus kann Danton seine Vorwürfe gegen die politische Moral in Robespierres Tugendkonzept weiter entwickeln:295 Hast du das Recht aus der Guillotine einen Waschzuber für die unreine Wäsche anderer Leute und aus ihren abgeschlagnen Köpfen Fleckkugeln für ihre schmuzzigen Kleider zu machen, weil du immer einen sauber gebürsteten Rock trägst?296

Dieser – es sei noch mal betont: an sich unzutreffenden – Bestimmung der Position Robespierres, die er mit den polemischen Formel vom »Policeysoldaten des Himmels« griffig zu fassen sucht,297 hält Danton nunmehr sein epikureische Vergemeinschaftungskonzept entgegen, das vor allem darauf abzielt, sich gegenseitig »in Ruhe zu lassen«, d. h. die Haltungen und Handlungen des Anderen solange zu tolerieren, bis der einem »den Spaß verdirbt«. Der Maßstab moralischer Wertung von Handlungen oder Einstellungen liegt danach in der Akzeptanz durch die Mitmenschen, d. h. in einer ausschließlich intersubjektiv korrelierbaren Wertegewissheit. Innerhalb dieser Grenzen kann und soll der Einzelne tun und lassen können, was ihm beliebt. In einer dem ethischen Pragmatismus des 20. Jahrhunderts verwandten Form298 leugnet Danton eine raum- und zeitindifferente, mithin kultur- und epochenübergreifende Gültigkeit moralischer Normen und hält dieser zurückgewiesenen Vorstellung ein individualistisches Programm der natürlich bedingten Glücksmaximierung entgegen: Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut, was ihm wohl thut.299

Bevor nun zu zeigen ist, dass Danton mit dieser schon durch Thomas Payne bekannten ethischen Maxime eine staatstheoretische Konzeption verbindet und damit recht eigentlich – im Gegensatz zur Moral und Politik unterscheidenden politischen Moral Robespierres – eine moralische Politik verficht,300 sei darauf hingewiesen, dass der des prinzipientheoretischen Tugenddespotismus bezichtigte Kontrahent ein letztes Zeichen seines Willens zur Trennung der Sphären von Politik und Moral bzw. ihrer kategorialen Distinktion sowie einer darauf aufbauenden politischen Verknüpfung gibt:

|| 295 Vgl. hierzu auch James 1982, S. 45ff. 296 MBA III.2, S. 257–11. 297 Ebd., S. 2514f.. 298 Vgl. u. a. Rorty 1981. 299 MBA III.2, S. 2518–21. 300 So zu Recht Petersen 1973, S. 251.

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R o b e s p i e r r e. Danton, das Laster ist zu gewissen Zeiten Hochverrath.301

Mit dieser Aussage lässt Robespierre aber unmissverständlich erkennen, dass es ihm nicht darum geht, den »Staat zur Sittenschule« zu machen, wie es schon im Hyperion Hölderlins kritisch heißt,302 sondern dass er davon überzeugt ist, moralische Prinzipien als temporäres Instrument der Politik einsetzen zu können und zu müssen. Das Verhältnis der von beiden Kontrahenten angenommenen Relation zwischen Moral und Politik ist mithin ein asymmetrisches:303 Geht es Danton darum, eine Politik zu verfolgen, die seinen individualistischen Epikureismus ermöglichen können soll, womit er den Staat mithin zum Werkzeug eines Eudämonismus macht, so geht es Robespierre um eine Politik, die eine Freiheit und Eigentum realisierende Republik ermöglicht, für deren Verteidigung »zu gewissen Zeiten« auf moralische Prinzipien zurückgegriffen werden muss, um die notwendig anzuwendende Gewalt nicht zu »verderblicher« Willkür ausarten zu lassen und gegebenenfalls einen der sozioökonomischen Lage unangemessenen Luxus einzelner zu unterbinden.304 In dieser Asymmetrie der Relationen zwischen Politik und Moral besteht der eigentliche Konflikt der büchnerschen Kontrahenten. Geht es Büchner in weiten Teilen seines Dramas darum, die Große Revolution in ihren politischen und sozialen Bedingungen als historisches Phänomen zu distanzieren, und damit ihre Vorbildfunktion für die Situation in den 1830er Jahren zumindest zu relativieren, so kommt der rationalen Substanz des ethisch-politischen Konflikts zwischen Danton und Robespierre systematische Relevanz zu. Zu einer weiteren Unterscheidung der ethischen und politischen Positionen der beiden Antagonisten des Dramas muss zunächst auf die differenzierter vorgestellte Staatstheorie der Dantonisten rekurriert werden.305

6.4.3 »Ein durchsichtiges Gewand«? – die Staatstheorie der Dantonisten Die ethische Maxime, die Danton seinem Widersacher entgegenhielt, implizierte in ihrer spezifischen Formulierung eine dem Utilitarismus Jeremy Benthams entsprechende normative sowie eine anthropologische Dimension.306 Nicht nur stellt Danton fest, dass jeder Mensch faktisch seiner Natur gemäß handelt, womit er die anth-

|| 301 MBA III.2, S. 2524; Hvhb. von mir. 302 Hölderlin 1992/94, II, S. 63633. 303 Diese Asymmetrie übersieht Petersen 1973, S. 253ff., der einen durch gleichwertige politische Ethiken konturierten Widerspruch erkennen will. 304 Vgl. hierzu auch Fink 1990, S. 185; dass solcherart Luxuskritik letztlich unpolitisch bleibt, zeigt Greiner 2015, S. 62f. 305 Zum Folgenden vgl. auch Stiening 2016. 306 Vgl. hierzu erneut Höffe (Hg.) 1992, S. 55.

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ropologisch-deskriptive Ebene des utilitaristischen Eudämonismus erfasste, sondern der Mensch sei zudem dazu verpflichtet, den eigenen Glücksvorstellungen nachzustreben, womit die normative Dimension dieser naturalistischen Glücksethik berührt wurde. Es ist dieser Utilitarismus, der ihn Robespierre auffordern lässt, dass die politischen »Streiche […] der Republik nützlich seyn«307 müssten und dieser Nutzen bei der Tötung Unschuldiger verfehlt würde. Schon in der berühmten ersten Szene des ersten Aktes hatte Büchner einer führenden Gruppe von Dantonisten, die Mignet stets als »Anarchisten« bezeichnet,308 eine Staatstheorie zugeschrieben, die der utilitaristischen Ethik auf politischer Ebene korrespondierte: H é r a u l t. In unsern Staatsgrundsätzen muß das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend und die Nothwehr an die der Strafe treten. Jeder muß sich geltend machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse seyn, das geht den Staat nichts an. […] Jeder muß in seiner Art genießen können, jedoch so, daß Keiner auf Unkosten des Andern genießen oder ihn in seinem eigenthümlichen Genuß stören darf. C a m i l l e. Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden.309

Die Forschung hat um diese Zeilen viel Aufhebens gemacht.310 Nicht nur wurde festgestellt, dass Büchner diese Passagen vermutlich erst spät in das Manuskript nachtrug, weil sie von der Darstellung einer »Götterdemokratie« aus Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland profitierten.311 Es wurde vor allem die noch weitreichendere These aufgestellt, diese Ausführungen Camilles entsprächen uneingeschränkt den Auffassungen des Autors selber, was bedeutende Rückschlüsse auf ihren genauen Gehalt sowie ihre Stellung im Drama selber zuließe.312

|| 307 MBA III.2, S. 2528f.. 308 Vgl. u. a. Mignet 1838, S. 268: »Les anarchistes ne surent prendre aucune mesure de défense.« 309 MBA III.2, S. 618–33. 310 Zum Folgenden vgl. Mayer 1979a, S. 125ff. und noch Fortmann 2013, S. 298ff. 311 Vgl. schon Mayer 1979b, S. 391; MBA III.2., S. 222f.; MBA III.4, S. 45; Morawe 2005–08, S. 256ff.; zur Interpretation des durchaus kritischen Verhältnisses zu Heine gerade in Bezug auf diese Passage vgl. Teraoka 2006, S. 168ff. 312 So Mayer 1979a, S. 123–138; Görlich u. Lehr 1981, S. 57; Grab 1985, S. 70; Poschmann 31988, S. 98ff.; P I, S. 483; Gille 1992, S. 111ff.; Holmes 1995, S. 103ff.; Osawa 1999, S. 132–142; MBA III.4, S. 43ff.; Funk 2002, S. 38; Hauschild 2004, S. 60; Hofmann u. Kanning 2013, S. 100f.; Fortmann 2013, S. 298ff. Kritisch hierzu u. a. Wender 1988, S. 239ff.; Hildebrand 1999, S. 532–535; Knapp 3 2000, S. 113ff.; Teraoka 2006, S. 168ff.; Sanna 2010, S. 60–64; Dedner 2013, S. 259–269, mit deutlichen Neigungen zum Sensualismus der Dantonisten, ausdrücklich aber »unentschieden«.

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Schon die These der Dantonisten von einer Aufhebung der Strafe zugunsten der Notwehr aber, die an dieser Stelle Hérault – wie Danton dann im Dialog mit Robespierre313 – entwickelt, hätte bei sorgfältiger Überprüfung aufmerken lassen müssen. Denn Büchner hatte – seine deterministischen Anwandlungen von Anfang 1834 überwindend – schon Mitte des Jahres zu einer Position zurückgefunden, die ebenso auf Rechts- wie auch Strafrechtsprinzipien Anspruch erhob und zwar in der Auseinandersetzung mit dem die politische Opposition verfolgenden Staat: Eine solche Gewalttat stillschweigend ertragen, hieße die Regierung zur Mitschuldigen machen; heiße aussprechen, daß es keine gesetzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das verletzte Recht keine Genugtuung mehr erhalte.314

Eine »Genugtuung« des Rechts, das hatte Büchner in der Vorlesung Hillebrands zu Naturrecht und Politik lernen können, konnte nur eine Strafe erzwingen,315 sodass Büchner selber jener Ersetzung der Strafe durch Notwehr kritisch gegenüberstehen musste.316 Zudem wusste er, dass das sensualistische Programm, das er mit Heine in die camillesche Formel goß: Der göttliche Epicur und die Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen Marat und Chalier die Thürsteher der Republik werden,317

unter den politischen und sozioökonomischen Bedingungen der 1790er wie der 1830er Jahre ein Privileg weniger Revolutionsgewinnler bleiben würde.318 Im Kontrast mit der Realität der Pariser Gassen hat er die politische Irrationalität und die gruppenspezifische Interessengebundenheit des camilleschen Programms deutlich inszeniert.319 Unabhängig von den mehr biographisch interessierenden Fragen nach Büchners eigener Position wird jedoch durch die letzte Wendung Camilles, die seine staatspolitische Skizze abschließt, unübersehbar, dass die Dantonisten den Staat als Instrument nicht etwa der rechtlich garantierten Freiheit bestimmen, so wie Robespierre in seinen offiziellen Reden, sondern als Ermöglichungsbedingung, d. h. als

|| 313 Vgl. MBA III.2, S. 2420: »Ich verstehe das Wort Strafe nicht.« 314 Brief an die Familie vom 8. August 1834; P II, S. 38935–3902. 315 Vgl. Hillebrand 1835/36, II, S. 172: »In der Strafe muß das Gesetz sich genugthun.« 316 Grundlegend anders dazu – allerdings ohne Rekurs auf Büchners eigenen Strafbegriff in den Briefen von Mitte des Jahres 1834 – MBA III.4, S. 40f. sowie insbesondere MBA VII.2, S. 81, wo die anarchistische Strafrechtsposition der Dantonisten als Beleg für Büchners kritisches Verhältnis zur Justiz im Hinblick auf die forensische Thematik des Woyzeck gewertet wird. An solchen Stellen wird die weltanschauliche Funktion der Verwischung der Status biographischer Primär- und Sekundärdokumente sowie der literarischen Texte des Autors kenntlich; vgl. hierzu schon Stiening 2012. 317 MBA III.2, S. 79f.. 318 So zu Recht Wender 1988, S. 240ff. und Neuhuber 2009, S. 66f. 319 Vgl. hierzu Hildebrand 1999, S. 536f.

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Mittel ihres sensualistischen Individualismus begreifen. Unabhängig auch von allen konkreteren Inhalten – sei es nun die »Venus mit dem schönen Hintern« oder »süßer Sekt« und »Zuckererbsen nicht minder«320 – ist der Staat im Rahmen dieses Programms Werkzeug einer eudämonistischen Individualmoral und in dieser Hinsicht der konkurrierenden Konzeption Robespierres diametral entgegengesetzt.321 Dessen Staatskonzeption machte die Moral zum Instrument des Rechtsstaates, der die Bedingungen äußerer Freiheit und eine bestimmte Verteilungsgerechtigkeit realisieren sollte. Bei allen psychologisierenden Dramatisierungen des Konflikts erweist sich die von Büchner zugespitzte konträre Konstellation von Moral und Staatspolitik daher als die entscheidende Differenz zwischen Danton und Robespierre. Nun hat die Rekonstruktion seines politischen Wissens gezeigt, dass sich Büchner einerseits an einer eudämonistischen Staatszweckelehre orientierte, weil er im Hessischen Landboten den Staat ebenfalls auf einen materialen Zweck ausrichtete, andererseits dieser Zweck aber im Gemeinwohl bestand und sich damit von der individualistischen Glückseligkeitsnorm der Dantonisten unterschied: Was ist den nun das für ein gewaltiges Ding der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muß, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind Alle, die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen.322

Das »Wohl Aller« ist als gemeinwohlorientierte Kategorie der Staatszweckbestimmung vom »Wohlbefinden« jedes Einzelnen als Telos des Staates substanziell unterschieden. Die Indifferenz der Dantonisten gegenüber dem Elend der hungernden Bevölkerung von Paris macht diesen Unterschied kenntlich. Darüber hinaus hatte Büchner im Sommersemester 1834, also kurz vor Beginn der Arbeit an Danton’s Tod, bei Joseph Hillebrand eine Vorlesung gehört, in der dezidiert zwischen den ethischen und den politischen Bereichen der praktischen Vernunft unterschieden wurde.323 Trotz der durch den Einfluss Hegels deutlichen Vermittlung beider Bereiche im Begriff der spekulativen praktischen Vernunft hält Hillebrand unmissverständlich fest:

|| 320 So die Formel Heines aus dem Wintermärchen, Heine 1976, VII, S. 57844. 321 Die neuere biopolitisch ausgerichtete Forschung (vgl. Fortmann 2013, S. 298ff.; Morawe 2013c; Fortmann 2013–2015, S. 78ff.) hat sich mit diesen politischen und polittheoretischen Essentials der Passage nicht beschäftigt; im Furor der Reflexionen auf das angebliche ›Körperdrama‹, die allerdings die politische Metaphorik nicht als solche interpretieren, gehen diese tatsächlichen politischen Dimensionen des Stückes verloren. 322 Büchner u. Weidig 1996, S. 824–30. Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 4. 323 Vgl. u. a. Hillebrand 1826, S. 54 (»Ethik«) u. S. 60 (»Politik«); Hillebrand 1830, S. 142–149 (»Ethik«) u. S. 149–154 (»Politik«).

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Die politische That ist demnach die Freiheit, indem sie sich als Staatsgewalt, oder als das Gesetz objektiv allgemeingeltend darstellt. Im Staate […] wird daher der sittliche Individual-Wille in dem objektiven Gesetzeswillen seine substanzielle Vollständigkeit gewinnen.324

Die innere Freiheit der Moral und die äußere Freiheit des Naturrechts sind weder identisch noch gegeneinander zu instrumentalisieren. Büchner wird die Freiheitsund Staatsbestimmung Hillebrands inhaltlich nicht geteilt haben, auch dessen strikte Verwerfung aller Vertragstheorien dürfte auf wenig Zustimmung bei ihm gestoßen sein; aber die substanzielle Trennung zwischen Politik und Moral – wenngleich hier als zwei Momente der Ethik – kann er dieser Vorlesung als wohlbegründete Unterscheidung entnommen haben und er lässt sie seinen Robespierre auch distinkt anwenden. Es kann nur angedeutet werden, dass die von Thomasius325 inaugurierte kategoriale Unterscheidung zwischen Moral und Recht und damit von Ethik und Politik eine allererst von Kant fundierte,326 gleichwohl im frühen 19. Jahrhundert durch Fichte und Hegel in die Kritik geratene Errungenschaft der Aufklärung darstellt.327 Wenn ihm auch diese theoriegeschichtliche und systematische Stellung der Problemlage während der Abfassung des Hessischen Landboten nicht geläufig war, so hat Büchner sie in seinem Drama in ihrer den zeitgenössischen Debatten entsprechenden Komplexität reflektiert.328 In dieser für die 1830er Jahre aktuellen und politisch virulenten Problemlage liegt die Wucht des Duells zwischen Danton und Robespierre.329 Wie präzise Büchner seine gegenüber dem Hessischen Landboten neuen Erkenntnisse auf dem Feld des Naturrechts in seinem Drama reflektiert, zeigt die kontrastierende Aufzählung staatstheoretischer Grundsätze, die Hérault und Camille vortragen. Danach sollten »das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend und die Nothwehr an die der Strafe« treten, um einen Staat zu ermöglichen, in dem ›Jeder seine Natur geltend machen könne‹. Reproduzieren die ersten beiden Kontrastpaare – Recht versus Pflicht und Wohlbefinden versus Tu|| 324 Hillebrand 1835/36, II, S. 137. 325 Vgl. Grunert 2000, S. 185–201. 326 Vgl. hierzu Geismann 2006, S. 3–124. 327 Vgl. Prauss 2008. 328 Vgl. auch Dedner 1985, S. 376 sowie Stiening 2016. 329 Diese polittheoretische und -philosophische Problemkonstellation der unterschiedlichen Verhältnisse von Moral und Politik, die das Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre bilden, liegt der von der literaturwissenschaftlichen Forschung ausgemachten heineschen Problematik zwischen den weltanschaulichen Modellen des Spiritualismus und Sensualismus (vgl. u. a. Mayer 1979a, S. 119ff., spez. S. 130; Benn 1977, S. 222f.; Hildebrand 1999, S. 532ff.; Morawe 2005–2008; Morawe 2010; Morawe 2012b; Morawe 2013b) historisch und systematisch weit voraus. Gerade weil Heine zwischen Ethik und Naturrecht, Moral und Politik keine Differenz konstituiert, ist allein die Problemanordnung in Büchners Drama tiefer gelagert als in den kulturpolitischen Fragen Heines; darauf nehmen aber die philosophisch unbedarften Ausführungen Morawes keine Rücksicht.

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gend – den oben schon entwickelten Anspruch auf eine rechtsstaatliche Garantie der Glücksverwirklichung des Einzelnen, ohne tugendethische, d. h. an einer überindividuellen Norm orientierte Restriktionen, so bereitete das letzte Begriffspaar stets besondere Erklärungsnöte; paradigmatisch sei hierfür der Kommentar der MBA zitiert: [D]er Begriff Nothwehr und folglich die rechtstheoretische Gegenüberstellung von Nothwehr und Strafe ist in den historischen Quellen nicht nachweisbar.330

Im weiteren Verlauf der Erläuterung gehen die Kommentatoren dann auf zeitgenössische Theorien ein, die Strafe aus dem Begriff der Notwehr ableiten, dabei u. a. auf Robespierre. Nun ist aber nicht zu übersehen, dass Hérault erstens eine Alternative zum Staatsverständnis des ›Unbestechlichen‹ ausmalen soll und zweitens Strafe und Notwehr nicht auseinander abgeleitet, sondern kontrastierend gegenüber gestellt werden: Die Notwehr soll Strafe ersetzen. Wie ist das zu verstehen? Aufschluss gewährt erneut die Naturrechtstheorie Joseph Hillebrands. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Büchner in dessen schon mehrfach erwähnten Naturrechts-Vorlesung, die er im Sommer 1834 ›mit Erfolg« besucht hatte,331 jene Kontrastierung von Strafe und Notwehr erläutert. In der kurze Zeit später, nämlich 1836 erschienenen Philosophie des Geistes spricht Hillebrand im Abschnitt über die Strafe als Realisationsmoment des Rechtstaates: In der Strafe muß das Gesetz sich genugthun, indem es seine Kraft an dem Verbrecher blos als solchem durchsetzt. Die Strafe ist daher nicht zunächst ein bloses Selbsterhaltungsmittel der Totalfreiheit (eine Nothwehr), sondern diese giebt sich in ihr eine daseynliche Selbstbestimmtheit, erweitert in ihr das Reich ihrer absoluten Selbstmacht. Selbstbehauptung ist mehr als einfache Selbsterhaltung.332

Hillebrand verbindet mit dieser Strafrechtskonzeption eine Vorstellung des Staates als Freiheit realisierenden Selbstzweck, bzw. er leitet diese aus jenem Zweck ab. In der Strafe behauptet, d. h. realisiert sich nach Hillebrand der Rechtsstaat als Wirklichkeit der Freiheit, weshalb sich das Gesetz in Strafkatalogen nicht nur in seiner Existenz erhält, sondern jene Genugtuung, d. h. Geltungsbestätigung erfährt, auf die auch Büchner gegenüber staatlichen Übergriffen auf seine Rechte nicht mehr verzichten mochte.333 Demgegenüber müssen die Dantonisten, die den Staat als

|| 330 MBA III.4, S. 40; vgl. auch Campe 2009, S. 26. 331 Vgl. den überlieferten Hörerschein in Mayer 1985, S. 124. 332 Hillebrand 1835/36, II, S. 172. 333 Vgl. erneut den Brief an die Eltern vom 8. August 1834: »Eine solche Gewalttat stillschweigend ertragen, hieße die Regierung zur Mitschuldigen machen; hieße aussprechen, daß es keine gesetzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das verletzte Recht keine Genugtuung mehr erhalte« (P I, S. 38935ff./MBA X.1, S. 4427ff.).

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Mittel zur Glückseligkeitsmaximierung begreifen, die Strafprinzipien auf den Begriff der Notwehr reduzieren, in dem sich das staatliche Gefüge nur selbst erhält. Notwehr als Prinzip des Strafrechts begrenzt dessen konkrete Realisation auf die Funktion staatlicher Selbsterhaltung. Dem ethischen Eudämonismus der dantonistischen Staatszweckbestimmung entspricht dieses Straf- und Strafrechtsverständnis aufs genaueste. Es gehört allerdings zu den Raffinessen der chiliastischen Verschränkung zwischen den Prinzipien und Handlungen der Dantonisten einerseits und denen der robespierreristischen Gegenpartei andererseits, dass es kein anderes als das Prinzip staatlicher Notwehr ist, das das Strafmaß für die Dantonisten, die Guillotinierung, legitimiert. Ausdrücklich beruft sich Robespierre bei seiner Aufforderung zur Hinrichtung Dantons und seiner politischen Freunde auf die Selbsterhaltung Frankreichs: Die Zahl der Schurken ist nicht groß. Wir haben nur wenige Köpfe zu treffen und das Vaterland ist gerettet.334

Und es ist das im Tugendpathos sich bejubelnde Selbstverständnis des ›Unbestechlichen‹, das sein politisches Ende herbeiführen wird. St. Just kündigt ebendiesen Widerspruch zwischen substanzialistischem Selbst- und funktionalem Fremdverständnis des mächtigen Einzelnen in einer spöttischen Anmerkung an: B a r r é r e. […] Was sagt Robespierre? S t . J u s t. Er thut als ob er etwas zu sagen hätte.335

Eine Interpretation des dramenkonstituierenden Gegensatzes zwischen Dantonisten und Robespierreristen, die auf einer wissensgeschichtlichen Kontextualisierung beruht, kann also zeigen, dass es Büchner um die Bedingungen, Gründe und Konsequenzen der politischen Kontroverse beider Fraktionen und der jeweiligen moralischen Prinzipiierung ging, für die sie standen. Das Drama selbst entwickelt keinerlei Präferenzen für eine der beiden Positionen,336 es zeigt sie vielmehr in ihrer Abhängigkeit von politischen, weltanschaulichen und persönlichen Prämissen und in ihren selbstzerstörenden Potenzen in Zeiten der Revolution. Politik in soziohistorischen Krisenzeiten – so zeigt Danton’s Tod – ist ein hochkomplexes System aus Faktoren, die das Feld des Politischen bei weitem übersteigen und in einer romantischen Ästhetisierung eine katastrophenverschärfende Außenseite erhalten.337

|| 334 MBA III.2, S. 4521f.. 335 Ebd., S. 598f.. 336 Anders dazu u. a. Poschmann 1988, S. 107; Beise 2010, S. 60 oder noch Morawe 2014a, S. 74. 337 Vgl. hierzu nochmals Kurz 1991.

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Die Forschung hat diese Problemkonstellationen des Dramas durchaus erkannt, wenngleich sie unter dem Druck des politischen Paradigmas stets versuchte, weltanschaulichen Mehrwert aus einzelnen Positionen zu ziehen.338 Zu einem der bedeutendsten Streitfelder in dieser Frage wurde die so genannte Marion-Szene, die abschließend zu betrachten ist.

6.4.4 Marion – Epikureismus als Utopie? Schon Paul Landau hat im Jahre 1909 auf die charakteristische Eigentümlichkeit der nur einen einzigen Auftritt erlebenden Marion-Figur hingewiesen: [Z]wischen lebendig fortstürmenden, atemberaubenden Bilder voller Wucht und knapper Kraft waren lang ausgesponnene philosophische Diskussionen eingesprengt. Hier hoben sich aus der chaotischen Stoffmasse einige wenige Gestalten, wie Danton, Robespierre, die Hetäre Marion, in plastischer runder Pracht der Menschengestaltung, dort waren mit wenigen kühnen Akzenten Episodenfiguren lebendig gemacht, wie der Genußmensch Barrère, der Schuft Laflotte. […] So spukt eine starke Romantik in diesem Charakter der Revolution, und sie äußerst sich noch reiner in der Gestalt der Marion, die diesen Namen wohl und auch eine gewisse mondäne Note der 1831 aufgeführten ›Marion de Lorme‹ Victor Hugos, diesem Urbild aller edlen Hetären, verdankt.339

Ohne jeden Zweifel gehört der Beginn der Szene I.5, der durch einen Besuch Dantons bei der ihm in besonderer Zuneigung verbundenen Prostituierten Marion gestaltet wird, zu den Charakteristika des ersten Aktes. Der große Rhetor Danton wird von der Grisette Marion, die seine sexuellen Zudringlichkeiten abwehrt, zum Zuhören gezwungen. Sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte – ohne dass hierfür irgendein Grund oder Anlass geboten würde. Zwar wird die schon in der Szene I.1 und im weiteren Verlauf der Szene I.5 extensiv geschilderte »Unsittlichkeit« der Dantonisten durch ihren Umgang mit käuflicher Sexualität in anschaulicher Weise inszeniert, doch bewirkt allein die Tatsache, dass Marion ihre Lebensgeschichte erzählt, eine differenzierte Stellung dieser Figur. Von der Forschung, die sich nahezu ausschließlich an die Inhalte ihres Monologs und weniger auf dessen inszenatorische Integration in den dargestellten Handlungszusammenhang konzentrierte,340 wurde die Figur seit jeher auf eine – positive oder negative – Männerphantasie reduziert: || 338 Vgl. erneut die Darstellung bei Hildebrand 1999, S. 532–535. 339 Landau 31973, S. 16 u. S. 21f. 340 Vgl. hierzu insbesondere den Kommentar in MBA III.4, S. 78–83, der sich auf der Grundlage eines »größeren unveröffentlichten Manuskript[s] von Thomas Michael Mayer« zur »libertine[n] […] und physiologische[n] Literatur zu Pubertät und Prostitution« stützend die Mär vom erotischen Utopismus dieser Passage ausbreitet. Dass diese Kontextualisierung in die erotische und pornographische Literatur konzeptionell nicht passen will (vgl. Hildebrand 1999, S. 534), wird im Furor jener ›sensualistischen Revolution‹ übersehen.

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Marion sei eine der »schillerndesten und umstrittendsten Figuren des Dramas«,341 die entweder als »Inkarnation sexueller Befreiung« zur »reinen Utopie«342 oder aber als »dumpfe Sinnlichkeit« zum männerverschlingenden Ungeheuer stilisiert würde.343 Hält man solcherart weltanschauliche Debatten auf Distanz,344 lässt eine wissensgeschichtliche Perspektive auf Marions Monolog leicht erkennen, dass sie den von Danton gegenüber Robespierre beanspruchten Grundsatz epikureischnaturalistischer Ethik als Maxime auch für ihr eigenes Handeln in Anspruch nimmt: Aber ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann da drüber hinaus?345

Diese den einzelnen Mann zum Vertreter seiner anthropologisch-geschlechtlichen Gattung reduzierende Perspektive verdankt sich weder einer bewussten noch einer willentlichen Entscheidung. Marion beschreibt ihren Weg in die Prostitution als zwar milieubedingt, weil schon ihre Mutter dieser Arbeit nachgehen musste. Dennoch entspringt ihre Sexualität einem Bedürfnis, das sie nicht zu steuern vermag, sondern als Realisation ihres eigentümlichen Wesens, ihrer »Natur«, interpretiert.346 Die Begriffe, die sie für diese Deutung ihres eigenen Charakters wählt, entstammen den zeitgenössischen Modellen einer romantischen Naturreligion.347 Nicht nur begreift sie sich selbst als Moment eines ebenso rationalitätsfreien wie entindividualisierten natürlichen Gefühls: Ich kenne keinen Absatz, keine Veränderung. Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochnes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom.348

Auch wird dieses, andere Vermögen und Fähigkeiten ausschließende Gefühlsleben als religiöses Weltverhältnis bestimmt:

|| 341 Vgl. Hildebrand 1999, S. 539; vgl. ähnlich Reddick 1994, S. 186ff. 342 Grimm 1979, S. 311ff.; ähnlich schon Ullmann 1972a, S. 65f.; Nienhoff 1991, S. 174–179; Weineck 2000, S. 351–365; MBA III.4, S. 78–83; Hofmann u. Kanning 2013, S. 108ff. 343 So u. a. Martens 31973, S. 375ff.; ähnlich Petersen 1973, S. 254ff.; Fink 1990, S. 186f.; Kitzbichler 1993, S. 37. 344 Was auch Sanna (2010, S. 103–109) nicht gelingt, weil diese Frauenfigur für die Interpretin sowohl positive Utopie als auch deren Gegenteil darstellt. 345 MBA III.2, S. 195–8. 346 Siehe auch Neuhuber 2009, S. 70. 347 Vgl. hierzu die präzisen Ausführungen bei Hildebrand 1999, S. 540ff.; deshalb auch ist die These, Marion kultiviere einen »Heine’schen oder Saint-Simonistischen Spinozismus« (so aber Campe 2009, S. 37), wenig überzeugend. 348 MBA III.2, S. 1924–26.

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Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nemliche Gefühl, wer am Meisten genießt, betet am Meisten.349

Olaf Hildebrand hat mit Recht daran erinnert, dass diese Sakralisierung des Gefühls auch und im Besonderen in seinen sexuellen Erscheinungsformen auf zeitgenössische Tendenzen der Frühromantik und ihrer Aktualisierung durch das Junge Deutschland verweisen. Büchner nehme unübersehbar Bezug auf solche die Debatte prägenden Texte wie Schlegels Lucinde, Tiecks Lowell oder Gutzkows Wally350 – aber in welcher Weise? Nun ist deutlich erkennbar, dass Marion jene von Danton ebenso wie von Laflotte beanspruchte naturalistische Maxime nicht in ihrer normativen Dimension aufruft. Wird Danton in der Auseinandersetzung mit Robespierre sowohl die anthropologisch-deskriptive als auch die ethisch-normative Ebene des naturalistischen Glückbestrebens beanspruchen, so kann sich Marion in ihrer autobiographischen Skizze ganz auf eine deskriptive Gefühls-Anthropologie beschränken. Dass der Mensch seiner Bedürfnisnatur gemäß handle, ist für sie eine anthropologische Konstante, keine moralische Maxime, und zwar auch deshalb, weil es für diese ›romantische‹ Anthropologie keinerlei Sollen geben kann, das sich vom Sein noch unterschiede.351 Es ist aber genau dieser normativ indifferente emotionalistische Universalismus, der Marion jede Form von Verantwortung – sei es als Gefühl, sei es als Wissen – unmöglich macht. Weder der Selbstmord ihres ersten Liebhabers, noch der gramvolle Tod ihrer Mutter, die beide – wenn schon nicht als ihre Schuld interpretierbar, so doch – in ihre Verantwortung fallen, nötigen ihr mehr als unmittelbare Trauer ab. Mit dieser – im deskriptiven Wortsinne – ›Verantwortungslosigkeit‹ ebenso wie durch ihre Sakralisierung des Gefühls ist sie jedoch als seine Geliebte und bedingungslose Vertreterin eines anthropologischen Naturalismus das genaue Gegenteil Dantons, der nicht nur als Atheist jeder Form von Religiosität ablehnend gegenübersteht, sondern von der Verantwortung für die Septembermorde zerfressen wird. Marions bruchlose Verwirklichung des Naturalismus mag für Danton den Charakter einer unerfüllbaren, sehnsuchtsbesetzten Utopie haben, weshalb er die »Schönheit« seiner Geliebten, die sich nach Marions religiösem Bekenntnis keineswegs ausschließlich auf ihre körperlichen Eigenschaften bezieht, »ganz in [s]ich fassen« will.352 Die objektive Verantwortung für den Tod zweier ihr nahestehender Menschen, die Marion aufgrund ihres Naturalismus subjektiv nicht wahrnimmt, bildet jedoch den kritischen Kontrast zur naturalistischen Fundierung der camilleschen

|| 349 Ebd., S. 1927–202. 350 Hildebrand 1999, S. 541ff.; vgl. auch Kurzke 2013, S. 26ff. u. S. 206ff. 351 Vgl. hierzu auch Schweizer 2008, S. 168ff. 352 MBA III.2, S. 203.

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Staatskonzeption aus der Szene I.1. Marion zeigt, dass eine konsequent handelnde »Venus mit dem schönen Hintern« zu einer in jeder Hinsicht verantwortungslosen Interpersonalität und Vergemeinschaftung führt, mit der kein Staat zu machen ist. Schon der einfachste Versuch des Ausbruchs aus diesem Leben in einer emotionsgesteuerten Unmittelbarkeit sexueller Bedürfnisbefriedigung, das durch Unmöglichkeit einer Verantwortungsübernahme zur Einsamkeit führt, scheitert: Danton, der nur unter Bekundungen des Unwillens eine andere als körperliche Interaktion mit ihr hinnimmt, hört ihrer Geschichte offenbar kaum zu. In fast besinnungsloser Sehnsucht sucht er sich sein Ideal gelungener Entindividuation, das Marion für ihn darstellt, dem sie sich aber durch die reflektierende Erzählung zu entziehen droht, körperlich anzunähern; diese körperliche Verwirklichung von Idealität entstellt jedoch den Suchenden: M a r i o n. Danton, deine Lippen haben Augen.353

Doch Marion dient nicht nur zur Illustration der desaströsen Konsequenzen einer ungebrochenen Verwirklichung naturalistischer Ethik, sie verweist auch auf die brüchige Normativität in der politischen Weltanschauung der Gegenpartei. Olaf Hildebrand hat darauf hingewiesen, dass die Bilder von »Strom, Glut und Flut«, die Marion zur Illustration der Selbstwahrnehmung ihrer Gefühlswelt verwendet, in einer Motivkorrespondenz zur Rede St. Justs stehen, der zur Legitimation staatlicher Gewaltherrschaft eine Geschichtsanthropologie aufrief, die sich vergleichbarer Bilder bediente. In Marions unwissentlichem, gleichsam natürlich erzwungenem Naturalismus konvergieren mithin die gegnerischen Konzeptionen von Ethik und Politik. Bildet ihre unbeschränkte Verantwortungslosigkeit ein unerreichbares Ideal des ethischen Naturalismus Dantons, so prägt der dieser Ethik zugrundeliegende anthropologische Universalismus die politische Ideologie St. Justs. Um der idealisierten Form des Gefühlslebens zu entsprechen, muss Danton wünschen, in den Aether aufzugehen, mithin sich als Individuum aufzugeben; die theoretischen Grundlagen ihrer Haltung dienen gegen Ende des Stückes zur Legitimation seiner Hinrichtung; so oder so ist Marion ›Danton’s Tod‹.

|| 353 MBA III.2, S. 205.

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6.5 Fazit: Danton’s Tod als dramatische Reflexion auf Politik und Wissen Karl Eibl hat jene eine Frage, die die Danton-Forschung seit Carl Viëtor und Hans Mayer beschäftigte, im Jahre 1981 in einer durch die polithistorischen Forschungen der 1970er Jahre verschärften Dringlichkeit formuliert: Weshalb schreibt Büchner überhaupt ein Drama?354

Ein Teil der Forschung hatte den Wechsel von der politischen Agitation und Tat zur literarischen Reflexion als Flucht aus den gescheiterten Revolutionsbemühungen in die Dichtung, als einzig mögliches Feld der Verwirklichung einer pessimistischen Geschichtsmetaphysik vorgestellt.355 Nachdem durch die Forschungen Joachim Ruckhäberles, Gerhard Janckes und Thomas Michael Mayers356 deutlich geworden war, dass Büchner keineswegs von politischen Enttäuschungen oder einem geschichtsmetaphysischen Pessimismus bedrückt den Weg in die Literatur antrat, sondern – bestätigt durch weitere Brieffunde357 – weiterhin, wenngleich in anderer, der Situation angepasster Form politisch tätig war, zudem die zeitweilig forschungswirksame Mär, Büchner habe Geld für seine Flucht gebraucht und dies durch die Einnahmen aus seinen Dichtungen zu erarbeiten erhoffte, ausgeräumt wurde,358 stellt sich das Problem in unverminderter Schärfe: Warum schreibt ein politisch verfolgter, zumindest aber unter Beobachtung stehender Student der Naturwissenschaften in den 1830er Jahren ein Drama über die Französische Revolution. Die bis in aktuellste Forschungsbeiträge wirksame These, Büchner habe seine politischen Erfahrungen und Revolutionstheorien einer politischen Reflektion unterziehen wollen, sein Drama sei mithin eine »nahtlose Verlängerung revolutionärer Praxis in den ästhetischen Denk- und Spielraum«,359 hatte schon Eibl kritisch distanziert mit dem Hinweis:

|| 354 Eibl 1981, S. 412. 355 Vgl. hierzu Viëtor 1949, S. 297ff.; Lehmann 1963, S. 210; Martens 1973a, S. 407; Viëtor 1973 [EA 1934], S. 98–137; Wittkowski 1976, S. 359f., S. 388–398 u. S. 412ff.; Schwann 1997, S. 322ff.; Wagner 2000, S. 204–219; Faber 2002, S. 444f.; Wittkowski 2009, S. 61–74 u. S. 213–232 sowie Kurzke 2013, S. 13, S. 107 u. ö. 356 Ruckhäberle 1975; Jancke 31979 sowie Mayer 1979a. 357 Vgl. Mayer 1993. 358 So schon – mit Bezug auf Mayer 1979b, S. 389 u. S. 394f. – Eibl 1981, S. 412f. 359 Knapp 32000, S. 110; vgl. auch Wender 1988, S. 68; Hauschild 1993, S. 447; Fortmann 2013, S. 25; Morawe 2014a.

Fazit: Danton’s Tod als dramatische Reflexion auf Politik und Wissen | 493

Als Antwort sei vorgeschlagen: Nur die poetische Form ermöglichte es Büchner, seine Problemerfahrungen in ihrer ganzen Komplexität zu formulieren.360

Die vorstehenden wissensgeschichtlichen Überlegungen haben zu zeigen versucht, dass zu dieser Komplexität wissenschaftliche Gehalte zählen, die sowohl Momente von Büchners professioneller Arbeits- und Reflexionsbereichen ausmachten als auch auf kulturpolitische Debatten im Frankreich der 1830er Jahre referierten.361 Büchner verlängerte seine revolutionäre Praxis nicht einfach,362 er reflektierte auf die Bedingungen und Konsequenzen einer sozioökonomische wie kulturpolitische Veränderungen erzwingenden Politik. Dazu gehörten ideologische Vereinnahmungen von Forschungsergebnissen der Naturwissenschaften, die zugleich auf das weltanschauliche Potential derjenigen naturforschenden Kollegen Büchners referierten, die – wie Cuvier, aber auch Comte – die Grenzen der Natur überschreitend auch die Gesellschaftsgeschichte mit den Kategorien der Naturwissenschaft zu erfassen suchten. Aber auch metaphysische Fragen nach der Existenz eines strafenden Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, die den in der Politik schuldig gewordenen Akteuren auf der Seele lag, erachtete Büchner als wichtige Reflexionsgegenstände seiner poetischen Referenz auf die Französische Revolution. Durch die inhaftierten Mitverschwörer und deren Leiden wusste er nur zu gut über die Bedrängnis politischer Verantwortung – und damit die moralischen Konsequenzen der Politik. Wie die Auswirkungen des im Philosophengespräch erörterten Problems einer nicht widerlegbaren Unsterblichkeitskonzeption auf das politische Handeln Dantons zeigten, sind die metaphysischen Problemlagen des Dramas auch für das entwickelte Verständnis von Politik zu berücksichtigen. Mit großer Anschaulichkeit dokumentiert Büchner, dass die Motive politischen Handelns – auch eines solchen, das durch eine soziale Revolution die Armut der Bevölkerung zu lindern oder gar deren Bedingungen abzuschaffen hofft – durch andere als politische Kategorien bestimmt werden. Selbst das hungernde Volk – so zeigt Büchner in der Szenenführung von I.2 – handelt nach Motiven, die einer politischen Rationalität in der Umsetzung seiner Interessen widerspricht.363 Auch die im Zentrum des Dramas stehende Kontroverse zwischen Danton und Robespierre kann mit Hilfe einiger in der Naturrechts-Vorlesung Josef Hillebrands entwickelter Distinktionen, die Büchner kurz vor Beginn der Arbeit am Stück gehört hatte, in ihrer differenzierten Problemkonstellation präziser als bisher rekonstruiert werden. Die auch in der zeitgenössischen Rechts- und Staatsphilosophie kontrover-

|| 360 Eibl 1981, S. 413. 361 Vgl. erneut Deinet 2001, S. 61–176; Deinet 2007; Morawe 2010. 362 Weshalb das Drama auch kein schlichtes jakobinisches Palimpsest ist (so aber Morawe 2013c), sondern eine komplexe Reflexion auf die Frage einer Aktualisierbarkeit der politischen Konzeption der Großen Revolution. 363 Vgl. hierzu MBA III.2, S. 113–24; vgl. hierzu Mayer 1992, S. 159–183; Eibl 1981; Greiner 2015.

494 | Über die Grenzen des Wissens: Danton’s Tod

se Debatte über das Verhältnis von Moral und Politik, das von Danton und Robespierre grundlegend verschieden angelegt und begründet wird, reflektiert das Stück ohne auflösendes Ergebnis: Weder die moralische Politik Dantons noch die politische Moral Robespierres erweisen sich als stabil; aber ohne Moral – darauf hatte Robespierre verwiesen – wird sogar der Schrecken verderblich. Die tatsächlich und ausschließlich als moralisch integer dargestellten Frauengestalten Lucile und Julie gehen bedingungslos mit ihren Ehemännern in den Tod. Lebenswirksame Moralität sieht anders aus.364 Dennoch hat die Politik an ihrem Verhalten eine Grenze, wie auch die Moral ihre notwendigen Geltungsschranken an den Müttern hungernder Kinder oder der Prostitution erfährt. Büchner versucht mit seiner Ästhetik, die ihn bewusst zum genrespezifischen Untertitel »Drama« greifen ließ,365 die Totalität soziopolitischer Strukturen, weltanschaulicher Motivationen und lebensweltlicher Alltagszusammenhänge einer politischen Krisenzeit darzustellen; es ging ihm dabei offensichtlich um die Frage, welche Faktoren zum Verlauf solch ›umwälzender‹ Ereignisse betragen – und sie scheitern lassen. Dabei erkannte und gestaltete er, dass zur Darstellung solch zeitgeschichtlichen Totalität, die geschlossene Handlungsstränge zugunsten prägnanter Ausschnitte zurücktreten lassen,366 weit mehr als politische Faktoren gehören, weil die Geschichte, »wie sie sich wirklich begeben«, von einer ineinanderstürzenden ›Vermittlung‹ von politischen, wissenschaftlichen, weltanschaulichen, lebensweltlichen oder persönlichen Motiven und Ereignissen konstituiert wird, die – bis in ihre »unsittliche« Sexualität erzwingende Alltäglichkeit – eine eindimensionale Ableitung verbietet. Politik konstituiert sich nicht als schlichte Anwendung politischen Wissens ebenso wenig, wie sich letzteres als begriffliche Erfassung der empirischen Praxis begreifen lässt; und doch kann das komplexe Verhältnis politischen Handelns und Wissens im Drama in seinen Auswirkungen auf die Lebenswelt der Akteure reflektiert werden. Büchner bemühte sich um einen ›diagnostischen Blick‹ auf diese Ereigniskette und ihre möglichen Bewegungsgesetze, um dabei weder in einer Feier purer Kontingenz367 noch in der Melancholie bedingungsloser Determi-

|| 364 Insofern fallen alle Versuche, diese Eheverhältnisse zum utopischen Gegenkonzept misslingender Gesellschaftspolitik umzudeuten (vgl. u. a. Broch 1987, S. 241–246; Knapp 32000, S. 118–121; Hofmann u. Kanning 2013, S. 108ff.), hinter Büchners bittere Dekonstruktion solcherart romantischer Illusion weit zurück. Selbstmord und Wahnsinn als Auswege verzweifelter Ehefrauen haben auch in Danton’s Tod nichts Utopisches. 365 Vgl. hierzu die exzellenten Ausführungen von Zeller 1990, S. 157ff. 366 Zur notwendigen Anbindung dieser Dramenästhetik des Danton an die französische Debatte der späten 1820er und frühen 1830er Jahre vgl. ebd., S. 161. 367 So aber Beise 2010, S. 63, der von dem Telos einer »Desorientierung« spricht, auf das die ästhetische Ordnung des Stückes abziele. Büchners komplexe Inszenierung von historisch Besonderem und strukturgeschichtlich Allgemeinem wird mit dieser These allerdings unangemessen simplifiziert.

Fazit: Danton’s Tod als dramatische Reflexion auf Politik und Wissen | 495

niertheit zu versinken.368 Danton’s Tod zeigt vielmehr politisch frei handelnde Subjektivität369 in den eng vernetzten Bedingungsgefügen der Revolutionszeit des späten 18. Jahrhunderts,370 die nicht bruchlos in die 1830er Jahre zu übertragen sind. ›Die soziale Revolution ist nicht fertig‹, das war sicher Büchners Überzeugung,371 doch unter den Bedingungen und mit den Mitteln der 1790er Jahre war dieses Ziel in den 1830er Jahren nicht zu erreichen. Dass selbst die von Büchner kritisch reflektierte Ästhetisierung der Politik durch beide dargestellten Fraktionen,372 dass jene revolutionäre Phase der Politikgestaltung eine die strukturgeschichtlichen Prozesse nur wenig beeinflussende Episode darstellt, hat Büchner seinem Stück in der ihm eigentümlichen doppelten Semantisierung einzelner Aussagen eingeschrieben. Dies gelingt ihm ausgerechnet am Beispiel des wissenschaftlichen Fortschritts, der sich von politischen Revolutionen nicht beeinflussen lässt, auf sie aber auch keine Einwirkungen zeitigt: 1 . H e r r. Ich versichre Sie, eine außerordentliche Entdeckung! Alle technischen Künste bekommen dadurch eine andre Physiognomie. Die Menschheit eilt mit Riesenschritten ihrer hohen Bestimmung entgegen.373

Spätestens an dieser Stelle wird ersichtlich, dass sich für den Autor von Dantonʼs Tod Wissenschaft und Politik gegenseitig begrenzen. Während sie in den geschilderten Tagen des Jahres 1794 ihren politischen und sozialen Fortschritt verspielt, ist dieser in den Wissenschaften für die Menschheit unaufhaltsam. Noch im Woyzeck wird Büchner dieses Missverhältnis zwischen (Natur-)Wissenschaft und Politik reflektieren.

|| 368 Insofern wird der Erkenntnisstand des ›Fatalismusbriefes‹ in Danton’s Tod reflektiert, rekonstituiert jedoch keineswegs seine Komposition; anders dazu Müller-Sievers 2003, S. 107f. 369 Das Drama zeigt allerdings nicht die objektiven »Aporien des modernen Subjekts« (so aber Hofmann u. Kanning 2013, S. 104–107), weil die Problemlagen Dantons keineswegs einer abstrakten Modernität entspringen, sondern vielmehr den ganz konkreten moralischen Konsequenzen politischen Handelns, die er gegen seine theoretischen Auffassungen vom Gewissen als sich spiegelnden Affen zu ertragen hat. Dieses Problem konstituiert auch keine objektive Antinomie – schon gar nicht der Moderne –, sondern Gewissensqualen, die vor der Unsterblichkeit fürchten lassen. Die abstrakte Kulturkritik postmoderner Provenienz erweist sich in all ihrem kritischen Impetus als nicht kritisch genug, um die tatsächlichen Probleme moderner Politik zu ermessen, die noch den revolutionären Streiter für die politische Gleichheit persönliche Schuld auf sich laden lässt. Dieses Problem ist auch weder aporetisch, also unauflösbar, noch nur modern, sondern Herausforderung einer jeden Politik. 370 Vgl. hierzu auch Neuhuber 2009, S. 62f. 371 So Morawe 2010, S. 317ff. und noch Morawe 2014a, S. 71. 372 Vgl. hierzu erneut Kurz 1991, S. 568ff.; Kurz 2008, S. 156. 373 MBA III.2, S. 3610–12; vgl. hierzu auch den Kommentar in P I, S. 471.

7 Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz« zwischen Psychologie, Naturphilosophie und Ästhetik Nach dem unerwarteten Erfolg von Dantonʼs Tod, den Büchner u. a. an den enthusiastischen Reaktionen Karl Gutzkows ablesen konnte, der ihm Eingang in die intellektuellen Zirkel und Publikationsorgane des Jungen Deutschland zu verschaffen versprach, wuchs offenbar der Ehrgeiz des jungen Literaten mit den äußeren Ansprüchen an ihn. Schon wenige Wochen nach seiner Flucht begann er mit der Sammlung von Materialien für eine »Novelle Lenz«,1 die eine kurze, aber entscheidende Zeitspanne im Leben des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz gestalten sollte. Früh schon, das lässt sich am Begriff der »Novelle« ablesen, hatte sich Büchner zu einer poetischen Gestaltung jener 20 Tage entschlossen, die Lenz zu Beginn des Jahres 1778 im elsässischen Steintal bei Johann Friedrich Oberlin verbracht hatte, einem im späten 18. Jahrhundert überregional bekannten pietistischen Geistlichen und Philanthropen.2 Die subjektiven Motive und objektiven Gründe, die Büchner zu dem Versuch einer fiktionalen Narration eben jener Wochen im Leben Lenzens bewogen haben, dürften zum einen in dem Interesse gelegen haben, nach dem verheißungsvollen Ausweis im dramatischen Fach nunmehr in der prosaischen Gattung, die seit der Jahrhundertwende, vor allem aber in den 1830er Jahren sowohl in der französischen als auch in der deutschen Literatur erheblich an Reputation und Bedeutung gewonnen hatte,3 zu reüssieren. Zum anderen erfuhren sowohl Oberlin in der kulturellen Öffentlichkeit des Elsass der 1830er Jahre als auch Lenz im Rahmen literaturhistori-

|| 1 So Gutzkow in einem Antwortschreiben an Büchner vom 12. Mai 1835 (P II, S. 4051); zu einer nüchternen Darstellung der Werkgenese vgl. Knapp 32000, S. 126–130; Borgards 2009, S. 51ff. Die umfassenderen Darstellungen jener Genese in der MBA (V, S. 127–165) sind hermeneutisch im Hinblick auf einen – misslingenden – Nachweis von unterscheidbaren Arbeitsstufen überlagert und daher – weil Genesis und Geltung des überlieferten Textes ineinanderblendend – weitgehend unbrauchbar. 2 Zu Oberlin vgl. die Büchner vermutlich bekannte Studie Daniel Ehrenfried Stoebers 1831, in Auszügen in MBA V, S. 265–301. 3 Zur Entwicklung in Frankreich vgl. Küpper 1987; zum deutschsprachigen Raum vgl. die nach wie vor unerreichten Ausführungen bei Sengle 1971–1980, II, S. 820ff. sowie speziell zur Novellistik Lukas 1998. https://doi.org/10.1515/9783050093215-007

498 | Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«

scher Debatten der deutschen Romantik ein wachsendes Interesse,4 sodass Büchner nach dem Eingreifen in die kulturpolitischen Kontroversen um die Revolution in Frankreich mit Dantonʼs Tod auch mit dem Lenz-Sujet an einer intellektuellen Mode der 1830er Jahre partizipieren konnte und wollte. Dass ihm entlang dieser Absichten ein Text gelang, der die regionalgeschichtlichen Interessen an Oberlin und die literarhistorischen Perspektiven auf Lenz bei weitem überstieg, lässt sich im Folgenden nachweisen. Dabei erweist sich die wissensgeschichtliche Kontextualisierung dieses ProsaFragments als besonders furchtbar, weil sie aufgrund einer detaillierten Interpretation zweier zentraler Passagen der Novelle im Zusammenhang eines spezifischen Wissenskontextes bekannte Lücken der Forschung füllen und die in den letzten Jahren vorherrschende psychiatriegeschichtliche Deutung des Textes erweitern bzw. modifizieren kann. Kaum deutlicher als an diesem Prosatext Büchners lässt sich die Produktivität der Wissensgeschichte als Kontext der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts aufzeigen, weil durch sie eine präzise Lozierung der Wissensbestände und eine Interpretation ihrer Gehalte im Gefüge der Novelle möglich wird, die einerseits die in den letzten Jahrzehnten dominierende Fixierung auf Quellenbestände büchnerscher Texte lockern5 und andererseits gegen einseitige Szientifisierungen der Novelle deren Poetizität deutlicher als bisher ausweisen lässt. Es wird sich zeigen, dass die Versuche einer Interpretation der Erzählung als ›Psychographie mit poetischen Mitteln‹6 insbesondere durch Büchners Wahl der Gestaltung psychologischen, naturphilosophischen und ästhetischen Wissens für das Bewusstsein seines Protagonisten den poetischen Status des Textes verfehlen. Zwar ist unbestreitbar, dass Büchner psychiatrisches Wissens in der Novelle poetisch ausgestalten wollte. Ein wichtiges Moment des intendierten Gehalts der Erzählung bestand zweifellos in der Darstellung der Verlaufsform einer psychischen Erkrankung Lenzens und der unterschiedlichen Erscheinungen ihrer Stadien gemäß den zeitgenössisch aktuellsten und ambitioniertesten Forschungskenntnissen der Psychiatrie.7 Doch werden das berühmte Kunstgespräch zwischen Lenz und Kauf-

|| 4 Zur Oberlin-Mode im Straßburg der 1830er Jahren vgl. Martin 2002, S. 139ff.; zur literarhistorischen Lenz-Renaissance seit den späten 1820er Jahren ebd., S. 82ff.; zur Lenz-Mode im Straßburg der 1830er Jahre ebd., S. 198f. 5 Im »Quellenfetischismus« (so zu Recht Berns 1987, S. 260) als tendenziellem Ersatz für eine Interpretation des Gehaltes der Erzählung sind sich Positivisten und Poststrukturalisten im Übrigen eigentümlich einig; vgl. Will 2000, S. 252ff.; MBA V, S. 209ff. sowie Müller-Sievers 2003, S. 149ff. 6 Vgl. u. a. Schmidt 1994; Schmidt 1998, S. 532ff.; Seling-Dietz 1995–99, S. 190ff.; Dedner 1998, S. 412–456; P I, S. 813f.; MBA V, S. 131ff.; Fauser 2005–08, S. 76ff. sowie Wübben 2016. 7 Zur Darstellung der Krankheit als Verlauf und Prozess vgl. vor allem Reuchlein 1996, S. 80–84 in einer wissenschaftsgeschichtlich und literarhermeneutisch bislang unerreicht präzisen Interpretation.

Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz« | 499

mann8 sowie ein vorhergehendes Gespräch zwischen Lenz und Oberlin9 über vermögenspsychologische und naturphilosophische Erklärungsmodelle zeigen, dass Büchner dem psychisch schwer kranken Lenz hochkomplexe Wissensbestände zuschreibt, die in einem ebenso präzisen wie bewusst anachronistischen Verfahren auf die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten des Kranken hinweisen, und zwar in Bezug auf die Erklärung und Behandlung seiner Krankheit sowie in Bezug auf Bereiche derjenigen Wissenschaften, wie Psychologie und allgemeine Naturtheorie, die an die zeitgenössische Psychiatrie begründungtheoretisch angrenzen. Darüber hinaus lässt er Lenz eine aus dieser Naturphilosophie abgeleitete Kunsttheorie10 ausführlich, präzise und engagiert vorstellen. Büchner vermittelt dadurch, dass er Lenz mit diesem spezifischen Wissen aus Psychiatrie, Psychologie, Naturphilosophie und Ästhetik der 1830er Jahre ausstattet, seine Novelle in einen bestimmten wissenschaftstheoretischen Kontext, der im Hinblick auf eine naturwissenschaftliche Psychiatrie erst mit Griesingers »Magna Charta einer klinischen Psychiatrie«, Die Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten von 1845,11 weiterentwickelt und abgelöst wurde. Es wird sich auf der Grundlage neuerer differenzierender Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichte zum psychiatrischen Feld der Forschung in den 1830er Jahren zudem zeigen,12 dass der Kontext dieser Erzählung in das von Büchner wissenschaftlich bearbeitete, kontroverse naturphilosophische Paradigma zu lozieren ist. Darüber hinaus sind die ästhetischen Prinzipien, die Lenz im Kunstgespräch entwickelt, zwar durchaus den Büchner bekannten Gehalten der Positionen des historischen Lenz nahe, aber mehr noch seinen eigenen, die deutlich und ausschließlich den 1830er Jahren zuzuordnen sind. Zudem – darauf hat ein Teil der Forschung hingewiesen13 – hat Büchner die bei Oberlin nicht erwähnten Gespräche nicht nur unmittelbar nacheinander in den Erzählfluss integriert, sondern auch genügend Hinweise darauf gegeben, dass die ästhetischen Prinzipien aus den naturphilosophischen Ausführungen Lenzens ableitbar sind.

|| 8 MBA V, S. 3641–3915. 9 Ebd., S. 365–40. 10 Zu einem solch engen Zusammenhang auch – zumindest thetisch – P I, S. 835 und Kaufmann 2013–2015, S. 179. 11 Zur wissenschaftsrevolutionären Stellung der Arbeiten Griesingers sowie ihres Anschlusses an den zeitgenössischen Kontext vgl. Tölle u. Schott 2005, S. 66–78. 12 Vgl. hierzu schon Benzenhöfer 1993, S. 75–170; Roelcke 1999, S. 47–79; insbesondere jedoch die Studie von Kutzer 2003, S. 27–47 sowie Tölle u. Schott 2005, S. 53–65. 13 Vgl. u. a. Will 2000, I, S. 310f.: »Der aus dem Vokabular des ›Thierischen Magnetismus‹ herrührende Begriff des ›Somnambulismus‹ führt Lenz zu einem naturphilosophischen, die ästhetischen Positionen des Kunstgesprächs fundierenden Monolog« (Hvhb. von mir); vgl. auch Wübben 2016, S. 92ff.

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Bei allen zum Teil hochdetaillierten Nachweisen bezüglich der von Büchner in seiner Novelle gestalteten psychischen Erkrankung Lenzens, die in den letzten Jahren von der Forschung erbracht wurden,14 ist jedoch die Tatsache, dass der Text eine schwere psychische Krankheit und ihre Verlaufsform darstellt und zugleich dem eindeutig schwer kranken Protagonisten ebenso bedeutendes wie komplexes wissenschaftliches Wissen der 1830er Jahre zuweist, kaum je in den Blick gekommen.15 Nimmt man die in den 1980er Jahren beliebte antipsychiatrische Perspektive nicht ein, die ebenso schlicht wie generell die Gesellschaft für krank und den psychisch Kranken für gesund und so auch hochkomplexer wissenschaftlicher Reflexion für fähig hält,16 dann muss die Tatsache, dass ein Autor des frühen 19. Jahrhunderts im

|| 14 Die lange Zeit übliche, aus der Psychiatrie stammende Zuweisung der Schizophrenie, die Büchner mit seiner Novelle ebenso anschaulich wie detailliert beschrieben habe (vgl. u. a. Viëtor 1949, S. 159; Jancke 31979, S. 242ff.; Irle 1969), wurde in den letzten Jahren (auch weil der Begriff der Schizophrenie zunehmend problematisch wurde) abgelöst von Begriffen der zeitgenössischen Psychologie, wie der »religiösen Melancholie« (Schmidt 1994, S. 44–58; Kubik 1991, S. 54f.; Seling-Dietz 1995–99, S. 225–234; MBA V, S. 133) oder der »manisch-depressiven« Störung (so schon Kobel 1974, S. 147, erneuert – allerdings ohne Bezug zum Vorgänger – Fauser 2005–08, S. 64ff.). Alle Versuche jedoch, der dargestellten psychischen Erkrankung und ihrem Verlauf ein entweder historisch oder gar systematisch eindeutig bestimmbares Krankheitsbild zuzuschreiben, kranken selber einerseits an der problematischen Dokumentationslage, nach der Büchner noch im Herbst 1835, also während der intensivsten Arbeitsphase davon spricht, er beabsichtige mit Lenz einen »halb-verrückten« Poeten zum Gegenstand eines Aufsatzes zu machen, was von wenig präzisen Kenntnissen in psychopathologischer Nosologie spricht. Andererseits bleibt als ein methodisches Problem der Sachverhalt unhintergehbar, dass Büchner nicht über eine präzise Kenntnis der an einem Patienten nur unmittelbar diagnostizierbaren Krankheit verfügte, sondern durch Anwendung zeitgenössisch psychiatrischen Wissens der 1830er Jahre auf historische Dokumente des 18. Jahrhunderts – vor allem Oberlins Bericht – Vermutungen über Lenzens Krankheit bzw. bestimmte Verhaltensformen anstellen musste, mithin auch der Autor des Lenz jene Form von ›Paläodiagnostik‹ betreibt, die jede seriöse Psychiatrie zurückweisen würde – schon im 19. Jahrhundert. Weil Büchner um dieses methodische Problem wusste, kann es ihm gar nicht ausschließlich um eine – wenn auch gegenüber den Formen der Zeit modifizierte – Pathographie gegangen sein. Büchners heikle ›Paläodiagnostik‹ in einem erneuten Zeitsprung auf zeitgenössische Krankheitsvorstellungen der 1830er Jahre zurückzuführen, die als Ergebnisse einer erst im Entstehen befindlichen Wissenschaft noch wenig präzise ausfielen, scheint mir den Rahmen wissenschaftlicher Dignität zu übersteigen. Wübben 2016 spricht daher durchgehend von »Wahnsinn«. 15 Das hat vor allem damit zu tun, dass die im Gespräch mit Oberlin entwickelten naturphilosophischen Ausführungen Lenzens stets als Naturmystik ausgelegt wurden (vgl. u.a. Schings 22012, S. 77; Borgards 2009, S. 62; Wittkowski 2009, S. 143; Hofmann u. Kanning 2013, S. 128; Neumeyr 2013, S. 217). Die zeitgenössische Naturphilosophie – das hatte Büchner schon bei seinen Lehrern in Straßburg oder bei Wilbrand in Gießen lernen können – hat aber mit den Glaubenslehren und -erlebnissen der Naturmystik nichts gemein, allein weil sie einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. 16 Vgl. u. a. Thorn-Prikker 1978, S. 75ff. Dass diese Perspektive in den 1980er Jahren neben Hölderlin auch häufiger auf Büchners Lenz appliziert wurde, zeigt in bewundernswerter Nüchternheit der exzellente Forschungsüberblick von Hinderer 1990, S. 70–82, spez. S. 82; vgl. auch Schaub 1996b,

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Rahmen der offensichtlich intendierten Phänomenologie einer psychischen Erkrankung dem dargestellten Protagonisten wissenschaftliche Reflexions- und Artikulationsfähigkeiten zuschreibt, vor dem Hintergrund des Krankheitsverständnisses der Zeit irritieren.17 Für die allererst durch den zeitgenössischen Kontext zu ermessende Problematik jener Versuchsanordnung ist zunächst irrelevant, dass der Protagonist Dichter ist. Denn psychopathologische Erscheinungen und wissenschaftliche Intelligenz schlossen sich für weite Teile der zeitgenössischen Psychiatrie und Psychologie, wie erst recht für den öffentlichen Diskurs über sie ebenso grundsätzlich wie kontradiktorisch aus. Weil, wie Johann Christian Reil als die bedeutendste Koryphäe der Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts ausführte,18 Wahnsinn in allen seinen Facetten als »Anomalie des Selbstbewußtseins der Subjektivität« zu verstehen sei,19 das Selbstbewusstsein jedoch die entscheidende Synthesisfunktion für alles Erkennen leiste, könnten die Kranken weder sich noch die sie umgebende Welt angemessen erfassen. Der neurologische Hintergrund psychopathologischer Erscheinungen belege empirisch die grundlegende Verzerrung des Wirklichkeitsverhältnisses der Kranken. Das scheint Büchner offensichtlich anders zu sehen. Weil auch eine romantische bzw. neoromantisch-antipsychiatrische Nobilitierung der Psychopathologie nach dem Muster ›Genie und Wahnsinn‹ auf die Novelle nicht zu applizieren ist,20 liegt in Büchners Text eine gegenüber beiden zeitgenössischen Perspektiven innovative Psychologie pathologischer Erscheinungen vor. Diese gilt es im Folgenden zu ermitteln.

|| S. 143–149, sowie Martin 2002, S. 186. Bei Schwann 1997, S. 17–88; Will 2000, II, S. 18–22, Martin 2002, S. 185–191 finden sich ebenfalls Forschungsberichte, die allerdings die seit 2000 zu verzeichnenden poststrukturalistischen Perspektiven auf die Novelle (vgl. Müller-Sievers 2003, S. 149–169; Descourvières 2006, S. 203–226; Borgards 2007, S. 421–450; Borgards 2009, S. 51–71 Gentilin 2017) noch nicht berücksichtigen. 17 In wenig überraschender Weise müssen die Positionen, die die These von den zunächst und zumeist psychographischen Intentionen Büchners und damit eine Instrumentalität der Poesie für eine wissenschaftliche Darstellung vertreten (vor allem Schmidt 1994, S. 213ff.; Seling-Dietz 1995– 99, S. 209ff.; MBA V, S. 131ff.; Martin 2002, S. 192f., die von einer literarischen Pathographie spricht, sowie insbesondere Fauser 2005–08, S. 66ff.), sowohl das Kunstgespräch als auch das Somnambulismusgespräch zwischen Lenz und Oberlin marginalisieren bzw. schlicht unerwähnt lassen. Dabei wäre doch die Frage, warum ein der »religiösen Melancholie« Verfallender durch das Denken und Sprechen über naturevolutionäre Prozesse oder ästhetische Problemlagen Beruhigung erfährt, von erheblichem Interesse und – wie mir scheint – mit den psychiatriegeschichtlichen Überlegungen durchaus vereinbar; Wübben (2016, S. 92ff.) dagegen interpretiert zumindest den Terminus Somnambulismus und dessen naturphilosophischen Kontext. 18 Zu Reils Stellung im Feld der frühen professionalisierten Psychiatrie vgl. Roelcke 1996, S. 56–67; Marneos u. Pillmann 2005; Geyer 2014, S. 31–49; zu einer Skizze der Wissenschaftstheorie Reils und ihrer Stellung zwischen Aufklärung und Naturphilosophie Hansen 1998, S. 487–490. 19 Reil 1803, S. 71. 20 So aber Gentilin 2017, S. 58ff.

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Weil die lange Zeit üblichen Thesen von einem Identifikationspotential Lenzens für Büchner mit guten Gründen falsifiziert wurden,21 wird die Rekonstruktion der Gehalte jener auffälligen Wissensbestände des Protagonisten, deren detaillierte Kontextualisierung und die Vermittlung mit der psychographischen Intention der Novelle im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Erst vor dem Hintergrund dieser wissensgeschichtlichen Konstellation wird auch die dritte forschungskonstitutive These, die das Lenz-Fragment als Beitrag zur anhebenden Literaturgeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts interpretiert, zu berücksichtigen sein.22

7.1 Aufsatz oder Novelle – Zu Form und Geltungsstatus des LenzFragments Wie erwähnt und in der Forschung häufig zitiert, bezeichnet Gutzkow in einem Brief vom 12. Mai 1835 die von Büchner offenbar kurz zuvor angekündigte Arbeit zu »Jakob Lenz« als »Novelle«.23 Später wird der Förderer von einem »Buch«, von »Erinnerungen« und 1836 erneut von einer »Novelle« sprechen.24 Büchner selbst, der erst im Herbst 1835 an eine intensivere Ausarbeitung des Textes geht,25 wählt allerdings eine andere Bezeichnung: Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethe’s, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde. Ich denke darüber einen Aufsatz in der deutschen Revue erscheinen zu lassen.26

Nun lässt sich weder durch den vorgesehenen Publikationsort noch durch den verwendeten Terminus »Aufsatz« ausmachen, welche Reflexions- und Darstellungsform Büchner zu verwenden beabsichtigte; die Deutsche Revue, deren erste Nummer trotz prominentester Beteiligung aufgrund der Denunziationen Wolfgang Menzels nicht zustande kam,27 wollte sowohl »Poesie in allen Offenbarungen« als auch || 21 Zu den unterschiedlich begründeten Thesen eines angeblichen Identifikationsverhältnisses zwischen Autor und Figur vgl. u. a. Hans Mayer 1972, S. 274f.; Sengle 1971–1980, III, S. 317–322; Wittkowski 1978, S. 339; Kitzbichler 1993, S. 84f.; widerlegt hat diese Thesen MBA V, S. 127–129. 22 Schon Karl Gutzkow legitimierte seine Publikation des Fragments mit dem Hinweis, der Text sei ein »außerordentlich wichtiger Beitrag zur Literaturgeschichte« (Hauschild 1985, S. 66); zur Bedeutung dieser Perspektive auf die Novelle vgl. MBA V, S. 129–131 sowie Martin 2002, S. 204–218. 23 Brief an Büchner vom 12. Mai 1835; P II, S. 4051. 24 Vgl. die Briefe an Büchner vom 23. Juli 1835; P II, S. 40914f., vom 28. September 1835; P II, S. 41730 und vom 6. Februar 1836; P II, S. 42933. 25 Vgl. hierzu die in diesem Punkte überzeugenden Ausführungen der MBA V, S. 141f. 26 Brief an die Familie vom Oktober 1835; P II, S. 41833–4193. 27 Vgl. zu diesen Vorgängen Eke 2005, S. 52.

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»Spekulationen aller Fakultäten« abdrucken,28 so dass Büchners »Aufsatz« – zudem nach Adelung ein »allgemeiner Ausdruck, welcher die nähere Art unbestimmt läßt«29 – sowohl begrifflich-historiographisch als auch literarisch-phänomenologisch ausgerichtet sein konnte. Selbst die Tatsache, dass Büchner im direkt anschließenden Satz des Briefes an die Eltern seine Suche nach einem Gegenstand für seine akademische Promotion ankündigt, deren philosophische oder naturhistorische Ausrichtung noch unklar ist,30 führt für den intendierten Reflexionsstatus des »Aufsatzes« zu Lenz nicht weiter. Der problematisch überlieferte Text31 lässt allerdings trotz seines eindeutig fragmentarischen Charakters keinen Zweifel daran, dass Büchner eine fiktionale Narration plante, die sich – wie schon sein erstes Drama und noch Woyzeck – mit einem historisch authentischen Gegenstand beschäftigen sollte. Nach dem historischen Drama über den politischen Prozess der Revolution beabsichtigte der junge Autor mithin, eine historische Novelle über einen individual-biographischen Prozess zu liefern: die für den endgültigen Ausbruch seiner Psychopathologie entscheidenden Tage im Leben Jakob Michael Reinhold Lenz’ im Steintal.32 Stehen bei der dramatischen Darstellung der soziopolitischen Prozesse handelnde Politiker im Vordergrund, so konzentriert sich die erzählende Darstellung des individualpsychologischen Prozesses auf einen zunehmend handlungsunfähigen Literaten. Wenn – wie Hannelore Schlaffer an Beispielen des frühen 19. Jahrhunderts nachweisen konnte – die »psychologische Novelle« tatsächlich darin ihr Bestehen hat, dass sie »den Schrecken [steigert], indem sie mehrmals jenen Punkt erfaßt, an dem der Wahnsinn einsetzt, jenen schockartigen Übertritt aus der Wirklichkeit in die Phantasie«,33 dann ist bei allen Differenzen zu E. T. A. Hoffmann und Achim von Arnim Büchners Lenz hinsichtlich seiner poetischen Form als Novelle auf den Begriff gebracht.34 Es wird sich darüber hinaus zeigen, dass trotz mannigfacher Versuche mit Hilfe sozialpsychologischer Perspektivierungen oder auch Nachweisen zu einer sozioge-

|| 28 Vgl. Gutzkows Ankündigungstext in Gutzkow 1835, S. 3. 29 Zitiert nach MBA V, S. 141. 30 P II, S. 4193–8. 31 Vgl. hierzu P I, S. 791–798; Will 2000, I, S. 34ff.; MBA V, S. 166ff. 32 Zu diesem psychopathologischen Prozesscharakter als handlungsstrukturierendem Moment der Erzählung vgl. Reuchlein 1996, S. 82, der zu Recht feststellt, »daß Büchners Erzählung nicht einen statischen Seelenz u s t a n d zeichnet; sie beschreibt vielmehr in einer bis dahin unerreichten Minuosität eine seelische Erkrankung in ihrem A b l a u f und der ihr inhärenten D y n a m i k « (Hvhb. im Text). 33 Schlaffer 1993, S. 235. 34 Anders dazu Borgards 2009, S. 58f., der sich allerdings an einer älteren Novellen-Definition orientiert, um damit die Unbestimmbarkeit der Gattungsfrage zu legitimieren.

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netischen Ätiologisierung des Wahnsinns durch die Erzählung35 eine Vermittlung ihrer Gehalte zu Büchners politischem Wissen nicht herzustellen ist.36 In der vehementen Legitimation seines ersten Dramas gegenüber den aufgrund einiger Obszönitäten schockierten Eltern hatte Büchner einige Monate zuvor im Juli 1835, also inmitten erster Vorbereitungen zum Lenz, festgehalten: Der Dichter […] macht vergangene Zeit wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgehet.37

Mittelbar, als Reflexion auf historische Prozesse und deren Gründe mag Literatur als – nach Büchner superiore – Form der Geschichtsschreibung38 Erkenntnisse generieren. An ihr selbst ist die Erzählung jedoch keineswegs zunächst und zumeist gesellschaftskritisch. Büchner enthält sich in auffälliger Weise jeglicher Form ätiologischer Spekulationen; zu Recht haben schon Albert Meier und Georg Reuchlein festgehalten: »Vielmehr tritt bei ihm die Frage nach den Ursachen des Leidens überhaupt in den Hintergrund. Statt dessen gewinnt die Darstellung des Ablaufs der seelischen Erkrankung an Bedeutung.«39 Für diesen Versuch der poetischen Rekonstruktion des Prozesses einer erkrankenden Dichter-Seele wird Büchner innerhalb der Novellenform gar neue narrative Modelle zu entwickeln versuchen.40 Über den Status des Fragments aber ist der Text, während Büchner zwischen April und Dezember 1835 an ihm arbeitete, nicht hinausgekommen. Am 1. Januar 1836 schreibt er im Zusammenhang einer Abgrenzung gegen das just verbotene Junge Deutschland an die Eltern:

|| 35 Vgl. schon Hans Mayer 1972, S. 270–306; Jancke 31979, S. 236–242; Thorn-Prikker 1978, S. 59–84; Poschmann 1988, S. 164–178; Kitzbichler 1993, S. 88; Frank 1998, S. 597; Knapp 32000, S. 147ff.; Rößer 2000–04, S. 174–205; Borgards 2009, S. 57; Gentilin 2017, S. 60ff. 36 So schon Zeller 1974, S. 211; anders dazu selbst Martin 2002, S. 200, die von »einem politisierten Hintergrund« der öffentlichen Debatten über den jungen Goethe, den Sturm und Drang und Lenz im Straßburg der 1830er Jahre spricht. Worin ›das Politische‹ dieser Debatten bestanden haben könnte, wird allerdings nicht weiter ausgeführt. 37 P II, S. 41032–37. 38 Hinsichtlich des Verhältnisses von historischem Drama und wissenschaftlicher Historiographie hält Büchner nämlich fest: »[D]er dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt« (P II, S. 4108–14). Schon gegen die Historiographie als Wissenschaft grenzt sich der Dichter Büchner ab; das gilt erst recht für die wissenschaftliche Psychiatrie. 39 Reuchlein 1996, S. 80; ähnlich schon Meier 1983, S. 52f. und noch Wübben 2016, S. 92ff. 40 Vgl. hierzu ausführlich Kanzog 1976, S. 186ff.; Reuchlein 1996, S. 84–91; Borgards 2009, S. 59f.

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Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s, das mit all diesen Streitfragen [um das Junge Deutschland] nichts zu tun hat; ich zeichne meine Charaktere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte, und lache über die Leute, welche mich für die Moralität oder Immoralität derselben verantwortlich machen wollen.41

Mit dieser Abwendung vom Jungen Deutschland und der damit verbundenen Konzentration auf das »Feld des Drama’s« brach Büchner zumindest vorläufig seinen Prosaversuch ab; dass dieser Abbruch jedoch mit der wegfallenden Publikationsmöglichkeit durch das Verbot der Neuen Revue in Zusammenhang stünde, wie vor allem in den letzten Jahren vermutet wurde,42 ist wenig wahrscheinlich. Denn dass Gutzkow zügig neue Organe der literarisch-politischen Opposition – trotz des allgemeinen Verbots – auftun würde, war nicht nur für Büchner eine Selbstverständlichkeit: Das Verbot der deutschen Revue schadet mir nichts. Einige Artikel, die für sie bereitlagen, kann ich an den Phönix schicken.43

Ab November 1835 war Büchner vielmehr gezwungen, ausschließlich an seiner naturphilosophischen Dissertation zu arbeiten;44 dass er auch schon zuvor und damit parallel zum Lenz Vorbereitungen traf, lässt sich an der Erzählung gut ablesen. Spätestens im Dezember 1835 zeigten sich jedoch konzeptionelle Schwierigkeiten, die in engem Zusammenhang mit der im Folgenden zu rekonstruierenden wissensgeschichtlichen Dimension des Textes standen und keineswegs beiläufig zu überwinden waren. Büchner brach damit zugunsten seiner Naturwissenschaft einen Arbeits- und Reflexionsprozess ab, der ihn in unterschiedlicher Intensität seit April 1835 beschäftigt hatte und dem er – trotz des letztendlichen Scheiterns – einige Passagen abgerungen hatte, die als in sich geschlossene narrative Einheiten betrachtet werden können. Dazu gehören u. a. die beiden oben erwähnten Gespräche

|| 41 Brief an die Eltern am 1. Januar 1836; P II, S. 42317–22. Eine ausführliche Darstellung der Kritik Büchners am Jungen Deutschland bietet Teraoka 2006, S. 129–145; eine Annäherung versucht Kurzke 2013, S. 26ff.; zum Verbot der jungdeutschen Literatur vgl. Sengle 1971–1980, I, S. 177ff. und Stein 2017, S. 216ff. 42 Vgl. u. a. MBA V, S. 143; allerdings undeutlich, weil auf der einen Seite die Verschärfung der politischen Lage als Bedingung für den Abbruch der Arbeit genannt wird, auf der anderen Seite jedoch zu Recht darauf verwiesen wird, dass Büchner selbst das Verbot der Deutschen Revue für irrelevant gehalten habe. Was aber die Novelle mit der politischen Lage zu tun hatte, wird nirgends erläutert; vgl. auch P I, S. 801, wo von einer »deutschen ›literarischen Revolution‹« gesprochen wird, um nur überhaupt revolutionäres Pathos zu verströmen. 43 Brief an die Eltern am 1. Januar 1836; P II, S. 42212–14/MBA X.1, S. 7815f.. 44 So auch Knapp 32000, S. 127; vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 2.

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sowie die berühmte Eingangspassage, in der er den durch das Gebirge irrenden Lenz sich in der und durch die Natur »wühlen« lässt.45 Ohne jeden Zweifel müssen einzelnen Passagen bzw. narrative Dimensionen des Textes unterschiedliche Bearbeitungsstatus zugewiesen werden;46 die schon von Paul Landau festgehaltenen konzeptionellen Brüche der Handlungsführung waren sicher noch nicht ins Bewusstsein des Autors vorgedrungen,47 zeigen aber auch, dass ihm die Frage nach der Geschlossenheit dieser narrativen Ebene noch weniger wichtig erschien. Die neuere, insbesondere um den Herausgeber der Historischenkritischen Ausgabe sich gruppierende Forschung hat allerdings versucht, aus dem – nur über den ersten, von Gutzkow aufgrund einer Abschrift Minna Jaeglés besorgten Druck – vorliegenden Text drei unterschiedliche Arbeitsstufen herauszuarbeiten, die die Textgenese weitgehend erschließen sollen.48 Wie schon im Zusammenhang des Hessischen Landboten, an dessen genetischer Rekonstruktion – man kann auch von philologischer Auflösung einer hermeneutischen Einheit sprechen – mit diesen Thesen angeschlossen werden soll, muss jener Versuch aber als in seinen Kriterien beliebiges, letztlich interessegeleitetes Ansinnen bezeichnet werden. Die sich an die Thesen Burghard Dedners anschließende Kontroverse über Grund und Zweck solcherart genetischer ›Dekonstruktion‹ des Textes49 wurde aber in der Historischkritischen Ausgabe kaum berücksichtigt. Gegen den genetischen Dogmatismus müssen jedoch einige methodische Argumente des Autors der bedeutendsten quellen- und editionsphilologischen Studie zum Lenz, Michael Will, berücksichtigt werden, der mit guten Gründen festhält: Meines Erachtens sollte es sich angesichts der desolaten Überlieferungslage weder die Editionsphilologie noch die Quellenforschung anmaßen, die Genese eines Textes rekonstruieren zu wollen, von dem weder Handschriften noch davon abgeleitete Druckvorlagen erhalten sind, dessen maßgebliche Quelle bislang in ihrer genauen Beschaffenheit nicht gesichert zu erschließen ist und zu dessen ursprünglicher Manuskriptgestalt zudem nur äußerst vage zeitgenössische Aussagen erhalten sind.50

|| 45 Vgl. hierzu die gegenüber vielen späteren Studien unerreicht präzisen Beschreibungen bei Landau 31973 [EA 1909], S. 43: »Büchners Lenz fließt in seinem Gefühl nicht mehr mit Himmel und Erde in trunkener Schwärmerei zusammen, sondern er wühlt sich gewaltsam, keuchend, mit vorgebogenem Leib in das All hinein, mit einer Lust, die ihm wehe tut.« 46 Soweit kann man Dedner 1990–94, S. 4 sowie MBA V, S. 145ff. zustimmen. 47 Vgl. Landau 31973, S. 35. 48 Vgl. Dedner 1990–94, passim; positiv aufgenommen bei Martin 2002, S. 195; Fauser 2005–08; Borgards 2009, S. 54 und Gentilin 2017, S. 69ff., die schon – als gäbe es keine Kritik – von Textstufen (H 1–3) mit den von Dedner eingeführten Kürzeln sprechen. 49 Vgl. u. a. Wender (1995–99, S. 350–370) in einer allerdings selber mehr konfusen Kritik; Reuchlein 1996, S. 91ff. und Will 2000, I, S. 326–335. 50 Ebd., I, S. 333; vgl. auch Reuchlein 1996, S. 93f.

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Vor allem Dedners These von der Quellennähe bzw. -ferne unterschiedlicher Passagen des überlieferten Textes als Kriterium für deren Bearbeitungsstatus51 wird sich in den folgenden Überlegungen als haltlos erweisen. Überhaupt wird sich erneut zeigen, dass die Fokussierung der Forschung zu Büchners literarischen Texten auf das Aufspüren von Quellen zu einer grundlegenden Verzerrung literaturwissenschaftlicher Erkenntnis führt. Denn die beiden im Folgenden zu betrachtenden Gesprächspassagen sind nicht in dem von der Forschung als Hauptquelle Büchners bezeichneten Bericht Johann Friedrich Oberlins enthalten oder werden dort auch nur angedeutet.52 Allerdings konnten bislang auch keine anderen Quellen für das Gespräch zwischen Oberlin und Lenz aufgefunden werden: Für die naturphilosophische Substanz von Lenz’ Ausführungen konnte bis jetzt keine konkrete Quellenbasis ermittelt werden. Einige Parallelen zur romantischen Naturphilosophie Schellings, Okens und vor allem Gotthilf Heinrich Schuberts sowie zur einschlägigen Fachliteratur über die Themen Magnetismus und Mesmerismus sind zwar evident, doch ließen sich bis jetzt eigentliche Quellen – sei es im engeren oder weiteren Sinn – nicht benennen.53

An diesem Befund konnte weder die Historisch-kritische Ausgabe54 noch die nachfolgende Forschung substanziell etwas ändern. Diese Lage hat jedoch ihren zureichenden methodischen Grund: Denn es wird sich erweisen, dass diese Passagen überhaupt nicht auf einzelne Quellen zurückzuführen sind, sodass die leicht irritierte Feststellung Wills nicht durch weiteres Suchen behoben werden kann. Weder das Somnambulismusgespräch noch das Kunstgespräch sind aufgrund dieser relativen Unabhängigkeit von einzelnen Quellen unwichtig oder in ihrer Stellung und Funktion innerhalb des Textes unerschließbar. Im Gegenteil lässt sich zeigen, dass von ihnen aus die Novelle in ihrer fragmentarischen Gesamtheit55 grundlegend anders zu interpretieren ist, als von der Forschung bisher geleistet. Vor allem wird sich die

|| 51 Dedner 1990–94, S. 10–14. 52 Abgedruckt in P I, S. 966–980 und MBA V, S. 230–241; allein um diesen Text und die Frage, welche seiner Fassungen Büchner zur Kenntnis genommen hat, bzw. wie jene Fassung aussah, die Büchner hat lesen können, ist ein seit Jahren tobender philologischer Streit entbrannt (vgl. Gersch 1998, S. 119–155; Will 2000, I, S. 60–120; Martin 1995–99, S. 612–616), der offenbar die fehlende Möglichkeit philologischer Präzisions-Dekonstruktion des Lenz-Manuskripts ersetzen soll. 53 Will 2000, II, S. 311Anm. 155. 54 Vgl. die zwischen Moritz und Kieser irrlichternden Angaben der MBA V, S. 408–415; aus diesem aus wissenschaftsgeschichtlicher Unerkenntnis erwachsenden Durcheinander der Quellen macht dann der Poststrukturalismus eine »Verwechsung des eigenen mit dem fremden Textmaterial« (Müller-Sievers 2003, S. 150), und so kommen sich Philologie und Dekonstruktion im Zeichen Büchners näher. 55 Dass der Fragmentcharakter kontingent, mithin von Büchner durchaus nicht intendiert war, im Sinne einer romantischen Fragmentarität des menschlichen Denkens, Handelns und Seins, betont schon Landau 31973, S. 35; vgl. auch Will 2000, II, S. 334f.; anders dagegen Borgards 2009, S. 58f.

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Frage nach ihrer genetischen Integration in den Text als unbeantwortbar erweisen; deutlicher noch: Die Frage nach ihrer Stellung innerhalb einer Textgenese ist wissenschaftlich indifferent, d. h. ebenso unbeantwortbar wie uninteressant für eine Rekonstruktion der zumindest intendierten Geltung des poetischen Gehalts, der dem Fragment durchaus zu entnehmen ist.

7.2 Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie Die Forschung zu Büchners Erzählfragment hat mit Hilfe unterschiedlicher Kriterien erheblich differierende Vorschläge im Hinblick auf die Struktur der Erzählung gemacht; vor und neben den oben erwähnten Unterteilungen in genetische Textstufen gab und gibt es Einteilungen gemäß inhaltlicher oder auch nur formaler Kriterien, die an dieser Stelle nicht reproduziert werden müssen.56 Klar ist spätestens mit den bahnbrechenden Studien Georg Reuchleins, dass Büchner den Aufenthalt Lenzens im Steintal als einen Prozess der vollständigen und irreversiblen Ausprägung einer schweren psychischen Krankheit des Dichters Jakob Lenz zu schildern beabsichtigte, die zum einen mehr als die zeitgenössisch bekannte Außenperspektive auf den Erkrankenden gestalten wollte und die zum anderen dezidiert durch unterschiedliche, subjektiv wie objektiv zu unterscheidende Phasen konstituiert wurde.57 In Aufnahme und zumindest versuchter Weiterentwicklung französischer Erzählprosa der 1830er Jahre58 macht es – insbesondere gegenüber den avancierten Unternehmungen E. T. A. Hoffmanns hinsichtlich der Darstellung psychopathologischer Selbstverluste59 – die Leistung des büchnerschen Erzählens aus, dass er eine Form der integrativen Vermittlung von Außen- und Innenperspektive auf die mentalen Prozesse einer erkrankenden Psyche mit poetischen Mitteln entwarf;60 zu Recht hält Georg Reuchlein fest, dass es Büchner gelang, »nicht allein Lenz’ Leiden [zu schildern], sondern mehr noch: was es heißt, wie Lenz zu leiden.«61 Es wird sich noch zeigen, dass dies einem programmatischen Anliegen Büchners entsprach. Im Hinblick auf die im Folgenden zu betrachtenden, allein wissensgeschichtlich zu erschließenden Passagen, das Gespräch mit Oberlin über Phänomene des tierischen Magnetismus und den Disput mit Kaufmann über die Formen und Funktionen der Kunst, ergeben sich nach dem Stand der Forschung und der gegenständli-

|| 56 Vgl. u. a. Hinderer 1990, S. 97f. 57 Reuchlein 1996, S. 84ff. 58 Gemeint ist hiermit vor allem die produktive Rezeption Hugos; vgl. hierzu richtungsweisend Zeller 1990, dagegen in überaus vorläufigen Ansätzen Bertheau 2004, S. 89–93; Beise 2010, S. 64ff. 59 Vgl. hierzu u. a. Reuchlein 1985, S. 67ff. 60 Vgl. ebd., S. 84–91 sowie Martinez u. Scheffel 52003, S. 67ff. 61 Reuchlein 1996, S. 104.

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chen Sache wenigstens drei Problemlagen, die aufgrund der gewählten Perspektive einer Klärung zugeführt werden können: 1. Es gibt gute Gründe, warum eine nunmehr schon Jahrzehnte währende, hochsensible Quellenforschung zu beiden Passagen keine eindeutigen Vorlagen fand.62 Büchner hat diese Passagen, weil ihre Gehalte ihm aufgrund seiner wissenschaftlichen Kenntnisse in psychologischer, naturtheoretischer und ästhetischer Hinsicht wie selbstverständlich geläufig waren, ohne Quellenvorgaben gestalten können. Die weitere Suche nach Quellen sollte vielmehr durch eine umfassende literatur- und wissensgeschichtliche sowie beide Perspektiven vermittelnde Kontextualisierung ersetzt werden, um der historischen Semantik der verhandelten Inhalte und ihrer Stellung im Gefüge der Erzählung methodisch und hermeneutisch Rechnung tragen zu können. 2. Es ist der Forschung zumindest in Umrissen bekannt, dass Büchner seinem Protagonisten sowohl für das Oberlin-Gespräch als auch für die Kontroverse mit Kaufmann Kenntnisse, Fähigkeiten und Überzeugungen zuschreibt, die – wenn nicht unmittelbar seiner eigenen wissenschaftlichen Auffassung, so doch – dem zeitgenössischen Wissen der 1830er Jahre entstammen.63 Michael Will hat in seinem Standardwerk zum Lenz die Irritationen der Forschung ob dieses eigentümlichen Anachronismus wie folgt zum Ausdruck gebracht: Die historischen Unstimmigkeiten, die dieses Verfahren mit sich bringt, sind beträchtlich: im Jahre 1778 waren weder die Lehren des ›theoretischen Magnetismus‹ noch die darauf aufbauenden naturphilosophischen Konzepte formuliert.64

Weil Büchner für das Kunstgespräch zumindest auch auf ästhetische Ausführungen Lenzens zurückgriff,65 stellt sich dieses methodische und systematische Problem für jene Passage noch differenzierter dar; dennoch sind auch im Gespräch über die Kunst Elemente enthalten, die Büchner bewusst aus seinem zeitgenössischen Kontext ins späte 18. Jahrhundert verlegt. Dieser gezielte Anachronismus bedarf einer Erklärung. 3. Die womöglich größte Schwierigkeit jener zwei Passagen der Erzählung besteht darin, dass Büchner seinem von Beginn der erzählten Zeit an eindeutig psychotischen Protagonisten Kenntnisse zueignet, die nicht allein seinen eigenen äußerst nahe sind; sie sind in psychologischer, naturphilosophischer und ästhetischer Hinsicht hochkomplex, in den 1830er Jahren hochaktuell und von einem Rationali-

|| 62 Vgl. erneut Will 2000, I, S. 311 sowie MBA V, S. 408–432. 63 Vgl. hierzu u. a. Reuchlein 1996, S. 89ff.; Will 2000, II, S. 45; MBA V, S. 419ff. 64 Will 2000, I, S. 311. 65 Vgl. u. a. Lenz 1992, II, S. 641–671 sowie ausführlich zu diesem Bezug auf die Schriften des historischen Vorbildes des Protagonisten Wittkowski 1978, S. 332ff.; Schwann 1997, S. 123ff. u. S. 192ff.

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tätsstandard, den keine der beiden zeitgenössischen Fraktionen der wissenschaftlichen Psychiatrie einem psychisch Erkrankten zugeschrieben hätte.66 Ein psychopathologisch deformiertes Bewusstsein konnte – wie gezeigt – nach den Maßstäben der 1830er Jahre nur Unsinn, d. h. semantische Nichtigkeiten, produzieren. Büchners Lenz aber ist nicht nur wissenschaftlich gebildet, er ist – trotz des Ausbruchs der Krankheit – in der Lage, deren Gehalte in komplexer Weise zu reproduzieren und auf gesprächsweise entwickelte Gegenstände kontrovers und erkenntniserweiternd anzuwenden. Schlimmer noch: Lenz zeigt die Fähigkeit, sein psychologisches und naturphilosophisches Wissen auf Erscheinungen seiner Krankheit anzuwenden und sie dadurch entweder versuchsweise zu entpathologisieren, wie seine Träume, oder aber zu legitimieren bzw. zu erklären, ja zu therapieren, wie sein Baden im kalten Wasser dokumentieren kann.67 Kurz: Büchner präsentiert uns einen psychisch schwer Erkrankenden, der gleichwohl zu wissenschaftlicher Reflexion nicht nur in der Lage ist, sondern sich durch solcherart Denken und Reden psychisch beruhigen lässt und dieses Denken gar auf seine eigene Erkrankung und therapeutische Maßnahmen anzuwenden weiß. Für Lenz scheint Denken, gar wissenschaftliches Denken Rettung zu bedeuten.68 Ein näheres Verständnis dieses Konzeptes wird ein Rekurs auf das in der Forschung gern aufgerufene Modell einer »Vernunft im Wahnsinn«, die Büchner durch seine King Lear-Begeisterung übernommen habe,69 nicht leisten können. Das für den historischen Lenz, aber auch für Friedrich Hölderlin in den 1830er Jahren populäre Rezeptionsmuster ›Genie und Wahnsinn‹ findet – wie erwähnt – in Büchners Erzählung keinerlei Anwendung.70 Die poetisch hergestellte Vermittlung zwischen psychischer Krankheit und wissenschaftlicher Rationalität in der Psyche des Protagonisten bedarf mithin einer alternativen Erläuterung.

7.2.1 Eine »Art von Somnambulismus« – Magnetismus und Naturphilosophie zwischen Mystizismus und Wissenschaft Die wissensgeschichtlich entscheidende Passage der Novelle gestaltet ein Gespräch zwischen Oberlin und seinem Schützling Lenz aus, das sich aufgrund eines Berichts

|| 66 Zur Auseinandersetzung zwischen den »Somatikern« und »Psychikern« in der deutschsprachigen Psychiatrie der 1820er und 1830er Jahre vgl. Kutzer 2003, S. 27–47; Greve 2004, S. 85ff.; Schott u. Töll 2005, S. 53ff.; Geyer 2014, S. 57ff. 67 Vgl. hierzu Dedner 1998, S. 129. 68 Insofern ist die These, der Gehalt der Ästhetik Lenzens im Kunstgespräch sei ein »Antidot der psychotischen Anästhesie« (Neymeyr 2013, S. 221) schlicht psychologisierend und so zu kurz gegriffen; es ist die Form der Rationalität überhaupt, die therapeutische Funktion hat, und dies wird auch noch vom Kranken reflektiert. 69 Reuchlein 1996, S. 97f. 70 So zu Recht auch Reuchlein 1996, S. 105ff.

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über einen in der jüngst vergangenen Nacht durchlebten Traum Lenzens entspinnt. Innerhalb der erzählten Zeit, die vom 20. Januar bis zum 9. Februar 1778 währt, befindet sich dieses Gespräch am Morgen des 6. Tages von Lenz’ Aufenthalt in Steintal, mithin am 26. Januar 1778.71 Auch wenn Büchner die gesamte Erzählung noch keineswegs auf eine kohärente Zeitstruktur hin gestaltete, sind diese ersten Tage im Steintal vor allem durch die tags zuvor gehaltene Predigt Lenzens in Büchners Text eindeutig identifizierbar. Die Passage lautet wie folgt: [1] Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen sey; sie sey in einem weißen Kleide aus der dunkeln Kirchhofmauer hervorgetreten, und habe eine weiße und eine rothe Rose an der Brust stecken gehabt; sie sei dann in eine Ecke gesunken, und die Rosen seyen langsam über sie gewachsen, sie sei gewiß todt; er sei ganz ruhig darüber. Oberlin versetzte ihm nun, wie er bei dem Tod seines Vaters allein auf dem Felde gewesen sey, und er dann eine Stimme gehört habe, so daß er wußte, daß sein Vater todt sey; und wie er heimgekommen, sey es so gewesen. [2] Das führte sie weiter, Oberlin sprach noch von Leuten im Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berghöhen angefaßt würden und mit einem Geiste rängen; er sagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser in eine Art von Somnambulismus versetzt worden sey. Lenz sagte, daß der Geist des Wassers über ihn gekommen sey, daß er dann etwas von seinem eigentümlichen Seyn empfunden hätte. [3] Er fuhr weiter fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen, je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbstständig genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl seyn, so von dem eigenthümlichen Leben jeder Form berührt zu werden; für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft. [4] Er sprach sich selbst weiter aus, wie in Allem eine unaussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seeligkeit sey, die in höhern Formen mit mehr Organen aus sich herausgriffe, tönte, auffaßte und dafür aber auch um so tiefer afficirt würde, wie in den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sey. Er verfolgte das noch weiter. Oberlin brach es ab, es erführte ihn zu sehr von seiner einfachen Art ab.72

Trotz der Geschlossenheit und in sich kohärent differenzierten Ordnung der Passage hat sich die Forschung auffallend selten mit diesem Gespräch und seiner Bedeutung für das gehaltliche Ganze der Novelle beschäftigt.73 Eine paradigmatische Interpretation lieferte 1980 Friedrich Sengle mit den folgenden Überlegungen:

|| 71 Vgl. auch Knapp 32000, S. 136. 72 MBA V, S. 365–35; siehe auch P II, S. 23211–23311. 73 Vgl. u. a. Viëtor 1949, S. 165; Zons 1976, S. 71f.; Wittkowski 1978, S. 349; Schings 1980, S. 70ff.; Hinderer 1990, S. 99f.; Reichlein 1996, S. 106; Reddick 1995, S. 139f.; Arz 1996, S. 175–177; P I, S. 830ff.; Osawa 1999, S. 152ff.; Will 2000, I, S. 311; Rößer 2000–04, S. 199f.; Descourvières 2006, S. 211; Hofmann u. Kanning 2013, S. 128f.; Wübben 2016, S. 92ff. und Martus 2016b, S. 150ff.

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Solche Stellen erhalten durch die indirekte Rede etwas Objektives. In Oberlins Bericht fehlt die romantische Amplifikation, sie könnte aber aus einer andern schriftlichen oder mündlichen Quelle stammen. Es ist nicht klar ersichtlich, ob Büchner selbst solchen geheimnisvollen Vorstellungen zuneigt oder ob er sie nur referiert. Sicher scheint mir, daß er auf diese Weise den leidenden Lenz aus der Einsamkeit der Traumwelt, in der sich Geisteskranke normalerweise befinden, herausnehmen und mit Oberlin wie auch mit der Natur und mit den Leuten im Gebirge verbinden will. Es wird klar, daß der Wahnsinn nicht einfach eine Krankheit, sondern etwas Geheimnisvolles ist, daß er an die tiefsten Erkenntnisse der Religion und der Volksweisheit grenzt, daß Lenz gerade auch als Dichter, als Genie sich vom normalen bürgerlichen oder gebildeten Menschen unterscheidet.74

Sengle unternimmt mit diesen Thesen den Versuch, Büchner jene romantische »Nobilitierung des Wahnsinns« 75 zuzuschreiben, die – wie bei Bettine von Armin in Bezug auf Hölderlin76 oder in den literarischen Texten Novalis’, Tiecks oder Jean Pauls77 – psychische Erkrankung als Voraussetzung für eine der Rationalität superiore Erkenntnis umdeutet. Dieses, in der Forschungsgeschichte nicht selten begegnende Unterfangen, Büchner in den Kontext der Romantik zu lozieren,78 mündet aber in das genaue Gegenteil einer Interpretationen der Novelle als wissenschaftsnaher Pathographie, wie sie vor allem von Harald Schmidt, Carolin Seling-Dietz und Yvonne Wübben geleistet wurde: Nicht eine Rekonstruktion »religiöser Melancholie« oder katathoner Schizophrenie als pathologischen Phänomenen, sondern der Nachweis, dass der Atheismus, in den Lenz in der Folge mehr verfällt, als dass er ihn aus Überzeugung vertritt, sei als pathogener Impuls zu interpretieren. Wie auch bei Martens, Lehmann, Wittkowski, Wagner und Kurzke wird Büchner eine religiöse Sehnsucht attestiert, die im Spiegel der Novelle als wahnhafte Verunmöglichung des Glaubens entwickelt werde.79 Die entscheidende Voraussetzung für eine solche Interpretation besteht darin, die Inhalte des Gespräches zwischen Oberlin und Lenz zu »geheimnisvollen Vorstellungen«, und d. h. in diesem Zusammenhang zu pathologisch bedingten, semantischen Nichtigkeiten zu erklären, ihnen mithin eine rationale Rekonstruktion grundsätzlich abzusprechen. Wie die Inhalte des nachfolgenden Kunstgespräches, so lassen sich jedoch auch die Gehalte der psychologischen und naturphilosophischen

|| 74 Sengle 1971–1980, III, S. 320. 75 Barkhoff 1995, S. 143 u. S. 153. 76 Vgl. hierzu u. a. Bothe 1992, S. 25ff. 77 Vgl. hierzu Dedner 1990 sowie erneut die Studie von Engel 2002, S. 81–89. 78 Vgl. schon Dedner 1992, S. 31–89; vor allem aber Beise 2010; Beise 2012; Kurzke 2013, S. 32ff. sowie Martus 2016b, S. 160ff. 79 In bemerkenswerter Weise entspricht die Strategie des Kommentars der MBA zu dieser Stelle eben Sengles Interessen einer Romantisierung Büchners, weil ausführlich aus romantischen Dichtungen (von Jean Paul über Achim von Arnim bis Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff; vgl. MBA V, S. 410f.) als angeblichen Quellen zitiert wird; nur da, wo es unumgänglich erscheint, rekurriert man auf den an sich einzig wirksamen Kontext der Wissenschaft.

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Unterhaltung durchaus nicht mit dem romantischen Begriff des Geheimnisses bzw. des Rätselhaften bestimmen. Auf der Grundlage des in Kapitel 3 rekonstruierten naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Wissens Büchners können vielmehr – mehr noch als in Bezug auf das Kunstgespräch – wesentliche Momente des Disputes zwischen Oberlin und Lenz auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von Büchners eigenen Auffassungen der Natur im Allgemeinen und deren Auswirkung auf spezifische psychische Erscheinungen beim Menschen im Besonderen zurückgeführt werden. Eine im Folgenden zu überprüfende These lautet mithin: Es gibt nicht einen Satz Lenzens in diesem Gespräch, den Büchner nicht auch – wenngleich anders formuliert – im wissenschaftlichen Kontext ebenso vortragen bzw. hätte auffinden können.80 Wie oben abweichend von den edierten Fassungen markiert, ist die Passage in vier Sinnabschnitte zu unterteilen, die im Folgenden nacheinander zu kommentieren und zu interpretieren sein werden. Im ersten Teil wird Lenz’ Traum vom Tode der Mutter von diesem selbst geschildert und von Oberlin durch eigene Erfahrungen hinsichtlich einer zutreffenden Todesahnung bestätigt. Im zweiten Teil verknüpft Oberlin diese ›Traumdeutungen‹ mit psychischen Erscheinungen, die er mit dem Terminus »Somnambulismus« zusammenfasst und die ebenfalls zur Bestätigung der Wahrheit des lenzschen Traumes dienen sollen. Im dritten Teil führt Lenz die schon zum Ende der Debatte um den Somnambulismus begonnene naturphilosophische Erklärung derartiger Phänomene weiter, indem er eine evolutionäre Anthropologie skizziert, die vermögenspsychologisch ausgerichtet ist. Und im vierten Teil wird diese Evolutionstheorie auf die gesamte Natur als einen einheitlichen Organismus ausgeweitet. Alle vier Abschnitte stehen in einem systematischen Zusammenhang, der allerdings durch die mehr theonome Begründungtheorie Oberlins und die mehr naturwissenschaftliche Grundlagentheorie Lenzens in einer kontroversen Spannung ausgetragen wird.81 Im Folgenden soll dieser Zusammenhang und die ihn beherrschende Kontroverse kontextualisierend nachgewiesen werden. 7.2.1.1 Seherische Träume im szientifischen und religiösen Kontext der 1830er Jahre Die in sich geschlossene, hinsichtlich der verhandelten Sachverhalte wie der narrativen Formung eine Einheit ausbildende Passage wird eingeleitet durch einen Bericht Lenzens von einem in der vorhergegangenen Nacht erlebten Traum. Lenz

|| 80 Die Kommentare in Poschmann, Will und der MBA erkennen diesen Zusammenhang in Ansätzen, indem sie Passagen aus Büchners Dissertation zu dieser Stelle der Novelle als Quellen in Beziehung setzen; wie diese Relationierung sachlich zu begründen sei, wird allerdings nicht verraten; vgl. P I, S. 830f.; Will 2000, II, S. 43 und MBA V, S. 412. 81 Vgl. hierzu auch Arz 1996, S. 176: »Während Oberlin sich als Mystiker für solche traumartige Erlebnisse interessiert, interpretiert Lenz sie aus anthropologischer Sicht.«

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träumte von seiner Mutter in einer Weise, die ihm ihren Tod als gesichert erscheinen lässt. Sowohl die objektiven Bedingungen als auch die subjektiven Schlussfolgerungen dieses Traumberichts sind für die folgende Interpretation zu berücksichtigen: Büchner lässt seinen Protagonisten von einem Traum berichten, dem der wachende Lenz selbst divinatorische Fähigkeiten zuschreibt, indem er über einschneidende Ereignisse aus der weit entfernten Heimat Auskunft gibt. Für das Verhältnis der Novelle zu romantischen Poetisierungen von Träumen, etwa bei Jean Paul, Novalis oder E. T. A. Hoffmann, ist entscheidend festzuhalten, dass die Inhalte des Traumes nicht von einer unabhängigen Erzählerinstanz gleichzeitig zum erlebten Traume geschildert werden,82 sondern von der träumenden Person selber – und zwar ex post. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass diese ›Traumdeutung‹ von einem psychisch Kranken vorgetragen wird, zu dessen Krankheitsbild es gehört, die klare und selbstverständliche Differenz zwischen Traum und wachem Bewusstsein allmählich zu verlieren: Schon in der ersten Nacht im Steintal überkommt Lenz die Angst, »sich selbst ein Traum« zu sein.83 In einer späteren Phase der Krankheit klagt Lenz gegenüber Oberlin: »[W]enn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache.«84 Schon Johann Christian Reil, einer der ersten wissenschaftlich seriösen Psychiater des 19. Jahrhunderts,85 hatte dieses Phänomen als ein zentrales Merkmal des kranken Bewusstseins definiert: Der Kranke nimmt entweder gar nichts von alle dem wahr, was um ihm herum, vorgeht, oder er nimmt die äußeren Gegenstände falsch wahr, und unterscheidet sie nicht genau von den Phänomenen, die seine Phantasie ausheckt. Endlich gehört noch der Traum hieher, in welchem die Sinnorgane schlafen, und daher den Träumer nicht an die Welt heranziehen können. Er wird bald über sein Verhältnis zu derselben mit sich uneins; verliert seinen wahren Standpunkt in der Zeit und im Raume, schwimmt fort in das Reich der Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt seiner Phantasie für eine reale Welt außer derselben.86

Es ist allerdings im Hinblick auf Büchners Lenz ausdrücklich festzuhalten, dass der Protagonist an der oben zitierten Stelle, die vom nächtlichen Traum über den Tod der Mutter berichtet, zwischen seinem wachen Bewusstsein während des Berichts und dem Traumzustand in der Nacht deutlich unterscheiden kann; nur deshalb schreibt er dem Inhalt des Traums eine Wahrheitsgewissheit zu. Lenz selber und auch – wenngleich mit Hilfe einer erheblich differierenden Erklärung – Oberlin beurteilen diesen Traum nicht als Erscheinung eines psychopathologischen Zu-

|| 82 Vgl. u. a. den Traum Elis Fröboms in Die Bergwerke zu Falun; Hoffmann 1957–1962, V, S. 206f. 83 MBA V, S. 333. 84 Ebd., S. 453f.. 85 Zu Johann Christian Reil vgl. die Studien von Mocek 2005, S. 459–505; Marneos u. Pillmann 2005 und Geyer 2014, S. 31–49. 86 Reil 1803, S. 65.

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stands, sondern als ein ernstzunehmendes Zeichen für tatsächliche Vorgänge in Lenz’ Familie. Dass auch die zeitgenössischen Leser mit dieser Geltung eines Traumes und seiner Interpretation durch die Figuren der Erzählung wenig Schwierigkeiten gehabt haben dürften, lag an den zeitgenössischen Debatten über den Traum, die sowohl in der deutschen und französischen Literatur als auch in den anthropologischen und psychologischen Wissenschaften ausgetragen wurden.87 Lenzens Traum wird von Büchner jedoch nicht in einen literarischen, sondern vor allem in einen wissensgeschichtlichen Kontext loziert, was die Fortsetzung des Gespräches zeigt, das für Lenz und Oberlin folgerichtig – »das führte sie weiter« – zu Phänomenen des animalischen Magnetismus übergeht. Dabei ist es naturphilosophische und anthropologische Theoriebildung der 1820er und 1830er Jahre, die – wie Manfred Engel zu Recht hervorhob – eine substanzielle Verknüpfung zwischen Traumtheorie und tierischem Magnetismus lieferte: Die Bedeutung des Magnetismus für die romantische Anthropologie und ihre Traumtheorie kann kaum überschätzt werden: Eine Darstellung des tierischen Magnetismus ist obligatorischer Bestandteil jeder Erörterung von Schlaf und Traum: die Denkschemata, die zur Erklärung des Magnetismus entwickelt werden, dienen auch zur Erklärung des Traumes.88

Tatsächlich entwickelte sich auch im breiten Feld der Forschungen zum animalischen Magnetismus, die seit 1815 in umfassendem Maße zu verzeichnen waren,89 eine ausdifferenzierte Traumtheorie.90 Schon Jean Paul hatte sowohl in seinen essayistischen Muthmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus von 1813 als auch in einigen seiner Erzählungen visionäre Traumgesichte und Schlafwandeln als Formen eines »Selbermagnetisierens« bzw. des »selbermagnetischen Schlafs« interpretiert.91 Für weite Teile der Magnetismusforschung zählten diese Traum-Phänomene zu den Formen des selbständigen bzw. natürlichen Somnambulismus, die als besonders schwer zu erklären galten. Wie im Folgenden noch genauer zu betrachten, galt der durch den Rapport eines Magnetiseur mit einem Probanden hergestellte magnetische Zustand als ur-

|| 87 Vgl. hierzu u. a. die Artikel von Michel 2004, S. 327–339; Engel 2002, S. 65–89 sowie Alt 2005, S. 3–30. 88 Engel 2002, S. 74. 89 Vgl. hierzu Gerabek 1994, S. 108ff.; Barkhoff 1995, S. 85ff.; Schott 2004, S. 45ff.; Weder 2008, S. 75–108; Osten 2015, S. 27ff., S. 70ff. u. ö. sowie Wübben 2016, S. 92ff. 90 So auch – allerdings ausschließlich mit Bezug auf Schubert 1808 – MBA V, S. 409 und Wübben 2016, S. 92ff. 91 Dazu Barkhoff 1995, S. 143 u. S. 153; Barkhoff zeigt, dass sich Jean Paul mit dieser Schlaftheorie auf Kluge 21815, S. 368ff. sowie Schubert 1808, S. 350ff. bezieht – mithin auf zeitgenössische Naturforschung; vgl. auch Schmidt-Hannsia 2001, S. 93–113.

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sprüngliche Form, für wichtige Vertreter der Forschung auch als einzige.92 Ein ohne Magnetiseur induzierter Zustand bedurfte daher gesonderter Erklärungen. Zwar ließen sich das vom spiritus rector der Magnetismusforschung, Dietrich Georg Kieser,93 so genannte »Fernsehen«94 bzw. prophetische Vorahnungen als sechster Grad des künstlich erzeugten Magnetismus durchaus nachweisen.95 Doch es mangelte zeitweilig an evidenten Erklärungen für Phänomene eines selbständigen und so natürlichen Somnambulismus. So führt Adolf Karl August Eschenmayer96 1817 im Abschnitt über jenen »natürlichen Somnambulismus« seiner breit rezipierten Psychologie aus: Inzwischen ist der freywillig entstehende Magnetismus noch ein schwieriges Problem, das, wie es gelöst wird, auch in die Theorie Modifikationen hineinträgt. Die schauerliche Geschichte der Somnambüle in Straßburg, die ohne magnetisirt zu werden, die höchsten Stufen erreichte und sich nacheinander den magnetischen, dann den ekstatischen Zustand und zuletzt Wahnsinn und Tod voraussagte, was ganz so eintraf, kann unsere Schlüsse in Hinsicht einströmender Agentien ziemlich unsicher machen.97

Trotz dieser Problemlagen um einen »Idiosomnambulismus«98 versuchten Dietrich Georg Kieser und Justinus Kerner den visionären Traum unter jener automagnetischen Kategorie zu erfassen.99 Bei Eschenmayer korrespondiert dieses Phänomen zudem dem Vermögen der Sympathie: Am höchsten aber steht jene Sympathie, die uns eine unsichtbare Gemeinschaft der Geisterwelt andeutet. Es sind die geistigen Mittheilungen solcher, die sich mit Liebe und Innigkeit vertrauen, selbst aus der Ferne. Es sind die dunklen Ahnungen von dem Tode geliebter Freunde, verwandter Eltern. In dem Lichtgewand schweben die Gestalten an der Seele vorüber und füllen uns mit ihrem Andenken. Die Thatsachen sind zu häufig, als daß wie sie gleichgültig überhören könnten. Sollte es zu gewagt seyn, zu sagen, daß eine der irdischen Hülle entbundene Seele noch einen Augenblick auf der Erde weilen und sich ihren Lieben, gleichsam von ihnen Abschied nehmend, durch Ahnungen, nur dem inneren Auge der Phantasie sichtbar, mittheilen könne?100

|| 92 Vgl. u .a. Kluge 21815, S. 94–115 sowie Wilbrand 1824, S. 73ff. 93 Zu Dietrich Georg Kieser vgl. die Arbeiten von Scheuerbrandt 1999, S. 227–249; Schweizer 2007, S. 1–23 und Geyer 2014, S. 271ff. 94 Zum Begriff des Fernsehens vgl. Kieser 1826, II, S. 169–178. 95 Zu den Graden des magnetischen Zustands vgl. Kluge 21815, S. 107ff.; Eschenmayer 1817, S. 238; Wilbrand 1824, S. 133 sowie Kieser 1826, II, S. 107–121. 96 Zu Eschenmayer vgl. Jantzen 2005, S. 153–179 und Osten 2015, S. 52ff. 97 Eschenmayer 1817, S. 235f. 98 So Kieser 1826, II, S. 20ff.; Carus 1831, S. 319. 99 Kerner 92007, S. 74–77; Kieser 1826, II, S. 33–38. 100 Eschenmayer 1817, S. 113.

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Auch Gotthilf Heinrich Schubert stellt in seinem zum Standardwerk der Diskussion über die Naturphilosophie im Allgemeinen und den Somnambulismus im Besonderen avancierten Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft eine Verbindung zwischen dem tierischen Magnetismus und »dem wunderbaren Mitwissen eines Entfernten um die Schicksale, vornehmlich aber um den Tod einer geliebten, nahe verwandten Person« her, wobei sich »die Personen, denen ein solcher ungewöhnlicher Zufall begegnet, in einem dem magnetischen Schlaf ähnlichen Zustand« befinden.101 Der von Büchner als vergleichender Anatom geschätzte Carl Gustav Carus argumentiert in seinen Vorlesungen über Psychologie von 1831 mit der gleichen Zielrichtung, wenn er solcherart Träume, »in welchen sich ein Wahrnehmen in den Entfernungen vorhergehender oder zukünftiger und fremde Personen betreffender Ereignisse« als wichtige Erscheinungen des im Schlaf isolierten »Gemeingefühls« bestimmt, die mit dem Auftreten eines unbezweifelbaren »Idiosomnambulismus« in engstem Zusammenhang stünden.102 Selbst Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den romantischen Interessen am Übersinnlichen und Wunderbaren ausschließlich in strenger Kritik zugetan,103 ist trotz nachdrücklicher Skepsis gegenüber »Charlatanerien« aller Art davon überzeugt, dass es solche Formen divinatorischer Träume geben kann, die er als Arten »unmittelbaren Wissens« im Rahmen seiner enzyklopädischen Vorlesungen über Anthropologie im Jahre 1830 abhandelt: Die dritte Erscheinung des unmittelbaren Wissens ist die, daß ohne Mitwirkung irgendeines spezifischen Sinnes und ohne das an einem einzelnen Teile des Leibes erfolgende Tätigwerden des Gemeinsinnes als eine unbestimmte Empfindung ein Ahnen oder Schauen, eine Vision von etwas nicht sinnlich Nahem, sondern im Raume oder in der Zeit Fernem, von etwas Zukünftigem oder Vergangenem entsteht.104

Auch der durch seine Gießener Vorlesungen Büchner bekannte, ebenfalls romantikkritische Joseph Hillebrand weist in seiner Anthropologie von 1822/23 die »sogenannten prophetischen Träume« trotz erheblicher Skepsis nicht rundweg als haltlose Spekulationen zurück. Vielmehr bemüht er sich um eine »Erklärung solcher Träume« mit Hilfe des in Büchners Naturwissenschaft105 sowie innerhalb der Anthropologie seines Lenz elementaren Vermögens des »Gemeinsinnes«: Da, wo nun, wie im Schlafe die einzelnen Sinne mehr oder weniger verschlossen sind, kann der allgemeine Sinn sich um so wirksamer beweisen. Es werden daher vielleicht äußere Einflüsse und Kausalverhältnisse, welche während des Wachens wegen der getheilten Richtung der sen-

|| 101 Schubert 1808, S. 350 u. S. 352. 102 Carus 1831, S. 298f. u. S. 319. 103 Vgl. hierzu u.a. Pöggeler 1999. 104 Hegel 1986, X, S. 143. 105 Vgl. Büchners Rekurs auf das Gemeingefühl in seiner Probevorlesung (MBA VIII, S. 15920) sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 3.

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sitiven Kraft in den einzelnen Sinnen nicht wohl empfunden und somit nach ihrer möglichen Verbindung in der Vorstellung aufgefaßt werden können, eben durch den allgemeinen Sinn wahrgenommen, der ohnedies im Schlafe um so feiner empfinden mag, je weniger seine Thätigkeit durch Zerstreuung, vielfaches Geräusch gestört, je weniger die Aufmerksamkeit von seinen Wahrnehmungen ab- und auf andere Gegenstände hingewandt wird.106

Wie Lenzens Gesprächspartner Oberlin stellt Hillebrand solcherart prophetische Träume mitsamt dem »Somnambulismus« in den sachlichen Zusammenhang spezifischer, dennoch »natürlicher Seelenerscheinungen«.107 Sowohl die romantische Anthropologie108 als auch weitere Wissenschaftsfelder betrachteten die prophetischen und fernsehenden Träume als ebenso seriöses wie forschungsintensives Thema der empirischen Psychologie.109 Nahezu alle wissenschaftstheoretischen Fraktionen der Zeit bemühten sich um eine rationale Erklärungen jener Phänomene. Die Überbrückung räumlicher (Fernsehen) und zeitlicher (Prophetie) Grenzen im Zustand des magnetischen Traumes sollte eine Bestätigung naturphilosophischer und epistemologischer Traumtheorien leisten. Allerdings bedienten sich die Somnambulen einer eigentümlichen »Sprache« in Bildern oder Tönen, die dem wachen Bewusstsein des Magnetismusforschers Entschlüsselungsfähigkeiten abverlangte. Nicht zufällig schreibt Gotthilf Heinrich Schubert daher eine Abhandlung über die Symbolik des Traumes110 und schon im ersten Band des Archivs für den thierischen Magnetismus von 1817 verwendet Christian Gottfried Nees von Esenbeck – einer der Herausgeber der Zeitschrift111 – für einen Aufsatz den zukunftsträchtigen Titel Traumdeutungen.112 Wenn Büchner den Protagonisten seiner Novelle von einem fernsehenden Traum berichten lässt, dann steht dieses Motiv durch den in der Folge von Oberlin verwendeten Begriff des Somnambulismus eindeutig im Kontext der durch die Debatten um den animalischen Magnetismus reaktualisierten wissenschaftlichen Kontroverse über die reale Möglichkeit und theoretische Erklärbarkeit solcherart Traumgesichte, die in den 1820er und 1830er Jahren in Wissenschaft, Literatur und Publizistik geführt wurde.113

|| 106 Alle Zitate Hillebrand 1822/23, II, S. 362. 107 Ebd. Bei der Fülle der wissenschaftstheoretisch höchst divergierenden naturphilosophischen Konzeptionen, die eine sachliche Verbindung zwischen Magnetismus und Ahnungsträumen feststellen, kann der einseitige Bezug auf Schubert, den MBA (V, S. 409) wie Wübben (2016, S. 92ff.) unterstellen, nur als verzerrend bezeichnet werden. 108 So aber Engel 2002, S. 78. 109 Zur breiten Wahrnehmung und Reflexion des Magnetismus in frühen 19. Jahrhundert vgl. auch Sawicki 2002, S. 141, und Osten 2015. 110 Schubert 1808. 111 Zur prominenten Stellung Nees von Esenbecks in der Wissenschaftslandschaft des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Bohley 2005, S. 371–399. 112 Nees von Esenbeck 1817. 113 Vgl. erneut Engel 2002; Alt 2005; Luserke 2005, S. 120ff. sowie Osten 2015.

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Andererseits war den zeitgenössischem Lesern – u. a. durch die auch Büchner bekannte Oberlin-Biographie Daniel Ehrenfried Stoebers114 – ebenso präsent, dass der Steintaler Pfarrer sich schon in den 1770er und 1780er Jahren, als Franz Anton Mesmer selber noch am Beginn seiner Theorieentwicklung stand,115 mit abnormalen bzw. ungewöhnlichen Phänomenen der empirischen Psychologie, wie Trance, Vorahnungen und Weissagungen, befaßt hatte – allerdings ganz unabhängig von wissenschaftlichen Interessen unter der Perspektive pietistischer Frömmigkeit.116 Oberlin ging es um die Betrachtung und Behandlung religiöser Prophetien und Inspirationen sowie die Möglichkeit ihrer Beeinflussung bzw. Herstellbarkeit durch glaubenspraktische Rituale.117 So ähnlich die psychischen Phänomene dieser pietistischen Inspirationen denen des Mesmerismus und Somnambulismus auch schienen, Mesmers letztlich materialistische Erklärung der von ihm entdeckten und popularisierten psychischen Erscheinungen und der religiöse Spiritualismus Oberlins stehen sich unvereinbar gegenüber.118 Büchners professionelles Wissen auf dem Feld der empirischen und rationalen Psychologie der 1830er Jahre sowie seine historischen Kenntnisse der Person Oberlins und seiner religiösen Epistemologie und Praxis legen nahe, dass er die eigentümliche und mehrfache Asymmetrie der Kontextfelder dieser Passage bewusst gestaltete: Lenz’ Traum und seine eigene Deutung werden durch den Somnambulismuskontext eindeutig auf die Traumdeutungsdebatten der 1820er und 1830er Jahre bezogen, während Oberlins bestätigende Antwort unübersehbar dem religiösen Kontext pietistischer Glaubenspraktiken des späten 18. Jahrhunderts entstammt. Das scheinbare Verständnis der Gesprächspartner um Lenzens Traum ist nur ein phänomenologisches im Hinblick auf die Wahrheitsgewissheit der Inhalte solcher Träume, stellt sich aber im Hinblick auf die Erklärungs- und Begründungsleistung als ein tiefgreifendes Missverständnis dar. Lenz wird die wissenschaftliche Erklärung jener und verwandter Phänomene sowie die ihr zugrundeliegende philosophische Naturtheorie weiter ausführen; Oberlin wird eben diese Ableitungen abbrechen und durch eine Einbettung in religiöse Kontexte und Begründungstheorien die ›rettende‹ Funktion der Wissenschaft für Lenz unwissentlich zerstören.119

|| 114 Vgl. den Teilabdruck der als sichere Quelle für die Novelle geltenden Biographie in MBA V, S. 265–305. 115 Zur ersten, durch Franz Anton Mesmer inaugurierten Phase der europaweiten Beschäftigung mit hypnotischen Phänomenen vgl. Ego 1992, S. 57–158 sowie Gerabek 1994, S. 101–127. 116 Vgl. MA, S. 541; zu diesen wirkungsmächtigen Tendenzen der Gegenaufklärung vgl. Sawicki 2002, S. 41ff. 117 Vgl. hierzu Schneider 1995, S. 145ff. 118 Diese grundlegende Differenz im Status der Wissensansprüche in Bezug auf somnambule Phänomene übersehen Sawicki 2002, S. 131ff. sowie Osten 2015, S. 35ff. 119 Zur kontroversen Problemlage hinsichtlich der Erklärungen des Somnambulismus in den 1830er Jahren vgl. Sawicki 2002, S. 158.

520 | Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«

Der zeitgenössische Kontext der psychologischen, anthropologischen und literarischen Traumdeutungsmodelle erschwert das Verständnis der hochkomplexen Passage erneut, berücksichtigt man, dass ein erheblicher Teil der Traumtheoretiker psychische Instabilität als Voraussetzung jener Überbrückung räumlicher (Fernsehen) und zeitlicher (Prophetie) Grenzen im Zustand des magnetischen Traumes annahmen: Es findet sich dies Vermögen [Ahnungsvermögen im Traume] nur bei solchen Personen, welche an sogenannter Nervenschwäche leiden, oder doch wenigstens ein vorwaltend reizbares Nervensystem besitzen.120

Auch Carl Gustav Carus sah die Fähigkeit ahnender bzw. hellsehender Träume als Folge einer »kränklichen Stimmung der Seele« an, sodass »solches Ahnungsvermögen in Träumen alsbald sich verliert, wenn irgend eine Krankheit behoben ist«.121 Die These von einer Disposition psychisch labiler bzw. kranker Personen für derartige Ahnungsträume führte beim Gros der naturphilosophischen und medizinischen Theoretiker des animalischen Magnetismus allerdings keineswegs zu einer allgemeinen Pathologisierung des Phänomens, dem einzig als Ausdruck einer Krankheit, nicht aber hinsichtlich des objektiven Realitätsgehalts Aufmerksamkeit beizumessen sei. Vielmehr führte die Verknüpfung von Krankheit und der Fähigkeit zum magnetischen Schlaf, die auch in Bezug auf den künstlichen Somnambulismus registriert wurde und im therapeutischen Zusammenhang zur Anwendung des animalischen Magnetismus als Heilmittel führte,122 bei romantischen Naturphilosophen zu jener angedeuteten »Nobilitierung des Wahnsinns«, so bei Daniel Schubert, Jean Paul, Clemens Brentano oder Justinus Kerner.123 Solcherart Nobilitierung ist jedoch in Büchners Novelle an keiner Stelle auszumachen.124 Den romantischen Modellen einer religiösen Entrückung psychischer Erkrankung wird vielmehr das Leid und Elend der sich verlierenden Psyche entgegengestellt. Büchners Lenz ist nicht wegen seiner Krankheit genial, sondern trotz ihrer zu intellektuellen Leistungen in der Lage; das wissenschaftliche Denken kann gar – wie sich noch zeigen wird – einen beruhigenden Einfluss auf seine Psyche ausüben. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Erzählung dem von Beginn an psychisch instabilen Dichter eben jene Fähigkeit zu ahnenden Träumen

|| 120 Kluge 21815, S. 368; ähnlich auch Schubert 1808, S. 351. 121 Carus 1831, S. 312; diesen Sachverhalt übersieht die ansonsten präzise Arbeit von Schweizer 2008, S. 365ff. 122 Dass der animalische Magnetismus für die Medizin weniger als Problem der Psychologie denn als Heilmittel interessierte und deshalb eine intensive Auseinandersetzung hervorbrachte, zeigt noch der Titel des Bandes von Kluge 21815; dass diese therapeutische Zwecksetzung schon für Mesmer galt, belegt Schott 1982, S. 195–214. 123 Vgl. erneut Barkhoff 1995, S. 143ff. 124 So ganz zu Recht Kitzbichler 1993, S. 101f. sowie Reuchlein 1996, S. 69ff.

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zuweist, die laut zeitgenössisch naturphilosophischer Psychologie pathologische Dispositionen der Seele voraussetzen. Schwieriger noch: Es ist Lenz selber, der sich in seinem Bericht diese Fähigkeit zuschreibt, nicht aber – wie etwa bei Hoffmann oder Tieck – eine übergeordnete Erzählerinstanz.125 Mit dieser Konstruktion unternimmt es Büchner entweder, der Figur selber den Versuch zuzuschreiben, einer schon zuvor gehegten »geheime[n] Hoffnung auf eine Krankheit« Wirklichkeit zu verschaffen,126 weil durch den Ahnungstraum einer kränklichen Stimmung als dessen Voraussetzung Evidenz zugeschrieben würde. Oder Büchner wollte durch dieses am zeitgenössischen Kontext orientierte Motiv an Lenz’ Bewusstsein vorbei eine psychopathologische Disposition seines Protagonisten nahelegen. Die genaue Festlegung der Stellung der Traumpassage im Ganzen der Narration ist auch deshalb so undeutlich, weil – wie sich in der Folge noch deutlicher aufzeigen lassen wird – gerade der Bericht des Traumes und seine durch Lenz geleistete wissenschaftliche Erklärung eine merkliche Entlastung vom psychotischen Druck bewirkt. Scheint die Voraussetzung des Traumes eine psychische Erkrankung, so wirkt der Bericht über ihn und die umfangreiche Erklärung therapeutisch, während sich die religiöse Umdeutung durch Oberlin erneut krankheitsverstärkend auswirkt – eine schwierige und nicht vollends bewältigte Konstruktion.127 Es dürften solcherart noch unbewältigte Komplexitätsprobleme gewesen sein, die den Fragmentcharakter der Novelle bewirkten. Einigen Aufschluss ermöglicht ein Blick auf eine spätere Passage der Erzählung, in der Lenz seinem Mentor erneut von einem divinatorischen Traumerlebnis berichtet: Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer. Nachdem sie Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebester Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher wissen Sie das? – Hieroglyphen, Hieroglyphen – und dann zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben – Hieroglyphen. Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen.128

|| 125 Insofern ist die These, dass sich »der Somnambulismus in Büchners Text als falsche und gefährlich Lehre, die mit dem Ausbruch des Wahnsinns verknüpft sei« (Wübben 2016, S. 99), als zu schlicht; die – höchst unterschiedlichen – Theorien zum Phänomen des Somnambulismus sind es gerade, die Lenz eine Erläuterung bestimmter Phänomene seiner eigenen Krankheit und damit eine Entlastung ermöglichen, das Phänomen selber aber ist Moment seiner Krankheit, die als unaufhaltsam geschildert wird. Gefährlich sind vielmehr die religiösen oder moralischen Instrumentalisierungen der Krankheit, weil sie pathologisierend wirken. 126 MBA V, S. 3415. 127 Diese These, Büchner nähere »Wahnsinn und Somnambulismus im Sinne Schuberts zunächst einander an« (Wübben 2016, S. 95), ist folglich für das tatsächlich komplexe Bedingungsverhältnis von psychischer Erkrankung und Referenz auf die Theorie des Somnambulismus zu abstrakt. 128 MBA V, S. 465–11.

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Abermals meint Lenz, durch eine ›fernsehende‹ Vision den Tod einer geliebten Person erfahren zu haben; dass es sich hierbei um Friederike Brion handelte, war dem zeitgenössischen Leser bekannt. Im Gegensatz aber zur präzisen Ikonographie des ersten Traumes verweist Lenz nunmehr auf den Status seiner Erkenntnis als »Hieroglyphe«, die ihm zwar Gewissheit über das geträumte Faktum, nicht aber den Grund dieser Einsicht gibt. Erneut lässt sich diese Passage durch eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung näherhin erläutern: Denn niemand anderes als Gotthilf Heinrich Schubert bezeichnet die von ihm ausführlich analysierte und gedeutete »Sprache des Traumes« als »Abbreviatur- und Hieroglyphensprache«.129 Mit diesem Begriff stellte sich der Autor in die Tradition der literarischen und naturphilosophischen Romantik, die der Sprache des Hieroglyphischen kategorialen Status beimaß. Bei derartigen Hieroglyphen – prominent gestaltet in Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen – handelte es sich um Zeichensysteme, die aufgrund ihrer semantischen Rätselhaftigkeit, ihrer Unübersetzbarkeit in die Worte menschlicher Sprache, als Ausdruck einer transzendenten Instanz interpretiert wurden.130 Vor allem die Natur, aber auch die Kunst – insbesondere die Musik – sprach dieser Theorie zufolge in Hieroglyphen zum Menschen, die – weil ohne bestimmbare Semantik – eine objektive Instanz repräsentieren sollten.131 Auch Schubert stellt einen Zusammenhang zwischen der Natur als erster Hieroglyphensprache Gottes, der Poesie als bildgesteuerter Sprache der Offenbarung und dem Traum als Zeichensprache einer jenseitigen Welt her. Charakteristisch für Schuberts Abhandlung ist die explizite Anwendung des Hieroglyphenbegriffs auf die Sprache des Traumes als »Traumhieroglyphen«,132 die nur zu einem gewissen Grade entschlüsselbar sein sollen. Schubert liefert daher im ersten Kapitel seiner Abhandlung den Versuch eines ›Handbuchs‹ zur Entschlüsselung der hieroglyphischen Traumsprache. Dieses Programm konkretisiert sich darin, dass zwar einzelnen Bilder je spezifische, kontextabhängig unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden können, der tiefere Grund für die oft prophetische bzw. allgemein metaphysische Semantik jedoch nicht ermittelbar ist. Mit der Anwendung des Hieroglyphenbegriffs ist Lenz allerdings von der eher wissenschaftlichen, naturphilosophischen Psychologie als Erläuterungsform seiner Träume zu einer mehr religiösen Bestimmung dieser Phänomene übergegangen. Schon im Kapitel über die unterschiedlichen Begründungstheorien naturphilosophischer Wissenschaftstheorie hat sich jedoch gezeigt, dass Büchner – bei aller prätendierten und auch partiell erzielten Eigenständigkeit – nur in wenigen Ausnahmefällen der romantischen bzw. metaphysischen Variante der Naturphiloso-

|| 129 Schubert 1968, S. 2, S. 11f., S. 23 u.ö. 130 Vgl. Stiening 1999a, S. 125–132. 131 Diese Semantik des Hieroglyphenbegriffs übersieht Luserke 2001. 132 Schubert 1968 S. 11.

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phie, die durch Schubert, Carus und von Baader repräsentiert wurde, zuneigte.133 Wenn er nun seinen Protagonisten mit dem Hieroglyphenbegriff als Erläuterung für die Wahrheitsgewissheit seiner Ahnungsträume auf die transzendente Begründung Schuberts zurückgreifen lässt, dann soll es dem zunehmend psychotischen Lenz offenbar darum gehen, mit Hilfe des Bezugs auf eine metaphysisch fundierte, psychologische Theorie jenen Anfall von Atheismus, dem er am Tage zuvor ausgesetzt war, zu überwinden. Erneut lässt Büchner ›seinen‹ Lenz also Hilfe in der Theorie suchen. Ging es zu Beginn der erzählten Zeit noch darum, mit Hilfe einer umfassenden psychologischen, anthropologischen und naturphilosophischen Theoriekonstruktion den Gehalt des Ahnungstraums und damit eine dispositionelle Krankheit wahrscheinlich zu machen, so sucht Lenz nach dem erheblichen Fortschreiten der Psychose, der also keineswegs mehr Evidenz verliehen werden muss, in einer Traumtheorie nach Hilfe vor dem als Grund der Pathologie gedeuteten Atheismus. Lenz’ Übergang von einer mehr spekulativen zu einer metaphysischen Naturphilosophie und Magnetismustheorie ist aber nicht als Überwinden einer Glaubenskrise des an seinem Atheismus leidenden Menschen zu lesen, sondern als Ausdruck zunehmender Hilflosigkeit eines seiner Krankheit ausgelieferten Bewusstseins.134 Büchner gelingt mit dieser Entwicklung der theoretisch-erklärenden und therapierenden Bezüge Lenzens zur eigenen Krankheit eine durchaus kohärente Integration der wissenschaftlichen Diskurse der Zeit in seine Novelle. Der Intellektuelle Jakob Lenz sucht gegen den als Krankheitsursache gedeuteten Atheismus Hilfe bei transzendenter Erklärung für bestimmte ihrer Erscheinungen, um damit die Krankheit selbst gegen ihre befürchtete Ätiologie zum Gottesbeweis zu erheben. Bediente er sich im ersten Gespräch mit Oberlin einer komplexen Naturphilosophie spekulativer Provenienz zum Nachweis einer erhofften psychopathologischen Disposition, so greift er im zweiten Gespräch über einen Ahnungstraum auf theonome Erläuterungsmodelle zurück, um die befürchteten Ursachen seiner Krankheit durch diese selbst zu neutralisieren.

|| 133 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 134 Insofern ist auch der von Büchner aus Oberlin übernommene Begriff der Hieroglyphe nicht als Nucleolus für das gehaltliche Ganze der Novelle zu lesen (so aber Schwann 1997, S. 272–314, spez. S. 312ff.). Die Hieroglyphe ist vielmehr Ausdruck für einen bestimmten, späten Stand der mentalen Entwicklung Lenzens, dem ein Allgemeines, das die besonderen Wahrnehmungen und Erkenntnisse synthetisieren könnte, verloren geht. Im ›hieroglyphischen Bewusstsein‹ – so interpretiert Büchner die romantische Ideologie des Rätselhaften – sind Signifikant und Signifikat auseinandergefallen; nur das dieses unvermittelbare Nebeneinander reflektierende Selbstbewusstsein kann den auseinanderstrebenden Momenten seiner selbst durch Bezug auf eine transzendente Instanz – die Bedeutung zwar kontingent zuweist, doch immerhin garantiert – kurzfristig Abhilfe schaffen. Und doch ist der Bezug auf die bedeutungsrettende Gottesinstanz nur der letzte Schritt auf dem Weg in den schon im hieroglyphischen Bewusstsein tobenden Gottes- und pathogenen Selbstverlust. Nur dem sich krankhaft verlierenden Bewusstsein fallen Zeichen und Bezeichnetes auseinander – so Büchner; vgl. hierzu auch Wübben 2016, S. 75f.

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Nun bereitet ein methodisches Problem dieser Interpretation der zweiten Traumpassage erhebliche Schwierigkeiten: Denn jener Hieroglyphentraum des zweiten Gespräches zwischen Oberlin und Lenz wurde von Büchner nahezu unverändert aus seiner Hauptquelle, dem Legitimationsbericht Oberlins, übernommen, der – kurz nach Lenz’ Abtransport im Februar 1778 angefertigt – mit der wissensgeschichtlichen Semantik der Erzählung nichts zu tun haben kann.135 Der Kommentar der MBA umgeht das methodische Problem damit, dass er die Referenzstellen aus den Texten des historischen Lenz, der sich im Zusammenhang mit Herders Ältester Urkunde dessen Hieroglyphenbegriff widmete,136 unvermittelt neben eine Stelle aus Schuberts Symbolik des Traumes setzt.137 An solchen Passagen und ihren literarhistorischen Interpretationszwängen zeigen sich jedoch die Grenzen quellenphilologischer Hilfswissenschaften und das Elend jeder Reduktion von Hermeneutik auf Philologie. Denn indem Büchner den ersten Ahnungstraum ausschließlich und hochdifferenziert in den Kontext der zeitgenössischen Psychologie, Anthropologie und Naturphilosophie stellt, ist die Frage nach der sprachlichen Abhängigkeit der zweiten Passage von einer gegenüber diesem Kontext indifferenten Quelle zweitrangig. Auch sie steht für den zeitgenössischen Leser und den wissensgeschichtlichen Interpreten vor allem im Kontext der Traumtheorien der 1820er und 1830er Jahre und muss daher für ein angemessenes Verständnis der ganzen Novelle auf Schuberts Hieroglyphenkonzept bezogen werden. Die wörtliche Identität mit Oberlins Bericht ist für eine literarhistorische Interpretation, die den wissensgeschichtlichen Kontext nicht ignorieren kann, weitgehend indifferent. Dennoch zeigt sich auch an der mehrfachen Asymmetrie zwischen Text und Kontext dieser Passage, dass sich die Novelle noch in einem unabgeschlossenen Stadium befand. Um der scheinbar unausweichlichen Ambivalenz einer angemessenen Interpretation jener Passagen entgegenwirken zu können, soll nunmehr der weitere Verlauf des ersten Gespräches rekonstruiert werden. 7.2.1.2 Tierischer Magnetismus – Rhabdomantie und deren antimaterialistische Erklärung Denn nach dem gegenseitigen Versichern der Wahrheitsgewissheit ihrer Ahnungsträume gehen die beiden Gesprächspartner dazu über, vergleichbare psychische Erscheinungen wie Wasser- und Metallfühlen zu benennen und zu erklären. Es ist Oberlin, dem Büchner den terminus technicus der Debatten des frühen 19. Jahrhunderts in den Mund legt: Als »eine Art von Somnambulismus« bezeichnet der Theologe nämlich jenen Zustand, in den er »durch das Schauen in ein leeres tiefes Berg|| 135 Vgl. Will 2000, II, S. 110f. sowie MBA V, S. 236. 136 Vgl. Lenz 1992, II, S. 44ff. 137 MBA V, S. 471f.

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wasser« versetzt worden sei.138 Oberlin bedient sich einer Begrifflichkeit, deren Inhalte zwar seit alters her bekannt, in ihrer spezifischen Bedeutung und Terminologie zum Zeitpunkt des historisch verbürgten Aufenthaltes Lenzens im Steintal aber unbekannt waren. Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts etablierte sich im Gefolge der von Franz Anton Mesmer inaugurierten, in nahezu allen zeitgenössischen Wissenschaftsbereichen diskutierten Lehre vom animalischen Magnetismus eine wissenschaftliche Reflexion auf diese Phänomene des Un- bzw. Unterbewussten.139 Mesmers Theorie140 fußte auf einer kosmologischen Konzeption, in deren Zentrum ein »überall zusammenhängendes […] Fluidum« stand, »dessen Feinheit keinen Vergleich zuläßt, und das seiner Natur nach geeignet ist, alle Eindrücke der Bewegung zu empfangen, fortzupflanzen und mitzuteilen«.141 Die zwischen allen kosmischen Entitäten wirkende Kraft bezeichnete Mesmer in Variation der newtonschen Schwerkraft als »gravitas animalis«142 oder animalischen Magnetismus. Bereits eine »kaum merkbare« Veränderung im Gleichgewicht dieser das Universum erfüllenden Kraft rufe »die fühlbarsten Wirkungen hervor«.143 Gemäß der naturphilosophischen Grundlagentheorie der Medizin Mesmers war eine Störung der kosmischen Harmonie Ursache aller Krankheit. Eine Therapie musste demzufolge auf der Wiederherstellung dieser Harmonie beruhen. Mesmer glaubte im tierischen Magnetismus eine Panazee gefunden zu haben, um die gestörte Sphärenharmonie für den Kranken wieder herzustellen. Durch den Einsatz eines so genannten Baquets, eines mit sternförmig angeordneten Flaschen, Eisenspänen, Glas, Sand und anderen Materialien gefüllten Behältnisses,144 suchte Mesmer tatsächlich Kranke zu heilen. Da seine Therapien stets mit einer so genannten heilsamen Krise verbunden waren, die sich durch konvulsivische Anfälle, Katatonien oder andere schmerzhafte Symptome auszeichnete,145 wurde er bald als ›Wunderdoktor‹ ebenso bewundert wie gefürchtet.146 Der Mesmeris-

|| 138 Ebd., S. 3617f.. 139 Dass es sich um solche Phänomene und daher bei der Debatte über den animalischen Magnetismus um eine Vorgeschichte der Psychoanalyse handelt, belegen Ellenberger 1985 und Peters 1990, S. 135–152. 140 Zum Folgenden vgl. u. a. Schott 1982, S. 195–214; Florey 1988, S. 11–40; Ego 1991, S. 27–39; Barkhoff 1995, S. 1–54. 141 Tischner u. Bittel 1941, S. 45. 142 Zitiert nach Hansmann 1957, S. 201–228, hier S. 214. 143 Ebd., S. 212. 144 Eine Beschreibung sowie Abbildungen des mesmerschen Baquets bei Kieser 1826, I, S. 177–180; eine zeitgenössische Abbildung bei Florey 1988, S. 30. 145 Vgl. hierzu ebd., S. 25ff. 146 Zu den Gründen für diesen Umschlag von Wissenschaftsanspruch in Weltanschaungsfunktion vgl. Wolters 1988, S. 121–137.

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mus erlebte in Frankreich eine außerordentliche Konjunktur,147 Mesmers Pariser ›magnetisches Hospital‹ entwickelte sich rasch zu einer Modeklinik. 1784 jedoch sprach eine auf Betreiben des Mesmer-Schülers Charles d’Eslon eingesetzte Untersuchungskommission der magnetischen Kur jedwede Wirkung ab; die Therapie beruhe einzig auf der Einbildungskraft, das von Mesmer angenommene Fluidum, dessen Existenz unbeweisbar bleibe, existiere nicht und sei folglich ohne Nutzen.148 Noch während die Untersuchungskommission tagte, hatte sich allerdings in Paris die von Schülern Mesmers initiierte Société d’Harmonie de France etabliert, die seine Lehre bald bis in die entferntesten Provinzen Frankreichs verbreitete.149 Die innerhalb der Société favorisierte magnetische Kur unterschied sich jedoch grundlegend von Mesmers therapeutischer Methode, denn statt um ein Baquet versammelte sie die Kranken unter alten, dichtbelaubten Bäumen. 1784 versetzte Chastenet de Puységur – Initiator der Société und einer der Mesmeristen, die aus philanthropischem Impuls ihre Untergebenen zu Heilzwecken magnetisierten150 – während einer solchen Sitzung einen seiner Bauern unwillentlich und unwissentlich in einen somnambulen Zustand, der sich deutlich von den bisherigen Erscheinungsformen unterschied. Der Proband und später andere Versuchspersonen verfielen in einen magnetischen Schlaf, der alle Anzeichen einer Hypnose151 aufwies: (1) Wachzustand mit verändertem, oft geschärftem Bewusstsein; (2) Amnesie nach dem Erwachen; (3) Rapport, d. h. die Beeinflussbarkeit des Magnetisierten durch den und seine Abhängigkeit von dem Magnetiseur; (4) willenlose Ausführung seiner Anordnungen; (5) vor allem aber die so genannte Luzidität, die Fähigkeit, eigene und fremde Krankheiten zu erkennen und therapeutische Mittel anzuordnen.152 Diese durch den Magnetiseur künstlich hervorgebrachte Form des Mesmerismus bezeichnete Puységur als »Somnambulismus«.153 Die sich aus dessen Kreis herausbildende Konzeption eines künstlichen Somnambulismus überlagerte und verdrängte bald Mesmers Lehre. Zwei Aspekte gilt es hierbei herauszustreichen: Zum einen ignorierte Puységur die für Mesmer prägende Rolle der konvulsivischen Krise, an deren Stelle der wohltuende magnetische Schlaf rückte. Zum anderen relativierte er die Bedeutung des unendlich feinen, alles durchdringenden Fluidums. Obwohl er dessen Existenz nicht leugnete, nahm er den

|| 147 Vgl. hierzu Darnton 1983, S. 56–170 sowie Ego 1991, S. 132ff. 148 Vgl. ebd., S. 139–144; Barkhoff 1995, S. 55–68. 149 Vgl. hierzu Ego 1991, S. 135ff. 150 Zu Puységur vgl. Mortier 2001, S. 57ff. 151 Der Begriff »Hypnose« wurde jedoch erst 1841 von James Braid eingeführt, vgl. Braid 1843 sowie Bongartz 1988. 152 Vgl. Barkhoff 1995, S. 27. 153 Puységur 1786; Mesmer benannte und beschrieb die Spielformen des Somnambulismus bereits 1779 in der Vorrede zu seinem Mémoire, doch blieb dies ohne Folgen für die allgemeine Wissenschaftstheorie; vgl. auch Kiesewetter 1893, spez. S. 138 f.

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Willen des Magnetiseurs, d. h. ein immaterielles Agens, als entscheidenden Faktor der magnetischen Phänomene an, womit Mesmers materialistischer Theorie der Boden entzogen wurde. Innerhalb der magnetischen Bewegung etablierte sich somit die psychologiegeschichtlich innovative Annahme von psychischen Ursachen animalisch-magnetischer Zustände.154 Als der Mesmerismus, ausgehend von Straßburg über Baden und Württemberg 1786 Deutschland erreichte,155 war die Lehre des Inaugurators schon in der Gestalt des magnetischen Somnambulismus aufgegangen.156 Das Interesse richtete sich in der Folgezeit allerdings weniger auf die Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Grundlegungen bzw. die einer medizin-therapeutischen Zweckbestimmung157 als vielmehr auf inspirierte Divinationen, Ahnungen und Prophetien. Die Lehre näherte sich zusehends Wunderberichten und okkulten Praktiken an, mithin jenem religiösen Diskurs, an den Büchners Oberlin anschließt.158 Keineswegs zufällig also gestaltet Büchner Elemente der Magnetismus-Debatte als Austragungsort jener Kontroverse zwischen Oberlins religiöser Weltanschauung und der wissenschaftlichen Rationalität Lenzens, weil die Gegenstände dieser populären Thematik sowohl religiöse als auch wissenschaftliche Erklärungsansprüche und damit deren unausweichliche Kontroverse aufriefen. Erst mit der ›Wiederentdeckung‹ Mesmers durch einige jener Naturwissenschaftler, die von Schellings Naturphilosophie beeinflusst waren, erwachte ein neues Interesse an theoretischen Auseinandersetzungen und praktischen Erfahrungen mit den Phänomenen des tierischen Magnetismus.159 Die verschiedenen Formen der Naturphilosophie hatten den Boden bereitet, auf dem sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Deutungsparadigmata des animalischen Magnetismus entwickelten, die zwischen 1815 und 1822 zu Systementwürfen ausgebaut wurden.160 Ausschließlich im Rahmen dieser Diskussion des frühen 19. Jahrhunderts in Naturphilosophie und Medizin161 wurden Terminus und Begriff des Somnambulismus verwendet.162 Nahezu alle mit dem Thema des tierischen Magne-

|| 154 Vgl. Barkhoff 1995, S. 27–31. 155 Es sei darauf hingewiesen, dass sich die Wirkung und Rezeption des Mesmerismus keineswegs auf Frankreich und Deutschland beschränkte, sondern ebenso in England (vgl. Cahn 1988) und Amerika (vgl. Benz 1976, S. 86–97) zu finden war. 156 Vgl. hierzu Blankenburg 1983, S. 205ff. und Barkhoff 1995, S. 68ff. 157 Eine der wenigen Ausnahmen bildet die 1788 veröffentlichte Studie des Göttinger Materialisten Christoph Meiners, vgl. Meiners 1788. 158 Vgl. hierzu Sawicki 2002, S. 134ff. 159 Vgl. hierzu Peters 1990, S. 142ff.; Gerabek 1994, S. 108ff.; Barkhoff 1995, S. 84ff.; Weder 2008, S. 75–107; Osten 2015, S. 43ff. 160 Vgl. hierzu insbesondere die Studien von Kluge 21815; Kieser 1826 und noch Fischer 1839. 161 Vgl. dazu Barkhoff 1995, S. 85. 162 Dies zur Präzisierung gegenüber Schings 1980, S. 70ff., P I, S. 830f. und MBA V, S. 411, vor allem aber Osten 2015, S. 35ff.

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tismus beschäftigten Wissenschaftler und Literaten bedienten sich ab 1815 jenes Terminus, dessen Begriff in den des künstlichen und natürlichen Somnambulismus durchgehend differenziert wurde.163 Die wichtigste Innovation der Magnetismusdebatte ab 1815 bestand in der Korrelation psychischer Phänomene mit neuroanatomischen und -physiologischen Erkenntnissen. Vor allem das von Johann Christian Reil gegen das cerebrale Nervensystem isolierte System von »Ganglien«, das als dezentral organisierte neuronale Einheit das anatomische Fundament für unbewusste Ideen darstellen sollte,164 spielte in den Magnetismustheorien der 1820er Jahre eine erhebliche Rolle.165 Reil gelang hiermit eine anatomisch ermittelte neurologische Theorie, die die psychischen (Krankheits-)Phänomene des Somnambulismus erklären sollte. Somit schuf er für den zeitgenössischen Mesmerismus und die rätselhafte Wirkungsweise der ›magnetischen Kur‹ ein plausibles neurophysiologisches Erklärungsmodell.166

Mit diesem Modell lag eine empirische Verifikationsmöglichkeit für schwer zu erklärende, psychische Phänomene vor; eine wissenschaftsmethodische Sachlage, die den naturgeschichtlichen Neurologen Georg Büchner besonders angezogen haben muss.167 Der hier nur anzudeutende Zusammenhang wird weiter unten differenzierter zu behandeln sein. Definitorisch am nächsten kommt der Semantik der büchnerschen Verwendung des Begriffs »Somnambulismus« im Lenz Carl Gustav Carus, weil auch er einen Idiosomnambulismus mit der von Lenz in der Folge behaupteten mentalen Unterentwicklung dieses Zustandes verbindet: Man theilt aber diesen magnetischen Somnambulismus in den von selbst entstandenen oder Idiosomnambulismus, und in den künstlich erregten, in welchem letztern Falle entweder Einwirkungen einer andern Seele auf den für diese Kräfte Empfänglichen diese Erscheinung hervorruft, welches man nach Mesmer animalischen oder Lebensmagnetismus nannte, oder wo die Erscheinung durch wirklichen Magnet oder magnetische Batterie (sogen. Baquets) hervorgerufen wird; welche Art von Kieser siderischer Magnetismus genannt worden.168

Dass Büchner den Begriff ausgerechnet Oberlin anwenden lässt, eröffnet die dichte Vermittlung historischer mit zeitgenössischen Wissensmomenten der Passage, um

|| 163 Vgl. u. a. Schelling 1985, III, S. 468; Schubert 1808, S. 327ff.; Wilbrand 1815, S. 264ff.; Eschenmayer 1817, S. 237ff.; Hillebrand 1822/23, II, S. 362ff.; Wilbrand 1824, S. 142; Kieser 1826, I, S. 15f.; Hegel 1986, X, S. 133. 164 Vgl. Reil 1807, S. 192ff. 165 Vgl. hierzu Barkhoff 1995, S. 97ff. 166 Schott u. Tölle 2005, S. 571. 167 Nachweislich rezipiert hat diese Neurologie E. T. A. Hoffmann, der »Ganglien« in seinen Serapionsbrüdern erwähnt; vgl. Hoffmann 1957–1962, VI, S. 8. 168 Carus 1831, S. 319.

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die es dem Autor offenbar zu tun ist. Büchner verknüpft das historisch verbürgte Faktum des religiös motivierten Interesses Oberlins an den Phänomenen religiöser Trance169 durch jenen terminus technicus einer wissenschaftlichen Diskussion des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, wodurch die Kontroverse komplexer wird, weil sie nicht durch einfache Oppositionen zu rekonstruieren ist. Darüber hinaus – und das ist für Büchners Vermittlung von religiösen und wissenschaftlichen Perspektiven auf den Somnambulismus von erheblicher Bedeutung – spiegeln sich die Kontroversen, die von den sich begründungstheoretisch erheblich unterscheidenden Fraktionen der Naturphilosophie ausgetragen wurden, in den wissenschaftlichen Debatten um den tierischen Magnetismus wider. Der omnipräsente Vorwurf des Betrugs und der ›Charlatanerie‹ wurde, wie schon die Beispiele Wilbrands und Hegels zeigten,170 keineswegs nur von wissenschaftstheoretischen Positionen erhoben, die außerhalb des Paradigmas standen.171 Johann Bernard Wilbrand legitimiert seine monographische Auseinandersetzung im Jahre 1824 mit dem Thema damit, dem sich verbreitenden »Wunderglaube und Mysticismus« durch eine unbefangene wissenschaftliche Prüfung des Phänomens entgegenzustellen: Der Verfasser gegenwärtiger Abhandlung hat die Feder ergriffen, weil es ihm überhaupt ehrenvoll scheint, zur Verbreitung klarer Ansichten über dunkele Gegenstände nach Möglichkeit beizutragen, und weil es ihm in diesem Falle sogar pflichtmäßig dünkt, dem einbrechenden frömmelnden Myticismus mit seinen Albernheiten, in so weit er sich auf die Erscheinungen des thierischen Magnetismus zu stützen beginnt, diejenige Klarheit entgegen zu stellen, der er sich hinsichtlich dieser Phänomene bewußt ist.172

Wilbrand sucht nach einen »Naturgesetz«, das den tierischen Magnetismus erklären können soll und findet dieses auch in einer evolutionären Psychologie, die Büchners Ausführungen in der Probevorlesung systematisch verwandt sind;173 religiösen Vereinnahmungen wissenschaftlicher Tendenzen widersetzt er sich aber energisch. Nicht nur Gegner des Mesmerismus, wie der Mediziner und somatologische Psychiater Friedrich Bird,174 wandten sich mithin gegen Schuberts, Kerners oder Brentanos metaphysische Psychologisierung der Erscheinungen, sondern auch naturphilosophische Befürworter lehnten jede religiöse oder gar theologische Interpretation ab.

|| 169 Vgl. dazu erneut Kurtz 1982, S. 144f. 170 Vgl. Wilbrand 1819, S. 275 sowie Hegel 1986, X, S. 141. 171 Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Ego 1991, S. 305ff.; Sawicki 2002, S. 137f. sowie Osten 2015, S. 43ff. 172 Wilbrand 1824, S. 5; interessanterweise meint Wübben (2016, S. 92f.), Büchner sei mit der Lehre vom Magnetismus durch Wilbrand bekannt gemacht worden; dafür spricht allerdings keinerlei Indiz. 173 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 174 Vgl. Bird 1839.

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Wilbrands konsequente Abgrenzung der magnetischen Phänomene von religiösen Vereinnahmungen ist umso bemerkenswerter, als literarhistorische Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte umfassend belegen konnten, dass neben und aufgrund der wissenschaftlichen Debatten über die psychischen Phänomene viele literarische Autoren des frühen 19. Jahrhunderts ausführliche Studien der philosophischen und medizinischen Schriften zum animalischen Magnetismus betrieben und deren Ergebnisse in ihre Dichtung integrierten.175 Der Somnambulismus wurde zu einem bevorzugten Gegenstand der europäischen Prosa des frühen 19. Jahrhunderts und somit auch zu einem Instrument der Herausbildung psychologischer Erzählformen. Bisweilen griffen die Literaten gar auf theoretischer Ebene in die Debatten ein176 oder zitierten einschlägige Werke zum tierischen Magnetismus direkt in ihren Erzählungen.177 Neben E. T. A. Hoffmann178 haben sich auch Jean Paul,179 Heinrich von Kleist,180 Johann Wolfgang Goethe,181 Achim von Arnim,182 Clemens Brentano183 oder Ludwig Tieck,184 aber auch Alfred de Musset,185 Honoré de Balzac186 und Gérard de Nerval187 mit den Phänomenen des animalischen Magnetismus und den Theorien über ihn beschäftigt. Wenige nur – wie Karl Immermann188 oder Gustav Flaubert189 – gestalteten das Thema ausschließlich kritisch. Büchners Integration des Motivs in seine Erzählung ist vor diesem Hintergrund von aussagekräftiger Bedeutung, weil die von ihm als Literaten geschätzten Jean Paul, E. T. A. Hoffmann oder Ludwig Tieck den magnetischen Schlaf und alle mit ihm verbundenen psychischen Erscheinungen, insbesondere jene des ›Fernsehens‹ und der ›Prophetie‹, mit Schubert oder Kerner als Einwirkungen »einer anderen

|| 175 Zu Jean Pauls und E. T. A. Hoffmanns umfangreichen Studien vgl. Barkhoff 1995, S. 139f. u. S. 198f. oder auch Osten 2015. 176 So veröffentlichte Jean Paul im Jahre 1813 im Museum einen theoretischen Text über Muthmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus (Jean Paul 1927ff., XVI, S. 9–43); vgl. Barkhoff 1995, S. 137–142. 177 Vgl. dazu Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Dritter Abschnitt (1957–1962, VI, S. 8), wo Kluges Versuch erwähnt wird. 178 Vgl. Kohlenbach 1991, S. 209–233 sowie Barkhoff 1995, S. 195–237. 179 Vgl. Barkhoff 1991, S. 177–208. 180 Hansen 2006, S. 47–79 sowie Weder 2008, S. 109ff. 181 Vgl. die ausführliche Studie von Holtermann 1993, S. 164–197. 182 Vgl. Barkhoff 1995, S. 161–193. 183 Ebd., S. 290ff. 184 Ebd., S. 274ff. 185 Vgl. de Musset 1980, S. 724. 186 Vgl. u. a. Balzac 1974, S. 51; siehe hierzu auch Steinwachs 1988, S. 109–113 sowie Mehéust 2001, S. 35ff. 187 Vgl. Brix 2001, S. 213–226. 188 Immermann 1971, I, S. 319–408 (Der Karneval und die Somnambüle) sowie insbesondere Immermann 1971, III, S. 363–423 (Münchhausen, Buch III); vgl. hierzu Roland 2001, S. 183ff. 189 Vgl. u. a. Jacques 2001, S. 227–240.

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Welt in diese«190 interpretierten und poetisch gestalteten. Selbst Kleist bezog seine sachlichen Informationen vor allem aus Schuberts Publikationen.191 Auch wenn Hoffmann im Magnetiseur auf die soziopolitischen Gefahren durch die nahezu unbegrenzten Manipulationsmöglichkeiten der Magnetisierten in einer Weise kritisch reflektierte,192 die noch Thomas Mann in Mario und der Zauberer aufrief und weiterentwickelte, so hat er doch an der Abkünftigkeit der Fähigkeiten beider Parteien im magnetischen Rapport von einer transzendenten Instanz nie gezweifelt.193 Büchner dagegen scheint – als einer der wenigen Autoren neben Goethe – den Somnambulismus als ein Phänomen zu begreifen und poetisch zu gestalten, das – wie auch Hegel, Wilbrand und Kieser zu zeigen versuchten – im Rahmen einer naturphilosophisch begründeten, evolutionären Psychologie ihren rational erklärbaren Platz einnehmen kann. Lenzens weitere Erläuterungen, deren Systematik bruchlos durch Büchners Naturwissenschaft zu kommentieren und zu erklären ist, werden diesen Status verdeutlichen. Der gesamte wissenschafts- und literarhistorische Kontext weist also darauf hin, dass Büchner über wissenschaftliche Kenntnisse zum Thema verfügt haben muss, um den terminologischen, begrifflichen und sachlichen Zusammenhang der komplexen Passage gestalten zu können. Diese Annahme lässt sich deutlicher noch durch einen Rekurs auf die Aussage Oberlins belegen, der mit der Verwendung eines terminus technicus seine Überlegungen abschließt und zu Lenzens naturphilosophischer Interpretation überleitet. Denn das Gespräch über Ahnungsträume wird durch folgende Thematik weitergeführt, die hier erneut zitiert sei: Das führte sie weiter, Oberlin sprach noch von Leuten im Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berghöhen angefaßt würden und mit einem Geiste rängen; er sagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser in eine Art von Somnambulismus versetzt worden sey. Lenz sagte, daß der Geist des Wassers über ihn gekommen sey.194

Jedes Moment dieser Passage sowie deren Zusammenhang lässt sich mit Theorieelementen des Magnetismus verbinden und erläutern. Dabei ist zunächst von besonderer Bedeutung, dass eine Verbindung zwischen den wasser- und metallfühlenden Mädchen, Oberlins somnambulem Erlebnis angesichts des Bergwassers und Lenzens Bestimmung mit Hilfe des Terminus »Geist des Wassers« hergestellt wird.195 Spätestens seit den Aufsehen erregenden Forschungen des Münchener Naturphilo-

|| 190 So Schubert 1808, S. 352f. 191 Vgl. hierzu Weder 2008, S. 29 u. S. 109ff. 192 Vgl. hierzu u. a. Barkhof 1996, S. 269–283, spez. S. 275ff. 193 Vgl. ausführlich Hoffmann 1957–1962, VI, S. 1–19, spez. S. 15ff. 194 MBA V, S. 3613–20; Hvhb. von mir. 195 Vgl. hierzu auch Wübben 2016, S. 93.

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sophen und Physikers Johann Wilhelm Ritter über den Siderismus von 1808,196 die sich ausschließlich der so genannten Metall- und Wasserfühligkeit im Rahmen ausführlicher Versuchsreihen mit dem Wünschelrutengänger Francesco Campetti widmeten,197 fehlte in kaum einer der zahl- und umfangreichen Kompendien und Abhandlungen zum tierischen Magnetismus198 die Erwähnung, Erörterung und systematische Einordnung der so genannten Rhabdomantie und verwandter Phänomene wie des Siderismus. In erschöpfender Ausführlichkeit behandelt dieses Thema der Schellingschüler und naturphilosophische Arzt Dietrich Georg Kieser199 in seinem 1827 publizierten Standardwerk des Forschungsgebietes, dem System des Tellurismus oder thierischer Magnetismus: Hieran reihen sich nun die Erscheinungen der Rhabdomantie, oder des Metall- und Wasserfühlens, [...]. Aus den ältesten Zeiten finden sich Andeutungen und Nachrichten von einer Kunst, unter der Erde verborgene Metall- und Wasseradern zu entdecken, nämlich von einem unmittelbaren Vermögen das Daseyn derselben unter der Erde zu fühlen [...].200

Noch Hegel – giftsprühender Gegner der romantischen Naturphilosophie – lässt sich im Rahmen seiner Berliner Vorlesungen zum subjektiven Geist, die er in den 1820er Jahren mehrfach abhielt, über die »Wasser- und Metallfühler« als Form des magnetischen Somnambulismus aus. Dabei steht auch für Hegel fest, dass »[d]as nicht seltene Vorkommen solcher Menschen [...] keinem Zweifel unterliegt«.201 Sowohl von naturphilosophischer als auch von medizinischer und selbst von idealistischspekulativer Seite wurde den Phänomenen der Rhabdomantie und des Siderismus also ein nachweisbarer Realitätsgehalt zugeschrieben und zwar zumeist im Rahmen von Ausführungen zum animalischen Magnetismus.202 Der »innige Zusammenhang der Affectionen der Metall- und Wasserfühler mit den Phänomenen des thierischen

|| 196 Ritter 1808; zur Bedeutung dieser Schrift vgl. Wetzel 1973, S. 51; Holtermann 1993, S. 176f.; Höppner 2017, S. 229ff. 197 Vgl. hierzu die präzisen Darstellungen bei Richter 1997, S. 326f. 198 Erste Reaktionen gab es schon von Schelling 1807 (1856–1861, I, S. 7) sowie bei Kluge 21815, S. 296; Schubert 1808, S. 337; Kerner 92007, S. 51–56. Und noch bei Fischer 1839, II, S. 252ff. wird dieses Thema ausführlich behandelt. 199 Zu Kieser vgl. erneut Barkhoff 1995, S. 118–121; Scheuerbrand 1999 und Schweizer 2007. 200 Kieser 1827, I, S. 155. 201 Hegel 1986, X, S. 140; zu Hegels Interessen an diesen Phänomenen vgl. Petry 1991, S. 250–268. 202 Selbst der Brockhaus verzeichnet unter dem Artikel »Somnambulismus« das Phänomen der Rhabdomantie, die als »Art des Idiosomnambulismus«, als nicht »von einem Magnetiseur durch absichtliche Einwirkung künstlich erzeugter Somnambulismus« definiert wird, vgl. Brockhaus, Bd. 10 (1830), S. 365; im verwiesenen Artikel »Rhabdomantie«, Bd. 9 (1830), S. 238–240 werden die Phänomene der Rhabdomantie erläutert, eine Erklärung jedoch fehlt.

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Magnetismus«203 gehörte zu den grundlegenden Überzeugungen der Debatten um den Somnambulismus. Allerdings lassen sich erhebliche Erklärungsdifferenzen bei einem Vergleich der jeweiligen Positionen ausmachen. So erläuterte Friedrich Fischer das Phänomen in seinem stupenden Kompendium zum Somnambulismus in der Tradition Mesmers und Kluges als rein materielle Erscheinung, die durch die »Ausdünstungen der Metalle und des Wassers« hervorgerufen würde.204 Demgegenüber erklärte Ritter das Wasser- und Metallfühlen vor allem als Phänomen des Galvanismus und damit eines Wirkungszusammenhangs, der Chemismus, Elektrizität und Magnetismus verbinden können sollte.205 Dieses Verständnis von Galvanismus zielte grundsätzlich auf eine Konzeption ab, in der materielle – d. h. physische und physiologische – sowie immaterielle Substanzen als vermittelt gedacht wurden. Schelling ist Ritter in dieser Erklärung gefolgt;206 Kieser hingegen integriert das Phänomen der Rhabdomantie eindeutig ins System des tierischen Magnetismus, und konstruiert damit seiner Systematik entsprechend im physiologischen Bereich eine rein immaterielle Wirkmacht:207 Sie [die thierisch-magnetische Kraft] ist nichts Materielles, kein auch noch so fein angenommener Stoff, (wie ihn Kluge, v. Eschenmayer sc. annehmen, wenn sie von einem Nervenfluidum, von einem organischen Aether, als dem Wesen der magnetischen Kraft reden), sondern, wenn wir jede Kraft, als die reine Thätigkeit eines Lebensprozesses, im Gegensatz gegen das materielle Substrat derselben, den Körper, Geist nennen, so ist sie der Erdgeist […], und in den besonderen Formen des Magnetiseurs der Metallgeist, Pflanzengeist, Thiergeist, Menschengeist, aber immer als Ausdruck des Erdgeistes.208

Büchner scheint nun sowohl Lenz als auch Oberlin den Erklärungen Kiesers zuneigen zu lassen. Dafür sprechen zwei Anhaltpunkte: Lenz verwendet zur Bestimmung der Wirkung des Bergwassers auf Oberlin die Formel: »Geist des Wassers«. Die sich schon durch den Begriff des Geistes aufdrängende immaterielle Erklärung lässt sich durch einen weiteren Bezug auf Kieser verdichten:

|| 203 Ritter 1808, S. 71. Schon Schelling hatte in einer 1807 erschienenen Notiz von den neuen Versuchen über die Eigenschaften der Erz- und Wasserfühler und damit zusammenhängenden Erscheinungen diesen systematischen Zusammenhang hergestellt, und noch Schubert äußerst sich in den Ansichten (1809, S. 337 u. S. 355) umfassend zu dieser Relation zwischen Somnambulismus und dem »Gefühl für Metalle«; vgl. umfassend Kieser 1827, I, S. 110–148, spez. S. 136f. 204 Fischer 1839, II, S. 252ff. 205 Vgl. hierzu die brillante Studie von Moiso 1994, S. 165–372. 206 Zu Ritter und Schelling als Galvanisten vgl. Kieser 1827, I, S. 118; Barkhoff 1995, S. 123 sowie Moiso 1994, S. 365ff. 207 Kieser 1827, I, S. 115. 208 Ebd., S. 18.

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Wie sich hieraus nun die bisher so räthselhaften Erscheinungen der Wirkung [...] unterirdischer Metalle, Wasseradern auf die Metallfühler erklärt, [...] und wie endlich diese Kraft, die in der anorganischen Natur als siderische Thätigkeit in ihrer besonderen Form bald als Metallgeist, bald als Erdgeist, bald als Wassergeist erscheint, in der organischen Natur aber als der Pflanzengeist, der thierische Geist und der menschliche Geist des Magnetiseurs sich darstellt, und ungeachtet dieser in der verschiedenen Potenzierung derselben begründeten Verschiedenheit der Form der Erscheinung, dennoch nur eine und dieselbe lebendige Kraft ist, in der höheren Physik einen besonderen Platz über die Electricität und den Galvanismus, neben dem Lichte und der Wärme, und zwischen dem anorganischen und organischen Reiche, aber, als allgemeine tellurische Potenz, beide umfassend und durchdringend einnimmt, werde ich im folgenden zu zeigen versuchen.209

Oberlins Erläuterungen stimmen mit dieser Systematik Kiesers überein: Wie erwähnt, wurde das Wasser- und Metallfühlen als Form des natürlichen210 bzw. selbständigen211 Somnambulismus gedeutet – im Unterschied zum medizinisch interessierenden Phänomen des künstlichen Somnambulismus, der durch einen Magnetiseur hervorgerufen wurde. Unter die Rubrik des Idiosomnambulismus fallen nach Kieser sowohl die ausgeprägten Formen der Rhabdomantie und des Siderismus als auch der als Vorstufe zu begreifende Zustand beim Schauen auf eine Wasserfläche: Schon der gesunde Mensch fühlt sich in einzelnen Augenblicken und Stimmungen beim Anblick des ruhigen Wasserspiegels oder auch in der Nähe eines großen Stromes wunderbarlich und unerklärlich angezogen, und das feuchte Element scheint ihn einzuladen, in seine klare Flut diesen dunklen Trieb zu kühlen, wie Goethe in seinem Gedichte mythisch dargestellt hat.212

Diese bei Kieser im Kapitel über Wasser- und Metallfühler eingerückte Passage zeigt mithin, dass Büchner nicht zufällig, sondern den Ordnungsbegriffen des tierischen Magnetismus präzise entsprechend Oberlin einen Zusammenhang zwischen den Phänomenen der Rhabdomantie und dem Schauen in tiefes Bergwasser herstellen lässt. Begrifflich exakt lässt der Autor seine Figur dieses Erlebnis als eine Art von Somnambulismus fassen. Bevor gezeigt werden kann, dass Büchner in der Tat der kieserschen Konzeption einer immateriellen Wirkmacht für die Erscheinungen des tierischen Magnetismus zuneigt, soll noch für zwei weitere Elemente der Aussage Oberlins dokumentiert werden, dass sie sich auf den wissenschaftlichen Kontext der 1830er Jahre beziehen: Zum einen leitet Oberlin das Gespräch über die magnetischen Phänomene mit dem Verweis auf die »Leute im Gebirge« ein, womit er bereits den weiteren Verlauf des

|| 209 Kieser 1819, S. 5f. 210 So Eschenmayer 1817, S. 265. 211 Kieser 1827, I, S. 128f. 212 Ebd., S. 115.

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Gespräches prägt, wird in diesem Hinweis doch ein direkter Bezug zu den Phänomenen des Tellurismus hergestellt.213 Zu den weithin akzeptierten Erkenntnissen der Magnetismusforschung zählte nämlich auch die Tatsache, dass die genannten Arten des Idiosomnambulismus vermehrt in Gebirgsgegenden aufträten, weil in »größeren Massen, namentlich Gebirgen […], die Mineralien bei Jedermann spezifische Empfindungen hervorrufen« sowie bei somnambuler Disposition »der trübere, dumpfere Erdgeist die körperliche und geistige Stimmung ergreift«.214 Gebirge bedingten eine allgemeine Stimmungsveränderung, weil der anorganische Teil des menschlichen Körpers, den es nach den gültigen Stufenleitermodellen der Natur geben musste, in weitgehend ungehinderte Interaktion mit den Gesteinen und Metallen treten könne. Wenn laut Oberlin ›auf manchen Berghöhen Männer angefasst werden und mit einem Geiste ringen‹, so ist dies nach Kieser ein Ausdruck der Wechselbeziehung zwischen dem Organismus Erde und dem Organismus Mensch durch deren jeweilige anorganische Momente. Der Mensch steht im magnetischen Zustand in einem siderischen Rapport mit der Erde, dessen Wirkung sich in dem vermeintlichen ›Angefasstwerden‹ und dem Ringen mit einem Geiste realisiert. Damit wird ersichtlich, dass der magnetische Zustand, so wie er hier zu erklären versucht wird, auch eine Lösung für das die Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts prägende Problem des Verhältnisses von anorganischer und organischer Natur darstellte.215 Zum anderen lässt sich selbst der Hinweis Oberlins, dass es sich bei Wasser- und Metallfühlern zumeist um »Mädchen« bzw. Frauen handelt, aus dem skizzierten wissenschaftsgeschichtlichen Kontext erläutern. So sind es in den Berichten über den Magnetismus nahezu ausschließlich Frauen, die dem künstlich herbeigeführten Somnambulismus verfallen. Kieser hat auch für diese geschlechtsspezifische Disposition zum Somnambulismus eine naturphilosophische Erklärung: In den lebendigen Verhältnissen der Geschlechter ist der Mann das +, beherrschende, zeugende, solare; das Weib das –, beherrschte, empfangende, tellurische: das Weib, als der tellurische Ausdruck der Polarität der Geschlechter, ist daher hinsichtlich der Qualität seiner Wirkung der magnetischen Kraft homolog, und muß daher mehr magnetisch wirken, als der Mann.216

Die Frau ist mithin als passive, evolutionär minder entwickelte Spezies für die tellurischen Dimensionen der Erdtotalität in höherem Maße empfänglich.217 Dass es vor

|| 213 Vgl. hierzu generell Kieser 1826. 214 Fischer 1839, II, S. 252. 215 Vgl. hierzu. Lenoir 1982, S. 105ff.; Mischer 1997, S. 156ff.; von Engelhardt 1997, S. 38f.; Höppner 2017, S. 114ff. sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 3. 216 Kieser 1827, I, S. 12. 217 Vgl. hierzu – allerdings ohne Rückführung der Argumentation auf die naturphilosophische Begründung – auch Weder 2008, S. 23 sowie Barkhoff 2005, S. 21.

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allem »Mädchen« sind, »die das Wasser und Metall unter der Erde fühlen«, lässt sich vor diesem Hintergrund ebenfalls auf die tellurische Kraft der Erde zurückführen: In der Regel wird der schwächlich gebaute, mit schlaffer Faser versehene, sehr reizbare und zum sanguinisch-cholerischen Temperamente geneigte Mensch empfänglicher dafür [den magnetischen Phänomenen gegenüber] seyn, und zwar das Kind mehr als der Erwachsene, das Weib mehr als der Mann, und bei jenem die Blondine am meisten.218

Diese Prädisposition des weiblichen Geschlechts sowohl für die Fähigkeit, magnetisiert zu werden, als auch für die unterschiedlichen Formen des Idiosomnambulismus – speziell der Rhabdomantie – galt mithin als empirisch nachgewiesene und rational begründete Erkenntnis der Magnetismusforschung. Diese Thesen und ihre Begründungen entsprachen zudem nicht nur den Geschlechtertheorien der romantischen Literatur, sondern auch den Konzepten anthropologischer und medizinischer Wissenschaften der Zeit.219 Nicht zufällig sind es daher auch in den Texten Goethes junge Frauen, die sich, wie in den Wahlverwandtschaften die Figur der Ottilie220 und in den Wanderjahren jene namenlose Dienerin,221 durch »wundersame« Wasser- und Metallfühligkeit auszeichnen. Nun scheint Lenz jedoch im Verlauf des Gespräches mit Oberlin durch die Formel vom »Geist des Wassers«, der Oberlin beim Schauen in das Bergwasser erfasst habe, den wissenschaftlichen Diskurs um den Magnetismus zu verlassen und zu idealistischen, mithin philosophischen Erklärungs- und Begründungsmustern überzugehen. Tatsächlich wird die ungewöhnliche Formel »Geist des Wasser« auch von Friedrich Hölderlin in den 1790er Jahren verwendet,222 und es ist unstrittig, dass der zeitlebens dem Idealismus verpflichtete Dichter mit den Debatten um Mesmer, Puységur oder Gmelin keinerlei intellektuelle Kontakte ausbildete.223 Schon der Kommentar in der MBA hat jedoch darauf verwiesen, dass sowohl Carl Gustav Carus als auch Dietrich Georg Kieser den Terminus »Wassergeist« im Zusammenhang der Wasserfühligkeit verwendeten.224 Indes verwischen die Autoren || 218 Kluge 21815, S. 428. 219 Vgl. dazu Honegger 1996, S. 168ff. 220 Vgl. Goethe 1988, VI, S. 442ff. sowie den Kommentar S. 722ff. Vgl. dazu die ausführliche Studie von Holtermann 1993, der S. 167 belegt, dass »Ottilie [...] maßgeblich durch die Phänomene des Magnetismus und Somnambulismus charakterisiert [ist]«. 221 Vgl. dazu Goethe 1988, VIII, S. 442ff. u. S. 452ff. sowie den ausführlichen Kommentar S. 670f., der belegt, dass Goethe über umfassende Kenntnisse der Magnetismus-Debatte und der für sie einschlägigen Werke verfügte; vgl. auch Holtermann 1993 sowie Barkhoff 1998. 222 Vgl. hierzu Hölderlin 1992/94, I, S. 54623f. sowie meine Interpretation zu dieser Passage in Stiening 2005b, S. 204ff. 223 Büchner konnte diese Stelle aus einer Vorfassung von Hölderlins Hyperion allerdings nicht kennen, wurde sie doch erst im 20. Jahrhundert erstmalig veröffentlicht. 224 MBA V, S. 411.

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des Kommentars den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, weil sie gleichzeitig und ohne vermittelnde Erläuterungen den Geistbegriff des Alten und des Neuen Testaments sowie dessen Verwendung bei Jean Paul und Achim von Arnim als Quelle aufrufen.225 Den hermeneutischen Interessen einer Einbettung dieser Passage in literarhistorische Traditionen entsprechend werden die Ansätze zu einer präzisen, nur wissenschaftsgeschichtlich möglichen Kommentierung geopfert. Es lässt sich allerdings einfach und anschaulich dokumentieren, dass Büchner in Lenz’ Replik nicht nur terminologisch, sondern auch begrifflich ausschließlich auf den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext referiert. Denn von einem »Geist des Wassers« ist in religiösen Begründungszusammenhängen nicht die Rede – nur von einem solchen »über den Wassern«;226 Kieser aber hatte präzise erläutert, warum und in welcher Hinsicht von einem »Geist des Wassers« im Zusammenhang der Theoriebildungen zum Magnetismus zu sprechen sei: Die Thätigkeit, die im magnetischen Kreise wirkt, und den magnetischen Rapport vermittelt, ist die thierisch-magnetische Kraft oder das magnetische Agens. […] Sie ist nichts Materielles, kein auch noch so fein angenommener Stoff, (wie ihn Kluge, v. Eschenmayer sc. annehmen, wenn sie von einem Nervenfluidum, von einem organischen Aether, als dem Wesen der magnetischen Kraft reden); sondern wenn wir jede Kraft, als die reine Thätigkeit eines Lebensprozesses, im Gegensatz gegen das materielle Substrat derselben, den Körper, Geist nennen, so ist sie der Erdgeist […], und in den besonderen Formen des Magnetiseurs der Metallgeist, Pflanzengeist, Thiergeist, Menschengeist, aber immer als Ausdruck des Erdgeistes.227

Einige Seiten weiter spricht er zusätzlich vom »Wassergeist«.228 Ersichtlich aber geht es Kieser in der Anwendung des Geistbegriffes auf die magnetischen Wirkkräfte darum, ausschließlich materielle Erklärungen und damit einen systematischen Materialismus, der von Mesmer über Kluge bis zu Fischer auf die Phänomene des Magnetismus appliziert wurde, zurückzuweisen. Der im Begriff des Geistes für das magnetische Agens, d. h. den Wirkmechanismus jener unsichtbaren Kräfte, konzentrierte Anti-Materialismus der psychophysischen Grundlagentheorie für den Magnetismus legt Büchner derjenigen Figur des Dialogs in den Mund, die die wissenschaftliche Erklärung der benannten Phänomene gegen Oberlins religiösen Mystizismus leisten soll. Büchners ›Versuchsanordnung‹ für den Dialog über den Magnetismus ist mithin ausnehmend komplex: Nicht der pietistische Theologe, der sich unter historischen und systematischen Gesichtspunkten dazu aufdrängte, sondern der eine szientifische Position vertretende Lenz wird als Gegner einer materialisti-

|| 225 Ebd. 226 Weshalb der Hinweis der MBA auf die biblische Semantik des Geistesbegriffes sowie Jean Pauls und Achim von Arnims Anwendung desselben irreführend ist. 227 Kieser 1827, II, S. 18. 228 Ebd., S. 23.

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schen Erklärung des Magnetismus und damit eines Materialismus überhaupt inszeniert. Weil es sich bei der Formel vom »Geist des Wassers« um einen szientifischen Anti-Materialismus handelt und Lenz, wie sich noch deutlicher zeigen wird, umfangreiche Kenntnisse seines Autors verliehen werden, kann und muss diese Formel zum einen als eine deutliche Positionierung Büchners innerhalb der metaphysischen Grundlegungsdebatte229 zum Magnetismus gewertet werden. Weil sein Lenz, der in der Folge noch weiter aus dem Fundus des naturphilosophischen Wissens seines Autors bedient wird, vom »Geist des Wassers« als der Ursache der hypnotischen Erlebnisse Oberlins spricht und den Phänomenen des tierischen Magnetismus wissenschaftliche, überprüfbare Wahrheitsgewissheit zuschreibt, ist der explizite AntiMaterialismus der Figur auch als Positionsbestimmung des Autors zu deuten. Festzuhalten ist damit vorerst, dass sich Büchner im zweiten Teil der betrachteten Passage präzise auf spezifische Aspekte des Somnambulismus bezieht und in dem der Erzählung eigentümlichen Spannungsverhältnis von religiöser Naturmystik, naturwissenschaftlicher und -philosophischer Erklärung und psychiatrischmedizinischer Perspektive zu situieren sucht. Auch wenn sich in den zahlreichen Abhandlungen und Dichtungen zum animalischen Magnetismus, die in den 1820er und noch in den 1830er Jahren verfasst wurden,230 dringende Warnungen vor »Charlatanerie«231 finden, werden die Phänomene in Büchners Erzählung – wie auch von Kieser oder Wilbrand – ernstgenommen und in kontroversen Erklärungsmodellen reflektiert. Lenz beendet seinen ersten Ausflug in magnetistische und naturphilosophische Erklärungstheorien mit dem Hinweis, Oberlin habe, während im somnambulen Zustand der Geist des Wasser auf ihn gewirkt habe, sein »eigenthümliche[s] Seyn« empfunden.232 Die aufgrund ihrer idealistischen Provenienz nicht ganz unübliche Formel233 drückt allerdings im vorliegenden Zusammenhang einen anthropologi-

|| 229 Vgl. hierzu meine Darstellung in Kap. 2 sowie die allerdings systematisch undifferenzierte Rekonstruktion bei Weder 2008, S. 29–44. 230 Trotz der umfangreichen Arbeiten von Ego 1991, Barkhoff 1995, Weder 2008 und Osten 2015, die weitgehend literar- und kulturgeschichtlich ausgerichtet sind, kann von einer angemessenen Bearbeitung der Magnetismus-Debatte zwischen 1775 und 1840 nicht die Rede sein; es mangelt vor allem (trotz der verdienstvollen Arbeiten von Darnton 1983, Schott 1997, Wolters 1988, Petry 1991 und Sawicki 2002) an wissenschaftsgeschichtlichen und philosophiehistorischen Rekonstruktionen, die die bisherige funktionale Ausrichtung der Analysen auf literarhistorische Kontexte überwänden. 231 Vgl. dazu die vergnüglich zu lesende Studie von Kutzer 1990 oder auch Osten 2015, S. 43ff. 232 Nur philologische Abstraktheit kann eine grammatische Unklarheit in der Zuweisung der Formel entdecken wollen (vgl. Reddick 1995, S. 139Anm. 13; MBA V, S. 411); der kontextuellen Sache nach ist völlig unstrittig, dass Oberlin laut Lenz sein – Oberlins – eigenes Sein empfunden habe, nicht etwa das des Wassers – was immer genau das ›eigentümliche Sein‹ von Wasser sei. 233 Vgl. u. a. Hegel 1986, III, S. 360 (Phänomenologie des Geistes) und Fichte 1971, VII, S. 533.

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schen Sachverhalt aus: Denn Oberlin hat laut der Lenzschen Formel in jenem somnambulen Zustand nichts anderes als seine individuelle körper-seelische Einheit empfunden. Es ist Joseph Hillebrand, Büchners Gießener Lehrer in der Philosophie, der den Begriff im Rahmen seiner systematischen Anthropologie präzise anwendet, wenn er schreibt: Nichts tritt in dem Bewußtseyn mit einer unmittelbaren und entschiednern Gewißheit hervor, als das Gefühl der individuell-subjektiven einheitlichen Existenz d. h. das Gefühl, daß der Seele der bestimmte Leib als der Ihrige zugehört, und daß in der ursprünglich einheitlichen Verbindung beider das existenzielle Selbst sein eigenthümliches Seyn und Wesen hat.234

Nach Lenz ermöglichte jener somnambule Zustand beim Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser, sich als selbsteigene leib-seelische Einheit zu empfinden und damit sich des ebenso allgemeinen wie abstrakten anthropologischen Fundaments seiner menschlichen Natur sinnlich gewiss zu sein. Neben dem Anti-Materialismus bei der Bestimmung der spezifisch magnetischen Gegenstände befindet sich Büchner mit dieser Fokussierung des somnambulen Zustands auf das Körper-Seele-Problem und dessen partielle Lösung auf der Höhe der Fachdebatten um den tierischen Magnetismus.235 Erst anhand der skizzierten Kontexte zeigt sich, dass Büchner in der zitierten Passage seinen Protagonisten keineswegs »geheimnisvolle Vorstellungen« einer romantischen Metaphysik des Rätselhaften bzw. Naturmystik vortragen lässt,236 sondern mit dem »Geist des Wassers« und dem Selbstgefühl des »eigenthümlichen Seyn[s]« die fachgerechten Begriffe zur Darstellung und Bestimmung der objektiven || 234 Hillebrand 1826, S. 93; erneut zeigt sich an diesem Verweis auf Hillebrands Text von 1826, dass die in der MBA zugrunde gelegte wortpositivistische Methode der Quellenzuweisung in die Irre führen muss. Denn auch der Kommentar zum Lenz (MBA V, S. 411) gibt – neben einer völlig abwegigen Stelle aus Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser – eine Schrift Hillebrands als Quelle an (Hillebrand 1822/23, II, S. 1), weil auch hier die Formel vom »eigentümlichen Seyn« verwendet wurde. Hillebrand verbindet in der früheren Schrift mit der Formel jedoch eine durchaus andere Semantik; hier geht es nicht um die körper-seelische Einheit und deren sinnliche Wahrnehmung, sondern darum, »was der Mensch sey seinen Anlagen und seiner natürlichen Anlage nach«. Auf diese allgemeine Bestimmung der Natur des Menschen zielt jedoch die Aussage Lenzens nicht ab, vielmehr kann, den nachfolgenden Ausführungen der Figur entsprechend, eindeutig festgehalten werden, dass Oberlin nach Lenz zwar ein wichtiges Moment seiner menschlichen Natur empfunden habe, keineswegs aber deren allgemeine Prinzipien, weil diese nach Lenz (und Büchner) gar nicht sinnlich wahrgenommen werden können. Eine allgemeine Anthropologie bedarf der rationalen Prinzipien und Demonstrationen und ist im Zustand des Somnambulismus nicht zu erhaschen. Das Körper-SeeleVerhältnis ist jedoch spätestens seit Johann Karl Wezels Anthropologie durchaus möglicher Gegenstand eines Selbstgefühls (vgl. Stiening 2003/4, S. 102ff.). Insofern ist der in der MBA herstellte Bezug zu Hillebrand 1822/23, II, S. 1 schlicht falsch. 235 Zu den engen sachlichen Bindungen der Magnetismus-Debatte an die Anthropologie der Spätaufklärung siehe Barkhoff 1995, S. 86ff. sowie Weder 2008, S. 31f. 236 So aber – wie zitiert – Sengle 1971–1980, III, S. 320 bzw. Schings 22012, S. 77.

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und subjektiven Momente eines magnetistischen Erkenntnisvorgangs im Zustand des rhabdomantischen Idiosomnambulismus. 7.2.1.3 Evolutionäre Anthropologie – ein Kommentar Nachdem er eine erste begrifflich und systematisch präzise Erklärung für Oberlins weitgehend diffuse und ins Mystische tendierende Erzählung geleistet hat, führt Lenz – nunmehr ohne dialogische Beteiligung Oberlins – diese Erläuterungen weiter: »Er fuhr weiter fort.« Lenz zeichnet im Folgenden die Skizze einer Vermögenspsychologie, die auf einer Konzeption von evolutionärer Anthropologie basiert. Es ist ebenjene Konzeption, die auch Büchner ein Jahr nach der Arbeit am Lenz in seiner Probevorlesung vertreten wird.237 Weil diese ebenso kurzen wie komplexen Ausführungen Lenzens in der Forschung nach wie vor zu erheblichen Irritationen führen,238 seien sie hier abermals zitiert: [1] Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen, [2] je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn; [3] er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbstständig genug, [4] aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl seyn, so von dem eigenthümlichen Leben jeder Form berührt zu werden; [5] für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.239

Der Komplexität der Argumentation und der weitgehenden Verschüttung der ihr zugrundeliegenden Wissensbestände wegen muss die Passage in Folge Satz für Satz, bisweilen Wort für Wort analysiert und interpretiert werden. Entlang der Indizierung soll jede einzelne Formel durch eine möglichst umfassende Kontextualisierung erläutert werden, um die These von einer für die 1830er Jahre hochaktuellen wissenschaftlichen Semantik zu plausibilisieren, die eine spezifische Positionierung innerhalb der Landschaft der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Begründungen des Magnetismus erlaubt. Lenz erörtert in dieser Passage die Zusammenhänge der philosophischen Voraussetzungen für die Empfindungsweisen des tierischen Magnetismus und dessen Auswirkungen auf die wahrnehmenden und wahrgenommenen Organismen. Dies geschieht in rein theoretischer Weise, denn anders als Oberlin verfügt Lenz selbst nicht über eigene Erfahrungen mit magnetischen Phänomenen, auch wenn er sei|| 237 Vgl. hierzu MBA VIII, S. 159; der Kommentar von MBA V, S. 412 erwähnt die sachliche Verbindung ohne nähere Erklärung; zu Büchners eigener neurologisch fundierter Vermögenspsychologie vgl. meine Ausführungen in Kap. 3. 238 Vgl. hierzu u. a. die Ausführungen von Schmidt 1994, S. 352; die zwischen literarischen und sachlich abseitigen naturphilosophischen Quellen unentschiedenen Hinweise der MBA (V, S. 411f.); die Assoziationen bei Descourvières 2006, S. 211 sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 128f. 239 MBA V, S. 3620–28.

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nen Traum durch diesen Zusammenhang zu legitimieren suchte. Im weiteren Handlungsverlauf der Erzählung wird dieses nur theoretische Verständnis des animalischen Magnetismus von Bedeutung sein.240 [1] Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen

Schon der erste Satz bereitet erhebliche Schwierigkeiten; denn was ist mit der »einfachsten, reinsten Natur« gemeint, was mit der »elementarischen«, und in welcher Weise ›hängen sie am nächsten zusammen‹? Wie schon im Hinblick auf Lenz’ argumentatives Entrée in die Debatte, die Korrelation vom »Geist des Wassers« mit dem »eigenthümlichen Seyn«, so steht auch hinsichtlich dieses zweiten Urteils die evolutionäre Epistemologie Büchners im Hintergrund. Die »einfachste, reinste Natur« kann, wie die weitere Argumentationsbewegung und deren Kontext belegen werden, ausschließlich die Natur des Menschen im Hinblick auf die ursprünglichen Bestimmungen seines Wesens sein, womit Lenz jene sinnlich wahrnehmbare, körper-seelische Einheit meint, die er zuvor schon aufrief. Die Betrachtung von Büchners naturwissenschaftlichem Wissen hat gezeigt, dass er auf der Grundlage einer evolutionären Vermögenspsychologie und Neurologie die Ansicht vertrat, die ausdifferenzierten Sinnesvermögen der höheren Tierarten seien Produkte eines additiven Prozessverfahrens, nach dem die komplexeren Formen der Wahrnehmung zu den basaleren Vermögen niedrigstufiger Organismen hinzukämen, allerdings gemäß eines präformierten Planes.241 Für die Systematik dieser Vorstellung analytischer Realgenese hat sich als entscheidend herausgestellt, dass bei höherstufigen Organismen die Fähigkeiten der niederen Stufen erhalten bleiben und unter spezifischen Bedingungen in ihrer ursprünglichen Gestalt realisierbar seien. Daher hatte Carl Gustav Carus242, dessen Evolutionsvorstellungen Büchner am nächsten kam,243 die einfachste und reinste Form der menschlichen Seele mit dem ›Seelenleben der Pflanzen‹ identifiziert und als Bewusstlosigkeit bestimmt. Der Schlaf galt dem Psychologen als reinste Form dieser Entwicklungsstufe der Seele. Dem analytischen Stufenmodell gemäß bedeutet diese Analogisierung einerseits, dass der menschlichen Natur tatsächlich – und damit noch im 19. Jahrhundert ganz aristotelisch – eine vegetabile Dimension zugeschrieben wird, die sich in Zuständen der Bewusstlosigkeit rein realisieren könne. Umgekehrt führte diese Analogisierung vor allem bei Oken zu der Konsequenz,244 die Pflanzen- und Tierwelt mithilfe eines spezifisch menschlichen Zustands zu bestimmen:

|| 240 Vgl. dazu Reuchlein 1985, S. 382. 241 Vgl. hierzu und zum Folgenden meine Ausführungen in Kap. 3. 242 Zum Folgenden vgl. Carus 1831, S. 41ff. 243 Vgl. hierzu meinen Nachweis in Kap. 3. 244 So u. a. in Oken 2007, II, S. 205f. (Lehrbuch der Naturphilosophie, §§ 1433ff.).

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Ihr geistiges Leben ist gewissermaßen ein somnambüler Zustand, denn der Mangel an besonderen Sinnen und Nerven würde ihnen nicht einmal die zum Leben unentbehrlichen Wahrnehmungen gestatten, empfänden sie nicht durch eine Art bewußtlosen Hellsehens unmittelbar die Aenderungen in der sie umgebenden Natur.245

Aufgrund der Voraussetzung, dass jede Stufe in der nächst höheren und damit alle Stufen in der menschlichen Seele – aber als relativ selbständige – enthalten seien, verfüge der Mensch über ein jeweils isolierbares vegetabiles, ein animalisches und ein humanes Seelenleben. Auf der animalischen Stufe verwirklicht sich die Seele durch die Sinnesorgane, auf der humanen Stufe durch die vernünftigen Fähigkeiten des Selbstbewusstseins und des Willens.246 Weil der Mensch daher im somnambulen Zustand auf sein vegetabiles Seelenleben – seine »einfachste, reinste Natur« – herabsinken kann, interagiert er bevorzugt mit den Elementen der Natur, wie Feuer, Wasser, Erde und Luft. Die »elementarische Natur« der lenzschen Formel meint diese allgemeinen Bestimmungen des Naturganzen, mit dem der Mensch während des Traumes in unmittelbare Verbindung treten könne. Vor diesem sachlichen Hintergrund, der eine weithin akzeptierte wissenschaftliche Überzeugung darstellt, kommt dem Vergleich zwischen den magnetischen Zuständen und besonderen Wechselverhältnissen von Blumen mit der sie umgebenden Natur, durch den Lenz seinen ersten Argumentationskomplex abschließt,247 kein metaphorischer, sondern ein begrifflicher Geltungsstatus zu. Für den bis hierher betrachteten argumentativen Zusammenhang der ersten Teilaussage des Protagonisten, der unmittelbaren Relation von einfachster, reinster und elementarischer Natur, ist also entscheidend, dass die unterste Stufe des organischen Lebens, das Pflanzenleben und – in Analogie dazu – die bewusstlose, vegetabile Seele des Menschen unmittelbar mit der aus dem Zusammenspiel der Elemente konstituierten anorganischen Natur in einem Wechselverhältnis stehen kann: Die Pflanze hat keine selbständige Bewegung; denn gebunden an die Elemente wird sie von diesen determiniert.248

Diese direkte Dependenz des pflanzlichen Organismus und damit der bewusstlosen Seele des Menschen von der »elementarischen Natur«249 konkretisiert sich für die || 245 Carus 1831, S. 42. 246 Vgl. dazu ebd., S. 41ff.; zu Carus’ Interpretationen des Somnambulismus im Rahmen seiner naturphilosophischen Psychologie vgl. auch Müller-Tamm 1995, S. 68–96. 247 Vgl. erneut MBA V, S. 3627f.: »[S]o traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.« 248 Oken 2007, II, S. 169 (Lehrbuch der Naturphilosophie, § 994). 249 Soweit ersichtlich, verwenden auch Hegel und Franz von Baader den Terminus »elementarische Natur« für genau den sachlichen Zusammenhang, den auch Lenz ausführt, wenngleich auf der Grundlage erheblich unterschiedener Systematiken (vgl. Hegel 1986, IX, S. 500ff. sowie von Baader 1831–1847, II, S. 32). Der Sache nach entwickelt vor allem Hillebrand in seiner Anthropologie (Hille-

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Wissenschaft der vergleichenden Anatomie und der Psychologie einerseits in der Berücksichtigung des Einflusses von »Klima, Kreis der Ernährung und überhaupt der Welt, in der sie aufgeht«.250 Andererseits ermöglicht dieses Dependenzverhältnis ein unmittelbares ›Gewahrwerden‹ der elementarischen Natur – mithin von »Gesteinen, Metallen, Wasser« – durch die menschliche Seele auf der Stufe der Bewusstlosigkeit in Somnambulismus und Schlaf. Nur auf der Grundlage des Modells einer naturphilosophisch begründeten Stufenleiter nicht-epigenetischer Art, die einen analytischen Entwicklungsbegriff der Phylogenese auf die menschliche Psychologie ebenso überträgt wie dies Büchner für die Nervenphysiologie und -anatomie der Fische vollzog, kann also Lenz’ Formel vom »nähesten« Zusammenhang der einfachsten reinsten Natur (des Menschen) mit den Elementen verstanden werden. Nur diese naturphilosophische Grundlagentheorie vermag zudem den vom Text hergestellten, erklärenden, begründenden Zusammenhang zwischen den Ausführungen zu Somnambulismus und Rhabdomantie und den folgenden Passagen zu erläutern. [2] je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn

Ausgehend von dem Zusammenhang zwischen der bewusstlosen Seele des Menschen mit den Elementen der Natur geht Lenz nunmehr zu einer sinnespsychologischen Differenzierung über. Denn das Verhältnis des ausgebildeten Sinnenapparates des Menschen zum basalen Empfindungsvermögen wird – wie in vielen naturphilosophischen Systemen der Zeit251 – zunächst als eines des gegenseitigen Ausschlusses konturiert: Mit der Entfaltung der differenzierten Sinnesorgane des Menschen »stumpft« jener der elementarischen Natur verbundene Sinn immer mehr ab. Diese Behauptung enthält nun mehrere systematisch zu unterscheidende semantische Dimensionen: Erstens wird behauptet, dass der Mensch entweder mit seinen fünf Sinnen die äußere Welt wahrnimmt oder aber sich auf der Stufe der vegetativen Bewusstlosigkeit befindet; g l e i c h z e i t i g ist dies nicht möglich. Dennoch führt der Zustand des Pflanzenlebens für die bewusstlose Seele keineswegs zu einer vollständigen Wahrnehmungslosigkeit; vielmehr steht der Mensch in diesem Zustand in einem besonderen Verhältnis zur elementarischen Natur: Es bedurfte dazu allerdings eines eigentümlichen Sinnesvermögens, des so genannten Gemeingefühls, das Carus – wie im Zusammenhang von Büchners naturwissenschaftlichem

|| brand 1822/23, I, S. 143–148) die Bedeutung der »elementarischen Stoffe« für die Natur des Menschen. 250 Hegel 1986, IX, S. 501. 251 Vgl. u. a. Schubert 1808, S. 337ff.; Hillebrand 1822/23, II, S. 361; Hillebrand 1835/36, S. 131–170; Wilbrand 1824, S. 91; Carus 1831, S. 110ff.; zur Theorie und Geschichte des Gemeingefühls vgl. Müller-Tamm 1995, S. 83–96 sowie Fuchs 1997, S. 89–102.

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Wissen entwickelt252 – als »unbestimmtes Gefühl des Daseins« oder als das »unbestimmte Gefühl des Zustands der eignen Organisation« definierte.253 Das Gemeingefühl ist somit als Vermögen der gewahrnehmenden Interaktion mit der elementarischen Natur zugleich dasjenige Sinnesvermögen, das dem Menschen sein »eigenthümliche[s] Seyn« als körper-seelische Einheit vermittelt. In dieser Semantik eines anthropologischen Selbstgefühls verwendet Büchner den Begriff des »innerlichen Gemeingefühls« auch in seinen philosophischen Skripten.254 Zweitens bilden beide Wahrnehmungsmodelle auf der begrifflichen, d. h. hier phylogenetischen Ebene einen Zusammenhang dergestalt aus, dass sich die differenzierte Sinneswahrnehmung entwicklungsgeschichtlich aus dem Gemeingefühl heraus entwickelt: Hieraus mögen wir aber zunächst Folgendes erkennen: 1) daß jedesmal die erste und ursprüngliche Wahrnehmung, welche die Seele von der Natur haben kann, das unbestimmte Gefühl des Zustandes der eignen Organisation sein muß, eine Wahrnehmung oder einen Sinn, welche wir mit dem Namen des Gemeingefühls zu bezeichnen pflegen; 2) daß alles was wir besondere Sinne zu nennen pflegen, nichts anderes sein können, als Modifikationen dieses Gemeingefühls [...]. Indem wir also sonach erkennen, daß das allgemeine noch unbestimmte Gefühl des Gesammtzustandes unserer Organisation, oder das Gemeingefühl, nothwendig der erste und ursprüngliche Sinn sei, werden wir die übrigen Sinne als eine Entwickelung dieses Ur-Sinnes, gleichsam als die einzelnen Blätter und Blüthen jenes gemeinsamen Stammes, anzusehen haben.255

Die evolutionstheoretischen Implikationen dieser Konzeption liegen – wie nachgewiesen256 – auch den entwicklungspsychologischen Passagen der Probevorlesung Büchners257 oder den systematisch verwandten Ausführungen Wilbrands258 zugrun-

|| 252 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 253 Carus 1831, S. 111. 254 P II, S. 23325; vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 2. Nichts zu tun hat dieses ›Gemeingefühl‹ des naturphilosophischen Paradigmas des 19. Jahrhunderts mit der spätestens seit Descartes in der Medizin geläufigen Instanz eines sensorium commune, wie Borgards (2007, S. 248f.) in Aufnahme einer terminologischen Spekulation bei Arz (1996, S. 167f.) annimmt. 255 Carus 1831, S. 110f. 256 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 257 Vgl. MBA VIII, S. 15913–25: »Die passive Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne sind nichts als Modificationen dießes allgemeinen Sinnes. Sehen Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren Blüthen desselben. So ergiebt es sich aus der stufenweisen Betrachtung der Organismen. Man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus an, wo alle Nerventhätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl besteht, nach und nach besondre Sinnesorgane sich abgliedern und ausbilden. Ihre Sinne sind nichts neu Hinzugefügtes, sie sind nur Modificationen in einer höheren Potenz. Das Nämliche gilt natürlich von den Nerven, welche ihre Functionen vermitteln, sie erscheinen unter einer vollkommeneren Form, als die übrigen Empfindungsnerven, ohne deßwegen ihren ursprünglichen Typus zu verlieren.«

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de. Im Begriff des »Gemeingefühls« verdichteten sich die unterschiedlichsten phylogenetisch argumentierenden Systembereiche der Naturphilosophie und -wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts.259 Sowohl auf vermögenspsychologischer Ebene als auch auf der Ebene vergleichender Anatomie und Physiologie, wie insbesondere im Zusammenhang der beide vermittelnden Magnetismus-Debatte erhält das Vermögen des »Gemeingefühls« einen theoriekonstitutiven Status: Jenes geschärfte Gemeingefühl, durch welches die magnetisch Schlafenden außer ihnen befindliche Gegenstände erkennen, ohne sie eigentlich zu sehen, ist, wie schon erwähnt, auch den gewöhnlichen Nachtwandlern eigen.260

Erkenntlich wird vor diesem Hintergrund, warum Lenz zur Erklärung der Rhabdomantie auf den Begriff eines »elementarischen« Sinnes, jenes »Gemeingefühls« mithin, rekurriert. Drittens enthält die Aussage Lenzens noch ein weiteres, und zwar geschichtsphilosophisches Moment, das über die bislang rekonstruierten naturphilosophischen Implikationen deutlich hinausreicht: Hatte Carus entwickelt, dass Gemeingefühl und Sinneswahrnehmung einerseits ein evolutionär verbundenes, andererseits wahrnehmungspraktisch vollständig getrenntes Verhältnis ausbildeten,261 das durch das Nebeneinander ein Zurückfallen des Menschen auf die Stufe des Pflanzenlebens in vermögenspsychologischer Hinsicht erlaubte, so impliziert Lenzens These darüber hinaus, dass es im Prozess der Höherentwicklung des Menschen durch die Ausdifferenzierung seiner sensitiven und rationalen Fähigkeiten sowie seiner intellektuellen Lebenszusammenhänge (»je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt«) eine Konkurrenzrelation zum basalen elementarischen Sinn entsteht. Dies eröffnet die von Lenz verwendete Metapher des Abstumpfens, die veranschaulicht, dass die Fähigkeit zum Gemeingefühl durch die Entfaltung der höheren menschlichen Vermögen abnähme. Diese kulturgeschichtliche Dimension der Vermögenspsychologie lag in den 1820er und 1830er Jahren durchaus im Trend: Es ist in neueren Zeiten viel vom kosmischen, siderischen, tellurischen Leben des Menschen die Rede geworden. Das Tier lebt wesentlich in dieser Sympathie [...]. Beim Menschen verlieren dergleichen Zusammenhänge um so mehr an Bedeutung, je gebildeter er und je mehr damit sein ganzer Zustand auf freie geistige Grundlage gestellt ist.262

|| 258 Vgl. ganz ähnlich auch Wilbrand 1824, S. 148: »Alle verschiedene Sinne des Menschen sind Zweige eines Ursinnes, welcher mit der Entfaltung der Thierwelt in die bekannten fünf Sinne gleichsam auseinander tritt.« 259 Vgl. hierzu Schweitzer 2008, S. 402ff. oder auch Cheung 2014, S. 103. 260 Schubert 1808, S. 356. 261 Vgl. erneut Carus 1831, S. 110ff. 262 Hegel 1986, X, S. 52 (Hvhb. im Text).

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Die »freie geistige Grundlage« verweist einerseits auf eine Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen von der vegetabilen Bewusstlosigkeit über die Ausbildung des animalischen Weltbewusstseins hin zum humanen Selbstbewusstsein. Andererseits weist Hegel mit Nachdruck darauf hin, dass sich das ausgebildete Vernunftvermögen des Menschen von den vorhergehenden Entwicklungsstufen seiner kognitiven Fähigkeiten substanziell unterscheidet, ja diese Stufen als überwundene anzusehen sind. Anders dazu Franz von Baader, Justinus Kerner und Gotthilf Heinrich Schubert: Der kulturelle und bewusstseinsgeschichtliche Prozess der Ausprägung differenzierter Vermögen wird von ihnen als Verlust verstanden, der gleichwohl in besonderen Situationen und unter besonderen Bedingungen zu überwinden ist – in Somnambulismus, Traum und Poesie.263 Büchners Lenz steht zwischen diesen kulturgeschichtlichen Interpretationen des Spannungsverhältnisses von Gemeingefühl und ausdifferenzierten Sinnesvermögen des Menschen: Einerseits fasst er diesen Prozess mit dem Prädikat des ›Abstumpfens‹ des Gemeingefühls,264 andererseits stimmt er jener wertenden Hierarchisierung der Vermögen, die Hegel vornimmt, zu, wie der weitere Verlauf seiner Argumentation zeigen wird. Auch in der naturphilosophisch fundierten Magnetismus-Debatte werden mithin die Antinomien der naturrechtlichen und geschichtsphilosophischen Ursprungskontroversen ausgetragen.265 Nicht nur stehen Gemeinsinn und die fünf menschlichen Sinne phänomenologisch neben- und evolutionstheoretisch nacheinander, sondern durch den Verlauf der zivilisatorischen, d. h. vernünftigen Verfeinerung des Menschen geschichtsphilosophisch auch gegeneinander. Doch weist diese Dimension der Aussage schon auf den folgenden Teilsatz der Ausführungen Lenzens hin, der eine Anbindung an Hegel noch prägnanter erlaubt. Bevor dazu überzugehen ist, kann anhand einiger zeitgenössischer Theorien zum Gemeingefühl erneut ein Bezug zwischen deren Wirksamkeit auf die Magnetismus-Debatte einerseits und ihren Zusammenhang mit einer allgemeinen und vergleichenden Neurophysiologie und -anatomie andererseits hergestellt werden, der Büchners Stellung im Rahmen dieses Forschungsfeldes empirischer Psychologie und Neurologie illustriert: Bereits 1794 hatte Johann Christian Reil in einer eigens

|| 263 Vgl. hierzu exemplarisch Schubert 1808, S. 356. 264 Vgl. hierzu eine analoge Formulierung bei Carus 1831, S. 26: »Mögen wir daher bedenken, daß, wenn überhaupt insgemein von Seelennatur und geistigem Leben weit schwankendere und unklarere Vorstellungen verbreitet sind, als von dem durch die äußern Sinne erkennbaren Leben, dies nicht eben gerade daran liegen müsse, d a ß w i r v o n j e n e r S e i t e u n s r e r E x i s t e n z z u k l a r e n A n s c h a u u n g e n n i c h t g e l a n g e n k ö n n e n , sondern daß sie gar oft wohl hauptsächlich dadurch bedingt sein werde, d a ß u n s G e g e n s t ä n d e d e r ä u ß e r n S i n n e v o r z u g s w e i s e beschäftigen, und daß durch die stäte Uebung der letztern die Uebung des i n n e r n S i n n e s z u r ü c k g e s t e l l t u n d a b g e s t u m p f t w i r d.« 265 Vgl. hierzu die Darstellung bei Rohbeck 2004, S. 23–62.

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dem Gemeingefühl gewidmeten Studie darauf aufmerksam gemacht,266 dass die Seele drei Vorstellungsbereiche unterscheiden könne: den Zustand ihres Körpers, die sie umgebende Welt und sich selbst.267 Diese Dreiteilung habe jedoch eine wichtige Voraussetzung: Fünf Sinnorgane sind nicht die Eingänge zur Seele alle. Es kommt noch das Gemeingefühl dazu, [...] ein niedrigeres [...] Sinneswerkzeug.268

Dieses ›Gefühl‹ vermittle dem Individuum den Zustand des eigenen Körpers, während die einzelnen Sinne die Außenwelt gewahrnehmen lassen und im Seelenorgan die Vorstellungen vom eigenen Selbst entstehen. Ausgehend von der vermögenspsychologischen Prämisse der Existenz eines derartigen Gemeingefühls entwarf Reil 1807 das oben skizzierte physiologische Modell einer bipolaren Nerventätigkeit, in welchem er dem Gehirn und dem cerebralen Nervensystem ein zweites ›neuronales Netz‹, das Gangliensystem kontrastierte.269 Nachdem diese Nervenknoten oder Ganglien bis ins späte 18. Jahrhundert hinsichtlich ihrer physiologischen und psychologischen Funktion unbestimmt geblieben waren, konnten Schelling270 und öffentlich erstmals Hufeland271 und Reil272 auf der Grundlage eines dualistischen Bewusstseinsmodells – unbewusste versus bewusste Seelentätigkeit – diesen anatomisch auffälligen Gebilden eine eigenständige Aufgabe und zugleich den Status eines in sich geschlossenen Nervensystems zuweisen. Die vollständige Distinktion beider Nervensysteme wurde von nahezu allen Theoretikern des tierischen Magnetismus übernommen.273 Darüber hinaus bildete die Unterscheidung in Ganglien- und Cerebralnerven ein kategoriales Gerüst der zeitgenössischen komparativen Neuroanatomie und -physiologie. Auch in Büchners Mémoire lässt sich die selbstverständliche Anwendung dieser Konzeption nachlesen.274

|| 266 Ob und inwieweit Reil von Mesmer beeinflusst wurde, muss hier unbeantwortet bleiben, doch sind Einflüsse wahrscheinlich; vgl. Schott 1988, S. 190f. 267 Reil 1794, S. 303; zu einer ähnlichen Konzeption vgl. Carus 1831, S. 40ff. 268 Reil 1794, S. 299. 269 Reil 1807, S. 205ff. 270 Dieses Verhältnis zwischen Cerebral- und Gangliensystem fiel bereits Schelling 1804 auf, vgl. Schelling 1985, III, S. 450. 271 Hufeland 1799, S. 141ff.; vgl. dazu auch Kluge 21815, S. 262. 272 Anders – und somit gegen die historischen Ergebnisse Schotts – Jean Paul 1927ff., XVI, S. 20, der Hufeland als Inauguratoren jener Zweiteilung des Nervensystems bezeichnet. 273 Zur paradigmatischen Funktion Reils in dieser Hinsicht vgl. Barkhoff 1995, S. 95ff.; vgl. darüber hinaus Kluge 21815, S. 259ff.; Schubert 1808, S. 103ff. und Kieser 1827, II, S. 323. 274 Vgl. MBA VIII, S. 7938–814: »Das Gesetz, das der Entwicklung der Nerven im allgemeinen steuert, formuliert CARUS wie folgt: ›Ebenso wie die niedrigste Stufe der Nervenentwicklung durch einen einfachen Nerven gebildet wird, der keine gesonderten sensiblen und motorischen Wurzeln aufweist und aus einem einfachen Ganglion hervortritt, besteht die höchste Stufe darin, daß die beiden gesondert bleibenden Wurzeln sich wie eigene Nerven verhalten.‹«

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Nun interpretierte Reil die Ganglien der Brust- und Bauchhöhle als ein eigenständiges Nervensystem, das in alle Organe der Reproduktion, wie Herz, Magen und Darm, ausstrahle. Doch fehle dem Gangliensystem ein »dominirende[s] Centrum«, wie es das Gehirn im Cerebralnervensystem darstelle,275 jedes Ganglion bilde im Gangliensystem ein Zentrum für sich, das denen der anderen Ganglien jedoch an funktionaler Bedeutung entspreche. Es herrsche gleichsam »eine völlig republikanische Verfassung, in welcher kein einzelnes Glied sich zum Könige aufwerfen darf«, was jedoch gleichzeitig »Richtungslosigkeit, d. h. Leitung und Bestimmung des Handelns überhaupt« bedeute.276 Daher bleiben die Sensationen eines jeden Organs auf dieses Organ beschränkt,277 keine werde bewusst erfahren, »der Magen unterscheidet weder die Gestalt noch die Qualität der Körper, weder Hitze noch Kälte«.278 Reil verbindet nun seine physiologische Argumentation mit einer psychologischen Theorie zweier Seelen im Körper, dem unbewussten Seelenleben, das auf der organischen Funktion der Ganglien basiere, und dem bewussten Seelenleben, das durch das Cerebralnervensystem ermöglicht werde. Diese psychischen Sphären sind zugleich Ausdruck zweier naturgeschichtlicher Dimensionen, des vegetativen Lebens und des animalischen Lebens. Erkenntlich prägen auch hier naturphilosophischentwicklungsgeschichtliche Kategorien die Systematik: Gangliensystem und Cerebralnervensystem sind als neuronale Realisationen des vegetativen und animalischen Lebens anatomisch und physiologisch bestimmbare Stufen der natürlichen Evolution. Dass auch Büchner im Rahmen seiner neuroanatomischen Forschungen zwischen dem vegetativen und animalischen Leben unterscheidet,279 die gemeinsam und nebeneinander auf der Ebene der von ihm sezierten und anatomisch bestimmten Wirbeltiere wirklich sein sollten, beweist den enormen Einfluss des realgenetisch-analytischen Evolutionskonzepts auf die unterschiedlichsten Forschungsbereiche, wie Magnetismus, Neurophysiologie, Anatomie und Psychologie.280 Wenn der in diesen aktuellen und kontrovers umkämpften Forschungsfeldern tätige Georg Büchner den Protagonisten seiner Erzählung von einem »elementarischen Sinn« sprechen lässt und dieses Vermögen in den Kontext des Somnambulismus stellt, dann ist erst aus dem gesamten, in sich differenzierten Feld dieses wissenschaftlichen Kontextes der Gehalt der Passage zu ermitteln.

|| 275 Reil (1807, S. 194) verweist auf das so genannte »Sonnengeflecht«, in dem die Stimmnerven und Teile der Atemnerven wurzeln, das in einer »mannichfaltigen Beziehung« zum Cerebralsystem stehe und daher »ein dominirendes Organ des vegetativen Systems« sei und als »Cerebrum abdomidale« bezeichnet werden könne. 276 Reil 1807, S. 221f. 277 Ebd., S. 230. 278 Ebd. 279 Vgl. MBA VIII, S. 8614, S. 10011ff. u. ö. 280 Vgl. hierzu Breidbach 1986.

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[3] er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbstständig genug

Nachdem Büchner seinen Protagonisten durch die zwei bisher betrachteten Aussagen wichtige Prämissen und konstitutive Demonstrationselemente der Magnetismus-Debatte in weitgehend unspezifischer Allgemeinheit ausführen ließ, erweist sich Lenz mit seiner folgenden Bemerkung als Vertreter einer bestimmten Position der Forschungsdebatte. Denn führende Theoretiker des religiös fundierten Magnetismus-Verständnisses hatten schon früh behauptet, dass der Somnambulismus »eine höhere Stufe des wahren Zustandes meiner Seele« deshalb ausmache, weil das »geschärfte Gemeingefühl« eines der »Organe eines künftigen höheren Daseyns« darstelle.281 Dieser Argumentation Schuberts verwandt, erklärte Justinus Kerner den Somnambulismus als eine Art unmittelbare Erleuchtung,282 und schon Jung-Stilling bestimmte den Zustand des »magnetischen Schlafens« als allen anderen Vorstellungsformen überlegen: In diesem Zustand [des Somnambulismus] sieht die Menschenseele nicht bloß, sondern sie empfindet überhaupt Alles weit schärfer, als im natürlichen wachenden Zustand, ohne daß sie irgend einen der körperlichen Sinnen bedarf.283

Dieses Argument bietet auch Jean Paul auf, dem die durch Magnetismus »Hellsehenden [...] in ihrem höhern poetischen Schlaf-Wachen« den Beweis dafür liefern, dass »hinter unserm schroffen Leben [...] künftig jenes unbegreiflich ätherische Medium, welches hier einige zu einem höhern Lieben und Freuen verknüpft«, zu erwarten sei.284 Für Jean Paul, wie auch für Schubert und Kerner, leistet der Somnambulismus mithin einen Jenseitsbeweis und damit einen Beleg für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Solcherart religiöser Nobilitierung des somnambulen Zustands und der in ihm gewonnenen Einsichten widersprachen jene Theoretiker, die ein wissenschaftliches Verständnis der Psychologie des Somnambulismus für sich in Anspruch nahmen. Am deutlichsten und in einer Büchners Lenz nahestehenden Version drückt Georg Wilhelm Friedrich Hegel diese abwehrende Kritik aus: Wissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische Begriffe erfordern einen anderen Boden, das zum freien Bewußtsein aus der Dumpfheit des fühlenden Lebens entwickelte Denken; es ist töricht, Offenbarungen über Ideen vom somnambulen Zustand zu erwarten. [...] – Abgeschmackt aber ist es, das Schauen dieses Zustandes für eine Erhebung des Geistes und für einen wahrhafteren, in sich allgemeiner Erkenntnis fähigen Zustand zu halten.285

|| 281 Alle Zitate aus Schubert 1808, S. 348, S. 356 u. S. 364. 282 Vgl. dazu Grüsser 1987, S. 207. 283 Jung-Stilling 1808, S. 63. 284 Jean Paul 1927ff., XVI, S. 41f. 285 Hegel 1986, X, S. 134 u. S. 136 (Hvhb. im Text).

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Auch so ausgewiesene Magnetismusforscher wie Dietrich Georg Kieser, der auf die Trennung zwischen wachem und schlafendem, selbstbewusstem und somnambulem Zustand des Menschen eine allgemeine Ontologie und Kosmologie des solaren und tellurischen Lebens aufbaute, sahen im Zustand des Somnambulismus und verwandter Phänomene keinen dem wachen Bewusstsein des Menschen übergeordneten Zustand. Vielmehr steigt nach Kieser der Mensch die Stufenleiter der Organisation hinab. Der somnambule Zustand ist auch anzusehen als Zurücksinken des Individuellen und Hervortreten des Universellen, als ein Gebundenwerden und Zurücksinken der menschlichen Freiheit in die Fesseln der Nothwendigkeit, als Untergehen der individuellen Selbstständigkeit in die Universalität des Lebens, als ein Sterben und Versinken in der Nacht des Lebens.286

Ähnlich verhält es sich in der Psychologie Carl Gustav Carus’, die es an einer expliziten und energischen Kritik Kerners bzw. Schuberts nicht fehlen lässt.287 Für den einflussreichsten naturphilosophischen ›Lehrer‹ Büchners gilt es einerseits als ausgemacht, dass alle von ihm präzise unterschiedenen Formen des Somnambulismus Ausdruck einer Krankheit der Seele sind. Andererseits muss er vor dem Hintergrund seines evolutionären Stufenmodells der menschlichen Seele von einer Superiorität des Selbstbewusstseins vor den Phänomenen des Magnetismus und Somnambulismus überzeugt sein: Ist es aber in Wahrheit darum zu thun, das Verhältniß des Erwachtseins zum Schlafe und Traume recht deutlich zu erkennen, so wird dies nach meinem Dafürhalten immer nur gelingen, wenn man den früher entwickelten Unterschied eines bewußtlosen und eines bewußten Seelenlebens fest hält. [...] Will man wirklich vergleichen, so wird man auch immer nothwendig zum Maaßstabe nehmen müssen die größere oder geringere Mannichfaltigkeit innerhalb einer festgehaltenen höhern innern Einheit, in welcher irgend eine Idee sich bekundet, und in dieser Beziehung überwiegt denn freilich unverkennbar das sich seiner selbst und der Welt klar bewußte Leben der Seele weit das bewußtlose [...]. Dabei ist nun noch überdies zu bedenken, daß die überschwenglichen Empfindungen und Anschauungen manches Somnambulen schon deßhalb nicht so hoch zu stellen sind [...], weil eines Theils, wie wir schon bei den Träumen bemerkt haben, das Urtheil mit dem Bewußtsein zugleich geschwächt ist, und deshalb oft im Traume etwas außerordentlich scheint, was es im Wachen bei reiferm Urtheile nicht ist, und andern Theils, weil diese Zustände gewöhnlich mit krankhaften Zuständen zusammenhängen, und uns Niemand überreden wird, daß Krankheit besser sei, als Gesundheit.288

Als letztes Beispiel mag der Büchner auch als Gießener Hochschullehrer bekannte Johann Bernhard Wilbrand zitiert sein, der die neurologische und die evolutionstheoretische Dimension der Debatte verbindend feststellt:

|| 286 Kieser 1822, II, S. 308f., Hvhb von mir; vgl. hierzu auch MBA V, S. 413. 287 Vgl. dazu Carus 1831, S. 318. 288 Ebd., S. 327f.

Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie | 551

Die magnetisirte Person ist demnach auf der Stufenleiter der Natur gleichsam hinunter gestiegen, und für die Geistesregung in derselben ist das Gangliensystem das Hauptorgan.289

Allen vier Magnetismus-Theoretikern, Hegel, Kieser, Carus und Wilbrand,290 gilt – wie dem Büchnerschen Lenz – der besondere Zustand der Rhabomantie und der allgemeine Zustand des Somnambulismus gerade deshalb als »kein hoher«, weil diesem ›bewusstlosen Bewusstsein‹ die Subjektivität konstituierende Selbständigkeit und Freiheit mangelt. Nun spiegelt sich die Frage nach der mentalen Wertigkeit von somnambulem und selbstbewusstem Zustand der menschlichen Seele abermals auf neurophysiologischer Ebene wider und lässt Bezüge zum Naturwissenschaftler Büchner erkennen, die dessen Position innerhalb dieser Debatte und damit sein Verhältnis zu den Aussagen Lenzens präzisieren. Wie erläutert, hatte Johann Christian Reil die zwei Nervensysteme der Ganglien und der Cerebralnerven als neuroanatomische Korrelate des vegetativen und animalischen Lebens unterschieden. Doch obwohl vegetatives und animalisches Nervensystem nach Reil anatomisch und funktional strikt geschieden sind, bestehe durch einen »Apparat von Halbleitungen« eine Verbindung zwischen ihnen.291 Diese Halbleitungen – Nervenbahnen wie etwa der große sympathische Nerv, der umherschweifende Nerv oder der Zwerchfellmuskelnerv – seien jedoch »im normalen Zustande Isolator[en]«, deren Funktion in einer Isolierung aller von den Reproduktionsorganen an das Gehirn geleiteten Empfindungen sowie in der Verhinderung einer willkürlichen Einwirkung des Cerebralsystems auf die reproduktiven Organe bestehe.292 Im Zustand der Somnambulismus wandelten sich diese Nervenbahnen jedoch in Konduktoren um, sodass zwischen Gangliensystem und Gehirn eine Verbindung hergestellt werde.293 Nur durch diesen Konnex kämen die während der Dominanz des Gangliensystems realisierten Einsichten überhaupt im Nachhinein zu Bewusstsein. Weil aber diese Thesen letztlich eine Abhängigkeit des Gangliensystems vom Cerebralnervensystem implizierten, konnte auf einen gegenüber dem freien Cerebralsystem niedrigerer Status der magnetischen Phänomene geschlossen werden. Nicht zufällig zeigten sich insbesondere Jean Paul und Johann Heinrich JungStilling von dieser neurologischen Erklärung wenig angetan,294 weil sie schwerlich zur These von der Superiorität magnetischer Fiktionen passte. Auch Kerner war von

|| 289 Wilbrand 1824, S. 148. 290 Die Reihe derjenigen Forscher, die den Somnambulismus zwar als ernstzunehmendes Phänomen, nicht aber als ein der Vernunft superiores Vermögen bewerteten, ließe sich erweitern, etwa um Oken, Hufeland oder Kluge. 291 Reil 1807, S. 20ff. 292 Ebd., S. 232. 293 Vgl. ebd., S. 231f. 294 Vgl. dazu Jean Paul 1927ff., XVI, S. 20ff. sowie Jung-Stilling 1808, S. 89.

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einem vollkommen selbständigen Wirken des »sympathetischen Gangliensystems« überzeugt.295 Diese These schloss aber notwendig eine Verbindung zwischen den pflanzlichen und tierischen Dimensionen des menschlichen Seelen- und Nervenlebens aus. Dagegen bemühte sich Büchner im Anschluss an Reil, eine solche Interaktion der Nervensysteme in seiner Dissertation nachzuweisen. So meinte er, dass es die Funktion der beiden Primitivnervenpaare Vagus und Trigeminus sei, »lier la vie végétative à la vie animale«.296 Büchner zielt mithin in seiner Dissertation auf den empirischen Nachweis einer neurophysiologischen Hypothese ab, die im Rahmen der Magnetismusdebatte dazu diente, somnambule Zustände als »keine hohen« zu begründen. Auch in diesem Fall stimmen also entscheidende Voraussetzungen der Beweisführung Lenzens mit naturphilosophischen Überzeugungen seines Autors überein. [4] aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl sein, so von dem eigenthümlichen Leben jeder Form berührt zu werden

Obwohl der somnambule Zustand nach Lenzens Auffassung kein »hoher« innerhalb der Vermögenshierarchie ist, versetzt er das Individuum in ein »unendliches Wonnegefühl«. Dieser Gemütszustand würde dadurch hervorgerufen, dass man in ihm von dem »eigenthümlichen Leben jeder Form berührt« werde. In der Tat beschrieben laut Kluge die bis zum höchsten Grad magnetisierten Probanden ihr Befinden in diesem Zustand mit Attributen wie ›höchstes Wohlbefinden‹, ›Reinheit des Gemüts‹, ›Frieden der Seele‹, ›reinste Harmonie und Seligkeit‹.297 Auch idiosomnambule Zustände, wie Rhabdomantie oder Ahnungsträume, würden durch dieses subjektive Wohlbefinden begleitet. 298 Schon die Übereinstimmung so unterschiedlicher Autoren wie Schubert, Kluge oder auch Kieser hinsichtlich dieses Sachverhaltes zeigt zur Genüge, dass die Annahme, die Zustände des Somnambulismus würden als glückliche oder enthusiastische erlebt, als empirisch verifizierte Tatsache der Magnetismusdebatte galt. Auch Carus ist dieser Überzeugung und unternimmt einen Erklärungsversuch, der Lenz’ Begründung gleichsam vorbereitet: Ja, es ist höchst merkwürdig, daß in der entwickelten Seele der Zustand des höchsten Lebensgefühls, und des glücklichsten Moments, wieder ein Schwinden aller Vorstellungen bedingt, daß auch hier wieder alles Einzelne und somit Beschränkte sich verlieren muß, und Alles Empfinden in dem einen unbestimmten vollen Gefühle der Glückseligkeit aufgeht, ein Zustand, welchen unsre Sprache auf sinnvolle Weise mit dem Ausdrucke des Außer-sich-seins zu be-

|| 295 Vgl. dazu Grüsser 1987, S. 207. 296 MBA VIII, S. 8024f.. 297 Vgl. dazu Barkhoff 1995, S. 144f. mit Bezug auf Kluge 21815, S. 238. 298 Schubert 1808, S. 352; vgl. auch Jean Paul 1927ff., XVI, S. 39: »Das Wonne- und Glanzgefühl der Hellsehenden«.

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zeichnen pflegt, indem sie dadurch andeutet, daß der Mensch hier gleichsam seines Welt- und Selbstbewußtseins sich wieder völlig entäußert habe.299

Nicht nur während, sondern weil eine distinkte Wahrnehmung durch die fünf Sinne und eine erkennende Bestimmung durch die rationalen Vermögen im Zustand der Rhabdomantie aufgehoben scheinen, der Mensch mithin auf die Stufe seiner vegetativen Existenz zurückfällt und sich unmittelbar zu den ihn umgebenden »Formen« der Natur verhalten kann, entstehe jenes Gefühl unendlicher Glückseligkeit. Schon die Frühromantik, namentlich Ludwig Tieck, hatte in einer Resakralisierung der wertherschen Naturemphase solcherart Alleinheitsempfinden zugleich religiös und erotisch aufgeladen.300 Die rationalitätskritischen Implikationen dieser These bestehen darin, dass der Mensch nur durch den Verlust seiner sinnlichen und rationalen Vermögen von dem »eigenthümlichen Leben« jeder organischen Entität der Natur »berührt« werde. Die orgiastischen Empfindungen würden durch die Distanz- und Trennungslosigkeit zum Leben der Natur hervorgerufen. An dieser Stelle der lenzschen Ausführungen wird eine Funktion des naturphilosophischen Diskurses für die Krankheitsgeschichte des Protagonisten in ersten Konturen sichtbar. Denn Lenz, dem die Fähigkeit zu Rhabdomantie und idiosomnambulen Erscheinungen erklärtermaßen abgeht, obwohl er seinen Traum durch das Gespräch mit Oberlin in jenen Zusammenhang zu bringen wünscht, erfährt schon in der Eingangssequenz der Wanderung durch das Gebirge die Natur in zwei ähnlichen Weisen der Unmittelbarkeit: [E]r meinte, er müssen den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das all hinein […]; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein und wie ein wandelnder Stern tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter ihm zog.301

Beide Formen einer Identität von Ich und Natur, sowohl das grenzenlose Aufnehmen der Natur ins individuelle Bewusstsein als auch das Aufgehen des Subjekts in die kosmologisch gedeutete Natur werden von Lenz als augenblickgebundene »Lust« empfunden. Diese Lust aber wird von ihm stets als eine solche erlebt, »die ihm wehe that«.302 Das im Rahmen seiner Theorien zum Magnetismus ermittelte »unendliche Wonnegefühl« ist daher mit seinen Erfahrungen von Naturunmittelbarkeit – und zwar qualitativ wie quantitativ – nicht zu identifizieren; seine Lust ist je schon im Schmerz gebrochen. Dass im Verlauf der Erzählung und damit im Prozess der Erkrankung die lustvollen Dimensionen solcher Naturerfahrung zuneh-

|| 299 Carus 1831, S. 129. 300 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 125ff. 301 MBA V, S. 3132–38. 302 Ebd., S. 3134.

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mend und letztlich vollends ausbleiben, deutet auf die unaufhebbare Differenz zwischen Lenz’ naturphilosophischen Überzeugungen und seinen eigenen Erlebnissen hin. Wenigstens zwischenzeitlich versucht Lenz jedoch, wichtige Formen seines psychopathologischen Selbstverlustes mit Hilfe der Magnetismusdebatte einer wissenschaftlichen Erklärung zuzuführen, die vom Druck eines unaufhaltsamen ›Wahnsinns‹ entlastet. Sind die Formen somnambuler ›Verschmelzungserlebnisse‹ mit der Natur erstens lustvoll, aber zweitens durchaus beendbar, so wäre auch seine Erkrankung zu beheben. Die nähere Betrachtung der Eingangspassage wird dieses hier nur angedeutete Verhältnis von naturphilosophischem Wissens und pathologischem Naturerlebnis des Protagonisten deutlicher konturieren können. [5] für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben, so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft

Nach den bisherigen Kontextualisierungen sind diese letzten Zeilen der anthropologischen und epistemologischen Ausführungen Lenzens zum Magnetismus geraffter zu erläutern: Dass man im Zustand des Somnambulismus »eine Seele« für anorganische Substanzen und vegetabilische Organismen hat, ist nach den Rekonstruktionen der evolutionären Psychologie der meisten Magnetismustheoretiker, vor allem aber Büchners selber, als begriffliche – und nicht als metaphorische – Formel zu erkennen. Das Herabsinken des somnambulen Menschen in die bewusstlose Einheit mit der Natur bezeichnet Lenz mit dem Terminus ›eine Seele für etwas haben‹, der sich aus dem empirisch wie rational begründeten Nebeneinander der evolutionär unterschiedenen Seelenstufen im menschlichen Körper erläutern lässt. Der Mensch nimmt das Naturleben in seine individuellen Vorstellungen auf, doch nicht mit Hilfe der Sinne, sondern mittels des Gemeingefühls. So kann der schlafende Mensch nicht nur mit organischen Formen des Erdenlebens wie »Pflanzen«, sondern auch mit anorganischen Gebilden – wie »Gesteinen, Metallen, Wasser« – in Verbindung treten. Auch die These von einer traumartigen, also selbstverständlichen Aufnahme aller Naturwesen in das eigene Gemüt während somnambuler Zustände ist nach den vorherigen Ausführungen zu den Annahmen unmittelbarer Interaktion mit der Natur gerade durch die Ausschaltung der individuellen Sinne, der Vernunft und des Willens bereits einsichtig. Als schwieriger erweist sich der Vergleich dieses glückseligen Einheitsempfindens in der Natur mit einem unterschiedlichen Respirationsverhalten der Blumen im Hinblick auf Mondphasen. Es wurde zwar schon angedeutet, dass ein Vergleich mit Pflanzen überhaupt unschwer in das systematische Schema der evolutionären Psychologie der Magnetismus-Forschung und auch Büchners zu integrieren ist; dieser Vergleich hat mithin begriffliche Qualität. Nun hatte allerdings Lorenz Oken den Stoffwechselprozess der Pflanze in einer Weise zu bestimmen gesucht, die zwischen einem täglichen ›Lichtprozess‹ und einem nächtlichen ›Luftprozess‹ unter-

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schied. Während des Lichtprozesses am Tage produziere das Blatt Sauerstoff, während es in der Nacht, »wo nicht das Licht, sondern nur die Luft thätig ist«, Kohlensäure abgebe.303 Büchners naturphilosophischer Dozent in Gießen, Johann Bernhard Wilbrand, hatte diese Beschreibung der vollständigen und doch in sich differenzierten Wechselwirkung der Pflanze mit der sie umgebenden Natur erweitert, indem er die nächtlichen Luftprozesse auf die unterschiedlichen Mondphasen bezog.304 Erneut ist die scheinbar metaphorische Phrase wissensgeschichtlich in ihrem begrifflichen Status zu belegen. Der Schein romantischer Naturverrätselung, wie sie Novalis, Tieck, aber auch von Eichendorff mit den Elementen der Nacht, des Mondes und der Blumen zeitgleich vollzogen, löst sich für Lenz durch eine präzise wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung auf. Büchner romantisiert seinen Helden nicht, er vermittelt sein Wissen um somnambule Phänomene mit naturphilosophischer Psychologie und Botanik. 7.2.1.4 Allgemeine Naturtheorie Lenz geht im letzten Teil seiner Ausführungen von einer Betrachtung der vermögenspsychologischen Phänomene des Somnambulismus zu den Dimensionen einer allgemeinen Naturtheorie über. Spätestens an dieser Stelle wird ersichtlich, dass der Protagonist der Erzählung induktiv argumentiert, indem er von den konkreten Phänomenen des Traumes, der Rhabdomantie und des Somnambulismus zu deren Erklärung im Rahmen einer evolutionär fundierten Anthropologie fortschreitet. Deren naturphilosophische Grundlegung in einer allgemeinen Kosmologie schließt sich nun an. Dabei nimmt Lenzens emotive Identifikation mit seinen theoretischen Ausführungen ersichtlich mit steigendem Abstraktionsgrad zu: Er sprach sich selbst weiter aus, [6] wie in allem eine unaussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seeligkeit sei, [7] die in den höhern Formen mit mehr Organen aus sich herausgriffe, tönte, auffaßte und dafür aber auch um so tiefer afficirt würde, [8] wie in den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sey.

Der sich in seine Ausführungen hineinsteigernde Lenz weitet seine Deutung des allgemeinen Naturlebens auf das Feld der Natur als ganzer aus. Dieses Ganze der Natur wird allerdings als eine in sich differenzierte Einheit vorgestellt. Obwohl also höhere und niedrigere Formen präzise zu unterscheiden sind, ermöglicht die spezifische Kriterienauswahl, anhand derer die Differenzen markiert und bestimmt werden, eine harmonische, in sich geschlossene Einheit des ganzen Naturkosmos.

|| 303 Alle Zitat in Oken 2007, II, S. 201. 304 Vgl. Wilbrand 1830, S. 415ff.

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Lenz bedient sich zur Umschreibung dieses allgemeinen Momentes der in sich differenzierten Naturganzheit der Begriffe »Harmonie, Ton, Seeligkeit«, die aus unterschiedlichen semantischen Feldern bzw. systematischen Wissensbereichen zu stammen scheinen. Durch einen kontextuellen Bezug auf die Magnetismus-Debatte einerseits sowie auf die allgemeine Naturphilosophie andererseits lassen sich die Gründe und Funktionen der Anwendung dieser Begriffe auf eine philosophische Naturtheorie zwanglos erläutern. [6] eine unaussprechliche Harmonie ein Ton, eine Seeligkeit sei

In der Rekonstruktion der Naturwissenschaften Büchners hat sich gezeigt, dass der Begriff der Harmonie als philosophischer – nicht musiktheoretischer – durchaus geläufig war.305 So hatten Cuvier und Duvernoy den Begriff verwandt, um das Verhältnis der Momente eines Organismus, mithin der Organe und der Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegungen sowie der Interaktion dieses Organismus mit seiner Umwelt zu beschreiben.306 Auch Büchner bediente sich eines vergleichbaren Harmoniebegriffs, allerdings zur Bestimmung der »Aeußerungen eines und desselben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören«.307 Anders als Cuvier geht es Büchner um die Kompossibilität und Widerspruchsfreiheit von gesetzmäßigen Naturphänomenen und -prozessen.308 Goethe dagegen hatte mithilfe des Harmoniebegriffes das Konzept einer ideellen Verwandtschaft aller Naturerscheinungen in ihrer größtmöglichen Unterschiedenheit im Zusammenhang einer vergleichenden Anatomie zu fassen gesucht: Denn eben dadurch wird die Harmonie des organischen Ganzen möglich, daß es aus identischen Theilen besteht, die sich in sehr zarten Abweichungen modificiren. In ihrem Innersten verwandt, scheinen sie sich in Gestalt, Bestimmung und Wirkung auf's weiteste zu entfernen, ja sich einander entgegen zu setzen, und so wird es der Natur möglich die verschiedensten und doch nahe verwandten Systeme, durch Modificationen ähnlicher Organe zu erschaffen und ineinander zu verschlingen.309

Deutlich wird die zentrale Funktion eines Harmoniebegriffs für eine Bestimmung der Natur als eines organischen Ganzen, d. h. ihrer Erfassung als ein Organismus. Diese auch bei Schelling zu findende Verbindung von Organismusbegriff und Har-

|| 305 Siehe hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 306 »Die ganze Organisation eines Tieres steht in notwendiger Harmonie zu seiner Lebensweise. Die Kauorgane müssen in Beziehung zur Nahrung stehen, und konsequenterweise in Beziehung zur ganzen Organisation.« Cuvier 1791, zitiert nach Cheung 2000, S. 29ff. 307 MBA VIII, S. 15511–13. 308 Vgl. hierzu Stiening 1999, S. 116ff. 309 Goethe 1887–1919, II, 8, S. 87f.

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monieverständnis wird sich im Verlauf der lenzschen Erörterungen und ihrer Kommentierung noch präziser aufzeigen lassen. Dass mit der Kategorie der Harmonie in der zeitgenössischen Naturforschung also keine den natürlichen Kampf ausschließende harmonistische Naturvorstellung biedermeierlicher Provenienz zu verbinden ist,310 sondern vor allem eine Widerspruchsfreiheit zwischen Teilen und Ganzem der Natur als Organismus bzw. der Kompatibilität der in ihr herrschenden Naturgesetze, lässt sich auch bei Schubert311 oder Carus312 nachlesen. Selbst Mesmers Verwendung des Begriffs zielte in einer Anbindung an Kepler und Leibniz auf die Physik der von ihm entdeckten Kräfte.313 Nun ist allerdings von einiger Prägnanz, dass die von Lenz hergestellte Verbindung der ersten beiden Begriffe seiner enthusiastischen Bestimmung des Naturganzen durch denjenigen semantischen Ursprungsbereich ermöglicht wird, aus dem sie – in einem Prozess der gleichzeitigen Metaphorisierung und Verbegrifflichung zum Behuf ihrer naturwissenschaftlichen Kategorisierung – entnommen wurden. Der in allem herrschende »Ton« gehört offensichtlich zur gleichursprünglichen »Harmonie« und erst in ihrem kooptierten Status drücken sie jenes für das Naturganze angenommene Verhältnis aus. Die eigentümliche Berücksichtigung des semantischen Ursprungsbereiches für eine systematische Verwendung naturwissenschaftlicher Begriffe begegnet trotz der Sensibilität der romantischen Theoriebildung gegenüber der Musik eher selten. Zwar reflektiert auch Carl Gustav Carus über den musiktheoretischen Hintergrund des Harmonie-Begriffs, korreliert ihn jedoch mit dem der Melodie. Es ist aber erneut Joseph Hillebrand, der eine vergleichbare Begriffsbil-

|| 310 So aber u. a. Hans Mayer 1972, S. 366ff. 311 Vgl. Schubert 1808, S. 371ff.: »In dem Organischen ist es die innewohnende Lebensursache, die Seele, welche, indem sie in allen einzelnen Theilen ihr eigenthümliches Wesen, ihr eignes inneres Leben ausspricht, jene Harmonie des Lebens aller Einzelnen, und die tiefe Sympathie desselben möglicht macht. In der äußeren Natur ist es nicht minder jener allgemeine höhere Einfluß, welcher bald mehr bald minder mittelbar das Leben der Einzelnen hervorruft, und in jedem Moment erhält. Dieser ist das unsichtbare Band, welches um alle Besonderen geschlungen, den Uebergang von einem Daseyn zu einem andern, und das ewig harmonische Zusammenwirken des Weltalls in allen seinen Theilen möglich macht. [...] Am erhabendsten und schönsten offenbart sich aber jener höhere Einfluß, wo er als geistiges Band um alle verschiedenen Stufen des Daseyns der Dinge geschlungen, den Uebergang bildet von dem jetzigen Daseyn in ein höheres künftiges.« Zur hierarchischen Ordnung der harmonischen Naturganzheit bei Schubert vgl. Kohlenbach 1991, S. 209–233; allerdings erkennt die Interpretin den Grund der strengen Hierarchie in der transzendenten Ursachenund Zweckfunktion nicht. 312 Carus 1831, S. 207f.: »Damit wir jedoch von dieser wichtigen Seite des gesunden Seelenlebens, als einem harmonischen, auch den richtigern Begriff haben mögen, müssen wir zuerst auf den Begriff der Harmonie selbst zurückgehen, einen Begriff, welcher aus derjenigen Kunst entlehnt wird, welche mit der Seele ihrer Eigenthümlichkeit nah am nächsten in Verhältniß tritt, d. i. der Musik.« 313 Vgl. dazu Ego 1991 S. 37.

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dung im Kontext einer allgemeinen Naturtheorie entwarf, in der so Harmonie und Ton systematisch verbunden werden: Nichts besteht in der Natur absolut für sich oder vereinzelt; Jedes ist nur durch das Allgemeine ein Fürsichseyn, ein Einzelnes. Die Natur nach ihrer Gesammtheit ist aber von der Erkenntniß nicht anders anzufassen, denn als eine aus unendlich Vielem sich gestaltende Harmonie der Einheit – als eine Ordnung, die durch die innere Verhältnismäßigkeit der einzelnen Beziehungen sich selbst bildet, erhält, lebt, sich verändert, ohne aufzuhören, sie selbst zu seyn […] eine musikalische Harmonie der Sphären und ihrer Bewegungen. Mit diesem Systeme und dessen innerer Harmonie steht somit j e d e s W e s e n , a l s e i n b e s t i m m t e r T o n , in notwendiger Verbindung und kann nur nach seinem Verhältnisse und nach seiner Stellung zum großen Naturakkorde gehörig begriffen werden. Der Mensch ist ein Naturwesen […]. Darum gehört auch er zur Naturharmonie, hat darin seinen bestimmten Ton und kann nur insofern richtig verstanden werden, als er in seiner wahren Verhältnismäßigkeit zu dem Ganzen aufgefaßt wird.314

Für Hillebrand kommt jedes natürliche Einzelwesen mithin erst zu sich selbst, wenn es durch seine Stellung in der Einheit der Natur bestimmt wird. Insofern ist jede Einzelheit des Ganzen als Ton zu bestimmen, dessen Individualität allererst durch seine Position und Funktion innerhalb einer allumfassenden Harmonie zu ermitteln ist. Die auch von Lenz für die Natur als in sich differenzierter Einheit verwendete Begrifflichkeit, die durch einen metaphernbildenden Prozess aus der Musik- in die Naturtheorie übertragen wurde und hier einen eigenständigen Begriffsstatus erlangte, bestimmt das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem der Natur als eine die bestimmte Einzelheit konstituierende Relation. Die Natur erweist sich in diesem Modell, das Hillebrand detailliert entwickelt, während Büchners Lenz in einem auffliegenden Enthusiasmus die Momente additiv hinstammelt, als eine vollständig vermittelte Ganzheit, die ohne überflüssigen Rest und widerspruchsfrei als sich entwickelnde zu denken möglich macht.315 Diese Vermittlungskonzeption gilt nach Hillebrand nicht nur für die Natur der Erde, sondern auch für den gesamten Kosmos: Die Erde in ihrer Ganzheit besteht nicht absolut für sich, sondern ist das Produkt der Weltharmonie, in welcher sie einen bestimmten Ton ausdrückt.316

Daher kommt der naturphilosophisch kategorisierten musikalischen Begrifflichkeit nicht nur ein naturtheoretischer, sondern auch ein ontologischer Status zu. Die unbändige Hoffnung des sich psychisch selbst verlierenden Lenz auf diesen Gedanken drückt der Text durch die einleitende Formel aus, Lenz »sprach sich selber weiter aus«. Eine Natur, die durch sich selbst insofern harmonisch ist, als jedes ihrer

|| 314 Hillebrand 1822/23, I, S. 125f., gesperrte Hvhb von mir; auf diese Passage verweist auch MBA V, S. 414. 315 Hillebrand 1822/23, I, S. 129. 316 Ebd., S. 227.

Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie | 559

Momente durch den Zusammenhang des Ganzen konstituiert wird, kann nicht bewirken bzw. zulassen, dass auch nur ein Ton verloren ginge, ohne sich selbst zur Unkenntlichkeit zu verändern. Nicht nur in formeller Hinsicht als mentaler Akt, sondern auch durch ihre Inhalte verschafft diese Naturphilosophie Lenz erhebliche Beruhigung vor den Ängsten des Selbstverlustes. Daher steht auch der letzte Begriff der von Lenz für das Naturganze entfalteten Trias für eine restlose Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem im Einzelnen der Natur: Denn jene »Seeligkeit«, die nach Lenz ebenfalls in »Allem« sein bzw. wirken solle, findet ihre an dieser Stelle angewandte spezifische Semantik nicht in einer von Lenz ersehnten christlichen Religiosität,317 sondern ausschließlich in einem naturphilosophischen Zusammenhang, den Hillebrand wie folgt zum Ausdruck bringt: Man kann eben daher diese Stimmung der Seele [d. i. die Seligkeit] auch die der Liebe im höhern Sinne nennen, insofern dadurch angedeutet werden soll der Zustand der unreflektirten, freie selbstgeschaffenen Vereinigung des Selbst mit allen übrigen Wesen, nicht soweit diese absolut endlich, begrenzt und geschieden erscheinen, sondern soweit sie als auf ein und dasselbe höchste Urseyn sich beziehend, somit in der Einheit der Idee zusammentretend erfaßt werden. In dieser höchsten Stimmung, welche nur durch das wahre Vernunftwissen und Vernunftstreben erlangt wird, findet der Mensch jeden Mißton in der Schöpfung ausgeglichen.318

Nach der Vermittlung der einfachen Naturwesen mit dem Ganzen der Natur als Einheit und Prozess versucht Lenz mit dem Seligkeitsbegriff, die spezifische Integration des vernünftigen Menschen in dieses natürliche Ganze zu leisten.319 Im Begriff der Seligkeit wird von ihm wie von Joseph Hillebrand mithin die Vermittlung einer Anthropologie des vernünftigen Selbstbewusstseins mit einer kosmologischen Naturphilosophie unternommen, die als gelungene eine Stimmung unbeschränkten Glücks auszulösen vermag. Hillebrand bringt diese ›Stimmung‹ und ihr epistemologisches Korrelat mit Spinozas amor dei intellectualis in Verbindung und verwahrt sich in seiner affirmativen Konstruktion ausdrücklich gegen den Vorwurf des Mystizismus. Diese Seligkeit ist nach Hillebrand und Lenz das ersehnte Säkularisat religiöser Geborgenheit in der Schöpfung Gottes für den vernunftbegabten und durchgängige Rationalität anstrebenden Menschen in einer rational bestimmten Welt.

|| 317 So aber in Unkenntnis des wissensgeschichtlichen Kontextes der gesamten Passage Kobel 1974, S. 150f.; Wittkowski 1976, S. 402–411; Schwann 1997, S. 187f. 318 Hillebrand 1822/23, II, S. 320. 319 Weil der von Büchners Lenz verwendete Begriff der Seligkeit das Verhältnis der vernünftigen Seele zum ganzen Kosmos meint, wie bei Hillebrand, ist der Hinweis der MBA (V, S. 414) auf Carus (1831, S. 60) erneut irreführend. Denn Carus geht es in dieser Passage um das Verhältnis der Seele zu sich, um »den Zustand des eigensten, reinsten Seelenlebens«, nicht aber um deren Verhältnis zur umgebenden Natur.

560 | Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«

[7] die in den höhern Formen mit mehr Organen aus sich herausgriffe, tönte, auffaßte, und dafür aber auch um so tiefer affiziert würde

Lenz schließt an die Reihung der begrifflichen Momente des Naturganzen eine naturimmanente Differenzierung an, nach der jenes in sich nach Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem unterschiedene Ganze in ›höhere‹ und ›niedere‹ Formen unterschieden werden könne. Wie im Kontext des büchnerschen Wissens zur Naturwissenschaft angedeutet, eröffnet die Distinktion, dass mit diesem Formbegriff nicht jener einer idealistischen Erkenntnistheorie oder Ästhetik zu verbinden ist, der als korrelative Kategorie des Materie- bzw. Stoffbegriffs bedarf. Vielmehr sind mit den »Formen der Pflanzenwelt« oder den »höheren Formen der Säugethiere«320 Ausformungen des organischen Lebens auf der Stufenleiter der Natur gemeint. Schon Schelling hatte diesen Formbegriff als naturphilosophischen in der Diskussion etabliert,321 und bis in die 1820er und 1830er Jahre bediente sich die Naturphilosophie dieser naturgeschichtlichen Semantik. Vor allem in den präformationistischen Varianten der Evolutionstheorie, die auch Büchner vertrat, korrespondierte jene Form dem Begriff des Typus, dessen Realisationen die Stufenleiter der Natur ausprägten: La nature est grande et riche, non parce qu’à chaque instant elle crée arbitrairement des organes nouveaux pour de nouvelles fonctions; mais parce qu’elle produit, d’après le plan le plus simple, les formes les plus élevées et les plus pures.322

In dieser Bedeutung verwendet Büchner »Form« und »Typus« auch in der Probevorlesung, wenn er die »einfachsten Formen« als diejenigen ansieht, welche »am Sichersten« zur Bestimmung des Typus als abstrakte Grundform leiten. Auch hier versteht er Form eindeutig als die Ausformung, spricht er doch wenig später von der Schwierigkeit, die die Methode des Rückgriffs auf die »einfachsten Formen« mit sich bringt: Die Formen wechseln jedoch beym Fötus so rasch und sind oft nur so flüchtig angedeutet, daß man nur mit der grösten Schwierigkeit zu einigermaaßen genügenden Resultaten gelangen kann, während sie bey den niedrigen Wirbelthieren zu einer vollständigen Ausbildung gelangen und uns so die Zeit lassen sie in ihrem einfachsten und bestimmtesten Typus zu studiren.323

|| 320 Beide Formulierungen bei Schubert 1808, S. 378. 321 Vgl. dazu Schelling 1985, I, S. 284f.: »Diese Philosophie also muß annehmen, es gebe eine Stufenfolge des Lebens in der Natur. Auch in der bloß organisirten Materie sey L e b e n; [...] wie dieses allgemeine Leben der Natur in den mannichfaltigsten Formen, in stufenmäßigen Entwicklungen, in allmählichen Annäherungen zur Freiheit sich offenbaret.« 322 MBA VIII, S. 10037–41. 323 Ebd., S. 15942–47.

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Dass diese genuin naturgeschichtliche Form-Typus-Konfiguration keineswegs die mehr erkenntnistheoretische Form-Stoff-Disjunktion ausschloss, vielmehr beide Kategorienkonzepte nebeneinander wirksam waren, zeigt Büchners Probevorlesung, in der die »höchsten und reinsten Formen« jeweils in ihrer Form- und Stoffqualität bestimmt werden sollen.324 Entscheidend ist vor dem Hintergrund dieser terminologischen Präzisierung, dass bei Lenz als Differenzkriterium zur Abstufung niederer von höheren Formen die Anzahl der Organe aufgeführt wird, denn die höherstufigen Ausformungen der als »Harmonie, Ton und Seeligkeit« gefassten Natureinheit greifen »mit mehr Organen« aus sich heraus. Was aber kann mit dieser Formel, ›Organe von Formen‹, verbunden werden? Wie schon mit dem Formbegriff lässt Büchner mit dieser Bestimmung seine Figur abermals einen allgemein gültigen Grundsatz aller naturphilosophischen Fächer und Perspektiven im Anschluss an Schelling und Kieser vortragen: Das Grundverhältniß des thierischen Magnetismus beruht auf folgenden Gesetzen der allgemeinen Physiologie, die wir hier als Axiomata voranstellen. 1. Alle Dinge in der Welt sind lebendig und organisch, erscheinen in der Bewegung der Zeit und in der Gestaltung des Raumes, und sind in Beziehung auf ein höheres Ganze als nothwendige, integrirende, daher organische Theile oder Organe desselben, für sich betrachtet aber als lebende Organismen von größerer oder geringerer Selbstständigkeit (Individualisirung) anzusehen. Sie haben daher einerseits Beziehung zum Ganzen, was in ihrem Leben als Tendenz zum Allgemeinen erscheint, andrerseits Beziehung auf sich selbst, was sich als Tendenz zum Besonderen, als Selbsterhaltungstrieb darstellt.325

Die ganze Natur wird – wie hier von Kieser, so auch von Schelling, Wilbrand oder Büchner326 – als Organismus begriffen,327 innerhalb dessen die einzelnen Naturerscheinungen Organe des Ganzen ausmachen. Diese ›Organe der Natur‹ werden als einzelne Individuen selbst ebenfalls durch eine organisch konstruierte Struktur konstituiert, bilden also erneut ein spezifisches Wechselverhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, Teil und Ganzem aus. Die Teile eines jeden Organismus – seien es nun die der ganzen Natur oder die einer einzelnen Individualität – werden zu Organen jenes Organismus erklärt. Der allgemeine Organismusbegriff wird dabei sowohl für Schelling als auch für Oken, Carus, Kieser u. a. auch auf die Dimensio-

|| 324 Vgl. dazu MBA VIII, S. 1557f.: »Alles, Form und Stoff, ist für sie [d. i. die philosophische Methode] an dies Gesetz [d. i. das Gesetz der Schönheit] gebunden.« 325 Kieser 1827, I, S. 3; Hvhb. von mir. 326 Vgl. Schelling 1985, III, S. 387: »Der Organismus ist das unmittelbare Abbild der absoluten Substanz oder der Natur schlechthin betrachtet« (im Original gesperrt); vgl. hierzu u. a. Cheung 2014. 327 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 3.

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nen der anorganischen Natur328 angewendet. Dabei dient die Anzahl der Organe als Kriterium für die Einordnung der jeweiligen organistisch bestimmten Lebenseinheit in die Stufenleiter der gesamten Natur: Die Thiere unterscheiden sich durch ihre Stufenstellung von anderen, durch die Zahl ihrer verschiedenen Organe.329

Dieser von Oken mehrfach betonte Primat der Organquantität als Grundsatz der qualifizierenden Einordnung auf der Stufenleiter der Natur gilt selbstverständlich auch für die Phytologie: Die Pflanzensysteme und Organe haben sich nur allmählich von der rohen Masse losgerissen, und sich selbständig ausgebildet. Eine Pflanze, in der alle Organe vorhanden, geschieden oder selbständig entwickelt und dennoch vereinigt sind, ist ohne Zweifel die höchste. [...] Allein eh es zu dieser Scheidung kommt, muß sich die Natur mit diesen Formen begnügen, in denen weniger Organe sich selbständig constituirt haben. Diese Formen begründen die Verschiedenheit der Pflanzen und die Mehrheit derselben.330

Vor dem Hintergrund der bis hierher entfalteten naturphilosophischen Systematik lassen sich die weiteren Ausführungen Lenzens unschwer ableiten. Denn höherentwickelte Organismen haben aufgrund ihrer größeren Organanzahl eine umfangreichere Wechselwirkung mit der Außenwelt. Folglich muss sich neben ihrem größeren aktiven Einwirken auf die sie umgebende Natur (›herausgreifen, tönen, auffassen‹) auch ein intensiverer passiver Austausch mit dieser Umwelt ergeben, müssen sie daher »um so tiefer afficirt« werden, je mehr Teile, Organe sie besitzen: Kein Organismus, keine besondere Erscheinungsform ist denkbar, außer in Beziehung auf die allgemeine Welterscheinung, ein jegliches wird, es besteht und lebt und stirbt nur in Beziehung auf allgemeines Naturleben. Ebenso aber wie jedes besondere Bilden und Bewegen nothwendig ein Hinwirken eines Einzelnen gegen das Ganze voraussetzt, so wird auch bei einem sich Bildenden und Bewegenden umgekehrt nothwendigerweise ein Afficirtwerden desselben durch allgemeines Naturleben anzuerkennen sein331 [12] wie in den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sei

In den niederen Organismen dagegen ist aufgrund ihrer kleineren Organzahl ein qualitativ und quantitativ geringes Wechselverhältnis zur äußeren Natur anzunehmen und zwar in aktiver (zurückgedrängter) und passiver (beschränkter) Hinsicht.

|| 328 Vgl. dazu Schelling 1985, III, S. 389: »Es gibt keine anorganische Natur an sich« (im Original gesperrt). 329 Oken 2007, II, S. 361. 330 Ebd., S. 211. 331 Carus 1831, S. 32.

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Doch nicht nur das Verhältnis dieser tieferstufigen Organismen zur Natur als ganzer und zu ihren besonderen Realisationen, sondern auch das interne Interaktionsniveau der niederen Lebensformen gestaltet sich aufgrund der einfacheren Organisation als undifferenzierter und geringer, weshalb folglich die Bewegung geringer und deren naturphilosophischer Gegenpart, die »Ruhe in sich größer« sei. Auch dieser Begriff der Ruhe ist ausschließlich und präzise wissenschaftlich konnotiert, hatte doch schon Hobbes in seiner allgemeinen Physik Bewegung und Ruhe als die Grundprinzipien der Materie bestimmt.332 Auch Lenz’ organologische Reflexionen basieren mithin in ihrem wesentlichen Momenten auf der Annahme einer Stufenleiter der Natur, die sich durch einen letztlich additiven Ausdifferenzierungsprozess auszeichnet. Erneut lässt sich feststellen, dass Büchners eigene naturwissenschaftliche und -philosophische Arbeit auf einer systematisch analogen Prämisse basiert: Es dürft wohl immer vergeblich bleiben gerade bey der verwickelsten Form, nämlich bey dem Menschen anzufangen. Die einfachsten Formen leiten immer am Sichersten, weil in ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Nothwendige zeigt.333

7.2.1.5 Naturphilosophie versus Psychopathologie Die im Vorherigen unternommene Einbettung der Aussagen Lenzens in die naturphilosophische, anthropologische und magnetistische Forschungslandschaft des frühen 19. Jahrhunderts versuchte zu belegen, dass Büchner seinem Protagonisten Kenntnisse verlieh, die sich ausschließlich und präzise in jene Debatten einfügen, die in den 1820er und 1830er Jahren mit großem Engagement, von verschiedensten Seiten und unter Beteiligung Büchners geführt wurden.334 Dem zeitgenössischen Leser mit wissenschaftlichem Bildungshintergrund in den benannten Disziplinen – und das waren, wie das Beispiel der romantischen Literaten zeigte, nicht wenige – dürfte die Zuordnung zu diesen Kontroversen und die genaue Stellung des Protagonisten in diesen leicht gefallen sein. Die Zunahme der rein wissenschaftlichen Perspektive auf diese Phänomene und ihre szientifische Erklärung im Verlauf des Gesprächs korrespondiert mit der Vereinseitigung des Dialogs, den schließlich nur noch Lenz führt. Es gelingt ihm dadurch für Momente, die Bedrängnisse, die ihm seine kranke Psyche und der Verlust des Glaubens bedeuteten, zu lindern. Wissen-

|| 332 Vgl. Hobbes 51996, S. 13ff. 333 MBA VIII, S. 15936–39. Auch dieses Kriterium der Organquantität, ergänzt allerdings um Momente der Qualität derselben hatte Büchner sowohl für seine Erzählung als auch für seine Naturwissenschaft bei Hillebrand nachlesen können: »Ist es als ausgemacht anzunehmen, daß mit dem Steigen und Mehren der Lebensfunktionen auch die Organe sich nicht nur vervielfältigen, sondern zugleich fortschreitend unähnlicher und ungleichartiger werden müssen, so wird begreiflich, wie die Stufenfolge der Thiere solcher Organverschiedenheit parallel gehen« (Hillebrand 1822/23, I, S. 201f.). 334 Insofern ist die These Viëtors (1949, S. 168), Büchner suche im Lenz zu »ewigen Grundwerten vorzudringen«, methodisch und systematisch unzutreffend.

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schaft, als mentaler Prozess und durch ihre säkulare Systematik, tut dem kranken Intellektuellen gut – so eine erste Schlussfolgerung. Das kann auch deshalb gelingen, weil nicht nur die intellektuelle Beanspruchung überhaupt, sondern die Inhalte des Gespräches dem kranken Dichter autodiagnostische Perspektiven zu eröffnen scheinen, die durch eine Zuweisung zu einem behandelbaren Krankheitsbild die hilflose Auslieferung an einen unbeeinflussbaren Krankheitsverlauf, der nur dem allmählichen Selbstverlust zusehen könnte, beendete. Lenz spricht sich in ein Wissen um die allgemeinen naturphilosophischen Grundlagen seiner psychischen Instabilität hinein, was ihm Hoffnung bietet auf eine mögliche Heilung, wenigstens aber eine selbsteigene Beherrschung der Krankheit. Es wird sich zeigen, dass eben diese Hoffnung auf eine unmittelbare Wirksamkeit des Wissens trügen wird. Es ist nämlich schon gegenüber den soziogenen Bedingungen der Krankheitsverschärfung und ihren weltanschaulichen Voraussetzungen im Überzeugungsprogramm des Protagonisten hilflos. Oberlin beendet Lenzens Ausführungen nicht nur abrupt; er lenkt seine Aufmerksamkeit auf mystische Farbspekulationen, die er in der Nachfolge Böhmes tatsächlich intensiv betrieb; im unmittelbaren Anschluss an das Gespräch über den tierischen Magnetismus heißt es: Ein andermal zeigte ihm Oberlin Farbentäfelchen, er setzte ihm auseinander, in welcher Beziehung jede Farbe mit dem Menschen stände; er brachte zwölf Apostel heraus, deren jeder durch eine Farbe repräsentiert würde. Lenz faßte das auf, er spann die Sache weiter, kam in ängstliche Träume, und fing an, wie Stilling die Apocalypse zu lesen, und las viel in der Bibel.335

Bei all seinem – wie sich zeigte – immensen Wissen in anthropologischer und allgemein naturphilosophischer Hinsicht, das sich einer dezidiert säkularen Systematik bediente, ist Lenz aufgrund seines schlechten Gewissens gegenüber den Postulaten der Religion336 nicht in der Lage, sich mystischer Religiosität auch der »einfachen Art«,337 wie sie durch Oberlin oder Jung-Stilling ausgeübt wurde,338 zu widersetzen. Die durch seine naturphilosophischen Extemporationen erlangte psychische Stabilität geht durch den religiösen Diskurs über verwandte Phänomene umgehend verloren. Hilflos ist Lenz nicht nur dem Verlauf seiner Krankheit ausgeliefert, sondern auch der religiösen Dekonstruktion seines wissenschaftlichen Wissens durch Oberlin und deren krankheitsverstärkenden Auswirkungen. Hatte Büchner die praktische Hilflosigkeit des Wissens gegenüber den politischen Realitäten in Dantonʼs Tod ausführlich dokumentiert, so zeigt er die Ohnmacht noch der komplexesten Wissenschaft nicht nur gegenüber einer unaufhaltsamen Psychopathologie,

|| 335 MBA V, S. 3635–40. 336 So zu Recht Reuchlein 1996, S. 72ff. 337 So die Charakteristik Oberlins in MBA V, S. 3634f.. 338 Zu Jung-Stillings Versuchen, die Magnetismus-Debatte als empirische Verifikation pietistischer Religiosität zu interpretieren, vgl. Weder 2008, S. 44ff.

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sondern auch gegenüber einer Religion, deren praktische Wirksamkeit diejenige der Theorie bei weitem überragt. Umgekehrt kann aber die praktische Irrelevanz des wissenschaftlichen Wissens seinen Wahrheitswert nicht unmittelbar beeinflussen. Die therapeutische Wirkung339 seines Wissens auf Lenz ist durch dessen praktische Irrelevanz in Weltanschauungsfragen nicht vollständig zu unterminieren. Das zeigt sich in dem direkt an den skizzierten Dialog über den Magnetismus einsetzenden Gespräch über Literatur und Kunst, das Lenz mit seinem Freund Kaufmann führt.

7.2.2 Das Kunstgespräch Anders als einige Interpretationen annehmen, ist das Kunstgespräch nicht durch eine deutliche Zäsur vom vorherigen Texte abgesetzt,340 sondern vielmehr eine durch seine Gehalte und durch Lenzens mentalen Zustand erkennbare Weiterführung der im Gespräch mit Oberlin entwickelten naturphilosophischen und anthropologischen Überlegungen. Über ein sachlich enges Verhältnis der Wissensbestände beider Passagen ist in der Forschung häufig spekuliert worden, wenngleich aufgrund der zumeist unzureichenden Kenntnisse der zeitgenössischen Naturphilosophie und -wissenschaft nur in Andeutungen.341 Ein bedeutender Zweig der literarhistorischen Interpretationen der Novelle hat unter Absehung dieser textinternen Bezüge daher versucht, Zusammenhänge der Ästhetik des büchnerschen Lenz zu kunsttheoretischen Positionierungen des historischen Lenz, die dem Autor in der Tat bekannt waren,342 herzustellen. Dabei musste allerdings festgestellt werden, dass insbesondere hinsichtlich konstitutiver Momente der bei Büchner ausgeführten Konzeption erhebliche Differenzen zum historischen Lenz zu markieren sind.343 Die Gründe für diese unübersehbaren Unterschiede liegen in Büchners offensichtlichen Interessen an einer Aktualisierung bestimmter semantischer Felder der Erzählung, die insbesondere das Wissen des Protagonisten betreffen und daher, wie im Zusammenhang des animalischen Magnetismus, erkennbare Anachronismen in Kauf nehmen. Schon für das Gespräch über den Magnetismus hat sich gezeigt, dass Büchner zu deutlichen Anleihen bei der zeitgenössi-

|| 339 Vgl. hierzu auch in Bezug auf das Kunstgespräch Meier 1983, S. 103. 340 Martin 2007, S. 213. 341 Vgl. u. a. Arz 1996, S. 177; Will 2000, I, S. 310f.: »Der aus dem Vokabular des Thierischen Magnetismus herrührende Begriff des Somnambulismus führt Lenz zu einem naturphilosophischen, die ästhetischen Positionen des Kunstgesprächs fundierenden Monolog«; oder auch Kaufmann 2013– 2015, S. 179. 342 Büchner stand die dreibändige Ausgabe der Schriften Jakob Lenz’ zur Verfügung, die Ludwig Tieck 1828 veranstaltet hatte. Vgl. hierzu Will 2000, I, S. 134–143 sowie Martin 2002, S. 198. 343 Vgl. hierzu Meier 1983, S. 104–111 sowie Schaub 1996, S. 26f.

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schen Naturphilosophie griff, und auch im Kunstgespräch geht es dem Autor nicht primär um historische Authentizität, sondern um aktuelle Virulenz der Gehalte;344 es geht vor allem um eine Anbindung der Ästhetik an eine allgemeine lebensphilosophische Konzeption, deren naturphilosophischer Hintergrund und antiklassizistisches Telos nicht zu übersehen sind. Anders als bei der Rekonstruktion der Kontexte und Gehalte der Magnetismusdebatte, die sich dem Gesprächverlauf anzupassen suchte, soll in der Folge das weitgehend durch einen Monolog Lenzens getragene Gespräch über Literatur und Kunst der deduktiven Systematik entsprechend analysiert und interpretiert werden. 7.2.2.1 Optimistische Kosmologie und rationale Mimesis Lenz eröffnet seinen Monolog über Literatur und bildende Kunst mit einer Schelte seiner Zunft, die entlang der Distinktion zwischen Kunst und Wirklichkeit vernichtend kritisiert wird. Sowohl jene Dichter, die sich einer mimetischen Poetik verschrieben hätten, als auch jene, die ein poietisches Kunstverständnis verträten, verfehlten ihre Aufgaben, weil erstere die Wirklichkeit nicht kennten und letztere dieselbe verzerrten. Es ist vor dem Hintergrund der Forschungslage kaum deutlich genug zu betonen,345 dass Lenz beide Literaturprogramme und deren praktische Umsetzungen einer Kritik unterzieht.346 Auch die bisherigen Mimetiker verfallen dem lenzschen Verdikt, weil sie nur den Schein von Wirklichkeitsadäquanz herstellten. Diese Kritik deutet darauf hin, dass Lenz für sich ein Wirklichkeitsverständnis in Anspruch nimmt, das sich einem Modell von Realität, die schlicht abzuspiegeln sei, entzieht. Realität – und hier zeigt sich erneut der heimliche Leibnizianismus des büchnerschen Lenz347 – ist also nicht mit ihrer empirischen Außenseite zu identifizieren, sondern erst hinter den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen zu ermitteln. Ein weiteres Mal erweist sich Lenz also als rationalistischer Metaphysiker.348 || 344 Vgl. hierzu auch Kaufmann 2013–2015, S. 180ff. 345 Vgl. hierzu beispielhaft für die einseitige Berücksichtigung der lenzschen Kritik an einer idealistischen Literatur Pilger 1995, S. 104–110; Martin 2007, S. 214; Beise 2010, S. 78f.; Borgards 2009, S. 62–65; Kaufmann 2013–2015, S. 181ff. 346 Vgl. hierzu auch Martus 2016b, S. 162f. 347 Vgl. hierzu u. a. Leibniz 31966, S. 402f. u. S. 410–422: Was jenseits der Sinne und der Materie liegt. 348 Dagegen hat Thomas Michael Mayer (1979a, S. 74–108, spez. S. 76ff.) versucht, eine »politische Ethik und politische Ästhetik« Büchners an der Argumentation des Kunstgespräches nachzuweisen mit dem Ziel, seine fundierende These von einem begründungtheoretischen Materialismus des Autors zu verifizieren. Zu diesem Zweck wird der Nachweis geführt, dass der ästhetischen Konzeption des Kunstgespräches Diderots Kunsttheorie aus dem Essai sur la peinture zugrunde läge, die Büchner allerdings in der goetheschen Übersetzung und Kritik zur Kenntnis genommen und als Quelle verwendet habe. Wie viele andere der Thesen Mayers gilt sein Nachweis der quellenartigen Anbindung der lenz-büchnerschen Kunstauffassung an Goethes Diderot (trotz dessen Kritik) als positivistisch nachgewiesenes Dogma der allgemeinen Büchner- und besonderen Lenz-Forschung

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Dennoch betont er ausdrücklich, dass er die zweite Poetik, die er als ›Verklärung der Wirklichkeit‹ charakterisiert, für besonders verwerflich erachtet. Dem wird in einem zweiten Argumentationsschritt eine metaphysische Überzeugung entgegen gehalten, aus der in der Folge ästhetische Prinzipien im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit abgeleitet werden: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie seyn soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll seyn, ihm ein wenig nachzuschaffen.349

Trotz aller an einem materialistischen Büchner interessierten Forschung350 ist erstens nicht von der Hand zu weisen, dass jene Formel, nach der die Welt als Schöp-

|| (zur angeblichen Diderot-Verarbeitung im Kunstgespräch des Lenz vgl. u. a. Ruckhäberle 1981, S. 170; Kohl 1982, S. 109; Poschmann 31988, S. 100; Vollhardt 1991, S. 205; Schwann 1997, S. 122f.; MBA III.4, S. 44f. u. S. 166f.; MBA V, S. 420; Taniguchi 2000–04, S. 100ff.; Roth 2004, S. 193f. u. S. 213f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 28; Morawe 2012b, S. 76f.). Schaut man allerdings genauer in Goethes kommentierende Diderot-Übersetzung, dann ist nicht zu übersehen, dass – außer der bei Goethes Diderot und bei Büchners Lenz feststellbaren Relativierung der Unterschiede zwischen schön und hässlich, die allerdings je unterschiedlich begründet wird und keineswegs zu einer Aufhebung dieser Distinktion und ihrer Geltung führt – wenig Gemeinsamkeiten nachweisbar sind. (1) Diderot empfiehlt eine Nachahmung der als Kausalzusammenhang rational zu entschlüsselnden Natur. Ganz zu Recht spricht Goethe davon, dass nach Diderot der »Künstler […] für Physiologie und Pathologie arbeiten solle« (Goethe 1887–1919, I.45, S. 255f.). Büchners Lenz dagegen fordert eine Emotionen generierende Darstellung von natürlichem ebenso wie gesellschaftlichem Gefühlsleben; sein Lebensbegriff ist also keineswegs auf die äußere Natur beschränkt. (2) Diderot zielt tendenziell auf eine Aufhebung der Differenz zwischen Natur und Kunst; Büchners Lenz dagegen entwickelt zwar aus einer allgemeinen Naturphilosophie einen Begriff von Schönheit, dessen organologischer und prozessualer Gehalt auf seinen Status als Kategorie der theoretischen Vernunft hinweist. Aber sein Kunstbegriff entschlägt sich keineswegs aller Differenzen zur Natur. Vielmehr zielt die emotionalistisch-anthropologische Begründungstheorie auf eine Einbettung in interpersonale Bezüge und wird daher durch Kategorien der praktischen Vernunft bestimmt. Auch weitere Unterschiede zwischen Goethes Diderot und Büchners Lenz sind im Hinblick auf ihre jeweiligen Kunsttheorien auszumachen, und zwar in der hier angedeuteten Substanzialität. Insofern kann von einer Nähe beider Texte in sprachlicher oder sachlicher Hinsicht keine Rede sein. (3) Weder ist Büchner durch seinen Lenz oder seine brieflichen Äußerungen zu einer emphatischen Gefühlspoetik den unsteten Modellen Diderots zu ästhetischen Fragen systematisch nahe, weil dieser vielmehr eine pragmatische Haltung zu technischen Fragen der Kunstherstellung einnahm (vgl. ebd., S. 253ff. sowie Borek 2000, S. 87f.), (4) noch ist deshalb eine allgemeine Affinität zu Diderots Intellektualität bzw. seiner materialistischen Grundhaltung zu belegen. Kurz: Wie schon im Kapitel über Büchners philosophisches Wissen bezüglich der Thesen von einem systematischen Materialismus angedeutet, ist weder eine wörtliche noch eine sachliche Gemeinsamkeit zu Diderots Texten für Büchner nachzuweisen und damit erneut die Materialismusthese zurückzuweisen. 349 MBA V, S. 3714–16. 350 Vgl. hierzu Schaub 1996, S. 27 oder auch MBA V, S. 419f., die sich auf rein philologische Kommentare zur Phrase vom »lieben Gott« beschränkt; vor allem aber die tendenziösen Studien von Bodo Morawe.

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fung Gottes durch eine Identität von Idealität und Realität bzw. Normativität und Deskriptivität ausgezeichnet würde, kurz: die beste aller möglichen Welten sei, der Tradition des leibnizschen Optimismus entstammt.351 Denn aus der Tatsache, dass die Welt so ist, wie sie sein soll, Sein und Sollen in und für diese Welt identisch sind und sie daher die beste aller möglichen Welten sein muss, wird ein Verbot idealistischer Dichtung abgeleitet sowie das Postulat der Nachahmung diesem Verdikt entgegengesetzt. Letztere Maxime lasse den Dichter die Schöpfung »ein wenig nachschaffen«, mache ihn mithin zu einem alter deus.352 Auch wenn Büchner diese geniepoetologische Erweiterung der Konzeption nur bedingt geteilt hat,353 ist doch gut dokumentiert, dass er die ihr zugrundeliegende metaphysische Prämisse seinen eigenen Arbeiten zugrunde legte. An seine Eltern schreibt er am 28. Juli 1835 zur Legitimation seines Danton und während der Arbeit am Lenz: Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll.354

In nichts unterschiedet sich diese These von der seines Lenz und daher in nichts von einem metaphysischen Optimismus leibnizscher Provenienz. Dass auch eine weitere metaphysische Prämisse des lenzschen Anti-Normativismus, der in ethischer Hinsicht zu einem Anti-Idealismus, in politischer Hinsicht zu einem AntiUtopismus tendiert, auf Theorieelementen des philosophischen Rationalismus basiert, zeigt die Fortführung seiner Argumentation. Denn das Postulat einer geniefundierten Nachahmung der göttlichen Schöpfung wird konkretisiert durch die poetische Maxime, der Dichter solle »in allem Leben, Möglichkeit des Daseins« darstellen.355 Unübersehbar lässt sich dieser Lebensbegriff einer naturphilosophischen Genieästhetik nicht mit leibnizschen Theoremen erläutern. Dennoch reicht die Definition, nach der Leben als »Möglichkeit des Daseins« bestimmt wird, weit in rationalistische Traditionen zurück. Nicht erst Christian Wolff erweiterte systematisch die Ontologie um den Bereich der Möglichkeit,356 schon Spinoza definierte das Sein

|| 351 So zu Recht schon Meier 1983, S. 97; Stiening 1999, S. 119; Kaufmann 2013–2015, S. 185f. 352 Vgl. hierzu auch ebd., S. 186. 353 So spricht er zumindest in Bezug auf den Dramatiker, der für ihn – wie ausgeführt – notwendig historische Dramen verfasst, davon, dieser erschaffe die vergangene Wirklichkeit »zum zweiten Mal« (Brief an die Eltern von 28. Juni 1835; P II, S. 41010f.) und macht ihn damit in der Tat zu einem alter deus, der zwar zu keiner creatio ex nihilo, wohl aber zu einer Neuschöpfung abgelebter Vergangenheit fähig ist; Büchners alter deus dramaticus überwindet mithin die Zeit; vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 6. 354 P II, S. 4116–10. 355 MBA V, S. 3716f.. 356 Vgl. hierzu Honnefelder 1990, S. 363ff.

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schlechthin in seiner äußersten Extension als »Möglichkeit«. Diese aber werde durch Widerspruchsfreiheit definiert.357 Wenn Lenz mithin die »Möglichkeit des Daseins« für das in der Literatur Dargestellte einfordert, dann impliziert diese Maxime nicht mehr und nicht weniger als eine formale Widerspruchsfreiheit, was als deutliches Votum gegen alle Formen des Wunderbaren oder Rätselhaften romantischer Poesie zu lesen ist. Der von der Forschung bisher übersehene Bezug zum Kontext der philosophischen Modallehre,358 deren spinozanische Variante Büchner spätestens seit seiner Arbeit an Dantonʼs Tod bekannt war,359 eröffnet zudem die spezifische Form des ›Realismus‹, den Lenz hier für die Literatur anmahnt: Dem Sturm und Drang-Dichter geht es mit diesem Postulat nämlich nicht um eine nur empirisch wahrnehmbare Wirklichkeit bzw. empirische Welt der Möglichkeiten, die poetisch darzustellen sei. Gegenüber den weiteren Bestimmungen der Postulatenkonstruktion für jene eingeforderte Literatur und Kunst ist die Frage, ob die dargestellte Wirklichkeit empirischen oder rationalen Status hat, vielmehr indifferent. Sicher ist, dass jenes »Leben«, das Lenz mit der modalphilosophischen Formel von der »Möglichkeit des Daseins« definiert, zwar durch seine Darstellung in der Kunst Gefühle evozieren soll – Büchner spricht vom »mitempfinden«360 –, deshalb aber nicht notwendig selbst empirisch konturiert sein muss. Auch die ›Bedürfnisse der Vernunft‹ oder des Glaubens, die keinen rein empirischen Status innehaben und doch zum »Leben« gehören, können Gefühle erwecken. Dabei lässt sich die Vorstellung des »Lebens«, das Lenz als den einzigen Gegenstand der Dichtung und Kunst zulässt, im Rahmen der allgemeinen Ästhetik näherhin erläutern, die aus den metaphysischen Prämissen abgeleitet wird. Sowohl im Hinblick auf die Maximen einer optimistischen Kosmologie als auch hinsichtlich des verwendeten Lebensbegriffs wie letztlich in Bezug auf den Status der beanspruchten Schönheitskategorie lassen sich deutliche Gemeinsamkeiten zwischen Büchners naturphilosophischer Ästhetik und den Ausführungen seiner Figur nachweisen.361

|| 357 Vgl. Spinoza 1999, S. 70; noch Kant nennt Widerspruchsfreiheit als formale Bedingung aller Möglichkeit, vgl. KrV B 265ff. 358 Vgl. hierzu die sozialpolitischen Assoziationen zu dieser Formel bei Elm 2004, S. 117ff., der deren unzutreffende Interpretation auf Woyzeck überträgt. 359 Zur unklaren Spinoza-Rezeption Büchners im Winter 1834/35 vgl. P I, S. 552; MBA III.4, S. 170f. sowie meine Ausführungen hierzu in Kap. 2. 360 Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835; P II, S. 41114. 361 Mit der Zurückführung auf die jeweilige Begründungstheorie für die je vorgeführte Poetik mildert man das methodische Problem, Positionen einer Figur mit denen ihres Autors zu verrechnen, man hebt es allerdings keinesfalls auf; vgl. hierzu grundlegend schon Meier 1983, S. 97ff.

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7.2.2.2 Leben als »unendliche Schönheit« Zu Recht ist festgestellt worden, dass Büchner in seiner Novelle einen positiven Lebensbegriff verwendet, der naturphilosophisch konturiert ist.362 Übersehen wurde in diesen Andeutungen allerdings, dass in jenem Lebensbegriff analytisch eine Ästhetik enthalten ist, die nach einigen, in der Folge noch zu betrachtenden anthropologischen und epistemologischen Hinweisen im Zusammenhang eines Beispiels für Gegenstände lebendiger Kunst entfaltet wird: Wie ich gestern eben am Thal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. […] Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen, zwischen den Felsen war es wieder ein anderes Bild. Die schönsten Bilder, die schwellendsten TöTöne, gruppiren, lösen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert.363

Schon im Zusammenhang seiner Naturphilosophie und -wissenschaft hat sich gezeigt, dass Büchner im Anschluss an Schelling und Wilbrand einen Lebensbegriff kategorial verwandte, der darauf abzielte, das Lebewesen als Organismus und Prozess zu denken.364 Die auch bei Wilbrand und Schelling feststellbare Überordnung des Werdens über das Sein als entscheidendes Merkmal des Lebens365 generiert in dieser Passage des Lenz zudem einen ontologischen Schönheitsbegriff. Denn jene »unendliche Schönheit«, die sich in sich und durch sich verändert, ist jenes Bleibende bei und in allem Wechsel, dem Kant allein Substanzcharakter zuschrieb und damit logische Notwendigkeit, um Prozessualität überhaupt erkennen zu können.366 Auch Lenz geht es in seiner ästhetischen Skizze darum, den Prozesscharakter des Lebens als schön zu prädizieren, der ästhetischen Kategorie der Schönheit ontologischen Status zu verleihen und damit zum einzig legitimen Gegenstand von Literatur und Kunst zu erheben. Diesem ontologischen Status des Schönheitsbegriffs, der Substanz als geformten Prozess zu denken versucht, begegnet man – mit leichten Modifikationen – ein Jahr später in Büchners Probevorlesung.367 Wenn Lenz also

|| 362 So Arz 1996, S. 175. 363 MBA V, S. 3732–381. 364 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 365 Vgl. Schelling 1985, I, S. 278ff. sowie Wilbrand 1813, S. 84ff. 366 KrV B 224–232; zum Veränderungscharakter der Schönheit in dieser Passage vgl. auch Kobel 1974, S. 183; Kobel übersieht allerdings, dass Büchner gerade der unendlichen Schönheit beharrenden Status zuschreibt und so Substanzialität – bei allem Wechsel ihrer Erscheinungen. 367 Vgl. MBA VIII, S. 1551–7: »Diese Frage [der philosophischen Methode], die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesammte Organisation finden, und so wird […] das ganze körperliche Dasein des Individuums […] die Manifestation eines Urgesetzes,

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Leben als »Möglichkeit des Daseins« – mithin in formaler Hinsicht durch Widerspruchsfreiheit – definiert, dann wird diese Bestimmung ergänzt durch die materiale Eigenschaft natürlicher Prozessualität, der als unabänderlicher Substanz ein Begriff von Schönheit zugrunde liegt. Schon in seinen Schülerschriften hatte Büchner »Leben« mit Prozessualität identifiziert: »das Leben selbst ist Entwicklung«.368 Doch bedarf diese metaphysische Konstruktion einer anthropologischen und epistemologischen Ergänzung: Zwar ist jede widerspruchsfreie Darstellung sich verändernder, bewegender Lebewesen laut Lenz und Büchner schön; doch erst eine weitere Qualität kann sie zu legitimen Gegenständen der Literatur und Kunst prädestinieren und damit Kunstschönheit hervorbringen. 7.2.2.3

Depotenzierung ästhetischer Distinktionen und emotionalistische Epistemologie Bevor Lenz zu jener exemplifizierten allgemeinen Ästhetik übergeht, die seinen Schönheitsbegriff bereit hält, entwickelt er aus der Maxime, dass »Leben« als »Möglichkeit des Daseins« Gegenstand der Kunst sein müsse, einige ästhetische und vermögenspsychologische Konsequenzen und Erweiterungen: Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige Kriterium in Kunstsachen. […] Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im »Hofmeister« und den »Soldaten«. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. […]369

Für die im Zentrum stehende Kunstdebatte enthalten diese Äußerungen Lenzens die entscheidenden Bestimmungen: Zum einen wird durch den naturphilosophischen Lebensbegriff als erforderlichem Wesensmerkmal gelungener Literatur und Kunst, || eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.« 368 P II, S. 4127. Ohne jeden Bezug zum Text der Novelle ist allerdings der Versuch Janckes (31979, S. 238–242), aus dem von Lenz verwendeten Lebensbegriff das Moment der Selbstzweckhaftigkeit herauszuklauben, wie sie dem büchnerschen Verständnis des Begriffs in der Schülerschrift und noch in der Probevorlesung entspricht. Denn weder bei Lenz noch in den von Kaufmann nur hingeworfenen Gesprächsbrocken ist auch nur irgendein Bezug auf Zweckbegriffe zu entdecken. Janckes flinke Verbindung einer Kaufmann fälschlich attestierten instrumentellen Vernunft zur »kapitalistischen Gesellschaft«, die Lenz mit seinem Widerstand gegen Kaufmann und dessen Kunstauffassung ablehne, eröffnet das Seichte, Haltlose und Erzwungene eines Universalität beanspruchenden soziopolitischen Interpretationsmodells; ähnlich noch die soziopathologischen Assoziationen bei Kitzbichler 1993, S. 103 und Borgards 2009, S. 57. 369 MBA V, S. 3716–31.

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dem ganz konsequent der Begriff unendlicher Schönheit als substanzieller Hyle zugrunde gelegt wird, die genuin ästhetische Unterscheidung zwischen schön und hässlich zweitrangig. Wenn etwas Leben habe, also widerspruchsfrei und prozesshaft sei, dann könne die Frage, ob dieser darzustellende Gegenstand schön oder hässlich sei, nur als irrelevant bezeichnet werden. Lenz hebt mit dieser Argumentation die Unterscheidung zwischen schön und hässlich nicht auf; sie bleiben vielmehr in Geltung, doch sind diese Prädikate hinsichtlich der Auswahl von Gegenständen für die Kunst bzw. eine Bewertung ihrer schon erfolgten Gestaltung indifferent. Der Überordnung der Lebenskategorie über die Distinktion zwischen schön und hässlich als Kriterien für gelungene Literatur und Kunst korrespondiert jedoch zum anderen eine spezifische Epistemologie für die Wahrnehmung jener Kunst: Denn nach Lenz entscheidet nicht das Vermögen der Begriffe, sondern ausschließlich das Gefühl des Rezipienten über die Frage, ob »das, was [vom Künstler] geschaffen sey, Leben habe«. Ausdrücklich wird diese emotionalistische Epistemologie in Bezug auf die Rezeption von Literatur und Kunst wiederholt: Der Dichter und Bildende ist mir der Liebste, der mir die Natur am Wirklichsten giebt, so daß ich über seinem Gebild fühle, Alles Übrige stört mich.370

Ist die Unterordnung der ästhetischen Kategorien unter das Kriterium des Lebens im ontologischen Schönheitsbegriff analytisch enthalten, so kommt diesem Emotionalismus in Fragen der Kunstrezeption der Status einer synthetischen Erkenntnis zu; denn notwendig ist diese Fokussierung auf das Gefühl in Sachen Kunstrezeption – wie das zeitgenössische Beispiel Hegels zeigt371 – nicht. Die kriteriellen Präzisierungen des Lebensbegriffs – Widerspruchsfreiheit, Organizität und Prozessualität – sind durchaus begrifflich zu rekonstruieren und drängen keineswegs zu einem strengen Emotionalismus. Büchner scheint allerdings in diesem Falle Rücksicht auf die Historizität seines Gegenstandes zu nehmen – immerhin konstituiert sich der Sturm und Drang durch eine spezifische Vorstellung der fundierenden und uneinholbaren Bedeutung des

|| 370 Ebd., S. 3815–17. 371 Hegel wendet sich in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sogar ausdrücklich gegen die Annahme, Kunst sei wegen ihres sinnlichen Äußeren nur dem Gefühl zugängig: »Und wenn auch die Kunstwerke nicht Gedanken und Begriff, sondern eine Entwicklung des Begriffs aus sich selber, eine Entfremdung zum Sinnlichen hin sind, so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr sich in seiner Entäußerung zur Empfindung und Sinnlichkeit wiederzuerkennen, sich in seinem Anderen zu begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt« (Hegel 1986, XIII, S. 27f.). Büchner und sein Lenz sind von diesen Einsichten deshalb grundlegend entfernt, weil sie einen Dualismus der sinnlichen und rationalen Vermögen in der transzendentalen Tradition nicht zu überbrücken bereit sind.

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Gefühls – sowie auf die epistemologische Tradition, aus der er selber argumentiert. Im Kapitel über sein naturwissenschaftliches Wissen hat sich gezeigt, dass er im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Prämissen seines wissenschaftlichen Arbeitens durchaus der transzendentalphilosophischen Tradition zuneigte, und zwar in Form ihrer friesschen Modifikation.372 Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft das »Gefühl« als entscheidendes Vermögen in Kunstsachen in eine Theorie der Urteilskraft eingebunden und gar ein »Gefühl des Lebens« mittelbar in ein entferntes anthropologisches Bedingungsgefüge solcher Urteile integriert.373 Wie Büchner selbst im Rahmen seiner wissenschaftstheoretisch fundierten Epistemologie eines unmittelbar empirischen Zugangs zur Natur,374 so hält sein Protagonist an einer Eigenständigkeit des Gefühls in Bezug auf die Rezeption von Kunst als Darstellung des Lebens fest.375 Zugleich liegt diesem epistemologischen Emotionalismus in rezeptionsästhetischer Absicht eine anthropologische Prämisse zugrunde, die Lenz scheinbar neben-

|| 372 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 373 Vgl. Kant 1983, VIII, S. 369f.: »Es ist auch nicht zu leugnen, daß alle Vorstellungen in uns, sie mögen objektiv bloß sinnlich, oder ganz intellektuell sein, doch subjektiv mit Vergnügen oder Schmerz, so unmerklich beides auch sein mag, verbunden werden können (weil sie insgesamt das Gefühl des Lebens affizieren, und keine derselben, sofern als sie Modifikation des Subjekts ist, indifferent sein kann); sogar, daß, wie Epikur behauptete, immer V e r g n ü g e n und S c h m e r z zuletzt doch körperlich sei, es mag nun von der Einbildung, oder gar von Verstandesvorstellungen anfangen: weil das Leben ohne das Gefühl des körperlichen Organs bloß Bewußtsein seiner Existenz, aber kein Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens, d. i. der Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte sei; weil das Gemüt für sich allein Leben (das Lebensprinzip selbst) ist, und Hindernisse oder Beförderungen außer demselben und doch im Menschen selbst, mithin der Verbindung mit seinem Körper, gesucht werden müssen.« Vgl. auch Hinderer 1990, S. 102, der – ganz kantisch – davon spricht, Lenz habe in seinem »Kunstmonolog« gleichsam einen »Sensus communis« postuliert. 374 Vgl. hierzu MBA VIII, S. 15514–22: »Die Frage […] führte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste; sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.« 375 Weil sich aber dieses Gefühl, sowohl als Gegenstand der Kunst als auch als bevorzugtes Rezeptionsorgan zur Feststellung ihrer Güte auf den naturphilosophisch bestimmbaren Gegenstand des Lebens (in seiner Widerspruchsfreiheit, Prozessualität und Organizität) bezieht, kann diese Konzeption sich nicht auf Jacobis Verständnis des Gefühls beziehen (vgl. Vollhardt 1991, S. 208–211). Denn Jacobis Gefühl dient als Organ der Gewahrnehmung und Evidenzgarantie der Existenz einer personalen Gottesinstanz und der Möglichkeit von Freiheit für den Menschen. Büchners und Lenzens anthropologisch-naturphilosophische Gefühlskonzeption »in Kunstsachen« hat mit dieser Problemlage des unmittelbaren Wissens bei Jacobi nichts zu tun. Büchners Kuhn- und damit JacobiRezeption, die erst ein Jahr nach der Arbeit am Lenz einsetzt, hinterlässt im Lenz keinerlei Spuren.

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her fallen lässt: »[D]ie Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß.«376 7.2.2.4 »Der Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur« Büchner bettet Lenz’ konstruktive Ausführungen zur Kunsttheorie in einen Streit mit dem Freund und Widerpart Christoph Kaufmann ein, der als Anhänger eines an ethischen und ästhetischen Idealen orientierten Kunstverständnisses vorgestellt wird. Als Schlagwort für diese Position dient die Formel von der »idealistischen Periode«. Wie sein Autor, so hält auch Lenz das poetische und malerische Schaffen nach abstrakten ethischen oder anthropologischen Menschheits-Idealen für eine moralische und ästhetische Katastrophe: Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.377

Die Forschung hat in dieser Passage das Bekenntnis eines allgemeinen AntiIdealismus des Protagonisten der Erzählung sowie seines Autors gesehen.378 Tatsächlich hatte Büchner im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 nahezu wortidentisch festgehalten: Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.379

Sowohl Lenzens als auch Büchners private Äußerungen sind jedoch systematisch von einem allgemeinen Anti-Idealismus weit entfernt. Die einen philosophischen wie weltanschaulichen Materialismus Büchners voraussetzende Forschung formte aus diesen Zeilen eine systematische Abwehr jeglicher Varianten und disziplinärer Teilbereiche von Idealismus – weder bedenkend, dass schon die metaphysische Begründungstheorie für diese poetologische Kritik wenigstens rationalistischer Provenienz ist, noch, dass Büchners Naturphilosophie, die im Kunstgespräch mit

|| 376 Zur eigentümlichen Anthropologie dieser Passage vgl. schon Viëtor 1949, S. 167, der zu Recht betont, dass »von physiologischem Materialismus in der Selbsteinschätzung des Menschen hier noch keine Rede ist«. 377 MBA V, S. 3723–25. 378 Vgl. hierzu exemplarisch Arendt 1990, S. 314f.; Pilger 1995, S. 104–106; Rößer 2000–04, S. 175– 181 sowie Ruf 2008, S. 332f. 379 P II, S. 41110–17.

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dem Lebensbegriff präsent ist, erhebliche Anleihen bei Schellings Form von transzendentalem Idealismus machte. Schon bei einem genaueren Blick auf die Phrase der Erzählung hätte das bestimmte Demonstrativpronomen allerdings stutzig machen müssen: Lenz spricht von »diese[m] Idealismus«, nicht jeglichem! Tatsächlich lässt sich insbesondere durch die in Büchners Brief erwähnten negativen und vorbildlichen Beispiele von Dichtern eine zeitgenössische Kontroverse als Kontext dieser Aussagen ausmachen, die die Idealismuskritik in ihrer begrenzten und dadurch spezifischen Semantik sichtbar werden lässt. Denn im Hintergrund der Urteile Lenzens und seines Autors stehen nicht Kant, Schelling und Hegel, sondern die Frage: Schiller oder Shakespeare? Spätestens seit Dietrich Christian Grabbes schlagfertigem Eingreifen in diese Debatte wird deren dramen- bzw. allgemein dichtungspoetische Thematik in ihrer kulturpolitischen Funktion sichtbar. Grabbe hatte nämlich in seinem Essay Über die Shakspearo-Manie in ebenso polemischer wie apodiktischer Weise festgehalten: Das deutsche Volk will möglichste Einfachheit und Klarheit in Wort, Form und Handlung, es will in der Tragödie eine ungestörte Begeisterung fühlen, es will treue und tiefe Empfindung finden, es will ein nationelles und zugleich echt dramatisches historisches Schauspiel. Es will auf der Bühne das Ideal erblicken, welches im Leben sich überall nur ahnen läßt.380

Unabhängig von den Widersprüchen, die diese Proklamation im Hinblick auf Grabbes eigene dramatische Werke ausmachen, unabhängig auch von der Tatsache, dass Grabbe mit seinem Text in eine wohlerwogene Kontroverse mit Tieck eintreten wollte, bringt sie gleichwohl präzise auf den Begriff, welche kulturpolitischen Tendenzen sich in den späten 1820er und frühen 1830er Jahren verfestigten: Zu Recht hat Friedrich Sengle festgehalten, dass Grabbe mit seiner wuchtigen Parteinahme gegen die Shakespeare-Rezeption und -Verehrung der Romantik »die reinste Definition des biedermeierlichen Stilideals, des sich damals herausbildenden Biedermeierklassizismus« ablieferte.381 An der Frage »Shakespeare oder Schiller«, die Büchner in seinem Brief eindeutig beantwortet, schieden sich die dramatischen und – wie Grabbes Nationalismen zeigen – die politischen Geister der Zeit.382 Es war dies eine Kontroverse, die um die Hegemonie der beiden führenden ästhetischen und kulturellen Paradigmata seit dem späten 18. Jahrhundert, Romantik und Klassizismus, geführt wurde und in die auch jene Generation von Dichtern und bildenden Künstler eingreifen wollte und musste, die sich als Protagonisten einer Zeit nach dem Ende der Kunstperiode begriff.383 Büchner lässt seine Figur – in erneut erkennbar

|| 380 Grabbe 1975, II, S. 444. 381 Sengle 1971–1980, III, S. 160. 382 Cowen 1998, S. 112. 383 Vgl. hierzu Bock 1995, S. 43ff.; im Hinblick auf Büchner Kaufmann 2013–2015.

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anachronistischer Manier – zu eben dieser kulturpolitischen bzw. dramenpoetologischen Kontroverse eindeutig Stellung beziehen: nämlich für Shakespeare und Goethe, in deren Werken dem Rezipienten das »einzige Kriterium in Kunstsachen« entgegen »tönte« – das »Gefühl, das Das, was geschaffen sey, Leben habe«. Damit nimmt Büchner aber auch deutlich Stellung gegen Grabbe und stellt sich in die durch diesen geradezu konstituierte Fraktion der Romantiker.384 Es ist also keineswegs erforderlich, Büchner und seinen Lenz in die Stellungen eines generellen, durch David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach oder die Literaten des Jungen Deutschland in den 1830er Jahren erst allmählich sich herausbildenden allgemeinen Anti-Idealismus zu pressen. Büchner steht in dem durch Grabbes Text skizzierten Konflikt auf der Seite des Anti-Klassizismus, der Schiller als moralischen Rigoristen interpretiert und dessen Dichtung zum Ausdruck abstrakter Prinzipien, mithin ›toter‹ Gedanken herabwürdigt. Gegen solcherart ›Holzpuppen‹Dramatik bringt Büchner seinen Lenz in Stellung, dem er wichtige Momente der eigenen rationalistisch-naturphilosophischen Poetik leiht.385 Die Kritik am ›Idealismus‹ des Klassizismus ist allerdings nicht poetologisch oder kulturpolitisch, sondern anthropologisch fundiert, nach Lenz verachte jener Idealismus die »menschliche Natur«. Die Exemplifikation dieses Arguments zeigt seine sowohl ethische als auch soziopolitische Ausrichtung; denn die eingeklagte Natur des Menschen könne man studieren im »Leben des Geringsten«, das man in der propagierten Literatur in den »Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel« wiedergeben solle. Als Beispiele solcher Kunst führt Lenz seine eigenen Dramen, Der Hofmeister und Die Soldaten an, womit ersichtlich wird, dass der Begriff des »Geringsten« keinen religiösen,386 sondern einen soziologischen Gehalt ausführt, der allerdings auf eine anthropologische Darstellungsabsicht ausgerichtet ist. Es sei – vor dem Hintergrund der Forschungslage – ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jene »Geringsten« nur deshalb zum ausgewählten Gegenstand der lenzschen Kunst werden, weil an ihnen die anthropologisch konstante »Gefühlsader« unverstellt gestaltet und so beim Leser evoziert werden kann; es geht ihm keineswegs um die von materiellen Bedürfnissen bedrängten Armen.387 Denn deren Ängsten und Sorgen hatte Lenz mit seiner Predigt Momente der Beruhigung verschafft; in seiner Kunst dagegen geht es um den Menschen überhaupt. Dem Idealismus wird mithilfe des Beispiels jedoch ex negativo vorgeworfen, er widerstreite der menschlichen Natur, weil er ethisch vorbildliche und gesellschaft|| 384 Zu einer kontextuellen Korrelation zwischen Grabbe und Büchner vgl. den Band von Ehrlich u. Kopp. 385 Dass es auch deutliche Differenzen zwischen beiden Positionen gibt, zeigt überzeugend Kaufmann 2013–2015. 386 So aber Kobel 1974, S. 179–210 oder Wittkowski 1978, S. 351ff. und MBA V, S. 424. 387 So aber die Insinuationen bei Mayer 1979a, S. 83ff.

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lich privilegierte Personen dramatisiere – gemäß den Prinzipien der aristotelischen Tragödientheorie. Damit aber gehe er am tatsächlichen Leben vorbei. Dieses Leben sei vielmehr in der »Gefühlsader« des Menschen zu erfassen, die »in fast allen Menschen gleich« sei. Mit dem letzten Argument wird das Gefühl, nachdem Lenz es schon als das »einzige Kriterium in Kunstsachen«, mithin als entscheidendes Rezeptionsvermögen inthronisiert hatte, auch zum Gegenstand der propagierten Kunst erhoben. Aus der emotionalistischen Anthropologie generieren mithin zwei Dimensionen des Ästhetischen: Rezeptions- und Werkästhetik.388 Kontrastiert wird dem ethischen und soziopolitischen Idealismus, der als leblose Reflexionspoesie denunziert wird, eine emotionalistische Anthropologie, die in der Darstellung des »Lebens der Geringsten« ihren idealen Darstellungsgegenstand habe. Der Anti-Idealismus des büchnerschen Lenz ist mithin ein AntiIntellektualismus, dessen emotionalistische Fundierung sich noch auf der ethisch aufgeladenen Seite der Kunstproduktion wiederfindet. Denn als Voraussetzung für die Fähigkeit gelungener Kunstproduktion führt Lenz die folgende Überzeugung an: Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopiren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht.389

Sowohl hinsichtlich der Bedingungen für die Produktion lebendiger Kunst als auch hinsichtlich der intendierten Gegenstände bietet Lenz mit dieser Aussage prinzipiell Neues gegenüber seinen vorherigen Ausführungen. Denn der Dichter oder bildende Künstler müsse philanthropische Empfindungen hegen, d. h. nicht einzelne Menschen, sondern »die Menschheit« in diesen Einzelnen lieben, um in der Lage zu sein, deren Individualität ästhetisch zu gestalten. Das oben eingeforderte Prinzip des Lebens als Gefühle evozierender, einzig angemessener Gegenstand von Kunst, das durch das Kriterium der organologischen Prozessualität bestimmbar war, wird an dieser Stelle erweitert um das Moment der Individualität: Leben in Kunst heißt Darstellung von Veränderung und Individualität bis in die körperlichen Besonderheiten hinein. Nur als sich verändernde Individualität sind die Gegenstände der Kunst in der Lage, jene Gefühle zu wecken, von denen Lenz als einzigem Kriterium in Kunstsachen sprach und die Büchner in seinem Brief an die Eltern als Empathie für die Affekte der poetisch gestalteten Figuren konkretisierte: »Menschen von Fleisch und Blut […], deren Leid und Freude mich mitempfinden lassen«.

|| 388 Vgl. hierzu schon Vollhardt 1991, S. 207. 389 MBA V, S. 384–10.

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Solcherart emotionalistische Poetik ist nun allerdings – weil von Parteilichkeit erneut keine Rede ist390 – wenig originell, weder für die erzählte Zeit noch für die Zeit der Erzählungsniederschrift.391 ›Eigentümlich‹ im büchnerschen Sinne ist vielmehr die Verbindung dieser poetischen Epistemologie und Anthropologie zum Lebensbegriff und damit zur Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts. Prägnant ist in diesem Zusammenhang Büchners konsequente Umsetzung des anthropologischen Postulats, das den gesellschaftlich Geringsten zu einem angemessenen Realisationsgegenstand der emotionalistischen Poetik erhebt. Ist das anthropologische Argument ein Erbe der Aufklärung, so eine kompromisslose Anwendung auf die gesellschaftlichen Differenzen ein Moment der Zeitgenossenschaft Büchners, der in Lenzens Dramen historische Vorbilder seiner eigene Poetik erblickte. Dass allerdings die ›Liebe zur Menschheit‹, die der Künstler als Bedingung der Möglichkeit einer Befähigung zur Darstellung lebendiger Individualität zu hegen habe, den Idealismus der Prinzipien von der werk- auf die produktionsästhetische Seite schlicht verschiebt, dürfte Büchner aufgefallen sein. Auch in dieser konzeptionellen Inkohärenz mag ein sachlicher Grund für das Scheitern des Erzählprojektes zu finden sein.

7.2.3 Gang durchs Gebirge – Poesie und Psychopathologie Abschließend soll versucht werden, die Erkenntnisse der wissensgeschichtlichen Analyse mit einer Passage der Novelle zu korrelieren, die dezidiert keinerlei Wissen des Protagonisten ausführt, sondern ins Zentrum einer zentralen poetischen Darstellungsintention des Textes führt: In der berühmten Eingangssequenz lässt Büchner seinen Protagonisten »durch’s Gebirg« gehen – und damit durch eine Natur, die in einer dergestalt subjektiv wie objektiv verzerrten Wahrnehmung geschildert wird, dass dem Leser ein »Mitempfinden« jener psychischen Zustände des Protagonisten zumindest offeriert wird. Die Rekonstruktion der naturphilosophischen, ästhetischen und poetologischen Wissensbestände des Protagonisten, die weitgehend die seines Autors sind, ermöglicht Momente einer neuen Sicht auf diese Sequenz, in-

|| 390 So aber Mayer 1979a, S. 85, der eine Mitleidspoetik Lenzens durch dessen Bezug auf den »Geringsten« ausgeführt sieht, den er allerdings durch Büchner »politisch gewendet« sieht. Weil es in den lenzschen Ausführungen jedoch weder um eine Ästhetik des Hässlichen, sondern um eine Indifferenz gegenüber schön und hässlich, noch um eine »soziale Parteilichkeit« (ebd., S. 83) für Unterprivilegierte bzw. das Proletariat, sondern erneut um eine Indifferenz des zentralen Lebensprinzips gegenüber gesellschaftlichen oder ästhetischen Unterschieden geht, muss von Mayers soziopolitischer Lesart der Novelle Abschied genommen werden; das ist aber bis in die jüngsten Publikationen nicht zu erkennen, so u. a. bei Hauschild 2013, S. 243ff. und Kurzke 2013, S. 307ff. 391 Für das späte 18. Jahrhundert vgl. Martino 1977/78/79, S. 117–130 und für das frühe 19. Jahrhundert Frank 1989, S. 341ff. und Stiening 1999a, S. 133–144.

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dem sie Bedingungen und Gründe ihrer inhaltlichen und formalen Gestaltung freilegt.392 Die Betrachtung des Magnetismus-Gespräches hat gezeigt, dass Lenz über ein differenziertes, philosophisch und wissenschaftlich fundiertes Naturverständnis verfügt, das Natur als in sich differenzierte prozessuale Einheit zu sehen suchte. Diese Einheit ist in sich organologisch und hierarchisch strukturiert, sodass sich die Stufenleiter der Natur als Ausdifferenzierungsprozess vollzieht. Darüber hinaus erwies sich Lenzens Kunst- und Literaturauffassung als Ableitung aus diesem allgemeinen Naturmodell, insofern die Kunst Darstellungsformen für ein Schönheitsverständnis zu entwickeln hatte, das jene substanzielle Prozessualität als Moment des Lebens empfindbar machen sollte. Als entscheidend erwies sich damit, dass der Affekte lebende Mensch als integrales, geborgenes Moment jener ganzen Natur aufgefasst wurde, den lebendig darzustellen als Aufgabe der Kunst bestimmt wurde. Der naturphilosophisch versierte Dichter Lenz wird uns von Büchner zu Beginn seiner Novelle in einem erheblich affektiven Zustand vorgestellt, dessen Besonderheit in einer von Beginn an psychopathologischen Verschiebung seiner Wahrnehmung besteht, denn »jedes Gefühl oder Gesicht Lenzens setzt bereits seine Zerrüttung voraus«.393 Diese krankheitsbedingte Wahrnehmungs- und Handlungsverzerrung bezieht sich insbesondere auf die Natur, die Lenz durchwandert. Dabei konterkarieren seine Wahrnehmungen die wohlgegründete Überzeugung von einer gesetzmäßigen Einheit der Natur. So geht dem Kranken die selbstverständliche Geltung der raum-zeitlichen Ordnungsmuster und damit der fundamentalen Kategorien der Natur als gesetzmäßigem Ganzen verloren: Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können.394

Zum anderen erlebt er die an sich integrierte Stellung des wahrnehmenden Subjekts und der handelnden Person in dieser sich verändernden Natur in einem stetigen Prozess der Erosion, den er sich gleichwohl bewusst zu machen versteht: […] er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, er war ihm eine Lust, die ihm wehe that; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es

|| 392 Zum Folgenden vgl. auch die exzellenten, in ihren Schlussfolgerungen jedoch abweichenden Überlegungen bei Greiner 2012. 393 So zu Recht Gundolf 31973, S. 91ff. 394 MBA V, S. 3113–16.

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weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter ihm zog.395

Auch nach dem Ende des Sturms, gegen den Lenz ankämpft, wird das Empfinden der Fremdheit und Distanz gegenüber der sich dem Subjekt zugleich entziehenden und es verschlingenden Natur nicht behoben; im Gegenteil erweitert sich der Bruch nunmehr auch auf die Natur des sich nach wie vor bewussten Subjekts selbst, das sich in seiner Körperlichkeit fremd wird: Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel, so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen; und alles so still, grau, dämmernd; es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu athmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, […].396

Der Naturphilosoph und Dichter Jakob Lenz, der die Natur theoretisch und ästhetisch als Landschaft begreifen kann,397 verliert den Zusammenhang zwischen der äußeren Natur als gesetzmäßigem und schönem Ganzen und seinem Bewusstsein und beobachtet dabei sich selbst. Damit gelingt Büchner die Darstellung eines Verhältnisses von wahrnehmendem menschlichem Bewusstsein und Landschaft, die nach der Inauguration einer vermittelten Distanz zwischen Subjekt und Natur durch Petrarca und dessen Erweiterungen im Werther Goethes, dem Natur schon beides, integrierende Landschaft und alles verschlingendes Ungeheuer sein konnte, einen Prozess des abstrakten, unverfügbaren Nebeneinanders von gegenseitigem Verlust und Verschlingen ermöglicht: Sowohl der Verlust des Individuums in die Natur als auch das Verschlingen der Natur durch das sich ›ausdehnende‹ Subjekt ist Folge einer pathologisch induzierten Aufhebung begrifflicher oder ästhetischer Vermitteltheit zwischen beiden Instanzen.398 Büchners Landschaft ist weder theoretisch wahr noch ästhetisch schön, sondern »in ihrem wilden Jubel«399 pathologisch verzerrt, sodass wir an ihr das Leid Lenzens »mitempfinden« können.400 Das gelingt Büchner vor allem durch einen steten und zumeist unvermittelten Wechsel der Erzählperspektive, die eine Außen- und eine Mitsicht der mentalen

|| 395 Ebd., S. 3132–38. 396 Ebd., S. 3142–327. 397 Vgl. hierzu und zum Folgenden die berühmten Ausführungen von Ritter 2003, S. 407–434. 398 Vgl. hierzu schon Hans Mayer 1972, S. 284, der von einem Absterben des Gefühls »für die Lebendigkeit der außermenschlichen Natur« spricht. 399 MBA V, S. 3121. 400 So Büchners Empathie-Poetik in P II, S. 41114; erkennt man also die Eingangssequenz der Novelle als Manifestation jenes metaphysischen Realismus, den die Figur einfordert, wird es schwer, Steffen Martusʼ These vom notwendigen Scheitern des lenzschen realistischen Kunstwerks zu verifizieren (vgl. Martus 2016b, S. 163ff.).

Lenz’ Wissen: Naturphilosophie und Kunsttheorie | 581

Prozesse kurzatmig, fast stürmisch innerhalb einzelner Sätze kombiniert. Dabei geht es Büchner nicht vordringlich um eine möglichst genaue Pathographie, die einen vermeintlich autoritären ärztlichen Blick durch eine Innenperspektive des Kranken ergänzt;401 das versucht der Autor durchaus auch. Doch wusste Büchner als Wissenschaftler mit mittelbaren praktischen Erfahrungen in der Psychiatrie zu genau,402 dass es für eine angemessene Diagnose, aus der allererst wirksame Theorien erwachsen können, eben jenes distanziert wissenschaftlichen Blicks bedurfte. Dass die nachmalige wissenschaftliche Psychiatrie Büchners Text als brillante Darstellung psychopathologischen Seelenlebens interpretierte und nutzte,403 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Text nicht als szientifischer, sondern als literarischer intendiert, konzipiert und ausgeführt wurde, um »nicht allein Lenz’ Leiden [zu schildern], sondern mehr noch: was es heißt, wie Lenz zu leiden«.404 Und das gelingt nur, weil Büchner beide Perspektiven unvermittelt, wertungsfrei und sich gegenseitig erläuternd gestaltet. Es gehört zur Brillanz des Dichters Georg Büchner, dass er diesen doppelten Perspektivismus als einen systematisch sich ergänzenden – nicht relativierenden – konstruiert. Wenn, wie Joachim Ritter präzise herausarbeitete, seit Petrarca »Natur als Landschaft […] Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes« und des »ästhetischen Gefühls« war,405 und seit Werther in der Gefahr stand, sich unvermittelt vom göttlich integrierten Ganzen in einen zerstörenden Moloch zu verwandeln, so führt Büchner die stürmische Gebirgslandschaft als Spiegel einer sich selbst verlierenden Seele, als ›jubelndes‹ Chaos eines allmählich zerrüttenden Geistes vor. Natur als Seelenlandschaft ist somit bei Büchner ›Frucht und Erzeugnis‹ der poetischen Reflexion auf einen Verlust des Geistes.406 Lenzens Besonderheit besteht in der Fähigkeit zur diagnostischen Selbstbeobachtung noch in den Momenten der Verzerrung, weil er als Wissenschaftler und Künstler die Abweichungen von den rationalen und ästhetischen Naturbestimmungen zu erkennen vermag. Diese autodiagnostische Fähigkeit bleibt jedoch hilflos, sie ist vielmehr sichtbarer Ausdruck und Verstärker des Selbstverlustes: [E]s war als sey er doppelt und der eine Theil suchte den andern zu retten.407

|| 401 So aber Reuchlein 1996, S. 84ff. 402 Vor allem durch die Gutachtertätigkeit seines Vaters hatte Büchner schon früh Einsicht in die methodischen und wissenschaftstheoretischen Modelle zeitgenössischer Psychiatrie, vgl. MBA VII.2, S. 80–83. 403 Vgl. hierzu u. a. Schmidt 1994, S. 274ff. sowie insbesondere Wübben 2016, S. 111ff. 404 Reuchlein 1996, S. 104. 405 Ritter 2003, S. 413 u. S. 419. 406 Vgl. hierzu erneut die Grundformel ebd., S. 413. 407 MBA V, S. 4712.

582 | Das Wissen der kranken Seele: Die »Novelle Lenz«

Scheinen die ewigen Naturgesetze im Bewusstsein des Kranken ihre Geltung zu verlieren, so verläuft die psychopathologische Erkrankung nach einer gleichsam naturgesetzlichen, wenigstens aber unabänderlichen Notwendigkeit. Dabei referiert Büchner an keiner Stelle auf ätiologische Problemlagen, die in der zeitgenössischen Psychiatrie kontrovers debattiert wurden.408 Es geht ihm vielmehr um die Empathie ermöglichende poetische Phänomenologie der kranken Seele eines Wissenschaftlers und Dichters, dessen intellektuelle Fähigkeiten und Kenntnisse ihm zwar eine Beobachtung des eigenen Zerfallsprozesses ermöglichen, nicht aber – trotz aller Versuche – eine rettende Therapie. Insofern ist Lenz Gang »durch’s Gebirg« kein »Rückzug in die Verrücktheit«,409 sondern ein letzter, wilder, aber scheiternder Versuch, seinen Geist durch sein Wissen zu retten. Die auch über 170 Jahre nach der abgebrochenen Niederschrift der Novelle berührende Poetizität dieser Darstellung

|| 408 Insofern sind alle Versuche, Büchner der wissenschaftstheoretischen Position der ›Somatiker‹ zuzuschlagen, unbegründbar (so aber insbesondere Seling-Dietz 1995–99, S. 235 sowie MBA V, S. 132ff.), weil es dieser Psychiatrieschule und ihrem Widerpart, den ›Psychikern‹, vor allem darum ging, die Ursachenfrage gegen die Konkurrenz zu klären (vgl. insbesondere Benzenhöfer 1993, S. 75ff.; Kutzer 2003, S. 27–47; Greve 2004, S. 85ff.; Schott u. Töll 2005, S. 53ff.; Geyer 2014, S. 57ff.). Büchner geht es aber weniger um Ursachen als vielmehr um die Unverfügbarkeit des psychopathologischen Verlaufs. Dass Büchner sich um die Ursachen der Erkrankung seines Protagonisten in seiner Novelle nicht bekümmert, erkennen auch Seling-Dietz und die MBA, dennoch sehen sie in der Tendenz zur Entmoralisierung eine Gemeinsamkeit zwischen Büchner und den Somatikern, insbesondere Johannes Bird. Die insinuierte Gemeinsamkeit ist mithin vor allem negativer Natur in der beiderseitigen Zurückweisung moralischer Bewertungen psychischer Erkrankung. Sieht man allerdings genauer in die Texte des von Seling-Dietz, MBA, Martin, Borgards und Beise so stark gemachten Johannes Bird, und zwar in einen programmatischen Aufsatz, in dem er jene »religiöse Melancholie« exemplarisch vorführt (Bird 1823, S. 228–241), die Büchner im Lenz gestaltet habe (vgl. abermals Seling-Dietz 1995–99, S. 225ff. sowie MBA V, S. 129ff., übernommen bei Martin 2002, S. 188f.; Borgards 2009, S. 66f.; Beise 2010, S. 77f.; Gentilin 2017, S. 62f.), müssen Zweifel aufkommen. Denn Bird sucht zwar in der Tat das Krankheitsbild der religiösen Melancholie auf körperliche Vorgänge zurückzuführen; bei seinem vorgestellten Probanden besteht diese somatologische Ätiologie jedoch in nächtlichen »Pollutionen« (Bird 1823, S. 234), die den 78jährigen in tiefe Verzweifelung und religiöse Zwangshandlungen stürzen. Bird empfiehlt wegen der seiner Ansicht nach ausschließlichen Körperlichkeit der Melancholie »die abnorm fortdaurende Receptivität der Geschlechtsteile für den physischen Genuß, wo möglich, völlig« zu unterdrücken (ebd., S. 239). Mit entsprechender Medikamention wird sodann dem Probanden seine Sexualität ausgetrieben und er damit als von der religiösen Melancholie geheilt betrachtet. Unabhängig von dem in der Forschung kontrovers debattierten Verhältnis Büchners zur Sexualität scheint mir wenig wahrscheinlich, dass der Autor des Lenz diese ätiologische Vermittlung von unterdrückter Sexualität und religiösem Wahn nicht zum Gegenstand seiner poetischen Reflexionen auf die Krankheit seines Protagonisten gemacht hätte, wäre es ihm tatsächlich um ›religiöse Melancholie‹ zu tun gewesen. Wie Kutzer (2003, S. 27–47) präzise aufzeigte, sind solche Erklärungen der Somatiker zudem von den moralinsauren Invektiven der Psychiker in nichts unterschieden; zudem spielt im Lenz das Thema Sexualität nicht bzw. nicht in offensichtlich erkennbarer Weise eine Rolle. Anders als in Dantonʼs Tod hat sich Büchner mit den schon von Gutzkow monierten »Veneria« in seiner Novelle nicht befasst. 409 Oesterle 1995, S. 65.

Fazit: Wissen und Poesie | 583

entsteht aus eben diesem Spannungsverhältnis zwischen dem Wissen und seiner psychopathologischen Destruktion.

7.3 Fazit: Wissen und Poesie Es sind die wissensgeschichtlich rekonstruierbaren Gehalte des NovellenFragments, die durch ihre systematische Nähe zu des Autors eigenen Überzeugungen in naturphilosophischer, psychologischer und ästhetischer Hinsicht die in der Forschung dominierenden Thesen von einem primär psychographischen Darstellungsinteresse fragwürdig werden lassen. Die kontextualisierende Analyse und Interpretation zeigte nämlich, dass es Büchner offenbar bei aller detailversessenen Rücksicht auf Erkenntnisse der zeitgenössischen Psychiatrie darum ging, eine Empathie ermöglichende Phänomenologie des psychopathologischen Prozesses einer wissenschaftlich bewehrten Künstlerseele zu liefern. Im Zentrum der Erzählung steht daher weder das Verhältnis zwischen dem Protagonisten und Oberlin410 noch die authentische Darstellung einer »religiösen Melancholie« zum Behuf einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit pathogenen Wirkungen der Religion. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Erzählung diese Themenfelder auch gestaltet, vor allem die therapieverhindernden, symptomverstärkenden Einflüsse Oberlins und des pastoralen Vaters, dem Lenz sich zu entziehen hofft, während er in der Anlehnung an Oberlin eine Zeit lang Linderung vermutet, werden sichtbar reflektiert. Unbestreitbar führt Büchner auch das bekannte schwierige Verhältnis zu Goethe und die damit zusammenhängende Liebe zu Friederike Brion aus, ohne ihnen allerdings konstitutive Funktion zuzuschreiben; sie bilden vielmehr das erforderliche historische Kolorit aus. Im gehaltlichen Zentrum des Lenz stehen weder psychiatrische Perspektiven noch die religions- bzw. gesellschaftskritischen Handlungsformungen bzw. biographische Interessen, selbst die schon von Gutzkow vermuteten und in der Forschung häufig aufgenommenen literarhistorischen Interessen sind nur Mittel zum tatsächlich intendierten Zweck: Dieser liegt in der poetischen Analyse des Verhältnisses von Geist und Seele, konkreter in der Darstellung des konfliktuösen Verhältnisses eines wissenschaftlichen Geistes zu seiner sich und ihn zerrüttenden Seele, mithin im psychischen und rationalen Verhältnis des wissenschaftlich versierten Literaten Lenz zu sich selbst. Der Verlauf dieses zerrüttenden ›Selbstverhältnisses‹ ist weder durch Lenz’ Intellekt noch durch Oberlins zweifelhafte Hilfe noch andere Hilfsmittel aufzuhalten; es geht auch und erneut, wie in Dantonʼs Tod, um die Hilflosigkeit des

|| 410 So aber MBA V, S. 130: »Lenz’ Beziehung zu Oberlin, und also den eigentlichen Gegenstand der Erzählung […]«; vgl. schon Kobel 1974, S. 158–179.

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Geistes, diesmal aber vor den Destruktionskapazitäten der inneren menschlichen Natur. Büchner zeigt darüber hinaus, dass sich die Zerrüttung des wissenschaftlichkünstlerischen Gemüts nicht in einer katastrophischen Plötzlichkeit vollzieht, sondern auch das schon kranke Gemüt zu Reflexionsleistungen in der Lage ist; der Autor des Lenz liefert eine Psychologie wissenschaftlicher und künstlerischer Intelligenz. Kaum je fühlt sich Lenz glücklicher als während jener oben analysierten und kontextualisierten Gespräche; so heißt es am Ende des Kunstgespräches: In der Art sprach er weiter, man horchte auf, es traf Vieles, er war roth geworden über den Reden, und bald lächelnd, bald ernst, schüttelte er die blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen.411

Insofern bleibt auch und in besonderer Weise für den sich unaufhaltsam in die Krankheit verlierenden Lenz der cartesische Grundsatz gültig: cogito ergo sum. Solange er denkt, naturphilosophisch oder ästhetisch, hat er sein Bewusstsein nicht verloren.412 In einer für Büchner charakteristischen Wendung fasst er diese Selbsterhaltung des Ich durch Wissen als ein ›Selbstvergessen‹ der kranken Seele in den Gegenständen des Wissens.413 Alle Versuche, die Erzählung an die emotionalistische Poetik ihres Protagonisten vollständig anzunähern und ihr die poetische Gestaltung des herderschen »sentio ergo sum« zuzuschreiben,414 oder gar – in einer körpergeschichtlichen Wendung religiöser Deutungen – jenen verzweifelten Therapieversuchen Lenzens, sich mit Hilfe körperlicher Schmerzen das Bewusstsein zu erhalten, konzeptionelle Prägnanz zu verleihen im Sinne einer »Somatologisierung des transzendentalen Ich« (was immer mit seiner solchen Formel an rationalem Gehalt zu verbinden sein könnte),415 scheitern an einer unerlässlichen Interpretation der hier im Zentrum stehenden

|| 411 MBA V, S. 3837–40. 412 Insofern ist die rationalitätskritische Interpretation Sanadas (2001, S. 444), Büchner inszeniere einen Protagonisten, der in »Narzißmus« und »Selbstmitleid« versinke, weil er das cogito »nie loswerden« könne, um im »Anderen« die Wahrheit der Offenbarung und des Selbst zu erfahren, am Text nicht zu verifizieren. Auch die These Helmut J. Schneiders (2006, S. 130), nach der »Büchners gesamtes Werk […] die metaphysischen und ästhetischen Versöhnungsfiguren der klassischen Periode« verabschiede, indem »es sich beharrlich in die Differenz zwischen Körper und Geist, Äußerem und Innerem, Zeichen und Bedeutung, Faktum und Sinn usw. eingräbt«, entbehrt zumindest für Lenz jeglicher Grundlage. Büchner zeigt vielmehr, was es bedeutet, in einem unaufhaltsamen psychopathologischen Prozess zunächst das Verhältnis zum eigenen Körper und dann das zum Bewusstsein zu verlieren. Zudem dokumentiert er in bedrückender Nähe, dass es bei den zumindest zeitweise lindernden Leistungen des cogito nicht um »Versöhnung«, sondern um Angst und Verzweiflung mindernde Identitätskonstitution geht. 413 Vgl. hierzu auch Martus 2016b, S. 160f. 414 So Vollhardt 1991, S. 204f. 415 So Borgards 2007, S. 436ff.

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Gesprächspassagen. Deren wissensgeschichtliche Deutung kann den Gehalt der Novelle allererst erschließen, wenn sie ihn auf dieselbe auch nicht reduziert.

8 Humoristisches Wissen? Leonce und Lena als Kritik der Romantik Am 31. Mai 1836 schickt Büchner das handschriftliche Manuskript seiner Dissertation an die philosophische Fakultät in Zürich. Einen Tag später schreibt er an den Freund und Studienkollegen Eugène Boeckel: Erst gestern ist meine Abhandlung vollständig fertig geworden. Sie hat sich viel weiter ausgedehnt als ich Anfangs dachte […] und schreiben habe ich die Zeit nichts können […] es ist mir unendlich wohl, seit ich das Ding aus dem Haus habe.1

Büchners Erleichterung über die endlich abgeschlossene Dissertation ist verständlich: Seit November 1835 hat er nahezu ausschließlich an dieser Studie über das Nervensystem der Barbe gearbeitet, und zwar in anatomischen Sektionen sowie schriftlichen Fixierungen und deren naturgeschichtlichen Interpretationen. Diese ebenso aufreibende wie ambitionierte Arbeit musste er ohne gesicherten Status als civis academicus, der er als Flüchtling nicht sein durfte, nur unterstützt von Freunden und Förderern ausführen und beenden. Drei Vorträge, die er im Mai 1836 vor der Straßburger Société d’histoire naturelle zu den Ergebnissen seiner Forschungen halten konnte, und die daraufhin erfolgte Aufnahme Büchners als korrespondierendes Mitglied hatten ihn bestätigt und abgesichert.2 Nicht zufällig gratuliert der Freund zu dieser Aufnahme von ganzem Herzen. Gleichwohl ist Büchner gezwungen, schon am Tag nach der Abgabe neue Pläne zu schmieden: Dazu gehört zum einen die offensichtlich aus Zürich ergangene Aufforderung zur Vorbereitung auf eine philosophiehistorische Vorlesung, auf die er sich »jetzt in aller Gemächlichkeit« vorzubereiten gedenkt; zum anderen aber muss er daran denken, Geld zu verdienen.3 Das beabsichtigt er, in den »nächsten 6–8 Wochen […] aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmieren soll«, zu leisten.4 Schon am 1. Juni 1836 ist sich Büchner also darüber im Klaren, dass er u. a. zur Aufbesserung seiner finanziellen Lage zur Dichtung zurückkehren wird, wo er

|| 1 Brief an Eugène Boeckel vom 1. Juni 1836; P II, S. 43632–43723/MBA X.1, S. 9035–9121. 2 Zu diesem gesamten Vorgang und den dazu gehörigen Protokollen vgl. Roth 2004, S. 85ff. und insbesondere S. 391ff. 3 Dass Büchner allerdings nicht am Hungertuche nagte – wie in der Forschung häufig kolportiert –, sondern wenigstens über ein ›Grundeinkommen‹ verfügte, lässt sich dem Brief seines Vaters vom 18. Dezember 1836 entnehmen, der davon spricht, dass er seinem geflohenen Sohne »pünctlich die nöthigen Geldmittel, bis zu der dir bekannten Summe, welche ich zu deiner Ausbildung für hinreichend erachtete«, habe zukommen lassen; vgl. P II, S. 45826ff./MBA X.1, S. 11234f.. 4 Brief an Eugène Boeckel vom 1. Juni 1836; P II, S. 43714ff./MBA X.1, S. 9114f.. https://doi.org/10.1515/9783050093215-008

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doch während der »Zeit« der Arbeit an der Dissertation »nichts« schreiben konnte. Die Zeitangabe »6 bis 8 Wochen« weist allerdings darauf hin, dass sich in den nächsten Tagen oder Wochen noch einige Bedingungen ändern werden: Büchner wird nämlich versuchen, sich an einem Lustspiel-Wettbewerb zu beteiligen, den der Cotta-Verlag Anfang des Jahres ausgeschrieben und wegen offenbar mangelnder Beteiligung bis zum 1. Juli 1836 verlängert hatte.5 Dass Büchner seine Komödie nach Auskunft seines Bruders zwei Tage zu spät einschickte und daher den Umschlag ungeöffnet zurückerhielt,6 ist in vorliegendem Zusammenhang weniger bedeutsam als die Tatsache, dass sich der angehende Doktor der Naturgeschichte und Privatdozent der Philosophie nach einer nahezu 7monatigen Arbeit an einer evolutionstheoretischen Qualifikationsarbeit einem Lustspiel zuwandte, das nach Auffassung der Forschung mit dieser unmittelbar vorhergehenden Phase seiner biographischen Vorgeschichte nichts zu tun hat.7 Büchner wird an seinem Lustspiel noch über den Herbst und Winter 1836/37 weiter arbeiten – im September 1836 ist er »noch mit Manchem unzufrieden«.8 Er wird es zu einem dreiaktigen Stück erweitern und im Januar 1837 der Familie mitteilen, dass er »in längstens acht Tagen Leonce und Lena […] erscheinen lassen« werde.9 Allerdings sind die sieben Monate zwischen dem 1. Juni 1836 und dem 31. Januar 1837 mit einer Reihe von Aufgaben und Arbeiten ausgefüllt,10 die mehr mit Büchners wissenschaftlichen Verpflichtungen als mit seinen Interessen an der Konzeption und Niederschrift von Dramen zu tun haben: So muss er bis zu seiner Abreise nach Zürich am 18. Oktober 1836 Vorlesungen über die »philosophischen Systeme der Deutschen seit Descartes und Spinoza«11 vorbereiten und es gelingt ihm, für diese Aufgabe immerhin gut 300 Seiten Vorlesungsmanuskripte zu verfassen, die sich tatsächlich mit Descartes und Spinoza befassen. Darüber hinaus muss der angehende Privatdozent der Philosophie am 5. November 1836 eine Probevorlesung abhalten, die sich mit dem hochspezialisierten Thema der Naturevolution in systematischer, methodischer und exemplarischer Form beschäftigt. Ab Mitte November hält der nunmehrige Dozent der Philosophie »dreimal woechentlich von 2–3 Uhr«

|| 5 Vgl. hierzu die Informationen in MBA VI, S. 245–249. 6 Zum Entstehungs- und Entwicklungsprozess des Lustspiels vgl. u. a. Mayer 1987, S. 90ff.; Hauschild 1993, S. 528ff.; P I, S. 600–604; Knapp 32000, S. 153–158; MBA VI, S. 215–265; Martin 2007, S. 169ff.; Beise 2009, S. 75–77; Neuhuber 2009, S. 111–118; Beise 2010, S. 98f.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 137f. 7 Vgl. hierzu insbesondere MBA VI, S. 243ff., die einen strengen Schnitt zwischen dem 31. Mai und der Zeit nach dem 1. Juni 1836 zieht, weil »[f]ür die Planungen der folgenden Monate […] das Schreiben an den Dramen dagegen eine wichtige […] Rolle« spielte. 8 Brief an die Familie; P II, S. 4544/MBA X.1, S. 10713. 9 Brief an die Familie; P II, S. 4613/MBA X.1, S. 11723f.. 10 Zum Folgenden vgl. u. a. Mayer 1979b, S. 410ff. 11 P II, S. 44816f./MBA X.1, S. 10216f..

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Vorlesungen über die »Anatomie der Fische und Amphibien«,12 die erst durch seine Erkrankung Mitte Januar abgebrochen werden mussten. Kurz: Büchner hat in den 7½ Monaten zwischen der Beendigung der Dissertation und seiner tödlichen Erkrankung vor allem an den Bedingungen und Anforderungen seiner Züricher Privatdozentur für Philosophie gearbeitet und sich die Zeit für seine Literaturproduktion eher abgerungen – all das in strenger Trennung beider Betätigungsfelder? Die im Folgenden zu beantwortende Frage besteht vor diesem Hintergrund darin, ob die wissenschaftlichen Tätigkeiten in der Philosophie- und der Naturgeschichte neben der unmittelbar evidenten Tatsache, dass sie auf den Woyzeck erheblichen Einfluss ausübten – wobei erst im nachfolgenden Kapitel zu klären ist, in welcher Weise – auch auf Büchners einzige Komödie einen mehr als motivlichen Einfluss hatte. Bekannt ist, dass König Peter sich einzelner Begriffe der Philosophie Spinozas bedient, doch wird dies zumeist als verstärkender Ausdruck einer intellektuellen Devianz, seiner »Trotteligkeit« interpretiert;13 auch wird darauf hingewiesen, dass Leonce an einer Stelle »Ameisen zergliedern« will,14 doch wird diese Absicht des Prinzen von ihm selbst mit so eskapistischen Liebhabereien wie Staubfädenzählen auf eine Stufe gestellt, die einzig angestrebt werden, um die drückende Langeweile zu vertreiben. Für die zentralen Gehalte der Komödie wurde daher die Tatsache, dass Büchner Philosophiehistoriker und Naturphilosoph war, für weitgehend irrelevant erklärt.15 Aber trifft das zu? Eine für diese Frage gewichtige, besondere Problematik von Leonce und Lena besteht allerdings darin, dass diese eigentümlich ›verspielte‹ Komödie16 von einem Autor verfasst wurde, der zuvor mit dem Hessischen Landboten, Dantonʼs Tod und der Novelle Lenz Texte geschrieben und zum Teil gar publiziert hatte, die nicht nur politisch, sondern auch literarisch wenig ›verspielt‹, vielmehr mit großem Ernst Politik und Wissenschaft in und mit Literatur zu vermitteln gesucht hatten. Wie kann jemand, der mit dem Landboten eine revolutionäre Flugschrift verfasst und verteilt hatte, die sich finanzpolitischer Daten bediente, um den Bauern zu dokumentieren, dass sie ihre eigene Unterdrückung bezahlen, der mit Dantonʼs Tod ein Drama geschrieben hatte, das auf der Grundlage metaphysischer, politiktheoretischer und moralischer Reflexionen die Frage nach der Vorbildlichkeit der Großen

|| 12 Vgl. hierzu Roth 2004, S. 167ff. 13 So Martin 2012, S. 184; Kurzke 2013, S, 369; Schulz 2016, S. 126. 14 P I, S. 11429f./MBA VI, S. 14327f.. 15 Einzelne – allerdings zumeist kulturkritisch überformte – Hinweise zur Bedeutung der Descartes-Bearbeitung für König Peters Lever und die Automaten-Szene bei Hinderer 1977, S. 138f.; Voss 1987, S. 357ff.; Dedner 1990, S. 137; P I, S. 620f./MBA VI, S. 444ff.; Elm 2005, S. 98f.; tatsächlich innovativ im Hinblick auf eine wissensgeschichtliche Kontextualisierung Nowitzki 1998. 16 Dieses Charakteristikum wird gerne daran festgemacht, dass sich die Komödie in einer an Brentano und Musset orientierenden Weise an Wortspielen realisiere; vgl. hierzu u. a. Beise 2009, S. 81ff.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 141f.; Kurzke 2013, S. 374ff.; Oesterle 2014.

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Revolution für die Gegenwart der 1830er Jahre mit negativem Ergebnis zu beantworten suchte, und der sich mit dem Lenz an einer Erzählung versucht hatte, die mithilfe der zeitgenössisch neuesten psychiatrischen und naturphilosophischen Erkenntnisse sowie fulminanten erzähltechnischen Verfahren den unaufhaltsamen Erkrankungsprozess eines sich bei diesem Prozess beobachtenden und selbst therapierenden, sozialpolitisch engagierten Dichters zu reflektieren suchte, dabei jedoch die Grenzen einer Pathographie in Richtung einer epistemologischen und soziopolitischen Interpretation psychischer Devianz überschreitet. Wie kann so ein Autor diese politisch, szientifisch und selbst ästhetisch scheinbar läppische Komödie schreiben? Als prominenter Gewährsmann dieser Perspektive wird zumeist Hans Mayers Verdikt vom »romantisch-ironischen Zwischenspiel« zitiert,17 und tatsächlich wird Mayer in seinem Kapitel zu Leonce und Lena hinreichend deutlich: Allerdings muß man sich bei Leonce und Lena auch vor übertriebenen Akzentsetzungen hüten. Wenig sinnvoll ist es, ein Werk gelegentlicher Laune, eines zeitweiligen Konformismus, der aus Geld- oder Karrieregründen einen Preis erringen möchte, übermäßig zu bewerten, mit Deutungen und Geheimnissen zu belasten, die ihm im Grunde fremd sind.18

Vernichtender kann eine Wertung kaum ausfallen; Mayer bemüht sich in der Folge zwar um einen bemerkenswerten Rettungsversuch, indem er entscheidende Momente der Komödie der Romantik zuschlägt, weil wohl »keiner das romantische Gebot der Entmaterialisierung und Verzauberung der Welt in Gestalten«19 strenger umgesetzt habe als Büchner mit der Figur der Lena. Dennoch weise nicht nur die Bauernszene, sondern auch der eigentümliche Humor des Stückes darauf hin, dass dessen Grundstimmung die des »Hasses« sei.20 Der Hintergrund für diesen umfassend evozierten Affekt sei die nihilistische Gesellschaftsanalyse des Stückes, deren Protagonisten «sich insgeheim durchaus des Nichts und der eigenen Nichtigkeit bewußt« seien.21 Das hier komödienhaft gestaltete Motiv der unüberwindlichen Langeweile verweise mehr auf Byron und insbesondere auf Baudelaire denn auf Hauff oder Kleist. Bemerkenswerterweise sind diese Überlegungen Mayers, die er mehr gezwungen ausführt, weil er auf eine »Gesamtschau« der büchnerschen Gesinnung abzielt, für die die ›Romantik‹ von Leonce und Lena »unentbehrlich« sei,22 nicht nur den Tendenzen der jüngeren Forschung näher als von ihr bekundet;23 vor allem steht

|| 17 So etwa bei Beise 2009, S. 85 oder Weiershausen 2014, S. 169; beide Interpreten verkürzen Mayers Position aber unverhältnismäßig. 18 Hans Mayer 1972, S. 316. 19 Ebd., S. 320. 20 Ebd., S. 323; aufgenommen wurde dieser Teil der Interpretation bei Hauschild 1993, S. 528ff. 21 Hans Mayer 1972, S. 324. 22 Ebd., S. 316. 23 So vor allem Beise 2002 und Beise 2009, der sich ausschließlich abgrenzend zu Mayer verhält.

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Mayer in historiographischer Hinsicht einer Position nicht fern, die Büchner ebenfalls seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und bis in die jüngste Zeit als Vertreter und ästhetischen Gestalter eines metaphysischen Nihilismus mit Affinitäten zu einer bestimmten Variante der Romantik versteht, die sich vor allem in Leonce und Lena ausgesprochen habe. Diese Position entwickelte schon Karl Viëtor in seiner 1949, also kurz nach Hans Mayers Arbeit publizierten Studie zu Politik, Dichtung, Wissenschaft bei Georg Büchner.24 Hier wird Leonce und Lena zu einem Meisterwerk der »krisenhaften Übergangszeit« zwischen dem »Untergang des Idealismus und dem Aufgang des neuen, des realistischen Lebensglaubens« erhoben.25 In diese Phase gehört nämlich nach Viëtor jener Weltschmerz, der als Melancholie und Langeweile sich psychisch ausdrücke und der in Büchners ästhetischer Gestaltung seine historische Formiertheit übersteige, so dass »[k]eine andere Gebrechlichkeit als die allgemeinste, die des Menschen überhaupt« ausgebreitet und »mit Humor« getroffen werde. Zusammenfassend heißt es: Klein, sehr klein ist die Zahl deutscher Lustspiele von dichterischem Rang. Unter ihnen nimmt dies bittersüße Werk [d. i. Leonce und Lena] einen einzigartigen Platz ein: es bewahrt die Spielkomödie Shakespeares und der Italiener in der deutsch-abgewandelten Prägung, welche die Romantik ihr gegeben hat. Aber mit dieser romantischen Substanz, die sonst der deutschen Bühne nicht lebendig erhalten sein würde, ist in ihrer anmutigen Gestalt die melancholische, wolkige Stimmung der ersten nachromantischen Generation zusammengeronnen: leise klagend, geistvoll scherzend, am Ende dann aufgehellt im Lob eines Lebens um der Liebe willen.26

Diese Interpretation ist ebenso paradigmatisch für eine Seite der Deutungstradition des büchnerschen Lustspiels wie die Mayers für eine andere; sie treffen sich in dem literarhistorischen Urteil, konstitutive Momente des Romantischen in dieser Komödie zu entdecken, die in beiden Fällen mehr der französischen als der deutschen Variante jener Literaturepoche und Weltanschauung zugeschrieben wird.27 Von dieser Gemeinsamkeit aber gehen zugleich die substanziellen Unterschiede der Leonce und Lena-Interpretationen aus, die entscheidende Auswirkungen auf das jeweilige »Gesamtbild« der Büchnerdeutung28 haben: Ist für Mayer der romantische Zug des Stückes Ausdruck eines Scheiterns des revolutionären Realismus Büchners, so für Viëtor ein Ausgangspunkt für dessen außergewöhnliche Leistung, den Weltschmerz, die Melancholie und die humoristische Verachtung zu einem anthropolo-

|| 24 Viëtor 1949. 25 Ebd., S. 177. 26 Ebd., S. 188. 27 Zu dem hier verwendeten Begriff der Weltanschauung vgl. Thomé 2002. 28 Zu diesem Zusammenhang von Leonce und Lena-Deutung und Gesamtwerk-Interpretation siehe auch Dedner 1990, S. 120.

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gischen Phänomen erhoben zu haben.29 Es war Leonce und Lena, an dem sich die Geister der Büchner-Forschung grundlegend schieden.30 Man kann also festhalten, dass die ältere Forschung an diesem Stück bis in die 1970er Jahre ihre grundsätzlichen Kontroversen ausgetragen hat, die sich darum bekümmerten, ob wir es bei Büchner insgesamt mit einem eher kulturkonservativen, christlich oder existenzialistisch interessierten Dichter zu tun haben, der vor allem in Leonce und Lena die historischen Problemlagen seiner Zeit in anthropologische oder existenzialistische Dimensionen transzendiert,31 oder mit einem sich vor allem als revolutionären Politiker und realistischen Literaten begreifenden Autor, der auch nach den desaströsen Erlebnissen um den Hessischen Landboten sein literarisches Tun weiterhin politisch verstand und sich daher mit Leonce und Lena auf – wenngleich aus seiner persönlichen Lage heraus verständlichen – »Abwegen« befand.32 Diese Kontroverse setzt sich fort, differenziert sich aus und verschärft sich durch die grundlegende und zunächst produktive Politisierung der BüchnerForschung in den 1970er und 1980er Jahren.33 Denn die substanzielle Unterscheidung zwischen sozio- bzw. politgeschichtlicher und überhistorischer – sei es anthropologisierender, existenzialistischer oder theologischer – Perspektive auf Büchners Komödie34 wuchs sich zu einem »Streit um Leonce und Lena« aus,35 weil es neben der neueren politischen Büchner-Forschung, die in dem Autor u. a. einen Frühkommunisten oder Sozialisten sah,36 nach wie vor jene Interpretationslinie gab und gibt, die sich ihren existenzialistischen bzw. christlichen Büchner nicht nehmen lassen will.37 So fanden sich vor allem auf der soziohistorischen Seite eine Reihe von Autoren, die Büchners Komödie nunmehr als kritisch im Sinne einer Fortsetzung der Auseinandersetzung des Landboten-Autoren mit dem ancien régime

|| 29 Zu dieser Gegenüberstellung vgl. auch Elm 2005, S. 94f.; Lyon 2012, S. 197ff. 30 Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Einleitung sowie Kitzbichler 1993, S. 55 oder auch Dörr 2003, S. 380f. 31 So im Anschluss an Viëtor u. a. Beckers 1961; Schröder 1966; Lehmann 1969; Fink 1973, S. 496ff.; Martens 1973a; Wittkowski 1978; Schwann 1997; Moros 2007 oder noch Kurzke 2013. 32 So im Anschluss an Mayer u. a. Zons 1976, S. 353ff.; Ruckhäberle 1983, S. 138. 33 Vgl. hierzu Schmitz 2000, S. 219–267. 34 Diese für die Bewertung der Komödie entscheidende Distinktion geht keineswegs auf in der ästhetischen oder gar weltanschaulichen »Stellung des Interpreten zur Romantik« (so aber Beise 2009, S. 84f.; ähnlich schon Dedner 1990, S. 120), sondern gründet in substanziellen methodischen und systematischen Unterschieden literarhistorischen Arbeitens. Dass Mayer und Viëtor ihre Argumente mit literarischen und weltanschaulichen Wertungen versehen, zeigt gleichwohl den noch mangelhaften Wissenschaftsstandard der Literaturwissenschaft vor 1968. 35 So treffend Hermand 1983. 36 So bei aller inneren Unterschiedenheit Jancke 1975 (31979); Ruckhäberle 1975; Mayer 1979a; Hauschild 1985; Hauschild 1993; Hauschild 2013; Glück 2013–15. 37 Vgl. hierzu u. a. Kobel 1974, S. 211–275; Schwann 1997, S. 309ff.; Kurzke 2013.

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interpretierten.38 Zwar gab es auch auf dieser Seite erhebliche Differenzen, die energisch ausgetragen wurden.39 Gleichwohl sah man fraktionsübergreifend eine deutliche Differenz von Poetik und Ästhetik der – eher romantisierenden denn romantischen – Komödie gegenüber den als ›realistisch‹ bezeichneten Modellen von Danton’s Tod, Lenz oder Woyzeck. Zugleich setzte man sich energisch von Hans Mayers Verdikt durch Reflexionen auf den ständepolitischen Gehalt und die ästhetische Mittelbarkeit der politischen Kritik ab. Diese Abgrenzung galt ebenso für Viëtors Apotheose der Komödie, die durch Werner Lehmann und Wolfgang Martens seit den 1960er Jahren zu neuem Einfluss gekommen war. In diesem Umfeld standen auch Autoren wie Gouthier-Louis Fink,40 dessen Studie mit seiner These von einem skeptischen Romantizismus Büchners in Leonce und Lena erheblichen Einfluss gewann; oder die differenzierten Ausführungen von Erwin Kobel,41 der die Komödie als Reflexion der Schwermut interpretierte, die in Melancholie und Langeweile seine Glaubenszweifel artikuliere. Diese Interpretationslinie wurde über Wittkowski, Schwann und Kurzke auch fortgeführt. Weder in der Leonce und LenaInterpretation noch in der Büchner-Forschung überhaupt setzte sich also das gleichwohl dominante polithistorische Paradigma uneingeschränkt durch. Nur scheinbar ebbte dieser zu Recht und durchaus produktiv geführte Streit in den 1990er Jahren ab, weil zum einen die philologische Aufarbeitung des Stückes in den Vordergrund rückte, und weil es zum anderen einen Vermittlungsvorschlag gab, der der Romantik insgesamt, vor allem aber ihren Erscheinungsformen im Frankreich der 1830er Jahre revolutionäres Potential zuschrieb, sodass gelten konnte: Wer dies beachtet [dass in der romantischen Literatur keineswegs nur konterrevolutionäre Momente zu finden sind], wer Büchners starke Orientierung zur französischen Literatur kennt und wer darüber hinaus den wenigstens partiell revolutionären Gehalt der avanciertesten Literaturbewegung der frühen 1830er Jahre, der französischen Romantik, nicht verkennt, der brauchte in dem Satz, daß der Revolutionär Büchner auch ein romantischer Dichter sein konnte, nicht unbedingt einen Widerspruch zu sehen.42

Dieser kulturkritischen Wende der Leonce und Lena-Forschung,43 deren Zuweisung zu der Komödie – wie das Zitat zeigt – Auswirkungen auf die Interpretation des

|| 38 So u. a. Jancke 1975, S. 253–279; Mayer 1979b, S. 411f.; Thorn-Pikker, S. 85–110; Poschmann 1985, S. 284ff.; Hauschild 1993, S. 258ff.; Knapp 32000, S. 167ff. oder noch Hauschild 2013, S. 234ff. 39 Vgl. hierzu paradigmatisch Mayer 1995–99b. 40 Siehe hierzu Fink 1973. 41 Kobel 1974, S. 211–274. 42 Dedner 1990, S. 120f. 43 Vgl. hierzu ähnlich auch Voss 1987; diese Zuweisung des Prädikats ›revolutionär‹ zur französischen Romantik der 1830er Jahre kann nur kulturkritisch, d. h. letztlich metaphorisch in Sinne einer Bekundung des Interesses an einer eher abstrakten ›Umwälzung‹ der kulturellen Verhältnisse

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Gesamtwerks haben musste und daher Konsequenzen bis auf die Büchner-Preis Reden Martin Mosebachs und Sybille Lewitscharoffs hatte, sind seither viele Interpreten gefolgt,44 und zwar entweder, indem sie vom historischen Kontext der Komödie weitgehend abstrahierten und ihr – in neuerlicher Anbindung an Viëtor oder Lehmann – einen »existenziellen Ernst« und eine »radikale Artifizialität« zuschrieben,45 oder indem sie die historische Kritik am ancien régime zwar herausarbeiteten, ihr aber zugleich eine kritische Auseinandersetzung Büchners mit der Problematik eines »modernen Subjekts« (was immer das ist) attestierten, dessen Allgemeinheit existenzielle Züge trage;46 oder aber man verabschiedete sich ganz von den Versuchen einer kohärenten Interpretation dieses eigentümlichen Stücks und sprach von einer postmodernen »Pluralität des Sinngehaltes«47 bzw. von einer »Koinzidenz von Rebellion und Gehorsam«.48 In jedem Fall hatte der für die Zeit der 1990er Jahre symptomatische Versuch einer ›Vermittlung‹ von Mayer und Viëtor, der recht eigentlich einer Unterordnung der Sozialgeschichte der Literatur unter eine gattungsgeschichtlich argumentierende Kulturkritik gleichkam, erhebliche Auswirkungen auf die Interpretation der büchnerschen Komödie sowie des Gesamtwerkes, entsprach aber dem Zeitgeist der ›Berliner Republik‹.49 Dieser ›Geist‹ konstituierte eine spezifisch ›Berliner Linie‹ der Leonce und LenaInterpretation, die einerseits mithilfe neuer philologischer Aufbereitungen jene angeblich alten Kontroversen hinter sich lassen konnte, andererseits durch eine methodische Historisierung charakterisiert war, die Leonce und Lena ausschließlich als Beitrag Büchners zur literarischen Romantik interpretierte. Diese romantisierende Perspektive ist – unter Absehung der schon von Hans Mayer, Karl Viëtor und vielen nachfolgenden Interpreten geleisteten Differenzierung in Bezug auf das spe-

|| gemeint sein, weil gerade die für Büchner offenbar literarisch interessanten Romantiker (Balzac und Musset als Konservative, Hugo als Liberaler) dezidierte Gegner der politischen Revolution waren. ›Revolutionär‹ ist die französische Romantik der 1830er Jahre allerhöchstens ästhetisch. 44 Ohne dabei auf schon zuvor entwickelte formale Einwände einzugehen, vgl. u. a. Poschmann 1985, S. 189. 45 Neuhuber 2009, S. 118; Beise 2009, S. 82 u. S. 84; Beise schreibt Büchner allerdings zugleich »politische Radikalität« sowie einen »radikalen Realismus« zu, wobei der Eindruck nicht zu vermeiden ist, dass Büchner vor allem eines sein soll: radikal – unabhängig von allem Inhalt; zugleich bleibt unklar, was denn Radikalität hier bedeuten könnte; das gilt auch für Weierhausen 2014, S. 172, die Büchner ebenfalls Radikalität attestiert. 46 Eke 2012, S. 182ff.; Hofmann u. Kanning 2013, S. 146ff. 47 Martin 2007, S. 181; vgl. auch Elm 2005, S. 100. 48 Müller-Sievers 2003, S. 127. 49 Vgl. hierzu Beise 2009, S. 87, der von einem post-postmodernen bzw. popmodernen Lebensgefühl spricht, dem nicht etwa seine Interpretation, sondern das Stück selbst entsprochen habe.

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zifisch Nachromantische der Komödie – die bis heute herrschende Sichtweise und wird gar ausgehend von Leonce und Lena auf den ganzen Büchner ausgeweitet.50 Dass diese philologisch begründete und kontextuell abgefederte Romantisierung Büchners vor allem von der Sehnsucht nach der Überwindung der die 1970er und 1980er Jahre beherrschenden politisierten Kontroverse über Büchner getragen war und wird,51 die zugleich den Autor zum Sprachrohr eines neokonservativen Zeitgeistes erheben will, kann man an der in diesen Kreisen frenetisch gefeierten Inszenierung Robert Wilsons ablesen, in der sich die Berliner Republik und deren kulturwissenschaftliche Vertreter in ihrem entpolitisierten Zynismus selber feierte.52 Wilsons mit grellen Bühnenbildern überladene Inszenierung zelebrierte nämlich vor allem den Wortwitz der frühen Szenen als romantische Ironisierung eines absurden Seins, das die – schwierige – humoristische Kritik Büchners am (kleinstaatlichen) Absolutismus und dessen moralische, intellektuelle und politische Verwerfung ebenso für dieses Ansinnen instrumentalisierte, wie sie von deren Erscheinungsformen in der boomenden Berliner Republik der 2000er Jahre abstrahierte. Reflexionslos erkannte und erkennt man sich in dieser hemmungslosen Ironisierung aller Denk- und Handlungsbereiche der angeblich menschlichen Existenz und somit im eigentümlichen Sarkasmus der büchnerschen Figuren; Leonce wird in dieser Perspektive zur europäischen Variante von ›Gordon Gecko‹.53 Dabei verkennt oder übersieht diese sich spätestens um die Jahrtausendwende etabliert habende ›Berliner Interpretation‹ – sei sie nun wissenschaftlich wie bei Beise, sei sie kulturpolitisch wie bei Wilson – zum einen, dass die so genannte »ästhetische Radikalität« in Leonce und Lena und deren Ausstellung in Langeweile, Melancholie und Sarkasmus im frühen 19. Jahrhundert einerseits vor dem Hintergrund einer fragilen Metaphysik – also einer zunehmend als gottlos wahrgenommenen Welt – als letztes Refugium eines sich selbst vergewissernden Individuums fungierte. Insbesondere bei Chateaubriand, Senancour oder noch Baudelaire, für die der Ennui zum ersatzreligiösen Erlebnis mutierte, wurde der Sarkasmus ein adäquater Ausdruck für die Verachtung einer Welt, deren Sinnlosigkeit als Verlust erfahren wurde, und so stets neu zu zelebrieren war.54 Nur weil der Wegfall angeblich transzendenter Geborgenheit, den man – wie Büchner schon in seinen Schüler-

|| 50 Für diese kulturkritische Perspektive stehen insbesondere die Beiträge in Dedner (Hg.) 1987 sowie Greiner 1988; Dedner 1990; Werner 1992; Beise 2002; Dörr 2003; Martin 2007; Beise 2005–08; Neuhuber 2009; Beise 2009; Greiner 2009; Beise 2012 sowie Sanna 2015. 51 Von dieser Sehnsucht getragen ist u. a. die gefeierte Biographie von Kurzke 2013, bspw. S. 23ff. 52 Vgl. hierzu u. a. Höyng 2007. 53 So u. a. bei Eckert 2013, S. 109ff.; dass Leonce als Identifikationsfigur schon des Autors und damit des Leser bzw. Zuschauers fungiere, behaupten u. a. Voss 1987, S. 364f.; Dörr 2003, S. 383; Beise 2002, S. 26; Beise 2005–08, S. 89; vorsichtiger, wenngleich ebenso psychologisierend, Berns 1987, S. 274, der von »Sympathieträger« spricht. 54 Vgl. hierzu u. a. Mandelkow 1999.

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schriften zeigte – auch als Befreiung erfahren kann, als Verlust nicht nur wahrgenommen, sondern je neu inszeniert werden muss, ist das Individuum zur sarkastischen Herablassung gegenüber der Welt gezwungen, um dem Selbst- durch Sinnverlust als Selbstekel zu entgehen. Andererseits lässt sich mit Blick auf Balzac oder Stendhal ein Verständnis von spezifisch aristokratischem ›Ennui‹ rekonstruieren, dessen zynische und sarkastische Außenseite ohne metaphysikkritische Motivation bzw. Legitimation auskommt, sondern auf die Einsicht und Anerkennung der zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Bedeutungslosigkeit dieser Klasse reagiert.55 Diese Position muss aber als historischer Kontext reflektiert56 und nicht als kulturkritische Folie – im Sinne einer romantischen Kritik an modernen oder bürgerlichen Verhältnissen – instrumentalisiert werden.57 Zum anderen verkennt dieser neue Existenzialismus und radikale Ästhetizismus der Leonce und Lena-Interpretationen, dass Büchners Figuren soziopolitisch und -historisch präzise bestimmbar sind. Es stehen eben nicht Estragon und Wladimir auf der Bühne,58 sondern Prinz und Prinzessin, König und Staatsrat, Bauern, Gouvernante und Schulmeister. Selbst Viëtor und erst recht Hans Mayer erkannten diese streng polithistorische Dimension in ihren Hinweisen auf die Übergangsstellung dieser Komödie zwischen abgelebtem Idealismus und neuem Lebensrealismus eines feuerbachschen Sensualismus. Alle Versuche also, Leonce und Lena zu einem Stück der Romantik oder gar Büchner als Autor überhaupt zum Romantiker zu machen, und dies auch noch – begründungslos – zu anthropologisieren, fallen hinter längst geleistete und erweiterte Einsichten zurück.59 Die entscheidenden Fragen für eine Interpretation des Stückes lassen sich daher in der folgenden Alternative formulieren: 1. Werden die Formen eines normativ haltlosen Sarkasmus und einer bohrenden Langeweile von Büchner auf der Bühne ausgestellt und somit als notwendiger Habitus des Menschen oder des modernen Subjekts propagiert? Diese These wird gerne biographisch begründet, weil auch Büchner in seinen Briefen häufig von den Beschwernissen einer tosenden Langeweile berichtet und zu einer Form von Humor neigt, die als Sarkasmus zu bezeichnen ist, der im Stück als interpersonale Außenseite einer zur Pathologie neigenden Melancholie firmiert.60 Diese These wird verstärkt durch den Hinweis, dass das Stück nachweislich von

|| 55 Vgl. hierzu u. a. Auerbach 102001, S. 423. 56 Dass das büchnersche Lustspiel vor allem in einen französischen Kontext loziert werden muss, zeigt schon Sengle 1971–1980, III, S. 311ff. 57 So aber bei Voss 1987; Greiner 1988; Dedner 1990; Greiner 2006 oder noch Beise 2009. 58 So aber Dedner 1990, S. 160. 59 Vgl. hierzu auch Schröder 2001, S. 259–273, der allerdings mit einem politmetaphysischen Begriff des ›Narren‹ operiert. 60 Vgl. hierzu ausführlich MBA VI, S. 166ff.

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romantischen Komödien profitierte, wie denen Alfred de Mussets, der die Langeweile ebenfalls zum Existenzial erhoben habe. Oder werden Langeweile und Sarkasmus analysiert, soziopolitisch und systematisch verortet und damit kritisiert? Diese Gegenthese ist deshalb besonders schwierig zu verifizieren, weil das Stück einen Sarkasmus nicht nur durch bestimmte Figuren auf die Bühne stellt, sondern diese Haltung selber einzunehmen scheint, und zwar wenigstens in der Bauernszene, die nur dann als Ausdruck jenes »sorgenbefreienden Humor[s], der darin sprudelt,« interpretiert werden kann,61 wenn man Humor auf menschenverachtenden Sarkasmus reduziert. Von der Beantwortung dieser Frage: Darstellung oder Kritik, romantische Komödie oder gar Kritik der Romantik, hängt auch die Frage nach der Stellung der politischen Thematik in Leonce und Lena unmittelbar ab.

Im Folgenden soll sich dieser zentralen Frage jeder Interpretation zu Leonce und Lena mit Hilfe der Konzentration auf die bislang eher vernachlässigten wissensgeschichtlichen Elemente des Stückes genähert werden. Dieser Versuch soll auch unter Berücksichtigung gewichtiger Erkenntnisse Hans Mayers, Karl Viëtors sowie der Kontroversen der 1970er und 1980er Jahre erfolgen, die im Rahmen der ›Berliner Linie‹ verloren gingen.

8.1 König Peter und die Philosophie Nachdem in I.1. Prinz Leonce in seiner zugleich gelangweilten und herrischen Existenz vorgeführt wird – er ist immerhin nicht gelangweilt oder melancholisch genug, um den Hofmeister mit autoritärer Geste fortzuschicken und den hernach auftretenden Valerio zu maßregeln: »Haltʼs Maul mit deinem Lied«62 –, werden wir in I.2 Zeugen einer typisch höfischen Szene, die allerdings zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den großen Höfen ihre politische Funktion weitgehend verloren hatte.63 Schon mit der 2. Szene des 1. Aktes weiß der Zuschauer gleichwohl, dass er an Vorgängen eines rückständigen, provinziellen Hofes beteiligt wird, der Humor der Komödie also – zumindest auch – durch die Ausstellung überkommender Konventionen entsteht.

|| 61 Vgl. dazu Grab 1985, S. 65. 62 P II, S. 9725/MBA VI, S. 10126; auffälliger Weise wird dieser herrische Zug Leonces gegenüber Untergebenen bei den meisten Interpreten nicht erwähnt, vgl. hierzu u. a. Kobel 1974, S. 217f.; Sengle 1971–1980 III, S. 312 (findet den Prinzen gar »sympathisch«); Sanna 2015, S. 86ff.; Glück 2013–15, S. 226ff.; selbst Interpreten, die sich mit diesem kurzen Dialog zwischen Herr und Knecht beschäftigen (vgl. Dörr 2003, S. 385), referieren auf die hergestellte Hierarchie nicht. 63 Vgl. hierzu Jancke 31979, S. 254f. mit Bezug auf Norbert Elias.

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8.1.1 Lever und Metaphysik Vorgestellt wird eine Ankleideszene, die im Rahmen der höfischen Kultur eine spezifisch politische Funktion innehat, nämlich die Zuweisung von Hierarchien am Hofe.64 Allerdings ist solche Hierarchiezuweisung nicht Gegenstand der Szene, sondern dem Handeln in ihr vorausgesetzt; vielmehr hören und erleben wir die Reflexionsgänge eines Potentaten, der während seiner für ihn selbstverständlichen Ankleidung laut denkt: PETER. während er angekleidet wird: Der Mensch muß denken und ich muß für meine Unterthanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht.65

Ohne jeden Zweifel hat schon dieser erste Satz des Herrschers sowohl philosophische, hier anthropologische, als auch politische Implikationen, bei aller karikierten Einfältigkeit der Figur.66 Denn allein in diesem ersten Satz des Königs erfolgt eine Politisierung durch seine eigentümliche Reflexion auf ein Postulat der praktischen Anthropologie, nach dem es dem Menschen aufgegeben sei, zu denken: »Der Mensch muss denken«.67 Der König wird uns folglich schon mit seinem ersten Satz als ein Herrscher vorgestellt, der philosophiert, d. h. als ein Philosophenkönig.68 Der Inhalt seines philosophischen Urteils enthält allerdings eine allgemeine Bestimmung der Natur des Menschen, die auf Aristoteles zurückgeht, der den Menschen zum ζῷον λόγον ἔχον, zum animal rationale erklärt hatte,69 und die noch zu Büchners Zeit Geltung beanspruchte. Diese ideengeschichtlichen Sachverhalte kann man u. a. bei Joseph Hillebrand, Büchners Gießener Lehrer in der Philosophie,70 nachlesen, der eine umfangreiche Anthropologie verfasste, in der der Mensch ebenfalls durch seine Fähigkeit zum Denken und dessen freie Umsetzung ins »Daseyn« bestimmt wird.71 || 64 Siehe hierzu Berns 1987, S. 239–244. 65 P I, S. 9830–32/MBA VI, S. 10219–21. 66 Vgl. hierzu auch Sun 2002, S. 13f. 67 Dass in Peters Aussage Elemente einer praktischen Anthropologie thematisch sind, wird von Meier 1983, S. 66 zwar immerhin erkannt, allerdings als »Tautologien« und »Widerkäuen modischer Terminologien« marginalisiert. 68 Zu diesem Problemkomplex des Stückes vgl. auch die – wenngleich wenig konzisen und konsequenzlos bleibenden – Anmerkungen bei Sengle 1971–1980, III, S. 312 und Berns 1987, S. 242. 69 Vgl. Aristoteles: Politik, 1253a, 7-10; allein durch diesen unverkennbaren Bezug zur anthropologischen Tradition ist eine Interpretation dieser Aussage Peters als »Setzung als denkendes Subjekt« (Fortmann 2013, S. 146) wenig überzeugend, vielmehr denkt Peter laut über Grundmomente der ihn interessierenden Philosophie nach; daher ist von hieraus auch keineswegs die nachfolgende Verwirrung (so aber ebd.) unmittelbar zu erläutern. Dazu bedarf es zusätzlicher Bedingungen, die im Aufrufen dieses Satzes nicht enthalten sind. 70 Zu Hillebrand vgl. meine Ausführungen in Kap. 2. 71 Vgl. Hillebrand 1823, II, S. 303ff.

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Der König macht dieses allgemeine anthropologische Dogma, dessen postulativer Charakter aus der natürlichen Gegebenheit des Denkens abgeleitet wird (womit ein naturalistischer Fehlschluss wie bei Danton vorgeführt wird72), zu einer besonderen herrschaftspolitischen Forderung an sich selbst: Er und nur er ist nämlich Mensch, weil er als Herrscher für seine Untertanen das Denken übernehmen müsse, denn diese dächten nicht, womit ihnen neben Faulheit auch Dummheit attestiert und zugleich das Menschsein abgesprochen wird.73 Dieses Urteil erscheint nur deshalb humorvoll, weil der König seine These im Zustand der körperlichen Nacktheit und zudem in einer entwaffnenden Naivität vorträgt, also ohne jeden Herablassungsgestus, den der König gleichwohl beherrscht, wie die Zurechtweisung des Präsidenten am Ende der Szene dokumentiert. Der politische Gehalt allein dieses Satzes wird, weil er in naiver Selbstverständlichkeit ausgesprochen wird, noch verschärft. Ist Leonce in der Herstellung einer unüberwindlichen Standeshierarchie zwischen ihm und dem Narren offen und aggressiv herablassend (»Haltʼs Maul«), so haben wir mit König Peter einen philosophisch reflektierenden Herrscher vor uns, der den Unterschied zwischen sich und seinen Untertanen als Anthropologicum fasst, damit aber seine Untertanen zum ›Vieh‹ herabwürdigt, und zwar in einer ebenso naiven und wie selbstverständlichen Weise.74 Zu Recht hat daher schon Gerhard Jancke eine Korrelation zwischen den Konstellationen der Ankleideszene und den Positionsbestimmungen im Hessischen Landboten hergestellt.75 Zugleich verkannte Jancke die spezifische Bedeutung der Referenz auf jene Philosopheme, die der König auch im Folgenden weiterführen wird. Der eigentümliche Humor der Ankleideszene stellt sich folglich nur für denjenigen her, der den Widerspruch zwischen postulierter anthropologischer Allgemeinheit und deren machtpolitischer Aufhebung begreift; für die Forschung bleibt es hier beim Wortspiel.76 In Wahrheit wird aristokratische Inhumanität als naive Selbstverständlichkeit vorgestellt. »Der Aristocratismus ist die schändlichste Verachtung des Heiligen Geistes im Menschen«, schreibt Büchner in einem Brief an die Familie im Februar 1834,77 und dieser ›Heilige Geist im Menschen‹ ist für den Naturforscher Büchner nichts anderes als das Vermögen zu denken. Die Verachtung des

|| 72 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4. 73 Vgl. hierzu auch Turk 2005, S. 139; dass der König allerdings »überhaupt nichts denkt«, »keineswegs für seine Untertanen denkt, wenn er statt ihrer denkt, weil er nicht an seine Untertanen denkt«, entspricht allerdings nicht ganz den Tatsachen, denn der Monarch denkt sich zum Mensch, weil er eben überhaupt denkt. Die Inhumanität des Aristokratismus drückt sich hier nicht in semantischer Leere aus. 74 Dass die politische Ständedifferenz im Selbstverständnis des Adels anthropologisiert wurde, lässt sich anschaulich nachlesen bei Stollberg-Rilinger 2017, S. 247ff. 75 Jancke 31979, S. 254–258. 76 Beise 2005–08, S. 92; Drux 2008, S. 151; Martin 2012, S. 186. 77 P II, S. 37930f./MBA X.1, S. 3311f..

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»Aristocratismus« für das Denken als eine allgemeine menschliche Fähigkeit wird folglich in König Peters Satz in ihrer – naiven – Selbstverständlichkeit inszeniert. Abschließend wendet sich der Herrscher dem politischen Ritual seiner Ankleidung zu, und zwar erneut mit einer philosophierenden Reflexion auf sich selbst: Die Substanz ist das ›an sich‹, das bin ich. Er läuft fast nackt im Zimmer herum. Begriffen? An sich ist an sich, versteht Ihr?78

Der nackte Körper des Königs wird hiermit von ihm selbst zur Substanz erklärt; Substanz ist im Rahmen der Ontologie des Rationalismus, also einer Grundlagenphilosophie, die die allgemeinsten Begriffe der Philosophie zu bestimmen hat, als etwas bestimmt, das durch sich und in sich ist, also keiner Ursache bedarf, die außerhalb ihrer wäre.79 Sie ist causa sui, Ursache ihrer selbst und folglich absolut selbstständig.80 Dabei entsteht der subtile Witz der Szene keineswegs ausschließlich aus der ebenso unmittelbaren wie unangemessenen Parallelisierung zwischen Substanzmetaphysik und der absolutistischen Herrschaftstechnik des Ankleidens,81 sondern besteht vielmehr darin, dass sich der Souverän einerseits ganz zu Recht als politische Substanz bezeichnet und erkennt, was man zeitgenössischen Kontexten entnehmen kann: Die Substanz ist in diesem ihrem wirklichen Selbstbewußtsein sich wissend und damit Objekt des Wissens. Für das Subjekt haben die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten einerseits als Gegenstand das Verhältnis, daß sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit, – eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur.82

So Hegel in der Rechtsphilosophie von 1821 zur Sittlichkeit und deren Wirklichkeit, dem Staat. Ausdrücklich ergänzt Hegel dieses Argument zur Substanzialität des Staates durch den Hinweis auf die Akzidentialität der Individuen für diese sittliche Substanz, die in ihnen gleichwohl ihre Wirklichkeit habe.83 Die Anwendung der Begriffe der Substanzmetaphysik auf die politische Theorie ist vor diesem Hintergrund keineswegs unsinnig und insofern nicht unmittelbar humorvoll. Erst die Verschiebung vom Herrscher-Untertanen-Verhältnis auf die Körper-Kleidung-Relation des Souveräns macht andererseits nicht nur die Widrigkeiten der Anwendung Pe-

|| 78 P I, S. 9832–991/MBA VI, S. 10221f.. 79 So die Definition der Substanz in den Principia I, 51ff. (Descartes 2005, S. 56/57ff.) sowie der ETH. I, def. 3 (Spinoza 1999, S. 4/5). 80 Vgl. ETH. I, def. 1 (Spinoza 1999, S. 4/5). 81 So aber u. a. Drux 2008, S. 152, der meint, König Peter setze sich und seine Kleidungsstücke mit der Philosophie a priori »gnadenlos« gleich; worin allerdings die Gnadenlosigkeit dieser Gleichsetzung bestehen können sollte, wird nicht expliziert. 82 Hegel 1986, VII, S. 294f. (§ 146). 83 Ebd. (§ 145).

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ters, sondern auch die eigentümliche Depotenzierung des Einzelnen zum Akzidenz des Staates durch Hegel ersichtlich. Auch als politischer Souverän ist die Substanz allerdings nur ein Gedanke, eine res cogitans, und insofern ist sie ein »An sich«,84 das zu seiner Verwirklichung konkreter Bestimmungen bedarf, deren allgemeinste und damit abstrakteste als Attribute bestimmt werden, die nach Spinoza Denken und Ausdehnung sind.85 Diese Attribute sind Begriffe des menschlichen Verstandes, die er der Substanz als Eigenschaften zuschreibt und damit aus ihrem Status des ›An sich‹ den des ›Für den Menschen‹ macht.86 Erst deren Modifikationen bzw. Affektionen, die Veränderungen und sinnlichen Bestimmungen machen aus der Substanz eine konkrete, an und für sich seiende, d. h. gedachte und ausgedehnte Entität.87 Diese Konkretionen werden auch deshalb als Akzidenzien, als Zufälligkeiten bezeichnet, weil – erneut nach Spinoza – nur der Substanz absolute Notwendigkeit zukommen kann.88 Wenn König Peter den Körper des Königs als politische Substanz bezeichnet, dann ruft er neben Hegel zugleich jene politische Theologie des Mittelalters auf, nach der es einen natürlichen, also sterblichen Körper und einen übernatürlichen, also unsterblichen Körper des Königs gibt, der seine irdische Hülle und seine politische Funktion deutlich trennt.89 Peters Aussage aber amalgamiert diese beiden Körper mithilfe des Begriffs der Substanz und allererst so – in dieser fehlerhaften Vermengung – entsteht die zweite Dimension der Komik seiner Ausführungen, dass nämlich nicht er als Funktionsträger, sondern sein Körper zur Substanz wird, und nicht die schon zuvor zum Vieh herabgestuften Untertanen, sondern seine Kleidung als Akzidentien bezeichnet werden. Diese – bei aller Naivität Peters eher bittere – politische Komik, die die staatstheoretische Bedeutung der Untertanen der Kleidung || 84 Büchners Referenz auf ein »An sich« verbindet sich keineswegs mit Kants Ding an sich, wie dies die MBA (VI, S. 444) oder Martin (2012, S. 193, deren philosophischer Dilettantismus zu irrlichternden Assoziationen führt) nahelegt. Vielmehr kommt der Differenz zwischen ›Ansichsein‹ und ›Fürsichsein‹ in der hegelschen Philosophie eine prominente Rolle zu (vgl. Hegel 1986, V, S. 175ff.); auch später noch (bei Hartmann oder Sartre) versteht man unter Ansichsein die »Unabhängigkeit eines Seienden vom Subjekt, insbesondere des Erkanntwerdens durch das Subjekt«. (Schischkoff 22 1991, S. 30). Der Humor des Satzes »An sich ist an sich, versteht ihr?« ergibt sich daher nicht aus der schlichten Tautologie des ersten Teils (so MBA VI, S. 445), sondern allererst in dem Bezug auf das Verständnis seiner Zuhörer, das in der Semantik und Systematik des ›An sich‹ gerade ausgeschlossen wird. Zu welchen Fehleinschätzungen der Kant-Hinweis führt, kann man nachlesen bei Fortmann 2013, S. 147ff. 85 Vgl. hierzu ETH. I., def. 4 (Spinoza 1999, S. 6/7). 86 Insofern scheint gerade der epistemologische Dogmatismus des Rationalismus, nach dem ein vollständig bestimmter Begriff der Sache selbst entspricht, hier gerade nicht thematisch; so aber Osawa 1999, S. 172. 87 Peter entwickelt folglich in seiner Referenz auf die Substanzmetaphysik keinen Unsinn, wie dies u. a. Martin 2012 oder Fortmann 2013 meinen. 88 Vgl. hierzu ETH. 1, def. 7 (Spinoza 1999, S. 6/7). 89 Vgl. Kantorowicz 2000, S. 342ff.

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des Souveräns gleichsetzt, wird durch die Tatsache, dass er halb nackt über die Bühne stolpert, nur veranschaulicht, nicht aber hervorgerufen. Auch in diesem Falle schützt die Naivität des Herrschers nicht vor seinem ›Aristocratismus‹ als Souverän, der Menschen zum Vieh herabstuft und Kleider zu Momenten der Staatlichkeit nobilitiert.

8.1.2 Der reine Wille des Souveräns Diese Komik wird fortgesetzt durch die schon angedeutete, weitere Anwendung der Begriffe der Substanzmetaphysik auf den Ankleidevorgang: Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien, wo ist mein Hemd, meine Hose?90

Die Kleidung des Königs mit diesen Begriffen der Substanzmetaphysik zu bezeichnen, ist einerseits durchaus ungewöhnlich und daher komisch, weil zu den Attributen des politischen Körpers des Königs eigentlich die Herrschaftsinstrumente des Staates – Gesetze, polizeiliche und militärische Macht – zählten, und zu den Akzidenzien, wie erwähnt, seine Untertanen. Gleichwohl ist diese Verbindung zwischen beiden auch nicht vollends »trottelig«,91 weil es in der Tat zu den Instrumenten der höfischen Politik gehörte, bestimmte Kleidung zu tragen und sie sich von den hochdekorierten Kammerherren anziehen zu lassen.92 Zu erkennen ist also schon an dieser frühen Stelle, dass die Vermittlung von philosophischem Rationalismus und höfischer Politik keineswegs eine kurzschlüssige ist, die beides am je anderen entlarven und verwerfen will,93 sondern vielmehr eine komplexe Ineinanderblendung von Philosophie und Politik auf der Grundlage zeitgenössischer philosophischer Kontexte, die unterschiedliche Herrschaftstechniken und politische Selbstverständnisse des aufgeklärten Absolutismus freizulegen sucht.94 Es werden folglich keine schwirrenden Wortspiele zelebriert,95 sondern eine subtile Herrschaftskritik in der Vermittlung von höfischem Zeremoniell und angewandter politischer Philosophie vorgeführt.

|| 90 P I, S. 991–3/MBA VI, S. 10222f.. 91 So aber Dedner 1990, S. 136; Drux 1995–99, S. 245f.; Martin 2012, S. 196ff.; Kurzke 2013, S. 369. 92 Vgl. hierzu Berns 1987, S. 239f. 93 So aber Beckers 1961, S. 19; Abutille 1969, S. 83f.; Fink 1973, S. 492; Jancke 31979, S. 257; Poschmann 1981, S. 131; Wetzler 1984, S. 156ff.; Poschmann 1985, S. 202; Voss 1987, S. 356ff.; Wohlfahrt 1988, S. 122; Dedner 1990, S. 136; Werner 1992, S. 96f.; Osawa 1999, S. 172; Sun 2002, S. 14f.; Dörr 2003, S. 386; Martin 2007, S. 186; Drux 2008, S. 152f.; Beise 2009, S. 82; Martin 2012; Hofmann u. Kanning 2013, S. 143; Fortmann 2013, S. 145f.; Sanna 2015, S. 107f. 94 Vgl. hierzu auch Dörr 2003, S. 405 sowie Turk 2005, S. 139. 95 So aber Vietor, 1949, S. 182f.; Fink 1973, S. 497 oder noch Oesterle 2014.

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Diesen Zusammenhang führt Büchner an seiner Königs-Figur noch weiter aus, indem das Feld der auf den Ankleidungsprozess angewandten philosophischen Begriffe erweitert wird: Halt, pfui! der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten?96

Für ein Verständnis dieser Sätze ist vorerst bedeutsam, dass die im Rahmen der rationalistischen Metaphysik konstitutive praktische Seite, und d. h. hier: jene das menschliche Handeln betreffende Dimension von Metaphysik tangiert ist: Im Rahmen einer Metaphysik, über die Büchner als Disziplin der Philosophie intime Kenntnisse besaß und die in einem ihrer zentralen Grundsätze davon ausgeht, dass nihil sine ratione, nichts ohne zureichenden Grund sei,97 ist die Frage nach der Freiheit des Willens und der Handlung eine gewichtige und ebenso komplex wie kompliziert.98 Wenn nämlich alles durch ein Ursache-Wirkung-Verhältnis bestimmt ist, dann wäre alles vollständig determiniert; dann aber gäbe es keinen freien Willen und damit auch keine Moral, weil man nur an dasjenige Wesen die Forderung nach einem Ausrichten des eigenen Handelns an moralischen Normen richten kann, das tatsächlich dazu frei ist, gut oder böse zu handeln. Als Substanzmetaphysiker, der der Philosophie in einer »unglücklichen Liebe« verbunden ist,99 muss König Peter mit dem freien Willen, der zugleich Prinzip seiner absolutistischen Potestas ist, die größten Schwierigkeiten haben. Das scheint aber keineswegs der Fall zu sein – und erst hier zeigt sich, dass er nicht nur ›unglücklich‹, sondern ein echter Dilettant ist. Sein paralleler Vorgang der Ankleidung hat dieses metaphysische Problem in der Praxis je schon gelöst, das theoretisch weder Spinoza noch Leibniz gelingen wollte.100 Allerdings kommt an der zitierten Stelle eine weitere Problematik ins Spiel, die mit einem Komma zu tun hat und die in der Forschung der letzten Jahre für einigen Wirbel sorgte:101 Steht nämlich ein Komma nach dem »davorn«, dann referiert der König auf eine offenbar unwillkürliche Erektion;102 steht das Komma nicht, dann geht es vor allem darum, die noch geöffnete Hose im Genitalbereich kritisch hervorzuheben, und zwar als Kritik an den Kammerherren. Die erste Variante scheint im Übrigen wenig wahrscheinlich, weil Büchner in seinen erotischen und sexuellen

|| 96 P I, S. 993–5/MBA VI, S. 10224f.. 97 Vgl. hierzu Stiening 2012c. 98 Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Osawa 1999, S. 176ff. 99 So die – im Verhältnis zum Prädikat der ›Trotteligkeit‹ – subtilere und zutreffendere Formulierung bei Viëtor 1949, S. 181. 100 Vgl. hierzu Stiening 2012c, S. 16ff. 101 Vgl. die oberlehrerhaften Hinweise bei Hauschild 2013–15, S. 290f. 102 Vgl. hierzu MBA VI, S. 446; Martin 2012, S. 187f. sowie Kurzke 2013, S. 406.

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Anspielungen zwar derb, nie aber pornographisch agierte.103 Viel wichtiger ist, dass diese Frage vollkommen zweitrangig ist, weil in beiden Varianten der freie Wille des Herrschers mit seinem Genitalbereich identifiziert wird, folglich eine Verbindung der zentralen politischen Kategorie des absolutistischen Zentralstaates, dem unbedingten Willen des Herrschers, mit seinen sexuellen Leidenschaften hergestellt wird, und zwar von ihm selbst.104 Es ist von entscheidender Bedeutung zu berücksichtigen, dass die Potestas voluntatis, der Wille des Herrschers, die Grundlage des monarchischen Prinzips ausmachte, das noch zu Büchners Zeiten die politische Ordnung konstituierte und von Metternich noch bis 1848 mit allen Mitteln verteidigen wurde.105 Dass Büchner dieses Prinzip des herrscherlichen Willens nicht als freie, sondern als hemmungslose Willkür interpretiert,106 eröffnet sich in der vom Herrscher selbst hergestellten Identifikation seines Willens mit seinen sexuellen Leidenschaften – zumindest deren körperlichen Symbolen. Unabhängig von der Frage: Komma oder nicht und den wenig bedeutsamen Konsequenzen ihrer Beantwortung ist diese Identifikation das gehaltliche Zentrum der beiden Sätze. Dass diese dem monarchischen Prinzip eignende Identität von freiem Willen und unkontrollierbaren Leidenschaften nicht nur bei Peter, sondern auch bei seinem prätendierten Nachfolger wirksam ist, zeigt das Stück in einer anschließenden Szene: PRÄSIDENT. An dem Tage der Vermählung ist ein höchster Wille gesonnen, seine allerhöchsten Willensäußerungen in die Hände Eurer Hoheit niederzulegen. LEONCE. Sagen Sie einem höchsten Willen, daß ich Alles thun werde, das ausgenommen, was ich werde bleiben lassen, was aber jedenfalls nicht so viel sein wird, als wenn es noch einmal so viel wäre. – Meine Herren, Sie entschuldigen, daß ich Sie nicht begleite, ich habe gerade die

|| 103 Ebenso unwahrscheinlich ist aber auch, dass hier die Ökonomie des Begehrens als ein letztlich durch Kleidung nicht zu bändigendes Anthropologicum inszeniert würde, wie Fortmann 2013, S. 148 suggeriert: »Vor allem bricht sich die Zivilisation des Naturkörpers aber an dessen Sexualität. Denn das Geschlecht lässt sich gerade nicht im Zaum halten und durchbricht in seiner Exzentrik, die zutage drängt, den Code der Konvention und des Anstands.« Auch dieses – etwas gewundene – Plädoyer für die Anspielung auf eine Erektion macht die These nicht wahrscheinlicher. 104 Insofern geht es an dieser Stelle keineswegs, wie Martin (2012, S. 187) mit Bezug auf Dedner (2002, S. 292ff.) und auf der Grundlage ihrer offenkundigen Unkenntnis des philosophischen Kontextes, vor allem aber in Verkennung der poetischen Ordnung des Textes annimmt, darum zu dokumentieren, dass es überhaupt keinen freien Willen gäbe (was im Übrigen weder Spinozas noch Büchners Auffassung entspricht, aber wohl zu eindeutig der Intention der Berliner Interpretationslinie entgegenkommt); vielmehr weist die Passage darauf hin, dass der politische Voluntarismus des monarchischen Prinzips zu einer hemmungslosen, und damit eben auch affektgesteuerten Willkür tendiert. 105 Vgl. hierzu Wehler 31996, S. 370f.; gegen dieses Prinzip hat sich Büchner laut dem verhörten August Becker ausdrücklich erklärt, vgl. MBA II.2, S. 90. 106 Weshalb die Hinweise der MBA (VI, S. 446) auf medizinische Forschungen über eine willentliche Steuerung sexueller oder verdauungsspezifischer Körpervorgänge am Gehalt der Stelle vollkommen vorbeigehen.

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Passion zu sitzen, aber meine Gnade ist so groß, daß ich sie ja mit den Beinen doch nicht ausmessen kann.107

Zunächst ist erkennbar, dass Büchner der souveränitätstheoretische Begriff der suprema potestas und dessen Grundlegung in einem unbegrenzten, höchsten Willen geläufig war.108 Der höchste Beamte des Staates führt allerdings aus, dass der derzeitige Souverän, König Peter, beabsichtigt, seine souveräne Macht an seinen Sohn abzutreten, der sich allerdings mit einem semantisch leeren, sprachlich allerdings reichhaltigen Wortspiel dagegen zu sträuben versucht. Ausgeführt wird hierbei allerdings nicht ein der Langeweile oder Melancholie entspringendes Sprachspiel, dem die Funktion »eine[r] Entlastung vom sozialen Druck – vom Terror der Vernünftigkeit«109 oder der Status eines »widerständigen, ästhetischen Prinzips«110 zukäme, sondern die unbegrenzte Willkür eines zukünftigen Potentaten, der seinen Willen seiner »Passion«, also seinen Leidenschaften, unterwerfen kann, wenn er das nur will. Dabei hat Leonce als Repräsentant der »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft«,111 mit der Büchner keineswegs nur die bürgerliche verbindet,112 die ›Sexualität als Passion‹ längst hinter sich gelassen und kann sich dem durch Langeweile entstandenen Sarkasmus uneingeschränkt hingeben. Das monarchische Prinzip konnte und kann sich bis zur politischen Schädlichkeit ausweiten, weil es dem Potentaten auch gestattet, in der Verachtung nicht nur seiner Untertanen, sondern auch seiner selbst nichts zu tun. Nimmt man vorerst für das Verständnis der Ankleideszene das Feld sexueller Begierden als Chiffre für rational nicht kontrollierbare Leidenschaften überhaupt, dann folgt daraus, dass der Herrscher als princeps legibus solutus erstens nicht frei handelt, sondern gemäß seinen Leidenschaften, und dass zweitens Denken und Handeln für diesen Herrscher auseinanderfallen, obwohl er für sich in Anspruch nimmt, als einziger seinen Intellekt zu verwenden. Denn er handelt gemäß seiner || 107 P I, S. 10625–34/MBA VI, S. 10815–23. 108 Der Begriff der suprema potestas war im Übrigen keineswegs primär theologisch konnotiert (so aber MBA VI, S. 465f.). 109 So aber Kurzke 2013, S. 374. 110 Beise 2009, S. 81; Beise 2010, S. 101. 111 So Büchner im Brief an Gutzkow vom Juni 1836 über seine zeitgenössische Gesellschaft; vgl. MBA X.1, S. 9332; zur Korrelation dieser Briefpassage mit dem Lustspiel siehe auch Voss 1987, S. 362; Dedner 1990, S. 133f.; Knapp 22000, S. 158ff.; Drux 2001; Glück 2013–15, S. 254f.; Sanna 2015, S. 86. 112 So aber Greiner 1988, S. 216f.; Greiner 22006, S. 283 und Greiner 2009, S. 90f.; es ist dieser ahistorische, eben kulturkritische Begriff des ›Bürgerlichen‹, den Greiner immer wieder als telos der kritischen Komödie Büchners ausweist, der aber die eigentlich politische Analyse und Kritik des Lustspiels verdeckt: dass nämlich die europäische Romantik mit ihrer Nobilitierung von Langeweile, Melancholie, Weltschmerz oder naiver Liebe sich bruchlos in die Erfordernisse eines klassenübergreifenden ›Aristocratismus‹ fügt. König Peter und Leonce unterscheiden sich in ihren rechtlich und moralisch weder eingeschränkten noch legitimierten Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen in nichts.

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voluntas als Prinzip der Souveränität nicht aufgrund vernünftiger Maximen als den Produkten seines Denkens, sondern entlang seiner individuellen körperlichen Bedürfnisse. Diese Konstellation führte aber zu der in dieser Szene inszenierten Überzeugung, dass es einen aufgeklärten Absolutismus nicht gibt und nicht geben kann, weil die Vernunft nie oder nur kontingent zum Prinzip souveränen Handelns eines absolutistischen Herrschers wird. Vor diesem Hintergrund wird das – allerdings ganz subjektiv motivierte – Interesse Peters nach Abdankung auch plausibel, weil sein Handeln als Herrscher seinem Interesse nach wertfreier Wissenschaft unüberbrückbar entgegensteht. Schon Kant hatte nämlich ausgeführt: Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen, weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.113

Büchner inszeniert diesen Gegensatz zwischen Philosophie und praktischer Politik zum einen als subjektives Bedürfnis eines schon durch die Grundlegungen der wissenschaftlichen Philosophie überforderten Potentaten, der durch seine anhaltenden philosophischen Grübeleien zum politischen Handeln unfähig wird. Die Komödie selber aber zeigt zum anderen, dass absolutistische Herrschaft sowohl in ihrer überkommen-selbstgefälligen als auch in ihrer modernen, ebenso melancholischen wie sarkastischen Variante zu Philosophie und Wissenschaft untauglich macht.114 Zu der Reduktion des politischen, also souveränen Willens auf eine Realisierungsinstanz körperlicher Begierden des Amtsinhabers fügt sich konsequent die anschließende Depotenzierung der Moral auf ein ebenso hilfreiches wie schmückendes Beiwerk der herrscherlichen Kleidungs-Akzidenzien: auf Manschetten. Die Moral auf Manschetten-Niveau, d. h. zum Schmuck für die Kleidung des Königs und damit zum Instrument einer Herrschaftstechnik herabzustufen, macht die Szene insgesamt kohärent. Dabei geht es Büchner erkennbar nicht darum zu zeigen, dass, weil es keinen freien Willen, so auch keine Moral geben könne.115 Denn weder wird in dieser Szene der freie Wille überhaupt negiert, weil er gar nicht thematisch ist, sondern nur der politische Wille des Souveräns,116 noch sind Manschetten eben nichts. Vielmehr zeigt Büchner in seiner präzisen politischen Poetik, dass das Handeln des absolutistischen Souveräns unabhängig von allen moralisch-praktischen Prinzipien, d. h. aller echten Normativität erfolgt, weil es sich einzig nach den Krite-

|| 113 AA VIII, S. 369 (Zum ewigen Frieden). 114 Insofern zeigt sie auch nicht, dass Philosophie komisch ist (Oesterle 1983, Martin 2012), sondern dass der Versuch ihrer Vermittlung mit Politik zu einer lächerlichen ›Verwirrung der Kategorien‹ führt. 115 So aber Martin 2012, S. 188. 116 Und insofern auch keineswegs eine nur »bürgerliche Moral«, so aber Fink 1973, S. 492.

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rien der technisch-praktischen Staatsräson richtet und richten muss,117 für die allerdings die Moral keineswegs nichts ist, sondern schmückendes Beiwerk ihrer politischen Macht:118 Kein absolutistischer Potentat kann es sich leisten, öffentlich im ›Jenseits von Gut und Böse‹ zu agieren, keiner aber auch, tatsächlich nach den Prinzipien einer Universalität beanspruchenden Moral zu handeln. Diese Maxime der Politik ist für König Peter keine bewusste Handlungsorientierung mehr, sie hat sich vielmehr so weit verselbstständigt, dass er sie in seiner hilflosen Applikation der Metaphysik auf die Politik des Lever unreflektiert anwenden kann. Moral – so können wir noch im Woyzeck erfahren – ist für Büchner folglich ein Herrschaftsinstrument des ›Aristocratismus‹, der nicht nur als königlicher Potentat, sondern auch in seinen Erscheinungsformen des bürgerlichen Arztes oder des Militärs die Normen der Moral benutzt, um die Bevölkerung zu unterdrücken.119

8.1.3 Kategorienfehler Weil sich Büchners König mit zwei sich notwendig ausschließenden Handlungsfeldern befassen will, philosophischem Denken und politischem Handeln, die – wie sein Versuch ihrer Vermittlung zeigt – einen unüberbrückbaren Gegensatz ausbilden, endet die Philosophie der politischen Ankleideprozedur in heilloser Unordnung: Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruinirt.120

Nur in ihrer mehrfach humoristischen Kodierung ist diese Aussage als Satz einer Komödie tatsächlich zu verstehen: Für Peter selber ist aufgrund seiner Identifizierung von substanzontologischen Begriffen mit seiner als Akzidenzien der politischen Souveränität nobilitierten Kleidung der missglückte Lever zugleich Ausdruck bröckelnder Macht wie einer philosophischen Verwirrung, d. h. einer Orientierungslosigkeit und Unordnung seines Denkens. Kategorien sind aber in ihrer Funktionen für die Ontologie bzw. die Analytik des Verstandes121 solcherart Begriffe, die Ord-

|| 117 Zum Thema der Staatsraison als Problem und Lösung neuzeitlichen staatspolitischen Handelns vgl. u. a. Stolleis 1990 sowie Münkler 1987. 118 Dass es in Leonce und Lena um Fragen der Staatsräson zu tun ist, zeigt Berns 1987, S. 222ff. 119 Vgl. hierzu u. a. Glebke 1995, S. 95; diese Vernutzung der Moral als Herrschaftsinstrument bedeutet jedoch keineswegs, dass Büchner jegliche Moralität für unmöglich hielte, vgl. hierzu Stiening 2012b, S. 43f. sowie meine Ausführungen in Kap. 2. 120 P I, S. 995–8/MBA VI, S. 10225–28. 121 Es ist keineswegs ausgemacht, dass der von Peter verwendete Kategorienbegriff der kantische ist (so aber MBA VI, S. 446f.; Martin 2012, S. 193f.; Fortmann 2013, S. 145ff.), vielmehr ist durchaus

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nung ins konkrete, angewandte Denken bringen sollen, produzieren hier aber das Gegenteil ihrer eigentlichen Funktion: Unordnung. Tatsächlich gilt jedes philosophische ›System‹ als instabil bzw. selbstwidersprüchlich, wenn seine Kategorien keine Kohärenz, wenigstens aber Kompossibilität aufweisen.122 Schon auf dieser ersten semantischen Ebene entsteht also eine gewisse Komik in der Zerstörung eines philosophischen Systems durch das Misslingen des politischen Lever, was vor allem die ruinöse oder bröckelnde Macht des Königs anzeigt.123 Auf einer zweiten, nur dem Zuschauer oder Leser erkennbaren Ebene wird der Humor der Szene, der wenigstens hier Momente jener ›sprudelnden Sorgenfreiheit‹ ausführt, die Wilhelm Schulz in dem Stück zu erkennen meinte,124 dadurch evoziert, dass sowohl das philosophische als auch das politische System Peters allein deshalb untergraben werden, weil er Philosophie und politischen Lever unmittelbar verknüpft, beides allerdings damit »ruinirt« und so auf ebenso lächerliche wie erschütternde Weise eine prägende Hoffnung der vorkritischen Aufklärung,125 nämlich die auf einen aufgeklärten Absolutismus, destruiert. Dieser Humor transportiert jedoch keine allgemeine Aufklärungskritik aus romantischer, rationalitätskritischer Perspektive, sondern die schon von Kant geleistete Auflösung einer Illusion, die auf der notwendigen Differenz zwischen politischer Interessensverfolgung und wissenschaftlicher Wahrheitssuche basiert. Diese kantische Einsicht ist aber auch mit der Überzeugung Büchners kompatibel, die er Anfang Juni, also während der Arbeit an dem Lustspiel, an Karl Gutzkow schreibt: »Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformiren? Unmöglich.«126 An König Peter exemplifiziert Büchner diese Erkenntnis und darüber hinaus, dass selbst die Erhaltung der Gesellschaft durch die philosophische Idee ›unmöglich‹ ist. Dass diese Illusion vollständig zerstört werden muss, zelebriert der weitere Verlauf der Szene weniger genüsslich als konsequent: Denn das Erinnerungsvermögen des Königs hat ob seiner politisch-philosophischen Doppelbelastung schon arg gelitten, so dass er nicht mehr weiß, woran ihn der Knoten in seinem Schnupftuch erinnern sollte. Nur mehr dass überhaupt, nicht mehr an was genau er ihn erinnern sollte, ist ihm präsent. Pragmatisch sinnvoll und herrschaftsrechtlich legitim wendet sich der Potentat folglich an seine Kammerherren, die ihm bei dem Problem, an was er sich erinnern wollte, aufhelfen müssen. Beide Würdenträger entziehen sich allerdings der ihnen gestellten Aufgabe durch deren schlichte sprachliche Wiederholung; schon sie – wie der gesamte Hofstaat – wirken dabei wie Automaten, ein || auch der aristotelische mit dieser Verwendung zu verbinden; die vorherige Referenz auf substanzontologische Begriffe macht letzteres sogar wahrscheinlicher. 122 Siehe hierzu u. a. Hillebrand 1826, S. 15 (§ 23). 123 Vgl. auch Martin 2012, S. 193f. 124 Zitiert nach Grab 1985, S. 65. 125 Vgl. hierzu u. a. Schmidt-Biggemann 1988. 126 P II, S. 4406f./MBA X.1, S. 9318f..

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Motiv, das zum Ende des Lustspiels einige Bedeutung erhält.127 An dieser Stelle aber signalisiert es die Ineffizienz und leblose Verkrustung des absolutistischen Herrschafts- und Verwaltungsapparates. Der politisch-philosophischen Verwirrung Peters entsprechend reagiert er auf das rein formelle Verhalten seiner höchsten Amtsträger in eigentümlicher Weise: Hatte er die Frage an seine Kammerherren als König gestellt, um ihren Rat in Anspruch zu nehmen, so reagiert er auf das Misslingen dieses Anliegens als Philosoph, indem er seine Räte nicht in ihrer verwaltungspolitischen Funktion anspricht, sondern als Menschen: PETER. Läuft auf und ab: Was? Was? Die Menschen machen mich konfus, ich bin in der größten Verwirrung, Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.128

Nach der Verwirrung seiner Kategorien ist es nun seine ganze Person, die in Verwirrung gerät, allerdings lediglich dadurch, dass seine Räte seine Frage schlicht repetieren, nicht aber beantworten, was zwar dem höfischen Zeremoniell Rechnung trägt, weil die Räte überhaupt antworten, die sachliche Problemlage aber, dem Herrscher bei seinen Erinnerungsprozessen aufzuhelfen, keiner Lösung zuführt. Natürlich ist schon das einleitende Motiv, dass sich ein Herrscher bei dem wenig politischen, vielmehr ausnehmend innerindividuellen Prozess des Erinnerns durch seine politischen Funktionsträger helfen lassen muss, lächerlich und insofern Teil der politischen Komödie in Leonce und Lena. Dass er sich aber als Mensch wie als Herrscher durch die eigentümlich formelle Haltung seiner Räte, die in ihren Antworten dem höfischen Zeremoniell, nicht aber dem Sachproblem des Herrschers Rechnung tragen, »nicht mehr zu helfen weiß«, dokumentiert den maroden Zustand von Person und Herrschaft König Peters.129 Dieser persönlich wie politisch prekäre Zustand der Hilflosigkeit wird allerdings schlagartig beendet durch den Eintritt eines Dieners, der den Staatsrat, das höchste Beratungsgremium des Herrschers, ankündigt. Es ist dieser äußere – kontingente – Anlass, der für den König den Zusammenhang zwischen seinem Knoten im Taschentuch und dem Inhalt der durch ihn veranlassten Erinnerung wieder herstellt, weil Peter plötzlich wieder weiß: »Ich wollte mich an mein Volk erinnern«.130 Es war das Volk, es waren nicht die Menschen, also die politische Kategorie seiner Herrschaft, nicht die anthropologische seiner Philosophie, an die sein Knoten ihn erinnern sollte. Erneut entzündet sich der Humor dieses Satzes an zweierlei: Einerseits lässt die Tatsache, dass der König sich gar mit Erinnerungshilfen und durch Erinne-

|| 127 Vgl. hierzu u. a. Drux 2001; das gilt daher keineswegs für König Peter, so aber Dedner 1990, S. 137. 128 P I, S. 9920–22/MBA VI, S. 10237–39. 129 So auch Meier 1983, S. 66. 130 P I, S. 9925f./MBA VI, S. 1032f..

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rungslücken unterbrochen an sein Volk erinnern muss, darauf hin, dass er – wie dies Büchner schon im Hessischen Landboten analysierte131 – den eigentlichen Zweck seiner politischen Funktion, nämlich die Gemeinwohlsicherung und -mehrung des Volkes, nicht erfüllt, sondern offensichtlich anderen Zwecken nachgeht, und damit sich selbst delegitimiert. Andererseits weist diese psychische Dysfunktion im Zusammenhang seiner politischen Aufgabe erneut auf seine eigentliche, mit seiner politischen Rolle inkompatible Leidenschaft der Philosophie hin. Tatsächlich behauptete schon Aristoteles, dass die Wissenschaften und die Philosophie erst erfunden wurden, »als alles Derartige [Lebensnotwendige] erworben war«.132 Die strenge Disjunktion von Politik und Philosophie erfährt Peter allerdings nicht nacheinander, wie bei Aristoteles die Menschheit, sondern zu gleicher Zeit, wobei sich die eigentliche – wenn auch »unglückliche« – Leidenschaft zur Philosophie durchsetzt, was zu den erwähnten psychischen und politischen Dysfunktionen und den Versuchen ihrer Umgehung durch Erinnerungshilfen führt. Was im Landboten als empörende Ungerechtigkeit für die mit Geld und Söhnen zahlenden Bauern entwickelt wurde – die Besetzung des Staates durch eine kleine Klasse und die Ersetzung des Gemein- durch deren Partikularwohl –, wird im Lustspiel als Farce wiederholt, indem auch Peter durch die Verfolgung seiner privaten Leidenschaft für die Philosophie seine öffentliche Aufgabe verfehlt.133

8.1.4 Der verlorene Souverän und ein indolenter Staatsrat Diese Farce setzt sich fort durch die anschließende Begegnung Peters mit seinem Staatsrat, die der König befohlen hatte, weil er mitteilen will, dass er seinem eigentlichen Interesse folgend das politische Amt an seinen Sohn abgeben werde, zuvor aber die Heirat des Thronfolgers zu erfolgen habe. Der König, offenbar am Rande seiner Aufmerksamkeits- und damit seiner Differenzierungsfähigkeit, trägt diese Absicht seinem Staatsrat wie folgt vor: PETER. Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen tun, kund und zu wissen tun, – denn, entweder verheiratet sich mein Sohn, oder nicht Legt den Finger an die Nase. entweder, oder – ihr versteht mich doch. Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. Steht eine Zeitlang sinnend. Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist, ich oder ein anderer, das ängstigt mich. Nach langem Besinnen. Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident?134

|| 131 Vgl. hierzu Stiening 2012b sowie meine Ausführungen in Kap. 4. 132 Aristoteles 1989, I, S. 9. 133 Siehe hierzu auch Sun 2002, S. 12. 134 P I, S. 9933–1004/MBA VI, S. 1038–14.

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Und wieder ist es die gleichzeitige Beanspruchung durch Philosophie und politische Praxis, die des Königs zunehmende Unfähigkeit zur Kommunikation mit seinem höchsten politischen Beratergremium sowie zur Aufrechterhaltung einer persönlichen Identität hervorbringen.135 Beginnt er zunächst mit einer klaren, auf die politische Kommunikation mit seinem Staatsrat ausgerichteten Ankündigung, die im Modus der Gesetzespromulgation,136 d. h. der stets notwendigen Veröffentlichung gesetzlicher Beschlüsse eines Souveräns, beginnt, die – so wissen wir aus einer späteren Szene137 – auf seine Abdankung hinauslaufen sollte, so verfängt sich der ›Philosophenkönig‹ bei der Formulierung einer entscheidenden Bedingung dieses Schrittes, nämlich der Heirat seines Sohnes, an deren formallogischen Prämissen: die Zweiwertigkeit einer streng disjunktiven Alternative (entweder – oder) und deren nomologische Voraussetzung: die Geltung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Dieses Versanden seiner politischen Promulgation in den Fallstricken formaler Logik führt ihn assoziativ zu seinem anfänglichen anthropologischen Postulat, dass der Mensch denken müsse, zurück, ein Postulat, dass sein ganzes Tun zunehmend bestimmt, damit aber sein politisches Handeln verunmöglicht.138 Diese progrediente politische Inkompetenz zeigt sich auch an psychischen Phänomenen, so seiner schon kurz vor seiner Ansprache bekundeten Verlegenheit bei öffentlicher Rede und seiner nunmehr in einer solchen Rede vorgetragenen Entfremdung von sich als Person im Zustand lauten öffentlichen Sprechens.139 Büchner inszeniert die objektive Dissoziation zwischen Philosophie und Politik im Modus zunehmender psychischer Devianz seines Philosophenkönigs. Dieser rettet sich aus seiner schweren Notlage, in die ihn seine ›unglückliche Liebe‹ zur Philosophie brachte, durch die Referenz auf ein Philosophem, das die psychische Dissoziation formell beheben soll: »Ich bin Ich.«140 Dabei ist der Bezug auf eine mögliche Quelle weniger interessant141 als die eigentümliche Inszenierung dieses Satzes: Denn die Ausrufung dieser Einsicht als anfänglich angekündigte Entscheidung des Prinzips (»kund tun und zu wissen«), ermöglicht es ihm, deren Wahrheit – zugleich Rettung vor seinen Ängsten der Ich-Dissoziation – dem politischen Gremium zu überantwor-

|| 135 Insofern kann man Peters misslingende Ansprache kaum als »puren Nonsense« bezeichnen (so Poschmann 1985, S. 203), weil das Misslingen der Vermittlung zwischen Politik und Philosophie als rational rekonstruierbar vorgeführt wird. 136 Vgl. hierzu MBA VI, S. 448. 137 Es wird zu dieser Promulgation nämlich nicht kommen, sodass er gerade nicht »die Thronfolge Leonces anlässlich seiner Hochzeit mit Lena […] im Staatsrat verkündet« (so aber Fortmann 2013, S. 141). 138 Vgl. erneut vor allem Sun 2002, S. 14. 139 Vgl. hierzu auch MBA VI, S. 448f.; Fortmann 2013, S. 148. 140 P I, S. 1003/MBA VI, S. 10314. 141 Vgl. hierzu MBA VI, S. 449.

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ten.142 Es ist der Staatsrat, der über die Wahrheit der personalen Identität des Herrschers, zentrale Bedingung der Möglichkeit seiner politischen Existenz – denn nur der physisch und psychisch gesunde Herrscher ist legitimiert143 – entscheiden soll: »Ich bin Ich. Was halten Sie davon.«144 Das ist weniger philosophisch als politisch prekär, weil der Souverän eine gewichtige Entscheidung über die Grundlagen seiner Herrschaft an seinen Staatsrat abgibt, der damit weniger berät als entscheiden können sollte. Mit der Frage nach der Gültigkeit seiner personalen Identität, die eben keineswegs die Frage nach der allgemeinen Gültigkeit des fichtesschen Grundsatzes ›Ich bin Ich‹ stellt,145 sondern als Frage vor dem Staatsrat vor allem politisch ist, gibt der König zentrale Momente seiner Souveränität an seinen Staatsrat ab und dokumentiert damit erneut seine mehr als prekäre politische Position: Als Philosoph wird ein Herrscher zu einem psychisch instabilen, politisch haltlosen Souverän. Der Staatsrat aber, gedrängt in eine souveränitätspolitische Rolle, weist diese Funktion zurück, indem er sich in eine gleichsam skeptizistische Position begibt und damit formal das philosophische Gespräch, nicht die politische Kommunikation bedient, sich aber inhaltlich der Entscheidung entzieht: PRÄSIDENT. Gravitätisch langsam: Eure Majestät, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so. DER GANZE STAATSRATH im Chor: Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.146

Im Modus skeptizistischer Unentschiedenheit verweigert sich die politische Verwaltung an dieser Stelle einer möglichen Machtübernahme. Die vor dem Hintergrund der politischen Handlungsschwäche und psychischen Dissoziationsangst des Herrschers bestehende Möglichkeit einer verneinenden Antwort, die die Souveränität zumindest zeitweise auf den Staatsrat hätte übergehen lassen, wird durch die jämmerliche Indifferenz gegenüber der unerhörten Frage vertan. Weil Büchner das politische Problem, warum denn kein Widerstand gegenüber solcherart indolenter

|| 142 Es gehört zu den überaus problematischen Konsequenzen des Quellenpositivismus, dass mit dem Nachweis einer angeblichen Quelle auch hermeneutische Vorentscheidungen getroffen werden, so dass Büchner dadurch, dass er eine berühmte Formel Fichtes (Ich bin Ich) dem trotteligen Provinzherrscher in den Mund lege, eine Idealismuskritik betreibe (vgl. hierzu u. a. Martin 2012); nach dieser Ableitung erfolgt dann zumeist auch die These vom Kurzschluss von Idealismus- und Absolutismuskritik in dieser Szene des Lustspiels. Dass Büchner mit der Fichteformel durch den Dialog-Verlauf der Szene eine weit differenziertere politische Kritik ausführte, nämlich u. a. an dem Problem der Herrschaftsbegrenzung psychisch devianter oder gar kranker Herrscher durch einen zugleich machtpolitisch wirkungslosen Verwaltungsapparat, geht in der eigentümlichen Selbstgewissheit germanistischer Philosophiekritik zumeist unter. 143 Vgl. hierzu Riotte 2018, S. 331–354. 144 P I, S. 1003/MBA VI, S. 10314. 145 So aber das Gros der Interpretationen nach den Quellenhinweisen der MBA, u. a. Martin 2012; Fortmann 2013. 146 P I, S. 1005–9/MBA VI, S. 10315–18.

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Herrschaft stattfinden will, stets bedrängte,147 muss die vertane Chance besonders drastisch ausfallen: Der Staatsrat macht sich nämlich als Chor zur schlichten Weiderholungsinstanz der Indifferenz des Präsidenten. Mit diesem Verhalten wird der Staatsrat als Theaterchor nicht nur zum Männerchor, sondern zum willenlosen Exekutor der Entscheidungen Vorgesetzter. Er berät nicht, kritisiert oder bestätigt nicht, er reproduziert die Fragestellung und wiederholt schlicht getroffene Entscheidungen.148 Diese Haltung wird als politische Indolenz und Unmündigkeit erkennbar der Lächerlichkeit preisgegeben, zugleich aber als Erscheinung politischer Klugheit inszeniert, denn niemand anders als der König selber belobigt seinen Präsidenten und Staatsrat für diese Antwort. Dabei geht ihm nach dem Versuch der – ihre Trennung voraussetzenden – Applikation der Philosophie auf politische Erscheinung und dem unkontrollierbaren, Verwirrung stiftenden Wechsel zwischen beiden nunmehr jede mögliche Differenzierung verloren, belobigt er seine Ratgeber doch gerührt als »meine Weisen« – und damit als Philosophen.149 Allerdings rührt ihn die Weisheit des Staatsrat ausschließlich aufgrund seines formellen, gleichwohl kollektiv vorgetragenen Skeptizismus, denn den Inhalt, auf den sich das skeptische Urteil bezog, hat der Monarch längst vergessen: »Also von was war eigentlich die Rede? Von was wollte ich sprechen?«150 Es war nicht nur die Frage nach seiner Identität, sondern auch die Ankündigung seines von ihm ersehnten Rücktritts unter der Voraussetzung der Heirat seines Sohnes, der ihm als Monarch nachfolgen soll, damit Peter endlich unbegrenzt seiner ›unglücklichen Liebe zur Philosophie‹ nachkommen könnte. Die vergeblichen Versuche aber, die Doppelbelastung durch Philosophie und Politik mithilfe ihrer Korrelation zu moderieren, haben die Aufmerksamkeitsleistungen seines Geistes so geschwächt, dass er seine Absichten bezüglich der politischen Erfordernisse für eine hemmungslose Verwirklichung seiner Leidenschaft vergaß.151 Unverrichteter Dinge und doch ohne jede Betrübnis darüber, weil jene Dinge von ihm nicht mehr erinnert werden, beendet er die letztlich ergebnislose und daher überflüssige Staatsratssitzung. || 147 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 4. 148 Die Forschung hat sich zur Rolle und Funktion des Staatsrates in dem Stück bislang wenig geäußert; wenn überhaupt, dann wird eine intellektuelle Minderbemittlung konstatiert (vgl. Hofmann u- Kanning 2013, S. 140, die von einer »Dummheit des Staatsrates« sprechen), ohne dies allerdings zu begründen; einige, wenngleich unklare historische Informationen in MBA VI, S. 135. 149 P I, S. 1009/MBA VI, S. 10319. 150 P I, S. 1009f./MBA VI, S. 10319f.. 151 Dass hier allerdings kein dementer, also kranker, sondern nur ein überforderter Geist vorgeführt wird, zeigt sich daran, dass der Monarch sehr gut weiß, dass er etwas vergessen hat, nur eben nicht mehr, was genau. Nur deshalb ist er auch in der Lage, in Ausübung seiner Macht einen Untergebenen für das Problem, dass die Versammlung von Monarch und Staatsrat nicht mehr weiß, warum sie zusammengekommen ist, zur Rechenschaft zu ziehen: »Präsident, was haben Sie so ein kurzes Gedächtnis bei einer so feierlichen Gelegenheit?«

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Büchner gestaltet diese Szene um den abdankungswilligen Philosophenkönig des Reiches Popo, obwohl sie wenig zum zentralen Handlungsgeschehen der Komödie beiträgt, weil er das romantische, realitätsentrückte – die Forschung spricht gerne von einem märchenhaften – Sujet in jenen, gleichwohl humoristisch überzeichneten politischen Rahmen einbinden will, in den er die gesamte romantische Motivik und Thematik zu stellen sucht. Wenn es Büchner tatsächlich um die Gestaltung existenzieller oder anthropologischer Problemlagen des Einzelnen bzw. das – wie es die neuere Forschung nennt – »Menschliche Allzumenschliche«152 zu tun gewesen wäre, dann hätte er diese genau konzipierte und durchgeführte Szene als vollkommen überflüssig streichen müssen. Dieses Urteil lässt sich aber – trotz vielerlei Marginalisierungen der Szene – keineswegs aufrechterhalten. Vielmehr ist sie, wie auch die weiteren Szenen mit Beteiligung des absolutistischen Verwaltungsapparates, essentiell für Büchners offenkundige Absicht, die philosophische Aufklärung und die literarische Romantik in einen herrschaftspolitischen Rahmen zu lozieren, um deren angeblich überpolitische Problemlagen kritisch zu reflektieren. Schon Büchner zeigt mit Leonce und Lena, dass die Romantik vor allem eine politische Romantik ist, weil ihre intellektuelle und ästhetische Substanz auf politischen Bedingungen aufruht, von denen sie nicht zu abstrahieren vermag.153 Des Königs Ankleideszene dokumentiert dabei im Modus eines Humors, der zwischen Mit- und Verlachen changiert,154 weil die prätentiöse Manier des Potentaten bei dem Versuch der Aktualisierung des antiken sowie spätaufklärerischen Ideals eines Philosophenkönigs einerseits der Lächerlichkeit preis gegeben wird, andererseits die konkrete Ausführung dieser Destruktion eines politischen Ideals den König ins milde Licht eines mitfühlenden Humors stellt. Denn die gelangweilten, melancholischen und herrischen Eskapismen seines Sohnes werden in eine staatspolitische Realität eingebunden, die dessen zur Politik ebenfalls unfähig machenden Befindlichkeiten allererst hervorbringt, der er gleichwohl demnächst als Souverän vorstehen soll. Mit der Szene I.2 stehen alle Romantizismen des folgenden Lustspiels im einem herrschafts- und soziopolitischen Kontext, in dem »die Unwirklichkeit der Komödie […] der Satire« dient,155 und den sie auch nicht wieder loswird, sei es existenzialistisch, sei es anthropologisch.156 So kann man schon an dieser frühen Szene feststellen, wie Büchner in seinem Versuch einer humoristischen, also komödienhaften und zugleich analytischen Betrachtung jenes politischen Systems, das er als politisch Handelnder abzuschaf|| 152 So Neuhuber 2009, S. 118. 153 Besonders anschaulich zu studieren ist dieser Zusammenhang als notwendiger bei einem ihrer bedeutendsten politischen Theoretiker, nämlich Adam Müller, vgl. Müller 1936. 154 Zu dieser Distinktion vgl. schon Hutcheson 1758 sowie deren Interpretation durch Ritter 1974, S. 62–92. 155 So zu Recht Fink 1973, S. 491. 156 Vgl. hierzu auch Fortmann 2013, S. 68f.

Das Wissens des »Aristocratismus« – Prinz Leonce | 615

fen suchte, mithilfe der poetischen Reflexion auf wissensgeschichtliche Kontexte vorging.

8.2 Das Wissens des »Aristocratismus« – Prinz Leonce Diese Verbindung von humoristischer Gesellschaftsanalyse mit wissensgeschichtlichen Darstellungs- und Reflexionsmitteln zeigt sich – mittelbarer, aber auch komplexer – in den Auftritten der für die Komödienhandlung konstitutiven Figuren Leonce und Lena sowie – in abgeschwächter Intensität – für Valerio und Rosetta. Eine nähere Betrachtung dieser Figuren wird zeigen, dass die von Leonce als der zentralen Figur des Stückes geführten Dialoge einen Humor ausprägen, der nur selten jene ›sprudelnde Sorgenfreiheit‹ zum Ausdruck bringt, die Wilhelm Schulz in ihnen zu erkennten meinte und die Hegel in den 1830er Jahren als »Grundlage und Ausgangspunkt der Komödie« festlegte, wenn er von dem »in sich absolut versöhnten, heiteren Gemüt« sprach, dessen »Wohlgemutheit« im Rahmen der Komödie nicht verletzt werden dürfe.157 Beide Bestimmungen des Komischen treffen auf Leonce und Lena nicht zu – auch und schon gar nicht auf den eigentümlichen Schluss des Stückes. Es wirken in diesem »Lustspiel« vielmehr andere Formen des Humors, die es im Folgenden anhand der wissensgeschichtlichen Anspielungen zu erörtern gilt.

8.2.1 Langeweile und Melancholie Prinz Leonce, der als Thronfolger kurz vor der Erfüllung seiner monarchischen Funktion steht, befindet sich in einem ihn durchgängig beherrschenden psychischen Zustand, der durch die Dominanz des Gefühls der Langeweile konstituiert wird. Diesen Zustand erzwungener Passivität, der von ihm und seiner Umgebung beklagt wird, verteidigt er gleichwohl gegen Versuche, ihn durch Arbeit, d. h. die Vorbereitung auf seinen Beruf, zu vertreiben.158 Gegenüber seinem Hofmeister, also

|| 157 Alle Zitate Hegel 1986, XV, S. 552. 158 Diese Abwehr von angebotener oder aufgenötigter Arbeit ist ein Topos der Beschäftigung mit Langeweile um 1800, so auch in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »So ist die Anekelung seiner eigenen Existenz aus der Leerheit des Gemüths an Empfindungen, zu denen es unaufhörlich strebt, der langen Weile, wobei man doch zugleich ein Gewicht der Trägheit fühlt, d. i. des Überdrusses an aller Beschäftigung, die Arbeit heißen und jenen Ekel vertreiben könnte, weil sie mit Beschwerden verbunden ist, ein höchst widriges Gefühl, dessen Ursache keine andere ist, als die natürliche Neigung zur Gemächlichkeit (einer Ruhe, vor der keine Ermüdung vorhergeht)« (AA VII, S. 151). Dabei ist der entscheidende Unterschied zwischen der kantischen und der büchnerschen Problemanordnung, dass es Leonce nicht darum geht, Beschäftigung überhaupt zurückzu-

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einem Erzieher, der sich ihm nähert, heißt es: »Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun.«159 Diese ihn ›ausfüllenden‹ Tätigkeiten bestehen allerdings lediglich darin, Sandkörner zu zählen, Wetten abzuschließen und einem seiner Ideale, nämlich sich selbst auf den Kopf sehen zu können, in seiner Unmöglichkeit nachzuträumen. Dabei sind all diese Tätigkeiten sinn- und bedeutungslos,160 und zwar sowohl im Hinblick auf seine politische Funktion als Thronfolger als auch hinsichtlich seiner privaten Interessen als Langeweile zu verhindern suchendes Individuum, weil alle drei und »noch unendlich viel dieser Art« Ausdruck und Verstärkung jener nicht zu überwindenden Langeweile sind, die Leonce »traurig« stimmt.161 Zwar mag die Wettlust seiner gesellschaftlichen Stellung als Aristokrat gerecht werden;162 die autoritäre und herablassende Verteidigung seiner Haltung gegenüber dem ihm widerspruchslos ergebenen Hofmeister,163 vor allem aber sein höhnischer ›Antiidealismus‹,164 der dem irrationalen ›Ideal‹ der körperlichen Selbstdistanzierung frönt, womit jede Ausrichtung des Handelns auf ethische oder politische Ideale der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll,165 veranschaulicht neben der Apologie der Langeweile den subkutanen Zug des Herrischen schon in Leonces erstem Auftritt. Diesen psychischen ›Aristocratismus‹ wird die Figur bis ans Ende des Stückes auch durch das Liebeserlebnis nicht überwinden.166

|| weisen, sondern das bestimmte Geschäft der souveränen Herrschaft, das der aristokratische Ennui im Bewusstsein seiner historischen Obsoleszenz von sich fernhalten will. 159 P I, S. 958–10/MBA VI, S. 12927f.. 160 Daher sind sie auch im Sinne des Lustspiels keineswegs »subversiv« oder »oppositionell« gegenüber einer bürgerlichen Arbeitswelt (so Dedner 1990, S. 149 u. S. 151), weil sie vielmehr die soziale wie politische Funktionslosigkeit jener »Klasse« illustrieren, die Büchner und Stendhal für überlebt erachten. 161 P I, S. 9528f./MBA VI, S. 13015. 162 Vgl. hierzu u. a. Zollinger 1997, S. 47ff. 163 Wie genau und ob überhaupt mit Notwendigkeit der Eindruck des Lächerlichen in Bezug auf den Hofmeister entsteht (so aber Schulz 2016, S. 126f.), scheint mir noch unterbestimmt. 164 Die Forschung, die sich bevorzugt mit der Idealismus-Kritik der literarischen Figur Lenz (vgl. hierzu u. a. Arendt 1990, S. 314f.; Pilger 1995, S. 104–106; Rößer 2000–04, S. 175–181 sowie Ruf 2008, S. 332f.) und dem daraus abzuleitenden Anti-Idealismus des Autors beschäftigt, hat diese Kritik an einem Ausrichten des Handelns an Idealen durch einen aristokratischen Melancholiker und dessen bornierter Weltverachtung noch nicht in den Blick genommen; MBA VI, S. 439 verstellt diese Kritik Büchners am ennuistischen Antiidealismus, indem sie die Verwendung des Idealbegriffs semantisch als fixe Idee pathologisiert. Dabei macht sich Leonce schlicht über Personen, die noch Ideale haben, lustig. 165 Leonce wiederholt seine Verachtung für Ideale gegenüber dem Narren Valerio, wenn es heißt: »Sie scheinen auch an Idealen zu laboriren.« (P I, S. 9716f.). 166 Zu Recht spricht Fink 1973, S. 491 u. S. 497 von einem »blasierten Gemüt« und einem »unmenschlichen Ästhetentum«.

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Noch ein weiteres Moment charakterisiert diesen gelangweilten Thronfolger: seine ironische Selbstreflexion.167 Diese Selbsterkenntnis des Ennui vollzieht sich vor allem in dem Bewusstsein von der Vergeblichkeit aller Versuche,168 eine einmal ausgebrochene Langeweile wieder loszuwerden: LOENCE. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dabei. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger.169

Wissen und Glauben, Liebe, Sexualität und sogar das Sterben – womit, wie der Begriff des Helden zeigt, soldatische Kampfhandlungen gemeint sind – werden vom gelangweilten Thronfolger als Versuche des Menschen interpretiert,170 sich vom psychischen Druck des Ennui zu befreien. Es ist die aristokratische Dramenfigur selber, die jene Anthropologisierung des Ennui vornimmt,171 die von einem Teil der Forschung dergestalt aufgenommen wurde, dass Leonce in diesem Monolog nicht als Aristokrat, sondern als Mensch über wesentliche Momente menschlichen Denkens und Handelns als Abwehr der Langeweile spräche.172 Diese Thesen sind am Text aber schwer zu verifizieren, spricht hier doch erkennbar ein ennuistisches Elitebewusstsein über die Illusionen aller anderen. Es ist die Figur, nicht das Stück, das den Ennui anthropologisiert.

|| 167 Für eine Interpretation der Motive der Langeweile und der Melancholie ist die Tatsache, dass beide Phänomene Selbstzuschreibungen sind, von erheblicher Bedeutung, weil sich hier der Aristokrat und Thronfolger eine Zeitkrankheit zuschreibt, um der bevorstehenden Machtübernahme zu entgehen: Erst die Beachtung der Selbstzuschreibung kann die Frage existenzielle versus soziopsychologische Problematik beantworten helfen; Beise 2009, S. 79f. abstrahiert eben davon und kann deshalb zu der Ansicht gelangen, dass mit Leonce das »Lebensgefühl der vom Weltschmerz beseelten Jugend der 1820 und 1830er Jahre« thematisch würde, bei der Lebensekel und der ›ennui‹ gleichermaßen Ausdruck des Widerstands gegen »entfremdete gesellschaftliche Verhältnisse« seien. 168 Mit dieser Einsicht lässt Büchner seine Figur eine Position ausführen, die der konservative Kulturkritiker Maine de Biran schon 1814 formulierte, vgl. hierzu Lepenies 21981, S. 143f. 169 P I, S. 9615–24/MBA VI, S. 13028–34. 170 Und damit keineswegs »bürgerlicher Sozialrollen«, so aber MBA VI, S. 435. 171 Was erneut den historischen Konstellationen entspricht, weil es nach Lepenies (21981, S. 145) das frühe 19. Jahrhundert ist, das die These entwickelt, dass an den Phänomenen der Langeweile und der Melancholie eine der »Möglichkeiten menschlichen Verhaltens« dargestellt werden kann. Dass diese Anthropologisierung der Langeweile von einem Adeligen inauguriert wird, macht Büchners komische Analyse um so stimmiger, die existenzialistischen oder anthropologischen Interpretationen des Stückes aber fragwürdig. 172 Vgl. als eine der neueren Stimmen Eke 2012.

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Die genannten Abwehrhandlungen der Menschen werden allerdings als ebenso bewusstlose wie vergebliche Mühen bzw. als Selbsttäuschungen ausgewiesen,173 weil die aufgezählten Handlungen von den Menschen aus Überzeugung, d. h. ohne das Wissen von der eigentlichen Motivation, der Langeweile-Abwehr, ausgeführt werden. Weil die Menschen aber Helden, Genies, Dummköpfe, Heilige, Sünder oder Familienväter nur werden, um laut Leonce der Langeweile ihres Daseins zu entfliehen, und damit nichts anderem als einem ›natürlichen‹ Bedürfnis nach der Abwehr von Unlust nachgeben, sind sie lediglich Beförderer der eigenen Lust und daher – trotz abweichender phänomenologischer Außenseite – der Substanz nach jene »Müßiggänger«, die sie als mit ernster Miene Handelnde verabscheuen und verurteilen. Weil sie sich darüber mithilfe der Überzeugungsannahme selbst täuschen, ist ihr Müßiggang besonders »raffiniert«.174 Erkennbar basiert diese Ableitung Leonces auf ebenjenem universalisierten Epikureismus, den Büchner schon Danton gegenüber Robespierre vertreten ließ,175 und ebenso erkennbar ruht auch dieser Epikureismus,176 der noch das größte Leid – die Kreuzigung Jesu – zum Moment der Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung der Menschen macht und auf den sich Leonce in der Tat noch explizit beziehen wird,177 auf einem anthropologischen Fundament, dem uneingeschränkte Geltung zugeschrieben wird. Dabei sind die auch in diesem Zusammenhang festzustellenden Zynismen – der soldatische Held als Ennui – vorerst weniger interessant als die

|| 173 Vgl. dazu auch Völker 1983, S. 123. 174 Dem moralischen Vorwurf des Müßiggangs, der sich schon im Rahmen christlicher Auseinandersetzung mit der Langeweile als Sünde des gefallenen Menschen entwickelte und der zeitgenössisch von Claude-Henri de Saint-Simon gegenüber dem gesellschaftsschädlichen Adel erhoben wurde (vgl. Höppner u. Seidel-Höppner 1975, S. 127ff.), lässt Büchner seinen aristokratischen Protagonisten auf zweierlei Weise begegnen: Zum einen wendet Leonce den Begriff auf belebte und unbelebte Natur, auf Bienen und das Sonnenlicht an, was die Moralität des Vorwurfes vom Müßiggang der Lächerlichkeit preisgibt, weil die unfreie Natur nicht mit moralischen Normen belegt werden kann; zum anderen anthropologisiert Leonce den Müßiggang als in der Natur des Menschen angelegtes bewusstes oder unbewusstes telos jeder Handlung; auch damit wird eine moralische Wertung der Langeweile als Müßiggang verunmöglicht. Dass mit dieser naturgeschichtlichen und anthropologischen Entmoralisierung des Müßiggangs allerdings eine »Systemkritik« an der auf Arbeit basierenden bürgerlichen Gesellschaft verbunden werden muss (so Voss 1987), lässt sich am Text nicht nachweisen. Dass gar »ein Moment utopischer Vollkommenheit« an diesem Müßiggänger inszeniert würde (so Völker 1983, S. 123), ist vollends ohne jeden Textbezug. Nimmt man Leonce als Vertreter eines verächtlichen, herrischen und gar prügelnden ›Aristocratismus‹, wird erkennbar, dass mit den Versuchen der Depotenzierung der moralischen Vorwürfe gegen den Ennui nur jene aristokratische oder elitäre Sondermoral eingeklagt wird, die schon Chateaubriand für sich in Anspruch nimmt und die – weniger beim Moralisten Saint-Simon als vielmehr – bei Stendhal einer analytischen Kritik verfällt. 175 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 6. 176 Zum Epikureismus Leonces vgl. auch Fink 1973, S. 491. 177 Vgl. hierzu MBA VI, S. 10510f..

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Tatsache, dass sich Leonce diesen Bedingungen »der Menschen« überhoben sieht, weil er jener Selbsttäuschung nicht mehr erlegen ist: Warum muß ich es grade wissen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde?178

Unabhängig davon, dass Leonce das Wissen über den Illusionscharakter der geschilderten Langeweile-Abwehr bedauert und sich die vergebliche Hoffnungen auf eine Existenz als Bürgerkönig179 ausmalt, der sich und seine Aufgabe ernst nimmt, ist darauf hinzuweisen, dass sich der aristokratische Ennui – hierin den Protagonisten der maladie du siècle verwandt180 – als einsamen Wissenden über die Eigentlichkeit der menschlichen Existenz inszeniert, und sich damit des Daseins »der Menschen« überhebt.181 Wie sein Vater, der seine Untertanen zum Vieh herabwürdigt, sieht sich auch der Thronfolger den in ihren Selbsttäuschungen verharrenden Menschen überlegen. Die von der Dramenfigur entworfene Anthropologie dient somit als systematische Grundlage für einen melancholischen Elitarismus bzw. einen ennuistischen »Aristocratismus«, der – nicht nur in Bezug auf den Soldaten, sondern auch auf Studierte oder Gläubige – jene »Verachtung des Heiligen Geistes im Menschen« zur Voraussetzung hat, die auch König Peter, wenngleich unbewusst, kultivierte.182 Die grundlegende Differenz zwischen den in ihren Illusionen verharrenden Menschen und dem ›Ennui‹ als Erkennenden generiert jedoch nicht nur Verachtung, sondern – so Leonce ausdrücklich – »Humor«,183 der durch die Diskrepanz zwischen den »wichtigen Gesichtern« der von der sachlichen Bedeutung ihres Tuns überzeugten Menschen und der objektiven Bedeutungslosigkeit ihres Handelns hervorgerufen wird. Letztlich ist für den Ennui jeder Mensch, der denkt, glaubt, sich

|| 178 P I, S. 9624–28/MBA VI, S. 10034–37. 179 Zu diesem konkreten historischen Kontext der Passage vgl. MBA VI, S. 436f. 180 Vgl. hierzu auch Dedner 1990, S. 157, der jedoch den Elitarismus dieser Haltung, der schon Werther kennzeichnet, unerwähnt lässt. 181 Ob dieses elitäre Selbstverständnis den aristokratischen Ennui allerdings zu einem Vertreter der Moderne macht (so Dedner 1990, S. 143), mag man bezweifeln, dokumentieren sich in diesem – wie in jedem – Eliteverständnis doch mehr die Restbestände vormoderner Ständeordnungen als eine moderne Leistungsorientierung; und »närrisch-subversiv« (ebd., S. 149) ist der erzwungene, zumeist herablassende Humor des Prinzen auch nur dem, der der Romantik im Modus der Kulturkritik »revolutionäres Potential« zuschreibt. 182 Übrigens zeigt sich schon an diesen Extemporationen der elitären Verachtung des Ennui dessen Tendenzen zum Herrischen und zur Gewalt; denn der illusionslose Melancholiker ist nicht willenlos genug, um nicht die in ihren Illusionen verharrenden Menschen zu beneiden – bis zur Gewalttätigkeit: »Der Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln mögen« (P I, S. 9629–30/MBA VI, S. 10037–39). 183 P I, S. 9619/MBA VI, S. 10031.

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fortpflanzt etc., ohne darum zu wissen, dass der Zweck all dieses Tuns nur die vergebliche Suche nach Befreiung von der Langeweile ist, eine lächerliche Figur.184 Für den Prinzen ist also identisch, was Hegel schon in den 1820er Jahren trennte, das Lächerliche und das Komische. Dabei ist für Hegel das Lächerliche eben das, was für Leonce »der Humor davon« ist, nämlich »jeder Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung«, für Leonce Langeweile-Abwehr und beispielsweise soldatisches Heldentum. Das Komische unterscheidet Hegel vom Lächerlichen durch die folgende, für das Humor-Verständnis der büchnerschen Dramenfigur zugleich aufschlussreiche Ableitung: Das Lachen ist dann [d. i. beim Lächerlichen] nur eine Äußerung der wohlgefälligen Klugheit, ein Zeichen, daß sie auch so weise seien, solch einen Kontrast zu erkennen und sich darüber zu wissen. Ebenso gibt es ein Gelächter des Spottes, des Hohns, der Verzweiflung usf. Zum Komischen dagegen gehört überhaupt die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht, durchaus erhaben über seinen eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und unglücklich darin zu sein, die Seligkeit und Wohligkeit der Subjektivität, die ihrer selbst gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann.185

Nach dieser Distinktion ist für Leonce das Komische in Bezug auf ihn selbst, auf andere und anderes letztlich unmöglich; alles Lachen und damit jeder Humor ist bei ihm und für ihn nur möglich als »wohlgefällige Klugheit«, die sich anderen überlegen weiß, und damit als jene Geste der Superiorität, auf die schon Hobbes das Lachen reduzierte.186 Humor ist für den aristokratischen Ennui mithin eine mögliche Erscheinungsform seines ihn grundsätzlich ausmachenden Überlegenheitsverständnisses. Sie ist nur eine mögliche und insofern kontingent, als – wie die Beispiele René und Obermann zeigen könnten – das Superioritätsbewusstsein des Gelangweilten auch ohne Humor bzw. Lachen auskommt. Sind es bei Chateaubriand und Senancour der Rückzug in die Einsamkeit und eine hemmungslose Egomanie, so bei Leonce die stets beißende Verachtung für jedermann und die Neigung zur körperlichen Gewalt. Bei aller Verachtung für das Wissen und das Genie ist Leonce gleichwohl selbst durchaus gebildet; so kann er nämlich nicht nur die psychischen Folgen der Langeweile wortreich und sachlich differenziert benennen, sondern auch einen psycho-

|| 184 Dieser ennuistische ›Aristocratismus‹ ist im Übrigen vollkommen frei von Fragen einer Gottlosigkeit der Welt bzw. den Problemen der rationalistischen Moderne, sondern schlicht die negative, unlustabwehrende Variante jenes Epikureismus, dessen individuelle, politische und kulturelle Destruktionswucht schon in Dantonʼs Tod kritisch reflektiert wurde. 185 Alle Zitate Hegel 1986, XV, S. 527f. 186 Siehe hierzu Hobbes 51996, S. 44f.

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logischen Terminus technicus auf seinen Zustand anwenden und ihn damit bestimmen: die Melancholie187: LEONCE. Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich jetzt keine Beschäftigung? – Ja, es ist traurig ... HOFMEISTER. Sehr traurig, Euer Hoheit. LEONCE. Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch. HOFMEISTER. Eine sehr gegründete Melancholie.188

Spätestens mit diesem Begriff der Melancholie und deren Verbindung zu den schon betrachteten Motiven der Berufsverweigerung sowie der bewussten Wahl der Langeweile stellt Büchner einen Kontext her, der die oben skizzierte Frage der Forschung, ob er mit seinem Lustspiel anthropologische, existenzialistische oder christliche, in jedem Falle aber überzeitliche Problemlagen des Menschen poetisch reflektiert oder aber historisch spezifische, d. h. sozio- und kulturhistorisch zu lozierende Themen gestaltet werden, näherhin beantworten lässt: Denn einerseits galten Ennui und Melancholie sowie deren Zusammenhang189 schon seit dem frühen 19. Jahrhundert durch Chateaubriands Réne, spätestens aber nach dem Sieg des ancien régime nach 1815 als Zeitkrankheit der Aristokratie und junger konservativer Intellektueller,190 die sich allein deshalb langweilten, weil sie weder politisch noch wirtschaftlich oder kulturell selber tätig waren, sondern in all diesen Feldern tätig sein ließen.191 Andererseits wurde dieses Gefühl schon im 19. Jahrhundert – vor allem von den Protagonisten selbst – als eine dem Menschen zukommende Emotion, als maladie du siècle, gedeutet.192 Vor diesem kontextuellen Hintergrund drängt sich folglich im Hinblick auf die selbstreflexiven Zuweisungen Leonces die Frage erneut auf: Werden Langeweile und Melancholie in Leonce und Lena als Erscheinung einer bestimmbaren sozio-politischen Klasse in einer bestimmten historischen Situation vorgestellt und kritisch analysiert193 oder aber werden sie als unverhinderbare Anthropologica, d. h. als Erscheinungen der Natur des Menschen ausgestellt,194

|| 187 Dass hier ein bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlicher psychiatrischer Terminus technicus vorliegt, belegen Schott u. Tölle 2005, S. 402–418; vgl. auch Gnüg 1990, S. 95ff.; Kubik 1991, S. 28ff.; Dörr 2003, S. 398ff. 188 P I, S. 9527–965. 189 Vgl. hierzu die allerdings ergänzungsbedürftigen, weil selbst kulturkritisch überlagerten Ausführungen bei Lepenies 21981, S. 115ff.; der von Dedner (1990, S. 153) hergestellte historische Zusammenhang, nach dem der »Gelangweilte« der »Nachfahre des Melancholikers« sei, ist mithin schlicht falsch. 190 Vgl. hierzu Mandelkow 1999 sowie Goetschel, Granger, Richard u. Venayre (ed.) 2012 . 191 Vgl. auch Gnüg 1990, S. 103. 192 Zur Debatte hierüber im Frankreich der 1830er Jahre und Büchners Stellung zu ihr vgl. Fauser 2005–08, S. 63ff. 193 So u. a. Zons 1976, S. 442f.; Greiner 1988, S. 216; Gnüg 1990, S. 95ff.; Dörr 2003, S. 397f. 194 So Voss 1987, S. 363ff.; Beise 2009, S. 79f.

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denen man letztlich gar nicht und daher nur kompensatorisch durch Sarkasmus und Gewalt begegnen kann? Die ältere Forschung hat sich die Gelegenheit, an diesem Motiv der Langeweile ihre grundsätzlichen Kontroversen auszutragen, nicht entgehenlassen. So ist für Erwin Kobel die sich in der Langeweile äußernde Schwermut des Prinzen, die der Interpret mit der Melancholie gleichsetzt, Ausdruck bzw. Konsequenz eines Glaubenszweifels, der am Motiv der Wettlust Leonces auf Pascal und dessen Korrelation von Glauben und Wette verweise.195 Diesem Problem des Glaubens an einen Gott, der – spätestens seit 1781 – nicht nachzuweisen ist und zu dem man sich folglich zu entscheiden hat, was Leonce allerdings noch unmöglich sei, kommt für den Interpreten nicht zeithistorische, sondern überzeitliche Geltung zu: »Diese Ohnmacht ist nicht ableitbar, nicht aus psychischen oder sozialen Gegebenheiten zu verstehen; sie ist nur hinzunehmen als das dem Dasein zugehörige.«196 Sieht man sich allerdings Pascals Reflexionen zur Langeweile genauer an, können an dieser Interpretation Zweifel entstehen; hierzu heißt es nämlich: Ennui. – Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaire, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent, il sortira du fond de son âme l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.197

Diese Art der Langeweile, die, wie Kobel richtig sah, aus der religiösen Unentschiedenheit resultiert und in Schwermut und Melancholie mündet, entspricht aber in ihrer Unerträglichkeit und schweren Bedrängnis nicht jener Form von Ennui, die Leonce bewusst und willentlich, zwar traurig, aber herrisch kultiviert,198 denn anders als Pascal, anders auch als Chateaubriands Réne wird Leonce von seiner Langeweile nicht nur gequält, vielmehr gilt für ihn auch: »Ich liebe meine Langeweile.«199 Auf der entgegengesetzten Seite der Interpretationsskala suchte Henri Poschmann nach dem sozialen Realitätsgehalt des Stückes, das ausgehend von der Bauernszene und unter Aufnahme der weltgeschichtlichen Komödienmetapher aus Marxens Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie als »Komödie des Status quo« interpretiert wurde.200 Sei Danton’s Tod eine Tragödie der Revolution, so Leonce und

|| 195 Siehe hierzu Pascal 1897, S. 56–60 (Fr. 233). 196 Kobel 1974, S. 218; vgl. hierzu noch Eke (2012, S. 185), der davon spricht, Büchner habe die Langeweile »entsozialisiert«. 197 Pascal 1897, S. 33 (Fr. 131). 198 Diese substanzielle Differenz lässt MBA VI, S. 343, die Pascal als Quelle angibt, allerdings unerwähnt. 199 P I, S. 10113/MBA VI, S. 10416f.. 200 Vgl. Poschmann 1981 sowie Poschmann 1985, S. 179–233.

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Lena eine Komödie der Restauration.201 Dafür müssen allerdings die zentralen Motive der Langeweile und der Melancholie des Thronfolgers marginalisiert, damit aber ein zentraler Gehalt dieses Lustspiels verfehlt werden. Auch wenn unbestreitbar ist, dass man – wie u. a. Kobel – die Bauerszene ignorieren muss, wenn man das büchnersche Lustspiel als religionsphilosophische Reflexion auf den Gottesverlust der Moderne deuten will, ist der streng soziokritischen Position entgegenzuhalten,202 dass die unbestreitbar romantischen Motive wie die Langweile, die Melancholie und die ungewöhnliche Liebeshandlung aus einer Interpretation der Bauernszene und deren soziopolitischem Gehalt nicht abzuleiten sind (et vice versa), wenn man nicht – wie in der Kompromissformel der ›Berliner Interpretation‹ – diese romantischen Motive als Positionen des Stückes im Sinne einer revolutionären oder immerhin gesellschaftskritischen Reflexion deuten will.203 Für eine angemessene Interpretation der unverkennbar zentralen Motive der Langeweile und der Melancholie als keineswegs nur passiv erlittene, sondern von Leonce auch aktiv gesuchte bzw. erhaltene Leidzustände204 kann eine Kontextualisierung hilfreich sein, die die bisherigen Quellenangaben und den dadurch gesteckten Kontextrahmen zwischen Pascal, Goethe und Tieck verlässt.205 Berücksichtigt man nämlich – wie schon angedeutet – die seit Chateaubriands René ab 1802 geführte französische Debatte206 und dabei zunächst den 1804 in erster, 1833 aber in zweiter und europaweit erfolgreicher Auflage publizierten Briefroman Obermann von Étienne Pivert de Senancour,207 dann lassen sich schon auf den ersten Blick zwischen der Verweigerung Leonces, den ihm obliegenden Beruf, ja überhaupt einen Beruf zu ergreifen, und seiner gepflegten, ja geliebten Langeweile bemerkenswerte Korrelationen beobachten, so heißt es bei Senancour: Il fallait choisir, il fallait commencer, pour la vie peut-être, ce que tant de gens, qui n’ont en eux aucune autre chose, appellent un état. Je n’en trouvai point qui ne fût étranger à ma nature, ou contraire à ma pensée. J’interrogeai mon être, je considérai rapidement tout ce qui m’entourait; je demandai aux hommes s’ils sentaient comme moi; je demandai aux choses si elles étaient selon mes penchants, et je vis qu’il n’y avait d’accord ni entre moi et la société, ni entre mes besoins et les choses qu’elle a faites. Je m’arrêtai avec effroi, sentant que j’allais livrer ma vie à des ennuis intolérables, à des dégoûts sans terme comme sans objet.208

|| 201 So auch Fortmann 2013, S. 63, S. 69, S. 132ff. 202 Die u.a. von Jancke 31979 und S. Mayer 1979a vertreten sowie von Werner 1992; Knapp 32000, S. 167ff. oder noch Glück 2013–15 weiterentwickelt wurde. 203 So u. a. Voss 1987; Dedner 1990; Beise 2002; Beise 2005–08; Beise 2009; Beise 2012. 204 Siehe hierzu auch Thorn-Prikker 1978, S. 106f. 205 Siehe hierzu vor allem MBA VI, S. 434. 206 Vgl. hierzu u. a. Maler 1978, S. 200ff.; Mandelkow 1999. 207 Zu einem kontextuellen Zusammenhang beider Texte vgl. schon Fauser 2005–08, S. 67f. 208 Senancour 1863, S. 23f.

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Auch für Obermann, den Schreiber dieser Zeilen, ist es wie für Leonce unmöglich, einen Beruf zu ergreifen, weil dies seiner Natur widerspräche, sodass er sein Leben auf einen »ennui intolérable« zusteuern sieht. Erst im Verlauf der folgenden Episteln wird für den Briefschreiber ersichtlich, dass ihm seine Entscheidung gegen jeden Beruf eine Unabhängigkeit (»l’indépendance«) ermöglicht, die zu »fruit amer et précieux de mes longs ennuis« führen kann.209 Doch nicht nur die strenge Distinktion von unmöglichem Beruf und bewusster Langeweile, die sich von einer psychischen Bedrängnis zu einem erwählten Zustand modifiziert, sondern auch die Verbindung dieser spezifischen Konstellation mit dem Begriff der Melancholie ist im Obermann vorgezeichnet: Il y a dans moi un dérangement, une sorte de délire, qui n’est pas celui des passions, qui n’est pas non plus de la folie: c’est le désordre des ennuis; c’est la discordance qu’ils ont commencée entre moi et les choses; c’est l’inquiétude que des besoins longtemps comprimés ont mise à la place des désirs. […] D’où vient à l’homme la plus durable des jouissances de son cœur, cette volupté de la mélancolie, ce charme plein de secrets, qui le fait vivre de ses douleurs et s’aimer encore dans le sentiment de sa ruine?210

Die eigentümliche Verknüpfung von Berufsverweigerung, Entstehung und Nobilitierung der Langeweile sowie deren Ausweitung zu einer Melancholie ist folglich schon in diesem Roman der französischen Frühromantik, der ab 1833 eine größere Öffentlichkeit erreichte,211 entfaltet. Dabei ist in beiden Fällen die der Langeweile entspringende Melancholie ein ebenso ›wollüstiger‹ wie stets fragiler, gefährlicher Zustand, der bei Obermann wie bei Leonce zu suizidalen Gedanken oder Handlungen führt.212 Obwohl beide Texte aus dem nämlichen Kontext stammen, lassen sich wenigstens zwei grundlegende Unterschiede zwischen dem französischen Briefroman und dem deutschen Lustspiel ausmachen: Zum einen bleiben die schier endlosen Reflexionen auf den Ennui und dessen pathologischen und/oder kreativen Status bei Senancour ohne jeden Humor; Obermann gelingt aus seiner Langeweile heraus höchstens ein »sourire du désespoir«,213 während Leonce zwar selber kaum lacht, in seiner kapriziösen Suche nach Gründen und Anlässen für die Verhinderung einer Machtübertragung aber immerhin Komisches unterschiedlicher Arten evoziert. Dar-

|| 209 Ebd., S. 28. 210 Ebd., S. 100–102. 211 Weil in unserem Zusammenhang Kontextualisierungsfragen die entscheidende Rolle spielen, ist die Frage, ob Büchner den Roman gekannt hat, von geringerer Bedeutung; gleichwohl mag die Formulierung: »Si on trouve plus de paix et de bonne humeur dans les cabanes que dans les palais, c’est que l’aisance est plus rare dans les palais que dans les cabanes« (ebd., S. 401) eine frühe Kenntnis nahelegen. 212 Vgl. Senancour 1863, S. 170f. 213 Ebd., S. 404.

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über hinaus ist Senancours Protagonist und Briefschreiber sozial und politisch kaum ausgewiesen (er ist nicht arm, aber explizit auch nicht reich), während Leonce als Aristokrat, Prinz und Thronfolger durch soziale und politische Rollen ausgewiesen ist, was für die Evokation des besonderen Humors dieses Lustspiels eine erheblich Rolle spielt. Mithilfe dieser Kontextualisierung deutet sich aber schon an, dass Büchner mit seinem Lustspiel ebendarauf abzielte, bei aller detaillierten und analytischen Darstellung jener maladie du siècle die ihr zugrundeliegende Haltung und Weltanschauung sozial zu verorten und dem Pathos romantischer Selbstbespiegelung durch Gestaltung unterschiedlicher Humorformen und -dimensionen zu entziehen.214 Mit seiner Figur des melancholischen Thronfolgers und dessen Humorverständnis reflektiert Büchner kritisch darauf, dass Langeweile und Melancholie keineswegs sozial und politisch indifferente, überzeitliche Probleme des in der gottlosen oder rationalistischen Moderne ortlosen ›Menschen‹ sind, sondern vielmehr dem Habitus einer spezifischen soziopolitischen Gruppierung entsprechen, die sich solcherart psychische Disposition leisten kann und will. Mit Blick auf Obermann zeigt sich darüber hinaus, dass diese Haltungen nicht nur durch äußere Bedingungen erzwungen, sondern gewählt, ja gegen Anwürfe verteidigt sein können, und damit insgesamt, dass ein romantisches Weltverhältnis, das in emotiver Selbstbespiegelung scheinbar wortreich im Privaten verharrt, politisch bedrohlich bleibt, weil es die Willkür sexueller Leidenschaft des ancien régime durch die Passion allgemeiner Weltverachtung als Movens souveräner Handlungen ersetzt. Diese politische Romantik löst das gescheiterte Konzept des Philosophenkönigs durch den Zynismus einer Melancholie ab, die eine Orientierung des Handelns an Werten (Idealen) nur noch komisch findet. Dabei propagiert oder gestaltet Büchners Stück diese

|| 214 Das gilt auch bei einem Blick auf die Gestaltung der Motive von Langeweile und Melancholie in den Büchner als Quellen dienenden Stücken Mussets und Brentanos; denn in Fantasio ist es gerade nicht der aristokratische Herrscher, der aus Langeweile melancholisch wird, sondern ein junger städtischer Intellektueller, der zwar als Ennui auch zum Melancholiker erklärt wird, dem es aber an jedem herrischen oder gar gewaltbereiten Habitus mangelt; vor allem aber leidet Fantasio – anders als Leonce – an eben jenem Problem, das die christliche Büchner-Forschung von Kobel über Wittkowski bis Kurzke in Büchners Melancholie-Analyse entdecken möchte: die Klage über den Verlust der Religion: »Fantasio: L’amour n’existe plus, mon cher ami. La religion, sa nourrice, a les mamelles pendantes comme une vieille bourse au fond de laquelle il y a un gros sou. L’amour est une hostie qu’il faut briser en deux au pied d’un autel et avaler ensemble dans un baiser; il n’y a plus d’autel, il n’y a plus d’amour. Vive la nature ! il y a encore du vin.« (Musset 1888, III, S. 232; auch in MBA VI, S. 365). Auch Brentanos Ponce ist zwar als Aristokrat gelangweilt und melancholisch, er sträubt sich sogar vor Arbeit, aber ihm fehlt jede politische Herrscherattitüde, wie es dem Stück überhaupt – als ›reiner Komödie‹ – an staatspolitischen Dimensionen mangelt. Beide Stücke dienen Büchner daher eher als ›Steinbrüche‹ für komödienwirksame Motive denn als »konzeptionsbestimmende Vorbilder« (so aber Dedner 1990, S. 124).

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Romantik nicht ästhetisch,215 sondern leistet eine kritische Analyse politischer Romantik mit deren literarischen Mitteln.216 Dieser Deutungsversuch lässt sich unterstützen durch den Blick auf einen Kontext, der durch Bezug auf eine literarische Reflexion auf die Motive von Langeweile und Melancholie eines soziopolitischen Funktionsträgers hergestellt werden kann. Denn in Stendhals Le Rouge et le Noir spielt das »siècle ennuyé« eine prägende Rolle, und zwar vor allem während des Protagonisten Aufenthalt im Hôtel de la Mole, eines durch den täglich ausgerichteten Salon der Hausdame einflussreichen gesellschaftlichen Zentrums im Paris des Jahres 1830. Dabei wird die adelige Familie de la Mole durch Langeweile geradezu charakterisiert: Il y avait trop de fierté et trop d’ennui au fond du caractère des maîtres de la maison ; ils étaient trop accoutumés à outrager, pour se désennuyer, pour qu’ils pussent espérer de vrais amis. Mais, excepté les jours de pluie et dans les moments d’ennui féroce, qui étaient rares, on les trouvait toujours d’une politesse parfaite.217

Neben dem ständebedingten Stolz ist es die Ausstellung einer spezifischen Langeweile, die diese Pariser Aristokratie des Revolutionsjahres 1830 in besonderer Weise charakterisiert, weil sie als Instrument sozialer Distinktion eingesetzt wird und damit als Ausweis persönlicher Leistung fungiert. Dabei wird – wie für Leonce218 – das zynische Lästern, das ›outrager‹ zum Kompensationsinstrument des zugleich gepflegten Ennui, der folglich zur Bedingung der Möglichkeit, zur Motivationsgrundlage für die angestrebte Hierarchieherstellung dient. Der bürgerliche Protagonist des Romans, Julien Sorel, hat allerdings erst zu lernen, den psychischen Zustand der Langeweile zum disponiblen Habitus und damit zum Kommunikationsgegenstand zu machen, um die ersehnte Aufmerksamkeit der Tochter des Hauses zu erzielen. In einer berühmten Passage setzt Stendhal diesen Prozess in Szene: Un matin que l’abbé travaillait avec Julien, dans la bibliothèque du marquis, à l’éternel procès de Frilair : — Monsieur, dit Julien tout à coup, dîner tous les jours avec madame la marquise, est-ce un de mes devoirs, ou est-ce une bonté que l’on a pour moi? — C’est un honneur insigne! reprit l’abbé, scandalisé. Jamais M. N… l’académicien, qui, depuis quinze ans, fait une cour assidue, n’a pu l’obtenir pour son neveu M. Tanbeau. — C’est pour moi, monsieur, la partie la plus pénible de mon emploi. Je m’ennuyais moins au séminaire. Je vois bâiller quelquefois jusqu’à mademoiselle de La Mole, qui pourtant doit être

|| 215 So insbesondere Beise 2005–08 sowie Beise 2012. 216 Zwar mag Büchner den Terminus ›Romantik‹ stets pejorativ verwendet haben (so Hauschild 2013, S. 234, der in unnachahmlicher ›Präzision‹ von »Wortgeklingel« spricht), den Begriff und die Sache der Romantik nahm Büchner allerdings – vor allem in politischer Hinsicht – ernst. 217 Stendhal 2013, S. 320. 218 Dass Leonce ein Zyniker ist – von Beise 2005–08, S. 93 vehement bestritten – zeigen auch Abutille 1969, S. 92f. und Schulz 2016, S. 126f.

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accoutumée à l’amabilité des amis de la maison. J’ai peur de m’endormir. De grâce, obtenezmoi la permission d’aller dîner à quarante sous dans quelque auberge obscure. L’abbé, véritable parvenu, était fort sensible à l’honneur de dîner avec un grand seigneur. Pendant qu’il s’efforçait de faire comprendre ce sentiment par Julien, un bruit léger leur fit tourner la tête. Julien vit mademoiselle de La Mole qui écoutait. Il rougit. Elle était venue chercher un livre et avait tout entendu, elle prit quelque considération pour Julien. Celui-là n’est pas né à genoux, pensa-t-elle, comme ce vieil abbé. Dieu! qu’il est laid.219

Obwohl er ihre Mutter der Langeweile zeiht und damit im Rahmen der Werteordnung dieses aristokratischen Hauses tief beleidigt, steigt Julien im Ansehen der Tochter, die alsbald eine Liaison mit ihm beginnt. Zugleich fällt der Abbé innerhalb dieser neuen Werteordnung weit ab, weil er die überkommene Hierarchie und den damit verbundenen Habitus des Domestiken verteidigt. Nicht nur das Phänomen der Langeweile als eines gesellschaftlichen, sondern der konfliktuöse Umgang mit ihm in einem Land, das kurz vor revolutionären Umwälzungen steht, hat Stendhal an dieser Stelle mit großer Finesse reflektiert. Mit ebensolcher Eindringlichkeit hat Erich Auerbach die soziohistorische Substanz der Passage rekonstruiert und damit produktive Hinweise auch für eine Interpretation der büchnerschen Komödie geliefert: Schon die Langeweile am Tisch und in den Salons dieses hochadeligen Hauses, über die Julien sich beklagt, ist keine gewöhnliche Langeweile; sie rührt nicht her von den zufälligen persönlichen Stumpfheit der dort zusammentreffenden Menschen, es finden sich darunter auch höchst unterrichtete, geistreiche, zuweilen bedeutende Personen, und der Herr des Hauses ist intelligent und liebenswürdig; es handelt sich vielmehr bei dieser Langeweile um ein politischgeistesgeschichtliches Phänomen der Restaurationszeit […]. Aus dem Bewußtsein, daß sie bei jeder offenen Auseinandersetzung unterliegen müßten, zieht man es vor, nur noch vom Wetter, von Musik oder vom Hofklatsch zu sprechen.220

Liest man Stendhals literarische Phänomenologie der Langeweile und deren Interpretation durch Auerbach als Kontext von Leonce und Lena, dann lässt sich erkennen, dass Büchner den Ennui keineswegs als Anthropologicum – auch nicht als systemkritisches – inszenierte, sondern als Habitus einer insofern »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft«,221 als diese von ihrem politisch und sozial prekären Status einer historisch überholten und daher gefährdeten gesellschaftlichen Elite wusste. Aus Furcht vor dem Verlust dieses Status, dessen staatspolitische Verpflichtungen Leonce zu verhindern sucht, verbietet man sich ein Denken und Sprechen über mehr als langweilige Gegenstände – so beispielsweise die eigene Langeweile – und kompensiert die psychischen und sozialen Konsequenzen dieses Verbots mit hemmungslosem Sarkasmus. Erst diese soziopsychologische Sicht auf die von Büchner

|| 219 Stendhal 2013, S. 322f. 220 Auerbach 102001, S. 423. 221 MBA X.1, S. 9332.

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poetisch reflektierten Phänomene der Langeweile und der Melancholie zeigen den Zusammenhang mit der in Leonce und Lena wie in Le Rouge et le Noir gestalteten ›humoristischen‹ Herablassung, indem man sich »cruelle pour les ennuyeux«222 gebärdet, wie dies Mademoiselle de la Mole gegenüber einigen Salonbesuchern und Leonce gegenüber seiner Mätresse oder seinem Narren vorführt. Dieser Zusammenhang zwischen Langeweile und Sarkasmus wird noch genauer zu betrachten sein. Vorerst ist das persönliche wie politische Ausmaß der Langeweile als »politischgeistesgeschichtlichem Phänomen der Restaurationszeit« genauer zu betrachten, weil auch Büchner ebendiese Phänomene ausführlich reflektiert. Denn bei aller als gelangweilt bzw. melancholisch inszenierten Willens- und Handlungsschwäche des Prinzen, an der er gleichwohl energisch festhält,223 wie seine herrische Zurechtweisung des Hofmeisters und seine Neigung zur körperlichen Gewalt zeigten,224 ist er sich doch über eine Absicht uneingeschränkt im Klaren: Er will der durch seinen Vater aufgezwungenen Heirat unbedingt entgehen, nicht etwa weil er einen Oppositionsgeist in sich entdeckt hätte, sondern lediglich, weil auch diese Verbindung selbst wie die daraus folgende Konsequenz, nämlich die Übernahme der monarchischen Herrschaft, für ihn insofern Langeweile bedeutete, als er – mit Auerbach – darum weiß, dass die Zeiten absolutistischer Herrscher abgelaufen sind, was sich aber aus Angst vor der Revolte nicht thematisieren lässt.225 Um dem Problem zu entgehen, Ehemann und Herrscher werden zu müssen, imaginiert sich der Thronfolger mit seinem Narren in andere Beschäftigungsformen hinein, die allerdings viele der Handlungen erneut aufnehmen, die Leonce noch kurz zuvor ihrer lächerlichen Wichtigtuerei und Scheinheiligkeit wegen verachtet hatte. Was also bleibt als Alternative für den elitären, illusionslosen Melancholiker? Mit Valerio, der dem Prinzen vergeblich das Amt des Königs als eine ›unterhaltende‹, also Langeweile abwehrende Aufgabe anpreist, geht er die Möglichkeiten durch: VALERIO. Nun Sie sollen König werden, das ist eine lustige Sache. Man kann den ganzen Tag spazieren fahren und den Leuten die Hüte verderben durchʼs viele Abziehen, man kann aus ordentlichen Menschen ordentliche Soldaten ausschneiden, so daß Alles ganz natürlich wird,

|| 222 Stendhal 2013, S. 323. 223 Es gehört zur komplexen Komik dieses Lustspiels, dass Büchner die Antinomie gewollter Willensschwäche präziser als andere Autoren der maladie du siécle herausarbeitet; denn anders als Obermann, der diesem Bedürfnis nach Langeweile eher hilflos ausgeliefert ist, dokumentiert Büchner nicht nur den konstitutionellen Zug dieses Willens zur Langeweile für den Ennui, er verortet ihn zudem erkennbar soziopolitisch, weil diese ennuistische Dialektik nur einer Klasse Herrschender zukommen kann, die von ihrer hoffnungs-, also alternativlosen Obsoleszenz weiß. 224 Neben der oben schon zitierten Passage zur Gewaltneigung aus Neid steht die Androhung von Prügeln für seinen Narren: »Leonce. Ich habe ein große Passion dich zu prügeln […] Denn du bekommst Prügel für deine Antwort« (P I, S. 1056ff.). 225 So auch Berns 1987, S. 219.

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man kann schwarze Fräcke und weiße Halsbinden zu Staatsdienern machen, und wenn man stirbt, so laufen alle blanken Knöpfe blau an und die Glockenstricke reißen wie Zwirnsfäden vom vielen Läuten. Ist das nicht unterhaltend? LEONCE Valerio! Valerio! Wir müssen was Anderes treiben. Rathe! VALERIO Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft! Wir wollen Gelehrte werden! a priori? oder a posteriori? LEONCE a priori, das muß man bei meinem Herrn Vater lernen; und a posteriori fängt Alles an, wie ein altes Mährchen: es war einmal!226

Ersichtlich ist auch für den Narren Valerio die Übernahme der Macht nur ein Instrument des Amüsement zur Vertreibung von Langeweile, selbst das Ausheben einer Armee und der Aufbau einer Staatsverwaltung dient ausschließlich diesem individuellen Zweck, der damit aber das nach dem Hessischen Landboten eigentliche telos politischer Herrschaft, die Beförderung des Gemeinwohls,227 verfehlen muss. Und in der Tat: Wenn für den Ennui alle menschlichen Handlungen nur mehr oder weniger raffinierter Müßiggang sind,228 dann ist auch jede politische Handlung eines Souveräns auf diesen individuellen Zweck ausgerichtet. Nach dieser hedonistisch-melancholischen Anthropologie kann es auch in der Politik ausschließlich jenen individuellen Handlungszweck geben, und daher anders ausgerichtetes politisches Handeln nur lächerlicher Selbstbetrug sein. Letzterem aber will, ja muss sich Leonce, weil er niemals »jemand Anderes«229 sein kann, verweigern.230 Klar wird durch die zitierte Passage darüber hinaus, dass nicht nur König Peter, sondern auch Valerio und Leonce in den Grundlagen zeitgenössischer Philosophie geschult sind. Denn a priori heißt vor aller Erfahrung, was seit Leibniz solcherart Erkenntnisse sind,231 die der Mensch vor aller Erfahrung hat oder haben kann, so die

|| 226 P I, S. 10727–1085/MBA VI, S. 1094–14. 227 Vgl. hierzu Stiening 2012b sowie meine Ausführungen in Kap. 4. 228 Vgl. hierzu Beckers 1961, S. 55. 229 P I, S. 9630/MBA VI, S. 10039. 230 Die mehr mit ihren eigenen Dogmen als mit einer Textanalyse beschäftige Forschung interpretiert das vergebliche und daher Gewaltphantasien evozierende Bedürfnis, »jemand Anderes« zu sein, nämlich eine solche Person, die ihre Tätigkeiten als solche ernst nimmt, damit, dass »Leonces Wunsch, ein Anderer zu sein, […] definiert« sei »als Befreiung von der Last des Denkens, als Befreiung damit auch von der Erinnerung an die Idee des Anderen (Utopischen), die als negativ im Positiv des Wunsches anwesend bleibt« (Eke 2012, S. 187). Nichts von alldem steht bei Büchner. Auch die Annahme, dieser Wunsch sei eine anthropologische Konstante (Heinz 2005, S. 253) ist nach der Rekonstruktion der ganz zeittypischen Gründe nicht zu halten; es ist die Figur, die dieses Bedürfnis anthropologisiert, das Stück hingegen zeigt dessen soziohistorische Bedingtheit. 231 Daher bezeichnen diese erkenntnistheoretischen Begriffe keineswegs Methoden, wie man in der MBA VI, S. 469 lesen kann; darüber hinaus ist die einseitige Quellenverbindung zu Kant (so bei Hinderer 1977, S. 143; P I, S. 628; Knapp 32000, S. 164 oder Martin 2012, S. 193f.) irreführend, weil diese Unterscheidung auch schon von Leibniz vorgenommen wurde und damit jener philosophischen Systematik des Rationalismus zukommt, die auch König Peter vertritt; vgl. hierzu u. a. Schepers 1971.

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Einsicht in den Unterschied zwischen Gut und Böse, den Satz des Widerspruchs oder den Satz des Grundes, d. h. Grundeinsichten der oben schon aufgerufenen Ontologie. A posteriori sind dagegen solche Erkenntnisse, die man durch und damit nach der Erfahrung haben kann.232 Erneut wird aber ersichtlich, dass für den Ennui auch die Wissenschaften, ersehntes Ziel des Königs, nur Langeweile bereithalten können, weil man die Erkenntnis a priori, also jene der dogmatischen oder transzendentalen Metaphysik nur bei dem verachteten, vor allem aber überlebten Vater erlernen könne. Damit erfolgt die Begründung für die Zurückweisung der Philosophie als Beschäftigung durch den ennuistischen ›Aristocratismus‹, wie ihn Auerbachs Sicht auf Stendhal nahelegte: Nur weil diese Metaphysik von einem als gesellschaftlich und politisch überholten Amtsträger ausgeübt wird, gilt sie elitären Melancholikern und Opportunisten der kommenden Revolution als langweilig und daher unattraktiv. Vergleichbares gilt für Erkenntnisse a posteriori: Dieses Erfahrungswissen verbreitet nach Leonce nämlich lediglich Märchen, also dem Scheine nach ebenfalls vergangene, letztlich aber erfundene und übernatürliche Einsichten. Die Pragmatik des melancholischen Politromantikers weiß nämlich um die Obsoleszenz auch des Märchenhaften in den kommenden Zeiten jener nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, in der alles Romantische einem metaphysischen Realismus weichen muss.233 Spätestens die Zurückweisung der sensualistisch geprägten Märchenromantik in Leonces Replik muss jeden Versuch, das Stück als Ganzes der Romantik zuzuschreiben,234 scheitern lassen, weil schon der Protagonist des Stückes – wie erst recht das Stück selber – von dem Vergangenheitscharakter alles romantisch Übernatürlichen, insbesondere auf dem Feld der Staats- und Gesellschaftspolitik überzeugt ist. Dass Leonce darüber hinaus den strengen Empirismus als Märchen zurückweist, dokumentiert, dass selbst der politische Romantiker weiß, dass weder dem metaphysischen Rationalismus noch dem physischen Empirismus die Zukunft gehört.235 Alle Wissenschaft ist folglich für den selbstreflektierten, illusionslosen Ennui als Beschäftigung unmöglich geworden, weil sie auf jene Vergangenheit fixiert ist, die der die Bedeutungslosigkeit fürchtende Melancholiker überwinden muss. Für den durch lebenslange Untätigkeit gelangweilten Leonce können beide Formen der Wissenschaft keine Alternative zum Herrscherberuf bieten. Die »nach allen Richtungen abgekitzelte Klasse«236 kann sich mit der Wahrheit der Wissenschaft nicht || 232 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen dieser Distinktion bei Hillebrand 1826, S. 2. 233 Zu der überzeugenden These, dass Büchners Lustspiel eine Reflexion zur Übergangsphase des Vormärz sei, vgl. Viëtor 1949 sowie Hans Mayer 1972. 234 So schon Dedner 1990, vor allem aber Beise 2009 und Beise 2012. 235 Weil nämlich niemand, so weiß auch der Philosophiehistoriker Büchner, am Kritizismus vorbeikommt; vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 2. 236 MBA III.2, S. 2415–19.

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mehr beschäftigen; sie ist – so zeigt Leonce und Lena – zur Wissenschaft und damit zur Zukunft der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unfähig.237 Das zeigt sich auch in Bezug auf den zweiten Vorschlag, den der Narr als Alternativbeschäftigung macht: den soldatischen Helden. Diese Beschäftigung hatte Leonce jedoch schon zuvor als für ihn wirkungslose Form der Langeweile-Abwehr zurückgewiesen, weil er davon weiß, dass die Existenz des soldatischen Helden nichts weiter ist, als der untaugliche Versuch, Ennui und Melancholie zu vertreiben. Und für Leonce gilt: Sobald er darum weiß, dass eine bestimmte Tätigkeit nur dem Versuch der Befreiung von Langeweile dient, insofern ihren Zweck außer ihrer selbst hat, ist es für ihn unmöglich, sie auszuüben: VALERIO So wollen wir Helden werden. Er marschiert trompetend und trommelnd auf und ab. Trom – trom – pläre – plem! LEONCE Aber der Heroismus fuselt abscheulich und bekommt das Lazarethfieber und kann ohne Lieutenants und Rekruten nicht bestehen. Pack dich mit deiner Alexanders- und Napoleonsromantik!238

Auch der Weg in den politisch-militärischen Aktionismus ist dem Prinzen verwehrt, weil er ihn als Produkt des Alkoholismus interpretiert, der zudem durch militärische Hierarchien allererst konstituiert wird, die wenig Neues bieten, folglich Langeweile androhen. Das Feld der Politik – für einen Prinzen und zukünftigen Herrscher notwendig verbunden mit dem Handeln als militärischer Befehlshaber gleichsam als »bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«239 – ist folglich ebenfalls für den Gelangweilten verbaut. ›Romantisch‹ ist solcherart Überhöhung dieses Heroismus, weil er an der historischen Bedeutsamkeit individueller militärischer Leistung – wie die Alexanders oder Napoleons – festhält, während der gelangweilte Aristokrat nicht nur um seine, sondern auch um die Obsoleszenz solcher Helden weiß. Wie für Hegel240 – aber anders als für Grabbe241 – so ist auch für Leonce das Zeitalter großer Individuen beendet. Anders als Hegel aber zieht der politische Spätromantiker daraus den Schluss, Militär und Politik kämen für ihn nicht in Frage: der gelangweilte Aristokrat ist nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch impotent.242 Auch den nächsten Vorschlag des Narren hatte Leonce schon in seinem Monolog für sich zurückgewiesen:

|| 237 Leonce, der von der Berliner Interpretationslinie als alter ego Büchners interpretiert wird (vgl. u. a. Beise 2005–08, S. 89), ist als Wissenschaftsverächter in Wahrheit nicht nur das Gegenteil, sondern der szientifische und politische Gegner des aufstrebenden jungen Naturforschers und Gesellschaftskritikers. 238 P I, S. 1086–12/MBA VI, S. 10917–21. 239 Clausewitz 1832–1834, I, S. 28. 240 Vgl. hierzu Hegel 1986, XII, S. 28. 241 Vgl. hierzu Beßlich 2007, S. 247ff. 242 Zum Verhältnis von Melancholie und der Unfähigkeit zur Politik vgl. auch Gnüg 1990, S. 99.

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VALERIO. So wollen wir Genies werden. LEONCE. Die Nachtigall der Poesie schlägt den ganzen Tag über unserm Haupt, aber das Feinste geht zum Teufel, bis wir ihr die Federn ausreißen und in die Tinte oder die Farbe tauchen.243

Erst recht gilt also für die Dichtung bzw. Malerei, vor allem eine genialische Dichtung und Malerei, dass sie untauglich ist, Leonces Problem zu lösen, weil eine der Bedingungen ihrer Möglichkeit jene Melancholie ist, die er sich selbst als pathologisches Produkt seiner Langeweile attestierte und die er loszuwerden wünscht. Denn die »Nachtigall der Poesie« steht schon in der antiken Tradition, verstärkt in der Lyrik der Empfindsamkeit und der Romantik nicht für Dichtung überhaupt,244 sondern für einen melancholischen Gesang,245 der einer Gleichzeitigkeit von Liebe und Trauer entsprungen ist. So heißt es bei Brentano: NACHTIGALL Sehnsucht, Schwermut, Wehmut, O wie schwüle Gefühle fühle Ich im kleinen Herzen, Daß ich stolz in Demut, Recht im Glutgewühle Mir den Mut erkühle Und in bitteren Schmerzen Süß kann scherzen O du Liebeswiderspruch!246

Und bei Eichendorff wird der Gesang der Nachtigall vollends zum Ausdruck einer unstillbaren WEHMUT Ich kann wohl manchmal singen, Als ob ich fröhlich sei, Doch heimlich Tränen dringen, Da wird das Herz mir frei. So lassen Nachtigallen, Spielt draußen Frühlingsluft, Der Sehnsucht Lied erschallen Aus ihres Käfig Gruft.247

|| 243 P I, S. 10813–17/MBA VI, S. 10922–25. 244 So MBA VI, S. 472. 245 Vgl. hierzu auch Häfner 2014, S. 73ff., der vor allem Heines Verbindung von Nachtigallengesang und Melancholie betrachtet. 246 Brentano 21978, I, S. 247. 247 Eichendorff 1987, I, S. 68.

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Noch Heine wird 1839 die »Nachtigall« von »Lieb und Liebeswehe« singen lassen.248 Es ist aber eben jene Wehmut, Sehnsucht bzw. jener Liebeswiderspruch, den Leonce »den ganzen Tag über unserem Haupt« schlagen hört, wobei das Possessivpronomen nicht den Menschen, sondern den Melancholiker meint. Diesem tönt aber aufgrund seiner Stimmungslage nicht nur den ganzen Tag der Nachtigallengesang über dem Kopf; jenem Gesang fehlt darüber hinaus »das Feinste«, weil es während des Gesangs »zum Teufel« gehe. Damit referiert Büchners Leonce auf die Sprachlosigkeit des melancholischen Gesangs der Nachtigall, in die der antiken Mythologie zufolge Philomele verwandelt wird, nachdem sie – aus Rache für ihre Vergewaltigung durch Tereus – ihren Peiniger ohne dessen Wissen seinen Sohn verspeisen ließ. Tereus hatte aber nach der Vergewaltigungstat Philomele die Zunge herausgeschnitten, damit sie ihn nicht verraten könne.249 Entscheidend ist, dass der ›zungenlosen Nachtigall‹ das Feinste an ihrem Gesang, die Sprache, fehlen muss, so dass der Melancholiker, von dem sprachlosen Gesang entnervt, seiner Nachtigall die Feder ausreißt, um diese zur Produktion von Dichtung oder Malerei zu verwenden, sie dafür jedoch töten muss.250 Genialischer Gesang und Kunst fallen also für den ›Ennui und Melancholiker der Restaurationszeit‹ unüberbrückbar auseinander; damit bleibt aber das Genie an eben jenen Zustand gebunden, den Leonce überwinden will, die Kunst bleibt ohne jedes Genie, so dass ein dichtender Prinzenflüchtling für den Melancholiker ein Widerspruch in sich bleibt, der die Dichtung zerstört, die Nachtigall rupft und sie in Tinte oder Farbe ersäuft.251 Nach Wissenschaft, militärischem Heroismus und genialischer Kunst bleibt noch eine letzte, rationale Alternative, die der Narr dem herrschaftsunwilligen, weil gelangweilten Prinzen als Alternative vorschlägt:

|| 248 Vgl. Heine 1976, I, S. 14 (Vorrede zur dritten Auflage des Buchs der Lieder). 249 Vgl. Ovid: Metamorphosen VI, 424–674. 250 Allein an diesem, von der Forschung selten ausgedeuteten Bild der ›gerupften Nachtigall‹ der Poesie ersieht man Büchners Umgang mit der Romantik, der keineswegs zu einer Reproduktion romantischer Bilder- und Formsprache sowie deren Gehalte führt (so aber schon Dedner 1990 und noch Beise 2012), sondern vielmehr zu einem bisweilen drastisch-analytischen Blick auf die unwiderrufliche Obsoleszenz dieser Ästhetik und Weltanschauung, dabei kommt die Melancholie ob dieser Unwiederbringlichkeit ausschließlich ihren überlebten Protagonisten zu. Büchner ist folglich kein Romantiker, sondern sein Lustspiel – wie schon Viëtor und Mayer erkannten – eine Inszenierung des Übergangs von der Romantik zu den neueren Formen sensualistischer Lebensbejahung – und zwar im Modus der ›komischen‹ Kritik am Vergehenden. 251 Insofern ist Leonces Bild von der Nachtigall der Poesie, bei der das Feinste zum Teufel gehe, keineswegs eine Allegorie auf das »Geniale […] als das nichtplanbare Gnadengeschenk« (Kurzke 2013, S. 46), sondern vielmehr ein Hinweis Büchners auf die notwendige Trennung von Genie und dichterischer und bildender Kunst nach der Kunstperiode.

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VALERIO. So wollen wir nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden. LEONCE. Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.252

Auch eine gleichsam bürgerliche Existenz in Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, die Valerio mit dem Kernbegriff der Nützlichkeit fasst, wird von dem gelangweilten Prinzen zurückgewiesen – allerdings in einer spezifischen Schärfe: ›Lieber tot als nützlich‹, so die Quintessenz. Diese verächtliche Zurückweisung wird von einem Teil der Forschung gerne als Kritik des Autors an der »bürgerlichen Nützlichkeitsmoral« interpretiert.253 Bleibt man im Rahmen der dialogischen Argumentationsführung des Textes, so erweist sich Leonces Präferenz für das Sterben vor einer Einbindung in die Funktionszusammenhänge der menschlichen – also keineswegs nur der bürgerlichen – Gesellschaft, damit aber – nach dem Autor des Hessischen Landboten – in eine Arbeit für das Gemeinwohl,254 erneut nur als Ausfluss jenes ›Aristocratismus‹, den Büchner als die »Verachtung des Heiligen Geistes im Menschen«255 emphatisch kritisierte. Dieser ›Geist‹ im Menschen realisiert sich nämlich in Denken und Handeln und daher u. a. in Wissenschaft und Politik und ist in diesen Formen der menschlichen Gesellschaft und ihrem telos, der Mehrung des Gemeinwohls, nützlich. Diese Vermögen und Leistungen des Menschen dergestalt zu verachten, dass man sich lieber tot als nützlich wünscht, kann nur von einer Melancholie hervorgebracht werden, die mitnichten existenziell, sondern vielmehr sozial in der Verachtung der Aristokratie des ancien régime für alle menschliche Tätigkeit, die ihr verwehrt ist, gründet. Diese als bornierte Verachtung jeglichen Nützlichkeitsdenkens im Stück inszenierte Haltung führt zu einem letzten Vorschlag des Narren, der nicht als additive, sondern als konkludierende Antwort zu deuten ist: VALERIO. So wollen wir zum Teufel gehen. LEONCE Ach der Teufel ist nur des Contrastes wegen da, damit wir begreifen sollen, daß am Himmel doch eigentlich etwas sei. (Aufspringend.) Ah Valerio, Valerio, jetzt habʼ ichʼs! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? Fühlst du nicht wie der tiefblaue glühende Aether auf und ab wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen Salzfluth und von den Marmor-Säulen und Leibern? Der große Pan schläft und die ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem alten Zaubrer Virgil, von Tarantella und Tambourin und tiefen tollen Nächten, voll Masken, Fackeln und Guitarren. Ein Lazzaroni! Valerio! Ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien.256

Wer jeder Arbeit für die menschliche Gesellschaft den Tod vorzieht, der kann der Langeweile und Melancholie bzw. der politischen Verantwortung nur noch im Jen|| 252 P I, S. 10818–21/MBA VI, S. 10926–28. 253 So Gnüg 1990, S. 100; vgl. aber auch Voss 1987, S. 352ff. 254 Siehe hierzu Stiening 2012b und meine Ausführungen in Kap. 4. 255 P I, S. 37930f./MBA X.1, S. 3311f.. 256 P I, S. 10822–35/MBA VI, S. 10929–39.

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seits entkommen, und dort nach all der moralischen Verwerfung des ›Aristocratismus‹ nur beim Teufel landen. Doch auch diese Alternative, die noch Faust zur Verfügung stand, bleibt dem Ennui versperrt, weil er sich längst von einem Atheismus überzeugte, der die korrelative Vorstellung von Himmel und Hölle als Disziplinierungskonzeption erkannte, die ihn folglich nicht mehr erreicht. Den Teufel gibt es für Leonce nur, um zu einem Glauben an Gott und die Unsterblichkeit zu zwingen – von beiden hat sich der wissende Melancholiker jedoch verabschiedet, weil er davon überzeugt ist, dass auch diese Glaubensüberzeugungen nur Formen des ›raffinierten Müßiggangs‹ sind.257 Wenn also weder das tätige Leben noch der Tod aus der Langeweile befreien kann, dann bleibt nur noch die spätestens seit Goethes Wilhelm Meister gängige Ausflucht in die Italiensehnsucht,258 die das Leben als ›Lazzarone‹ idealisiert, und damit in eine romantisierte Existenz des an sich erzwungenen Nichtstuns als Tagelöhner und Obdachloser zu flüchten sucht. Dabei ist es Goethe, der die Existenz des Lazzarone entmoralisiert, weil er das Prädikat des Müßiggangs für die durchaus tätigen Tagelöhner zurückweist, und zugleich idealisiert, indem er auch den Lazzaroni einen bei allen neapolitanischen »Klassen« unverkennbaren Hedonismus zuschreibt, der arbeitet, um zu genießen und nicht nur um zu leben.259 Dieser epikureischen Nobilitierung einer »zerlumpten« Lebensform durch eine kulturaristokratische Beobachterposition260 stehen zeitgenössisch kritische Stimmen gegenüber, die am Beispiel der Lazzaroni das sozioökonomische und politische Problem des Pauperismus – und dessen scheinbare Unlösbarkeit – reflektieren.261 Ebendiese politische Haltung aber geht dem auf Tod und Leben gelangweilten Prinzen ab, sodass er wie Goethe die Lebensweise des Lazzarone deshalb idealisieren kann, weil sie – durch des Dichterfürsten Wort garantiert – jeden Müßiggang, auch den raffiniertesten, überwunden hat. Hatte Leonce alles menschliche Tun nur als unbewuss-

|| 257 Es muss das Rätsel einer christlichen Büchner-Deutung bleiben, wie sie vor dem Hintergrund dieses weniger melancholischen als vielmehr religionskritischen Atheismus Leonces das Lustspiel und dabei insbesondere dessen Protagonisten als Reflexion auf die Glaubenskrise der Moderne interpretieren kann (Lehmann 1963, Martens 1973, Kobel 1974, Kurzke 2013). Leonces Langeweile, Melancholie und Sarkasmus generiert nicht aus einer Gottlosigkeit der modernen Welt, sondern ist ausdrücklich durch einen Rückgriff auf transzendente Schöpfungs- und Erlösungsinstanzen nicht zu überwinden. Darin – und nur darin – ist sich Büchner mit seinem Protagonisten einig. 258 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeit von Voss 1987, S. 325ff. und die darauf aufbauenden Ausführungen bei Beise 2002 und Beise 2009, S. 82. 259 Vgl. Goethe 1988, XI, S. 332ff. 260 Die bei Goethe im Übrigen an keiner Stelle eine »leibhafte Provokation des nordeuropäischen Arbeitsethos« dokumentiert (so aber Beise 2009, S. 82 im Anschluss an Voss 1987, S. 354f.), sondern vielmehr erläutert, wie es dazu kommen kann, dass der Nordeuropäer den Neapolitaner als Müßiggänger wahrnimmt. 261 Vgl. hierzu u. a. Hegel VII, S. 90f. oder auch Gans 2005, S. 194f.

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ten Müßiggang ›entlarvt‹, so ist solch müßiges Leben erst als Lazzarone sicher beendet. Allerdings muss auch hier der innere, wenngleich von der Figur nicht reflektierte Widerspruch erkannt werden: Der Langeweile des untätigen Aristokraten sucht der Melancholiker durch eine Existenz zu entgehen, die ebenfalls weitgehend durch Nichtstun bestimmt ist, in einem an sich durch Arbeitslosigkeit erpressten, nur von einer spezifischen Romantik nobilitierten Dasein als Tagelöhner. Die Aufrufung einer neapolitanischen Lazzarone-Existenz ist folglich keine durch das Stück inszenierte romantische Utopie eines arbeitsfreien Schlaraffenlandes,262 sondern vielmehr die romantisierende Illusion eines melancholischen Aristokraten, der nach dem Eingeständnis seiner Unfähigkeit zu einem Leben und gar Tod jenseits der Langeweile seine Zuflucht nur noch in einer Existenz sieht, die den psychischen Zustand des Ennui in einem anderen soziopolitischen Stand reproduziert. Der Lazzarone ist nämlich soziopolitisch in seinem erpressten Nichtstun lediglich die unterprivilegierte Variante des aristokratischen Ennui,263 sodass es Büchner mit dieser Passage nicht um die positive Aufnahme, sondern die subtile Kritik an der Borniertheit einer kulturaristokratischen Nobilitierung bitterster Armut zu tun ist. An diesem Abschluss des kleinen, aber entscheidenden Dialogs zwischen ›Herr und Knecht‹ lässt sich mithin keine Utopie erkennen – zumal der Gang nach Italien vorzeitig beendet wird –, sondern Büchners Kritik an einer überlebten, parasitären Existenz als sozio- oder kulturpolitischer Aristokrat, der sich die leidvolle Existenz des Tagelöhners romanisiert. Langeweile und Melancholie, die Psyche und Charakter des Prinzen und Thronfolgers beherrschen, werden von Büchner also keineswegs als anthropologische oder existenzielle Konstanten bzw. in ihrer modernen Subjektivität inszeniert, sondern als Konsequenzen der Obsoleszenz-Ahnung jenes in Staat und Gesellschaft noch herrschenden Aristokratismus analysiert, der das Ende seiner politischen und sozialen Hegemonie gekommen sieht. Auch wenn Leonce schon im ersten Gewahrwerden der Stimme Lenas mit seiner »Melancholie niederzukommen« beginnt,264 mithin sich des pathologischen Aspekts seines Ennui durch die Liebe entäußert, so wird er doch unglücklich bleiben, und zwar »unheilbar, bloß weil« er ist.265 Dabei geht die als Kind der Liebe entäußerte Melancholie auf seinen Vater über, der schon kurz vor der ersehnten Übergabe der Macht an seinen Sohn »ganz melancholisch«266 wird. Ohne tatsächliches Herrscheramt wird jeder Aristokrat der Restaurationszeit psychisch krank.

|| 262 So Beise 2005–08, S. 99f. sowie Beise 2009, S. 82. 263 So u. a. bei Gans 2005, S. 194. 264 P I, S. 11622f./MBA VI, S. 11442. 265 P I, S. 11710f./MBA VI, S. 11523. 266 P I, S. 12431f./MBA VI, S. 1214.

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Ebensowenig aber wie dieses Lustspiel überzeitliche Problemlagen einer säkularisierten oder mechanisierten Moderne bzw. des Menschen vorführt, ist es eine Komödie des status quo, der Restauration oder gar des Hasses.267 Vielmehr inszeniert Büchner im Modus des weitgehend Satirischen die soziopsychologischen Konsequenzen einer an sich »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft«, die sich im ancien régime jedoch ihrer Obsoleszenz zu verweigert versucht. Dass die literarische Romantik diesen Versuchen eine weltanschauliche Matrix zur Verfügung stellte, hat Büchner seinem Text mithilfe der Figur des Thronfolgers detailliert eingeschrieben. Dieser romantische ›Aristocratismus‹ des Ennui, der nach der Machtübernahme »in aller Ruhe und Gemüthlichkeit«268 die menschenverachtende Herrschaft seines Vaters kontinuieren wird, bedient sich aber nicht nur des ironischen oder satirischen Humors, sondern auch des Sarkasmus.

8.2.2 Langeweile und Sarkasmus Die Selbstzuschreibung als pathologieaffiner Melancholiker hat – wie schon angedeutet – ihre Grenze in den Tendenzen zur körperlichen Gewalt,269 zu der Leonce gegenüber allen neigt, die ihr eigenes Handeln ernst nehmen, weil sie nicht davon wissen, dass sie nur ihre Langeweile kompensieren. Darüber hinaus reizt ihn die Impertinenz seines Narren zur Wut und zu Versuchen der Züchtigung; dem Verdacht, er sei ein illegitimer Nachkomme seines Vaters, entgegnet er: LEONCE. Mensch, du besitzest eine himmlische Unverschämtheit. Ich fühle ein gewisses Bedürfniß, mich in nähere Berührung mit ihr zu setzen. Ich habe eine große Passion dich zu prügeln. VALERIO. Das ist eine schlagende Antwort und ein triftiger Beweis. LEONCE. geht auf ihn los Oder du bist eine geschlagene Antwort. Denn du bekommst Prügel für deine Antwort. VALERIO. läuft weg, Leonce stolpert und fällt270

Den für jede romantische Komödie unüblichen Prügeln entgeht der Narr nur durch das Ungeschick seines Prinzen und den anschließenden Auftritt des Staatsrats, in dessen Anwesenheit der Thronfolger sich nicht als prügelnder Herrscher gerieren

|| 267 So aber Poschmann 1981 u. 1985, S. 179ff.; Fortmann 2013, S. 132ff.; Hauschild 1993, S. 528ff. und Hauschild 2013, S. 233. 268 P I, S. 12823/MBA VI, S. 12341. 269 Zu den Erscheinungsformen der Melancholie gehört nämlich weder in der Antike noch in der Neuzeit eine Neigung zu Aggression oder Gewalt; vgl. hierzu u. a. Klibansky, Pannowski u. Saxl 1990, S. 121ff. u. ö. oder auch Kutzer 1998, S. 197ff. 270 P I, S. 1054–12/MBA VI, S. 1078–14.

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kann. Gleichwohl bleibt die deutlich inszenierte Neigung dieses Aristokraten und Ennui zu körperlicher Gewalt.271 Solcherart Gewalt gegen seine Untertanen wendet Leonce aber nicht nur in ihrer körperlichen Form an; ausführlicher und anschaulicher wird diese Neigung zu, ja die Lust an struktureller Gewalt als sprachlicher Sarkasmus ausgeführt.272 Nimmt man nämlich ›Sarkasmus‹ mit Nicolai Hartmann als »bittere, höhnende, vernichtende Ablehnung – in der Form übertriebener Anerkennung«,273 dann wird dieser unverkennbare Habitus des Prinzen, der sich zu einem Charakterzug ausgebildet hat, am eindrücklichsten in der Rosetta-Szene realisiert. Denn hier weist Leonce in der Tat seine Mätresse in vernichtender Weise zurück, indem er sie dem Scheine nach und hyperbolisch in ihrem Status anerkennt. Dabei unterdrückt der Sarkasmus der Figur jeden möglichen Humor der Szene.274 Die Passage führt allerdings zunächst erneut in den Kontext der französischen Ennui-Debatte. Denn wie Leonce und Lena, so zeigte schon Le Rouge et le Noir, dass solcherart aus der Langeweile entstehende ›Grausamkeit‹ gegen andere für die durch den Ennui bedrängte Aristokratie psychisch unabwendbar und sozial erforderlich ist. Nachdem sich nämlich Julien Sorel die Gesetze, Ordnungs- und Verhaltensmuster dieser Klasse anverwandelt hat, ist er – mehr aus Angst denn aus Lust – gezwungen, sie auch anzuwenden. Denn Sorel hat die Liebe Mathilde de la Moles gewonnen, doch ist er genötigt, sie nahezu ohne Unterlass zu demütigen, weil jede unverstellte Äußerung seiner Liebe die beißende Verachtung seiner Geliebten zur Folge hätte. In den gelangweilten Zirkeln der Pariser Aristokratie des ancien régime wird offene Zuneigung als Schwäche ausgelegt, weil alle interpersonalen Beziehungen zur Hierarchiekonstitution genutzt werden und daher alle Normativität und alle Emotivität auf politische Klugheit reduziert werden muss. Liebenswert ist für Mathilde de la Mole daher nur der Mann, der sie verachtet, so dass Sorel zu Handlungen und Aussagen gezwungen ist, die »sa félicité« widersprechen. Nachdem er Mathilde in einem Moment der Schwäche seine wahre Leidenschaft entdeckt hat, muss er zu folgenden verstellenden Ausführungen greifen:

|| 271 In der Forschung, die sich allerdings zur Gewaltneigung des Prinzen kaum je äußerte, wird zur Erläuterung solcher Elemente des Lustspiels gerne auf die These zurückgegriffen, Büchner bediene sich hier einiger Formmomente der Commedia dellʼarte (so u. a. Hermand 1983, S. 99; Buck 1992; Beise 2005–08, S. 87); unerläutert bleibt bei solch literarhistorischen Zuweisungen allerdings die durch das Stück selber hergestellte Verbindung dieser Elemente zu solchen der romantischen Komödie, als die das Lustspiel vor allem interpretiert wird. 272 Zum im Folgenden verwendeten Begriff des Sarkasmus vgl. Meyer-Sickendick 2009, S. 79–88. 273 Ebd., S. 87. 274 Dass Leonce Tendenzen zum Sarkasmus hat, sehen auch Renker 1924, S. 67 und Wetzel 1984, S. 159.

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— Je mens, dit Julien avec humeur, et je mens à vous. Je me le reproche, et cependant Dieu sait que je vous estime assez pour ne pas mentir. Vous m’aimez, vous m’êtes dévouée, et je n’ai pas besoin de faire des phrases pour vous plaire. — Grand Dieu! ce sont des phrases que tout ce que vous me dites de ravissant depuis dix minutes? — Et je me les reproche vivement, chère amie. Je les ai composées autrefois pour une femme qui m’aimait et m’ennuyai… C’est le défaut de mon caractère, je me dénonce moi-même à vous, pardonnez-moi. Des larmes amères inondaient les joues de Mathilde.275

Muss sich der bürgerliche Sorel zu diesen Aussagen, die – wie bei Rosetta – bei Mathilde Tränen der Verzweiflung und Demütigung evozieren, allerdings zwingen, weil sie lediglich seiner durch bittere Erfahrungen erlangten prudentiellen Überzeugung entspringen, so ist dem aristokratischen Ennui Leonce dieser Habitus zur zweiten Natur geworden. Er muss sich zu ihm nicht mehr nötigen und bedient sich des Sarkasmus folglich, um untauglich gewordene Mittel der Langeweile-Abwehr abzustoßen. Das zeigt sich in seinem Umgang mit der Mätresse Rosetta. Nachdem der Prinz nach ihr geschickt, sie also zu sich bestellt, und einmal mehr seine entsetzliche Arbeit des Müßigganges beklagt hat, stellt Rosetta die bange Frage: ROSETTA. So liebst du mich aus Langeweile? LEONCE. Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe meine Langeweile wie dich. Ihr seid eins. O dolce far niente, ich träume über deinen Augen, wie an wunderheimlichen tiefen Quellen, das Kosen deiner Lippen schläfert mich ein, wie Wellenrauschen. Er umfaßt sie. Komm liebe Langeweile, deine Küsse sind ein wollüstiges Gähnen, und deine Schritte sind ein zierlicher Hiatus. ROSETTA. Du liebst mich, Leonce? LEONCE. Ei warum nicht?276

Büchner führt in dieser höfischen Szene, die durch einen Versuch des Amüsements des Thronfolgers mit seiner Mätresse gestaltet wird, das dialektische Verhältnis des Ennuis zu seiner Langeweile vor: Leonce hatte zunächst Rosetta gegenüber, die er eigens wie Violinen und Wein zu sich bestellt hatte, seine entsetzliche Arbeit des Nichtstuns beklagt und auf Nachfrage auch seine Liebe zur Mätresse als Teil dieser ›Beschäftigung‹ bezeichnet. Die offenkundig in die Reflexionsgänge und Überzeugungen ihres Herrschers eingeweihte Mätresse identifiziert die Beschäftigung der ›Liebe‹ zu ihr als Müßiggang und wird darob von Leonce ausdrücklich für ihren Scharfsinn belobigt. Aus der Zustimmung zu ihrer These über die Liebe Leonces zu ihr als mehr oder weniger ›raffiniertem Müßiggang‹ entwickelt sie zu Recht die oben zitierte Frage nach der Langeweile als Grund seiner Liebe zu ihr, der Mätresse. Allerdings scheint sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben, die – wie der

|| 275 Stendhal 2013, S. 516f.; Hvhb. von mir. 276 P I, S. 10111–20/MBA VI, S. 10415–23.

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Schluss des Dialogs zeigt – auf das Ende ihres Status als Mätresse hindeuten. Denn der Thronfolger entgegnet ihr, dass er – wie Julien Sorel vorgibt – sich langweile, weil er sie liebe. Diese offenkundige psychische Grausamkeit wird von Leonce allerdings abgemildert durch den Hinweis, dass der Ennui seine Langeweile keineswegs abwenden müsse bzw. wolle, sondern diesen Zustand vielmehr begehre. Diese affektive Identifikation von Rosetta mit seiner Langeweile ermöglicht auch die körperliche Zuwendung des Herrschers zur Mätresse, indem er ihre Küsse als Gähnen interpretiert und beides als Wollust dekretiert; auch ihre Schritte liest er als Hinweis auf ihr Geschlecht, das er mit jener Lücke identifiziert, die die Langeweile im Zeitbewusstsein jedes Ennui hinterlässt. Entscheidend ist bei diesen erzwungenen Vergleichen, dass Leonce sich bemüht, seine Langeweile zu erotisieren, um den Eindruck der Verachtung, die er für seine schon beinahe ›abgelegte‹ Mätresse hegt, zu mildern. Das der Dialektik der Langeweile des Ennui, die zugleich begehrt, wovon sie sich zu befreien sucht, geschuldete Verwirrspiel, das als Wortspielerei verkannt würde, weil es sich des virtuosen Umgangs mit Sprache nicht als Selbstzweck bedient, sondern um Hierarchien zu realisieren, lässt die Mätresse noch einmal nach ihrem Status fragen. Nur als geliebte und begehrte Frau verbliebe sie nämlich in ihrem privilegierten Stand, der ihr Einfluss und Einkommen sichert.277 Leonces Reaktion macht mehr als deutlich, dass der Status Rosettas tatsächlich gefährdet ist, weil der Ennui zwar seine Langeweile liebt, sie aber auch loswerden will. So bleibt es bei der unbestimmten Antwort, dass es keine Gründe gebe, worum er sie nicht liebe solle; Gründe dafür aber gibt es ebenso wenig. So muss die Mätresse im Folgenden gleichsam einen Existenzkampf austragen278 und geht folglich das Problem direkt an, indem sie erneut nachfragt, diesmal nach der Dauer ihres Status: ROSETTA. Und immer? LEONCE. Das ist ein langes Wort: immer! Wenn ich dich nun noch fünftausend Jahre und sieben Monate liebe, istʼs genug? Es ist zwar viel weniger, als immer, ist aber doch eine erkleckliche Zeit, und wir können uns Zeit nehmen, uns zu lieben. ROSETTA. Oder die Zeit kann uns das Lieben nehmen. LEONCE. Oder das Lieben uns die Zeit. Tanze, Rosetta, tanze, daß die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen Füße geht! ROSETTA. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit. Sie tanzt und singt.279

|| 277 Zur Kulturgeschichte des schon unzeitgemäßen Mätressenwesens im 19. Jahrhundert vgl. u. a. Hagemann 2007 sowie Erbe 2009, S. 3f. 278 Weshalb die Szene auch mehr und anderes enthält als eine »aus Langeweile geborene ästhetizistische Nekrophilie« (so Dedner 1990, S. 167), eine Formel, die womöglich einen Teil der Perspektive Leonces erfasst, die Perspektive der Mätresse aber ausblendet. 279 P I, S. 10121–32/MBA VI, S. 10424–33.

Das Wissens des »Aristocratismus« – Prinz Leonce | 641

In der Hoffnung auf die Unbegrenztheit ihres Status, die sie dem Thronfolger abringen will, begibt sie sich auf ein Gebiet, dem der Ennui und Melancholiker besonderes Interesse entgegenbringen muss: das der Zeit.280 Dabei ist für die eskapistischen Äußerungen Leonces, der die umgangssprachliche Verwendung des Wortes »immer« nutzend von dessen Morphologie in Bezug auf dessen kosmologische Semantik der Ewigkeit reflektiert, zu berücksichtigen, dass dieser Dialog stets einer zwischen Mätresse und absolutistischem ›Mätressen-Halter‹, zwischen ›Herr und (weiblichem) Knecht‹ bleibt. Die zeittheoretischen Reflexionen des Prinzen sind daher vor allem willkürliche ›Spielereien‹ mit den Existenzbedingungen Rosettas, die aus den Ausführungen Leonces, die sie zu parieren weiß, zunehmend ihre ›Niederlage‹ erkennt. Der Prinz aber kann diese für seine Mätresse existenzbedrohliche Dimension des Dialogs eine Zeitlang lustvoll genießen, was er mit den gönnerhaften Hinweis auf die 5000 Jahre auch tut, bei erneut auftretender Langeweile aber auch umgehend beendet: Der um die negativen Konsequenzen seiner unerträglichen Langeweile bemühte Potentat kann nach der psychischen Quälerei seiner Mätresse erneut auf ihre traditionell unterhaltenden Qualitäten zurückgreifen und sie folglich zum Tanz auffordern, damit ihre »niedlichen Füße« der für den Ennui schleichenden, amorphen Zeit durch den Takt Ordnung und Verlaufsform verschafft.281 Rosettas Antwort, mit der sie den Befehl ausführt, zeigt in aller Deutlichkeit, dass sie dem sarkastischen Dialog mit ihrem Gebieter durchaus gewachsen ist, dem tyrannischen Verhältnis selbst aber nur im Tod zu entkommen glaubt; ihre niedlichen Füße gingen nämlich lieber »aus der Zeit«, als dem Prinzen noch ein letztes Mal die Zeit zu vertreiben. Wenn es überhaupt Momente von Widerständigkeit in diesem Stück gibt,282 dann sind dies die knappen, von Leonce allerdings ignorierten Hinweise Rosettas auf ihre Todessehnsucht,283 die sie als abgelegte Mätresse überfällt.284 Trotz ihrer sprachlichen Einwände gehorcht sie den Befehlen ihres ›Geliebten‹ und tanzt und singt für ihn, wobei sie einen Liedtext vorträgt, der jene Sehnsucht als Wunsch ihrer Körperteile nach dem Tode ausführt: Es sind ihre Füße, ihre Wangen und ihre Augen, die von der Arbeit als Mätresse erschöpft und schmerzend sich die ewige Ruhe herbeisehnen. Rosettas Klagelied gehört zu den traurigsten,

|| 280 Zum Verhältnis von Melancholie und devianter Zeitwahrnehmung vgl. Klibansky, Pannowski u. Saxl 1990, S. 306ff. 281 Dass Leonce seine Mätresse quält, sieht Abutille 1969, S.93. 282 Beise 2010, S. 101 interpretiert den Wortwitz des Lustspiels als »widerständiges Prinzip«; in der Rosetta-Szene dient der Wortwitz des Prinzen allerdings einzig der Erniedrigung seiner Mätresse. 283 Zu einer der wenigen Interpretationen dieser Passage vgl. Höyng 2007, S. 295f. 284 So auch Berns 1987, S. 230: »Physische Willfährigkeit und psychische Opposition verquicken sich im Tanzlied.« Die wenn auch kurze, so doch insgesamt überzeugende Interpretation der Rosetta-Szene durch Berns krankt allerdings daran, dass sie die psychischen Grausamkeiten Leonces unbeachtet lässt.

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folglich jeden Humor von sich ausschließenden285 Szenen des Stückes, in dem die ihren gesellschaftlichen Status verlierende, gleichwohl ihre Aufgabe, dem Befehlsgehorsam gegenüber ihrem Gebieter folgende Fürstenmätresse ihre Todessehnsucht entlang ihrer stets begehrten und so gequälten Körperlichkeit besingt. Dem gelangweilten Prinzen ist diese von und vor ihm aufgeführte Tragödie jedoch vollkommen gleichgültig; er wertet sie ausschließlich im Hinblick auf den Unterhaltungswert, den sie für ihn hat, kann sie daher ästhetisieren und lediglich im Hinblick auf ihre Wirkung auf ihn selbst wahrnehmen: LEONCE. (indeß träumend vor sich hin) O, eine sterbende Liebe ist schöner, als eine werdende. Ich bin ein Römer; bei dem köstlichen Mahle spielen zum Dessert die goldnen Fische in ihren Todesfarben. Wie ihr das Roth von den Wangen stirbt, wie still das Auge ausglüht, wie leis das Wogen ihrer Glieder steigt und fällt! Adio, adio meine Liebe, ich will deine Leiche lieben. Rosetta nähert sich ihm wieder. Thränen, Rosetta? Ein feiner Epikureismus – weinen zu können. Stelle dich in die Sonne, daß die köstlichen Tropfen krystallisiren, es muß prächtige Diamanten geben. Du kannst dir ein Halsband daraus machen lassen.286

Büchner führt erneut keine romantische Komödie aus, sondern vielmehr die Instrumentalisierbarkeit romantischer Todessehnsucht im Rahmen spätaristokratischer Herrschaftsformen. Der seiner Mätresse überdrüssige Thronfolger genießt die Ästhetisierungen des Todes durch eine Romantik, deren machtpsychologische Substanz allerdings durch den Hinweis auf die Todesspiele spätrömischer Dekadenz markiert wird. Erneut also werden die Romantik und ihre Nekrophilie nicht inszeniert, sondern scharf kritisiert,287 was in der sarkastischen, d. h. ebenso herablassenden wie mitleidlosen Verabschiedungsgeste, die noch den gefeierten Tod der Mätresse sprachlich zelebriert, erkennbar ist: »Ich will deine Leiche lieben«. Deutlicher kann die Mitleidlosigkeit des ›Aristocratismus‹ kaum inszeniert werden. Rosetta aber, die offenkundig noch immer um ihre Existenz kämpft, nähert sich dem das Sterben ihrer Mätressenexistenz oder gar ihres Lebens ästhetisierenden Prinzen erneut in der Hoffnung auf dessen Mitleid ihrer verzweifelten Tränen wegen. Für den im Jenseits aller Moral sich wähnenden Epikureer, als der sich Leonce dem Publikum schon vorstellte, ist solcherart körperlich realisierte Emotion lediglich Ausdruck jenes ›raffinierten Müßiggangs‹, der seiner Auffassung nach allen || 285 Die These Beises (2005–08, S. 98), nach der es in Leonce und Lena nichts gäbe, »das nicht zum Gegenstand des Lachens würde«, ist also mit Nachdruck zu falsifizieren, weil wenigstens Rosettas Lied, mehr noch die gesamte Szene jeden Humor im Keime erstickt; nur für den sich ›Jenseits von Gut und Böse‹ wähnenden Ennui ist die sarkastische Erniedrigung seiner abgelegten Mätresse von – allerdings kurzzeitiger – Unterhaltung. Zum problematischen Lachen bei Leonce und Lena vgl. auch Vietor 1949, S. 183; Mayer 1972, S. 329; Fink 1973, S. 497; Poschmann 21985, S. 179 und Kurzke 2013, S. 370ff. 286 P I, S. 1029–20/MBA VI, S. 1055–13. 287 Vgl. hierzu auch Elm 2005, S. 96, der von einem »Abgesang auf die Romantik« spricht.

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menschlichen Handlungen als Movens zugrunde liegt. Wie schon für Danton288 so gibt es auch für Leonce nur Epikureer, d. h. Menschen, die ihr Handeln nach dem Ziel einer Vermehrung ihrer Lust und einer Vermeidung ihrer Unlust ausrichten. Rosettas tränenreiche Trauer über ihre Verstoßung als Mätresse ist für den Zyniker nur eine feinere, also komplexere Form der Lustverfolgung, die allerdings – das weiß der melancholische Ennui – weder seine noch ihre Langeweile überwinden helfen wird. In einer seinen Sarkasmus steigernden Häme schlägt er der für ihn verfeinerten Epikureerin vor, aus ihren Tränen durch Kristallisieren in der Sonne Diamanten werden zu lassen, um ihr absehbar schwindendes Einkommen zu kompensieren. Weil aber hier kein romantischer Dichter Tränen und Diamanten korreliert,289 sondern ein Aristokrat seiner abgelegten Mätresse einen hämischen Vorschlag macht, führt diese Stelle kein romantisches Lustspiel aus, sondern eine energische Kritik an der aristokratischen Nutzbarmachung romantischer Weltanschauung. Ein letztes Mal sucht sich Rosetta ihrer ›Ablegung‹ durch den Prinzen zu erwehren, indem sie dessen Bild von den Diamanten, die ihr keinen Reichtum, sondern Qualen bereiten, zurückweist und zugleich körperliche Nähe herstellen will; letzteres aber wird vom Prinzen schroff zurückgewiesen und mit erneut hämischen Hinweisen auf ihre gestorbene Liebe legitimiert: ROSETTA. Wohl Diamanten, sie schneiden mir in die Augen. Ach Leonce! (Will ihn umfassen.) LEONCE. Gib Acht! Mein Kopf! Ich habe unsere Liebe darin beigesetzt. Sieh zu den Fenstern meiner Augen hinein. Siehst du, wie schön todt das arme Ding ist? Siehst du die zwei weißen Rosen auf seinen Wangen und die zwei rothen auf seiner Brust? Stoß mich nicht, daß ihm kein Aermchen abbricht, es wäre Schade. Ich muß meinen Kopf gerade auf den Schultern tragen, wie die Todtenfrau einen Kindersarg.290

Unwillig weist er die ihrer Aufgabe nachkommende Mätresse von sich, weil sie seinen Kopf nicht berühren soll, in dem er die Liebe zu ihr beigesetzt habe. Die an sich im Herzen getragene Liebe wird im Kopf des Potentaten als dem Sitz der Vernunft und des Willens ›beigesetzt‹, also aus freiem Entschluss beendet, der motiviert ist durch die Einsicht in die Unfähigkeit Rosettas, seine Langeweile zu besiegen. Es ist die kalkülgesteuerte Potestas voluntatis des Thronfolgers, die das Verhältnis zu dieser Mätresse beendet. Dass er Rosetta aber Einsicht auf diese ›schöne Leiche‹ ihrer Liebe in seinem Geist gewährt, sie als schützenswert bezeichnet und sich dafür gar Ratschläge erteilt, nämlich den Kopf gerade auf den Schultern zu tragen und damit jene ›Herabneigung‹ zu seiner Mätresse zur Unmöglichkeit erklärt, ist nur durch Leonces Bedürfnis nach ›höhnender, vernichtender Ablehnung‹ im Modus

|| 288 Vgl. hierzu MBA III.2, S. 2518. 289 Vgl. die Hinweise auf romantische Dichtung in MBA VI, S. 454. 290 P I, S. 10221–29/MBA VI, S. 10514–21.

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der übertriebenen Anerkennung, mit seinem Sarkasmus mithin zu erläutern. Leonce will und muss Rosetta demütigen, um noch dem Akt ihrer Absetzung als Mätresse Momente des die Langeweile überwindenden ›raffinierten Müßigganges‹ abzugewinnen, mit dem er einzig beschäftigt ist; für diesen Zweck wird noch die Mätresse erniedrigt und verhöhnt.291 Büchner führt mit dieser Szene eine höfische Situation vor, in der das für die höfische Kultur essentielle Mätressenwesen ausgestellt wird,292 allerdings in einer bestimmten Variante dieser Hofpolitik, nämlich der Beendigung eines Verhältnisses zwischen Fürst und Mätresse.293 Dieser Vorgang zählte wie die Erhebung in den Stand der Mätresse zur Darstellung herrscherlicher Potestas. Nicht nur Leonces sarkastischer Individualcharakter, sondern auch seine Kompetenzen als absoluter Herrscher werden folglich in dieser Szene drastisch ausgestellt, mithin sein Zynismus und seine uneingeschränkte Willkür.294 Dass er sich in den Prozessen der Darstellung dieser Eigenschaften einiger Motive aus der romantischen Dichtung sowie mit den ›Augen als Fenstern zur Seele‹ der aufklärerischen Philosophie bedient, zeigt erneut und mit Nachdruck, dass in diesem Lustspiel sowohl die Aufklärung als auch die Romantik als Instrumente des ›Aristocratismus‹ analysiert werden und der Kritik verfallen.295 Rosetta hingegen wird als intelligent, sprachgewandt und klug vorgestellt, zudem gebildet in Gesang und Tanz und damit in Fähigkeiten, mit denen sie den Herrscher zu unterhalten weiß. Sie ist allerdings genötigt, sich bis zum Schluss des Verhältnisses, das ihren Unterhalt garantiert, zu prostituieren, während Leonce ihr unentwegt Grausamkeiten zufügt, die einzig legitimiert sind durch jenen radikalen Epikureismus, auf den er sich explizit beruft. Auch Leonce ist vor allem – wie schon Danton, Laflotte und Marion – Epikureer, eine Haltung, dessen politische und soziale Konsequenzen an dieser trübsinnigen Szene vorgeführt werden. Seine eigentlichen Beweggründe fasst der sarkastische Ennui kurze Zeit später präzise zusammen, wenn er feststellt: Es steckt nun aber doch einmal ein gewisser Genuß in einer gewissen Gemeinheit.296

|| 291 Insofern bleibt Rosetta nicht nur »vom Happy-End ausgeschlossen« (so aber Kurzke 2013, S. 388), sondern ihre Erniedrigung ist notwendiges Herrschaftsinstrument des ennuistischen Aristokratismus. 292 Vgl. hierzu Elias 1986, S. 322ff. 293 Vgl. hierzu auch Abutille 1969, S. 93 sowie Berns 1987, S. 229, der die Vergänglichkeit der Mätressenliebe als deren höfisches Prinzip bezeichnet. 294 Gnüg 1990, S. 102 kann sich zu dem Urteil über Leonces Zynismus kaum entscheiden, spricht sie doch davon, Leonce sei »fast zynisch«. 295 Dass in und mit Leonce und Lena Büchners Kritik an der Romantik Gestalt annahm, sehen auch – allerdings ohne hinreichende Begründung – Mayer 1979b, S. 412 und Thorn-Prikker 1978, S. 85ff. 296 P I, S. 10720f./MBA VI, S. 10842–1091.

Schlussvision – »Flucht ins Paradies«? | 645

Kurz zuvor hatte er den Kammerpräsidenten und Valerio qua Befehl abtreten lassen, nachdem ihm ersterer die bevorstehende Thronfolge anvisiert hatte, die er zu verhindern suchen wird. Auch in diesem Falle, der ihn zu jener Selbstvergewisserung über die Genussqualitäten der Bosheit – als eines besonders ›raffinierten Müßigganges‹ – führt, demütigt er seine Untertanen. Es ist, so Büchner, eine der wesentlichen Eigenschaft romantischer Herrscher, ein willkürlicher Potentat mit Hang zum Sadismus sein zu können.297 Ohne hiermit vorschnell de Sade zu assoziieren,298 wird dennoch ersichtlich, dass mit der Figur des gelangweilten Prinzen eine kritisierte Haltung eines aristokratischen Willkürherrschers dargestellt werden soll, dessen Sarkasmus sich als leidenschaftliche Außenseite und seine Lust an der Bosheit als raffinierter Müßiggang erweist. Dieser Gelangweilte ist nicht Allegorie der menschlichen Existenz, sondern Verkörperung uneingeschränkter absolutistischer Willkür, deren Schrankenlosigkeit sich im leeren Kreisen um sich selbst verliert und die daraus entstehende Langeweile nur für die Momente der Grausamkeit tentativ überwindet. Der Sarkasmus des Prinzen ist als Produkt seiner Langeweile, die selber Ausfluss des Obsoleszenzbewusstseins desjenigen politischen Systems ist, das mit den Darstellungsinstrumenten der romantischen Komödie ausgestellt und analysiert wird. Die romantische Apologie solch politischer Existenz wird mit den Mitteln der romantischen Komödie kritisch vorgeführt. Dabei sind die auch in der Szene mit Rosetta präsenten Wortspielereien Instrumente einer in ihrer Notwendigkeit anschaulich inszenierten Macht, die sich unabdingbar ›Jenseits von Gut und Böse‹ wähnt.

8.3 Schlussvision – »Flucht ins Paradies«? Die mit Valerio veranstaltete gemeinsame Suche nach einer Betätigungsalternative zur befürchteten Thronübernahme, die zugleich kein langweiliger Müßiggang, und sei er noch so raffiniert, sein durfte, endete in der Entscheidung für ein Leben als neapolitanischer Lazzarone im Süden Italiens. Goethes Geistesaristokratismus konnte garantieren, dass selbst die zerlumpten Lazzaroni wie alle Bewohner Neapels dem Müßiggange nicht frönten, so dass hier und nur hier Leonces Sehnsucht nach Überwindung dieses Zustands ein Ende hätte finden können. Die anschließend mit der Flucht einsetzende romantische Komödienhandlung, die in vielfältiger Hinsicht von Mussets Fantasio beeinflusst ist,299 führt den Prinzen und seinen Narren in ein Wirtshaus, in dem sie auf Prinzessin Lena und deren Gouvernante treffen,

|| 297 Vgl. hierzu auch Abutille 1969, S. 94; Poschmann 1985, S. 225ff.; Dedner 1987, S. 166f. sowie Dedner 1990, S. 144f. 298 So bei Kurzke 2013, S. 208. 299 Siehe hierzu u. a. Gravier 1954; Gnüg 1984; MBA VI, S. 356ff.; hermeneutisch ist das Verhältnis der büchnerschen Texte zu denen Mussets noch keineswegs bearbeitet.

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die sich ebenfalls auf der Flucht vor einer Konvenienzehe befinden, und zwar jener mit Leonce. Ohne Kenntnis dieses Sachverhalts verlieben sich beide Königskinder ineinander und Leonce kehrt mit Lena in sein Königreich zurück. Ohne das Wissen darum, dass sie von ihren Vätern für diese Heirat ausgewählt wurden, d. h. ohne gegenseitige Kenntnis ihrer Identitäten, treten beide – ein Trick Valerios – als Automaten verkleidet vor den Traualtar und erfüllen so mit ihren individuellen Bedürfnissen nach ehelicher Legitimation ihrer Liebe zugleich die dynastischen, d. h. politischen Interessen ihrer Staaten. In der Liebe kann der aristokratische Romantiker nicht nur seine pathologieaffine Melancholie überwinden, sondern zugleich seine staatspolitischen Aufgaben erfüllen, die raison d’etre romantique und die raison dʼetat fallen zusammen.300 In Büchners Lustspiel ist die romantische Liebe keine utopische Gegenwelt zu einer ›kalten‹ aufgeklärten oder gar kapitalistischen Moderne,301 sondern wirksames Funktionselement im Überlebenskampf des ancien régime.302 Der lange Zeit ebenso unwillige wie unfähige, weil willenlose Thronfolger ist durch und für seine Liebe nunmehr bereit, die ihm zukommende politische Aufgabe zu erfüllen.

8.3.1 Zur Vorgeschichte der Schlussvision: Sadismus und »infusorische Politik« Dass Leonce ein ›würdiger‹ Nachfolger seines menschenverachtenden Vater werden dürfte, macht das Stück in anschaulicher Weise kenntlich: Nachdem sie sich zu den Hochzeitfeierlichkeiten erheblich verspätet haben und nach langwierigen Verhüllungs- und Entdeckungsprozeduren, geben sich Leonce und Lena endgültig das Jawort, sehen sich aber auch wegen des zügigen Abgangs des abgedankten Exkönigs Peter genötigt, die Feierlichkeiten auf den kommenden Tag zu verschieben. Hatten der Zeremonienmeister und die von ihm dirigierten Untertanen schon Stunden auf ihren Einsatz gewartet,303 so müssen sie ihre Langmut – erzwungenes Gegenbild zu Leonces erwählter Langeweile – teuer bezahlen, und zwar damit, am

|| 300 Daher ist die These, dass das Lustspiel die »Heilung des Melancholikers durch die Liebe« (Beise 2009, S. 77) vorführe, nur die halbe Wahrheit; es zeigt auch die Zurichtung eines zuvor unfähigen Thronfolgers zu seiner politischen Aufgabe – ebenfalls durch die Liebe. 301 Vgl. hierzu Hofmann u. Kanning 2013, S. 148f., für das letztere Beise 2009, S. 83; es muss auch für diesen Text Büchners festgehalten werden, dass der Kapitalismus an keiner Stelle thematisch ist. 302 Daher wird »Romantische Glückserfüllung« auch nicht »als Illusion entlarvt« (so aber Knapp 3 2000, S. 174), sondern in ihrer politischen Funktion; dafür darf sie aber keinen Illusionscharakter haben. 303 Vgl. hierzu die verzweifelten Ausführungen des Zeremonienmeisters über das Festessen, die Brautjungfern, die verpflichteten Soldaten u. v. m., die durch das lange Warten ihrer rituellen Funktionen nicht mehr gerecht werden können in P I, S. 12215–30/MBA VI, S. 14919ff..

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kommenden Tag erneut zu den herrschaftspolitisch notwendigen Feierlichkeiten304 zu erscheinen: LEONCE. zu den Anwesenden Meine Herren, meine Gemahlin und ich bedauern unendlich, daß Sie uns heute so lange zu Diensten gestanden sind. Ihre Stellung ist so traurig, daß wir um keinen Preis Ihre Standhaftigkeit länger auf die Probe stellen möchten. Gehn Sie jetzt nach Hause, aber vergessen Sie Ihre Reden, Predigten und Verse nicht, denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemüthlichkeit den Spaß noch einmal von vorn an. Auf Wiedersehn! Alle entfernen sich, Leonce, Lena, Valerio und die Gouvernante ausgenommen.305

Welcher »Spaß« die Tortur dieser Hochzeitsfeierlichkeit für die Bauern bedeutete, wird sich noch zeigen; aber auch der auf die Feier präparierte Hofstaat hatte – nicht allein durch das Warten – vielerlei Leiden zu erdulden, sodass die Wiederholung jenes Zeremoniells nur als bittere Schikane des neuen Souveräns bezeichnet werden kann, was diesem frisch inthronisierten König allerdings gleichgültig ist,306 weil er – unabhängig von der moralischen Inhumanität gegenüber seinen Untertanen – dieses Rituals für seine Herrschaftskonstitution und deren Befestigung politisch bedarf.307 Dabei ist das Wortspiel des Prinzen über die Tatsache, dass sich der gesamte Hofstaat über Stunden die Beine in den Bauch stehen musste, erneut nur als zynisch zu bezeichnen, weil er die körperliche Anstrengung des Stehens mit der sozialen und politischen Stellung der Untertanen und deren »Standhaftigkeit« in dieser unterdrückten Position amalgamiert. Dieser Souverän macht sich – wie schon gegenüber Rosetta – über das von ihm zugefügte Leid seiner Untertanen lustig. An seinem Sadismus gegenüber dem Volk als politischem Funktionsträger hat die Liebe zu Lena nichts geändert.308 Das dokumentiert auch die anschließende Replik, mit der sich der soeben ernannte König an seine just angetraute Gattin wendet, und zwar in deren Rolle als neuer Königin, d. h. als Souveränin in ihrem Umgang mit beider Untertanen. Der Status der Ansprache an Lena ist aber kein politischer, sondern ein ganz privater, der nach den Arten des Amüsements fragt, die die Möglichkeiten des Herrschens so hergeben:

|| 304 Zur politischen Funktion solcher Feierrituale und Büchners poetischer Reflexion auf diese vgl. Berns 1987. 305 P I, S. 12817–26/MBA VI, S. 12336–1242. 306 Man muss daher schon von einer Fülle von Textsignalen abstrahieren, um aus der letzten Szene eine Deutung abzuleiten, die eine »Metamorphose« erkennen will, »die aus dem zynischen Prinzen von Popo einen ›human‹ gesinnten Utopisten« (Beise 2009, S. 84) macht. 307 Siehe hierzu nochmals Berns 1987. 308 Die Frage, ob Leonce sich im Laufe des Stückes, d. h. natürlich vor allem durch das »Wunder der Liebe« (Fink 1973, S. 495; Martens 1977, S. 154f.; Völkel 1983, S. 129ff.; ähnlich Beise 2009, S. 77) verändert habe, gehört zu den Lieblingsthemen der Forschung, ist aber unschwer zu beantworten: Als politische Person mit Hang zum Sadismus gegenüber seinen Untertanen gibt es keine Wandlung, als Privatperson hat er die Melancholie durch Lena überwunden.

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LEONCE. Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen? Wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen, und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen und uns mit dem Mikroskop daneben setzen? Oder hast du Verlangen nach einer Drehorgel auf der milchweiße ästhetische Spitzmäuse herumhuschen? Wollen wir ein Theater bauen? Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf.309

Unabhängig von der Tatsache, dass die neue Königin solcherart Beschäftigung mit den Untertanen, die diese als »Spielzeug« benutzt,310 wortlos ablehnt, wird doch ersichtlich, dass Leonce seiner Frau eine Regierungspolitik vorschlägt, die – unter Absehung der objektiven Aufgaben des Souveräns zur Gemeinwohlsicherung und Gemeinwohlmehrung – auf das subjektive Interesse der Unterhaltung durch Spiel abzielt. Dabei lässt Leonce kaum einen der zentralen Bereiche absolutistischer Staatspolitik aus,311 wenn er sowohl das Militär als auch die innere und äußere Politik sowie die Kulturpolitik durch Theaterbau erwähnt, die er seiner Frau als Spielzeug, als kindliche Beschäftigungsinstrumente anbietet. Ungewöhnlich erscheint einzig das Angebot einer Drehorgel, auf der »milchweiße ästhetische Spitzmäuse« herumtanzen sollen,312 weil hiermit nicht staatspolitische Aufgaben gemeint sein können – auch nicht in ›infusorischen‹ Kleinstaaten. Erläuterbar wird dieses Element der Aufzählung jener Vorschläge, mit denen der neue König seine geliebte Königin unterhalten will, berücksichtigt man die seit den 1820 Jahren in Paris und London gängige Praxis, in Italien gekaufte Kindersklaven mit Drehorgeln und weißen Mäusen zum Betteln auf die Straßen zu schicken; ein offenbar einträgliches und europaweit bekanntes Geschäft.313 Drehorgeln in Kombination mit weißen Mäusen standen in den 1830er Jahren offenbar für diese Form der Versklavung von zumeist italienischen Kindern, die auch zur Prostitution gezwungen wurden, insbesondere als Hurdy-Gurdy-Girls in den USA, aber auch in England und Frankreich. Noch in den 1840er Jahren wird diese Praxis mit dem Büchner sicher bekannten ›Fliegenwedelhandel‹ verglichen,314 bei dem junge Mädchen vor

|| 309 P I, S. 12827–36/MBA VI, S. 1243–10. 310 So zu Recht auch Jancke 31979, S. 268f. 311 Vgl. auch MBA VI, S. 536f., die allerdings von »Profilierungsmöglichkeiten für Herrscher deutscher Kleinstaaten« spricht, während das Militär, die Innen- und Außenpolitik sowie die Kulturpolitik zu den Essentials jeder Staatspolitik zählen; nur wenige Herrscher bedienen sich dieser Säulen ihrer Souveränität zum persönlichen Amüsement. 312 Vgl. hierzu MBA VI, S. 537, die die Drehorgel als Hinweis auf eine Jahrmarktsattraktion interpretiert und die ästhetischen Spitzmäuse in einen naturgeschichtlichen Kontext stellt; ein Zusammenhang aber wird nicht hergestellt; anders Glück 2013–2015, S. 234f., der zu einer symbolischen Interpretation kommt – allerdings auf der Grundlage freier Assoziationen über weiße Mäuse in Lauftrommeln. 313 Siehe hierzu u. a. Zucchi 1992, S. 42ff. u. S. 76ff. 314 Bran 1844, S. 339–347.

Schlussvision – »Flucht ins Paradies«? | 649

allem aus der Wetterau und dem Taunus zum Schein für den Verkauf der dort produzierten Fliegenwedel ins amerikanische Ausland verbracht wurden, um dort in die Prostitution gezwungen zu werden.315 Leonce bietet seiner Gemahlin also an, italienische Kinderbettler mit ›Drehorgeln und weißen Mäusen‹ anzuschaffen, um sich entweder das auf der Reise verpasste Italien an den Hof zu holen oder sich am Mitleid für diese verschleppten Kinder zu ergötzen oder gar der sexuellen Bedürfnisbefriedigung mit Prostituierten nachzugehen. Was von diesen Möglichkeiten genau mit dem Angebot auf »Drehorgeln und milchweiße Mäuse« gemeint ist – Büchner macht zumal durch die eigentümliche Stellung zwischen den staatspolitischen Pflichten, die zum Amüsement reduziert werden, dem zeitgenössischen Leser mit Nachdruck deutlich, dass dieser Prinz auch als König weder von der Instrumentalisierung von Gemeinwohlzwecken zu Partikularinteressen noch von seinen sadistischen Bedürfnissen Abstand genommen hat. Warum sollte der, der seine Mätresse bis in die Todessehnsucht quält, sich nicht auch an italienischen Kindersklaven ergötzen?316

8.3.2 Kosmologische Politik für Lenas vegetabile Seele Lena aber hat an diesen Formen des herrschaftlichen Amüsements keinerlei Interesse, obwohl Leonce ihr die staatspolitischen Aufgaben auf Spielzeugniveau offeriert und damit ihr infantiles Selbstverständnis zu bedienen sucht. Lena wird nämlich, obwohl ihr bedeutende Einsichten in den Mund gelegt werden, wie die Urteile über den eigentümlichen Eindruck der Greisenhaftigkeit Leonces trotz der jugendlichen blonden Locken oder über dessen unaufhebbare Unglückseligkeit,317 durch das Stück als eine Aristokratin vorgestellt, die dem Ideal der romantischen Kindfrau, die spätestens seit Goethes Mignon die europäische Dichtung bevölkert,318 insofern entspricht, als sie ihr Wirklichkeitsverhältnis auch im Hinblick auf ihre Flucht aus »Büchern«319 bezieht und sich »in der Welt«, also außerhalb ihres Gartens am liebsten in der Natur, d. h. unter Pflanzen aufhält:

|| 315 Ebd., S. 346f. 316 All das wird allerdings nicht als wahnhaft oder paranoid vorgestellt (so aber Jancke 1979, S. 268–270), sondern als mögliche Zwecke absolutistischer Herrschaft nach der Überwindung einer psychopathologischen Melancholie. 317 Vgl. P I, S. 1175–11/MBA VI, S. 11519–23: »Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen, und den Winter im Herzen. Das ist traurig. Der müde Leib findet ein Schlafkissen überall, doch wenn der Geist müdʼ ist, wo soll er ruhen? Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke, ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, blos weil sie sind.« 318 Vgl. hierzu Hoffmann (Hg.) 1993. 319 P I, S. 11316/MBA VI, S. 11527–31.

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Aber, liebe Mutter, du weißt man hätte mich eigentlich in eine Scherbe setzen sollen. Ich brauche Thau und Nachtluft wie die Blumen. Hörst du die Harmonieen des Abends? Wie die Grillen den Tag eingingen und die Nachtviolen ihn mit ihrem Duft einschläfern! Ich kann nicht im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.320

Lena sehnt sich also nach einem Leben in einem Blumentopf321 oder unter die Blumen der Nacht und damit in den Zustand einer vegetabilen Existenz, die schon im Lenz thematisch war. Mit Bezug auf Carl Gustav Carus,322 dessen Evolutionsvorstellungen Büchner weitgehend teilte,323 lässt sich nämlich zeigen, dass im Rahmen zeitgenössischer stufenleiterskalierter Psychologie die einfachste und reinste Form der menschlichen Seele mit dem ›Seelenleben der Pflanzen‹ identifiziert und als Bewusstlosigkeit bestimmt wird. Dabei galt der Schlaf den zeitgenössischen Psychologen als reinste Form dieser Entwicklungsstufe der Seele. Dem von Büchner geteilten analytischen Stufenmodell der Natur gemäß bedeutet diese Analogisierung,324 dass der menschlichen Natur eine vegetabile Dimension zugeschrieben wird, die sich in Zuständen der Bewusstlosigkeit ›rein‹ realisieren können. Lena ist als romantische Kindfrau eine solch reine, pflanzliche Seele, die zwar partielle Einsichten hat, diese aber nicht begründen kann, weil sie ihr gleichsam im vorbewussten Zustand zukommen.325 Büchner interpretiert also ein zentrales Motiv romantischer Dichtung mit Hilfe seiner naturphilosophischen Begriffe,326 verbindet damit aber erneut eine kritische Distanz, weil jene vegetabilischen Seelen zwar – wie es im Lenz heißt – wonnevolle, also glückliche, aber keine hohen, also erkenntnisreichen Zustände erlauben.327 Und eben dieser romantischen Kindfrau bietet Leonce nun, nachdem sie das staatspolitische und sadistische Amüsementangebot ihres Gatten als für sie unmöglich abgewiesen hat, eine andere Beschäftigung an, die ihrer vegetabilischen reinen Seele entsprechender ist: Nicht der herrscherliche Umgang mit den Untertanen ist Lena gemäß, und sei es nur, um sich die Langeweile zu vertreiben, obwohl sie gerade zur Königin geworden ist. Vielmehr ist es ein spezifischer, vorrationaler Umgang mit der Natur, der der neuen Souveränin ein gleichsam unbegrenztes Interagieren mit den göttlichen Seiten der Natur ermöglichen soll:

|| 320 P I, S. 11715–20/MBA VI, S. 14529–34. 321 Vgl. hierzu MBA VI, S. 506. 322 Zum Folgenden vgl. Carus 1831, S. 41ff. 323 Vgl. hierzu meinen Nachweis in Kap. 3. 324 Siehe hierzu auch Roth 2004, S. 355ff. 325 Vgl. hierzu auch Osawa 1999, S. 186. 326 Weshalb sie im Sinne des Stückes auch keineswegs »der Gipfel der Langeweile« ist (so aber Knapp 32000, S. 170), sondern zentrales Funktionselement in der kritischen Ausstellung der Romantik und ihrer politischen Konsequenzen. 327 Siehe hierzu MBA V, S. 3623–25.

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LEONCE. […] Aber ich weiß besser was du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüthe und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestilliren, und wir das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken.328

Für ein zureichendes Verständnis dieser Passage, die gerne als erster Teil einer romantischen Utopie interpretiert wird, mit der das Stück als romantische Komödie abschlösse,329 muss man berücksichtigen, dass dieses Szenario ein Vorschlag des Königs Leonce an seine Königin Lena ist, mit dem er ihrem Willen Rechnung zu tragen hofft, weil er ›besser weiß‹, was sie tatsächlich, d. h. als Alternative zu seinem ersten Vorschlag will. Mit dieser Korrektur seines Vorschlags, vor allem aber mit der Prämisse, dass er besser wisse, was sie wolle, als sie selbst, trägt Leonce vor allem ihrem Status als reiner, vegetabilischer Seele Rechnung. Denn dieser Existenzweise kommt es wie erwähnt zu, kein »hoher Zustand« zu sein, und daher ist er nicht nur vorrational, sondern auch ohne freien, also eigenen Willen,330 weshalb dieses Vermögen von anderen übernommen werden muss, zunächst vor ihrer Gouvernante, dann von Leonce. Die nachfolgende ›Utopie‹ ist also zunächst und zumeist ein Vorschlag Leonces, den Willen seiner königlichen Gattin zu realisieren, die letztlich nicht wirklich weiß, was sie will,331 und daher nach ihrem Hinweis auf den »Zufall« ihrer Heirat mit ihrem geliebten Leonce kein Wort mehr zu sagen hat.332 Inhaltlich zielt der neue Vorschlag allerdings nicht etwa darauf ab, Herrschaftsoder gar Eigentumsverhältnisse zu ändern oder auch nur das Leid der hungernden Untertanen zu lindern, sondern das Gemeinschaftsleben des soeben ererbten Kleinstaates in der Ordnung seiner kosmologischen, d. h. raum-zeitlichen Bedingungen so zu modifizieren, dass die Zeit nicht nach den Gesetzen der kulturell induzierten Messungen der Neuzeit, durch Uhr und Kalender, sondern nach natürlichen Ord-

|| 328 P I, S. 12837–1297/MBA VI, S. 15424–30; Hvhb. von mir. 329 So paradigmatisch Voss 1987, S. 392ff. 330 Nur einmal geriert sich Lena immerhin deutlich unwillig, und zwar als Leonce, ihrer Nekrophilie entgegenkommend, sie in den Zustand einer schönen Leiche imaginiert und küsst: »LEONCE. […] Schöne Leiche, du ruhest so lieblich auf dem schwarzen Bahrtuche der Nacht, daß die Natur das leben haßt und sich in den Tod verliebt. LENA. Nein, laß mich« (P I, S. 11821–24). Erst die hyperbolische Umkehrung der Naturgesetze, die Aufhebung des Selbsterhaltungstriebes in der imaginierten Liebe der Natur zum Tod, kann dem ›Blumenmädchen‹ Lena eine Willensäußerung abzwingen. Zuvor aber darf der Ennui seine Todessehnsucht hemmungslos ausleben, weil er in der Projektion dieses Bedürfnisses auf seine Geliebte die pathologische Dimension seiner Existenz, die Melancholie, überwunden hat. In der Liebe zu Lena überwindet der Ennui keineswegs eine Langerweile und einen Sarkasmus, sondern lediglich seine eigenen Krankheit zum Tode. Romantische Liebe, so Büchner, ist Langeweile ohne Melancholie. 331 Vgl. hierzu auch Berns 1987, S. 272: »Die Kindlichkeit der Prinzessin von Pipi setzt das Wunschprogramm des neuen Herrscherpaares als Regierungsprogramm.« 332 Vgl. hierzu P I, S. 12736/MBA VI, S. 15331.

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nungsmustern wie Mondwechsel, Blumenuhren und der Entwicklung von Blüten und Früchten auszurichten ist.333 Zumindest die Zeitordnung des Königreiches Popo soll sich nach natürlichen Einteilungen des Pflanzenreiches (keineswegs des Tierreiches oder zirkulärer Zeitvorstellungen von Naturvölkern) richten,334 womit vor allem der vegetabilen Psyche Lenas Rechnung getragen werden soll, die sich unter Blumen am wohlsten fühlt.335 Es geht in Leonces Vorschlag nicht darum, alle Formen »›objektiver‹ Zeit« zugunsten einer rein subjektiven Zeiteinteilung zu suspendieren,336 sondern darum, die kulturelle Zeitordnung des neuzeitlichen Bewusstseins durch Regression auf eine »natürliche« Zeitfolge abzulösen,337 wobei beide Vorstellungen durchgehend neuzeitlich sind,338 weil nicht nur Uhr und Kalender, sondern auch Kenntnisse der Entwicklungsregeln der Natur erst der Neuzeit zukommen.339 Die diese Ordnung gebende Natur ist eine rein pflanzliche – ein Sachverhalt, den der Naturforscher Büchner gezielt einsetzt, um den Regressionsstatus der romantischen Konzeption der Kindfrau und deren mögliche Auswirkungen auf Gesellschaftsregeln zu reflektieren. Der zweite Teil von Leonces Vorschlag, der Einsatz von Brennspiegeln, zielt durch die technische Herstellung von Hitze im Königreich zum einen auf die Aufhebung eines bestimmten Naturgesetzes ab, nämlich des Wechsels der Jahreszeiten mit der Abschaffung des Winters, zum anderen auf die klimatische Veränderung des Königreiches, das zumindest im Sommer bis auf das Temperaturniveau Ischias und Capris erhöht – »hinaufdestillirt« – werden soll. Dieser die Natur verändernde ›Veredelungsprozess‹ wird durch eine schon antike Technik ermöglicht;340 er versucht aber vor allem natürliche Bedingungen zu schaffen, in denen die vegetabilische Seele der neuen Königin glücklich existieren kann, die ansonsten in den Wintermonaten der gemäßigten Zonen ›absterben‹, also schlafend dahinvegetieren müsste. Mit der technisch gestützten Einführung süditalienischen Klimas können Lena und

|| 333 Insofern wird keine ›Fehde Leonces gegen die Zeitlichkeit‹ (so Sanna 2015, S. 104f.) inszeniert, sondern ein Vorschlag zur Ausrichtung der Zeitordnung an natürlichen Ordnungsmustern. 334 Weil es in Leonces Modell um den Kontrast von natürlicher und kultureller Zeitordnung (so auch Voss 1987, S. 353ff.) geht, ist der Hinweis auf Linnés Blumenuhren (MBA VI, S. 538) irreführend, weil in dessen Experimenten die Blumen im Hinblick auf das Öffnen und Schließen ihrer Blüten der Uhrzeit untergeordnet sind, mithin die Natur die mechanische Ordnung der Kultur gleichsam anzeigt (vgl. hierzu schon Berns 1987, S. 238 sowie Dörr 2003, S. 403). Es ist vielmehr erneut Carus (1831, S. 279f.), der darauf hinweist, dass die Zeitordnung der Blumen mit denen der Uhr nicht identisch seien. 335 Siehe hierzu auch MBA VI, S. 208ff. 336 So aber Voss 1987, S. 360. 337 So auch Kimm 2002, S. 90. 338 Vgl. hierzu Wendorff 31985, S. 266ff. und S. 357ff. 339 Vgl. hierzu u. a. Breidbach 2006 sowie Lefèvre 2009. 340 Zu den Brennspiegeln, die Archimedes als Kriegswaffen eingesetzt haben soll, vgl. Schneiders 2 2016, S. 73.

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ihr Mann jedoch das ganze Jahr zwischen »Rosen und Veilchen«, also in Leidenschaft und Treue, und zwischen »Orangen und Lorbeer«, mithin in einem stets sommerlichen ›Arkadien‹ leben.341 Schon dieser erste Teil der Ankündigungen der zukünftigen Staatsführung wird von der Forschung gerne als eine nicht nur für Leonce, sondern auch für den Autor Geltung beanspruchende Utopie interpretiert.342 Fasst man die bis hierher betrachteten Elemente dieser ›Utopie‹ zusammen, so ergibt sich zunächst für deren Status, dass sie der Wille einer willensunfähigen romantischen Kindfrau in der Nachfolge Mignons ist, für die stellvertretend ihr königlicher Gatte spricht, weil nur er weiß, was sie tatsächlich will. Insofern sich hier die Postestas voluntatis Lenas ausspricht, kommt diesem Willen des Souveräns immerhin unbedingte Geltung zu. Dabei bezieht sich der Inhalt dieses Willens weder auf politische noch auf ökonomische noch gar auf soziale Sachverhalte, sondern auf zeitkulturelle und klimatische Bedingungen des Kleinstaates, die auf die Psyche der Königin ausgerichtet sind. Die Herrschafts- und Gesellschaftsordnung des Königsreiches Popo bleibt durch diese Willensäußerung des neuen Souveräns vollkommen unangetastet;343 auf dieser tatsächlich politischen Ebene geht es in »aller Ruhe und Gemüthlichkeit« weiter. Von einer politischen Utopie ist also wenig zu entdecken.344 Dabei ist die Referenz auf eine Gattungskonvention345 deshalb zweitrangig, weil diese schon durch die mehr als glückliche, nämlich zufällige Hochzeit erfüllt wurde, der Bezug auf die naturgeschichtlichen Implikationen des Vorschlags jedoch zeigen kann, dass hiermit eher eine kritische Analyse romantischer Topoi und ihrer politischen Instrumentalisierung ausgeführt wird denn eine gegenbildliche Kritik an einer mechanischen, kapitalistischen oder wie immer konkretisierten Moderne.

|| 341 Dass an dieser Stelle der Naturutopie Elemente des Arkadien-Mythos aufgerufen werden, steht seit Voss 1987, S. 392ff. fest. 342 Siehe hierzu u. a. Jancke 31979, S. 368–270; Völkel 1983, S. 132ff.; Wetzler 1984, S. 164; Berns 1987, S. 273f.; Voss 1987, S. 392ff.; Dedner 1990, S. 169; Hiebel 1990, S. 359; Osawa 1999, S. 187ff.; MBA VI, S. 176; Martin 2007, S. 178f.; Beise 2009, S. 83; Neuhuber 2009, S. 136f.; Beise 2010, S. 104; Hofmann u. Kanning 2013, S. 149; kritisch hierzu Zons 1976, S. 448f.; Thron-Prikker 1978, S. 109; Dörr 2003, S. 402ff. 343 Und eben hier setzt Büchners Kritik an solcherart ›Utopien‹ an, und keineswegs daran, dass hier zwar utopische Inhalte, allerdings von einem »höfischen Parasiten« vorgetragen würden (so Hiebel 1990, S. 359). Weder der Versuch, dem Stück selbst das (wie immer) ›widerständige Propagieren« solcherart ›arkadischer Utopien‹ zu unterstellen (so Voss 1987, Dedner 1990 und noch Beise 2009), noch die vulgärmaterialistischen Thesen vom »verblasenen« Klassenstandpunkt der Hauptfigur lassen sich am Text verifizieren. 344 So auch Knapp 32000, S. 175. 345 Vgl. hierzu insbesondere Dedner 1990, S. 165f. sowie Beise 2009, S. 81ff.

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8.3.3 Staat, Gesetze und Strafen – Valerio als Staatsminister Dieser Befund gilt auch für den zweiten, von Valerio vorgestellten Teil dieser Vorstellungen zu einer künftigen Ordnung des Königreiches, der sich nun doch stärker auf regierungs- und soziopolitische Sachverhalte bezieht: VALERIO. Und ich werde Staatsminister und es wird ein Dekret erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird, daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist, daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird, und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!346

Dass Valerio, der Narr, Staatsminister würde, hatte er – unabhängig von allen möglichen Veränderungen – mit Leonce schon vor der Rückkehr ins Königreich ausgemacht, und zwar als Belohnung für seine Hilfe bei der Eheschließung mit Lena als der zwar begehrten, aber »[n]amenlosen, [u]naussprechlichen« neuen Geliebten des Thronfolgers.347 In dieser Funktion, die den Zeitgenossen als »Staatsamt in der höchsten Bedeutung des Wortes« galt,348 also bei allen arkadischen Anspielungen immerhin bedeutet, dass diese ›Utopie‹ im Rahmen eines funktionierenden Staatswesens stattfindet,349 wird er ein Dekret, eine staatliche Verordnung mit Gesetzescharakter, erlassen, das bei Zuwiderhandlung zudem mit Strafen, in vorliegendem Falle sogar mit hohen Strafen, belegt wird. Damit ist neben der Tatsache, dass Valerios Ankündigung die Existenz eines Staates voraussetzt, auch die Geltung und Wirksamkeit von Gesetzen sowie eines differenzierten Strafrechts für diese ›Vision‹ essentiell.350 Unabhängig von allen Inhalten und dem genauen Status dieser Ankündigung des neuen Staatsministers ist zu erkennen, dass mit dieser ›Utopie‹ unter keinen Umständen an staats- und rechtskritische Vorstellungen angeknüpft wird. Denn weder das von einem gewichtigen Teil der Aufklärung kultivierte Ideal einer staatsfreien Vergemeinschaftung351 noch die frühromantischen Konzeptionen eines »poetischen Staates«, wie sie beispielsweise von Novalis entwickelt und mit den zentralen Momenten der Aufhebung der Ständegesellschaft, der Abschaffung des

|| 346 P I, S. 1298–17/MBA VI, S. 15431–38. 347 P I, S. 12022–26/MBA VI, S. 1487–10. 348 Dahlmann 1997, S. 193. 349 Dass solcherart staatliche Grundlegung utopischer Gemeinschaften für das 18. und das frühe 19. Jahrhundert durchaus ungewöhnlich ist, lässt sich nachlesen bei Saage 2001/02, II, insbesondere S. 225ff. 350 MBA VI, S. 540 weist darauf hin, dass mit dem Terminus »kriminalistisch« verdeutlicht wird, dass hier kein Bagatelldelikt vorliegt. 351 Vgl. hierzu Stiening 2017a.

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Eigentums sowie der Transformation aller staatlichen Gesetze in moralische Normen und damit der Auflösung aller Staatlichkeit ausgestattet wurden,352 ist an dieser Stelle des büchnerschen Lustspiels auch nur berührt. Weder wird die Ständegesellschaft erwähnt, die – » morgen […] noch einmal von vorn« – offenkundig bestehen bleibt,353 noch ist das Eigentum oder gar die Existenz des Staates in Frage gestellt. Ebenso wenig aber hat diese Ankündigungen mit frühsozialistischen Utopievorstellungen zu tun, die allesamt gegen eine der drei von Valerio aufrecht erhaltenen Institutionen – Staat, Gesetze, Strafe – kritische Distanz nehmen.354 Einige Nähe weist die in Valerios Hinweisen vorausgesetzte Konzeption im Verein mit der Lustspielhandlung zur romantischen Staatstheorie Adam Müllers aus, weil auch hier Staatlichkeit und Ständegesellschaft neu vermittelt und so zu einer starken Staatskonzeption entwickelt werden.355 Wendet man sich dem Inhalt der Zukunftsvision Valerios zu, dann ist zu erkennen, dass sein staatliches Dekret ein Verbotsgesetz ausführt, das alle Formen physischer oder psychischer Überarbeitung bei strenger Strafe untersagt; verboten wird nicht die Arbeit schlechthin,356 sondern solche körperliche Arbeit, die physische (Schwielen) oder gar pathologische (krank) Auswirkungen hat. Darüber hinaus werden alle Versuche der religiösen Legitimation von schwerer Arbeit unter Pathologieverdacht gestellt und für gesellschaftsgefährdend erklärt. Da auch letztere Bestimmung als Staatsdekret ausgeführt werden soll, muss festgestellt werden, dass der von Valerio projektierte Staat mit der Pathologisierung und Ausgrenzung von Staatsfeinden arbeitet; kurz: wenn hier tatsächlich eine Utopie ausgeführt wird, dann transportiert sie Inhalte, die von den staatstotalitären Modellen der Frühen Neuzeit, der Hochromantik und mancher Frühsozialisten nicht weit entfernt sind. In jedem Falle basiert sie auf der Grundlage einer starken Staatskonzeption. Dieser Eindruck scheint jedoch durch den letzten Hinweis Valerios konterkariert zu werden: »[U]nd dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!« Die Thesen zum utopischen bzw. arkadischen Schluss des Lustspiels gründen zumeist in dieser Reihung. Denn nicht allein die schlaraffenlandähnliche Bitte um »Makkaroni, Melonen und Feigen«, sondern auch die Hoffnung auf Musikalität und körperliche Schönheit knüpft an bestimmte Momente der Italiensehnsucht Leonces an und scheint eine Verlängerung der Aussicht, als Lazzarone zu leben bzw. deren staatliche Verwirklichung zu verheißen. Tatsächlich lässt sich die Kombination aus italienischen Speisen, Musik und der Schönheit des

|| 352 Vgl. hierzu Mähl 1985, S. 288f. 353 So auch Knapp 32000, S. 174. 354 Zu den sozialistischen Utopien und deren Distanz zum Staat vgl. Saage 2002, III, S. 9–86. 355 Vgl. Müller 1936, S. 54ff. 356 So aber u. a. Neububer 2009, S. 137; zutreffend dagegen Berns 1987, S. 272.

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menschlichen Körpers schon in Heines kulturkritischem Sensualismus finden, den man einer als ›bürgerlich‹ oder ›philiströs‹ bezeichneten Wirklichkeit gegenweltlich kontrastieren kann,357 allerdings – und das wussten auch Heine und Büchner – war »die arkadische Utopie im mal du siècle« schon in der Lyrik Lenaus zu Beginn der 1830er Jahre als Illusion erkannt worden.358 Mit Büchners Lustspielschluss ist ein system-, modernitäts- oder gar kapitalismus-kritische Habitus aber nur schwer zu verbinden. Denn es wurden bislang immerhin drei Momente der Passage noch nicht betrachtet, die den scheinbar sensualistischen Inhalt präziser fassen lassen: Dazu gehört zum ersten der Hinweis Valerios, dass »wir uns« nach Erlassen seines Dekretes in den Schatten legen können, wobei sich die Frage stellt, wer genau damit gemeint ist. Das Gros der den Schluss als positive Utopie begreifenden Interpreten meinte mit jenem »wir« alle Einwohner des Königreiches Popo verbinden zu können, und dann hätte der Schluss insofern die Valenz einer polit-romantischen Utopie, als es schon in Morusʼ Utopia um die Verminderung der Arbeit als eines schweren Hemmnisses für die Glückseligkeit des Menschen ging359 und auch die bukolische Tradition die Geruhsamkeit des Schäferlebens als gegenbildliche Reflexionsfigur auf die Arbeitswelt der Neuzeit begriffen werden kann.360 Aber meint Valerio mit »wir« alle Einwohner des Königreiches? Da das Dekret Valerios keineswegs jede Form von Arbeit verbietet, sondern ausschließlich solche, die zu körperlichen Verletzungen oder gar Krankheiten führen, muss es auch im Kleinstaat Popo Arbeit weiterhin geben, nur in begrenzter Form – so märchenhaft ist diese Vision also gar nicht. Darüber hinaus hatten Leonces Befehl an den Hofstaat und die Bauern, die Feier morgen zu wiederholen, durchaus kenntlich gemacht, dass dieses Gemeinwesen als absolutistischer Staat und als Ständegesellschaft fortbestehen werde und solle. Das »wir« Valerios kann sich also – allein gemäß der Rationalität der Handlungs- und Dialogführung der letzten Szene – nur auf die Staatsführung, folglich auf ihn, Leonce und Lena beziehen.361 Sie und nur sie können sich in den Schatten legen und den Wünschen nach einer ›italienisch-arkadischen‹ Existenz nachgehen, weshalb diese ›Utopie‹ sowohl in Bezug auf die nur Lenas Willen beachtenden Vorstellungen Leonces als auch auf die staatspolitischen Vorgaben Valerios ständisch bzw. herrschaftspolitisch bestimmt ist: Diese ›Utopie‹ ist eine für die (noch so eben) herrschende Aristokratie; sie reproduziert zudem die Untätigkeit des Thronfolger – nun aber, weil durch die romantische Liebe zu Lena nobilitiert, pathologiefrei und von Staats wegen.

|| 357 Vgl. hierzu Voss 1987, S. 402ff. 358 So zu Recht Maler 1978, S. 199. 359 Vgl. hierzu Morus 2014, S. 69ff. 360 Vgl. hierzu Garber 1985, S. 37–81. 361 So – allerdings pathologisierend – Knapp 32000, S. 174.

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Die beiden letzten, noch zu betrachtenden Elemente der Aussage Valerios weisen ebenfalls auf eine Dimension hin, die eine – im Sinne des 19. Jahrhunderts – sensualistische Interpretation der Utopie deutlich erschweren: Denn die italienischen Speisen, die selbsteigene vokale Musik und die Schönheit ihrer Körper wünschen sich die drei ›Staatslenker‹ nicht von sich selbst, ihren Untertanen oder vom Schicksal, sondern von »Gott«. Bei aller Kritik an einer religiösen Arbeitsideologie bleibt der Narr Valerio auch als Staatsminister sowie der von ihm geführte Staat eingebunden in eine religiöse Weltanschauung, die zumindest Vorstellungen von einem eingreifenden Schöpfergott aufrecht erhält. Mit dieser für ihn offenbar wenig spektakulären Referenz auf einen lenkenden Gott, den Leonce mit seiner Anrufung der »Vorsehung« zuvor schon bemüht hatte,362 vermittelt sich zwanglos die Hoffnung auf eine der Utopie zukommende »kommode Religion«. Dabei geht es nicht allein um eine ›angenehme‹,363 sondern – folgt man der Semantik des lateinischen Referenzwortes (commodus) – um eine ›zweckmäßige‹ Religion. Deren Zweckmäßigkeit besteht zum einen darin, den drei Herrschenden die gewünschten Makkaroni ins Maul fliegen zu lassen, und zum anderen die Bedingungen der Möglichkeit dieses melancholiefreien Müßiggehens, die Stabilität des Gemeinwesens, zu garantieren – ohne dass solcherart Religion disziplinierend in den Herrscher- oder weltanschaulich in den Untertanenalltag eingriffe. Ohne zweckmäßige Religion, die den emphatischen Abschluss der Vision des ehemaligen Narren und nunmehrigen Staatsministers bildet, ist für Valerio diese ›konkrete Utopie‹ nicht zu denken. Eine säkulare Staatskonzeption, wie sie spätestens seit Kant Theorie und Praxis der Politik beherrschte,364 ist für Valerio offenbar ebenso undenkbar wie nicht wünschenswert. Blickt man vor diesem Hintergrund auf die gesamte das Lustspiel abschließende emphatische Passage, lässt sich die These von der Utopieförmigkeit der als regressive Rückkehr »ins Paradies« inszenierten Zukunftsvisionen der zukünftigen Staatsführung des Königreiches Popo kaum aufrechterhalten.365 Leonces zeitkulturelle und klimatische Pläne sind ausschließlich auf Wille und Wohlergehen seiner romantischen Kindfrau und Königin ausgerichtet und basieren ebenso wie Valerios Zukunftsvorstellungen auf der funktionieren Staats- und Gesellschaftsordnung des Absolutismus. Es sind die guten Aussichten des ennuistischen Aristokratismus der Restaurationszeit auf eine schlaraffenlandähnliche Zukunft für sich als herrschende Klasse. Dabei werden diese Vorstellungen als romantische Topoi vermittelt, um die

|| 362 Vgl. hierzu P I, S. 12737/MBA VI, S. 15332. 363 So u. a. die verschlungene Interpretation bei Kobel 1974, S. 269ff. 364 Vgl. hierzu u. a. Friedrich 2004, S. 157ff. 365 Das gilt selbst für die eigentümlichen Formen romantischer Natur-Utopien des frühen 19. Jahrhunderts, beispielsweise Chateaubriands, weil hier weder Staatsformen noch technisch ausgefeilte Brennspiegel auftauchen, vgl. u. a. Maler 1978, S. 194ff.

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weltanschauliche Kollaboration von abgelebtem Aristokratismus und literarischer Romantik minutiös zu analysieren. Dass folglich mit Büchners eigentümlich komplexem Lustspiel keine romantische Komödie aufgeführt wird, sondern in deren Form und mit deren Mitteln eine subtile – von jedem Hass übrigens freie – kritische Analyse dieser literarischen und weltanschaulichen Haltung, lässt sich abschließend noch einmal an der Bauernszene skizzieren.

8.4 Die Bauernszene Nicht nur im Hinblick auf eine romantische Komödie, sondern hinsichtlich der komischen Gattung überhaupt macht es Büchner dem Leser oder Zuschauer seines ›Lustspiels‹ in jener Szene besonders schwer, die dem Auflösungs- und Abschlussspektakel vorausgeht. Seit jeher gilt die so genannte ›Bauernszene‹ als ebenso problematisch wie komplex,366 wird doch erkennbar der Sarkasmus Leonces gegenüber seiner Mätresse oder später gegenüber seinen Untertanen auf den Zuschauer übertragen,367 will er denn irgend über die Szene lachen.368 Neben der Rosetta-Szene ist es dieser Auftritt der hungernden Bauern als erzwungenem Jubelchor für das einziehende Brautpaar, die Wilhelm Schulzens Deutung des ›sorgenbefreiend sprudelnden Humors‹,369 der das Stück beherrsche, in Frage stellt. Ebenso ergeht es neueren Thesen, nach denen Leonce und Lena das »kritische Potential der Komik« entberge oder gar eine Anschauung davon gebe, wie es sich nach einem Diktum Hegels über die Komödie des Aristophanes anfühle, ›wenn es einem sauwohl sei‹;370 auch diese Behauptung lässt sich durch die Bauernszene nicht stützen, und wird

|| 366 Zur Interpretation dieser Szene vgl. u. a. Mayer 1972, S. 320 u. S. 327; Fink 1973, S. 491; Sengle 1971–1980, III, S. 313; Meier 1983, S. 67; Poschmann 1985, S. 184ff u. S. 191ff.; Greiner 1988, S. 218f.; Dedner 1990, S. 129–133; Beise 2005–08, S. 96f.; Neuhuber 2009, S. 132; Beise 2010, S. 103; Fortmann 2013, S. 149ff.; Glück 2013–2015, S. 237ff.; Sanna 2015, S. 108. 367 Diese eigentümliche Asymmetrie bei aller Gemeinsamkeit übersieht Poschmann 1985, S. 224ff. 368 Insofern ist Beise (2010, S. 103) rechtzugeben, wenn er feststellt, das »Lachen über die Bauern« sei »kein satirisches Verlachen«; seine Gegenthese aber, hier werde ein »humoristisch moderiertes Auslachen« verlangt, mag zwar mit den Identifikationsinteressen der Berliner Interpretationslinie korrelieren, verkennt aber, dass über Bauern, die einen Braten niemals essen, nur in den Momenten der Huldigung ihrer Herrschaft »riechen« dürfen, nur jener Sarkasmus lachen kann, der sich je schon Jenseits von Gut und Böse wähnt. Büchner zeigt mit dieser Szene nicht, wie man über Hungernde lachen kann, sondern was es heißt und voraussetzt, über den Hunger anderer zu lachen. 369 Grab 1985, S. 65. 370 Beide Thesen werden vertreten von Beise 2005–08, S. 99f.

Die Bauernszene | 659

genau dann für das gesamte Stück unhaltbar, wenn man diese Szene als funktionalen Teil des Ganzen versteht.371 Dabei ist die burleske Form des Humors372 ebenso unverkennbar wie auch die Tatsache, dass Büchner mit dieser Szene Elemente der Volkskomödie in sein Lustspiel aufgenommen hat, um einen der möglichen sozialen Kontexte des romantischen Aristokratismus auszuführen.373 Mit einer romantischen Komödie haben diese derben Darstellungen nichts zu tun, müssen gleichwohl mit den romantischen bzw. romantisch-kritischen Momenten des Stückes in Einklang gebracht werden. Dabei kann die Stellung der Szene im Handlungsgefüge des gesamten Lustspiels erste Hinweise geben: Denn nach dem Vertrag zwischen Valerio und Leonce (III.1) in Bezug auf das Täuschungsmanöver zur Trauung Leonces mit Lena und vor der Auflösung und dem zweifach komischen Schluss (III.3.) führt Büchner in III.2. noch einmal in aller Drastik vor Augen, dass auch dieser Kleinststaat, dessen herrschende Repräsentanten zwischen menschenverachtendem Philosophenkönigtum, sadistischem Ennui und willensunfähiger romantischer Indolenz schwanken, deren verwaltungs- und staatpolitische Beamte aber als bedingungslose Helfershelfer dargestellt werden, dass dieses sich durch Leonces Machtübernahme weder in staatsnoch in gesellschaftspolitischer Hinsicht verändernde Königreich auf den Leistungen der zugleich hungernden bäuerlichen Bevölkerung basiert, die sich von den unteren Chargen der Staatsdiener kommandieren lassen muss. Vor allem aber zeigt die Szene, dass sich die unterdrückte bäuerliche Bevölkerung in ihre Unterdrückung schickt und sogar bei der wiederholten Hochpreisung ihrer Herrscher keine Anstalten macht, sich dem widersprüchlichen Status, in dem sie sich befindet – hungernd der Ursache ihres Hungers ein langes Leben zu wünschen –, zu widersetzen.374 Stärker noch als in Dantonʼs Tod reagiert Büchner auf die sein politisches Leben prägende Erfahrung, dass sich das unterdrückte und in seiner Existenz bedrohte Volk nicht zum politischen Subjekt formen will bzw. kann und gegen seine Unterdrücker aufbegehrt. Vielmehr lässt es sich als jubelndes Volk zu Feierlichkeiten einspannen, die ein politisches Fest darüber darstellen, dass sich seine Lage kontinuieren und also nicht verbessern wird – die gequälten VivatSchreie des Volkes von Popo sind dabei die – mäßig – komische Variante des tragi-

|| 371 Was keineswegs bedeutet, dass man aus ihr den »Schlüssel nicht allein zum grundlegenden Gehalt des Stückes als eines inhaltlichen Ganzen, sondern gleichermaßen zu dessen formalem dramenspezifischen Bauprinzip« erhält (so aber Poschmann 1985, S. 191); Büchners zentrale Kritik der Romantik wie der dafür entscheidende Wechsel von Satire und Komödie (so Fink 1973, S. 501ff.) sind aus dieser Szene nicht herauszuklauben. 372 So zu Recht Fink 1973, S. 491. 373 Inwiefern gerade in dieser Szene »das Soziale [...] weitgehend eludiert« wird (so Hiebel 1990, S. 354), muss Geheimnis des Interpreten bleiben. 374 So auch Neuhuber 2009, S. 132.

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schen Selbstwiderspruchs einer unterdrückten Bevölkerung, die nicht ihre Peiniger, sondern sich selbst wie im Woyzeck ermordet. Um diesen zentralen politischen Widerspruch, den er schon im Hessischen Landboten herausarbeitet und beklagt,375 im Modus des Komischen gestalten zu können, konnte Büchner nicht anders als zu einem burlesken Sarkasmus greifen, der zugleich den Zuschauer in die Haltung Leonces zwingt, womit dessen ennuistischer Zynismus auf diesen zu übertragen versucht wird. In Leonce und Lena wird die Obsoleszenz des Aristokratismus auf Dauer gestellt und so der Charakter des Überganges von der abgelebten Romantik zu den sensualistischen Realismen der neuen Epoche in seiner Prozesshaftigkeit ausgestellt. Insofern ist Büchners Lustspiel tatsächlich die Komödie des Vormärz.376 Sowohl für eine Fülle von Einzelanalyen als auch für die gegenüber der herrschenden Lehre veränderte Sicht auf das Ganze der schwierigen Komödie kann eine wissensgeschichtliche Perspektive Grundlegendes beitragen.

|| 375 Vgl. hierzu Stiening 2016. 376 So auch – wenngleich mit anderen Argumenten – Viëtor 1949, S. 179ff. sowie Greiner 22006, S. 283ff.

9 Wissen und Gesellschaft: Woyzeck Bei aller Belastung, die die Vorbereitung auf die philosophiehistorischen Vorlesungen »über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza« für ihn bedeutete,1 Büchner muss sich bei dieser Arbeit auch gelangweilt haben: Denn parallel zur Arbeit an der Komödie Leonce und Lena, spätestens jedoch im September 1836,2 beginnt er die Ausarbeitung eines neuen Dramas, an dem er bis kurz vor seinem Tode neben seiner beruflichen Tätigkeit als Dozent der Vergleichenden Anatomie in Zürich ›experimentiert‹. Im Januar 1837, nur Wochen vor seinem Tod, ist er sogar davon überzeugt, dieses neue Drama – neben Leonce und Lena – »in längstens acht Tagen« fertigzustellen.3 Allerdings sind von diesem angeblich nahezu vollendeten Dramentext nur Bruchstücke überliefert, die aufgrund des prekären Zustands im Hinblick auf Leserlichkeit, Ordnung der Teile und Fragmentarität des Ganzen wenig von einem nahezu abgeschlossenen Werk verraten.4 1879 erstmals in einem vorläufigen Zustand transkribiert und editiert,5 lösten diese Bruchtücke einerseits eine langanhaltende editionsphilologische Kontroverse aus, die eine beeindruckende Reihe von Editionen hervorbrachte,6 welche auch mit den Konstitutionsvorschlägen der jüngsten Ausgaben nicht abgeschlossen sein dürfte.7 Nicht erst die Renaissance der Editionsphilologie seit den 1980er Jahren führte aufgrund der extremen Bruchstückhaftigkeit des letzten Dramenversuchs Büchners dazu, dass offenbar jede neue Generation von Philologen sich durch »genetische[s] Nachschaffen«8 ihren eigenen Text konstituiert.9

|| 1 Brief an Wilhelm Büchner vom 2. September 1836; P II, S. 44816f./MBA X.2, S. 10216f.. 2 Zur weitgehend im Dunkeln der ereignisreichen Monate zwischen Sommer 1836 und seinem Tod im Februar 1837 liegenden Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Woyzeck vgl. u. a. P I, S. 705–729; Knapp 32000, S. 176ff.; MBA VII.2, S. 86–136; Martin 2007, S. 188ff.; Neuhuber 2009, S. 143ff.; Beise 2010, S. 109; Hofmann u. Kanning 2013, S. 153ff. 3 Brief an Wilhelmine Jaeglé, Januar 1837; P II, S. 4613/MBA X.1, S. 11723–25. 4 Vgl. hierzu auch Greiner 2012, S. 606. 5 Zur Fassung Franzos’ vgl. Hauschild 1985, S. 107–157; P I, S. 710f.; MBA VII.2, S. 145–149. 6 Zu Geschichte der Woyzeck-Editionen vgl. Dedner 1988/89, S. 144f. sowie P I, S. 710–714. 7 So heißt es schon bei Glück 1990, S. 180, dass es keinen »endgültigen Woyzeck-Text« gebe; aufgenommen bei Martin 2007, S. 193 und Neumeyer 2009b, S. 99; dass dies allein für die unterschiedliche Anordnung der Szene wirksam ist, zeigt der Vorschlag von Beck 2012. 8 So schon Landau 31973, S. 73. 9 Zu einem Bruchstück dieser Editionsgeschichte des Woyzeck vgl. MBA VII.2, S. 145ff. https://doi.org/10.1515/9783050093215-009

662 | Wissen und Gesellschaft: Woyzeck

Andererseits kam diesen rudimentären Auszügen aus insgesamt vier verschiedenen Ansätzen, die sich in verschiedenen Fassungen niederschlugen,10 aufgrund unterschiedlicher Kompilierungsvorschläge für Bühnenfassungen insbesondere um 1900 eine erhebliche Wirkung auf die europäische Literatur und Kunst zu.11 Spätestens mit Alban Bergs Oper zeigte sich, dass der Woyzeck, den es als Stück Georg Büchners nicht gibt, eine Wirkung entfaltete, die aus der Geschichte der modernen Literatur nicht wegzudenken ist.12 Bis in die Gegenwart basiert die Wirkung des büchnerschen Dramas auf »Lese- und Bühnenfassungen«,13 die als Produkte von Künstlern, Philologen oder Dramaturgen mit dem historischen Dokumentationsbestand keineswegs identisch sind. Weil sich aber die wissenschaftliche Editionsphilologie ausschließlich mit Vorschlägen zur Transkription, Anordnungen und Kommentierung jener bestehenden Textbestände zu befassen hat, die erfolgreiche Aufführungspraxis jedoch an stets neuen Kompilierungskonzeptionen ausgerichtet ist, scheinen beide Rezeptionsformen des büchnerschen Textkonvoluts immer weiter auseinanderzudriften, ohne allerdings vollständig den Kontakt zu verlieren. Sicher ist, dass die Philologie ihre Legitimation zur Rekonstruktion des äußerst bruchstückhaften Materials aus der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Stückes in seinen kompilierten Fassungen bezieht. Die nachfolgende wissensgeschichtliche Perspektive kann sich selbstverständlich ausschließlich auf die überlieferten Textbeständen in ihren derzeitig gültigen Präsentationen beziehen.14 Dabei wird die eingenommene Perspektive ausdrücklich keine neuen Vorschläge zu Transkription oder Anordnung der Textteile machen, sondern auf die derzeitigen philologischen Erkenntnisbestände zurückgreifen. Soweit möglich, soll eine ausschließlich hermeneutische Betrachtung der Fragmente im Hinblick auf die Gehalte und Funktionen wissensgeschichtlich bestimmbarer Kontexte durchgeführt werden. Dafür sind – ohne allen epistemologischen oder methodologischen Ballast, der auch an die Woyzeck-Fragmente herangetragen wurde15 – in einigen Fällen inhaltliche bzw. formale Veränderungen einzelner Szenen,

|| 10 Vgl. allein die erheblich voneinander abweichenden Editionen in den Werkausgaben von Bergemann 1922, S. 143–161; HA I, S. 143–181; P I, S. 145–219 sowie MBA VII.2, S. 1–32. 11 Vgl. hierzu vor allem die beispiellose Arbeit von Viehweg 2000–04, S. 241–258. 12 Vgl. hierzu Ullamn 1972a, S. 140ff. sowie die Beiträge in Petersen u. Winter (Hg.) 1997. 13 Vgl. u. a. Dedner 1988/89, S. 146f.; P I, S. 145–173; Dedner 2000, S. 11–80. 14 Dazu sind die Ausgabe Poschmanns (P I, S. 177–219) und die MBA (VII.2, S. 3–32) zu zählen. 15 Vgl. die Apologie der editionsphilologischen Kategorie der Textgenese durch Röcken 2005–08, die daran krankt, dass sie – wie in der Marburger Büchner-Forschung Standard – Philologie und Hermeneutik ununterschieden lässt. Röckens Apologie richtet sich gegen eine hermeneutische These von Roland Reuß, der sich gegen die Auflösung von hermeneutisch zu ermittelnder Systematik des Gehaltes eines literarischen Textes in die Rekonstruktion der Genese seiner Entstehung wendete, weil gerade bei scheinbar ›dunklen‹ Texten (Hölderlins, Celans etc.) das Unverständnis des Gehaltes durch die Paraphrase seiner Entstehung kompensiert wird; vgl. hierzu auch Martus

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die Büchner in mehreren Fassungen vorsah, zu berücksichtigen. Gerade in den wissenschaftsgeschichtlich wirksamen Passagen nimmt Büchner nämlich Änderungen bzw. Ergänzungen vor, die Rückschlüsse auf deren Stellung innerhalb des intendierten Ganzen erlauben.16 Im Unterschied zu Dantonʼs Tod, in dem vor allem politische Akteure auftreten, oder der Novelle Lenz, deren Protagonist ein zwar wissenschaftlich gebildeter, gleichwohl vor allem literarisch ausgerichteter Künstler ist, tritt im Woyzeck die theoretische Naturforschung und die praktische Medizin (in ihrer internistischen und psychiatrischen Ausrichtung) in der Person des »Doctors« auf. Darüber hinaus erhält die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts soziokulturell an Bedeutung gewinnende Wissenschaftspopularisierung in der Jahrmarktszene ihren – wenngleich kritisch gebrochenen – Auftritt.17 Zudem war schon den frühesten Interpreten deutlich,18 dass Woyzeck nicht nur ein soziales Drama im Sinne der Darstellung eines ›Paupers‹ ist, sondern auch durch den Namen der Titelfigur in der Forensik der 1830er Jahre ihren bestimmenden Kontext hatte: Der wegen der Ermordung seiner zeitweiligen Lebensgefährtin und Gelegenheitsprostituierten 1823 hingerichtete Johann Christian Woyzeck galt in den 1830er Jahren innerhalb der gerichtsmedizinischen Forschung als Paradigma für einen Justizirrtum, der aufgrund unangemessener Gutachterurteile über seine Zurechnungsfähigkeit während der Tat unrechtmäßig zu Tode gekommen sei.19 Am ungewöhnlichen Fall ›Woyzeck‹ entzündete sich seit den 1820er Jahren eine kontroverse rechtspolitische und -medizinische Forschungsdebatte über die Frage des Verhältnisses von Willens- und Handlungsfreiheit einerseits sowie ihrer Einschränkung durch psychische Faktoren andererseits,20 mithin um Kriterien einer gesetzlich bestimmbaren Zurechnungsfähigkeit.21 In dieser Debatte wurden Fragen erneut aufgegriffen, die in der seit dem späten 18. Jahrhundert sich professionalisierenden Forensik schon im Rahmen aufklärerischer Gerichtsmedizin diskutiert worden waren. Durch die Kritik an den Gutachterent-

|| 2016a. Gegen Röckens philologische ›Rettung‹ der genetischen Edition hat Reuß vermutlich nichts einzuwenden. 16 Die Forschung sieht bisher, vor allem im Blick auf die Änderungen von H1 nach H2 eine Zunahme an Elementen des sozialen Dramas, vgl. Hofmann u. Kanning 2012, S. 154–156. 17 Zu den Tendenzen einer Popularisierung des Wissenschaften, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzen, vgl. Daum 1998 sowie Schmidt 2003, S. 21–46. 18 Vgl. die nach wie vor als brillant zu bezeichnende Interpretation von Landau 31973b, S. 72–81 [EA 1909]. 19 Eine Darstellung und Dokumentation der kontroversen öffentlichen Debatte dieses Falles bietet MBA VII.2, S. 331–440; zum begründungstheoretischen Hintergrund dieser Debatte in der Naturrechtsdiskussion des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Greve 2000, S. 69–94, über beides im Zusammenhang vgl. Schiemann 2017. 20 Grundzüge der dramatischen Reflexion Büchners auf diese Problematik rekonstruiert Campe 1998, S. 209–236. 21 Vgl. hierzu Greve 1998, S. 132.

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scheidungen im Fall ›Woyzeck‹ gewann die Rechtsauffassung der Aufklärung in den 1820er Jahren nach einer Phase uneingeschränkter Dominanz ihrer ›romantischen‹ Variante erneut an Gewicht.22 Der Forschung ist seit jeher aufgrund der aufdringlichen Präsenz der verschiedensten Wissenschaften im Woyzeck bewusst, dass Büchner eine dramatische Reflexion auf deren soziopolitische Funktion beabsichtigte.23 Es fragte sich stets nur: welche? Schon Landau sprach 1909 in einer paradoxalen Wendung vom Doktor als »bösartigem Weltbeglücker«. Viëtor sah in der Figur »Gelehrsamkeit« und »Bildung« einerseits mit »Dummheit« und »Rohheit« andererseits kombiniert. Die polithistorische Forschung der 1980er Jahre sah durch die Präsenz der Figur den Status des sozialen Dramas, den Woyzeck als Darstellung der hungernden, geschundenen und gedemütigten Kreatur zunächst und zumeist innehatte, durchaus in Frage gestellt. Mit der nahezu vollendeten Formulierung Alfons Glücks lautete die Problemlage: Was hätte denn eine Satire auf ›die‹ Wissenschaft in der Tragödie eines Paupers zu suchen? Hier liegt das Problem.24

Wenn es mithin im Woyzeck um eine Reflexion auf die ›Lage der hungernden Bevölkerung in Westeuropa‹ ging,25 passte zwar der militärische Komplex durchaus ins Bild, weil ein Großteil der verarmten männlichen Bevölkerung in der Armee dem Hunger zu entgehen versuchte.26 Was aber hatte die zudem satirisch durchsetzte Darstellung des Doktors und seines Versuches an Woyzecks Körper in diesem sozialgeschichtlich bestimmbaren Kontext zu suchen? Der Bedeutung für die wissensgeschichtliche Methodik, die an dieser Problemlage erneut auf die Sozialgeschichte der Literatur stößt, und der erheblichen Kontroversen in der Forschungslandschaft der letzten Jahre wegen soll mit dem Motivkomplex der Wissenschaft und ihrer poetischen Reflexion anhand der Figur des Doktors die folgende Überlegung begonnen werden. Dabei wird sich zeigen, dass Büchners Woyzeck weder nur als sozialkritisches Drama27 noch nur als »medizinhis-

|| 22 Vgl. hierzu die von der Woyzeck-Forschung bisher nicht wahrgenommene Studie von Roth 2007. 23 Vgl. schon Viëtor 1949, S. 196f. 24 Glück 1985b, S. 143. 25 Tatsächlich wurde und wird der Dramentext gerne als poetisches Pendant zu Engels Lage der arbeitenden Klasse in England gelesen (MEW II, S. 227–505), samt der zentralen Thesen der engelschen Schrift hinsichtlich der Verursachung des Pauperismus durch den Industriekapitalismus; vgl. u. a. Ullmann 1972a, S. 37ff.; Jancke 21979, S. 271ff.; Glück 1985a, S. 183f. oder auch Poschmann 2 1985, S. 260ff. 26 Vgl. hierzu die anschauliche Darstellung des sozialgeschichtlichen Hintergrundes bei Glück 1984b, S. 227–247. 27 Vgl. Elm 2004.

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torisches Dokument« zu interpretieren ist,28 sondern die sozialanalytische Perspektive des Stückes mit seiner wissensgeschichtlichen so vermittelt werden muss, dass ebenso die Stellung einer innovationsabhängigen Wissenschaft in einer sich wandelnden Gesellschaft wie auch die soziale Bedingtheit wissenschaftspraktischer Arbeit als Darstellungs- und Reflexionsabsichten des Stückes sichtbar werden können.29 Eine historisch umfassende und methodisch gegenüber den sozialgeschichtlichen Dimensionen des Stückes begrenzte Form der wissensgeschichtlichen Kontextualisierung kann die Stellung der wissenschaftsgeschichtlichen Gehalte im poetischen Gefüge des Woyzeck präzise ermitteln.

9.1 Der Doktor – »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft« 9.1.1 Von Dr. Frankenstein bis Balthazar Claës – Zur Stellung von Naturforschern und Medizinern in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts Unbestreitbar gehört die anschaulich gestaltete Figur des Doktors aus den WoyzeckFragmenten – ähnlich Marion oder Laflotte aus Dantonʼs Tod, dem Heiligen aus dem Lenz-Fragment oder dem Narren Valerio aus Leonce und Lena – zu den markantesten Personen des büchnerschen Dichtungskosmos. Diese Sonderstellung ergibt sich auch und im Besonderen bei einem kontextualisierenden Blick auf vergleichbare Figuren der zeitgenössischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Dieser Blick ist auch deshalb hilfreich, weil sich die Forschung – wie Rosemarie Zeller zu Recht kritisch bemerkt – zu häufig und zu lange mit Büchners Werk in seiner angeblichen Einzigartigkeit beschäftigte, und dies trotz der detektivischen Suche nach Quellen: Die Büchner-Interpretation hat sich, scheint mir, zu lange mit Büchner als einer singulären Erscheinung befaßt und hat vieles als Sicht Büchners interpretiert, was zum kulturellen Wissen seiner Zeit gehört.30

Diese unhistorische Singularität gilt auch für die Forschung zur Figur des Doktors.31 Diese weist gleichwohl in ihrer charakteristischen Vielschichtigkeit und scheinba-

|| 28 Zu letzterem vgl. Roth 1995–99, S. 519. 29 Die bisherigen Versuche, die Dimensionen des Pauperismus und der forensischen Fragestellung mit der wissenschaftsgeschichtlichen Thematik zu vermitteln, scheitern an ihren ausschließlich negativen Vorurteilen über die moderne Wissenschaft, die Büchners Arzt gleichsam zum Vorläufer Joseph Mengeles stilisieren; vgl. Glück 1985b; Kubik 1991, S. 62–73; Ludwig 1998, S. 232–302; Knapp 3 2000, S. 204; Pethes 2006, S. 68–82. Zum affektiven Anti-Szientismus der Woyzeck-Forschung vgl. auch die Kritik am angeblichen ›Objektivismus‹ des Clarus-Gutachtens bei Elm 2004, S. 113ff. u. S. 128. 30 Zeller 1986/87, S. 100f.

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ren Ambivalenz eine Reihe von Vorbildern und Parallelen in der europäischen Literatur der Zeit auf. Dabei steht der Arzt und Naturwissenschaftler Dr. Viktor Frankenstein auch im Kontext der Woyzeck-Figur an prominenter Stelle dieser die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts bevölkernden Gruppe forschender Mediziner. Es macht eine Besonderheiten dieser Figur aus, dass sie zusammenhält, was Büchner selber strikt trennte: Theorie und Praxis der Medizin und Humanbiologie. In der 1831 – also nur wenige Jahre vor der Arbeit Büchners an Woyzeck – publizierten endgültigen Fassung des Romans entwickelt sich Frankenstein von einem Naturphilosophen mit Tendenzen zu den Theorien Agrippas und Paracelsus’ zu einem experimentellen Naturwissenschaftler, dessen zunächst chemische, dann biochemische Interessen in einem Menschenversuch kulminieren: From that day natural philosophy, and particularly chemistry, in the most comprehensive sens of the term, became nearly my sole occupation. […] One of the phenomena which had peculiary attracted my attention was the structure of the human frame, and, indeed, any animal endued with life.32

Anders als Büchners Doktor nimmt Frankenstein sich seinen Probanden nicht aus dem verarmten Volk, sondern schafft sich diese Versuchsperson selbst, womit er in jenes Konkurrenzverhältnis zum Schöpfer gerät, das die Autorin als die Essenz neuzeitlicher Wissenschaft interpretierte und das ihm letztlich zum Verhängnis wird.33 Viele Elemente der Figur des Dr. Frankenstein – die Hybris, der Menschenversuch, die chemische Kompetenz – entsprechen den Charaktereigenschaften und Kompetenzen des büchnerschen Arztes. Nur eines fehlt der Perspektive auf den szientifischen Menschenmacher und Gottesversucher: die satirische Überzeichnung. Diese aber ist Büchner gegenüber dem dargestellten Kollegentypus deshalb möglich, weil er u. a. durch seinen Vater unmittelbare Erfahrungen im Umgang des Ärztestandes mit der Bevölkerung hatte. Diese nüchterne Erfahrung mangelt der Angst vor einer entfesselten Naturwissenschaft, die Shelley zu ihrem »Modern Prometheus« antrieb, gänzlich. Diese Angst vor der Wissenschaft überhaupt, die auch dem WoyzeckFragment gerne zugeschrieben wird,34 teilte Büchner nicht. Der Status einer humorfreien, mehr melancholischen als tragischen Gestalt nimmt auch die zentrale Nebenfigur des Arztes und materialistischen Gesellschafts-

|| 31 Vgl. hierzu die weitgehend kontextfreien Überlegungen zu dieser Figur bei Ullman 1972a, S. 49– 52; Glück 1985b, passim; Kubik 1991, S. 62–73; Knapp 32000, S. 201; Dedner 2000, S. 177–188. Erst die Nachweise von Roth 1990–94 und Roth 1995–99 stellten einzelne Aussagen des Doktors in den wissenschaftlichen Kontext der 1820er und 1830er Jahre. Der literarische Kontext wurde bislang im Hinblick auf diese Figur des Dramenfragments nicht beachtet. 32 Shelley 1993, S. 40f. 33 Vgl. hierzu von Engelhardt 2006, S. 120ff. 34 Vgl. insbesondere Glück 1985b; Ludwig 1998 sowie Pethes 2006.

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und Kulturtheoretikers in Immermanns Epigonen von 1836 ein.35 Dieser Arzt wird wie folgt in die Erzählung eingeführt: Der Arzt hatte seine Wissenschaft mit Geist und Freiheit studiert, die verwandten Naturgebiete waren von ihm in den Kreis der Betrachtungen gezogen worden, er teilte sich gern und ausführlich mit. Aber freilich hatten diese Studien die gewöhnliche Folge gehabt. Dem Eingeweihten war das animalische Leben die Hauptsache geworden. Von Natur zweiflerisch gesinnt, hatte er durch ein wunderliches Verhältnis, welches ihn heimlich peinigte, einen noch schärferen Blick für den Zwiespalt der einzelnen Dinge bekommen. Alles Geistige und Gemütvolle fand an ihm einen entschiedenen Verneiner, der die ätzendsten Entwürfe im ruhigsten Tone vortrug.36

Es ist jene Haltung distanzierter Autopsie, die jenen namenlosen Arzt ebenso auszeichnet wie laut Gutzkow den literarischen Stil Büchners;37 es ist mithin auf den unterschiedlichsten Ebenen ein prägender Typus der Zeit, dessen möglichst wertungs- und emotionsfreie Perspektive auf medizinische oder soziale Sachverhalte besonders auffiel. Wenn auch nicht als Protagonist, so steht dieser Arzt doch als zentrale Figur für die von Immermann offenbar erwartete soziokulturelle Zukunft, deren Befähigung zur unmittelbaren Mitleidlosigkeit gegenüber dem leidenden Menschen durchaus Formen von Moralität erlaubte. Neben der ausgewiesenen fachlichen Kompetenz kennzeichnet diesen Mediziner eine umfassende philosophische Kenntnis, die ihn mit den Argumenten John Lockes zur personal identity die Unsterblichkeit der menschlichen Seele kenntnisreich bezweifeln lässt.38 Ebenso erkennt er – sensibel für die Tendenzen der Zeit – die soziopolitische Stellung des Arztes für die anbrechende moderne Gesellschaft: Der Arzt hat eine große Aufgabe in der Gegenwart zu lösen. Krankheiten, besonders die Nervenübel, wozu seit einer Reihe von Jahren das Menschengeschlecht vorzugsweise disponiert ist, sind das moderne Fatum.39

Mit dem Anspruch, für das Menschengeschlecht der anhebenden Moderne eine entscheidende Funktion auszufüllen, ist dieser Arzt seinem literarischen Vorbild Wilhelm Meister durchaus verwandt. Zwar muss Wilhelm als Wundarzt der Wanderjahre auf jene umfassende philosophische Fundierung seines Handelns verzichten, weil er als Praktiker Erfahrungswissen akkumulieren sollte, und Goethe – wie Melville – einer pragmatisch unvermittelten Forschung ablehnend gegenüber stand.40 Doch bedeutet diese praktische Ausrichtung für Wilhelm nicht, von aller wissen-

|| 35 Vgl. hierzu auch Witt 2000, S. 61–82. 36 Immermann 1971, II, S. 114. 37 Vgl. hierzu den Brief an Büchner vom 10. Juni 1835; P II, S. 4418/MBA X.1, S. 9511. 38 Vgl. hierzu Immermann 1971, II, S. 234–237; der Arzt gründet seine Argumentation auf einen Beweisgang, der zuerst entwickelt wurde von Locke 1981, I, S. 410–438. 39 Immermann 1971, II, S. 374. 40 Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Einleitung.

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schaftlichen Reflexion ausgeschlossen zu sein;41 im Gegenteil wird durch die Verbindung von wissenschaftlicher Anatomie und bildender Kunst42 ein Platz für das durchaus »kannibalisch« anmutende Handwerk der Anatomie in Medizin und Gesellschaft gesucht: Jeder Arzt, er mag mit Heilmittel oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genaueste Kenntnis der äußern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberflächlichen Begriff gemacht zu haben.43

Diese von Goethe verteidigte Stellung der Anatomie als Leitwissenschaft aller praktischen Medizin wird sie schon für Immermann und erst Recht für den Naturforscher Georg Büchner an die Physiologie abtreten müssen.44 Zugleich zeigen der Arzt der Epigonen oder auch E. T. A. Hoffmanns Mediziner, dessen materialistische Ausrichtung im Magnetiseur als diabolisches Signum der anbrechenden Moderne interpretiert wird,45 dass eine philosophische Fundierung des medizinischen Handelns, sei es des praktischen, sei es des wissenschaftlichen, der paradigmatischen Stellung des Arztes in der modernen Gesellschaft abverlangt wurde, um der prätendierten soziokulturellen Stellung auch weltanschaulich entsprechen zu können. Dieser soziokulturelle und mentalitätsgeschichtliche Rang entsprach auch der allmählich zunehmenden Wirkmacht der europäischen Medizin.46 Was der kulturpolitischen Perspektive Goethes und Immermanns auf den Arztstand in den 1820er und 1830er Jahren gänzlich abging – weil sie in der Vermittlung von nüchterner Nützlichkeit und humaner Moralität, die sie mit der Kreativität des Künstlers oder Wissenschaftlers und der Klugheit, Intelligenz, aber auch modernen Melancholie des Skeptikers verbanden, ein Vorbild für Gegenwart und Zukunft gestalteten – war der humoristische Blick auf die Hybris und Inkompetenz eines Berufstandes, der erst seit einigen Jahrzehnten die Grenze zum Barbier oder Scharlatan deutlich abgesteckt hatte.47 Es ist die Sicht der Comédie humaine, die die Erkenntnisschranken der sich allererst entwickelnden wissenschaftlichen Medizin und Naturforschung im frühen 19. Jahrhundert sarkastisch abmisst. Dieser kritische Blick auf die zeitgenössische Medizin wird dadurch ermöglicht, dass Balzac von der

|| 41 Vgl. auch Pott 2002, S. 178–183. 42 Zu dieser Interpretation des Arztes als Künstler vgl. Schlaffer 1989, S. 115. 43 Goethe 1988, VIII, S. 331. 44 Vgl. hierzu Rothschuh 1968, S. 204ff. 45 Vgl. hierzu insbesondere Barkhoff 2005. 46 Vgl. hierzu u. a. Osterhammel 2009, S. 290ff.; wie Wehler (31996, S. 283ff.) zeigt, darf diese Rolle aber u. a. im Hinblick auf das die Epoche prägende Phänomen des Bevölkerungswachstums nicht überschätzt werden. 47 Vgl. u. a. Pfeifer 2000, S. 5f.; Eckart 52008, S. 179ff.

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Superiorität seiner Kunst gegenüber den Wissenschaften der Zeit überzeugt war.48 Der von Sengle auch für den deutschsprachigen Roman der 1830er Jahre beobachtete Anspruch auf »Wissenschaftlichkeit«49 gilt zunächst und zumeist für Balzacs Romanpoetik.50 Und sein Sarkasmus kann tödlich sein: Wie in der Einleitung zitiert, muss Raphael in La Peau de Chagrin hilflos zusehen, wie die weitgehend unbeteiligten Naturforscher an einer Analyse des diabolischen Leders ebenso scheitern wie die Ärzte im späteren Stadium seines Dahinsiechens an seiner Krankheit – weil sie nicht physiologischer Natur ist. Dabei wissen Balzacs Forscher um die Lächerlichkeit ihrer Erkenntnisgrenzen: Gardons-nous bien de raconter cette aventure à l’Académie, nos collègues s’y moqueraient de nous, dit Planchette au chimiste après une longue pause pendent laquelle ils se regardèrent sans oser se communiquer leurs pensées.51

Gibt er in diesem Roman sowohl die bedeutendsten Naturforscher als auch die namhaftesten Ärzte der Zeit der Lächerlichkeit preis, so gestaltet Balzac noch in den 1830er Jahren die tragische Kehrseite wissenschaftlicher Existenz in ihrer umfassend zerstörerischen Form: In La Recherche de l’Absolu nimmt die Suche des Lavoisier-Schülers Balthazar Claës nach einer empirischen Verifikation für das Absolute Formen einer wahnhaften Beschäftigung an, für die er sein gesamtes Vermögen aufs Spiel setzt sowie sich und seine Familie vernichtet. Claësʼ Forscherdrang wird dabei nicht mit dem wissenschaftsexternen Interesse an Macht, Ruhm oder Reichtum verbunden, sondern als eine dem Protagonisten selber wie seiner Umgebung letztlich unerklärliche Sucht, die dem unverfügbaren Krankheitsverlauf der Psychose Lenzens verwandt scheint. Die Wahrheitssuche der Wissenschaft bringt intrinsische Motivationen hervor, die die Bedingung ihrer Möglichkeit, das Leben des Forschers, vernichtet, weil sie sich gegen alle pragmatische Verzweckung verselbständigen kann. Und das gilt bei einer Irrationalität der Zwecke – der Suche nach dem Absoluten – auch für die experimentierende analytische Naturwissenschaft, deren Methode nach Balzac also noch keine Lösung von den Erklärungsansprüchen der Naturphilosophie erbringt. Der hemmungslose Forscherdrang macht aus dem versierten und seriösen Chemiker in den Augen seiner Umgebung zunächst »Claësl’alchemiste« und dann »Claës-le-fou«.52 Der ruhige, an seiner Asozialität leidende Forscher ist seinem Drang nach der Wahrheit des Absoluten ebenso ausgeliefert wie seine Familie.

|| 48 Vgl. hierzu u. a. Wanning 1999, S. 144ff.; Lepenies 22006, S. 15–48. 49 Sengel 1971–1980, III, S. 871. 50 Vgl. u. a. Wehle 1980. 51 Balzac 1974, S. 310. 52 Balzac 1976, S. 174.

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Auch Büchner versuchte sich in seinem letzten Dramenfragment mit der Figur des Doktors an einer Verbindung unterschiedlichster Stränge der kurz skizzierten Tradition literarischer Reflexion auf Medizin und Naturforschung im frühen 19. Jahrhundert. Dabei ließ er seine Figur – wie schon angedeutet – zum einen verbinden, was er selber strikt trennte: praktische Medizin und eine Tätigkeit als Naturforscher. Sein Doktor ist praktizierender Arzt und hofft zugleich auf eine »Revolution in der Wissenschaft«,53 die er durch seine privat finanzierten Versuche an Woyzeck zu erzwingen hofft. Damit lässt Büchner diese Figur vermitteln, was in den 1830er Jahren in der Tat allmählich unüberbrückbar auseinanderstrebte: ärztliche Praxis und wissenschaftliche Forschung.54 Allein dieses Ansinnen einer Verbindung unumkehrbar ausdifferenzierter Felder medizinischer Tätigkeit ist ein Hinweis auf die besondere Stellung dieser Figur gegenüber seinen literarischen Vorbildern und ›Nachbarn‹. Zum anderen gelang Büchner in den überlieferten Varianten der Szenen mit Beteiligung des Doktors, die sarkastische Perspektive aus La Peau de Chagrin auf den Wissenschaftsfanatismus aus La Recherche de l’Absolu bzw. Frankenstein zu übertragen. Was jedoch den Akademiemitgliedern aus Balzacs Roman zu eigen war, fehlt Büchners Doktor: die Einsicht in die Grenzen des Wissens. Lange Zeit war die Forschung davon überzeugt, dass die komödiantischen Elemente in der Darstellung des Doktors durch dessen wissenschaftlichen »Dilettantismus« ermöglicht und gesteuert würden;55 da spiele sich ein Militärarzt aus der Provinz als Forscher auf, der nach ›Backenzähnen von Infusorien‹ – mithin Zähnen von einzelligen Lebewesen – suche und aus einer impertinenten Selbstüberschätzung heraus an Woyzeck überflüssige Versuche mache.56 Eine spätere wissenschaftsgeschichtliche Forschung zu Büchners Woyzeck konnte allerdings allein in diesem Zusammenhang kontextuelle Bezüge präsentieren, die dieser Interpretation der Wissenschaften im Drama den Boden entzogen.57 Jener Kontext ist jedoch bisher für eine Interpretation des Woyzeck nicht hinreichend berücksichtigt worden; die dominante Perspektive auf das Stück als soziales Drama58 verunmöglichte eine angemessene Integration der Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichte. Dabei lässt sich zeigen, dass die drei konstitutiven Themenfelder des Woyzeck,59 die Armut der Titel-

|| 53 MBA VII.2, S. 1619f. (H2,6) u. S. 278 (H4,8). 54 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kap. 3. 55 Zum angeblichen wissenschaftlichen Dilettantismus des Doktors im Woyzeck vgl. Viëtor 1949, S. 197; Bornscheuer 1971, S. 12; Kobel 1974, S. 282–284; Kubik 1991, S. 67f.; Knapp 32000, S. 204. 56 Zum angeblich Überflüssigen der Versuche vgl. Glück 1985b, S. 150f. 57 Vgl. hierzu die Studie von Roth 1990–94, Roth 1995–99 und Roth 2002. 58 Vgl. u.a. Glück 1984a; Glück 1984b; Poschmann 21985, S. 245ff.; Elm 2004; Neumeyer 2009b, S. 104f. sowie Hofmann u. Kanning 2013, S. 160f. 59 Zu diesem Tableau vgl. auch Martin 2007, die allerdings die kulturwissenschaftliche Enthierarchisierung der Bedeutung von Themen bzw. Lektüren folgend die Sexualität und den Tanz als gleichwertige Themenfelder entdeckt.

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figur (1), die Reflexion des Stückes auf den Kontext der forensischen Debatte um die Zurechnungsfähigkeit von Mördern (2) und die Stellung der wissenschaftlichen Medizin in der umbrechenden Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts (3) durch die genannten Ergebnisse hinsichtlich der Forschungen des Doktors in eine neue Konstellation und damit das gesamte Fragment und die Genese seiner intendierten Gehalte in eine veränderte Perspektive rücken.

9.1.2 Der Doktor – Mediziner oder Naturforscher, Naturwissenschaftler oder Naturphilosoph? Die Figur des Doktors lag Büchner offenbar am Herzen. In allen drei späteren Arbeitsstufen hat er an ihren Auftritten teilweise minutiös gearbeitet. Dabei gehört dieser Arzt und Naturforscher nicht zu den Inventionen der ursprünglichen Fassung.60 Überhaupt taucht in der ersten Arbeitsstufe, die wie die zweite noch in Straßburg entstand,61 kein Mediziner und keine Forscherfigur auf, so dass die zeitgenössische Wissenschaft als Moment der Handlung erst das Produkt einer späteren Überlegung des Autors war. Nur als Mitglied einer eifernden Honoratiorengemeinschaft in der letzten Szene der ersten Handschrift ist ein Arzt62 und auf dem Jahrmarkt der ersten Szene ist die zeitgenössische Naturlehre in einer popularisierten und karnevalesken Form Gegenstand des ersten Fragments.63 Wenn Büchner mithin zunächst und zumeist auf die Darstellung eines Mordfalles in den pauperisierten Gesellschaftsschichten und dessen unterschiedliche Bedingungsfaktoren mit seinem Drama abzielte, dann spielte eine Reflexion auf die Medizin bzw. die medizinische Forschung zunächst keine Rolle.64 Gegenüber den vermutlichen Quellen Büchners zum authentischen Fall Johann Christian Woyzeck ist die Integration des zukünftigen Mörders in eine medizinische Versuchsreihe eine Erfindung Büchners. Insofern die Figur des Doktors und damit das Themenfeld der medizinischen Praxis und Forschung erst in der zweiten Arbeitsstufe auftaucht, wird ersichtlich, dass Büchner die Idee zur Einbettung einer spezifischen Auseinandersetzung mit bestimmten Dimensionen zeitgenössischer Wissenschaft in den berühmten Mordfall und dessen forensische Problematik erst während der schon begonnenen Arbeit hatte.65 Erst die zweite Bearbeitungsstufe entfaltet also in zwei Szenen (H2,6 und H2,7) die Figur eines praktizierenden und forschenden Mediziners, der sowohl gegenüber || 60 So auch Campe 1998, S. 209 und Schmaus 2009, S. 222. 61 Vgl. hierzu den Editionsbericht in MBA VII.2, S. 86ff. 62 Vgl. MBA VII.2, S. 1128. 63 Ebd., S. 3. 64 Vgl. hierzu auch Kubik 1991, S. 64ff. 65 So auch Schmaus 2009, S. 224f.

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dem einfachen Soldaten Woyzeck als auch gegenüber dem im sozialen Status ihm gleichgestellten Hauptmann eine aggressiv distanzierte Haltung rücksichtsloser Diagnose einnimmt: In der ausgearbeiteten Variante in H4,9 wirft der Arzt dem Hauptmann die Erkenntnisse über dessen körperlichen Zustand förmlich ins Gesicht. DOCTOR. Hm aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplectische Constitution. Ja Herr Hauptmann sie können eine apoplexia cerebralis kriegen, sie können sie aber vielleicht auch nur auf der einen Seite bekommen, und dann auf der einen gelähmt seyn, oder aber sie können im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fort vegetiren, und das sind so ohngefähr ihre Aussichten auf die nächsten 4 Wochen.66

Der ebenbürtigen Selbstgefälligkeit des Hauptmanns kann diese schonungslose Offenheit des Mediziners nichts anhaben. Das sieht im Verhältnis zu Woyzeck allerdings anders aus. Zum einen tritt er dem einfachen Soldaten nicht als behandelnder Praktiker entgegen, sondern als Forscher, der seinen bezahlten Probanden inspiziert.67 Zum anderen zeigt sich in der nämlichen Offenheit gegenüber dem körperlichen Zustand Woyzecks und dem des Hauptmanns eine zumindest relative Irrelevanz sozialer Hierarchien für sein Urteil, so dass dessen medizinisches Selbstverständnis als sozial weitgehend indifferent inszeniert wird. In beiden Varianten (H2,6 und H4,8) wird die Figur allerdings nicht als Mediziner, sondern als verärgerter Experimentator in das Drama eingeführt, der sich über ein vereinbarungswidriges Verhalten seines Probanden beschwert: DOCTOR. Was erleb’ ich Woyzeck? Ein Mann von Wort. WOYZECK. Was denn Herr Doctor. DOCTOR. Ich hab’s gesehn Woyzeck; er hat auf Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund. Und doch 2 Groschen täglich. Woyzeck das ist schlecht, die Welt wird schlecht, sehr schlecht. WOYZECK. Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt. DOCTOR. Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab’ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesiae dem Willen unterworfen ist? Die Natur, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können! (schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab).68

Dieses Entrée des Mediziners in die Handlung lässt in beiden Fassungen deutlich erkennen, dass Woyzeck seinen Körper an ein Experiment verkaufte, dessen Ergebnisse an seinem Harn abgelesen werden sollen. Der Ärger des forschenden Arztes entsteht aus Woyzecks vertragswidrigem Verhalten, weil der seinen Harn nicht ablieferte, sondern auf dem Weg zum Arzt – offenbar in dessen Sichtweite – an die

|| 66 P I, S. 15914–20/MBA VII.2, S. 2812–17. 67 Dass dieses Forscher-Proband-Verhältnis nicht identisch ist mit dem Arzt-Patienten-Verhältnis, übersieht Kubik 1991, S. 67. 68 P I, S. 2092–16/MBA VII.2, S. 2636–277.

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Wand ›pißte‹.69 Woyzecks Berufung auf eine rein körperliche Natur der Verdauungsvorgänge, die ihm nicht erlaubt hätten, den Harn noch länger zurückzuhalten, lässt der Doktor mit Hinweis auf eigene Forschungen, die eine Steuerungsmöglichkeit des Schließmuskels durch den freien Willen des Menschen bewiesen hätten, nicht gelten. Die prätentiöse Manier, die unmittelbare Korrelation von Schließmuskel und menschlicher Freiheit und die rücksichtslose Aggressivität gegenüber Woyzecks Fehlverhalten legen bei aller ironischen Distanzierung nahe, dass Büchner mit dieser Figur eine kritisierte Position ausgestalten wollte. Sicher ist auch, dass der Doktor Züge einer Karikatur trägt, dass wir also über ihn lachen sollen. Aber – wie schon bei Leonce und Lena – stellt sich auch hier die Frage: Worin genau besteht der Humor, worüber sollen wir lachen? Die Forschung hat es sich mit der Rekonstruktion des von Büchner hier ausgestellten und kritisierten Wissenschaftsbildes zu einfach gemacht, indem sie in der Berufung des Doktors auf die Freiheit eine Kritik am Idealismus sehen wollte.70 Schon in den ersten kurzen Dialogpassagen füllt der Doktor jedoch eine Position aus, die wenigstens zwei unterschiedliche, ja sich ausschließende wissenschaftstheoretische Programme verbindet. Zum einen bedient er sich eines experimentellen Verfahrens, dessen biochemische Ausrichtung und quantifizierende Methodik auf das Paradigma der analytischen Naturwissenschaft hindeutet, das sich – wie im Abschnitt über Büchners naturwissenschaftliches Wissen und dessen Kontexte skizziert71 – erst in den 1840er Jahren vollends durchsetzte, aber schon während der 1830er Jahre erhebliche Kontroversen mit der Naturphilosophie auch an der Gießener Universität austrug.72 Es ist dieser Experimentalismus, der einen Teil der Forschung davon sprechen lässt, der Doktor repräsentiere – zumal in der Ausweitung seines Empirismus auf den humanbiologischen Bereich73 – eine moderne Naturforschung, deren analytische Strenge und geltungstheoretische Universalität zu jenen ethischen Unzulänglichkeiten führen musste, die sich spätestens im 20. Jahrhundert deutlich erwiesen hätten: Er [d.i. der Doktor] verkörpert den radikalen Empirismus, die spezialistische Atomisierung der Natur, die Neigung zum Determinismus, die mechanistische Deutung des Lebens, die Objektivierung des Menschen zum Gegenstand der Wissenschaft. Unter diesen Gesichtspunkten wandeln sich […] ab den 1830er und den 1840er Jahren Chemie (Justus Liebig), Physik (Hermann von Helmholtz) und Medizin (Johann Lukas Schönlein) bar aller Sinnansprüche von der natur-

|| 69 Dass dieser Ärger unter wissenschaftsmethodischen Gesichtspunkten keineswegs unsinnig ist, zeigt schon Buddecke in Bornscheuer 1972, S. 13. 70 Vgl. u. a. Glück 1990, S. 196; Osawa 1999, S. 44; Dedner 2002, S. 294ff.; Pethes 2006; Neumeyer 2009b, S. 112; Kanning u. Hofmann 2013, S. 163ff.; Dedner 2017, S. 31f. 71 Vgl. Breidbach 1988; Kremer 1991; Scheele 1991; Sawicki 2002, S. 131 und Engel 2002, S. 66. 72 Vgl. hierzu die in Kap. 3 skizzierten Streitigkeiten zwischen dem Philosophen Hillebrand und dem Chemiker Liebig. 73 Vgl. hierzu die Einleitung in Pethes, Griesecke, Krause u. Sabisch (Hg.) 2008, S. 12ff.

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philosophischen Spekulation zur exakten Beweiswissenschaft. Dafür also steht Büchners Doktor.74

Zwar hat die wissenschaftsgeschichtliche Forschung nachweisen können, dass Liebig »ernährungsphysiologische Experimente an Soldaten der großherzoglichen Leibkompanie«75 erst in den 1840er Jahren durchführte,76 so dass der Gießener Chemiker, der während Büchners dortiger Studienzeit in Zusammenarbeit mit Friedrich Wöhler an seiner Radikalentheorie arbeitete,77 als biographischer Referenzbezug für das Drama entfällt.78 Dennoch ist zutreffend, dass die empirisch-experimentelle Methode, deren sich der Doktor bedient, in ihrer quantifizierenden Systematik der sich durchsetzenden analytischen Naturwissenschaft zuzuordnen ist. Deren ethisches Problem analysiert Büchner jedoch anders. Zu einem erheblichen Problem muss dieser Interpretation der Figur des Doktors als Repräsentant der modernen Naturwissenschaft allerdings gereichen, dass der Experimentator im Streit mit Woyzeck keineswegs eine »Neigung zum Determinismus« erkennen lässt.79 Im Gegenteil inszeniert er sich zum anderen als lautstarker Apologet der menschlichen Freiheit, weil sich der Mensch – in der kantischen Formulierung – aus der »Vormundschaft der Natur« gelöst habe, um im »Stand der Freiheit« zu leben.80 Unverkennbar inszeniert das Stück durch die direkte Verknüpfung der prätentiösen Freiheitsformel idealistischer Provenienz mit der Frage einer Beeinflussungsmöglichkeit der Schließmuskeln des Verdauungstraktes durch den freien Willen eine kritische Perspektive. Es fragt sich nur: auf was genau?81 Die wohlfeile Zuordnung dieser beiläufig erwähnten, eindeutig naturphilosophischen Forschung des Doktors zu humanphysiologischen Ergebnissen Johann Bernhard Wilbrands, des

|| 74 Elm 2004, S. 125 sowie Schmaus 2009, S. 234. 75 Bornscheuer 1972, S. 15; Poschmann 21985, S. 252. 76 Vgl. Dedner 1993, S. 116; Roth 1995–99, S. 504ff.; Dedner 2000, S. 183f.; Wenzel 2007, S. 174; MBA VII.2, S. 519f. sowie Schmaus 2009, S. 223. 77 Vgl. hierzu Schwenk 1998, S. 241f. sowie Brock 1999, S. 114ff. 78 Obwohl diese wissenschaftshistorische Information seit 1993 bekannt ist und spätestens mit Roth 1995–99 bzw. Dedner 2000 einer breiten Öffentlichkeit kenntlich wurde, wiederholte die Forschung die Thesen von der Liebig-Referenz im Woyzeck ungerührt; vgl. u. a. Kohnen 2003, S. 140; Pethes 2004, S. 352; MBA VII.2, S. 474; Elm 2004, S. 127; Hauschild 22004, S. 148; Wenzel 2007, S. 174f.; Neumeyer 2009a, S. 223; Greiner 2010, S. 303Anm. 20 sowie Greiner 2012, S. 613. 79 Er ist auch keineswegs ein reiner Somatiker, wie Schmaus 2009, S. 225ff. feststellt, sondern als wissenschaftlicher Apologet der Freiheit des Willens eben auch Psychiker. 80 Kant 1983, IX, S. 92. 81 Sicher geht es Büchner nicht um die Darstellung eines »falschen gesellschaftlichen Bewußtseins […] bürgerlicher Ideologie« (so aber Poschmann 21985, S. 260), weil der Arzt wie der Hauptmann gar nicht klassenspezifisch ausgewiesen werden.

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Gießener Lehrstuhlinhaber für Naturphilosophie,82 hatte sich bei einer Rekonstruktion seiner Texte als unzutreffend erwiesen. Keineswegs hatte Wilbrand eine vollständige Willkürlichkeit der Verdauungsprozesse behauptet, sondern vielmehr eine relative Beherrschung der Schließmuskulatur.83 Darüber hinaus hatte auch der mit Büchner befreundete Straßburger Naturphilosoph Ernest-Alexandre Lauth in seiner Thèse Du Mécanisme par Lequel les Matières alimentaires parcourent leur Trajet de la Bouche a l’Anus, die Büchner bekannte war,84 festgestellt: Quant aux muscles sphincter externe, releveur de l’anus, transverse du périnée et ischiocaverneux, l’anatomie démontre que leurs nerfs viennent de la moelle épinière, et leur action est incontestablement soumise à la volonté.85

Macht sich Büchner mit den verdauungsphysiologischen und -psychologischen Studien des Doktors über seinen Straßburger Mentor lustig? Die Problemkonstellation zur Frage einer begrenzt-willkürlichen Beherrschung der Schließmuskeln, wie sie sowohl bei Wilbrand als auch bei Lauth entwickelt wird, macht vielmehr deutlich, dass Büchner nicht auf die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes überhaupt,86 sondern auf einen spezifischen Umgang mit ihr abzielte, der offenbar || 82 So schon Viëtor 1949, S. 196; Hans Mayer 1972, S. 338; aber auch Hauschild 1993, S. 559; Dedner 2002, S. 293ff.; Martin 2007, S. 201f.; Neuhuber 2009, S. 152; Schmaus 2009, S. 241 83 Zwar hatte Wilbrand im § 671 seiner Physiologie des Menschen (Wilbrand 1815, S. 324) die »Function des Verdauungssystems« als »mittelbar der Willkühr« unterworfen bestimmt. Auf dieses »mittelbar« legt die Forschung (vgl. u. a. Dedner 2002, S. 293f. sowie MBA VII.2, S. 474) aber offenbar keinen Wert. Nun heißt es allerdings im § 670 der wilbrandschen Physiologie: »Daher ist es begreiflich, dass beyde Functionen [d. i. körperliche Bewegung überhaupt und Verdauung] in ihrem eigentlichen Wesen, der Willkühr nicht unterworfen seyn können, denn sie beruhen gleichfalls auf einer Bewegung« (Wilbrand 1815, S. 324, Hvhb. von mir). Der nachfolgende Paragraph führt erst auf der Grundlage dieser Bestimmung einer grundlegenden Unwillkürlichkeit der Verdauung wenig spektakulär und schon gar nicht »töricht« (Dedner 2002, S. 294) aus: »Mittelbar stehen freylich diese Functionen allerdings unter der Willkühr, mithin unter der Herrschaft des geistigen Lebens. Die Willkühr zieht gleichsam einen Kreis um diese Functionen, innerhalb dessen sie vor sich gehen. Wir nehmen unsere Nahrung willkührlich in den Mund, zerkauen sie willkührlich und schlucken sie willkührlich hinunter, und nach geendigter Verdauung werden die Reste willkührlich wieder ausgeleert. Ebenso atmen wir willkührlich, wir können dasselbe unterdrücken, auch unter Voraussetzung einer völligen Gesundheit, von neuem wieder beginnen.« Unter der von Wilbrand ausdrücklich entwickelten Voraussetzung der Unwillkürlichkeit der Verdauung ist keine dieser Ausführungen töricht oder aber eindimensional ironisierbar. Insofern ist die üblich gewordene Kritik an Wilbrand im Zusammenhang dieser Passage (vgl. Pethes 2006, S. 71f.; Schmaus 2009, S. 241) neuerlich zu überprüfen. 84 Büchner hatte sich diese Arbeit Lauths durch seinen Freund Eugène Boeckel zuschicken lassen; vgl. P II, S. 37211f. und S. 37327f.; vgl. auch Mayer 1985, S. 205. 85 Lauth 1833, S. 94. 86 Insofern ist die Behauptung, schon des Doktors »Freiheitsbegriff« habe »machttechnologische Implikationen« (so Neumeyer 2009b, S. 110) verfehlt, weil seine wissenschaftlichen Forschungen zur relativen Beherrschung des Schließmuskels von allen politischen Implikationen frei ist; erst die

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gegenüber der Frage des wissenschaftstheoretischen Paradigmas, von dem aus der einzelne Forscher agierte, indifferent war. Der Doktor macht in diesem Falle tatsächlich sein Forschungswissen zum »Herrschaftswissen«,87 weil er mit ihm seinen Probanden unter Druck setzen und die soziale Hierarchie zwischen ihnen realisieren kann. Es ist also nicht das Wissen um das Verhältnis von freiem Willen und Verdauungsprozess selbst, das einer deutlichen Kritik verfällt, sondern dessen Missbrauch durch des Doktors soziale Anwendung gegenüber Woyzeck.88 Die Skizze zur Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung im frühen 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass es in den 1830er Jahren zwischen der kleinen, noch keineswegs mit einer kohärenten Begründungstheorie versehenen analytischen Naturwissenschaft und der noch dominierenden Naturphilosophie keinerlei methodische oder systematische Berührungspunkte gab.89 Im Gegenteil deutete die Geschichte der wissenschaftlichen und institutionellen Auseinandersetzung zwischen Liebig und Wilbrand, die der Chemiker in den 1840er Jahren schließlich mit dem Entzug der wilbrandschen Lehrbefugnis im Fachgebiet Physiologie für sich entschied,90 auf die agonale Widersprüchlichkeit beider Wissenschaftstheorien auch in wissenschaftspolitischer Hinsicht hin. Wollte Büchner also in der Figur des Doktors die analytische Naturwissenschaft und die synthetisierende Naturphilosophie repräsentieren und einer Kritik unterziehen? Wenn er tatsächlich, wie die Forschung ebenso häufig wie ohne jeden Rekurs auf die wissenschaftstheoretischen Implikationen behauptet,91 persönliche und wissenschaftliche Elemente Liebigs und Wilbrands darstellen wollte, welche Wissenschaft sollte dann kritisch aufs Korn genommen werden? Die Betrachtung des naturwissenschaftlichen und -philosophischen Wissens Georg Büchners hat gezeigt, dass er als Naturforscher eindeutig einer Naturphilosophie zuzuordnen war, die dem empiristischen Experimentalismus aus wissenschaftstheoretischen Gründen kritisch gegenüberstand.92 Warum sollte er, der als Wissenschaftler dem Streit der naturforschenden Paradigmata keineswegs indifferent gegenüberstand, als literarischer Autor beide sich an sich widersprechende Naturwissenschaftsformen amalgamieren und einer Kritik unterziehen?

|| Anwendung dieses Ergebnisses auf sein Verhältnis zu Woyzeck, macht daraus ein Instrument der Unterdrückung. 87 So Glück 1985b, S. 162ff., allerdings in unangemessener Verallgemeinerung auf die Wissenschaften überhaupt. 88 So auch zu Recht Jancke 31979, S. 278f. 89 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 90 Vgl. Maaß 1994, S. 276ff. sowie Brock 1999, S. 161f.; Felschow 2003, S. 74f.; Giese 2007, S. 200– 204 und Haaser 2014. 91 Vgl. u. a. Knapp 32000, S. 203; Elm 2004, S. 128. 92 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3.

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Ein Rekurs auf die Inhalte des Experiments, das der Doktor mit und an Woyzeck vollzieht, erhöht erneut die Komplexität der Figur und damit die Schwierigkeit einer Rekonstruktion der mit ihr intendierten wissenschaftskritischen Gehalte.

9.1.3 Der Menschenversuch – Zwischen Militärpolitik und Sozialpolitik? Bekanntermaßen besteht die bezahlte Verpflichtung Woyzecks gegenüber dem Doktor darin, sich über Monate ausschließlich von Erbsen zu ernähren und zur Kontrolle der stoffwechselphysiologischen Auswirkungen dieser ›Diät‹ seinen Harm regelmäßig abzuliefern. Mit einer Beschwerde über den Verstoß gegen den zweiten Teil der Vereinbarung beginnt in H2,6 und H4,8 der Auftritt des experimentierenden Arztes. Nachdem die Forschung lange Zeit von einem unsinnig dilettantischen Versuch ausging, konnte schon Heinz Buddecke in Lothar Bornscheuers Erläuterungen zum Woyzeck nachweisen, dass dem Experiment des Doktors sehr wohl eine Rationalität zuzuschreiben ist. In – allerdings historisch unhaltbarer – Anbindung an ernährungsphysiologische Experimente Justus Liebigs stellt der Wissenschaftshistoriker zu Recht fest: Bei den ernährungsphysiologischen Experimenten des Doktors handelt es sich demnach um einen Stoffwechselversuch, dessen Grundlage eine exakte Bilanz der chemischen Zusammensetzung der aufgenommenen Nahrungsmittel und der ausgeschiedenen Stoffwechselprodukte darstellt. Dies erfordert die quantitative Analyse des Harns und seiner chemischen Inhaltsbestandteile.93

Das Telos des also durchaus vernünftigen und für die 1830er Jahre innovativen Experiments sah Alfons Glück in der Folge und auf der Grundlage dieser wissenschaftsgeschichtlichen Analyse in einer effizienten Realisation von Herrschaftsinteressen des ›militärisch-industriellen Komplexes‹ der bürgerlichen Gesellschaft: Der Zweck ist: das Fleisch, den kostenintensiven Bestandteil der Armeeverpflegung, durch das billige Surrogat Hülsenfrüchte zu verdrängen. D a s ist der springende Punkt! […] Der Menschenversuch des Doktors ist also rational im höchsten Grad, wenn auch in einem unerwarteten Sinn: nicht als ›reine Wissenschaft‹, sondern ökonomisch: rationell. Der Zweck ist Rationalisierung – verhängt von denen, die wirtschaften und herrschen, über die »unterste Stuf von menschliche Geschlecht«, die niedergehalten und bewirtschaftet wird. Das Futter für das Kanonenfutter soll verbilligt werden. Die Ausbeutungsrate zu steigern, das ist die würdige Aufga-

|| 93 Bornscheuer 1972, S. 13.

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be dieser Wissenschaft. Daher das kalte satirische Licht, in dem Büchner den Repräsentanten einer solchen Wissenschaft auftreten läßt.94

Glück hatte diese These mit der von Buddecke vorgestellten Behauptung begründet, Büchner beziehe sich mit seinem Experiment indirekt auf Liebigs Versuche an Soldaten, die jenes militärpolitische Ziel in der Tat verfolgten. Nun konnte aber eine neuere Wissenschaftsgeschichte, insbesondere in Gestalt der Arbeiten Udo Roths, plausibel machen, dass erstens Liebig – wie schon erwähnt – nicht das Vorbild für die Versuche des Doktors im Woyzeck sein konnte, weil er erst in den 1840er Jahren jene Experimente im Auftrag des Militärs unternahm.95 Zweitens aber – und erst dieser Hintergrund zeigt die wahre Komplexität der büchnerschen Konzeption – lassen sich Vorbilder in der Forschungslandschaft Frankreichs ausmachen, die keineswegs die Ernährung der Soldaten verbilligen, sondern den Ausbau einer staatlichen »Armenernährung« ermöglichen sollten.96 Mit bislang unwiderlegter Evidenz dokumentierte Roth, dass der Pariser Biochemiker JeanSébastien-Eugène Julia des Fontenelle Anfang der 1830er Jahre eine achtzehnmonatige Versuchsreihe durchführte, bei der sich die Probanden – wie Woyzeck – drei Monate lang nur von Gelatine und Hülsenfrüchten ernähren durften: »Der Versuchsablauf [bei Fontenelle] weist demnach eine deutliche Übereinstimmung mit dem Ernährungsversuch des Doktors im Woyzeck auf.«97 Roths Nachweis lässt keinen Zweifel daran, dass diese Versuche im Zusammenhang der sich entwickelnden sozialstaatlichen Armenfürsorge stattfanden, um dem anwachsenden humanitären und politischen Problem des Pauperismus staatliche Maßnahmen entgegenzustellen.98 Zu dieser Politik gehörten auch jene wissenschaftlichen Versuche mit »Hül-

|| 94 Glück 1985b, S. 161; Hvhb. im Text; wiederholt in Glück 1990, S. 193; in dieser abstraktwissenschaftskritischen Sicht aufgenommen noch bei Pethes 2006, S. 68–82; Neumeyer 2009a; Schmaus 2009, S. 239 sowie Graff 2017, S. 181. 95 Vgl. insbesondere Roth 1995–99, S. 503f. sowie Dedner 2000, S. 183f. 96 Roth 1995–99, S. 509ff. 97 Ebd., S. 510. 98 Dass dieser Einsatz der Wissenschaft für sozialpolitische Zwecke auch »nationalökonomische Ziele« (Dedner 2000, S. 186f.) durch Verbilligung der Armenernährung verfolgte, steht außer Frage; auch dass die Armenfürsorge vor allem auf stabilitätspolitische Ziele, d. h. die Verhinderung von sozialen Unruhen, abzielte, ist ebenso unstrittig. Zugleich hatte der Pauperismus und damit der Hunger weiter Teile der Bevölkerung ein Ausmaß angenommen (vgl. u. a. Kukowski 1995), das nur durch eine Erhöhung der bereitgestellten Nahrungsmittel bzw. deren Nährwert bewältig, wenigstens aber gelindert werden konnte. Liebig wird ab den 1850er Jahren die Lösung des weltweiten Hungerproblems in den Innovationsleistungen der Nahrungsmittelchemie ausmachen (vgl. Brock 1999, S. 254ff.); dass schon im frühen 19. Jahrhundert die noch in den Anfängen steckende Biochemie zumindest auch humanitäre Zwecke verfolgte, beweist die Notwendigkeit, die Entwicklung der Wissenschaften aus dem einseitigen Blickwinkel ihrer angeblich ausschließlichen Instrumentalität für eine bürgerliche (Jancke 31979 oder Glück 1985b) oder moderne (Kubik 1991, S. 174; Pethes 2006; Neumeyer 2009, S. 111ff.) Unterjochung des Proletariats bzw. des Körpers zu befreien.

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senfrüchten und Gelatine«, deren Nahrhaftigkeit überprüft werden sollte, um sie bei erfolgreichem Ausgang in der – symptomatischen – Bekämpfung des Pauperismus einzusetzen.99 Trifft dieser Befund zu – und dafür spricht die wissenshistorische Evidenz der empirischen Nachweise Roths –, dann ist der Menschenversuch an Woyzeck keineswegs »die extrem verdichtete Erscheinung dieses Systems« einer Unterdrückung des Menschen.100 Das am Paradigma der analytischen Naturwissenschaft ausgerichtete Erbsen-Experiment des Doktors ist in diesem Kontext zunächst – den zeitgenössisch potentiellen Lesern wohlbekannt101 – Verweis auf eine Forschung im sozialstaatlichen Auftrage zur Linderung des Hungers im Europa der 1830er Jahre, das von Pauperismus geplagt wurde.102 Weil aber vom ersten Satz des ersten Auftritts an in allen Fassung eindeutig ist, dass der Doktor und Naturforscher in seinem rücksichtlosen Umgang mit Patienten und Probanden eine ausschließlich negativ gezeichnete Figur ist, drängt sich die Frage erneut und erschwert auf, was genau Büchner mit dieser Rolle ins Visier seiner poetischen Kritik nehmen wollte.

9.1.4 Wissenschaftstheorie – Wissenschaftsethik: Der freie Wille des Doktors Die wissensgeschichtliche Kontextualisierung der Wissenschaftsmethodologie und -theorie des Doktors hat zeigt, dass er weder als reiner Analytiker noch als strenger Naturphilosoph gezeichnet wurde. Zudem belegte ein Blick auf die zeitgenössischen Kontexte, dass sein Experiment mit Woyzeck keineswegs als Auswuchs einer instrumentellen Vernunft im Sinne einer ausschließlichen und »vollständigen Verzweckung des Paupers« für die Interessen des bürgerlichen Klassenstaates zu interpretieren ist.103 Vielmehr zeigt sich der Doktor wissenschaftstheoretisch gegenüber dem Konflikt zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem naturphilosophischen Paradigma der Naturforschung des frühen 19. Jahrhunderts indifferent und || 99 Roth 1995–99, S. 508–511; vgl. auch Dedner 2000, S. 185ff. 100 Glück 1990, S. 194; Neuhuber 2009, S. 153. 101 Vgl. hierzu Roth 1995–99, S. 512f. 102 Diese Sachverhalt übersehen Pethes 2006, S. 74ff. und Neumeyer 2009a, S. 223f., weil sie die staatliche Armenversorgung ausschließlich unter finanzpolitischen Gesichtspunkten betrachten; die Tatsache und politische Leistung, dass sich der Staat im 19. Jahrhundert zu solch humanitärer Hilfe überhaupt entschloss, wird dabei ignoriert. 103 So aber Glück (1985b, S. 151), der gar soweit geht, über die hohe Wahrscheinlichkeit einer Überführung der Leiche des alsbald toten Woyzeck in die Anatomie ausführliche Vermutungen anzustellen. Diese als reine Spekulationen zu bezeichnenden Assoziationen des Interpreten werden angestellt, um die kulturkritische These einer »restlosen Vernutzung« des Paupers im kapitalistischen Verwertungssystem zu belegen. Literaturwissenschaftlich sind diese Ausführungen allerdings wertlos.

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im Hinblick auf seinen Menschenversuch gerade nicht als Teil eines Unterdrückungsapparates, sondern als wissenschaftliche Speerspitze sozialstaatlicher Hungerbekämpfung.104 Darüber hinaus – darauf hat Udo Roth ebenfalls aufmerksam gemacht105 – sind die in H2,6 skizzierten mikrobiologischen Forschungen106 durchaus nicht als Ausdruck hoffnungslosen Dilettantismus eines forschenden Mediziners zu werten, sondern in ihrer terminologischen, methodischen und disziplinären Ausrichtung dem zeitgenössischen Forschungsstand durchaus angeglichen.107 Selbst ›Backenzähne von Infusorien‹108 lagen im Trend eines seriösen Forschungsinteresses der 1830er Jahre.109 Dieser medizinische Praktiker leidet auch als wissenschaftlicher Naturforscher nicht an Selbstüberschätzung, sondern weiß offenbar gut um seine belegbaren szientifischen Fähigkeiten.110 Für eine Interpretation dieser Figur und der durch sie repräsentierten Medizin und Naturwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts bedeuten diese kontextuellen Konkretionen jedoch, dass eine Integration dieses wissenschaftsgeschichtlichen Gehaltes in das soziale Drama komplexer und auch komplizierter ausfällt, als es die Forschung bislang wahrnehmen konnte. Denn erstens ging es Büchner nicht um die billige Satire auf einen provinziellen Militärarzt, der die Zeichen der Zeit nicht erkennen will, die eine Verbindung von praktischer Medizin und theoretischer Naturforschung (auch auf humanbiologischem Feld) aufgrund zunehmender Spezialisierung allmählich verunmöglichte. Eigentlich waren schon die Naturforschungen der 1830er Jahre zu voraussetzungsreich, als dass sie von einem medizinischen Praktiker noch innovativ hätten ausgeführt werden können. Doch dieses, seine eigene berufliche Laufbahn beherrschende Problem111 gestaltete Büchner in seinem Woyzeck nicht; dazu sind die Kompetenzen des Doktors – vor allem im mikrobiologischen und biochemischen Bereich112 – zu umfassend und zu detailliert.113 Gegen den

|| 104 Das übersieht Neumeyer 2009a und 2009b. 105 Vgl. Roth 1990–94, S. 254–278. 106 Vgl. P I, S. 19610ff./MBA VII.2, S. 1622ff.. 107 Vgl. hierzu schon Viëtor 1949, S. 197, der dem Doktor immerhin Gelehrsamkeit attestier. 108 P I, S. 19613f./MBA VII.2, S. S. 1626. 109 Roth 1990–94, S. 265ff. 110 Die sich in ihrer kulturkritischen Lesart des Woyzeck als Kritik an der inhumanen Wissenschaftlichkeit behaglich eingerichtete Forschung hat auf die Ergebnisse Roths mit Empörung und dem Vorwurf politischer Unkorrektheit reagiert (vgl. Drux 2001, S. 316f.). Übersehen hat sie dabei, dass der Wissenschaftler Büchner als Dichter eine gegenüber ihren Kriterien komplexere Analyse der Gründe inhumanen Verhaltens im szientifischen oder medizinisch praktischen Habitus herausarbeitete, die die Wissenschaftsethik gerade nicht auf allgemeine Wissenschaftstheorie zurückführt. 111 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kap. 3. 112 Vgl. auch Dedner 2000, S. 177f. 113 Dass der Doktor tatsächlich nicht als Dilettant, sondern geradezu als Teil der zeitgenössischen Spitzenforschung gestaltet werden sollte (vgl. dazu auch Ludwig 1998, S. 286; MBA VIII, S. 475ff.;

Der Doktor – »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft« | 681

zeitgenössischen Trend lässt er diesen praktischen Arzt noch einmal Spitzenforscher sein, um das intendierte ethische Problem als eines zu erweisen, das auch gegenüber dem Unterschied zwischen wissenschaftlicher Theorie und medizinischer Praxis indifferent ist. Büchner wollte offenbar zweitens auch keine beißende Satire entweder auf die analytische Naturwissenschaft114 oder auf die Naturphilosophie schreiben. Sein Doktor erhält wesentliche Eigenschaften – empiristisch-experimentelle Methodik und philosophische Erklärungsansprüche – aus beiden Paradigmata der zeitgenössischen Naturforschung. Er steht damit offenbar für Tendenzen der Naturforschung überhaupt, die sich während der 1830er Jahre in beiden Wissenschaftstheorien realisieren konnten. Und Büchner ging es drittens nicht darum, eine politisch instrumentalisierte Forschung zu brandmarken, die im Dienste der Unterdrückung des Volkes eine möglichst preiswerte Ernährung des Soldatenstandes eruieren sollte und für diesen Zweck auch qualvolle Menschenversuche auszuführen bereit ist.115 Weil die wissenschaftlichen Vorbilder für diesen ernährungsphysiologischen Versuch offenbar aus den Bereichen der wissenschaftlich gestützten Armutsbekämpfung erwuchsen, ging es Büchner vielmehr um eine Reflexion auf Humanwissenschaft noch in ihrer ureigenen, ethisch und politisch vollauf legitimierten Aufgabe: der Linderung körperli-

|| Neumeyer 2009b, S. 113), zeigt seine selbstverständliche Berücksichtigung der Möglichkeit psychischer Auswirkungen des physiologischen Ernährungsexperiments auf den Probanden: »DOCTOR Woyzeck, er kommt ins Narrenhaus, er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche alienatio mentis. Seh’ er mich an, was soll er thun, Erbsen essen, dann Hammelfleisch essen, sein Gewehr putzen, das weiß er Alles und da zwischen die fixen Ideen«. Solcherart Reflexion auf die psychischen Auswirkungen vor allem physiologischer Experimente ist bis in die gegenwärtige naturwissenschaftliche Forschung selten; auch wenn die spezifischen Reaktionen des Doktors das eigentliche Reflexionsinteresse Büchners ausmachen, muss zunächst konstatiert werden, dass er mit seiner Kompetenz auch auf diesem Gebiet zur wissenschaftlichen Leistungsspitze der Zeit gehört. Erneut hat erstmalig Roth (1995–99, S. 517f.) auf den Sachverhalt hingewiesen, dass der Doktor auch diese Auswirkung jener Ernährung erforscht; und er ergänzt zu Recht: »Die psychischen Konsequenzen waren kaum erforscht« (ebd.). 114 So aber Neumeyer 2009b, S. 240, dass das Drama zeige, dass jeder nach Wahrheit suchende Wissenschaftler einem »Zwang zum forgesetzen Experimentieren« ausgesetzt sei. 115 Daher scheint mir auch die These Glücks (1985b, S. 140f.), es sei der »Sadismus des Doktors«, der ihn zu der Form seines Menschenversuchs mit Woyzeck und der entwürdigenden Vorführung vor seinen Studenten motiviere, zu überdenken. Büchner entwickelt keineswegs die Psychopathologie einer entfesselten Wissenschaftlerseele, sondern die Zwänge eines rechts- und moralfreien wissenschaftlichen Handlungsraumes. An keiner Stelle der wenigen Szenen, in denen der Doktor seine Auftritte hat, ist auch eine (gar sexuelle) Lust an den Qualen Woyzecks zu erkennen. Der beklemmende Eindruck seines Handelns besteht doch gerade in der weitgehenden Emotionslosigkeit gegenüber dem gequälten Probanden. Leidenschaften erwecken beim Doktor nicht die Schmerzen Woyzecks, sondern einzig die ihnen zugrundeliegenden medizinischen Befunde; differenzierter dazu Glück 1990, S. 191f.

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cher Leiden, und zwar auch solcher, die – wie der Hunger – gesellschaftlich induziert waren und sind. Anders als die sozialkritische und kulturwissenschaftliche Forschung seit den 1970er Jahren annimmt,116 wird mit der Figur des Doktors nicht die bürgerliche oder neuzeitliche Wissenschaft überhaupt einer satirischen Kritik im Hinblick auf ihre angeblich fundamentale Inhumanität unterzogen. Es schien Büchner vielmehr – zumindest in der zweiten Handschrift – um ein konkreteres Darstellungsziel zu gehen und auf dieser Grundlage um eine erheblich komplexere Problemlage: Wenn nämlich Büchners Doktor seinen Probanden wegen seines Harndrangs beschimpft, ihm Zulage für die Ausprägung von Krankheiten verspricht oder ihn wegen seines Ohrenwackelns als Übergangsform zwischen Esel (also Tier) und Mensch vorführt, dann zeigt sich, dass ein humanitäres Ziel in Forschung und Lehre den ethischen Umgang ihrer Akteure mit dem Menschen als Patient, Proband oder zu Lehrzwecken nicht steuern kann.117 Naturwissenschaft – auch in ihrer Form als humanitäre Humanwissenschaft – enthält für ihre konkrete Ausübung keinerlei Maximen für den unmittelbaren Umgang mit dem Menschen: Büchner zeigt drastisch, dass Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspolitik sowie deren forschungspraktische Realisationen – auch im humanbiologischen Feld – keine wissenschaftsethischen Prinzipien im Hinblick auf den Umgang mit Probanden und Patienten enthalten.118 Er zeigt nicht, dass Medizin krank macht,119 sondern dass Mediziner als Forscher und Praktiker nicht aufgrund ihres Wissens schon human oder moralisch integer handeln. Der auf humanitäre Hilfe abzweckende Menschenversuch, der insofern weder an sich noch in seiner konkreten Zielsetzung im Woyzeck unmenschlich ist,120 sondern ein bis heute unerlässliches Instrument jeder medizinischen oder pharmakologischen Forschung, wird erst durch die rücksichtslosen Bedingungen, die vom Doktor hergestellt werden, zu einem ethischen Problem. Es gibt Grenzen von Humanexperimenten, die dem Probanden nicht zugemutet werden können; das macht aber den Versuch am Menschen nicht – schon gar in Büchners Woyzeck – a priori unsinnig oder inhuman. Dass auch Patienten oder Probanden Rechte haben,

|| 116 So vor allem die hermeneutischen Ziele der Arbeiten von Glück 1985d, Glück 1990; Ludwig 1998, S. 282ff. sowie Pethes 2006, S. 68–82; Neumeyer 2009b, S. 111ff. 117 Dass es im Woyzeck also vor allem um ethische Problemalgen der Wissenschaft und nicht um deren angeblich rationalistischen Utilitarismus überhaupt geht, zeigen auch Kubik 1991, S. 185; Knapp 32000, S. 203f. und Schmaus 2009, S. 219ff. 118 Insofern ist Glück (1985b, S. 155) zuzustimmen, wenn er behauptet: »Die Lösung des Problems, was die Wissenschaft im Woyzeck ist und bedeutet, kann nicht aus einem Lehrbuch der Physiologie bezogen werden« – aber in Ratgebern für eine gegenüber der bürgerlichen Schulmedizin alternative Humanmedizin auch nicht. 119 So Glück 1985b, S. 149 oder auch Neumeyer 2009a, S. 123. 120 Anders dazu Glück 1990; Neumeyer 2009a und Neumeyer 2009b

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gehört zu den Errungenschaften erst des 20. Jahrhunderts;121 Woyzeck macht auf dieses innerwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Problem anschaulich und mit Nachdruck aufmerksam. Dabei entsteht der Humor in dieser Szene zwischen Doktor und Woyzeck durch die karikierende Überzeichnung des inhumanen Umgangs mit Woyzeck. Erneut versetzt uns Büchner in die Rolle Leonces, in der wir nicht allein sehen, was Sarkasmus ist, sondern empfinden müssen, was es heißt, sarkastisch zu sein. Büchner veranschaulicht also mit seinem Doktor, dass Wissen – selbst solches, das auf humane Zwecke ausgerichtet ist – an ihm selbst nicht moralisch abgesichert, mithin human sein muss; er zieht erneut die Grenzen des wissenschaftlichen Wissens – diesmal entlang der moralischen Maximen wissenschaftlichen Handelns. Denn dass man den Menschen auch zum Zwecke der Humanisierung des Lebens nicht ausschließlich zu einem Mittel machen dürfe,122 ist weder der praktischen Medizin noch der theoretischen Naturforschung zu entnehmen. Es ist vielmehr eine Maxime einer praktischen Vernunft, die nur von außen an jene Forschung heranzutragen ist. Es obliegt mithin der von ihm selbst nachgewiesenen inneren »Freiheit« des Doktors, sich im Rahmen seiner Wissenschaften gegenüber Woyzeck moralisch ›gut‹ oder ›böse‹ zu verhalten; für seine Grausamkeiten und Demütigungen – so Büchner – ist er vollauf zur Verantwortung zu ziehen.

9.2 »Viehsionomik« – Natur und Kultur Schon die nachgestellte Vorlesung in H3,1 hat gezeigt, dass der Doktor auch als akademischer Lehrer seinen Probanden Woyzeck auf ein Darstellungsobjekt reduziert, dem er aufgrund einer anatomischen Besonderheit den Status zuschreibt, eine Übergangsform zwischen Tier und Mensch zu sein. Sowohl durch seine ›Vorführung‹ vor den Studenten als auch durch seine Theorie entwürdigt er Woyzeck zur störrischen und doch erkenntnisfördernden »Bestie«: DOCTOR. Meine Herren, sie können dafür was anders sehen, sehen sie der Mensch, seit einem Vierteljahr ißt er nichts als Erbsen, bemerkten sie die Wirkung, fühlen sie einmal was ein ungleicher Puls, da und die Augen. WOYZECK, Herr Doctor es wird mir dunkel. Er setzt sich. DOCTOR Courage Woyzeck noch ein Paar Tage und dann ist’s fertig, fühlen sie meine Herren fühlen sie, (sie betasten Schläfe, Puls und Busen) à propos, Woyzeck, beweg er den Herren doch einmal die Ohren, ich hab es Ihnen schon zeigen wollen, zwei Muskeln sind bey ihm thätig. Allons frisch! WOYZECK, Ach Herr Doctor!

|| 121 Siehe hierzu u. a. Schmiedebach 1999, S. 51–66. 122 Vgl. Kant 1983, IX, S. 51; diese Verbindung zu Kant stellt auch Hans Mayer 1972, S. 344f. her

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DOCTOR, Bestie, soll ich dir die Ohren bewegen; willst du’s machen wie die Katze. So meine Herrn das sind so die Uebergänge zum Esel.123

Zunächst ist festzuhalten, dass Woyzeck in dieser Szene weder als Proband eines Versuches noch als Patient des Doktors – der ihn nie als solchen betrachtet, obwohl er ihn dazu macht – nunmehr in einer dritten Rolle fungieren muss, die der forschende und praktizierende Mediziner ihm abverlangt: als Anschauungsobjekt der wissenschaftlichen Lehre. Auch in dieser Position muss er die Demütigungen des ihn zum reinen Mittel herabsetzenden Doktors über sich ergehen lassen, und zwar sowohl im unmittelbaren Umgang, der auf Woyzecks Autonomie und Würde als mittlerweile kranker Mensch keinerlei Rücksicht nimmt, als auch als Gegenstand einer Theorie, die seine Fähigkeit zum Ohrenwackeln zum Kennzeichen eines Status auf der scala naturae macht, der ihn zwischen Mensch und Tier stellt.124 Ist der inhumane Umgang mit Woyzeck als Lehrobjekt evident gestaltet, weil der Doktor als wissenschaftlich Lehrender seinen als praktischer Arzt geschworenen hippokratischen Eid gegenüber dem leidenden Probanden, der längst zum Patienten geworden ist, weil er ihn als Forscher dazu gemacht hat, verletzt, so erweist sich die spezifische Ausrichtung des zweiten Beispiels der Herabwürdigung als komplexer. Nun beabsichtigte Büchner jedoch, schon in den ersten Szenen eine analoge Übertretung der Grenze zwischen Tier und Mensch zu inszenieren, in der sich des Doktors Vorlesungsgegenstand und damit seine Theorie zu Woyzecks anatomischer Besonderheit spiegeln sollte. Gemeint ist die in H1,1 und H1,2 sowie H2,3 aufgenommene Jahrmarktszene,125 deren wissensgeschichtliche Bedeutungsebene zunächst zu ermitteln ist.

9.2.1 Zur Jahrmarktszenerie – Wissens-Popularisierung im Vormärz Vor allem in der ersten Entwurfsstufe – erheblich gekürzt in der zweiten – lässt Büchner sein Drama auf einem Volksmarkt beginnen, dessen auffälligste Attraktion von einem Stand ausgeht, vor und in dem ein Marktschreier die Kunststücke eines

|| 123 P I, S. 21828–21911/MBA VII.2, S. 2023–36. 124 Vgl. hierzu auch Graff 2017, S. 181f.; anders als das Gros kulturwissenschaftlicher WoyzeckForschung erkennt Graff, dass es Büchner mit den Tiervergleich im Woyzeck nicht darum zu tun war, die Grenze zwischen Tier und Mensch objektiv einzureißen, sondern vielmehr darum zu zeigen, unter welchen sozialen Bedingungen diese Grenze intersubjektiv, in der Auffassung der Zeitgenossen nämlich, nivelliert werden kann. Das ist aber kein Plädoyer für die Gradualität der Mensch-Tier-Relation, sondern gerade eine Anklage gegen sie und ihre gesellschaftspolitischen Bedingungen. 125 Vgl. MBA VIII.2, S. 31–42 u. S. 147–34.

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dressierten Pferdes anpreist und anleitet. Im Zentrum der drastischen Rhetorik des Marktschreiers steht die Verwischung der Grenzen zwischen einer vernunftfähigen Menschheit und einer natürlichen Animalität, weil sein Dressurpferd des Zählens und eines naturgeschichtlichen Dialogs fähig scheint: MARKTSCHREIER. Zeig’ dein Talent! Zeig deine viehische Vernünftigkeit! Beschäme die menschlich Societät! Meine Herren dieß Thier, wie sie da sehn, Schwanz am Leib, auf seinen 4 Hufen ist Mitglied von allen gelehrten Societäten, ist Professor an mehren Universitäten wo die Studenten bey ihm reiten und schlagen lernen. Das war einfacher Verstand! Denk jetzt mit der doppelten raison. Was machst du wann du mit der doppelten Räson denkst? Ist unter der gelehrten société da ein Esel? (der Gaul schüttelt den Kopf) sehn sie jetzt die doppelte Räson! Das ist Viehsionomik. Ja das ist kein viehdummes Individuum, das ist eine Person! Ein Mensch, ein thierischer Mensch und doch ein Vieh, ein bête, (das Pferd führt sich ungebührlich auf). So beschäme die société! Sehn sie das Vieh ist noch Natur unverdorbne Natur! Lernen Sie bey ihm. Fragen sie den Arzt es ist höchst schädlich! Das hat geheißen Mensch sey natürlich, du bist geschaffen Staub, Sand. Dreck. Willst du mehr seyn als Staub, Sand, Dreck? Sehn sie was Vernunft, es kann rechnen und kann doch nit man den Fingern herzählen, warum? Kann sich nit ausdrücken, nur nit expliciren, ist ein verwandter Mensch! Sag den Herren wieviel Uhr es ist, wer von den Herren und Damen hat eine Uhr, eine Uhr.126

Bevor die Stellung und Funktion dieser Szene im poetischen Gefüge des Fragments interpretiert werden kann, vermag ein Rekurs auf einige wissenschaftsgeschichtliche Kontexte die Bedingungen beleuchten, die zu Büchners Intentionen bei der Inventio und der spezifischen Ausführung dieser Passage führten. Denn eine wichtige Voraussetzung dafür, dressierte Pferde nicht als Naturwunder vorzustellen, sondern als ›Mitglieder gelehrter Sozietäten‹, deren wissenschafts-, aber auch kulturpolitische Stellung in der Tat im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an Bedeutung zunahm,127 bestand in den Tendenzen einer Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder deren praktischer Konsequenzen, wie Impfungs- oder Hygienefragen,128 die nicht erst nach 1848 einsetzten.129 Zwar erfuhr dieser Trend in Frankreich, England und Deutschland nach der Revolution eine gleichsam professionalisierte Erweiterung,130 doch schon seit den 1820er Jahren bemühten sich Forscher wie Lorenz Oken oder Gottfried Nees von Esenbeck, die neuesten Leistungen und Erkenntnisse der Forschung allgemeinverständlich in die Gesellschaft zu vermitteln.131 Diese Wissenschaftspolitiker, denen es einerseits um den aufklärerischen Gedanken einer allgemeinen theoretischen und praktischen Volksbildung, andererseits um das

|| 126 P I, S. 17717–17810/MBA VII.2, S. 315–33. 127 Vgl. hierzu u. a. Schipperges 1972, S. 11f.; Lenoir 1992, S. 57ff.; Jahn 32004, S. 301. 128 Vgl. hierzu die materialreiche Studie von Sarazin 2001, spez. S. 140ff. 129 Zu den Entwicklungen nach 1848 vgl. Daum 1998a, S. 57–90. 130 Vgl. Daum 1998. 131 Zu Okens kulturpolitischen Aktivitäten zum Zwecke einer gesellschaftlichen Verankerung seiner Wissenschaft vgl. Ries 2004.

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Interesse an der Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz und Unterstützung ihrer Forschung zu tun war und natürlich auch um profitable Erfolge auf dem Publikationsmarkt, bedienten sich des Mediums der Zeitungen und Zeitschriften132 ebenso wie populärwissenschaftlicher Kompendien133 und der Gründung öffentlichkeitswirksamer Vereine und Verbände.134 Wie schon in der Skizze zum Kontext der büchnerschen Naturphilosophie geschildert, zeitigte diese Strategie so große Erfolge, dass es u. a. bei der Auslieferung der Bände von Alexander von Humboldts Kosmos schon in den 1840er Jahren vor Buchhandlungen zu tumultartigen Szenen kam.135 Spätestens seit den 1840er Jahren hatte auch die Fraktion der analytischexperimentellen Naturforscher die Vorzüge dieser Popularisierung ihrer wissenschaftlichen Aktivitäten erkannt und fand u. a. in Justus von Liebig ihren wirksamsten, weil stilistisch fähigsten und produktivsten Vertreter.136 Schon 1840 veröffentlichte er jene populäre Bilanz über den Zustand der Naturforschung und ihres Studiums in Preußen, die der Naturphilosophie das Totenlied sang.137 Seine Chemischen Briefe, 1841 in der ersten Auflage erschienen, entwickelten sich zu einem Bestseller auf dem Sachbuchmarkt,138 der seine wissenschaftspolitische Ausnahmestellung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mitbegründete.139 Büchner dokumentiert in den Eingangsszenen seines Dramas die mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen dieser Popularisierungstendenzen. Bis auf die Ebene der Jahrmarktbelustigungen und damit nicht allein in den bürgerlichen, sondern auch in den kleinbürgerlichen und proletarischen, mithin in ›allen Ständen‹ zeitigte die Wissenschafts-Popularisierung ihre Auswirkungen. Dass es die Akteure dieser ›Veröffentlichung‹ wissenschaftlicher Naturforschung mehr auf das Eintrittsgeld sensationslüsterner Volksmassen denn auf Volksaufklärung abgesehen hatten, zeigt Büchners nüchternes Verhältnis zu den Ambitionen seiner Kollegen. In den überlieferten Fragmenten enthält er sich allerdings jeder Inszenierung einer kritischen oder affirmativen Perspektive auf diesen Prozess, wenngleich die Tatsache, dass der Margarethe in die Vorstellung begleitende Unteroffizier an der Vorführung ein geringeres Interesse zeigt als an ihrer Unterwäsche, die Gleichgültigkeit gegenüber wissenschaftlicher Dignität in den Verwertungszusammenhängen der Unterhal-

|| 132 Zu einiger Berühmtheit gelangte schon in den 1820er Jahren Okens Isis, vgl. hierzu Ghiselin 2005, S. 436 sowie Höppner 2017, S. 705ff. 133 Auch in diesem Zusammenhang tat sich vor allem Lorenz Oken hervor durch seine Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, die ab 1833 in insgesamt sieben Bänden erschien. 134 Vgl. hierzu u. a. Bohley 2001. 135 Vgl. hierzu Humboldt 22008, VII.2, S. 341 sowie meine Ausführungen in Kap. 3. 136 Vgl. hierzu Kurz 2003, S. 11–30. 137 Liebig 1840. 138 Vgl. Hansen 2003, S. 31–43. 139 So zu Recht Brock 1999, S. 231ff.

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tungsbranche deutlich markiert. Im Blick des Unteroffiziers auf die Röcke Margarethes während der populären Vorführung ironisierter naturgeschichtlicher Fragestellungen dokumentiert Büchner erneut die Grenzen der Wirksamkeit wissenschaftlichen Wissens – auch und gerade in seiner popularisierten Form. Eine Kritik wissenschaftspopularisierender Tendenzen der Zeit ist dennoch nur am Rande eine Darstellungsabsicht der gleichwohl aufgerufenen Reflexion auf jenes in den 1830er Jahren hochaktuelle Thema.140 Vielmehr liegt das Telos des Interesses bei den Inhalten der Publikumsansprache des Marktschreiers.

9.2.2 Tierische Vernunft oder vernünftige Tiere? In Avant-Propos führt Balzac die einleitend erwähnte Engführung der Struktur menschlicher Gesellschaften mit der zoologischen Ordnung im Tierreich auf die folgende Weise aus: Längst vor all den Debatten zu diesem Thema [d. i. der lamarckschen These von der Beeinflussung der Arten durch die natürliche Umgebung] war ich von diesem System, gebannt. Ich erkannte, daß unter diesem Aspekt die Gesellschaft der Natur glich. Formt nicht auch die Gesellschaft aus dem Menschen je nach der Umwelt, nach Milieu, in denen er sich handelnd entfaltet, ebenso viele verschiedenartige Menschen, wie es in der Zoologie Spezies gibt? Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, einem Arbeiter, einem Bürokraten, einem Advokaten, einem Müßiggänger, einem Gelehrten, einem Staatsmann, einem Seemann, einem Dichter, einem armen Teufel, einem Priester sind zwar schwieriger zu erfassen, aber genauso beträchtlich wie die zwischen dem Wolf, dem Löwen, dem Esel, dem Raben, dem Hai, der Seekuh, dem Lamm usw. Es hat also von jeher soziale Gattungen gegeben und es wird sie zu allen Zeiten geben, wie es zoologische Gattungen gibt.141

Nicht nur geht es Balzac mit diesem 1842 veröffentlichen Manifest um die Legitimation des Anspruchs auf eine gleichsam naturwissenschaftliche Rekonstruktion der Gesellschaft im Medium der Literatur, weil er deren Gegenstand für strukturell identisch mit der Natur hält. Vor allem die letzten Hinweise des Zitats deuten auch auf eine polemische Abwehr der in den 1840er Jahren erstarkenden sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen und deren Ziele einer von sozialen Differenzen befreiten Gesellschaft hin. Wie der deutschen politischen Romantik,142 so dient auch Balzac die Referenz auf die Ordnung im Tierreich zum Nachweis der anthropologischen Konstanz sozialer Hierarchien. Wie die sich am Kategorienapparat der Biologie be-

|| 140 Diese Referenz übersehen die wenigen Interpretationen der Jahrmarktszenen, nämlich Oesterle 1983, S. 208–218 und Neumeyer 2009b, S. 115. 141 Zitiert nach Balzac 2007, S. 424f. 142 Vgl. hierzu vor allem Müller 1936 sowie Peter 2007, S. 47–88.

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dienende positivistische Soziologie Comtes143 von Seiten der Gesellschaftstheorie, so unternahm es die Romantik von der Naturgeschichte aus, die Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft einzuebnen, um für beide Bereiche überzeugende, historisch indifferente Ordnungsmodelle zu entwerfen.144 Schon die Naturgeschichte und Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts nahm für sich in Anspruch, den Menschen als Moment einer natürlichen Ordnung zu begreifen und als ein solches Naturwesen zu erforschen. Zumeist wurde dieser Erklärungsebene aufgrund der moralischen Fähigkeiten und religiösen Bindungen des Menschen eine ergänzende, letztlich die erste fundierende Ordnung kontrastiert.145 Spätestens seit den europaweit wahrgenommenen Streitigkeiten zwischen Kant und den naturforschenden Anthropologen der 1780er Jahre, wie Forster, Herder oder Soemmerring,146 war deutlich geworden, dass die methodischen Postulate und systematischen Konsequenzen der Anthropologien durch die Einordnung des Menschen in die scala naturae nicht nur unter naturgeschichtlichen bzw. naturwissenschaftlichen Kategorien erfolgen konnte.147 In Frage stand das Verhältnis der Freiheit und Kultur des Menschen zu seiner und der ihn umgebenden Natur, das Herder oder Forster als nur graduelle Differenz fassten.148 Der Streit zwischen Kant und Forster um die Kriterien für einen wissenschaftlichen Begriff der »Menschenrasse«, in dem vor allem von Seiten Forsters mit weltanschaulichen Argumenten nicht gespart wurde, dokumentiert mit allem Nachdruck, dass die Frage der von beiden Seiten als erforderlich erachteten naturgeschichtlichen Perspektive auf den Menschen nicht ohne bedeutende Kontroversen beantwortet werden konnte.149 Denn nicht nur die Theologie, auch der philosophische Idealismus in allen seinen Schattierungen hielt eine qualitative Differenz zwischen Natur und Kultur für unerlässlich, weil für einzig plausibel begründbar. Weit vor Darwins Einbindung des Menschen in die natürliche Evolution vollzog sich mithin schon der erbitterte Streit über die Frage einer wissenschaftlichen Integration des Menschen in eine vollständige Naturgeschichte und -philosophie.150 Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Forschungstendenzen seit dem späten 18. Jahrhundert bestand in der Gradualisierung der zuvor schöpfungstheologisch legitimierten qualitativen Differenz zwischen Mensch und Tier. Dabei standen zunächst und zumeist die Konsequenzen der systematischen Animalisierung des Menschen in Mittelpunkt der Kontroversen. Schon Goethes Mephistopheles bedient sich

|| 143 Vgl. Wagner 2001, S. 49ff. 144 Vgl. hierzu Lepenies 1978, S. 52ff. 145 Vgl. Nowitzki 2003. 146 Vgl. hierzu u. a. Godel u. Stiening (Hg.) 2012. 147 Vgl. hierzu die Darstellung der Kontroversen bei Riedel 1989, S. 148–170. 148 Vgl. Euler 2001, S. 453–480. 149 Vgl. hierzu Dörflinger 2001, S. 342–351. 150 Vgl. Lovejoy 1985, S. 221–250.

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dieser fließenden Grenze zu einem moralischen Urteil über den menschlichen Missbrauch der Vernunftfähigkeiten, die ihn – selbstverschuldet – zum Tiere mache: Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein.151

Unverkennbar changiert in diesen Zeilen der Begriff des Tieres zwischen naturtheoretischem Begriff und moraltheoretischer Metapher; die Voraussetzung der historischen Semantik dieser Bildfindung besteht jedoch in der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu beobachtenden Aufweichung der starren Grenzen zwischen Mensch und Tier, die allererst ermöglichte, ein unmoralisches Verhalten ›tierisch‹ zu schimpfen. Zuvor galt das Tier als moralisch indifferent und damit für eine ethische Metaphorisierung untauglich. Auf der anderen Seite wurden schon im 18. Jahrhundert im Anschluss an eine neuerliche Rezeption der cartesischen Philosophie Überlegungen zur Erforschung einer Tierseele angestellt, durch deren graduelles Verhältnis zur Seele des Menschen die Grenzen zwischen Mensch und Tier auch von Seiten der Zoologie ›urbar‹ gemacht wurden.152 So konnte Dietmar Schmidt zeigen, dass die Geschichte der Physiognomik schon seit Lavater durch eine Deutung tierischer Leiblichkeit geprägt wurde. Die von Büchner aufgerufene »Viehsionomik«153 – als Wortspiel eine der für seinen Sprachgebrauch typischen Erfindungen154 – beförderte die bis ins späte 19. Jahrhundert blühende Physiognomik, und zwar im Hinblick auf die Ermöglichung einer Übertragung typologisierter Eigenschaften von Tieren auf den Menschen.155 Büchner, der als Wissenschaftler, Politiker und Dichter unter naturphilosophischen, soziologischen und anthropologischen Gesichtspunkten zwischen Natur und Gesellschaft bzw. zwischen der natürlichen und der kulturellen Dimension am Menschen qualitative Unterschiede markierte,156 u. a. indem er St. Justs Rede als Teil eine mörderischen Ideologie darstellte157 oder weil er zwischen höheren und niederen Momenten am geistigen Wesen des Menschen differenzierte,158 führt in seiner Jahrmarktszene in Überbietung der balzacschen Wissenschaftssatire aus La Peau de Chagrin die albernen Konsequenzen jener Theorien einer durchlässigen Grenze zwischen Mensch und Tier vor, die vor allem deren Vertreter selber treffen.159 Diese

|| 151 Vgl. Goethe 1988, III, S. 17. 152 Siehe hierzu die aufschlussreiche Arbeit von Wild 2006, spez. S. 211ff. 153 MBA VII.2, S. 323. 154 Und dies trotz mannigfacher Anregungen, vgl. P I, S. 751. 155 Vgl. Schmidt 2003, S. 21–46. 156 Vgl. hierzu Stiening 2006, Stiening 2012 sowie Roth 2016. 157 Vgl. meine Überlegungen in Kap. 6. 158 Siehe hierzu meine Überlegungen in Kap. 2. 159 Vgl. hierzu auch den Hinweis von Poschmann (P I, S. 749), dass Büchner selber im Sommer 1836 Mitglied einer solchen Sozietät geworden war.

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müssen selbst dem ungebildeten Volk als Mitglieder einer ›tierischen‹ Vereinigung ›gelehrter Sozietäten‹ erscheinen, für die schon das zweifache Nachdenken als »doppelte raison« erscheint.160 Die Grenze zwischen Mensch und Tier als eine substanzielle Differenz einzureißen, wie einflussreiche Teile der Anthropologie und Naturforschung seit 1800 wissenschaftstheoretisch und sozialpraktisch forderten, stutzt deren eigene Vertreter auf ›Jahrmarktsfiguren des Geistes‹ zurück.161 Ein deutlicheres Plädoyer gegen Materialismus und Naturalismus gibt es aus Büchners Feder nicht. Zugleich spiegeln die anpreisende Verkaufssprache des Marktschreiers und die dressierten Reaktionen des Pferdes, die auf der objektiv substanziellen Differenz zwischen beiden beruhen, die unmenschliche, eben ›tierische‹ Lage Woyzecks in der Vorlesungsszene. Eine sich den moralischen Gesetzes ihres Handelns nicht mehr unterwerfende Forschung regrediert ihre Vertreter zu Verkäufern von Sensationen auf Jahrmarktniveau. Sie erniedrigt zudem ihre ›Demonstrationsobjekte‹ zu solch »viehdumme[n] Individu[en]«, die das rechnende Pferd gerade nicht sein soll; es steht in einer gradualisierten Variante der scala naturae über Woyzeck.162 Doch Büchner inszeniert mehr noch als eine kritische Spiegelung beider Szenen.163 Er zeigt vielmehr, dass die Thesen von einer nur graduellen Differenz zwischen Tier und Mensch zur Legitimation eines ethisch fragwürdigen Umgangs mit Menschen in Wissenschaft und Medizin dienen. Eine als Übergangsstufe zum Esel bestimmte menschliche »Bestie« kann als ein störrischer Esel behandelt und vorgeführt werden. Die Versuche der Aufhebung jener qualitativen Differenz zwischen Natur und menschlicher Kultur leisten also hilfreiche Dienste für die Legitimation jener »viehischen Vernünftigkeit« im Handeln des Doktors.164

|| 160 Vgl. auch Hans Mayer 1972, S. 344. 161 Insofern ist Büchners Woyzeck im Hinblick auf seine Wissenschaftssatire auch als kritischer Kommentar zu einigen Tendenzen der neueren Kulturwissenschaften zu lesen, die explizit – wissenschaftstheoretisch und systematisch – die Grenze zwischen Natur und Kultur für überholt erachten (vgl. u. a. Sarazin 2001, S. 11f.). 162 Vgl. hierzu auch Graff 2017, S. 178ff. 163 Vgl. hierzu auch Greiner 2010, S. 307. 164 Das gilt auch für Interpreten dieser Passage, die Büchner unterstellen, es gehe ihm gerade um die Legitimation jener Gradualisierung, so u. a Oesterle 1983, Neumeyer 2009b oder Borgards 2013– 15.

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9.3 »Criminalpsychologie« – Woyzeck als Fall der Forensik 9.3.1 Ist Woyzeck unfrei? – Zwischen Forensik und Wissenschaftsethtik Der Marktschreier hatte für sein rechnendes Pferd in Anspruch genommen, dieses sei »kein viehdummes Individuum«, sondern vielmehr »eine Person«.165 Allein an dieser Vokabel für die ›Humanisierung‹ des Tieres wird deutlich, dass die Inszenierung der Jahrmarktszene und das Geschrei ihrer zentralen Figur präzise auf eine Spiegelung mit der Titelfigur berechnet ist. Kant hatte nämlich – den rechtsphilosophischen Debatten des Vormärz eine einflussreiche Vorgabe formulierend166 – diesen Begriff wie folgt definiert: P e r s o n ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind.167

Die Forschung zu Büchners letztem Drama hat die Tatsache, dass der Autor durch den Namen der Titelfigur eine poetische Referenz auf den Fall des in Leipzig 1824 hingerichteten Johann Christian Woyzeck beabsichtigte, auf minutiöse Weise herausgearbeitet.168 Auch dass Büchner weitere forensisch Aufsehen erregende Fälle gut bekannt waren, konnte festgestellt werden.169 Zu Recht präzisierte Rüdiger Campe diesen Bezug allerdings insofern, als Büchner sich keineswegs direkt auf die Fälle, sondern auf deren Diskussion in den rechtsmedizinischen Zeitschriften und Einzelpublikationen der 1820er und 1830er Jahre bezog.170 Der Autor des Woyzeck referiert mithin – stärker noch als der von Dantonʼs Tod oder der von Lenz – auf eine wissenschaftliche Problemlage, die er im Medium der dramatischen Dichtung darzustellen und zu reflektieren beabsichtigte. Das szientifische Reflexionsmedium, durch das er den authentischen Fall wahr- und aufnimmt, ist nicht die Geschichtswissenschaft, sondern – seiner eigenen Profession näher – die Forensik.171 Diese wissenschaftliche Debatte bearbeitete die Frage nach einer rechtslogischen Begründung und rechtspraktischen Anwendbarkeit der Kategorie der ›Unzurechnungsfähigkeit‹ insbesondere in Mordfällen.172 Dabei fokussierte die mit erheb-

|| 165 Vgl. erneut MBA VII.2, S. 324. 166 Vgl. hierzu Brand 2006, S. 199–208. 167 Kant 1983, VII, S. 329. 168 Vgl. hierzu u .a. P I, S. 714–729; Knapp 32000, S. 176–187; Dedner 2000, S. 114–177; MBA VII.2, S. 85; die Textdokumentation ebd., S. 251–440 sowie Schiemann 2017, S. 21–113. 169 Vgl. u. a. Dedner 2000, S. 157ff.; MBA VII.2, S. 299ff.; Neumeyer 2009, S. 107f.; Schiemann 2017, S. 113–129. 170 Campe 1998, S. 222: »Büchners Texte verarbeiten nicht in erster Linie einen Stoff, sondern zitieren Texte und Darstellungsweisen.« Vgl. hierzu auch Schmaus 2009, S. 215ff. sowie Greiner 2010, insb. S. 302ff. 171 Vgl. hierzu auch Glück 1984, S. 227ff. 172 Vgl. hierzu Greve 1998 sowie Schiemann 2017, S. 79ff.

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lichem Aufwand und unter großer Anteilnahme durch die interessierte Öffentlichkeit angetragene Diskussion173 das eigentliche Problem nicht auf die Frage nach der Legitimität der Todesstrafe, sondern auf die rechtsphilosophische Problematik einer allgemeinen Rechtsfähigkeit des durch äußere Umstände beeinträchtigten Bewusstseins eines Delinquenten. In Frage stand die Möglichkeit einer zeitweiligen oder unbegrenzten Depersonalisierung eines menschlichen Individuums, um verantwortungsrelativierende Bedingungen bei der Unrechts- und Strafmaßzumessung berücksichtigen zu können.174 Das entscheidende rechtsphilosophische, aber – für die 1820er und 1830er Jahre – ebenso rechtspolitische Problem bestand für Kritiker dieser noch unklar konturierten Kategorie der Rechtsprechung darin, die für eine allgemeine und im Vormärz politisch noch lange nicht durchgesetzte Rechtsstaatlichkeit essentielle Annahme einer grundsätzlichen Freiheit des Einzelnen nicht zu relativieren.175 Das für das Freiheitsaxiom erforderliche Theorem der personalen Identität bildete eine entscheidende Voraussetzung für den politischen Republikanismus und schien durch die Möglichkeit temporärer Unzurechnungsfähigkeit konterkariert zu werden. Wie Kant sahen die Gegner der Einführung jener Kategorie der Unzurechnungsfähigkeit die Gefahr einer Verunmöglichung rechtsstaatlicher Prinzipien und ihrer Verwirklichung auf politischer Ebene.176 Demgegenüber sahen die Befürworter jener Regelung – wie der liberale Bürgerrechtler und Rechtsphilosoph Johann Adam Bergk, der in den Prozess gegen Woyzeck eingriff177 – die Notwendigkeit, eine Einschränkung der grundsätzlich vorauszusetzenden Zurechnungsfähigkeit jeder Person unter bestimmten Bedingungen zu fordern. Die Gründe für diese Einschränkung könnten fremd- oder selbstverschuldet sein, entscheidend bleibe einzig die Voraussetzung eines zurechnungsfähigen Bewusstseins für die Zumessung der Rechts- und damit Straffähigkeit. Mit der kantischen Formel einer erlittenen Unmündigkeit richtete Bergk seine Konzeption gegen Kants Thesen von einer durch den Begriff der Personalität erforderlichen Uneinschränkbarkeit der Zurechnung.178 Mit dem deutlichen Bezug zum Fall ›Woyzeck‹ bzw. der forensischen und rechtsphilosophischen Debatte im Anschluss an dessen letztlich erfolgte Hinrich-

|| 173 Vgl. hierzu die Dokumentation der Debatte im Zusammenhang des Woyzeck-Prozesses in MBA VII.2, S. 331–440. 174 Vgl. hierzu auch Greve 2004. 175 Insofern ist die Gegenüberstellung von »konservativen« Gegnern einer Verrechtlichung von Begriff und Sache der Unzurechnungsfähigkeit und »liberalen« Befürwortern (so Beise 2010, S. 113) zu kurz gegriffen. 176 Vgl. hierzu ähnlich Campe 1998, S. 218ff. 177 Vgl. hierzu u. a. MBA VI.2, S. 255f.; Neumeyer 2009, S. 105; Beise 2010, S. 112; Schiemann 2017, S. 76f. 178 Zur Kant-Kritik des ›Kantianers‹ Bergk vgl. u. a. Garber 1992, S. 243–281.

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tung, die von liberalen Juristen als Justizirrtum angesehen wurde,179 nimmt Büchner mit seinem Dramenversuch Stellung zu jener wissenschaftlichen Problematik. Ist dem Fragment eine klare Positionierung in der laufenden Kontroverse abzulesen? Die Forschung fällt in dieser Frage ein eindeutiges Urteil: Büchner habe in seinem Stück zweifellos beabsichtigt, für die Unzurechnungsfähigkeit Woyzecks zu plädieren und so eine »Revision des Leipziger Gerichtsurteils« zu postulieren.180 Damit ziele das Stück vor allem auf eine »Kritik an einer Klassenjustiz«, die ausschließlich die Interessen der eigentlich schuldigen Funktionsträger (Hauptmann, Doktor) vertrete bzw. deren Schuld verschleiere.181 Büchners innovativer Versuch einer mitempfindenden und mitleidenden Darstellung des »Geringsten«182 habe darin seinen wichtigsten Zweck, die Grenzen bürgerlicher Rechts- und Gesetzesprinzipen aufzuzeigen.183 Lässt man die klassenspezifische Zuweisung der kritischen Ausrichtung des Stückes außer Acht, die nirgends nachweisbar ist, weil Büchner eine allgemeine Rechtsstaatlichkeit an keiner Stelle als bürgerliche begreift bzw. kritisiert, so ist zutreffend, dass das Stück tatsächlich Bedingungen ausführt, die Woyzecks rechtsfähige Mündigkeit unterminieren. Dazu gehören allerdings keineswegs die drückende Armut Woyzecks, die Erniedrigungen durch den Hauptmann oder die schweren Eifersuchtsanfälle, deren letzter zur Ermordung Maries führen. Zwar können Armut, Demütigung oder Eifersucht zu verständlichen, im Falle lebensbedrohender Armut sogar zu legitimen Motiven für Verbrechen werden. Als zureichende Begründung für das die Rechtsfähigkeit einschränkende Urteil der Unzurechnungsfähigkeit können diese Motive nach Büchner offenbar nur schwerlich dienen und sind daher von ihm auch keineswegs zu diesem Zweck inszeniert worden.184 Die entscheidende Bedingung für eine begründete Zuweisung jenes Urteils liefert einzig jenes Motiv, das Büchner dem historischen Falle ›Woyzeck‹ hinzudichtete: der Ernährungsversuch des Doktors. Schon in den oben zitierten zeitgenössischen Experimenten war erkennbar geworden,185 dass einseitige Ernährung zu schweren psychischen Störungen und gar zu Erkrankungen führte, unter denen Halluzinationen oder Verfolgungspsychosen, die auch Woyzeck quälen, nur die mildesten Erscheinungsformen ausmachten. Doch diese psychischen Konsequen-

|| 179 Vgl. hierzu Dedner 2000, S. 167ff. 180 So Glück 1990b, S. 435ff.; schon Viëtor 1949, S. 212 sprach vom »Fehlurteil«; vgl. auch Reuchlein 1985, S. 58ff.; Knapp 32000, S. 198; Neuhuber 2009, S. 164; kritisch hierzu Greiner 2010, S. 297ff. sowie Greiner 2012, S. 608f. 181 Hauschild 22004, S. 148. 182 So Hauschild 1993, S. 547ff.; Greiner 2012, S. 606ff.; Hauschild 2013, S. 243ff. 183 So auch Thorn-Prikker 1978, S. 120ff. 184 Vgl. hierzu die Studie von Schmidt-Recla 2006, S. 305–357. 185 Vgl. Roth 1995–99, S. 517.

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zen waren weitgehend unerforscht.186 Wenn Büchners Woyzeck die Eigenschaft der Unmündigkeit, d. h. der juridischen Unzurechnungsfähigkeit aufgrund der Einschränkung seiner Willensfreiheit187 zugeschrieben werden kann, dann aufgrund seiner Rolle als Proband im Ernährungsversuch des Doktors, der ihn nicht nur physisch, sondern auch psychisch erkranken lässt.188 Damit wird aber Büchners Stellung im skizzierten forensischen Konflikt sichtbarer – auch wenn Rüdiger Campe darin zuzustimmen ist, dass der fragmentarische Charakter eine eindeutige Zuweisung durchaus nicht erlaubt.189 Sicher aber ist, dass Büchner einerseits die im historischen Falle selber auftretenden Bedingungen offenbar für zu geringfügig erachtete, um eine Unzurechnungsfähigkeit plausibel aufführen zu können; für das forensische Problem brauchte er mithin eine Ergänzung, die er mithilfe der wissenschaftsethischen Thematik leistete. Andererseits ermöglichte ihm die forensische Fragestellung der wissenschaftsethischen Problemlage eine rechtliche Dimension zu schaffen, und zwar mit nachgerade tödlichen Konsequenzen.190 Die wissensgeschichtlich rekonstruierbaren Dimensionen des Fragments, Forensik und Wissenschaftsethik, sind also nicht auseinander abzuleiten, obwohl sie sich ergänzen. Büchner sah offenbar in dieser Konstellation eine besondere Herausforderung für die poetische Gestaltung kritischer Handlungsfelder seiner professionellen wissenschaftlichen Arbeit. Er versuchte mit großer Intensität, rechtliche und moralische Auswirkungen und Konsequenzen der naturwissenschaftlichen und medizinischen Wissenschaften zu reflektieren, weil er zeigen konnte und wollte, dass auch exakte und innovative Wissenschaft nicht losgelöst von gesellschaftspolitischen und -ethischen Realien agiert bzw. agieren sollte.

|| 186 Vgl. ebd. 187 Insofern ist Kobels (1974, S. 282–292) berechtigte Kritik an einer Interpretation, die eine ausschließlich soziodeterminierte Pathologie der Titelfigur annimmt, zwar einerseits zuzustimmen; nur wenn Woyzeck zumindest grundsätzlich ein der Freiheit fähiges Individuum ist, kann es überhaupt berechtigte Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit seiner Tat geben. Dennoch kann auch Kobel nicht von der Hand weisen, dass die durch die einseitige Ernährung erkennbar inszenierten physiologischen und psychologischen Beeinträchtigungen Woyzecks seine Willens- und Handlungsfreiheit nachhaltig beeinträchtigen. 188 Das Stück zeigt allerdings deutlich, dass zwar der Doktor und der Hauptmann Woyzeck das Menschsein absprechen, dies aber in unzulässiger Weise tun; auch als psychisch Kranker mit eingeschränkter Willensfreiheit bleibt Woyzeck Mensch, vgl. hierzu anders Greiner 2010, S. 307. 189 So Campe 1998, S. 231. 190 Vgl. erneut Schmidt-Recla 2006, S. 326ff.

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9.3.2 Soziales Drama oder Wissenschaftskomödie? Zu Recht hat schon Friedrich Sengle darauf hingewiesen, dass Büchners Woyzeck »keine reine Sozialtragödie, sondern eine tiefsinnige Vermischung sozialer und medizinischer Motive« darstellt.191 Dass durch die Wahl der Titelfigur sowie die Darstellung seiner Lebenswelt, deren Trost- und Hoffnungslosigkeit wohl am eindrücklichsten vom Märchen der Großmutter in Szene gesetzt wird,192 eine soziale Problematik dargestellt werden sollte, steht außer Frage: In der gleichzeitigen stilistischen und inhaltlichen Revolution liegt die absolute Einmaligkeit des Woyzeck-Fragments, ganz abgesehen von der Frage, wie die inhaltliche Tendenz im einzelnen zu deuten ist.193

Und dass das erste Opfer der wissenschaftlich induzierten und sozial verschärften Zerstörung der Psyche Woyzecks die von ihm geliebte Gelegenheitsprostituierte Marie ist und damit seiner eigenen »Klasse« entstammt,194 liegt in der Fluchtlinie des büchnerschen Analyseinteresse hinsichtlich der politischen Unfähigkeit und Unwilligkeit der »großen Klasse«, die tatsächlich für ihre Lage Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.195 Die ihr durch die »gebildete Klasse« aufgenötigte Zerstörung der Gesundheit generiert keinen politischen und moralischen Widerstand, sondern autodestruktive Tendenzen.196 Diese sozialpolitische Reflexion dürfte eine konstitutive Intension der Arbeit an einem solchen Drama gewesen sein.197 Zugleich kann die thematisch und disziplinär vielfältige, in sich differenzierte Reflexion auf zeitgenössische Wissenschaften und Medizin aus jener Darstellungsabsicht nicht abgeleitet werden.198 Gegenüber der forensischen und rechtsphilosophischen Frage nach dem Verhältnis eines für jeden Rechtsbegriff unerlässlichen freien Willens und der Erfordernis, hinsichtlich bestimmter Verbrechen dieses fundamentum inconcussum neuzeitlicher Rechtsstaatlichkeit einzuschränken, ist die Tatsache, dass das verhandelte Delikt von einem ›Pauper‹ begangen wird, gleichgültig. Die mögliche Zuschreibung einer Unzurechnungsfähigkeit – auch wenn von privilegierten Angeklagten und gewieften Anwälten seither ausgenutzt – ist grund-

|| 191 Sengle 1971–1980, III, S. 322. 192 Vgl. MBA VII.2, S. 835–96. 193 Sengle 1971–1980, III, S. 322. 194 Vgl. hierzu Büchners Gegenüberstellung der »gebildeten und wohlhabenden Minorität« und der »großen Klasse« im Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836; P II, S. 44013ff./MBA X.1, S. 9317ff.. 195 Vgl. hierzu Viëtor 1949, S. 194 sowie meine Ausführungen in Kap. 4 und Kap. 8. 196 In eine vergleichbare Richtung interpretiert Ullman 1972a, S. 12 u. S. 100ff. 197 Vgl. hierzu auch Hans Mayer 1972, S. 341ff. 198 Insofern sind die Versuche Glücks (1985b) und Elms (2004, S. 125–129), die Wissenschaftskritik in die Gesellschaftskritik des Stückes zu integrieren, ein bemerkenswertes, aber gescheitertes Unterfangen.

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sätzlich, weil Moment eines allgemeinen und gleichen Rechtsprinzips, sozial indifferent. Auch die Tatsache, dass mit Woyzeck ein Unterprivilegierter als Versuchsobjekt der Wissenschaften dienen muss, ist im Hinblick auf die wissenschaftsethische Problematik zweitrangig. Unbestreitbar erhöht bis zum heutigen Tage Not und Armut eines Probanden seine Bereitschaft bzw. den Zwang, seinen noch lebenden Körper an die Wissenschaft zu verkaufen. Dennoch ist die moralische Depravation des Doktors im Woyzeck auch gegenüber sozial gleichgestellten Patienten, wie dem Hauptmann, zu beobachten und insofern von Büchner zu Recht als sozial indifferent gestaltet. Daher geht die Wissenschafts- und Medizinerkomödie des Woyzeck nicht in seiner Anlage als soziale Tragödie auf; erst eine wissensgeschichtlich differenzierte Perspektive auf der Grundlage einer Wissenschaftsgeschichte der Zeit199 kann diese doppelte Anlage des Dramas sichtbar machen.

|| 199 Vgl. erneut die präzisen Ausführungen bei Roth 1990–94 sowie Roth 1995–99.

 Ausblick Die vorstehende Studie hat den Versuch unternommen, ausgehend von Interpretationen der szientifischen Wissensbestände Büchners, die er sich in seiner Profession als Philosophiehistoriker und Naturphilosoph erarbeitete, sowohl seine politische Flugschrift als auch seine literarischen Texte zu rekonstruieren. Dabei ergaben sich allein im Hinblick auf seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen sowie auf seine naturhistorischen Qualifikationsschriften durchaus neue Erkenntnisse. Das gilt auch – wenngleich in geringerem Maße – für den Versuch, Büchners politische Flugschrift sowie seine literarischen Reflexionen in den durch die ersten beiden Kapitel aufgespannt Kontextrahmen zu lozieren und auf dieser Grundlage modifiziert zu deuten. Weder im Anspruch noch im Ergebnis zeitigte dieser Versuch einer Korrelation von Wissen und Literatur in Büchners Werk grundstürzende Neuerungen, wenngleich sowohl für Büchners Politik als auch für seine Dichtung modifizierte Perspektiven entwickelt werden konnten und mussten. Um diese spezifischen Deutungsmodifikationen zu verifizieren, wurde versucht, die umfangreiche und stets anwachsende Forschungsliteratur so zu berücksichtigen, dass auf deren Ergebnissen aufbauend das Neue sichtbar werden konnte. Dabei ergaben sich jedoch – wie stets – mehr neue Fragen als Antworten: Allein Büchners philosophische und philosophiehistorische Studien bedürfen weiterer Bearbeitungen; so mangelt es nach wie vor an einer hinreichend differenzierten Sichtung und Interpretation der Texte des Gießener Philosophen Joseph Hillebrand, dessen Einfluss auf Büchner nach wie vor unklar ist.1 Vergleichbares gilt für das umfangreiche Œuvre Johann Bernhard Wilbrands, dessen Person und dessen Texte für Büchners Naturphilosophie und Literatur offenbar eine andere Rolle spielte als die einer überlebten Witzfigur. Weitere wissenschaftliche Kontexte sind zu erschließen oder – wie im Falle Wilbrands – neu zu bewerten, um allein das Bild des Philosophiehistorikers und Naturphilosophen Büchner präziser zu konturieren. Die Bemühungen, im Rahmen einer ideengeschichtlichen Kontextualisierung Büchners wissenschaftliche, politische und literarische Schriften neu zu erschließen, sind allerdings zu ergänzen um möglichst umfassende Versuche sozialgeschichtlicher Kontextualisierung, die sich stärker als bislang auch um die französische Sozial- und Politikgeschichte der 1830er Jahre zu bekümmern hätte. Die regionalgeschichtlichen Beschränklungen dieser Perspektive auf Hessen scheinen den Weltliteraten Büchner auf Provinzniveau reduzieren zu wollen. Auch hier müssen die Beschränkungen positivistischer Zuschreibungen durch realgeschichtliche Kontextualisierungen erweitert werden.

 1 Ansätze hierzu bei Nowitzki 1998 sowie Hillebrand 2019. https://doi.org/10.1515/9783050093215-010

  Ausblick Erst diese real- und ideengeschichtliche Kontexte korrelierenden und je gewichtenden Grundlagen werden auch die Perspektiven auf Büchners literarische Texte modifizieren, um die schwierige »Frage nach der Einheit« des büchnerschen Werkes, auf die nach Hans Mayer »alles ankommt«,2 beantworten zu können.

 2 Hans Mayer 1972, S. 72.

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Personenregister Arnim, Achim von 11, 275, 281, 503, 512, 530, 537 Aristoteles 19, 21, 70, 152, 598, 610 Ast, Friedrich 94, 103, 116 Balzac, Honoré de 1, 5f., 11, 35, 38, 129, 271, 275, 326, 347, 349, 360, 365f., 381, 420, 530, 594, 596, 668–670, 687, 689 Baudelaire, Charles 6, 89, 136, 590, 595 Bauer, Bruno 126, 421 Bell, Charles 305f. Bird, Friedrich 529, 582 Blanqui, Auguste 130, 338, 352, 357–366, 371, 378, 392, 395, 435, 472 Blumenbach, Johann Friedrich 230, 296f., 323, 383f. Börne, Ludwig 335, 359–361, 472 Bonaparte, Napoléon 365, 423f., 631 Braid, James 52 Brach, Bernhard 158 Brandis, Joachim Diedrich 287, 311, 384 Brentano, Clemens 512, 520, 529f., 589, 625, 632 Büchner, Karl Ernst 207, 266, 587 Buonarroti, Filippo 60f., 330, 359f., 363f., 366, 371, 378, 435 Carus, Carl Gustav 2, 93, 153f., 156, 158, 227, 233f., 246, 249f., 257f., 262f., 290– 292, 294, 296–302, 304–306, 308, 310, 317, 320–322, 420, 516f., 520, 523, 528, 536, 541–547, 550–553, 557, 559, 561f., 650, 652 Cavaignac, Godefroy 422 Chamisso, Adalbert von 11, 336 Chenevix, Richard 276, 278 Cicero, Marcus Tullius, 375 Clausewitz, Carl von 631 Comte, Auguste 10, 89, 129, 226, 355, 493, 688 Crome, August Friedrich Wilhelm 406 Cuvier, Georges 1–3, 213–215–221, 224– 228, 230, 232–234, 246f., 251–253, 259f., 262, 268, 271f., 279, 283, 292, 296, 299, 301, 303f., 311, 322, 325, 384f., 444–446, 493, 556

https://doi.org/10.1515/9783050093215-012

Dahlmann, Christoph, Friedrich 72f., 654 Darwin, Charles 158, 206, 217, 252, 259, 318f., 688 Descartes, René 1, 29f., 42, 56, 68, 79, 84f., 89, 100–102, 104–108, 110–166, 168– 170, 172f., 177f., 181, 184, 186f., 189– 193, 195, 198, 200, 202f., 266, 419, 448–452, 454, 456, 544, 588f., 600 Dickens, Charles 216 Diderot, Dennis 55, 126f., 130f., 135–137, 320, 380, 566f. Döllinger, Ignaz 296f. Du Bois–Reymonds, Emil 3f., 6f., 31 Duvernoy, Georges–Louis 106, 209, 212– 221, 225, 228, 247, 251–253, 256, 262, 265, 444, 556 Eichendorff, Joseph von 512, 555, 632 Erdmann, Johann Eduard 43, 84, 95–104, 107, 115f., 119, 122–124, 137–139, 141– 146, 148–152, 168f., 171, 173, 176, 178, 184, 189, 191, 201, 295f. Eschenmayer, Adolf, Karl, August 516, 528, 533f., 537 Feuerbach, Ludwig 41–43, 50f., 53, 59, 88f., 96–98, 101f., 103f., 107, 112, 115f., 119, 122, 125, 138, 141, 143f., 146, 148–151, 153, 162f., 168f., 171–174, 176, 178, 186, 189, 191, 199, 201, 413, 455, 576, 596 Fichte, Johann Gottlieb 44–53, 57, 66, 93, 103, 181, 285, 485, 538, 612 Flaubert, Gustav 6, 38, 222, 275, 530 Fontenelle, Jena–Sébastien–Eugène Julia de 678 Fries, Jakob Friedrich 246, 260, 274, 280– 284, 293, 304, 306f., 311, 322, 442, 573 Gans, Eduard 57, 129, 345f., 635f. Grave, Johann Christian 90, 93 Geoffroy Saint–Hilaire, Étienne 213–215, 218, 221–228, 301 Goethe, Johann Wolfgang 2, 55, 136, 197, 214, 226, 233f., 236, 239, 241, 246, 263, 270, 279f., 292f., 298–300, 310,

Personenregister  

320, 322, 335, 502–504, 530f., 536, 556, 566f., 574, 576, 580, 623, 635, 645, 649, 667f., 688f. Gotthelf, Jeremias 347 Gottsche, Carl Moritz 234, 263, 304 Grabbe, Christian Dietrich 38, 335, 575f., 631 Gutzkow, Karl 57, 81–83, 128, 255f., 353, 356, 358, 366f., 383, 402, 425–428, 442, 445, 474, 490, 502f., 505, 506, 582f., 605, 608, 695

534, 583,

355, 274, 417, 497, 667,

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 14, 20, 22, 25f., 41, 43, 45, 50f., 53, 55–57, 62, 66– 68, 72f., 84, 88, 90, 93–104, 106f., 111, 115f., 119–124, 137–139, 141, 143f., 146–148, 151, 154, 156f., 164, 168, 170, 172f., 176, 178, 181, 183, 189, 191, 199, 201, 224f., 244, 246, 264, 270, 276f., 279, 285, 288f., 292, 303, 311, 316, 322, 342–346, 358, 372, 376f., 380, 389, 404, 416, 448, 455, 477f., 484f., 517, 528f., 531f., 538, 542f., 545f., 349, 551, 572, 575, 600f., 615, 620, 622, 631, 635, 658 Heine, Heinrich 6, 10f., 18, 32, 41, 51f., 80, 95, 97, 100, 105–107, 115f., 126, 130, 133–135, 164, 171, 189, 191f., 193, 197, 238, 247, 256, 274, 336, 338, 345, 347, 358, 361, 366, 429, 437, 458, 472, 482f., 484f., 489, 632f., 656 Helmholtz, Hermann von 3, 673 Herbart, Johann Friedrich 62, 65, 67, 86, 105, 108–110, 166, 168, 182f., 198–201, 246, 266, 284, 311, 322 Herwegh, Georg 11 Hillebrand, Joseph 56, 61–77, 79, 81, 88, 90, 103, 105, 108, 120f., 126, 131, 158, 167f., 183, 188f., 217, 229, 250–252, 254, 259f., 263, 310f., 326, 371–373, 376f., 388f., 397f., 409f., 434, 442, 467, 483–486, 493, 517f., 528, 539, 542f., 557–559, 563, 598, 608, 632, 673, 697 Hobbes, Thomas 71f., 114, 116, 150, 160f., 312, 409, 448, 563, 620 Hock, Christian Friedrich 141

Hölderlin, Friedrich 4, 22, 34, 60f., 130, 396, 481, 500, 510, 512, 536, 662 Hoffmann, E. T. A. 11, 246, 420, 503, 508, 514, 521, 528, 530f., 668 d’Holbach, Paul–Henry Thiry 59–61, 127, 129, 130f., 133, 440, 460 Hugo, Victor 35, 256, 420, 427, 429, 488, 508, 594 Humboldt, Alexander von 239, 270, 273f., 280, 292–294, 686 Ideler, Karl Wilhelm 158 Immermann, Carl 12, 210, 213, 274, 335f., 346f., 429, 530, 667f. Jacobi, Friedrich Heinrich 56, 93, 105, 110– 112, 123f., 144, 166, 169, 181, 184, 191– 193, 201, 573 Jaeglé, Wilhelmine 358, 391, 399, 506, 661, Jung–Stilling, Johann Heinrich 549, 515, 564 Kant, Immanuel 9, 17, 47, 49–51, 57, 66–70, 74, 91–93, 104–112, 119f., 123, 133, 139, 146f., 167, 170, 172–176, 180f., 183–185, 219, 241f., 246, 270–272, 275, 280–285, 287f., 306–309, 315, 321f., 349, 369, 371f., 376f., 380, 409f., 412, 442, 457f., 476, 485, 569f., 573, 575, 601, 606–608, 615, 629, 657, 674, 683, 688, 691f. Kaup, Johann Jakob 252f. Keller, Gottfried 6 Kerner, Justinus 516, 520, 529f., 532, 546, 549–551 Kieser, Dietrich Georg 274, 311, 507, 516, 525, 527f., 531–538, 547, 550–552, 561 Kiesewetter, Johann Gottfried 65, 105, 108, 120f., 168, 170f., 174, 526 Kuhn, Johannes 65, 68, 105, 108, 110–112, 116, 118–124, 137, 143–145, 148, 164, 168, 188–191, 193f., 199, 201, 244, 573 Lamarck, Jean–Baptiste de 227, 250, 298, 316, 318f., 384, 687 La Mettrie, Julien Offrey 62, 131, 133, 296 Lauth, Ernste–Alexandre 53, 106, 209, 212– 214, 220–228, 232, 234, 252, 256, 258, 260, 262, 265, 285, 675

  Personenregister Leibniz, Gottfried Wilhelm 56, 70, 103, 111, 119, 146f., 151, 168, 171–174, 176, 310, 315–317, 458, 557, 566, 568, 603, 629, Lenz, Jakob Michael Reinhold 497, 503 Liebig, Justus von 3f., 31, 228, 235, 237–239, 241, 251–255, 259f., 276, 279, 288, 305, 341, 673f., 676–678, 686 List, Friedrich, 343 Locke, John 18, 667 Luck, Ludwig Wilhelm 45, 50, 57, 87 Mann, Thomas 22, 531 Marx, Karl 42, 46, 59, 88, 115f., 126, 157, 328, 346, 367f., 382f., 405, 413, 417, 433, 437, 622 Meckel, Johann Friedrich 2, 157, 220, 227, 232–234, 263f., 271, 296, 299, 301– 303 Meiners, Christoph 90, 527 Melville, Herman 1–4, 6, 11, 38, 233f., 271, 275, 667 Mignet, François Auguste 389f., 392–395, 398, 421, 430f., 460, 466–470, 474, 476, 482 Morus, Thomas 656 Menzel, Wolfgang 502 Mesmer, Anton 507, 51f., 525–529, 533, 536f., 547, 557 Mevissen, Gustav von 351 Müller, Adam 10, 274, 325, 349, 444, 614, 655, 687 Müller, Johannes 3, 53, 157, 210, 214, 220, 239, 246f., 257–260, 277–279, 300, 303f., 322, 384 Musset, Alfred de 12, 311f., 336, 349, 420, 421f., 530, 589, 594, 597, 625, 645 Muston, Jean-Baptiste Alexis 252, 356, 365, 372, 379, 387, 398, 424, Nees von Esenbeck, Christian Gottfried 10, 274, 279, 325, 518, 685 Nerval, Gérard de 530 Noellner, Friedrich 352 Oken, Lorenz 2, 10, 29, 206, 218, 225, 227, 233f., 236, 248–250, 252f., 263f., 266f., 274, 277, 279, 285f., 289, 292, 294, 298–302, 304–306, 308, 314,

316f., 325, 462f., 507, 541f., 551, 554f., 561f., 685f. Pascal, Blaise 622f. Platner, Ernst 62, 90f., 414 Platon, 119, 152 Poe, Edgar Allan 6 Proudhon, Pierre-Joseph 355 Pufendorf, Samuel von 20, 409 Puységuir, Armand, Maris Jacques de 526, 536 Reil, Johann Christian 157f., 263, 287, 384, 501, 514, 528, 546–548, 551f., 579 Richter, Jean Paul Friedrich 6, 11, 414f., 420, 512–515, 520, 530, 537, 547, 549, 551f. Ritter, Johann Wilhelm 254, 272, 532f. Robespierre, Maximilian 352, 363, 366, 422, 467, 470 Rotteck, Karl von 350f., 360 Rousseau, Jean–Jacques 20, 76, 78f., 130, 296, 350, 376f., 379f., 409f., 412 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 43, 51, 53, 56, 94, 97f., 101f., 111, 113, 115, 122, 132, 137f., 151, 154, 172, 179, 189, 191, 197, 199, 201, 213, 215, 225f., 229f., 236, 238–240, 244, 264, 271–273, 276f., 279, 282, 285–289, 292, 294f., 304, 306, 311, 314, 316, 319, 507, 527f., 532f., 547, 556, 560–562, 570, 575 Schiller, Friedrich 51, 73, 167, 489, 574–576 Schlegel, Friedrich 191, 349, 444, 490 Schleiden, Jakob Matthias 3, 9, 31, 211, 257– 265, 276, 279 Schleiermacher, Friedrich 94, 104, 449 Schopenhauer, Arthur 28, 89, 225f., 238, 280, 312, 330 Schubert, Gotthilf Heinrich 246, 249f., 274, 290–290, 294, 317, 322, 507, 515, 517f., 520–524, 528–533, 543, 545–547, 549f., 552, 557, 560 Schulz, Wilhelm 87, 134, 330, 354, 358, 402, 608, 615, 658 Schulze, Ernst Gottlob 65, 103, 105, 108, 112f. Schuster, Karl Wilhelm Theodor 354, 368, 372

Personenregister  

Senancour, Étienne Pivert de 61, 136, 381, 595, 620, 623–625 Shakespeare, William, 575f., 591 Shelley, Mary 11, 275, 666 Sigwart, Heinrich Christoph Wilhelm 164, 167, 181, 184, 189f., 201 Smith, Adam 387 Spinozas, Baruch 20, 29f., 34, 41–44, 56, 80f., 83–86, 89, 96, 100–102, 104– 108, 110f., 113, 116, 119, 121, 126, 137– 139, 144f., 148, 151, 156, 162–203, 247, 318, 322, 419, 446–452, 454–456, 458, 460, 462, 479, 559, 568f., 588f, 600f., 603f., 661 Spurzheim, Johann Caspar 441 Steffens, Henrich 239, 242, 276f. Stendhal 381, 422f., 596, 616, 618, 626– 628, 630, 639 Stöber, August 55, 328 Stoeber, Adolphe 54, 81, 105 Stoeber, Daniel Ehrenfried 497, 519 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 65, 68, 78– 80, 82–84, 86, 92f., 95, 98, 100–108, 111, 114–116, 118–120, 123f., 126, 133, 137–143, 145–151, 156, 160f., 163, 165– 169, 171–176, 178f., 181–184, 187–189, 192, 194f., 198f., 201f., 314, 448, 450– 454, 456, 459 Tieck, Ludwig 22, 420, 490, 512, 521f., 530, 553, 555, 565, 575, 623 Tocqueville, Alexandre de 341f., 344 Thomas von Aquin 377, 448 Thomasius, Christian 409, 485 Venedey, Jacob 354 Virchow, Rudolf 3 Weidig, Friedrich Ludwig 34, 76, 351, 357, 370, 376f., 403f., 406, 410f., 413, 416– 418 Wernekinck, Friedrich Christian Gregor 222, 228–235, 252f., 258, 265 Wezel, Johann Karl 62, 241, 539 Wilbrand, Johann Bernhard 158, 208, 215, 217, 227–254, 259f., 263, 271, 278f., 285, 287–289, 291, 294f., 301, 304– 306, 308, 322, 499, 516, 528–531, 538,

543–545, 550f., 555, 561, 570, 674– 676, 687 Wirth, Johann August 354 Wolff, Christian 20, 62, 70, 103f., 111, 146, 183, 377, 568 Zimmermann, Friedrich 45, 76f., 87, 209, 213 Zimmermann, Georg 209