Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik: Ein Handbuch 9783050094236, 9783050059600

This volume presents current theoretical approaches from the fields of cultural and literary theory and describes their

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German Pages 559 [560] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Diskursanalyse
Editionsphilologie
Emotionsforschung
Gender Studies
Historische Anthropologie
Historische Metaphorologie
Historische Narratologie
Intertextualität
Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies)
Medialität
New Historicism
Performativität
Psychoanalytische Literaturwissenschaft
Spatial Turn/Raumforschung
Systemtheorie
Glossar
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Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik: Ein Handbuch
 9783050094236, 9783050059600

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Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik

Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik Ein Handbuch Herausgegeben von Christiane Ackermann und Michael Egerding

ISBN 978-3-05-005960-0 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009423-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038066-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort | 1 Joachim Harst Diskursanalyse | 7 Thomas Bein Editionsphilologie | 35 Elke Koch Emotionsforschung | 67 Andrea Sieber Gender Studies | 103 Sandra Linden Historische Anthropologie | 141 Udo Friedrich Historische Metaphorologie | 169 Hartmut Bleumer Historische Narratologie | 213 Caroline Emmelius Intertextualität | 275 Andreas Kraß Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies)  | 317 Christian Kiening Medialität | 349 Claudia Lauer New Historicism | 383 Ulrich Barton/Rebekka Nöcker Performativität | 407

VI | Inhalt

Friedrich Wolfzettel Psychoanalytische Literaturwissenschaft | 453 Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Spatial Turn/Raumforschung | 481 Michael Egerding Systemtheorie | 517 Glossar | 541

Vorwort Das vorliegende Handbuch möchte dazu beitragen, methodisch-systematisch das Bedeutungspotential mittelalterlicher Texte aufzuschließen. Es richtet sich insbesondere an Studierende, die allgemein einen Überblick über aktuelle literatur- und kulturtheoretische Ansätze gewinnen möchten und die sich im Besonderen für deren Aufschlüsselungsmöglichkeiten mittelalterlicher Literatur interessieren. Der Band führt in einschlägige Theorien und Forschungsfelder ein, diskutiert ihre Relevanz innerhalb der Mediävistik und zeigt anhand exemplarischer Analysen Interpretationsansätze verschiedener mittelalterlicher Werke auf. Dabei geht es den Autorinnen und Autoren des Buchs gerade nicht um eine einfache Applikation von Theorien. Vielmehr dienen diese dazu, spezifische Inhalte, sprachliche Verfahren und Strukturen, Muster, semantische Bedingungen und Möglichkeiten von Texten genauer zu beobachten, die sog. ‚vormoderner Literatur‘ ihr jeweils eigenes Gepräge geben. Speziell für die Analyse und Interpretation mittelalterlicher Literatur gilt es, deren (vielbeschworene) Alterität zu bedenken – dies nicht nur in Bezug auf das Literatur- und Textverständnis, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses von Fiktion und Realität sowie der Funktion und Stellung, die ein Text in einem konkreten historischen Zusammenhang hat.1 Für die mittelalterliche Literatur bedeutet dies: Sie ist keine „feste überhistorische Größe“2, sondern eine mehr oder weniger feste Form, deren Position synchron (innerhalb einer Kultur) wie auch diachron (im Rahmen verschiedener Phasen einer Kultur) ganz unterschiedlich sein kann. Um sie zu verstehen, ist eine Beschäftigung mit den verschiedensten Feldern der mittelalterlichen Kultur, ihren Überzeugungen und Praktiken3 erforderlich, die in dem jeweiligen Text ihren Niederschlag gefunden haben. Jedoch ist es trotz erheblicher Differenzen zwischen mittelalterlicher und moderner Literatur wenig sinnvoll, diese vollständig von einander abzugrenzen. Denn neben den Differenzen lassen sich auch Ähnlichkeiten und Bezüge konstatieren; mittelalterliche Literatur oszilliert zwischen Identität und Differenz zur neuzeitlichen Literatur, und es ist gerade dieses Oszillieren, das die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur so faszinierend machen kann und Anschlusskommunikation provoziert. Daraus resultiert für die mediävistische Literaturwissenschaft 1. die Notwendigkeit in besonderer Weise zu beachten, dass sich bei mittelalterlicher Literatur im Unterschied zu einer Literatur, die der Vorstellung von der Autonomie der Kunst verpflichtet ist, nicht selten poetische und pragmatische Funktionen überlagern, was eine eindeutige Differenzierung zwischen einem im strengen || 1 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Überlegungen“, 6. 2 Ders.: „Vorwort“, V. 3 Vgl. Stephen Greenblatt: „Kultur“, 49.

2 | Vorwort Sinn literarischen und einem pragmatischen Charakter von Texten unmöglich macht. Die Mediävistik hat diesem Sachverhalt Rechnung getragen, indem sie mit einem weiten Literaturbegriff operiert, der auch die sog. Gebrauchsliteratur (Erbauungsschriften, Moraltraktate, rechtstheologische Texte, Schultexte etc.) mit einbezieht.4 Die hier wirksam werdenden Interaktionen und Interferenzen zwischen (mehr) literarischen und (überwiegend) pragmatischen Texten hinsichtlich ihrer Relevanz für die Bedeutungs- und Sinnstiftung in einem Text zu beschreiben und zu erklären, verlangt eine multiperspektivische Betrachtung, der die Literaturwissenschaft mit ihrer kulturwissenschaftlichen Orientierung programmatisch nachgekommen ist.5 2. Eine literaturwissenschaftliche Analyse beobachtet infolge dessen in kulturwissenschaftlicher Perspektive mittelalterliche Literatur daraufhin, was in ihr an zentralen Werten, Praktiken der Bedeutungs- und Sinnstiftung aus ganz unterschiedlichen Bedeutungskontexten der sie umgebenden Kultur verarbeitet wird.6 Genauerhin heißt dies: Eine solche literaturwissenschaftliche Analyse nimmt den Prozess der Bedeutungskonstituierung und -differenzierung in den Blick; ihre Arbeit dient der Beschreibung und Erklärung der vielfältigen, oftmals nicht direkt erkennbaren Vorstellungsstrukturen und Ordnungsmuster, die beispielsweise das Handeln von Figuren in einem literarischen Werk bestimmen;7 sie beobachtet, in welcher Beziehung mittelalterliche Literatur im Einzelnen zu den vielfältigen Bedeutungsstrukturen, den sozio-kulturellen Kodierungen und den Standardisierungen der Kommunikation, des Denkens und Empfindens, Verhaltens und Handelns der für sie maßgeblichen Kultur steht;8 d. h. eine kulturwissenschaftlich orientierte Analyse ist daran interessiert, was thematisiert, bestätigend rezipiert und was – insofern Elemente aus verschiedensten Wirklichkeitsbereichen, etwa: den Künsten, den Wissenschaften, dem Bereich des Rechts etc. – im literarischen Medium durch Neukombination und Transgression entscheidend verändert wird9: dass selbstverständliche Einstellungen und Handlungsmuster fragwürdig werden und damit ein neues Sehen der (in der Regel als unproblematisch empfundenen) bekannten kulturellen Standards || 4 Vgl. etwa Volker Honemann u. a. (Hgg.): Poesie und Gebrauchsliteratur. 5 Vgl. zu den Gründen im Einzelnen die Einführung von Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe in: dies. (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften, 10–14.; Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Germanistik als Kulturwissenschaft, 16–22; Gerhard Neumann/Rainer Warning (Hgg.): Transgressionen, 7f. 6 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Überlegungen“, 6: „[D]ie Literatur einer uns fremd gewordenen Kultur“ ist „nur zu verstehen und in ihrer Besonderheit zu erkennen, wenn wir die vielen alltagsweltlichen Bezüge, Wissensbestände, Habitus, Traditionen usw. kennen, die in sie eingehen, von ihr thematisiert und reflektiert werden“. 7 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, 15, 39. 8 Vgl. Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft, 45. 9 Vgl. Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften, 16; Doris Bachmann-Medick: „Grenzen und Herausforderungen“, 315..

Vorwort | 3

des alltäglichen Lebens und der das Leben und dessen Erfahrung prägenden Vorstellungen10 einsetzen kann. 3. Insbesondere befragt sie den jeweiligen Text daraufhin, wie in ihm nach den Gesetzen einer poetischen Logik (eine in literarischen Texten des Mittelalters wie der Neuzeit jeweils anders realisierte ars combinatoria, spezifische narrative Verfahren, intertextuelle Bezüge etc.) Wirklichkeit konstruiert wird, worin also sein ästhetischer Eigenwert liegt, dessen besondere Qualität es bei der Interpretation zu berücksichtigen gilt. 4. Zugleich ist zu bedenken, dass es ein voraussetzungsloses Interpretieren oder gar ‚natürliches‘ Verstehen eines Textes nicht geben kann: Jede Leserin, jeder Leser bringt das eigene Wissen, eigene kulturelle Prägungen etc. in den Lektüreprozess ein. In der literaturwissenschaftlichen Praxis ist dies ernst zu nehmen, wenn der Untersuchungsgegenstand wissenschaftlich, d. h. kontrollierbar theoriebasiert und systematisch reflektiert, erschlossen wird. Im Blick darauf ist ein wichtiges Ziel des vorliegenden Bandes – der Verflochtenheit eines Textes in verschiedenste Bedeutungskontexte einer Kultur Rechnung tragend –, die Bedeutungspluralität mittelalterlicher Texte aufzuzeigen. Hierfür steht ein umfangreiches literatur- und kulturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium zur Verfügung. Bestimmend für die Auswahl der im vorliegenden Band vorgestellten Theorien und Ansätze war die Absicht, schwerpunktmäßig das aufzunehmen, was in der mediävistischen Literaturwissenschaft besondere Relevanz gewonnen hat – darunter auch solche Konzepte, die (wiewohl sie keine Theorien im eigentlichen Sinne darstellen) einen eigenen systematischen Zugriff (im Rekurs auf bzw. unter Beeinflussung von Literatur- und Kulturtheorien) zur mittelalterlichen Literatur bieten (vgl. bes. Editionswissenschaft und Emotionsforschung). Dem Überblicks- und Einführungscharakter ist die Separierung der vorgestellten Theorien und Ansätze geschuldet, zwischen denen es z. T. zahlreiche Überschneidungen und Abhängigkeiten gibt. Für einen Überblick und eine Einführung in die Materie ist eine Konzentration auf die jeweilige Theorie bzw. den jeweiligen Ansatz aber unabdingbar. Die Auswahl der Beiträge – alphabetisch der besseren Orientierung wegen angeordnet – macht deutlich, dass der Band selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Vielmehr werden mit den vorgestellten Theorien und Ansätzen quasi Probebohrungen an literarischen Texten des Mittelalters durchgeführt; im Durchgang durch die verschiedenen Artikel soll den Leserinnen und Lesern ein Beobachtungsinstrumentarium vermittelt werden, mit dessen Hilfe es gelingen kann, die Bedeutungsvielfalt von Texten zu erschließen.

|| 10 Vgl. Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften, 16.

4 | Vorwort Angesichts der Fülle verschiedener literatur- und kulturtheoretischer Ansätze sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Einführungsbände erschienen.11 Sie konzentrieren sich überwiegend auf den Bereich der neueren Literatur. Da die Interpretation ‚vormoderner‘ Literatur eigene Anforderungen mit sich bringt, finden sich daneben (gleichwohl in geringerer Zahl) Einführungen, die z. T. auch mittelalterliche Literatur berücksichtigen12 oder sich ganz auf diese in den Analysen konzentrieren.13 Der vorliegende Band knüpft hier an, integriert neuere Forschung im jeweils vorgestellten Bereich und setzt darüber hinaus durch die Auswahl der Ansätze und den Aufbau der Beiträge eigene Akzente. Die Beiträge sind so angelegt, dass sie jeweils in einem ersten Teil durch eine breitere (noch nicht eigens auf die Mediävistik zugeschnittene) Perspektive in eine Theorie/einen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz einführen, daraufhin diesen auf eine spezifische Ausrichtung zuspitzen und schließlich die Rezeption und Diskussion innerhalb der Mediävistik aufzeigen. Der jeweils zweite Teil der Beiträge demonstriert exemplarisch anhand eines zentralen mittelalterlichen Textes, welche Relevanz die Theorie/der Ansatz für den Umgang mit diesem hat. Dadurch soll die Leistungsfähigkeit einer Theorie/eines Ansatzes an je einem einzelnen Beispiel konkret erprobt werden. Im Anschluss eines jeden Beitrags steht ein Literaturverzeichnis, das die jeweils genannte einschlägige Literatur versammelt. Schließlich bietet der vorliegende Band am Ende ein Glossar, das ausgesuchte Schlüsselbegriffe der vorgestellten Theorien und Ansätze zusätzlich kurz erläutert. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Termini sind durch Namenskürzel hinter den Einträgen nachgewiesen. Die Erstellung dieses Bandes wäre ohne die beteiligten Autorinnen und Autoren nicht möglich gewesen, die sich mit Begeisterung und großem Engagement auf das Konzept unseres Projekts eingelassen haben. Redaktionell wurden wir von M.A. Joseph Kominkiewicz, Michael Neumaier und Caroline Weißbach zuverlässig unterstützt. Michael Neumaier war zudem verantwortlich für den Satz; er hat den Band kompetent und umsichtig eingerichtet. Ihm gilt hierfür unser ganz besonderer || 11 Vgl. neben den bereits genannten Werken z. B. Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft; Hans Bertens: Literary theory; Jonathan Culler: Literaturtheorie; Terry Eagleton: Einführung in die Literaturwissenschaft; Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie; Oliver Jahraus: Literaturtheorie; Dorothee Kimmich u. a. (Hgg.): Texte zur Literaturtheorie; Tilmann Köppe/Simone Winko (Hgg.): Neuere Literaturtheorien; dies.: „Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft“; Stephan Moebius (Hg.): Kultur; Wolfgang Müller-Funk: Kulturtheorie; Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hgg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse; Oliver Simons: Literaturtheorien zur Einführung; Bernd Stiegler: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften; David E. Wellbery: Positionen der Literaturwissenschaft. 12 Z. B. Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. 13 Vgl. z. B. Dag Nikolaus Hasse: Abaelards „Historia calamitatum“; Thomas A. Schmitz: Moderne Literaturtheorie; Johannes Keller/Lydia Miklautsch: Walther von der Vogelweide.

Vorwort | 5

Dank. Auf Verlagsseite danken wir Prof. Dr. Heiko Hartmann, der das Buchprojekt für die Publikation mit großer Freundlichkeit aufgenommen hat (ursprünglich für den Akademie Verlag); Katja Leuchtenberger, Jacob Klingner und Maria Zucker sind wir für die ausgezeichnete Betreuung während der Durchführung und des Abschlusses des Buchprojekts zu großem Dank verpflichtet. Christiane Ackermann und Michael Egerding im Sommer 2015

Literatur Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Methoden und Theorien, Stuttgart/Weimar 2007 (Handbuch Literaturwissenschaft: Gegenstände – Konzepte – Institutionen Bd. 2). Bachmann-Medick, Doris: „Grenzen und Herausforderungen in den Kultur- und Literaturwissenschaften“, in: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Tübingen/Basel 2004 (UTB 2565: Literatur- und Kulturwissenschaft). Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Tübingen/Basel 2004 (UTB 2565: Literatur- und Kulturwissenschaft). Bein, Thomas: Germanistische Mediävistik. Eine Einführung, 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2005 (Grundlagen der Germanistik 35). Bertens, Hans: Literary theory. The basics, 3. Aufl., London u. a. 2013. Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek b. Hamburg 1996 (re 575). Benthien, Claudia/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek b. Hamburg 2002 (re 55643). Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, aus dem Engl. übers. v. Andreas Mahler, 2. überarb. u. aktual. Aufl., Stuttgart 2013 (RUB 17684). Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie, 5. durchges. Aufl., Stuttgart 2005 (Sammlung Metzler 246) . Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 2007 (stw 696). Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zu den Kulturwissenschaften, 6., erw. Aufl., Darmstadt 2013. Greenblatt, Stephen: „Kultur“, in: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, 2. aktual. Aufl., Tübingen/Basel 2001 (UTB 2265: Literaturwissenschaft), 48– 59. Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, 4. vollst. überarb. Aufl., Tübingen/Basel 2011 (UTB 1846: Kulturwissenschaft). Hasse, Dag Nikolaus (Hg.): Abaelards „Historia calamitatum“. Text – Übersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen, Berlin/New York 2002. Honemann, Volker u. a. (Hgg.): Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, Tübingen 1979. Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen/Basel 2004 (UTB 2587: Literaturwissenschaft). Keller, Johannes/Lydia Miklautsch: Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von „Nemt, frouwe, disen kranz“, Stuttgart 2008 (RUB 17673).

6 | Vorwort Kimmich, Dorothee u. a. (Hgg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, vollst. überarb. u. aktual. Neuausg., Stuttgart 2008 (RUB 18589). Köppe, Tilman/Simone Winko: „Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft“, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Methoden und Theorien, Stuttgart 2007 (Handbuch Literaturwissenschaft: Gegenstände – Konzepte – Institutionen 2), 285–372. Dies. (Hgg.): Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, 2. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2013. Moebius, Stephan (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2012 (Edition Kulturwissenschaft 21). Müller, Jan Dirk: „Der Widerspenstigen Zähmung“, in: ders.: Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/New York 2010, 45–63. Ders.: „Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft“, in: ders.: Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/New York 2010, 1–8. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, 2., erw. u. bearb. Aufl., Tübingen/Basel 2010 (UTB 2828: Kulturwissenschaft). Neumann, Gerhard: Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Interpretieren nach dem Poststrukturalismus, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2014 (Rombach-Wissenschaften. Reihe Litterae 200). Ders./Sigrid Weigel: „Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaft“, in: dies. (Hgg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. Ders./Rainer Warning (Hgg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach-Wissenschaften. Reihe Litterae 98). Nünning, Vera/Ansgar Nünning (Hgg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Stuttgart/Weimar 2010. Schmitz, Thomas A.: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, 2., unveränd. Aufl., Darmstadt 2006. Simons, Oliver: Literaturtheorien zur Einführung, 2., überarb. Aufl., Hamburg 2014 (Zur Einführung 362). Stiegler, Bernd: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Eine Einführung, Paderborn 2015 (UTB 4315: Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft). Wellbery, David E.: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“, 5. Aufl., München 2007.

Joachim Harst

Diskursanalyse 1 Diskursanalyse und Literaturwissenschaft Der dem Wort ‚Diskursanalyse‘ zu Grunde liegende Begriff ‚Diskurs‘ hat im aktuellen Sprachgebrauch eine Reihe verschiedener Bedeutungen. Geht man zunächst davon aus, dass ‚Diskurs‘ als noch unspezifischer „Zusammenhang von Sprache und Denken“1 zu verstehen ist, so lassen sich näherhin zwei gegensätzliche Ausprägungen des Begriffs ausmachen. Auf der einen Seite wird er von Jürgen Habermas als Grundbegriff einer Diskursethik verwendet, der es um die Begründung rationaler, konsensorientierter Kommunikation in der sprachlichen Vermittlung geht;2 auf der anderen Seite wird er von Michel Foucault als Instrument einer Analyse eingesetzt, die gerade die Abhängigkeit jeder rationalen Ordnung von einer vorgängigen diskursiven Formation aufzeigen will: „Das auf Verständigung zielende Subjekt wird nicht als Ausgangsbedingung des Diskurses, sondern als Effekt des Signifikationsprozesses gesehen.“3 Was heute in der Literatur- und Kulturwissenschaft als ‚Diskursanalyse‘ bezeichnet wird, nimmt vorrangig auf die Schriften Foucaults Bezug; daher wird auch der vorliegende Beitrag sich vorzüglich ihnen widmen.4

1.1 Wie liest (sich) Foucault? Die genannte Inversionsfigur – das sprechende Subjekt ist weniger Ursprung als Effekt der Aussage – verbindet das Denken Foucaults mit den Arbeiten weiterer französischer Intellektueller, die gemeinhin unter dem Titel Post- oder Neo-Strukturalismus gruppiert werden;5 zu ihnen zählen u. a. der Psychoanalytiker Jacques Lacan sowie der Philosoph Jacques Derrida.6 Überhaupt nehmen die Werke Foucaults besonders intensiven Bezug auf zeitgenössische wissenschaftliche Entwicklungen,

|| 1 Michael Ruoff: Art. ‚Diskurs‘, 91; für weitere Begriffserläuterungen vgl. Jürgen Fohrmann: Art. ‚Diskurstheorie(n)‘; Rolf Parr: Art. ‚Diskurs‘; Rolf Günter Renner: Art. ‚Diskurstheorie‘; Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur, 233–235. 2 Vgl. Klaus Günther: Art. ‚Diskurs‘, 303–306. 3 Jürgen Fohrmann: Art. ‚Diskurstheorie(n)‘, 373. 4 Allgemein einführend zu Foucault vgl. Gilles Deleuze: Foucault; mit biographischem Schwerpunkt Didier Eribon: Michel Foucault. 5 Vgl. für eine ausführliche Beschreibung dieser Gruppierung Manfred Frank: Was ist NeoStrukturalismus? 6 Zur Theorie Lacans vgl. den Beitrag von Friedrich Wolfzettel i. vorl. Bd., bes. Abschn. 5.

8 | Joachim Harst als deren Vorhut und Analyse sie sich zugleich präsentieren. Dieser Umstand hängt auch mit dem ungewöhnlichen persönlichen Engagement zusammen, mit dem Foucault seine Studien vorantrieb: Schreiben, so betont er immer wieder, bedeutet, das Selbst einem sprachlichen Prozess auszusetzen, der nicht vollständig beherrschbar ist und kaum vorhersehbare Konsequenzen zeitigen kann; daher sind von ihm auch keine systematischen Theorien, sondern vielmehr stets neuerliche Infragestellungen von Systemen zu erwarten. Wenn das (theoretische) Schreiben aber eine derartige Auf- und Hingabe des Selbst einschließt, so ist es zugleich intimer, leidenschaftlicher und lustvoller als die Durchschnittsprosa des akademischen Betriebs; zwar ist der konkrete Standpunkt Foucaults nicht immer leicht zu lokalisieren, doch ist seine Arbeit stets Stellungnahme und Intervention. Das wird in einer emphatischen Apologie seines unsystematischen Vorgehens auf den Punkt gebracht, in der Foucault ausruft: Ja, glauben Sie denn, daß ich mir soviel Mühe machen würde und es mir soviel Spaß machen würde zu schreiben, […] wenn ich nicht […] das Labyrinth bereitete, wo ich umherirre, meine Worte verlagere, […] wo ich mich verliere und schließlich vor Augen auftauche, die ich nie wieder treffen werde? Zweifellos schreiben mehrere, wie ich auch, um ihr Gesicht zu verlieren. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.7

Eine solche Stellungnahme gegenüber seinen Kritikern ist keine leichtfertige Verantwortungslosigkeit – im Gegenteil: Foucault unterzieht in dem zitierten Buch sein Vorgehen selbst einer durchaus kritischen Analyse –, sondern zeugt von der ungewöhnlichen Bedeutung, die der Schreibakt für Foucault gewinnt. Zugleich ergibt sich aus ihr eine Problematik, die zunächst nur als Frage formuliert werden kann: Wie ‚Foucault‘ lesen, wenn man ihn bzw. seine Texte nicht auf seine Identität befragen soll? Einer Antwort auf diese Frage kann man sich über den Umweg von Foucaults Kritik am traditionellen Begriff des Autors nähern.8

|| 7 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, 30, Hervorhebung meine Übers.; frz. Original: L’archéologie du savoir, 28: „Eh quoi, vous imaginez-vous que je prendrais à écrire tant de peine et tant de plaisir […] si je ne préparais […] le labyrinthe où m’aventurer, déplacer mon propos, […] où me perdre et apparaître finalement à des yeux que je n’aurais jamais plus à rencontrer. Plus d’un, comme moi sans doute, écrivent pour n’avoir plus de visage. Ne me demandez pas qui je suis et ne me dites pas de rester le même: c’est une morale d’état-civil; elle régit nos papiers. Qu’elle nous laisse libres quand il s’agit d’écrire“. 8 Vgl. die Kritik des Autorbegriffs bei Michel Foucault: L’archéologie du savoir, 35f. (Archäologie des Wissens, 37f.); ders.: „Qu’est-ce qu’un auteur?“, 789–821 („Was ist ein Autor“, 1003–1042); ders.: L’ordre du discours, 28–31 (Die Ordnung des Diskurses, 20–22); zusammenfassend dazu Elke Reinhardt-Becker: Art. ‚Autor‘, in: Clemens Kammler (Hg.): Foucault-Handbuch, 227–229 sowie Michael Ruoff: Art. ‚Autor‘, 78f.

Diskursanalyse | 9

1.1.1 Der ‚Autor‘ In Foucaults Analyse erscheint der Autor zunächst als sprachliche Institution, die eine bestimmte Rezeptionsweise von Texten festlegt: Der „Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts.“9 Üblicherweise unterstellt ein Leser zweier Bücher desselben Autors, dass diese Texte in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zueinander stehen, der letztlich durch die personale Identität des Autors gewährleistet wird. Ein und dasselbe Subjekt, so die implizite Annahme, wird sich selbst wohl nicht in offenkundige Widersprüche verwickeln; umgekehrt lässt sich das, was der Text wirklich ‚sagen‘ will, wohl am besten mit Bezug auf die Aussageintention des Autors herausarbeiten und gewinnt als Aussage einer ‚bekannten Persönlichkeit‘ mehr Gewicht. Das bedeutet, den Text als Ausdruck eines Subjekts zu verstehen, das dem Akt der Aussage vorausgeht und von ihm weitgehend unabhängig ist; folglich geht es einer solchen Lektüre weniger um den Text als um den in ihm sprechenden Autor, der hier in einer sinn- und kohärenzstiftenden Funktion erscheint: Der „Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.“10 Damit ist auch bereits angedeutet, dass der ‚Autor‘ nicht unbedingt als Person gedacht werden muss; vor dem Hintergrund der skizzierten Lektürepraxis erscheint er zunächst als gedanklicher Knotenpunkt, der die Deutungsmöglichkeiten eines Textes zentriert und zusammenfasst. Ob diesem (nur) vorgestellten Autor eine tatsächliche Person entspricht, ist für seine Funktion dagegen zweitrangig, wie sich etwa an Fällen zweifelhafter Autorzuschreibung oder unbekannter Autorschaft veranschaulichen lässt: Hier enthüllt sich Autorschaft ganz eindeutig als diskursives Konstrukt ohne tatsächliche Entsprechung. In jedem Fall aber muss eine autororientierte Lektüre ‚allegorisch‘ verfahren, insofern sie das Gesagte letztlich nicht im Text, sondern in der (vorgeblichen) Autorintention sucht: „Die Analyse des Denkens ist stets allegorisch im Verhältnis zu dem Diskurs, den sie benutzt. Ihre Frage ist unweigerlich: was wurde in dem, was gesagt worden ist, wirklich gesagt?“11

|| 9 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 20; frz. Original: „l’auteur comme principe de groupement du discours, comme unité et origine de leurs significations, comme foyer de leur cohérence“ (L’ordre du discours, 28). 10 Ders.: Die Ordnung des Diskurses, 21; frz. Original: „L’auteur est ce qui donne à l’inquiétant langage de la fiction, ses unités, se nœuds de cohérence, son insertion dans le réel“ (L’ordre du discours, 30). 11 Ders.: Archäologie des Wissens, 43; frz. Original: „L’analyse de la pensée est toujours allégorique par rapport au discours qu’elle utilise. Sa question est infailliblement: qu’est-ce qui se disait donc dans ce qui était dit?“ (L’archéologie du savoir, 40). Mit dem „Diskurs, den sie benutzt“, ist m. E. der Gegenstand der Analyse gemeint.

10 | Joachim Harst Foucaults Kritik der Autorfunktion als einem diskursiven Effekt lässt sich auf die gängige hermeneutische Lektürepraxis übertragen.12 Sie ersetzt, wo sie einigermaßen kritisch vorgeht, den Versuch einer ‚Einfühlung‘ in die Aussageintention des Autors – der die „Gleichartigkeit und Gleichförmigkeit der Menschennatur unter allen geschichtlichen Bedingungen“13 voraussetzen muss – durch die abstraktere Vorstellung eines Sinnganzen, das dem manifesten Text als kohärente Totalität seiner Bedeutungsmöglichkeiten entspricht. Strukturell bleibt freilich auch diese Ausformung der Hermeneutik (als deren Fortdenker Gadamer und Habermas genannt werden können) einer ‚allegorischen‘ Lektüre verpflichtet, wie sie bereits in der Spätantike vom Kirchenvater Augustinus institutionalisiert wurde: Wie Augustinus den Wortsinn der Bibel in Hinblick auf die geistige, figürliche Bedeutung des Gottesworts zurückstellte, so ordnet auch die Hermeneutik des 20. Jhs. das Wort dem Sinnganzen eines Textes unter. Im Sinne Foucaults: Sie versteht den Text als ‚Dokument‘, dessen Realitäts- und Sinnbezug durch die wiederholende Ausdeutung des hermeneutischen Kommentars ausbuchstabiert werden muss.14 Gegenüber dieser grob skizzierten hermeneutischen Lektürepraxis fordert Foucault ein Lesen ein, das den Text zunächst als ‚Monument‘ auffasst, d. h. nicht zuerst als Anzeichen einer abwesenden Instanz (sei sie der Autor oder der Sinn), sondern als positiv Gegebenes versteht. Daraus folgt eine Enthaltung gegenüber den üblichen Formen der ‚allegorischen‘ Deutung, die sich pointiert als „AntiHermeneutik“15 bezeichnen lässt: Es handelt sich um eine Analyse, „die sich außerhalb jeder Interpretation hält: sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen […] sondern umgekehrt, auf welche Weise sie existieren.“16 Der Grund für diese ‚umgekehrte‘ Lektüre liegt in der oben angesprochenen Inversion des Diskursbegriffs: Foucault fragt beim Lesen nicht nach der dem Text ‚gegebenen‘ Bedeutung, sondern, grundlegender, nach den sprachlich-strukturellen Möglichkeitsbedingungen von Bedeutung und Verstehen. Dabei geht er (im Gegensatz zur Hermeneutik Wilhelm Diltheys) von einer unhintergehbaren Historizität diskursiver

|| 12 Zum Begriff „Hermeneutik“ vgl. Jochen Vogt: Art. ‚Hermeneutik‘, in: Walter Killy (Hg.): LiteraturLexikon, 398–401 sowie ausführlicher das Kap. ‚Hermeneutik‘ in: Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie, 17–50. 13 Wilhelm Dilthey, zit. n. Jochen Vogt: Art. ‚Hermeneutik‘, 399. 14 Für die Gegenüberstellung von „Dokument“ und „Monument“ vgl. Michel Foucault: L’archéologie du savoir, 13f. u. 182 (Archäologie des Wissens, 14f. u. 198f.); zur Kritik am „Kommentar“ vgl. ders.: L’ordre du discours, 23–28 (Die Ordnung des Diskurses, 18–20). 15 Vgl. Christoph Henke: „Diskursanalyse und Literatur“, 243–260; Kap. ‚Diskursanalyse‘, in: Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie, 162–186, hier 166f.; für eine Skizze der Problematisierung der Hermeneutik von Foucault selbst vgl. Michel Foucault: „Nietzsche, Freud, Marx“, 564–579, bes. 568–574 (dt. in: Schriften, Bd. 1, 727–743, bes. 729–737). 16 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, 159; frz. Original: „qui se tient hors de toute interprétation: aux choses dites, elle ne demande pas ce qu’elles cachent […] mais au contraire sur quel mode elles existent“ (L’archéologie du savoir, 143).

Diskursanalyse | 11

Ordnungen und ihrer Effekte aus, deren Erkenntnis ihn zu der pointierten Aussage führt, dass der ‚Mensch‘ eine ‚Erfindung‘ jüngeren Datums sei.17

1.1.2 Der ‚Mensch‘ Mit dem zitierten Aperçu schließt Les mots et les choses (1966) – eine Studie, die mit umfassendem Anspruch die Geschichtlichkeit von kulturellen Wissensordnungen aufzeigt. Sie unterbreitet die These, dass sich Wissen und Wissenschaft nicht nur in Bezug auf die Kenntnis ihres jeweiligen Gegenstands historisch unterscheiden; vielmehr ließen sich drei epochale Wissensordnungen (‚Epistemen‘) herausarbeiten, die derart verschieden konfiguriert seien, dass sie auch ihren Gegenstand unterschiedlich fassen. So wird im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Welt als ein zusammenhängendes und hierarchisch geordnetes Ganzes verstanden, in dem jedes einzelne Element mit allen anderen über das Prinzip der ‚Ähnlichkeit‘ zusammenhängt, das den Dingen von Gott eingeprägt wurde; folglich lässt sich Wissen durch Auslegung von Ähnlichkeiten generieren und bewähren, deren Zusammenhänge sich freilich ins Unendliche verlaufen. Mit der Wende zum 17. Jh. setzt Foucault einen Bruch in der Wissensordnung an, die nun nicht mehr durch einen positiv gegebenen Zusammenhang der Ähnlichkeiten, sondern in einer universellen Repräsentationsstruktur ihre Ordnung findet. Dieser grundsätzliche Umbruch lässt sich nach Foucault an einem Wandel der Zeichenstruktur festmachen: Während die Episteme der Ähnlichkeit in einem dreigliedrigen Zeichen begründet ist, in dem Bezeichnetes und Bezeichnendes durch die (gottgegebene) Ähnlichkeit verbunden werden, ist das Zeichen des ‚Klassizismus‘ zweigliedrig – es besteht allein aus Bezeichnetem und Bezeichnendem, deren Ineinandergreifen von der Systematizität der Zeichenordnung getragen wird.18 Alle jene Momente einer Rationalisierung, die man bspw. der Philosophie des 17. Jhs. von Descartes bis Condillac gemeinhin zurechnet, verdanken sich aus der ‚archäologischen‘ Perspektive Foucaults jenem Wandel des Zeichensystems: Wenn man aber das klassische Denken auf der Ebene dessen befragt, was es archäologisch möglich gemacht hat, bemerkt man, daß die Trennung von Zeichen und Ähnlichkeit seit dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts jene neuen Figuren […] hat erscheinen lassen […]. [Sie] hat auch jene Individualitäten möglich gemacht, die wir Hobbes, Berkeley, Hume oder Condillac nennen.19

|| 17 Vgl. ders.: Les mots et les choses, 398 (Die Ordnung der Dinge, 462). 18 Vgl. ebd., 57 (Die Ordnung der Dinge, 74f.); Teil II dieses Beitrags wird ein anschauliches Bsp. für die beiden ‚Epistemen‘ (Ähnlichkeit und Repräsentation) liefern. 19 Ders.: Die Ordnung der Dinge, 97, Hervorhebung meine Übersetzung; frz. Original: „[S]i on interroge la pensée classique au niveau de ce qui archéologiquement l’a rendu possible, on s’aperçoit

12 | Joachim Harst Das Zitat macht deutlich, dass in Foucaults (bewusst provokant vorgetragener) Perspektive der individuelle Denker tatsächlich als ein Diskurseffekt erscheint; die Philosophie eines Hobbes oder Condillac wäre dementsprechend nicht aus der Person, sondern aus der epochalen ‚Episteme‘ der Repräsentation zu begreifen. Ganz ähnlich begreift Foucault auch den Menschen nicht als ein überzeitliches Wesen, sondern als einen Diskurseffekt, der von einem neuerlichen epistemologischen Bruch zwischen dem 18. und dem 19. Jh. produziert wird: An die Stelle des mechanischen Ineinandergreifens von Bezeichnendem und Bezeichnetem, von Dingen und Denken tritt nun, jede Zeichenordnung begründend, die Figur des ‚Menschen‘ als Grund aller Erkenntnis und höchster Gegenstand der Forschung zugleich, als paradoxes Wesen, „dessen Natur […] es wäre, die Natur und infolgedessen sich selbst als natürliches Wesen zu erkennen.“20 Ausgehend von der Transzendentalphilosophie Kants, auf die Foucault auch die übrigen wissenschaftlichen Neuerungen des 19. Jhs. bezieht, erscheint das menschliche Subjekt – genauer: seine Endlichkeit – als Garant objektiver Erkenntnis; die ‚positiven‘ Gegenstände von Ökonomie, Biologie und Linguistik (Arbeit, Leben, Sprache) verdanken sich letztlich dieser als konstitutiv verstandenen Endlichkeit.21 In diesem Sinne wäre der ‚Mensch‘ eine Diskursfigur, die das von den sciences humaines generierte Wissen über ihn zugleich generiert und garantiert.

1.1.3 Brüche Foucault liest also die Texte, die das Material von Les mots et les choses bilden, weder in Hinblick auf ihre je einzelne Bedeutung noch mit (biographischem) Bezug auf die jeweiligen Autoren, sondern befragt sie nach ihren ‚archäologischen‘ Ermöglichungsbedingungen. Das schließt eine Lektürepraxis ein, die sich nicht auf einzelne Texte konzentriert, sondern ihre Ergebnisse aus einer möglichst breiten Materialsammlung schöpft – die Geschichte des Wissens soll ja gerade nicht mit Akzent auf die ‚persönliche‘ Größe eines Wissenschaftlers, sondern als diskursive Bestandsaufnahme geschrieben werden. Trotzdem orientiert sich Foucault in Les mots et les choses derart stark an den anerkannt einflussreichen Denkern, dass die Frage naheliegt, inwiefern sich die Diskursanalyse überhaupt von der traditionellen Geistesoder Ideengeschichte rigoros unterscheiden lässt. In L’archéologie du savoir – jenem Buch, das man als eine kritische Relektüre von Foucaults Studie verstehen kann – || que la dissociation du signe et de la ressemblance au début du XVIIe siècle a fait apparaître ces figures nouvelles […] Et c’est lui qui a rendu possibles ces individualités que nous appelons Hobbes, ou Berkeley, ou Hume, ou Condillac“ (Les mots et les choses, 77). 20 Ders.: Die Ordnung der Dinge, 375; frz. Original: „[D]ont la nature […] serait de connaître la nature, et soi-même par conséquent comme être naturel“ (Les mots et les choses, 321). 21 Vgl. ders.: Les mots et les choses, 323–329 (Die Ordnung der Dinge, 373–384).

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räumt der Autor selbst zunächst diese scheinbare Nähe ein, um dann jedoch einen umso deutlicheren Gegensatz zu postulieren.22 Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen Ideengeschichte und ‚Archäologie‘ sei, dass erstere von der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung (und das bedeutet auch: einer überzeitlichen Identität) des Menschen ausgehe, während das Geschichtsbild Foucaults durch kontingente, d. h. nicht weiter begründbare Brüche (ruptures) gezeichnet ist – wie es ja auch seiner Annahme entspricht, dass der ‚Mensch‘ eine durchaus historische Figur ist. Diese (epistemologischen) Brüche in der Geschichte der Moderne aufzuzeigen, ist das Anliegen von Les mots et les choses; in L’archéologie du savoir räumt Foucault allerdings ein, dass sie, chirurgischen Schnitten vergleichbar, zugleich vom Historiker selbst gelegt werden müssen, um das Material der Analyse aufzubereiten. Ja, der Bruch sei sogar Voraussetzung jeder historiographischen Arbeit: „Von wo aus konnte er in der Tat sprechen, wenn nicht ausgehend von jenem Bruch, der ihm die Geschichte – und seine eigene Geschichte – als Gegenstand anbietet?“23 Die Annahme eines Bruchs zwischen sich und dem Geschehen macht es dem Subjekt überhaupt erst möglich, über Geschichte zu sprechen. Eine derartige Methode ‚subjektiver‘ Schnitte muss natürlich mit akademischen Standards – wie dem einer vorgeblichen wissenschaftlichen ‚Objektivität‘ – in Konflikt geraten. Nun ziehen Foucaults Studien aber nichts deutlicher in Zweifel als den objektiven Charakter derartiger Wissenschaftlichkeit, wenn sie sich auch andererseits durch eine besondere Rigorosität und Selbstdisziplin auszeichnen. Daher ist es auch konsequent, dass er in Abgrenzung von der Ideengeschichte für seine Arbeit keine herkömmliche Objektivität in Anspruch nimmt: Sie gibt nicht vor, in der zweideutigen Bescheidenheit einer Lektüre zu verlöschen, die das ferne, flackernde, fast verloschene Scheinen des Ursprungs in seiner Reinheit zurückkehren ließe. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wieder-Schreiben: das heißt eine (in der beibehaltenen Form der Äußerlichkeit) regelgeleitete Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist.24

Eben dieses methodische Recht von rupture und réécriture nimmt Foucault auch für seine eigenen Texte in Anspruch: Sie schreiben das Projekt Foucaults weiter, knüpfen aber keine streng kontinuierlichen Entwicklungsstränge; sie ordnen sich nicht

|| 22 Vgl. bes. ders.: L’archéologie du savoir, 177–183 (Archäologie des Wissens, 193–200). 23 Ders.: Archäologie des Wissens, 18; frz. Original: „[D]’où pourrait-il parler, en effet, sinon à partir de cette rupture qui lui offre comme objet l’histoire – et sa propre histoire?“ (L’archéologie du savoir, 17). 24 Meine Übers. von: Michel Foucault: L’archéologie du savoir, 183: „[E]lle ne prétend pas s’effacer elle-même dans la modestie ambiguë d’une lecture qui laisserait revenir, en sa pureté, la lumière lointaine, précaire, presque effacée de l’origine. Elle n’est rien de plus et rien d’autre qu’une réécriture : c’est-à-dire dans la forme maintenue de l’extériorité, une transformation réglée de ce qui a été déjà écrit“ (vgl. die abweichende Übers. in Archäologie des Wissens, 199f.).

14 | Joachim Harst der Identität ‚Foucault‘ unter, sondern sind im Gegenteil Hilfsmittel, der diskursiv geforderten Autorenfunktion zu entgehen. Gerade diejenigen Schriften, die die Diskursanalyse zur wissenschaftlichen Methode erklären,25 stehen in betontem Gegensatz zu Foucaults praktischen Arbeiten. Diese Feststellung sollte auch als Hinweis dienen, dass man ‚Foucault‘ möglicherweise lesen, aber nur schwer im Sinne einer wissenschaftlichen Methode namens ‚Diskursanalyse‘ vereinheitlichen kann.26 Eine Lektüre, die sich auf Foucault berufen will, müsste sich zuerst durch ihr eigenes Lesen und Wieder-Schreiben rechtfertigen.

1.2 Mit Foucault lesen Da Foucault, wie oben geschildert, eine Position herausarbeitet, die quer zu herkömmlichen Formen von Lesen, Deuten und Kommentieren steht, sind seine Schriften in der gängigen Literaturwissenschaft häufig als Provokation wahrgenommen worden. Stellt man sich die Frage, inwiefern eine Diskursanalyse für die Literaturund Kulturwissenschaft relevant werden kann, ist es sinnvoll, bei eben diesen Konfliktpunkten anzusetzen: Sie können dazu beitragen, die Strategien Foucaults genauer zu umreißen und mit den Gegenständen der Literatur- und Kulturwissenschaft zu verbinden. Eine grundsätzliche Problematik, die von der Diskursanalyse aufgeworfen wird, betrifft den Begriff der ‚Literatur‘ selbst. Während die traditionelle Neuphilologie in der Regel von einem emphatischen Literaturbegriff ausgeht, der künstlerischen Texten ein erhöhtes Bedeutungspotential und einen besonderen ästhetischen Rang zurechnet, müsste man Literatur aus der Perspektive Foucaults zunächst als diskursiv hervorgebrachte Institution auffassen: Der dem Begriff implizite Qualitätsanspruch etwa wäre nicht zuerst dem je einzelnen Text, sondern den über ihn sprechenden Autoritäten und Institutionen zuzurechnen. Das bedeutet in der Konsequenz, den wissenschaftlichen Gegenstand ‚Literatur‘ nicht als gegeben anzunehmen, sondern nach den Regeln zu fragen, die ihn konstituieren. Eine solche Fragestellung begibt sich freilich bereits an den Rand der Literaturwissenschaft, da sie ja nach den Bedingungen fragt, unter denen ‚Literatur‘ überhaupt als Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit entstehen kann.27 Ähnliches gilt für die bereits angesprochene Kritik an dem für die Literaturwissenschaft zentralen Begriff des ‚Autors‘ und die daran anschließende Auflösung des Werk- und Textbegriffs: Aus diskursanalytischer Perspektive lässt sich die (hermeneutische) Auffassung des Textes als einer in || 25 Dazu zählt neben L’archéologie du savoir (Archäologie des Wissens) die Antrittsrede am Collège de France L’ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses). 26 Für eine genauere Einführung in das Problem des Selbstverhältnisses Foucaults vgl. Ralf Konersmann: „Der Philosoph mit der Maske“. 27 Vgl. dazu Alexander Löck: Der Begriff der Literatur.

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sich geschlossenen Ganzheit nicht rechtfertigen; folglich führen diskursanalytische Lektüren grundsätzlich über die Grenzen von Text, Werk und Literatur hinaus, können und wollen also keine textimmanenten Lektüren erarbeiten, die sich auf eine Auslegung der Bedeutung eines Textes konzentrieren.

1.2.1 Medialität Von einer solchen Position geht bspw. die von Friedrich Kittler und Horst Turk verfolgte Diskursanalyse aus, indem sie „Werk, Autorschaft und Wahrheit und d. h. die scheinbar so unumgänglichen Wörter, die uns von Literaturen zu reden erlauben“28, auf ihre diskursiven Entstehungsbedingungen befragt. Sie lässt sich in medientheoretischer Richtung weiterverfolgen, wenn etwa Kittler mit dem Begriff ‚Aufschreibesystem‘ jene technologischen und medialen Bedingungen fokussiert, die an der Quelle der (literarischen) Sprache stehen: So mache es einen entscheidenden Unterschied, ob Sprache unmittelbar dem mütterlichen Mund abgelernt und handschriftlich fixiert wird (‚Aufschreibesystem 1800‘), oder ob sie sich auf der Schreibmaschinentastatur als aus „räumlich bezeichnete[n] und diskrete[n] Zeichen“29 bestehend präsentiert (‚Aufschreibesystem 1900‘): „Im Spiel zwischen Zeichen und Intervallen hört Schreiben auf, jener handschriftlich-kontinuierliche Übergang von Natur zu Kultur zu sein,“30 aus dem sich nach Kittler Dichtung um 1800 schöpft: „Schreiben unter Bedingungen der Schreibmaschine und ihres ruckweisen Papiertransports wird Selektion aus einem Vorrat, der abzählbar und verräumlicht ist.“31 Kittler verbindet hier die Einsichten Foucaults bezüglich der Historizität von Zeichenmodellen und Autorkonzepten mit einer medienhistorischen Analyse: Wie Zeichen verstanden werden, hängt auch davon ab, wie sie eingeübt und hervorgebracht werden. Es wäre demnach nicht das dichterische Subjekt, sondern das ‚Aufschreibesystem‘, das für die historische Charakteristik literarischer Texte verantwortlich zeichnet.

|| 28 Horst Turk/Friedrich A. Kittler (Hgg.): „Einleitung“, 35. Allerdings verstehen auch Turk/Kittler ‚Diskursanalyse‘ nicht als eine wissenschaftliche Disziplin, sondern als ein „neues Konzept der Humanwissenschaften“, das mit „Philosophie, Literaturwissenschaft, Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse“ zu kombinieren ist (ebd., 7). 29 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, 243. 30 Ebd., 244. 31 Ebd. Vgl. dazu einführend „Diskursanalyse“, in: Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie, 167–169, sowie kritisch Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie, 137–140.

16 | Joachim Harst 1.2.2 Mediävistische Perspektiven I: Subjektivität Kittlers sich oft revolutionär gerierende Reduktion des Autor- und Literaturbegriffes auf mediale Konstellationen kann freilich aus mediävistischer Sicht wenig provozieren: Hier ist schon lange bekannt, dass ‚Literatur‘ ein historischer Begriff ist, der im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit keine Entsprechung hat, wie auch die moderne Vorstellung des Autors als kreativem Urheber sich nicht auf vormoderne Texte beziehen lässt:32 Die Chansons de geste bspw. präsentieren sich nicht als autonome Kunstwerke, sondern als (z. T. künstlerisch bearbeitete) Überlieferungen, die zunächst vor allem ihre Treue zu den ‚Quellen‘ betonen.33 Hier schließt also ein diskursives Regelwerk künstlerische Subjektivität zunächst aus. Um so aufschlussreicher kann dieses Material für eine diskursanalytische Untersuchung der Entstehung literarischer Subjektivität sein: Oft steht die Bezugnahme auf überlieferte Quellen im Vordergrund, die Kreativität und Fiktionalität zu unterdrücken scheint. Diese entwickelt sich zu einer Strategie, die Eigenständigkeit und Originalität der eigenen Dichtung in der ironischen Auseinandersetzung mit der autoritativen Instanz zu betonen. Und auch umgekehrt erscheint Subjektivität selbst in den wenigen autobiographisch lesbaren literarischen Texten des Mittelalters nicht in der schlichten Position einer Ich-Instanz, sondern in den Strategien einer (gebrochenen) Erfüllung rhetorischer Konventionen.34 Das wird bspw. an den Schlussversen des Frauendienstes Ulrichs von Liechtensteins augenfällig, die betonen, dass die behauptete autobiographische Dichtung und die in ihr enthaltenen Minnelieder auf Befehl der Minneherrin entstanden sind: So bringt am Ende die Dichtung vom Frauendienst noch einmal auf den Punkt, was den Text insgesamt charakterisiert: ein sich in den Vordergrund drängendes Ich, das sich selbst – etwa in (vorgeblich) biographischen Momenten – simultan kreiert und (scheinbar) aufhebt, letzteres, da es die Bahnen vorgegebener literarischer Muster nachzieht und derart eine Fremdbestimmung aufzeigt.35

|| 32 Vgl. dazu allgemein Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur, 70–99 und Elizabeth Andersen (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. 33 Für einen historischen Überblick zum Verhältnis zwischen historischer Quellentreue und selbstbewusster Fiktionalität vgl. Walter Haug: Literaturtheorie; in Abschn. II gebe ich mit der Chanson de Roland ein Bsp. 34 Vgl. dazu Frank Bezner: „Michel Foucault“. Bezner zeigt, wie in Abaelards Bekenntnisschrift Subjektivität erst in der (gebrochenen) Erfüllung rhetorischer Konventionen aufscheint. Zugleich ist sein Text als eine weitere Einführung in das Denken Foucaults lesbar. 35 Christiane Ackermann: Im Spannungsfeld von Ich und Körper, 3. Zur Problematik von Subjektivität vgl. auch den Sammelband von Martin Baisch et al. (Hgg.): Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters.

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1.2.3 Mediävistische Perspektiven II: Geschlechtlichkeit, Erotik, Begehren Während die hier genannten Ansätze die grundlegende Inversionsfigur Foucaults nachvollziehen – Subjektivität ist nicht Voraussetzung von Sprache, sondern wird im Diskurs erzeugt –, mit ihrer Fokussierung auf (literarische) Texte aber einen literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt setzen, lassen sich Foucaults Untersuchungen auch in kulturwissenschaftlicher Hinsicht nutzen, um die grundsätzliche Historizität scheinbar überzeitlichen Wissens aufzuzeigen. In diesem Sinn hat bspw. Gert Hübner Foucaults späte Forschungen zu einer Histoire de la sexualité zum Anlass genommen, die „Konstruktion des Themas ‚Geschlechtsverkehr‘ in verschiedenen Diskursen des 12. und 13. Jahrhunderts“36 zu skizzieren. Bezeichnend ist dabei bereits die Wortwahl: Hübner spricht von ‚Geschlechtsverkehr‘, da „keiner der hochmittelalterlichen Diskurse über unseren abstrakten und umfassenden Begriff von Sexualität verfügte“37. Das bedeutet, dass Sexualität und Geschlechtlichkeit – Begriffe, die das überzeitliche Wesen des Menschen mit zu bestimmen scheinen – ebenfalls als historische, diskursiv hervorgebrachte Konzepte verstanden werden müssen.38 Ferner lässt sich zeigen, dass Theologie, Medizin, höfische Kultur und Gewohnheitsrecht ‚Geschlechtsverkehr‘ jeweils unterschiedlich fassen: Während die Theologie etwa den lustvollen Akt zum Bild des Sündenfalls erklärt, kann ihn die Minnelyrik in metaphorischer Umschreibung zum Eingang ins Paradies gestalten – und so religiöse Sprache zum Ausdruck einer Bewertung von Lust verwenden, die dem theologischen Diskurs offen widerspricht.39 So wird eine Art diskursiver Reibung erzeugt, die ihrerseits erotisch wirken kann. Die Erkenntnis, dass Geschlechtsverkehr kein rein körperlicher Akt ist, sondern einer intensiven diskursiven Überschreibung unterliegt, lenkt den Blick auf Konstruktion und Verständnis von Geschlechtlichkeit in mittelalterlichen Texten. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lässt sich bspw. am Minnesang aufzeigen, mit welchen Charakteristika ‚weibliche Rede‘ im Lied versehen wird und in welchem Verhältnis diese Vorstellung von Weiblichkeit zu weiteren Diskursen der Zeit steht.40 Zugleich hat diese Frage literaturwissenschaftliche Relevanz: Für die Interpretation von Figurenrede im Minnelied, für die Herstellung basaler inhaltlicher Zusammen|| 36 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur, 241. 37 Ebd. 38 An dieser Stelle zeigt sich die Anschlussfähigkeit der Diskursanalyse Foucaults an die sog. Gender-Studies, die die diskursive Konstruktion von Geschlechtlichkeit untersuchen (vgl. den Beitrag von Andrea Sieber i. vorl. Bd.). 39 Vgl. Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur, 255. Dieser Aspekt der Literatur, Konzepte und Bilder aus anderen Diskursen zu übernehmen und im Sinne einer eigenen Strategie zu verwenden, wird bes. von der ‚Interdiskurstheorie‘ verfolgt (vgl. dazu Jürgen Link/Ursula Link-Heer: „Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse“). 40 Vgl. dazu Katharina Boll: Alsô redete ein vrowe schoene. Diese Studie untersucht ähnlich wie Hübner Theologie, Medizin, Recht sowie den höfischen Liebesdiskurs (ebd., 46–87).

18 | Joachim Harst hänge und selbst für die Textkonstitution kann es entscheidend sein, welche Geschlechtlichkeit einer nicht eindeutig markierten Figurenrede zugewiesen wird. Eine solche Zuweisung aber darf sich nicht auf unausgesprochen vorausgesetzte Vorstellungen von ‚Weiblichkeit‘ stützen, sondern muss historisch-spezifische Kriterien ansetzen: So wie „vorgefasste Vorstellungen über einen Autor“41 keinen Eingriff in die Überlieferung rechtfertigen sollten, um scheinbar unstimmige Inhalte zu streichen, darf auch ein unreflektiertes Geschlechterbild und „die Orientierung an dem Manneslied und dem Frauenlied“ nicht zum „Ausschluß ganzer Töne“ führen.42 Auch in dieser Hinsicht zeigt sich Geschlechtlichkeit also als ein Phänomen, das auf der einen Seite sprachlich konstruiert wird und auf der anderen die Deutung und Konstitution von Texten beeinflusst. Diese Beobachtung kann ihrerseits auch die Interpretation von Einzeltexten anregen: Nicht nur Geschlechtlichkeit, sondern auch Erotik, Begehren und Erfüllung können im Rahmen des Minnelieds als durchaus kunstvolle sprachliche Effekte aufgezeigt werden, die sich – ähnlich wie das Aufscheinen von Subjektivität – gerade aus der reibungsvollen Auseinandersetzung mit Gattungskonventionen ergeben. So entsteht z. B. in Walthers von der Vogelweide Minnelied Nemt, vrowe, disen kranz, das die Interaktion zwischen Mann und Frau beim Tanz beschreibt, die ‚Fiktion der Erotik‘, wie Largier schreibt, gerade im Zusammenspiel des „diskursive[n] Modell[s] des Minnesangs, das die Erfüllung verbietet“43, mit der sich (mehr oder weniger) verhüllt äußernden Sehnsucht nach Befriedigung: „Der Traum [der Erfüllung] entzieht sich nicht der Kontrolle des Diskurses, sondern er bestätigt seine Tragweite und macht die Tatsache sichtbar, dass höfische Liebestopik die Bedingung der Möglichkeit erotischen Begehrens ist.“44 Die diskursive Einschränkung zeigt sich also zugleich als produktiv für den Entwurf eines erträumten ‚Paradieses‘ – sie produziert jenes Begehren, das gerne als eine anthropologische Essenz missverstanden wird.

1.2.4 Das Sein der Sprache Ein solcher Akzent auf Erotik und Begehren im Gegeneinander der Diskurse kann zu der Ausgangsproblematik zurückführen, inwiefern Diskursanalyse einen spezifischen Literaturbegriff – d. h. ein Konzept, das über die Beschreibung von Literatur als einer diskursiven Institution hinausgeht – ausprägen kann. Denn dort, wo Fou|| 41 Ebd., 138. 42 Ebd. Vgl. auch ebd., 13–20 u. 138–143. Dieses editionsphilologische Problem ist ein weiteres Bsp. für die Bedeutung der Autorfunktion in der Literaturwissenschaft (vgl. den Beitrag von Thomas Bein i. vorl. Bd.). 43 Niklaus Largier: „Die Fiktion der Erotik (Diskursanalyse/New Historicism)“, 170. 44 Ebd., 173.

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cault von Literatur in einem emphatischen Sinne spricht, versteht er sie als eine Art contre-discours, der sich also vor allem durch seine Gegenläufigkeit zu anderen Diskursen definiert: Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in unsere Zeit – von Hölderlin zu Mallarmé, zu Antonin Artaud – hat die Literatur nun aber nur in ihrer Autonomie existiert, […] indem sie eine Art ‚Gegendiskurs‘ bildete und indem sie von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war.45

Literatur würde sich damit als derjenige Gebrauch von Sprache beschreiben lassen, der sich von dem diskursiven Zwang zu Repräsentation und Bedeutung befreit, um ein ‚Sein‘ der Sprache freizulegen, das Foucault an anderer Stelle mit den psychoanalytischen Begriffen Tod, Begehren und Gesetz umschreibt.46 Während diese Kopplung von (moderner) Literatur und Psychoanalyse zu den Gemeinplätzen poststrukturalistischen Denkens gehört,47 zeichnet sich Foucaults Ansatz erneut durch sein historisches Bewusstsein aus: Was heute als ‚moderne Literatur‘ mit revolutionär-befreiendem Potential angesprochen wird, erscheint in seiner Analyse als modifizierte Wiederkehr eines vormodernen Sprachgebrauchs, der sich durch seine nicht-repräsentativen Strukturen (Dinge und Worte sind einander ähnlich) sowie seine vor-rationalen Ordnungen auszeichnet. Freilich lässt sich von diesem so emphatischen wie allgemeinen Literaturbegriff kaum eine präzise Einzeltextanalyse ableiten.48 Doch lag dies offensichtlich auch nicht im Interesse Foucaults. Er wusste, dass die Schlagkraft einer Analyse sich weder einem abstrakten methodischen Überbau, noch der unangefochtenen Autorität ihres Urhebers, sondern der Hingabe an den Text verdankt: Foucault, der im Schreiben sein Gesicht verlieren will, hat dabei eine Ausdrucksform gefunden, die sich durch geradezu literarische Brillanz und Nachdrücklichkeit auszeichnet. Auch

|| 45 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 76; frz. Original: „Or, tout au long du XIXe siècle et jusqu’à nous encore – de Hölderlin à Mallarmé, à Antonin Artaud –, la littérature n’a existé dans son autonomie […] qu’en formant une sorte de ‚contre-discours’, et en remontant ainsi de la fonction représentative ou signifiante du langage à cet être brut oublié depuis le XVIe siècle“ (Les mots et les choses, 59); vgl. auch Les mot et les choses, 317 (Die Ordnung der Dinge, 371f.); kritisch dazu Christoph Henke: „Diskursanalyse und Literaturwissenschaft“, 255f. 46 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses, 386 (Die Ordnung der Dinge, 448f.). Die Psychoanalyse, der es in Foucaults Verständnis ebenfalls darum geht, den präsignifikanten Grund von Sprache zu denken, wird dementsprechend als eine contre-science bezeichnet, die dazu beitrage, das Konstrukt des ‚Menschen‘ aufzulösen (Les mots et les choses, 391; Die Ordnung der Dinge, 453). 47 Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist bes. Roland Barthes’ aphoristische Sammlung Le plaisir du texte (Die Lust am Text). 48 Versuche in diese Richtung unternimmt die sog. ‚Literaturontologie‘; vgl. dazu das Kap. „Diskursanalyse“, in: Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie, 171–175.

20 | Joachim Harst bezüglich der Frage der ‚Anwendbarkeit‘ der Diskursanalyse auf literaturwissenschaftliche Gegenstände gilt also: Wenn man nicht auf universalistische oder substantialistische Konzepte ausweichen will, gehört es zu den Konsequenzen, […] Literatur aus der Perspektive der Gegenwart und im Rahmen heutiger diskursiver Bedingungen jeweils neu zu ‚schreiben‘.49

Und möglichst zuvor: zu lesen.

2 Beispielanalyse Die oben stehende Beschreibung verschiedener diskursanalytischer Ansätze in der mediävistischen Literatur- und Kulturwissenschaft soll nun durch ein ausführlicheres konkretes Beispiel – die altfranzösische Chanson de Roland und ihre mittelhochdeutsche Bearbeitung durch Konrad den Pfaffen – ergänzt werden. Es handelt sich dabei um Texte, die im Laufe des 12. Jhs. schriftlich gefasst wurden, aber aus einer längeren mündlichen Tradition hervorgehen; sie nehmen auf einen Feldzug Karls des Großen gegen die Mauren in Spanien Bezug, der in der historischen Realität wenig glorreich endete: Das Heer Karls des Großen, das sich nach anfänglichen Erfolgen aus Spanien zurückziehen muss, erleidet auf dem Rückzug durch die Pyrenäen eine Niederlage, da seine Nachhut bei Roncesvalles in einen (vermutlich baskischen) Hinterhalt gerät. Führer der Nachhut war möglicherweise Hruotland (Roland), der als Markgraf der bretonischen Mark bezeugt ist. Die historische Niederlage wird in der Heldendichtung des Mittelalters zum Gegenstand genommen, aber grundlegend modifiziert: In den überlieferten Fassungen wird der Krieg zwischen Franken und Mauren als Kampf zwischen Christen und Heiden dargestellt, in dem sich der ewige Gegensatz zwischen Gut und Böse austrägt; zwar stirbt Roland (und mit ihm die gesamte fränkische Nachhut) in der Schlacht, doch erscheint sein Opfer als Voraussetzung für die blutige Rache Karls, der Spanien nun – in deutlichem Kontrast zu den historischen Ereignissen – restlos unterwirft. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass beide Dichtungen offenkundig darauf beharren, die historische Wahrheit zu berichten. Will man die Beteuerung der Wahrhaftigkeit nicht als literarischen Topos verstehen, dem keine weitere Bedeutung zuzumessen sei, so liegt die Frage nahe, welcher Begriff von Wahrheit diesen Dichtungen zugrunde liegt: Wie muss man ‚Wahrheit‘ verstehen, wenn die offenkundige Verfälschung historischer ‚Fakten‘ wahrer sein kann als deren treue Überlieferung?

|| 49 Klaus-Michael Bogdal: „Diskursanalyse, literaturwissenschaftlich“, 153–174, hier 166, meine Hervorhebung.

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2.1 Episteme der Ähnlichkeit Eine solche Frage betrifft unmittelbar die diskursanalytische Forschung Foucaults, der sich in Les mots et les choses mit den historischen Grundstrukturen des Wissens auseinandersetzt: Nicht nur, was man weiß (und folglich für wahr hält), unterliegt geschichtlicher Veränderung, sondern auch wie gewusst wird, d. h., welche Formen von Beweis und Bewährung als akzeptabel erscheinen. Eine Konsequenz dieses Gedankens – der vor Foucault bereits von der sog. ‚Ideengeschichte‘ formuliert, aber nicht derart radikal gedacht wurde – ist, dass sich die Geschichte der Wissenschaften nicht als Fortschrittsgeschichte schreiben lässt: Wenn sich auch das Fundament des Wissens von Epoche zu Epoche wandeln kann, so hat die Moderne dem Mittelalter möglicherweise kein Wissen voraus – schon deshalb, weil sie sich aufgrund der grundsätzlich verschiedenen ‚Epistemen‘ mit ihm nicht vergleichen kann. Die Frage nach der ‚Wahrheit‘ des Rolandsliedes würde also zuerst jene Wissensstruktur betreffen, die Foucault als ‚Episteme der Ähnlichkeit‘ beschrieben und dem Mittelalter zugewiesen hat. Ein Wahrheitsbegriff, der heute zumindest in der Umgangssprache Geltung hat, geht von einer Korrespondenz zwischen Worten und Gegenständen aus: Eine Aussage ist dann wahr, wenn sie den betreffenden Sachverhalt korrekt beschreibt. Ein solcher Wahrheitsbegriff setzt voraus, dass Worte und Dinge zwei grundsätzlich verschiedenen Registern zugehören, sich aber dennoch – und zwar auf eindeutige Weise – aufeinander beziehen lassen. Ganz anders die von Foucault beschriebene ‚Episteme der Ähnlichkeit‘:50 Sie setzt keinen fundamentalen Unterschied zwischen Worten und Dingen voraus, sondern legt umgekehrt die Dinge auf eine Weise aus, als ob sie Worte seien. Konkret heißt das, dass jedes Ding nicht einfach existiert, sondern bedeutet; es will ‚gelesen‘ werden, indem es in seine Eigenschaften zerlegt und diese in Relation zu verwandten Attributen anderer Dinge gesetzt werden. So kommt es, dass ein und dasselbe Ding verschiedene Bedeutungen tragen kann, je nachdem, welche Eigenschaft fokussiert wird: Der Löwe kann Christus bedeuten, weil er nach seiner Natur mit offenen Augen schläft: wie Christus, als Mensch gestorben, als Gott doch lebte. Er kann nach seiner Natur den Teufel bedeuten seiner Blutgier wegen, denn er geht brüllend umher und sucht, wen er verschlinge (Petr. 5,8). Er bedeutet den Gerechten, der getrost ist‚ ‚wie ein junger Löwe‘ (Prov 28,1). Er bedeutet den Häretiker wegen des Geruchs seiner Zähne, der aus seinem Munde geht wie dem Häretiker das Wort der Blasphemie.51

Welche Eigenschaft im Einzelfall den Ausschlag gibt, hängt dabei vom Kontext der Auslegung ab; keine jedoch kann alleinige Gültigkeit beanspruchen, insofern die || 50 Vgl. zu dem Folgenden Michel Foucault: Les mots et les choses, 32–59 (Die Ordnung der Dinge, 46–77). 51 Friedrich Ohly: „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, 1–23, hier 7.

22 | Joachim Harst Wahrheit jeder Deutung sich erst in der umfassenden Auslegung bewähren kann: Das Detail ist ungültig, wenn es sich nicht in einen globalen Deutungszusammenhang einordnen lässt. Daraus ergibt sich, dass die Welt als eine Art Buch erscheinen muss, dessen Seiten mit Dingen beschrieben sind; die naheliegende Frage nach dem Autor dieses Buchs verweist auf Gott als den Schöpfer der Welt. So lassen sich das ‚Buch der Natur‘52 und die ‚Heilige Schrift‘ als zwei Äußerungsformen Gottes begreifen, die einander gegenseitig auslegen: Was die Dinge im ‚Buch der Natur‘ bedeuten, wird – wie das obige Zitat zeigt – mit Versen aus der Bibel belegt; die Worte der Bibel erhalten aber erst ihren vollen Sinn, wenn man sie auf die Naturdinge (und deren kontextabhängige Bedeutung) bezieht. So wird augenfällig, dass die ‚Episteme der Ähnlichkeit‘ aus der hermeneutischen Praxis der Bibelauslegung hervorgegangen ist, von der auch die übrigen, im Mittelalter gültigen Wissenschaften (Artes liberales) ihren Ursprung nehmen, wenn man sie als Auslegungen von vox (Wort) bzw. res (Ding) versteht.53 Jedes Ding und jedes Wort erscheint als Element in einem weltumspannenden Text, der unermüdlich – ja: unendlich – Sinn produziert und darin seine Abkunft von einem Schöpfer unter Beweis stellt, der die Welt als sinnvolles Ganzes eingerichtet hat; sie muss vom Menschen studiert werden, wenn er den offenbaren Gott finden will. Als eine besondere Ausformung dieser analogischen Wissensstruktur kann man die figurale Bewährung ansehen, die besonders stark vom frühen Christentum zum Zweck der Selbstlegitimation eingesetzt wurde.54 Sie setzt zunächst Schilderungen aus dem Alten Testament zu Ereignissen aus dem Neuen Testament in Beziehung, um die letzteren als ‚Erfüllung‘ der ersteren darzustellen. So wird bspw. in 2 Mos 12 erzählt, wie der alttestamentarische Gott sein Volk im ägyptischen Exil durch Mose auffordert, ein Lamm zu schlachten, ein Büschel Ysop in dessen Blut zu tauchen und die Türschwellen mit ihm zu bestreichen (2 Mos 12,21f.): Denn in der folgenden Nacht wird Gott in Vollendung der Zehn Plagen durch die Stadt gehen und in jedem Haus, das nicht mit Blut gezeichnet ist, den erstgeborenen Sohn töten (2 Mos 12,23); aus Entsetzen vor dieser Plage aber halten die Ägypter das auserwählte Volk nicht länger in der Gefangenschaft fest (2 Mos 12,29–33). Auf diese Begebenheit, die zum Ursprung des jüdischen Passahfestes wurde, wird im Neuen Testament in mehrfacher Hinsicht angespielt: Nicht umsonst wird

|| 52 Zur Geschichte dieser Metapher vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, bes. 51–71 für das Mittelalter bis zur Zeit Galileis. 53 Friedrich Ohly: „Vom geistigen Sinn des Wortes“, 5. Foucault zeigt diese Herkunft der ‚Episteme‘ im Rahmen seiner Studie nicht auf, weil es ihm dort mehr darauf ankommt, den Bruch zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit zu akzentuieren. Für einen diskursgeschichtlichen Abriss von der christlichen Antike bis zum Mittelalter vgl. Joachim Küpper: Diskurs-Renovatio, 230–263. 54 Vgl. hierzu ausführlich Erich Auerbach: „Figura“, 55–93; kürzer Joachim Küpper: DiskursRenovatio, 230–240.

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die Kreuzigung auf das Passahfest gelegt und Jesus als ‚Osterlamm‘ apostrophiert;55 so wird der Anspruch deutlich gemacht, dass Jesus in ‚Erfüllung‘ des Lammopfers stirbt und nicht nur den Tod der Erstgeborenen, sondern aller Gläubigen abwehrt: Seine Lehre führt jeden Christen aus dem ‚Exil‘ des irdischen Daseins zum ewigen himmlischen Leben. Die figurale Bewährung zielt also auf eine Wahrheit, die in einer Relation von Ähnlichkeit und Überbietung zwischen zwei (heiligen) Texten zum Vorschein kommt: Weil Jesu Tod dem Passahopfer vergleichbar ist, kann durch ihn eine ähnliche, aber höhere Form der Befreiung vollzogen werden. Fluchtpunkt dieser und anderer figuraler Lektüren ist dabei immer der Nachweis, dass Jesus tatsächlich der im Alten Testament prophezeite Messias ist, und nicht, wie die jüdischen Hohenpriester behaupten, ein gottloser Betrüger. Dass sich am Kreuz also tatsächlich Heilsgeschichte ereignet, wird erst durch die mannigfaltigen, teils impliziten, teils expliziten Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Altem und Neuem Testament, Präfiguration und Erfüllung ersichtlich, d. h. nur eine ‚Episteme der Ähnlichkeit‘ kann die figurale Bewährung Jesu als Gottessohn und Messias tragen. Dieses Auslegungsschema wird spätestens dort problematisch, wo die unbeirrt fortschreitende Zeit dem Gedanken einer tatsächlich endgültigen ‚Erfüllung‘ am Kreuz widerspricht: Anders als die Apostel und Missionare der frühchristlichen Zeit können spätere Jhe. die unmittelbare Endzeiterwartung, die sich aus dem figuralen Heilsgeschehen ergibt, nicht mehr teilen – zu lange dauert die Welt trotz allem fort. Aus dieser Problematik entsteht der Gedanke, dass die fortschreitende Geschichte nach der Kreuzigung ebenfalls figürlich, nämlich als wiederholende Veranschaulichung der Heilsgeschichte zu verstehen sei: „Die Bewältigung des Ausfalls der Parusie gelingt um den Preis, alle jeweilige Historie zu begreifen als Wiederholung des bereits Stattgehabten“,56 während die göttliche Vorsehung selbst außerhalb jeder Zeitlichkeit stehe. In der Folge wird der Gegensatz zwischen irdischem ‚Exil‘ und himmlischer ‚Heimat‘ nicht mehr als chronologische Abfolge gedacht, sondern als Gleichzeitigkeit zweier ‚Reiche‘ konzeptualisiert, die in einem ewigen Kampf liegen.57 Damit verliert das Geschichtsbild seinen (vorausgesetzten) Endpunkt, während sich zwischen den einzelnen historischen Ereignissen, wenn sie im Licht der Heilsgeschichte figürlich gelesen werden, ein unendliches Spiel von Ähnlichkeiten ergibt. Sie alle wiederholen mehr oder weniger deutlich den Opfertod Jesu, unter-

|| 55 1 Kor 5,7. Besonders deutlich ist das Johannesevangelium, das sogar den Büschel Ysop nicht vergisst. Vgl. Joh 19,29: vas ergo positum erat aceto plenum illi autem spongiam plenam aceto hysopo circumponentes obtulerunt ori eius (zit. n. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem; dt. Übers. d. Einheitsübers.: „Ein Gefäß mit Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund“). 56 Joachim Küpper: Diskurs-Renovatio, 243. 57 Ebd., 244. Die Lehre der ‚zwei Reiche‘ entwickelt Augustinus in seinem Traktat De civitate Dei.

24 | Joachim Harst streichen darin aber zugleich, dass dessen erstes Versprechen – das Ende von Geschichte – bislang nicht erfüllt wurde.

2.2 Rolandslied – Figurale Gestaltung von Geschichte Die hier skizzierten Grundprobleme einer analogischen Episteme lassen sich besonders deutlich an verschiedenen Fassungen des Rolandsliedes herausarbeiten. Wie bereits angedeutet, liegt mit der altfranzösischen Chanson de Roland eine figurale Gestaltung des geschichtlichen Stoffes vor, die ihn im Sinne eines fortwährenden Kampfes zwischen Christen und Heiden, Gut und Böse deutet.58 Die spezifische Abbildbarkeit der Heilsgeschichte auf den Spanienfeldzug Karls des Großen macht sich an der Figur Ganelons fest, einem mächtigen Höfling, der zugleich Stiefvater Rolands ist: Er wird von Roland für eine gefährliche Botschaftermission bei dem maurischen König Marsilie vorgeschlagen, bei der er schließlich den von Roland geführten Teil des Heers an die Heiden verrät. Dieser trahïsun seinz dreit („ruchlose Verrat“, v. 511) korrespondiert in dem heilsgeschichtlichen Kampf zwischen Gut und Böse ganz offensichtlich mit dem Verrat des Judas, durch den Jesus an die Hohepriester und Römer ausgeliefert wurde; in den biblischen Überlieferungen ist dieser Verrat zugleich Erfüllung einer alttestamentarischen Prophezeiung sowie Auslöser des Prozesses gegen Jesus – er ist also, und dies wird besonders im Johannesevangelium betont, eine unmittelbare Voraussetzung der Offenbarung, die am Kreuz stattfindet: Denn erst als die Jünger Jesus am Kreuz sehen, begreifen sie, dass er das neue ‚Osterlamm‘ ist. Auf vergleichbare Weise ist der Verrat Ganelons Voraussetzung der Heldentat Rolands, durch die er sich als idealer Ritter und treuer Lehnsmann bewährt: Als nämlich die von ihm geführte Nachhut von einer maurischen Übermacht angegriffen wird, weigert sich Roland, das Horn zu blasen, um Karl zu Hilfe zu rufen; er zieht es vor, sich dem im Grunde aussichtslosen Kampf zu stellen und als Held zu sterben.59 Das wird ihm von der Chanson tatsächlich gewährt, die nach ausführlichen Kampfschilderungen betont, dass Roland die letzten Mauren in die Flucht geschlagen habe, bevor er sich zum Sterben niedergelegt und Gott zum Zeichen der erfüllten Mission den Handschuh entgegenstreckt habe. Wenn es auch (anders als in dem mhd. Rolandslied) nicht explizit ausgesprochen wird, stirbt Ro-

|| 58 Die Chanson de Roland wird im Folgenden nach der Ausgabe von Wolf Steinsieck zitiert (Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig). Eine kurze Skizze zur Chanson und ihrer mittelhochdeutschen Adaptionen findet sich bei Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur, 63f. u. 108f. 59 Die Weigerung, um Hilfe zu rufen, kann auch als Selbstüberschätzung und Maßlosigkeit (desmesure) Rolands verstanden werden, durch die sein Verhalten problematisch wird – schließlich wären weniger Franken gestorben, wenn Karl sogleich zur Stelle gewesen wäre. Die Chanson betont diesen Aspekt jedoch nicht stark; Karl verliert kein Wort des Tadels über seinen Lieblingsritter.

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land in der Pose des christlichen Märtyrers, dessen Tod ja traditionell als Wiederholung und Repräsentation des Todes Christi verstanden wird. Es ist bemerkenswert, dass das der figuralen Gestaltung zugrundeliegende antithetische Weltbild – paien unt tort e chretiens unt dreit („die Heiden haben unrecht und die Christen recht“, v. 1015) – sich auch im Satzgefüge des Textes niederschlägt: Seine vorwiegend parataktische Reihung von schlichten Aussagesätzen stellt die epische Welt als Gefüge scheinbar selbstverständlicher Setzungen dar, die keinerlei Nachfrage (und sei es die nach der Handlungsmotivation der Figuren) dulden: Der Dichter erklärt nichts, und doch wird das tatsächlich sich Vollziehende mit einer parataktischen Schärfe ausgesprochen, welche ausdrückt, es müsse alles so geschehen wie es geschieht, es könne gar nicht anders sein, und es bedürfe keiner erklärenden Verbindungsglieder.60

Diese inhaltliche wie stilistische Notwendigkeit des Ablaufs zeigt sich am deutlichsten in der Reaktion Karls auf die verhängnisvolle Wahl Rolands zum Führer der Nachhut: Karl ist in einem Traum gezeigt worden, dass er Roland verlieren wird; er weint bittere Tränen um ihn, doch er kann den Fortgang der Geschichte nicht aufhalten – der Verrat muss vollzogen werden, wenn das Heldenepos die Heilsgeschichte wiederholen soll. Eine zweite stilistische Eigenschaft der Chanson de Roland unterstreicht diese Problematik: Die parataktischen Setzungen der epischen Welt stehen derart unverbunden nebeneinander, dass es häufig zu wiederholenden Beschreibungen derselben Szene bzw. zu deren variierender Auffächerung kommt. So wird etwa der Verrat Ganelons von drei Laissen in der Chanson de Roland eingeleitet, die jeweils mit einer wörtlichen Wiederholung der Frage Marsilies nach dem Alter Karls beginnen, auf die Ganelon verschieden antwortet; erst die dritte Antwort nennt Roland als den eigentlichen Anstifter des Feldzugs gegen Spanien und legt nahe, ihn töten zu lassen. Diese auch sonst häufige Wiederholungsstruktur des Gesangs erschwert es, ihn als lineare Schilderung zu verstehen (es ist schwer vorstellbar, dass Marsilie tatsächlich drei Mal dieselbe Frage gestellt haben soll), indem das Ereignis in drei wiederholende und zugleich sich steigernde Varianten aufgesplittert wird und Zeitlichkeit wie Kausalität tendenziell aufgehoben werden: Offenbar sind sowohl die Serien gleichartiger Vorgänge wie auch die Wiederaufnahmen Phänomene, deren Charakter dem der Parataxe in der Satzform nahesteht. […] immer handelt es sich um ein Vermeiden der rational gegliederten Zusammenfassung und ein Bevorzugen des

|| 60 Erich Auerbach: Mimesis, 99. Auerbachs Stilanalyse des Rolandslieds, der dieses Zitat entnommen ist, kann exemplarische Bedeutung beanspruchen.

26 | Joachim Harst stockenden, stoßweisen, nebeneinandersetzenden, vor- und zurückgehenden Verfahrens, wobei die kausalen, modalen, ja sogar die temporalen Beziehungen verschwimmen.61

Auch dieses strukturelle Problem der Wiederholung steht mit der figuralen Gestaltung des Rolandsliedes in Verbindung: Schließlich muss sie (wie oben angedeutet) grundsätzlich Geschichte als unendliche Wiederholung der Offenbarung am Kreuz auffassen; damit wird einerseits die Zeit nach dem Kreuz geradezu ostentativ als Epoche sub gratia gekennzeichnet, ihr freilich andererseits der End- und Zielpunkt genommen, auf den die Heilserfahrung gespannt ist. Das lässt sich besonders deutlich daran erkennen, dass Karl am Ende des Liedes – die Heiden sind erschlagen, Ganelon bestraft – gerade in dem Moment, in dem er sich zur Ruhe legen will, vom Engel Gabriel zum neuerlichen Kampf aufgerufen wird: „Deus!“ dist li reis, „si penuse est ma vie!“ („‚Gott!‘ sagt der König, ‚wie beschwerlich ist mein Leben!‘“, v. 4000) Karl, Sachwalter Gottes auf Erden, der nach wiederholter Auskunft dous cenz anz et mielz („zweihundert Jahre und mehr“, v. 539) alt ist, ist in der ewigen Wiederholung der Heilsgeschichte gefangen. Während diese inhaltlichen und stilistischen Charakteristika des Chanson de Roland als gleichsam unbewusster Durchschlag der tragenden Episteme erscheinen können – die erzählte Geschichte ist wahr, weil sie die Heilsgeschichte figürlich nachgestaltet –, wird die Grundstruktur der Ähnlichkeit in der mittelhochdeutschen ‚Übersetzung‘ von Konrad dem Pfaffen explizit gemacht.62 Das zeigt sich u. a. an der Umgestaltung des Kampfes zum Kreuzzug, dank der sämtliche christlichen Ritter in insistenter Wiederholung als Märtyrer bezeichnet werden können, sowie an der Rücknahme heroischer Elemente: Es ist nicht mehr maßloser Stolz, der Roland daran hindert, in sein Horn zu blasen, sondern sein Wunsch, als Märtyrer zu sterben und ins Himmelreich einzugehen. [...] Geschichte reduziert sich damit weitgehend auf eine Variation der universalen Auseinandersetzung zwischen Himmel und Hölle.63

Vor dem Hintergrund dieser Modifikationen erscheint es (neuerlich) erstaunlich, dass Konrad ausdrücklich auf seiner Treue gegenüber der afrz. Vorlage beharrt: Da sein Text mehr als doppelt so viele Verse umfasst wie die (heute maßgebliche) Oxforder Handschrift der Chanson, scheint seine Behauptung der Quellentreue schon aus quantitativen Gesichtspunkten widerlegt. Doch auch hier geht es wohl weniger um eine wörtliche Übersetzung als um eine Treue zur ‚Wahrheit‘ des Gesangs; in diesem Sinn ließe sich jedenfalls Konrads Anrufung an den Heiligen Geist

|| 61 Ebd., 103. 62 Im Folgenden zit. n. der Ausg. v. Dieter Kartschoke (Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, Mhd./Nhd.). 63 Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, 80; zum „maßlosen Stolz“ des afrz. Roland vgl. oben, Anm. 59.

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verstehen (vv. 1–10), dessen Inspiration für eine schlichte Übersetzung kaum nötig wäre: Es geht ihm vielmehr darum, die Übersetzung der ‚Wahrheit‘ noch treuer nachzugestalten als das Original.64 Von dieser Überlegung aus ist erklärlich, warum Konrads Fassung – neben manch anderem erläuternden Zusatz – auch in der figuralen Gestaltung deutlicher wird. So kehrt sie die Parallele Ganelon bzw. Genelun/Judas, die in der Chanson nur angedeutet wurde, ostentativ hervor:

den armen Judas er gebildôt. dô unser hêrre ze merde gesaz unde er mit ime tranc unde az, in den triuwen er in verriet wider die meintætige diet. […] des en was alles nehein rât, ez was lange vore gewîssaget (vv. 1925–1935). („Er ist ein Abbild des elenden Judas. / Als unser Herr beim Abendmahl saß / und er mit Ihm trank und aß, / da hatte er Ihn in Wahrheit schon verraten / an das verbrecherische Volk. / […] / Es mußte alles so kommen, / es war längst prophezeit.“)

Diese explizite Analogisierung zwischen Genelun und Judas ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie eine – für figurales Denken bezeichnende – Ambivalenz aufzeigt: Auf der einen Seite wird Judas als Verräter gezeichnet, der die Gastfreundschaft Jesu hinterhältig missbraucht; auf der anderen wird sein Verrat als Element der Heilsgeschichte verstanden, die in der göttlichen Vorsehung seit Ewigkeit beschlossen war – und folglich Judas nicht persönlich angerechnet werden kann. Diese Ambivalenz wird im Johannesevangelium besonders deutlich hervorgehoben, da dort Jesus beim Abendmahl selbst den Verrat in Auftrag gibt, um die ‚Schrift‘ zu erfüllen: Auf die Frage, wer ihn verraten werde, antwortet Jesus: ille est cui ego intinctum panem porexero / Et cum intinxisset panem dedit Iudae Simonis Scariotis (Joh 13,26f.)65. Das Brot, das Jesus brach, und von dem es heißt, es sei sein Leib, führt offenkundig den (heilsgeschichtlich notwendigen) Verrat herbei: des enwas alles nehein rât – vor der Erlösung gibt es kein Entrinnen. Das gilt auch für Konrads Gestaltung des Rolandslieds, in der Genelun geradezu als Überbietung des Judas erscheint, da er nicht nur einen, sondern zahllose Christen verkouphte (vv. 1936– 1939); in diesem Sinn muss man in Genelun eine zweite, gesteigerte Erfüllung der || 64 Vgl. ebd., 78f., sowie ausführlicher Marianne Ott-Meimberg: „di matteria di ist scone“, 17–32. 65 Biblia sacra iuxta vulgatam versionem (dt. Übers. d. Einheitsübers.: „Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn de Iskariot“).

28 | Joachim Harst biblischen Prophezeiungen erkennen, in der sich noch einmal die grundsätzliche Wiederholbarkeit der Heilsgeschichte bestätigt. Es ist daher bezeichnend, wenn auch das deutsche Rolandslied mit einer Geste endet, die die abgeschlossene Geschichte auf deren Zukunft – als ihre Wiederholung – öffnet. Zwar wird Karl bei Konrad nicht zu einem neuerlichen Feldzug aufgerufen (die Erzählung endet mit dem Gericht über Genelun), doch bezieht der Epilog die epische Welt direkt auf die Erzählgegenwart, indem er sich an einen Herzog Hainrîch als Stifter der Dichtung wendet: Nune mügen wir in disem zîte / dem küninge Dâvîte / niemen sô wol gelîchen / sô den herzogen Hainrîchen („nun können wir zu unserer Zeit / dem König David / keinen so gut vergleichen / wie den Herzog Heinrich“, vv. 9039–9042), heißt es im Zusammenhang des topischen Herrscherlobs.66 König David ist aber (abgesehen davon, dass er eine alttestamentarische figura Christi darstellt) in der voranstehenden Erzählung stets Vergleichsfigur für Karl gewesen; daher wird Heinrich implizit auch als ‚anderer Karl‘ beschrieben, wenn er mit David verbunden wird – Heinrich setzt also, so muss man schließen, das ‚christliche‘ Werk des großen Kaisers fort und bestätigt darin zugleich den innerlichen Wiederholungszwang, der dem figuralen Denken eingeschrieben ist. Der wissenschaftliche Ansatz, mit dem hier das Rolandslied vorgestellt wurde, kann also erklären, warum die Dichter der beiden Heldenlieder auf Quellentreue und Wahrheit beharren können, obwohl sie sich ganz offenkundig von der historischen Wahrheit entfernen: ‚wahr‘ im Sinne der analogischen Episteme ist nicht das zufällige Ereignis, sondern seine Einstellung in das Muster der Heilsgeschichte. Als paradoxe Konsequenz dieses Wahrheitsbegriffs lässt sich festhalten, dass gerade die Abbildlichkeit zwischen Welt- und Heilsgeschichte den Erlösungsanspruch – und damit die ‚Wahrheit‘ der Heilsgeschichte – unterminiert, insofern dieser alleine in der radikalen Singularität der Heilstat Jesu zu begründen ist.

2.3 Epistemologische Brüche Abschließend sollen zwei Einwände zu Wort kommen, die gegenüber der hier vorgestellten Skizze geäußert werden können. Zunächst mag es erstaunen, dass die Diskursanalyse Foucaults mit Autoren wie Auerbach und Ohly zusammengebracht wurde, die für die traditionelle Ideengeschichte stehen können. Damit sollte eine Kontinuität unterstrichen werden, die Foucault in Les mots et les choses nicht explizit macht, in L’archéologie du savoir jedoch zumindest anspricht:67 Was Foucault als ‚Episteme der Ähnlichkeit‘ beschreibt, ist ein bekanntes geistesgeschichtliches Phä|| 66 Vgl. zum politischen Hintergrund des David-Vergleichs Marianne Ott-Meimberg: „di matteria di ist scone“, 30. 67 Vgl. nochmals Michel Foucault: L’archéologie du savoir, 177–183 (Archäologie des Wissens, 193– 200).

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nomen; ebenso ist die Historizität des Wissens grundsätzlich auch schon vor Foucault herausgearbeitet worden, wenn dabei auch das Augenmerk eher auf den geschichtlichen Zusammenhang als auf den epistemologischen Bruch gelegt wurde. In diesem Sinn ist es bezeichnend, dass Foucault in Les mots et les choses seiner Beschreibung der analogischen Episteme unvermittelt die Analyse eines Kunstwerks gegenüberstellt, das einer anderen epistemologischen Ordnung, nämlich der der Repräsentation, zugehört: Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605).68 Das ist um so interessanter, als der spanische Roman indirekt auf die Tradition des Rolandsliedes Bezug nimmt: Er handelt von einem spanischen Landadeligen, der über das Lesen von Ritterromanen – darunter die Rolands-Epen Orlando Innamorato und Orlando Furioso – den Verstand verliert und beschließt, als fahrender Ritter auf Abenteuer auszuziehen und das Fortbestehen der Ritterschaft unter Beweis zu stellen. Damit nimmt der Roman tatsächlich eine Position ein, die den besprochenen Versionen des Rolandslieds gegensätzlich ist: Während dort Geschichte durch Dichtung figürlich gestaltet wurde, so zieht hier Don Quijote aus, um Dichtung erneut Realität werden zu lassen; während dort Dichtung das Versprechen der Geschichte enthüllte, kommt es hier Don Quijote zu, das Versprechen der Dichtung zu erfüllen. Und noch ein weiterer Aspekt stellt den grundsätzlichen epistemologischen Bruch heraus: Während im deutschen Rolandslied die fundamentale Rolle der Analogie explizit betont wurde, besteht bei Cervantes zunächst eine tiefe Diskrepanz zwischen Ritterdichtung und Realität – der sich als Ritter imaginierende Protagonist trifft auf eine prosaische Wirklichkeit, die dem poetischen Ideal in keiner Weise entspricht. Doch Don Quijote findet für dieses Problem, das eigentlich zum Aufgeben seiner Ritterschaft führen müsste, eine ingeniöse Lösung: Er versteht die Diskrepanz zwischen Realität und Poesie nicht als Zeichen für seine Geistesverwirrung, sondern als Beweis für die Annahme, dass er von bösen Zauberern verfolgt werde, denen die Verfremdung der Realität zur Last zu legen sei: [I]nfolgedessen ähneln alle Anzeichen der Nicht-Ähnlichkeit, alle Zeichen, die zeigen, daß die geschriebenen Texte nicht die Wahrheit sagen, jenem Spiel der Verzauberung, das durch List den Unterschied in die Unbezweifelbarkeit der Ähnlichkeit einführt. Und da diese Magie in den Büchern vorhergesehen und beschrieben worden ist, wird die scheinbare Differenz, die sie einführt, stets nur eine verzauberte Ähnlichkeit sein.69

Wenn Don Quijote also die sprichwörtlichen Windmühlen als Riesen bekämpft, so handelt er nach einem Prinzip der Ähnlichkeit, das jeglichen Bezug zur Realität (die || 68 Vgl. ders.: Les mots et les choses, 60–62 (Die Ordnung der Dinge, 78–80). 69 Ders.: Die Ordnung der Dinge, 79; Hervorhebung meine Übers.; frz. Original: „[T]ous les indices de la non-ressemblance, tous les signes qui montrent que les textes écrits ne disent pas vrai, ressemblent à ce jeu de l’ensorcellement qui introduit par ruse la différence dans l’indubitable de la similitude. Et puisque cette magie a été prévue et décrite dans les livres, la différence illusoire qu’elle introduit ne sera jamais qu’une similitude enchantée“ (Les mots et les choses, 61).

30 | Joachim Harst ja sowieso nur verzaubert erscheint) aufgegeben und sich ganz in die Repräsentation zurückgezogen hat. Allerdings ließe sich fragen, ob der epistemologische Bruch zwischen Ähnlichkeit und Repräsentation tatsächlich so scharf verläuft, wie Foucault nahelegt – so gibt es z. B. eine Reihe Ritterromane vor Don Quijote, die ihm strukturell ähnlich sind: Bereits in Orlando innamorato und Orlando furioso hat die Ritterwelt eine Eigengesetzlichkeit gewonnen, die sich letztlich nur aus der literarischen Konvention erklären lässt, auch wenn sie nicht derart konsequent mit einer außerliterarischen Wirklichkeit in Konflikt gerät: Die dort geschilderten Abenteuer sind derart fabelhaft und unglaublich, dass sie die erzählte Welt als einen in sich abgeschlossenen Fiktionsraum kenntlich machen. Wahrscheinlich würde Foucault diesen Einwand jedoch nicht gelten lassen, da er selbst die rupture weniger als objektive Tatsache denn als wissenschaftliches Instrument verstanden hat: Der Analytiker ‚legt‘ Brüche, um bestehende Kontraste deutlicher hervorzuheben, ja um überhaupt erst eine Position zu gewinnen, von der aus sich beobachten und beschreiben ließe – der Bruch ist eine Voraussetzung diskursanalytischer Untersuchung und ereignet sich in der réécriture von Geschichte, die sie anstrebt.70 Er unterstreicht auch noch einmal den Unterschied zwischen Geistesgeschichte und Diskursanalyse, den Foucault bei aller Ähnlichkeit zwischen den ‚Disziplinen‘ immer wieder betont hat. Ein zweiter Einwand gegenüber der vorgestellten Lektüre ließe sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erheben: Kann ein Ansatz, der Dichtung auf Wissensordnungen bezieht, dem ästhetischen Wert bzw. Anspruch von Literatur gerecht werden? Wird Dichtung so nicht stets als Abbildung einer Struktur gedacht, die auch ohne sie bestünde? Auf diese Fragen ließe sich zunächst antworten, dass die Begriffe ‚Literatur‘ und ‚Ästhetik‘ ohnehin nicht auf die Dichtung des Mittelalters anwendbar sind, die sich nicht vorrangig über die ästhetische Wirkung definierte: Die ‚Wahrheit‘ der Dichtung etwa ist hier viel wichtiger als der Kunstcharakter, den man mit Foucault als ein modernes Diskursphänomen verstehen kann.71 Dennoch würde man bes. die Chanson de Roland in ihrer oft rätselhaften Mehrdeutigkeit zu stark einschränken, wenn man sie allein als Ausdruck der mittelalterlichen Episteme auffassen würde. Gerade diejenigen Verse, die in aller Kargheit Sachverhalte konstatieren, können hier als Beispiel dienen: Halt sunt li pui e li val tenebrus, / Les roches bises, les destreiz merveillus („Hoch sind die Berge und die Täler finster, die Felsen düster, die engen Wege bedrohlich“, vv. 814f.). Der lapidare Charakter dieser parataktisch-reihenden Aussage bestätigt auf der einen Seite die Analyse Auerbachs – es handelt sich um eine epische Welt, die aus unhinterfragbaren Setzungen besteht. Zugleich jedoch weist die Feststellung des Selbstverständlichen gerade in ihrer kunstlosen Rohheit über den gesetzten Sachverhalt hinaus; die schlichte

|| 70 S. o., Abschn. 1.1.3. 71 S. o., Abschn. 1.2.

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Proposition steht gleichzeitig quer zu dem, was gewusst und ausgesagt werden kann. Auch in diesem Effekt kann man einen epistemologischen Bruch erkennen, der nun jedoch nicht zwei Epochen voneinander scheidet, sondern einen Text durchzieht: Er würde jenen Punkt bezeichnen, an dem das Gewusste sich in ein Rätsel verkehrt, so dass die Aussage vor ihrer Sprachlichkeit in den Hintergrund tritt. Auch dies wäre ein Effekt, den man mit Foucault als contre-discours beschreiben könnte – doch wie er zu deuten wäre, könnte sich nur einer umfangreicheren réécriture erschließen.

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Theorie-/Forschungstexte Ackermann, Christiane: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach und im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein, Köln/Weimar/Wien 2009 (Ordo 12). Andersen, Elizabeth (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, XIV. Anglo-deutsches Kolloquium zur deutschen Literatur des Mittelalters vom 14. bis 18. Sept. 1995 auf Schloß Siebeneichen bei Meißen, Tübingen 1998. Auerbach, Erich: „Figura“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, ausgesucht u. hg. v. Gustav Konrad, Bern 1967, 55–93. Ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 10. Aufl., Tübingen/Basel 2001 (Sammlung Dalp 90). Baisch, Martin u. a. (Hgg.): Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein i. T. 2005. Barthes, Roland: Die Lust am Text, übers. v. Traugott König, 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2009 (Bibliothek Suhrkamp 378) [frz.: Le plaisir du texte, Paris 1973]. Bezner, Frank: „Michel Foucault. ‚Ich‘ als Kalkül. Abaelards ‚Historia calamitatum‘ diesseits des Autobiographischen“, in: Dag Nikolaus Hasse (Hg.): Abaelards „Historia calamitatum“. Text – Übersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen, Berlin/New York 2002, 140–177. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981. Bogdal, Klaus-Michael: „Diskursanalyse, literaturwissenschaftlich“, in: Ulrike Haß/Christoph König (Hgg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, Göttingen 2003 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 4), 153–174.

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Thomas Bein

Editionsphilologie 1 Kultur und Quelle Dieser Band ist den ‚Literatur- und Kulturtheorien in der Mediävistik‘ gewidmet. Literatur ist ein Stück Kultur, und Kultur manifestiert sich (auch) in der Literatur einer Epoche und Sprachgemeinschaft. Literaturwissenschaft ist zu einem guten Teil Kulturwissenschaft, und Literaturgeschichte ist immer auch Kulturgeschichte. Kultur wiederum „ist Inbegriff der zu einer Zeit üblichen Symbolsysteme und ihrer Verwendungen, der Einstellungen, Rituale, Praktiken, sozialen Ordnungen usw., deren Zusammenwirken zu beschreiben ist“1. Solche Beschreibungen und darauf folgende Deutungen und Kommentierungen sind das Geschäft der Geisteswissenschaften und unter diesen der Textwissenschaften. Es handelt sich um eine recht junge Disziplin. Die ‚Germanistik‘ als universitäres Fach gibt es erst rund 200 Jahre, und am Anfang besteht sie nur aus dem, was man heute ‚Altgermanistik‘ oder ‚Germanistische Mediävistik‘ nennt. Denn vor dem Hintergrund einer beginnenden Nationalstaatenpolitik sucht man in den europäischen Ländern nach Zeugnissen und Symbolen kultureller Identität.2 ‚Alte Literatur‘, je älter desto besser, rückt in den Fokus von Historikern, Juristen und ‚Liebhabern‘ (Amateuren) vergangener Zeiten. Gegen Ende des 18. Jhs. beginnt eine Art Goldgräberzeit: Anstelle von Gold sind es allerdings mittelalterliche Handschriften, die man ‚ausgräbt‘, ja regelrecht aus ‚Gräbern‘ alter, vergessener Bibliotheken befreit. Sog. Handschriftenreisen gehören zum täglichen Geschäft der frühen Philologen, die sich eben allererst ihren Forschungsgegenstand besorgen – und herrichten – müssen.

2 Editoren: Herrscher über Texte Fotomechanische Reproduktionsmöglichkeiten gibt es in dieser frühen Phase der Philologien so gut wie nicht. Die Texte müssen also auf andere Weise verfügbar und analysierbar gemacht werden: Man muss sie abschreiben. Solche (handschriftlichen) Abschriften von mittelalterlichen Quellen stellen die Anfänge dessen dar, was man abstrahierend als ‚Editionswissenschaft‘ bezeichnet. Der Philologe arbeitet sich || 1 Jan-Dirk Müller: „Neue Altgermanistik“, 453. 2 Vgl. Dirk van Hulle/Joep Leersen (Hgg.): Editing the nation’s memory.

36 | Thomas Bein in die Eigenarten mittelalterlicher Graphiesysteme ein, entziffert die alten Handschriften und deutet Sonderzeichen, Abkürzungen und Schreibervermerke. Seine ‚Leseleistung‘ bestimmt später die Qualität des ‚herausgegebenen‘ Quellentextes und prädestiniert damit auch die Ergebnisse von Analysen, die man an und mit dem Text durchführt. Der Editor ist der ‚Herr der Texte‘3, der großes Vertrauen in seine Arbeit einfordert, denn jeder literaturhistoriographische und -wissenschaftliche Zugriff ist abhängig von ihm: von seiner Kompetenz, die Handschriften gut und richtig lesen zu können, nicht mehr gebräuchliche Sonderzeichen adäquat zu deuten und in moderne Zeichen umzuschreiben, auch Fehler mittelalterlicher Schreiber zu erkennen und zu verbessern und – besonders heikel – Entscheidungen für diese und gegen jene Variante zu treffen.

3 Methoden und ihre Geschichte Schon sehr früh zeichnet sich ab, dass es unterschiedliche editorische Selbstverständnisse gibt:4 Zum einen kann sich der Philologe mit großer Ehrfurcht vor den mittelalterlichen Handschriften darauf beschränken, die Texte so genau wie möglich zu konservieren, im Grunde Benutzern seiner Arbeit nur das oft mühsame Entziffern der Handschrift zu ersparen. Zum anderen kann sich der Philologe auch zum ‚Anwalt‘ und ‚Retter‘ der alten Texte und ihrer Autoren erklären. Davon ausgehend, dass die Zeit für Kulturgüter stets einen kritischen Faktor darstellt, d. h. hier, dass Texte, die vor vielen Jh. verfasst worden sind, im Laufe der Zeit ihres ‚Lebens‘ – ihrer Weitergabe – ihre ursprüngliche Qualität verlieren, versteht der Editor als ‚Restaurator‘, der einen angenommenen besseren Textzustand wiederherzustellen trachtet.

3.1 Konservativ-dokumentierende Zugriffe Friedrich Heinrich von der Hagen zum Beispiel (1780–1856) zählt in den Anfängen der Germanistik zum erstgenannten Editorentyp.5 Seine bis heute noch nicht vollständig ersetzte, mehrere Bände umfassende Großedition ‚Minnesinger‘6 zeigt eine Editionspraxis, die dem, was heutzutage mehr und mehr Usus ist, nahe kommt: Er verzichtet weitgehend auf eine häufig ästhetischen Prinzipien verpflichtete Rekon-

|| 3 Editorinnen sind hier selbstverständlich mitgemeint. 4 Vgl. auch Hans-Gert Roloff (Hg.): Geschichte der Editionsverfahren; Robert Harsch-Niemeyer (Hg.): Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien; Thomas Bein (Hg.): Altgermanistische Editionswissenschaft. 5 Vgl. Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen. 6 Vgl. Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger.

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struktion; stattdessen konzentriert er sich auf den Wortlaut der Textzeugen (Handschriften), den er möglichst getreu reproduziert – wenn er auch ein (gut dokumentiertes) sprachliches Normalisierungsverfahren7 zur Anwendung kommen lässt. Ist ein Text in mehreren Handschriften überliefert, so versucht er, die beste zu ermitteln und legt diese seiner Textdokumentation zugrunde (und vermischt nicht Textzustände verschiedener Handschriften, wie dies viele andere Editoren nach ihm getan haben): „[...] bei mehreren Handschriften habe ich vornämlich immer nur eine, und versteht sich, die älteste und beste, so viel als möglich, zum Grunde gelegt, und die übrigen nur zu Hülfe gerufen“8.

3.2 Der Editor als Restaurator: Fachgeschichte und Begrifflichkeit Grundsätzlich anders sieht Karl Lachmann (1793–1851) seine philologische Aufgabe.9 Er gilt zusammen mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm als Begründer der Germanistik und entwickelt eine Editionsmethode, die zahlreiche Philologien in ganz Europa bis heute beeinflusst;10 daher muss sie an dieser Stelle ausführlicher vorgestellt werden. Editorische Arbeit ist für Lachmann eine ‚kritische‘ Arbeit: Sie besteht für ihn nicht im bloßen Abschreiben von Handschriften, sondern zeichnet sich durch die ‚kritische‘ – und das heißt: vergleichend-bewertende – Sichtung möglichst der gesamten noch greifbaren Überlieferung aus. Das ‚Kritische‘ des editorischen Tuns besteht für Lachmann u. a. im wohlüberlegten Sortieren der Textzeugen (Handschriften) und einer Hierarchisierung (älter vs. jünger oder besser vs. schlechter)11, in der Erstellung eines Stemmas (einer grafischen Darstellung der Handschriftenverwandtschaften) und in einer möglichst konsequent angewandten Fehlertypologie. Um das Gute vom weniger Guten, das Gesicherte vom weniger Gesicherten, das Ursprünglichere vom weniger Ursprünglichen zu sondern, muss der Textkritiker selbstverständlich über sprach- und literarhistorische Kompetenzen verfügen, aber auch – so Lachmann – über ein ästhetisches Grundvermögen, das es || 7 Darunter versteht man Folgendes: Mittelalterliche Handschriften kennen keine geregelte Graphie, was insb. für ungeübte Leser eine Schwierigkeit darstellt. So können z. B. für den u-Laut die Buchstaben ‚u‘ und ‚v‘ verwendet werden, für den f-Laut die Buchstaben ‚f‘, ‚v‘ und ‚u‘. Gleicht man als Herausgeber eines mittelalterlichen Textes solche sinnneutralen Varianten aus, spricht man von einer Normalisierung. 8 Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger, Bd. I, XXXIX. 9 Vgl. Magdalene Lutz-Hensel: „Lachmanns textkritische Wahrscheinlichkeitsregeln“; Harald Weigel: ‚Nur was du nie gesehn wird ewig dauern‘ [mit reichhaltiger, weiterführender Literatur]. 10 Vgl. Frédéric Duval (Hg.): Pratiques Philologiques en Europe. 11 Während man die meisten Handschriften recht gut zumindest relativ chronologisieren kann, ist ein Qualitätsurteil wie ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ freilich schwer objektivierbar; hier spielen viele Grundanschauungen und ‚philologische Ideologien‘ eine Rolle.

38 | Thomas Bein ihm erlaubt, autornähere von autorferneren Lesarten zu erkennen (besser: zu erahnen). Insofern ist für Lachmann Textkritik auch eine ,Kunstübung‘, die sog. ‚Vermutungen‘ beinhaltet. Diese sind Schritte der Textrekonstruktion und -besserung, davon ausgehend, dass alle handschriftliche Überlieferung bereits ‚fehlerhaft‘ auf uns gekommen sei. Textkritik im Lachmannschen Sinn bedeutet also neben einer Sichtung und Ordnung des Materials auch die Rekonstruktion einer dem Original sehr nahe kommenden, aber eben nur zu ‚vermutenden‘ Textstufe oder -fassung (des sog. ‚Archetyps‘). Die folgende Grafik mag Lachmanns Vorgehen veranschaulichen:12

Abb. 1: Lachmanns Vorgehen: Durch Textvergleiche soll ein Stemma mit den Verwandtschaften der Quellen erarbeitet werden, das nach Möglichkeit Wege zum Original weist.

|| 12 Diese und weitere einschlägige Grafiken in Thomas Bein: Textkritik.

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3.2.1 Mythos ‚Original‘ In den Textwissenschaften stellt das Original für weit über 100 Jahre eine zentrale und leitende Erkenntnisgröße dar. Dies ist bedingt durch (kultur-)philosophische Vorstellungen der europäischen Romantik. Zu Beginn des 19. Jhs. machen sich im gesamteuropäischen Raum Tendenzen zur Bildung von Nationalstaaten bemerkbar. Das Konzept einer Nation fordert eine Identität ein, die zunächst und vor allem über eine gemeinsame Sprache geschaffen wird.13 Ein wesentliches Erkenntnisziel der Sprachgeschichtsforschung, und insb. der Indogermanistik des 19. Jhs., ist die Rekonstruktion vergangener Sprachstufen bis hin zur Konstruktion einer indoeuropäischen Ursprache. Dabei gelten ältere Sprachstufen als besonders wertvoll, weil unverfälscht; Sprachgeschichte wird in jener Zeit als Geschichte des Sprachverfalls betrachtet. Die Philologien setzen sich zum Ziel, ,ursprüngliche‘ Kulturzustände zu rekonstruieren. Insofern ist im frühen 19. Jh. ein Ziel der Editionswissenschaft, aus den mutmaßlich korrumpiert überlieferten Texten das dahinter stehende, anzunehmende Original wiederherzustellen und damit einen authentischen, autorisierten Text zu gewinnen.14 Allerdings ist es bereits Karl Lachmann bewusst, dass das ,Original‘ für immer verloren ist. Daher begnügt er sich damit, eine originalnahe Stufe innerhalb der Geschichte eines Textes zu erreichen: den sog. ,Archetyp‘.15 Die Rekonstruktion eines solchen Archetyps setzt ein genaues Studium der Handschriften und ihrer Verwandtschaft(en) voraus. Über eine Beurteilung der Varianten – für Lachmann sind es ‚Fehler‘ – möchte Lachmann die Textgestalt des Archetyps rekonstruieren.

3.2.2 Fehler und Varianten Fehlerbegriff und Fehlerdiskussion sind wesentliche Fundamente der Editionswissenschaft. Karl Stackmann, bedeutender Editor des 20. Jhs., definiert die Textkritik „geradezu als Lehre von den Fehlern“16. Heutzutage vermeidet man den Begriff ‚Fehler‘ und spricht lieber von ‚Varianten‘, denn die Rede von ‚Fehlern‘ hat wertenden Charakter und zielt immer auf ein ‚Original‘ ab, das nur ‚fehlerhaft‘ (durch unzuverlässige oder dumme Schreiber) überliefert worden sei. Textkultur ist grund-

|| 13 Vgl. Dirk van Hulle/Joep Leersen (Hgg.): Editing the nation’s memory. 14 Vgl. zur Begrifflichkeit Thomas Bein u. a. (Hgg.): Autor – Autorisation – Authentizität. 15 Seit den späten 1960er Jahren sind Leitbegriffe wie ,Autor‘ und ,Original‘ in den Literaturwissenschaften zum Teil radikal in Frage gestellt worden (z. B. 1968 durch Roland Barthes: „La mort de l’auteur“; vgl. den Beitrag von Caroline Emmelius i. vorl. Bd., bes. 278). Damit einhergehend veränderte sich auch der Textbegriff erheblich: Ein Text war nicht länger ein autorisierter Zustand, sondern ein Prozess in stetem Wandel. 16 Karl Stackmann: „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“, 240–267, hier 256.

40 | Thomas Bein sätzlich eine Varianzkultur.17 Die Intensität der Varianz ist abhängig von vielerlei Faktoren – u. a. vom medialen Status des Textes (mündlich vs. schriftlich) und seinem ‚Schutzraum‘, d. h. in welchem Maß ein Text innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft als ‚schützenswert‘ betrachtet wird (z. B. müssen der Sache wegen Rechtstexte vor unautorisierter Veränderung, so gut es geht, bewahrt werden, während es sicher weniger bedeutend ist, ob rote oder grüne Blumen zur Ausstattung eines locus amoenus in einem Liebeslied Verwendung finden).18 Es lassen sich viele Varianztypen differenzieren, und die Ursachen für die Varianz können gleichermaßen vielfältig sein. Die Erforschung von Varianz steht durchaus noch am Anfang. Das Phänomen als solches ist zwar seit Langem bekannt, wurde allerdings eher als Last betrachtet, weil Varianten ausschließlich als ,Fehler‘ galten. Indes bieten Varianten die große Chance, der Dynamik historischer Textkultur nachzuspüren. Erst in den letzten 25 Jahren finden sich vermehrt – und interdisziplinär19 – Ansätze, der Textvarianz einen eigenen Quellenstatus zuzuschreiben.20 Dies wurde insb. befördert durch methodologische Neu- oder Umorientierungen in der mediävistischen Editionswissenschaft:21 Denn erst das Bereitstellen von rezipierbaren Textfassungen oder -versionen22 und die leichte Verfügbarkeit der handschriftlichen Quellen (z. B. durch qualitativ hochwertige Handschriftendigitalisate im Internet)23 ermöglicht den genauen Blick auf das, was man als ‚(Text-)Varianz‘ bezeichnet.24

3.2.3 Auf der Suche nach dem ‚wahren‘ Text: Arbeitsschritte des Text-Restaurators Karl Lachmann und die meisten anderen Editoren im 19. Jh. befassten sich mit Varianz nicht um ihrer selbst willen, sondern nur, um nicht mehr erhaltene Vorstufen des Textes zu rekonstruieren. Die beiden wesentlichen Schritte dorthin sind: || 17 Provozierend hatte Bernhard Cerquiglini in seinem vielbeachteten Buch ‚Éloge de la variante‘ formuliert: „L’œuvre littéraire, au Moyen Âge, est une variable“ (Paris 1989, 57). 18 Vgl. Thomas Bein: „Varianztypen“. 19 Vgl. Christa Jansohn/Bodo Plachta (Hgg.): Varianten – Variants – Variantes. 20 Vgl. u. a. Martin Baisch: Textkritik als Problem. 21 Vgl. mit aktuellen bibliographischen Hinweisen Thomas Bein: Textkritik. 22 Vgl. (als sehr frühes Beispiel) Michael S. Batts (Hg.): Das Nibelungenlied; weiter Hubert Heinen (Hg.): Mutabilität im Minnesang; Johannes Janota (Hg.): Die Hessische Passionsspielgruppe; Joachim Bumke (Hg.): Die „Nibelungenklage“; Ulrich Müller u. a. (Hgg.): Neidhart-Lieder; noch work in progress ist die digitale (Online-)‚Parzival‘-Ausgabe von Michael Stolz; vgl. u. a. ders.: „Intermediales Edieren“ (vgl. dazu auch mit weiteren Literaturangaben Anm. 34). 23 Hingewiesen sei hier nur auf die St. Galler Initiative ‚Codices Electronici Sangallenses (CESG) – Virtuelle Bibliothek‘ (http://www.cesg.unifr.ch/de/index.htm, 16.07.2015) und die reiche Sammlung der Universitätsbibliothek Heidelberg ‚Handschriften – digital‘ (http://www.ub.uni-heidelberg.de/ helios/ digi/handschriften.html, 16.07.2015). 24 Im Abschn. 5 finden sich konkrete Bsp. für Varianzphänomene in der handschriftlichen Kultur des Mittelalters.

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a) die recensio (< lat. recensere: ‚mustern‘, ‚durchlaufen‘, ‚prüfen‘): Handschriften, die einen bestimmten zu edierenden Text enthalten, werden gesichtet, verglichen und in ein Stemma überführt, welches schließlich die ‚älteste‘ und damit meist ‚beste‘ Handschrift zu erkennen geben soll. Von ihr ausgehend möchten Lachmann und seine Schüler ursprüngliche oder wenigstens archetypische Lesarten ermitteln. b) die emendatio: Mit diesem Begriff (< emendare: ‚von Fehlern befreien‘) ist das Verbessern von handschriftlichen Texten gemeint. Verbessert (und das heißt: rekonstruiert) wird überall dort, wo der Text ‚Fehler‘ zeigt, d. h. wo – nach dem iudicium (der Einschätzung/ Meinung) des Editors – der Text grammatikalische, metrische oder stilistische Formen aufweist, die dem Autor (dem Original) nicht zugeschrieben werden mögen und die auf das Konto von unzuverlässigen Schreibern gehen sollen. Das iudicium versucht Lachmann durch genaues Studium z. B. der Metrik, der Grammatik, der topischen Formeln, der Häufigkeit von sprachlichen Phänomenen u. a. zu erlangen. Durch diese Operationen soll der letzte Schritt auf das ‚Original‘ hin getan werden. A verisimilibus progredi ad verum (vom Wahrscheinlichen zum Wahren schreiten), so nannte Lachmann das Verfahren in seiner Vorrede zur Ausgabe des Neuen Testaments. Zum ‚Wahren‘, ‚Echten‘, ‚Ursprünglichen‘ zählen für Lachmann u. a. ein „unwandelbares Hochdeutsch“25 sowie eine streng geregelte Metrik. Beide Postulate wirken bis heute in der altgermanistischen Textkritik nach. Lachmann geht davon aus, dass die Dichter der mittelhochdeutschen ‚Blütezeit‘ (letztes Viertel 12. bis Ende 1. Drittel 13. Jh.) eine Art Standardsprache, d. h. eine überregionale Dichtersprache gesprochen hätten, die im Laufe der Abschreibprozesse durch mundartgebundene Schreiber korrumpiert worden sei. Wenngleich die Vorstellung von einer einheitlichen mittelhochdeutschen Dichtersprache heute aufgegeben ist – allenfalls kann man von überregionalen Idiomen sprechen –, so ist ein weitgehend ‚normalisiertes‘ Mittelhochdeutsch, vor allem die Schreibung betreffend, ein Entgegenkommen für den Benutzer einer Ausgabe, um die lexikographische Arbeit zu erleichtern (das Auffinden von Wörtern in den großen historischen Wörterbüchern)26. So wird man auch in vielen modernen Editionen eine normalisierte Schriftsprache antreffen können, die freilich nicht den Anspruch hat, die originäre Dichtersprache zu sein. Wie die Sprache, so war – nach Lachmann – auch die Metrik in ihrem ursprünglichen Zustand fest geregelt, vor allem die Alternation. Das heißt: Der mittelhochdeutsche Vers (epischer wie lyrischer Art) zeige regelmäßigen Wechsel von Hebung || 25 Karl Lachmann: Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des 13. Jahrhunderts, Berlin 1820, VIII. 26 Vgl. Georg Friedrich Benecke/Wilhelm Müller/Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch (im Internet unter http://germa83.uni-trier.de/MWV-online/, 16.07.2015); Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (im Internet unter http://germa83.uni-trier.de/MWV-online/, 16.07.2015).

42 | Thomas Bein und Senkung; zweisilbige Senkungen seien in aller Regel nicht das Ursprüngliche. Lachmann hat, dieser Prämisse folgend, vielfach zweisilbige Senkungen (die in den Handschriften immer wieder vorkommen) in seinen Ausgaben vermieden und sie durch Tilgung von Präfixen, unbetonten Endsilben (-vokalen) u. a. eliminiert und somit einen verloren geglaubten Textzustand rekonstruiert.

3.2.4 Methodologische Probleme Lachmann beginnt seine editorische Arbeit in der Altphilologie (griechische und lateinische Texte). Dies jedoch führt zu einem methodischen Defizit, insofern Lachmann die Überlieferungsverhältnisse im Bereich der klassischen Texte zu leichtfertig auf die der alt- und mittelhochdeutschen Literatur überträgt. Denn: In der griechischen und römischen Literaturgeschichte begegnet eher eine lineare, geradlinige Überlieferung (B schreibt von A ab, C von B, D von C usw.), was die Erstellung eines Stemmas, das Abhängigkeitsverhältnisse möglichst klar darstellen will, begünstigt, während Texte aus alt- und mittelhochdeutscher Zeit in vielen Fällen durch Kontamination geprägt sind. Unter Kontamination versteht man in der Editionswissenschaft das Phänomen, dass ein Text mehrere unterschiedliche Spuren seiner Überlieferung in sich vereint. Es handelt sich um einen Textzustand, bei dessen Genese mehrere divergierende Fassungen des Textes zusammengeflossen sind. In der v. a. mittelalterlichen Textüberlieferung begegnet dieses Phänomen häufig dann, wenn bei der handschriftlichen Vervielfältigung eines Textes nicht nur eine Vorlage unmittelbar kopiert wird, sondern wenn mehrere mehr oder weniger stark voneinander abweichende Fassungen (Versionen) des in Frage kommenden Textes verwendet werden. Die Forschungen zur Verwandtschaft der bedeutendsten deutschsprachigen Liederhandschriften (A: Kleine Heidelberger und C: Große Heidelberger Liederhandschrift, B: Weingartner Liederhandschrift, E: Würzburger Liederhandschrift)27 konnten zeigen, dass es zweifellos gemeinsame Vorstufen gegeben hat, von denen die Schreiber unterschiedlicher Codices abgeschrieben haben. Dies liegt insb. dann nahe, wenn sich zwei oder drei heute noch vorhandene Handschriften auch in kleinsten Details des Textes gleichen (insb. wirkliche Fehler teilen, die sie von anderen Handschriften unterscheiden). Trotz der sicher anzunehmenden Quellen finden sich aber immer wieder auch irritierende Varianten,28 die nur dadurch zu erklären sind, dass der Schreiber entweder eine zweite oder dritte Quelle hinzugezogen oder aber selbst in den Text eingegriffen hat. Der Begriff ‚Kontamination‘ leitet sich vom lat. Verb contaminare ab, was so viel wie ,durch Vermischung verderben‘ bedeutet. In der Semantik

|| 27 Vgl. dazu die einschlägigen Art. im ‚Verfasserlexikon‘. 28 Ein eindrucksvolles Bsp. erläutere ich im Abschn. 5.

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des lateinischen Wortes findet sich also – zumindest auch – eine Wertung. Übertragen auf die Textwissenschaft bedeutet dies, dass ein kontaminierter Text als minderwertig angesehen wird. Diese wertende Haltung findet sich im gesamten 19. Jh., aber auch noch bis weit in das 20. Jh. hinein. Erst seit rund 30 Jahren betrachtet man das Phänomen der Kontamination wertfrei, weil sich die Perspektive der meisten Philologien auf ihren Gegenstand verändert hat: Es steht nicht mehr (nur) das Original (die ,Urfassung‘) im Vordergrund, sondern Phänomene wie Textgenese, Textrezeption und Textüberlieferung nehmen deutlich mehr Raum ein. Lachmanns textkritische Leistungen müssen mit Blick auf die Zeit ihrer Entstehung gewürdigt werden. Heute sieht man vieles anders, differenzierter und genauer als er, da die Kenntnisse über die mittelalterliche Literatur, ihre Verbreitung und Tradierung zugenommen haben. Viele Hilfsmittel (Wörterbücher, Indices, Reimregister, Grammatiken usw.) stehen heute zur Verfügung, die sich Lachmann und seine Kollegen erst schaffen mussten, wobei die Editionen (oft) das Material für die Hilfsmittel abgaben, und umgekehrt die Hilfsmittel editorische Entscheidungen bedingten: ein fataler Teufelskreis. Wie auch immer man heute zu Lachmann stehen mag – unstrittig ist, dass er der erste und wirkungsmächtigste Editor der Germanistik ist. Alle anderen editorischen Methoden beziehen sich in irgendeiner Weise auf Lachmann, sei es, dass sie seine Maximen noch dezidierter vertreten und noch rigoroser rekonstruktiv sind, sei es, dass sie programmatisch von Lachmanns Konzept abrücken.

4 Nach Lachmann Ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. bis etwa in die 1960er Jahre hinein bewegt sich die Editionswissenschaft der Germanistischen Mediävistik zwischen den oben skizzierten Positionen: Dokumentation der Handschriften (‚textorientierte Textkritik‘) vs. Rekonstruktion des Dichterwortes (‚autor-/originalorientierte Textkritik‘).29 Beide Wege des Edierens haben bis in die jüngere Gegenwart hinein ihre praktischen Umsetzungen erfahren. Fachgeschichtlich betrachtet zeichnet sich ab, dass die Versuche, ein Original editorisch wiederherzustellen, mehr und mehr als Irrweg betrachtet werden. Man ist bescheidener geworden: Das mutmaßlich Beste aus dem wählen, was wir heute noch überliefert haben, bzw. das textgeschichtlich Bedeutende zu dokumentieren, sind Maximen, die mehr und mehr die Editionswissenschaft prägen. Vertreter der überlieferungs- und textorientierten Textkritik sehen es grundsätzlich als zu hypothetisch an, mehr als eine Rekonstruktionsstufe hinter die vor|| 29 Vgl. zu grundsätzlichen Positionen den Band Robert Harsch-Niemeyer: Beiträge zur Methodengeschichte, insb. den Beitrag von Hans Fromm: „Zur Geschichte der Textkritik“, 6–90; vgl. ferner Martin J. Schubert (Hg.): Deutsche Texte des Mittelalters.

44 | Thomas Bein handenen Handschriften zurückzugehen. Sie präsentieren in ihren Editionen entweder einen gar nicht oder nur leicht normalisierten30 handschriftlichen Text. Ist der Text nur in einer Handschrift überliefert, erübrigt sich eine Auswahl; liegen mehrere Handschriften vor, obliegt es dem Herausgeber, sich möglichst für eine (die er mit guten Gründen für die ‚geeignetste‘ ansieht) als seine ‚Leithandschrift‘ zu entscheiden. Eine solche ‚Leithandschriftenmethode‘ hat sich seit der Mitte des 19. Jhs. mehr und mehr durchgesetzt. Franz Pfeiffer (1815–1868) und Hermann Paul (1846–1921)31 markieren bis zur Jahrhundertwende wichtige Stationen dahin. Nach der grundsätzlichen Neupositionierung der Germanistik nach dem Zweiten Weltkrieg (besonders seit 1968) werden eine Reihe von mittelalterlichen ‚Klassikern‘ neu ediert (so ‚Des Minnesangs Frühling‘ und ‚Walther von der Vogelweide‘), und hier – wie auch bei zahlreichen weiteren Editionsvorhaben – obwaltet ein Leithandschriftenprinzip32: Ziel des Editors ist nicht mehr das Original, oft auch nicht mehr der Archetyp, sondern die Ermittlung einer einigermaßen vertrauenswürdigen, wenig ‚fehlerhaften‘ Handschrift, die ggf. leicht normalisiert ediert wird. Es ist das Verdienst der Lyrikphilologie, für den gesamten Bereich der altgermanistischen Editionswissenschaft Pionierarbeit geleistet und neue Wege gewiesen zu haben. Das ist leicht begründet: Die Texteinheiten sind hier überschaubar, die Anzahl der Handschriften ist – von wenigen Einzelfällen abgesehen – nicht allzu groß. Im Bereich der Epik stoßen wir hingegen auf deutlich anders gelagerte Fälle. Viele Texte sind äußerst komplex und reich überliefert, z. B.: Hartmanns von Aue Artusroman ‚Iwein‘ ist in über 30 Textzeugen, davon 15 vollständigen, erhalten; Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘ in über 25 Textzeugen, davon 11 vollständigen; Wolframs von Eschenbach Gralroman ,Parzival‘ in fast 90 Textzeugen, davon 16 vollständigen; das ‚Nibelungenlied‘ in über 30 Textzeugen.33 Diese Texte zählen zur sog. ‚höfischen Epik‘ und sind seit den Anfängen der Germanistik Teil eines Kanons. Auch diese Tatsache erschwert(e) ein neues, ggf. radikal anderes editorisches Aufbereiten der Texte. Bis heute lesen wir sie weitgehend so, wie sie die Vorväter des Faches in die Welt der Wissenschaft entlassen haben.34 Neben der höfischen Epik begegnet in der mittelalterlichen Textkultur noch eine grundsätzlich andere Textsorte: die Gebrauchsprosa. Lange Zeit wurde sie kaum als ‚Literatur‘ betrachtet, da ihr ein ästhetisches Moment weitgehend fehlt. Es han|| 30 S. auch Anm. 7. 31 Paul gründete die bis heute bedeutende Editionsreihe ‚Altdeutsche Textbibliothek‘ (Niemeyer/de Gruyter-Verlag). 32 Vgl. auch Thomas Bein: „‚echt kritisch‘“. 33 Vgl. die einschlägigen Artikel zu den Werken im ‚Verfasserlexikon‘. 34 Grundlegend neu aufbereitet wird die Textgestalt bzw. die verschiedenen Fassungen des ‚Parzival‘-Romans durch Michael Stolz, der diese gewaltige Aufgabe mit Hilfe moderner EDV angeht. Vgl. u. a. Michael Stolz: „Wolframs ‚Parzival‘ als unfester Text“; ders.: „New Philology and New Phylogeny“; ders.: „Computergestütztes Kollationieren“; weitere Informationen: http://www. parzival.unibe.ch/home.html, 16.07.2015.

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delt sich bspw. um Rechtstexte oder um artes-Literatur (Wissensliteratur, Enzyklopädien) in einem weiten Sinn. In den 1960er und 1970er Jahren wurde diese Art von Textkultur indes von der Mediävistik (wieder-)entdeckt und mit innovatorischem Editionseifer aus den Handschriftengräbern befreit. Rund um den Würzburger Germanisten Kurt Ruh entstand die ‚Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung‘35. Eine besondere Herausforderung besteht hier in der dynamisch-produktiven Offenheit der Texte, der man editorisch u. a. dadurch begegnen muss, dass man die Wege der Texte durch die Zeit anhand der erhaltenen Handschriften (und ggf. Drucke) dokumentiert und kommentiert. Jede Textsorte wirft eigene editorische Probleme auf – alle handschriftliche Kultur teilt jedoch das Varianz-Phänomen. Mit der Varianz in rechter Weise umzugehen, stellt die entscheidende, grundlegende Herausforderung für die Editionswissenschaft dar. Es ist wohl verfehlt, sich auf einen allzu banalen, bloß reproduzierenden Status zurückzuziehen, also lediglich handschriftliche Zeichen in heute allgemein lesbare Drucktypen umzusetzen. Der Editor sollte mehr leisten, so z. B. die begegnenden Varianten systematisieren und poetologisch relevante (sinnverändernde) Varianten von solchen sondern, die weitgehend der Kulturtechnik verpflichtet sind ([Ab-]Schreibfehler, Hörfehler u. a.). Erst wenn solche Arbeiten in größerem Rahmen und Umfang angegangen sind, werden wir deutlichere Einblicke in die (poetischen) Regelmäßigkeiten einer Literatur gewinnen, die bis weit in das 14. Jh. ein beständiges Wechseldasein führt: zwischen Schriftlichkeit (der Konzeption), Mündlichkeit (der Aufführung) und erneuter Schriftlichkeit (der Konservierung). Diesem Ziel dienlich sind die inzwischen deutlich zunehmenden digitalen Editionsprojekte: Nicht nur verfügt das Fach über ein immens großes (und beständig wachsendes) Online-Angebot an mittelalterlichen Handschriften,36 sondern es zeichnet sich ab, dass editorische Großprojekte künftig sinnvoller Weise web-basiert angelegt werden sollten. Voraussetzung dafür ist eine plattformunabhängige Textcodierung, um die Texte für große Zeiträume verfügbar zu halten. Die sog. ‚Text Encoding Initiative (TEI)‘ leistet hier hervorragende Arbeit. Diese ‚Initiative‘ is a consortium which collectively develops and maintains a standard for the representation of texts in digital form. Its chief deliverable is a set of Guidelines which specify encoding methods for machine-readable texts, chiefly in the humanities, social sciences and linguistics.37

Bislang gibt es erst sehr wenige, eigens für ein Online-Leben konzipierte Editionen. Die bisherigen Ansätze zeigen, dass noch viele Detailprobleme zu klären sind. Nicht zuletzt auch aus Gründen des Copyrights und der Sorge der Verlage, einen einmal in || 35 Vgl. Kurt Ruh (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. 36 Vgl. www.mediaevum.de: Das Portal weist Wege zu zahlreichen frei zugänglichen Handschriftendigitalisaten – hier genannt seien solche der Universitätsbibliothek Heidelberg und der Stiftsbibliothek Sankt Gallen. 37 http://www.tei-c.org/index.xml, 16.07.2015.

46 | Thomas Bein das World Wide Web entlassenen Text nicht mehr kontrollieren zu können, wird man gut daran tun, in Zukunft zweigleisig zu fahren und sog. ‚Hybrideditionen‘ herauszubringen, Pakete also aus traditionellem Buch und elektronischem Datenträger (bzw. Buch mit einem Internet-Zugangscode). Im Buch kann man insb. einen Lesetext gut präsentieren, mit dem man in Universitätsseminaren (ohne auf Elektrizität angewiesen zu sein) arbeitet. Im elektronischen Teil der Ausgabe können dann die Überlieferungs- und Textgeschichte sehr umfangreich dokumentiert und Varianten ausführlich kommentiert werden; die Materialität der Überlieferung kann man auf diese Weise kostengünstig und multimedial vermitteln.

5 Die Praxis der Editorik oder ‚Arbeit am Text‘ Anhand des im Folgenden ausgebreiteten Beispiels möchte ich verdeutlichen, welche Schwierigkeiten handschriftlich überlieferte Texte aufwerfen können, welche Bedeutung das editorische Geschäft für die Literaturhistoriographie hat und welche Verantwortung ein Editor übernimmt. Walther von der Vogelweide (letztes Drittel 12. bis erstes Drittel 13. Jh.) ist weit über den universitären Raum hinaus als ein berühmter Dichter des Hochmittelalters bekannt – zumeist als Minnesänger; er hat allerdings neben seiner Liebeslyrik auch einen reichen Schatz an politischen und didaktischen Strophen hinterlassen. Walther wird nicht erst seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jh. hochgeschätzt, sondern bereits zeitgenössische Dichterkollegen und wenig später kulturinteressierte Mäzene schätzten seine Kunst.38 Dies zeigt sich deutlich an der reichen handschriftlichen Überlieferung. Die ältesten erhaltenen Textzeugen gehen in das frühe 13. Jh. zurück; die quantitativ dichteste Überlieferung findet sich in der ersten Hälfte des 14. Jhs. – aber auch noch im 15. Jh. begegnen Lieder und Strophen. Auch geographisch ist die Überlieferung bemerkenswert: Wenn auch ein Schwerpunkt im bairisch-alemannischen Raum liegt, so ist doch auffällig, dass einige Handschriften und Fragmente auch im mitteldeutschen und sogar niederdeutschen Raum angefertigt wurden.39 Mit einigem Recht kann man sagen, dass die handschriftliche Überlieferung des Waltherschen Werks paradigmatischen Charakter hat. Fast alle editorischen Probleme lassen sich an ihr aufzeigen: Autorvarianten/Schreibervarianten; Schreib-/

|| 38 Vgl. die folgenden Einführungen: Horst Brunner u. a. (Hgg.): Walther von der Vogelweide; Thomas Bein: „Walther von der Vogelweide and early-nineteenth-century learning“; Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide; Otfrid Ehrismann: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide. 39 Vgl. Erläuterungen und Material dazu bei Thomas Bein: „Walther von der Vogelweide. Schulund hochschuldidaktische Materialien“; ders.: „Grenzen des Edierbaren“.

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Hörfehler; Variationen in der Anzahl und Reihenfolge von Liedstrophen; sprachgeschichtliche und mundartliche Varianzphänomene und manches mehr. Da Walther zu Beginn des 19. Jhs. zu einer Art ,Nationallyriker‘ erklärt wurde,40 fühlten sich Generationen von Philologen aufgefordert, diesem Dichter eine angemessene und ,würdige‘ editorische Aufbereitung seines Werkes zu erarbeiten. Die lange Liste von Walther-Editoren beginnt mit Karl Lachmann, der 1827 die erste Ausgabe herausbrachte. Diese wurde 1930 von Carl von Kraus tiefgehend verändert. 1996 erschien sie als 14., völlig neu bearbeitete Auflage von Christoph Cormeau41, und diese ist von mir 2013 in erneut deutlich veränderter und erheblich erweiterter Form herausgegeben worden42. Damit ist aber nur eine Editionstradition genannt. Es hat zahlreiche andere Walther-Ausgaben gegeben, so im 19. Jh. von Hermann Paul, Franz Pfeiffer und Wilhelm Wilmanns und im 20. Jh. von Friedrich Maurer43 und Günther Schweikle44, um hier nur die wichtigsten zu nennen. Walthers Werk ist von daher auch für die Geschichte der editorischen Methoden ein hervorragendes Beispiel. Vergleicht man nämlich die textkritischen Zugriffe z. B. von Lachmann, Paul und von Kraus miteinander, so kann man sehr deutlich sehen, wie sich editorische ,Ideologien‘ konkret in der Textgestalt der Edition niederschlagen und sodann die textanalytische und literarhistoriographische Arbeit prädisponieren.

5.1 Ein Beispiel aus der Walther von der Vogelweide-Philologie: der Fall des ‚Programmlieds‘ Aller werdekeit ein füegerinne Anhand eines außerordentlich komplexen Falles möchte ich im Folgenden demonstrieren, welchen Phänomenen ein Editor begegnen kann, welche Entscheidungen diese Phänomene von ihm einfordern und welche Auswirkungen die Entscheidungen haben können. Es handelt sich um eines der meist interpretierten Lieder Walthers, das zahlreiche Germanistengenerationen beschäftigt hat. Man hat das Lied weitreichend gedeutet, es als ‚Programmlied‘ stilisiert und ihm für die Geschichte des Minnesangs überhaupt eine zentrale Stellung zugewiesen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das Lied Minnesanggeschichte geschrieben hat: Aller werdekeit ein füegerinne (L. 46,32; Cormeau 23a; Bein 23 in vier Fassungen). Aber schon dieser letzte Satz, in dem von ,das Lied‘ die Rede ist, führt uns unmittelbar in eine heikle Diskussion: || 40 Vgl. Thomas Bein: „Walther von der Vogelweide and early-nineteenth-century learning“. 41 Vgl. Christoph Cormeau (Hg.): Walther von der Vogelweide. 42 Vgl. Thomas Bein (Hg.): Walther von der Vogelweide. 43 Nachweise dieser Ausgaben in Christoph Cormeau [wie Anm. 41] und Thomas Bein [wie Anm. 42]. 44 Vgl. Günther Schweikle (Hg.): Walther von der Vogelweide.

48 | Thomas Bein Handelt es sich denn, wenn man die handschriftliche Überlieferung des Textes anschaut, nur um ein Lied? Sind es nicht zwei Lieder? Oder drei? Oder vier? Oder gar sechs? Und fängt das Lied (welches nun?) eigentlich nicht ganz anders an – nämlich mit der Strophe So die bluomen uz dem grase dringent (L. 45,37; Cormeau 23; Bein 23)? Sobald man sich mit der Überlieferung dieses Falles befasst, wird es zunehmend schwierig, von einem Programmlied zu sprechen, ja vielleicht gar auch schwierig, überhaupt von einem Programm.

5.1.1 Der Textzustand in einer traditionsreichen Walther-Edition Schauen wir uns an, wie Christoph Cormeau in der 14. Auflage der Lachmann-Ausgabe den Fall editorisch behandelt hatte (ich gehe in der 15. Auflage einen völlig anderen und so editorisch noch nie praktizierten Weg – um aber die editorischen Probleme zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, den deutlich konservativeren Zugriff Cormeaus paradigmatisch voranzustellen, der zudem seinerzeit weitgehend die communis opinio darstellte): Unter den Ton-Nummern 23 und 23a ediert Cormeau zwei Lieder in folgender Weise: 23 I

5

10

II

5

Sô die bluomen ûz deme grase dringent, same si lachen gegen der spilden sunnen, in einem meien an dem morgen vruo, und diu cleinen vogellîn wol singent und diu cleinen vogellîn wol singent in ir besten wîse, die si kunnen, waz wunne mac sich dâ genôzen zuo? Ez ist wol halb ein himelrîche. suln wir sprechen, waz sich deme gelîche, sô sage ich, waz mir dicke baz in mînen ougen hât getân und tæte ouch noch, gesæhe ich daz. Swâ ein edeliu schœne frowe reine, wol gecleit unde wol gebunden, dur kurzewîle zuo vil liuten gât, hovelîchen hôhgemuot, niht eine, umbe sehende ein wênic under stunden, alsam der sunne gegen den sternen stât,– Der meie bringe uns al sîn wunder,

45,3745 46,1

46,10

|| 45 Diese Ziffer und die anderen am rechten Rand beziehen sich auf die erste Auflage der WaltherAusgabe, die Karl Lachmann 1827 veranstaltet hatte; die Ziffern geben Seite (Ziffer vor dem Komma) und Zeile (Ziffer nach dem Komma) an und machen die Texte somit eindeutig identifizierbar.

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10

III

5

10

23a I

5

10

II

5

10

waz ist [ ] dâ sô wunneclîches under als ir vil minneclîcher lîp? wir lâzen alle bluomen stân und kapfen an daz werde wîp.

Nû wol dan, welt ir die wârheit schowen, gên wir zuo des meien hôhgezîte! der ist mit aller sîner krefte komen. seht an in und seht an werde frowen, wederz dâ daz ander überstrîte. daz bezzer teil, daz hân ich mir genomen. Owê, der mich dâ welen hieze, daz ich [ ] daz eine dur daz ander lieze, obe ich ze rehte danne kür? hêr Meie, ir müesent merze sîn, ê ich mîne frowen dâ verlür.

46,21

Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze. er sælic man, der iuwer lêre hât! der endarf sich iuwer niender inne weder ze hove schamen noch an der strâze. dur daz sô suoche ich, frowe, iuwern rât, Daz ir mich ebene werben lêret. wirb ich nider, wirb ich hôhe, ich bin versêret. ich was vil nâch ze nidere tôt, nû bin ich aber ze hôhe siech: unmâze enlât mich âne nôt.

46,32

Nidere minne heizet, diu sô swachet, daz der muot nâch kranker liebe ringet. diu minne tuot unlobelîche wê. hôhe minne reizet unde machet, daz der muot nâch hôher wirde ûf swinget. diu winket mir nû, daz ich mit ir gê. Mich wundert, wes diu mâze beitet. kumt diu herzeliebe, ich bin iedoch verleitet: mîn ougen hânt ein wîp ersehen, swie minneclich ir rede sî, mir mac doch schade von ir geschehen.

47,5

47,1

Textfassung nach *BCE II‘

5

Nideriu minne heizet, diu sô swachet, daz der lîp nâch kranker liebe ringet. diu liebe tuot unlobelîchen wê. hôhe minne heizet, diu dâ machet, daz der muot nâch werder liebe ûf swinget.

47,5

50 | Thomas Bein

10

diu winket mir nû, daz ich mit ir gê. Nû enweiz ich, wes diu mâze beitet. kumet herzeliebe, sô bin ich verleitet. mîn ougen hânt ein wîp ersehen, swie minnecliche ir rede sî, mir mac wol schade von ir geschehen.

Die Differenzierung der Nummerierung in 23 und 23a bedeutet Folgendes: Cormeau hat jeden Ton46 mit einer neuen Ordnungsnummer versehen. Das heißt: Zeigt sich bei einem Strophenkomplex eine neue metrische Bauform (anderer Strophenumfang, anderes Reimschema, andere Versmetrik [Taktanzahl], ggf. auch abweichende Kadenzen), so wird ihr eine neue Nummer zugewiesen. Für den Minnesang bedeutet dies, dass jeweils ein neues, anderes ‚Lied‘ vorliegt. Die Tatsache aber, dass das Lied Aller werdekeit nicht die Ordnungsnummer 24 erhalten hat, ist damit zu erklären, dass der Herausgeber Cormeau (und mit ihm einige andere) der Meinung ist, dass die metrischen Differenzen zwischen dem Lied Sô die bluomen (23) und dem Lied Aller werdekeit (23a) nicht sehr ausgeprägt seien, dennoch aber vorhanden: Der jeweils 8. Vers der Aller werdekeit-Strophen weise sechs Hebungen auf, während der 8. Vers der Sô die bluomen-Strophe nur fünfhebig sei. – Soweit also ein editorisch aufbereiteter Textzustand.

5.1.2 Die ‚Lieder‘ in den Handschriften Betrachten wir nun die handschriftliche Überlieferung. In sechs Textzeugen (im Bereich der Lyrik ist das sehr viel!) sind Strophen der beiden oben genannten Töne überliefert: Jeweils fünf Strophen überliefern A, B, C und E.47 Vier Strophen tradiert F48, knapp zwei Strophen (fragmentarisch) N49. Aufgrund des fragmentarischen Charakters von N und der äußerst schlechten Textqualität von F blende ich diese Zeugen im Folgenden aus und konzentriere mich auf die Überlieferung von A, B, C

|| 46 Mit dem Begriff ,Ton‘ ist in der mediävistischen Lyrikphilologie das Zusammenspiel von Text, Textmetrik und Musik gemeint. Es handelt sich also um einen Formbegriff. Innerhalb des Minnesangs verhält es sich fast durchgängig so, dass ein Ton gleichbedeutend mit ,Lied‘ ist, d. h., dass in der Regel drei bis fünf Strophen ein Minnethema behandeln. In der Sangspruchdichtung allerdings, in der man ohnehin nicht von Liedern spricht, werden auch thematisch sehr unterschiedliche Strophen in einem Ton gedichtet. 47 Die kleine Heidelberger Liederhandschrift A (um 1270), die Weingartner Liederhandschrift B (1. Viertel 14. Jh.), die Große Heidelberger Liederhandschrift C (1. Drittel 14. Jh.) und die Würzburger Liederhandschrift E (Mitte 14. Jh.). 48 Weimarer Liederhandschrift (15. Jh.). 49 Kremsmünsterer Liturgie-Handschrift (2. Hälfte 13. Jh.).

Editionsphilologie | 51

und E.50 Um sich ein klares Bild von den überlieferten Textzuständen zu machen, empfiehlt es sich, eine diplomatische Transkription anzufertigen, d. h. eine sehr nah an den Handschriften orientierte Abschrift in modernen Drucktypen (allerdings unter Beibehaltung von Sonderzeichen und anderen Eigentümlichkeiten):51 Handschrift A: So die blNmen vs deme graze dringent _ame _i lachent gegen der _pilden _vnnen in eineme meien an dem morgen vro Å v] die cleinen vogelliv wol _ingent in ir be_ten wi_e die _i kvnnen wc wunne mac _ich da genozen zN ez i_t wol halb ein himelriche _vln wir _prechen waz _ich deme geliche _o _age ich waz mir dikke baz in minen ovgen hat getan v] tete och noch gi_ehe ich dc. Swa ein edeliv _chone frowe reine Å wol gecleit v] wol gebvnden dvr kvrze wile zN vil lPten gat Å hovelichen hochgemNt niht eine ein wenic vmbe _ehende vndr _tvnden Å al_am dr _vnne gegen den _ternen _tat Å dr meie bringe vns al_in wundr waz i_t denne da _o wunnecliches vndr al_ ir vil minneclicher lip Å wir lazen alle blNmen _tan v] kapphen an dc wrde wip Å Nv wol dan welt ir die warheit Å _chowen gen wir zN des meien hochgezite dr i_t mit aller _iner crefte ko^ Å Seht an in v] _eht an wrden frowen weder_ da dc ander vbr_trite dc bezer teil dc han ich mir genomen. owe dr mich da weln hiezi dc ich da dc eine dvr dc andrliezi obe ich ze rehte danne kvre her mei [?] ir mvzent mrze _in ê ich mine frowen da verlvre.

|| 50 Vgl. weitere Erläuterungen zur Überlieferungslage bei Thomas Bein (Hg.): Walther von der Vogelweide, 606–608. 51 Häufig: _=s; N= uo; F=üe; ]=nd(e); r=er; 0=in/im; )=en/em; H=un/um; dc=daz; seltener: ^=men.

52 | Thomas Bein Aller werdecheit ein vFgerin ne dc _it ir zware frowe mazze er _elic man der ivwer lere hat der endarf _ich ivwer niendr inne werdr zehove _chamen noch andr _traze Å dvr dc _Nche ich frowe ivwern rat dc ir mich ebene werben leret Å wirb ich nider wirb ich nidr wirb ich hohe ich bin vr_eret ich wc vil nach zenidere tot nv bin ich abr zehohe _iech vnmaze en lat mich ane not Å Nidere minne heizet div _o _wachet dc der mNt nach kranker liebe ringet div minne tNt vn lobeliche we Å hohe minne reizet v] machet dc der mNt nach hoher wurde vf _winget div winket mir nv dc ich mit ir ge Å mich wundert we_ div maze beitet Å kvmpt div hrzelibe ich bin iedoch vrleitet m0 ovgen hant ein wip er _ehen _wie minneclich ir rede _i mir mac doch _chade v@ ir ge_chehen Handschrift B: So die blNmen vs dem gra_e dringen _am _P lachen gen der _pilden _vnnen Å in ainem maien gen dem morgen frN Å v] dP clainen vogellin wol _ingen Å in ir be_ten wi_e die _P kvnn) Å was wunne kan _ich da gelichen zN es i_t wol halb ain himelriche nv _prechent alle was _ich dem geliche. _o _age ich was mir dikke bas in minen ?gen hat getan v] t+te ?ch noch ge_+he ich das. Swa ain edeliP vrowe _ch=ne raine Å wol geclait v] wol gebvnden Å dvrch kvrzewile zN vil lPten gat Å houelichen hohgemNt niht aine Å vmbe _ehende ain wenig vnder_tvnden Å al_e die _vnne gen den _ternen _tat Å der maie bringe Pns al _in wunder Å was i_t danne da _o wunnecliches vnder Å al_e ir vil minneclicher lip Å wir la__en alle blNmen _tan v] kapfen an das werde wip Å

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Nv wol vf wend ir die warhait Å _chowen Å _o gen wir zN des werden maien hohgezit Å der i_t mit aller _iner wunne komen Å nv _eht an in v] _eht an _ch=ne vrowen Å weders hie das ander Pber_trit Å ob ich das weger . _pil iht habe genomen. ahi der mich hie welle nie__en. das ain ich dvrch das andr lie__en. wie _chiere ich das aine fPr das ander kvr. her maie ir mM_ent merze _in e ich mine vrow) hie verlvr. Aller werdekait ain fMgerinne das _int ir zware vro ma__e Å ain _+lig man der Pwer lere hat Å der darf _ich Pwer niht be_chamen Å inne ze hove noch an der _tra__e Å dvrch das _o _Nch ich Pweren rat Å das ir mich ebene werbent [t unterpunktet] lerent [n unterpunktet]Å wirbe ich nider wirbe ich hoh ich bin ver_eret Å ich was vil nach ze nidere tot Å nv bin ich aber ze hohe _iech Å vnma__e ir lant mich niender an not Å NiderO minne hai__et dO _o _wachet Å das der lip nach kranker liebe ringet Å dO liebe tNt vnlobelichen we Å hohe minne hai__et dO da machet Å das dr mNt nach werder liebe vf _winget Å dO winket mir nv das ich mit ir ge Å nv en wais ich wes dO ma__e baitet Å kvmet hrze liebe _o ich bin verlaitet Å min ?gen hant ain wip er_ehen Å _wie minnecliche ir rede _i mir mag wol _chade von ir ge_chehen Å Handschrift C: So die blNm) v_ dem gra_e dring)t Å _am _i lachen gegen dem spilnden _vnnen Å in einem meien an dem morg) frG Å v] die klein) vogellin wol _ing)t Å in ir be_ten wi_e die _ie kvnn) Å wHne kan _ich da gelich) zN Å es i_t wol halb ein himelriche Å nv _prech)t alle was _ich dem geliche Å _o _age ich wc mir dike bc Å 0 minen ?gen hat getan v] tete ?ch noh ge_ehe ich das Å

54 | Thomas Bein Swa ein edeliv frowe _ch=ne reine Å wol bekleit v] dar zN wol gebvnden Å dvr kvrze wile zN vil lút) gat Å hovelich) hoh gemNt niht eine Å vmbe _ehende ein wenic vnder _tvnd) Å al_am dr _vnne gegen d) _ternen _tat Å der meie bringet vns al _in wunder Å wc i_t da _o wHnekliches vnder Å als ir vil m0neklicher lib Å wir la__en alle blNm) _tan v] kapfen an dc wrde wib Å Aller wrdekeit ein fFgerinne Å dc _it ir zeware frowe ma__e Å ein _elig man der ùwer lere hat Å der darf _ich iwer niht be_cham) inne Å beide zehove noch ?ch an der _tra__e Å dvr dc _o _Nche ich iemer iweren rat Å dc ir mich ebene werben leret Å wirbe ich nidere wirbe ich hoh ich bin vr_eret Å ich wc vil nach ze nidere tot Å nv bin ich aber ze hohe _iech Å vnma__e ir la__et mich an not Å Niderù m0ne hei__et dO _o _wachet Å dc der lib nach kranker liebe ringet Å dù liebe tGt vnlobeliche we Å hohe m0ne hei__et dO dc machet Å dc dr mNt nah wrder liebe vf _w0get Å dO w0ket nv dc ich ir mitte ge Å nvn weis ich wes div ma__e beitet Å kvmt hrzeliebe _o bin ich vrleitet Å doch hat min lib ein wib er_ehen Å _wie m0nekliche ir rede _i mir mac wol _chade v@ ir ge_chehen Å Set _am mir welt ir die warheit _chowen Å gen wir zN des meien hohgezite Å der i_t mit aller _iner wHne kom) Å _eht an in v] _eht an wrde frow) Å weder _pil dc ander vber _trite Å dc weger _pil ob ich dc han genom) Å v] der mich danne wellen hie__e Å dc ich dc eine dvr dc ander lie__e Å ahy wie _chiere ich danne kPr Å her meie ir mM_tent mrze _in e ich min frowen da verlúr Å

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Handschrift E: So die blGmen va dem gra_e dringen Å _ame _ie lachen gen dr _pilenden _unnen Å in einem meyen an dem morgen frG Å v] die clein) vogellin _ingen Å in ir be_ten wi_e die _ie kFnnen Å waa wunne mac sich da glichen aN Å ea i_t wol halb ein hymelriche Å _Fln wir _prechen waa _ich dem geliche Å _o _age ich lihte waa mir baa Å in minen aug) hat getan Å v] tete noch Å ge_ehe ich daa Swa ein edele frauwe _chone v] reine Å wol gecleidet v] gebunden niht eine Å intendierte Reimgrenzen durch kFrtae wile aN vil lFten gat Å unklar h=felichen wol gemGt vmbe_ehen ein cleine vnder _tunden als die _unne gein d) _terne _tat Å der meye bringe vns al _in wunder Å waa i_t da _o wunderliches vnder Å als ir vil wunnenclicher lip Å wir laaaen alle blGm) _tan Å vn kaffen an daa werde wip Å Aller werdekeit ein fFgerinne Å _it ir aware frauwe maaae Å er _elic man der Mwer lere hat Å der endarf _ich nimmr mer ge_chamen ae hofe noch aN _traaae Å des _Fche ich frauwe auch gerne Owern rat Å daa ir mich ebene werben leret Å wirbe ich hohe wirbe ich nider ich bin ver_eret Å ich was vil nach ae nider tot Å nu bin ich ae hohe _iech Å vmmaaae la mich ane not Nider minne heiaaet die da _wachet Å daa der lip nach kranker liebe ringet dF minne tGt vnlobelich we Å hohe minne [freier Raum für etwa 7–8 Buchstaben] heiaaet die daa machet Å daa der mGt _o hohe _tiget Å die wFnschent mir daa ich mit ir ge nu enweia ich wes die maaae beitet Å kummet die hertaeliebe ich bin vrleitet Å min auge hat ein wip er_ehen Å _wie minneclich ir rede _i Å mir mac wol _chade von ir ge_chehen.

56 | Thomas Bein Wol dan ir _Flt die warheit Å _chauwen Å ge wir aN des meyen hochgeaiten Å der i_t mit aller _iner _ch=ne kumen Å _eht an in v] _eht an _ch=ne frauwen Å weder ir daa ander da wider _trite Å daa be_te _pil ob ich daa habe genumen owe der mich da weln lieaae Å daa eine ich durch daa andr lieaae Å owe wie rehte _chier ich denne kFre Å her mey ir mF_tet merae _in Å e ich min frauwen da verlFre

Zunächst bringt ein Vergleich ans Licht, dass alle vier Handschriften fünf Strophen tradieren – allerdings nicht in gleicher Reihenfolge: Es sind dies die Strophen So die bluomen, Swa ein edeliu, (Nu) wol dan (uf) (Set sam mir),52 Aller werdekeit und Nidere minne.53 Handschriften A und B

Handschriften C und E

So die bluomen Swa ein edeliu Nu wol dan Aller werdekeit Nidere minne

So die bluomen Swa ein edeliu Aller werdekeit Nidere minne Nu wol dan

Die Handschriften – und das ist besonders wichtig – überliefern alle fünf Strophen als ein Lied, als einen Ton. Eindeutig gilt das für die Handschriften C und E, denn C zeichnet alle fünf Strophen mit roten Lombarden (Anfangsbuchstaben) aus – erst beim folgenden Lied wechselt die Farbe zu Blau – in C ein Auszeichnungsprinzip, um Töne voneinander zu trennen. Im Falle der Handschrift E wird unser Lied von zwei Autornamen (Walther von der Vogelweide) ‚gerahmt‘ – Zeichen dafür, dass eine Liedeinheit vorliegt).54 Bei den Handschriften A und B gibt es eine solche positive Liedauszeichnung nicht, es spricht aber alles dafür, dass auch sie die in Frage stehenden Strophen als Liedeinheit (will heißen: Toneinheit) verstanden haben. Die Walther-Philologie (insb. die zahlreichen Editoren) hat das mit ganz wenigen Ausnahmen nicht akzeptiert und den überlieferten Strophenverband auseinander gerissen und daraus zwei Lieder gemacht, ein dreistrophiges Lied (So die bluomen, Swa || 52 Die Klammern geben einen handschriftlich variierenden Strophenbeginn an. 53 Es empfiehlt sich, die Strophen im Folgenden nicht zu nummerieren, sondern über ihre Eingangsworte zu identifizieren. 54 Dem scheint das Prinzip zu Grunde zu liegen, dass jeweils zu Beginn eines Liedes der Autorname gesetzt worden ist.

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ein edeliu und Nu wol dan) und ein zweistrophiges (Aller werdekeit und Nidere minne).

5.1.3 Minnediskurse und fehlende Takte Um die Gründe nachvollziehen zu können, derentwegen viele Walther-Editoren von zwei Liedern ausgehen, ist es nötig, den Inhalt des Textes/der Texte in Augenschein zu nehmen (im Folgenden Kurzparaphrasen): – – – –



So die bluomen: Preis des Monats Mai mit seinem schönen Naturschauspiel. Frage des sprechenden Ichs, was diese Schönheit überbieten könnte. Swa ein edeliu: Antwort auf die in der ersten Strophe gestellte Frage: Eine schöne und ethisch vollkommene, vornehme Dame setzt den Mai schachmatt. Nu wol dan (Set sam mir): Inszenierung eines Wettstreits zwischen Mai und frowe. Das sprechende Ich wird sich immer für die Dame entscheiden. Aller werdekeit: Preis der Allegorie der Frau Maze. Bitte des Ich, maßvoll – zwischen den Extremen der hohen und nideren Minne, die es beide kennen gelernt hat, – werben zu lernen. Nidere minne: ‚Definition‘ der niederen und der hohen Minne. Die hohe Minne möchte das Ich entführen; das Ich wundert sich, warum die Maze zögert einzuschreiten. Die vv. 8–10: „Wenn die herzeliebe kommt, bin ich (trotzdem, dennoch) in die Irre geführt. Mein(e) Auge(n)/ich habe(n) eine Frau erblickt, wie lieblich/liebreizend sie auch sprechen mag, mir kann doch Schaden durch sie widerfahren“.

Interpretatorisch unproblematisch sind die Strophen So die bluomen, swa ein edeliu und Nu wol dan: eine dreistrophige unspektakuläre Einheit, recht traditionell. Die beiden übrigen Strophen sind deutlich anspruchsvoller, unkonventioneller und haben ein anderes Thema: Minnedidaxe und Minnereflexion. Zum einen haben die thematischen Differenzen zwischen diesen beiden Strophen und den drei anderen das Gros der Walther-Forscher dazu bewogen, von zwei Liedern auszugehen, die aufgrund von fehlerhaften Überlieferungsprozessen ineinandergeflossen seien. Zum anderen wollte man metrische Differenzen zwischen beiden Strophenkomplexen festgestellt haben: Die ersten drei Strophen hätten einen fünfhebigen 8. Vers, die anderen beiden einen sechshebigen. Diese Differenzen wurden allerdings konjektural55 verstärkt – also manipuliert – und zwar genau im jeweils 8. Vers der Strophen

|| 55 Konjektur: Ein Eingriff des Editors in den handschriftlich verbürgten Text, den er für ‚verderbt‘ (= fehlerhaft) ansieht.

58 | Thomas Bein (dies zeigen oben im Text der Cormeau-Edition die eckigen Klammern im 8. Vers der Strophen II und III von Ton 23 – hier wurde handschriftlicher Text eliminiert). Die Isolierung eines zweistrophigen Liedes (Aller werdekeit) war damit vollzogen – und dieses schrieb nun Literaturgeschichte! Hier vermutete man eine Grundsatzdebatte: Walthers Auseinandersetzung mit dem ‚Hohen Minnesang‘ und eine womöglich intratextuelle Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Versuchen zur nideren minne. Dieser autoreflexive Diskurs sollte schließlich in die Konzeption einer ganz neuen Art von Minne münden: die herzeliebe, ein Begriff, der schließlich noch eine wichtige Rolle spielte bei der Konstruktion einer Subgattung im Waltherschen Minnesang, der sog. ‚Mädchenlieder‘, von denen sich der Dichter nun wieder distanziert und sich einer ‚neuen hohen Minne‘ zugewandt habe .56

5.1.4 Varianten ohne Ende Die künstliche Isolierung eines zweistrophigen Programmliedes war/ist fatal, denn ein genaues Studium der Überlieferung zeigt, dass der Fall viel komplizierter ist als allgemein angenommen und dass die Literaturgeschichtsschreibung, die meist wieder Quelle für größere kulturhistorische Arbeiten ist, diese Situation viel intensiver zu reflektieren hätte.57 Wie erwähnt, zeigt ein Vergleich der Handschriften zunächst, dass die fünf Strophen in den vier Handschriften unterschiedlich gereiht sind, wobei sich zwei Stränge differenzieren lassen: die Handschriften AB auf der einen und die Handschriften CE auf der anderen Seite. Allein von der Strophenfolge ausgehend, könnte ein Stemma wie in der folgenden Grafik dargestellt aussehen: *AB

*CE

(= Quelle für A und B)

Handschrift A

Handschrift B

(= Quelle für C und E)

Handschrift C

Handschrift E

Abb. 2: Stemma

|| 56 Vgl. die in den Personalbibliographien von Scholz (1969, 2005, 2010) verzeichneten Forschungsbeiträge. 57 Vgl. zur Forschungsgeschichte v. a. Kurt Ruh, Günther Schweikle, Hubert Heinen, Antonin Hrubý und zuletzt Elmar Willemsen: Walther von der Vogelweide, 109–130 (dort auch Zusammenfassung der Forschungsgeschichte).

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Die Schlichtheit der Grafik täuscht allerdings; der Fall ist weitaus komplexer, wenn man die große Menge an Textvarianten mitberücksichtigt. Ich demonstriere dies hier nur am Beispiel einer Strophe in vier Handschriften (Varianten, die über bloße Graphemdifferenzen hinausgehen, sind fett und unterstrichen hervorgehoben): A

B

Nv wol dan welt ir die warheit Å _chowen

Nv wol vf wend ir die warhait Å _chowen Å

gen wir zN des meien hochgezite

_o gen wir zN des werden maien hohgezit Å

dr i_t mit aller _iner crefte ko^ Å

der i_t mit aller _iner wunne komen Å

Seht an in v] _eht an wrrden frowen

nv _eht an in v] _eht an _ch= =ne vrowen Å

weder da dc ander vbrr_trite

weders hie das ander Pber_trit Å

dc bezer teil dc han ich mir genomen .

ob ich das weger . _pil iht habe genomen .

owe dr mich da weln hiezi

ahi der mich hie welle nie___en .

dc ich da dc eine dvr dc andrliezi

das ain ich dvrch das andr lie__en .

obe ich ze rehte danne kvre

wie _chiere ich das aine fP Pr das ander kvr .

her mei [?] ir mvzent mrze _in

her maie ir mM_ent merze _in

ê ich mine frowen da verlvre.

e ich mine vrow) hie verlvr.

C

E

Set _am mir welt ir die warheit _chowen Å

Wol dan ir _Flt die warheit Å _chauwen Å

gen wir zN des meien hohgezite Å

ge wir aN des meyen hochgeaiten Å

der i_t mit aller _iner wH Hne kom) Å

der i_t mit aller _iner _ch= =ne kumen Å

_eht an in v] _eht an wrrde frow) Å

_eht an in v] _eht an _ch= =ne frauwen Å

weder _pil dc ander vber _trite Å

weder ir daaa ander da wider _trite Å

60 | Thomas Bein dc weger _pil ob ich dc han genom) Å

daa be_te _pil ob ich daa habe genumen

v] ] der mich danne wellen hie__e Å

owe der mich da weln lieaaae Å

dc ich dc eine dvr dc ander lie__e Å

daaa eine ich durch daaa andr lieaae Å

ahy wie _chiere ich danne kPr Å

owe wie rehte _chier ich denne kFre Å

her meie ir mM_tent mrze _in

her mey ir mF_tet merae _in Å

e ich min frowen da verlúr Å

e ich min frauwen da verlFre

Es wird sogleich sichtbar, dass das einfache Modell, das sich aufgrund der Strophenfolgevariation ergab, nicht mehr greift. Wenn man alle zwanzig Strophen eingehend variantentypologisch untersucht, ergibt sich ein nicht zu entwirrendes Geflecht von Varianten. Es gelingt nicht, eine stemmatische Linie in die Varianz zu bringen. Es gibt unterschiedliche Paarungen bzw. Dreiungen, die es nicht erlauben, anhand eines Stemmas singuläre Quellen für die heute noch vorhandenen Textfassungen zu postulieren. Diese – im Vergleich zu anderen Fällen – außergewöhnliche Verteilung der Textvarianz muss von daher zeitlich schon vor den angenommenen Quellenkomplexen *AB und *CE entstanden sein, d. h. vor einer schriftlichen Fixierung der Strophenfolgen, wie sie sich in AB auf der einen und CE auf der anderen Seite finden. Der Text muss schon lange vor den uns bekannten schriftlichen Zuständen ein sehr bewegtes Leben gehabt haben. Es präsentiert sich uns eine gewaltige Portion Textdynamik – die in den meisten Editionen aber regelrecht zerstört worden ist und dann auch nicht mehr auf Interpretationen und in Literaturgeschichten Auswirkungen haben konnte. Diese Dynamik kann man nun noch weiter und feiner analysieren. Im Folgenden die wichtigsten Ergebnisse: Metrikvarianz: Es zeigt sich, dass die Metrik in den ersten beiden Strophen von 23 in allen Handschriften weitestgehend stabil ist. Aber bereits die dritte Strophe zeigt auffällige Instabilitäten. Die Strophen I und II von 23a ähneln diesem Bild: Instabile Metrik, aber nicht konsequent in allen Handschriften: 23: 8. Vers in A: Str. I: 5 h; Str. II: 6 h; Str. III: 6 h 8. Vers in B: Str. I: 6 h; Str. II: 6 h; Str. III: 4 h 8. Vers in C: Str. I: 6 h; Str. II: 5 h; Str. III: 5 h 8. Vers in E: Str. I: 5 h; Str. II: 5 h; Str. III: 4 h 8. Vers in F: Str. I: fehlt; Str. II: 5 h; Str. III 6 h

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8. Vers in N: Str. I: 5 h [andere Strophen fehlen; II nur Fragment] 23a: 8. Vers in A: Str. I: 7 h; Str. II: 6 h 8. Vers in B: Str. I: 6 h; Str. II: 5 h 8. Vers in C: Str. I: 6 h; Str. II: 5 h 8. Vers in E: Str. I: 6 h; Str. II: 6/5 h 8. Vers in F: Str. I: 6 h; Str. II: 6 h Dies zeigt m. E., dass das Form-Argument der Forschung nicht wirklich greift: Nicht nur die beiden sog. ‚Programm-Strophen‘ (23a) weisen metrische Varianten auf, sondern auch die Strophe Nu wol dan – und alle Varianten changieren von Handschrift zu Handschrift. Textvarianz: Auch hier ein bemerkenswerter Befund: Die Textvarianz in den ersten beiden 23Strophen ist relativ gering und berührt semantische Bereiche nicht (Präpositionen, Präteritopräsentien, lexikalische Synonyme). Deutlich anders ist das Bild in der dritten Strophe (Nu wol dan): Schon quantitativ begegnen viel mehr Textvarianten (sogar am Strophenbeginn!), die zudem semantisch relevant sind, wie z. B.: kraft vs. wunne; teil vs. spil. Diese Tendenz bei der Textvarianz setzt sich deutlich in den beiden 23a-Strophen (Aller werdekeit/nidere minne) fort: Hier finden sich, besonders in der nidere minne-Strophe umfangreiche lexikalische Varianten mit semantischer und rhetorischer Relevanz, so insb. minne vs. liebe oder würde vs. liebe. Wie lassen sich solche Befunde deuten? Ich denke, dass wir es hier mit einem mittelalterlichen work in progress zu tun haben. Die beiden Strophen So die bluomen und Swa ein edeliu scheinen mir den Liedkern, eine Art Basis, zu bilden. Es sind ‚fertig gewordene‘ Texte, die von daher eine recht große Stabilität, auch im metrischen Bereich, aufweisen. Diese Strophen mögen auch für sich ein erstes Textleben (Aufführung) gehabt haben, denn sie bilden durchaus eine in sich geschlossene Sinneinheit. Ein- oder zweistrophige Lieder sind gattungsgeschichtlich betrachtet eine frühe Erscheinung; um 1200 herum überwiegt deutlich eine Strophenanzahl zwischen drei und fünf je Lied. Es ist also möglich, dass Walther – durchaus in einem größeren zeitlichen Abstand – eine dritte Strophe (Nu wol dan/Set sam mir) in Angriff nahm, weil Lieder inzwischen länger zu sein hatten. Diese Strophe bringt inhaltlich wenig Neues, sondern variiert das Thema der zweiten Strophe aus einer IchPerspektive. Diese Erweiterung ist deutlich instabiler als die ersten beiden Strophen, ein Anzeichen dafür, dass die ‚Arbeit am Text‘ noch nicht beendet war, eine Arbeit, die sich mit zwei weiteren Erweiterungsstrophen schließlich fortsetzt. Auch hier ein hartes Ringen um Worte und Formulierungen (umfangreiche Textvarianz – s. o. die Synopsen der Handschriften A, B, C, E) und möglicherweise ein Ausprobieren, wie

62 | Thomas Bein man die neuen Strophen am besten arrangiert: Lässt man sie am Ende, wie in den Handschriften A und B, dann könnte vielleicht intendiert gewesen sein, dem Publikum zunächst etwas recht Konventionelles und Traditionelles zu präsentieren: Jahreszeitentopos gepaart mit Liebesthematik. Dann aber das überraschende Ende: die Diskussion um das rechte Umgehen mit der Wahl, die das Ich treffen musste, mit der Frau und der Liebe. Oder sollte man die Theorie-Strophen besser in das Traditionsgerüst integrieren, wie es die Handschriften C und E zeigen? Verstehen kann man auch das, z. B. im Sinne einer Revocatio: Mâze-Allegorie hin, Mâze-Allegorie her: Am Ende siegt das Bild der Frau, sie sticht alles, auch die Schönheiten der Natur, aus. Insb. in dieser Reihung verlieren die sog. ‚Programmstrophen‘ an Tiefe und der große Ernst, der vom Gros der Walther-Forscher festgeschrieben wurde, relativiert sich.58 Es fragt sich, wer hier gearbeitet hat und wohl nicht fertig geworden ist. Vielleicht der Autor Walther von der Vogelweide selbst – wenngleich man dies niemals wird beweisen können. Allerdings sind die Varianten in der Mehrheit solche, die ich nicht mit guten Gründen als Überlieferungsvarianten (Eingriffe von Schreibern oder Redaktoren) abtun kann. Es gibt viele andere Fälle, bei denen wir deutlich sehen können, dass Varianz z. B. sprachgeschichtlich begründet ist oder – im Falle der politischen Lyrik – dass sie zu tun hat mit Entaktualisierungsphänomenen. Fast nichts davon trifft für unseren Fall zu. Die allermeisten Varianten können bereits einer ganz frühen Phase der Textgenese angehören. Wie auch immer man aber solche Fragen nach den Urhebern von Varianten beantworten mag – als wesentliche Lehre aus diesem Fall bleibt: Der Literarhistoriker, ja auch der Kulturhistoriker – erinnert sei an Norbert Elias und seine Interpretationen des Minnesangs59 –, der sich mit der Geschichte und Ideologie des Minnesangs befasst und diese darstellen möchte, muss die Auffälligkeiten und Merkwürdigkeiten seiner Quellen im Auge behalten. Für unseren Fall gesprochen heißt das: Er darf nicht von einem zweistrophigen Programmlied der Minnekultur ausgehen – es spricht nichts dafür, dass es ein solches jemals gegeben hat. Was es gegeben hat, das sind thematische Ideen und Entwürfe, einmal so, einmal anders formuliert, sowie Versuche rhetorischer Arrangements. In der von mir besorgten 15. Auflage der Lachmannschen Walther-Ausgabe, die an der 14. von Cormeau zwar anknüpft, aber sehr weit gehende Veränderungen mit sich bringt,60 bin ich dem Fall editorisch grundlegend anders begegnet: Es werden vier Fassungen ediert – je eine nach A, B, C und E; die Varianten von F und N werden der A-Fassung zugeordnet. Auf diese Weise kann sich ein Benutzer der Edition ein deutliches Bild von der Überlieferung der Texte machen und auf der Basis der

|| 58 Vgl. auch den forschungskritischen Beitrag von Peter Kern: „Aller werdekeit ein füegerinne“. 59 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. 60 Vgl. Thomas Bein (Hg.): Walther von der Vogelweide.

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unterschiedlichen Strophenfolgen sowie der lexikalischen Varianten neue Studien anstellen.

6 Schlussbemerkung Am Anfang dieses Beitrags war vom Editor als einem ,Herrn der Texte‘ die Rede. Das Beispiel aus der Walther von der Vogelweide-Philologie sollte deutlich gemacht haben, wie dieser etwas provokante Titel zu verstehen ist. Der Editor hat als erster Kontakt mit den Quellen. Seine Aufgabe ist es, diese Quellen bekannt zu machen, damit die wissenschaftliche Gemeinschaft mit ihnen arbeiten kann. Das Bekanntmachen der Quelle bedeutet immer Manipulation der Quelle. Selbst eine fotografische Reproduktion kann niemals das Original ersetzen, es findet immer schon eine Informationsreduktion statt (z. B. dadurch, dass ein Foto die Materialität einer Pergamenthandschrift nicht wiedergeben kann). Es gibt allerdings deutlich unterschiedliche Grade der Manipulation. Dies zeigt die Fachgeschichte eindringlich. Mit Blick auf unser aktuelles geisteswissenschaftliches Selbstverständnis müssen die intersubjektiv kaum vermittelbaren Textrekonstruktionen des 19. Jhs. als verfehlt angesehen werden. Ihr manipulatives Potenzial war zu groß und enthielt der interpretierenden Wissenschaft zu viel Material vor. Mit Blick auf die in historischen Texten verborgene Kultur ist es wohl als Fortschritt anzusehen, dass sich die gegenwärtige Editionswissenschaft mehr konservierend als restaurierend versteht. Das bedeutet aber nicht, dass der Editor zum Fotografen mutiert wäre. Die Dokumentation von text- und überlieferungsgenetischen Prozessen erfordert eine hohe philologische Kompetenz in zahlreichen Teildisziplinen. Die Verantwortung des Editors war schon immer eine bedeutende. Daran hat sich nichts geändert, seine Arbeit ist allerdings für die Benutzer deutlich transparenter geworden.

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Elke Koch

Emotionsforschung 1 Mediävistische Emotionsforschung als Teil eines multidisziplinären Feldes Um einem Missverständnis vorzubeugen: ‚Emotionsforschung‘ bezeichnet keine Wissenschaftsdisziplin, auch keinen Ansatz mit einheitlicher theoretischer Fundierung. Vielmehr handelt es sich um ein multidisziplinäres, unscharf abgegrenztes und heterogenes Feld, das durch die thematische Klammer des Forschungsgegenstandes der Emotionen zusammengefasst wird, wobei die Bezeichnung ‚Emotionen‘ als allgemeiner Sammelbegriff fungiert und für unterschiedliche theoretische Bestimmungen offen ist. Da Emotionen auch als sozial und sprachlich vermittelte Phänomene aufgefasst werden, nicht nur in kulturwissenschaftlichen Ansätzen, sondern auch in kognitionswissenschaftlichen Emotionsmodellen, bilden Fragestellungen zu historischen Emotionskulturen und zur Rolle, die Literatur darin hat, einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt von Emotionsforschung.1 Unter diesen Sammelbegriff fallen somit auch Fragen nach Emotionsdiskursen, dem Gefühlswortschatz unterschiedlicher Sprachen oder dem Status von Emotionen in Rhetorik und Poetik verschiedener Epochen. Unter der Bezeichnung ‚Emotionsforschung‘ sind unterschiedliche Forschungsansätze in einem breiten Spektrum von Disziplinen versammelt, das die sog. Lebenswissenschaften ebenso wie Sozial- und Geisteswissenschaften umgreift und das eine entsprechend große Vielfalt an Konzepten, Leitfragen und Untersuchungsmethoden aufweist. Da emotionsbezogene Forschung in einem je eigenen disziplinären Zusammenhang verankert ist, und zwar vielfach in Disziplinen, in denen über Emotionen seit langem nachgedacht wird, hängt die Frage, ob ein Ansatz im Feld der neueren Emotionsforschung zu verorten ist, nicht zuletzt davon ab, wie sich die jeweiligen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst forschungsprogrammatisch zuordnen. In der mediävistischen Literaturwissenschaft geht eine solche Programmatik mit einer grundsätzlichen Öffnung zu kulturwissenschaftlichen Frage-

|| 1 Vgl. das Themenspektrum der ersten Ausgabe der interdisziplinären emotionswissenschaftlichen Zeitschrift Emotion Review aus dem Jahr 2009: Die Aspekte Sprache und Literatur werden durch Beiträge von Anna Wierzbicka und Keith Oatley mit den entsprechenden Kommentarbeiträgen als Felder der Debatte ausgewiesen; vgl. die neuere Monographie von Monika Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion.

68 | Elke Koch stellungen einher2 sowie mit der Bereitschaft, ggf. auch dem Anspruch, zum interdisziplinären Projekt der Erforschung von Emotionen und ihrer Historizität beizutragen.3 Damit sind grundsätzliche erkenntnistheoretische Vorentscheidungen getroffen, zumindest die Annahme, dass literarische Texte und ihre Überlieferung trotz der ihnen eigenen Bedingungen und Möglichkeiten keine Sonderwelt bilden, die nur für Fragestellungen aufgeschlossen werden kann, welche einzig und allein deren Eigengesetzlichkeit betreffen. Wie diskurstheoretische und historisch- bzw. literaturanthropologische Ansätze oder solche der Gender-Forschung, mit denen sie methodische und thematische Schnittfelder aufweist, begreift mediävistische Emotionsforschung Literatur als kulturelles Feld eigener Verfasstheit, das mit anderen kulturellen Feldern (wie Wissensordnungen, sozialen Praktiken, anderen Künsten u. a.) in Wechselwirkung steht. Der Bereich der Emotionen bildet vor diesem Hintergrund einen thematischen Fokus.

2 Emotionen als Thema in der Mediävistik Das Feld der interdisziplinären Emotionsforschung wird zunehmend unübersichtlicher, da das Thema in vielen Einzeldisziplinen seit einigen Jahren ein großes Interesse erfährt. Die Zahl der Veröffentlichungen, die einen Bezug zum Thema aufweisen, hat sich in der jüngsten Zeit exponentiell gesteigert. Dies gilt auch für den Bereich der mediävistischen Forschung, seit sowohl in der Geschichts- als auch in der Literaturwissenschaft Emotionen als eigenes Untersuchungsfeld etabliert worden sind;4 hinzu kommt die Philosophiegeschichte, in der historische Emotionstheorien

|| 2 Zur kulturwissenschaftlichen Ausrichtung literaturwissenschaftlicher Emotionsforschung in der Mediävistik Annette Gerok-Reiter: „angest/vorhte – literarisch“. 3 Mit dieser Ausrichtung nimmt die Mediävistik an einem Projekt teil, das auch in der neueren Literaturwissenschaft verfolgt wird; vgl. etwa Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten (Hgg.): Emotionalität. 4 Dies zeigt die Vielzahl von Sammelbänden und Sonderheften aus den vergangenen Jahren, die teils unter geschichtswissenschaftlicher Ägide entstanden, teils primär literaturwissenschaftlich ausgerichtet sind. Für den deutschsprachigen Bereich vgl. Bele Freudenberg (Hg.): Zorn, furor, irance; Annette Gerok-Reiter/Sabine Obermaier (Hgg.): Angst und Schrecken im Mittelalter; Wolfgang Haubrichs (Hg.): Emotionen; C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten (Hgg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter; Ingrid Kasten (Hg.): Machtvolle Gefühle; Johannes Keller/Florian Kragl (Hg.): Mittelalterliche Heldenepik. Die geschichtswissenschaftliche Erforschung von Emotionen im Mittelalter vertreten international insb. Barbara H. Rosenwein in den USA; in Frankreich Piroska Nagy und Damien Boquet; von den Publikationen dieser Autorinnen und Autoren werden hier nur Herausgeberschaften genannt, u. a. Barbara H. Rosenwein (Hg.): Anger’s past; Damien Boquet/Piroska Nagy/Laurence Moulinier-Brogy (Hgg.): La Chair des émotions; Piroska Nagy (Hg.): Émotions médiévales; dies./Damien Boquet: Le sujet de l’émotion au Moyen Age. Weitere Hinweise versammelt die Liste der Internetportale und Online-Zeitschriften im Anschluss an das Literaturverzeichnis.

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traditionell einen Gegenstand bilden. In der mediävistischen Emotionsforschung werden sozial und funktional differenzierte Emotionskulturen (höfisch, monastisch, politisch, religiös etc.)5 sowie explizite Emotionstheorien und ihre historische Varianz in den jeweiligen Disziplinen mit unterschiedlichen Leitfragen in den Blick genommen; die Ausdifferenzierung des Feldes lässt sich nur noch kursorisch skizzieren. Philosophie und Geschichtswissenschaft reflektieren bei der Analyse vormoderner Theorien in jüngster Zeit verstärkt deren Verhältnis zu modernen Modellbildungen;6 Themen der Geschichtswissenschaft sind bspw. die Funktion von Emotionen im Rahmen von sozialen ‚Spielregeln‘7 und Beziehungsformen8 einer Gesellschaft oder Emotionsstandards9 und -praktiken10 spezifischer Gruppen. In der Literaturwissenschaft werden Fragen wie die nach dem Verhältnis von Emotionskonzepten in Texten und Kontexten,11 nach Darstellungsstilen und ihrem diachronen Wandel,12 der Funktion von Emotionen im Bedeutungszusammenhang einzelner Texte13 oder den Möglichkeiten literarischer Modellierung und Reflexion von Emotionalität14 in den Vordergrund gestellt. Für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung besteht das Interesse somit darin, wie die Bedeutungsdimensionen und die Funktionen von Emotionen in der Literatur des Mittelalters besser verstanden werden können, mit dem Ziel, durch dieses Verständnis zur Interpretation von Texten sowie zum literaturhistorischen Erkenntnisgewinn beizutragen. || 5 Die mediävistische Emotionsforschung zielt nicht auf Generalisierungen über ‚Emotionen im Mittelalter‘, auch wenn dies einige Buchtitel aufgrund ihrer textsortenspezifischen Allgemeinheit nahelegen könnten. Es geht im Gegenteil darum, eine differenzierte Sicht auf Emotionskulturen und ihren Wandel im Mittelalter zu gewinnen. Vgl. Klaus Grubmüller: „Historische Semantik und Diskursgeschichte“, 48, mit der Forderung, in der literaturwissenschaftlichen mediävistischen Emotionsforschung die „Einsichten in die Partialität mittelalterlicher Gesellschaftsformen und Kommunikationskreise“ zu berücksichtigen, sodass „Erkenntniswege, die Schichtungen, einander widersprechende Stränge, kurzfristige und abgebrochene Entwicklungen ohne den Zwang zur Harmonisierung registrieren“, eingeschlagen werden. 6 Vgl. Thomas Dixon: From passions to emotions; Simo Knuutila: Emotions in ancient and medieval philosophy; Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. 7 Diese und die folgenden Anm. geben nur exemplarische Hinweise; die Methodendebatte der geschichtswissenschaftlichen Emotionsforschung, die weit über die Mediävistik hinausgeht, kann hier nicht berücksichtigt werden. Einschlägig zum Thema ‚Emotionen‘ in der politischen Kommunikation sind die in der Literaturwissenschaft viel rezipierten Arbeiten von Gerd Althoff, zusammengefasst in ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. 8 Vgl. Klaus Oschema: Freundschaft und Nähe. 9 Vgl. Barbara H. Rosenwein: Emotional communities in the early Middle Ages. 10 Vgl. Piroska Nagy: Le don des larmes au Moyen Âge. 11 Vgl. Anja Kühne: Vom Affekt zum Gefühl. 12 Gattungsbezogen: Jutta Eming: Emotion und Expression; inventarisierend: Miriam Riekenberg: Literale Gefühle. 13 Vgl. Elke Koch: Trauer und Identität. 14 Vgl. Annette Gerok-Reiter: „Die Angst des Helden und die Angst des Hörers“; dies.: „Die Rationalität der Angst“; dies.: „angest/vorhte – literarisch“; dies.: „Angst – Macht – Ohnmacht“.

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3 Forschungsgeschichte und Entwicklung Die geschichtswissenschaftliche mediävistische Emotionsforschung hat Vorläufer in der französischen Mentalitätsgeschichte, an deren verspäteter deutschsprachiger Rezeption in den 1980er Jahren auch die Literaturwissenschaft teilgenommen hat.15 Jedoch sind in der Literaturwissenschaft emotionsbezogene Themen in größerem Maße als in der Geschichtswissenschaft traditionell eingeführt. So sind seit dem Beginn des 20. Jhs. Belegsammlungen, Untersuchungen zum ideengeschichtlichen und medizinhistorischen Kontext und wortgeschichtliche Studien zu Emotionsbezeichnungen entstanden, auf welche die neuere literaturwissenschaftliche Emotionsforschung zurückgreifen kann.16 Unter den Schlagworten ‚Sentimentalität‘ und ‚Empfindsamkeit‘ ist die Darstellung von Emotionen in der Literatur des Mittelalters als Forschungsproblem bereits punktuell diskutiert worden, bevor Emotionsforschung als multidisziplinäres Feld Profil gewonnen hat.17 Obwohl die mediävistische Emotionsforschung sich hinsichtlich ihrer Grundkonzepte und forschungsgeschichtlichen Traditionen der historischen und der Literaturanthropologie unterordnen ließe,18 hat sie eine eigene Kontur erhalten. Dies hängt für den Bereich der germanistischen Mediävistik damit zusammen, dass bezogen auf den Gegenstand literarischer Emotionen eine intensive methodische Debatte geführt wurde, wie es bei keinem anderen anthropologischen Einzelthema wie z. B. Verwandtschaft, Tod, Traum etc. in vergleichbarer Weise der Fall gewesen ist. Diese Debatte führt auf literaturtheoretische Grundfragen zurück, so bspw. auf die Frage, wie literarische Figuren zu denken sind. Die methodischen Forderungen und Einwände, die in diesem Zusammenhang erhoben wurden, werden an späterer Stelle behandelt. Die Grundsätzlichkeit der Debatte verweist indessen darauf, dass literaturwissenschaftliche Emotionsforschung einen Gegenstand behandelt, der literaturtheoretisch von Belang ist. In der Literaturwissenschaft werden Emotionen als ästhetische Gegenstände auf unterschiedlichen Ebenen (autor-, text- und rezipientenbezogen) seit langem diskutiert.19 Einige klassische Definitionen (etwa der aristotelischen Dramenpoetik oder der literaturwissenschaftlichen Lyriktheorie) und rezeptionsästhetische Fragen

|| 15 Zu diesem und weiteren Traditionssträngen vgl. Rüdiger Schnell: „Mediävistische Emotionsforschung“. 16 Auf solche Vorläufer verweisen die Forschungsberichte der im Literaturverzeichnis angeführten neueren germanistischen Monographien und Überblicksdarstellungen. 17 Vgl. Ilka Büschen: Sentimentalität; Joachim Knape: „‚Empfindsamkeit‘“. Als neueren Beitrag, der ‚Sentimentalität‘ bereits im Licht jüngerer geschichtswissenschaftlicher Forschung zu Emotionen diskutiert, vgl. Wolfgang Walliczek/Armin Schulz: „Heulende Helden“. 18 Siehe dazu den Beitrag von Sandra Linden i. vorl. Bd. 19 Vgl. den instruktiven Forschungsbericht von Simone Winko: Kodierte Gefühle, 31–68.

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(„Wie kann uns das Schicksal von Anna Karenina bewegen?“20) beinhalten emotionsbezogene Aspekte, die in unterschiedlichem Maße eigens reflektiert worden sind. Obgleich die darin zur Geltung gebrachten Modelle in Bezug auf die Literaturen anderer Epochen entwickelt worden sind, ist es plausibel, einen elementaren Status von Emotionen auch für die Literatur des Mittelalters anzunehmen. Dies lässt sich etwa für die Figurenkonstitution, für wirkungsästhetische Strukturen21 oder für die sprachliche Ausdrucksfunktion im Minnesang untermauern; exemplarisch wird dies unten (vgl. Abschn. 5.) am Bereich der Figurenkonstitution thematisiert, der am meisten diskutiert wurde. Bislang ist der größte Teil der neueren emotionsbezogenen Untersuchungen der Erzählliteratur gewidmet; im Vordergrund stehen die Emotionen der Figuren. Wenige Beiträge behandeln Emotionen in geistlichen und weltlichen Spielen;22 die Untersuchung mittelalterlicher Lyrik stellt in der mediävistischen Emotionsforschung das größte Desiderat dar.23 Eine häufig gewählte Möglichkeit, das Untersuchungsfeld zu gliedern und einen Bereich einzugrenzen, liegt darin, bei einer Einzelemotion oder einem Emotionskomplex anzusetzen. Diese Vorgehensweise ist dazu geeignet, übergreifende Elemente der Konzeptualisierung von Einzelemotionen zu ermitteln, nach deren Kontinuität oder Alterität gegenüber vergleichbaren Emotionskonzepten der Gegenwart zu fragen und die Korrespondenzen und Unterschiede zwischen literarischen Texten und Kontexten herauszuarbeiten. Obwohl die Liebe als Emotionskomplex mit dem höchsten weltliterarischen Rang gelten darf, dem auch in der Literatur des Mittelalters zentrale Bedeutung zukommt, ist sie in der neueren mediävistischen Emotionsforschung noch nicht häufig ins Zentrum gestellt worden.24 Eine Reihe von Untersuchungen, teils im Umfang von Monographien, teils in themenbezogenen

|| 20 1975 formuliert von Colin Radford/Michael Weston: „How can we be moved by the fate of Anna Karenina?“ 21 Zum Zusammenhang von Emotionen und Wirkungsästhetik in der Literatur des Mittelalters vgl. Verena Barthel: Empathie, Mitleid, Sympathie; in Bezug auf einzelne Emotionen Martin Baisch: „Faszination als ästhetische Emotion“; Rüdiger Schnell: „Ekel und Emotionsforschung“. 22 Vgl. Ulrich Barton: „Heilsamer Schrecken“; Hans-Rudolf Velten: „Ekel, Schrecken, Scham und Lachen“. 23 Die Forschungslage zu Emotionen im Minnesang ist kaum zu skizzieren – einerseits finden sich in der Forschung eine unübersehbare Menge an Aussagen, Positionen und relevanten (u. a. wortgeschichtlichen, mentalitätsgeschichtlichen) Vorarbeiten, andererseits hat die neuere Emotionsforschung die Gattung bislang ignoriert. So fehlt eine systematische Erschließung des Forschungsstandes unter dieser Perspektive, auch ist die umfangreiche methodische Erschließung der Codierung von Emotionen in (lyrischen) Textstrukturen, die in der neueren Literaturwissenschaft von Simone Winko: Kodierte Gefühle, für die Lyrik um 1900 entwickelt wurde, in der Mediävistik noch kaum rezipiert worden; Ansätze zur Entwicklung emotionsbezogener Perspektiven bei Hartmut Bleumer: „Der lyrische Kuss“; Joahnnes Klaus Kipf: „Trauer, Sehnsucht, Liebesleid“. 24 Dazu Andrea Sieber: Medeas Rache, 20–24; die Verfasserin konzipiert Liebe als „emotionales Verhaltensmuster“ (20).

72 | Elke Koch Sammelbänden zusammengefasst, fokussieren Einzelemotionen: Zorn25, Angst26, Scham27 oder Trauer28. Neid (Missgunst)29 und Neugier30 wurden bislang nur vereinzelt als Konzepte mit emotionalen Dimensionen untersucht. Emotionshistorisch von besonderem Interesse ist der emotional-spirituelle Komplex der compassio, der spezifisch für die Kultur des Mittelalters ist.31 Die Inventarisierung von Emotionen in der Literatur des Mittelalters hat Rüdiger Schnell in einem 2004 erschienenen Aufsatz zur Standortbestimmung mediävistischer Emotionsforschung als mögliche Forschungsaufgabe für die Literaturwissenschaft ausgemacht:32 als weitere bestimmt er u. a. die Untersuchung der moralischen Grundierung von mittelhochdeutschen Emotionsbezeichnungen und -konzepten und die Fortsetzung der zu dieser Zeit bereits begonnenen Bemühungen, Emotions- und Genderforschung zusammenzuführen.33 Inzwischen haben eine Rei-

|| 25 Für diese und die folgenden Anm. gilt, dass nicht alle im folgenden genannten Untersuchungen sich explizit der Emotionsforschung zuordnen; dies und die theoretisch-methodische Ausrichtung im Einzelnen zu kommentieren, würde den Rahmen sprengen. Auch werden nur ausnahmsweise Titel angeführt, die vor 2000 erschienen sind; Hinweise auf frühere relevante Forschung zu den einzelnen Emotionskomplexen sind den genannten Arbeiten zu entnehmen. Zum Zorn vgl. Joachim Bumke: „Emotion und Körperzeichen“; Evamaria Freienhofer: Dynamiken von Zorn, Macht und Herrschaft; Klaus Grubmüller: „Historische Semantik und Diskursgeschichte“; Hildegard Elisabeth Keller: „Zorn gegen Gorio“; Thorsten W. D. Martini: Facetten literarischer Zorndarstellungen; Klaus Ridder: „Kampfzorn“; sowie die germanistischen Beiträge des Themenheftes Das Mittelalter, Bele Freudenberg (Hg.): Furor, zorn, irance. 26 Vgl. die Angaben in Anm. 14; außerdem: Annette Gerok-Reiter/Sabine Obermaier (Hgg.): Angst und Schrecken im Mittelalter; Sabine Obermaier: „Höllenangst, Kriegerangst, Liebesangst“; Andrea Sieber: „Die angest des Herkules“. 27 Vgl. die germanistischen Beiträge des Bdes. Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Scham und Schamlosigkeit; weiter Martin Baisch: „man bôt ein badelachen dar“; Burkhardt Krause: „scham(e), schande und êre“; Michael Mecklenburg: „Erecs Scham“; David Yeandle: ‚schame‘ im Alt- und Mittelhochdeutschen. 28 Vgl. Manuel Braun: „Trauer als Textphänomen?“; Jutta Eming: „‚Trauern helfen‘“; Elke Koch: Trauer und Identität; sowie die Beiträge des LiLi-Bdes. Wolfgang Haubrichs (Hg.): Traurige Helden; epochenübergreifend: Seraine Plotke/Alexander Ziem (Hgg.): Sprache der Trauer; zum affinen Bereich der Melancholie sei hier nur auf den Sammelbd. Andrea Sieber/Antje Wittstock (Hgg.): Melancholie verwiesen (mit Hinweisen zu weiterer Literatur). 29 Vgl. Andreas Kraß: „Neidische Narren“; Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich (Hgg.): Rache – Zorn – Neid. 30 Vgl. Jutta Eming: „Neugier als Emotion“. 31 Vgl. Andreas Kraß: „Die Mitleidfähigkeit des Helden“; Katharina Mertens-Fleury: Leiden lesen; Uta Störmer-Caysa: „Mitleid als poetisches Prinzip“. 32 Vgl. Rüdiger Schnell: „Historische Emotionsforschung“. 33 Vgl. den interdisziplinären Bd. von Ingrid Kasten/Gesa Stedman/Margarete Zimmermann (Hgg.): Kulturen der Gefühle, der als Ausgabe von Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung erschienen ist.

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he von Studien die Perspektiven weiter differenziert.34 Ansätze einer literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung in der Mediävistik stehen weiterhin vor offenen theoretischen, methodischen und inhaltlichen Fragen, angesichts derer das Forschungsfeld trotz seiner Konjunktur bei weitem noch nicht als erschlossen gelten kann.

4 Zur Historizität von Emotionen Emotionen, Emotionsbezeichnungen und -konzepte Emotionen, so trivial diese Feststellung ist, sind trotz ihrer literaturtheoretischen Relevanz in erster Linie lebensweltliche Phänomene. Jeder theoretisch unreflektierten Redeweise von Emotionen in literarischen Texten, seien spezifische Emotionen oder Emotionalität generell gemeint, liegt ein (Alltags-)Konzept von Emotionen zugrunde, das anhand von außerliterarischen Wissens- und Erfahrungsbeständen gebildet ist. Für eine methodisch fundierte Untersuchung von Emotionen in literarischen Texten ist es daher unumgänglich, sich mit (historischen oder aktuellen) Theorien und Definitionen auseinanderzusetzen, die Emotionen als psychisch, sozial, biophysisch, kognitiv oder sprachlich verfasste Erscheinungen der Lebenswelt konzeptualisieren.35 Dies gilt auch dann, wenn das Ziel darin besteht, die Besonderheit und Eigenheit literarischer (erzählter, lyrischer, ästhetischer etc.) Emotionen herauszustellen. Der Verweis auf den Umstand, dass es eben dargestellte (oder fiktionale) und nicht ‚echte‘ Emotionen seien, die den Gegenstand der Untersuchung bilden, räumt die Frage nicht aus, auf welcher konzeptuellen Basis von dargestellten Emotionen zu sprechen ist.36 Mit Emotionen wird hier der Bereich menschlichen Fühlens bezeichnet, der über das leibliche Spüren von körpereigenen physiologischen Erscheinungen wie Hunger oder Müdigkeit und äußeren Einwirkungen wie Schmerz oder Kälte durch kognitive Anteile hinausgeht und der in einem Spektrum von distinkten Zuständen

|| 34 Dies zeigen beispielhaft die Arbeiten im Schnittfeld von Emotions- und Genderforschung von Andrea Sieber: Medeas Rache; Annette Gerok-Reiter: „Angst – Macht – Ohnmacht“. 35 Für einen integrierten Forschungsüberblick mit der bislang umfassendsten Sichtung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Simone Winko: Kodierte Gefühle, 69–109, mit dem Ziel, „den Emotionsbegriff als metasprachlichen Terminus für literaturwissenschaftliche Rekonstruktionen zu bestimmen“ (108). 36 Zu einer Fundamentalkritik am Emotionsbegriff als Kategorie literaturwissenschaftlicher Analyse vgl. Katharina Philipowski: „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt?“, Repliken darauf bei Jutta Eming: „Emotionen als Gegenstand der mediävistischen Literaturwissenschaft“; Elke Koch: „Bewegte Gemüter“; Manuel Braun: „Trauer als Textphänomen?“.

74 | Elke Koch konzeptualisiert und erlebt wird.37 Fest steht, dass Emotionen sowohl anthropologisch universelle als auch kulturell spezifische Aspekte besitzen. Dies zeigt sich etwa im Bereich der Sprache. Denn zwar sind im kulturübergreifenden Vergleich Differenzen zwischen den Emotionsbezeichnungen und ihrer jeweiligen Systematik festzustellen, doch scheinen alle natürlichen Sprachen Emotionsbezeichnungen zu besitzen, in dem Sinne, dass alle Kulturen ein Vokabular zur Selbstbeschreibung des Menschen als differenziert fühlendes Wesen entwickelt haben.38 Die Frage nach der kulturellen Differenz und der Ebene, auf der man sie ansetzen kann, ist zentral, um die Annahme eines historischen Wandels als Ausgangshypothese für die geschichtswissenschaftliche und literaturhistorische Erforschung von Emotionen zu begründen. Handelt es sich nur um Unterschiede in der Bezeichnung derselben Emotion, wenn bspw. Augustinus als Bischof von Hippo am Ende des vierten Jhs. seine Reaktion auf den Tod der Mutter mit dem Ausdruck maestitudo ingens39 beschreibt und in Todesanzeigen der deutschen Gegenwartskultur von ‚tiefer Trauer‘ die Rede ist? Oder bedeutet es etwas jeweils anderes, maestitudo ingens oder ‚tiefe Trauer‘ zu fühlen? Sind kulturelle Differenzen nicht auf der Ebene einzelner Emotionen und ihrer Bezeichnungen zu erfassen, sondern erst auf der Ebene von explizitem Wissen? Ist von passio ergriffen zu sein anders als eine ‚Emotion‘ zu erleben?40 Augustinus’ maestitudo als Trauer zu ‚lesen‘ und als (dargestellte) Emotion zu interpretieren, stellt eine Übersetzung dar, die Anlass gibt, über die Verschiebungen zu reflektieren, die damit verbunden sind. Dies betrifft die historische Gewordenheit des Konzeptes ‚Emotion‘ selbst. ‚Emotion‘ ist eine kulturell variable Kategorie anthropologischer Selbstbeschreibung, die durch Wissenstraditionen und Sprachregelungen geprägt ist. Nach diskurstheoretisch-konstruktivistischer Auffassung bringen beide den Gegenstand, den sie bezeichnen und beschreiben, mit hervor und formen ihn.41 Mit dem Begriff ‚Emotion‘ verleihen Subjekte moderner westlicher Gesellschaften ihrem Selbst- und Weltbezug in alltagsweltlichen wie in wissenschaftlichen Diskursen Sinn, und ihn können sie daher verwenden, um darüber nachzudenken, wie dem differenzierten menschlichen Fühlen unter anderen sozialen und kulturellen Bedingungen Sinn verliehen worden ist.

|| 37 Mit dieser Begriffsverwendung schließe ich mich Simone Winko: Kodierte Gefühle, 108f., an, die einzelne Dimensionen, insb. die kulturelle Prägung durch Wissensanteile, in ihrer Grundlegung stärker differenziert; diese Differenzierung wird im Folgenden im Rahmen der Diskussion einzelner Problemfelder aufgenommen. 38 Vgl. Ralph B. Hupka/Alison B. Lenton/Keith A. Hutchinson: „Universal development of emotion categories in natural language“. 39 Augustinus: Confessiones, IX 12,29. 40 Eine ähnliche Frage nimmt David Konstan: „Haben Gefühle eine Geschichte?“ zum Ausgang für seine Überlegungen, hier anhand des (aristotelischen) Zorns in der griechischen Antike. 41 Zur Diskursanalyse vgl. den Beitrag von Joachim Harst i. vorl. Bd.

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Augustinus hat selbst darüber systematisch reflektiert und im Koordinatensystem antiker Tradition und christlicher Theologie ein System der Seelenkräfte entworfen, das von aktuellen Emotionstheorien erkennbar abweicht. Insofern ist es in diesem Fall unzweifelhaft methodisch sinnvoll, die Darstellung seiner Emotionen im Kontext seiner Affekttheorie zu interpretieren, wenn es auch für bestimmte Frageinteressen sinnvoll sein wird, darüber hinaus zu gehen, etwa weil die Ebene der sprachlichen Präsentation von solchen Theorien nicht erfasst wird. Für diese Ebene bildet die rhetorische Tradition den zeitgenössischen und im Fall des ausgebildeten Rhetors Augustinus besonders naheliegenden Referenzrahmen. Im Fall von Erzähltexten des Mittelalters sind solche eindeutigen Kreuzungspunkte zwischen Text und Kontext über den Autor selten herzustellen. Welchen Erklärungswert und Erkenntnisgewinn die Affekttheorien und Poetiken der Gelehrtenmilieus für die volkssprachliche Dichtung haben, muss im Einzelfall begründet werden.42 Für die religiöse Dichtung und entsprechende Entstehungs- und Gebrauchszusammenhänge werden grundsätzlich engere Bezüge auszumachen sein.43

‚Codierung‘ und Darstellung von Emotionen Die Historizität von Emotionen wird gelegentlich mit dem Konzept der Codierung beschrieben. Um dies zu erläutern, komme ich auf die plakative Gegenüberstellung von Augustinus’ Confessiones und Traueranzeigen zurück. Letztere sind Alltagskommunikation über Emotionen, die „Bekenntnisse“ des Kirchenvaters sind es nicht. Für beide Selbstaussagen gilt aber gleichermaßen, dass sie Bedeutung gewinnen, indem sie auf ein kulturell geteiltes Lexikon zurückgreifen, Äußerungsregeln und Redetraditionen folgen, und auch an sozialen Schemata und Konventionen orientiert sind, die außerhalb von Sprache liegen. Diese kulturell geteilten Dimensionen werden auch als Codes bezeichnet. Auf sprachlichen, gestischen und bildlichen Codes beruht die Möglichkeit komplexer Kommunikation und der Selbstverständigung über das Fühlen. Wenn wir auch nicht wissen, wie sich irgendjemandes Trauer subjektiv ‚anfühlt‘, so ist uns doch unzweifelhaft klar, was in den Todesanzeigen gemeint ist. Wir werden die Bedeutung der Selbstaussage dabei zwar konstruieren, doch eben aufgrund von geteilten Codes. Die Konstruktion der Bedeutung dessen, was Augustinus über sich aussagt, kann nicht allein über alltagsweltlich geteilte, sondern muss über rekonstruierte Codes verlaufen. Solche Rekonstruktionen sind Aufgabe historischer Emotionsforschung, wobei zunächst offen ist, wie verschieden diese Codes von ‚unseren‘ sind bzw. wo Differenzen liegen.

|| 42 Bezüge zwischen der Emotionsdarstellung in höfischer Literatur und Affekttheorien des Mittelalters untersucht exemplarisch Anja Kühne: Vom Affekt zum Gefühl. 43 Zum Problem der Übersetzung emotional-spiritueller Konzepte in weltliche Kontexte vgl. die in Anm. 31 genannten Arbeiten zu compassio/Mitleid.

76 | Elke Koch Über diese basale Ebene hinaus ist bei der Darstellung von Emotionen eine weitere Ebene des Sinngebungsprozesses anzusetzen, die des Arrangements. Die Angehörigen, die eine Todesanzeige aufgeben, überlegen sich mitunter sehr genau, welche Formulierung sie wählen; ob sie etwa auf eine so formelhafte wie die der ‚tiefen Trauer‘ zurückgreifen. Für komplexere Darstellungen in anderen Textsorten ist das Arrangement noch weit vielschichtiger. In Bezug auf Augustinus’ Confessiones wäre nicht nur zu fragen, welche Emotionsbezeichnungen er bevorzugt in welchem Zusammenhang verwendet, um Emotionen zu thematisieren; sondern es wäre auch zu fragen, mit welchen textuellen (rhetorischen) Mitteln Emotionen präsentiert werden (z. B. Exklamation, Metaphern),44 wie groß der Darstellungsaufwand für seine Emotionen beim Tod der Mutter ist, wie er Inneres und Äußeres, Erleiden und Handeln in Bezug auf seine Emotionen akzentuiert, auf welche diskursiven Modelle er explizit oder implizit rekurriert (bspw. seine Trauer auf das christliche Konzept der Sündentrauer abbildet oder sich als Exempel christlicher Verlustüberwindung präsentiert). Dies und anderes lässt sich einerseits literaturwissenschaftlich traditionell auf die Aussageabsichten des Verfassers oder eher textbezogen auf Bedeutungsebenen des Werkes beziehen; es lässt sich andererseits aber auch mit kulturwissenschaftlicher Öffnung unter dem Leitkonzept ‚Emotion‘ untersuchen und danach befragen, inwiefern diese Aspekte historisch spezifisch verfasst und situiert sind. Ich komme auf die Ausgangsfrage zurück, die ich nun etwas umformulieren möchte: Können wir unter Augustinus’ maestitudo ingens das Gleiche verstehen, wie unter der ‚tiefen Trauer‛ in den Todesanzeigen unserer Tageszeitungen? Bei der Frage nach der Historizität von Emotionen geht es nicht darum zu ermitteln, was Augustinus beim Tod seiner Mutter ‚wirklich‛ gefühlt hat, sondern darum herauszufinden, wie Emotionen unter anderen kulturellen Bedingungen Bedeutung verliehen wurde und wie sie wiederum in Prozesse der Bedeutungskonstitution eingebunden worden sind. „Der Prozess, in dem Bedeutungen geschaffen werden, ist ein ebenso integraler Bestandteil dessen, was ‚Emotion‘ ist, wie die Bedeutung selbst“45, so formuliert es die Historikerin Christina Lutter.

|| 44 Zur Unterscheidung dieser Aspekte vgl. Simone Winko: Kodierte Gefühle, 110–119. 45 Christina Lutter: „Geschlecht, Gefühl, Körper“, 16.

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5 Emotionen in der Literatur des Mittelalters – Grundprobleme ihrer Erforschung und Kritikpunkte in der germanistischen Debatte .

‚Referenz‘ In der germanistischen Methodendebatte sind Vorbehalte gegenüber dem Anspruch, zu einer Geschichte der Emotionen beizutragen, mit dem Hinweis auf die fragliche Referenz literarischer Emotionen vorgebracht worden. Es sei nicht rekonstruierbar, […] wie und in welchem Grad sich textuell dargestellte Emotionen auf die reale Empfindung und Erfahrung historischer Subjekte beziehen. [...] Seien die Verlockungen der Referenz auch noch so groß: Hier liegt eine Grenze, an der die historischen Wissenschaften haltmachen müssen.46

Von historischer Seite ist ein solcher Vorbehalt entschieden bekräftigt worden, aber als Grundvorbehalt jeglicher Emotionsforschung: Weder Naturwissenschaften noch die komplexeste Theorie und genaueste Methodologie disziplinenübergreifender Kulturforschung werden daher eine Antwort auf die Frage geben können, was Menschen wirklich fühlen oder gefühlt haben.47

Die Unzugänglichkeit des subjektiven Fühlens ist ein Problem, das auf der ersten Ebene des Nachdenkens über Emotionen, der Begriffsklärung, zu behandeln ist: Die subjektive Gefühlsseite ist eine, aber auch nur eine Dimension von Emotionen, und zwar die unzugänglichste. Jede symbolische Kommunikation über Gefühle basiert insofern auf einer Verstehensfiktion, die jedoch unumgänglich ist, wenn man sich denn darüber verständigen will; und dass dies eine Sache der anthropologischen Notwendigkeit ist, belegt die Universalität von Emotionsbezeichnungen in allen Sprachen. Eine Sprachregelung, mit welcher der Bereich des subjektiv unverfügbaren Fühlens als ‚eigentliche‘ Emotion von den Wissensdimensionen als ‚Vorstellungen von Emotionen‘ abgegrenzt wird, bleibt vortheoretisch in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Was kann ‚Referenz‘ im Zusammenhang von in Texten dargestellten Emotionen überhaupt bedeuten? Um noch einmal im ersten Schritt auf der Ebene von Alltagskommunikation anzusetzen: Wenn wir eine Emotionsbezeichnung benutzen, um etwas über uns mitzuteilen (‚ich bin traurig‘), dann werden wir die Situation, wenn wir versuchen authentisch zu kommunizieren, so erleben, dass das Gefühl der || 46 Armin Schulz: „Verlockungen der Referenz“, 474 f. 47 Christina Lutter: „Geschlecht, Gefühl, Körper“, 15.

78 | Elke Koch sprachlichen Artikulation vorausgeht. Die Emotionsbezeichnung ‚traurig‘ referiert auf das subjektive Fühlen der Emotion. Emotionstheoretisch ist jedoch zu bedenken, dass die Identifizierung des ‚Gefühls‘ bereits dadurch mit bedingt ist, dass ‚Traurigkeit‘ überhaupt konzeptualisiert werden kann, wozu die Sprache einen Beitrag leistet. Der Signifikant ist somit daran beteiligt, das Signifikat zu ‚schaffen‘. Wenn ich sage, dass ich traurig bin, kann ich darauf vertrauen, dass Menschen mich verstehen (oder: sich diese Verstehensfiktion auferlegen), insofern sie der gleichen Sprachgemeinschaft angehören. Auch in Texten dargestellte Emotionen, genauer: in Texten verwendete Emotionsbezeichnungen, referieren in dieser Weise auf Emotionen; z. B. referiert Augustinus’ maestitudo auf eine Emotion (oder müsste man sagen: eine passio? oder perturbatio?), als die er sein Empfinden beim Tod der Mutter verstanden wissen will. Wenn Euclio in Plautus’ Komödie Aulularia von sich sagt, dass ihn maestitudo befallen hat,48 dann referiert maestitudo ebenfalls auf eine, und zwar annähernd dieselbe Emotion, die jedoch einem rein fiktiven Subjekt zugeordnet wird. Zwar sind Dramenfiguren nicht auf die gleiche Weise konstituiert wie Figuren in Erzähltexten, mit denen es die Mediävistik häufiger zu tun hat, jedoch gilt dasselbe auch für die Referenz von Emotionsbezeichnungen, die ihnen zugeordnet werden.

‚Fiktionale Konstrukte‘ Der Umstand, dass es bei literaturwissenschaftlichen Analysen vorrangig um Emotionen fiktiver Subjekte geht, ist unter dem Hinweis auf die Differenz der ‚Seinsweise‘ oder der ‚ontologischen Unvollständigkeit‘ von literarischen Emotionen problematisiert worden.49 Auf der Grundlage einer radikalen Fiktionalitätsauffassung wurde davon die Grundsatzkritik abgeleitet, dass erzählte ‚Emotionen‘ in fiktionalen Texten so wenig mit Emotionen realer Menschen zu tun haben, dass es keinen Sinn ergibt, sich ihnen überhaupt mit Konzepten zu nähern, die in Bezug auf Emotionen in der Wirklichkeit entwickelt worden sind.

|| 48 Plautus: Aulularia, v. 732. 49 Vgl. Katharina Philipowski: „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt?“, 263–267; Rüdiger Schnell: „Erzähler – Protagonist – Rezipient“, 14–16. Katharina Philipowski diskutiert das Konzept der ontologischen Unvollständigkeit von Figuren ausführlicher in ihrem Buch Die Gestalt des Unsichtbaren. In der Literaturtheorie meint ‚ontologische Unvollständigkeit‘, dass es Rezipienten prinzipiell unmöglich ist, über eine Figur oder einen Gegenstand einer erzählten Welt jede mögliche Information zu erhalten, die sie über einen Menschen oder Gegenstand in der realen Welt theoretisch erhalten könnten. Philipowski meint davon methodische Beschränkungen für die Interpretation von Emotionsdarstellungen in Erzähltexten ableiten zu können. Der Aspekt der ontologischen Unvollständigkeit hat jedoch mit der Frage, was über Figurenemotionen in Erzähltexten ausgesagt oder nicht ausgesagt wird bzw. wie mit der Präsentation von Figurenemotionen methodisch umzugehen ist, nichts zu tun.

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Emotionen werden von Menschen erlebt, die Emotionen einer Figur oder eines ‚Ich‘ in einem Erzähltext, einem Lied oder Spruch können aber nicht auf genau dieselbe Weise als ‚von Menschen erlebte‘ Emotionen betrachtet werden. Sie sind – narrativ konkretisiert als ‚genau diese‘ Emotionen eines fiktiven Subjekts – imaginierte, sprachlich vermittelte und vom Autor bewusst gestaltete Konstrukte, mit denen wiederum andere Konstrukte (Figuren, ein ‚lyrisches‘ oder ‚Rollen-Ich‘) ausstaffiert werden; sie unterliegen literaturspezifischen Regeln und sie erhalten Bedeutungen oder Funktionen im Zusammenhang der Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten, die sich auf andere Inhalte als die dargestellten Emotionen bezieht. Damit ist über Emotionen in literarischen Texten anderes zu sagen als über Emotionen, die von Menschen erlebt werden. Aus diesen Umständen ergibt sich, dass erzählte Emotionen mit gattungstypologischen, narratologischen und anderen genuin literaturwissenschaftlichen Analyseinstrumentarien untersucht werden können. Es ergibt sich daraus jedoch nicht, dass sie ausschließlich mittels solcher Erklärungsansätze erfasst werden könnten oder dürften. Denn für Emotionen, die dem Personal fiktiver Welten zugeschrieben werden, gilt, dass Weltwissen in diese Konstrukte eingeht, sowohl auf der Seite der Verfasser wie auf der Seite der Rezipienten. Dies gilt im übrigen für alle Elemente fiktionaler Welten: Auch wenn ein Tisch in einem fiktionalen Text achtunddreißig Beine und die Fähigkeit zu sprechen haben kann, wird man aufgrund von Weltwissen keinen fiktionalen Tisch so konstruieren, solange man als Leserin oder Leser nicht durch Textinformationen dazu gezwungen wird. Der Konstruktionscharakter von Literatur liefert kein Argument dafür, diese von jeglichen Bezügen zu außer ihr liegenden Wissens- und Erfahrungsgehalten zu isolieren. Erzähler können fiktive Welten und auch die Emotionen darin frei, aber nicht völlig frei konstruieren. Dass sie Lizenzen haben, zeigt sich etwa darin, dass sie ‚Frau Minne‘ auftreten50 oder Figuren „emotional Menschenunmögliches vollbringen“51 lassen können (z. B. wenn Rumpelstilzchen sich aus Zorn in der Luft zerreißt)52. Wie elementar das Wissen um Emotionen als Eigenschaft von Personen ist, das in die Konstruktion von Figuren eingeht, zeigt sich jedoch daran, dass Figuren ein Empfinden unterstellt wird, es sei denn, explizite Textinformationen (wie bspw. ‚er ist ein Roboter ohne Gefühle‘) zwingen die Rezipienten im Ausnahmefall dazu, diese Vorannahme aufzugeben. Ein Erzählen, welches Figuren ohne derartige Informationen so konstruiert, dass es unmöglich ist, ihnen überhaupt irgendeine Form von Emotionalität zu unterstellen, ist wohl nur als avantgardistisches Experiment denkbar. Bei Frau Minne und Rumpelstilzchen ist man davon weit entfernt. Auch für solches ‚lizenznehmendes‘ Erzählen von Emotionen ist indessen nicht plausibel || 50 Vgl. Hartmann von Aue: Iwein, vv. 2971–2973: Dô vrâgte mich vrou Minne / des ich von mînem sinne / niht geantwurten kan. 51 Sonja Glauch: [Rez.] „Jutta Eming, Emotion und Expression“, 277. 52 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Nr. 55, 288.

80 | Elke Koch zu machen, wie jene Konstruktionen Bedeutung gewinnen könnten, wenn nicht Weltwissen über minne oder Zorn in sie einginge.53 Dies gilt auch dann, wenn die Bedeutung dieser Konstruktionen, wie es für Frau Minne anzunehmen ist, nicht nur durch die Referenz auf eine Emotion bestimmt ist, sondern ebenso sehr durch den Bezug auf andere literarische Thematisierungen dieser Emotion.

‚Haben‘ Figuren Emotionen? Wenn Figuren grundsätzlich aufgrund ihres Konstruktcharakters ein Unbewusstes, ein Nervensystem oder eben Emotionen abgesprochen werden, entsteht eine Schieflage. Dies hat figurentheoretische Voraussetzungen, die man nicht teilen muss. Es ist durchaus möglich, dass Textinformationen Figuren explizit ein Nervensystem zuordnen (man denke an eine Figurencharakterisierung wie ‚er war nervenkrank‘), doch wird dieses Nervensystem nur bedingt ein Eigenleben unabhängig von der Informationsvergabe führen. Fasst man Figuren als mentale Konstrukte auf, die aufgrund von Textinformationen gebildet werden, dann kann ein solches Eigenleben aber recht ausgeprägte Züge gewinnen. Wird etwa eine Figur mithilfe einer solchen Information konstruiert, können die Rezipienten berechtigterweise in ihrer eigenen mentalen Konstruktion der Figur deren Handlungsweisen auf ein solches Eigenleben des Nervensystems zurückführen, ohne dass dies noch einmal explizit durch Textinformationen bestätigt wird.54 Voraussetzung ist, dass Autor und Rezipienten wenigstens rudimentär die gleichen Vorstellungen über das Nervensystem teilen. In einem weiteren Schritt könnte man sogar spekulieren, dass in einer Kultur, in der über Fragen des Nervensystems Wissen popularisiert ist, ein Autor sich dazu entschließen könnte, die Figur einer Erzählung anhand einer Symptomatik zu konstruieren, die im medizinischen Diskurs auf das Nervensystem zurückgeführt wird, ohne aber je das Nervensystem explizit zu thematisieren. Auch dann hat die Figur ein Nervensystem. Wissen über Emotionen ist basales Personenwissen und mit sehr viel weniger explizitem theoretischen Wissen verbunden als Wissen über Nervensysteme. In dieser Hinsicht ist es mit Figurenemotionen wie mit Kleidung: In Erzähltexten (auch des Mittelalters) werden häufig sehr viele Informationen über die Bekleidung der Figuren vergeben. Fehlen diese, sind die Figuren jedoch nicht nackt. Emotionen haben, und das hebt sie auch von Kleidung ab, elementare Funktionen für die Konstruktion von Figuren. Dies zeigt sich gerade an nicht-menschlichen Figuren (Tieren, Automaten, Abstrakta) die unter anderem dadurch zu Figuren werden, dass ihnen Emotionen zugeschrieben werden. Die figurentheoretische Relevanz von Emotionen hat Fotis Jannidis hervorgehoben. Er erarbeitet ein figurenthe-

|| 53 Dies konzediert auch Rüdiger Schnell: „Erzähler – Protagonist – Rezipient“, 16. 54 Vgl. zu diesen Aspekten der Figurenkonstruktion Harald Haferland: „Psychologie und Psychologisierung“.

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oretisches Konzept, welches Figuren als mentale Konstrukte bestimmt, die in der Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten entwickelt werden.55 Diese Konstrukte werden Jannidis zufolge auf der Basis einer Struktur errichtet, die er als ‚Basistypus‘ bezeichnet und die nur wenige Differenzierungseigenschaften umfasst: Der Basistypus verfügt über ein ‚Inneres‘ und ein Äußeres. Dem Innenleben können mentale Zustände, Wünsche, Überzeugungen, Intentionen und Emotionen zugeschrieben werden. Neben relativ kurzfristigen inneren Zuständen verfügt der Basistypus außerdem über langfristigere Merkmale.56

Die Struktur des Basistypus ist Jannidis zufolge auf kognitive Universalien zurückzuführen, die die soziale Wahrnehmung (d. h. die von realen Personen), kulturübergreifend kennzeichnen und ontogenetisch früh entwickelt werden. Aufgrund dieser Vorprägung lassen sich auch unbelebte Gegenstände, zweidimensionale Formen oder Abstrakta als Figuren erkennen, wenn zusätzliche Informationen es erlauben, ihnen Intentionen zuzuschreiben. Solche Intentionen sind mit Motivationen verbunden, die elementar in Bewertungen und mit ihnen verbundenen Gefühlswerten liegen. Daher unterstellen wir Figuren grundsätzlich die Möglichkeit zu fühlen, auch wenn Emotionen der Figur nicht benannt werden. Jannidis weist darauf hin, dass die Konstitution von Figuren durch den Basistypus nur elementar vorstrukturiert ist, die jeweilige Realisierung einer Figur jedoch dann von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird: Es sei noch einmal hervorgehoben, daß dieser Basistypus stets eingebettet ist in variante Annahmen darüber, was eine Person ausmacht, wie ihr Innenleben aussieht, wie Handlung motiviert wird usw. Wenn eine Figur zornig ist und einen Widersacher töten will, kann dieser Zorn z. B. von den Göttern eingegeben sein oder das Produkt eines verdrängten homoerotischen Impulses oder der Zorn des gerechten Machos gegen das Böse in der Welt. Ebensowenig ist das, was als mentaler Status zugeschrieben wird, also z. B. der ‚Zorn‘ interkulturell stabil, sondern jeweils eingebettet in ein Netz von Konzepten, Worten und den Regeln ihrer Verwendung sowie sozialen Praktiken des Ausdrucks.57

Figuren ‚haben‘ in diesem Sinne prototypisch ein Gefühlsempfinden. Wie dieses Potential sich in Emotionen ausprägt, hängt nicht zuerst von der Vergabe von expliziten Textinformationen ab, sondern von der Maßgabe kultureller Voraussetzungen. || 55 Katharina Philipowski: Die Gestalt des Unsichtbaren, 333, schiebt den Entwurf von Fotis Jannidis: Figur und Person, beiseite, da er die Frage der Ontologie von Figuren vernachlässige. Seine Konzeption von Figuren als mentale Konstrukte, die in Kommunikationsprozessen entwickelt werden, entsteht jedoch auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit dem Einwand der ontologischen Unvollständigkeit und bildet eine theoretische Entscheidung gegenüber diesen Argumentationsweisen. Jannidis’ Konzeption klammert diesen Aspekt aus, da Kommunikation immer auf der Grundlage unvollständiger Informationen verläuft. 56 Fotis Jannidis: Figur und Person, 192f. 57 Ebd., 193.

82 | Elke Koch Auf einer anderen Ebene, nämlich der des einzelnen Textes, liegt dann die Gestaltung von Figurenemotionen durch Textinformationen, die explizit und implizit die Zuschreibung von genau diesen Emotionen eines fiktiven Subjekts ermöglichen. Emotionsanalysen zu einzelnen Texten fokussieren das ‚Was‘ und das ‚Wie‘ dieser Textinformationen. Doch gerade auch der historisch spezifischen Ausprägung der elementaren Funktion von erzählten Emotionen gilt es sowohl texttypologisch differenziert als auch in ihrem literaturhistorischen Wandel weiter nachzugehen.

Emotions- und Personenwissen in der Literatur Weltwissen, das in die literarische Gestaltung von Emotionen eingeht, ist vielfach zu differenzieren und umfasst explizite Konzepte ausgeformter Wissensordnungen, mehr oder weniger bewusste Vorstellungen, die über soziale Praktiken, Redeweisen oder Wortsemantiken vermittelt sind, intersubjektiv erworbene kognitive Skripts sowie Erfahrungsgehalte der leiblichen Selbstwahrnehmung. Zum emotions- und personenbezogenen Weltwissen gehört das Wissen, wie Emotionen zum Ausdruck kommen oder mitgeteilt werden: körperlich in Mimik und Gestik, verbal im Rahmen der Ausdrucksfunktion der Sprache (z. B. in Exklamationen) oder durch Selbstbeschreibung. Für die Figurenkonstruktion in Erzähltexten können diese verbalen und nonverbalen Ausdrucks- und Mitteilungsfunktionen produktiv gemacht werden. Systematisch hat das Erzählen folgende Möglichkeiten der Konstruktion: Emotionen können Figuren durch epischen Bericht, Erzählerkommentare, Gedankenbericht und Figurenrede zugeordnet werden. Im epischen Bericht werden Emotionen explizit benannt oder den Figuren durch das erzählte emotionale Verhalten und die Anzeichen des Körpers zugeschrieben. Auch solche Körperzeichen, die aufgrund von Alltagswissen als ‚natürliche‘ Ausdrucksformen von Emotionen erscheinen, sind im Diskurs einer Erzählung nicht einfach selbstverständlich, sondern Resultat einer Selektion, die durch Faktoren wie kulturelle Vorstellungen über Emotionserkennen und den kommunikativen Wert körperlichen Emotionsausdrucks, literarische Konventionen zur Darstellung der ‚Physiognomie‘ einer Emotion, gattungstypische Erzählstile oder die spezifische Einbettung der Körperzeichen im Bedeutungszusammenhang des jeweiligen Textes mitbestimmt wird. Daher ist die Darstellung von Figurenemotionen jeweils daraufhin zu befragen, welche der narrativen Möglichkeiten gewählt werden und warum.58 Das Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ gehört zu den basalen Aspekten von Emotions- und Personenwissen. Emotionen werden über dieses Verhältnis konzeptionalisiert; sie lassen sich zugleich als körperliche Manifestationen und als Er-

|| 58 Vgl. am Bsp. von Trauer Elke Koch: Trauer und Identität, 48–55; mit weiterführenden Überlegungen zum Verhältnis der sprachlichen und körperlichen Artikulation von Emotionen in Erzähltexten des Mittelalters Rüdiger Schnell: „Emotionsdarstellungen im Mittelalter“, 90–92.

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scheinungen in einem Innenraum von Personen auffassen. Entsprechend können in literarischen Texten Emotionen als Verkörperungen ebenso erzählt werden wie als Konstituenten eines Innenraums von Figuren.59 Seit einiger Zeit ist die mediävistische Forschung darauf aufmerksam geworden, in welchem Maße die höfische Kultur des Mittelalters auf Sichtbares angelegt ist. Dies kann eine Erzählweise begünstigen, die das Äußere privilegiert.60 In dieser Perspektive lässt sich das Erzählen von Emotionen über Körperzeichen und Handlungen zwar nicht ausschließlich, aber doch häufig einordnen. Da Emotionen ein Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ konfigurieren, können sie Funktionen in Kommunikationszusammenhängen übernehmen, in denen es um Identität, Glaubwürdigkeit oder Erinnerung geht. In Erzähltexten kann so das Sichtbarwerden von Emotionen an den Figuren dazu beitragen, entsprechende soziale oder politische Problemzusammenhänge narrativ zu konstituieren und zu reflektieren. Weltwissen wird – und dies ist ein literaturwissenschaftlicher Gemeinplatz – in literarischen Texten nicht einfach abgebildet, sondern diese ermöglichen vielfältige Umgangsweisen damit, unter anderem ebenso eine reflexive Distanznahme wie das Experimentieren im fiktiven Entwurf. Transformationen von Weltwissen finden unter Bedingungen und Funktionen statt, die im jeweiligen Text, in verschiedenen Gattungen, in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen etc. divergieren können. Diese Transformation ist nicht nur als eindirektionaler Vorgang zu denken, denn gerade in Bezug auf Emotionen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass an literarischen Modellen gewonnene Vorstellungen in das Weltwissen eingehen, wofür die Liebe als Beispiel par excellence gilt.61 Bislang ist jedoch offen, ob für bestimmte Emotionen wie Liebe oder Trauer ein höheres Maß an solchen beidseitigen Transformationsprozessen nachzuweisen ist und ob dies emotions- oder wissenstheoretisch bzw. durch integrierte Modelle erklärt werden kann.

Neuere Emotionstheorien Ein anderes grundsätzliches Problem besteht darin, dass das Weltwissen, das Verfasser und Rezipienten der Literatur des Mittelalters teilten, sich von unserem unter|| 59 Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse, 317–361, hat die These aufgestellt, dass in frühen volkssprachlichen Erzählungen ein alteritäres Denkmuster des Verhältnisses von ‚Innen‛ und ‚Außen‘ von Personen insofern erkennbar werde, als ‚innere‘ Kräfte (wie Emotionen) nicht gegen das körperliche ‚Äußere‘ ausdifferenziert würden. Diese primäre Ungeschiedenheit werde dann in der hochhöfischen Dichtung zur Voraussetzung von Erzählmustern, die innere Kräfte und Körperlichkeit ineinander umschlagen ließen, wie etwa der Herzenstausch von Liebenden, dem immer auch eine körperlich-materielle Dimension anhafte. 60 Diesen Aspekt berücksichtigt Armin Schulz durchgehend in seiner Einführung Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive; zu Emotionen bes. 114–117. 61 Ein Modell dieser Transformation als Austauschprozess entwickelt Andrea Sieber: Medeas Rache, 20–56.

84 | Elke Koch scheidet. Dies ist dann besonders offenkundig, wenn es sich um explizites theoretisches Wissen handelt. Heute existieren unterschiedliche Erklärungsmodelle für Emotionen, von denen im Mittelalter noch niemand etwas wissen konnte. Furcht als genetisch bedingtes Programm mit Evolutionsvorteilen aufzufassen wäre niemandem eingefallen, also wird man kaum behaupten können, dass bspw. Gottfried von Straßburg die Furcht des Truchsessen vor einem toten Drachen als ein solches Programm darstellt. Welchen Erklärungswert emotionswissenschaftliche Modelle der Lebenswissenschaften und der modernen Psychologie für die Analyse von (Figuren-)Emotionen in literarischen Texten haben, gehört zu den umstrittensten Punkten in der germanistischen Debatte. Werden solche Konzepte oder ihre Terminologie zur Beschreibung von Figurenemotionen verwendet, so würden den Figuren Eigenschaften unterstellt, die zeitgenössische Verfasser oder Rezipienten ihnen nicht einmal aufgrund von implizitem Weltwissen zuschreiben konnten: Figuren in mittelalterlichen Texten haben kein ‚Unbewusstes‘, sie haben auch kein ‚Nervensystem‘. Was bringt es daher ein, den Zorn der Helden im Nibelungenlied bspw. auf der Basis psychoanalytischer Modelle zu erklären?62 Eine Erklärung, welche die gesamte Konstruktion der erzählten Welt auf Psychodynamiken zurückführt, die im zeitgenössischen Wissenshorizont nicht vorkommen, riskiert eine ahistorische Konstruktion von Figurenemotionen. Zwar ist anzunehmen, dass in die Konstruktion von Figuren auch ‚Symptombeobachtungen‘ eingehen können. Es bedarf jedoch besonders sorgfältiger Abwägungen in Bezug auf die Entstehungsbedingungen des jeweiligen Texts, um den unwahrscheinlicheren Fall plausibel zu machen, dass ein solches implizites Wissen durchgängig ‚symptomatisch‘, d. h. systematisch beziehbar auf explizites theoretisches Wissen späterer Zeit in die Konstruktion von erzählten Welten eingeht. Emotionstheorien der Gegenwart können Konzepte und Begriffe zur abstrahierenden Beschreibung von Figurenemotionen und ihren Darstellungsweisen liefern, so wie auch Sozial- und Kulturtheorien der Gegenwart Konzepte und Begriffe zur abstrahierenden Beschreibung von diversen Aspekten erzählter Welten liefern können; doch sind sie keine Generaltheorien, auf die sich Figurenemotionen in der Literatur des Mittelalters vollständig beziehen lassen. Emotionstheorien der Gegenwart sind nützlich, um die Wissensbedürfnisse und Vorannahmen zu reflektieren, die in die Ausbildung von Forschungsfragen in der mediävistischen Emotionsforschung eingehen. Von dieser Reflexion aus kann die Alterität von Emotionskonzepten, die für die Historizität von Emotionen entscheidend ist, zu einem erkenntnisleitenden Kriterium werden.

|| 62 Vgl. Irmgard Gephart: Der Zorn der Nibelungen. Die obigen Ausführungen sind keinesfalls als Absage an die Rezeption psychoanalytischer Theoriebildung in der Mediävistik und in der Emotionsforschung generell misszuverstehen; zum psychoanalytischen Ansatz in der Literaturwissenschaft vgl. den Beitrag von Friedrich Wolfzettel i. vorl. Bd.

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Die Frage nach dem Erklärungswert von Emotionskonzepten der Gegenwart setzt eine andere Frage voraus, und zwar die, was an Emotionen in der Literatur des Mittelalters eigentlich jeweils erklärungsbedürftig ist, und auch hier ist die methodische Transparenz von Erkenntnisinteressen von größter Bedeutung. Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung in der Mediävistik hat es sich insb. zur Aufgabe gemacht, Figurenemotionen zu ‚erklären‘ – offenbar, weil die Darstellung von Emotionen mitunter aus heutiger Perspektive ungewohnt erscheint. Was diese Befremdlichkeit ausmacht und wodurch sie bestimmt ist, kann unterschiedlich begründet sein; es ist möglich, dass Emotionsdarstellungen auch erst dann als andersartig und erklärungsbedürftig wahrgenommen werden, wenn der historische Wandel von explizitem Emotionswissen oder von Darstellungskonventionen reflektiert wird.

6 Emotionsanalyse am Beispiel: Geteilte Gefühle im Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems Ein Aspekt von Emotionen in der Literatur des Mittelalters, der aus heutiger Perspektive ungewohnt erscheinen mag, besteht darin, dass Emotionen häufig ohne ‚Übertragungsverluste‘ geteilt und vergemeinschaftet werden. Dies betrifft zunächst die Ebene der erzählten Welten, also den Umgang der Figuren miteinander, jedoch auch das Verhältnis, in das sich Erzähler zu ihren Figuren stellen, und Appelle, die Erzähler an das Publikum richten. Leiden ruft Mit-Leiden hervor – auf welcher Ebene der Narration auch immer –, vreude ist eine Kollektivemotion, die ohne Weiteres einem ganzen Hof als Kollektivsubjekt zugeschrieben werden kann, selbst an der Liebe eines Paares, das doch durch diese zu einer exklusiven Emotionsgemeinschaft wird, können und sollen andere teilhaben. Die Partizipation an den Emotionen anderer bildet den gemeinsamen Kern von Darstellungsmustern, die im Einzelnen unterschiedlich typisiert sind, in unterschiedliche Funktionszusammenhänge gestellt erscheinen und die sich kontextuell auf Unterschiedliches beziehen lassen: auf verschiedene Konzepte (wie compassio als praktische Christusnachfolge oder als natürlicher Affekt,63 misericordia als christlich-ethische Pflicht zur tätigen Barmherzigkeit und Teil eines ritterlichen Tugendkanons64), auf Codes (wie rituelle Formen der Totentrauer, politische Spielregeln der Kommunikation verlässlicher Absichten, Konventionen höfisch-höflichen Umgangs) und auf poetologische Wissensbestände (wie die rhetorische Anleitung zur Evokation von Höreremotionen durch den kontrollierten Ausdruck gleichartiger Emotionen des Redners). Obwohl das Teilen von

|| 63 Vgl. Katharina Mertens-Fleury: Leiden lesen, 20–28. 64 Vgl. zur Differenzierung von compassio und misericordia sowie der poetischen Relevanz letzterer Kategorie für den arturischen Roman Uta Störmer-Caysa: „Mitleid als ästhetisches Prinzip“.

86 | Elke Koch Emotionen ein breiteres Spektrum als das Mitfühlen von Leid betrifft, ist das MitTrauern und Mit-Weinen, das Sich-das-Leid-eines-anderen-zu-Herzen-gehen-lassen, die weitaus häufigste Form, in der dieser Komplex sich manifestiert. Die feste Verbindung klagen helfen bringt die Vergemeinschaftung in der Emotion zum Ausdruck.65 Emotionswissenschaftliche Konzepte eröffnen zwei Perspektiven auf das Teilen von Emotionen. Die eine setzt beim fühlenden Individuum an und fragt nach den Bedingungen und den Abläufen von Prozessen der Einfühlung.66 Geht es bei der Empathie um einen Verstehensprozess; ist dieses Emotionsphänomen also über kognitive Modelle zu erschließen und wenn ja, über welche?67 Sind selbstbezogene und fremdbezogene (d. h. ‚mitfühlende‘) Emotionen physiologisch oder neurologisch zu differenzieren? Die zweite Perspektive erfasst das Teilen von Emotionen als soziales Phänomen. Welche sozialen Rahmungen (etwa Rituale) begünstigen oder stimulieren Kollektivemotionen, welche Funktionen erfüllt die Harmonisierung von Emotionen für das soziale Gefüge?68 Diese Perspektiven führen auf unterschiedliche Dimensionen: die erstere zu Fragen nach dem Verstehensaspekt von Emotionen, die letztere zur Frage nach der Vermittlung von Gemeinschaft. Aus der Sicht der disziplinär differenzierten Emotionsforschung sind Kollektivemotionen eine andere Sache als Empathie, denn Empathie überbrückt nicht die Differenz zwischen Selbst und Anderem, während Kollektivemotionen diese Distinktion im ‚Wir‘ aufzuheben scheinen. Es steht zu vermuten, dass die getrennten Perspektiven – Mitgefühl/Einfühlung als Individualemotion einerseits, vergemeinschaftende Emotionen als Sozialphänomen andererseits – für die Untersuchung geteilter Emotionen in der Literatur des Mittelalters zusammengenommen, besser noch integriert werden müssen. Nur so lässt sich die Tragweite ermitteln, die dem Teilen von Emotionen in der Literatur des Mittelalters auf unterschiedlichen Ebenen zukommt: bei der Konstruktion von Figuren und Plots, der Ausbildung von Erzählerstimmen, wirkungsästhetischen und didaktischen Appellstrukturen, der Funktion von Literatur als Dispositiv religiöser Erfahrung und Medium von Heilsgewinnung wie auch von höfischer Selbstvergewisserung und Repräsentation. Der übergreifende Komplex des Teilens von Emotionen, im Mitgefühl ebenso wie in der Kollektivemotion, hat als Kern die Vermittlung von Teilhabe an überindividuellen Sozial- und Wertzusammenhängen; und in diesem

|| 65 Vgl. dazu Elke Koch: „Die Vergemeinschaftung von Affekten in der ‚Klage‛“. 66 Diese Perspektive bildet den Rahmen für die Untersuchung von Verena Barthel: Empathie, Mitleid, Sympathie zur Empathie als rezeptionsästhetisches Phänomen bzw. seiner historischen Rekonstruktion durch eine in Textstrukturen manifeste „Empathieintention des Textes“ (16); vgl. die Entwicklung der Leitkategorien 30–41. 67 Vgl. Eva-Maria Engelen/Birgitt Röttger-Rösler (Hgg.): Current disciplinary and interdisciplinary debates on empathy. 68 Vgl. etwa Axel Michaels/Christoph Wulf (Hgg.): Emotions in South Asian and European rituals.

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allgemeinen Funktionsrahmen gewinnen die Darstellungsmuster ebenso wie die poetologischen Verfahren, die diesen Komplex aktivieren, ihre jeweilige Relevanz. Rudolf von Ems entfaltet im Guoten Gêrhart eine Poetik des Teilens von Emotionen, die in der Forschung zu diesem Text bislang keine weitere Beachtung gefunden hat; einzelne Aspekte, die diesen Zusammenhang betreffen, wurden allenfalls gestreift.69 Dies mag damit zusammenhängen, dass Rudolfs Darstellungsweise von Emotionen in der älteren Forschung einem Stil zugerechnet wurde, der als epigonal galt.70 So fand das Verhältnis von ‚Außen‘ und ‚Innen‘ in diesem Text zwar noch Beachtung, nachdem forschungsgeschichtlich der Vorwurf der Epigonalität nicht mehr erhoben wurde, jedoch richtete sich das Interesse auf den Aspekt der Reflexion, nicht der Emotion.71 Die folgende Analyse unterliegt nicht dem Anspruch, Rudolfs Poetik geteilter Emotionen vollständig aufzudecken; sie hat den Charakter einer Probe, die erweisen soll, wie das Spektrum von Mitleid und Mitfühlen im Guoten Gêrhart aufgefächert wird und welche Bedeutung dieser Komplex in der Exempeldichtung erlangt.72 Beispielhaft sollen damit emotionsanalytische Untersuchungsperspektiven skizziert werden. Dem Guoten Gêrhart liegt eine Struktur aus Rahmenhandlung und Binnenerzählung zugrunde, wobei die Binnenerzählung die erste größere Ich-Erzählung in der deutschen Literatur des Mittelalters darstellt. In der Rahmenhandlung steigt dem Kaiser Otto seine fromme Großtat, die Stiftung des Magdeburger Erzbistums, so zu Kopf, dass er Gott im Gebet um eine Voraussicht auf den Lohn bittet, den er dafür im Jenseits zu erwarten hat. Daraufhin hält ihm eine himmlische Stimme als Beispiel wahrer Frömmigkeit einen Kölner Kaufmann vor. Otto soll selbst in Erfahrung bringen, auf welche Weise dessen Barmherzigkeit die seine übertrifft. Otto begibt sich nach Köln, und es gelingt ihm mit Mühe, den widerstrebenden Gerhart dazu zu bringen, von seinen frommen Leistungen zu berichten. Gerharts Ich-Erzählung handelt davon, wie er als Retter und Wohltäter eines königlichen Paares agiert, das durch Schiffbruch getrennt und unter dramatischen Umständen wiedervereint wird. Auf einer Handelsreise stößt Gerhart im Land des Heidenkönigs Stranmur auf die gefangene Königstochter Erene von Norwegen und ihr Geleit von Adligen, die sie in die Heimat ihres künftigen Ehemannes, des Thronfolgers Willehalm von England, begleiten sollten. Obwohl die Lage der Gefangenen sein Mitleid erregt, ist er zunächst unschlüssig, ob er das Angebot Stranmurs annehmen und sie freikaufen soll. Erst durch eine Engelsstimme, die im Schlaf zu ihm spricht, erlangt er Gewissheit

|| 69 Die ausführlichsten Beobachtungen zur „höfischen Empfindsamkeit“ finden sich bei Xenia von Ertzdorff: Rudolf von Ems, 326–332. 70 Vgl. Gustav Ehrismann: Studien über Rudolf von Ems. 71 Vgl. Dieter Kartschoke: „Der Kaufmann und sein Gewissen“. 72 Insofern versteht sie sich als Ergänzung zu einer Forschungstradition, die Rudolfs didaktisches Erzählen bislang vorrangig unter dem Aspekt der gedanklichen Reflexion betrachtet hat: „Durch diese besondere Vermittlung des Lehrgeschehens wird das Publikum ganz stark einbezogen in eine Denkbewegung, die seine Anteilhabe sichert an der Interpretation der vorgeführten Situationen und Handlungszüge auf die verbindlichen Normhorizonte des Rechts und der christlichen Heilswirklichkeit hin“ (Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems ‚Der guote Gêrhart‛, 170f.). Hier geht es um die emotionale Anteilhabe, auf die es bei dieser Vermittlung, so meine These, ebenso maßgeblich ankommt.

88 | Elke Koch darüber. Unter Einsatz seines gesamten Handelsgutes löst Gerhart die Gefangenen aus, lässt die englischen Adligen frei und nimmt Erene in seine Obhut. Als nach Jahresfrist von Willehalm noch immer keine Nachricht eingetroffen ist, bietet der Kaufmann der Königstochter an, sich mit seinem Sohn zu vermählen, und obwohl Erene Willehalm liebt, willigt sie schließlich ein. Beim Hochzeitsfest, bei dem die gesamte Elite Kölns anwesend ist, erscheint der Vermisste völlig verarmt und unerkannt als Pilger. Gerhart findet seine Identität heraus, überredet den eigenen Sohn zum Verzicht auf die Eheschließung und führt das königliche Paar wieder zusammen. Nach dem Abschluss der Hochzeitsfeierlichkeiten berichtet Willehalm, dass aufgrund seiner Abwesenheit die Herrschaft Englands von innen angegriffen werde. Gerhart bringt das Paar nach England, wo er zunächst selbst Erkundigungen in London einholt. Dort sitzen die Fürsten über das Schicksal der Krone zu Rate. Als Gerhart seinen Namen preisgibt und die Fürsten in ihm ihren Retter aus der Gefangenschaft wiedererkennen, setzen sie ihn kurzerhand auf den Thron. Diesen gibt er umgehend zugunsten der Herrschaft des Königspaares wieder auf, ebenso wie er im nächsten Schritt auch die Belehnung mit der Grafschaft Kent zurückweist, die Willehalm ihm anträgt, um stattdessen die Aussöhnung des Königs mit der Partei der Empörer zu erbitten. Nachdem Gerhart auf diese Weise Minne und Ehe, Herrschaft und Frieden gestiftet und gesichert hat, kehrt er nach Köln zurück. Die Binnenerzählung schließt mit Gerharts Hoffnung, er möge die Sünde des verrüemens, derer er sich nun schuldig gemacht habe, durch künftige gottgefällige Werke gutmachen. Kaiser Otto überkommt tiefe Reue. Er verbringt den Rest seiner Tage in Bußfertigkeit und lässt in Magdeburg die Geschichte Gerharts zur allgemeinen Erbauung aufzeichnen.

Die Forschung geht seit langem davon aus, dass wesentliche Züge des Plots wie auch die Anlage der Erzählebenen auf ein traditionelles Erzählmuster zurückgehen:73 Einem Mann, der stolz auf seine Frömmigkeit ist, wird von Gott eine Lektion in Demut erteilt, indem er ihn mit dem Beispiel eines Menschen konfrontiert, der ebenso gottgefällig ist oder ihn noch übertrifft; dieser Mensch ist sich selbst aber seiner moralischen Größe gar nicht bewusst. In der jüdischen Tradition ist eine rabbinische Erzählung des Typus ausgemacht worden, deren Binnenhandlung mit dem Freikauf eines Mädchens und dem Eheverzicht zugunsten ihres ersten Verlobten große Ähnlichkeiten mit der des Guoten Gêrhart aufweist. Bei Rudolf wird das Handlungsgerüst durch das Erzählschema der einfachen Brautwerbung erweitert, das die Vorgeschichte von Willehalm und Erene prägt.74 Die Geschehnisfolge rund um das Paar – Werbung und Minneentstehung, Trennung durch Schiffbruch, Gefangenschaft, vorübergehender Statusverlust oder dessen Bedrohung und wunderbare Wiederfindung – rücken die Handlung in die Nähe des Liebes- und Abenteuerromans hellenistischer Prägung. Die Erzählung ist jedoch nicht auf das Paar zentriert, sondern auf die „Helfergestalt“75 Gerhart. Er exemplifiziert, wie vollkommene Barmherzigkeit zu üben ist, wobei unterschiedliche Komponenten wie Selbstlosigkeit, Demut und ebenso die emotionale Fundierung eine Rolle spielen. Die Barmherzigkeit ist ein Vorstellungskomplex, der Emotion und praktische Ethik verbindet. Die theologische Terminologie || 73 Vgl. Reinhold Köhler: „‚Die dankbaren Toten und der gute Gerhard‛ und ‚Zum Guten Gerhard‛“. 74 Vgl. zur Verschachtelung der Erzählebenen Armin Schulz: „Erzählungen in der Erzählung“. 75 Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems ‚Der guote Gêrhart‘, 136.

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fasst das Mitleid zwischen Menschen, besonders aber jenes, das zur Hilfeleistung führt, mit dem Begriff ‚misericordia‘.76 Im theologischen Diskurs des Mittelalters wird das tätige Mitleid der misericordia von einer rein affektiven Form des Mitleidens unterschieden, die auch mit Bezug auf Konzepte der compassio reflektiert wird.77 Ohne Zweifel steht im Guoten Gêrhart die misericordia im Zentrum der exemplarischen Konstruktion; vorbildlich ist Gerhart daher auch in Bezug auf sein Mitleid. In der Gêrhart-Forschung wurde im Anschluss an Wolfgang Walliczek die Frage intensiv diskutiert, wie die Idealität des Protagonisten als Exempelfigur im Verhältnis zum Prozess der moralischen Besserung einzuschätzen ist, der nicht nur an Kaiser Otto, sondern auch an ihm vorgeführt wird.78 Aus emotionsanalytischer Sicht ließe sich untersuchen, ob die Emotionen, die Gerhart zugeschrieben werden, in diesem Argumentationszusammenhang aussagekräftig sind. Einen Ansatzpunkt bietet der Hinweis von Walliczek auf den „Situationszwang“, unter dem Gerhart angesichts des Leids der gefangenen Damen und Ritter steht.79 Religiöser und höfischer Werthorizont greifen hier ineinander, indem neben der Erbarmungswürdigkeit der unschuldig Leidenden ihr adliger Rang ins Gewicht fällt. Die Mitleidsreaktionen, von denen Gerharts Erzählung ausführlich berichtet, führen jedoch noch nicht zum Bemühen um Hilfeleistung. Erst nach der göttlichen Intervention, die Gerhart im Schlaf erfährt, wird aus seinem affektiven Mitleid tätige misericordia. Die Motivkorrespondenz von Gebet, Traum und Audition in Rahmenhandlung und Binnenerzählung legt es nahe, dass der Mitleidsaspekt, der für die Auditionsepisode in der Binnenhandlung zentral ist, auch für die Rahmenhandlung Relevanz besitzt. Zwar wird auf dieser Ebene keine Situation geschaffen, in der Kaiser Otto misericordia im Sinne eines Mitleids, das zur Hilfeleistung führt, zu beweisen hat.80 Doch zeigt sich in Ottos Reaktion auf die Erzählung Gerharts, dass dem Mitfühlen im weiteren Sinne eine Schlüsselfunktion im Prozess seiner moralischen Besserung zukommt. In drei Schritten werden die Emotionen der Figur entwickelt und dabei auch

|| 76 Falk Wagner: Art. ‚Mitleid‘, 105: „Zwar kann das lateinische Wort misericordia gleichermaßen Mitleid und/oder Barmherzigkeit bedeuten. Aber der theologische Gebrauch dieses Begriffs zeichnet sich gerade dadurch aus, das Mitleid analog zum Verständnis der Barmherzigkeit mit der tätigen Hilfe zu verbinden [...].“ 77 Das mittelhochdeutsche Wortfeld des Mitleids ist nicht analog dem lateinischen terminologisch differenziert; vgl. dazu Siegfried Grosse: Der Gedanke des Erbarmens; Uta Störmer-Caysa: „Mitleid als ästhetisches Prinzip“. 78 Vgl. Manuela Niesner: „Zum Guoten Gêrhart des Rudolf von Ems“; Monika Schulz: „Swaz du wilt daz wil ouch ich“; Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems ‚Der guote Gêrhart‘; Sonja Zöller: „Von zwîvel und guotem muot“. 79 Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems ‚Der guote Gêrhart‘, 22 u. 24. 80 Allerdings lässt sich der Selbstbezug Ottos, der die Stiftung um seines eigenen Seelenheiles willen vornimmt, mit dem Fremdbezug Gerharts kontrastieren, dessen Handeln durch Mitleid motiviert wird.

90 | Elke Koch terminologisch differenziert, wobei Rudolf die zentralen Emotionsbezeichnungen rhetorisch amplifizierend wiederholt. Nach dem Abschluss von Gerharts Erzählung trägt der epische Bericht nach, dass Otto schon während des Hörens von Emotionen erfasst wird: Ê daz des mæres wârheit dem keiser wurde geseit, sîn weinlich jâmer was sô grôz daz er ûf sîner brust begôz vor im in jâmer daz gewant. dô er der mære wart ermant, diu guottât erbarmet in. ouch nam er in sînen sin wie sînes mundes rüemlich dôn verworhte an gote sînen lôn. des mæres grôz erbermekeit und diu manlîche süeze breit an des koufmannes triuwe erweind in und diu riuwe die er von den sünden truoc daz er des ruomes ie gewuoc. sîn sünde im riuwe brâhte. (vv. 6631–6641; Hervorhebung: EK)

Ottos jâmer bildet die erste Stufe im Reaktionsprozess. Die mittelhochdeutschen Wortfelder des Erbarmens und der Trauer weisen große Überschneidungen auf; selbstbezogene und fremdbezogene Emotion werden nicht differenziert, so dass jâmer das Mitleiden mit dem Kummer bezeichnen kann, von dem Gerhart in seiner Erzählung ausführlich berichtet. Auf einer weiteren Stufe liegen erbermekeit und schließlich riuwe. Die Erzählung hat erbermekeit im Sinne von misericordia zum Inhalt. Das tätige Mitleid scheint seinerseits als eine Emotion vorgestellt zu werden, die andere mitfühlen können, denn es ist kein fremdes Leid, sondern die guottât, die Kaiser Otto erbarmet, als er die Erzählung ganz erfasst hat. Es macht hier m. E. keinen Sinn, zum theologischen Terminus der compassio zu greifen, um diese affektive Teilhabe Ottos zu konzeptualisieren, denn dies würde den Blick auf die Emotionsübernahme verstellen, die dieser Konstruktion als Vorstellung zugrunde liegt. Otto fühlt nicht das Leid, sondern das Mitleid (und zwar die misericordia) Gerharts mit und wird so zu der Emotion geführt, die für Barmherzigkeit konstitutiv ist. Die Geschichte öffnet Ottos Herz also nicht nur für den jâmer, als Teilhabe am Kummer anderer, sondern auch für des mæres groz erbermekeit, als Teilhabe an der mitleidvollen Hilfsbereitschaft anderer, die ebenfalls in Tränen zum Ausdruck kommt. Ottos Tränen haben noch einen dritten Grund: die riuwe als Sündentrauer, die Ottos Einsicht in die eigene Verfehlung begleitet. In diesem explizit markierten Pro-

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zess (Ê [...] dô [...] ouch) schafft die Rührung Ottos durch die Erzählung den Anschluss für religiös-moralische Mitleid- und Leidaffekte. Diese sind Ziel des Prozesses, so dass der jâmer im Verhältnis zu ihnen ein funktional begründetes Recht und damit eine eigene Wertigkeit erhält. Vom Fluchtpunkt der conversio Ottos aus gewinnt die Darstellung von affektivem Mitleid und geteilten Emotionen Relevanz. In Ottos Reaktion präsentiert der Text auf der Ebene der Rahmenhandlung zugleich modellhaft die ideale Rezeption eines exemplarischen Erzählens, das auf emotionale Anteilnahme setzt.81 Durch die erzählte Welt der Binnengeschichte zieht sich ein dichtes Netz von Mitleidsreaktionen und Akten des Teilens von Emotionen; zugleich lassen sich eine Reihe von rhetorischen und narrativen Verfahren erkennen, die keiner Wirkungsabsicht des Erzählers Gerhart auf seinen Rezipienten Otto zuzurechnen sind, sondern als Appellstrukturen auf das Publikum des Guoten Gêrhart zielen. Aufgrund der Initialstellung in der Reihe von Gerharts Wohltaten hat die Freikaufepisode dabei einen expositorischen Charakter; in ihr wird die Disposition Gerharts zum Mitfühlen als Figurenkennzeichen konstituiert, und es wird bereits ein breites Spektrum an appellativen Strukturen entfaltet. Insgesamt nimmt die emotionsbezogene Kommunikation sehr viel größeren Raum in den Figureninteraktionen ein als die Thematisierung der prekären Rechtslage des Freikaufs, die in diesen Interaktionen verhandelt wird. Rudolf nutzt hier jede Gelegenheit, um darzustellen, wie Gerhart mit anderen mitfühlt und dabei nicht nur ihren Kummer (z. B. v. 2001: dô half ich in ir kumber klagen), sondern auch ihre Freude bzw. die Mischung dieser Emotionen teilt. Das Wiedersehen der Gefangenen nach langer Trennung ruft Weinen von liebe und ouch von leide (v. 1972) hervor. Auch dieses Weinen rührt Gerhart an: dô wart ein schal von in vernomen, / der mich immer mêre / erbarmet alsô sêre (vv. 1968–1970).82 Das erbarmen wird hier in die Erzählgegenwart hineingenommen (vgl. auch vv. 1563– 1565), wodurch die appellative Funktion verstärkt wird. Zur Appellstruktur trägt des weiteren die ausführliche Darstellung des Leids von Figuren durch körperliche Emotionszeichen und Klagereden bei, verbunden mit dem erzählerischen Aufwand, der auf ihre höfische Vortrefflichkeit verwendet wird. Verena Barthel zufolge ist dies für die evaluative Komponente von Mitleid relevant: Mitleid ist auch davon abhängig, wie sehr die bemitleidete Figur dem Wertekanon der idealen Rezipienten entspricht.83 || 81 Daher wird bereits hier „der didaktische Appellcharakter des Werks schon in der Fiktionalität der Handlung realisiert“ (Wolfgang Walliczek: „Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart“, 268), was mit der Veranlassung Ottos zur schriftlichen Überlieferung von Gerharts Geschichte zum Abschluss kommt. Vgl. dazu auch Nikola von Merveldt: „‚Sinn-Stiftung‘“, 311. 82 Vgl. auch vv. 2372–2375: Die ritter und die vrowen guot / weinden mich von vreuden an / sô sêre daz ez mich began / in mînem muote erbarmen. 83 Verena Barthel: Empathie, Mitleid, Sympathie, 37.

92 | Elke Koch Um Rudolfs (Wirkungs-)Poetik des Teilens von Emotionen zu erfassen, muss daher die Perspektive über die Zuschreibung von Emotionen an den Protagonisten hinaus erweitert werden. Zunächst ist indessen festzuhalten, dass auch über Nebenfiguren erbarmen vorgeführt und zur Anteilnahme angeboten wird. Selbst die Heiden dienen dazu, das Teilen von Emotionen geradezu als Mechanismus zu exemplifizieren, der eintritt, wenn Emotionen wahrnehmbar werden. Vorbild scheint der antike Liebesroman zu sein, wenn die ‚Gegenspieler‘ des Liebespaares, scheinbar entgegen der Handlungslogik, von den Liebenden gerührt werden, deren Leid sie verursacht haben:84 dô weinden joch die heiden von liebe durch die vrowen hêr, von leide durch ir langez sêr; wan swer ir ougen weinen sach der muoste klagen ir ungemach; [...] swer sî sach gebâren vrœlîch und in vreuden leben, der muost ir phliht an vreuden geben. (vv. 2478–2488)

Weitere Beispiele lassen sich anführen: Abschiedssituationen etwa werden mit besonderem Akzent auf dem beiderseitigen Schmerz der Trennung erzählt, wobei noch das konventionelle Abschiedsweinen als ‚Klagehilfe‘ dargestellt und so als geteiltes Gefühl markiert wird, wie im folgenden Zitat bei Erene und Gerharts Ehefrau: mîn vrowe diu küniginne / half ir mit klagendem sinne / weinen daz sî schieden sich (vv. 5237–5239). Die Apotheose der narrativen Inszenierung von Mitgefühl behält Rudolf sich jedoch für den Höhepunkt der Liebesgeschichte von Willehalm und Erene vor. Dabei geht es gerade nicht vordringlich darum, die Mitleidsfundierung der misericordia darzustellen; es ist sogar ausgerechnet hier zu konstatieren, dass dieser Aspekt hinter der Motivation zur Hilfsaktion zurücktritt. Denn obwohl zunächst durch Blicke, Mimik und Gestik der Kummer des vermeintlichen Pilgers für Gerhart genau erkennbar wird und Willehalm, beiseite genommen, seine (und Erenes) Geschichte unter intensiven Klagen offenbart, wird als Reaktion Gerharts jeweils nur der Wunsch erzählt, die Identität des Pilgers aufzudecken. Das Bravourstück des Erzählens von geteilten Emotionen ist der Inszenierung der Minne des wiedervereinten Paares vorbehalten. Die Emotionsdarstellung der Wiedersehensszene wäre eine eigene Untersuchung wert. Rudolf vermittelt in einem rhetorischen Kraftakt den Wirbel von Gefüh|| 84 Vgl. etwa eine in dieser Hinsicht parallele Stelle in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur, vv. 7179–7199; dazu Jutta Eming: Emotion und Expression, 163f.

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len, der das Paar überwältigt: Wiedersehensfreude, aufflammende Liebe, Trennungsschmerz und Sehnsucht, die nachträglich noch einmal aufwallen: vreude, minne, jâmer, senen, die ständig ineinander umschlagen, und – als gemeinsam gefühlte – das Paar zu einer Einheit zusammenschmelzen. Die gesamte ‚Gefühlsgeschichte‘ des Paares, die im Erzählschema angelegt ist (in der Anlage des Guoten Gêrhart aber nur partiell entfaltet werden kann)85, wird in dieser Szene zusammengedrängt. Hier interessiert jedoch v. a. der Umstand, dass auch die Gefühle der Minne, die die Intimität des Paares ausmachen und begründen, als teilbar – und zwar mit anderen – vorgestellt werden. In das Netz der Darstellungen von Mitleid und Mitfreude fügt es sich, dass in der Wiederfindungsszene die gesamte Festgemeinschaft in die vreude und den jâmer des vereinten Paares einstimmt. Doch geht Rudolf darüber noch einen Schritt hinaus, indem er eine weitere Gefühlsgemeinschaft von Initiierten evoziert, die aufgrund einer entsprechenden Disposition die innige, sehnsuchtsvoll verlangende Minne des Paares miterleben können: Die edlen sendenære fuogten sende swære mit jâmer senden smerzen manigem senenden herzen, daz nâch liebe sende sich. (vv. 4821–4825)

Die Emotionsdarstellung bedient sich der Redefigur der variierenden Wortwiederholung; dies ist an vielen Stellen des Werkes der Fall, wird hier aber zu höchster Steigerung gebracht. Die ältere Forschung wies darauf hin, dass Rudolf sich bei der Verwendung an der lateinischen Schulrhetorik orientiert, die diese Redefigur zu Darstellung unter anderem von Schmerz und Liebe empfiehlt.86 Gustav Ehrismann zufolge zielt der Autor mit diesem rhetorischen Mittel sowohl darauf, durch die Ausmalung der Stimmung von Freude und Leid das Publikum zu rühren, als auch darauf, einen ästhetischen Klanggenuss zu vermitteln.87 Darüber hinaus lassen Rudolfs sendenære (mit Metathese) die senedæren im Prolog von Gottfrieds Tristan (vv. 121 und 126) anklingen. Mit dieser Bezeichnung wird dort die Gemeinsamkeit zwischen den idealen Rezipienten der Erzählung und den beiden Liebenden markiert, von der sie handelt. Gottfrieds Prolog evoziert eine Gemeinschaft, in der die Rezipienten im Gedenken an Tristan und Isoldes Minne teilhaben können: Deist aller edelen herzen brôt (v. 233). Rudolf hingegen setzt diese Konstellation als Emotionsteilhabe auf der Ebene der Figuren um. Auffällig ist, wie || 85 Rudolf von Ems hat mit dem Willehalm von Orlens, der nach dem Guoten Gêrhart entstanden ist, selbst einen Minne- und Aventiureroman verfasst. 86 Gustav Ehrismann: Studien über Rudolf von Ems, 75. 87 Ebd. 60f.

94 | Elke Koch er dabei das Mitfühlen der Minnesehnsucht über verschiedene innere Instanzen entwickelt. Erst wird das Herz affiziert, dann kommen Gedanken und Sinne hinzu: der herzeliebes liebe jach und ir zweier triuwe sach, der nam in sînen gedanc den minneclîchen umbevanc, den süezen kus, den senften druc, der lieben minne snellen vluc diu mit sender liebe grôz in ir beider herze schôz. ir jâmer und ir minne enzunde manige sinne, die sêre muosten brinnen nâch liebe in senden sinnen, die von minne wâren wunt. (vv. 4843–4855)

Die Vorstellung (der nam in sînen gedanc) eines emotionalen Geschehens stimuliert bei den Figuren die entsprechende Emotion, ein Prozess, der modellhaft für die Textrezeption stehen kann, zumal nicht nur äußerlich Wahrnehmbares (Umarmung und Kuss) imaginiert wird, sondern Vorgänge, die sich im Inneren des Herzens abspielen. Die Parallelsetzung von Figuren- und Rezipientenaffizierung bleibt jedoch implizit – anders als etwa in Rudolfs Willehalm von Orlens, in dem eine solche Affizierung der Rezipienten über die Vorstellung mehrfach ausdrücklich benannt wird –, und sie muss es auch bleiben, denn es ist schließlich Gerhart, der hier erzählt. Sonja Glauch hat die Wiedersehensepisode aus narratologischer Perspektive untersucht und darauf hingewiesen, dass in der Ich-Erzählung Gerharts keine Erzählerstimme ausgebildet wird, die die Erzählsituation reflektiert oder die Figur charakterisiert; besonders beim Wiedersehen von Willehalm und Erene gleiche sich die Stimme des Ich-Erzählers Gerhart der eines höfischen Autor-Erzählers derart an, dass der Eindruck entstehe, Rudolf habe seinen Binnenerzähler im rhetorischen Überschwang geradezu ‚vergessen‘.88 Als Kriterium des auktorialen Stils wertet sie die „Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem“89, die gerade dort am größten werde, wo Gerharts Erzählduktus sich an Gottfrieds Tristan anlehnt. Glauch bezieht diese Distanz auf die emotionale Beteiligung des Erzählers am Geschehen: Die heterodiegetische Situation des erzählenden Autors ist das Paradigma für ein Erzählen, das an die Stelle emotionaler Beteiligung nur rhetorische Intensität der Sprache und kommentierend-bewertende Einmischung setzen kann. Sobald Gerhart sich in eine Minne-Innerlichkeits-

|| 88 Vgl. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur, 86. 89 Ebd.

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rhetorik hineinredet (ab v. 4605), bedient auch er sich der Technik solcher sekundären Anteilnahme.90

Diese Bewertung scheint mir zu kurz zu greifen angesichts der Poetik geteilter Emotionen, wie Rudolf sie im Guoten Gêrhart insgesamt entfaltet. Der homodiegetische Erzähler wird darin gezielt funktionalisiert, indem er als privilegierte Instanz der Vermittlung emotionaler Beteiligung ausgespielt wird. Es ist in diesem Zusammenhang auffällig, wie genau in Gerharts Erzählung das Wahrnehmbarwerden von Emotionen am Körper, im Verhalten und in den Reden der Figuren berücksichtigt wird; dies ist Bedingung dafür, dass er darauf mitfühlend reagiert.91 Das Überschreiten dieser Außenperspektive in der Wiedersehensepisode, in der Gerhart scheinbar wie ein auktorialer Erzähler in Andere hineinsehen kann, wird von Rudolf sorgfältig vorbereitet. Gerhart erkennt Erenes fortbestehende Liebe zu dem verschollenen Verlobten an äußeren Zeichen (vgl. vv. 3000–3008), doch nur deshalb, weil er Kenner der Minne und ihres Wesens ist (vv. 3017–3030). So verbürgt letztlich die objektivierte Instanz der Minne die Bedeutung der äußeren Zeichen: Diu Minne mir der wârheit jach / die ich an mîner vrowen sach (vv. 3031f.). In der Wiedersehensepisode kommt Rudolf auf dieses ‚Erklärungsmuster‘ zurück: Auch hier begründet Gerhart seine Fähigkeit, über die Vorgänge im Herzen der Liebenden Auskunft zu geben, damit, dass vrou Minne ihm darüber Gewissheit verschafft hat (vgl. vv. 4993–5017). Das Ausmaß der quasi-auktorialen ‚Innenschau‘ in andere Figuren, das dem homodiegetischen Erzähler Gerhart in dieser Szene gestattet wird, geht allerdings über die frühere Passage weit hinaus. Es ist nicht zu übersehen, dass Gerhart hier als höfischer Erzähler agiert; allerdings bezweifle ich, dass dies Rudolf gleichsam im rhetorischen Eifer ‚unterläuft‘. Vielmehr halte ich es für plausibler, dass die ausgefaltete Rhetorik der Minneansteckung die Expertise höfischen Erzählens für die narrative Vermittlung von Emotionsteilhabe ausstellt. Der vertraute Umgang mit der objektivierten Instanz der Minne mag uns nicht (mehr) als eine Technik erscheinen, die emotionale Beteiligung von Erzählern auszudrücken (die zumindest in Gerharts Fall nicht als ‚sekundäre‘ zu betrachten ist). Im Guoten Gêrhart bildet das literarisch codierte Emotionswissen, das in der Vertrautheit mit Minne Gestalt gewinnt, eine gemeinsame Matrix, die den Autor (der seinen IchErzähler auf sich hin transparent werden lässt)92, den Ich-Erzähler, Figuren und Rezipienten verbindet. Dieses Emotionswissen lässt sich für eine affektive Vergemeinschaftung aktivieren. || 90 Ebd., 85. 91 Mit Blick auf die Rolle von Emotionen in der Narration trifft m. E. die Einschätzung von Armin Schulz: „Erzählungen in der Erzählung“, 47, nicht zu, dass es im Text „keinerlei ‚psychologische‘ Motivation der Handlung [gibt], sondern eine ausschließlich rechtlich-soziale“. 92 Zu dieser Interpretation passt die Anspielung auf den Prolog (min selbes guot, v. 4879), die Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur, 86, in den Versen entdeckt, mit denen Rudolf die Passage abschließt.

96 | Elke Koch Das höfische „Virtuosenstück“93 der Emotionsrhetorik der Binnenerzählung, kulminierend in den Einflüsterungen von Frau Minne und der Gemeinschaft der sendenære, scheint sich nur auf den ersten Blick von der exemplarischen Vermittlung christlicher Ethik weit zu entfernen. Zumindest geht es darin nicht ganz auf, denn es lässt sich von dort kein direkter Effekt auf den Kaiser und seine éducation sentimentale zur Barmherzigkeit erkennen. Insofern liegt in dieser Episode ein narrativer Überschuss. Dieser ist jedoch weder rein ornamental, noch geht er in einem intertextuell-selbstbezüglichen literarischen Spiel auf. Vielmehr ist er in einem Rahmenkonzept geteilter Emotionen verankert, auf dessen Grundlage eine Wirkungspoetik wie die des Guoten Gêrhart aufruht. Rudolf erzählt eine exemplarische Geschichte, in der das Handeln der Menschen nach göttlicher Ordnung emotional fundiert ist. Er tut dies als rhetorisch versierter höfischer Erzähler, der die Kunst beherrscht, durch Literatur Anteilnahme an den Emotionen anderer zu vermitteln, und der so die ethische und die ästhetische Dimension des Teilens von Emotionen ineinandergreifen lassen kann. Das guot (vgl. den Prolog des Guoten Gêrhart, vv. 1– 10) eines solchen Erzählens erweist sich an Leid und Mitleid, seine Meisterschaft an der Minne.

Literatur Primärtexte Augustinus: Confessiones, eingel., übers. u. erl. v. Joseph Bernhart, 3. Aufl., München 1966. Gottfried von Straßburg: Tristan, hg. v. Karl Marold, dritter Abdruck m. einem durch F. Rankes Kollationen erw. und verb. Apparat bes. u. mit einem Nachw. vers. v. Werner Schröder, Berlin 1969. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Aufl. veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen, hg. v. Heinz Rölleke, Bd. 1: Märchen, Stuttgart 1980 (RUB 3191). Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008 (Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch 29). [Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur] Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur, hg. v. Wolfgang Golther, Tübingen 1974 [Stuttgart o. J.] (Deutsche National-Litteratur 3. Abt., IV 2), 249–470. T. Maccius Plautus: Aulularia, T. Macci Plauti Comoediae, W.M. Lindsay, 10. Aufl., Oxford 1963. Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart, hg. v. John A. Asher, 3. durchges. Aufl., Tübingen 1989 (Altdeutsche Textbibliothek 56).

|| 93 Gustav Ehrismann: Studien über Rudolf von Ems, 61.

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Emotionsforschung | 99

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102 | Elke Koch

Andrea Sieber

Gender Studies 1 Forschungsüberblick 1.1 Begrifflichkeit Der aus dem Englischen stammende gender-Begriff bezeichnete ursprünglich nur das grammatische Geschlecht (lat. genus).1 Durch Historisierung anthropologischer Basiskategorien wurde in der englischsprachigen Forschung mit gender zunehmend die historisch-kulturelle Determination von Geschlechterrollen in ihren Erscheinungsformen von Weiblichkeit und Männlichkeit markiert. Gender fungiert als Gegenpol zum Begriff sex, der sich auf einen „vermeintlich ahistorisch, biologisch bestimmten Geschlechtskörper“2 bezieht. Aus der Perspektive der Gender Studies sind die sozio-kulturelle Geschlechtsidentität (gender) und das anatomische Geschlecht (sex) nicht zwangsläufig identisch. Das von Gayle Rubin aus der Psychoanalyse aufgegriffene Begriffspaar sex/gender3 kann in seiner heuristischen Relation analytisch entkoppelt und die „scheinbare Natürlichkeit von Geschlecht“4 in Frage gestellt werden. Gemäß der Arbitrarität sprachlicher Zeichen wird mit gender kein Faktum bezeichnet, sondern es werden semantische Bedeutungszuschreibungen vorgenommen, die in einem historisch variablen System hegemonialer Diskurse jeweils intelligible sexuelle Unterschiede signifizieren sollen. Die amerikanische Philosophin Judith Butler hat diese Relation radikalisiert und auch sex als kulturell generierte Kategorie sozialer Konstruktion kenntlich gemacht.5 Da der Bedeutungshorizont des deutschen Begriffs ‚Geschlecht‘ nicht mit der Kategorie gender als Bezeichnung für das sozial konstruierte Geschlecht zur Deckung kommt, wurde Mitte der 1990er Jahre versucht, den aus der grammatischen Terminologie entlehnten lateinischen Begriff ‚Genus‘ als Synonym für gender in der deutschsprachigen Forschung zu etablieren.6 Ein Konsens über diesen Sprachgebrauch konnte nicht hergestellt werden. Obwohl ‚Geschlecht‘ im Deutschen unterschiedliche Bedeutungsfacetten aufweist, etwa als Synonym für sex gebraucht wer|| 1 Vgl. dazu Waltraud W. Wende: Art. ‚Gender/Geschlecht‘. 2 Ebd., 141. 3 Vgl. Robert J. Stoller: Sex and gender; Gayle Rubin: „The traffic in women“. 4 Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies, 11. 5 Vgl. insg. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 6 Vgl. das Vorwort in dem programmatisch betitelten Bd.: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hgg.): Genus, VIII.

104 | Andrea Sieber den oder verwandtschaftliche Konfigurationen im Bereich der Genealogie bezeichnen kann, hat sich der Begriff in der deutschsprachigen Rezeption der Gender Studies weitgehend als Synonym für gender durchgesetzt.

1.2 Ansätze und Forschungsfelder der Gender Studies Seit den 1990er Jahren konnten sich verschiedene Forschungsansätze, die sich der Konstruktion von Geschlechterverhältnissen widmen, an deutschen Universitäten als eigenständige kulturwissenschaftliche Disziplin der Gender Studies etablieren.7 Im Zentrum der Gender Studies steht die Auseinandersetzung mit ‚Geschlecht‘ als grundlegender Kategorie gesellschaftlicher Normierung, die sich im binären System einer hierarchisch strukturierten und heterosexuell dominierten Geschlechterordnung von Weiblichkeit und Männlichkeit niederschlägt.8 Forschungsgeschichtlich greifen die Gegenstände und Methoden der Gender Studies zunächst Aspekte der feministischen Kritik an asymmetrischen Geschlechterverhältnissen auf. Während im Feminismus der Fokus auf ‚der Frau‘ bzw. ‚Weiblichkeit‘ als dem Anderen oder als Abweichung von einer männlich definierten Norm liegt, konzentrieren sich die Gender Studies auf Geschlechtlichkeit als historisch und (inter-)kulturell wandelbares Phänomen, womit das binäre Unterscheidungssystem Frau/Mann bzw. weiblich/männlich grundsätzlich zur Disposition gestellt wird. Gemeinsame Schnittflächen zwischen Feminismus und Gender Studies lassen sich im grundlegenden Streben nach Emanzipation im politischen Alltag ausmachen.9 Zentrale Impulse für die akademische Etablierung der Gender Studies entstammen den Theoriebildungen aus dem US-amerikanischen Raum, die in kritischer Auseinandersetzung insb. mit der Psychoanalyse (Sigmund Freud, Jacques Lacan)10 und dem (Post-)Strukturalismus (Michel Foucault) entwickelt wurden. Darüber hinaus teilen die Gender Studies mit den Cultural Studies ein grundlegendes Interesse an Populärkultur und zeichnen sich durch eine konstitutive interdisziplinäre Offenheit aus. Außerdem tragen die Gender Studies ab den 1980er und 1990er Jahren einem zunehmend offenerem Umgang mit der Pluralisierung und Dynamisierung von Geschlecht Rechnung, woraus sich konstruktive Schnittflächen zur Intersektionalitäts-

|| 7 Zur disziplinären Entwicklung vgl. Renate Hof: „Die Entwicklung der Gender Studies“; für weiterführende Lektüren eignet sich die Textsammlung mit ausgewählten Originaltexten in deutscher Übers. in: Franziska Bergmann u. a. (Hgg.): Gender Studies. 8 Für Basisinformationen s. den Abschn. „Was sind Gender Studies?“ in: Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies, 7–20 und Doris Feldmann/Sabine Schülting: Art. ‚Gender Studies/Gender-Forschung‘. 9 Zum komplexen Verhältnis zwischen Feminismus und Gender Studies s. Regina Becker-Schmidt/ Gudrun Axeli-Knapp: Feministische Theorien zur Einführung. 10 Zur psychoanalytischen Theorie vgl. den Beitrag von Friedrich Wolfzettel i. vorl. Bd.

Gender Studies | 105

forschung ergeben. In den Blick genommen wird zum einen das Zusammenwirken von gender mit anderen identitären Differenzierungen und hierarchisierenden Kategorien wie class (Klasse) und race (Rasse).11 Zum anderen werden im Anschluss an die Queer Studies12 in heteronormativitätskritischer Perspektive dominante zu Gunsten minoritärer Begehrensstrukturen in Frage gestellt, wobei auch spezifische Facetten der Gay und Lesbian Studies mitzudenken sind. Einen weiteren Beitrag zur Pluralisierung leisten die Men’s Studies, die dem Desiderat entgegensteuern, dass gender-Forschung bis in die 1990er Jahre oft als ‚Frauenforschung‘ (Women’s Studies) ohne angemessenes Korrelat einer ‚Männerforschung‘ betrieben wurde.13 Die Aufnahme diverser Positionen und das teilweise Zusammenfallen der Gender Studies mit den genannten Strömungen bedingen in den letzten Jahrzehnten nicht nur die enorme Ausweitung des Gegenstandsbereiches auf Kultur insgesamt, sondern machen ‚Geschlecht‘ auch zu einer universell anwendbaren Kategorie jenseits traditioneller Disziplingrenzen. Zu den literaturgeschichtlich anschlussfähigen theoretischen Prämissen der Gender Studies gehört die grundlegende Differenzierung von sex (anatomisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Während feministische Untersuchungen sich häufig auf die Rekonstruktion authentischer weiblicher Erfahrungen und die Analyse von weiblicher Autorschaft und Ästhetik beschränkt hatten, wird mit der Einführung der Kategorie gender der Fokus auf den Konstruktionscharakter beider Geschlechter, auf den historischen Prozess der Ausdifferenzierung von Geschlechterverhältnissen und auf die zugrundeliegenden Machtstrukturen gelenkt. Die sozial-konstruktivistische Wende erfolgte innerhalb des Feminismus Anfang der 1970er Jahre im Rekurs auf Simone de Beauvoirs berühmtes Diktum „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“14. Diese führte insb. in der écriture féminine zu einer auf Sprache fokussierten Theoretisierung der binären Geschlechterordnung als Projektionsstruktur normativer Vorannahmen und mündete in Ansätzen des dekonstruktiven Feminismus. In den 1990er Jahren radikalisierte die amerikanische Philosophin Judith Butler diese feministischen Positionen mit weitreichenden Konsequenzen:15 Sie widerlegt die vermeintlich kausal-ontologische Verschränkung zwischen dem vorausgesetzten biologischen und dem nachgeordneten soziokulturellen Geschlecht. Damit verabschiedet sich Butler davon, sex als „vordiskursive Gegebenheit“16 zu betrachten.

|| 11 Vgl. dazu Helma Lutz u. a. (Hgg.): Fokus Intersektionalität; für Verbindungslinien zu den Postcolonial Studies s. Abschn. 9 in Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies, 119–131. 12 Vgl. die dt. Bezeichnung ‚kritische Heteronormativitätsforschung‘ in dem Beitrag von Andreas Kraß i. vorl. Bd. 13 Vgl. Willi Walter: „Gender, Geschlecht und Männerforschung“. 14 Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe, 1949; dt.: Das andere Geschlecht, 1951. 15 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 16 Ebd., 24.

106 | Andrea Sieber Im Rekurs auf Foucaults Diskursanalyse17 ist auch sex als diskursiver Effekt eines normativ-kulturellen Konstruktionsprozesses zu begreifen, der mit der Kategorie gender bezeichnet wird. Der Körper avanciert dabei zum Medium der Disziplinierung. Seiner Oberfläche wird die Fiktion einer ‚natürlichen Geschlechterdifferenz‘ lediglich eingeschrieben.18 Durch diesen Ansatz lassen sich Körperkonzepte in historischer Perspektive als Schnittstelle von normierenden Machtdiskursen analysieren. Außerdem kann die Gültigkeit von Begehrensnormen hinterfragt werden. Butler hat dafür den Begriff der ‚heterosexuellen Matrix‘ eingeführt,19 um den normativen Zwang zu beschreiben, der die Komponenten sex, gender und desire wechselseitig voneinander herleitet und zirkulär aneinander bindet.20 Die psychisch erlebte Geschlechtsidentität (gender identity) erweist sich als eine konstruierte Erfahrung vermeintlicher Kohärenz zwischen Sexualität, Geschlecht und Begehren, die im Rahmen diskursiv etablierter oder privilegierter Beziehungsmodelle durch Iteration allererst hervorgebracht wird.21 Zentral in Butlers Theorie ist dabei der Fokus auf Performativität.22 Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass aus der Wiederholung von performativen Akten des Begehrens, der Sexuierung23 und des doing gender24 die „Illusion eines be|| 17 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. 18 „Die Kategorie des ‚sex‘ ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein ‚regulierendes Ideal‘ genannt hat. In diesem Sinne fungiert das ‚biologische Geschlecht‘ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren. Das ‚biologische Geschlecht‘ ist demnach also ein regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist, und zu dieser Materialisierung kommt es (oder kommt es nicht) infolge bestimmter, höchst regulierender Praktiken. Anders gesagt, das ‚biologische Geschlecht‘ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird“ (Judith Butler: Körper von Gewicht, 21). 19 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, 11 passim. 20 „Obwohl die Zwangsheterosexualität oft suggeriert, es gebe zunächst ein Geschlecht, das sich in einer Geschlechtsidentität und dann in einer Sexualität ausdrückt, kann es sein, daß wir diesen Denkvorgang an diesem Punkt vollständig umkehren und modifizieren müssen. Wenn ein Sexualitätsregime die obligatorische Performanz des Geschlechts verfügt, so ist es möglich, daß das binäre System der Geschlechtsidentität und das binäre System des Geschlechts nur durch diese Performanz überhaupt erst verständlich werden“ (Judith Butler: „Imitation und Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität“, 167). 21 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, 45f. 22 Butlers Performanz-Konzept basiert auf der Sprechakttheorie von John L. Austin. Vgl. dazu Judith Butler: Haß spricht. 23 Der Begriff ‚Sexuierung‘ bezeichnet den Zwang zur Einordnung von Personen in die binäre Geschlechterordnung. Bes. evident wird dieser Zwang in der Geburtssituation, in der die Genitalien eines Neugeborenen als Zeichen der weiblichen oder männlichen Geschlechtszugehörigkeit identifiziert werden, woraus meist eine von stereotypen Vorstellungen geprägte geschlechtsspezifische Sozialisation resultiert. 24 Der Begriff wurde von Candace West und Don H. Zimmerman eingeführt. Vgl. dazu auch Helga Kotthoff: „Was heißt eigentlich ‚doing gender‘?“.

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ständigen, geschlechtlichen Selbst“ als eine „performative Leistung“ resultiert, „die durch gesellschaftliche Sanktionen und Tabus erzwungen wird“.25 Zugleich entsteht zwischen den zitierten Geschlechternormen und den Formen der subjektiven Verkörperung dieser Normen eine brüchige Logik, die Diskontinuitäten und die grundlegende Arbitrarität innerhalb der sex-gender-desire-Trias verdeutlicht. Geschlechtsidentität rekurriert weder auf etwas Vorgängiges noch stellt sie ein stabiles Konstrukt dar, sondern muss permanent in performativen Akten hervorgebracht werden. Der Zwang zu Handlungsvollzug und Iteration ermöglicht neben der Affirmation bestehender Ordnungen auch deren Veränderung. Damit eröffnen sich Spielräume für subversive Praktiken, die die gender-Regulierungen26 innerhalb eines normierenden Machtsystems unterlaufen und zur Destabilisierung oder Veränderung dieser Normen beitragen; d. h. privilegierte Begehrensformen werden um „rivalisierende, subversive Matrixen der Geschlechter-Unordnung (gender disorder)“27 ergänzt. Kulturelle Praktiken der „Geschlechter-Parodie (gender parody)“28 wie Travestie, crossdressing oder die Stilisierung von Butch- und Femmes-Identitäten stören, kritisieren und ironisieren dabei die scheinbar natürliche Norm heterosexuellen Begehrens. Butlers Erkenntnisse vom Beginn der 1990er Jahre über die Mechanismen der Konstruktion von geschlechtlicher Identität und die Möglichkeiten ihrer subversiven Dekonstruktion sind nicht unwidersprochen geblieben.29 Zum Teil wurden sie von Butler selbst kontinuierlich weiterentwickelt bzw. bildeten die Basis für die zeitgleich entstehenden Queer Studies und wurden um Perspektiven der Men’s Studies ergänzt. Letztere haben sich als Reaktion auf die ‚Neue Frauenbewegung‘ und die postmoderne Krise der Männlichkeit herausgebildet. Die sog. ‚Kritische Männerforschung‘ setzt sich mit Männlichkeitsmodellen auseinander, die aufgrund dominant patriarchaler Strukturen meist unmarkiert im Zentrum der etablierten Geschlechterordnung stehen. Männlichkeit kann jedoch, ähnlich wie die allgemeine Kategorie gender, entsprechend des historischen Wandels gesellschaftlicher und kultureller Bedingungen als konstruierter Effekt von Machtverhältnissen und Körperdiskursen neu definiert werden.30 Fokussiert wird, wie sich ‚Männlichkeiten‘ durch Interaktion innerhalb homosozialer Hierarchien und Hegemonien zum Beispiel im Arbeitsall|| 25 Judith Butler: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution“, 302. „In diesem Sinn ist die Geschlechterzugehörigkeit keineswegs die stabile Identität eines Handlungsortes, von dem dann verschiedene Akte ausgehen; vielmehr ist sie eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist – eine Identität, die durch eine stilisierte Wiederholung von Akten zustande kommt“ (ebd., 301f.). 26 Vgl. Judith Butler: „Gender-Regulierungen“. 27 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, 39. 28 Ebd., 203. 29 Vgl. exemplarisch die persönlich verletzende Kritik von Barbara Duden: „Die Frau ohne Unterleib“. 30 Vgl. dazu die Abhandlung von Robert W. Connell: Der gemachte Mann.

108 | Andrea Sieber tag, in der Familie, in Männerbünden oder im Militär konstituieren. Problematisch erscheint, dass traditionelle Ansätze der Men’s Studies eine männlich codierte Anatomie und Heterosexualität als Norm voraussetzen. Erst durch die Dekonstruktion biologisch fundierter Männlichkeitszuschreibungen und durch die Entkopplung von der heteronormativen Matrix werden Männlichkeitskonstruktionen kulturgeschichtlich als Pluralitäten intelligibel.31 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gender Studies jene Machtdiskurse problematisieren, die eine binäre Geschlechterordnung voraussetzen oder privilegieren. Von hieraus erschließen sich durch Kombination mit queeren und intersektionalen Ansätzen weitere Theoriefelder.

1.3 Potenziale der Gender Studies in den Literaturwissenschaften Literatur wurde von der Antike bis zum ausgehenden 18. Jh. in ihren Produktionsund Rezeptionsbedingungen androzentrisch geprägt. Auf der Ebene der Literaturproduktion finden sich in manchen Gattungskontexten prominente Gegenbeispiele. Berühmte Vertreterinnen aus der mittelalterlichen Frauenmystik,32 wie Mechthild von Magdeburg, oder aus dem Bereich der Querelle des Femmes,33 wie Christine de Pizan, stehen meist solitär einer Überfülle männlicher Autoren gegenüber, die ein deutlich breiteres literarisches Terrain bedienen. Die reglementierten Möglichkeiten weiblicher Autorschaft kommen auch darin zum Ausdruck, dass Frauen durch patriarchale Reglementierungen häufig zu einem maskierten Schreiben gezwungen wurden, wovon Anonymität, Pseudonymität sowie geistige bzw. juristische Enteignung durch Bibliographen, Verleger und Zensoren Zeugnis ablegen.34 Gegen Vorurteile und Einschränkungen hatten noch Virginia Woolf oder Simone de Beauvoir zu kämpfen, die als Pionierinnen des Feminismus eingestuft werden.35 Ähnliches lässt sich zum Mäzenatentum festhalten: Zwar konnten berühmte Frauen, wie Eleonore von Aquitanien, Einfluss auf die zeitgenössische Literaturproduktion nehmen, aber dies hat in der Regel nicht zur Förderung und Etablierung weiblicher Autorschaft beigetragen.36 Auf der Ebene der Rezeption standen Frauen als Zielgruppe schließlich immer unter Verdacht einer lustvoll-utopischen Hingabe an imaginäre Welten, die auch im ‚realen Leben‘ zur Transgression von gender-Normen führen könnte.

|| 31 Vgl. Judith Halberstam: Female masculinity. 32 Vgl. Claudia Spanily: Autorschaft und Geschlechterrolle. 33 Vgl. Friederike Hassauer (Hg.): Heißer Streit und kalte Ordnung. 34 Vgl. Barbara Hahn: Unter falschem Namen. 35 Vgl. Debra Bergoffen: „Simone de Beauvoir in her times and ours“; Lisa L. Coleman: „Woolf and feminist theory“. 36 Vgl. Ruth Harvey: „Eleanor of Aquitaine and the Troubadours“.

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Berühmte Lektüreverbotskataloge dokumentieren dies ebenso wie die Pathologisierung weiblicher Lesesucht.37 Auch die philologische und interpretatorische Erschließung von Literatur bleibt gemäß der aufkommenden Wissenschaftskultur in der Moderne zunächst eine Männerdomäne. Die Entwicklung einer feminozentrischen Literaturgeschichtsschreibung ab Mitte der 1980er Jahre, die sich ausschließlich auf weibliche Schreibgenealogien konzentriert, kann als radikaler Gegenpol zur Marginalisierung von Frauen im männlichen Literaturbetrieb gewertet werden, steuert dabei jedoch nicht dem Desiderat einer Geschlechterdifferenzen nivellierenden Interaktion im literarischen System entgegen.38 Literaturwissenschaft und -theorie erweitern bereits ab den frühen 1970er Jahren vom anglo-amerikanischen Raum aus ihre Sichtweisen um geschlechterspezifische Fragestellungen und streben eine Revision des literarischen Kanons an.39 Etwa zeitgleich entwickeln sich aus der Kritik am Androzentrismus neben der bereits genannten Fokussierung auf literarhistorische Frauenforschung heterogene Forschungsfelder, die sich mit den theoretischen Voraussetzungen und Methoden von Literaturwissenschaft unter gender-theoretischen Prämissen grundlegend neu auseinander setzen.40 Besonders akzentuiert werden dabei Aspekte des Ästhetischen, des Imaginären, des Narrativen, der Performativität oder der Sprache.41 Impliziert ist ein theoretischer Perspektivenwechsel von […] kultursoziologischen und kulturhistorischen zu dekonstruktiven, diskursanalytischen Ansätzen, von der Frage nach weiblicher Subjektivität zur Auflösung von Identitätsfestlegungen, von konkreten schreibenden und lesenden Frauen zur Weiblichkeit als Metapher, von der politisch motivierten Parteilichkeit für Frauen zur Analyse der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten.42

Hauptproblem bei der Rezeption gender-theoretischer Fragestellungen in den Literaturwissenschaften ist, dass die Gender Studies aufgrund ihrer interdisziplinären Ausrichtung keine konkreten Einzelmethoden ausprägen, die einfach auf literaturwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände appliziert werden könnten. Gender Studies stellen somit kein direktes Modell der Literaturanalyse bereit, sondern markieren lediglich gender-sensible Themenfelder, die in die unterschiedlichsten methodischen Verfahren der Literaturanalyse eingebracht werden können. Daraus re-

|| 37 Vgl. Gabriela Signori: „Schädliche Geschichte(n)?“ und den Abschn. „Lesesucht und Zeichendiät“ in: Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, 393–430. 38 Vgl. Ina Schabert: „Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung“. 39 Vgl. Renate von Heydebrand/Simone Winko: „Arbeit am Kanon“. 40 Vgl. Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. 41 Vgl. exemplarisch Sigrid Nieberle/Elisabeth Strowick (Hgg.): Narration und Geschlecht. In diesem Bd. werden Schnittflächen zu modernen Medien und Bildtheorien berücksichtigt. 42 Margot Brink: Art. ‚Literaturtheorie, feministische‘, 239 (ohne Querverweise zit.).

110 | Andrea Sieber sultieren die Heterogenität und Pluralität der Ansätze, deren wissenschaftliches Erkenntnispotenzial sich mitunter auf das heuristische Label ‚Geschlecht‘ beschränkt.43 Einführende Darstellungen zu gender-Fragen in der Literaturwissenschaft arbeiten sich dementsprechend nicht nur an der wissenschaftsgeschichtlichen Genese der Gender Studies ab, sondern folgen auch bei der Formierung von Forschungsfeldern den begrifflichen Konjunkturen der interdisziplinär breit geführten gender-Debatten oder individuellen theoretischen Akzentuierungen. Produktiv ist die Verbindung von Gender Studies und germanistischem Grundwissen dabei ebenso wie die Konkretisierung der an sich offenen Kategorie gender in spezifisch literaturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern zur Autorschaft, zur Kanonrevision, zur Literaturgeschichtsschreibung, zur Gattungs-, Themen- und Motivaffinität der sexgender-Relation, zu Produktions-, Rezeptions- und Distributionsbedingungen von Literatur, zur Erzählforschung und Narratologie, zur Werkästhetik und Texttheorie.44 Eine besondere Herausforderung stellen Schnittflächen zu interdisziplinären und interkulturellen Themenfeldern dar, die in einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik innovative Potenziale freisetzen: Etwa die Frage nach der Macht von Geschlechterbildern, nach der gender-distinkten Performativität von Körperinszenierungen oder Gefühlen, nach intersektionalen Aspekten von Alterität oder Ethnizität.45

1.4 Rezeption der Gender Studies in der germanistischen Mediävistik Bereits seit den späten 1980er Jahren haben sich Forschungsansätze der Gender Studies zum Teil noch aus der Perspektive der feministischen Literaturwissenschaften bzw. unter dem Label der ‚Frauen- und Geschlechterforschung‘ in der germanistischen Mediävistik etablieren können.46 Obwohl sich diese mediävistische Rezeption gender-theoretischer Ansätze seitdem in einer unüberschaubaren Vielzahl von Publikationen niedergeschlagen hat, stellen sowohl ein forschungskritischer Gesamtüberblick als auch eine konkrete Operationalisierung der Theorien als spezifisches

|| 43 Zu Kritikpunkten s. Barbara Becker-Cantarino: Genderforschung und Germanistik, 17 passim. 44 Kompakt skizziert von Inge Stephan: „Literaturwissenschaft“, 294f.; vgl. außerdem die Benennung von Forschungsfeldern bei Barbara Becker-Cantarino: Genderforschung und Germanistik, 37– 39. 45 Auf weitere Nennungen wird hier bewusst verzichtet, da wissenschaftliche Themen als Konjunkturphänomene zu betrachten sind. Vgl. die Akzentuierungen bei Inge Stephan: „Literaturwissenschaft“, 295f.; sowie ergänzend die interdisziplinären Schnittflächen und Themenfelder in dem Bd.: Christina von Braun/Inge Stephan (Hgg.): Gender@Wissen. 46 Vgl. exemplarisch Ingrid Bennewitz (Hg.): Der frauen buoch und Ursula Peters: „Frauenliteratur im Mittelalter?“.

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Analyseinstrumentarium und Grundwissen in der germanistischen Mediävistik nach wie vor ein Desiderat dar. Ansätze einer solchen Operationalisierung finden sich in einer Überblicksdarstellung zur Rezeption des New Historicism und der Gender Studies in der Mediävistik von Ursula Peters (1997).47 Gegenüber dem Teilbereich der Wissenschaft zur neueren deutschen Literatur erscheint in der germanistischen Mediävistik das Problem marginalisierter weiblicher Autorschaft durch das weitgehende Fehlen von Autorinnen in fast allen mittelalterlichen Gattungen verschärft. Das hat dazu geführt, dass zunächst vor allem der Bereich der volkssprachigen Frauenmystik eine intensive gender-theoretische Zuwendung erfuhr,48 weil hier tatsächlich eine mutmaßlich subjektgebundene weibliche Ästhetik in konkreten Fallstudien zu einzelnen Mystikerinnen und ihren Viten rekonstruiert werden konnte.49 Entsprechende gender-orientierte Lektüren haben nicht nur dazu beigetragen, dass vernachlässigte Textcorpora kulturwissenschaftlich erschlossen, sondern auch neue Einblicke in kollektive Verfahren der Textproduktion vermittelt wurden. Außerdem wurde anhand der Komplexität diskursiver Vernetzung frauenmystischer Texte mit theologischen Diskussionen, kurialer Häresiepolitik, ideologischen Positionen der religiösen Frauenbewegung, Programmen der Ordensreform, den programmatischen Hagiographiekonzepten wie auch den verschiedensten Formen von Klosterliteratur50

offen gelegt, dass Frauenmystik einen exklusiven Freiraum für die Inversion von gender-Hierarchien und -Stereotypen bot. Als ein weiterer gattungsübergreifend und diachron profilierter Schwerpunkt der frühen und zugleich programmatischen Auseinandersetzung mit gender-Theorien in der Altgermanistik lässt sich das Kleidertauschmotiv (crossdressing) ausmachen.51 Aufgrund eines clash von sex und gender durch Verkleidung, wobei Körper und Kleid nicht mehr zur Deckung gelangen, können sowohl auf der Handlungsebene literarischer Texte als auch auf der Ebene der Rezeption Phantasien freigesetzt werden. Diese entsprechen nicht dem Begehrensmodell der heteronormativen Matrix, das auch im Mittelalter privilegiert wurde, sondern irritieren die Geschlechter|| 47 Vgl. Ursula Peters: „Zwischen New Historicism und Gender-Forschung“. 48 Signifikanter Weise werden die artifiziellen Lieder der provenzalischen Trobadorinnen im deutschsprachigen Raum nicht von Autorinnen adaptiert, sodass hier die mutmaßliche ‚Poetologie einer weiblichen Stimme‘ auf „Wunschprojektionen männlicher Diskursentitäten“ basiert, die vornehmlich in sog. ‚Frauenliedern‘ artikuliert wird (vgl. Harald Haferland: „Subjektivität“, 389). Vgl. dazu auch Ursula Peters: „Zwischen New Historicism und Gender-Forschung“, 383; zum Fokus auf Frauenmystik vgl. ebd., 394–396. 49 Ein bes. eindrückliches Bsp. stellen die Offenbarungen Elsbeths von Oye dar, die in extrem autoaggressiver Passionsfrömmigkeit durch körperliche Selbstdestruktion im Medium der Offenbarungsschrift zur autopoietischen Selbstkonstitution als religiöses Ich und als Autorin gelangt. 50 Ursula Peters: „Zwischen New Historicism und Gender-Forschung“, 395. 51 Eine Synopse bietet Edith Feistner: „Manlîchiu wîp, wîplîch man“.

112 | Andrea Sieber ordnung zumindest vorübergehend. Aufgrund des erotischen Experimentalcharakters und des Potenzials zur Transgression von gender-Stereotypen ist crossdressing gattungsübergreifend in mittelalterlichen Texten ein beliebtes Sujet und fungiert außerdem als altgermanistischer ‚Dauerbrenner‘, der sich in der Weiterentwicklung gender-theoretischer Positionen insb. für die Methode des queer reading anbietet.52 Neben dem realhistorischen Aktionsfeld der frauenmystischen Literatur und der motivischen gender-Relevanz von crossdressing konstatiert Peters, dass weiterführend ein „Kaleidoskop literarischer Geschlechterkonstrukte“53 zu erschließen sei und dabei Texte in den Blick zu nehmen wären, die eher implizit als explizit gender thematisieren, aber auf subtile Weise umso wirkungsmächtiger an der Konstitution von Geschlechternormen beteiligt sind. Die verdeckte Relevanz fordert zur Offenlegung von ‚subkutanen Symbolisierungen‘ und produktiven ‚Diskursverstrickungen‘ heraus,54 die zur Etablierung, Transgression und Restitution von Geschlechternormen beitragen. Die einschlägige Einzeldarstellung von Judith Klinger zu Grundsatzfragen der Gender Studies innerhalb der germanistischen Mediävistik von 2002 arbeitet kompakt die theoretischen Ansätze von Foucault und Butler auf und konturiert ergänzend zum Forschungsaufriss von Peters weitere prospektiv gedachte Forschungsund Themenfelder, ohne im Detail analytisch-methodische Konkretisierungen leisten zu können.55 Aufgrund der in der Mediävistik kontrovers diskutierten Grundannahme kultureller Alterität56 setzt Klinger für das Mittelalter einerseits eine „fundamental andere Geschlechterordnung“ voraus, fordert andererseits aber keine „Archäologie“57 der gegenwärtigen heterosexuellen Matrix ein, sondern verweist auf das epistemologische Potenzial alternativer gender-Konfigurationen. Daraus ergibt sich ein Fragehorizont und Perspektivenwechsel, der für mittelalterliche Diskurse und literarische Texte nicht zwangsläufig von einer patriarchal strukturierten Geschlechterdichotomie ausgeht, die ausschließlich von hegemonialen Machtstrukturen und heterosexuellen Begehrensökonomien reguliert werde. Vielmehr ist mit einem Pluralismus koexistierender, kooperierender und konkurrierender Begehrensformen und Identitätsentwürfe zu rechnen. Verschiedene Paradigmen der Negation, Entsexualisierung und des zweckfreien Begehrens, die z. B. im klerikalen Diskurs den Normenhorizont erweitern, stellen die Grundannahme normenbildender Heterosexualität in Frage. Ebenso dominiert kollektive Identität gegenüber individuali-

|| 52 Zum queer reading vgl. den Beitrag von Andreas Kraß i. vorl. Bd. 53 Vgl. Ursula Peters: „Zwischen New Historicism und Gender-Forschung“, 394. 54 Vgl. ebd., 385, 396. 55 Vgl. Judith Klinger: „Gender-Theorien“; sowie ergänzend schon die Vorarbeiten in dies.: „Ferne Welten, fremde Geschlechter“ und die Kommentierung durch Silke Winst: „Gender Studies“. 56 Vgl. dazu Anja Becker: „Alterität“ und Manuel Braun: „Alterität als germanistisch-mediävistische Kategorie“. 57 Judith Klinger: „Gender-Theorien“, 272.

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sierten Beziehungsformen die „Reproduktion und Konsolidierung adliger Sozialbeziehungen“58. Alterität und Pluralität sind die grundlegenden Prämissen, die Klinger in Kombination mit methodischen Aspekten von Diskursanalyse, Wissensordnungen, Medialität und Performativität für die Konturierung von vier gender-theoretischen Arbeitsbereichen in der germanistischen Mediävistik geltend macht:59 1. Identität, Subjekt und Subjektivität; 2. Sexualität und Begehren; 3. Körperdiskurse und naturalisierende Effekte; 4. Verwandtschaftsstrukturen. Diese Bereiche werden von Klinger in einer ersten Bestandsaufnahme als diskursanalytische Themenfelder ausdifferenziert und mit einer exemplarischen Kurzanalyse zur ‚Subjektformation‘ in einem fingierten Briefwechsel aus der Minnelehre des Johann von Konstanz abgerundet.60 Parallel dazu, auch aufgrund von Impulsen der anglo-amerikanischen und romanistischen Forschung, werden in der germanistischen Mediävistik die grundlegenden Fragen zu Geschlechterkonstruktionen breit entfaltet, sodass man in den letzten fünfzehn Jahren mit einer enormen Publikationsflut konfrontiert ist. Einen Eindruck über die Fülle an Publikationen vermittelt die von Ute von Bloh u. a. in der Internet-Zeitschrift Perspicuitas veröffentlichte Gesamtbibliographie mit 1009 Titeln auf 87 Seiten beim Stand vom September 2002.61 Dass keine weitere Aktualisierung dieser Bibliographie erfolgt ist, markiert nochmals das Desiderat einer Systematisierung der gender-orientierten mediävistischen Ansätze. Die rasant ansteigende Publikationsmenge von Einzelstudien, Sammelbänden,62 Monographien, die inzwischen auch Rubriken und Modellanalysen in mediävistischen Einführungen und Handbüchern hervorbringt,63 kann an dieser Stelle nicht in der notwendigen Breite gewürdigt werden. Möglich ist lediglich eine Konturierung von Forschungstendenzen: Diskursanalytisch ausgerichtete Studien bemühen sich um die Historisierung von Identitäts- und Körperkonzepten sowie Begehren und Sexualität, wobei literarische Geschlechterentwürfe mit zeitgenössischen Wissensbereichen der Medizin, des Rechts und der Theologie kontextualisiert werden.64 Im Rekurs auf Butlers Theorieansatz werden Mechanismen der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenzen zunehmend anhand einzelner Autoren und Werke analy|| 58 Ebd., 280. 59 Vgl. ebd., 277–285. 60 Zuletzt zu den gender-Implikationen Susanne Uhl: Der Erzählraum als Reflexionsraum, 260–291. 61 Vgl. Ute von Bloh u. a.: Gender-Forschung. 62 Programmatisch wurde die gender-Forschung in der germanistischen Mediävistik von Sammelbänden vorangetrieben (vgl. Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren [Hgg.]: Manlîchiu wîp, wîplîch man; Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten [Hgg.]: Genderdiskurse und Körperbilder; Martin Baisch u. a. [Hgg.]: Aventiuren des Geschlechts). 63 Vgl. etwa Ingrid Bennewitz u. a.: „Gender Studies“; Andrea Sieber: „Gender“; exemplarisch für mediävistische Einführungen den Abschn. „Vrouwe und ritter: Geschlecht und Gender“ in: Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters, 177–189. 64 Vgl. zuletzt Tilo Renz: Um Leib und Leben.

114 | Andrea Sieber siert.65 Schwerpunkte zur Adaptation konkreter gender-theoretischer Positionen haben sich in den Bereichen der Men’s Studies, der Queer Studies und der Intersektionalitätsforschung herausgebildet.66 Untersuchungen zu Einzelthemen oder besonderen motivischen Konfigurationen ermöglichen in synchroner wie diachroner Perspektive neue Einblicke in die Vielfalt literarischer Geschlechterinszenierungen.67 Besonders gewinnbringend erscheint die Interdependenz von genderAspekten mit kulturwissenschaftlichen Themen wie Emotionalität, Macht und Gewalt, Medialität und Ikonographie, Räumlichkeit oder Subjektivität.68 Eine gewisse Zurückhaltung zeichnet sich dagegen in eher traditionellen oder sich erst neu formierenden Gegenstandsbereichen der germanistischen Mediävistik ab: So wurde die programmatische Studie des Romanisten Simon Gaunt zur Gattungsrelevanz von gender nur punktuell rezipiert und nicht systematisch für deutschsprachige Literatur aufgearbeitet.69 Bis dato wenig reflektiert wurden die Verbindungslinien zwischen gender und Rhetorik.70 Auch die Akzentuierung von gender-Fragen in den Bereichen der historischen Semantik oder der historischen Narratologie steht weitgehend noch aus.71 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Pluralität gender-theoretischer Forschungsfelder in der germanistischen Mediävistik weder in einem analytischen Paradigma präzisiert noch in einem methodischen Setting verdichtet oder auf eine Frageperspektive beschränkt werden kann. Wie ertragreich die „Hybridisierung kulturwissenschaftlicher Methoden“72 in ihrer Anwendung auf einzelne Themenkomplexe, Werke oder Gattungszusammenhänge ist, wird daher nachfolgend exemplarisch am Beispiel des Nibelungenliedes vorgestellt.

2 Beispielanalyse: Das Nibelungenlied im Fokus Lange bevor die Rezeption gender-theoretischer Positionen in der Mediävistik einsetzt, wurde das Nibelungenlied als ein vermeintlich programmatischer Text feminis-

|| 65 Vgl. exemplarisch Melanie Uttenreuther: Die (Un)Ordnung der Geschlechter. 66 Vgl. jeweils exemplarisch Susanne Hafner: Maskulinität; Annabelle Hornung: Queere Ritter; Susanne Schul: HeldenGeschlechtNarrationen. 67 Vgl. exemplarisch Andrea Moshövel: wîplîch man. 68 Vgl. exemplarisch Alexandra Sterling-Hellenbrand: Topographies of Gender. 69 Vgl. Simon Gaunt: Gender and Genre. 70 Lange blieb diese Relation auf die Frage beschränkt, ob sich für die wenigen mittelalterlichen Autorinnen ein bestimmter weiblicher Schreibstil nachweisen lasse; vgl. Rüdiger Schnell: „Gender und Rhetorik“, 2–4. 71 Vgl. Jörg Riecke (Hg.): Historische Semantik; Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. 72 Silke Winst: „Gender Studies“, Abschn. 1 des Onlinebeitrags.

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tischer Emanzipation gedeutet.73 Der Fokus auf die ‚Biographie‘ oder ‚Tragödie‘ Kriemhilds lässt sich auf spätmittelalterliche Werkbezeichnungen Daz i_t daz BGch Chreimhilden in der Münchner Handschrift cgm 31 (Handschrift D, 1. Viertel 14. Jh.) und Das Puech von Chrimhildin von Burgundien bzw. Ditz Puech Hey__et Chrimhilt im Inhaltsverzeichnis und am Anfang des entsprechenden Textabschnittes im Ambraser Heldenbuch Kaiser Maximilians I. (Handschrift d, 1504–1517) zurückführen.74 Die paratextuellen Zuspitzungen auf eine weibliche Figur zeugen von dem enormen Faszinations- aber auch Abschreckungspotenzial, das Kriemhild durch ihren Mord an Hagen am Kulminationspunkt des Textes auf zeitgenössische Rezipienten ausgeübt haben muss. Die Schlussillustration in dem nach einem seiner Vorbesitzer benannten Hundeshagenschen Codex (Handschrift b, ca. 1436–1442) zeigt Kriemhild z. B. als triumphierende Protagonistin noch vor der Tat mit geschultertem Schwert und dem abgeschlagenen Kopf ihres Bruders Gunther: eine visualisierte genderTransgression (vgl. Abb. auf der nächsten Seite). Greifbar wird das zwischen positiven und negativen Figurenbewertungen oszillierende Faszinationspotenzial außerdem in den mittelalterlichen ‚Kriemhild-Debatten‘,75 in der modernen Rezeption ihrer Figur sowie im wissenschaftlichen Diskurs der Nibelungenlied-Forschung.76 Zu den interessanten gender-Effekten in der feministisch-emanzipativen Forschung gehört wohl, dass sich unter den verschiedenen Spekulationen über eine mögliche Autorenzuschreibung für das anonym überlieferte Werk auch die Hypothese finden lässt, dass eine Niedernburger Nonne die Verfasserin des Nibelungenliedes gewesen sei.77 Als Argumentation dient u. a. der ‚Kriemhildfreundliche‘ Bearbeitungscharakter in der Handschrift C, die kurzerhand zum „feministische[n] Manifest“78 erklärt wird. Die Position erscheint als „Zerrspiegel der traditionellen Forschungsattitüden“79 zum Nibelungenlied und nimmt aus wissenschaftsgeschichtlicher Distanz ungewollte Züge einer Gender Studies-Parodie an.

|| 73 Vgl. die kritische Bestandsaufnahme bei Ingrid Bennewitz: „Das Nibelungenlied – Ein ‚Puech von Chrimhilt‘?“. Die gender-orientierte Forschung von 1945–2010 kann hervorragend über das Sachregister der von Florian Kragl herausgegebenen kommentierten Bibliographie Nibelungenlied und Nibelungensage erschlossen werden. 74 Transkriptionen zit. nach Nine R. Miedema: Einführung in das „Nibelungenlied“. 75 Vgl. zum negativen Kriemhildbild Victor Millet: „Die Sage, der Text und der Leser“; zu Interpolationen im Hundeshagenschen Codex Christoph Gerhardt: „Kriemhilds Ende“; außerdem Judith Klinger: „Kriemhilds Rosen“. 76 Vgl. Ann-Katrin Nolte: Spiegelungen der Kriemhildfigur. In letzter Konsequenz hat dies auch zur Zuspitzung der aktuellsten Einführung zum Nibelungenlied von Nine R. Miedema auf die Kriemhildfigur geführt. 77 Vgl. Berta Lösel-Wieland-Engelmann: „Die wichtigsten Verdachtsmomente“. 78 Ebd., 169. 79 Ingrid Bennewitz: „Das Nibelungenlied – Ein ‚Puech von Chrimhilt‘?“, 37 (Zit. aus Anm. 21).

116 | Andrea Sieber

Abb.: Das ‚Nibelungenlied‘ (Handschrift b, ca. 1436–1442); Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, mgf 855, fol. 158v.

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Weitere auf die weibliche Psyche und die Geschichte des Matriarchats abzielende Interpretationen bedürften dringend einer gender-kritischen Revision.80 Denn gemäß des heldenepischen Gattungskontextes entwirft das Nibelungenlied eine von männlichen Hierarchien dominierte Gesellschaft, deren Machtstrukturen nicht allein durch Kriemhilds Aktionspotenzial ‚gestört‘ werden. Vielmehr gewinnt dieses erst im Chiasmus mit ihrer Kontrahentin Brünhild ein besonderes Profil. Der Konflikt zwischen den Protagonistinnen wiederum muss als Effekt homosozialer Allianzen und Intrigen gedeutet werden. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Analyse liegt dementsprechend auf dem Konstruktionscharakter beider Geschlechter, der hinsichtlich seiner ausdifferenzierten kulturellen Semantik vorgestellt wird. Abgerundet wird die Analyse mit Kurzdarstellungen zu speziellen gender-theoretischen Ansätzen und thematischen Schwerpunktbildungen.

2.1 Dimensionen der Geschlechterkonstruktion Gender-theoretische Einsichten in den grundlegenden, historisch variablen Konstruktionscharakter von Geschlechtsidentität und Geschlechterdifferenz können dazu beitragen, Geschlechterkonstruktionen im Nibelungenlied zu erklären und angemessen zu historisieren.81 Die analytische Trennung von sex und gender vermittelt ein differenziertes Verständnis von Geschlechternormen und Geschlechterstereotypen, die jedoch aufgrund des heldenepischen Gattungskontextes signifikante Unterschiede etwa zu den Artusromanen Hartmanns von Aue aufweisen. Außerdem stehen die fiktionalen Geschlechterentwürfe in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur historischen Realität und zur Diskursivierung von Geschlecht als Wissenskategorie.82 Während Vorstellungen über das anatomische Geschlecht (sex) vorwiegend in philosophischen, klerikalen und medizinischen Diskurszusammenhängen tradiert und institutionalisiert werden,83 erscheinen in Erzähltexten wie dem Nibelungenlied selten biologische Details, stattdessen aber Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit, deren Geschlechtlichkeit durch die Konstruktion elitärer Körper und eine extravagante Einkleidung ‚denaturalisiert‘ wird.84 Beobachtungen, dass literari|| 80 Vgl. jeweils exemplarisch Walter Seitter: Versprechen, versagen; Albrecht Classen: „Matriarchalische Strukturen“. 81 Basisinformationen zum Teil mit Verweis auf das Nibelungenlied bietet Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters, 177–189; eine Synopse zur gender-orientierten Nibelungenforschung bis 2002 leistet Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied, 158–165. 82 Bes. deutlich wird dies an Transgressionsfiguren, wie Kriemhild oder Brünhild, die in der Fiktion als handlungsmächtige Protagonistinnen profiliert werden, während in der Realität Frauen nur unter bestimmten Voraussetzungen in Machtpositionen gelangten; vgl. Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich; außerdem Tilo Renz: Um Leib und Leben. 83 Dazu Joan Cadden: Meanings of sex difference. 84 Vgl. Jane E. Burns: Courtly love undressed.

118 | Andrea Sieber sche Thematisierungen des anatomischen Geschlechts über stereotype körperliche Merkmale und Blickkonstruktionen bereits dem sozial determinierten Geschlecht (gender) entsprechen, bestätigen Butlers Radikalisierung von sex als kulturell generierter Kategorie sozialer Konstruktion und können für das Nibelungenlied weiter spezifiziert werden. Die Komplexität fiktionaler Geschlechterkonstruktionen erfordert eine Differenzierung nach verschiedenen Gesichtspunkten.85 Zunächst sollen Körperentwürfe als Materialisierungen von geschlechtsspezifischen Einschreibungen thematisiert werden. Da die Physis literarischer Figuren nur durch rhetorische Praktiken und die mediale Vermittlung des Textes intelligibel werden, ist die Erzeugung eines geschlechtsspezifischen Habitus als inszenatorischer Effekt von Einkleidung oder kultureller Attribuierung zu untersuchen. Neben Körper- und Kleidersemantik kommt dem Aspekt der sozialen Konditionierung eine zentrale Bedeutung zu. Geschlechtsidentität kann außerdem als ein Konstrukt beschrieben werden, das über Machtstrukturen und Beziehungsmodelle hergestellt wird. Zu ergänzen sind diese Aspekte um weitere Koordinaten der stratifizierenden Logik mittelalterlicher Vergesellschaftung, die geschlechtsspezifische Differenzierungen hinsichtlich der Räumlichkeit und Mobilität erzwingen, dabei aber auch unterschiedliche Aktionspotenziale ermöglichen können. Ein Blick auf die aporetischen Diskursivierungen und normativen Dynamiken soll die Analyse komplettieren.

2.1.1 Körper Die Körper mittelalterlicher Figuren ‚materialisieren‘ sich in literarischen Texten meist durch aufwendige descriptiones. Die Beschreibungen folgen rhetorischen Vorschriften entlang von Katalogen körperlicher Details, die für Frauen und Männer identisch sind. Das Nibelungenlied verhält sich in dieser Hinsicht auffällig bedeckt: In den ersten beiden Aventiuren werden die Hauptprotagonisten Kriemhild und Siegfried vorgestellt und ihre Erscheinungen durch typisierende Epitheta charakterisiert (Kriemhild: edel, 1,1; schœne, 1,2f.; Siegfried: schœne, 20,3; hêrlîch, 21,4).86 Beide sind durch ihre Schönheit wechselseitig für einander prädestiniert, ohne jedoch gender-distinkt differenziert zu werden. Bei männlichen Figuren können als

|| 85 Gattungs- und autorbezogen wurden Varianten der analytischen Ausdifferenzierung erprobt in Andrea Sieber: Medeas Rache; dies.: Gender; eine vereinfachte Kurzfassung zum Nibelungenlied findet sich im Internetportal „Mittelhochdeutsche Texte im Deutschunterricht“ (vgl. dies.: Frauen- & Männerrollen). 86 Das Nibelungenlied wird im Folgenden nach der Edition der Handschrift B von Ursula Schulze mit Strophenangaben zit. Vgl. außerdem die Zusammenstellung der charakterisierenden Epitheta für Kriemhild bei Nine R. Miedema: Einführung in das „Nibelungenlied“, 39–42; zur Schönheit Siegfrieds vgl. Leila Werthschulte: „Erzählte Männlichkeit“, 286.

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Markierungen von Geschlechterdifferenz körperliche Vorzüge, wie Größe und Stärke, hervorgehoben sein. Dies trifft brisanter Weise auf Brünhild zu:87 Gunther erkennt zwar intuitiv die isländische Königin anhand ihres schönen, wohlproportionierten Körpers (wolgetân, schœner lîp, 390,2f.), der zudem jungfräulich konnotiert ist (schœnes magedîn, 391,2); aber als sie später in voller Rüstung zum Wettkampf gegen den burgundischen König antritt, wird ihr kontradiktorisch sterke vil grôzliche (447,1) attestiert. Da diese Kraft die von zwölf Männern übertrifft, erscheint Brünhild bedrohlich übersteigert und wird von Hagen als tîvels wîp (436,4) bezeichnet. Trotz der topischen Behauptung von Attraktivität für alle drei Figuren entsteht nie der Eindruck eines kohärenten Körperbildes. Auch an anderen Stellen gewinnen die Körper wenig Kontur. Jedoch werden im Kontext der Minnehandlung Details erwähnt, etwa Kriemhilds leuchtendes Antlitz (vgl. 238,4), ihr Erröten (239,1), der Schimmer ihrer Haut (280,2) oder ihre weißen Hände (658,3). Auch Brünhilds Schönheit bleibt trotz Rüstung wahrnehmbar: ir minnecliche varwe dar under vil hêrliche schein (432,4). Brünhilds gleichsam unter der Rüstung irisierende Körperoberfläche indiziert eine weitere Tendenz gender-distinkter Figurendarstellungen: In den Texten dominiert eine männlich-voyeuristische Blickregie auf weiblich sexualisierte Körperfragmente, die als sinnliche Schlüsselreize und Stimuli von Begehren fungieren.88 Dieses Begehren kann sich sowohl bei den textinternen Betrachtern als auch bei den textexternen Rezipienten entfalten. So entsteht in Worms großes Gedränge unter den Helden, wenn Kriemhild die Frauengemächer verlässt, weil jeder hofft, etwas von ihrem Anblick zu erhaschen (vgl. 278). Brünhild wiederum versucht, das visuelle Begehren der Burgunden zu limitieren, indem sie ihr weibliches Gefolge gezielt den Blicken der Ankömmlinge entzieht: Dô hiez diu kuneginne ûz den venstern gân / ir hêrliche megede. sine solden dâ nicht stân / den vremden anzesehende […] (392,1–3).89 Dennoch lässt sich in der Blickökonomie nicht immer nur ein männliches Begehren nach dem weibliche sexualisierten Körper ausmachen, denn auch Siegfried wird bei der ersten Begegnung von Kriemhild angeblickt und errötet dabei. Durch die auktoriale Kommentierung in topischer Minneterminologie (dô erzunde sich sîn varwe; 290,2) wird er zum Liebessobjekt gemacht und erotisiert. Der einzige Aspekt, der seine Aura als Liebender stören könnte, ist seine latente Animalität, die sich metaphorisch in Kriemhilds Falkentraum artikuliert oder nach dem Bad im Drachenblut metonymisch als Hornhaut auf seiner Körperoberfläche materialisiert hat.90 Zu fragen wäre, ob Siegfried dadurch seiner hypertrophen Männlichkeit und heroischen Exorbitanz entfremdet wird. || 87 Vgl. Tilo Renz: „Brünhilds Kraft“; ders.: Um Leib und Leben, 35–175. 88 Vgl. Ingrid Bennewitz: „Der Körper der Dame“. 89 Vgl. Jerold C. Frakes: „The female gaze“, 91f. 90 Vgl. Udo Friedrich: Menschentier, 347.

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2.1.2 Kleidung Im Zuge der descriptio werden an den Körpern mittelalterlicher Figuren Schritt für Schritt extravagante Modekataloge entfaltet (vgl. etwa Siegfrieds Jagdausstattung 949, 951). In erster Linie dienen die Kleiderbeschreibungen dabei der Statusrepräsentation.91 Ausstattung und Prunk nobilitieren Kriemhild und Siegfried, aber auch Brünhild und Gunther. Markiert wird ihre Sonderstellung in der sozialen Gemeinschaft und ihre Position als Herrscherinnen und Herrscher kenntlich gemacht. In einzelnen Handlungssituationen im Rahmen des Brautwerbungsbetrugs, des Königinnenstreits oder während Kriemhilds zweiter Ehe gewinnt Kleidung eine besondere Relevanz für die Simulation von Hierarchien oder die Durchsetzung von Machtansprüchen. So wird bei der Ankunft auf Isenstein einerseits durch die rechtssymbolische Handlung des Stratordienstes Siegfrieds Status als König verleugnet (vgl. 396).92 Andererseits indizieren seine schneeweiße Kleidung und die elaborierte Ausstattung vollkommene Übereinstimmung mit Gunther.93 Die visualisierte Egalität (vgl. 397) widerspricht aber der inszenierten Unterwerfungsgeste. Die Simulation von statusmäßiger Differenz muss daher verbal in der Standeslüge konkretisiert werden, damit der Brautwerbungsbetrug gelingt. Auch die umworbene isländische Königin Brünhild ist schneeweiß gekleidet (vgl. 390,2). Gender-distinkt wird dadurch ihre Jungfräulichkeit symbolisiert. Auf der Ebene der Farbsemantik zeigt sich außerdem eine trianguläre Verbundenheit zwischen Brünhild, Siegfried und Gunther, die für die Rezipienten Signalfunktion hat. Für Kriemhild lässt sich nach Andreas Kraß ein „Zyklus von vier vestimären Szenen“94 ausmachen, in denen ihr Status deutlicher als bei den anderen Figuren gender-distinkt profiliert wird: Zunächst erscheint sie während der öffentlichen Erstbegegnung mit Siegfried als Schönste im Kollektiv ihrer Jungfrauen (vgl. 274–281). Sie wird als Zeichen der wechselseitigen Prädestination im Superlativ von Astralund Lichtmetaphorik beschrieben und verkörpert eine ungetrübte Epiphanie des männlichen Begehrens. Während des Königinnenstreits tritt sie als gekränkte Herrscherin in Erscheinung. Die Ausstattung der Kontrahentinnen fungiert als visuelles Zeichen der jeweiligen Machtansprüche. So fordert Kriemhild ihr Gefolge auf, sich für die Machtprobe vor dem Münster besonders kostbar auszustaffieren, um auf diese Weise ihre Überlegenheit gegenüber Brünhild zu visualisieren (828,1–3):

|| 91 Vgl. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider, 174–176. 92 Zum Brautwerbungsbetrug und den Folgekonflikten vgl. Andrea Sieber: „Latenz“, 171–173. 93 Bes. ausführlich wird im Vorfeld die Anfertigung der Kleider durch Kriemhild und ihre Jungfrauen geschildert. Exotische Materialien, edle Stoffe, Gold und Edelsteine symbolisieren den hochadligen Status der Brautwerber, was zugleich mit ihrer heroischen Exorbitanz korrespondiert (vgl. die sog. ‚Kleiderstrophen‘ 360–364). 94 Andreas Kraß: Geschriebene Kleider, 175.

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„Nu kleidet iuch, mîne meide“, sprach Sîfrides wîp. „ez muoz âne schande belîben hie mîn lîp. ir sult wol lâzen schouwen, und habt ir rîche wât.“

In der dritten Szene werden Kriemhilds Schönheit und die Möglichkeiten prunkvoller Einkleidung radikal negiert. Als trauernde Witwe trägt sie im Kontrast zu ihrem Gefolge schlichte Alltagskleidung (vgl. 1222,3f). Anlässlich ihrer zweiten Eheschließung mit Hunnenkönig Etzel ist sie als Zeichen ihrer restituierten Macht erneut sehr kostbar gekleidet. Zu den Accessoires gehören eine lange Schleppe (1347,2) und ein goldener Kopfschmuck (1348,1f.).95 Bei dieser Gelegenheit werden außerdem prunkvolle Kleider verschenkt (vgl. 1366) – ein Akt, der im Nibelungenlied der ritualisierten Bekräftigung von Allianzen dient. Kriemhild nutzt die Kleidergaben hier jedoch, um gezielt Bündnispartner für ihre Rache an Hagen zu gewinnen, die sie als Frau rechtlich nicht selbst realisieren kann.96

2.1.3 Kulturelle Attribute Damit die gender-Identität literarischer Figuren intelligibel wird, setzen mittelalterliche Autoren distinkte, für Frauen und Männer unterschiedene Attribute ein. Gegenstände, Frisuren, Gesten, Tätigkeiten, aber auch Örtlichkeiten, Namen, Pronomina und das grammatische Genus sind geeignet, geschlechtliche Identität zu signifizieren. Die Wahrnehmung des sozialen Geschlechts wird von einem System männlich codierter Attribute und Machtinsignien (wie Bart, Zepter oder Zeremonienstab) gesteuert und der Effekt von Weiblichkeit in Abgrenzung dazu erzeugt.97 Insb. Rüstungen, Pferde und Waffen, die mitunter namentlich ausgewiesen und mit speziellen genealogischen Herkunftsgeschichten ausgestattet werden (wie etwa Siegfrieds Schwert Balmung [93,1]), tragen maßgeblich zur Stiftung männlicher Identität bei. Eine Besonderheit des Nibelungenliedes ist, dass den beiden Protagonistinnen in der Handlung ebenfalls männliche Attribute zugeschrieben werden: Brünhild wird zunächst während der Brautwerbungswettkämpfe als waffenfähige, geradezu übermännliche ‚Amazone‘98 (vgl. 426–439) charakterisiert. Erst durch den Verlust ihrer Jungfräulichkeit wird sie dem höfischen Weiblichkeitsstereotyp angeglichen. Anders Kriemhild: Sie erscheint anfangs als höfische Dame; am Ende ermordet sie jedoch mit Siegfrieds Schwert ihren Widersacher Hagen (vgl. 2369f.). In beiden Fäl|| 95 Eine Verdinglichung der Braut zum goldenen Objekt des Mannes sieht darin Heike Sahm: „Gold im Nibelungenlied“, 139. Diese Beobachtung entspricht der Grundannahme, dass Frauen in mittelalterlichen Texten als kulturelle Attribute des Mannes fungieren und sowohl dessen Status als auch seine Männlichkeit signifizieren; vgl. Ingrid Bennewitz: „Der Körper der Dame“, 228f. 96 Vgl. dazu insges. Tilo Renz: Um Leib und Leben, 176–339. 97 Vgl. Stephanie B. Pafenberg: „The spindle and the sword“. 98 Vgl. Ursula Schulze: „Brünhild“; dies.: Das Nibelungenlied, 184–188.

122 | Andrea Sieber len stellt die Ausübung von Waffengewalt ein Bedrohungspotenzial für die patriarchale Ordnung dar. Daher wird Kriemhilds und Brünhilds Transgression jeweils „im solidarischen Handeln der Männer gender-typisch beseitigt“.99 Als Zeichen von Brünhilds Entmachtung werden ihr von Siegfried am Ende des Brautnachtbetrugs Ring und Gürtel geraubt. Diese gender-distinkten Objekte sind übercodiert. Denn sie signifizieren nicht nur allgemein Brünhilds Verlust ihrer ‚magischen‘ Jungfräulichkeit,100 sondern dienen Kriemhild im Königinnenstreit als Beweismittel für die vermeintliche Entjungferung der Kontrahentin durch Siegfried – etwas, das sie nicht wissen kann und das zudem nie geschehen ist.101 Durch Kriemhilds Behauptungen avancieren Ring und Gürtel zum Gegenstand einer Machtprobe unter Frauen, die auf komplexe Weise auch die Vorrangstellung Siegfrieds symbolisieren soll. Deutlich wird, wie weibliche und männliche Figuren sich in ihrer Identitätskonstitution einander wechselseitig bedingen. Weitere ‚begehrenswerte Dinge‘,102 wie die Tarnkappe und der Nibelungenhort,103 fungieren ebenfalls als Status- und Machtattribute, wobei der Umgang mit diesen Objekten auf je unterschiedliche Weise gender-relevant ist. Für Siegfried ist der Nibelungenhort, den er durch Tötung der Nibelungenkönige erworben hat, Signum seiner Identität. Er symbolisiert seinen Status als Herrscher der Nibelungen, deren Name auf den Inhaber des Hortes übergeht. Von Anfang an erscheint der Hort außerdem als Gewalt provozierender Machtfaktor und weckt das materielle Begehren Hagens in der homosozialen Konkurrenz mit Siegfried. Nach dessen Ermordung wird der Hort von Kriemhild als ihre Morgengabe nach Burgund geholt (vgl. 1113), wo er ihr zur eigenen Statussicherung, zur Pflege von Siegfrieds Seelenheil und zur Anwerbung von Kriegern für die Realisierung ihrer Racheabsichten dient. Das im Hort materialisierte Bedrohungspotenzial Kriemhilds wird durch Hagens Hortraub vereitelt. Diese radikale Entmächtigung als Witwe kann Kriemhild später durch die Eheschließung mit Etzel kompensieren. Ein besonders brisantes Attribut ist Siegfrieds Tarnkappe. Deren magische Wirkung ermöglicht seine Unsichtbarkeit während des Brautwerbungs- und des Brautnachtbetrugs. Solange er unter der Tarnkappe agiert, werden alle sichtbaren Signifikate außer Kraft gesetzt. Zu fragen wäre, ob Siegfried sich dadurch in einem asemantischen Raum nivellierter Männlichkeit befindet, der den Rezipienten völlig neue Zuschreibungen ermöglicht.104 Einzelne Objekte können ihren Besitzer nach

|| 99 Elisabeth Lienert: „Geschlecht und Gewalt“, 10. 100 Vgl. Claudia Schopphoff: Der Gürtel, 198–200. 101 Zur Atopie von Ring und Gürtel vgl. Andrea Sieber: „Latenz“, 178. 102 Vgl. Nine Miedema: Begehrenswerte Dinge. 103 Vgl. Anna Mühlherr: „Nicht mit rechten Dingen“. 104 Beatrice Michaelis hat das Agieren unter der Tarnkappe im Zuge eines queer reading als Lizenz für eine homoerotische Annäherung zwischen Gunther und Siegfried gedeutet, wobei sie ein stabiles Männlichkeitskonzept für Siegfried voraussetzt. Die Konstellation bezeichnet sie als „pornogra-

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dem Tod substituieren. Dabei haftet ihnen potenziell eine gender-distinkte Transformationsenergie an. So ist Siegfried metonymisch im Schwert Balmung präsent, als Kriemhild Hagen damit erschlägt. Sie realisiert ihre Rache mit dem verlängerten Arm Siegfrieds kohärent gemäß seines männlichen Gewaltprinzips.105

2.1.4 Soziale Konditionierung Mittelalterliche Texte reflektieren auf vielfältige Weise soziale Prozesse, die zur Konstitution von Geschlechterstereotypen beitragen. Die Aneignung von Geschlechterrollen erfolgt in der höfischen Interaktion durch Teilhabe und Nachahmung oder durch Erfahrungskanalisierung in Konstellationen des Lehrens und Lernens.106 Zum topischen Repertoire, wie die Anforderungen an adlige Damen vermittelt werden, gehört das meist mit Dissonanzen durchsetzte Lehrgespräch zwischen Mutter und Tochter. Im Nibelungenlied wird auf eine solche Konstellation nach Kriemhilds Falkentraum angespielt (vgl. 11–17).107 Im Gespräch mit ihrer Mutter Ute weigert sich Kriemhild, ihre Rolle als Objekt männlichen Begehrens anzuerkennen.108 Ihr Widerstand gegen das Minne- und Ehekonzept basiert auf der negativen Prognose, dass der Falke als zukünftiger Ehemann ohne Gottes Beistand schnell verloren sein wird. Argumentativ erweitert Kriemhild die mütterliche Traumdeutung außerdem durch die generalisierende Beobachtung, dass Frauen durch Liebe oft Leid erfahren. Um Verlust und Schmerz zu vermeiden, beschließt sie, keine Männer zu lieben. Mit dieser Entscheidung gefährdet Kriemhild ihre soziale Existenz, die nur durch das patriarchale Modell der Ehe abgesichert ist oder im alternativen Raum eines Klosters vorstellbar wäre.109 Der Normenbruch wird aber durch die wechselseitige Prädestination von Kriemhild und Siegfried und das Motiv der Fernliebe von Anfang an ad absurdum geführt. Weitere Aspekte weiblicher Konditionierung thematisiert das Nibelungenlied indirekt. Die Reglementierung von Körpersprache und Gesprächsverhalten wird im Rahmen öffentlicher Repräsentationsanlässe deutlich, denn Kriemhilds Auftritte bei Hof werden durch männliche Instanzen autorisiert und vorstrukturiert. So ereignen || phische[s] Begehren des Textes“, was einer unreflektierten Kategorienapplikation entspricht; vgl. dies.: „Von tarnkappe, nagele und gêr“, 137–140 (Zit. 139); wieder aufgegriffen in dies.: (Dis-)Artikulationen, 211, 214. 105 Vgl. Andrea Sieber: „Latenz“, 180. 106 Vgl. Ingrid Bennewitz/Ruth Weichselbaumer: „Erziehung zur Differenz“. 107 Vgl. Ingrid Bennewitz: „Von Falkenträumen“. 108 Zur Verweigerung als gender-konstitutive Erzählschablone vgl. Maren Jönsson: „Ob ich ein ritter wære“, 58–61. 109 Tatsächlich wird Kriemhild als Witwe in Handschrift C das von ihrer Mutter als Alterssitz gegründete Kloster Lorsch als alternativer Existenzraum angeboten (vgl. Handschrift C, Str. 1157– 1165).

124 | Andrea Sieber sich die ersten Gespräche und der erste Kuss mit Siegfried nur, weil dafür ein zeremonieller Rahmen geschaffen und ausdrücklich eine Erlaubnis erteilt wurde (vgl. 287; 295,3). Im deutlichen Kontrast zur Restriktion Kriemhilds steht die Sozialisation Siegfrieds, der als einzige männliche Figur des Nibelungenliedes eine Biographie hat.110 Er genießt in Xanten unter Anleitung erfahrener Vorbilder eine vorzügliche Ausbildung, die als Phasenstruktur seine Integration in die höfische Gesellschaft, Reitausbildung, Waffentraining und Frauendienst beinhaltet (vgl. 20–24).111 Die Ausbildung kulminiert in dem ritualisierten Fest der Schwertleite, bei der Siegfried zusammen mit 400 Knappen der Status eines Ritters verliehen wird (vgl. 25–29). Sein Brautwerbungszug nach Worms fungiert als Übergang von der Adoleszenz zur Etablierung als verheirateter Herrscher. Außerhalb der Handlungschronologie wird Siegfrieds Identität zudem durch Hagens Binnenerzählung über seine Jugendabenteuer fundiert und um zusätzliche Facetten mythisch-heroischer Exorbitanz ergänzt.112

2.1.5 Handlungsspielräume Die Geschlechtsidentität literarischer Figuren ist signifikant mit Aspekten der räumlichen Inszenierung und der Limitierung von Handlungsmöglichkeiten verknüpft. Während männliche Protagonisten den architektonisch und geographisch organisierten Raum unbegrenzt erfahren können, bleibt der Aktionsradius weiblicher Figuren meist auf die Kemenate als Schutzraum beschränkt.113 Auch Kriemhilds und sogar Brünhilds Wirkungsbereiche sind räumlich restringiert. Kriemhild z. B. existiert separiert von der männlichen Herrschafts- und Machtsphäre und der höfischen Öffentlichkeit in „statuarischer Unbewegtheit“114. Die strikt nach Geschlechtern getrennten Sphären kommen lediglich im Kontext von Begrüßungs- und Festakten oder bei Abschiedsritualen miteinander in Berührung.115 Bei entsprechenden Anlässen wird Kriemhild auf Anordnung ihrer Brüder aus der Kemenate an den Hof geholt und darf sich adäquat zum zeremoniellen Kontext nur reglementiert verhalten (vgl. 273–275). Kriemhilds Handlungsmächtigkeit ändert sich radikal ab dem Zeitpunkt, da sie als wiederverheiratete Witwe am Hof Etzels eigene Machtstrukturen aufbaut, um ihre Rache an Hagen zu vollziehen (vgl. ihre ersten Überlegungen in 1256). Brünhild dagegen scheint aufgrund ihrer provokanten Gewaltfähigkeit bei gleichzeitig exzeptioneller Schönheit auf Isenstein in einer Art Enklave disloziert || 110 Vgl. Ursula Schulze: „Siegfried“. 111 Vgl. Robert Scheuble: mannes manheit, 117–119. 112 Volker Mertens: „Hagens Wissen“. 113 Vgl. Daniel Rocher: „kemenâte“. 114 Ingrid Bennewitz: „Von Falkenträumen“, 44. 115 Vgl. John Greenfield: „urloup nam dô Hagene“.

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und befriedet zu sein (vgl. 324). Ihre Macht beschränkt sich auf diesen Ort und kann außerhalb von Isenstein nur noch ein einziges Mal als rabiate Eheverweigerung gegenüber Gunther im Schlafgemach durchgesetzt werden (vgl. 631–639). Dass Brünhild damit ihre eigene Existenz am Burgundischen Hof in die Aporie führt, wird durch den nicht-öffentlichen Handlungsrahmen für die Rezipienten kenntlich gemacht und sukzessive in der zweiten Brautnacht durch Siegfried korrigiert. Durch ihn überwunden und von Gunther entjungfert, verliert sie ihre magischen Körperkräfte und wird in das Stereotyp der höfischen Dame gezwungen (vgl. 663–674).116 Männliche Handlungsstereotype sind demgegenüber meist auf expansive Praktiken der Machtdurchsetzung ausgerichtet. Siegfrieds Auftreten als Usurpator in Worms (vgl. 104–108)117 oder als Anführer der Burgunden im Krieg (vgl. 4. Aventiure) basieren dabei auf dem Zwang, sich durch körperliche Gewaltausübung ritterlich zu bewähren, Ehre zu akkumulieren und homosoziale Netzwerke zu festigen oder neu zu knüpfen. Die Passivität von weiblichen Figuren zeigt sich im Kontrast dazu in deren Funktionalisierung als Objekte männlicher Repräsentations- und Machtbedürfnisse, wenn sie als Zuschauerinnen am Rande der männlichen Aktionsräume Platz nehmen dürfen.118 Einen Sonderfall stellt Gunther dar, weil er in verschiedenen Situationen etwa angesichts der Bedrohung durch die Dänen und Sachsen in melancholischer Manier trauert und, statt in den Krieg zu ziehen, passiv und immobil bleibt (vgl. 151, 172f.). Er verkörpert das Stereotyp des ‚schwachen Königs‘, was in der gender-Forschung mit dem Stichwort ‚Effemination‘ assoziiert wird, aber nicht mit latenter Homosexualität verwechselt werden darf.119

2.1.6 Machtstrukturen und Beziehungsmodelle Gender-Identitäten werden in dynamischen Macht- und Interaktionskonstellationen immer wieder neu aufgeführt, hergestellt und verändert. Im Nibelungenlied ist grundsätzlich von einer männlich organisierten und hierarchisch strukturierten Gesellschaftsordnung auszugehen, die auf der Unterordnung der Frau basiert. Die hegemoniale Position der männlichen Figuren lässt sich vor allem daran ablesen, dass Gunther, Gernot und Giselher munt-Gewalt120 über ihre Schwester Kriemhild ausüben (vgl. Str. 2): Sie wird, ohne maßgeblich darauf Einfluss nehmen zu können, aus dem Herrschaftsgebiet der Brüder in die Gewalt ihres Ehemanns Sieg-

|| 116 Robert Scheuble deutet dies unangemessen gemäß moderner Strafgesetzgebung als Tatbestand der Vergewaltigung; vgl. ders.: mannes manheit, 135. 117 Vgl. ebd., 119–121. 118 Der Königinnenstreit entwickelt sich aus einer solchen Turnierbeobachtungsszene, in der Kriemhild mit der Machtpotenz Siegfrieds prahlt (vgl. Str. 811f.). 119 Vgl. Andreas Kraß: „Der effeminierte Mann“. 120 Vgl. Katharina Freche: Von zweier vrouwen bâgen, 50–53.

126 | Andrea Sieber fried übereignet. Das Ehearrangement121 entspricht zwar ihren Gefühlen und erhält formal ihre Zustimmung (vgl. 609f.), dies heißt jedoch nicht, dass ihr das Privileg der Partnerwahl eingeräumt wird. Obwohl Brünhild im Vergleich dazu aus dem Schema männlicher Vormundschaft herausfällt und sich der Ehe zunächst mit Gewalt verweigert, restituiert das gesamte Arrangement von Brautwerbungs- und Brautnachtbetrug letztlich das Subordinationsmodell. In der Ehe wird demnach unabhängig davon, wie diese zustande gekommen ist, die hierarchisch organisierte Geschlechterdichotomie zwischen Mann und Frau weiter verfestigt. Im Zuge der Eheschließungen werden Kriemhild und Brünhild durch die „Krone als Zeichen der Macht“ 122 jeweils als consors regni dargestellt, aber die juristische, politische und ökonomische Macht der Königinnen bleibt in beiden Fällen über den Ehepartner definiert. An Kriemhild wird dies besonders deutlich:123 So schlägt Siegfried nach der Eheschließung ihr Erbe aus und verhindert damit ihre eigenständige ökonomische Absicherung (vgl. 688–692).124 Oder er ahndet ihre Selbstermächtigung im Königinnenstreit mit körperlichen Züchtigungen (vgl. 891).125 Auch Kriemhilds zweite Eheschließung mit Etzel entspricht weiterhin ihrer Unterordnung unter die familiäre muntGewalt, denn die Ehe wird zunächst wieder von ihren Brüdern mit dem Brautwerber ausgehandelt, dann aber vor allem aufgrund eines personalen Dienstgelöbnisses Rüdigers von Bechelaren realisiert (vgl. die 20. Aventiure). Der Unterschied liegt darin, dass Kriemhild diese Ehe nicht aus Liebe, sondern aus strategischen Gründen eingeht, um Macht am Hof von Etzel zu akkumulieren und ihre Rache an Hagen zu realisieren. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass alle Ehen im Nibelungenlied auch durch gender-distinkte, genealogische Komponenten geprägt sind. Über das mehrfach anzitierte Brautwerbungsschema126 wird das Exogamiegebot für hochadelige Reproduktionsverhältnisse von Herrschaft und Verwandtschaft befolgt. Indem Kriemhild und Brünhild jeweils Söhne gebären, ist außerdem eine patrilineare Filiationsdominanz angesprochen, die jedoch nicht handlungstragend wird.127 Während Kriemhilds Sohn Ortlieb als Katalysator der Gewalteskalation geopfert wird (vgl. 1909–1911) und ihr erster Sohn Gunther aus der Handlung verschwindet, kann Brünhilds Sohn || 121 Zum Ehe- und Familienrecht vgl. ebd., 54–94. 122 Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied, 159; vgl. außerdem Amalie Fößel: Die Königin im mittelalterlichen Reich. 123 Elaine C. Tennant hat die 11. Aventiure, in der Siegfried und Kriemhild nach Xanten reisen, um dort die Herrschaft anzutreten, als Schlüssel zum gender-Verständnis des Nibelungenliedes analysiert; vgl. Elaine C. Tennant: „Presciptions and performatives“. 124 Vgl. ebd., 279f. 125 Vgl. Maren Jönsson: „Ob ich ein ritter wære“, 157–159; Robert Scheuble: mannes manheit, 141f. 126 Vgl. Julia Zimmermann: „Frouwe, lat uns sehen“. 127 Zur Mutterschaft vgl. Ingrid Bennewitz: „Von Falkenträumen“, 46–51.

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Siegfried zumindest in der als Fortsetzung des Nibelungenliedes gedichteten Klage das burgundische Erbe in Worms antreten. Der ursprünglich in der chiastischen Namensgebung der Söhne zum Ausdruck gebrachte Wille zu „friedlicher Koexistenz“128 der burgundischen und niederländischen Herrschaftshäuser, die durch Verwandtschaft und homosoziale Allianzen miteinander verbunden sind, scheitert am männlichen Intrigenspiel, das im Konflikt zwischen Brünhild und Kriemhild eskaliert.

2.1.7 Geschlechterkampf Bedenkt man die Dominanz männlicher Machtstrukturen im Geschlechterdiskurs des Nibelungenliedes, so wird deutlich, dass weibliche Überlegenheit, wie Brünhild sie zunächst auf Isenstein verkörpert, nur als imaginierte oder utopische zu begreifen ist, die letztlich misogynen Projektionen entspringt.129 So verwundert es nicht, dass ihre Macht und Gewaltfähigkeit von Anfang an als Normenbruch kenntlich gemacht wird, indem zunächst Hagen auf Isenstein und später auch Gunther nach der gescheiterten Brautnacht in Worms die übermächtige Königin sprachlich als tîvels wîp (436,4), des übeln tîvels brût (448,4) und ubel tîvel (646,2) herabwürdigen.130 Sprechakttheoretisch fungieren die Kommentare im Butler’schen Sinne als hate speech.131 Da die Sprechakte nicht als konkrete Beleidigungen oder verbale Verletzungen direkt an Brünhild gerichtet sind, entfalten sie eine generalisierende Diskriminierungsfunktion, die die weibliche Normentransgression markiert. Gemäß dieser negativen Beurteilung erlangt die finale Überwindung Brünhilds in der zweiten Brautnacht aus der Perspektive Siegfrieds den Charakter eines „Stellvertreterkampf[es]“132, in dem die patriarchale Geschlechterordnung um jeden Preis zurecht gerückt werden muss (670): „Ouwê“, dâht der recke, „sol ich nu mînen lîp von einer magt verliesen, sô mugen elliu wîp her nâch immer mêre tragen gelfen muot gegen ir manne, diu ez sus nimmer getuot.“

|| 128 Ebd., 46. 129 Die Wirkungsmächtigkeit misogyner Diskurse im Nibelungenlied wurde bisher noch nicht systematisch untersucht. Ansätze finden sich bei Maren Jönsson: „Ob ich ein ritter wære“; Robert Scheuble: mannes manheit. Die Projektion misogyner Deutungsmuster vom literaturwissenschaftlichen Gegenstand auf den Forschungsduktus innerhalb der germanistischen Mediävistik veranschlagt Jerold C. Frakes: Brides and doom. 130 Zur pejorativen Kommentierung vgl. Tilo Renz: Um Leib und Leben, 110–127. 131 Vgl. Judith Butler: Haß spricht. 132 Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters, 187; zum Motiv ‚der Widerspenstigen Zähmung‘ vgl. außerdem Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied, 161.

128 | Andrea Sieber Während bei Brünhild die Domestizierung zur höfischen Dame gelingt, übertritt Kriemhild in gegenläufiger Bewegung mit ihrer Rache an Hagen in radikaler Weise ihre Rolle als höfische Dame. Auch sie wird in der Erzählerrede in frauenfeindlicher Manier als vâlendinne (2368,4)133 herabgewürdigt und die Geschlechterordnung wieder hergestellt, indem sie von einer männlichen Instanz hingerichtet wird (vgl. 2374). Innerhalb der homosozialen Allianzen lassen sich ebenfalls agonale Strukturen ausmachen. So verdrängt Siegfried mit seiner Etablierung in Worms Hagen aus seiner Sonderposition als Ratgeber und Anführer der Burgunden:134 Die konfliktträchtige Konkurrenz zeigt sich zunächst in Hagens Spezialwissen über Siegfrieds Herkunft. Mit Ratschlägen versucht er seinen Gegenspieler auszubremsen, zu isolieren und zu erniedrigen. Z. B. erzwingt er durch eigene Verweigerung Siegfrieds Botendienst bei der Rückkehr aus Island (vgl. 526–533). Indem er sich Kriemhild gegenüber weigert, ihr Gefolgschaft nach Xanten zu leisten, unterminiert er subtil auch Siegfrieds Status (vgl. 695f.). In Reaktion auf den Königinnenstreit bringt ihn seine Initiative zum Mordkomplott und später auch zum Hortraub in offenen Konflikt mit den burgundischen Königen und treibt ihn in die Selbstisolation als Täter (vgl. 862– 870, 1125–1134). Erst nach der Ermordung Siegfrieds kann er seine Sonderposition als Garant des burgundischen Personenverbandes restituieren, allerdings zum Preis des gemeinschaftlichen Untergangs, den er anarchisch vorantreibt. Auch der Königinnenstreit muss als gender-relevanter Schlagabtausch betrachtet werden (vgl. 14. Aventiure).135 Brünhilds aus dem Brautwerbungsbetrug resultierende Ungewissheit über Siegfrieds Identität wird als Konfliktstruktur auf Kriemhild projiziert, deren Stolz in der Wahrnehmung der burgundischen Königin nicht mit dem vermeintlich niedrigen Status ihres Ehemanns korrespondiert. Was als ‚harmloser‘ Streit über die Rangfolge ihrer Ehemänner beginnt (Phase I), eskaliert verbal in wechselseitigen Erniedrigungen (Phase II) und wird in der Öffentlichkeit als weibliche Machtprobe ausgetragen (Phase III).136 Obwohl Kriemhild gegenüber Brünhild situativ triumphiert, münden die Ereignisse in eine wechselseitige Machtdestruktion: Mit Tränen erzwingt Brünhild die Ermordung Siegfrieds, was Kriemhild in den defizitären Status der Witwe versetzt. Brünhild selbst verschwindet danach als Signum ihrer Ohnmacht aus der Narration.

|| 133 Auffällig ist, dass hier eine weibliche Form der Diskreditierung gewählt wird, während Brünhild als Frau oder Braut des Teufels bzw. mit dem generischen Maskulinum als Teufel bezeichnet wird. Dazu Alexandra Sterlig-Hellenbrand: „‚Hell hath no fury ...‘“. 134 Zur Figurenkonzeption Hagens vgl. Annette Gerok-Reiter: Individualität, 55–99. 135 Vgl. Andrea Sieber: „Latenz“, 174–176. 136 Zu den Phasen im Detail Nine R. Miedema: Einführung in das „Nibelungenlied“, 81–87.

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2.2 Spezifische Ansätze und Themenschwerpunkte Die Rezeption und Historisierung von Butlers Gender Trouble hat in der Nibelungenlied-Forschung zu einer Ausdifferenzierung weiterer Analyseschwerpunkte in den Bereichen der Diskursanalyse, der Men’s Studies, der Queer Studies und der Intersektionalitätsforschung sowie punktuell zur Kollision mit konkurrierenden Geschlechtermodellen, wie dem one-sex-Modell nach Thomas Laqueur,137 geführt. Außerdem haben sich thematische Schwerpunkte herauskristallisiert, die reflektieren, dass Emotionen, Gewalt und Wissen im Nibelungenlied als gender-relevante Konzepte aufzufassen sind.

2.2.1 Emotionsdarstellung, Gewalt- und Wissensdiskurse Vor allem die Transgressionen Brünhilds und Kriemhilds haben die NibelungenliedForschung zu diskursgeschichtlichen Kontextualisierungen und zur Fokussierung auf brisante Themenkonstellationen herausgefordert. Einen Schwerpunkt bilden Untersuchungen zur gender-distinkten Emotionalität. Anhand der Protagonistinnen werden Phänomene der Performativität von Macht und Ohnmacht bzw. der Trauer analysiert, die über emotional displays (Lächeln), eruptives Weinen oder exzessive Trauergesten zur Schau gestellt werden.138 Ohne methodische Affinität zu den Gender Studies wurden außerdem die Emotionskomplexe zorn und übermuot als Ausdruck überwiegend männlicher heroischer Exorbitanz beleuchtet.139 Von der Dominanz agonaler Emotionsstrukturen her erschließt sich als ein weiterer Schwerpunkt die besondere Affinität von Gewaltdiskursen und gender im Nibelungenlied.140 Neben der Differenzierung unterschiedlicher Gewalttypen (potestas vs. violentia; strukturelle vs. diskursive Gewalt auf der Erzählebene bzw. körperliche vs. verbale Gewalt auf der Handlungsebene), werden die Inversion gender-stereotyper Verteilungen || 137 Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. 138 Vgl. in forschungsgeschichtlicher Abfolge John Greenfield: „Frau, Tod und Trauer“; Almut Suerbaum: „‚Weinen si began‘“; Kathryn Starkey: „Brunhild’s smile“; dies.: „Performative emotion“; Bettina Bildhauer: „Mourning and violence“. 139 Vgl. dazu den Abschn. „Nibelungische Anthropologie“ in: Jan-Dirk Müller: Spielregeln, 201–248 bzw. ders.: Das Nibelungenlied, 124–131. Eine ähnlich profilierte Auseinandersetzung mit weiteren Emotionen (wie angest, êre und triuwe) steht noch aus. Gepharts Gesamtinterpretation zum Zorn erfasst zwar ein breites Spektrum personaler verletzter Gefühle, die Ergebnisse basieren aber auf einer weitgehend ahistorischen Applikation psychoanalytischer Terminologie auf die Konfliktkonstellationen des mittelalterlichen Textes; vgl. Irmgard Gephart: Der Zorn der Nibelungen; dies.: „Der Zorn der Heroen“. 140 Vgl. in forschungsgeschichtlicher Abfolge Elisabeth Lienert: „Geschlecht und Gewalt“; dies.: „Gender Studies“; Petra Frank: Weiblichkeit; Robert Scheuble: mannes manheit; Andrea Sieber: „Latenz“.

130 | Andrea Sieber von Opfer- und Täterrollen sowie weibliche Normentransgressionen und die Racheeskalation im zweiten Teil des Nibelungenliedes analysiert. Da die destruktive Dynamik auf Latenzstrukturen von Wissen und Nicht-Wissen basiert, ergibt sich als zusätzlicher Schwerpunkt der Konnex mit gender-relatierten Wissensordnungen.141 Mittels avancierter wissensgeschichtlicher Kontextualisierungen (Medizin, Naturphilosophie, Recht) können den Transgressionen von Brünhild und Kriemhild sowie deren normativer Beruhigung durch restriktive männliche Gewalt neue diskursive Determinanten hinzugefügt werden.142

2.2.2 One-sex-Modell Bei der Beurteilung der Vielfalt von Geschlechterentwürfen im Nibelungenlied hat das one-sex-Modell des Sexualforschers Thomas Laqueur besondere Aufmerksamkeit erfahren.143 In seiner an Foucault orientierten medizingeschichtlichen Untersuchung zeigt Laqueur, dass vor dem 17. Jh. Frauen- und Männerkörper zwar deviatorisch aufeinander bezogen, aber anatomisch trotzdem als Varianten ein und desselben Geschlechts wahrgenommen wurden. So wird die Vagina der Frau als nach innen gestülpter Penis des Mannes betrachtet.144 Äquivalenzen des Säftehaushaltes implizieren, dass die Produktion von Samen oder Menstruationsblutungen für beide Geschlechter veranschlagt werden.145 Die Erkenntnisse Laqueurs behaupten jedoch keine Egalität beider Geschlechter. Die Überlegenheit des Mannes fungiert auch anatomisch als Telos einer Entwicklung zum perfekten Geschlecht, während Weiblichkeit als ‚minderwertige‘ Variante dieses ‚einen‘ Geschlechts gedacht wird. Wichtigste Konsequenz aus Laqueurs Ansatz ist die Irrelevanz einer kausalen Determination von sex und gender für vormoderne Geschlechterdiskurse. Bis zum 17. Jh. soll Geschlecht nicht in biologischen Fakten (sex) fundiert, sondern ausschließlich durch sozio-kulturelle Prägung (gender) determiniert gewesen sein. Mit seiner Theorie geschlechtlicher Uneindeutigkeit arbeitet Laqueur utopischen Vorstellungen eines vormodernen Geschlechterpluralismus zu,146 die in der Nibelungenlied-Forschung bevorzugt auf die Brünhild-Figur projiziert wurden.147 || 141 Missverständliche gender-Stereotype veranschlagt auf der Handlungsebene Ingeborg Robles: „Subversives weibliches Wissen“, 364–370. 142 Vgl. Tilo Renz: Um Leib und Leben. 143 Vgl. in forschungsgeschichtlicher Abfolge Katharina Freche: Von zweier vrouwen bâgen, 108– 111; Monika Schausten: „Der Körper des Helden“; Tilo Renz: „Brünhilds Kraft“; ders.: Um Leib und Leben. 144 Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben, 39–49. 145 Vgl. ebd., 49–58; zu den im Mittelalter relevanten Diskursen vgl. Tilo Renz: Um Leib und Leben, 127–169. 146 Vgl. Tilo Renz: „Brünhilds Kraft“, 11. 147 Vgl. Monika Schausten: „Der Körper des Helden“; Tilo Renz: „Brünhilds Kraft“.

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Insb. während der Brautwerbungswettkämpfe (vgl. 7. Aventiure) werde physische Stärke als Signum einer Exzeptionalität entfaltet, die auch für die isländische Königin nach einem männlichen Geschlechtercode modelliert zu sein scheint.

2.2.3 Men’s Studies Da das Nibelungenlied eine männlich organisierte Gesellschaft entwirft, deren Machtstrukturen zwar durch Akte weiblicher Gewalt und Machtausübung gestört erscheinen, aber letztlich mit dem katastrophalen Ende der Handlung die patriarchale Norm restituiert wird, bietet der Text für eine historische Männlichkeitsforschung einen idealen Untersuchungshorizont.148 Männlichkeit gilt im Nibelungenlied als selbstevident und unmarkierter gender-Standard.149 Ein Effekt ist, dass gender-distinktes Figurenhandeln vor allem infolge von Transgressionen der Protagonistinnen fokussiert wird. Statt ausschließlich feminozentrische Ansätze und Grenzbereiche der Geschlechterkonstruktionen in den Blick zu nehmen, wäre Männlichkeit im Nibelungenlied jedoch verstärkt als ‚Pluralität‘ innerhalb homosozialer Strukturen zu analysieren, die zudem in einem signifikanten Spannungsverhältnis zu gattungskonstitutiven Elementen der Heldenepik stehen.150 Weder der von Hagen beinahe ertränkte Kaplan noch der umsichtige Küchenmeister Rumolt oder gar die als effiminierte Krieger diskreditierten Hunnen lassen sich dem dominanten Männerbund der Burgunden vergleichen. Auch der vielfach aufgrund seiner männlichen Sozialisation und Gewaltausübung als prototypisch aufgefasste Held Siegfried151 oder sein Antitypus Hagen152 sind angesichts ihrer figuralen Hybridität eher als ‚Sonderfälle‘ zu betrachten: Sie verkörpern überblendete Konzepte monologischer und dialogischer Männlichkeit,153 die auf der Kollision verschiedener Überlieferungsschichten und gattungsaffiner Erzählmodelle der Heldenepik und des höfischen Romans im Nibelungenlied basieren.

|| 148 Konkret auf Men’s Studies bezieht sich nur Leila Werthschulte: „Erzählte Männlichkeit“. 149 Vgl. Elaine C. Tennant: „Prescriptions and performatives“, 274f., insb. Anm. 5. 150 Für Ansätze s. Leila Werthschulte: „Erzählte Männlichkeit“; außerdem Lydia Miklautsch: „Müde Männer“. 151 Vgl. Robert Scheuble, mannes manheit, 105–148; Leila Werthschulte: „Erzählte Männlichkeit“, 280–288; Susanne Schul: „Heldenkörper – Körperhelden“. 152 Vgl. Annette Gerok-Reiter: Individualität, 55–99. 153 Der Romanist Simon Gaunt hat für die mittelalterliche französische Literatur eine teleologische Gattungsentwicklung veranschlagt, nach der ein System von ‚monologic masculinity‘ innerhalb der chanson de geste-Tradition im Zuge der Entwicklung zum höfischen Roman um ein dialogisches Modell von Männlichkeit ergänzt werde, das neu auf ein heterosexuelles Begehren ausgerichtet sei (vgl. ders.: Gender and genre, 22–121).

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2.2.4 Queer Reading und intersektionale Perspektiven Die Skepsis gegenüber binären Oppositionen von Geschlecht (männlich vs. weiblich), gegenüber privilegierten Begehrensmodellen (heterosexuell vs. homosozial) und gegenüber der Prädominanz von gender in Relation zu anderen Determinanten der Identitätsbildung (Alter, Ethnizität, Religiosität, Status) hat inzwischen zu queeren und intersektionalen Relektüren des Nibelungenliedes und der gender-orientierten Nibelungenliedforschung geführt.154 Als Resultat werden bedeutungsoffene Performanzen von Begehren, Identität und Geschlecht veranschlagt, wodurch einzelne Figurenkonstellationen radikaler ambiguisiert werden, als dies ohnehin schon immer gesehen wurde: So könnten z. B. die heimlichen Gespräche und Interaktionen zwischen Gunther und Siegfried im Kontext von Sachsenkrieg (vgl. 153), Brautwerbungsbetrug (vgl. 451f.) und Brautnachtbetrug (vgl. 663–665) als Artikulationen eines homoerotischen Begehrens gedeutet werden.155 In intersektionaler Perspektive ergeben sich außerdem neue Interpretationsansätze für ein mediales regendering der nibelungischen Geschlechterverhältnisse in der modernen Rezeption, insb. in den filmischen Adaptationen von Fritz Lang (1924), Harald Reinl (1966) und Uli Edel (2004).156

3 Zum Abschluss Im Sommer 2012 erreichte die „Sorge um Transsexuelle“ als neuer „Megatrend“157 die Universität Oxford, denn ab sofort durften auch an dieser konservativen Institution von Frauen während des Examens Hosen getragen werden und von Männern Röcke. Doch kommt diese Lockerung einer ursprünglich rigiden Kleiderordnung wirklich den modischen Emanzipationsbedürfnissen von „Personen unsicherer Geschlechtsidentität“158 entgegen? Bei genauerem Hinsehen erweist sich die genderDistinktion von Kleidung nach wie vor als problematisch: Denn die indexikalisch behauptete logische Kopplung von geschlechtlicher Identität (Frau/Mann) mit kulturellen Attributen (Hose/Rock) wird zwar punktuell aufgebrochen, aber ‚ge|| 154 Vgl. in forschungsgeschichtlicher Abfolge Beatrice Michaelis: „Von tarnkappe, nagele und gêr; dies.: (Dis-)Artikulationen von Begehren, 197–222; Susanne Schul: HeldenGeschlechtNarrationen; Nataša Bedeković u. a. (Hgg.): Durchkreuzte Helden. 155 Vgl. Beatrice Michaelis: „Von tarnkappe, nagele und gêr“. 156 Ansätze finden sich bei Tilo Renz: „Remaking is regendering“; Michael Mecklenburg: „Die Waffen der Frauen?“; Susanne Schul: HeldenGeschlechtNarrationen; sowie in dem Bd. Nataša Bedeković u. a. (Hgg.): Durchkreuzte Helden. 157 Jens Jessen: „Neuer Megatrend. Die Sorge um Transsexuelle erreicht die Universität Oxford“, Die Zeit 32 (2. 8. 2012), 39. 158 Ebd., 39.

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schlechtliche Abweichung‘ lediglich chiastisch in das etablierte System der Zweigeschlechtlichkeit zurück ‚gezwungen‘. Wer sich im 21. Jh. in literaturgeschichtlicher Perspektive mit Geschlechterentwürfen beschäftigt und dafür Begriffe aus dem Bereich der Gender Studies produktiv macht, kommt nicht umhin, sich mit der historischen Genese und politischen Aktualität des kulturwissenschaftlichen Zugriffs auseinander zu setzen. Nur so wird verständlich, warum eine vermeintlich emanzipatorische ‚Normalisierung‘ wie an der Universität Oxford tatsächlich normierende gender-Zuschreibungen reproduziert, vorherrschende Machtdispositive bestätigt und der Unsichtbarkeit eines vorherrschenden gender-Systems zuarbeitet. Zu einer grundlegenden Sensibilisierung für verdeckte Diskriminierungen und für die ungebrochene Relevanz von gender können kulturhistorisch arbeitende Disziplinen, wie die germanistische Mediävistik, einen wesentlichen Beitrag leisten.

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Sandra Linden

Historische Anthropologie 1 Allgemeine Bestimmung Das Erkenntnisinteresse der Historischen Anthropologie ergibt sich aus einer modernen Differenzerfahrung in der Beschäftigung mit der Vergangenheit: Die Beobachtung, dass sich etwa Familienstrukturen im Lauf der Zeit gewandelt haben, führt zu der zunächst banal anmutenden, aber oftmals methodisch nicht genügend durchdachten Feststellung, dass der Mensch keine Konstante ist, dass er die turbulente Ereignisgeschichte nicht unverändert durchläuft, sondern dass Menschen durch ihre je spezifische Zeit geprägt sind. Die der modernen Welt ganz selbstverständlich zugestandene Kontingenz, die Variabilität der Lebensweisen ist somit auch bei der Rekonstruktion vergangener menschlicher Lebenssituationen zu bedenken.1 Die Historische Anthropologie macht den einzelnen Menschen in seiner konkreten Lebenswelt zum Untersuchungsgegenstand, fragt nicht nach überhistorischen Konstanten, sondern betont die historische Dialogisierung. Sie will nicht große Ereignisgeschichte erzählen, sondern in kleinen Räumen und Handlungseinheiten nachzeichnen, was solche Ereignisse für den Menschen bedeuten, wie man ihn als denkendes und fühlendes Wesen in Bezug zu seiner Lebenswirklichkeit beschreiben kann.2 Die Historische Anthropologie beschäftigt sich nicht mit kollektiven Mentalitäten, sondern richtet den historischen Zugriff stärker auf das Subjektive aus, indem sie sich auf den einzelnen Menschen und seinen begrenzten Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont bezieht. Für jede philologisch arbeitende Historische Anthropologie bedeutet dies eine Konzentration darauf, wie im Text anthropologische Dispositionen dargestellt und vergangene Vorstellungen vom Menschen bzw. anthropologische Themen greifbar werden.

|| 1 Vgl. Aloys Winterling: „Begriffe“, 9. Die in der Historischen Anthropologie besonders komplexe Verquickung von gegenwärtig entwickelter Fragestellung und vergangener Lebenswelt beschäftigt auch Jens Wietschorke: „Geschichte der Gegenwart“. 2 Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft definiert etwa Richard van Dülmen: Historische Anthropologie, 5: „Die Historische Anthropologie stellt den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der historischen Analyse.“

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1.1 Gegenstandsbereich Das Spektrum der untersuchten Themen ist vielfältig und wird in den einschlägigen Forschungsberichten zur Historischen Anthropologie häufig einer Systematisierung unterzogen, die um die drei Themenfelder (1) Körper, (2) Ritual/Performativität und (3) Mimesis/Kultur variiert.3 Der Körper als Grundbedingung des menschlichen Daseins wird dabei nicht an sich, sondern als kulturell je unterschiedlich geformter Körper, als Vielfalt körperlicher Verfasstheiten in einer historisch varianten Konstruktion analysiert. Rituale sind für die Historische Anthropologie interessant, weil sie sich – oftmals in einem Rahmen mythischer Verbindlichkeit – auf grundlegende Fragen oder Stationen des Lebens beziehen und ein Feld menschlicher Handlungsmöglichkeiten definieren. Die mimetischen Fähigkeiten des Menschen reichen von der einfachen und aufgrund seiner frühen Geburt notwendigen Imitation im Rahmen von Erziehungs- und Lernprozessen bis hin zur mimetischen Erzeugung einer symbolischen Welt in der künstlerisch-kreativen Nachahmung als Form kultureller Selbstauslegung des Menschen in seiner Lebenswelt. An die Stelle einer thematischen Systematik kann aber mit gleichem Recht eine Aufzählung der verschiedenen Interessensgebiete der Historischen Anthropologie treten, die die Vielfalt des anthropologischen Zugriffs vielleicht sogar besser abbildet; häufig gewählte Themen sind: Geschlechterrollen, Liebe, Sexualität, Scham, Familie, Haus, Eltern-Kind-Beziehungen, Verwandtschaft, Ehepraktiken, Geburt, Tod, Krankheit, Gewalt, Angstbilder, Emotionen, Fremdheitserfahrungen, Lebensalter, Zeitkonstruktionen, Schönheit, Kleidung, Nahrung, Lernen, Religion, Frömmigkeit, Gedächtnis, Kommunikation, Gebärden, Medien, Schrift, Bild, Theater, Fest, Spiel, Phantasie, Wissen usw. Die Reihe ist, wie die assoziative Folge bereits andeutet, beliebig erweiterbar um Themen aus den unterschiedlichsten menschlichen Erfahrungs- und Lebensbereichen.4

|| 3 Vgl. etwa Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, 44–76, oder Christoph Wulf: „Grundzüge und Perspektiven“, 1104–1119. Als Anhaltspunkt für eine weiterführende Beschäftigung mit dem Thema kann die 30-seitige Bibliographie im Anhang von Kienings Forschungsbericht dienen. 4 Eine Vorstellung von der Vielfalt anthropologischer Fragestellungen mit Blick auf die Mediävistik ergibt sich v. a. aus dem Forschungsbericht von Ursula Peters: „Historische Anthropologie“, die Beispielarbeiten aus einer Fülle von Themenfeldern anführt, sowie allgemein aus der Gliederung in dem von Christoph Wulf herausgegebenen Bd.: Vom Menschen, der für knapp 80 Einzelthemen wie ‚Pflanze‘, ‚Ohr‘ und ‚Glück‘ disziplinenübergreifende anthropologische Standortbestimmungen mit weiterführenden Literaturhinweisen anbietet, die sich gut als Ausgangspunkt für anthropologische Untersuchungen eignen.

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1.2 Problembewusstsein: Die Unruhe des Denkens Als Reaktion auf die Scheinplausibilität ihres Gegenstands – was ein Mensch ist und was menschliches Handeln ausmacht, glaubt jeder aufgrund eigener Erfahrung zu wissen – hat die Historische Anthropologie eine besonders starke Tendenz zur kritischen methodischen Selbstreflexion ausgebildet, versichert sich in immer neuen theoretischen Überlegungen der historischen Bedingtheit ihres eigenen Betrachterstandpunkts. So steht die Historische Anthropologie oftmals in engem Zusammenhang zur Anthropologiekritik, betont immer wieder die „anthropologische Komplexität“5 und übt eine oftmals plakativ ausgestellte „Form der Heterologie, nämlich die des selbstreflexiven Multiversums der Wissenschaften vom Menschen“6. Im bewussten Verzicht auf eine einheitliche Theorie und auf eine Beschränkung der betrachteten Zeit oder des kulturellen Raums entsteht eine Vielschichtigkeit der Untersuchungsergebnisse, die oft mit einer gewissen Emphase vorgebracht wird. An die Stelle einer Geschichte vom Menschen setzt die Historische Anthropologie viele verschiedene Geschichten von Individuen, die sich nur schwer in einer geschlossenen Systematik vermitteln lassen, weil man sonst deren Komplexität reduzieren müsste. Nicht das Normative, Einlinige, den theoretisch extrapolierten Mittelwert will man zeigen, sondern im Aufbegehren gegen eine eurozentrische Kulturhegemonie das Marginale, Gegenläufige, Unterdrückte, Invariante, Fremde herausstellen. Die Alterität wird zum Prinzip erhoben, an die Stelle einer vorgängigen Vertrautheit mit dem Gegenstand wird eine explizite „Hermeneutik der Differenz“7 gesetzt. So gibt sich die Historische Anthropologie gern vom Ende aller Verbindlichkeiten überzeugt und will, geprägt durch eine „Unruhe des Denkens, die nicht stillgestellt werden kann“8, stets aufs Neue die Unergründlichkeit des Menschen erweisen.

1.3 Transdisziplinarität und institutionelle Verankerung Es gibt nicht nur viele Themenbereiche, sondern auch zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen, die aufgrund ihrer Fachkultur und -tradition eine Zuständigkeit für Fragen der Historischen Anthropologie reklamieren, wobei der Ansatz der Historischen Anthropologie letztlich nicht nur interdisziplinär, sondern sogar transdisziplinär ist.9 An die Stelle eines festen Gegenstandsbereichs treten gemeinsame Frageinteressen und Betrachtungsweisen, was sich in der jüngeren Wissenschaftsentwicklung durchaus als Vorteil erwiesen und zu einer institutionellen Verfestigung || 5 Christoph Wulf: „Grundzüge und Perspektiven“, 1120. 6 Ders./Dietmar Kamper: „Einleitung“, 7. 7 Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, 96. 8 Christoph Wulf: „Grundzüge und Perspektiven“, 1103. 9 Vgl. ebd.

144 | Sandra Linden der Historischen Anthropologie in Deutschland geführt hat: In Göttingen formte sich am Max-Planck-Institut für Geschichte, wo Alf Lüdtke und Hans Medick wirkten, früh ein historisch-anthropologisches Arbeitsfeld, das seit den 1980er Jahren unter dem Stichwort der Sozialanthropologie rangierte. Die von Alf Lüdtke, Hans Medick, Richard van Dülmen und Michael Mitterauer 1993 begründete Zeitschrift Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag (nun in Zürich herausgegeben von Rebekka Habermas, Jakob Tanner und Beate Wagner-Hasel) fühlt sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive der angloamerikanischen Kulturanthropologie verpflichtet.10 Ein weiteres Zentrum der frühen Forschung liegt in Freiburg. Dort ist das Institut für Historische Anthropologie angesiedelt, das aus Arbeitstagungen der Herausgeber der Zeitschrift Saeculum 1975 mit dem Historiker Jochen Martin im Vorsitz hervorging und nun von Peter Burschel (HU Berlin) geführt wird. Neben diesen geschichtswissenschaftlichen Institutionalisierungen ist im Feld einer post-ontologischen Kulturwissenschaft die Zeitschrift Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie zu nennen, die u. a. von dem Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf (FU Berlin) herausgegeben wird und ein betont offenes Konzept vertritt: Historische Anthropologie bezeichnet Bemühungen, nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm weiterhin Phänomene und Strukturen des Menschlichen im Spannungsfeld zwischen Geschichte, Humanwissenschaft und Anthropologie-Kritik zu erforschen und für neuartige paradigmatische Fragestellungen fruchtbar zu machen.11

Wulf, Vorsitzender der Gesellschaft für Historische Anthropologie, hat mit Logik und Leidenschaft (2002, zusammen mit Dietmar Kamper) und Vom Menschen (1997) zwei wichtige Sammelbände zur Historischen Anthropologie herausgegeben,12 die die disziplinäre Vielfalt des Ansatzes illustrieren.

2 Vorläufer und Anregungspunkte Geht es um die Anfänge der Historischen Anthropologie, wird oftmals die Denkschrift des Wissenschaftsrats aus dem Jahr 1991 heranzitiert, in der Wolfgang Frühwald von einer „Anthropologisierung des Wissens“13 spricht, die das zu dieser Zeit

|| 10 Zum zwanzigjährigen Jubiläum der Zeitschrift im Jahr 2012 ist ein Themenheft erschienen, in dem mehrere Aufsätze die Position der Zeitschrift innerhalb der wissenschaftlichen Theorielandschaft reflektieren; vgl. v. a. Peter Burschel: „Wie Menschen möglich sind“. 11 Paragrana. Sonderbd., Katalog 1992–2002, 6. 12 Ein älterer, aber forschungsgeschichtlich ebenfalls relevanter Ansatz aus dem Berliner Forscherkreis ist Gunter Gebauer u. a. (Hgg.): Historische Anthropologie. 13 Vgl. Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute, 70.

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kontrovers diskutierte Verständnis der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften impliziert. Doch der Beginn dieses anthropologischen Perspektivenwechsels reicht, wie Frühwald auch ausführt, weiter zurück: Bereits 1969 sieht Walter J. Ong das „anthropologizing of knowledge“14 im Sinne eines Wissenwollens über den Menschen als ein gemeinsames Frageinteresse, auf das sich alle Geistes- und Kulturwissenschaften einigen können und das sich bereits damals in mehreren Disziplinen abzeichnet. Welche Anregungspunkte eine sich konkret als Historische Anthropologie benennende Theorie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen finden konnte und durch welche Vorläufer sie zu ihrer methodischen Ausformung kommt, soll kurz skizziert werden.

2.1 Die naturkundliche Anthropologie Die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen hat im klassischen Sinne einer historia naturalis ihren Platz innerhalb der Naturkunde, die den Mensch in seiner biologischen Phänomenologie als Gattungswesen untersucht und mit ganz ähnlichen Fragestellungen wie die Zoologie arbeitet, indem sie die Stellung des Menschen innerhalb der Natur bestimmt.15 Diese biologische Anthropologie beschäftigt sich mit Fragen des Lebenszyklus, des Körperbaus, des menschlichen Verhaltens, nimmt aber im Bereich der Industrie- und Bevölkerungsanthropologie auch einen soziologischen Blickwinkel ein. Bereits zu Beginn des 20. Jhs. entwickelt sich innerhalb der biologischen Anthropologie eine historische Anthropologie, die eine diachrone Perspektive in die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Menschen einbringt und z. B. nach der stammesgeschichtlichen Genese des homo sapiens oder einzelner menschenspezifischer Eigenschaften fragt.16 Die in einer geistes- und kulturwissenschaftlich arbeitenden Historischen Anthropologie zu beobachtende Betonung der natürlichen Seite des Menschen, das Verhandeln von „biologienahen Tatbeständen“17 wie Körper, Geburt, Sexualität usw. hat in der biologischen Anthropologie einen Ankerpunkt.

|| 14 Walter J. Ong: „Crisis“, 627. 15 Vgl. bspw. Gisela Grupe u. a.: Anthropologie. 16 Vgl. Aloys Winterling: „Begriffe “, 16, sowie Rüdiger Bittner: „Anthropologie“, 329, der die Anthropologie, sicher etwas überspitzt, als Untergebiet der Zoologie rangieren lässt. 17 Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, 21.

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2.2 Die philosophische Anthropologie Auch die philosophische Anthropologie beschäftigt sich unter der schon von Kant formulierten Frage „Was ist der Mensch?“18 mit dem Gattungswesen Mensch und beschreibt grundsätzliche Bedingungen des Menschseins und Handlungsmöglichkeiten des Menschen in der Welt. Forscher wie Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen arbeiten die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur in Abgrenzung zu Tier und Pflanze heraus.19 Während Scheler 1928 eine allgemeine geistesgeschichtliche und wesensontologische Bestimmung des Menschen vornimmt,20 geht Plessner von einer exzentrischen Positionalität des Menschen aus, die ihn anders als das Tier zur Selbstreflexion befähigt und, wie er im ersten seiner drei anthropologischen Grundgesetze formuliert, durch das kulturelle Handeln als menschlicher Eigenschaft zu einer natürlichen Künstlichkeit führt.21 Ähnlich betont Gehlen, dass der Mensch nicht allein durch Instinkt gesteuert ist, sondern durch Institutionen und Rituale seinen natürlichen Antriebsüberschuss kanalisiert. Auch seine Überlegungen zum Menschen als Mängelwesen, das ein Entwicklungs- und Anpassungsdefizit durch imitierendes Lernen und kulturelle Tätigkeiten ausgleicht, gehören in dieses Forschungsfeld.22 Nicht der einzelne, je unterschiedliche Mensch wird analysiert; vielmehr bezieht sich die philosophische Anthropologie auf das theoretische Konstrukt eines universalen Menschen, auf eine conditio humana, die konkrete lebensweltliche Bedingungen außen vor lässt. Der philosophischen Anthropologie geht es um Grunddispositionen des Menschlichen, sie stellt metahistorische Fragen und versucht eine zusammenfassende Bestimmung des Menschen, auch wenn man sich bereits über die Varianz des Menschlichen verständigt hat.23

|| 18 Vgl. Kants Def. der Philosophie in der Logik (AA IX, 25): „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie.“ 19 Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. 20 Vgl. Max Scheler: Die Stellung des Menschen, 10. 21 Vgl. Helmuth Plessner: Mit anderen Augen, 24f. 22 Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch, 304: „Der Mensch vermag zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen, ist diesseits und jenseits der Kluft, gebunden in Körper, gebunden in der Seele, und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit, und so ist er Mensch. Das Leben des Menschen ist, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus exzentrisch“ (Hervorhebung im Text: S. L.). 23 Dass das Nachdenken über Grundkonstellationen des Menschlichen auch in moderner Perspektive der Varianz seine Berechtigung hat, zeigt Jürgen Habermas bereits 1958, wenn er die Aufgabe der Philosophie in der Verallgemeinerung der Einzelergebnisse anthropologischer Studien aus anderen Wissenschaften sieht (vgl. ders.: „Philosophische Anthropologie“, 31).

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2.3 Geschichtswissenschaftliche Ansätze: Historische Sozialwissenschaft, Mentalitätsgeschichte, Alltagsgeschichte Die zunächst von Otto Brunner24 und in den 1970er Jahren vor allem von Bielefelder Historikern wie Hans-Ulrich Wehler25 vertretene Sozialgeschichte stellt den Menschen mittelbar in ihren Untersuchungsfokus, indem sie auf objektive Strukturen des gesellschaftlichen Miteinanders blickt. Während der sozialgeschichtliche Zugriff den Menschen als Teil des Gesellschaftssystems sieht, meist mit Gruppen oder Schichten argumentiert, fragt die Historische Anthropologie in einer personenbezogenen Perspektive jedoch eher danach, wie sich die einzelnen Menschen innerhalb dieser sozialen Strukturen verhalten.26 Eine weitere geschichtswissenschaftliche Linie, die ein dezidiert anthropologisches Interesse verfolgt, ist die Mentalitätsgeschichte,27 wie sie aus der AnnalesSchule hervorgegangen ist, die sich um die gleichnamige Zeitschrift gruppiert und von Marc Bloch und Lucien Febvre begründet wurde. Die Mentalitätsgeschichte analysiert die innere Welt des Menschen, interessiert sich für seine Einstellungen und Gewohnheiten, jedoch in Bezug auf kollektive Mentalitäten; d. h. die Mentalität ist letztlich genau wie die gesellschaftlichen Strukturen der Sozialgeschichte ein Abstraktum, das vom einzelnen Menschen absieht. Die weit rezipierten Arbeiten von Philippe Ariès (Geschichte der Kindheit, Geschichte des Todes), Jacques Le Goff (Die Geburt des Fegefeuers) und George Duby (Die drei Ordnungen) sind vor diesem theoretischen Hintergrund anzusiedeln und bereiten den Weg für eine Historische Anthropologie innerhalb der Geschichtswissenschaft. Für anthropologische Studien besonders interessant sind dabei die vor allem von Mittelalter- und Frühneuzeithistorikern geübten mikrohistorischen Studien, wenn etwa Emmanuel Le Roy Ladurie die Problematik der Inquisition am Beispiel des kleinen Dorfes Montaillou analysiert und Carlo Ginzburg einen einzelnen Müller um 1600 betrachtet.28 Während der New Historicism die Kluft zwischen den kleinen Handlungseinheiten und der großen Ereignisgeschichte durch eine Öffnung hin zu literarischen Formen der Geschichtsschreibung und eine Kontextrekonstruktion im Sinne der writing culture zu überwinden versucht,29 setzt die Alltagsgeschichte, zu der sich die Anregungen der Mentali|| 24 Vgl. Otto Brunner: Neue Wege, oder mit stärker mediävistischer Perspektive ders.: Sozialgeschichte Europas. 25 Vgl. in kritischer Absetzung von der Kulturgeschichte Hans-Ulrich Wehler: „Das Duell“, sowie grundlegend ders.: Historische Sozialwissenschaft. 26 Vgl. z. B. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie, 5–9. Die Differenz zur Sozialgeschichte betont auch Rüdiger Bittner: „Anthropologie“, 333f. 27 Vgl. grundlegend Philippe Ariès: „Die Geschichte der Mentalitäten“. 28 Vgl. Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou, und Carlo Ginzburg: Der Käse. 29 Zum New Historicism vgl. den Beitrag von Claudia Lauer i. vorl. Bd.

148 | Sandra Linden tätsgeschichte in Deutschland etwa durch Jürgen Mitterauer und Alf Lüdtke30 ausformen, eher auf die abstrakte Verallgemeinerung der Materialfülle. Die Alltagsgeschichte, in der angloamerikanischen Wissenschaft als popular culture geführt, wendet sich Formen des täglichen Lebens nicht der Oberschicht, sondern der ‚einfachen‘ Leute zu und schreibt eine explizit nichtelitäre Geschichte der Lebenspraxis, wobei sie wie die Historische Anthropologie eine „subjektorientierte Lebensweltanalyse“31 anstrebt. Der kurze Abriss zeigt, dass sich anthropologische Fragestellungen in der deutschen Geschichtswissenschaft vor allem fachintern entwickeln und weniger, als es etwa für die Historische Anthropologie in den Literaturwissenschaften zu verzeichnen ist, auf eine Beschäftigung mit der Kulturanthropologie zurückgehen.32

2.4 Die Kulturanthropologie und Ethnologie Der Begriff der ‚Kulturanthropologie‘, auf den sich viele Studien zur Historischen Anthropologie berufen, ist eine terminologische Verlegenheitslösung: Gemeint sind die Forschungen, die in der angloamerikanischen Wissenschaft als anthropologies firmieren, mit der deutschen Übertragung ‚Anthropologie‘ aber nicht adäquat wiedergegeben sind; denn es handelt sich nicht um eine Wissenschaft vom Menschen, sondern um ethnologische Studien, die sich primär außereuropäischen Kulturen und Völkern zuwenden. Die anthropologies fragen im Rahmen von Feldforschungen bspw. nach den Hopi, einer Eskimosiedlung oder den Bewohnern einer Südseeinsel, wobei die „teilnehmende Beobachtung“33 des Fremdartigen zum Programm erhoben wird. In der deutschen Wissenschaft entsprach diesem Untersuchungsgegenstand die Volkskunde, die jedoch in den 1970er/80er Jahren noch nicht auf dem theoretischen Niveau der anthropologies war, sondern den Paradigmenwechsel hin zur Empirischen Kulturwissenschaft bzw. Ethnologie noch nicht vollzogen hatte, so dass man die anthropologies nicht einfach als Volks- oder Völkerkunde übersetzen wollte.34 || 30 Vgl. Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte, und Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend. 31 Richard van Dülmen: Historische Anthropologie, 26. 32 Berührungspunkte zwischen Sozialgeschichte und Kulturanthropologie zeigt Hans Medick auf: „Missionare“, 191–194. 33 Ebd., 195. Es ist allerdings methodisch zu bemerken, dass das Konzept der Beobachtung, das Bronisław Malinowski als erster praktiziert hat, in der Ethnologie naheliegend ist, weil der Ethnologe anders als der Historiker die Orte seiner Forschung selbst aufsuchen kann. Zur Problematik des ethnographischen Beobachterstandpunkts vgl. David Richards: Masks of difference, 209. 34 Vgl. zu dieser terminologischen Schwierigkeit Rüdiger Bittner: „Anthropologie“, 331, und Aloys Winterling: „Begriffe“, 12. Warum das kleine Fach der Volkskunde in Deutschland die Rolle des Trendsetters anthropology nicht übernehmen konnte, erläutert Brigitta Schmidt-Lauber: „Historische Anthropologie“, 247.

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Die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, wie sie von Bronisław Malinowski und Claude Lévi-Strauss begründet wurde, trägt zur Differenzierung der Historischen Anthropologie bei, indem sie in ihren Beobachtungen zum Umgang der Menschen miteinander auf die Unterschiedlichkeit von Kulturen aufmerksam macht. Während sich Malinowski in einer empiristischen Kulturanthropologie auf die Analyse einzelner fremder Kulturen konzentriert,35 sucht Lévi-Strauss in einem von der Sprachwissenschaft inspirierten strukturalistischen Ansatz, den er in der Strukturalen Anthropologie ausführt,36 nach allgemeinen, übergeordneten Gesetzmäßigkeiten menschlicher Lebensentwürfe, wenn er etwa die Mythen als grundlegende Ordnungssysteme des Denkens begreift.37 Dabei versteht man Kultur zunehmend nicht mehr als gesellschaftliche Funktion, sondern als kulturelle Selbstauslegung einer Gruppe, als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“38, das einer hermeneutischen Auslegung bedarf – unter diesen Voraussetzungen betreibt Clifford Geertz dann eine interpretative Kulturanthropologie, die er mit der Methode der thick description als Dreischritt von Beobachten, Verstehen und Deuten ausführt.39 Der Verfremdungseffekt, der sich in der Kulturanthropologie automatisch aus der kulturellen Differenz zum Gegenstand ergibt und eine Reflexion über den Betrachterstandpunkt auslöst, wird als methodisches Prinzip auch für andere Wissenschaften relevant, so dass man von einer allgemeinen „Ethnologisierung“40 gesprochen hat. Für die Historische Anthropologie meint der Blick auf das Fremde, dass sie immer wieder von einem vermeintlich selbstverständlichen Wissen über den Menschen zurücktritt und sich zu einer Art ethnographischen Distanz zum Untersuchungsobjekt diszipliniert.

3 Zur Stellung der Historischen Anthropologie innerhalb der Kulturwissenschaften Blickt man nach diesen Anregungspunkten und Traditionen nun in einer eher synchronen Perspektive auf die systematische Verankerung der Historischen Anthropologie in der Wissenschaftslandschaft, so wird sie meist dem Bereich der Kulturwis-

|| 35 Vgl. Bronisław Malinowski: Argonauten. 36 Vgl. Claude Lévi-Strauss: „Die Strukturanalyse“. 37 Vgl. ders.: „Die Struktur der Mythen“. Die Beschäftigung mit menschlichen Denkmustern als wirkmächtigen gesellschaftlichen Ordnungseinheiten zeigt sich auch in ders.: Das wilde Denken. 38 Doris Bachmann-Medick: „Einleitung“, 22. 39 Vgl. Clifford Geertz: „Dichte Beschreibung“, und in Anwendung auf den balinesischen Hahnenkampf ders.: „‚Deep Play‘“. 40 Zur Ethnologisierung speziell der Literaturwissenschaft vgl. Doris Bachmann-Medick: „Einleitung“, 44–47; kritisch dazu Wolfgang Riedel: „Literarische Anthropologie“, 349, der eine „Vervolkskundlichung“ der Germanistik beklagt.

150 | Sandra Linden senschaften zugeordnet.41 Eine von der Kulturanthropologie angeregte Kulturwissenschaft versteht Kultur nicht als Hochkultur, sondern als „Pluralität der Lebensstile“42 und widmet sich der Rekonstruktion von Lebenszusammenhängen. Nichts anderes versucht – mit einer stärkeren Fokussierung auf Menschen als Akteure – die Historische Anthropologie. In der deutschen Literaturwissenschaft wurde unter dem Schlagwort „Kultur als Text“43 das Konzept der literary anthropology diskutiert,44 das in der Ethnologie Clifford Geertz vorbereitet und in der Mediävistik vor allem Howard Bloch geprägt hat.45 „Kultur als Text“ meint die Textvermitteltheit von Kultur, die Vorstellung, dass Kultur nur auf der Grundlage von symbolischen Praktiken entsteht. Trotzdem ist Kultur, wie der performative turn betont,46 auch in eine Handlungspragmatik eingebunden, die die Einstellung zum Text dynamisiert und in der Mediävistik etwa mit Forschungen zur Aufführungssituation oder dem Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit berücksichtigt wird. Die Kulturwissenschaften arbeiten mit einem entprivilegierten Textbegriff, d. h. der auratische Sonderstatus fiktionaler Literatur entfällt. Auch literarische Texte werden, freilich unter Berücksichtigung bestimmter Sonderbedingungen literarischer Kommunikation, als Träger kultureller Repräsentation gesehen, in denen bestimmte Werte, Normen, Selbst- und Fremdbilder diskutiert und ausgehandelt werden. Wie in der Begegnung von kultur- und literaturwissenschaftlichen Interessen gerade der Sonderstatus des literarischen Textes zum Problem wird, hat die Forschungskontroverse zwischen Walter Haug und Gerhart von Graevenitz im Jahr 1996 (veröffentlicht 1999) gezeigt.47 Ein von den Kulturwissenschaften propagiertes unerratisches Literaturverständnis trifft jedoch die neuere Literaturwissenschaft in höherem Maße als die Mediävistik, die traditionell von einem breiten Literaturbegriff ausgeht und vor allem seit der 1978 begonnenen Neuauflage des Verfasserlexikons nicht nur ästhetisch markierte Texte, sondern ebenso Sach- und Gebrauchstexte in ihre Analyse einbezieht. Wendet die germanistische Mediävistik ihr Interesse auf „Schrifttum in allen seinen Erscheinungsformen“48, so werden auch literarische

|| 41 Hartmut Böhme u. a.: Orientierung Kulturwissenschaft, 138, sehen sie sogar als ein organisierendes Zentrum der Kulturwissenschaften. 42 Richard van Dülmen: Historische Anthropologie, 43. 43 Vgl. Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Zur Anregungsfunktion dieser Metapher vgl. dies.: „Textualität“, 303. 44 Das beiderseitige Anregungspotential zwischen Kulturanthropologie und Literaturwissenschaften betont Doris Bachmann-Medick: „Einleitung“, 44f. 45 Vgl. Howard Bloch: Etymologies. Eine ausführliche Bewertung der Schrift liefert Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, 76–81. 46 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns, 104–143. 47 Vgl. zur Haug-Graevenitz-Kontroverse die Ausführungen von Claudia Lauer i. vorl. Bd. 48 Kurt Ruh: „Vorwort“, VI.

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Texte im engeren Sinne als Teil des Archivs einer historischen Epoche verstanden und auf ihre kulturelle Einbettung hin befragt.49 Freilich gesteht jeder Kulturwissenschaftler dem Literarhistoriker zu, dass die Literatur kein 1:1-Abbild anthropologischer Zustände liefert, dass sie nicht in einem streng mimetischen Verhältnis, sondern eher in kommentierender Distanz zur Realität steht,50 aber dennoch zielt das Erkenntnisinteresse des Anthropologen letztlich nicht auf die Literatur, sondern auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Als eine vermittelnde Position kann der von Wilfried Barner eingebrachte Aspekt der Lesbarkeit gelten: Er weist darauf hin, dass die Literatur nicht als eine Lesart der Kultur funktionalisiert werden darf, sondern in ihrer eigenen Lesbarkeit, d. h. unter Berücksichtigung der ästhetischen Differenz, verstanden werden soll, die auch das Numinose und Rätselhafte des literarischen Textes, das zwischen den Zeilen Mitgemeinte bedenkt.51 Es gilt, auch in einem kulturwissenschaftlichen Zugriff die der Literatur eigenen Regeln zu beachten wie z. B. die literarische Intention des Autors, die textuelle Organisation, die Einbindung in Gattungstraditionen, aktuelle Faszinationstypen usw. An den Texten lässt sich nicht ablesen, wie ein mittelalterlicher Mensch Zorn empfunden hat, sondern welche Ausdrucksmöglichkeiten der Autor des Textes für diese Emotion ansetzt. Als Medium menschlicher Selbstauslegung ist die Literatur für anthropologische Fragestellungen besonders relevant, zumal in ihr oftmals ein Wissen über den Menschen diskursiviert wird, das sich eben nicht nach den Erfordernissen einer naturwissenschaftlichen Exaktheit richtet. So wird gerade die Differenz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Menschen, die eine fiktionale Literatur setzen kann, relevant. Literarische Texte zeichnen sich für eine historisch-anthropologische Arbeitsweise dadurch aus, dass sie bestimmte anthropologische Formationen experimenthaft durchspielen können, eher das Besondere, Außerordentliche als die Norm abbilden und gerade in Zeiten des Umbruchs zu einem Feld werden, in dem neue Sichtweisen auf den Menschen erst einmal vergleichsweise unverbindlich erprobt werden können.

|| 49 Wie eine mediävistische Standortbestimmung durchaus die Besonderheiten ästhetisch geformter Texte berücksichtigt und zugleich die Chancen einer kulturwissenschaftlichen Öffnung des Faches nutzt, demonstriert der von Ursula Peters herausgegebene Bd. Text und Kultur, in dem die TextKultur-Relation durch die Text-Kontext-Beziehung operationalisierbar gemacht wird (vgl. die einleitenden Bemerkungen von Peters zur Kulturtheorie-Sektion des Bdes., 191). 50 So etwa Doris Bachmann-Medick, wenn sie die Zielsetzung beschreibt, „literarische Texte auf ihre jeweilige Lesart und Schreibweise von Kulturen zu befragen“ (dies.: „Einleitung“, 12). 51 Vgl. Wilfried Barner: „Lesbarkeit“.

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4 Mediävistische Perspektiven auf eine historische Anthropologie Die Historische Anthropologie ist für die Literaturwissenschaft attraktiv, weil es ihr nicht um kollektive Mentalitäten geht, sondern sie den je einzelnen und besonderen Blick auf die Welt, singuläre Figuren und Charaktere, wie die Literatur sie entwirft, untersucht. Wie die Forschungsberichte von Ursula Peters, Christian Kiening und Werner Röcke schon allein über die Fülle der dokumentierten Studien darlegen,52 ist die mediävistische Literaturwissenschaft der Historischen Anthropologie besonders aufgeschlossen, und die Gründe für dieses Engagement liegen auf der Hand: Mittelalterliche literarische Zeugnisse evozieren durch den zeitlichen Abstand zum Betrachter per se eine gewisse Fremdheit und machen schon allein für das grundsätzliche interpretative Verständnis eine aufwendigere Kontextrekonstruktion nötig als moderne Texte; Jan-Dirk Müller spricht vom „Herbeizitieren verschiedener Kontexte zur Aufschließung der Textsemantik“53. Entsprechend ist die von der Historischen Anthropologie betonte Alteritätsdiskussion in der Mediävistik breit ausgeprägt, da sie auf den Kern ihres Forschungsgegenstandes zielt.54 Auch dass die moderne Unterscheidung zwischen hoher und gebrauchsnaher Literatur für die mittelalterliche Literatur unangemessen ist, kommt dem Untersuchungsfokus der Historischen Anthropologie entgegen. Klassisch mediävistische Fragestellungen etwa nach dem Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder den besonderen Bedingungen der Aufführungssituation gehen schon früh in die Richtung einer Historischen Anthropologie, ohne diesen theoretischen Hintergrund explizit zu reflektieren. So hat sich bereits Hugo Kuhn mit der Frage beschäftigt, wie man auf der Basis der Textüberlieferung anthropologische Situationen denken und die lebensweltliche, anthropologische Relevanz von Literatur erarbeiten kann.55 Auch Wolfgang Mohr kommt unter dem antiquiert anmutenden Stichwort des ‚Menschenbilds‘ zu der Feststellung, dass die volkssprachige Literatur des Mittelalters ihren Darstellungsfokus zunehmend auf menschliche Befindlichkeit und menschliches Verhalten legt.56 Die Darstellung, wie ein einzelner Mensch mit dem Leben umgeht, wie er sich in bestimmten Situationen || 52 Vgl. Ursula Peters: „Historische Anthropologie“; Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, Werner Röcke: „Historische Anthropologie“. 53 Jan-Dirk Müller: „Der Widerspenstigen Zähmung“, 462. 54 Die Diskussion setzt bereits früh ein; vgl. Hans Robert Jauß: Alterität, der allerdings noch auf eine Nivellierung der Differenzen hinarbeitet, und in jüngerer Zeit Christian Kiening: Alterität und Methode, wie der von Manuel Braun hg. Bd. Wie anders war das Mittelalter?, dort insb. der auf die Historische Anthropologie konzentrierte Beitrag von Annette Kehnel, die jedoch den Begriff der Universalität gegen die Alterität stark macht. 55 Vgl. Hugo Kuhn: „Minnesang“. 56 Vgl. Wolfgang Mohr: „Wandel“, 39: „Das Intime wird darstellenswert.“

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verhält, eine verstärkte Tendenz zum Ausformulieren der inneren Befindlichkeit des Menschen, das Bemühen um angemessene Redeweisen für emotionale Zustände lassen bei den mittelalterlichen Autoren auf ein fundiertes anthropologisches Interesse schließen. Dieser anthropologische Interessenschwerpunkt ist im 12./13. Jh. keineswegs auf die Literatur begrenzt, sondern auch für die lateinische Gelehrsamkeit festzuhalten.57 Zentrale Bedeutung kommt bei der Frage nach dem Menschen der biblischen Aussage zu, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf (Gen 1,27), denn so findet die Erforschung des Menschen ihre Legitimierung und ihren Ansporn im Bemühen um Gotteserkenntnis. Bereits im 12. Jh. reklamiert die Schule von Chartres mit ihren Überlegungen zum Integumentum die natura humanae vitae als zentrales naturphilosophisches Wissensgebiet,58 und Alanus ab Insulis erklärt in der Zusammenfassung des Anticlaudianus die Erkenntnis des Menschen zum obersten Ziel. Einflussreiche Gelehrte wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Johannes Duns Scotus verfassen ausführliche Abhandlungen zur Anthropologie und entwickeln eine scientia de homine, die im universitären Unterricht des Mittelalters, v. a. in Naturphilosophie und Theologie, rezipiert und weiter entfaltet wird.59 Die Frage nach dem Menschen schlägt sich im Hochmittelalter im lateinischen wissenschaftlichen Diskurs ebenso nieder wie in der volkssprachigen Literatur mit ihren je eigenen Diskursivierungsmöglichkeiten. Wenn Wolfgang Mohr als zentralen Zug der mittelalterlichen Literatur das Bemühen der Autoren sieht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen,60 ist dies vielleicht eine Erklärung dafür, warum sich diese Literatur mit den Methoden der Historischen Anthropologie besonders gut erschließen lässt. Der historische Anthropologe folgt letztlich mit seinen Fragestellungen Schwerpunkten, die die Texte selbst setzen, macht den in der mittelalterlichen Literatur vorhandenen anthropologischen Darstellungsfokus zum Leitgedanken der wissenschaftlichen Analyse. Die folgende Analyse beschreibt am Beispiel des Ackermann von Böhmen die literarische Konzeption menschlicher Befindlichkeiten, die sich aus der Konfrontation mit einem unverschuldeten Tod bzw. Unglück ergeben und die ein Nachdenken über die kosmologische Stellung des Menschen im göttlichen Schöpfungsplan in Gang setzen. Dabei wird der Ackermann in eine Rezeptionslinie eingeordnet und auf spezifische Verfahren einer intertextuellen Kohärenzbildung hin untersucht. Auf

|| 57 Vgl. Theodor W. Köhler: Grundlagen, vor allem das Kap. zum Beginn der philosophisch-anthropologischen Reflexion, 52–73, sowie Martina Neumeyer: „Mittelalterliche Menschenbilder“, 7–15. Die Vielfalt anthropologischer Sichtweisen im Mittelalter betont Loris Sturlese: „Von der Würde“. 58 Vgl. hierzu und zum Folgenden Christoph Huber: Aufnahme, 399f., mit den entsprechenden Stellenangaben. 59 Theodor W. Köhler hebt in seinen Grundlagen diese vier Autoren ausdrücklich hervor, nennt aber 7–13 noch andere Verfasser anthropologischer Traktate mit entsprechender Sekundärliteratur. 60 Vgl. Wolfgang Mohr: „Wandel“, 44.

154 | Sandra Linden diese Weise geht der Blick von den anthropologischen Zuständen zu den Bedingungen ihrer literarischen Konstruktion, und so erweist sich das, was als Abbild einer realen personalen Betroffenheit inszeniert ist, als ein vom jeweiligen Autor bewusst konstruiertes Gespräch zwischen Texten verschiedener Sprachen, Zeiten und Diskurse.

5 Beispielanalyse: Johannes von Tepl: Der Ackermann von Böhmen Im Kapitel Vom Gottesstaat und von übler Erlösung in Thomas Manns Zauberberg empfiehlt der strenge Jesuit Naphta dem jungen Protagonisten Hans Castorp die Schrift De miseria des Papstes Innozenz III. als, wie er es nennt, „äußerst witziges Stück Literatur“61 und gibt ihm die mittelalterliche contemptus-mundi-Schrift in einem etwas verblichenen, morschen Pappband auch gleich mit auf den Weg. Naphtas Gegenspieler und Sympathieträger Settembrini kann bei dieser Buchempfehlung nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und der Weltverachtung des hässlichen Asketen ein wahrhaft humanistisches Credo entgegenhalten. Die endlosen Diskussionen über Tod und Leben, die Thomas Mann zwischen Innozenzanhänger Naphta und Menschenfreund Settembrini entfaltet, erlauben einen Brückenschlag ins Spätmittelalter zum Ackermann von Böhmen des Johannes von Tepl:62 Auch in diesem Dialog führt die pessimistische Seite, der Tod, die Schrift De miseria im Munde, sein positiver Gegenspieler hingegen, der Ackermann, versucht, den Tod in seiner Menschen- und Weltverachtung zu widerlegen. Sowohl die eloquente Selbstdarstellung des Todes als auch die auf dem negativen Hintergrund entfaltete positive Würdigung des menschlichen Daseins sind Schlüsselthemen der Historischen Anthropologie.63 Der wohl kurz nach 1400 entstandene Ackermann ist eine Streitrede zwischen dem personifizierten Tod und einem metaphorisch zu verstehenden Ackermann, der nicht den Acker, sondern mit seiner Schreibfeder das Papier pflügt. Ausgangspunkt des Dialogs ist in Variation der Hiobgeschichte der Tod der geliebten Ehefrau Mar-

|| 61 Thomas Mann: Der Zauberberg, 552. Auf diese Rezeptionslinie wurde ich aufmerksam durch ein Zitat bei Carl-Friedrich Geyer: „Einleitung“, 2. 62 Johannes de Tepla: Epistola. Die Zit. werden im Folgenden verkürzt belegt. Der Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ohne die in Bertaus Edition gesetzten hochgestellten Kommata (die Virgeln und Rubrizierung in einem einzelnen Textzeugen markieren) sowie ohne spitze Klammern (die Sonderlesarten von Handschrift A anzeigen) zitiert. 63 Dass sich im 14. Jh. im deutschsprachigen Bereich eine neue Todesmentalität ausbildet, die durch ars moriendi, Totentänze usw. geprägt ist, hat Alois M. Haas: Todesbilder, herausgestellt; den allgemeineren mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund liefert Philippe Ariès: Geschichte des Todes.

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garethe, den der Ackermann gegenüber dem Tod als ungerecht beklagt. In 32 Kapiteln verfechten beide Sprecher abwechselnd ihre Position, bevor Gott das abschließende Urteil fällt und dem Ackermann zwar Ehre, dem Tod aber den Sieg zuspricht. Anders als im Zauberberg kann man die beiden Streitenden (obwohl dies von der älteren Forschung mit Nachdruck vertreten wurde)64 nicht auf einen Epochengegensatz von Mittelalter und Renaissance, von Tradition und Innovation festlegen, wird in den Reden des Ackermann kein modernes Menschenbild als Kontrastfolie zur scholastisch argumentierenden Todespersonifikation entworfen. Vielmehr werden zwei gleichzeitig existierende Ansprüche miteinander konfrontiert, die Positionen von Mensch und Tod innerhalb des göttlichen ordo ausgehandelt.65 Der Ackermann präsentiert sich zwar als persönliche Verarbeitung einer Verlusterfahrung, als eine Quelle, wie sie sich eine Historische Anthropologie nur wünschen kann: Die anthropologische Grundkonstante des Todes und die daraus resultierende menschliche Emotion der Trauer wird in einer subjektiv anmutenden Einzelerfahrung fassbar und literarisch diskursiviert.66 Jedoch war die in diesem Zusammenhang formulierte These von der persönlichen Betroffenheit des Autors und einer Durchlässigkeit der Ackermann-Rede auf eine historische Lebenswelt schnell widerlegt: Nachdem die frühe Forschung den Ackermann ganz selbstverständlich als autobiographisches Werk des trauernden Johannes interpretiert hatte, wurde 1933 ein Widmungsschreiben an den Prager Bürger Peter Rother gefunden, in dem Johannes sein Werk dadurch charakterisiert, dass er Stilfiguren, die er aus dem Lateinischen kennt, nun auch in der deutschen Sprache erproben will.67 Nicht die Verarbeitung einer schicksalhaften Erfahrung, sondern rhetorische Kunstübung ist sein primäres Darstellungsziel, wobei die Rhetorisierung die inhaltliche Argumentation zwar nicht entwertet, aber die vermeintliche Direktheit des Gefühlsausdrucks doch als eine inszenierte offenbart. Und genau diese Überblendung von persönlicher Betroffenheit und Literarizität, die spielerische Verschränkung von literarischem Schema und realer Lebenswelt macht den Text zu einem geeigneten Ansatzpunkt für die Fragen einer modernen Historischen Anthropologie, die literarische Zeugnisse eben nicht als ein-

|| 64 Vgl. Konrad Burdach: Reformation, 175–184, sowie kritisch dazu Christian Kiening: Schwierige Modernität, 11. 65 Vgl. Gerhard Hahn: Der Ackermann, 68: „Es steht nicht Programm gegen Programm, hie Mittelalter, hie Renaissance; es steht Ordnung gegen Ordnung. Beide wenden sich mit gleichem Anspruch an den Autor, und die Schärfe ihrer Reibung entsteht gerade daraus, daß beide in einem Vorstellungsraum existieren, und nicht zeitlich als alte und neue Anschauung befriedet werden können.“ Vgl. auch Christoph Huber: Aufnahme, 350–355. 66 Dies hebt bereits Hugo Kuhn: „Zwei mittelalterliche Dichtungen“, 91, als entscheidendes Thema des Ackermann hervor. 67 Vgl. dazu Nigel F. Palmer: „Der Autor“. Palmer setzt sich mit der Frage auseinander, warum der Autor für seine rhetorische Stilübung den fiktiven Tod der eigenen Ehefrau auswählt, und im Dialog die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit verarbeitet sieht.

156 | Sandra Linden fache Wirklichkeitsabbildung menschlicher Verhältnisse begreift, sondern explizit nach literarisch geformten Repräsentationen anthropologischer Zustände fragt.

5.1 Rezeptionslinien zwischen De Miseria und dem Ackermann Betrachtet man die im Ackermann angewandten literarischen Strategien, ergibt sich ein Netz von intertextuellen Bezugnahmen, das den bereits erwähnten Traktat De miseria condicionis humane68 ins Spiel bringt, den der junge Lothar von Segni, der 1198 als Innozenz III. Papst wird, Ende des 12. Jhs. verfasst. De miseria ist ein Musterbeispiel geistlicher contemptus-mundi-Literatur, die ihr didaktisches Ziel darin sieht, im Aufweisen des menschlichen Elends und der menschlichen Defizite die superbia als schlimmste aller Sünden zu verbannen und unter Androhung eines möglichen nahen Todes und des Gottesgerichts durch christliche Demut zu ersetzen. De miseria ist alles andere als originell, sondern vielmehr ein Konglomerat aus Bibelzitaten und theologischen Allgemeinplätzen, aber die Schrift war weit verbreitet: 672 Handschriften sind bekannt,69 allein in Prag liegen 29 vollständige Handschriften, elf davon aus dem 14. Jh., so dass Johannes von Tepl Zugang zu dem Text gehabt haben könnte. Die drei Bücher der Schrift sind den drei Lebensaltern des Menschen zugeordnet, nämlich dem Eintritt in die Welt, dem Erwachsenenleben und dem Alter bzw. Tod, wobei in allen drei Phasen das Elend und die Schwäche des menschlichen Daseins thematisiert werden. Der Ackermann erhält die meisten Anregungen aus dem ersten Buch von De miseria, das sprachlich am anspruchsvollsten ist und sich auch mit der allgemeinen Natur des Menschen befasst.70 Im Folgenden sollen die Rezeptionslinien vor allem anhand des 32. Ackermann-Kapitel untersucht werden: Es hat in der Komposition des Gesamttextes einen herausgehobenen Charakter, wenn der Tod in der Schlussrede darauf zielt, das gesamte Menschengeschlecht als defizient zu diskreditieren. Nach einer allgemeinen Klage über die wandelber (32,3) gewordene Zeit setzen die Innozenz-Paraphrasen mit dem sechsten Satz ein und beziehen sich hauptsächlich auf die verschiedenen sinnlosen Anstrengungen der Menschen. Als Korrespondenz in De miseria dienen Kapitel 12 De variis hominum studiis und das Folgekapitel De diversis anxietatibus. Innozenz schildert hier die verschiedenen vergeblichen Beschäftigungen: Zunächst geht es um eine sinnlose Raumbewältigung des Menschen, der Berge und Täler durchschreitet, in mühsamer Weise Meere überquert usw. Danach beschreibt er, wie der Mensch zur Lebenserhaltung die Erde mühsam bearbeitet; es ist von Metallverarbeitung, Stoffproduktion, Ackerbau, Weinbau und Fisch|| 68 Lotario dei Segni: De miseria. 69 Vgl. zur Überlieferung Robert E. Lewis: „Preface“, XI. 70 Karl Bertau bietet in seiner Edition eine Tabelle der Quellenbenutzung im Ackermann (Bd. 2, 30– 34); vgl. auch Antonín Hrubý: „Die Behandlung“.

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fang die Rede. Ein weiterer Abschnitt gilt den geistigen Bemühungen des Menschen, die allein auf materiellen Reichtum zielen, bevor das Kapitel schließlich zu einer Paraphrase von Ecclesiastes 2,4–11 übergeht, wo Salomon in der Rückschau all seine Taten als vanitas und affliccio animi bewertet. Der Ackermann übernimmt nur einen Teil der vom Menschen erschlossenen Räume, es wird ausgeführt, [w]ie sie berg und tal, stock, stein unde gefilde, alpen, wildnüss, des meres grunt, der erden tieff durch irdischs guts willen durchgründen (32,7).71 Für den Bergbau allerdings wird die Aufzählung gegenüber dem Ausgangstext erweitert. Interessant ist, dass gerade die Passagen in De miseria, die sich auf geistige und wissenschaftliche Bestrebungen richten, nicht übernommen werden. Dies ist nicht nötig, weil der Tod die Vergeblichkeit der geistigen Bemühungen des Menschen schon in Kapitel 18 und 26 genügend gebrandmarkt hat. Es handelt sich also nicht um blindes Abschreiben einer Quellenvorlage, sondern um eine planvolle und organisiert vorgehende Übernahme. Ihren Höhepunkt findet die Aufzählung dann auch im Ackermann im Vanitas-Satz aus dem Munde Salomons: Was ist das alles? Ist ein eytelkeit (32,8). Etwas lockerer sind die Bezüge zwischen dem 13. Kapitel der lateinischen Schrift und dem korrespondierenden Ackermann-Satz 32,10, in denen es um die Ängste der Menschheit geht und beide Quellen verschiedene Begriffe für Angst und Furcht aneinander reihen: Bei Innozenz ist die Rede von anxietas, cura, sollicitudo, metus, tremor, horror, dolor, tristicia und turbacio.72 Im Ackermann liest man entsprechend: O / die tötliche menscheyt / ist stetigclichen / jn engsten / jn trübsall / jn leyt / jn besorgen / jn vorchten (32,10). Johannes überträgt hier nicht einzelne lateinische Termini aus Innozenzʼ Traktat, sondern übernimmt lediglich das rhetorische Verfahren der Begriffshäufung. Nachdem gezeigt werden konnte, dass Johannes auf Innozenzʼ De miseria als Quelle zurückgreift, bleibt zu fragen, wie dieser Befund für eine historisch-anthro-

|| 71 Vgl. dazu Lothario dei Segni: De miseria, I,12 (111): Currunt et discurrunt mortales per sepes et semitas, ascendunt montes, transcendunt colles, transvolant rupes, pervolant Alpes, transgrediuntur foveas, ingrediuntur cavernas; rimantur viscera terre, profunda maris, incerta fluminis, opaca nemoris, invia solitudinis; exponunt se ventis, ymbribus, tonitruis et fulminibus, fluctibus et procellis, ruinis et precipiciis. („Die Sterblichen laufen hin und her durch Zäune und Wege, sie steigen Berge empor, übersteigen Hügel, überfliegen Klippen, durcheilen die Alpen, überqueren Gruben, gehen hinein in Höhlen, sie durchwühlen die inneren Gegenden der Erde, die Tiefen des Meeres, die Unsicherheiten des Flusses, die Dunkelheiten des Waldes, den Innenweg der Einsamkeit, sie setzen sich den Winden aus, den Regengüssen, den Donnerschlägen und Blitzen, den Fluten und Stürmen, den Einstürzen und abschüssigen Stellen.“ – Übers. hier und im Folgenden: S. L.). 72 Lothario dei Segni: De miseria, I,13 (115): O quanta mortales angit anxietas, affligit cura, sollicitudo molestat, metus exterret, tremor concutit, horror abducit, dolor affligit, conturbat tristicia, contristat turbacio! („O, wie viel Angst quält die Sterblichen, wie viel Sorge entmutigt sie, wie sehr bedrückt die Einsamkeit, erschreckt die Furcht, erschüttert der Schrecken, führt weg das Grauen, entmutigt der Schmerz, verwirrt die Trauer und macht die Verwirrung traurig!“).

158 | Sandra Linden pologische Interpretation des Ackermann fruchtbar gemacht werden kann. Man muss fragen, welchen Effekt es hat, wenn man die theologische Frage eines als ungerecht empfundenen Todesfalls unter Heranziehung der lateinischen contemptusmundi-Literatur diskursiviert. Auffällig ist, dass in der Figurenrede des Todes nicht durchgängig auf die contemptus-mundi-Schrift zurückgegriffen wird, sondern hauptsächlich in den letzten Reden. Man kann aus dieser Quellenverwendung für die Äußerungen des Todes, der sich zunächst in seiner Selbstdefinition noch als lex naturalis auffasst, auf eine Radikalisierung schließen. Der Tod behauptet ab Kapitel 22, das menschliche Leben sei nur um des Sterbens Willen geschaffen (22,3) und geht dazu über, der Schöpfung und insb. dem menschlichen Dasein jeglichen Wert abzusprechen.73 Die Radikalisierung erhält ihre eindrückliche rhetorische Umsetzung durch die von Innozenz angeregten langen Aufzählungen etwa über den Unflat des menschlichen Körpers (24,6) oder, wie gezeigt, über die Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens (32,6). Der Quellentext wird hier also zum Motor einer anthropologischen Umbewertung. Innozenz’ Text fügt sich harmonisch in die Argumentationsstrategie des Ackermann, indem der Tod als Erlösung von irdischen Sündenqualen präsentiert wird. Was liegt also näher, als den Tod im Ackermann diese Quelle für seine Selbstrechtfertigung nutzen zu lassen? Doch fällt hier der Perspektivenwechsel ins Gewicht, der die formale Rezeption mit einer inhaltlichen Innovation versieht: Schließlich ist es ein kategorialer Unterschied, ob ein Mensch als Leidensgenosse die contemptusmundi-Gedanken vorbringt oder der Tod als ein Unbeteiligter, der kühl und distanziert auf das menschliche Leben blickt. Innozenz kann den Tod als Erlösung sehen, weil er das eigentliche menschliche Glück ins Jenseits verlegt. Beim Tod im Ackermann hingegen ist von tröstlichen Jenseitshoffnungen nichts zu spüren, fehlt jede christologische Perspektive.74 Vielmehr offeriert der Tod, anders als Innozenz, der schließlich mahnend auf eine moralische Besserung seines Lesers zielt, keine andere Lösung als die passive Ergebung in das unausweichliche Elend (32,14). Die Radikalisierung der Position des Todes durch die Rezeption von De miseria hat noch einen weiteren Effekt: Durch die hybride Verabsolutierung seiner Macht und die Negativierung des Menschenbilds werden die Thesen des Todes leichter anfechtbar und durch den Ackermann als Vertreter einer von Gott geschaffenen positiven Menschheit widerlegbar: Sieht der Tod den Menschen als Unflat, preist der Ackermann ihn als Krone der göttlichen Schöpfung (Kap. 24f.), der vom Tod gezeichneten Zwangsverbindung mit einer aufmüpfigen zänkischen Gattin stellt der Ackermann die Ehe mit seiner geliebten Margareta als gottgewollte Fügung entgegen (Kap. 28f.). Und wenn der Tod alle menschlichen Fähigkeiten für nichtig erklärt,

|| 73 Vgl. Gerhard Hahn: Der Ackermann, 66f. 74 Zur „christologischen Lücke“ im Ackermann vgl. Hausmann: „Böhmen um 1400“, 479.

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hält ihm der Ackermann die Hochschätzung der Sinnesorgane und der Vernunft entgegen (Kap. 24f.): Allein der mensche ist empfahende der vernunfft, des edel hardes. Es ist allein der leyplich kloß dem gleychen niemant wann Gott gewürcken kan dajnn als behende werck alle kunst vnd meysterschafft mit weyßheyt seint gewürcket (25,13, S. 87).

Auf die Darstellung der miseria hominis antwortet der Ackermann also mit Verweis auf die dignitas hominis. Dies ist jedoch eine kontrastive Gegenüberstellung, die den Ackermann nicht automatisch zu Burdachs Renaissancemenschen werden lässt, sondern die sich aus der rhetorischen Textstrategie ergibt und argumentativ eingebettet ist.75 Zudem ist eine solche Polarität schon in De miseria angelegt, wenn Innozenz sich im Prolog bereit erklärt, auf Wunsch in einer nächsten Schrift nach den Leiden des schlechten hoffärtigen Menschen ebenso eindrücklich die Würde des tugendhaften Menschen zu beschreiben.76

5.2 Vom Ackermann zum Weberlein: Der Tkadleček Eine weitere Stufe der Quellenrezeption, die für einen anthropologischen Zugriff besonders relevant ist, kommt mit dem alttschechischen Tkadleček77 in den Blick. Ein Kryptogramm Luduik (= Ludwig) im Tkadleček lässt auf den Autornamen schließen, datiert wird der Text meist auf die Zeit nach 1408, zwei der drei erhaltenen Handschriften weisen auf das Prager Strahov-Kloster als möglichen Entstehungszusam|| 75 Michael Stolz: „Die künst“, führt diese Verschränkung für die Gegenüberstellung des Lobs auf den vernunftbegabten Menschen einerseits und der Geringschätzung menschlicher Wissenschaften andererseits aus. 76 Vgl. Lothario dei Segni: De miseria, Prolog, 93. 77 Der Text wird im kritischen Abgleich mit der Übers. von Rolf Ulbrich: „Tkadleček“ und „Ackermann“, zit. nach Agáta Dinzl-Rybářová: Ackermann und Tkadleček, die neben dem alttschechischen Text auch eine neuhochdeutsche Übersetzung bietet. Meine fehlenden Sprachkenntnisse lassen es mir angemessen erscheinen, den Text im Folgenden lediglich auf Deutsch zu zitieren und Leser, die des (Alt-)Tschechischen kundig sind, auf die zweisprachige Edition zu verweisen. Vgl. zum Tkadleček Christian Kiening: Schwierige Modernität, 312–331, sowie Karl Bertau: „‚Tkadleček‘ und ‚Ackermann‘“. Einen 60-seitigen Forschungsbericht, der auch die tschechische Forschung einbezieht, bietet Agáta Dinzl-Rybářová: Ackermann und Tkadleček, 21–85.

160 | Sandra Linden menhang.78 Der Tkadleček ist eine Bearbeitung des Ackermann, geht jedoch von einer anderen Grundkonstellation aus: Der Weber, tschechisch tkadlec – auch dies wieder eine Metapher für den gelehrten Schreiber, der den Text webt –, ist von seiner Geliebten Adlicka betrogen worden und klagt nun das personifizierte Unglück an. Der Todesdialog ist also in einen Fortunadialog überführt worden. Auch die Textorganisation ist verändert: Den 32 Kapiteln des Ackermann stehen im Tkadleček 16 Kapitel gegenüber, wobei die einzelnen Reden so lang sind, dass die beiden Partner nicht mehr wirklich dialogisch aufeinander reagieren. Der Text entsteht in der komplexen Prager Literatursituation um 1400. Sie ist geprägt durch eine enge Verquickung der Sprachen Deutsch, Tschechisch und Latein als supranationaler Gelehrtensprache.79 Der Tkadleček ist ein Zeugnis dieser sprachlichen und kulturellen Gemengelage, indem er einen deutschsprachigen Text ins Tschechische überträgt und zugleich eine Fülle von lateinischen Quellen heranzitiert, in der Rezeptionstätigkeit aber auch eine deutliche Eigenständigkeit entfaltet. Das Verhältnis zum Ackermann als Vorlage ist vor allem in den ersten Kapiteln sehr eng, doch zeigt der tschechische Autor in einem „Wechselspiel von Anverwandlung und Überblendung“80 eine Tendenz zur dilatatio: Er reichert die Vorlage mit gelehrten Quellen an und entfaltet in manchen Kapiteln eine regelrechte Zitierwut.81 Bertau spricht von einem „surrealistischen Redegestus“82, der zwischen einer spitzfindig-ironischen Absetzung vom Usus gelehrter Disputation und tatsächlicher Geisteskrankheit des Autors changiert.83 Doch vielleicht verfährt der TkadlečekAutor mit seiner Verweis- und Beispielfülle auch planvoller, als es zunächst den Anschein hat. Wie zuvor schon für den Ackermann zielt die Analyse auch für den Tkadleček auf die Abschlussrede des Gegenparts, d. h. des Todes bzw. des Unglücks (Kap. 16). Bezeichnenderweise übernimmt der Tkadleček-Autor in diesem Kapitel die im || 78 Zu Überlieferung und Datierung vgl. Karl Bertau: „‚Tkadleček‘ und ‚Ackermann‘“, 252–256 (allerdings mit Spätdatierung auf 1436/40), sowie Christian Kiening: Schwierige Modernität, 53 (Stadtbrand von Königgrätz im September 1408 als terminus post quem). 79 Vgl. zum geistigen Leben in Prag um 1400 Václav Bok: „Zur literarischen Situation“, Benedikt Konrad Vollmann: „Prager Frühhumanismus?“ und Albrecht Hausmann: „Böhmen um 1400“, der Osteuropa treffend als „kulturellen Interferenzraum“ (475) bezeichnet und die Rolle der Prager Juden für den Ackermann betont. 80 Christian Kiening: Schwierige Modernität, 321. 81 Zu den Quellen des Tkadleček vgl. Karl Bertau: „‚Tkadleček‘ und ‚Ackermann‘“, 245f., sowie Antonín Hrubý: Der „Ackermann“, 65–133, der in dieser Monographie allerdings auch die mittlerweile widerlegte These vertritt, dass Ackermann und Tkadleček auf eine nicht erhaltene gemeinsame lateinische Vorlage zurückgingen und der Tkadleček somit keine Bearbeitung des Ackermann sei (v. a. 4–17). 82 Karl Bertau: „‚Tkadleček‘ und ‚Ackermann‘“, 260. 83 Vgl. ebd., 239: „Würden dann deren [hier bezieht sich Bertau auf Verfasser gelehrter Disputationen – S. L.] geistlich-universitäre Redeweisen gar parodiert? Oder tickt der Verfasser doch nicht ganz richtig, obgleich er auch oft richtig zitiert?“.

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Ackermann an entsprechender Stelle angelegten Innozenz-Zitate und die damit verbundene Abwertung menschlichen Handelns und Verhaltens nicht, sondern lässt das Unglück eine andere Haltung als den Tod einnehmen. Im Folgenden soll die These erprobt werden, dass die dignitas hominis hier nicht parallel zur Abschlussrede des Ackermann in der letzten Rede des Webers vertreten wird, sondern dass eine versöhnliche Dimension, ein positiver Blick auf das menschliche Dasein, bereits in der Rede des Unglücks angelegt ist. Zu Beginn des 16. Kapitels finden sich durchaus noch parallele Überlegungen zum Ackermann, wenn von der Vergeblichkeit menschlichen Ruhmstrebens die Rede ist. Doch dann fügt der Tkadleček-Autor eine Aufzählung von rund 100 Menschentypen und menschlichen Lebenssituationen an,84 die zum Teil von einer sehr genauen Beobachtungsgabe und einem grundsätzlichen Interesse an der Vielschichtigkeit und Komplexität menschlicher Verhaltens- und Lebensformen zeugen. Schon allein an der phänomenologischen Differenzierung lässt sich implizit auch eine gewisse Wertschätzung des Menschen und seiner varianten Lebenssituationen ablesen. Was zunächst wie scholastische Systematisierungswut anmutet, fügt dem Ausgangstext einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt hinzu. Dabei wirken die Beobachtungen stellenweise erstaunlich modern, indem sich die Menschentypen nicht abstrakt aus einer ethischen Lehrsystematik mit einem festen Schema von Tugenden und Lastern ergeben, sondern eher als lebensweltliche Beobachtungen in den Text hereinragen bzw. als solche inszeniert sind. Die Reihenfolge ist assoziativ, mitunter wird ein Thema über mehrere Kategorisierungen hin durchgehalten, wie z. B. bei den Beobachtungen über die Lüge (Tk, Kap. 16,913–917). Die Liste ist dabei, obwohl es sich um die Rede des Unglücks handelt, zwar als eine Aufzählung schlechter menschlicher Eigenschaften konzipiert, aber nicht kategorial auf das Negative beschränkt, vielmehr eröffnet gerade die phänomenologische Fülle Raum für positive menschliche Züge: – Es gibt andere, die in ihrem Leben nichts besessen haben, und die doch85 sagen, dass sie immer im Überfluss leben (Tk, Kap. 16,853f., S. 604). – Es gibt andere, die alles tun, als ob sie unvernünftig seien, aber fast alles verstehen (Tk, Kap. 16,892f., S. 606). – Es gibt andere, die allen anderen Menschen aus ihren Angelegenheiten helfen wollen, aber sich selbst können sie nicht helfen (Tk, Kap. 16,922–924, S. 606).

|| 84 Vgl. Kap. 16,835–1051, S. 602–614. Die Zählung variiert, weil der Autor hier anders als bei seinen übrigen Aufzählungen die einzelnen Fälle nicht durchnummeriert und diese Liste alle anderen zudem um ein Vielfaches übersteigt: Die Aufzählung erstreckt sich in der deutschen Übers. über sieben Druckseiten, d. h. rund 200 Zeilen, und nimmt schon rein quantitativ eine deutliche Schwerpunktsetzung für das insgesamt 1000 Zeilen umfassende Kap. vor. 85 Kursivierungen markieren Passagen, in denen in Abgleich mit der Übers. von Ulbrich aus sprachlich korrigierenden oder stilistischen Gründen in die Übers. von Agáta Dinzl-Rybářová eingegriffen wurde.

162 | Sandra Linden Es gibt andere, die, was sie tun, mit guter Absicht tun und mit gutem Grund (Tk, Kap. 16,993f., S. 610). Es soll an dieser Stelle keine Analyse der einzelnen Typen vorgenommen, sondern lediglich in der Zusammenschau festgehalten werden, dass der Autor ein starkes Interesse und ein ausgeprägtes Gespür für die genaue Schilderung von psychischen menschlichen Zuständen zeigt. Die letzte und entscheidende Selbstdarstellung des Unglücks hat sich unter der Hand in eine Art anthropologische Phänomenologie verwandelt, die nicht auf abstrakten Kategorien, sondern allein auf der Beobachtung im zwischenmenschlichen Umgang basiert. Was als umfassender Aufweis menschlicher Schlechtigkeit begonnen wurde, hat sich im Laufe der langen Aufzählung so verselbständigt, dass es nicht mehr ausschließlich als Negativliste zu lesen ist, sondern zentral von der Faszination an der Vielfalt menschlichen Daseins lebt. Während der Ackermann sich nicht vom Einzelschicksal löst, zeigt sich der Tkadleček an einer anthropologischen Fülle interessiert, die sich bewusst einer geordneten Systematisierung entzieht und statt eines einzelnen konsistenten Menschenbilds eine Pluralisierung der Lebenssituationen anvisiert. In dieser auf genauer Beobachtung beruhenden Konzentration auf das Anthropologische kann man eine neue Facette des Tkadleček gegenüber seiner Vorlage sehen. Nach über 80 Menschentypen, die nach dem Muster „Es gibt andere, die ...“ präsentiert werden, folgen in der Form von Konditionalsätzen sechszehn Fälle, wie Menschen auf das Verhalten anderer reagieren. In diesem letzten Block werden vermehrt positive Verhaltensweisen geschildert, die negative Komponente ergibt sich lediglich aus der Fehleinschätzung durch die Mitmenschen:86 „Wenn irgendein Mensch anständig und demütig ist und mit den weltlichen Dingen nichts zu tun haben möchte, dann sagen sie gleich über ihn, dass er ein Heuchler ist“ (Tk, Kap. 16,997–999, S. 610f.). Genau in diesen falschen Beurteilungen sieht das Unglück sein Wirkungsfeld und nutzt die Aufzählung zur argumentativen Stärkung der eigenen Position: –

Und so bekommt ein Mensch in jedem Stand und in jedem Amt immer nur Streitigkeiten und Unannehmlichkeiten mit anderen Menschen durch unser Handeln verursacht (Tk, Kap. 16,1041–1043, S. 614).

Doch nach dieser Allmachtsfantasie gerät das Unglück einen Moment ins Stocken und scheint mit der begonnenen Kartographie menschlicher Verhaltensformen und Charakterzüge angesichts der Daseinsvielfalt überfordert:

|| 86 Als Ausgangspunkt für den Block der falsch bewerteten Verhaltensweisen kann man den letzten Menschentypus in der Aufzählung nach dem Muster „Es gibt andere, die ...“ sehen, bei dem es um die unterschiedliche Beurteilung anderer Menschen geht: „Es gibt andere, die die anderen Menschen wegen aller ihrer Taten beurteilen und verurteilen, den einen so, den anderen anders, den einen anders, den anderen so“ (Tk, Kap. 16,994–996, S. 610).

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Es gibt andere, deren Sitten wir wahrscheinlich nicht einschätzen können und die Sitten solcher Menschen auch nicht ausführlich beschreiben können, auch wenn wir in allen Sprachen sprechen könnten und den natürlichen und den gelehrten Sinn aller Menschen und den Verstand der himmlischen Engel mit aller Klugheit und allen Eigenschaften der Menschen auf der Welt besitzen würden – auch dann wären wir nicht in der Lage, das Schicksal jedes einzelnen genau zu bestimmen (Tk, Kap. 16,1044–1051, S. 614).87

Anders als der radikal nihilistische Tod im Ackermann gibt das personifizierte Unglück die absolute Verfügungsgewalt über den Menschen hier stellenweise auf. Man ist versucht zu vermuten, dass an dieser Verwirrung und Zurücknahme der allgemeinen Zerstörungsvision der Katalog mit den hundert Menschentypen, der beobachtete Facettenreichtum des menschlichen Daseins nicht ganz unschuldig ist. Die analysierten Textbeziehungen sollten zeigen, wie die Autoren in Rezeption und Variation vorgängiger literarischer und gelehrter Traditionen eigenständige Konzeptionen und Strategien für die Darstellung anthropologischer Dispositionen in Konfrontation mit Elementarerfahrungen wie dem Tod oder einem Unglück entwickeln. Dabei sind sowohl der Ackermann als auch der Tkadleček den Zielen rhetorischer Stilistik und dem Aufweis sprachlicher Argumentationskunst verpflichtet, doch scheint gerade im rhetorischen Spiel, in der Konzentration auf die Stilübung ein Freiraum zu entstehen, der ein grundsätzliches Nachdenken über den Menschen und seine Daseinsbedingungen ermöglicht und so zugleich ein Betätigungsfeld für historisch-anthropologische Forschung eröffnet.

Literatur Primärtexte Johannes de Tepla, Civis Zacensis: „Epistola cum Libello ackermann“ und „Das büchlein ackermann“, nach der Freiburger Hs. 163 und nach der Stuttgarter Hs. HB X 23, hg. u. übers. v. Karl Bertau, 2 Bde., Berlin/New York 1994. Lotario dei Segni [Innozenz III.]: De miseria condicionis humane, hg. v. Robert E. Lewis, Athens, GA 1978. Dinzl-Rybářová, Agáta: Der „Ackermann aus Böhmen“ und der alttschechische „Tkadleček“, Göppingen 2006 (GAG 738). [= Tk] Mann, Thomas: Der Zauberberg, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, Bd. 6).

|| 87 Die kursivierte Passage folgt der Übers. von Rolf Ulbrich. Agáta Dinzl-Rybářová übers. „wir können ihnen alle ihre Streitigkeiten nicht ausreden“ und entfernt sich damit, wenn ich es richtig sehe, weiter vom Ausgangstext.

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168 | Sandra Linden

Udo Friedrich

Historische Metaphorologie 1 Aufgabenfelder einer Metaphorologie Die Metapher ist ein elementares Mittel menschlicher Kommunikation. In ihren Funktionen weist sie weit über eine Redefigur hinaus und wirkt auch auf die Ordnungen der Sprache, der Erkenntnis und der Imagination ein. Indem nicht nur Philologen und Dichter, sondern auch Linguisten, Psychologen und Philosophen über den Status der Metapher reflektieren, wird sie zu einer allgemeinen Figur des Wissens.1 Sie scheint aber eher eine sokratische Figur des „nichtwissenden Wissens“ zu sein, da sie die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion überspielt.2 Ist die Geltung der Metapher im wissenschaftlichen Diskurs daher seit je umstritten, so steht ihre Bedeutung im Feld kultureller Orientierung außer Frage. Lebensweltliche und soziale Orientierung erfolgen nicht weniger über Bilder als über Begriffe. Daraus ist der weitreichende Schluss gezogen worden, dass der menschliche Wirklichkeitsbezug keinen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit besitze, dass er „indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘“ sei.3 Für die Postmoderne avanciert die Metapher gar zum Mastertropus schlechthin und zum Indikator dafür, dass die denotativen und begrifflichen Anstrengungen der Sprache ihre Grenzen haben.4 Das Wort Metapher leitet sich vom griechischen metapherein (lat. translatio) ab und heißt ‚Übertragung‘. Ihren klassischen Ort findet die Metapher in der Rhetorik, die innerhalb der Tropenlehre ein ganzes System von Figuren entwickelt hat, das mit Ersetzungen auf der Wortebene operiert. Mit ‚Tropus‘ wird eine Technik uneigentlicher Rede bezeichnet, die innerhalb der Stillehre (elocutio) als Form der Verrätselung oder des Schmucks fungiert und zum Zweck rhetorischer oder poetischer Wirkung eingesetzt wird.5 Wenn der Tropus ein Wort von seiner ursprünglichen und natürlichen Bedeutung auf eine andere überträgt, rekurriert er einerseits auf natürliche/logische (z. B. Gattung–Art, Teil–Ganzes, Kausalität) Relationen, die in der außersprachlichen Wirklichkeit der beiden Worte einen Bezug haben: ‚Abschöpfen‘ ist nach Aristoteles eine Art von Wegnehmen (bspw. ‚mit dem Schwert das Leben abschöpfen‘ = nehmen); ‚Goethe lesen‘ statt ‚den Faust lesen‘ setzt metonymisch die Ursache für die Wirkung; ‚ein Glas trinken‘ statt ‚ein Glas Bier trinken‘ ersetzt den || 1 Vgl. Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 217; Ralf Konersmann: „Vorwort: Figuratives Wissen“. 2 Jörg Villwock: „Mythos und Rhetorik“, 80. 3 Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, 115. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Über Wahrheit und Lüge“; David E. Wellbery: „Retrait/Re-entry“. 5 Vgl. Christian Strub: „Ordo troporum naturalis“, 7f.

170 | Udo Friedrich Inhalt durch das Gefäß.6 Die tropische Operation der Übertragung folgt in diesem Fall dem Prinzip der Kontiguität (Berührung). Metapher und Allegorie repräsentieren andererseits einen Typus von Übertragung, der auf Similaritätsrelationen beruht, d. h. eine entfernte, analoge Beziehung zwischen den Wörtern etabliert: etwa die Gesellschaft als Organismus oder Maschine aufzufassen. Die Einteilung der Tropen variiert; neben ihren wichtigsten Repräsentanten – Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie – werden u. a. auch Allegorie, Periphrase, Antonomasie, Katachrese und Hyperbel dazu gezählt.7 Die Bemühungen um die Differenzierung und Klassifikation der Tropen hat im Lauf ihrer Geschichte immer wieder dazu geführt, sie rein logischen Parametern zu unterwerfen (Petrus Ramus, Gruppe µ) oder ihre Zahl zu reduzieren, gar eine Basistrope auszumachen.8 Bereits die Metapherndefinition des Aristoteles rekurriert als „Übertragung eines andersartigen/fremden Wortes“ sowohl auf die Trope im Allgemeinen, wie sie auch im Besonderen die Synekdoche (Genus–Species) mit umfasst.9 Gegenüber den Kausalitätsketten der Grammatik werden tropische Operationen auch auf Assoziationsketten zurückgeführt.10 Das Aufgabenfeld einer historischen Metaphorologie ist weit gesteckt und kann hier nur in Umrissen skizziert werden. Sie erforscht in historischer Perspektive den Stellenwert metaphorischer Operationen in Sprache, Denken und Handeln. Als Sprachbild konstituiert sich die Metapher immer schon in einem komplexen Relationsgefüge zum Wort und zum Begriff, aber auch zum realen Bild und zur Erzählung, schließlich zur Handlung und zur Kultur insgesamt. Historische Metaphorologie rekurriert zunächst auf die sprachtheoretischen Implikationen metaphorischer Verfahren selbst. So untersucht die Linguistik in unterschiedlichen methodischen Zugriffen die Relation von Metapher, Wort und Satz. War schon die Grammatik seit jeher auf die Korrektheit der Sprache, auf ihre Gesetzmäßigkeiten, ausgerichtet, verfolgt die Linguistik unter dem Postulat der Regelhaftigkeit der Sprache das Störpotential der Metapher. Die Metapher gilt als Verstoß gegen die Regeln der Semantik und der Syntax, und doch besitzt sie ihren konstitutiven Ort in der Sprache. Während in konventionalisierten Metaphern der Regelverstoß gar nicht mehr auffällt, dringt er in anderen, schon ganz einfachen Fällen – ‚der Löwe Achill‘, ‚Achill ist ein Löwe‘ – sofort ins Bewusstsein. Für das linguistische Instrumentarium bildet die Metapher eine Provokation. Scheinbar steht die Metapher anstelle eines korrekten Wortes (wie im vorangehenden Beispiel für ‚tapfer‘), ersetzt es vermeintlich. Die natürliche Sprache geht offenbar nicht im Ideal logischer Eindeutigkeit oder grammatischer Gesetzmäßigkeit auf. Wie sie immer auch unregelmäßige Wörter (Heterokliten) und elliptische Wendungen (Gnomik) enthält, so auch vielfältige he|| 6 Vgl. Rudolf Drux: Art. ‚Tropus‘, Sp. 813. 7 Vgl. ebd., Sp. 812–814. 8 Vgl. Christian Strub: „Ordo troporum naturalis“. 9 Rudolf Drux: Art. ‚Tropus‘, Sp. 810; Stefan Willer: „Metapher und Begriffsstutzigkeit“, 73f. 10 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 57.

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terogene Bildinventare, die eine Lücke in den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache füllen: z. B. Katachresen wie ‚Tischbein‘, ‚Motorhaube‘, ‚Gebirgskamm‘. Gegenüber solch habitualisierten Metaphern, die kaum noch wahrnehmbar ins Lexikon oder in den Diskurs übergegangen sind, ist die Verfremdung, die „Auffälligkeit“, das zentrale Merkmal der Metapher.11 Der kalkulierte rhetorische oder poetische Effekt wird nun auch auf der Ebene der Sprachregeln linguistisch hinterfragt: Wie verhält sich die Metapher zu semasiologischen (die engere Bedeutung des Wortes betreffenden) und onomasiologischen (die weitere Bedeutung eines Wortes betreffenden) Verfahren, zu Signifikat und Sem, wie zu Polysemie, Homo- und Synonymen? Die Regelhaftigkeit der Metaphernbildung vollzieht sich überdies auf verschiedenen Ebenen: auf der der allgemeinen Sprachregeln (Similarität), der konventionalisierten Diskursregeln oder der einzelsprachlichen Regeln (Polysemien).12 Für eine historische Metaphorologie eröffnet sich hier die Aufgabe, zu verfolgen, wie ‚auffällige‘ Metaphern, auch solche der Dichter, als „Prägnanzphänomene“ mit der Zeit in konventionalisierte Diskurse (z. B. Georg Büchmanns „Geflügelte Worte“) oder gar unmerklich in den Lexembestand einer Sprache eingehen.13 Im terminologischen Inventar der Linguistik operiert die Similaritätsrelation der Metapher nicht auf der Ebene des Wortes, des Signifikats oder Sems, sondern auf der der Designate.14 Was die Metapher an semantischen Spannungen zusammenzwingt, bezieht sich auf eine außersprachliche konzeptuelle Ebene.15 An die Stelle der Denotation treten Konnotationen, Schemata, Konzepte, die nicht in Wörtern (im Lexikon), sondern in mentalen Prozessen ihren Grund haben. Die Metapher wird zu einem Mittel der sprachlich vermittelten Kognition, die auch in den Kompetenzbereich der Psychologie, speziell der Gestaltpsychologie, fällt.16 Mit Hilfe der Erweiterung der Terminologie, des Designatbegriffs, wird dem Umstand Rechnung getragen, dass auch außersprachliche, konzeptuelle Faktoren an sprachlichen Operationen beteiligt sind. „Das Similaritätsprinzip und die Wahrnehmung der DesignatGestalten sind mit der ‚tiefsten‘ Schicht menschlicher Sprache verwoben [...].“17 Analytisch reformuliert heißt das: „Der beschriebene Gegenstand“ (z. B. Dschungel) teilt mit dem Bezugswort (‚Großstadt‘) „Eigenschaften, die nicht in dessen Definition, wohl aber in das ihm zugeordnete Assoziationsfeld gehören“.18 Das heißt: Die Metapher stellt die Linguistik vor ein semantisches Problem.

|| 11 Peter Koch: „Gedanken zur Metapher“, 203–209. 12 Vgl. ebd., 204. 13 Ebd., 212, 215–220. 14 Vgl. ebd., 210–212. 15 Vgl. ebd., 211f. 16 Vgl. Wolf-Andreas Liebert: Metaphernbereiche, 12–21. 17 Peter Koch: „Gedanken zur Metapher“, 214. 18 Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher, 223.

172 | Udo Friedrich George Lakoff und Mark Johnson haben entsprechend ein linguistisches und kognitionspsychologisches Instrumentarium entwickelt, um den elementaren Status der Metapher für die Sprache zu betonen.19 Sie sehen die Metapher nicht als ein rhetorisches oder poetisches, nicht einmal als ein primär sprachliches Phänomen, sondern als eines des Denkens, das sie als „Konzeptsystem“ fassen. Übertragung vollzieht sich hier in Prozessen, die von Wörtern auf mentale Konzepte umstellen: „Die Systematik, aufgrund derer wir den einen Aspekt des Konzepts in Bildern eines anderen Konzepts erfassen können (z. B. einen Aspekt des Argumentiervorgangs in Bildern des Kampfes verstehen), verbirgt zwangsläufig die anderen Aspekte dieses Konzepts.“20 Der linguistische Ausgangspunkt des Ansatzes wird darin sichtbar, dass die Autoren von der konkreten Sprachpraxis ausgehen und eine Fülle von sprachlichen Wendungen anführen, die sie auf ihren metaphorischen Gehalt hin untersuchen: „Ihre Behauptungen sind unhaltbar“; „Seine Kritik traf ins Schwarze“; „schießen Sie los“; „Er griff jeden Schwachpunkt in meiner Argumentation an“. Solche weit verbreiteten Wendungen finden ihren übergeordneten Integrationspunkt (ihr Konzept) darin, dass Argumentieren als Krieg gefasst wird.21 Der genaue Blick auf die Sprachpraxis belegt zum einen, dass die Metapher kaum als Ausnahme von der Regel gelten kann, zum anderen, dass auf einer elementaren Ebene metaphorische Verknüpfungsprozesse unbewusst ablaufen. Kognitive Prozesse und kulturelle Erfahrungen greifen über den Modus der Habitualisierung hier ineinander. Als Konzepte identifizieren Lakoff/Johnson die „Verknüpfung gegensätzlicher Sachvorstellung[en]“, durch die etwa Abstrakta in Bilder übersetzt und visualisiert werden.22 Dabei wird ein (metaphorischer) Zielbereich auf einen Ausgangsbereich übertragen. Raumorientierungen (z. B. oben/unten; vorn/hinten; innen/außen etc.) finden ebenso ihre sprachliche Manifestation („Ich fühle mich heute obenauf“; „es [geht] bergauf“) wie ontologische Auffassungen, etwa Personifikationen („Die Inflation treibt uns in die Enge“).23 Nach Lakoff/Johnson haben metaphorische Prozesse ihren Ausgangspunkt in elementaren neuronalen Verknüpfungen, sog. primären Metaphern, „die sich aufgrund häufiger Erfahrung verfestigt“24 haben: Nicht leicht zu identifizierende Metaphern wie Kategorie als Behälter (innen/außen), Quantität als Höhe, Zeit als Bewegung und Ereignis als Handlung übertragen Abstrakta in Anschauungsformen. Sie werden in ontologische, strukturelle und orientierende Metaphern untergliedert, die sich sprachlich in einer Vielzahl von Ausdrucksformen realisieren. Eine Metapher wie ‚Geldquelle‘ verweist auf das Konzept Wasser–Geld, das etwa in Wendungen wie ‚warmer Geldregen‘, ‚Geldströme‘, ‚abfließendes Kapital‘ || 19 Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. 20 Ebd., 18. 21 Ebd., 12. 22 Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher, 212f. 23 George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, 23, 36. 24 Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher, 212.

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und ‚dunkle Kanäle des Geldes‘ zum Ausdruck kommt.25 Auch die Strukturmetapher „Zeit ist Geld“ artikuliert sich in Ausdrücken wie ‚Zeit investieren‘, ‚sparen‘, ‚vergeuden‘, ‚gewinnen‘, ‚mit Zeit haushalten‘.26 Als Konzept erweist sich das semantische Spektrum dadurch, dass es auf übergeordnete Prämissen und Schlussfolgerungen bezogen werden kann, aus denen sich die metaphorische Bedeutung der sprachlichen Wendungen ableitet: Zeit ist (wie Geld) eine knappe Ressource, deshalb ist sie (wie Geld) wertvoll, deshalb reden wir über Zeit in ökonomischen Metaphern. Was Aristoteles schon in seiner Auffassung der Metapher demonstriert hatte, dass sie nämlich in logischen/analogischen Schlussverfahren verankert ist, reformulieren Lakoff/Johnson kognitionspsychologisch. Gegenüber den ontologischen Metaphern (Kategorie als Behälter usw.) besitzen Struktur- und Orientierungsmetaphern auch einen historischen Index, d. h. sie haben ein kulturelles Fundament: Von Zeit in Termini der Ökonomie, von Geld in denen des Wassers zu reden, ist ein Spezifikum moderner Gesellschaften, in dem sich Erfahrungen aus der Zeitorganisation der Wirtschaft und der Zirkulation von Kapital niederschlagen.27 Epochenspezifische Konzepte vermögen ihre Semantiken offenbar in den Metaphernbestand der Sprache zu streuen. Da über Ersetzungsoperationen vielfältige (ja unzählige) Relationen zwischen Wörtern und ihren Konzepten aktiviert werden können, bieten sie Gelegenheit, Worte mit Erfahrungen aufzuladen: Über metaphorische und metonymische Verfahren halten z. B. auch geschichtliche Ereignisse als Erfahrungsgehalte Einzug in die Sprache: Waterloo, Pearl Harbor, Vietnam bezeichnen dann nicht nur Orte und Länder, sondern stehen metonymisch für politische Traumata (‚Bloß kein zweites Waterloo, Pearl Harbor, Vietnam sich einhandeln‘).28 Jede Epoche verfügt über ein ganzes Stratum kulturell aufgeladener Tropen, deren Übertragungshintergrund gelernt sein will. Dass Prozesse der Übertragung einen elementareren Sachverhalt der Sprache bezeichnen, haben vor allem strukturalistische und semiotische Sprachtheorien aufgezeigt. Auch sie haben den Versuch unternommen, bereits den sprachlichen Zugang zur Wirklichkeit über die Verbindung von syntaktischen und metaphorischen Verfahren zu erklären. Aus linguistischer Perspektive hat Roman Jakobson, anschließend an Ferdinand de Saussures strukturalistische Konzeption der Sprache, Operationen der (syntagmatischen) Verkettung und (paradigmatischen) Ersetzung unterschieden, die er mit metonymischen und metaphorischen Beziehungen korreliert.29 Bei jedem Sprechakt (parole) werden Elemente aus einem virtuellen System (langue) ‚übertragen‘; sie werden ausgewählt, eingesetzt und kombiniert, sind aber immer auch ersetzbar. Während de Saussures (natur-)wissenschaftliches Ethos || 25 Vgl. Wolf-Andreas Liebert: Metaphernbereiche, 6. 26 Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, 15–17. 27 Vgl. ebd., 17. 28 Vgl. ebd., 49. 29 Vgl. Roman Jakobson: „Der Doppelcharakter der Sprache“.

174 | Udo Friedrich Sprache als ein abstraktes Regelsystem zur eindeutigen Übersetzung von Informationen auffasst, demgegenüber poetisches Sprechen eine Anomalie darstellt, bezeichnet letzteres für Jakobson gerade aufgrund der „potentiellen Ikonizität“ der natürlichen Sprache „die konsequente Realisierung der Struktur der Sprache“ selbst.30 Übertragen ist nicht mit Übersetzen gleichzusetzen. Sprache und Sprechen basieren mithin nicht nur auf dem Regelsystem grammatischer/logischer Verknüpfungen, sondern beziehen ihre Bedeutung aus mehreren Verfahren, deren Operationen vielfach unbewusst parallel laufen. Dass unser Sprechen Semantiken vielfach übereinander schichtet und die bewussten Substitutionsprozesse durch unbewusste gestört werden, hat nicht zuletzt die psychologische Interpretation der Übertragung aufgezeigt.31 Ohne die Komplexität der semiotischen Zeichentheorien hier explizieren zu können, sei auf Charles Sanders Peirce verwiesen, der bekanntlich zwischen ikonischen (bildhaften), indexikalischen (kausalen) und symbolischen (konventionalisierten) Zeichen unterscheidet. Das Ikon ist seinerseits in Bild, Diagramm und Metapher untergliedert und verweist darauf, wie unterschiedlich Objekte bereits bildlich repräsentiert werden können: Foto, Karte und Metapher sind verschiedene Modi bildlicher Repräsentation. Das Ikon, und in seinem Kontext die Metapher, stellt einen eigenständigen Zeichentypus dar und lässt sich nicht in anderen (begrifflichen, logischen) Beziehungsformen auflösen. Auch Jurij M. Lotman hat im Rahmen seiner Text- und Kultursemiotik entsprechend diskrete (lineare, logische, begriffliche) und kontinuierliche (tropische, d. h. z. B. metaphorische, analoge) Zeichenrelationen unterschieden, die als generatives Prinzip sowohl von Texten als auch von ganzen Kulturen fungieren und nicht über eine Metasprache integrierbar sind. Zwischen diesen beiden „Kodierungssystemen“ oder „Typen von Textgeneratoren“ erfolgt ein permanenter Austausch, der aber nicht als strenge „Übersetzung“ aufgefasst werden kann, sondern als Übertragung von ‚bedingten Äquivalenzbeziehungen‘ funktioniert. „Innerhalb eines Bewusstseins bestehen quasi zwei Bewusstseine.“32 Wenn Lotman die Relationierung der beiden heterogenen Kodierungssysteme auf eine „semantische Trope“ bezieht, d. h. auf ein „Paar von miteinander unvereinbaren bedeutungstragenden Elementen, zwischen denen in einem bestimmten Kontext ein Verhältnis der Adäquatheit entsteht“, identifiziert er zwischen den beiden grundlegenden Mechanismen der Sprache rhetorische Verfahren der Übertragung.33 Wie Lakoff/Johnson, doch auf methodisch anderer Basis, integrieren Jakobson und Lotman in ihrem Rekurs auf Metapher und Metonymie die Trope in ihr Analyseinstrumentarium und markieren die ihr immanente Spannung von logi-

|| 30 Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 27f., hier 28 mit Verweisen auf Roman Jakobson. 31 Vgl. Nancy Kobrin: „Die psychoanalytische Übertragung“. 32 Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens, 53–77, hier 53. 33 Ebd., 54.

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schen und analogischen Operationen. Der Vorgang der Ersetzung geht nicht in rein logischen Relationierungen auf, sondern enthält immer auch ein visuelles Moment. Tropische Operationen der Ersetzung folgen nicht nur dem Prinzip der Kontiguität, sondern auch dem der Similarität (und Kontrarietät). Similarität und Kontiguität erweisen sich als die beiden zentralen Paradigmen tropischer Rede, die in semiotischer Perspektive nicht nur zur Erklärung sprachlicher Phänomene (Jakobson), sondern auch psychischer (Freud, Lacan), mythologischer (Lévi-Strauss), narratologischer (Greimas, Barthes), historiographischer (White) und kultureller (Lotman) Gegebenheiten genutzt wurden.34 Die rhetorische Faktur wird in all diesen Fällen nicht als sprachlicher Regelverstoß aufgefasst, sie scheint vielmehr den Regelmechanismen der Sprache und Kultur selbst eingeschrieben zu sein. In Konkurrenz steht die Metapher seit je mit dem philosophischen Diskurs. Dort, wo der Anspruch auf analytische Wahrheitsfindung gestellt wird, hat die Metapher traditionell keinen Ort. Begriff und Metapher stehen in Opposition zueinander. Auch wenn dem Wort Begriff selbst eine Metapher (‚greifen‘, ‚ergreifen‘, ‚begreifen‘) zugrunde liegt, bezeichnet der Begriff nach philosophischer Definition eine Tätigkeit der kontrollierten Gegenstandserfassung, eine geordnete Zergliederung (Analysis) und Zusammensetzung (Synthesis) des Objektbereichs.35 Zwar sind die Versuche, die Metapher aus dem philosophischen Sprachgebrauch zu eliminieren, weitverbreitet, doch finden sich seit je Ansätze, ihre philosophische Aussageleistung anzuerkennen und näher zu bestimmen.36 Die pragmatische Leistung der Metapher in Grenzfragen der Erkenntnis ist dann von Kant in der Kritik der Urteilskraft systematisch reflektiert worden. Unter dem Begriff der Hypothypose erhält die Metapher hier als eigenständiges Erkenntnisvermögen einen begrifflichen Status, wenn sie nicht mehr nur einen Sachverhalt veranschaulicht, sondern als anschauliches Schema notwendig jenen Ideen zugrunde gelegt wird, über die – etwa in Moralphilosophie und Ästhetik – sich begrifflich keine sichere Erkenntnis gewinnen lässt.37 Zwar gibt es per definitionem wohl keine begriffliche Metapher, und doch ist mit Kants Definition ästhetischer Wahrnehmung zumindest partiell die Grenze zwischen Begriff und Metapher eingeebnet.38 Der Metapher wird eine strukturierende Funktion zugeschrieben. Zugleich ist die Forderung nach einer verbindlichen homogenen (analytischen) Erkenntnisform preisgegeben; und vor allem solche Erkennt-

|| 34 Vgl. Malcom Bowie: Lacan, 47–85; Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, 113–133; Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“, 112; Hayden White: Metahistory, 15–62. 35 Vgl. Stefan Willer: „Metapher und Begriffsstutzigkeit“, 74. 36 Paul Ricœur: Die lebendige Metapher; zu Platons Rekurs auf Kunstmythen und Gleichnisse vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, 31–34. 37 Vgl. Rüdiger Campe: „Vor Augen stellen“, 208–225, 210–212; vgl. Rudolf Drux: Art. ‚Tropus‘, Sp. 822. 38 Vgl. Stefan Willer: „Metapher und Begriffsstutzigkeit“, 69–80.

176 | Udo Friedrich nistheorien, die sich nicht nur am naturwissenschaftlichen Paradigma orientieren, sondern auch das Feld der Kultur einbeziehen, rekurrieren auf die metaphorische Funktion. Ernst Cassirer etwa hat im Rahmen seiner Kulturphilosophie eine eigene Theorie der „Symbolischen Formen“ (1923/29) entwickelt, in der er jenseits der Wissenschaft für Sprache, Mythos, Religion und Kunst jeweils eigene Rationalitätstypen entwirft. Sie besitzen in der mythischen Denkform ihre gemeinsame historische Basis und differenzieren sich erst im Lauf der Geschichte aus.39 Das Verhältnis von Metapher und Begriff wird kulturgeschichtlich perspektiviert. Während radikale postmoderne Positionen (de Man, Derrida) den Versuch unternehmen, die Trennung von begrifflichem und metaphorischem Sprechen überhaupt infrage zu stellen, verweisen moderatere begriffsgeschichtliche Ansätze auf die geschichtliche Dimension, um die Relation von Begriff und Metapher verständlicher zu machen.40 Gegenüber analytischen Ansätzen und selbst gegenüber der Begriffsgeschichte verorten sich Metaphern-, Symbol-, Bild- oder Zeichentheorien aber schon rein terminologisch jenseits der klassischen Ansätze.41 Anknüpfend an Kant und Cassirer hat Hans Blumenberg „Paradigmen einer Metaphorologie“ (1960) entworfen, die nicht nur die genuine Leistungsfähigkeit der Metapher betonen und ihre Relation zur Begriffsgeschichte untersuchen, sondern auch die Umbesetzung innerhalb von Metaphernfeldern im historischen Prozess nachzeichnen.42 In diesem Verständnis verfolgt die Historische Metaphorologie bereits jenseits des rein literarischen Feldes Leitmetaphern des Verstehens (lesen), des Handelns (spielen) und des Lebens (bewegen) in ihrem historischen Wandel und beschreibt epochenspezifische Prozesse der Umbesetzungen. Blumenberg bezeichnet sie als „absolute Metaphern“ und fasst sie als ‚katalysatorische Sphäre der Begriffsbildung‘ auf.43 Konjunkturen und Veränderungen der Buchmetaphorik etwa (lesen, übersetzen, dechiffrieren), die durch das Christentum entfaltet wurde, besitzen ebenso ihre eigene Wirkungsgeschichte wie die der Rollen- und Theatermetaphorik.44 Das Bild des Weges als Zentralmetapher für das Leben nimmt gleichfalls epochenspezifische Formen an und verändert sich je nach zugrunde liegendem Weltbild.45 Analoge Untersuchungen hat die Historische Metaphorologie am Beispiel von Sozial- (Familie, Schiff, Architektur, Pastorat, Organismus, Maschine, Netz), Geschichts- (Entwicklung, Evolution, Revolution) und Wissensmetaphorik || 39 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen; ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 148f. 40 Vgl. Stefan Willer: „Metapher und Begriffsstutzigkeit“, 74–80. Hans Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Dis-kursgeschichte, Metapherngeschichte. 41 Vgl. Blumenbergs Befund zu Ernst Cassirer: Arbeit am Mythos, 58f. 42 Vgl. Hans Blumenberg: „Paradigmen zu einer Metaphorologie“; Dirk Mende: „Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit“, 7–32. 43 Hans Blumenberg: „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, 9f. 44 Vgl. ders.: Die Lesbarkeit der Welt; Ralf Konersmann: „Die Metapher der Rolle“. 45 Vgl. Matthias Christen: „to the end of the line“.

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(Buch, Spiegel, Theater, Kreis) unternommen.46 Metaphern haben eine Geschichte, und ihre Konnotationen sind von epochenspezifischen Wissensbeständen abhängig. Die Historische Metaphorologie plädiert in der Reflexion der Metapher denn auch dafür, die historische Perspektive einzubeziehen. Wie die linguistische Metaphernforschung auf das Feld des Bedeutungswandels und auf die Verbindung von kognitiven und kulturellen Prozessen verwiesen wird, so die philosophische Reflexion auf die Relation von Begriffs- und Metapherngeschichte. Fasst man mit gutem Grund auch Handlungen als Sprache, als semiotische Systeme, auf, dann liegen allen Formen von Ritualen und Zeremonien metaphorische Semantiken zugrunde.47 Religiöse Rituale wie Liturgie und Prozession im Speziellen, Wanderschaft (peregrinatio) im Allgemeinen oder politische Zeremonien wie z. B. Krönung und Herrscheradventus im Mittelalter, diplomatisches Zeremoniell in der Moderne, schließlich Rechtsrituale wie auch Rechtsgesten bestehen aus gegliederten Handlungen, die symbolische Kommunikation darstellen. Wir leben nicht nur sprachlich, sondern auch handelnd in Metaphern. Und wenn die archaische Praxis der Gabe (Marcel Mauss), die soziale Tauschprozesse reguliert, neben ökonomischen Äquivalenzbeziehungen immer auch anökonomische Differenzierungs-strategien impliziert, erweist sich ein und derselbe Tauschvorgang zugleich als realer wie auch als metaphorischer Akt. Im Rahmen sozialer Kommunikation erfüllen hier vor allem Dinge eine eminent symbolische Funktion. Sie regulieren als ‚symbolisches Kapital‘ (Bourdieu) vom Statuskonsum mittelalterlichen Adels (milte) bis hin zu modernen Statussymbolen auch die Kommunikation zwischen den Menschen. Ausgehandelt werden hier sozialer Rang und Ehre.48 Wenn aber sogar ‚Leben können‘ und ‚eine Rolle spielen‘ gar nicht getrennt werden können, wenn soziales Handeln immer auf einer performativen Inszenierung beruht, dann ist die Metapher tief in die anthropologische Disposition eingelassen.49 Noch soziologische Rollen- und moderne Performanztheorien zeugen davon, dass die alte Theatralitätsmetaphorik nicht verschwunden ist, sondern nur aktuellen Vorstellungen angepasst wurde.50 Der historischen Metaphorologie öffnet sich hier ein breites Forschungsfeld, um nicht nur die Funktionen von Dingen im Rahmen sozialer Interaktion zu untersuchen, sondern auch ihren variierenden Stellenwert in literarischen Texten.51 Als Sprachbild kann die Metapher auch in enger Beziehung zum realen Bild stehen. Dieses selbst kann schon auf unterschiedliche Art metaphorische Gehalte in seine Darstellung integrieren: z. B. in Form von allegorischen Personifikationen (Ve|| 46 Vgl. Udo Friedrich: „Universalmetaphorik“, 193–248. 47 Vgl. Hans Georg Soeffner: „Überlegungen zur Soziologie des Symbols“. 48 Ludgera Vogt: „Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften“, 293–297. 49 Vgl. Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, 118f. 50 Vgl. Hilmar Schramm: „Theatralität und Öffentlichkeit“. 51 Vgl. die Arbeiten, die im Rahmen des Münsteraner SFB „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution“ entstanden sind.

178 | Udo Friedrich nus, Tod) oder Symbolen. Das Bild stellt Metaphern in einem anderen Repräsentationsmodus dar. Wenn in mittelalterlichen Bilderzyklen Erzählsequenzen – z. B. der Kreis der Lebensalter oder die Parabel vom ‚Verlorenen Sohn‘ – wiedergegeben werden, repräsentieren diese bereits über ihre Symbol- oder Gleichnisstruktur narrative Metaphern; diese können zugleich mit abstrahierten symbolischen Gestalten (z. B. Quadrat, Dreieck, Kreis, Kreuz), d. h. mit Diagrammen, verbunden werden. Die Diagramme bilden den metaphorischen Rahmen, der die kleinen Erzählungen mit den großen Narrativen in ein homogenes Weltbild integriert, und sie bringen damit „das Prinzip der Analogie und der Metapher [selbst] zur Anschauung“52. Inwiefern aber das Bild selbst als ein eigener Darstellungsmodus ikonischer Repräsentation zu gelten hat oder notwendig als ‚sprechendes Bild‘ aufgefasst werden muss, d. h. immer auf eine sprachliche Hermeneutik angewiesen ist, ist durchaus umstritten.53 So wie die Objekte, Narrative und Diagramme in Bildern metaphorisch strukturiert sein können, so können umgekehrt auch Erzählungen visuelle und metaphorische Strategien enthalten. Das literarische Bild stellt einen eigenen Problemkomplex dar. Die Rede von der ‚sprachlichen Bildlichkeit‘ umfasst nicht nur die metaphorische Darstellung. Zwar scheint die „Wendung ‚sprachliche Bildlichkeit‘ [nur] eine Metapher für die Metapher selbst zu sein“, doch hat sie sich im 18. Jh. gerade gegen diese etabliert.54 ‚Bild‘ bezeichnet bis ins 18. Jh. hinein primär das reale Gebilde, das Abbild oder jene psychischen Vorstellungen, die zwischen sinnlicher Wahrnehmung und den Regeln des Verstandes vermitteln: Nach Aristotelesʼ berühmtem Diktum „denkt die Seele immer in Bildern“55. Diese Bilder aber bleiben an die Mimesis gebunden. Und noch das ‚Sinnbild‘ des Barock ist nicht von der Vorstellung eines realen Bildes, der Verbindung von Holzschnitt und Sentenz (Emblem), zu trennen.56 Selbst in dem alten horazischen Diktum, dass Dichtung wie Malerei zu verfahren habe (ut pictura poiesis), wird die Leistung der Dichtung zwar am Maßstab der Malerei gemessen, doch bezieht sich der Topos eher auf die sprachliche Ausmalung eines Themas, nicht auf die Metapher. Vor 1700 heißt das poetische Bild ‚Gleichnis‘, und hier scheint der vormoderne Bildbegriff im Feld der Sprache aufgehoben zu sein. Seit dem 18. Jh. aber emanzipiert sich der Bildbegriff offenbar von der Metapher, er beginnt über die Einbildungskraft eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln und zum eigentlichen Paradigma der Dichtung zu avancieren. Wenn im 18. Jh. der Begriff des Bildes den der Figur (Metapher) ersetzt, impliziert das zunächst eine antirhetorische Geste und zielt in sensualistischer und empiristischer

|| 52 Wolfgang Kemp: „Mittelalterliche Bildsysteme“, 123. 53 W. J. T. Mitchell: „Was ist ein Bild“, 48. 54 Vgl. ebd., 38. 55 Aristoteles: De anima 431a; zit. nach W. J. T. Mitchell: „Was ist ein Bild“, 27; Bernhard Asmuth: „Seit wann gilt die Metapher als Bild?“, 302. 56 Bernhard Asmuth: „Seit wann gilt die Metapher als Bild?“, 301.

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Haltung der Zeit auf die sprachliche Erfassung der Dinge selbst.57 Das Vertrauen, über die sprachliche Ausdrucksweise der Wirklichkeit näher zu kommen als über die bloße Abbildung, über genaue Deskription ein lebendigeres sprachliches Bild zu entwerfen, wendet sich gerade gegen die rhetorische Schematik der Figurenrede und ist dezidiert nicht metaphorisch gemeint.58 Sie kehrt die klassische Konstellation von der Überlegenheit der Malerei geradezu um. Wenn das metaphorische Sprachbild in dieser Auffassung auch nur noch eine untergeordnete Funktion einnimmt, so entfaltet sich aber in der Folge unter dem Begriff des Symbols ein erweitertes, abstrakteres metaphorisches Funktionsspektrum der Dichtung: Gegenüber der klassischen Allegorie, die dem Allgemeinen das Besondere subsumiert, sucht nach einem berühmten Diktum Goethes das Symbol im Besonderen das Allgemeine: „[S]o bleibt die in der Erscheinung geschaute ‚Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar‘“59. Die „produktive Auseinandersetzung“ mit den Tropen findet „vom Ende des 18. Jahrhunderts an unter anderen Leitbegriffen“ – z. B. Allegorie, Symbol, Zeichen – statt.60 So lässt sich z. B. an der Allegorie von der antiken Homerallegorese über die christliche Allegorese, die barocke Allegorie bis hin zur modernen Allegorie (Baudelaire, Benjamin) der Funktionswandel rhetorischer Figuren im historischen Prozess demonstrieren.61 Eine historische Metaphorologie widmet sich nicht zuletzt sowohl gattungsgeschichtlich (Fabel, Tierepos, allegorische Erzählung, Gleichnis etc.) als auch erzähltheoretisch dem Verhältnis von Metapher und Narration, das bereits im Mythos (Lévi-Strauss, Blumenberg) angelegt war. In der Erzähltheorie Roland Barthesʼ werden die beiden grundlegenden Sprachfunktionen, Syntagmatik und Paradigmatik, als ineinander greifende metonymische und metaphorische Relata auch des Erzählens beschrieben. Wie das Sprechen basiert jedes Erzählen auf der Verknüpfung von Verkettungs- und Ersetzungsoperationen.62 In fabula, argumentum (Gleichniserzählung) und historia verfügt schon die antike Rhetorik über paradigmatische Reduktionsformen des Erzählens.63 Ist in der Fabel der Bruch mit der sprachlichen Normalerwartung evident, stellt das Gleichnis den Rezipienten vor die Aufgabe, eine Übertragungsleistung zu vollziehen. Wenn in der strukturalen Erzähltheorie der Text als sekundäres modellbildendes System verstanden wird (Lotman), als Ausschnitt und Modell von Welt, erhält jeder Erzähltext den „epistemologischen Rang einer Meta-

|| 57 Vgl. W. J. T. Mitchell: „Was ist ein Bild“, 42. 58 Vgl. ebd., 41f. 59 Rudolf Drux: Art. ‚Tropus‘, Sp. 822. 60 Ebd.; vgl. Michael Titzmann: „Allegorie und Symbol“. 61 Vgl. Hans Robert Jauss: „Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie“; Gerhard Neumann: „Die ‚absolute‘ Metapher“, 194f.; vgl. Achim Geisenhanslüke: Der Buchstabe des Geistes, 9–24. 62 Vgl. Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“, 112. 63 Vgl. Karlheinz Stierle: „Geschichte als Exemplum“.

180 | Udo Friedrich pher“64. Der Literaturwissenschaftler aber verspricht sich über die Metapher Zugang nicht nur zu sprach- und literatur-, sondern auch zu kulturtheoretischen Konzepten vergangener Epochen.65 Clemens Lugowskis „Mythisches Analogon“, Jurij Lotmans Homologie von Textmodell und Kulturmodell sowie Roland Barthes Erweiterung der Erzählforschung auf eine Kultursemiotik hin öffnen die Erzählanalyse über die Kategorie des Paradigmas auf eine komplexe Relationierung von Text und kultureller Umwelt.66 Dass auch die Vorstellung von Kultur und ihrer Entwicklung metaphernaffin ist, zeigen bereits die Modelle von Kulturgeschichte von Vico bis Cassirer. Vorausgesetzt wird ein Entwicklungsprozess vom Mythos zum Logos, wenn Vico die Metapher als „kleinen Mythus“ bezeichnet und auf der frühesten Kulturstufe lokalisiert, Cassirer die „radikale Metapher“ als Ursprung der Begriffsbildung und als Ausgangspunkt eines Rationalisierungsprozesses ausmacht.67 Moderne Kulturtheorien rekurrieren auf den Stand wissenschaftlicher Erkenntnis, indem sie sich an den Standards der Linguistik, Soziologie, Psychologie, Anthropologie und Ökonomie orientieren; sie transferieren diese aber in Modelle gesellschaftlicher Orientierung und kultureller Entwicklung. Häufig operieren sie dabei mit metaphorischen Verfahren.68 Freuds Entdeckung von Verschiebungs- und Verdichtungsprozessen in der Ökonomie der Psyche beschreibt metonymische und metaphorische Verfahren der Übertragung, die Verdrängungsprozesse steuern. Sie sind von ihm kulturhistorisch perspektiviert und von Jacques Lacan unter Rückgriff auf die linguistische Theoriebildung Saussures und Jakobsons kulturtheoretisch reformuliert worden: Bei Lacan ersetzt Narziss den Ödipus.69 An die Stelle des ödipalen Familiendramas als determinierende Matrix aller Sozialbeziehungen tritt der Narzissmus als zentrale Signatur des Subjekts. Die Kritische Theorie rekurriert auf Odysseus, der ihr zur Allegorie der Dialektik der Aufklärung wird: „Während der Irrfahrten streift er das mythische Schicksal ab und verwandelt es in das neuzeitlichere Gewand der Lebensgeschichte. Dabei zeigen uns die Erzählfiguren die Befreiung und die Male der Verletzung, die das Subjekt erst begründen“70. Die Theorie sozialer Entfremdung und Identitätsbildung erhält in der mythischen Figur des Odysseus nicht ihre Begründung, sondern ihre Metapher. Und Hans Blumenberg knüpft in seiner Metaphorologie und „Phä|| 64 Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, 10. 65 Vgl. David E. Wellbery: „Retrait/Re-entry“; ders.: „Übertragen: Metapher und Metonymie“. 66 Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman, 9–14; Jurij M. Lotman: „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen“. 67 Vgl. Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft, 171; Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen; ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 148; Birgit Recki: „Der praktische Sinn der Metapher“, 147. 68 Vgl. Ralf Konersmann: „Zur Kategorialität von Kulturmetaphern“; Renate Schlesier: „Idole und Gewebe“. 69 Vgl. Malcom Bowie: Lacan; Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative, 33. 70 Jürgen Belgrad: „Verdichtete Welten“, 212.

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nomenologie der Geschichte“ u. a. an die Mängelwesenthese Arnold Gehlens an und schreibt der Metapher eine kompensatorische Funktion in Fällen von Evidenzmangel und Handlungszwang zu.71 Bei ihm nimmt Prometheus als Figur der Selbstbehauptung paradigmatische Funktion an.72 Pierre Bourdieus Theorie des „symbolischen Kapitals“ schließlich überträgt Marx ökonomische Kapitaltheorie auf den Bereich der Kultur. Soziale Interaktion vollzieht sich als Konkurrenzkampf um Geltung, der dem Leitprinzip der Herausforderung folgt. Deren Regeln tragen „sozialen Sinn, sie machen aus einer bloßen Interaktion ein komplexes symbolisches Zeichen, ein Ritual“73. Die Vorstellungen über die Strukturen, Funktionsmechanismen und Perspektiven von Gesellschaften/Kulturen in ihrem historischen Verlauf sind aufgrund ihrer narrativen Struktur, ihrer grands récits, zunehmend in Verdacht geraten. Kulturtheorien operieren aber auf der Grenze von wissenschaftlicher Begründung, narrativem Zukunftsentwurf und metaphorischem Modell. Gerade über die Verortung von rationalen Erkenntnissen in Zeithorizonten und anschaulichen Modellen leisten sie jene Orientierung auf Sinnfragen hin, die wissenschaftlicher Erkenntnis allein abgeht. Als Modelle sind Kulturtheorien Metaphern im positiven Sinn, sie verbinden die Dimension der Wahrheit mit der Orientierung in der Wirklichkeit.

2 Metapher und Common Sense Die klassischen Orte für die Reflexion über die Metapher sind in der Vormoderne primär Rhetorik und Poetik, in der Moderne dagegen Philosophie, Linguistik und Ästhetik. Die Frage nach der Metapher unterliegt im historischen Prozess sichtbar einer Verwissenschaftlichung, wenn der Aspekt der Wirkung durch die Frage nach der Wahrheit abgelöst wird. Sie gerät ins Kreuzfeuer unterschiedlicher Geltungsansprüche, für die repräsentativ Logik, Rhetorik und Ästhetik einstehen können. Wie die Logik ihren Wahrheitsanspruch seit je in Absetzung von der Rhetorik formuliert, so konstituiert sich seit dem 18. Jh. auch die Ästhetik als eigenständige Erkenntnisform explizit gegen das rhetorische Paradigma:74 anschauende Erkenntnis, ästhetische Erkenntnis oder gar ästhetische Rationalität als Wahrheitsanspruch eigener Art.75 Die Rhetorik wird so von zwei Seiten aus zum Wirkungsort einer verdächtigen

|| 71 Vgl. Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, 115. 72 Vgl. ders.: Arbeit am Mythos, 327–689. 73 Ludgera Vogt: Zur Logik der Ehre, 106. 74 Vgl. John Bender/David Wellbery: „Die Entschränkung der Rhetorik“. 75 Vgl. Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität, 225–233.

182 | Udo Friedrich Metaphorik, gegen die vermeintlich ‚härtere‘ oder weiter reichende Geltungsansprüche Position beziehen.76 Moderne Versuche, das Problem der Metapher zu bewältigen, sind bemüht, die klassische Dichotomie von literal und metaphorisch hinter sich zu lassen, die immer wieder in den Gegensatz von Semantik und Semiotik, von fixierbarer Bedeutung und freiem Zeichenspiel, führt. Während die Dekonstruktion jede Form von Semantik und Referenz zugunsten der Verschiebung der Signifikanten, der différance, auflöst, lagert die sprachanalytische Philosophie die Metapher ihrerseits aus dem Feld der Wahrheitsrede aus und verweist sie auf eine pragmatische Ebene: eines „standard sense“ des Sprachgebrauchs.77 Ohne den komplexen theoretischen Implikationen hier gerecht werden zu können, ließe sich konstatieren, dass die Metapher als Figur des Wissens weniger ein Phänomen der Referenz oder des freien Zeichenspiels als eines der Pragmatik darstellt. Dort, wo „Evidenzmangel“ und „Handlungszwang“ herrschen, tritt die Metapher als Substitut ein.78 In der Relation von Wahrheit und Fiktion, Logik und Ästhetik, zwischen denen die Bestimmungsversuche der Metapher in der Regel hin und her pendeln, etabliert sie sich auf dem pragmatischen Feld der Wahr-Scheinlichkeit. Dieses Feld ist aber schon nach einer alten Definition des Aristoteles das der Rhetorik, der Überzeugungen im juste milieu pragmatischer Zielsetzungen (Roland Barthes). Das Enthymem, d. h. die Schlussfigur aus wahrscheinlichen Prämissen (‚Alle Menschen lügen‘), bezeichnet die adäquate Argumentationsform der Metapher, nicht der Syllogismus als logische Figur mit wahren Prämissen (‚Alle Menschen sind sterblich‘). In der Rhetorik erklärt Aristoteles den Unterschied: „Denn die Gewohnheit ist etwas der Natur Ähnliches. So steht nämlich das Oft dem Immer nahe. Es gehört aber die Natur in den Bereich des Immer, dagegen die Gewohnheit in den Bereich des Oft“ (I,11). Die Grenze zwischen den Gesetzen der Natur und den Regeln der Kultur ist diejenige zwischen Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit. Das von Aristoteles angeführte Axiom ist insofern von besonderer Aussagekraft, als es zum einen die Differenz von Natur und Kultur markiert, zum anderen aber mit der Gewohnheit eine Instanz etabliert, die diese einebnet. Das Enthymem wirkt deshalb so suggestiv, weil es auf Grundüberzeugungen rekurriert, „die im θυμός [thymos] wirken, Gedanken, mit denen der Mensch geistig verwachsen ist wie mit seinem

|| 76 Während sich das Historische Wörterbuch der Philosophie (Bd. 5, Harald Weinrich: Art. ‚Metapher‘, Sp. 1179–1186) bemüht, die Metapher durch den Begriff zu disziplinieren, problematisiert das historische Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe (Bd. 7, Stefan Willer: Art. ‚Metapher/metaphorisch‘, 89–147) gleich zu Beginn des Artikels über die Metapher die Differenz von Begriff und Metapher als nicht auflösbar: gewissermaßen die postmoderne Position. 77 Anselm Haverkamp: „Die paradoxe Metapher“, 11; vgl. Wolfgang Künne: „Im übertragenen Sinne“, 191–197; David E. Wellbery: „Retrait/Re-entry“, 195–197. 78 Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, 117, 110; Max Black: „Die Metapher“, 68.

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Leib“79: ‚Gewohnheit als zweite Natur‘ (consuetudo altera natura). Was Aristoteles aber mit Gewohnheit bezeichnet, haben Ethnologie und Wissenssoziologie als ‚Common Sense‘ (Clifford Geertz), als ‚Leib gewordene Geschichte‘ des Habitus (Pierre Bourdieu) oder gar als ‚Vertrauen/Institutionalität‘ (Niklas Luhmann) reformuliert:80 als Reservoir eines kollektiven Gedächtnisses, das gesellschaftliche Erfahrung nicht nur begrifflich, sondern auch bildlich, d. h. über Sentenzen, Exempel und Metaphern, archiviert. Sie relationieren im strengen Sinn weder deduktiv das Allgemeine mit dem Besonderen noch induktiv das Besondere mit dem Allgemeinen, sondern das Besondere mit dem Besonderen, das Ähnliche mit dem Ähnlichen, woraus innerhalb der Rhetorik die Nähe exemplarischer Rede zur Metapher resultiert.81 Gegenüber dem tertium non datur der Logik kann das tertium comparationis der Metapher selbst als Metapher für einen Geltungsanspruch einstehen, der sich nicht auf die Allgemeingültigkeit der Natur, sondern auf die Allgemeinheit der Erfahrung bezieht. Rhetorik zielt auf das Vermögen, „für jeden Einzelfall das in ihm liegende Überzeugende zu erkennen“82. ‚Von der Metapher zu sprechen‘, bedeutet nach Umberto Eco daher, ‚von der rhetorischen Aktivität in ihrer ganzen Komplexität zu sprechen‘.83 Der systematische Ort exemplarischer Rede ist die Topik, die ‚Beweisverfahren‘ auf der Basis sozial geteilten Wissens entwickelt. „Was alle glauben, das behaupten wir, ist richtig“, schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1173a) und verweist nicht auf einen faktischen, sondern konsensualen Geltungsanspruch.84 Der taktische Rekurs auf den ‚Common Sense‘ hat der Rhetorik den Ruf purer Ideologie eingetragen, bezieht diese doch ihre Seinsweise aus einer „reflexive[n] Struktur […], die dem intersubjektiven Raum eigen ist“: aus der Begründung einer Überzeugung, weil alle daran glauben.85 Der ‚Common Sense‘ als Orientierungsrahmen kann aber in Form sozialer Normierung auch zum Alp für das Subjekt werden. Für die Psychoanalyse nimmt daher das Unbewusste als „sedimentierte Geschichte“ den Status einer zweiten Natur an, ein über Verdichtungs- und Verschiebungsprozesse, d. h. über Metaphern und Metonymien, formatiertes Substratum des Bewusstseins, das der „entstellten Kommunikation des Subjekts mit sich selbst und seinem Anderen“ zugrunde liegt.86 In beiden Fällen, in der Ideologie wie in der Verdrängung, sind es latente Bilder, an denen wir uns orientieren.

|| 79 Jörg Villwock: „Mythos und Rhetorik“, 81. 80 Vgl. Clifford Geertz: „Common Sense als kulturelles System“; Joseph Just: Das literarische Feld, 81; Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, 171; Niklas Luhmann: Vertrauen, 17–23. 81 Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes: „Zur Systematik des Beispiels“, 9. 82 Roland Barthes: „Die alte Rhetorik“, 25. 83 Vgl. Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 217. 84 Vgl. Hans Blumenberg: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, 108. 85 Slavoj Žižek: „Genieße Deine Nation wie Dich selbst!“, 136. 86 Ders.: Hegel mit Lacan, 25, 28f.; vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, 251–316.

184 | Udo Friedrich Von der taktischen Funktion der ‚Common Sense‘-Rhetorik und der psychologischen der Verdrängung unterscheidet sich aber noch einmal die mnemotechnische Leistung der Metapher. Während die Ideologie ihre Anhänger im Glauben an einen gemeinsamen Wert verbindet, eröffnet die Topik ein allgemeines Archiv kollektiven Erfahrungswissens. Die Rhetorik zielt zum einen auf die Zeitdimension der Erfahrung, auf Geschichte als Argument, wie sie sich in der Topik als kulturellem Gedächtnis sedimentiert: „[D]enn für gewöhnlich ist das, was geschehen soll, dem Geschehenen ähnlich“ (Rhet. II,20). Was hier für die historia reklamiert wird, ihr paradigmatischer Status, hat in dem Topos Historia magistra vitae Karriere gemacht. Für die beiden anderen genera narrationis – Gleichnis und Fabel – ist der metaphorische Status selbstevident. Und auch die Sentenz, die nach Aristoteles einen Teil des Enthymems bildet (II,20), formuliert Regeln mittlerer Reichweite, in denen sich Erfahrungswissen sedimentiert, und sie nimmt häufig metaphorische Qualität an.87 Das Enthymem als formale Schlussfigur umfasst selbst bereits alle analogen Argumentationstechniken – z. B. vom Einzelfall, von den Verhältnissen ‚Teil-Ganzes‘, ‚GenusSpecies‘ und ‚Mehr-Minder‘, sowie vom Gegenteil her – jenseits des strengen Syllogismus, d. h. die analoge Argumentationsform selbst ist tropisch. Die Verwendung von Exempeln wie auch die von Sentenzen, Vergleichen und Metaphern setzen auf Evidenzen, die über Analogieverfahren generiert werden. Solche „Ähnlichkeit […] ist keinen strengen Gattungsgrenzen unterworfen, sondern dem common sense; dieser, nicht eine philosophische Totalität, ist das umgebende Allgemeine“88. Exemplarisches Wissen dieser Art artikuliert sich dann auch nicht in systematischen Darstellungen, sondern in topisch organisierten Sammlungen, wie sie von der Antike (Äsop, Plutarch, Stobaios, Valerius Maximus) über das Mittelalter (Petrus Alfonsi, Avian/Boner, Disticha Catonis) bis in die Neuzeit (Hondorf, Franck, Agricola) überliefert sind und in Montaignes Essais ihre reflektierte Form erhalten haben.89

3 Mimesis und Mathesis Aristoteles hat in der Poetik (Kap. 21) vier Verfahren der Metaphernbildung unterschieden: drei, die durch Über-, Unter- und Nebenordnungsverhältnisse geprägt sind, und eines, das über Analogiebildung operiert.90 Die ersten drei Verfahren suchen Ähnlichkeiten zwischen genus und species-Relationen und ihren möglichen Formen (Gattung-Art, Art-Gattung, Art-Art). So kann der allgemeinere Gattungster-

|| 87 Aristoteles: Rhetorik II, 11,14; vgl. Wolfgang Künne: „Im übertragenen Sinne“, 194f.; Roland Barthes: „Die alte Rhetorik“, 58. 88 Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes: „Zur Systematik des Beispiels“, 13. 89 Vgl. Karlheinz Stierle: „Montaigne und die Erfahrung der Vielheit“. 90 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 21.

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minus „stillstehen“ den spezifischeren Artterminus „vor Anker liegen“ ersetzen: „Mein Schiff steht still“; umgekehrt der Artterminus „10 000“ für den Gattungsterminus „viel“ stehen: „10 000 Taten hat Odysseus vollbracht“. Rhetorisch entsprechen beide Fälle eher der Figur der Synekdoche. Wenn demgegenüber „abschöpfen“ und „abschneiden“ füreinander einstehen können (‚Er schöpfte das Leben mit dem Schwert ab‘; ‚Er schnitt mit dem Becher das Wasser ab‘), wird jeweils eine Art durch eine andere ersetzt, da nach Aristoteles beide Wörter ihrerseits Arten des Gattungsterminus „wegnehmen“ darstellen. In diesem Fall ist die metaphorische Qualität der Aussage evident. Die Untersuchung der Metaphernbildung nach genusspecies-Relationen ist am Kriterium der Ähnlichkeit orientiert, indem sie mit Subklassifikationen arbeitet, die auf einen logischen (ontologischen) Zusammenhang der Dinge verweisen.91 Das vierte Verfahren bringt vier Terme in Relation zueinander, es strukturiert gegenüber den genus–species-Beziehungen Differenzen nach einem proportionalen Algorithmus: B verhält sich zu A, wie D zu C: Wie sich der Abend zum Tag, so verhält sich das Alter zum Leben, woraus die Metapher vom Lebensabend resultiert, oder: Wie sich der Becher zu Dionysos, so verhält sich der Schild zu Ares, woraus sich die Metaphern ‚Schild des Dionysos‘ und ‚Becher des Ares‘ ergeben. Weder steht der Becher mit Dionysos, noch der Schild mit Ares in einer genus-species-Relation, auch repräsentieren Dionysos und Ares im Pantheon antiker Götter gegensätzliche Werte (Frieden/Krieg).92 Solchen Differenzen korrespondieren aber zugleich Ähnlichkeiten: So sind Becher und Schild durch die Eigenschaften „rund“ und „konkav“ miteinander verbunden, wie auch Dionysos und Ares beide Götter sind: ‚Becher und Schild werden ähnlich aufgrund ihrer Rundheit, unähnlich aufgrund ihrer Funktionen; Ares und Dionysos sind ähnlich, weil beide Götter sind, unähnlich im Hinblick auf die Sphäre ihrer Aktionen.‘93 Die Bildungsweise der Metapher nach der Analogie der Proportionalität modelliert mithin Ähnlichkeiten und Differenzen. Eco hat aber bereits demonstriert, dass schon in der dritten Form, in der species–species-Relationen substituiert werden, nicht nur drei Terme in Beziehung gesetzt werden: Die ‚Zähne des Berges‘ etwa verbinden zwar zwei Terme über den Gattungsbegriff ‚scharf‘. Die Metapher lässt sich aber auch problemlos in den vierten Typus übersetzen: Wie sich der Kamm zum Gebirge, so verhalten sich die Zähne zum Mund.94 Zwischen den ersten beiden Verfahren, die auf Ähnlichkeit zielen, und dem vierten, das differente Analogien aufeinander abbildet, bildet das dritte (Art/Art–Gebirgskamm/Zähne) eine Übergangszone, die je nach kulturellem Kontext in beide Richtungen modelliert werden kann. Repräsentieren die genus-speciesUnterscheidungen analytische Relationen, so die Analogiebildungen synthetische, || 91 Vgl. Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 221–228. 92 Vgl. ebd., 228. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd., 225f.

186 | Udo Friedrich beziehen sich erstere auf die Ordnung der Natur (der Logik), so schöpfen letztere den weiten Spielraum kultureller Beziehungen aus.95 Über die Figur der Analogie ist die Metapher bereits bei Aristoteles auch ein kulturelles Konstrukt. Sie ist weniger Sache der Logik und der Naturlehre als der Rhetorik, Politik, Metaphysik und Poetik.96 Ähnlichkeit und Analogie bilden mithin zwei differente, aber komplementäre Verfahren der Metaphernbildung, woraus die ganze epistemologische Problematik der Metapher resultiert. Wenn Aristoteles den richtig denkenden Menschen als einen charakterisiert, der in der Lage sei, „das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen“ (Rhet 1412a), weist diese Fertigkeit schon über eine rein ästhetische Praxis hinaus.97 Was aus der Perspektive des Logikers aber nur formale Techniken der Ähnlichkeits- und Analogiebildung im Alltag oder in Grenzbereichen des Wissens beschreibt, bildet zugleich ein altes mythisches und bis weit in die Moderne hinein sogar ein ‚wissenschaftliches‘ Verfahren der Erkenntnis, das den Zusammenhang der Dinge suggeriert.98 Ernst Cassirer definiert das mythische Bewusstsein als eines der Konkreszenz, das dort Verbindungen stifte, wo die moderne wissenschaftliche Einstellung feste Grenzen ziehe: z. B. zwischen Traum und Wirklichkeit, Zeichen (Wort/Bild) und Bezeichnetem, Leben und Tod, Organischem und Anorganischem, Teil und Ganzem.99 Die Denkform des Mythos realisiert sich mithin in konkretisierten Metaphern und Metonymien und entfaltet über diese ein ganzes Universum an Bedeutsamkeiten. Indem Cassirer das Prinzip mythischer Konkreszenz als eine archaische Form der Begriffsbildung auffasst, stellt er eine Verbindung, aber auch eine Differenz zur rhetorischen Metaphernbildung her: „Wenn daher schon die alte Rhetorik als eine Hauptart der Metapher, die Ersetzung der Gattung durch die Art, des Ganzen durch den Teil oder umgekehrt anführt – so ist nunmehr ersichtlich, inwiefern d i e s e Form der Metapher aus der geistigen Wesensart des Mythos unmittelbar folgt.“100 Aus Cassirers Perspektive emanzipiert sich die rhetorische Technik der Metaphernbildung auf dem Weg vom Mythos zum Logos vom Verfahren der Konkreszenz.101 Es scheint bereits ein anderes Verständnis von Substitution zugrunde zu liegen, je nachdem, ob man im mythischen oder rhetorischen Horizont argumentiert.

|| 95 Vgl. ebd., 234. 96 Vgl. Renate Schlesier: „Der bittersüße Eros“, 73. 97 Zur Metapher als „Denkmodell“ vgl. Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher, 9–18, 12. 98 Vgl. Nancy Leys Stepan: „Race and gender“; Stephan Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. 99 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 53–69. 100 Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 153; vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik: „Die Metapher ist ein urtümliches Relikt der magischen Identifizierungsmöglichkeit, die nunmehr ihres religiös-magischen Charakters entkleidet ist und zum poetischen Spiel geworden ist“ (286); Hartmut Bleumer: „Der Tod des Heros, die Geburt des Helden“, 143f. 101 Vgl. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 150f.

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Claude Lévi-Strauss hat gegenüber solchen Verfahren der Konkreszenz und Indifferenz die rationale Leistung des Mythos anders gefasst. Seine Studien zum Totemismus hatten das Ziel, die Mythen archaisch lebender Völker als Schlüssel für ihre soziale Gliederung zu lesen. Bei ihm löst sich die Serie der Ähnlichkeiten zugunsten einer strukturalen Operation des Verstandes auf, die Differenzfunktion der Analogie ersetzt die Identitätsfunktion der Ähnlichkeit.102 So verweisen Analogien und Differenzen von Falke und Krähe, Känguru und Wombat, Fledermaus und Schleiereule auf korrespondierende Strukturen der Claneinteilung, ohne in genealogischen Ableitungen oder substantiellen Ähnlichkeiten aufzugehen. „Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Tieren werden übersetzt in Ausdrücke der Freundschaft und des Konflikts, der Zusammengehörigkeit und des Gegensatzes. Anders gesagt, die Welt des Tierlebens wird in Form sozialer Beziehungen dargestellt, […].“103 Aus der Vereinigung von Gegensätzen entstehe so eine organisierte Ganzheit wie im ehelichen Paar, im ganzen Tag oder im runden Jahr.104 Zentral an dieser Auffassung ist, „daß der Gegensatz, anstatt der Integration ein Hindernis zu sein, vielmehr dazu dient, diese zu schaffen“105. Die Operation aber, die dies in den Mythen bewerkstelligt, ist mit der Analogie der Proportionalität eine metaphorische. Wenn diese von Gilles Deleuze und Félix Guattari als „begriffliche Metapher“ gekennzeichnet wird, korrespondiert das Verfahren dem, was in Immanuel Kants Erkenntnistheorie Hypothypose genannt wurde.106 Gegenüber Cassirer, der zwar gleichfalls die rationale Leistung der mythischen Denkform betont, diese aber auf die mimetische Figur der Ähnlichkeit bezieht, akzentuiert Lévi-Strauss die Figur der Analogie als eine des konstruktiven Wissens, der Mathesis. Aristotelesʼ Unterscheidung hat sich in zwei konkurrierenden Kulturmodellen niedergeschlagen. Damit stellt sich auch theoriegeschichtlich die Frage nach der Identitäts- und Differenzfunktion der Metapher. Eine solch ambivalente Leistung der Metapher lässt sich auch schon dem griechischen Opferritus ablesen. Wenn im blutigen Tieropfer den Göttern die Knochen und den Menschen das Fleisch zu Teil wird, reinszeniert und erinnert der Ritus den Betrugsversuch des Prometheus, den Menschen den besseren Teil der Nahrung zu reservieren.107 Der Opferritus bleibt an den mythischen Ursprungsakt gebunden, wiederholt ihn zyklisch und sichert über die Ähnlichkeit der Inszenierung eine Ver|| 102 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie, 319–324. 103 Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, 114. 104 Vgl. ebd., 115f. 105 Ebd., 115. 106 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie, 323. 107 So in der Erzählung vom versuchten Götterbetrug, nach der der Titan dem Göttervater Zeus unter der fetten Oberfläche Haut und Knochen anbietet, um für die Menschen das Fleisch zu reservieren, Zeus die List aber durchschaut und dennoch die Knochen wählt und das Fleisch den Menschen überlässt, nachdem sie als sterbliche Wesen nun Zeit ihres Lebens Hunger leiden müssen, während die ewigen Götter sich im Opferritus mit dem ätherischen Rauch aus Fett und Knochen begnügen können. Vgl. Jean-Pierre Vernant: Mythos und Religion im alten Griechenland, 71–75.

188 | Udo Friedrich bindung (Identität) mit dem Gründungsheros:108 Die Vielen stehen für den Einen. Jean-Pierre Vernant hat indes gezeigt, dass das Ritual zugleich ein komplexes Gefüge an Handlungen entwirft, das Hierarchie und Relation von Göttern, Menschen und Tieren verhandelt, sich ihrer Analogien und Differenzen vergewissert.109 Wie Knochen und Rauch sich zur Unsterblichkeit der Götter, so verhalten sich Fleisch und Gekochtes zur Sterblichkeit der Menschen. Der Vorstellung, in Kontinuität mit dem Titan zu leben, steht diejenige von der Diskontinuität mit den Göttern gegenüber, von der gerade der Prometheusmythos erzählt. Der Ritus erweist sich als komplexes metaphorisches Handlungsgefüge, das sowohl die Identitäts-, als auch die Differenzfunktion der Metapher abbildet. Er fungiert als pragmatisches Instrument der Konkreszenz und als differenzbildendes Modell zugleich. Das historisch virulente Problem ist systematisch auf die Fragestellung „Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten“ zugespitzt worden.110 Infrage stehen die Alterität vormoderner Metaphernbildung nach der Substitutionstheorie und die Reichweite moderner nach der Interaktionstheorie. Bereits Max Black hatte rekonstruktive („nichtemphatische“) von konstruktiven („emphatischen“) Metaphern unterschieden und nur letzteren eine kreative Leistung zugeschrieben. Projiziert man diesen Befund auf eine historische Zeitachse, ließe sich konstatieren, dass die Vormoderne nur rekonstruktive Metaphern kannte, die sich vor dem Hintergrund eines vorgängigen Weltwissens konstituierten, während in der Moderne rekonstruktive und konstruktive Metaphernbildungen nebeneinander existieren.111 Inwiefern die moderne Auffassung der Metapher sich von der vormodernen unterscheidet, ob sich historisch verschiedene Phasen ausmachen lassen – Substitutionstheorie, Bildtheorie, Interaktionstheorie –, ist allerdings durchaus umstritten. Bleibt die Vormoderne generell einer Auffassung von der Ungeschiedenheit von Worten und Dingen – „Allegorealität“, ,Episteme der Ähnlichkeit‘, „Substanzenontologie“ – verhaftet, oder vermag sie – wie Totemismus und griechischer Opferritus nahelegen – über die Analogie der Proportionalität auch Differenzen zu modellieren? Verschiebt sich zwischen Früher Neuzeit (z. B. Shakespeares concetto) und Moderne das kulturelle Kontextwissen mit erheblichen Folgen für die Metaphernbildung, oder lassen sich || 108 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 51f.; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 17. 109 Vgl. Jean-Pierre Vernant: Mythos und Religion im alten Griechenland, 61–77: „Die Geschenke an die Götter affirmieren die unüberbrückbare, auf Verschuldung beruhende Hierarchie zwischen diesen und den Menschen, zugleich sichern sie den Menschen die Teilhabe an jenem Ursprung, der den Göttern und toten Ahnen gehört und der die Quelle allen Reichtums ist“; Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur, 290. 110 Christian Strub: „Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten“. 111 Zur Kontroverse über die epochenspezifische Differenz von Substitutions- und Interaktionstheorie vgl. Gert Hübner: „Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien“; Florian Kragl: „Wie man in Furten ertrinkt und warum Herzen süß schmecken“. Zur Interaktion der Semantiken vgl. Andreas Kablitz: „Bildlichkeit und Kreativität der Metapher“.

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schon in Antike und Mittelalter neben den rhetorisch formatierten auch „originelle“ Metaphern nachweisen?112 Argumentiert wird mit sprachtheoretischen und sprachgeschichtlichen Begründungen ebenso wie mit kulturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Modellen. Erklärungsbedürftig bleibt in jedem Fall der historische Befund, etwa der Wandel von Metapherntechniken in der antiken, mittelalterlichen, barocken und modernen Allegorie ebenso wie das Aufkommen neuer Bildtypen, etwa der Emblematik; erklärungsbedürftig bleibt aber auch die Differenz zwischen stark traditionell ausgerichteten Metaphernfeldern im Mittelalter und dem Originalitätsanspruch moderner Metaphorik. Die Widersprüche, die sich aus analytischer Perspektive in der Analyse origineller, emphatischer Metaphern ergeben, sind vielfach diskutiert. Einen Vermittlungsvorschlag hat Christian Strub mit der Unterscheidung von ‚Entdeckungs-‘ und ‚Erfindungswelt‘ vorgelegt, die zwei Vermögen der Metaphernbildung ontologisch alternativ begründen. Die „Entdeckungswelten sind die ‚Lebenswelten‘“, die sich als „Absicherung innerhalb eines kontingenten Rahmens“ verstehen, und „innerhalb dieser Lebenswelt haben denn auch die nichtemphatischen Metaphern einen wichtigen Platz“113. Die Lebenswelt ist die Welt der Gewohnheit (Aristoteles), der Vertrautheit (Luhmann) und habitualisierten Vorentschiedenheit (Bourdieu), die sich durch Rekurs auf Bewährtes gegen Kontingenzeinbrüche abschottet.114 Der Geltungsbereich der Entdeckungswelt scheint hier der alten Inventionsauffassung der Rhetorik zu entsprechen, die Erfinden als Finden definiert, mithin einen vorgegebenen Wissenshorizont voraussetzt.115 Während die Rhetorik mit dieser CommonSense-Struktur der Lebenswelt rechnet und ihre Überzeugungstechniken gerade auf der Basis konventionalisierter Geltungsansprüche entwickelt, nutzt die Poetik sie als Technik vertrauter und doch überraschender Analogiebildungen. Die rekonstruktiven Metaphern nutzen über ihren Rekurs auf die Topik, d. h. auf ein „System assoziierter Gemeinplätze“, ein komplexes Archiv kulturellen Wissens, aus dem über Ähnlichkeits- und Analogierelationen vielfältige Semantiken generiert und in Interaktion gebracht werden können.116

|| 112 Vgl. Peter Czerwinski: „Allegorealität“; Bernhard Asmuth: „Seit wann gilt die Metapher als Bild?“; vgl. David E. Wellbery: „Übertragen: Metapher und Metonymie“. 113 Christian Strub: „Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten“, 119f. 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. Jörg Jost: Topos und Metapher. 116 Christian Strub: „Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten“, 118f.

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4 Interaktion von Semantiken Frühe linguistische und analytische Ansätze haben den Übertragungsvorgang primär auf der reinen Satzebene untersucht: zwischen Bedeutungsträger (tenor) und Bedeutungsspender (vehicle). Um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu verstehen, ist es aber nötig geworden, auf den Kontext seiner Verwendung zurückzugehen.117 Sprache ist vom Akt des Sprechens und seinen kommunikativen Strategien nicht zu trennen. Die Interaktionstheorie ist daher eine dezidiert pragmatische Theorie. Als „indirekte Mitteilung“ bezieht die Metapher ihr Relevanzkriterium aus dem Kontext und stellt den Rezipienten vor die Aufgabe, ein Rätsel zu lösen, zugrunde gelegte Ähnlichkeiten oder Analogien nachzuvollziehen.118 Diese Aufgabe aber besteht nicht darin, ein Wort (tenor) durch ein anderes (vehicle) zu ersetzen, sondern zwei Bedeutungsfelder (Systeme) miteinander zu relationieren, die komplexe Semantiken beinhalten, z. B. Mensch und Wolf. Dabei vollzieht sich die metaphorische Operation nicht nur in einer Richtung, sondern in der wechselseitigen Relationierung zweier semantischer Rahmen (focus–frame). Wer den Menschen als Wolf bezeichnet, überträgt nicht vermeintliche Eigenschaften des Wolfs auf den Menschen, vielmehr sind diese selbst schon zuvor auf den Wolf projiziert worden:119 z. B. der Wolf als hinterhältiges, gefräßiges, gewaltbereites oder gar böses Tier (CommonSense-Wissen). Was die Linguistik mit „Konzept“ oder „Designat“ bezeichnet, die Philosophie mit „Assoziationsfeld“ oder „Empfindungsort“, zielt auf solche Interaktion kultureller Semantiken, die nicht im Referenten selbst verankert sind.120 Bruno Snell illustriert das Verfahren schon an Homer. Wenn Hektor die Reihen griechischer Kämpfer durchbrechen will, diese aber standhalten, „so wie ein Fels im Meer, der Wind und Wellen zum Trotze verharrt“, veranschaulicht das Gleichnis den Sachverhalt dadurch, […] daß in diesen Gegenstand das hineingesehen wird, was er dann seinerseits illustriert. […] Es ist also schon bedenklich, wenn wir sagen, der Fels würde ‚anthropomorph‘ gesehen – man müßte denn hinzufügen, daß der Mensch den Felsen nur dadurch anthropomorph sehen kann, daß er sich selbst zugleich petromorph sieht, daß er nur dadurch, daß er den Felsen von sich aus interpretiert, ein eigenes Verhalten gewahr wird und den trefflichen Ausdruck dafür findet.121

Zwischen Fels und Krieger besteht keine zweigliedrige genus–species-Relation, allenfalls eine dreigliedrige species–species-Relation: Beide würden dann über den || 117 Vgl. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, 13. 118 Vgl. Wolfgang Künne: „Im übertragenen Sinne“, 196. 119 Vgl. Max Black: „Die Metapher“, 70f. 120 Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern; Peter Koch: „Gedanken zur Metapher“; Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher; Stefan Willer: Metapher und Begriffsstutzigkeit, 72f. 121 Bruno Snell: „Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie“, 185.

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allgemeineren Begriff ‚Härte‘ (Standhaftigkeit) zusammengehalten. Aber auch hier handelt es sich eher um eine viergliedrige Analogiebeziehung: Wie sich der Fels zu den anrollenden Meereswellen, so verhält sich die Schlachtreihe zu dem anstürmenden Hektor. Das semantische System ‚Fels‘ aktiviert dabei nur einen Ausschnitt an ihm zukommenden Bedeutungen, die mit dem semantischen System ‚Mensch‘ und seinen Bedeutungen interagieren (Härte–Robustheit, Unbeweglichkeit–Standhaftigkeit/Trotz, Verwitterung–Narben usw.). Das hat Max Black metaphorisch als Filterfunktion der Metapher beschrieben.122 Schon in der Vormoderne interagieren mithin die Semantiken, indes begrenzt auf ein vorgegebenes, d. h. topisches Bedeutungsspektrum, das gefunden, nicht erfunden werden muss. Homers Gleichnisse sind weit mehr als nur Illustrationen, die auf einem tertium comparationis beruhen: „[D]ie Kunst der homerischen Gleichnisse liegt oft in dem Beziehungsreichtum, in dem Schönen und Treffenden weitabliegender Einzelzüge.“123 Homers Rekurs auf Gleichnisse sowohl der Natur als auch des Mythos dient der Selbstreflexion menschlicher Dispositionen im Medium der Metapher, der Standortbestimmung des Menschen im Verhältnis zu metaphysischen (Göttern), natürlichen (Tieren) und historischen (Heroen) Determinanten.124 Die konstruktive Leistung des Mythos, die LéviStrauss in der Modellierung von Differenzen sah und die auch im griechischen Opferritus auffindbar war (Vernant), erhält im literarischen Medium eine höhere Form der Reflexion, die auf die Relationierung von kulturellen Identitäten und Differenzen zielt. Weder die propositionale Semantik noch die wissenschaftliche Erkenntnis bilden den Bezugspunkt der metaphorischen Operation, sondern das überlieferte Archiv kultureller Vorstellungen, wie es sich in Diskursen, Erzählungen und Sprichwörtern artikuliert. Wenn Black solches Kontextwissen mit „System of associated Commonplaces“ umschreibt, definiert er es nicht referentiell, sondern topisch, d. h. kulturell. Während der natürliche bzw. sprachlogische Rahmen der metaphorischen Operation begrenzt ist, kann der kulturelle eine kaum kontrollierbare Vielzahl an Bezugsmöglichkeiten entfalten. Von den ‚institutionalisierten (lexikalischen) Relationen‘ unterscheiden sich nach Eco denn auch noch die ‚instituierenden (enzyklopädischen)‘, die jenseits der jeweils konzipierten Metapher noch gar nicht existieren, sondern nur potentiell vorhanden sind.125 Unter dieser Perspektive deckt die Metapher keine substantiellen Ähnlichkeiten auf, d. h. sie ist nicht Sache der Referenz, sondern sie schafft allererst die Ähnlichkeit.126 Deswegen erfordert sie die Mühe ei|| 122 Vgl. Max Black: „Die Metapher“, 70–73. 123 Bruno Snell: „Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie“, 185; vgl. Hartmut Raguse: „Figürlich leben“. 124 Vgl. Bruno Snell: „Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie“, 184–191; Hermann Fränkel: Die homerischen Gleichnisse; Oliver Primavesi: „Der Held im Gleichnis“. 125 Vgl. Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 233. 126 Vgl. Max Black: „Die Metapher“, 68.

192 | Udo Friedrich ner Entschlüsselung von Beziehungen nicht zwischen den Dingen, sondern zwischen kulturellen Einheiten, ‚metaphorisches Wissen ist Wissen von den Dynamiken der Wirklichkeit‘127, nicht der Wahrheit. Wenn Strub die Filtertheorie Blacks schon in diesem Horizont verortet und als „Akzentuierung und Entdeckung von schon vorhandenen Ähnlichkeiten“ begreift, lassen sich Elemente der Interaktionstheorie durchaus schon für die Vormoderne reklamieren, ohne die These vom Epochenbruch aufzugeben.128 Snell hat dem Verhältnis von Gleichnis, Vergleich, Metapher und Analogie bei den Griechen eine eigene Studie gewidmet und auf den ambivalenten Status der Analogiebildungen verwiesen. Wenn der in die Schlacht gehende Agamemnon den menos bzw. den thymos seiner Gefährten anzutreiben suche, berufe er sich auf Kraft, Mut und Drang, die auch Tieren eigen sind: „Wir müssen Homer beim Wort nehmen, wenn er sagt, ‚wie ein Löwe‘ stürzt sich jemand auf den Feind. Es ist dasselbe, was in dem Löwen und in dem Krieger wirkt: das měnos, der Vorwärts-Drang, wird öfter ausdrücklich als dies selbe genannt.“129 Anders als in der Felsenmetapher basiert hier die Relation von Mensch und Tier auf Ähnlichkeiten der Affektökonomie, die in der Naturordnung jener Zeit ihr Fundament haben. Es handelt sich um eine Art-Art-Relation. An Homer kann damit schon ein grundsätzlicher Befund studiert werden, der für die weitere Untersuchung der Metapher grundlegend sein wird: dass sich verschiedene epistemische Konstellationen in ein und demselben Werk überlagern und in Spannung geraten können. Während die moderne Metapherntheorie den Geltungsanspruch „zoopolitischer Metaphern“ längst dekonstruiert hat – „Es gibt kein politisches ‚Tier‘“130 –, kann eine historische Metaphorologie den kulturellen Kontext rekonstruieren, der ihre Geltung dennoch voraussetzt. Unabhängig davon, ob der löwenartige Charakter Alexanders aus astrologischen Konstellationen, aus humoralpathologischen Dispositionen oder aus physiognomischen Markierungen abgeleitet wird, es handelt sich um kurrente kulturelle Wissensregister, die den Menschen in übergeordnete Kreisläufe und zoomorphe Ordnungen einbinden und in den Common Sense eingegangen sind. Astrologie, Humoralpathologie und Physiognomik etwa beziehen in diesem Sinn ihren Geltungsanspruch aus Ähnlichkeitsrelationen, die Charaktereigenschaften aus natürlichen Dispositionen ableiten. Die mittelalterliche Adelsliteratur rekurriert bei aller Tendenz zur Höfisierung immer wieder auf Tiermetaphern, um in Situationen des Kampfes das heroische Potential des Helden zu markieren. Der Adel versteht sich auch im Horizont der Naturanlagen eines Raubtiers. Wenn im Nibelungenlied Kriemhild von ihrem zukünftigen Ehemann Sîvrît als Falken träumt und diesem die Attribute starc, scoen und wilde (13,2) zugeschrieben werden, werden Ritter und Falke meta|| 127 Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 234. 128 Christian Strub: „Abbilden und Schaffen von Ähnlichkeiten“, 118. 129 Bruno Snell: „Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie“, 186. 130 Joseph Vogl/Ethel Matala de Mazza: „Bürger und Wölfe“, 207.

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phorisch zum einen gleich über mehrere Semantiken verbunden, zum andern werden beide über die Gattungseigenschaft Adel/edel substantiell einander angenähert und ähnlich gemacht. Die Falkenmetaphorik eröffnet mithin ein ganzes Spektrum an Bedeutungen, die auf den Ritter übertragen werden können und einem naturverhafteten Selbstverständnis des Adels Ausdruck verleihen. Wenn aber der Kürenberger in seinem Falkenlied den Geliebten metaphorisch als Falken entwirft, wird die Zähmung des wilden Tiers mit der disziplinierenden Macht der Minne analogisiert: Wie der Falke zum Falkner, so verhält sich der Ritter zur Geliebten; wie der Falke zur Zucht, so der Ritter zur Minne. Wenn Zucht und Minne über Gewohnheit nur temporär das Wilde binden können, das immer wieder in seinen natürlichen Freiheitsdrang zurückzufallen droht, befindet man sich schon jenseits der harten Grenze von Natur und Kultur: in einer Übergangszone.131 Unter mittelalterlicher Perspektive scheint hier sowohl eine Art–Art-Relation (Falke/Ritter) ins Bild gesetzt, wie auch Analogien und Differenzen kultureller Praktiken (Falknerei/Minne) modelliert zu werden. Beide Semantiken aber, die der Kultivierung durch Falknerei und Minne wie die naturverhaftete der Wildheit, beziehen ihre Geltung aus kulturellen Praktiken und Diskursen ihrer Zeit. Eine metaphorologische Analyse kann sich nicht auf die reine Semantik der Wort- und Satzebene beschränken, sondern muss die kulturellen Kontexte berücksichtigen, aus denen jene sich speist. Die Semantik der Metapher wird in vielen Feldern noch als in der Sache begründet angesehen, wie es auch die mittelalterliche Theologie für das Buch der Natur festlegt und über das Verfahren der Allegorese reich entfaltet: wenn etwa Phönix und Pelikan zum natürlichen Antitypus Christi werden können. In der geistlichen Denkform der Allegorese wird die Metapher zu einer Figur der Identität, die nicht nur die Kluft zwischen Altem und Neuem Testament überbrückt, sondern auch Natur und Geschichte eine mit der Bibel kompatible Botschaft abliest, die als Schrift Gottes (scriptum digito dei) an den Menschen adressiert ist.132 Die rhetorische Wahrscheinlichkeit der Metapher wird über diskursive und metaphysische Verfahren in Wahrheit überführt. Die Metapher ist von der Synekdoche und der Metonymie nicht mehr zu unterscheiden. So basiert der mittelalterliche Diskurs über die Schöpfung noch auf Vorstellungen von einem elementaren Zusammenhang der Dinge. Wie die naturphilosophische Anschauung von der Kette der Wesen (esse – vivere – sentire – intellegere) in seriellen (substantiellen) Ähnlichkeiten gründet, so die über das Verhältnis von Mikrokosmos und Makrokosmos in Analogierelationen, die ihrerseits über die Kette der Wesen (Chain of Being) realiter verbunden sind.133 Michel Foucault hat ihnen bis in die Renaissance hinein epistemische Qualität zugeschrieben; Deleuze/Guattari

|| 131 Vgl. Corinna Dörrich/Udo Friedrich: „Bindung und Trennung, Erziehung und Freiheit“. 132 Vgl. Friedrich Ohly: „Zum Buch der Natur“; Olaf Hansen/Jörg Villwock: „Einleitung“, 7–21. 133 Vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen.

194 | Udo Friedrich haben ihren Geltungsanspruch im theologischen Feld als „gewaltige Mimesis“ charakterisiert.134 Die Schöpfung erweist sich von den Gestirnen bis zu den Steinen als großer Zusammenhang der Dinge, innerhalb dessen der Mensch als Mittelpunkt einen systematischen Ort erhält: ein anthropozentrisches, metaphorisches Konzept. Weltmodell und Weltbild sind in dieser Vorstellung noch eng aufeinander bezogen.135 Neben solchen auf Ähnlichkeitsbeziehungen basierenden Vorstellungen praktiziert aber schon die scholastische Philosophie unter Rekurs auf Aristoteles rationale Verfahren der Welterklärung, so dass von einer homogenen Episteme keine Rede sein kann. Und wenn etwa Thomas von Aquin auf das generative und Einheit verbürgende Prinzip dieses Weltbildes, auf Gott, reflektiert und die möglichen Verfahren seiner Erkenntnis hinterfragt, herrscht nicht nur schon ein Bewusstsein von den Grenzen rationaler Erklärungsansprüche. Über Gott, der jenseits aller Begriffe liegt, lässt sich über die Figur der analogia entis nur metaphorisch reden.136 Diese Analogiefiguren aber unterscheiden sich notwendig von den auf substantiellen Ähnlichkeiten basierenden Figuren des kosmologischen Wissens (Chain of Being), da sie eben kein Fundament mehr in der sichtbaren Realität haben.137 Die Mystik entwickelt hier denn auch ihre eigene Form metaphorischen Sprechens. Analoge Differenzierungen finden sich auch auf anderen Feldern. Die politische Theologie stellt seit dem 15. Jh. vom mythischen Körper des Königs auf die „zwei Körper des Königs“ (Kantorowicz) um, um natürliche Disposition und institutionelle Funktion des Herrschers zu trennen,138 die Kirche spaltet den „Leib des Papstes“ in einen sterblichen menschlichen und einen institutionellen ewigen Leib auf;139 und die religiöse Didaktik (Aegidius Romanus) rekurriert zu Lehrzwecken auf die aristotelische Rhetorik, die sie als volkstümliche bildliche Dialektik auffasst, um den Zöglingen schon früh über Gewohnheit die zentralen metaphysischen Glaubensgehalte zu vermitteln.140 Erst recht in der Reformation verliert der vierfache Schriftsinn weitgehend seinen ontologischen Wert zugunsten tropischer Verfahren, d. h. durch Rekurs auf das rhetorische und kulturelle Archiv an Argumentationsformen, das im Common Sense gründet.141 Und neben die christliche Allegorese tritt schon früh die Allegorie als rhetorische Kunstform. In Rhetorik und Poetik avanciert die Personifikation zur reflektierten Technik. „Wenn die Rede nicht vom Menschen handelt, wende / Deinen Verstand auf den Bereich des Menschen. Übertrage kunstvoll / Das

|| 134 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, 46–77; vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie, 320. 135 Vgl. Hans Blumenberg: „Weltbilder und Weltmodelle“, 74. 136 Vgl. Umberto Eco: „The scandal of the metaphor“, 235f. 137 Vgl. ebd.; Gert Hübner: „Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien“, 137f. 138 Marc Bloch: Die wundertätigen Könige; vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. 139 Agostino Paravicini Bagliani: Der Leib des Papstes. 140 Vgl. Aegidius Romanus: De regimine principum, libri II,2,5 (S. 177f.). 141 Vgl. Erich Kleinschmidt: „Denkform im geschichtlichen Prozess“, 391.

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buchstäbliche Wort auf eine dem Menschen ähnliche Situation.“142 Galfred von Vinsauf motiviert die rhetorische Figur der Personifikation überdies wirkungspsychologisch: Die Personifikation „erregt größeres Gefallen, weil sie von uns selbst kommt: Die Metapher dient als ein Spiegel, weil man sich selbst in ihr betrachtet, gewissermaßen das eigene Schaf auf einer fremden Weide erkennt.“143 In der Personifikation entwickelt die Imagination eine Form, um Antworten nicht nur auf existentielle, sondern auch systematische Fragen im Modus des zeitgenössischen Lehrgesprächs gestalten zu können, wie es die Lehren der Tugenden und Laster (Prudentius; 4. Jh.),144 der Artes (Martianus Capella, 5. Jh.), der Philosophie (Boethius, 523/24), der Natur (Bernhard Silvestris) und der Wahrheit (Heinrich Seuse) entfalten. Nach Erich Auerbach emanzipiert sich die Allegorie über die Figur der Personifikation auch schon ein Stück von ihren ontologischen Prämissen.145 Die Allegorien der ‚Frau Welt‘ und der ‚Frau Minne‘, wie sie in zahlreichen Texten ins Bild treten, oder die Personifikation des Todes in Totentanz und Streitgespräch (Der Ackermann) visualisieren über eine künstliche Figur abstrakte Sachverhalte und eröffnen über sie einen anthropologischen Diskurs.146 In der Form der Personifikation antwortet der Mensch sich selbst über Fragen der Natur, Moral, des Wissens, des Glücks und des Lebens, die zwar in theologische Horizonte eingebettet bleiben, zugleich aber den Anspruch auf Entfaltung diskursiven Wissens mobilisieren. Greifbar wird hier mit dem Wechsel der Denk- in die Darstellungsform ein reflexives Moment, das den Prozess der Vermittlung steuert. Repräsentierte die Allegorese noch einen homogenen Wahrheitsanspruch, indem sie die Auslegung der Phänomene auf ein Zentralsignifikat (Bibel) ausgerichtet hatte, so liefert die Emblematik nach Wolfgang Neuber eine kulturelle Semantisierung, indem Bilder konventionell mit Sinn aufgeladen werden und so den Status ‚natürlicher‘ Zeichen erhalten.147 In der Darstellungsform des Emblems verbinden sich Sentenz (inscriptio), Bild (pictura) und kulturelles Gedächtnis (subscriptio) zum metaphorischen Sinnbild.148 Wie die zu vermittelnde Lehre durch ganz unterschiedliche Bilder repräsentiert werden kann, so kann auch ein und dasselbe Bild variabel || 142 Sit de quo loqueris sit non homo, lora retorque / Mentis ad id quod homo. Verbum, quod ponit ibidem / Articulus similis proprie, transsume decenter. Geoffroi de Vinsauf: Poetria Nova, vv. 778– 780. 143 Quanto tuum proprium transsumis, plus sapit istud / Quo venit ex proprio. Talis transsumptio verbi / Est tibi pro speculo: quia te specularis in illo / Et proprias cognoscis oves in rure alieno (vv. 796–799). 144 Vgl. Hans Robert Jauß: „Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung“, 181. 145 Vgl. Erich Auerbach: „Figura“, 78f.; Christian Kiening: „Personifikation“. 146 Vgl. Wolfgang Stammler: Frau Welt; Walter Blank: Die deutsche Minneallegorie; Christian Kiening: „Totentänze“. 147 Vgl. Wolfgang Neuber: „Locus, Lemma, Motto“; Bernhard F. Scholz: „Semantik und Ontologie“. 148 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama, 18–26.

196 | Udo Friedrich semantisiert werden. So kann in der deutschen Übersetzung (1581) von Andrea Alciatis Liber Emblematum (1534) an verschiedenen Stellen der vom Wein umrankte Baum sowohl auf beständige Freundschaft als auch auf die Warnung vor dem Alkohol hin ausgelegt werden.149 Das flexible Register der Rhetorik ersetzt die geschlossene religiöse Hermeneutik, ein situationsspezifisches topisches System tritt in Konkurrenz zum normativen Dogma und ermöglicht, das gesamte Feld menschlicher Orientierung durch Rekurs auf ganz verschiedene Referenzsysteme – Natur, Geschichte, Mythologie – anschaulich und didaktisch zu vermitteln. In der Emblematik werden die Werte der Moralphilosophie – Ethik, Ökonomik, Politik – auf der Ebene des Common Sense verhandelt.150

5 Poetik der Metapher Einen eigenen Spielraum an Optionen gewinnen Metaphern im literarischen Feld. Literatur gilt gemeinhin als semantischer Sonderraum, in dem die Sprache sich von den Beschränkungen der Alltagswelt emanzipiert. Uneigentliches und übercodiertes Sprechen wird als Paradigmatisierung der syntagmatischen Achse zum poetischen Kennzeichen.151 Wenn der Kürenberger in seinem Falkenlied von der Zähmung eines Falken erzählt, von seiner Pflege und seinem Schmuck, seinem Entfliegen und Betrachten aus der Ferne, vollzieht er erst in der letzten Zeile die Wendung ins Metaphorische: got sende sî zesamene, / die gelieb wellen gerne sîn (MF 9,9). Erst über die Schlusszeile wird das Syntagma der Erzählung über den Falken paradigmatisch als Minnelied lesbar, erhält das Lied eine doppelte Semantik. Die mittelalterliche Poetik bezieht elementare Verfahren aus dem Register der Rhetorik und übernimmt ein breites Spektrum ihrer Bildtechniken: Vergleich, Metapher, Personifikation, Sprichwort, Fabel, Gleichnis usw. Nur aus moderner Sicht erstaunt, dass sie durch ein recht begrenztes Arsenal an Metaphern gekennzeichnet ist. Immer wieder greifen die Autoren auf die gleichen Bilder zurück: Natur und Schönheit werden in stereotypen Vergleichen gefasst, Waffen mythisch aufgeladen oder christlich allegorisiert, die Liebe immer wieder als Personifikation inszeniert. Das Bildreservoir ist topisch strukturiert, und doch wird mit dem Spiel der Konnotationen und Kombinationen experimentiert, werden überraschende Relationen gestiftet und neue Horizonte eröffnet. Die Bildsprache der Dichtung ist aber nicht autonom, sie verortet sich im Horizont kultureller – religiöser, politischer, natürlicher, rechtlicher u. a. – Semantiken,

|| 149 Vgl. Wolfgang Neuber: „Locus, Lemma, Motto“, 354. 150 Vgl. Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik, 247–269; vgl. Joachim Knape: „Mnemonik, Bildbuch und Emblematik“. 151 Vgl. Jürgen Link: „Elemente der Lyrik“, 92–94 (im Anschluss an Jakobson).

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die ihre je eigenen epochenspezifischen Ausprägungen haben: Ob christliche Heilsoder adelige Liebes- und Gewaltsemantik, sie rekurrieren auf historisch kurrente Bildfelder: z. B. auf die Leib–Seele-Relation als Einheits- (Corpus Christi/Leib der Ehe, Genealogie) oder Spaltungsphantasma (Zwei-Reiche-Lehre/bellum intestinum). Minne kann je nach Situation im Bildfeld der Krankheit (leiden), des Kampfes (erobern), der Jagd (erjagen) oder der Gabe (Herzenstausch) gefasst werden.152 Der jeweils gewählte Affekt wird dann zum Ort topischer Invention. Dass hier nicht nur ein abstrakter Sachverhalt illustriert wird, sondern ein ganzer semantischer Raum erschlossen werden kann, zeigt sich in der Entfaltung eines komplexen Bildfeldes und in den Spannungen, die aus dem kombinierten Einsatz einer Metapher resultieren: Jagd etwa evoziert die Semantiken des Lockens und Verfolgens, des Nach- und Fallenstellens, des Hetzens und der Gier, des Zähmens und Fliehens, Verletzens und Tötens. Die Denotationen der Jagd werden über die metaphorische Operation zu Konnotationen der Liebe und ermöglichen es, über den Assoziationsspielraum der Metapher das generalisierte Kommunikationsmedium Liebe (Luhmann) als spannungsvolle (auch reversible) Relation von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Macht und Ohnmacht, Natur und Kultur, letztlich Leben und Tod zu modellieren. An Wolframs von Eschenbach Titurelfragment ist das ausführlich beschrieben worden.153 Dort, wo Dichtung die kulturellen Semantiken einer Metapher aktiviert und in ihre Darstellung einspeist, reicht sie weit über eine rhetorische Figur hinaus, sie wird zur Reflexionsfigur, die Semantiken kombinieren und variieren, aber auch je nach Standpunkt exponieren, konkretisieren, subvertieren, suspendieren und ironisieren kann.154 Liebe als Krankheit, Kampf oder Gabe eröffnen noch einmal andere Konnotationsspielräume. Der Funktion der Metapher beschränkt sich nicht nur auf ihre Strategie, durch Rekurs auf kulturelle Kontexte abstrakte Sachverhalte zu visualisieren und zu modellieren. Über die Metapher kann Dichtung auch auf sich selbst reflektieren und die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache ausloten. Diese metapoetische Funktionalisierung der Metapher rekurriert zwar gleichfalls auf das topische Inventar und lotet dessen semantisches Potential aus, sie konfrontiert es aber darüber hinaus mit Formen realer Wahrnehmung und lenkt dadurch den Blick auf das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Wenn Wolfram, wiederum im Titurel, Schönheit mit taunassen Rosen illustriert, verbleibt er zunächst im konventionellen Sprachgebrauch. Wenn er aber mit der Wendung al naz von roete (Tit. 115,1) die Kausalitäten auf den Kopf stellt, unterwandert er nicht nur die Prozesslogik des Vorgangs, sondern setzt || 152 Vgl. Theo Stemmler: Liebe als Krankheit; Ricarda Bauschke: Die Burg im Minnesang und als Allegorie; vgl. Ralf Schlechtweg-Jahn: Minne und Metapher; Ulrich Steckelberg: Hadamars von Laber „Jagd“; Sandra Linden: „Körperkonzepte jenseits der Rationalität“. 153 Vgl. Christian Kiening/Susanne Köbele: „Wilde Minne“. 154 Zur konkretisierten Metapher vgl. Andreas Bässler: Sprichwortbild und Sprichwortschwank, 12– 24; Uwe Ruhberg: „‚Wörtlich verstandene‘ und ‚realisierte‘ Metaphern“, 205–220.

198 | Udo Friedrich vielmehr eine ‚kühne Metapher‘, durch die sich die dichterische Sprache von der Wirklichkeit emanzipiert, um auf ihr autonomes Potential zu verweisen.155 Im Parzival relationiert Wolfram überdies die blutende Gralslanze und das blutige Hemd Herzeloydes mit den Blutstropfen im Schnee und aktiviert damit zwei konkurrierende Zeichenregime, das der Ähnlichkeit und das der Analogie, die innerhalb eines Textes metapoetische Reflexionen freisetzen.156 Metaphern setzen mithin als Denk- und Wahrnehmungsform nicht nur einen abstrakten Sachverhalt ins Bild, sondern fungieren im Rahmen literarischer Produktion auch als Medien, die auf die Mittel poetischer Darstellung reflektieren lassen. Als Darstellungsform rückt das Aussage- und Gestaltungspotential der Metapher selbst in den Fokus der Beobachtung, so dass die rhetorisch induzierte Metaphernproduktion, die sich ihrerseits schon von der mythischen Denkform emanzipiert hatte, auf ihre eigene Technik reflektiert und literarische Produktion freisetzt (Barthes). Wenn neben dem Inhalt auch auf die Form reflektiert wird, systemtheoretisch gesprochen die Beobachtung sich selbst beobachtet oder narratologisch die discours- von der histoire-Ebene abgehoben wird, entwickelt Literatur eine doppelte Perspektive auf ihren Gegenstand. Die systemtheoretischen und narratologischen Unterscheidungen restituieren gegenüber Stoff und Struktur des topischen Archivs die Autonomie der Subjektposition. In strukturalistischem Verständnis ist das Subjekt aber immer schon eingesetzt: Entsprechend rekurrieren die mittelalterlichen Dichter in der Regel nicht nur auf vorhandene Prätexte („Wiedererzählen“), sondern auch auf das Regelrepertoire gelehrter Poetiken sowie auf ein tradiertes Archiv topischer Muster, wie es die lateinische und volkssprachliche Literatur entwickelt hat. Die Freiheit literarischer Gestaltung und der Metaphernproduktion scheint durch den Rahmen eines historischen Archivs begrenzt zu sein, durch ein historisches Apriori (Foucault). Heinrichs von Morungen Rekurs auf die militia-amoris-Metaphorik etwa erfolgt „im vollen Bewußtsein ihres topischen Charakters“,157 Wolframs Entfaltung der Jagdmetaphorik im Titurel oder der Blutmetaphorik im Parzival, Gottfrieds Kunstmetaphorik im Tristan und Konrads von Würzburg Lichtmetaphorik im Trojanerkrieg – allesamt Beispiele einer avancierten Metapherntechnik – realisieren sich im Horizont eines epochenspezifischen Bildarchivs. Gottfried greift auf fast das gesamte Arsenal der Künste zurück, um die Sinnfelder der Minne und der Dichtung nicht nur bildlich zu fassen, sondern auch zu strukturieren. „Dichtkunst [wird] sowohl als theoretisches Wissen (künde) als auch als Repertoire rhetorischer Figuren und Topoi (bluomen,

|| 155 Stephan Fuchs-Jolie: „al naz von roete (Tit. 115,1)“, 243–278. 156 Vgl. Bruno Quast: „Diu bluotes mâl“, 45–60; wie mittelalterliche Autoren mit konkurrierenden epistemischen Konstellationen spielen können und dabei metaphorische Operationen verwenden, haben Bruno Quast/Monika Schausten: „Amors Pfeil“ am Bsp. Heinrichs von Veldeke gezeigt. 157 Christoph Leuchter: Dichten im Uneigentlichen, 50.

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fünde) ins Bewusstsein gerufen.“158 Wenn Konrad im Trojanerkrieg wie in der Goldenen Schmiede auf alle Überlieferungen zum Thema zurückgreift, bestätigt das zum einen die Wirksamkeit des historisch-topischen Archivs. Wenn er aber darüber hinaus sowohl für das weltliche wie für das geistliche Thema die Techniken der Metaphernbildung weiterentwickelt, demonstriert er auch den Gestaltungsspielraum metaphorischer Operationen.159

6 Topos und Metapher: locus amoenus Die Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch die Grenzen eines Topos lassen sich exemplarisch schon an den Sommer- und Winterliedern der Carmina Burana demonstrieren.160 In ihnen wird ein begrenztes Arsenal an Naturmotiven in vielfältiger Variation entworfen: Die Spannung von Sommer und Winter wird in ein polares Bildfeld differenziert, in Heide, Wald, Blumen, Vogelsang einerseits, Schnee, Frost, Fahlheit und Schweigen anderseits.161 Die Natur wird als antagonistisches Kräftespiel aufgefasst, um am Beispiel des Jahreszeitenwechsels elementare Erfahrungen einer Agrarkultur zu artikulieren: Fülle und Mangel, Freude und Trauer, Poly- und Monochromie, Klang und Stille, Gemeinsam- und Einsamkeit, Liebe und Leid, Erinnerung und Hoffnung – Oppositionen, die letztlich auf die Spannung von Leben und Tod und ihre Grenze zielen. Metaphorisch kann dabei zum einen die Natur selbst personifiziert werden (daz klaget uns div heide; 181a). Wenn aber Blumen und Vogelsang sowohl Schönheit und Klang als auch Ausgelassenheit der Natur evozieren, letztlich das Lebensprinzip selbst, ist nicht ausgemacht, ob es sich um eine differenzierende metaphorische Operation handelt (Analogie), oder ob nicht vielmehr im Kontext der Chain of Being vegetabile, animale und menschliche Natur auf den gleichen (ähnlichen) Rhythmus verpflichtet werden. In diesem Sinn erfüllt der Topos auch seine klassische Funktion als Argument (Aristoteles), das der Relation des Mehr–Minder folgt. Wenn schon die Natur, d. h. Pflanzen und Tiere, den Sommer begrüßen, dann steht es auch dem Menschen an: des suln wir nu wesen balt! (CB 161a). Sowohl Akzent- und Bildordnung, Metrik und Topik, als auch der Modus von Preisen und Klagen verleihen den Liedern über den Rhythmus der Wiederholung überdies eine zyklische Struktur, die den Lauf der Natur imitiert und die periodische Zeitdimension

|| 158 Mark Chinca: „Metaphorische Interartifizialität“, 25. Zur Metaphorik im Tristan allgemein: Franziska Wessel: Probleme der Metaphorik. 159 Vgl. Susanne Köbele: „Zwischen Klang und Sinn“; Hartmut Bleumer: „Zwischen Wort und Bild“. 160 Carmina Burana (= CB), z. B. Nr. 152a, 153a, 155a, 161a, 163a, 171a, 178a, 181af. 161 Vgl. Ernst-Robert Curtius: Europäische Literatur, 202–209; Wolfgang Adam: Die „wandelunge“, 35–103; Ludger Lieb: „Der Jahreszeitentopos im ‚frühen‘ deutschen Minnesang“.

200 | Udo Friedrich des Lebens nachvollzieht.162 So zeigt schon die einfache Realisierung eines Topos die Gestaltungsmöglichkeiten einer rhetorischen Variationskunst auf, die letztlich in einer mythisch-metaphorischen Vorstellung gründet. Der Topos dient dazu, eine Vielzahl von Situationen zu generieren, kombinieren, variieren und argumentativ auszugestalten. Uns hât der winter geschadet über al: heide unde walt sint beide nû val, dâ manic stimme vil suoze inne hal. saehe ich die megde an der strâze den bal werfen: sô kaeme uns der vogele schal. Möhte ich verslâfen des winters zît! wache ich die wîle, sô han ich sîn nît, daz sîn gewalt ist sô breit und sô wît. weiz got, er lât doch dem meien den strît! sô lise ich bluomen dâ rîfe nû lît. (Walther von der Vogelweide L 39,1)

Walthers Winterlied beginnt mit einer Klage über den Schaden, den der Winter anrichtet.163 In zwei kurzen Strophen reflektiert das Ich unter Rekurs auf die bekannten Topoi des Natureingangs auf die Grenze des Jahreszeitenwechsels und den kommenden Frühling. Während aber die erste Strophe mit einem Ausblick auf das konkrete Spiel der Mädchen endet, schließt die zweite mit einer Zeile, die den Aufenthalt in der Natur metaphorisch mit der Minne verbindet: sô lise ich bluomen dâ rîfe nû lît. Durch ihre doppelte Semantik – deflorare – weist der Vorgang des Blumenlesens/-brechens über die reine Deskription hinaus. Überdies kennzeichnet die zweite Strophe eine sichtbare Häufung von Metaphern. So konnotiert der Vorgang des Überwinterns metaphorisch den Winterschlaf. Gleichzeitig wird der Jahreszeitenwechsel selbst als Schauplatz eines Kampfes modelliert: weiz got, er lât doch dem meien den strît! Die beiden Strophen stellen mithin deskriptives und metaphorisches Sprechen einander gegenüber. Über die Akkumulation von Metaphern und über die Kontrastierung der Schlusszeilen stellt das Lied alternative Aussagedimensionen der Sprache aus. Wie das Falkenlied des Kürenbergers endet das Lied in einer Metapher und entfaltet von ihr aus seine poetische Aussagedimension. Unmerklich verschiebt sich die Referenz der Sprache in das doppelte Spiel mit ihr, rollt – metaphorisch gesprochen – der Ball von der einen semantischen Ebene in eine andere. Wenn demgegenüber in Neidharts Sommerliedern (z. B. SL 23) nicht nur das klassische Inventar des Topos – Heide, Blumen, Vögel, Wald etc. – aufgeboten, sondern dieses selbst schon in sich differenziert präsentiert wird (Klee–Blumen, Heide–Rosen,

|| 162 Vgl. Anna Kathrin Bleuler: „Zwischen Tradition und Innovation“, 129f. 163 Vgl. Thomas Bein: „Uns hât der winter geschadet über al (Walther L. 39,1, Cormeau 15)“.

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Drossel–Nachtigall), verweisen die Naturbereiche selbst schon metaphorisch auf jene Differenzen der Wesen, die auch für den sozialen Raum gelten.164 Der locus amoenus wird im Hinblick auf unüberschreitbare natürliche und soziale Differenzen hin funktionalisiert. Er bildet den natürlichen Hintergrund für die im Lied verhandelte Generationen- (Alt–Jung), Geschlechter- (Mann–Frau) und Ständedifferenz (Ritter– Bauer).165 Der szenische Charakter des Jahreszeitenwechsels bietet vielfältige Optionen, den Topos mit Handlungssequenzen anzureichern und in Erzählzusammenhänge einzubetten.166 Die mittelalterliche Literatur kennt eine Reihe von Beispielen, in denen der locus amoenus zur idyllischen Szene ausgebaut und in Romanhandlungen inseriert wird: ander paradîse-Szenen. Die Metaphorik nimmt hier ganz unterschiedliche Formen und Funktionen an. Im Straßburger Alexander (vv. 5157–5358) etwa trifft der Eroberer mit tausend Rittern auf eine Naturenklave, in der Mädchen im Jahreszeitenrhythmus aus Blumenkelchen wachsen, sich höfisch verhalten, tanzen, musizieren und mit den Kriegern ein Minneverhältnis eingehen. Der Krieg ersetzt hier zunächst den Winter, das griechische Heer findet in der Minneidylle mit den Blumenmädchen vorübergehend Entlastung von den Mühen seiner Eroberungszüge: Alle Betrübnis, alles Ungemach und Leid, selbst der Gedanke an den Tod, fällt dem Vergessen anheim. Mit dem organischen Ursprung der höfischen Mädchen ebnet die Szene nicht nur die Differenz von Natur und höfischer Kultur ein: Wie der Gesang der Mädchen mit dem der Vögel harmoniert, so sind sie auch farblich (rot und weiß) einander angepasst. Die höfische Kultur imaginiert ihren Ursprung in der Natur. Indem aber auch die Differenz von Begriff und Metapher eingeschliffen wird, restituiert die Szene im literarischen Kontext ein mythisches Modell der Konkreszenz: Das Verhältnis von Blumen und Mädchen wird in eine vegetabil-animale Gattungsrelation (Gattung–Art), die Metapher in eine Metonymie, überführt. Über die zyklische Struktur des Jahreszeitenwechsels wird auch der höfischen Kultur zugleich ein memento mori eingeschrieben. Gegenüber Walthers Sprachspiel ist hier der kulturelle Kontext Bezugspunkt der metaphorischen Operation. In Gottfrieds Tristan nimmt die Gestaltungsoption des locus amoenus-Topos wohl ihre komplexeste Form an.167 Die Minnegrotte bildet eine Enklave inmitten der Wildnis, in der sich das Paar eine begrenzte Zeit ungestört der Minne hingeben kann. Die Gestaltung dieser Minnebeziehung vollzieht sich mit Hilfe einer Vielzahl von Metaphern, und die metaphorischen Implikationen der Szene sind komplex: Zum einen allegorisiert Gottfried auf der discours-ebene einzelne Elemente der Grotte und greift auf tradierte Verfahren der Bildgebung zurück: So bezeichnen etwa || 164 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip“; zum Phänomen der „Metaphern-ketten“ vgl. Anna Kathrin Bleuler: „Zwischen Tradition und Innovation“, 132–136, 136. 165 Vgl. Anna Kathrin Bleuler: „Zwischen Tradition und Innovation“. 166 Vgl. Wolfgang Adam: Die „wandelunge“; Dorothea Klein: „Amoene Orte“. 167 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan, vv. 16683–17278.

202 | Udo Friedrich Rundung, Höhe und Weite der Grotte die Einfachheit, Kraft und Höhe der Liebe. Zum andern werden Blumen und Vögel personifiziert und zum ingesinde der Liebenden, zum Substitut der Hofgesellschaft. Darüber hinaus rekurriert Gottfried zur Illustration der Minnebeziehung auf eine Vielzahl von Metaphern aus dem Bereich der Artes, der freien wie der unfreien: Grammatik, Musik, Theater, Webkunst.168 Schließlich verwendet Gottfried Metaphern, die in einem weiträumigen, paradigmatischen, Anspielungshorizont zu über den Text verteilten Metaphern stehen.169 Susanne Köbele hat ihren komplexen Einsatz als spezifisch Gottfriedsche ‚Kunst der Anspielung‘ interpretiert: Wenn die Liebenden sich durch ihre Blicke ernähren, verbindet Gottfried mit der doppelten Semantik der Speisemetapher Reminiszenzen sowohl an den Sündenfall (Minnetrank, Baumgarten) als auch an die Erlösung.170 Die Analogie zur Eucharistie und zur geistlichen Speise erweitert das semantische Spektrum der Metapher um eine religiöse Dimension. Markiert und erweitert wird das Konnotationsspektrum durch Gottfrieds Erfindung (Findung?) ‚neuer‘ Metaphern: erbeminne, erbepfluoc, erbesmerz, sodann die Minne als erbevogetin.171 Dem locus amoenus wird die ambivalente Semantik der Paradiessituation eingeschrieben. Gottfried multipliziert die Kontexte – Elternvorgeschichte, Sündenfall/Erlösung, Personifikation der Minne – und reichert damit die Semantik der Minnemetaphern an. Für das Mittelalter kann als wahrscheinlich angesehen werden, dass familiäre, erotische, eheliche und religiöse Beziehungen noch stärker sympathetischen Identitätsvorstellungen unterliegen. Sie haben denn auch ihre wirkungsmächtigen Topoi und Metaphern gefunden: Physiognomik (Genealogie), Herzenstausch (Minne), ein Leib und zwei Seelen (Ehe), Abendmahl (Religion). Dass solche Vorstellungen mehr als Metaphern sind, verweist auf Restbestände mythischer Konkreszenz. Auch Gottfrieds Minnemetaphorik verortet sich im Schnittpunkt genealogischer, erotischer und religiöser Diskurse. Die Ungeschiedenheit, die die einzelnen Felder je für sich inszenieren, scheint im poetischen Arrangement aber auch ihr Verhältnis zueinander zu kennzeichnen: Was hier als freies, aber nicht regelloses Spiel der Metaphernund Ebenenverschiebung beschrieben worden ist, kann aber geradezu als das zentrale Kennzeichen topischer Rede aufgefasst werden. Der unüberschaubaren Komplexität des Lebens setzt die Topik nicht das Gesetz, sondern die Regel mittlerer Reichweite entgegen. Das ist von dogmatischer (diskursiver) Traditionsfixierung so weit entfernt wie von autonomer Kunst. Auch Gottfried scheint sich im Horizont tradierter Diskurse und topischer Muster zu befinden, deren Semantiken er kombiniert, variiert und an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treibt. Die Metapher gründet in der Common Sense-Struktur des kulturellen Wissens und reklamiert gegenüber der Logik einen eigenen Anspruch auf wahrscheinliche || 168 Vgl. Mark Chinca: „Metaphorische Interartifizialität“, 22f. 169 Vgl. Susanne Köbele: „Mythos und Metapher“. 170 Vgl. ebd., 223–229. 171 Vgl. ebd., 229–237.

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Erkenntnis. Die metaphorische Übertragung operiert nicht deduktiv oder induktiv, sondern über Figuren der Ähnlichkeit und Analogie, die als abbildende oder schaffende Verfahren eingesetzt werden und einerseits auf ein mythisches oder logisches Substrat verweisen, andererseits das ganze Feld kultureller Analogiebeziehungen aktivieren können. Als indirekte Mitteilung unterscheidet sich die Metapher von der normalen referentiellen und logischen Sprachform und fällt unter die pragmatischen Strategien der Rhetorik, um Evidenzmangel und Handlungszwang zu kompensieren. Die Notwendigkeit, für die Bestimmung des metaphorischen Aussagepotentials das historische Kontextwissen einzubeziehen, führt eine historische Metaphorologie über analytische Bestimmungsversuche hinaus und bedingt die Unterscheidung epochenspezifischer Semantiken. Das naturverhaftete Selbstverständnis des mittelalterlichen Adels, die Auffassung von der Schöpfung und der politischen Ordnung etwa gründen noch in substantiellen Ähnlichkeitsbeziehungen, gleichzeitig zeichnen sich aber auch in manchen Feldern schon Strategien ab, diese in kulturelle Analogiebeziehungen zu überführen. So lässt sich ein Weg vom mythischen Anthropomorphismus über die Allegorie bis hin zur rhetorischen Personifikation nachzeichnen. Über den Rekurs auf das flexible Feld der Topik als Struktur, Archiv und Argument eröffnet bereits die mittelalterliche Metapher ein ganzes Spektrum an epochenspezifischen Semantiken, die interagieren können, ohne im Originalitätsanspruch moderner Metapherntechniken aufzugehen, die in der Vorstellung von der Arbitrarität der Zeichen und im Verlust des Sprachvertrauens, der Inadäquatheit von Zeichen und Bezeichnetem, gründen. Innerhalb des historisch begrenzten Archivs topischen Wissens kann aber das literarische Spiel mit metaphorischen Relationen, wie am Umgang mit dem locus amoenus gezeigt werden sollte, vom einfachsten bis zum avancierten Modell schon komplexe Formen annehmen.

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Hartmut Bleumer

Historische Narratologie 1 Narratologie und historische Narratologie Die Narratologie – vorläufig definiert als theoretische Wissenschaft von Geschichte, Erzählung und Erzählen – hat ein Selbstbeschreibungsproblem. Es beruht auf der Spannung zwischen ihrem Gegenstand und ihrem distinkten Wissenschaftsanspruch, die sich in all ihren Begriffsbildungen niederschlägt – nicht zuletzt im Begriff der ‚Narratologie‘ selbst. Dieser Terminus liegt theoretisch im klassischen Strukturalismus, in dessen Zeichenbegriff und Verständnis von literarischer Semantik begründet.1 Dabei setzt sich der Narratologiebegriff, als Weiterentwicklung der Poetologien des russischen Formalismus,2 von den offeneren Begriffskonzepten jener Erzähltheorien ab, die typisierend an den äußeren Bauformen des Erzählens und des Erzählers ansetzen.3 Gerade durch ihre so gewonnene höhere theoretische Geschlossenheit beansprucht die klassisch-strukturale Narratologie freilich gegenüber den vorherigen Ansätzen eine größere kulturhistorische Offenheit und Reichweite: Aus ihrem hohen theoretischen Anspruch auf strenge Systematik und differenzielle Logik scheint jedenfalls zunächst die universale Anwendbarkeit der Narratologie zu resultieren.4 Dass dieser Anspruch nur deduktiv zu begründen ist, wurde zwar früh festgehalten.5 Allerdings wird man ebenso zugeben müssen, dass gerade auch die strukturalen Theorien stets unausgewiesen induktiv angelegt sind. Darum stehen sie nämlich nicht nur wissenschaftsgeschichtlich mit den vorhergehenden, allgemein-typisierenden Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie in engem Zusammenhang.6 Vielmehr löst sich der theoretische Systematisierungsanspruch der Narratologie auch im Rahmen ihrer eigenen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung zunehmend praktisch auf: Im Zuge ihrer jüngeren Ausweitung zu einer allgemeinen || 1 Zuerst Tzvetan Todorov: Grammaire du Décaméron, 10. 2 Die detaillierteste Gesamtdarstellung zur Terminologie ist immer noch Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus; vgl. auch allgemein Boris Eichenbaum: „Die Theorie der formalen Methode“; zur Theoriegeschichte anschaulich Victor Erlich: Russischer Formalismus und zu Kernproblemen der Theoriebildung einführend Jurij Striedter: „Zur formalistischen Theorie“; in jüngerer Zeit die Skizzen im Band von Wolf Schmid (Hg.): Slavische Erzähltheorie. 3 Zur Vorgeschichte der Erzähltheorie Anja Cornils/Wilhelm Schernus: „On the relationship“; später besonders Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens; Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen; ders.: Theorie des Erzählens. 4 Programmatisch Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse“, 102f. 5 Vgl. ebd., 103. 6 Vgl. die Anleihen bei Gérard Genette: Die Erzählung, 11–192.

214 | Hartmut Bleumer kulturwissenschaftlichen Grundlagentheorie jenseits der Literaturwissenschaft stellen die diversen kulturellen Situationen und Objekte die narratologischen Grundkategorien stets induktiv neu in Frage.7 Dadurch erscheinen die narratologischen Begriffsapparate jeweils ergänzungsbedürftig, was ihren grundlegenden Systemanspruch unterminiert. Diese Auflösungstendenz gilt insb. für das schwierige Projekt einer sog. ‚historischen Narratologie‘. Wenn sie historisch-induktiv vorgeht, ist sie im klassischen Sinne keine Narratologie, wenn sie dagegen auf ihrem theoretischen System- und Universalitätsanspruch beharrt, ist sie nicht historisch.8 Eine Lösung dieses Dilemmas scheint sich gegenwärtig darin abzuzeichnen, den Universalitätsanspruch der narratologischen Theorie nunmehr von der Universalität der narrativen Praxis, d. h. des Erzählens als einer anthropologischen Konstante abzuleiten.9 Das würde die deduktiv je nach kulturellem und historischem Zusammenhang immer wieder zu gewinnenden Kategorien die Narratologie, wie das Erzählen selbst, zu einem stets unabgeschlossenen, immer schon historischen Projekt werden lassen. Das Systematisierungsproblem kehrt so aber erneut wieder: Denn auch mit dieser Begründung sind immer nur verschiedene historische Erzähltheorien denkbar, die niemals den Geschlossenheitsanspruch der klassischen Narratologie erreichen. Ausschnitthaft illustrieren dieses Systematisierungsproblem auch die erzähltypologischen, erzähltheoretischen oder auch im klassischen Sinne narratologischen Versuche zur deutschen Literatur des Mittelalters. Es gibt jedenfalls bislang keine mediävistische Narratologie im Sinne einer allgemeinen, für alle mittelalterlichen Erzählformen verbindlichen literaturwissenschaftlichen Theorie, die es erlauben würde, diese Formen über ein umfassendes Beschreibungsmodell zu erstellen.10 Will man dennoch, wie inzwischen allgemein üblich, auch hier von ‚historischer Narratologie‘ sprechen, so wird Narratologie entweder zu einem ungenauen Sammelbe|| 7 Vgl. als Querschnitte der expansiven Forschungsentwicklung die Bände: Christian Klein/Matías Martínez (Hgg.): Wirklichkeitserzählungen; Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur; zuvor Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hgg.): Erzähltheorie transgenerisch; vgl. zur Expansion auch die Forschungsberichte (in Auswahl): Ansgar Nünning: „Towards a cultural and historical narratology“; ders./Vera Nünnig: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie“; ders.: „Narratology and cultural history“; vgl. zur literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie Monika Fludernik: „Beyond structuralism in narratology“; dies.: „Histories of narrative theory (II)“; dies./Brian Richardson: „Bibliography of recent works on narrative“; Jan Alber: „Bibliography of German narratology“. 8 Vgl. Hartmut Bleumer: „‚Historische Narratologie‘?“, 231–238. 9 Vgl. zusammenfassend Michael Scheffel: „Erzählen als Produkt der kulturellen Evolution“. 10 Vgl. Harald Haferland/Matthias Meyer: „Einleitung“, 7. Das Desiderat markieren der nachgelassene, darum noch selektive Überblick von Armin Schulz: Erzähltheorie; der hybride Artikel von Armin Schulz/Gert Hübner: „Mittelalter“, aber auch der Bd. von Florian Kragl/Christian Schneider (Hgg.): Erzähllogiken, dessen Beiträge zum mittelalterlichen Erzählen in der Summe gerade keiner narratologisch-terminologischen Systematik, sondern einer offenen Heuristik narrativer Möglichkeiten zuarbeiten wollen; vgl. dies.: „Einleitung“, 15.

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griff,11 dessen Pluralität dem systematischen Ehrgeiz der anfänglichen Begriffsbegründung geradezu entgegensteht. Oder aber die Rede von Narratologie führt kalkuliert auf die Basisparadoxie des Erzählens selbst.12 Entweder muss man also die Auflösung des genuin narratologischen Begriffsanspruchs ausgerechnet am Begriff der Narratologie selbst konzedieren – für diesen Fall wäre es zweifellos besser, auf den Begriff der Narratologie zu verzichten und zum allgemeineren Begriff der Erzähltheorie zurückzukehren.13 Oder aber man hat die Spannung zwischen der historischen Dynamik des Erzählens und dem Bedürfnis ihrer wissenschaftlich-systematischen Fixierung in die Erzähltheorie selbst aufzunehmen. Im letzten Falle wäre auch die ‚historische Narratologie‘ ein paradoxes, poststrukturalistisches Projekt. Dieses Projekt zeichnet sich bislang, trotz oder gerade auch wegen der Fülle an Forschungsanregungen, erst in Umrissen ab. So haben die Versuche, die unterschiedlichen Begriffsvorschläge in den Feldern der Narratologie und Erzähltheorie zu überblicken, inzwischen enzyklopädische Ausmaße angenommen.14 Um Klarheit über die genuinen Möglichkeiten einer spezifisch gefassten historischen Narratologie zu gewinnen, ist daher eine entsprechend spezifizierte terminologische Minimalausstattung nötig, auf deren Basis sinnvoll argumentiert werden kann, um die terminologisch unterschiedlichen mediävistischen Positionen in das gewonnene Begriffsraster einzutragen. Die gesuchte Terminologie muss auf einer integrativen Theorie basieren, durch die jene paradoxe Synthese historisch unterschiedli-cher Begriffe erst möglich wird, die für das Projekt einer ‚historischen Narratologie‘ in Analogie zur Paradoxie des Erzählens wünschenswert wäre. Diese Terminologie wäre dann mit Blick auf die ältere deutsche Literatur weiter zu ergänzen. Eine derartig theoriebasierte Terminologie impliziert durch seinen besonderen wissenschaftsgeschichtlichen Ort das Modell des Slavisten Wolf Schmid, das im Folgenden als Interpretationsgrundlage dient.15

|| 11 Vgl. David Herman: „Introduction. Narratologies“, 1–3. 12 Vgl. dazu die Kritik am strukturalen Differenzdenken in der Hermeneutik von Paul Ricœur: Zeit und Erzählung I–III. 13 Vgl. Ansgar Nünning, „Narratology or narratologies“: 258; ders./Vera Nünning: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie“, 17f. 14 Vgl. James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hgg.): A Companion to narrative theory; David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hgg.): Routledge encyclopedia of narrative theory; Peter Hühn u. a. (Hgg.): Handbook of narratology. Als terminologisches Nachschlagewerk weiter nützlich: Gerald Prince: A dictionary of narratology, sowie die Glossare in Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie und Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie. Ohne systematische Aufarbeitung der Theoriegeschichte lässt sich der Allgemeinheitsanspruch einer Erzähltheorie nicht mehr präzise begründen, wie sich jüngst an der kursorischen Studie von Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung, zeigt, dort das Eingeständnis der Problematik (vgl. ebd., 396f.). 15 Vgl. als Synthese älterer Arbeiten Wolf Schmid: Elemente der Narratologie.

216 | Hartmut Bleumer

2 Narratologische Grundbegriffe, ihre Ebenen und Korrelationen Die theoretischen Implikationen des Erzählmodells von Schmid sind zur Begründung der folgenden Skizze kurz zu interpretieren. Sie verdanken sich einer besonderen Stellung zwischen Formalismus und Strukturalismus, die in Schmids Ansatz zu einer gewinnbringenden konzeptionellen Spannung führt. Sein Modell beruht nämlich zunächst auf einer Forschungsübersicht,16 der es gelingt, die zentralen erzähltheoretischen Begriffe des russischen Formalismus, in Orientierung an der Poetik von Boris Tomaševskij, mit einschlägigen Grundbegriffen des französischen Strukturalismus zu vermitteln.17 Vor allem auf Tomaševskij dürfte dabei auch die Übernahme klassisch-rhetorischer Termini zurückzuführen sein, womit sich bei Tomaševskij wie bei Schmid eine Ambivalenz offenbart. Sie schlägt sich zunächst im Formalismus im dort radikal diskutierten Verhältnis von Inhalt und Form nieder;18 sie schreibt sich später, nach ihrer vermeintlichen Lösung, aber auch in der Theorieentwicklung in einer Spaltung der Narratologie selbst fort. Und genau diese Spaltung scheint das integrative Modell von Schmid wieder schließen zu können, was seine besagte spannungsvolle Ambivalenz ausmacht. In äußerster, rein idealtypischer Zuspitzung kann man diesen theoriegeschichtlichen Differenzierungs- und Verschmelzungsprozess so ausdrücken: Analog zum klassisch linguistischen Zeichenbegriff mit seiner Trennung in Signifikat und Signifikant haben sich wissenschaftsgeschichtlich zwei gegenläufige narratologische Epistemologien ausdifferenziert, eine semantische und eine pragmatische. Semantische Erzähltheorien bemühen sich um narrative Poetiken; dagegen sind pragmatische Ansätze mimetisch orientiert. Erstere tendieren dann weiter dazu, die Narratologie als Verfahren wissenschaftlicher Interpretation zu konzeptualisieren, letztere verstehen sie eher als Werkzeug wissenschaftlicher Argumentation. Ganz entsprechend neigen beide Richtungen dann jeweils dazu, auch Geschichte und Erzählung entweder Bedeutungs- oder aber Erklärungsfunktionen zu unterlegen. Darum sind sie entweder stärker hermeneutisch oder stärker rhetorisch angelegt.

|| 16 Zuerst Wolf Schmid: „Die narrativen Ebenen“. Das abschließend modifizierte Modell in Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 223–250. Vgl. zur forschungsgeschichtlichen Verortung des Ansatzes ders.: „‚Fabel‘ und ‚Sujet‘“; ders.: Elemente der Narratologie, 206–222. Zu den je nach Ansatz verschiedenen Verwendungen der Ebenenbegriffe zuletzt der forschungsgeschichtliche Überblick bei Michael Scheffel: „Narrative constitution“. 17 Vgl. Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. 18 Als klassisch-formalistische Stimme zum Form-Inhalt-Problem sei hier nur genannt: Viktor Šklovskij: „Sujetfügung“, 109. Vgl. zu den weiteren theoretischen Differenzierungen detailliert Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 188–197; s. u., Anm. 24.

Historische Narratologie | 217

Vor dem Hintergrund der Unterscheidung in semantisch-poetische und pragmatisch-mimetische Erzähltheorien erweist sich etwa die geläufige Unterscheidung in histoire- und discours-Narratologie als rein oberflächlich.19 Die sog. histoire-Narratologie setzt zwar an der – noch zu spezifizierenden – Erzählebene der Geschichte an, während sich die discours-Narratologie auf den Erzähler und den Erzählakt konzentriert. Diese äußerliche Vorunterscheidung scheitert aber schon an prominenten strukturalistischen Modellen, die diese vermeintliche histoire-discours-Grenze durch ihre semantisch-poetischen Konzeptionen ebenso unterlaufen wie etwa die vermeintlichen Gattungsgrenzen zwischen Narrativik und Lyrik.20 Strikt durchgeführt löst diese Grenzziehung überdies den Zusammenhang der narratologischen Begriffe insgesamt wieder auf, was sich etwa an den Unterschieden zwischen dem rhetorischen oder auch pragmalinguistischen Narrationsbegriff auf der einen und dem literaturwissenschaftlichen Narrationsbegriff auf der anderen Seite zeigen ließe.21 Die Grenzziehung scheint indes auf der Ebene der Theoriegeschichte eine Fortschreibung des alten Inhalt-Form-Problems des russischen Formalismus zu sein, in einem ähnlichen Sinne müsste sie sich aufheben lassen. So sind die narratologischen Theorien zur histoire- oder Geschichtsebene nicht primär Theorien zu Handlungsabläufen, sondern sie zielen auf eine narrative Tiefensemantik, die sich in Handlungen ausspricht.22 Umgekehrt gewinnen narratologische Theorien zum discours oder zur Erzählung ihre Klassifikationen über die Frage nach äußerlich-pragmatischen Präsentationsmöglichkeiten und haben damit immer ein Problem mit ihren semantischen Anteilen. Notorisch führt dies etwa beim Begriff

|| 19 Nach Tzvetan Todorov: „Die Kategorien der literarischen Erzählung“, 264f.; ders.: „Sprache und Literatur“, ausgehend von Émile Benveniste: „Die Tempusbeziehungen“, 266. 20 Das gilt vorrangig für Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Zu den Schwierigkeiten von Lotmans semiotischem Ansatz auf der Basis der histoire-discours-Unterscheidung vgl. prominent Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 140–144. Ähnliches gilt auch für den Ansatz von Boris Uspenskij: Poetik der Komposition, hier 7 u. 146f. programmatisch zur semantischen Orientierung seiner Typologie. 21 Vgl. darum die Unterscheidung zwischen den Begriffen narrative report und narration in dem zwischen den verschiedenen Richtungen vermittelnden Ansatz von Monika Fludernik: Towards a ‚Natural Narratology‘, 58 u. ö. 22 Vgl. bes. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik und die Einzelskizzen in ders.: On meaning. Als Ausgangspunkt Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Dazu auch der histoire-narratologische Rekurs bei Claude Bremond: „The logic of narrative possibilities“. In der germanistischen Mediävistik vorrangig: Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, die der romanistischen Grundlagenskizze von Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution“ viel verdankt, welche eine komplette, sowohl die histoire- als auch die discours-Ebene berücksichtigende, historisch angepasste strukturale Narratologie entwirft. Ferner die zu Unrecht kaum beachtete Studie von James Alfred Schultz: The shape of the round table sowie die Anwendung von Isolde Neugart: Wolfram, Chrétien und das Märchen, zum Teil aber mit nur schwacher Akzentuierung des ursprünglichen strukturalen Semantikprimats.

218 | Hartmut Bleumer der ‚Perspektive‘ zum Anschein terminologischer Ungenauigkeit, wenn semantische Aspekte im Spiel bleiben.23 Darum sind paradoxerweise gerade histoire-Narratologien, obwohl sie die Handlungsebene betrachten, keine Handlungstheorien, sondern haben es mit den Tiefenstrukturen von diskursiven Bezeichnungs- und Repräsentationsprozessen zu tun. Und genau gegenläufig dazu sind dann discours-Narratologien, obwohl sie an der sprachlichen Äußerung ansetzen, letztlich nur sehr oberflächlich am Diskursbegriff orientiert, zielen sie doch gerade auf das, was man bei der histoire-Narratologie vielleicht zuerst vermuten könnte: Sie konzentrieren sich auf den narrativen Akt und damit auf den Begriff einer mehr oder minder dramatisierten Handlung des Erzählens. Und je nachdem, wie strikt diese gegenläufigen Tendenzen auf beiden Seiten umgesetzt werden, sind die semantisch-poetischen Konzepte, wie angedeutet, eher interpretierend, die pragmatisch-mimetischen eher beschreibend. Mit den gegenläufigen Tendenzen von wissenschaftlicher Interpretation und Deskription können diese beiden idealtypischen Narratologiekonzepte nun schon deshalb keine alternativen Modelle ergeben, weil bereits im Erzählen selbst Narration und Deskription beständig korreliert werden. Die wissenschaftsgeschichtliche Differenz wird so in der narrativen Praxis immer schon geschlossen. In diesem Sinne ist nun das Modell von Schmid durch seine forschungsgeschichtlich-integrative Genese gezielt doppelt bestimmt und damit grenzüberschreitend: Es vereinigt die semantisch-poetischen mit den mimetisch-pragmatischen Theorieanteilen in seinen Begriffen, es zielt auf Interpretation und Deskription, es ist anschlussfähig für narrative Hermeneutiken wie für die Konzepte der Rhetorik. Darum ist es auch gezielt in zwei Richtungen lesbar und historisch ausbaufähig. Es müsste darum insb. auch geeignet sein, das terminologisch schwierige Verhältnis der germanistisch-mediävistischen Ansätze zur Narratologie zu klären.

3 Die narrativen Ebenen Schmids Erzähltheorie zufolge lässt sich der Erzähltext auf der Basis eines paradoxalen Ebenenmodells begreifen, in dem jeweils die nächsthöhere Ebene die darunterliegende impliziert, umgekehrt aber auch die jeweils untere Ebene die höhere fundiert. Vereinfacht gesagt: Der Erzähler scheint über die Geschichte und ihre Per|| 23 Vgl. die umstrittenen Kategorien der ‚Fokalisierung‘ und der ‚Stimme‘ bei Gérard Genette: Die Erzählung, 132–138, 151–188, als Kritik der älteren Bestimmungen insb. von Percy Lubbock: The craft of fiction und Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen. Ferner dazu die, von Genette später polemisch zurückgewiesene, diskursnarratologischen Pointierungen von Mieke Bal: Narratology, 100–114, die jedoch viel zur Verbreitung der Termini beigetragen haben. Vgl. die germanistisch-mediävistischen Einwände bei Gert Hübner: Erzählform, 24f., ders.: „Fokalisierung“, 132–134. Zur weiteren Kritik genauer unten nach Anm. 55.

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spektivierungen ein Geschehen zu entwerfen. Dieses Geschehen ist aber paradoxerweise semantisch reicher als der Entwurf, durch den es evoziert wurde. Darum scheint das Geschehen umgekehrt wiederum den Prozess der Geschichte wie auch die Narrationstätigkeit des Erzählers zu fundieren. Das Erzählen bringt so das Erzählte, das Erzählte aber auch das Erzählen hervor; wo aber dieser Zirkel beginnt, ist schwer zu sagen. Das ist die doppelte Korrelation des Erzählens bei Schmid, und sie dürfte im Erzählen unhintergehbar sein. Darum könnte man im Modell von Schmid geradezu von einem narrativen Korrelationsapriori sprechen.

3.1 Geschehen und Geschichte Das Korrelationsapriori ermöglicht es, mit der zentralen konzeptuellen Spannung aller Erzähltheorien umzugehen: Erzähltheorien vereinigen, wie die Erzählung selbst, narrative und nicht-narrative Kategorien. Ihre Leistungsfähigkeit hängt damit nicht zuletzt von der Anerkennung des Nicht-Narrativen ab, das in die Begriffe der Erzähltheorie integriert werden muss. Als derart nicht-narrative Modellbasis dient das Geschehen: die Fülle aller Geschehensmomente, wie sie im Ablauf der Zeit vorliegen. Das Geschehen fungiert dabei als semantische Substanz oder elementarer Inhalt, wobei seine Elemente freilich als semantisch polyvalent und im Fluss des Geschehens amalgamiert gedacht sind. Die erste eigentlich narrative Kategorie, die dann mit dem nicht-narrativen Begriff des Geschehens korreliert, ist die der Geschichte. Die Geschichte selegiert aus dem Geschehen einzelne Elemente, die durch den Selektionsakt in den Rang von narrativen Ereignissen gehoben werden. Dieser Akt ist nicht zuletzt auch eine verknüpfende Tätigkeit: Geschichte ist demnach eine selegierende und kombinierende Struktur, in der die semantische Substanz bzw. die Inhalte des Geschehens spezifiziert bzw. geformt werden.24 Ereignishaft wird ein Geschehnis in ihr aber erst dadurch, dass es als unvorhergesehen erscheint, d. h. von den durch den konventionellen Geschehensfluss gebildeten Normen abweicht. Diese Normabweichung findet sich sogar in der Struktur des narrativen Ereignisses selbst wieder, sie verleiht diesem Ereignis eine paradoxe Identität zwischen Diffe|| 24 Das Inhalt-Form-Problem des Formalismus (wie Anm. 18) ist von allgemeinerer als nur erzähltheoretischer Art, es durchzieht Erzähltheorie und Sprachtheorie gleichermaßen von Anfang an und kann daher hier nicht einmal ansatzweise hinlänglich erörtert werden. Der plausibelste Ausgangspunkt zu seinem Verständnis für die Erzähltheorie scheint mir die Gedankenfigur in der Diskussion des Verhältnisses von Substanz und Form bei Aristoteles: Physik, 1,7–9, 189b–192b, zu sein, die mit verschiedenen Nomenklaturen und ohne expliziten Bezug auf Aristoteles z. B. auch in der Narratologie verschiedentlich wiederkehrt. Denn hier wird am Beispielsatz „ein Mensch wird gebildet“ die Vorstellung einer gleichbleibenden Substanz mit einem durch ein Oppositionsverhältnis bestimmten Formbegriff auf eine ähnliche Weise korreliert, wie dies in verschiedenen Verwendungen des Geschichts- oder Sujetbegriffs der Fall ist.

220 | Hartmut Bleumer renz und Äquivalenz: Vom nicht-narrativen Geschehensmoment oder Geschehnis unterscheidet sich das narrative Ereignis nämlich dadurch, dass es über eine Zustandsveränderung interpretiert werden kann, in der also bei ein und demselben Geschehnis (x) ein Ausgangszustand A einem davon differenten Endzustand B entspricht. Es gilt also einerseits die schon in den Termen angezeigte Differenz zwischen Anfang und Ende (A≠B), aber andererseits auch die über x gesicherte Identität (A=B). Damit ist in der Zustandsveränderung des narrativen Ereignisses zwischen A und B die narrative Struktur der Geschichte mit Anfang und Ende bereits angedeutet, die sich dann in der Kombination mehrerer solcher Ereignisse ergibt. Sie ist die der Metapher.25 Gegenüber dem Geschehen vollzieht die Geschichte so eine narrative Grundkombination des selegierten semantischen Materials. Zahlreiche Erzähltheorien betonen in diesem Zusammenhang, dass für die Erklärungs- oder Interpretationsleistungen der Geschichte kausale bzw. finale Motivationen zentral seien. Mit Schmid sind diese Motivationen als kulturhistorische Inferenzkategorien aufzufassen, d. h. warum oder wozu sich etwas ereignet, wird oftmals nicht expliziert, sondern das Warum oder Wozu muss mithilfe des historischen Kontextwissens erschlossen oder als kulturelle Implikation ergänzt werden.26 Sinnvoll ist diese Begriffsverwendung damit insb. für die historische Narratologie, allerdings nur, wenn die im russischen Formalismus angelegte, terminologische Unterscheidung zwischen Motivation und Motivierung beachtet wird. Darüber hinaus gilt schon für die Geschichte nach Schmid der Satz: „Ohne Perspektive gibt es keine Geschichte“27. Damit ist in Anlehnung an die Poetik von Boris Uspenskij gemeint,28 dass dem Selektions- und Strukturierungsprozess der Geschichte immer auch eine ideologische Komponente innewohnt, die Geschichte also stets eine Axiologie besitzen muss. Die Geschichte nimmt demnach, so wäre zu ergänzen, gegenüber dem Geschehen nicht nur Selektionen und Kombinationen vor, sie führt auch axiologische Besetzungen durch. Man könnte daher auch zuspitzen und umformulieren: Ohne Werte keine Geschichte. Um den Prozess der axiologischen Besetzung und seine prinzipielle Relevanz für die Unterscheidung in semantische und nur handlungspragmatische Geschichtskonzepte genauer zu fassen, empfiehlt es sich, die mehrdeutigen Anregungen von Uspenskij zurückzustellen, die auf der Ebene von Erzählung und Erzähler || 25 Vgl. das Gleichheitsparadox als Ausgangpunkt der Überlegungen von Gottlob Frege: „Über Sinn und Bedeutung“. Die in der Formel enthaltene paradoxe Zuschreibung entfaltet die Metapherntheorie von Paul Ricœur: Die lebendige Metapher, die sich daher ausdrücklich auf die Begriffe Sinn und Bedeutung nach Frege bezieht (II u. 210). Zur entsprechenden Grundrelation in Ereignis und Geschichte Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 14–16, 19f. Zur Metapher s. u., nach Anm. 98. Zur Leistung der Metapher vgl. den Beitrag zu Udo Friedrich i. vorl. Bd. 26 Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 4f. Die Inferenzannahme ist systematisch begründet bei Fotis Jannidis: Figur und Person, 47–52, 80–82. 27 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 121. 28 Vgl. Boris Uspenskij: Poetik der Komposition, bes. 17–25.

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angesiedelt sind. Stattdessen sei das striktere Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas herangezogen, das die Geschichtsebene beschreibt.29 Demnach wäre die Geschichte über elementare narrative Terme oder Aktanten definiert, die sämtlich in Oppositionsbeziehung zueinander stehen (Subjekt–Objekt; Gegner–Helfer; Sender– Empfänger). Von diesen Termen sind die konkreten Akteure oder Figuren insofern zu unterscheiden, als Figuren oder Akteure verschiedene gesellschaftliche Rollen tragen können, während die Aktanten bereits die elementaren Träger der Figuren sind. Mit Hilfe dieser elementaren Terme lässt sich dann wiederum die Geschichte bestimmen als eine entsprechend elementare Ausgleichsbewegung in der Schrittfolge aus Konfrontation, Domination und Attribution. Perspektivisch wird diese Schrittfolge vom Subjekt her definiert: Ein Subjekt fungiert als Sender, der ein Objekt abgibt, das im Konflikt mit dem Gegner, der vom Subjekt dominiert werden muss, dem Subjekt selbst oder aber einem anderen Empfänger attribuiert wird. Diese Schrittfolge ist indes nur zyklisch, in ihr mag das Subjekt einen Gewinn verzeichnen, aber mit Blick auf das narrative Syntagma kommt nichts heraus, was nicht schon in ihm enthalten war: Das Objekt wechselt nur die Seite. Und das könnte es eben aufs Neue tun. Dazu wäre nur ein Perspektivenwechsel nötig, wenn etwa der vormalige Gegner als Subjekt definiert würde, das der Geschichte sozusagen seine eigene Perspektive aufprägt. Damit zeichnen sich bereits hier zwei gegenläufige Interessen im Antagonismus der Geschichte ab, durch die jede Geschichte zwei Seiten gewinnen kann. Schon im russischen Formalismus hat man die perspektivischen Möglichkeiten dieser doppelten Handlungsführung gesehen, und die sich dadurch spaltenden Handlungslinien von Protagonisten und Antagonist als Intrige bezeichnet.30 Arretiert wird dieser Kreislauf der Objekte zwischen den Intrigen erst – wie Greimas später gesehen hat – durch die Axiologie, mit der im Übrigen auch eine der Intrigen als maßgebliche bestimmt werden kann.31 Und das heißt weiter: Perspektive und Axiologie hängen in basaler Weise zusammen. In den Mechanismen der Axiologie bzw. Wertordnung gewinnt das Aktantenmodell seine entscheidende Pointe, weil es durch die verschiedenen Wertebenen eigentlich erst von einem handlungspraktischen zu einem semantischen Modell wird. So vermag das narrative Syntagma durch die Axiologie überhaupt erst sinnvoll seinen Anfang und sein Ende zu definieren, d. h. erst durch diese wird es narrativ im Sinne einer Geschichte. Und gerade darin erlaubt die Ordnung der Werte einen ersten Einblick in die Produktion des semantischen Mehrwerts durch die narrative Struktur – als semantische Perspektive.

|| 29 Dessen – noch unvollständige – Basis liefert: Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik, 157–177; ders.: „Die Struktur der Erzählaktanten“, ders.: „Elements of a narrative grammar“. Zu den späteren Ergänzungen im Folgenden. 30 Vgl. Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur, 216. 31 Vgl. Algirdas Julien Greimas: „A problem of narrative semiotics“.

222 | Hartmut Bleumer Solange man nur handlungsimmanent zwischen subjektiven und objektiven Werten unterscheidet, bleibt dieser semantische Mehrwert noch unentdeckt, die Handlungsanalyse bleibt syntaktisch und vollzieht sich in einem geschlossenen Wertesystem. Hier verläuft auch der Austausch der Werte im Kreise: Wenn ein Objekt von einem Subjekt begehrt wird, so erscheint es für dieses durch das Begehren als wertvoll, es wird zu einem objektiven Wert. Diese objektive Valorisierung kann eine subjektive nach sich ziehen: wenn nämlich zusätzlich, um den objektiven Wert zu erlangen, ein Wissen oder Können nötig wird, das den Subjektaktanten modifiziert. Diese Werte des Wissens oder Könnens bezeichnet Greimas als subjektive oder modale Werte. Diese Werte wären mit den Ansprüchen einer handlungspragmatischen Geschichtskonzeption noch zu verrechnen, in der lediglich kausale und finale Motivationen berücksichtigt werden müssen. Sie erklären, warum ein Objekt gewonnen wird oder aber wozu ein modaler Wert nötig ist. Dabei ist der Zusammenhang der Werte und Motivationen ebenso deutlich: So zielt der Gewinn der subjektiven oder modalen Werte syntagmatisch zuerst auf den Gewinn von objektiven Werten.32 Erst wenn man das Modell stärker paradigmatisch auffasst, öffnet sich auch das System der Werte: Dann lassen sich von den immanenten Werten die transzendenten Werte unterscheiden. Damit beginnt das Aktantenmodell seine spezifisch semantische Potenz zu entwickeln, und damit hebt es sich auch von der einfachen kausalen Logik einer nur pragmatischen Geschichtsauffassung ab. Die transzendenten Werte übersteigen die nur immanenten modalen Werte nämlich darin, dass sie nicht zyklisch sind, weil sie keiner zweckrationalen Orientierung unterliegen. Vielmehr sind sie transsubstanzielle kommunikative Akte, in denen der Sender einen paradigmatischen Status besitzt. Darum kann der Sender einen transzendenten Wert abgeben, der z. B. einen immanenten Gegenstand oder ein Subjekt transzendent valorisiert, ohne darum selbst an Wert zu verlieren. Dieses Konzept des transzendenten Wertes muss gerade für eine mediävistische Narratologie interessant sein. Gleichwohl hat man ausgerechnet hier die entscheidende Pointe des Greimasschen Ansatzes, im Gefolge einer Kritik von Rainer Warning am Beispiel des arthurischen Romans Chrétienscher Prägung, schlicht ignoriert.33 Der Gedanke, dass Informationsvergabe nicht automatisch für den Sender einen Verlust bedeuten muss, nur weil er die Information danach mit dem Empfänger teilt, folgt nämlich einer typisch repräsentativen Logik mittelalterlichen Erzählens, wie schon das Beispiel bei Greimas andeutet: „Even when the queen of England has one by one delegated all of her powers to duly constitued bodies, she remains the

|| 32 Vgl. ders.: „Elements of a narrative grammar“, 78–83. 33 Vgl. Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution“, 558–561; die eigentümliche Arretierung der Greimas-Rezeption durch Warning dokumentiert sich zuletzt in der entsprechend verkürzten Rezeption bei Armin Schulz: Erzähltheorie, 171–176.

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supreme souverein.“34 Wichtig ist also der paradigmatische Status der transzendenten Werte im Verhältnis zur syntagmatischen Auffassung der immanenten Werte. Greimas hat hier das Feld der gesellschaftlichen Werte im Auge, über die sich die Handlung letztlich als Ganzes legitimiert. Das Verhältnis der immanenten Werte im Handlungsverlauf ist damit zunächst nur homöostatisch:35 Gerät es in ein Ungleichgewicht, so ergibt sich eine narrative Dynamik, die erst dann wieder zum Stillstand kommt, wenn das vormalige Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Damit ist aber auch endlich klar, inwiefern die Perspektivierung eine Frage der Werte ist: Denn nicht schon diese immanente, sondern erst die weitere transzendente Wertsetzung markiert das Subjekt, gibt also vor, dass die Handlung aus seiner Perspektive her gelesen werden muss, und überschreitet zugleich den einfachen homöostatischen Mechanismus. Vereinfacht gesagt: Das Subjekt erscheint nicht nur als Träger eines Könnens oder Wissens, sondern wird positiv besetzt; es erscheint als Träger des Guten. Und wenn das Gute siegt, hat die Geschichte ein sinnvolles Ende. Nur ist das narrativ eingespielte Gute damit nicht einfach kognitiv zugänglich wie die modalen Werte des Könnens oder Wissens; die transzendenten Werte in der Geschichte fordern vielmehr die hermeneutische Bewegung des Verstehens. Mit den gesellschaftlichen Axiologien erweist sich so erst der Sinn der Geschichte. Auf diese Weise lässt sich also die Vorstellung zur Perspektive von Schmid von Seiten der narrativen Tiefensemantik präzisieren: Ohne Werte keine Geschichte.

3.2 Erzählung und Komposition Die Ebene der Erzählung impliziert die Ebene der Geschichte, so wie diese wiederum das Geschehen impliziert, sie lässt zugleich die Möglichkeiten der Perspektive explizit werden, die in der Geschichte als axiologische Implikationen wirksam sind. Durch diese Explizitheit werden die verschiedenen Gegebenheiten der Perspektive erst hier manifest und entsprechend in anderen Erzähltheorien auf dieser Ebene fixiert. Die Erzählung kann dazu vorab generell definiert werden als der sprachlichartifizielle Entwurf der Geschichte durch eine implizite oder explizite Erzählinstanz. Die Erzählung handelt also nicht nur von Geschehen und Geschichte, in ihr handelt zugleich auch der Erzähler. Hervorzuheben ist daran zunächst, dass die Erzählung die ihr voraufgehenden Ebenen immer einer künstlichen Komposition unterzieht, gleichgültig, ob diese Künstlichkeit sichtbar wird oder latent bleibt. Sichtbarkeit und Latenz der künstlichen Komposition ergeben nämlich, in Fortschreibung der Motivationsbegriffe der

|| 34 Algirdas Julien Greimas: „A problem of narrative semiotics“, 103. 35 Begriff nach Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, 18.

224 | Hartmut Bleumer Geschichte, auf der Ebene der Erzählung zwei Motivierungsbegriffe.36 Zur kausalen und finalen Motivation stellen sich an dieser Stelle die kompositorische und die realistische Motivierung. In der Regel wird dazu nur, wie bei Schmid, betont, dass sich diese narrative Komposition vor allem gegen die natürliche Chronologie vollzieht und z. B. in Vor- und Rückgriffen bestehen kann.37 Der Kompositionscharakter ist dann sichtbar: Schon durch die zeitliche Ordnung werden so semantische Zusammenhänge in der Motivwahl und -gestaltung akzentuiert. Diese Motivierungsart wird im Rahmen der mediävistischen Diskussionen auch nach Clemens Lugowski – terminologisch eher verrätselnd, aber dem semantischen Mechanismus nach einschlägig – als Motivation von hinten bezeichnet. Um die gewonnenen Differenzierungen nicht zu verunklären, wird im Folgenden der unfreiwillig an den Motivationsbegriff erinnernde Ausdruck ‚Motivation von hinten‘ zugunsten des Motivierungsbegriffs gemieden. Das dahinterstehende Konzept kehrt aber in der kompositorischen Motivierung wieder.38 Der Begriff der kompositorischen Motivierung ist dadurch nicht nur komplexer als der zuvor genannte Motivationsbegriff, sondern er ermöglicht es auch, die Konzepte von kausaler und finaler Motivation vollends durchschaubar zu machen: Denn erst hier zeigt sich, dass die Erzählung ebenso auf den semantischen Gegebenheiten von Geschehen und Geschichte beruht, wie sie umgekehrt diese interpretatorisch überhaupt erst konstituiert. Zur Verdeutlichung empfiehlt es sich, vom einfachsten Fall auszugehen: Nur kompositorisch motiviert ist ein Ereignis, das weder durch eine kausale noch durch eine finale Motivation erklärt werden kann, gerade dadurch als auffällig und signifikant erscheint und damit schließlich den Sinn des Dargestellten aufschließt. Solche kompositorisch bedingten Elemente bilden einen rein thematischen, überzeitlichen Zusammenhang.39 Sie können als Motive wiederum konventionell sein und damit || 36 Vgl. die Distinktionen in der Zusammenschau bei Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, 197–200, der 199, Anm. 373, das Verwirrende an den Begriffsvarianten bei Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur, 227–237, festhält, die dann jedoch in der Germanistik über den Ansatz von Matías Martínez: Doppelte Welten, einen deutlichen Erfolg gehabt haben. 37 Vgl. zuerst systematisch Eberhart Lämmert: Bauformen des Erzählens, 73–194, sowie prominenter danach Gérard Genette: Die Erzählung, 21–80. 38 Vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität, 66–83; die treffendste Zusammenfassung dazu liefert für die Mediävistik Annette Gerok-Reiter: „Erec, Enite und Lugowski, C.“, 135f., 146f. Vgl. auch Matíaz Martínez: Doppelte Welten, 15–36; ders.: „Formaler Mythos“, der die Begriffsunterscheidung von Motivation und Motivierung in seiner Konzeption von ‚kompositorischer‘ und ‚finaler Motivation‘ ausdrücklich unterläuft, offenbar, weil er Lugowskis semantischen Ansatz als handlungspragmatischen auffasst. In komplizierter Auseinandersetzung mit dieser Schwierigkeit Anne Sophie Meincke: Finalität und Erzählstruktur. 39 Vgl. zur thematischen Begründung Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur, 211–214. Clemens Lugowski: Formen der Individualität, 61–66, fasst diesen thematischen Zusammenhang unter dem Begriff des ‚Gehabtsein‘, womit gemeint ist, dass sich Handlungen von Figuren unter kompositorischem Gesichtspunkt zuerst als Artikulationen eines thematischen Zusammenhangs und nicht

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ihrerseits von vornherein die Erwartung an bestimmte nachfolgende Erzählelemente wecken, sie können aber auch als Kompositionselemente ihrerseits eine bereits kompositorisch geweckte Erwartung erfüllen. Ist diese geweckte oder erfüllte Erwartung auf die Konstruktion einer konkreten Wirklichkeit ausgerichtet, so spricht man von einer realistischen Motivierung. In dieser Motivierungsart zeigt sich die Komplexität der kompositorischen Motivierung in ihrer extremsten Verfeinerungsform: Die realistische Motivierung ist nämlich letztlich nur eine Sonderform der kompositorischen; sie ist ebenfalls vorrangig thematisch und um nichts weniger konstruiert als diese, nur zielt ihre Konstruktion gerade nicht auf eine kompositorisch sichtbare Bearbeitung des Themas, sondern auf eine dezidiert topische Wirklichkeitsauffassung, zu deren Gunsten sich die narrative Komposition so weit wie möglich selbst zum Verschwinden bringt. Die Latenz der kompositorischen Semantik gilt im mittelalterlichen Erzählen gerade auch dort, wo das dargestellte Geschehen noch nicht kompositorisch bewältigt werden kann: Im historiographischen Bericht vor dem Hintergrund der narrativen Metakompositition der Heilsgeschichte. Dieser schildert nicht etwa einfach historische Geschehnisse von kruder Faktizität. So ist das historische Erzählen antiker Stoffe, insb. des Alexander- und Trojaromans, durch seine Vorlagen am Verhältnis von Geschehen und Geschichte orientiert und damit zugleich zwar deutlich weniger schematisch-erzählend als episodisch-berichtend. Wählt man etwa den Alexanderroman als Beispiel, so schwankt dieser, je nach Fassung, zwischen einem die gegenläufigen Lesarten der Geschichte austarrierenden Eroberungsnarrativ und einem Entdeckungsbericht. Doch gerade weil die Basis des Erzählens die materia eines historischen Geschehens ist, dessen Zeitordnung sich latent schon durch die Heilsgeschichte bestimmt sieht, hat diese materia eine unentdeckte Semantik.40 Die Ereignisse um die vorchristliche Gestalt Alexanders des Großen warten damit geradezu auf ihre sinnstiftende Einordung in die narrative Kompositionsform der Heilsgeschichte, die insb. dem Protagonisten selbst als vorchristlichem Helden noch nicht einsehbar sein kann. Damit kann das Beispiel den semantischen Mechanismus des bisher exponierten Erzählmodells aber auch generell illustrieren: Das Geschehen erscheint im Erzählen immer zuerst als ein allgemeiner semantischer Zusammenhang, oder in strukturaler Terminologie gesagt: Die Geschehensmomente besitzen eine noch unspezifische Bedeutungsgleichheit oder Isotopie.41 Die Geschichte beginnt mit einer || schon von realen Antrieben her bestimmt lesen lassen. So ist beim Thema ‚Liebe‘ diese nicht einfach der reale Antrieb des Handelns, sondern die Figuren handeln im Erzählkunstwerk als Ausdrucksformen der Liebe. 40 Vgl. Gert Hübner/Armin Schulz: „Mittelalter“, 200, hier die Rückführung der historischen Geschehensorientierung an das rhetorische evidentia-Konzept. Zur histoire-Ebene der Alexanderromane mit der genannten narratologischen Begrifflichkeit: Hartmut Bleumer: „Alexanders Welt“. 41 Vgl. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik, 60–92.

226 | Hartmut Bleumer Interpretation der isotopen Geschehnisse, indem sie diese als Ereignisse spezifiziert und evaluiert: Die semantische Perspektive wird durch die axiologischen Besetzungen im Zusammenspiel von syntagmatisch-immanenten und paradigmatisch-transzendenten Werten gewonnen. Dabei stehen die transzendenten Werte nicht nur im Zusammenhang mit den thematischen Rollen der Figuren in der Geschichte, sie sind vor allem auch dem Thema der narrativen Komposition auf der Ebene der Erzählung geschuldet. Die thematische Komposition der Erzählung bildet so letztlich die Interpretationsfigur zur semantischen Isotopie des Geschehens und deren spezifizierenden Wertbesetzungen durch die Geschichte. Die allgemeine Bedeutung des Geschehens wird derart über Geschichte und Erzählung zum konkreten narrativen Sinn. Oder noch einmal am Beispiel der Alexanderfigur konkretisiert: Alexander agiert in vorchristlicher Zeit bereits in dem ihm noch unklaren semantischen Zusammenhang des Weltgeschehens; sein Handeln bildet syntagmatisch vernehmliche Isotopien um Macht und Herrschaft aus. Interpretieren lassen sich seine Taten aber erst durch die Geschichte kommenden Heils, in der jene Wertbesetzungen von Gut und Böse möglich werden, die Alexanders Anfang und Ende narrativ verständlich machen, sowie weiter durch die paradigmatisch wirksamen thematischen Rollen des Handelns (als Sohn, Krieger, Heerführer, König, Eroberer und Entdecker) bzw. die überzeitliche thematische Spezifizierung der Erzählung. Und so ist die Frage ‚Wer war Alexander?‘ nicht einfach eine Frage seiner praktischen Handlungen, sie ist eine Frage ihrer Thematik und ihres kompositorischen Zusammenhangs in der Erzählung vom konkret kommenden, aber im Geschehen immer schon latent anwesenden Heil. Das Beispiel des vorchristlichen, heilsgeschichtlich gewissermaßen frühzeitlichen Protagonisten Alexander dürfte so vor allem auch ein Desiderat des Erzählens markieren, nämlich zugunsten einer frühzeitigen Interpretation die Geschehensmomente als narrative Ereignisse in von vornherein erkennbare narrative Kompositionsverläufe einzuordnen. Wird dieses Desiderat gezielt über die Verwendung konventioneller Erzählelemente in eine Erwartung an vorgeprägte narrative Kompositionsverläufe der Erzählung ausgelegt, spricht man von Erzählschemata oder Erzählschablonen,42 die ohne historische Inferenzmuster nicht lesbar sind, weil sie selbst historisch-literarische Inferenzmuster sind. D. h., ist die Erwartung an ein Erzählschema über eines oder mehrere seiner charakteristischen Elemente einmal akti-

|| 42 Der in seiner Anschaulichkeit nützliche Begriff der Erzählschablone für stärker standardisierte Schemata und die systematischen Binnendifferenzierungen des Schemabegriffs nach Thema, Handlungsschema, Fabel, Motiv und Handlungsformel in der frühen germanistischen Mediävistik nach Theodor Frings und Max Braun: Brautwerbung, 8, haben sich nicht durchgesetzt. Zum Schemabegriff zusammenfassend Hartmut Bleumer: „Schemaspiele“, 192–195; vgl. als Überblick zu den wichtigsten Großschemata, zugleich als Illustration des zum Teil recht ambivalenten Schemabegriffs in der Interpretationspraxis Armin Schulz: Erzähltheorie, 191–291, und ders./Gert Hübner: „Mittelalter“, 187–193.

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viert, so ist diese Erwartung in idealtypischer Weise wirksam, auch wenn bzw. gerade weil das konkrete Erzählen von der erwarteten idealtypischen Kompositionslinie immer wieder abweicht. Die germanistische Mediävistik diskutiert die dabei auftretende semantische Wirkung von Erzählschemata vor allem für die nibelungische Heldenepik und die sog. Spielmannsepik am Beispiel des Brautwerbungsschemas.43 Zu nennen wäre aber auch mit Blick auf die Dietrichepik zum einen das historische Exil- und Rückkehrschema bzw. das aventiurehafte Herausforderungs- und Befreiungsschema.44 Ähnlich schematisch organisiert sind auch volkssprachige Legenden, deren Grundmuster sich nach Bekenner- oder Märtyrerschema haben typisieren lassen.45 Und für Formen des sogenannten Aventiure- und Minneromans scheint man ein episodisch gestrecktes Schema, das der Reiseerzählung, geltend machen zu können.46 Je weiter das Erzählen aventiurehaft wird, desto problematischer wird jedoch der Schemabegriff. Das gilt dann insb. für den arthurischen Roman, der diesen Begriff gezielt auflöst. Dennoch wird er gerade hier häufig gebraucht: anhand des sog. Doppelwegschemas. Dessen forschungsgeschichtliche Dominanz leitet sich vom überlieferungsgeschichtlichen Sonderfall des Erec Hartmanns von Aue her, dessen Kompositionsform sich in enger Orientierung an der äußerlichen Handlung des männlichen Protagonisten als ‚gestufter Doppelweg‘ hat beschreiben lassen.47 Diese Kompositionsform wird dann in der Regel für die Gattungsentwicklung als prägendes Muster gesetzt, wiewohl der tatsächlich prägende Text im Mittelhochdeutschen eigentlich der ‚Iwein‘ ist.

|| 43 Als Überblick grundlegend Christian Schmid-Cadalbert: Der ‚Ortnit AW‘. Zur Schemaverwendung im ‚Nibelungenlied‘ mit ausdrücklichem narratologischem Anspruch Peter Strohschneider: „Einfache Regeln – komplexe Strukturen“, zu den durch den darin wiederkehrenden aktantiellen Zirkel (s. o., nach Anm. 31) auftretenden semantischen Defiziten der histoire-Ebene und deren metaphorischen Überwindungsmöglichkeiten Hartmut Bleumer: „Der Tod des Heros“. Diesem Zirkel entgeht man auch auf der discours-Ebene durch die Beschreibung der semantisch produktiven Binnenkonkurrenz von finaler Motivation und kompositorischer Motivierung im Brautwerbungsschema, wie zuletzt Stephanie Seidl: „Der Herr über dem Schema“, gezeigt hat. 44 Vgl. Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik, 186. 45 Vgl. Edith Feistner: Historische Typologie, 26–43. 46 Vgl. dazu den Ansatz einer schematisierenden Segmentierung auf der histoire-Ebene bei Armin Schulz: Poetik des Hybriden, 45–63. 47 Vgl. paradigmatisch Hugo Kuhn: „Erec“, und die ebenso prägende Weiterentwicklung bei Walter Haug: Literaturtheorie, 93–100. Die Fülle der daran anschließenden Beiträge ist immens, die darin jeweils gewonnenen narratologischen Einsichten wären detailliert auszuwerten, denn sie sind oftmals impliziter Natur. Dies verdankt sich dem von Kuhn ererbten, bei Haug vollends ausgerundeten, selbst narrativen Interpretationsverfahren aus Nacherzählung, Rekomposition und Interpretation. Es handelt sich dabei ganz offensichtlich um das im Folgenden zu erörternde Strukturprinzip der Erzählung, das als narratives Interpretationsverfahren wieder auf den narrativen Text angewandt wird, dem es entstammt. Der darin liegende methodische Zirkel wäre immer noch aufzuklären. Vgl. nur als Zwischenbilanz zu seiner Produktivität den Sammelband: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur.

228 | Hartmut Bleumer Sich auf den Iwein für den Schemabegriff zu beziehen, wäre nun insofern noch zutreffend, als dieser Text u. a. das auch außerhalb des Artusromans verbreitete Schema der Gestörten Martenehe bzw. das des Feenmärchens verwendet.48 Das Prinzip des gestuften Doppelweges im Iwein erweist sich demgegenüber gerade nicht in einem Schema, vielmehr geht es dem diesen Weg generierenden Strukturprinzip des Erzählens dezidiert um die Auflösung schematischer Gewissheiten, d. h. im Iwein geht es konkret um die Auflösung des Feenmärchens:49 Das Erzählen zielt im Namen der Aventiure (aus lat. adventura, das, was auf jemanden zukommt)50 auf die narrative Bewältigung des schematisch eben nicht Erwartbaren, es zielt auf die narrative Interpretation des unvorhergesehen Ereignisses, zu dessen Verständnis vom Rezipienten die richtige Lesart immer erst gefunden werden muss: Über eine spezifische Variante des narrativen Korrelationsprinzips, das in sich wechselseitig spiegelnden und bezeichnenden Episoden zur Geltung kommt. Mit dieser Korrelationsvariante könnte sich der Kreis zum heilsgeschichtlichen Denken schließen, freilich im Bereich der fiktionalen Poesie, was noch zu erörtern sein wird.51 Vorerst heißt das nur: Der gestufte Doppelweg, der zuvor auch den Erec prägt, ist zwar ebenfalls das Ergebnis dieses Prozesses, seinem Strukturprinzip nach ist aber gerade er ein AntiSchema, das seinen Sinn nicht, wie etwa das Brautwerbungsschema, aus der Umbesetzung einer schematisch schon mitgegebenen Semantik bezieht, sondern seinen Sinn erst in einer eigenständig wirksamen ‚Symbolstruktur‘ konstituiert.52 Sowohl für das schematische wie das antischematische Erzählen gilt indes, dass dessen Kompositionsverläufe dann mit Hilfe der historischen Inferenzen vom Rezipienten im Sinne eines reading for the plot gesucht und konstituiert oder aber gegen die Schemaerwartung dekomponiert und rekomponiert werden müssen.53 Zusammenfassend wäre somit für die Ebene der Erzählung anzumerken, dass der sie konstituierende Kompositionsakt gegenüber dem Modell von Schmid nicht nur aus mediävistischer Sicht konsequenter zu betonen ist. Die Erzählung ordnet die Geschichte nicht nur in zeitlicher Hinsicht artifiziell um; vielmehr ist sie immer artifiziell, gerade auch in ihrer scheinbar natürlich-realistischen chronologischen Ordnung. Wie das Prinzip der Geschichte das der Selektion, Kombination und axio|| 48 Zuerst Friedrich Panzer: Merlin und Seifried de Ardemont, LXXIIIf. sowie Gustav Ehrismann: „Märchen im höfischen Epos“. Vgl. allgemein Christoph Huber: „Mythisches Erzählen“. 49 Vgl. Ralf Simon: Strukturalistische Poetik, 35–40, 123–139. 50 Vgl. zur narrativen Paradoxie der Aventiure mit den Forschungsnachweisen Hartmut Bleumer: „Im Feld der Aventiure“. 51 Siehe unten, 5.2, bes. zum Tropus der Ironie. 52 Die unfreiwillige schematische Verfestigung durch die Forschung dokumentiert sich bei Elisabeth Schmid: „Weg mit dem Doppelweg“. 53 Zur Dynamik dieses Prozesses grundsätzlich Peter Brooks: Reading for the plot, 3–61, unter Rekurs auf die Reihe der klassischen Positionen des Strukturalismus bis hin zum exemplarischen Versuch zur De- und Rekomposition von Roland Barthes: S/Z, 16f. In der Mediävistik am Bsp. des schematischen Erzählens exemplarisch Christian Kiening: „Arbeit am Muster“.

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logischer Besetzung ist, so ist das Prinzip der Erzählung das der Komposition, Dekomposition und Rekomposition als thematisches Verfahren. Dabei mögen die narrativen Kompositionsmuster historisch mehr oder weniger konventionell sein, wie sich insb. an mittelalterlichen Erzählverfahren zeigt. Vor allem ist damit die kompositorische Motivierung im Rahmen des Erzählschemas oder Plots primär semantisch ausgelegt. Sie modelliert einen thematischen Zusammenhang. Darum hat es den Anschein, als würde sie die Handlung im Nachhinein mit einem Sinn aufladen, der zugleich von vornherein immer schon gegeben ist. Weil über ihr Prinzip aber auch jene Elemente, die bereits über die kausale oder finale Motivation in der Geschichte hinlänglich definiert zu sein schienen, letztlich genauso in die höhere Kompositionsebene von konventionellen oder neuen Erzählmustern eingebunden sind, wird hier vollends deutlich: Auch kausal und final motivierte Ereignisse sind eben nicht nur von vornherein als einfache Handlungselemente anzusehen, sondern müssen ebenfalls bereits im Rahmen der Geschichte als semantische Einheiten verstanden werden. Dies führt gerade in Wirklichkeitserzählungen zu einem paradoxen Realitätseffekt von großer Wichtigkeit. Dieser Semantikprimat gilt nämlich erst recht auf der Ebene der Erzählung für die Komposition im Sinne einer realistischen Motivierung. Auch wenn man diese im Interesse von realistischen Wirklichkeitsentwürfen letztlich auf eine nur handlungspraktische Topik festlegen möchte, ergibt auch diese Form der narrativen Logik eine Ebene der Semantik.54 Auf der Ebene der Erzählung erscheinen die Ereignisse dann, als kleinste semantische Einheiten definiert, als Motive. Um es noch pointierter mit Blick auf die narrative Semantik zu sagen: In Wahrheit sind kausale und finale Motivationen nur basale Derivate der kompositorischen Motivierung auf der Geschichtsebene. Eben deshalb hat die spätere strukturale Erzählanalyse dort, wo auch bei ihnen der Semantikprimat durchscheint, der auf ihre kompositorische Herkunft verweist, von Erzählkeimen oder Erzählkernen gesprochen, die sowohl metonymische Handlungsfunktionen als auch metaphorische Sinnexponenten sind.55 Dieser Terminus kehrt in letzter Zeit, freilich ohne Bezug auf die narratologischen Vorprägungen, darum in einem abweichenden, gleichwohl anschlussfähigen Verständnis, in der germanistischen Mediävistik wieder.56 Nur aufgrund ihres elementaren Bedeutungsgehaltes können diese Erzählkerne dann im Rahmen der realistischen Motivierung der Erzählung ebenfalls als sinnvoll erscheinen: weil sie bereits eine implizite Semantik besitzen. Im Rahmen eines realisti|| 54 Vgl. dazu die Unterscheidung in den auf der Kompositionsebene verwendeten hermeneutischen Code und seinem auf der Ebene der Geschichte angesiedelten, handlungspraktischen, d. h. proaïretischen Code nach Roland Barthes: S/Z, 21–23, und Peter Brooks: Reading for the plot, 18, deren Korrelation demnach nachdrücklich zu betonen ist. 55 Vgl. Roland Barthes, „Einführung in die strukturale Analyse“, 109, 112; Seymour Chatman: Story and Discourse, 53–56. 56 Ausgehend von Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse, 29–34.

230 | Hartmut Bleumer schen Weltkonzeptes, das kausale Verknüpfungen privilegiert, ist es daher durchaus sinnvoll, nicht einfach nur von kausaler oder finaler Motivation innerhalb der Geschichte, sondern konkret immer auch im Sinne des Formalismus von einer realistischen Motivierung auf der Ebene der Erzählung zu sprechen, wenn der semantische Anspruch des Erzählens hinlänglich in den Blick kommen soll. Insgesamt gilt damit sowohl für die kompositorische wie für die realistische Motivierung, dass hier die Motive durch ihre Ausdrucksabsicht zwar von vorne gelesen werden, aber rekurrent organisiert sind. Denn nicht nur im poetischen Text gilt: „Das Motivierende ist um des Motivierten willen da.“57

3.3 Erzähler und Narration Betrachtet man die Erzählung noch nachdrücklicher in umgekehrter Ausrichtung, d. h. auch über die rückblickende Relation der Erzählinstanz bzw. des Erzählers zur Geschichte, dann wird zwar vollends der Weg zu jenen Kategorisierungen beschritten, denen vor allem Gérard Genette in seiner Schrift Die Erzählung ihr Gepräge gegeben hat: Sie ist der klassische erzähltheoretische Ort der Thematisierung der ‚Erzählperspektive‘, d. h. bei Genette vor allem in den Konzepten der sog. Fokalisierung und der Stimme. Diese Bezeichnungen sind aber, das sei sofort angemerkt, systematisch ebenso folgenreich wie historisch kurzsichtig.58 Beide Begriffe sind nämlich beschreibungsneutral, verfehlen jedoch gerade durch ihre Neutralisierung jene Werte der Geschichte, die an der narrativen Sinnkonstitution entscheidend beteiligt sind.59 Nach Genette bestimmt sich die Stimme – der Terminus hat mit dem Medium der Stimme zunächst nichts zu tun, sondern ist im Sinne der strukturalistischen Orientierung an linguistischen Grundkategorien aus der frz. Bezeichnung voix für das genus verbi gebildet – über ihren Grad der sprachlichen oder handelnden Beteiligung

|| 57 Clemens Lugowski: Formen der Individualität, 67. 58 Vgl. Gert Hübner: Erzählform, 24f., ders.: „Fokalisierung“, 132–134. Die uneingesehenen historischen Voraussetzungen bei Genette ließen sich vermehren, sie betreffen insb. den in zahlreichen Termini Genettes enthaltenen Grundbegriff der Diegese als das raumzeitliche Kontinuum des Erzählens. Dessen Koppelung an die historisch bedingte Vorstellung des Systemraumes schreibt die neuere Narratologie in den Verständnisschwierigkeiten gegenüber anders gearteten Raumbegriffen fort, wie sich in der Forschungsbilanz bei Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes, zeigt. Vgl. dagegen zur Alterität der historischen Raum- und Zeitkonzepte mittelalterlichen Erzählens grundlegend Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählung, deren Ansatz eine weitergehende historisch-narratologische Diskussion verdient, die hier nicht geleistet werden kann. 59 Vgl. zu der mit der Neutralisierung der narratologischen Beschreibungsbegriffe einhergehende Neutralisierung des Erzählens aus diskursnarratologischer Sicht Susan Sniader Lanser: The narrative act, 36–63.

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des Erzählers am Geschehen.60 Von hier aus ergeben sich nach Genette überhaupt erst narrative Ebenen, die er generell über das hierarchische Verhältnis von Redeakt und Redegegenstand definiert.61 Die Fokalisierung des Erzählers war zuvor ebenfalls über eine etwas mühsamere Analogie zu einer verbalen Flexionskategorie gebildet worden, nämlich im Rahmen der Kategorie des Modus, den Genette dabei gewissermaßen gegen die grammatische Grundbestimmung neutralisiert und von einer qualitativen in eine quantitative Unterscheidung umgewidmet hatte. Das macht die Fokalisierung immerhin zu einer gradationsfähigen Kategorie. Dabei zielt die Unterkategorie der Fokalisierung zwar sehr präzise im Sinne der Semantik des Präteritopräsens ‚wissen‘ auf das, was der Erzähler über die Geschichte weiß, d. h. was er in der Vergangenheit gesehen hat und darum aktuell über den Geschehensverlauf preisgeben kann. Die Grade der Fokalisierung werden bei Genette jedoch nur als ein ‚MehrWissen‘ oder ‚Weniger-Wissen‘ angegeben.62 Der Vorgang des ‚Sehens‘ wird mit dieser Aufspaltung der Erzählperspektive in Genettes Beschreibungsmodell scheinbar auf eine neutralere Beschreibungsebene gehoben und quantifizierbar. Nur geht das Erzählerwissen in solchen quantitativen Gradationen noch gar nicht auf. Denn der Erzähler weiß am Ende nicht einfach nur mehr, er weiß es besser. Narratives Wissen ergibt sich nicht aus einer bloßen Sammeltätigkeit in einer schon vorgefundenen Wirklichkeit. Ganz ähnlich ist die ‚Stimme‘, wenn sie allein über den Grad der Beteiligung am Geschehen taxiert wird, zwar prinzipiell nicht neutral, aber eben nur am Geschehen orientiert, und für den gänzlich unbeteiligten Erzähler taucht dann das Dilemma auf, dass dieser keinen Bezug zur Geschichte mit ihren axiologischen Besetzungen mehr hat, sondern nur mit Blick auf einen ihm äußerlichen Geschehensverlauf gedacht wird. Das widerspricht sogar Genettes eigener anfänglicher Basisdefinition, nach der ein Sprecher nur dann ein Erzähler ist, wenn er auch eine Geschichte erzählt. Eine nur auf das Geschehen bezogene Stimme wäre damit noch keine narrative Kategorie. Und wenn darüber hinaus gilt: ‚Ohne Wert und Perspektive keine Geschichte und Erzählung‘, dann sind die neutralisierten Begriffe ohne die Wertkategorie nicht nur unvollständig, ihr Modellkontext wird asemantisch. Für Fragen der historischen Semantik ist dieser letzte Aspekt von besonderer Relevanz: Die Neutralisierung der Begriffe führt zu einer Schieflage zwischen den

|| 60 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, 151. Diese Orientierung entspricht den programmatischen Forderungen von Todorov, z. B. ders.: „Sprache und Literatur“, 40, der vielfach, auch unausgewiesen, als Bezugspunkt dient. Vgl. dazu in der germanistischen Mediävistik die u. a. als Einwand gegen die historische Reichweite von Genettes Begriff gemeinten Beobachtungen zu einem diegetischortlosen Erzählen, das mit dem Verlust von Narrativität einhergeht, von Sonja Glauch: „Ich-Erzähler ohne Stimme“. 61 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, 163. 62 Vgl. die anhaltende Kritik an dieser Auffassung bilanzierend: Wolf Schmid: „Erzählstimme“, 134f.

232 | Hartmut Bleumer modernen und den historischen Sprach- und Wahrnehmungsbedingungen. Sie differenziert im Beobachtungsakt ihre Objekte, wo diese historisch noch gar nicht in Differenzkategorien gedacht werden: Für die Fokalisierung hat Gert Hübner diesen Einwand präzise illustriert; er hat klargestellt, dass einerseits die Vorstellung einer neutralen, nicht-semantischen Fokalisierung als dezidiert rhetorische Darstellungstechnik des Geschehens noch weiter differenziert werden muss, dass andererseits die Beschränkung auf diese differenzierende Technik die Funktion von wahrnehmungslenkenden Angaben im mittelalterlichen Erzählen aber auch zu verfehlen droht, wenn nicht im Gegenzug die Axiologie der Geschichte mit ihrer Leistung als ‚evaluative Struktur‘ besondere Berücksichtigung findet.63 Stellt man aus hermeneutischer Sicht den Semantikprimat auch für die Blickwinkel des Erzählens noch stärker heraus, so kann man sogar fragen, ob die Erzählperspektive nicht generell über den ‚Blick‘ als historisch-semantischer Akt der Grenzüberschreitung konzeptualisiert werden müsste.64 Es empfiehlt sich demnach, sowohl den Begriff der Geschichte zu semantisieren und in die Diskussion zurückzuholen, als auch die erzähltheoretischen Grundbegriffe der Narratologie durch historische Narrationsbegriffe zu kontern. Diese Forderung lässt sich nur erfüllen, wenn abschließend auch der Narrationsbegriff geklärt ist. Im Modell von Schmid ist dieser der höchste Ebenenbegriff und damit zugleich der voraussetzungsreichste. Als Narration gilt der Akt des Erzählens, d. h. der narrativen „Präsentation der Erzählung“65 durch eine konkrete oder abstrakte Erzählinstanz gegenüber einem konkreten oder abstrakten Adressaten. Auf der paradoxen Einbindung der Narration in das Erzählmodell ist wiederum zu insistieren, aus der sich bereits die Reserve gegenüber den Genetteschen Termini ergibt: Die Narration scheint als vierte narrative Ebene nach Schmid nämlich nicht nur den Akt der Präsentation der Erzählung zu bilden. Auch der Präsentationsakt des Erzählens ist nicht einfach ein narrativer Akt, der von der Erzählinstanz ausgeht, sondern die Erzählinstanz wird umgekehrt durch das Erzählen erst konstituiert. Das ist keine triviale Bestimmung, die sich einfach an die bisherigen Heuristiken und typisierenden Untersuchungen zu den Möglichkeiten der Erzählerinstanzen im Mittelhochdeutschen schon anschließen ließe, die zwar nicht für alle Gattun-

|| 63 Vgl. Gert Hübner: Erzählform, zur Fokalisierung 25–63, zur ‚evaluativen Struktur‘ 64–74, zur Wirkung der Axiologie bes. in der Beispielanalyse des ‚Iwein‘ 122, 189 u. 200f. 64 Erhellend dazu mit Hilfe des diagrammatischen Blick-Konzeptes der Semantik nach Jacques Lacan am Bsp. des ‚Armen Heinrich‘ Christiane Ackermann: „Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie“, 26–42. Dazu in der abschließenden Modellinterpretation. 65 Die von Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 224, für den sonst üblichen Ausdruck ‚Narration‘ verwendete Bezeichnung ‚Präsentation der Erzählung‘, ist anschaulich, aber auch sprachlich umständlich. Um terminologisch zu vereinfachen wird im Folgenden der Ausdruck ‚Narration‘ im Sinne Schmids für ‚Präsentation der Erzählung‘ verwendet.

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gen, aber doch in genügender Breite vorliegen.66 Von den gewonnenen Befunden der germanistisch-mediävistischen Forschung ist so auch hier auszugehen, sie sind aber insofern zu überprüfen, als nach Schmid auf den Erzähler im Akt der Präsentation alle Kriterien der vorausgehenden Ebenen anzuwenden sind. Sein Erzählen wäre als bloßer Redeverlauf nur als ein (Erzähl-)Geschehen zu bezeichnen. Wenn aber der Erzähler im Akt des Erzählens eine Veränderung durchmacht, erscheint das Erzählen als Erzählgeschichte etc. Entsprechend beziehen sich dann die axiologischen Besetzungen der Geschichte und kompositorischen Akte der Erzählung nicht nur auf das Geschehen, sondern umgekehrt auch auf den Erzähler selbst als Wertungsund Kompositionsinstanz zurück, die nunmehr eigene thematische Rollen gewinnen kann. D. h. auch der Erzähler fällt unter das Korrelationsapriori von nicht-narrativen und narrativen Anteilen. So manifestiert sich diese Rückwirkung schon in der paradoxen Autor-Erzähler-Differenzierung, die den nicht-narrativen Begriff des ‚Autors‘ mit dem narrativen Begriff des ‚Erzählers‘ kombiniert;67 sie manifestiert sich aber auch im Nebeneinander von nicht-narrativen, beschreibenden und narrativen, erzählenden Diskursinstanzen, dann aber insb. auch im Sprachgebrauch dieser Instanzen, in den Denk- und Redefiguren des Textes, oder rhetorisch ausgedrückt: in der Tropologie des narrativen Diskurses. Weil sich das Ebenenmodell damit theore|| 66 Vgl. zum Erzähler im Rahmen der erzählschematischen Kompositionen der Heldenepik Siegfried Beyschlag: „Die Funktion der epischen Vorausdeutungen“, stärker interpretierend Hansjürgen Linke: „Über den Erzähler“ und grundlegend Burghart Wachinger: Studien zum Nibelungenlied; unter Einbeziehung der geistlichen Dichtung Ingo Reiffenstein: „Die Erzählervorausdeutung“ sowie des Romans Hans-Hugo Steinhoff: Die Darstellung gleichzeitiger Geschehnisse. Eine Bestandsaufnahme zur Erzählerinstanz liefert Ingeborg Fluss: Das Hervortreten der Erzählerpersönlichkeit. Zur stärker profilierten Erzählinstanz im Roman in der wissenschaftsgeschichtlichen Phase vor Genette, an Begrifflichkeiten von Käte Hamburger orientiert, aber terminologisch noch undeutlich Günter Mecke: Zwischenrede. Kritisch dazu, typisierend und zu expliziten Wertungen durch die Erzählinstanz, Uwe Pörksen: Der Erzähler. Zur Autor-Erzähler-Trennung vgl. frühzeitig und exemplarisch bes.: Michael Curschmann: „Das Abenteuer des Erzählens“ sowie Eberhard Nellmann: Wolframs Erzähltechnik. Zu späteren Tendenzen Carola Voelkel: Der Erzähler. Terminologisch gut abgesichert und über Deiktika argumentierend Paul Herbert: Der Erzähler. Allgemeiner an der Sprachhandlung ansetzend Beate Hennig: ‚maere‘ und ‚werc‘. Der bisweilen noch eher umschreibende Terminologiegebrauch bei Thomas Cramer: „Über Perspektive“ müsste mit der Grundlagenstudie von Gert Hübner: Erzählform überwunden sein, die einen narratologisch-rhetorischen Einschnitt markiert. Danach in ausdrücklicher Anlehnung an Hübner, aber weniger narratologisch-pointierend als komparatistisch-deskriptiv Johannes Frey: Spielräume des Erzählens, zum Anschluss 31f.; mit dem ergänzenden Begriffsvorschlag der Focussierung, womit, anders als bei Genette oder Hübner, erneut die den Figuren und ihren Handlungen eingeschriebenen Wertungen als Bezugspunkt gewählt werden, Friedrich Michael Dimpel: Die Zofe im Focus, bes. 41–45, 162–164. In die Diskussionen um den Erzähler im Roman wären von Seiten der Diskussion um das sog. Märe die wichtigen Beobachtungen von Hans Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter zu integrieren. 67 Vgl. dagegen die These von der historischen Bedingtheit der Vermengung beider Kategorien bei Monika Unzeitig: „Von der Schwierigkeit zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden“ sowie ausführlich dies.: Autorname und Autorschaft, bes. 202–205, mit weiterer Literatur.

234 | Hartmut Bleumer tisch auch hier, d. h. mit jeder weiteren eingeschobenen Binnenerzählung, ad infinitum in einer endlosen Kreisbewegung ansetzen lässt, heißt das wiederum: Diese Tropologie wäre der Höhepunkt der Aufschichtung aller narrativen Ebenen, ebenso hätte man sie aber auch als ihre Basis zu betrachten.

4 Zwischen Rhetorik und Hermeneutik An den Nahtstellen seines Vier-Ebenen-Modells greift Schmid, ähnlich wie bereits andere Erzähltheoretiker vor ihm, Begriffe der klassischen Rhetorik auf und integriert diese in seinen Ansatz.68 Dies ist keine bloße Verdeutlichungsstrategie. Vielmehr handelt es sich um eine Konsequenz des korrelativen Verfahrens zwischen narrativen und nicht-narrativen Kategorien, die schließlich auf die Spannung von Interpretation und Argumentation im Erzählen und damit ebenso von Hermeneutik und Rhetorik in der Erzähltheorie führen. Diese Spannung ist damit nicht nur für das theoretisch ambigue Konzept der Erklärungsleistungen von Geschichte und Erzählung zentral, wie es in der neueren Geschichtstheorie diskutiert wurde. Sie ist insb. für die Ansprüche einer historischen Narratologie unabdingbar, die sich schon angesichts der historischen Bildungskontexte des Erzählens im Mittelalter stets auch rhetorischer Grundkategorien zu vergewissern hat. So fasst schon Schmid seine vier Ebenen Geschichte, Geschehen, Erzählung und Narration letztlich auch über drei Grundbegriffe aus den fünf partes artis, d. h. den fünf Produktionsstadien der Rede auf:69 Das Finden oder Erfinden des Materials, wie es im Geschehen situiert ist, wäre für Schmid demnach ein von der Geschichte her gedachter Akt der inventio, die Gliederung der Geschehensmomente in der Geschichte ein Akt der dispositio. Die Erzählung ist für Schmid zwar ebenfalls der dispositio zuzurechnen, jedoch durch ihre kompositorischen Freiheiten gegenüber den Zeitverläufen nicht wie die Geschichte dem ordo naturalis verpflichtet, vielmehr hat sie die Freiheit des ordo artificialis.70 Die Erzählung ordnet die Ereignisse in der Geschichte also nicht nur einem linearen zeitlichen Verlauf entsprechend an, sondern komponiert diese in einer künstlichen, der Chronologie widersprechenden Ord|| 68 Zur rhetorischen Vorgeschichte des russischen Formalismus in der frühen deutschen Literaturwissenschaft vgl. Lubomír Doležel: Occidental poetics, 124–134. Der Ansatz beim ornatus und die Tropenlehre ausführlich bei Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur, bes. 54–72. 69 Vgl. zuletzt Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 223f.; so auch in der nicht nur für Schmids Modell wichtigen Grundlagenskizze von Karlheinz Stierle: „Geschehen, Geschichte, Texte der Geschichte“, 53, bzw. der Hinweis auf elocutio und dispositio bei Roland Barthes: „Einführung“, 107. Zu den rhetorischen Begriffen Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, 139–146. 70 Zur Begriffsgeschichte vgl. aus mediävistischer Sicht Ulrich Ernst: „Die natürliche und die künstliche Ordnung“ sowie zuletzt den auch darüber hinaus für die Bestimmung des Begriffs der narrativen Fiktion lesenswerten Beitrag von Christian Schneider: „Narrationis contextus“, 160–164.

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nung. Die abschließende konkrete Verbalisierung der Erzählung in der Narration geht dann zwanglos mit der elocutio, der konkreten sprachlichen Ausgestaltung der Rede, zusammen. Nach dem bisher Gesagten lassen sich diese Zuordnungen jedoch nicht vollständig beibehalten. Die Geschichte gehört, trotz ihrer elementaren narrativen Ordnung, noch nicht zur dispositio, sondern zur inventio: Dieser Produktionsschritt der Rede ist nämlich nicht nur dadurch definiert, dass die inventio Geschehenselemente einfach nur vorfindet. Es geht gerade der inventio immer zugleich um logische Strukturen: Die inventio findet Argumente mit Hilfe der Topik.71 Analog dazu wäre die narrative Strukturierungsleistung der Geschichte zu beschreiben: Auch die Geschichte findet nicht einfach nur Geschehnisse vor, sondern bildet aus ihnen narrative Ereignisse, indem sie die Geschehnisse wie Argumente nach topischen Regeln des Erzählens auffasst und arrangiert. Erst die Erzählung ist dann der dispositio zuzuordnen, denn als Kompositionsebene verfügt sie sowohl über den ordo naturalis als auch über den ordo artificialis. Je nachdem, ob hier eine realistische oder eine kompositorische Motivierung dominiert, kann dann auch die natürliche oder die künstliche Zeitordnung gewählt werden. In diesen Zuordnungsschwierigkeiten der partes artis zeichnet sich bereits ab, dass die Differenz zwischen dem argumentativen Diskurs der Rhetorik und dem narrativen Diskurs der Narrativik bei Schmid nicht grundlegender verfolgt worden ist. Sie ist aber wenigstens kurz zu erörtern, weil sie durchaus folgenreich ist. Die klassische Rhetorik ist eine Diskurstheorie, aber noch keine Theorie des narrativen Diskurses. Im Unterschied zur Erzähltheorie ist sie damit gerade nicht von der narrativen Struktur und ihrer Semantik her konzeptualisiert, vielmehr basiert sie auf der Vorstellung einer Wirklichkeit mit ihren Möglichkeiten und Plausibilitäten. Die Rhetorik verwendet die narrative Struktur also nicht, wie die Hermeneutik, für die Frage nach einer vorgängigen Wahrheit, sondern zur Erzeugung von Wahrscheinlichkeit angesichts einer vorgängigen Wirklichkeit. Das Feld der Rhetorik ist das Wissen und nicht das hermeneutische Verstehen. Für sie ist die Geschichte keine metaphorische, sondern eine metonymische Denkfigur. Darum ist gerade sie auf ein in Inferenzmustern gebundenes Weltwissen angewiesen, nur greift sie auf dieses Wissen nicht wie auf konventionelle Erzählmotive oder kulturell eingespielte Erzählmuster zurück, wie sie etwa die kulturwissenschaftliche Erzählforschung in typisierenden Motivverzeichnissen zu systematisieren versucht hat,72 sondern integriert die Inferenzmuster über eine argumentative Topik. Hier setzt in der germanistischen Mediävistik ganz konkret der Vorschlag einer praxeologischen Narratologie durch Gert Hübner an, die ihr Geschichtskonzept an || 71 Vgl. als Übersicht Tim Wagner: Art. ‚Topik‘. Aus linguistischer Sicht zusammenfassend Jörg Jost: Topos und Metapher. Lothar Bornscheuer: Topik, 59f. entschieden zur Topik als systematischem Ort der inventio. 72 Vgl. zur Erschließung Hans-Jörg Uther: The types of international folktales.

236 | Hartmut Bleumer rhetorischen Argumentationsverfahren ausrichtet. Die Frage der narrativen Sinnkonstituierung nimmt hier demnach eine gänzlich andere Gestalt an als in poetischsemantischen Narratologien, weil für die praxeologische Narratologie schon die Handlung selbst, indem sie als exemplarische Umsetzung pragmatischen Handlungswissens verstanden wird, als Sinnebene gilt.73 Weil die rhetorisch-topologische Auffassung die Geschichte damit dominant kausallogisch konzipiert, lässt sie sich an die jüngere analytische Auffassung der Geschichte als einer explikativen Struktur anschließen, d. h. der Vorstellung, dass die Funktion der Geschichte lediglich darin besteht, historische Sachverhalte in einer Art argumentativem Dreischritt zu erklären.74 Gleichwohl weiß natürlich gerade die Rhetorik, dass sie, um zu überzeugen, auch auf jene diskreten gesellschaftlichen Axiologien angewiesen ist, die im Rahmen der narrativen Struktur einen eigenen Sinn produzieren. Eben deshalb lassen sich diese Sinnbildungsprozesse auch wiederum über die Frage nach rhetorischen Verfahren dekonstruieren: weil gerade im Diskurs der Rhetorik die semantischen Möglichkeiten der narrativen Hermeneutik dialektisch aufgehoben sind.75 So gesehen wäre also auch die Rhetorik, genau wie die Erzähltheorie, eine integrative Theorie, nur dass sie ihre narrativen Begriffe in ihr nicht-narratives Diskurskonzept integriert und nicht umgekehrt. Die Rhetorik erscheint derart als das genaue Komplement der Erzähltheorie, gewissermaßen als ihr Anderes. So ist das Ziel des Rhetors vor Gericht nicht die Narration, sondern die Argumentation. Er verhandelt einen Kasus. Seine narratio hat demzufolge deutlich den Charakter einer Schilderung oder eines Berichts, d. h. sie steht strukturell der descriptio einer Handlung näher als einem genuin narrativen Diskurs. Der rhetorische Narrationsbegriff ist darum von dem der klassischen Erzähltheorie zu unterscheiden.76 In diesem den Zwecken der Argumentation untergeordneten Sinne verwendet der Rhetor zwar auch allgemein die Struktur der Geschichte als diskretes Hilfsmittel seiner Topik, um seine Zuhörer von der Wahrscheinlichkeit eines Geschehens zu überzeugen, oder er setzt etwa ganz konkret zur Verhandlung seines Kasus auch Exempla mit ihren Axiologien als narrative Elemente des rhetorischen Diskurses || 73 Vgl. Gert Hübner: „Erzählung und praktischer Sinn“, 236f. Zum Verständnis des Exemplarischen genauer ders.: „Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen“. Zum besseren Verständnis der Sinnebene Hübners lässt sich die oben zit. (s. Anm. 54) Unterscheidung zwischen dem hermeneutischen und dem handlungspraktischen, d. h. proaïretischen Code, heranziehen. Demnach fällt der hermeneutische Code in Hübners Modell aus. 74 Vgl. in diesem Sinne die analytische Basisdefinition der Geschichtsstruktur bei Arthur C. Danto: Narration and knowledge, 236. 75 Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens, hier bes. die Beiträge „Semiologie und Rhetorik“, 31–52, und „Rhetorik der Tropen (Nietzsche)“, 146–163. Zur Verbindung von Hermeneutik und Rhetorik bei de Man ausdrücklich Werner Hamacher: „Unlesbarkeit“, 9f. u. zur semantischen Freisetzung durch die tropologische Dekonstruktion 24. 76 Vgl. zur rhetorischen narratio-Lehre Gert Hübner: Erzählform, 80f.; ders.: „evidentia“, 141–143; Armin Schulz/Gert Hübner: „Mittelalter“, 198f.

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ein.77 Dem eigenen Selbstverständnis nach ist der rhetorische Diskurs dennoch gerade nicht narrativ, sondern argumentativ, d. h. die in der rhetorischen Topik versammelten logischen Argumente oder topischen Redeelemente halten die narrativen Strukturen bei ihrer Verwendung unter Kontrolle.78 Deshalb wird man aber auch unter rein strukturellem Gesichtspunkt deutlich zwischen den normorientierten Argumentationen des Kasus und der wertorientierten Erzählung des Exempels unterscheiden müssen. Die konkreten Textformen, die als Kasus oder Exempel bezeichnet werden, sind dann immer ambivalent: Es gibt den Kasus als Erzählung nur, insofern er sich der narrativen Form des Exempels annähert, umgekehrt illustriert das Exempel nur dann einen Fall, wenn es von der narrativen zur argumentativen Struktur übergeht. Diese komplementäre Ambivalenz der Textarten bestätigt derart aber nur die Wechselwirkung von zwei gegenläufigen Strukturprogrammen.79 Damit deutet sich hier endlich an, worin der Unterschied zwischen nicht-narrativen und narrativen Begriffen liegt und wie sich diese in der Erzähltheorie zueinander verhalten: Geschehen, Bericht und Beschreibung stehen als nicht-narrative Kategorien der narrativen Begriffstriade von Geschichte, Erzählung und Narration gegenüber. Am Beispiel des Erzähltextes heißt das: Seine Erzählung kann Berichte, seine Narration kann Deskriptionen integrieren. Analog dazu hätte die erzähltheoretische Analyse integrativ vorzugehen, d. h. die nicht-narrativen Begriffe über die Geschichtsstruktur aufzufassen und zu interpretieren. Darum ist in der Erzähltheorie von Schmid zunächst der bloße handlungsschildernde Bericht von der Erzählung zu unterscheiden: Im Unterschied zur Erzählung ist der Bericht eine neutralisierte Darstellung eines Geschehensverlaufs in einer nur chronologischen Ordnung. Diese Neutralität im ordo naturalis ist jedoch nicht mit einer vermeintlich naiven Natürlichkeit der Alltagswahrung zu verwechseln. So wie die Neutralität des Berichts gegenüber der Axiologie der Geschichte immer erst hergestellt werden muss, so ist gerade auch die scheinbare Natürlichkeit seiner Ordnung eminent künstlich. Es gibt also in der Erzählung nichts, was nicht künstlich wäre. Das gilt gerade dort, wo sie natürlich anmutet. Ebenso wie Erzählung und Bericht verhalten sich schließlich auf diskursiver Ebene Deskription und Narration zueinander. Die Deskription ist eine nur lineare Schilderungstechnik, der die zeitliche Dynamik der Narration theoretisch fehlt. Die || 77 Die daraus resultierenden Kippfiguren zwischen Kasus und Exempel illustriert umfassend Peter von Moos: Geschichte als Topik. 78 Vgl. daher das Interesse an Rhetorik und Topik durch Roland Barthes: „Die alte Rhetorik“, in der die Topik (66–76) geradezu als Modell der strukturierenden Macht der Rhetorik erscheint, die hier metaphorisch als ‚das rhetorische Netz‘ (18f., 94f.) angesprochen wird. Kaum zufällig zeitgleich ders.: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen.“ 79 Vgl. zur schwierigen Begriffsgeschichte Caroline Emmelius: „Kasus und Novelle“, 48–60. Die Unterscheidung zwischen kasuistischer Norm- und exemplarischer Wertorientierung zur narratologischen Differenzierung ausführlicher bei Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius: „Vergebliche Rationalität“, bes. 194f.

238 | Hartmut Bleumer Korrelation der Begriffe ist aber hier gleichermaßen unabdingbar, und zwar sowohl aus erzähltheoretischer wie auch aus rhetorischer Sicht: Wenn das Spannungsverhältnis von Deskription und Narration von der narrativen Dynamik her begriffen wird, ergibt sich eine spezifisch narrative Evidenz. Wenn dagegen Bericht und Deskription vorherrschen, d. h. das Erzählen über einen argumentativen Diskurs beherrscht und funktionalisiert wird, handelt es sich um ein komplementäres rhetorisches Verfahren mit einer rhetorischen Evidenz.80 Die rhetorischen Begrifflichkeiten verweisen damit aus der Gegenperspektive auf die auch in der Erzähltheorie anzutreffende Korrelation von narrativen und nicht-narrativen Termini, nur beanspruchen sie eben, die narrativen Termini zu dominieren, während es der Erzähltheorie umgekehrt darum gehen muss, die rhetorischen Begriffe narrativ zu interpretieren. Zur Erfassung und Systematisierung der kulturellen Vorprägungen der Verknüpfungsmodalitäten, die in Inferenzprozessen wirksam werden, wäre aus Sicht einer stärker rhetorischen Literaturbetrachtung dann eine Topik des Erzählens wünschenswert, nur ist auch für diese festzuhalten, dass eine narratologische Topik nicht argumentativ, sondern interpretativ angelegt sein muss. Diese Forderung gilt dann nicht zuletzt mit Blick auf die höchste narrative Ebene, die der Narration, die rhetorisch als elocutio zu fassen wäre. Damit wäre eine Tropologie des narrativen Diskurses, d. h. die Frage nach den dominanten Redeund Denkfiguren des Erzählers, zu verbinden. Dem narrativen Korrelationsapriori entsprechend, manifestiert sich die Tropologie auf der Narration als höchster Ebene des narrativen Ebenenmodells, fundiert das Modell aber zugleich von Grund auf. Denn der Status der Tropen ist zwar, den klassisch-rhetorischen Taxonomien zufolge, der von Redefiguren an der Oberfläche des Textes, als Denkfiguren scheinen sie ihn aber auch, dem poststrukturalistischen Rhetorikverständnis nach, immer schon zu durchdringen.81 Gemäß den vorangehenden Ausführungen zur Ebene der Erzäh-

|| 80 Über die Begriffe von Bildbeschreibung und Bilderzählung bzw. den entsprechend doppeldeutigen Begriff der Evidenz ergibt sich der Anschluss einer kunst- oder bildwissenschaftlichen Narratologie. Vgl. zur ersten Orientierung Werner Wolf: „Pictorial narrativity“ und Mieke Bal: „Visual narrativity“. Zum historischen Begriff der evidentia den allgemeinen Überblick von Ansgar Kemmann: „Evidentia, Evidenz“, hier 33 u. 39–41. Er zeigt die Binnendifferenzierung in ein rhetorisch-deskriptives und ein poetisch-narratives Konzept; das rhetorisch-deskriptive, das sich auf Cicero berufen kann, exponiert Gert Hübner: „evidentia“, 121–125, das poetisch-narrative, wie es historisch über die dynamische Bildauffassung Quintilians zu entwickeln wäre, versucht Harmut Bleumer zu zeigen: „Zwischen Wort und Bild“. Vgl. die vorausgehende Unterscheidung in intensivierende amplificatio und ausdehnende dilatatio durch Franz Josef Worstbrock: „dilatatio materiae“, bes. den Exkurs 27– 30. 81 Dass gerade die Vertreter der klassisch-strukturalen Narratologie mit formaler Grammatikalisierung rhetorischer Begriffe deren durchgreifende semantische Leistung verkennen, kritisiert ausdrücklich Paul de Man: Allegorien des Lesens, 35: „Barthes, Genette, Todorov, Greimas und ihre Schüler simplifizieren und fallen in ihren literarischen Analysen hinter Jakobson zurück, wenn sie Grammatik und Rhetorik in vollkommener Harmonie miteinander funktionieren lassen“.

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lung und in Anlehnung an klassisch-strukturalistische Grundbestimmungen Roman Jakobsons wird man sich dabei zunächst für Geschehen und Geschichte an der Korrelation zweier Tropen orientieren können: an der Metapher und der Metonymie. Die Metapher darf mit ihrer grenzüberschreitenden Semantik als klassische Denkfigur der Hermeneutik und ihres Wahrheitskonzeptes gelten, ebenso wie die Metonymie von der Rhetorik aufgrund ihres Wirklichkeitskonzeptes privilegiert wird.82 Und dass Metapher und Metonymie in narrativen Strukturen auf elementare Weise zusammenwirken, stellt nicht nur ein narratologisches Basistheorem dar,83 sondern spiegelt auch noch einmal das narratologische Korrelationsapriori zwischen narrativen und nicht-narrativen Begriffen wider. Die weiteren poststrukturalistischen Einwände gegen das basale Rhetorikverständnis der strukturalen Erzähltheorie wird man dann weitergehend für die Ebene der Erzählung und Narration auch anhand der Tropen von Synekdoche und Ironie zu berücksichtigen haben. Mit der Tropologie ließe sich demnach der Kreis der Begriffsbildungen schließen und die Narratologie zugleich historisch öffnen.

5 Historische Tropologie des narrativen Diskurses 5.1 Metapher, Sujet und der terminologische Sonderweg ‚metonymischen‘ Erzählens Die klassische Narratologie ist dem klassisch-modernen Differenzdenken verpflichtet, das ihr vor allem über ihren Zeichenbegriff, über die Art seiner Differenzierung in Signifikant und Signifikat, zutiefst eingeschrieben ist. Dass diese Differenzierung zur Unterscheidung in poetisch-semantische und mimetisch-pragmatische Kalküle führt, ist oben angedeutet worden. Das Differenzdenken macht einer historisch verstandenen Narratologie indes Schwierigkeiten, nämlich dann, wenn der besagte Zeichenbegriff kulturell noch nicht gegeben oder trotz seiner Gegebenheit zugleich schon überwunden ist. Gleichwohl gibt es erzähltheoretische Überlegungen, die jenseits der Differenz deren Überwindung postulieren bzw. insb. für das Mittelalter glauben, diesseits der Differenz ansetzen zu können. Ihre Ansätze verfolgen letztlich poetisch-semantische Kalküle und sind dadurch für die historische Narratologie besonders interessant. Sie sind zugleich geeignet, die Basis und den Abschluss des

|| 82 Zur Verdeutlichung des Unterschiedes von Wahrheits- und Wirklichkeitsbezug dieser Tropen die schöne Formulierung ebd., 45: „[E]s steckt ein Element von Wahrheit darin, wenn man Achilles für einen Löwen ansieht, aber keines, wenn man Herrn Ford für ein Automobil hält“. 83 S. u., nach Anm. 107.

240 | Hartmut Bleumer Ebenenmodells von Schmid im Sinne der gesuchten historischen Tropologie zu ergänzen. Die dominante Denk- und Redefigur dieser Ansätze ist die Metapher. Als elementares Strukturprinzip wird sie für die Modellbasis des Erzählens vorrangig in der prominenten Spielart des Sujetbegriffs deutlich, die Jurij M. Lotman entwickelt hat. Lotman insistiert nachdrücklich auf einem semantischen Poesieverständnis, entwickelt dessen Grundoperation am Beispiel metaphorischer Strukturen der Lyrik und exemplifiziert sie schließlich an narrativen Texten und deren Sujet: Dieses entfaltet mindestens ein semantisches Ereignis oder Motiv, das diagrammatisch definiert ist als „die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“84. Bei Lotman wird das Sujet also zwar wie bei Tomaševski als ein Kompositionsprinzip abgehandelt, aber der schon bei Tomaševski vorhandene, thematisch gefasste Semantikprimat wird erst hier in aller Klarheit herausgestellt: Das Sujet ist darum nicht erst auf der Ebene der Erzählung angesiedelt, sondern es wird als eine tiefer gehende semantische Operation verstanden, weshalb der Begriff der Figur auch hier eigentlich ein aktantieller Term ist.85 Als generelles semantisches Verfahren kann das Sujet dann in der Geschichte und ihren Ereignissen bzw. der Erzählung und ihren Motiven ebenso angesiedelt sein wie in der Narration; die fragliche Grenzüberschreitung durch die ‚Figur‘ kann als Figuration zweier benachbarter semantischer Felder in Erzähltexten ebenso vorkommen wie in der Lyrik. Der Sujetbegriff steht damit schlagartig für die doppelte Bewegung im Modell der narrativen Ebenen in horizontaler und vertikaler Hinsicht. Wenn also gilt: Eine Erzählung verstehen heißt nicht nur, dem Abspinnen der Geschichte folgen, sondern auch ‚Stufen‘ darin erkennen, die horizontalen Verkettungen des Erzähl-‚fadens‘ auf eine implizit vertikale Achse projizieren. Eine Erzählung lesen (hören) heißt nicht nur, von einem Wort zum anderen übergehen, sondern auch von einer Ebene zur anderen86

– dann kann das Sujet für jene semantische Operation stehen, die sowohl der horizontalen wie der vertikalen Bewegung des Rezipienten im Erzählmodell zugrunde liegt. Diese doppelte semantische Operation sprengt damit die konventionellen Gattungsgrenzen ebenso wie die Grenze mancher konventioneller narratologischer Ordnungsvorstellungen;87 sie zeigt zugleich, warum eine auf einem nur eingeschränkten Fiktionalitätsverständnis begründete Narratologie angesichts metaphorisch verfasster Welten relativ schnell am Ende sein müsste: Wo sie auf Texte trifft, die aus || 84 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, 332. 85 Vgl. den Hinweis auf die bes. semiotischen Prämissen Lotmans, die seine Ausnahmestellung gegenüber der klassischen Narratologie begründen, im Kommentar von Christiane Hauschild zu Jurij Lotman: „Zum künstlerischen Raum“, 283f. sowie bes. dies.: „Jurij Lotmans semiotischer Ereignisbegriff“, 142f., 160f., 181. 86 Roland Barthes: „Einführung“, 107f. 87 S. o., Anm. 20.

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einem poetischen Sprachverständnis heraus dezidiert als semantische Ereignisse entworfen werden (als klassische Beispiele vgl. etwa die Metamorphosen des Apuleius oder des Ovid, in der mittelhochdeutschen Literatur den Minneroman und Minnesang), fehlt der klassischen Narratologie der Blick für den entscheidenden Nexus der narrativen Logik. Dieser Nexus liegt hier eben nicht einfach in der Wirklichkeit der dargestellten Handlung vor, sondern in der Weise ihrer semantischen Verknüpfungen, die selbst bereits narrativ strukturiert sind. Nicht quasi-wirkliche Ereignisse finden hier zu einer Bedeutung, sondern Bedeutungsverschiebungen sind die eigentlichen Ereignisse, die sich im dargestellten Geschehen objektivieren. Wo – wie gerade in der mittelalterlichen Literatur – der fortgesetzte Metapherngebrauch entweder zu vollends allegorischen Erzählungen führt oder aber die Welt selbst schon als Manifestation eines transzendenten Sinns angesehen wird, ist der Primat dieser semantischen Grundbewegung offenkundig.88 Die Kehrseite dieser Objektivierung besteht aber zudem in einer Subjektivierung; nur liegt diese nicht im Bereich der histoire-, sondern im Bereich der discoursEbene vor. Denn die vom Sujet erfassten semantischen Ereignisse können nicht nur im Erzählten, sondern auch im Erzählen selbst, im narrativen Subjekt und seiner Sprache vorliegen. Darum verdeutlicht gerade dieser Ansatz die Möglichkeiten des Übergangs von einer narratologischen Erzähltext- zu einer narratologischen Lyrikanalyse.89 Diese hat sich in jüngerer Zeit sowohl in Studien zur neueren deutschen Literatur90 als auch in der germanistischen Mediävistik entwickelt,91 und dies nicht etwa, weil sie behauptet, Lyriker würden tatsächlich Geschichten erzählen, sondern weil sie lyrische Genera auf der Basis einer narrativ konzipierten metaphorischen Semantik zu beschreiben versucht, deren Grundoperation nicht nur bei Lotman, sondern in der Lyriktheorie generell vorgebildet ist. Schließlich erweist sich Lotmans Vorstellung des Sujets aus Sicht der wirklichkeitsorientierten Narratologie als Ebenentransgression, die sich historisch als Grenzüberschreitung von der Immanenz in die Transzendenz beschreiben lässt. Mit Blick auf das axiologische Modell von Greimas, d. h. der strukturalen Erklärung der narrativen Semantik über das Verhältnis von immanenten und transzendenten Werten sowie deren syntagmatischer und paradigmatischer Ordnung, kann man für das Sujet weitergehend formulieren: Wenn das Sujet als die Versetzung einer Figur von einem semantischen Feld in das nächste definiert werden kann, dann bedeutet dies zugleich, dass sich das zweite semantische Feld zum ersten paradigmatisch verhält, || 88 Vgl. ebenso anregend wie forciert generalisierend zur metaphorischen Semantik Peter Czerwinski: „Allegorealität“. 89 Für die Mediävistik auf Lotman konzentriert Rainer Warning: „Pastourelle und Mädchenlied“. 90 Vgl. stellvertretend insb. der Ansatz von Peter Hühn/Jörg Schönert: „Einleitung“. 91 Als Forschungsbericht, mit einem an die neuere terminologische Entwicklung der Narratologie anschließenden Vorschlag: Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius: „Generische Transgressionen und Interferenzen“ sowie Jens Haustein: „Nichterzählte Geschichten“.

242 | Hartmut Bleumer die Figur aber bei ihrer Transgression von einem Feld in das andere eine syntagmatische Bewegung vollzieht. Diese paradoxe Transgressivität des Sujets ist praktisch erkannt,92 aber theoretisch noch nicht deutlich ausformuliert worden. Deshalb sei ihre horizontale Variante noch einmal am Beispiel eines historischen Erzähltyps illustriert. Wenn etwa im Feenmärchen, strukturanalog zur Begegnung mit der transzendierten Geliebten in der höfischen Lyrik, der Held aus der Wirklichkeit seiner Welt in die Anderswelt der Fee hinübertritt und sich dort mit der Fee verbinden kann, danach mit der Feenliebe bereichert als verbesserter Held in die alte Wirklichkeit zurückkehrt, so sind die neuen Werte, die dieser Held in der Immanenz dieser Welt vertritt, letztlich nur transzendent gegeben. Erst durch einen Tabubruch, nämlich die Verwirklichung der Feenliebe und damit die Infragestellung der transzendenten Beziehung zu ihr, droht der Held die Fee zu verlieren, was heißt: Der Verstoß gegen die transzendente Bindung führt allererst zu dem Versuch, ihre Werte durch die Handlung des Helden konkret zu erringen. Die transzendenten Werte offenbaren so ihren paradigmatischen Status und werden zugleich narrativ in das Syntagma der Handlung umgeschrieben. Für das Sujet nach Lotman bedeutet das: Es lässt sich genauer als Metapher für die axiologische Transgression zwischen Immanenz und Transzendenz verwenden, die zugleich eine paradoxe, ihrerseits metaphorisch strukturierte Übergangsfigur zwischen syntagmatischer und paradigmatischer Relation darstellt. Wenn der Held in dieser Übergangsfigur dann am Ende der Geschichte ein anderer ist, als er am Anfang war, schlägt sich die Struktur der Metapher (A=B) noch an ihm selbst nieder. Dies aber nur deshalb, weil das Sujet eine Figuration ist, die den axiologischen Mechanismus zwischen Syntagmatik und Paradigmatik sowie Transzendenz und Immanenz adäquat abbilden kann. An den Sujetbegriff Lotmans hat man sich vor allem in der germanistischen Mediävistik wiederholt angeschlossen. Dies hätte theoretisch mit einem Bekenntnis zur Metapher einhergehen müssen, zumal von diesem Tropus ausgehend in der Geschichtstheorie bereits eine komplette, wenngleich umstrittene, Tropologie des historischen Diskurses skizziert wurde.93 Stattdessen wurde in der germanistischen Me-

|| 92 Vgl. die Beiträge von Rainer Warning, bes. „Erzählen im Paradigma“; ders.: „Die narrative Lust an der List“. Man wird freilich festhalten müssen, dass die generalisierenden Aussagen Warnings zur Narratologie forschungsgeschichtlich nicht gedeckt sind. 93 Vgl. paradigmatisch Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft, hier der Ansatzpunkt an der poetischen Sprache, aus der sich der Grundgedanke einer ‚poetischen Weisheit‘ ableitet (159–161), deren tropologische Grundlage wiederum in Metapher, Synekdoche, Metonymie und Ironie besteht (192–195). Daran anschließend der wirkungsmächtige Ansatz von Hayden White: Die Bedeutung der Form; ders.: „Einleitung: Tropologie“; ders.: Metahistory, 50–57. Vgl. als Bilanz Frank Ankersmit/Ewa Domańska/Hans Kellner (Hgg.): Re-Figuring Hayden White. Die dezidiert erzähltheoretischen Begriffe bei White entstammen Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Frye

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diävistik ausgerechnet der Metaphernbegriff gemieden und für bestimmte Bereiche der älteren Literatur ein sog. ‚metonymisches Erzählen‘ postuliert. Irritierenderweise ist das Anliegen beider Ansatzweisen verwandt, nur kommt es in der Mediävistik zum Problem einer mehr oder minder kalkulierten Begriffsverwechslung. Vorab ist dazu festzuhalten, dass sich zwischen den allgemeinen tropologischen Ansätzen und dem speziellen Ansatz am ‚metonymischen Erzählen‘ eine geradezu konträre Begriffsverwendung zeigt, weil die tropologischen Theorien vom Basistropus der Metapher und gerade nicht der Metonymie ausgehen. Dahinter steht jedoch kein wirklicher Widerspruch, da der mediävistische Vorschlag zur Metonymie die klassisch-narratologischen Grundauffassungen zu Metonymie und Metapher ebenso verworfen hat, wie er die rhetorische Begriffsauffassung zu den Tropen frei interpretiert.94 Für die Ausbildung einer kohärenten historisch-narratologischen Terminologie ist der mediävistische Vorschlag also prekär, gleichwohl ist die ihm zugrundeliegende Zielrichtung wichtig. Sie basiert auf der Annahme, dass in vormodernen Kulturen das Erzählen stärker symbolisch organisiert ist und Züge eines älteren mythischen Denkens aufweist. Um deren Eigentümlichkeiten zu fassen, wurde die missverständliche terminologische Neuprägung des ‚metonymischen Erzählens‘ veranlasst.95 Was hier als besondere historische Möglichkeit der Metonymie angesehen wird, nämlich die unmittelbare semantische Präsenz des Bezeichneten im Zeichen, wird indes gerade auch in dem von Haferland und Schulz zitierten Standardhandbuch zur Rhetorik als kulturelle Frühform der Metapher definiert.96 Die Verwendung des Metonymiebegriffs verunklärt so genau jene Effekte, die das berechtigte Anliegen des Ansatzes sind, und verhindert zugleich den produktiven Anschluss an die narratologisch eingeführten Grundbegriffe. Gerade die hier gemeinten semantischen Züge machen es indes möglich, die Relevanz des tropologischen || hat dann seinerseits seine Begriffe weiter auf zentrale Tropen zugespitzt. Diese Weiterentwicklung des Ansatzes wird im Folgenden aufgegriffen (vgl. ders.: Der Große Code). 94 So spricht Harald Haferland zwar ausdrücklich von der „Metonymie, allerdings nicht im üblichen Sinne des Begriffs“ (ders.: „Metonymie“, 324). Für sein verändertes Metonymiekonzept interpretiert Haferland die dieses Konzept fundierende Kontiguitätsrelation um (ebd., 325; ders.: „Kontiguität“). Auch die in der Narratologie oft zitierten Definitionen Roman Jakobsons (s. u.) werden zwar kurz aufgegriffen, aber verworfen. Harald Haferland/Armin Schulz: „Metonymisches Erzählen“, 8. Vgl. auch Armin Schulz: Schwieriges Erkennen, 24–29; ders.: Erzähltheorie, 333–343; ders.: „Fremde Kohärenz“, 339–360. In der Konsequenz des sonstigen Terminologiegebrauchs und Denkens von Schulz liegt der Metonymebegriff gerade nicht, weil Schulz sich zugleich wiederholt an der Sujet-Metapher von Lotman orientiert. Dass die praktischen Ergebnisse dieser Terminologiebildung zudem bislang von „unterkomplexer Schlichtheit“ sind, moniert Ursula Peters: „Philologie und Texthermeneutik“, 276. 95 S. dazu u., nach Anm. 106. 96 Vgl. insb. Heinrich Lausberg: Handbuch, 286, zur „urtümlich-magische[n] Gleichsetzung der metaphorischen Bezeichnung mit dem Bezeichneten: ‚er ist ein Löwe in der Schlacht‘ (Quint. 8, 6, 9 ‚leo est‘) bedeutet urtümlich-magisch: ‚der Kämpfer war ein wirklicher Löwe, er hatte Löwennatur angenommen‘.“

244 | Hartmut Bleumer Denkens für die historische Narratologie stärker herauszustellen. Darum folgen die weiteren Überlegungen dem klassischen Begriffsgebrauch der Tropologie und Narratologie, d. h. sie setzen für das Gemeinte an der Metapher an.

5.2 Die vier Basistropen als semantische Grundoperationen Die Tropologie des narrativen Diskurses geht ursprünglich von der poetischen Funktion der Sprache aus, die sie als elementares sprachliches Verhalten historisch oder aber systematisch an den Anfang des Verhältnisses von Sprache und Welt stellt.97 Deren Relation entwirft sie dann über vier Redefiguren: Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. Den Ausgangspunkt ihrer Ausdifferenzierung bildet die Relation von Mythos und Metapher. Der Mythos ist protonarrativ, er ist keine Geschichte mit Anfang und Ende, er erscheint vielmehr als ein syntagmatisch gestreckter metaphorischer Prozess, der Anfang und Ende semantisch miteinander identifiziert und darum zu zyklischen Bewegungen führt. Auf der Ebene des einzelnen sprachlichen Zeichens entspricht diese semantische Identifikation der Unmittelbarkeitsbehauptung des Symbolbegriffs.98 Ausgehend von der metaphorischen Spannung zwischen Anfang und Ende wäre der Mythos damit im Modell der narrativen Ebenen der potentiellen Bedeutungsvielfalt des Geschehens zu parallelisieren, das die späteren Sinnauslegungen schon in nuce enthält. Die semantische Identifikationsleistung der Metapher ist damit von Anfang an allen späteren Geschichtskonzepten inhärent. Am Beispiel des christlichen Erlösungsmythos: Das Wort wird Fleisch, Gott wird Mensch, Jesu Tod bedeutet ein ewiges Leben, Transzendenz ist Immanenz – in jeder dieser mythischen Relationen liegt die Struktur der Metapher vor: Es gibt zwei unterschiedliche Terme (A≠B) mit einer gemeinsamen Bedeutungsidentität (A=B), die gegenüber der äußerlich wahrnehmbaren Differenz als vorrangige innere und unmittelbare Beziehung gedacht wird (A ist B).99 || 97 Als Ausgangspunkt Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft, 32. 98 Vgl. zum semantischen Unmittelbarkeitseffekt des Symbols bes. die ‚symbolische Prägnanz‘ nach Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen III, 235; ders.: „Zur Logik des Symbolbegriffs“. Zum mythischen Denken ders.: Philosophie der symbolischen Formen II, 39–90, wobei man sich bei der Lektüre von Cassirers Beschreibungen des mythischen Denkens dessen eigene Prämissen bewusst zu halten hat, die man angesichts der allzu nachdrücklichen Behauptung der mythischen Unmittelbarkeit leicht aus den Augen verliert, nämlich dass in jedem Denken „immer zugleich analytisch und synthetisch, progressiv und regressiv verfahren“ wird (44). Das gilt dann auch für das Verhältnis von Mythos und Metapher (vgl. ders.: „Sprache und Mythos“, 144–149). 99 Vgl. die Funktionsbestimmung der Metapher für den biblischen Narrationstyp durch Northrop Frye: Der Große Code, 76: „Wir müssen offensichtlich die Möglichkeit erwägen, dass die Metapher nicht eine beiläufige Verzierung der biblischen Sprache ist, sondern eine ihrer kontrollierenden

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Diese elementare Funktionsbestimmung der Metapher für den biblischen Narrationstyp bildet die abschließende Pointe der historisch-narratologisch einflussreichen Tropologie Northrop Fryes. Sie könnte auch für eine germanistisch-mediävistische Narratologie hilfreich sein, weil sie jene in der älteren Mediävistik hoch umstrittene Variante des narrativen Korrelationsprinzips aufklärt, die sich sowohl in historiographischen wie in fiktional-poetischen Texten findet: das Muster der Typologie bzw. das Figuralschema. Die Kontroverse lässt sich so resümieren:100 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wie sie schon in patristischer Zeit entsteht, gehört zwar im Hochmittelalter zum gelehrten Handbuchwissen, aber sie ist – erstens – ein Deutungsmodell, kein Dichtungsmodell. Zweitens ist sie an die besonderen Bedingungen einer geistlichen Semantik gekoppelt. Und drittens ist diese Semantik nicht primär narrativ konzipiert. Gleichwohl enthält das Modell des vierfachen Schriftsinns eine Grundoperation, die in weltlich-narrativen Zusammenhängen wiederkehrt und deren historische Relevanz wohl nur aus der Ubiquität des exegetischen Verfahrens unter der Ägide des christlichen Erlösungsmythos zu erklären ist. Die historisch-narratologische Pointe besteht nämlich darin, dass dieses Auslegungsverfahren eine semantische Relation des protonarrativen Mythos isoliert, die dem Mythos gewissermaßen seine Unschuld nimmt und ihn beim Versuch der Wiedereinführung dieser Relation in nunmehr narrative Strukturen auflöst. So beruht das Modell, wie das der vier narrativen Ebenen, zwar auf der Grundlage eines semantisch konzeptualisierten Geschehens: Dies ist die Ebene des sensus historicus oder sensus litteralis. Wenn also, um das klassische Beispiel zu nennen, von Jerusalem berichtet wird, dann ist dies im literalen Sinne eine Stadt auf Erden, in der sich bestimmte Geschehnisse zugetragen haben. Diese Geschehnisse werden aber noch nicht syntagmatisch über ihre narrative Verknüpfung als Geschichte interpretiert, sie werden sofort paradigmatisch aufgefasst und figural gedeutet, d. h. über ihre äußeren, im weitesten Sinne bildlichen Merkmale als Zeichen gelesen. So lässt sich auf einer zweiten Sinnebene Jerusalem als Bild für die Kirche verstehen. Dies ist die allegorische Auslegung, die Ebene des sensus allegoricus, auf der die Gegenstände des Glaubens dargelegt werden. Bei diesem figuralen Deutungsverfahren bleibt es auch auf den nächsten Ebenen, nur das paradigmatische Ziel ändert sich jeweils: Dem einzelnen Menschen bedeutet Jerusalem die Seele und verbildlicht deren Weg von der Sünde zur Gnade. Die Stadt Jerusalem || Denkweisen“. – Zur Leistung der Metapher und insb. zur Metaphorologie vgl. den Beitrag von Udo Friedrich i. vorl. Bd. 100 Zum vierfachen Schriftsinn grundlegend Friedrich Ohly: „Vom geistigen Sinn des Wortes“, bes. 3, 13–15. Zur älteren Forschungskontroverse vgl. ders.: „Halbbiblische und außerbiblische Typologie“. Kritisch zur Übertragbarkeit des Verfahrens auf weltliche Erzählkontexte bes. Werner Schröder: „Zum Typologie-Begriff“. Wenig später wird dafür in der Romanistik der Figura-Begriff nach Erich Auerbach: „Figura“, wiederum zur Kritik des histoire-narratologischen Ansatzes von Greimas verwendet: Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution“, 558–568. Dazu die erneute Skepsis aus germanistisch-mediävistischer Sicht bes. von Walter Haug: Literaturtheorie, 98 u. 224–227; Markus Stock: Kombinationssinn, 14f., mit der Auffassung der fraglichen Äquivalenzrelation über den Sujet-Begriff Lotmans, 17–31; zuletzt, wieder im Anschluss an Warning, Armin Schulz: Erzähltheorie, 173f.

246 | Hartmut Bleumer wird also im Sinne einer Lebensregel deutbar, deshalb ist dies der sensus moralis. Schließlich verweist Jerusalem auf die himmlische Gottesstadt, d. h. die Auferstehung und das ewige Leben. Dies ist die Ebene des sensus anagogicus, die Ebene des eschatologischen Sinns.

Für einen Vergleich mit den narrativen Verfahren weltlicher Texte sind die vier verschiedenen geistlichen Sinnebenen weniger relevant, vielmehr ist die besondere semantische Prozedur von Interesse, die von Ebene zu Ebene variiert wird. Hier scheint das Prinzip der figuralen Deutung bereits auf, das in geistlichen Zusammenhängen jeweils schon aus einer geringen formalen Äquivalenz einen paradigmatischen Verweisungszusammenhang zu konstruieren vermag. Dieses Prinzip wird dann vollends in der sog. biblischen Typologie syntagmatisch auf die Ebene des sensus historicus angewandt, wenn man so will also: auf die histoire-Ebene der Bibel, auch wenn es dabei gerade noch nicht in den Rang einer narrativen Prozedur gelangt. Gleichwohl hängt sie von ihr ab. Gerade weil die Typologie selbstverständlich vom christlichen Erlösungsmythos abhängt, kann sie aus seiner Gewissheit heraus sofort zu einer überzeitlich-heilsgeschichtlichen Interpretation des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament ansetzen. So lässt sich die Erhöhung der Schlange am Kreuz durch Mose als Typus Christi, als typologische Präfiguration des Kreuzestodes Jesu auffassen. Vor dem Hintergrund der Dominanz des christlichen Erlösungsmythos muss selbst die formale Äquivalenzrelation zwischen Typus und Antitypus im Rahmen der biblischen Exegese nur recht schwach ausgeprägt sein. Die Garantie des Sinnzusammenhangs ist schon durch die Autorität des biblischen Mythos manifest.101 Demgegenüber scheinen sich im Zusammenhang einer spezifisch künstlichen Sinnkonstitution weltlichen Erzählens die Gewichtungen zwischen Form und Sinn zu verschieben. Im weltlichen Erzählen muss die formale Äquivalenzrelation stark ausgeprägt sein, weil der mythische Sinnzusammenhang hier nicht von vornherein manifest ist. Damit wird der Begriff des Figuralschemas für das Erzählen zwar plausibel, er legt aber auch seine Herkunft aus der semantischen Identifikationsleistung der Metapher bloß.102 Nimmt man also an, dass über das Verfahren der Figuraldeutung der Blick für Äquivalenzrelationen und ihre Verweismöglichkeiten kulturell besonders eingeübt wird, dann kann man das Prinzip des Figuralschemas auch für das weltliche Erzählen ansetzen, was damit im Sinne eines künstlichen Mythos nar|| 101 Vgl. Erich Auerbach: „Figura“, 65 zur schwachen Äquivalenz, 71 u. 77 zur Über- oder Jederzeitlichkeit, 78f. zur Differenzierung von realgeschichtlicher Figuraldeutung und der allegorischen Auslegungspraxis im vierfachen Schriftsinn. 102 Zum Verhältnis von Figuraldeutung und der Figur der Metapher in der Erzähltheorie der Ansatz von Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik, 143–148, dessen Entwurf von Plot-Typen forschungsgeschichtlich einen narratologischen Ansatzpunkt für eine mediävistische Theoriebildung hätte bilden können. Die germanistische Mediävistik hat auch die jüngere, elaborierte theologische Narratologie nicht rezipiert, zu der ein Brückenschlag lohnend wäre. Vgl. den ausführlichen Forschungsüberblick bei Söhnke Finnern: Narratologie und biblische Exegese, zur Metapher 213–220.

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rative Formen generiert. Man wird freilich ergänzen müssen, dass diese Rückkehr nicht naiv ist, da es sich um eine historisch gestärkte, formalisierte Variante der metaphorischen Relation handelt, die um die Differenz hinter der Metapher weiß. Doch auch der Mythos kennt diese Differenz, nur erkennt er den Vorrang der Differenz nicht an, denn primär ist in ihm nur die Bedeutung, die sich zwischen den different anmutenden Termen einer Handlung aufspannt. Mythische Erzählungen konzeptualisieren ihre histoire-Ebene darum über eine metaphorische Relation zwischen Anfang und Ende, d. h. fassen ihre Anfangs- und Endzustände nach dem Muster A ist B; sie verwenden zunächst äußerlich differente Elemente in der Bewegung eines zeitlichen Nacheinanders, die sich nachträglich über die semantische Identitätsbehauptung zum Kreis schließen. Dieselbe metaphorische Relation verwenden Mythen aber auch zwischen histoire und discours: Die Geschichte ist die Erzählung bzw. die Erzählung ist die Geschichte. Darum hat der Mythos auch keinen Erzähler: Es gibt keine narrative Distanz zu ihm. Es scheint: Der Mythos erzählt sich selbst. Das Verhältnis von Sprache und Mythos ist derart ebenso zyklisch wie der Mythos selbst. Bereits die semantische Unmittelbarkeit von Mythos und Metapher beruht damit aber, das ist entschieden festzuhalten, auf einer gegenläufigen Doppelstruktur.103 Das mythische Denken kennt schon in seinem Symbolbegriff die Differenz, nur setzt dieser sie mit der Identität wieder in eins, indem er der semantischen Relation eine höhere Relevanz für die Konstituierung der Wirklichkeit einräumt als den in ihr vorhandenen objektiven Unterscheidungen. Dass die semantische Relation in der mythisch konzeptualisierten Wirklichkeit real wirksam ist, heißt damit aber gerade nicht, dass es für das mythische Denken keine objektive Wirklichkeit gibt. Ohne einen solchen Wirklichkeitsbegriff kommt diese Sicht gerade nicht aus, er liefert die Grundbedingung ihrer Semantik, nur geht die Semantik nicht aus der Wirklichkeit hervor, sondern umgekehrt gehorcht diese Wirklichkeit schon immer den Regeln der Semantik – gerade weil es verschiedene wirkliche Dinge gibt, kann sich zeigen, dass diese immer schon eine gemeinsame Bedeutung haben. Auf dieser Doppelstruktur beruht die fortwährende ‚Arbeit am Mythos‘, d. h. die wiederholte Interpretation von Mythen durch das Erzählen.104 Sie wird dabei selbst syntagmatisch exemplarisch in der Erzählform des Exempels und zugleich paradigmatisch offengelegt in der Offenbarungsleistung der Legende – hier nun unter Verwendung des figuralen Denkens.105 Mit dieser syntagmatischen wie paradigmati|| 103 „Und es gibt keine einzige noch so ‚primitive‘ und unreflektierte Phase des Erfahrungsbewußtseins, in der dieser sein Grundcharakter nicht schon klar erkennbar wäre“ (Ernst Cassirer: „Das mythische Denken“, 45f.). 104 Vgl. zu dieser permanenten Auslegungsbewegung die klassische Studie von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 105 Die Begriffe des Exempels und des Exemplarischen sind nicht mit denen der praxeologischen Narratologie von Hübner zu verwechseln; zum Unterschied ausdrücklich ders.: „Eulenspiegel und

248 | Hartmut Bleumer schen Ausdifferenzierung entsteht die narrative Ebene der Geschichte mit ihren axiologischen Besetzungen zwischen Immanenz und Transzendenz, damit aber zugleich auch der Begriff der Narration, d. h. des erst durch die Struktur der Geschichte vollends definierbaren narrativen Diskurses. So ist das Exemplum eine Geschichte, die immer wahr ist, das Spiel ihrer narrativen Axiologie verlangt eine hermeneutische Grundleistung angesichts der transzendenten Werte der histoire-Ebene, die zum Verstehen des Guten führt. Syntagmatisch gilt hier darum A=B. Die Legende ist dagegen eine Narration, d. h. ein narrativer Diskurs, der die Wahrheit durch das Geschehen bezeichnet. Weil aber das Bekenntnis oder auch das Wunder der Legende als Zeichen Gottes dieser Wahrheit wieder Einlass in die Wirklichkeit bietet, nachdem sie zuvor durch die Sünde aus der Wirklichkeit verbannt worden war, erscheint die Wirklichkeit durch das Wunder als wahrer Text lesbar. Hier gilt also paradigmatisch A=B. In beiden Fällen, in der Geschichte des Exempels wie in der Narration der Legende, darf damit die metaphorische Relation des mythischen Denkens als grundlegende semantische Operation gelten. Sieht man dagegen von der mythischen Bedeutungsbehauptung der Metapher ab, so entsteht eine vereinfachte sprachliche Relation, die an einem einfachen Realitätskonzept ansetzt, von dem sich dann die Sprache als eigene Ebene abspaltet: Gefasst werden kann diese Relation im Begriff der Metonymie. Ihre sprachliche Relation beruht auf dem Begriff des arbiträren sprachlichen Zeichens mit der Differenz von Signifikant und Signifikat. Die Rhetorik definiert die Metonymie als Redefigur, die zwei sprachliche Begriffe für real aneinander angrenzende Dinge oder Handlungen gegeneinander austauscht. Für die Metonymie ist also zwischen Sprache und Welt, discours und histoire klar zu differenzieren, die Austauschbeziehung liegt auf der discours-Ebene vor, sie hängt von einer ‚Kontiguitätsbeziehung‘ der als wirklich konzipierten histoire-Ebene ab, d. h. sie setzt im Unterschied zur Metapher an einem gemeinsamen Wirklichkeitszusammenhang an, in dem etwa ein räumlicher, zeitlicher oder kausaler Konnex besteht (z. B. Gefäß für Inhalt, Erzeuger für Erzeugnis). Die Metonymie lässt die Wirklichkeit damit aber als solche semantisch völlig unangetastet, sie behauptet gerade keinen ihr vorgängigen oder sie durchgängig bestimmenden semantischen Primat, sondern macht im Gegenteil ihre sprachliche Wirkung ausschließlich von der Wirklichkeit abhängig, auf die sie nur referiert. Das semantische Konzept dieses Tropus ist damit extensional. Nicht der Tropus konzeptualisiert hier die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit konzeptualisiert den Tropus. Im Bereich der einfachen Formen kann der Kasus das metonymische Sprachund Wirklichkeitskonzept illustrieren. Die Sprache referiert hier auf die Wirklichkeit, ohne an deren Gestaltung mitzuwirken, sie glaubt, eine sichere Beziehung zwischen Signifikat und Referent herstellen zu können und macht sich in ihrer Rationa-

|| die historischen Sinnordnungen“, 176f., Anm. 3. Zum Strukturproblem des Exempelbegriffs mit Bezug auf den des Kasus oben, nach Anm. 78.

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lität ganz von den Sachverhalten und den sie in der Wirklichkeit konstituierenden Normen abhängig und verhandelt sie dort. Übernimmt das Erzählen dagegen die begrifflichen Möglichkeiten für den Diskurs und wendet ihn intentional auf die in der Sprache gebildeten Begriffe an, dann dominiert der Tropus der Synekdoche. Der Zeichenbegriff ist hier der gleiche wie bei der Metonymie. Dabei ist die Synekdoche jedoch klassisch dadurch definiert, dass semantisch weitere Begriffsinhalte oder Signifikate durch engere oder aber engere durch weitere verwendet werden, also etwa die Gattung für die Art oder aber die Art für die Gattung gesetzt wird, indem man etwa ‚Tier‘ für ‚Löwe‘ setzt o. ä. Damit bietet die Synekdoche nicht nur eine Abstraktionsleistung, sie offenbart auch die Kompositionsleistung der Sprache gegenüber der Welt. Sie beginnt mit einem Spiel der Signifikate und beginnt damit die Beziehungen auf die Referenten herauszufordern, was die Signifikate zugleich von den Referenten ablöst. Der Synekdoche entspricht darum keine einfache Form, sondern sie erscheint eher auf der sprachlichen Ebene und wäre mit Blick auf die narrativen Formen der Ebene der Erzählung zu parallelisieren. Die oft betonten Schwierigkeiten, die Synekdoche von der Metonymie zu unterscheiden, vor allem, indem die Pars-pro-toto-Relation, die sich über eine wirkliche Beziehung ausdrückt (z. B. ‚er starb von seiner Hand‘ für ‚er starb durch ihn‘) und damit zur Metonymie zählt, versehentlich als Synekdoche aufgefasst wird, sind dabei hoch interessant, denn sie beruhen auf dem durchgängigen Einfluss des mythischen Denkens auch im rationalen Sprachverständnis. Vielleicht deshalb haben in der Mediävistik Harald Haferland und Armin Schulz den Metonymiebegriff anders verstanden. Dabei zielen Schulz/Haferland auf die vermeintlichen semantischen Unmittelbarkeiten der symbolischen Kommunikation, die auch im Erzählen wiederkehren.106 Wenn z. B. mit einer Garbe Stroh ein Feld, von dem die Garbe stammt, in Besitz genommen werden kann, dann verstehen die Verfasser diese symbolische Handlung als metonymische bzw. als ‚erweiterte metonymische‘ Beziehung. Diese Erweiterung besteht darin, dass eben nicht einfach die bloße objektive Herkunft der Garbe ausreicht, um auf das Feld, von dem sie stammt, zu verweisen. Vielmehr hat die Garbe die konkrete Bedeutung des Feldes. In Wahrheit ist die Garbe das Feld, weil sie es in Wirklichkeit nicht ist. Das wird mit der paradoxen Formel ausgedrückt: Die Garbe ist das Feld, oder aber A ist B. Das ist freilich keine metonymische, sondern die klassisch-metaphorische Relation.107 Auf ihrem Doppelcharakter ist zu insistieren, denn ohne ihn ist der paradoxe Effekt der semantischen Unmittelbarkeit gerade nicht erklärbar. Darum ist die Metonymie als einsin|| 106 Vgl. die Entwicklung der Überlegungen zum ‚metonymischen‘ Erzählen aus dem Symbolbegriff zuerst bei Harald Haferland: „Das Mittelalter“, hier etwa am Bsp. der Rechtssymbolik, 41f. Vgl. auch ders./Armin Schulz: „Metonymisches Erzählen“, 41. Zu den Begriffsproblemen des Ansatzes s. o., nach Anm. 94. 107 Zur paradoxen Zuschreibungsleistung des ‚ist‘ in der Metapher die Metapherntheorie von Paul Ricœur: Die lebendige Metapher.

250 | Hartmut Bleumer niger Begriff zur Erklärung der semantischen Unmittelbarkeitseffekte mittelalterlichen Erzählens ungeeignet. Das terminologische Missverständnis ist gleichwohl hilfreich, weil es letztlich doch zur Besinnung auf den besonderen historischen Wert einer Grunddefinition des Linguisten Roman Jakobson zum Verhältnis von Metonymie und Metapher führt. Jakobsons Vorschlag galt nicht etwa narrativen Strukturen, sondern allgemeiner der poetischen Funktion der Sprache. Sie passt zum tropologischen Modell insoweit, als dieses an der poetischen Funktion ansetzt. Jakobson setzt die Metonymie als eine in der Prosa dominante syntagmatische Kontiguitätsrelation an, während die Metapher für ihn eine in der Poesie dominante, paradigmatische Similaritätsrelation ist, bestimmt dann die poetische Funktion der Sprache durch die Kreuzung dieser beiden Relationen, mit der berühmten Formel: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.“108 Anders gesagt: Metonymische Syntagmen werden durch metaphorische Relationen poetisch. Unter tropologischer Perspektive ist die Möglichkeit der syntagmatischen Verwendung der metaphorischen Relation nicht nur wenig verwunderlich, sie ist sogar mit der poetischen Funktion der Sprache systematisch an den Anfang dieser Bestimmung zu stellen, was es erlaubt, noch weitergehend nicht aus Sicht der Prosa von der Metonymie zur Metapher, sondern aus Sicht der Poesie von der Metapher zur Metonymie zu formulieren. Dann läge die umgekehrte Projektion vor, wie sie sich beispielhaft im oben genannten Sujetbegriff von Lotman niedergeschlagen hat:109 Die Metapher dient dann nicht im metonymischen Syntagma der Kombination, sondern die Metapher erreicht durch das metonymische Syntagma ihre Expansion. Damit wäre aber genau jene Bestimmung der Geschichtsstruktur auch über die Tropologie erreicht, die im Modell von Schmid über dessen Ereignisbegriff und seiner Expansion zur Geschichte angesetzt worden war (A=B). Sie findet sich auch wieder im Begriff des kompositorischen Motivs oder Erzählkerns, sofern dieser mit Roland Barthes dezidiert als ‚metaphorisches Relatum‘ verstanden wird.110 Damit ist der Argumentationskreis für ein Modell der historischen Narratologie fast geschlossen. Es ist aber zuzugeben, dass auf der Metapher eine erhebliche Begründungslast liegt. Gerade darum kommt es auf ihre Einbindung in die skizzierte historische Erzähltheorie an: Die Geschichte ist ohne die Metapher nicht denkbar, aber trotz ihrer grundlegenden Funktion steht auch sie unter dem narrativen Korrelationsapriori, das für die vier Tropen ebenso gilt wie für die vier narrativen Ebenen: || 108 Roman Jakobson: „Poetik und Linguistik“, 153; ders., „Der Doppelcharakter der Sprache“. 109 Vgl. den Hinweis auf die strukturelle Identität der Überlegungen von Lotman und Jakobson bei Rainer Warning: „Norm und Transgression“, 181f. 110 Vgl. die Unterscheidung in rein handlungsfunktionale ‚metonymischen Relata‘ und die hier gemeinten, hochgradig semantisch wirksamen ‚metaphorischen Relata‘, denen Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse“, 112, etwas orakelhaft eine „Funktionalität des Seins“ zuspricht.

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Die Metapher garantiert die semantische Substanz im Zusammenhang des Geschehens, aber sie ist ihrerseits auf die Metonymie angewiesen, um in der Geschichte syntagmatisch zu expandieren. Die Metonymie wiederum wird erst im Übergang zur Erzählung von der Geschichte abgelöst und wird zur rein begrifflichen Redefigur der Synekdoche. Werden diese begrifflichen Möglichkeiten indes erst einmal vollends erkannt und steht der Konstruktionscharakter des gesamten narrativen Diskurses vor Augen, dann kommt angesichts des gesamten Modells ein Zweifel an seinem Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch auf. Die entsprechende Redefigur, die den Modellcharakter selbst noch in diesem Zweifel reflektiert, ohne damit das Modell schon aufzulösen, ist die der Ironie.111 Sie weiß, über die Synekdoche hinausgehend, nicht nur vom Spiel der Signifikate, sondern sie spielt überdies mit den Signifikanten und gewinnt damit beständig einen doppelten Sinn. Die Ironie bildet damit, entsprechend der Narration, als konzeptionelles Gegenstück zum semantischen Unmittelbarkeitspostulat der Metapher den Abschluss der tropologischen Reihe, wobei auch hier wiederum gilt, dass nun die Reihe der Tropen über die Verbindung mit dem Ebenenmodell aufs Neue von Anfang an durchlaufen werden kann. Je stärker die Ironie dabei ausgeprägt ist, umso deutlicher versetzt sie Geschichte und Diskurs dabei in eine literarische oder fiktionale Schwebesituation.112 Dominant metaphorisch strukturierte Handlungsstränge lassen sich also durch gegenläufige Intrigen ironisieren, sie können vom Erzähler ironisch präsentiert werden, der Erzähler kann zu seiner Narration und seiner Rolle in ironische Distanz treten. Dann kann diese Ironie etwa zeigen, dass auch die Identitätsbehauptung des Erzählers zu seiner Rolle (z. B. ‚Ich bin Wolfram von Eschenbach‘, vgl. Parzival, 114,12) ihrer paradoxen Struktur nach eine Metapher ist (A=B) etc. Die Aleatorik der Begriffe liegt auf der Hand und muss darum nicht mehr weiter durchgespielt werden. Abschließend mag ein Schema zur Veranschaulichung genügen.

|| 111 Zur Leistung der Ironie exemplarisch am Bsp. Nietzsches Paul de Man: Allegorien des Lesens, 159f. Die Ironie fungiert auch im Ansatz de Mans als dekonstruierender Gegenpol zum semantischen Basistropus der Metapher; vgl. Werner Hamacher: „Unlesbarkeit“, 10–13. 112 Vgl. unter Zuhilfenahme des Fiktionalitätsbegriffs am Bsp. des Erzählers bei Chrétien de Troyes Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution“, 578–586. Treffender scheint mir der Literarizitätsbegriff im Anschluss an die Einschätzung der figurativen Sprache von Paul de Man: Allegorien des Lesens, 40: „[I]ch [würde] nicht zögern, die rhetorische, figurative Macht der Sprache mit der Literatur selber gleichzusetzen“, weil durch die Ironie dann selbst die Gewissheiten des Fiktionalitätskontraktes in Frage stehen und so gerade aus poststrukturalistischer Perspektive die Geltungsansprüche mittelalterlicher Literatur wieder stärker ins Spiel kommen, die sonst in Frage stehen; vgl. Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution“, 583.

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Abb.: Historische Narratologie

6 Beispielanalyse: Der Arme Heinrich Hartmanns von Aue .

6.1 Erzähler und Autor, Text und Narration Das Erzählen Hartmanns von Aue gilt als grundsätzlich ironisch. Der Tropus ist auf Hartmanns Romane als Denkfigur auf den Ebenen von Geschehen und Geschichte ebenso angewandt worden wie als Redefigur auf den Erzähler und das Verhältnis seiner Narration zu seiner Erzählung.113 Das Sprachverständnis ist in Folge dieses Tropus von vornherein hochdifferenziert, es lebt in den Romanen und geistlichen Erzählungen von der Gleichzeitigkeit einer unmittelbar metaphorischen Semantik, deren Spannung zu einer metonymisch verfassten Realität sowie der ironischen Bre|| 113 Zur Ironisierung des Erzählers und seiner damit verbundenen spürbaren Abspaltung vom Autor im Iwein W. H. Jackson: „Some observations“. Zur Verbindung von Ironie und Ernst Silvia Ranawake: „Zu Form und Funktion der Ironie“, zum ‚Armen Heinrich‘ 110–113. Allgemein grundlegend Dennis Howard Green: Irony. Als exemplarisches Bsp. der von Green abschließend herausgestellten ‚strukturellen Ironie‘ in strukturalistisch-histoire-narratologischer Sicht bes. die Anwendung des Begriffs auf den Iwein durch Ralf Simon: Einführung, 218–221.

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chung im narrativen Diskurs führt. Dabei gilt die Spannung der Denk- und Redeweisen insb. dort, wo sich das Erzählen der geistlichen Erzählmuster der Legende und ihrer Wahrheitsvorstellung bedient. Am Armen Heinrich sei daher der genannte Zusammenhang entlang des Modells der narrativen Ebenen illustriert. Im Prolog des Armen Heinrich wird sofort deutlich, dass dieser Text ohne ein Verständnis für die paradoxe Korrelation der narrativen Ebenen nicht zu interpretieren ist (1–46).114 Denn einerseits wird textintern eine Situation entworfen, in der ein Erzähler seinem Publikum eine Narration präsentiert. Die erste Figur aber, die in dieser Narration erscheint, ist der Autor des Erzähltextes, der also auch den Erzähler hervorgebracht hat, der aktuell spricht. Der Autor ist der Erzählgegenstand des Erzählers, der Erzähler ein Erzählgegenstand des Dichters. Diese Korrelation setzt sich fort, denn vom Autor wird nun erzählt, dass seine weiteren Erzählgegenstände nicht einfach vorlagen. Er musste sie suchen, wobei es ihm um eine materia ging, die es überhaupt wert war, erzählt zu werden. Seine Suche vollzog sich auf dem Weg der fortgesetzten Lektüre und galt einem axiologisch gehaltvollen Geschehen, dessen Semantik drei Erwartungen erfüllen sollte: 1. sollte es erbauen, 2. sollte es Gottes Ansehen dienen und 3. sollte es dem Autor das Wohlwollen seines Publikums einbringen. Damit offenbart die Narration ohne Umschweife ihr axiologisches Paradigma: Gott ist die Instanz, von der die Hierarchie der Werte in der folgenden Geschichte abhängt. Und die Isotopieebene der Geschichte ist das Heil. Ausgehend von dieser axiologischen Vorgabe konkretisiert sich das Erzählen geradezu als Musterfall des vierstufigen narrativen Ebenenmodells: Vor der Präsentation durch den Erzähler auf der Ebene der Narration (4.) hat der Erzählgegenstand drei Phasen durchlaufen: 1. (Geschehen) eine allgemeine Phase der sammelnden Lektüre aller schriftlich überlieferten Gegenstände (er nam im manige schouwe / an mislîchen buochen; / dar an begunde er suochen, vv. 6–8), 2. (Geschichte) den spezifischen Auswahlakt des geeigneten Gegenstandes (ob er iht des vunde, / dâ mite er swære stunde / möhte senfter machen, vv. 9–11) sowie 3. (Erzählung) nach dessen Auffinden dessen deutende Gestaltung durch den Autor (nu beginnet er iu diuten, v. 16). Die rede (v. 17), d. h. der Diskurs, in welchem der Gegenstand aufgefunden wurde, wird nämlich nur dem mære (v. 29), seiner Geschichte nach, wiedererzählt: Die || 114 Ausgabe: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. v. Hermann Paul, 16., neu bearb. Aufl., bes. v. Kurt Gärtner, Tübingen 1996 (ATB 3). Der Kommentar in der Ausgabe: Hartmann von Aue: Gregorius, Armer Heinrich, Iwein, hg. u. über. v. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6), 878–941, ist für das Folgende mitzulesen. Forschungsgeschichtlich grundlegend für die Analyse der Erzählstruktur ist der motivgeschichtlich-erzähltypologische Ansatz von Kurt Ruh: „‚Armer Heinrich‘“, der für den Text trotz der aufgedeckten narrativen Divergenzen die exemplarische Verbindlichkeit betont hat. Den forschungsgeschichtlichen Kontrapunkt dazu liefert, durch die stärkere Akzentuierung der reflexiven Freisetzung der konkurrierenden Erzählmuster bzw. Intrigen, die Skizze von Walter Haug: „Poetologische Universalien“, 282. Zum Verhältnis von Autor und Erzähler im ‚Armen Heinrich‘, den Forschungsstand markierend, zuletzt Monika Unzeitig: Autorname und Autorschaft, 234f., Anm. 127.

254 | Hartmut Bleumer narrative Ausgestaltung, die arbeit (v. 19) des Dichters, die der Erzähler betont, liegt demnach in seiner sprachlichen Auslegung der Erzählung, die sich dann je aktuell als Akt der Narration vollzieht. Auf den ersten Blick scheint es, als ob diese Schrittfolge vom Material bis zu seiner konkreten Präsentation schon der mittelhochdeutschen Wortwahl nach sowohl über Begriffe der Rhetorik als auch über die narratologische Terminologie zu beschreiben wäre. Es kommt aber gerade hier darauf an, dass die narrativen Ebenen und die partes artis nicht deckungsgleich sind. An den Ebenenübergängen sind inventio, dispositio und elocutio dezidierte Akte des Rhetors oder Dichters, sie meinen seine Handlung des Findens (v. 9), d. h. die Selektion im Übergang von Geschehen und Geschichte, seinen Akt der narrativen Ordnung im Übergang von Geschichte und Erzählung (v. 16) und seine sprachliche Handlung bei Umsetzung der Erzählung in die Narration (v. 19). Ferner ist beim Übergang vom rhetorischen auf den poetischen Diskurs als Unterschied festzuhalten, dass sich die Handlung des Dichters nicht als Rede vor Gericht ereignet, dass sie sich demnach nicht primär argumentativ, sondern narrativ vollzieht und dass sie schließlich in einem schriftlichen Text und nicht in mündlicher Rede endet. Darum scheinen auch die Begriffe der memoria und der pronuntiatio aus Sicht des rhetorischen Modells als Produktionsstadien der Rede übrig zu bleiben, weil sie für die Rhetorik im Redner und nicht im Text situiert sind: Der Redner muss sich an den Text vor Gericht erinnern und ihn dann mündlich aktualisieren. Aus Sicht des schriftlichen Erzählmodells lassen sich die beiden Phasen jedoch integrieren, nur haben sie im Rahmen der zeitlichen Struktur der Geschichte eine andere Position. Da der Erzähler hier im Erzähltext auftritt und seine Geschichte nicht, wie die chronologische Schrittfolge zur Produktion einer Rede, linear konzipiert wird, kommen auch memoria und pronuntiatio im Erzähltext selbst vor, und zwar nicht als abschließende Produktionsstadien des rhetorischen Diskurses, sondern als Voraussetzung des narrativen Diskurses: Der Erzähltext selbst ist das Medium der memoria, Geschichte und Erzählung sind in ihm die medialisierenden Strukturen des Erinnerns und der im Text auftretende Erzähler steht in ihm für den Akt des Vortrags. Schon mit dieser textuellen Internalisierung beginnt die Verschiebung von den argumentativen zu den narrativen Strukturen, die im Erzähltext primär sind: Das lineare rhetorische Produktionskonzept, das mit einem Fallgeschehen beginnt und mit der Rede endet, wird zu der typisch narrativen Kreisfigur der Ebenenkorrelation. In diesem Sinne ist der Auslegungs- und Präsentationsakt zunächst Teil einer Handlung zwischen Dichter und seinem Publikum. Entscheidend für diese Interaktion ist, dass auch sie bereits narrativ konzipiert ist: Der Autor hofft nämlich am Ende auf einen höheren Lohn für seine Tätigkeit. Als Vermittlungsinstanz für diesen Lohn fungiert das Publikum, das seine Erzählung hört oder liest. Dieses möge im Gegenzug bei Gott für das Seelenheil des Autors bitten. Damit ist bereits wieder das rhetorische Modell der Gerichtssituation aufgerufen, in dem Gott nach dem Votum des

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Publikums als Richter das Urteil spricht. Aber die Instanzen werden sofort umbesetzt, auch ihre Ansprüche drehen sich im Kreis und setzen am Ende jenen axiologischen Mehrwert frei, der am Anfang über die Berufung auf Gott in die Basis des Materials eingespeist worden war: Der Autor bessert mit seinem Text das Publikum, das so gebesserte Publikum bittet dafür danach bei Gott für das Heil des Autors, was wiederum heißt, dass es implizit auch für sein eigenes Heil sorgt. Diese wertsteigernde Korrelation ist ein typisch narrativer Mechanismus, er wird aber wieder den Regeln der Rhetorik folgend in einem markierten Proverbium unterstrichen: Wer für die Schuld eines anderen bittet, der ist sein eigener Bote und erlöst sich selbst (man giht, er sî sin selbes bote / und erlAse sich dâ mite, / swer vür des andern schulde bite, vv. 26–28). Überzeugend wird dieses Proverbium indes erst dadurch, dass es auf einen narrativen Dreischritt zurückgeht. Er führt von der anfänglichen Einsicht in die Erlösungsbedürftigkeit über die zentrale arbeit am Ende zur Erlösung. Die paradoxe Struktur dieses Dreischritts besteht nämlich darin, dass er nicht argumentativ geschlossen, sondern am Ende gerade offen ist, dass also sein Ende eigentlich kein Ende ist. Auch an dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zwischen der Rhetorik und der Narrativik. Die Rhetorik vor Gericht zielt auf eine Urteilsinstanz, die durch Gott oder das Publikum vertreten wird. Die Rede will hier letztlich zu einem abschließenden Urteil bewegen. Die Narrativik zielt demgegenüber auf einen fortgesetzten Prozess der Besserung, der gerade offen und, wie das Heil, paradoxerweise über das Ende des Diskurses hinausgehend, d. h. nicht endlich ist. Diese Paradoxie des nicht endlichen Endes ist für die narrative Semantik von prinzipieller Bedeutung, die Rhetorik kennt sie gerade nicht. Der narrativen Strukturlogik zufolge wird das Ende in seinem Ende immer aufgeschoben: Der Ertrag des Erzählens liegt immer auf einer höheren Ebene und scheint etwas Unendliches zu haben. Konkret heißt das hier zunächst: Der Dichter kann das Publikum nicht einfach bessern und umgekehrt kann auch das Publikum dem Autor das Seelenheil nicht direkt verschaffen. Besserung und Seelenheil sind vielmehr axiologische Emergenzeffekte des Erzählens, die durch Gott sanktioniert werden. Spätestens mit dieser Einsicht gerät der Prolog unter Ironieverdacht. Denn ganz im Gegensatz zu dieser demütigen Einsicht ist der Einsatz der rhetorischen Mittel spürbar hoch und droht damit den narrativen Anspruch zu unterminieren.

6.2 Geschehen, Geschichte und Axiologie Die Geschichte im Armen Heinrich ermöglicht es gewissermaßen, der axiologischen Emergenz bzw. der narrativen Sinnproduktion zwischen den narrativen Ebenen modellhaft zuzuschauen. Diese Möglichkeit verdankt sich prinzipiell der doppelten Zeitlichkeit des Erzählens. Der Erzähler steht mit seinem Diskurs noch am Anfang seines Erzählens, während für den im Präteritum benannten Dichter die Gestaltung des Textes schon zu Ende ist. Damit öffnet sich sofort die Schere des epischen Präte-

256 | Hartmut Bleumer ritums schon auf der Ebene der Narration und dokumentiert eine eigene semantische Spannung als Erzählgeschichte: Was der Erzähler gegenwärtig im narrativen Prozess an Werten an sein Publikum vermittelt, geht schließlich bzw. von vornherein auf das Konto des Dichters, dessen an Geschehen und Geschichte ansetzende Textproduktion prinzipiell vergangen ist, dessen Lohn, das durch arebeit an Erzählung und Narration erhoffte Heil, aber immer wieder zukünftig ist. Diese Vergangenheit des Textes wird in der Gegenwart des Erzählens aufgehoben, so wie das Erzählte als präsent erscheint, obwohl es im Präteritum erzählt wird. Zwischen der erzählten Welt und der Instanz, die sie hervorgebracht hat, wiederholt sich die besagte Korrelation, und zwar gleich doppelt: So wie die Erzählung das Publikum bessern und das Publikum wiederum für den Dichter Fürbitte halten soll – oder mit den Worten des Proverbiums: Wie die Erzählung an der Erlösung des Publikums arbeitet und umgekehrt das Publikum an der Erlösung des Dichters –, so erscheinen in der Geschichte dieses Dichters ein Ritter und ein Mädchen, die sich gegenseitig erlösen, indem sie jeweils ganz für ihr Gegenüber eintreten. Dafür wird den erzählten Figuren, wie der Erzähler am Ende weiß, das Seelenheil zuteil (vgl. vv. 1514–1517). Auf diese Weise kehrt also die narrative Bewegung, die sich im Modell der narrativen Ebenen vertikal vollzieht, horizontal gespiegelt in der erzählten Geschichte wieder: und dies in ausführlicher Form und schematisch vermittelt. Die Geschichte beginnt mit einer ausführlichen axiologischen Besetzung, die den Protagonisten und seine Intrige definiert.115 Das Erzählen situiert die Geschichte in einem doppelten gesellschaftlichen Wertehorizont, es geht um einen Adligen, einen herre […] ze Swâben (vv. 30f.), der das weltliche Rittertum in idealer Weise verkörpert: Seinem hohen angeborenen Stand (er ist seiner geburt nach den vürsten gelîch, vv. 42f.) entsprechen ein hohes Maß an materiellem Besitz, aber auch sein hohes gesellschaftliches Ansehen und seine vollkommenen ritterlichen Tugenden. Damit ist ein Ausgangszustand über ein ausgewogenes immanentes Zusammenspiel von objektiven, materiellen und subjektiven, gesellschaftlichen Werten definiert, deren Idealität durch die freude des Protagonisten symbolisiert wird (vgl. vv. 75–81). Diese gesellschaftliche Hochgestimmtheit ist indes hochmuot, d. h. superbia, wenn sie nicht über einen höheren Wertebereich legitimiert erscheint: den der geistlichen Werte. Denn die immanenten Werte des Besitzes und der nützlichen Tugenden, die das weltliche Ansehen vermehren, sind nicht durch transzendente Werte gedeckt. Um diese überhaupt wahrnehmen zu können, erleidet der Protagonist syntagmatisch eine massive Schädigung auf der Ebene der materiellen Werte, die einen Teilverlust der gesellschaftlichen Werte nach sich zieht: Er wird vom Aussatz befallen, was ihn in die gesellschaftliche Isolation drängt; seine abstoßende Gestalt zwingt ihn, die Gesellschaft körperlich zu verlassen. Die körperlich-materiellen Einbußen schließen ihn zugleich von den Möglichkeiten der ritterlichen Ehre aus.

|| 115 Zum Begriff der Intrige s. o., Anm. 30 u. ö.

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Das Verhältnis von materiellen und gesellschaftlichen Werten ist so in ein immanentes Ungleichgewicht geraten, das die Handlung nach dem Prinzip der Homöostase in Gang setzt. Die Strategie des Protagonisten ist darauf gerichtet, das Ungleichgewicht durch eine immanente Gegenhandlung wieder in einen Gleichgewichtszustand zurückzuführen. Er sucht einen Arzt in Salerno auf, der ihm eine konkrete Möglichkeit seiner Heilung (und damit der Rückkehr in seinen alten Zustand) aufweist. Die dazu nötige Arznei zu erhalten, erscheint jedoch praktisch äußerst unwahrscheinlich, denn Heinrich kann nur geheilt werden, wenn eine Jungfrau im heiratsfähigen Alter bereit ist, sich freiwillig für ihn zu opfern (vgl. vv. 224– 232). Diese Irritation zeigt bereits: Krankheit, Opfer und Heilung sind kompositorisch motiviert, mithin Motive. Darauf wird im Rahmen der Analyse der Erzählebene zurückzukommen sein. Vorerst ist indes für die Geschichtsebene festzuhalten: Weil der Protagonist die Unwahrscheinlichkeit der Heilungsmöglichkeit erkennt, zieht er sich zurück und zeigt dabei noch einmal das alte, nur immanente axiologische Handlungskalkül. Indem er seine materiellen Güter im Sinne der feudalen Verpflichtungen wohlüberlegt (bescheidenlîche, v. 251) an die Kirche, bedürftige Getreue und Arme verteilt, zeigt sich nochmals seine weltliche Tugendhaftigkeit (vgl. vv. 246–256). Diese gesellschaftliche Tugendhaftigkeit ist zweckrational, d. h. sie folgt syntagmatisch einem Dienst-Lohn-Kalkül; Heinrichs Handlung ist kausal motiviert. Diese kausale Motivation macht die Erzählung über einen Rückgriff klar: Weil er sich in der Vergangenheit stets einem Meier gegenüber als idealer, milter Herr erwiesen hatte, hält dieser nun im Gegenzug dem Adligen gegenüber die Treue und nimmt ihn trotz seiner Erkrankung auf. Heinrich erhält so auf der Ebene der gesellschaftlichen Werte zurück, was er materiell gegeben hat. Damit ist ein neues, stabiles Werteverhältnis auf niedrigerem Niveau der materiellen Werte erreicht. Es folgt aber dem alten, zirkulären Wertekonzept im gesellschaftlichen Werthorizont weltlicher Immanenz. Auf dem Hof des Meiers geschieht nun jedoch das völlig Unwahrscheinliche. Die Tochter des Bauernpaares zeigt sich bereit, für Heinrich zu sterben. Damit beginnt eine zweite, genau gegenläufige Handlung, d. h. eine zweite Intrige, deren eigenes Kalkül für die Analyse zunächst ausgeklammert bleiben soll. Mit Blick auf die Intrige des armen Heinrich ist dann festzuhalten: Das Opferungsmotiv ist nicht nur kausal zunächst unerklärlich, es ist auch durch die Bereitschaft, in den Tod zu gehen, definitiv vom Ende her gedacht, d. h. es handelt sich um eine finale Motivation des Geschehens. Doch auch in dieser Unwahrscheinlichkeit wiederholt sich das syntagmatische Kalkül mit seinem Zirkel immanenter Werte: Darum sind auch hier die Werte in einer rein horizontalen Austauschbeziehung zirkulär angelegt. Spielt man dieses logische Kalkül zunächst für Heinrich weiter fort, dann sieht man bereits, dass mit ihm allein gegenüber dem Ausgangszustand des Adligen nichts gewonnen werden kann. Kausalität und Finalität heben sich auf, ein eigentlicher axiologischer Ertrag bleibt aus. Ein Adliger erscheint als ideal, er erkrankt und verliert seine Idealität, eine Jungfrau stirbt für ihn und dadurch erhält er seine Idea-

258 | Hartmut Bleumer lität zurück. Der Schluss wäre als Happy End kausal begründet und doch irritierend zweifelhaft. Diese Irritation liegt nicht einmal daran, dass zur Rettung des gesellschaftlichen Idealzustandes eine Jungfrau den Tod finden muss. Sie wird vielmehr durch die schlichte Kausalität der Handlung verursacht, die über das Kalkül der immanenten Werte auch dann syntagmatisch wirksam bleibt, wenn der finale Tod der Jungfrau ausbleibt. Diese muss sich nicht opfern, weil Heinrich durch ein Wunder geheilt wird. Er kehrt schöner als zuvor in sein Land zurück, wird noch reicher an Besitz und Ansehen als vorher und zeichnet sich durch vollends vollkommene Taten aus (vgl. vv. 1430–1436). Den Meiersleuten schenkt er Besitz und damit die Freiheit. Mehr noch: Heinrich heiratet, nach Beratung mit seinen Freunden und Verwandten, die nunmehr freie Meierstochter. So zusammengefasst bleibt die Frage, warum der Endzustand Heinrichs besser sein soll als der Ausgangszustand. Anfang und Ende der Geschichte bilden nämlich keine irgendwie signifikante Opposition, der Protagonist vertritt am Anfang bereits das gesellschaftliche Ideal, am Ende hat er quantitativ einen Zuwachs an gesellschaftlichen Werten erreicht; da sich qualitativ aber gar nichts verändert hat, ist der immanente Zuwachs an Werten redundant. In Wahrheit ist der bislang in den Blick genommene Wertezuwachs nur eine geschlossene Kreisfigur. Erst über das transzendente Paradigma der geistlichen Werte wird dieser axiologische Zirkel auf der Ebene der Geschichte aufgebrochen. Dem entspricht die Motivierungsart auf der Ebene der Erzählung. Der Bruch ereignet sich mit Hilfe der zweiten Handlung. Der Protagonist stößt am Meierhof auf eine Antagonistin mit ihrer eigenen Intrige, d. h. es zeigt sich das zweite narrative Programm des Erzähltextes. Das narrative Kalkül der maget ist dem Helden zunächst nur technisch eine Hilfe, axiologisch ist es ganz eigennützig. Zur Verdeutlichung lässt sich ihre Intrige so entwerfen: Eine Jungfrau hat einen kranken Herrn, erfährt von der Möglichkeit seiner Heilung durch ihren Tod und beschließt, die Heilung des Herrn zum Vehikel der eigenen Heiligung zu machen. Durch den Opfertod für den Kranken erhält dieser seine Gesundheit zurück, vor allem aber das Mädchen selbst das ewige Leben. Damit ist diese Intrige, die in der Handlung Heinrichs als final erscheint, zwar vom Ende her gedacht, darin aber ebenso kausal-syntagmatisch orientiert. Der eigentliche Unterschied zur Intrige Heinrichs besteht zwar darin, dass sie auf den Bereich der transzendenten Werte zielt. Auf der Handlungsebene gibt die maget ihr Leben ab, dafür erhält sie von der höheren Instanz Gottes im Jenseits das Seelenheil. Doch auch in dieser Wendung zur Transzendenz bleibt festzuhalten: Die Verbindung von Erzählwelt und Jenseits ist immer noch kausal kalkuliert und damit rein syntagmatisch gedacht anstatt paradigmatisch verstanden: Weil die Jungfrau in den Tod geht, wird sie das ewige Leben haben, so die Strategie der zweiten Intrige. Dieses Kalkül greift um sich und wird zur Verdeutlichung sogar argumentativ entfaltet. Damit hält die Rhetorik explizit Einzug in die Narrativik: Die Jungfrau hält eine umfängliche Rede, die immerhin zwölf Prozent des gesamten Textes ausmacht.

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In ihr argumentiert sie ihren Eltern gegenüber im Sinne der genannten Zweck-Mittel-Relation und erscheint damit, mit Blick auf die narratologischen Theoriebildungen gesprochen, fast wie eine intradiegetische Figur einer praxeologischen Narratologie (vgl. vv. 663–854). Nicht nur, dass die Eltern über die rhetorischen Fähigkeiten ihrer Tochter verwundert sind, sondern schon die Argumentation selbst ist irritierend – und zwar gerade weil sie eine dezidiert praktische Logik umsetzt. Zwar geben die Eltern schließlich nach und lassen der Tochter ihren Willen, sich zu opfern. Aber überzeugt hat die Logik der Rede gleichwohl nicht. Sie enthält nämlich einen fundamentalen Selbstwiderspruch: Der höhere Lohn wird durch genau das rationale Kalkül entwertet, mit dem er angestrebt wird. Wenn das Mädchen für den diesseitigen Tod das ewige Leben erhält, ist das ein reales Tauschgeschäft, aber kein Opfer. Oder formalisiert: Auch wenn der immanente Zirkel der Werte von einer horizontalen Relation der gesellschaftlichen Werte in eine vertikale Relation zu den transzendenten geistlichen Werten gekippt wird, bleibt er doch prinzipiell bestehen. Man gibt das eine und erhält dafür das andere. Das Heilskonzept, an dem diese Vorstellung ausgerichtet zu sein scheint, ist damit ebenso sicher wie gnadenlos. Es ist rein funktional, kann aber paradoxerweise gerade darum im Erzählen nicht funktionieren. Dies zunächst deshalb, weil das Erzählen das Heilsparadox umsetzen muss. Dieses kann über die syntagmatische ZweckMittel-Relation vorerst nur negativ formuliert werden: Wenn das Heil auf der Gnade Gottes beruht, lässt es sich nicht derart in kalkulierten Handlungen erreichen. Die Handlung verläuft darum anders als von der Jungfrau kalkuliert. Heinrich erblickt sie in dem Moment, in dem sie geopfert werden soll, in ihrer ganzen körperlichen Vollkommenheit, stellt diese paradigmatisch seiner eigenen Hässlichkeit gegenüber und gewinnt daraufhin eine neue Erkenntnis: Er nimmt das Opfer aufgrund dieser Erkenntnis deshalb nicht an, beschließt also, auf seine eigene Heilung zu verzichten, damit das Mädchen leben kann (vgl. vv. 1228–1256). Erst damit ist der einfache Zirkel der Werte durchbrochen; erst die Handlung Heinrichs ist selbstlos – und darum gnadenfähig. Für ihn unvorhergesehen, wird ihm die Gnade der Heilung zuteil. Die Werterelation ist so zutiefst paradox konzeptualisiert. Die syntagmatische Zweck-Mittel-Relation wird in ihr grundsätzlich getilgt. Man kann nämlich nicht sagen: Weil Heinrich auf das Opfer verzichtet, wird ihm die Heilung geschenkt. Bestenfalls: Weil Heinrich auf die Heilung verzichtet, kann ihm das Heil geschenkt werden. Die Heilung ist das Heil. Es geht um das Wunder einer semantischen Relation, die sich zwischen Anfang und Ende ereignet, ohne sich einfach kausal herleiten zu lassen. Darum ist das Ende der Geschichte semantisch reicher als der Ausgangspunkt der Handlung. Die Jungfrau wird zur Gattin des Adligen, das ist für sie ein immanenter gesellschaftlicher Gewinn des narrativen Syntagmas. Heinrich findet mit der Ehe in die gesellschaftliche Mitte zurück, das stabilisiert seine gesellschaftliche Position rein äußerlich auf dem vorherigen Niveau. Mit der Hochzeit der Bauers-tochter müsste Heinrich dafür eigentlich, gemäß der immanenten Logik zyklischer Werte,

260 | Hartmut Bleumer an gesellschaftlichen Werten einbüßen. Dass diese Werteinbuße dennoch keine Rolle spielt, liegt an der paradigmatischen Wende der Geschichte, durch die sie in die Transzendenz mit ihrer höheren geistlichen Axiologie verlegt wird. Das wahre Ende besteht im ewigen Leben, wie der Erzähler weiß. Das Ende der Geschichte verhält sich damit paradigmatisch zum Anfang, es steht zu ihm in einer kompositorischen Relation. Die Kausalität ist im Text so grundlegend desavouiert, dass es eine glatte Fehllektüre wäre, das Ende als einfaches Happy End zu taxieren. Das Ende ist eben nicht einfach die Wiederherstellung auf einem höheren Werteniveau. Die höhere Werteebene der Transzendenz ist qualitativ anders, ebenso wie das Endtableau anders ist als der Anfang. Diese Andersartigkeit ist damit kompositorisch immer noch genauer zu bestimmen.

6.3 Erzählung, Erzählmuster, Erzähler Die Konkretisierung der Semantik hängt auch von den Erzählmustern ab, die mit ihren historischen Axiologien in den Text inferiert werden. Sie spezifizieren thematisch, was isotopisch schon zu vernehmen, aber in seiner Allgemeinheit unbestimmt war: Sie interpretieren die Isotopie des Heils in einer bestimmten narrativen Kompositionsform. Für die Geschichte Heinrichs wird diese interpretierende Inferenz über die zwei Exempelfiguren von Hiob und Absalom eingeleitet, für die der Jungfrau über zwei Legendenschemata, da ihre Handlungsorientierung zwischen den beiden legendarischen Grundtypen der Märtyrer- und Bekennerlegende schwankt.116 Über die Verschränkung der Erzählschemata ergibt sich der kompositorische Zuschnitt der Motive und ihrer Semantik in der Erzählung, die sich entsprechend als narrative Ereignisse der Geschichte segmentieren lassen. Die Krankheit des Protagonisten ist ein erstes narratives Ereignis, weil es sich um eine Zustandsveränderung handelt, die in Opposition zur glücklichen weltlichen Idealität des Anfangs steht. Sie ist kausal unmotiviert, wird vom Erzähler ausdrücklich als ‚Gebot Gottes‘ (vgl. vv. 115f.) bezeichnet und steht zugleich in einer paradigmatischen Relation zu Absalom oder Hiob. D. h. wie in den zitierten Exempeln: Die Krankheit Heinrichs ist keine technische Beeinträchtigung des Körpers, sie hat eine Bedeutung, sie ist nicht kausal erklärlich oder aber syntagmatisch in einer Zweck-Mittel-Relation über ein Heilmittel zu beseitigen, sondern sie ist ein Zeichen, das in einer paradigmatischen Relation zu den Beispielfiguren zu lesen ist. Der Aussatz ist nicht nur ein unvorhergesehenes Ereignis, er ist ein Motiv und damit kompositorisch motiviert. Der Protagonist selbst versucht jedoch nicht, das Motiv der Krankheit seiner Bedeutung nach zu verstehen, er versucht, es praktisch wie ein Ereignis auf der Hand-

|| 116 Vgl. Edith Feistner: Historische Typologie, 26–49.

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lungsebene zu beseitigen. Die Krankheit führt zur Reise zum Arzt nach Salerno, das folgende Therapeutengespräch ist nur kausal motiviert und macht ein entsprechendes Angebot zur weiteren Handlungsauffassung. Weil Heinrich erkrankt ist, sucht er den ärztlichen Rat, dieser formuliert entsprechend die Therapieregel: Weil eine Jungfrau den Tod findet, wird ein Kranker leben. Auf Heinrich ist die Regel nur deshalb nicht anwendbar, weil es praktisch unwahrscheinlich ist, eine solche Jungfrau zu finden. Kompositorisch ist hinter dieser praktischen Unwahrscheinlichkeit aber sofort ein weiteres bekanntes Motiv zu erkennen, das sich dann auch erwartungsgemäß einstellt. Das Opfer des Mädchens als Hilfsmittel gegen den Aussatz ist aus den verschiedenen Fassungen der Silvesterlegende bekannt.117 Auch dort ist das Opfer letztlich kein konkretes Heilmittel, sondern markiert paradigmatisch die gnadenhafte Wende zum Heil. Die kompositorische Motivierung des Opfers erzeugt eine entsprechende Erwartungshaltung, die nicht enttäuscht wird. Als der Arzt das Messer ansetzt und Heinrich dies heimlich durch ein Loch in der Wand beobachtet, überkommt ihn nicht einfach eine Erkenntnis, sondern zugleich verkêrt [sich] / sîn altez gemüete / in eine niuwe güete (vv. 1238–1240). Nicht die modalen Werte des Könnens oder Wissens sind hier angesprochen, sondern im Gegensatz zu diesen immanenten Werten werden die in der niuwe[n] güete angesprochenen transzendenten Werte im Augenblick des Verstehens zugänglich. Damit wird zugleich das entscheidende semantische Ereignis der Erzählung auf den Punkt gebracht: Heinrich ist nach diesem grenzüberschreitenden ‚Augenblick‘ innerlich ein anderer als zuvor.118 Die äußerliche Heilung auf dem Rückweg aus Salerno vollzieht diesen Wandel nur noch formal nach. Das Schlussmotiv mit Eheschließung und Fest ist darum kompositorisch nicht mehr überraschend, denn es formuliert nur die gesellschaftlichen Konsequenzen der geistigen Wende von der syntagmatischen zur paradigmatischen Orientierung aus. Kompositorisch ist damit das Ende der Geschichte sehr wohl von ihrem Anfang zu unterscheiden. Der Held ist am Ende ein Anderer als am Anfang, weil seine Axiologie kompositorisch vom immanenten Syntagma ins Paradigma der Transzendenz übergegangen ist. Der mit allen weltlichen Gütern und Tugenden ausgestattete Protagonist hat eine niuwe güete gefunden, die geistlich begründet ist, die entsprechend von Gott mit der Heilung be-

|| 117 Vgl. Kurt Ruh: „‚Armer Heinrich‘“; Volker Mertens (Hg.): Hartmann von Aue: Gregorius, Armer Heinrich, Iwein, 880f. 118 Vgl. zuletzt mit methodisch neuem Zugriff Christiane Ackermann: „Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie“, 36–39, deren Studie zum Blick man vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Wahrnehmungstheorie wird weiterdenken müssen: Sie legt nahe, dass in der Bewegung des ‚Blicks‘, sobald diese Bewegung als eine semantische Praxis, nach Ackermann im Sinne der Semiotik Lacans, verstanden und der ‚Blick‘ im Sinne der mittelalterlichen Extramissionstheorie als Kontaktkategorie historisiert wird, die zentrale Transgressionsfigur der semantischen Grenzüberschreitung des ganzen Textes aufscheint.

262 | Hartmut Bleumer zeichnet wird und am Ende ins Heil führt. Die Heilung ist damit aber vor allem eine Metapher des Heils, sie findet nicht statt, um den Helden einfach äußerlich gesunden zu lassen. Auf die äußerliche Heilung als solche kommt es an sich gar nicht an, sie ist vielmehr um der inneren Heiligung willen da. Damit ergibt sich für die Handlung des Armen Heinrich eine Geschichte aus Anfang, Mitte und Schluss, die über ihre gesellschaftlichen Werte das Problem einer nur aktantiellen Geschichtsauffassung mit ihren immanenten Werten geradezu modellhaft vorführt und zugleich auch exemplarisch überwindet. Der Wertetransfer der syntagmatischen Handlung ist rein zyklisch, er führt zu keiner Verbesserung des Helden. Das Verhältnis von Anfang und Ende der Geschichte bleibt damit zugleich semantisch leer. Erst durch die transzendenten Werte kommt ein semantischer Mechanismus ins Spiel, der das Ende der Geschichte auf paradoxe Weise ins Paradigmatische überschreitet und der zugleich auf der Ebene der Erzählung kompositorisch konkretisiert wird. Die zentralen Ereignisse der Geschichte, die plötzliche Krankheit, die Opferszene und das Schlusstableau, ergeben ein Sujet bzw. eine sinnhafte Kompositionslinie, die sich metaphorisch als syntagmatischer Weg an der Grenze zur paradigmatisch verfassten Transzendenz beschreiben lässt, die nur der Protagonist im Moment seines Verstehens überschreitet, so dass er als einziger von seiner Reise als ein Anderer zurückkehrt, als der er aufgebrochen war. Das Opfermotiv ist dabei selbst eine Metapher, ebenso wie die Geschichte als Ganze über die Komposition der Erzählung metaphorisch strukturiert ist. Die metonymischen Relationen, die über kausale Motivierungen geführt werden, scheitern zugunsten der Verdeutlichung der metaphorischen Relation, nach der Heinrich ein Anderer und doch Derselbe ist (A=B). Das Opfer des Mädchens steht für das Opfer Christi. Irritierend daran ist nur, dass die Motivierung des Opfers in der Intrige des Mädchens für eine geistliche Inanspruchnahme grundfalsch ist. Damit beginnt die Ironie der Narration.

6.4 Tropologie: Ironie der Narration, Ironie der Geschichte – das verwunderliche Wunder Die Ironie gilt als selbstreflexiver Tropus, d. h. bei ihrer Verwendung werden die Konstruktionsbedingungen des Erzählens und des Erzählten durchschaubar. Als strukturelle Ironie auf der Handlungsebene erscheint die streng kausale Motivierung zum Heil, die in der Geschichte des Mädchens vorliegt und die mit ihrem rein zyklischen Werteverständnis gerade jene transzendenten Werte verfehlt, die sie anstrebt. Auf der Ebene der erzählerischen Komposition setzt sich die Irritation fort. Denn das kompositorische Schema, nach dem das Mädchen zu handeln beabsichtigt, ist wohlbekannt. Die Jungfrau versucht ostentativ, über ihren Opfertod das Schema der Märtyrerlegende für sich in Anspruch zu nehmen: Sie will die Heldin einer Legende sein. Das einschlägige Legendenschema versucht sie in seinen Konse-

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quenzen ihren Eltern sogar ausdrücklich zu erklären: Wenn sie den Opfertod finde, dann erlange sie dafür das ewige Leben, so ihre Argumentation (vgl. vv. 606–610; vv. 852–854). Nur hat sie in dieser syntagmatischen Inanspruchnahme den paradigmatischen Status des Opfertodes, d. h. dessen Sinn, gerade nicht verstanden. Was dem Opfer fehlt, ist das uneigennützige Bekenntnis zum Glauben, durch das der Weg ins Heil erst möglich wird. Dieser ist nicht als eine praktische Handlung, sondern als Weltlektüre strukturiert. Das Handeln des Mädchens ist darum nicht etwa vorbildlich, sondern es demonstriert, wie man das Erzählmuster der Legende um seinen Zeichencharakter verkürzen und kausal missverstehen kann. Ganz entsprechend ist das Weltverhältnis in der Rede des Mädchens rein metonymisch: Das Opfer, die Heilung Heinrichs, ihre eigene Heiligung – das alles sind für sie in der Realität gleichgeordnete, praktisch zusammenhängende Ereignisse, die in einer Kontiguitätsrelation zueinander stehen. Legenden lassen sich so aber gerade nicht erschließen, sie sind eminent metaphorisch. Ihre Zeichen verweisen nicht einfach nur auf das Heil, sie sind zugleich das Heil. Die Wendung zu einem richtigen Verständnis wird erst von Heinrich vollzogen. Während seine Intrige das Verstehen repräsentiert, repräsentiert die des Mädchens ein Missverstehen. Der Diskurs des Erzählers spart darum im Verlauf des Textes nicht mit Ironiesignalen. Dies beginnt schon damit, dass die Rede des Mädchens vom Erzähler im dramatischen Modus scheinbar unvermittelt präsentiert wird. Diese Rede ist irritierend altklug,119 letztlich aber eben unpassend, und endet mit ihrem wenig vorbildlichen Gezeter, als der Jungfrau der vermeintliche Opfertod vorenthalten wird. Dass die Rede des Mädchens eine klare rhetorische Anlage aufweist, ist dabei auch für das Erzählen insgesamt bezeichnend. Sie beruht zwar auf einer einfachen, vermeintlich direkten Erfassung des Sachverhaltes aus kintlich[em] gemüete (v. 465). Dies bietet indes die Grundlage für eine Disputation, in der das Mädchen ihr Vorhaben, sich zu opfern, vorträgt (vgl. vv. 529–854), die Eltern diesem Plan mit einer argumentativ begründeten Rede widersprechen, woraufhin die Jungfrau sie mit einer deutlich komplexeren Rede überbietet. Die Eltern müssen letztlich vor dieser Redegewalt schlicht kapitulieren. Das Mädchen scheint zwar wîslîchen (v. 857) zu sprechen, und die Eltern glauben sogar, dass der Heilige Geist aus ihr spricht (v. 863); aber die Macht des Heiligen Geistes ist ein bloßer Formalismus. Seine Macht bezieht er aus der Redegewandtheit, nicht aus dem Inhalt der Rede. Darum sind die Eltern am

|| 119 Es ist festzuhalten, dass diese Auffassung nicht der in der Forschung vorherrschenden Interpretationslinie des Armen Heinrich entspricht, die offenkundig die Ironie vernimmt, weil sie bemüht ist, den Ironieverdacht zu entkräften. Dazu sei hier stellvertretend nur Volker Mertens im Kommentar seiner Ausgabe: Hartmann von Aue: Gregorius, Armer Heinrich, Iwein, 922, zitiert: „Die hochberedte Argumentation des Mädchens wird vom Erzähler ohne ironische Distanzierung dargestellt.“ Um Erzählerrede geht es aber im Folgenden nicht, sondern um die in den Darstellungen von Dennis Howard Green: Irony, und Silvia Ranawake: „Zu Form und Funktion der Ironie“, hervorgehobene Möglichkeit der ‚strukturellen Ironie‘.

264 | Hartmut Bleumer Ende nicht überzeugt, sondern sie resignieren. Sie sind von der Macht der Rhetorik überwältigt, nicht vom Inhalt der Botschaft und ihren Werten. Die Jungfrau hat den Redewettstreit gewonnen, ob sie aber die Wahrheit getroffen hat, steht durchaus in Frage. Ähnlich formalisiert wirkt die Rede der Jungfrau, unmittelbar bevor sie geopfert werden soll. Legendentypisch zeigt sie sich von den drohenden Schmerzen völlig unbeeindruckt, vor denen sie der Arzt, der ihr das Herz bei lebendigem Leibe herausschneiden soll, eindringlich warnt (vgl. vv. 1076–1113). Wirken schon ihre Worte im Sinne des kintlich gemüete eher wie eine naive Prahlrede, wird das Ansinnen auf Heiligkeit durch ihre vituperatio, d. h. unduldsame Beschimpfung des Arztes und Heinrichs, schließlich rhetorisch entsorgt (vgl. vv. 1290–1332). Der Kontrast zu Heinrich könnte deutlicher nicht sein: Während dessen niuwe güete gerade darin besteht, dass er sein Schicksal klaglos auf sich nimmt (swaz dir got hât beschert, / daz lâ alles geschehen, vv. 1254f.), führt die Jungfrau gerade Klage darüber, dass sich ihr Schicksal ihrem Willen entzieht. Mit dieser Entlarvung des rhetorischen Diskurses inszeniert sich das Erzählen Hartmanns auch als dessen Gegenteil. Freilich ist das Erzählen auf das Missverständnis der Rhetorik angewiesen, sonst könnte der narrative Verstehensprozess nicht beginnen. Die narrative Hermeneutik kommt ohne die Korrelation mit Rhetorischem nicht aus. Der Erzähler bringt die darin liegende Ironie in seiner Narration in einer einzigen markanten ironischen Wendung auf den Punkt: Heinrich, der die Jungfrau in Salerno nicht sterben lassen will, wird als der gnâdelôse gast (v. 1342) bezeichnet. Nachdem Heinrich also der Jungfrau derart gnadenlos das Leben rettet, wird ihm selbst die göttliche Gnade der Heilung zuteil – das Mädchen hat den Weg zur Gnade nicht verstanden, Heinrich schon, und dieses Verstehen wird durch die göttliche Gnade sanktioniert. Letztlich beginnt sich die Ironie des Erzählers durch das Korrelationsapriori des Erzählens sogar auf Gott als jene Instanz auszuwirken, von der doch die Wertegarantie der Geschichte und die Wahrheit des Erzählens abhängen soll. Anfangs bemüht sich der Erzähler um ein deutlich metaphorisches Verständnis des Erzählens: Wenn er zu Beginn seiner Erzählung, im prologus ante rem, in einem ausführlichen Erzählerkommentar (vv. 91–111) das Bild der Kerze, die, während sie zu Licht wird, zugleich vergeht (vv. 101–104), auf den Menschen und seine paradoxe Beziehung von Leben und Sterben, genauer: von geistigem Werden und weltlichem Vergehen, anwendet, so insistiert er, dass es sich bei der brennenden Kerze nicht um einen beliebigen Vergleich, sondern ein wârez bilde (v. 102) handelt – die Kerze ist eine Metapher, kein arbiträres, nur modellhaft veranschaulichendes Bild, sondern eines, das sagt, wie es in Wahrheit ist. Die dann vom Erzähler erzählte Geschichte vertritt den gleichen metaphorischen Anspruch. Heinrich ist nicht nur namentlich und räumlich in der wirklichen Welt (von Aue) situiert, seine Geschichte verkörpert durch seine Krankheit eine Wahrheit. Ebenso ist seine Heilung eine Metapher für das Heil; seine Heilung ist das Heil.

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Gleichwohl mischt sich unter diese unmittelbare metaphorische Relation das Problem einer narrativen Distanzierung. Dass von Gott hier so souverän erzählt werden kann, unterläuft den Unmittelbarkeitsanspruch des Erzählten. Der Erzähler ist nämlich allwissend: Er weiß nicht nur, im Sinne einer fokalisierenden Instanz, was alle Figuren denken und beabsichtigen, er weiß darüber hinaus, dass der Aussatz durch Gottes Gebot (v. 116) auftritt und dass Heinrich schließlich das ewige Leben erreicht hat. So wie Gott von ihm als cordis speculator (v. 1357) bezeichnet wird, der in das Herz der Menschen sehen kann und danach urteilt, so erscheint der Erzähler wiederum fast als eine Art speculator cordis dei. Er ist so die höchste Sprechinstanz, muss sich dazu aber eine Autorität anmaßen, die mit der Gottes auf einer Stufe steht. Weil dem Erzähler für diese Autoritätsbehauptung aber die Legitimation fehlt – weder ist er selbst ein Heiliger, dem die Heilswahrheit damit unmittelbar zugänglich wäre, noch ist die Quelle seiner Autorfigur anfangs als heilige markiert worden –, gerät der Wahrheitsanspruch der Metapher schließlich in eine ironische Schwebe. Das Erzählen des Erzählers kommt in den Verdacht einer gut gemachten Rhetorik – es wird ironisch. Was für den Prolog des Textes gilt, dass seine Rhetorik als Basis einer narrativen Hermeneutik erscheint und damit den Anspruch des Erzählens ebenso unterstützt wie unterläuft, das gilt schließlich auch für den Text insgesamt. Das Wunder der Erlösung, das im Armen Heinrich erzählt wird, ist damit zugleich verbindlich und auch reflexiv. Ebenso ist das Erzählen selbst in seiner figurativen Anlage literarisch, aber darum noch nicht fiktional. Und anders ist das Wunder des göttlichen Heils in komplexen Erzählungen wohl nicht zu haben: Es ist, wie die Geschichte, zugleich metaphorisch gebunden, aber doch ständig mit seiner metonymischen Expansion im Geschehen konfrontiert. Mit der metonymischen Einbindung in die Wirklichkeit ist es praktisch-syntagmatisch mit jenem Missverständnis bedroht, dessen Markierung den Text ironisch werden lässt. Damit unterliegt es der typischen Spannung aller narrativen Begriffe zwischen Narrativik und Rhetorik, zwischen kompositorischer Interpretation und handlungspragmatischer Argumentation. Doch durch diese Spannung ereignet sich ein Verstehen von etwas, das der Text nicht einfach entfalten, aber auch nicht einfach bezeichnen kann, und das dennoch im Prozess des Erzählens emergiert. Vielleicht macht der Arme Heinrich gerade im Rekurs auf diesen Mechanismus das Wunder des narrativen Sinns bewusst.

266 | Hartmut Bleumer

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Caroline Emmelius

Intertextualität 1 Einleitung Denn nun entdeckte ich, was die Dichter seit jeher wussten (und schon oft gesagt haben): Alle Bücher sprechen immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzählte Geschichte.1

Theorie und Methode der Intertextualität gehören mittlerweile zu den Klassikern der Literaturtheorie. Doch nach wie vor hat das Konzept der Intertextualität all jenen, die sich mit Literatur auseinandersetzen, ein sowohl theoretisch inspirierendes als auch methodisch konkretes Angebot zu machen, das nicht zuletzt durch wissenschaftliche Reflexion und Revision im Laufe der Zeit gereift ist. Die Unterscheidung eines theoretischen und eines methodischen Zugriffs ist dabei grundlegend, denn im Feld der Intertextualitätsforschung konkurrieren zwei Intertextualitätsbegriffe miteinander: ein globaler und ein lokaler,2 bzw. ein poststrukturalistischer und ein strukturalistischer.3 Der vorliegende Beitrag präferiert die Rede von einem theoretischen und einem methodischen Begriff,4 da sich in ihr die Entwicklungsgeschichte des Konzepts bereits abzeichnet (vgl. 2). Der Fokus des Betrags gilt der Ausdifferenzierung der Intertextualitätsmethodik seit den späten 1980er Jahren und ihrer Rezeption in der germanistischen Mediävistik (2.2 und 3). Der Anspruch dieses Ansatzes, Text-Text-Kontakte, also Bezugnahmen eines literarischen Textes auf vorausliegende Texte, zu systematisieren und zu qualifizieren, ist dabei sowohl textbeschreibend als auch textdeutend. Er zielt darauf, jene Sinnproduktionen in einem Text wahrnehmbar zu machen, die sich dem dezidierten Rückgriff auf literarische Diskurstraditionen oder der impliziten Partizipation an ihnen verdanken. Beobachtungen von Bezugnahmen auf das biblische Hohelied im Fließenden Licht der Gottheit der Mechthild von Magdeburg sollen dieses textdeutende Potential intertextueller Analysen abschließend veranschaulichen (vgl. 4). || 1 Umberto Eco: Nachschrift, 28. 2 Vgl. Ulrich Broich: „Intertextualität“, 175f. 3 Vgl. Matias Martinez: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, 441–443. 4 Die Begrifflichkeit orientiert sich an der Unterscheidung eines texttheoretischen und eines textbeschreibenden Intertextualitätskonzepts bei Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, 56f., das in ihren Ausführungen noch um die „literatur- bzw. kulturkritische[]“ Perspektive ergänzt ist (57). An Lachmanns Unterscheidung knüpft die Übersicht von Richard Aczel an: Art. ‚Intertextualität und Intertextualitätstheorien‘, 287.

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2 Intertextualität: Begriff, Theorie, Methode 2.1 Intertextualität in der poststrukturalistischen Theorie Die Prägung des Begriffs ‚Intertextualität‘ geht auf Arbeiten Julia Kristevas zurück, in denen sie sich ihrerseits mit Michail Bachtins Konzept der Dialogiziät auseinandersetzt.5 Dabei bezeichnet Kristeva mit dem Ausdruck ‚Intertextualität‘ gerade keine Text-Text-Kontakte im Sinne der obigen Einleitung, sondern ganz im Gegenteil Text-Kontext-Beziehungen. Auf der Basis der Bachtinschen Annahme, dass sich in jedem Wort wenigstens drei konnotative Bedeutungsschichten überlagern, die subjektive des Autors, die (rezeptive) des Adressaten und die des gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontextes, formuliert Kristeva, was später in allen Forschungsberichten als Gründungsdokument des Intertextualitätsbegriffs zitiert werden wird: [...] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.6

Text bezeichnet in dieser Bestimmung weder schriftliche Dokumente noch literarische Texte, sondern ist ein Oberbegriff für jedwede sprachlich verfasste Aussage. Das Gründungsdokument des Intertextualitätsbegriffs zielt demnach darauf, die semantische Kodierung eines Textes von der alleinigen Prägung durch seinen Autor zu lösen und sie für kontextuelle diskursive Prägungen zu öffnen.7 Kristevas Intertextualitätsbegriff bezeichnet dabei weniger ein geschlossenes theoretisches Programm als vielmehr ein im Entstehen begriffenes gedankliches Mosaik.8 So wider|| 5 Zu Kristevas Intertextualitätsbegriff vgl. Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 1–11. Ich skizziere hier lediglich die Ansätze von Kristeva und Roland Barthes, denn die Geschichte der Anfänge des Intertextualitätsparadigmas ist schon häufig geschrieben worden, vgl. u. a. ebd., 1–24; Vincent B. Leitch: Deconstructive criticism, 87–22; Hans-Peter Mai: „Bypassing intertextuality“, 33– 44; Susanne Holthuis: Intertextualität, 11–28; Matias Martinez: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“; sehr kondensiert auch Tilman Köppe/Simone Winko: Neuere Literaturtheorien, 128f., sowie neuerdings ausführlich Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität, 17–61. 6 Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, 348; frz. Original: Sēmeiōtikē, 146: „[…] tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double“. 7 Die Semantik eines Worts ist demnach weniger durch konkrete prätextuelle Semantiken bestimmt, sondern durch Semantiken, die ihrerseits durch Diskurstypen geprägt sind (vgl. Manfred Pfister: „Zur Systemreferenz“, 54). 8 Die fehlende systematische Kohärenz und Geschlossenheit der begrifflichen Bestimmung ist Kristeva vielfach zum Vorwurf gemacht worden; vgl. die prägnante Kritik bei Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, 7–14, bes. 12f.; die theoretische Leistung

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spricht es den ersten offenen Bestimmungen von Intertextualität nicht, dass in Kristevas eigenen literaturwissenschaftlichen Analysen ein ganz konkreter literarischer Text zugleich auf seine literarischen Vorlagen und auf die in ihm manifesten Diskurse befragt wird. Die Beschäftigung mit dem spätmittelalterlichen Roman „Jehan de Saintré“ macht deutlich, dass Kristeva Intertextualität als ideologisch konnotierte Texteigenschaft versteht, deren subversives Potential sich im Sinne von Bachtin für eine Poetik des Romans fruchtbar machen lässt.9 In der poststrukturalistischen Theorie wird die bei Kristeva grundgelegte Öffnung des Textbegriffs weiter vorangetrieben. So sind nach Roland Barthes Texte keine stabilen Entitäten, nichts, was man in die Hand nehmen kann, sondern eine prozessuale, dynamische Kategorie: „[T]he work can be held in the hand, the text is held in language, only exists in the movement of a discourse […] the Text is experienced only in an activity of production.“10 Der momenthaften Formation des Textes im Akt seiner je punktuellen Rezeption steht die Pluralität der in ihn eingehenden Stimmen gegenüber: „[I]ts [the texts, C. E.] reading is semelfactive […] and nevertheless woven entirely with citations, references, echoes, cultural languages […], antecedent or contemporary, which cut across it through and through in a vast stereophony.“11 Die Vorstellung eines dynamischen, nur ephemer wahrnehmbaren Textes führt Barthes auf das Konzept des Intertextes als eines zeit- und sprachübergreifenden Kollektivs der „citations, references, echoes, cultural languages“12, in das hinein sich einzelne Texte auflösen, um als anonyme Zitatspur in neuen Texten wiederholt und zugleich verändert zu werden: The intertextual in which every text is held, it itself being the text-between of another text, is not to be confused with some origin of the text: to try to find the ‚sources‘, the ‚influences‘ of a work, is to fall in with the myth of filiation; the citations which go to make up a text are anonymous, untraceable, and yet already read: they are quotations without inverted commas.13

|| gegen die Kritiker verteidigend dagegen Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, 186– 190. 9 Vgl. Julia Kristeva: Le texte du roman, 139–176. Das fünfte Kap. der Studie ist mit ‚L’intertextualité‘ überschrieben. Es ist sowohl mit konkreten Prätexten des „Jehan de Saintré“ (bes. 146–148) als auch mit seinem scholastischem Erbe und dessen karnevalesker Subvertierung befasst (bes. 149– 156). 10 Roland Barthes: „From work to text“, 157. 11 Ebd., 159f. 12 Ebd., 160. 13 Ebd.

278 | Caroline Emmelius Die konkrete Frage nach spezifischen Text-Text-Kontakten muss eine solche Vorstellung also zwangsläufig abweisen.14 Das gilt in gleicher Weise für das Konzept eines autonomen schöpferischen Autorsubjekts: We know now that a text is not a line of words releasing a single ‚theological‘ meaning (the ‚message‘ of the Author-God) but a multi-dimensional space in which a variety of writings, none of them original, blend and clash. The text is a tissue of quotations drawn from the innumerable centres of culture. […] the writer can only imitate a gesture that is always anterior, never original. His only power is to mix writings, to counter the ones with the others, in such a way as never to rest on any one of them.15

Aufwertung erfährt hierdurch die Position des Lesers als derjenigen Wahrnehmungsinstanz, in der die intertextuellen Echos des Textes Resonanz finden: The reader is the space on which all the quotations that make up a writing are inscribed without any of them being lost; a text’s unity lies not in its origin but in its destination. Yet this destination cannot any longer be personal: the reader is without history, biography, psychology; he is simply that someone who holds together in a single field all the traces by which the written text is constituted. […] the birth of the reader must be at the cost of the death of the Author.16

Es macht den Reiz der theoretischen Entwürfe Roland Barthes’ aus, dass er abstrakte Konzepte als konkrete Metaphern denkt: Der Text ist ein Zitatgewebe, ein Echoraum,17 Zitate sind Spuren, der Leser ist Ort ihrer Inschrift.18 Die Metaphorik der theoretischen Entwürfe bildet vielfach die Kehrseite zu terminologischer Diversität, Inkonsistenz und Inkompatibilität, die ebenso wie der elitäre Status der Theoriebildung beanstandet werden.19 Daneben gibt es aber auch Bemühungen, Postulate der Intertextualitätstheorie mit konkreten literaturwissenschaftlichen und -geschichtlichen Anliegen zu verknüpfen. Hierfür stehen in Deutschland besonders die Arbeiten der Slawistin Renate Lachmann, die das Inte|| 14 Vgl. auch Jonathan Culler: The pursuit of signs, 103: „Intertextuality thus becomes less a name for a work’s relation to particular prior texts than a designation of its participation in the discursive space of a culture“. 15 Roland Barthes: „The death of the author“, 146. 16 Ebd., 148. 17 Vgl. ders.: „Roland Barthes par Roland Barthes“, 151. 18 Die Metaphorik der Sprache und der essayistisch-aperçuhafte Stil der Skizzen affiziert bisweilen sogar die nachgehende Forschungsliteratur, wenn auch nicht immer in derselben poetischen Qualität, vgl. die stilisierten Notizen „On intertextuality“ bei Vincent B. Leitch: Deconstructive criticism, 59, in denen er den Text mit dem Sortiment eines Ladens der Heilsarmee vergleicht: „The text is not an autonomous or unified object, but a set of relations with other texts. Its system of language, its grammar, its lexicon, drag along numerous bits and pieces – traces of history so that the text resembles a Cultural Salvation Army Outlet with unaccountable collections of incompatible ideas, beliefs, and sources“. 19 Heinrich F. Plett: „Intertextualities“, bes. 3f.

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resse an der Theoriebildung bei Bachtin und Kristeva20 mit textbeschreibenden Analysen zur Literatur der russischen Moderne verbindet.21 Sie zeichnen sich nicht nur durch konsistente Terminologie und klare Systematisierungen der semantischen Relationen von Text und Prätext aus, sondern ordnen das Intertextualitätsparadigma im Unterschied zu den Poststrukturalisten dezidiert der hermeneutischen Arbeit am Text zu, indem sie die sinnkonstituierende Funktion intertextueller Referenzen herausstellen. Dabei ist Sinnstiftung nicht als monologische Sinnzentrierung zu verstehen: Lachmanns Orientierung an Bachtins Begriff der Dialogizität richtet vielmehr den Fokus auf gegenläufige Verfahren wie Sinnkomplexion und Sinndiffusion.22 Eine Mittelstellung zwischen poststrukturalistischer Intertextualitätstheorie und strukturalistischer Intertextualitätsmethodik nehmen die Arbeiten des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom ein.23 In seinem Buch The anxiety of influence deutet Bloom Beziehungen zwischen Gedichten bzw. ihren Autoren psychoanalytisch. Er vertritt die These, dass literarische Texte in ödipaler Spannung zur voraufgehenden Tradition stehen. Die Überwindung der Tradition zur Schaffung eines selbständigen, unabhängigen Textes kann nur auf der Basis eines misreadings bzw. einer misinterpretation dominanter Prätexte entstehen: Poetic Influence – when it involves two strong, authentic poets, – always proceeds by a misreading of the prior poet, an act of creative correction that is actually and necessarily a misinterpretation. The history of fruitful poetic influence [...] is a history of anxiety and self-saving caricature, of distortion, of perverse, wilful revisionism without which modern poetry as such could not exist.24

Anders als in poststrukturalistischen Modellen ist der Bezug auf den Intertext hier nicht schon durch das Medium der Sprache gegeben, sondern lediglich in der Geste der Abwehr literarischen Einflusses latent enthalten. Damit geht Blooms Modell zugleich auf Abstand zu vormodernen Literaturkonzepten, die den Verfahren der imitatio und aemulatio als grundsätzlich affirmativen Bezügen auf die Tradition verpflichtet sind.25 Dass er sowohl den Werk- als auch den Autorbegriff als bestimmende Größen seines literaturgeschichtlichen Modells beibehält, unterscheidet Bloom insgesamt markant von der poststrukturalistischen Texttheorie.

|| 20 Vgl. Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. 21 Dies.: Gedächtnis und Literatur. 22 Ebd., 88–125. 23 Vgl. Hubert Zapf: Art. ‚Bloom, Harold‘, 65f. 24 Harold Bloom: The anxiety of influence, 30. 25 Explizit zum Fokus auf eine Geschichte der Lyrik seit der Renaissance ebd., 30 u. ö. Dass ein solches Modell für die vormoderne Literaturgeschichte entsprechend untauglich sei, konstatiert Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 50. Vgl. zu diesem Problem auch Abschn. 3.1.

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2.2 Intertextualität als literaturwissenschaftliche Methode Seit den 1980er Jahren gibt es verstärkte Bemühungen seitens der Literaturwissenschaften, Intertextualitätsforschung als literaturwissenschaftliche Methode zu etablieren.26 Der Intertextualitätsbegriff wird hierfür auf seine textdeskriptive Dimension eingeschränkt und operationalisierbar gemacht. Intertextualität bezeichnet demnach die konkrete Bezugnahme eines literarischen Textes auf einen oder mehrere andere literarische Texte. Begrifflich haben sich dabei im deutschen Bereich die Bezeichnungen (manifester) Text und Prätext für den Bezug aufnehmenden und den Bezug spendenden Text durchgesetzt.27 Je nachdem ob sich der Fokus der Analyse stärker auf den Prätext oder stärker auf den manifesten Text richtet, wird die Bezugnahme an sich entweder als intertextueller Bezug bzw. als Referenz28 oder als Einschreibung29 bezeichnet. Dieser spezifisch literaturwissenschaftliche Ansatz geht davon aus, dass Intertextualität nicht nur eine universelle Erscheinung sprachlicher Kommunikation, sondern ein spezifisches Verfahren der Sinnbildung in literarischen Texten ist. Der Textbegriff des methodischen Intertextualitätskonzepts steht daher dem dekonstruktivistischen Textbegriff der Poststrukturalisten diametral entgegen.30 Auch wenn es immer wieder Bemühungen gegeben hat, den methodischen Intertextualitätsbegriff als Teilmenge oder sogar als Kern des weiten theoretischen Intertextualitätskonzepts aufzufassen,31 lassen sich die fundamentalen Differenzen der jeweiligen Prämissen nicht einebnen: Sie betreffen gleichermaßen den Textbegriff (materieller vs. kulturalistischer Textbegriff), die Instanzen, die für die Einschreibungen verantwortlich sind (überindividuelle Machtdiksurse vs. subjektive, intentional gerichtetete Autorschaft) und die Funktion von semantischer ‚Polyphonie‘ im Text, die Frage also, ob die semantische Einschreibung ‚fremder Texte‘ die Sinnproduktion

|| 26 Vgl. schon Wolf Schmid (Hg.): Dialog der Texte; bes. Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität. 27 Ulrich Broich: Art. ‚Intertextualität‘; alternative Begriffsprägungen sind etwa source text und target text, vgl. Heinrich F. Plett: „Intertextualities“, 8f.; sowie Hypotext und Hypertext, vgl. Gérard Genette: Palimpseste, 14f. 28 So grundsätzlich bei Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität; konkret hierzu Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 15. 29 Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, 79f. u. 82 (Abb. 9). 30 Die Unvereinbarkeit der Konzepte zeigt sich exemplarisch daran, dass Kristeva die Bezeichnung ‚Intertextualität‘ in späteren Arbeiten ablehnt und sie für ihre Konzeption einer unabschließbaren Semiose sprachlicher Äußerungen durch den Begriff der transposition ersetzt (vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, 69). 31 Prononciert Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 25; sowie Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre, 23–28.

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eines Textes komplexer macht oder sie ganz auflöst.32 Will man diese divergierenden ideologischen Prämissen der beiden Konzepte nicht nivellieren, bleibt es bei dem Befund von Ulrich Broich, dass Intertextualitätstheorie und Intertextualitätsmethodik als gegensätzliche Konzeptionen miteinander konkurrieren.33 Broichs eigene Definition für literaturwissenschaftlich operationalisierbare intertextuelle Beziehungen zwischen literarischen Texten versteht sich insofern vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, einen möglichst weiten Abstand zum offenen Intertextualitätskonzept der Poststrukturalisten zu schaffen: Intertextualität [liegt] dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewußt sind, sondern bei dem jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorgangs darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert.34

Intertextuelle Bezüge in literarischen Texten werden als Kommunikationsmedium aufgefasst, als Botschaft eines Senders an einen Empfänger. Sie haben folglich einen produktions- und einen rezeptionsseitigen Aspekt: Der Autor verwendet intertextuelle Bezugnahmen in Hinblick auf das Bildungsniveau eines Modelllesers, der Leser macht die wahrgenommenen Bezüge für seine Textlektüre produktiv und vermag aus ihnen zugleich Rückschlüsse für das implizierte Autorprofil zu ziehen. Die Rolle des Rezipienten für die Decodierung und Deutung intertextuell verfasster Literatur ist vergleichsweise schlecht erforscht, auch wenn ihre Bedeutung insb. von der französischen Intertextualitätsforschung immer wieder betont wurde.35 Einen dezidierten methodischen Vorstoß in Blick auf eine „rezeptionsorientierte[] Konzeption“ von Intertextualität unternimmt die Arbeit von Susanne Holthuis: Sie postuliert in markanter Absetzung von der communis opinio der Intertextualitätsmethodiker, dass Intertextualität keine Eigenschaft des manifesten Textes sei, sondern allererst im Akt der Textrezeption entstehe: Intertextualität „konstituiert sich [...] als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht

|| 32 Vgl. die kritische Revision des poststrukturalistischen Intertextualitätskonzepts bei Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie, 53–55 u. 169; ders.: „Intertextualität, Systemreferenzen und Strukturwandel“, 7–14, bes. 12; sowie bei Andreas Kablitz: „Intertextualität und die Nachahmungslehre der italienischen Renaissance (I)“. 33 Ulrich Broich: Art. ‚Intertextualität‘, 175. 34 Ders.: „Formen der Markierung“, 31. 35 Vgl. u. a. Roland Barthes: „The death of the author“, bes. 147f.; zu Barthes Position auch Jonathan Culler: Roland Barthes, 81f. u. 118f.; resümierend Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 20–24.

282 | Caroline Emmelius [...] im und durch den Text selbst“36. Die Konzeption des Buches spiegelt allerdings die Grenzen dieses Ansatzes, insofern Holthuis zunächst umfangreiche Taxonomien zur Erfassung produktionsseitiger intertextueller Textdispositionen entwirft, im Vergleich mit denen sich die Überlegungen zur Systematisierung rezeptionsseitiger intertextueller Textverarbeitung anhand von unterschiedlich profilierten Modelllesern recht vorläufig ausnehmen. Holthuis’ Modellbildung macht insofern gegen ihren eigenen Ansatz deutlich, dass die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Intertextualität nicht nur eine Frage des individuellen Bildungs- und Wissensspeichers und vorausliegender Texterfahrungen sind, sondern v. a. an die unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Intertextualität als Disposition des Textes anknüpfen.37 Die Produktionsseite von Intertextualität genießt dagegen große Aufmerksamkeit in der Forschung; sie steht daher auch im vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt: a) hinsichtlich der Unterscheidung und Klassifizierung von Referenzen (2.2.1 und 2.2.2), b) hinsichtlich des Explizitheitsgrades bzw. der Markiertheit von Intertextualität (2.2.3), c) hinsichtlich des Verhältnisses von Text und Prätext (2.2.4) und d) hinsichtlich der Funktionen von intertextuellen Einschreibungen für die Sinnkonstitution des Textes (2.2.5).

2.2.1 Einzeltext- und Systemreferenz Zum Kernbereich der Intertextualitätsforschung gehört die Beschreibung und Systematisierung von Einzeltext- und Systemreferenzen. Die beiden Begriffe wurden von Manfred Pfister und Ulrich Broich geprägt und bezeichnen den Verweis eines literarischen Textes auf einen individuellen Prätext bzw. auf ein System von Texten (z. B. eine Gattung).38 Einzeltextreferenzen bewirken, dass „an die Stelle der Lektüre eines Textes die Lektüre der Differenz von zwei – oder mehr – Texten tritt“39. Dieses Verfahren gilt als unproblematisch, da es in der Rhetorik und der entsprechenden literaturwissenschaftlichen Forschung zum literarischen Zitat und zur Anspielung traditionell verankert ist.40 Dagegen wird die Frage, ob Systemreferenzen in den || 36 Susanne Holthuis: Intertextualität, 31 sowie 249. 37 Das machen bes. die klugen Fallanalysen zur Lyrik Celans deutlich, bei denen die Wahrnehmbarkeit intertextueller Referenzen in besonderer Weise auf Markierungen angewiesen ist. Fehlen diese, ist die Wahrscheinlichkeit der intertextuellen Decodierung der hermetischen Texte sehr gering, vgl. ebd., 235–248. 38 Ulrich Broich: „Zur Einzeltextreferenz“, 48–52, hier 48; Manfred Pfister: „Zur Systemreferenz“, 52–58, hier 53; vgl. auch Ulrich Suerbaum: „Intertextualität und Gattung“, 58–77. Susanne Holthuis: Intertextualität, 48f., unterscheidet in Anlehnung an die Modellbildung bei János Petöfi und Terry Olivi systematisch analog zwischen referentieller und typologischer Intertextualität. 39 Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, 20. 40 Ulrich Broich: „Zur Einzeltextreferenz“, 49; vgl. auch Jürgen Stenzel: Art. ‚Anspielung2‘; Rudolf Helmstetter: Art. ‚Zitat‘; zum Forschungszusammenhang den Überblick bei Jörg Helbig: Intertextua-

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Kernbereich einer eng gefassten, methodisch kontrollierten und kontrollierbaren Intertextualitätsforschung gehören, kontrovers diskutiert.41 Pfister fasst den Begriff der Systemreferenz sehr weit. Die Position des individuellen Prätextes nehmen hier ‚Textkollektive‘ ein, bzw. die „hinter ihnen stehenden und sie strukturierenden textbildenden Systeme[]“42. In der „Randzone“ der Intertextualität siedelt Pfister dabei Bezüge auf „die sprachlichen Codes und das Normensystem der Textualität“43 an, spezifischer sind demgegenüber Referenzen auf einzelne gesellschaftliche Diskurstypen wie den theologischen, juristischen oder medizinischen Diskurs.44 Bezüge eines Textes zum literarischen System der Gattung(en) wertet Pfister, da sie sich allein auf den literarischen Diskurs beziehen, bereits als „Einengung“ des Konzepts.45 Pfisters Bestimmung der Systemreferenzen ist deutlich dem Bemühen geschuldet, die unterschiedlichen Intertextualitätsbegriffe nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu verbinden. Die eingangs skizzierte Unvereinbarkeit eines globalen Intertextualitätsverständnisses mit der Forderung nach methodisch kontrollierter Anwendbarkeit hat diesem weiten Konzept der Systemreferenzen jedoch keinen besonderen Erfolg beschert: In der Forschungspraxis hat sich v. a. das Verständnis von literarischer Systemreferenz als Gattungsreferenz durchgesetzt. Hierunter wird die Bezugnahme auf einen Satz von generischen Regeln und Normen, auf ein konventionalisiertes Aussage-System oder eine konventionalisierte Struktur verstanden,46 deren intertextuelles Potential davon abhängt, inwieweit sie „vorgegebene Gattungsmuster nicht einfach fortschreibt, sondern sie variiert, durchbricht, bewußt macht oder thematisiert“47. Gattungskonstitution und -geschichte werden so als intertextuelle Verfahren beschreibbar.48 Verschiedene Modellbildungen bemühen sich darum, Einzeltext- und Systemreferenzen nach Qualität und Quantität, nach Semantik und Pragmatik zu systematisieren.49 Einen ersten Versuch legte Gérard Genette in seiner 1983 erschienenen

|| lität und Markierung, 18–36; sowie die Bibliographie von Udo J. Hebel: Intertextuality, allusion, and quotation. 41 Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 17–19; vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Pfisters Konzept bei Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, bes. 7–22, der für seine eigene Modellbildung Systemreferenzen aus dem Intertextualitätsbegriff ausklammert. 42 Manfred Pfister: „Zur Systemreferenz“, 53. 43 Ebd., 53f., Zit. 53. 44 Ebd., 54f. 45 Ebd., 55f., Zit. 55. 46 Vgl. Ulrich Suerbaum: „Intertextualität und Gattung“, 59. 47 Manfred Pfister: „Zur Systemreferenz“, 56. 48 Ulrich Suerbaum: „Intertextualität und Gattung“. 49 Vgl. auch die Kriterien, die Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 25–30, für die Skalierung von Intertextualität vorschlägt: Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität, Dialogizität.

284 | Caroline Emmelius Monographie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe vor, in der er verschiedene Formen von Text-Text-Beziehungen differenziert, für die er den Oberbegriff ‚Transtextualität‘ wählt.50 Der „scholastische[] Aufwand an Nomenklatur“51 seiner Taxonomie täuscht dabei leicht darüber hinweg, dass die Typologie der fünf Typen keineswegs systematisch kohärent ist, umfasst sie doch neben Einzeltext- und Systemreferenzen52 inter- und intratextuelle Bezugnahmen53 sowie verschiedene semantische Relationierungen von Text und Prätext.54 Eine Präzisierung erfährt Genettes Typologie im Modell zu Formen der Intertextualität von Peter Stocker:55 Es differenziert zwischen Einzeltext- und Systemreferenzen, denen die referenziellen Modalitäten des Demonstrierens, Thematisierens und Imitierens zugeordnet werden. Auf diese Weise ergeben sich insgesamt sechs Varianten intertextueller Bezugnahme, die sowohl das Referenzobjekt als auch die Art und Weise der Bezugnahme berücksichtigen.56

2.2.2 Materielle vs. strukturelle Referenzen Während sich die Differenzierung von Einzeltext- und Systemreferenzen auf die Systematisierung der Prätexte bezieht, zielt die Unterscheidung von materiellen und strukturellen Referenzen auf den Typus des jeweiligen intertextuellen Bezugs. Heinrich F. Plett definiert intertextuelle Einschreibungen grundsätzlich als Figuren der Wiederholung.57 Er bestimmt materielle Einschreibungen als Wiederholungen von Zeichen des Prätextes im manifesten Text. Darunter fallen neben wörtlichen Zitaten und Anspielungen auch Eigennamen von Figuren. Von solchen materiellen Zeichenwiederholungen unterscheidet er strukturelle Regelwiederholungen, wie sie

|| 50 Gérard Genette: Palimpseste, 9. 51 Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 16. 52 Der Bezeichnung ‚Systemreferenz‘ entspricht im Sinne eines gattungssystematischen Bezugs die Kategorie der Architextualität (vgl. Gérard Genette: Palimpseste, 13f.). 53 Vgl. die Kategorie der Paratextualität (Gérard Genette: Palimpseste, 11–13), die aus dem Konzept der Intertextualität herausfällt, da es hier um Bezugstiftung zwischen verschiedenen Teilen des manifesten Textes geht. 54 Vgl. etwa die systematisch benachbarten Kategorien der Metatextualität als kommentierenden und der Hypertextualität als transformierenden Prätextbezug (Gérard Genette: Palimpseste, 13, 14– 18). 55 Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. 56 Die an Genette orientierte, dessen uneingängige Bezeichnungen gleichwohl noch überbietende Unterscheidung von Palintextualität, Metatextualität, Hypertextualität, Demotextualität, Thematextualität, Similtextualität schränkt die Nutzerfreundlichkeit des Modells freilich ein (vgl. Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre, 51–72; zusammenf. die Abb. ebd., 69). 57 Heinrich F. Plett: „Intertextualities“, 7. Die Unterscheidung ‚punktueller‘ und ‚struktureller‘ Bezüge auch bei Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 19.

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sich im Erzählschema, in bestimmten Figurenkonstellationen oder Motiven ausprägen können. Pletts Unterscheidung korreliert partiell, aber keineswegs grundsätzlich mit der Differenz zwischen Einzeltext- und Systemreferenz. Zwar manifestiert sich die Systemreferenz vielfach als Wiederholung einer regelhaften, z. B. narrativen, Struktur; diese kann aber ebenso gut auf einen konkreten Prätext rekurrieren. Umgekehrt sind materielle Zeichenwiederholungen nicht notwendig als Einzeltextreferenzen zu identifizieren, sondern können auch als Gattungszitat erscheinen (vgl. z. B. konventionalisierte Wendungen wie die sog. tacete-Formel am Eingang von Mären).58 Intertextuelle Bezüge bzw. Einschreibungen liegen freilich nach übereinstimmender Meinung der Intertextualitätsmethodiker nur dort vor, wo ein Text die Zeichen- oder Strukturwiederholung des Prätextes bzw. des prätextuellen (Gattungs-) Systems nicht nur einfach verwendet, sondern wo er explizit auf sie verweist oder sie markiert.59

2.2.3 Markierung intertextueller Referenz Das Postulat, dass Intertextualität nur dort gegeben sei, wo Einschreibungen und Bezüge markiert seien, zielt darauf, den unbewussten, zufälligen Gebrauch bestimmter literarischer Konventionen von solchen prätextuellen Bezügen zu unterscheiden, die kommunikative Relevanz für den manifesten Text haben.60 Markierte Intertextualität ist demnach vom Autor intendiert und darauf angelegt, vom Rezipienten decodiert zu werden.61 So hilfreich das Markierungspostulat jedoch für die Identifizierung intendierter Intertextualität ist, so wenig vermag es die Vielfalt intertextueller Bezugnahmen in der literarischen Praxis zu erfassen: Denn zum einen können auch unmarkierte Bezüge kommunikative Relevanz aufweisen und sowohl produktionsästhetisch gewollt als auch rezeptionsästhetisch wahrnehmbar sein. Zum anderen stellt schon Heinrich F. Plett fest, dass Intertextualitätsmarkierungen in expliziter und impliziter Form vorliegen können.62 Es ist daher nur folgerichtig, wenn Jörg Helbig in seinem Modell zur Analyse intertextueller Bezugnahmen eine

|| 58 Vgl. hierzu Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung, 262–265; Klaus Grubmüller: „Erzählen und Überliefern“. 59 Die anglistisch geprägte Forschung differenziert entsprechend zwischen ‚to use‘ und ‚to mention/to refer‘, vgl. u. a. Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenzen und Strukturwandel“, 15f.; Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 26f. 60 Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenzen und Strukturwandel“, 16. 61 Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“, 31f. 62 Heinrich F. Plett: „Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik“, 84–86.

286 | Caroline Emmelius Skala von nicht markierter über implizit und explizit markierte bis hin zu thematisierter Intertextualität ansetzt.63 Helbig versteht unter Markierungen „deiktische Zeichen, welche die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eine ihrerseits deiktische Zeichenkette [i. e. die intertextuelle Einschreibung, C. E.] fokussieren sollen“64. Zwischen dem Zeichenkomplex der Markierung und dem der eigentlichen intertextuellen Einschreibung ist somit systematisch zu differenzieren.65 Die Unterscheidung von impliziten und expliziten Markierungen macht allerdings deutlich, dass eine solche materielle Bestimmung von Markierung unzureichend ist. Implizite Markierungen sind auf Deutlichkeit angelegt, sie heben intertextuelle Bezüge durch Häufung, Umfang und Position im manifesten Text hervor, verzichten jedoch dezidiert auf ergänzende Deiktika.66 Explizite Markierungen stellen hingegen einen deutlichen und transparenten Bezug zwischen intertextueller Einschreibung und Prätext her. Helbig fasst darunter „onomastische Signale“, „linguistische Codewechsel“ und „graphemische Interferenzen“.67 Gegen diese Bestimmung ist einzuwenden, dass sowohl die Übernahme von Figurennamen als auch Codewechsel per se zwar deutliche, nicht aber zwangsläufig transparente intertextuelle Bezüge stiften. Um als explizit markiert zu gelten, bedürfen beide Verweisverfahren sprachlicher und/oder graphischer Addenda.68 Der eingangs aufgestellten Markierungsdefinition entsprechen somit lediglich graphische Auszeichnungsverfahren wie Anführungszeichen, Kursive etc.69 So hilfreich die Überlegungen zu intertextueller Markierung für eine präzise Beschreibung intertextueller Bezugnahmen sind, so sehr fixieren und verengen sie den Blick auf die hinter der Markierung stehende Autorintention. Je lauter der Ruf nach Markierung, desto stärker ist die Bindung von intertextueller Sinnstiftung an die Vorgaben des Autors. Damit gerät nicht nur einmal mehr der Rezipient aus dem Blick, dessen textuelles Vorwissen oder grundsätzlicher: dessen literarische Bildung für die Decodierung von Intertextualität ohnehin alles entscheidend ist. Auch die Frage nach dem sinnstiftenden Potenzial der intertextuellen Einschreibung tritt durch die Fixierung auf die Produktionsseite von Intertextualität in den Hintergrund. || 63 Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, 83–138. 64 Ebd., 73; vgl. auch Heinrich F. Plett: „Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik“, 85. 65 Dagegen bezeichnet Ziva Ben-Porat: „On alluding“, 290 u. 295, die intertextuelle Referenz selbst als marker (des Prätextes); kritisch hierzu Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“, 34f., problematisch dagegen sein Fallbsp. für intertextuelle Markierung durch den Kontext, das sich als strukturelle Referenz erweist, die gerade nicht markiert ist, ebd., 43f.; eine klare terminologische Differenzierung vollzieht dann Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, 64–75. 66 Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, 91–111. 67 Ebd., 111–131, bes. 112. 68 Das macht Jörg Helbig (ebd., 113–115) am Bsp. von Figurennamen bes. deutlich. 69 Ebd., 121–126.

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2.2.4 Verhältnis von Text und Prätext In welche Beziehung sich ein Text über intertextuelle Bezugnahmen zu einem Prätext setzt, beschäftigt sowohl die poststrukturalistische als auch die strukturalistische Intertextualitätsforschung. Die von Bachtin inspirierte Theoriebildung neigt dazu, den subversiven Charakter des intertextuellen Bezugs zu betonen. Michael Riffaterre etwa sieht eine intertextuelle Relation nur dann gegeben, wenn eine semantische Differenz zwischen Text und Prätext besteht.70 Diese Position markiert einen bewussten Abstand zu den normativen Vorgaben der antiken und frühneuzeitlichen Rhetorik.71 Deren Verfahren der imitatio (Nachahmung eines vorbildhaften Werks oder Autors) und aemulatio (Konkurrenz mit und/oder Überbietung eines Vorbilds) setzen eine grundsätzlich affirmative Haltung gegenüber dem Prätext voraus.72 Der Prätext ist hier stets eine autoritative Referenzgröße, an der sich die eigene Textproduktion orientiert. In der Forschung ist es mittlerweile jedoch Konsens, dass sich die beiden Positionen literaturgeschichtlich nicht gegeneinander ausspielen lassen: Affirmative und subversive Bezugnahmen auf die literarische Tradition gibt es in je unterschiedlicher Intensität zu allen Zeiten der Literaturgeschichte, häufig prägen sie die einzelne intertextuelle Einschreibung oder auch die Intertextualität eines Textes simultan.73 Gleichwohl lässt sich festhalten, dass die Intertextualitätsforschung zur neueren Literatur v. a. solche intertextuellen Bezüge untersucht, die den manifesten Text in eine kritisch-revidierende Distanz zum Prätext setzen, wie z. B. Parodie, Travestie und Pastiche,74 während die mediävistische Forschung vorwiegend affirmative Bezüge auf die literarische Tradition in den Blick nimmt.75

|| 70 Vgl. Michael Riffaterre: Semiotics of poetry, 100, 109f., 164–166. Bei Harold Bloom wird der Gedanke eines bewussten Missverstehens und Absetzens von zentralen Prätexten zum Prinzip literaturgeschichtlicher Innovation ausgebaut, vgl. Harold Bloom: The anxiety of influence. Vgl. auch Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 19f. 71 Zum Verhältnis von Intertextualitätstheorie und rhetorischer Nachahmungslehre vgl. Andreas Kablitz: „Intertextualität und die Nachahmungslehre der Renaissance (I)“, 36–38; ders.: „Intertextualität und die Nachahmungslehre der Renaissance (II)“, bes. 30–35; sowie Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, bes. 68–72. 72 Die Unvereinbarkeit intertextueller Theorie und vormoderner, rhetorisch basierter Textproduktion betont daher Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, zu imitatio und aemulatio bes. 68–72. 73 Darauf insistieren gerade aus mediävistischer Perspektive Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 56f.; Timo Reuvekamp-Felber: „Literarische Formen im Dialog“, 244–246. Eine vermittelnde Position, die Text-Prätext-Beziehungen über die Verfahren des „Weiter-, Wider- und Um-Schreiben[s]“ bestimmt, formuliert Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, 51–87, Zit. 65. 74 Vgl. z. B. das Untersuchungsspektrum bei Gérard Genette: Palimpseste; sowie die Fallstudien bei Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität. 75 Vgl. dazu unten Abschn. 3.1.

288 | Caroline Emmelius Heinrich F. Plett hat zwei Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Analyse semantischer Text-Prätext-Konstellationen erweitert und ergänzt werden kann.76 Erstens weist er darauf hin, dass Sinnbildungsprozesse intertextueller Einschreibungen nicht eindimensional, sondern wechselseitig verlaufen. Intertextuelle Bezugnahmen haben demnach sowohl Implikationen für den manifesten Text als auch für den Prätext.77 Zweitens regt Plett an, dass eine sowohl produktions- als auch rezeptionsorientierte Analyse jene Interpretationsfilter zu berücksichtigen habe, die sich aus der Perspektive des Autors und des Rezipienten zwischen Text und Prätext schieben können: „Die Funktion eines derartigen Filters übernimmt z. B. ein Vorurteil, aber auch ein wissenschaftlicher Diskurs.“78 In dieser Perspektive gewinnt die Produktionsseite von Intertextualität eine rezeptionsästhetische Dimension. Der Prätext ist nicht länger ein statisches, monolithisches Werk mit gleichsam fixierter Semantik, sondern ist seinerseits Gegenstand eines dynamischen, zeit- und standortgebundenen Aneignungsprozesses.79 Für Verständnis und Deutung intertextueller Einschreibung sind aber nicht zuletzt auch jene Interpretationsfilter zentral, durch die hindurch der Rezipient den Prätext wahrnimmt, modellieren sie doch die Konnotationen des Prätextes, die für den Rezipienten im intertextuellen Bezug aktualisiert werden.80

2.2.5 Funktionen intertextueller Referenz Für eine Intertextualitätskonzeption, die sich als interpretatorischer Zugang zum Sinnbildungsverfahren in literarischen Texten versteht, ist die Frage nach den Funktionen intertextueller Einschreibungen zentral. Im Vergleich mit den facettenreichen Systematisierungsbemühungen im Bereich der Erscheinungsweisen und Bezugsformen von Intertextualität gibt es für den Bereich intertextueller Funktionen kaum ausdifferenzierte Modellbildungen. Das mag daran liegen, dass eine Funktionszuschreibung, wenn sie denn präzise sein will, nicht in den Bereich der Textbeschreibung, sondern der Textdeutung fällt. Solche Interpretationen intertextueller Wirkungen sind aber möglicherweise zu fallspezifisch, als dass sie sich in einem literaturgeschichtlich übergreifenden Modell systematisieren ließen. Denn dass Intertextualität ein nach Epochen, Nationalphilologien, ggf. aber auch nach Gattungen

|| 76 Heinrich F. Plett: „Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik“, 87. Bislang wird – soweit ich sehe – in intertextuellen Analysen von diesen Optionen kaum Gebrauch gemacht. 77 Vgl. auch Timo Reuvekamp-Felber: „Literarische Formen im Dialog“, 264–267. 78 Heinrich F. Plett: „Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik“, 87. 79 Für ein Fallbsp. vgl. Abschn. 4. 80 Ein einfaches empirisches Bsp. hierfür wäre eine intertextuelle Referenz R auf einen Prätext P, der dem Rezipienten auch als Film (P’) bekannt ist. Der Film fungiert dann als Interpretationsfilter, der die Semantik von P zusätzlich anreichert und modelliert.

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und Autoren verschiedener Stellenwert zukommt, scheint evident. Die bislang vorliegenden Systematisierungsversuche zu den Funktionen von Intertextualität bleiben daher notwendig allgemein. Bernd Schulte-Middelich versteht intertextuelle Einschreibung ganz grundsätzlich als Möglichkeit semantischer Komplexion, die den Prätext, den manifesten Text oder beide zugleich betreffen kann.81 In Bezug auf die Sinnkonstitution des manifesten Textes differenziert er bestätigende, erweiternde und kontrastierende Funktionen der intertextuellen Referenz.82 Das semantische Verhältnis von Text und Prätext kehrt so als Funktion von Intertextualität wieder. Solche Möglichkeiten intertextueller Bezugnahmen, semantischen Mehrwert zu generieren, bezeichnet Peter Stocker als ‚poetische Funktion‘ von Intertextualiät, der er die kulturelle Funktion der Gedächtnisarbeit gegenüberstellt.83

3 Intertextualität in der mediävistischen Literaturwissenschaft 3.1 Diskussion und Kritik In der germanistischen Mediävistik haben Theorie und Methode der Intertextualität breite Resonanz gefunden.84 Die Verwendungen der Begrifflichkeit sind dabei so facettenreich wie die Geschichte des Begriffes selbst. Die kritische Diskussion des Konzeptes kennt zwei Tendenzen: Sofern unter Intertextualität nicht mehr als die Beziehung von Texten auf Texte verstanden wird, der Begriff also weder theoretisches noch methodisches Profil aufweist, gilt er als modisches Etikett für eine philologische Tätigkeit, der man immer schon nachgegangen ist: der „Ermittlung von Zitaten, Quellen, Einflüssen, Anspielungen“85. Denn: „Jeder Text situiert sich in einem schon vorhandenen Universum der Texte, ob er dies beabsichtigt, oder nicht.“86 Sofern hingegen der poststrukturalistische Intertextualitätsbegriff zur Anwendung kommt, entstehen Zweifel, ob dieser aufgrund seiner ideologie- und traditionskriti|| 81 Bernd Schulte-Middelich: „Funktionen intertextueller Textkonstitution“, 197–242, hier 214. 82 Ebd., 214–240. 83 Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre, 73–92. 84 Vgl. zum mediävistischen Forschungsstand seit den 1980er-Jahren Friedrich Wolfzettel: „Zum Stand und Problem der Intertextualitätsforschung“; Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 29–36; sowie die aktualisierte Zusammenfassung bei Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, 16–27. 85 So Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, 67 u. 98 Anm. 12 (Zit.). 86 Karlheinz Stierle: „Werk und Intertextualität“, 7. Zum Verhältnis von Quellen- und Intertextualitätsforschung s. Abschn. 3.3.

290 | Caroline Emmelius schen Implikationen überhaupt für die vormodernen Literaturen greift. So macht Jan-Dirk Müller deutlich, dass die älteren Literaturen, insb. die antike und die frühneuzeitliche, auf die normativen Vorgaben der Rhetorik bezogen sind. Daher stehen die Möglichkeiten des Traditionsbezugs mit den Verfahren der imitatio und der aemulatio immer schon fest, insofern sie die grundsätzlich affirmative Orientierung an einem vorbildhaften Werk bzw. dessen Autor implizieren. Alternative Verfahren, gar die Freistellung von ihnen sieht ein solch normativ orientiertes literarisches System nicht vor.87 Klaus W. Hempfer kehrt hingegen die Argumentation um und plädiert dafür, die poststrukturalistischen Axiome des Intertextualitätsbegriffs aufzugeben, um die vormodernen Formen textueller Referenzen und Einschreibungen dem Konzept einzugliedern: [Denn] wenn man ‚Intertextualität‘ als systematischen Begriff einer Texttheorie einführen will, [darf] dieser nicht apriorisch mit historisch spezifischen Funktionen belastet werden [...]. Vielmehr ist über die Variabilität der Funktionen zugleich die Historisierung des Konzepts einholbar, so daß sich imitatio als eine historisch spezifische Funktionalisierung von Intertextualität bestimmen läßt.88

Nun lässt sich argumentieren, dass sich die volkssprachliche Literatur des Mittelalters gerade nicht von einer verbindlichen, schriftlich fixierten literarischen Norm ableitet. Anders als die lateinischen Literaturen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist sie nicht an die normativen Formen und Verfahren von Poetik und Rhetorik gebunden.89 Gleichwohl wird man festhalten können, dass auch die mittelalterliche Literatur der Volkssprachen in hohem Maße traditionsgebunden ist. Für sie gilt in gleicher Weise, was Müller für die frühneuzeitliche Literatur festhält: Die Geltung der Tradition steht nicht grundsätzlich in Frage, die Leistung der Alten ist unbestritten und die Tradition somit „kollektiv gesicherter Besitz und Ausgangspunkt weiteren Fortschreitens“90.

|| 87 Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, 68–72. 88 Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, 21. 89 So argumentiert Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, 72–76, für die volkssprachliche Literatur der Frühen Neuzeit. Der Hinweis auf die normative Bindung der vormodernen Literatur ist somit zu relativieren. 90 Jan-Dirk Müller: „Texte aus Texten“, 70; vgl. auch Markus Stock: „Alexander in der Echokammer“, 117. Dagegen macht Timo Reuvekamp-Felber: „Literarische Formen im Dialog“, bes. 245f., darauf aufmerksam, dass Traditionsgebundenheit das Mittelalter weder grundsätzlich gegen die Moderne abschließt noch die grundsätzliche Abwesenheit von Kontrafaktur und kritischem Kommentar bedingt.

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3.2 Intertextualität und Gattungsgeschichte In der Mediävistik findet der Intertextualitätsbegriff sowohl in seiner theoretischen als auch in seiner methodischen Ausrichtung besondere Anwendung für die Gattungsgeschichte von höfischem Roman und Heldenepos. Indem der Begriff die Gattungsentwicklung vom formalistisch-strukturalistischen „Leistungsdruck der Innovation“91 zu befreien vermag, lässt sich über ihn die Geschichte der hoch- und spätmittelalterlichen Romanformen neu schreiben.92 Die ältere Unterscheidung von klassischem Modell und epigonalem Nachfolger kann so durch die Beschreibung eines „semantischen Gestus der Teilhabe“ und der „Kanonbildung“ ersetzt werden.93 Dass die höfischen ‚Klassiker‘ ihrerseits intertextuell verfasst sind, weisen Arbeiten zu den Intertextualitätspoetiken von Tristan oder Parzival nach.94 Diese Untersuchungen zeigen, dass ein gattungsgeschichtlich fruchtbar gemachter Intertextualitätsbegriff methodisch nicht mit der Kategorie der Einzeltextreferenz auskommt, sondern die Kategorie der Systemreferenz notwendig braucht. Denn gerade für die arthurischen Bezüge in Romanen wie der Crône Heinrichs von dem Türlin oder dem Daniel des Strickers lässt sich vielfach kein individueller arthurischer Prätext ausmachen. Vielmehr ist es gerade das Verweisprinzip dieser Romane, mit der eigenen Diegese an eine arthurische Welt anzuknüpfen, die sich aus der Summe einzelner Prätexte bildet. So dienen die intertextuellen Verweise auf den Artusroman im spätmittelalterlichen Alexander des Ulrich von Etzenbach nicht der „Wiederaufnahme oder Auseinandersetzung mit der spezifischen Sinnstiftung der Einzeltexte“, sondern rufen eine „narrativ gefaßte[] Kulturnorm“95 auf und erzeugen damit einen „zeitaufhebende[n] Nachhall kanonisierter Literatur, der den Protagonisten auf weiten Teilen seines Weges umgibt und ihn als Figur auch selbst prägt“96. Solche intertextuellen Referenzen können sowohl strukturelle Systemreferenzen als auch punktuelle Einzeltextreferenzen sein. Die strukturelle Intertextualität

|| 91 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur, 65–87, hier 67. 92 Vgl. zum sog. nachklassischen Roman Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, 149–168, programmatisch zu narrativen Großformen als „eo ipso intertextuelle[n] Texten“ ebd., 169–177, Zit. 172; Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, 14–18, 37–39; sowie Armin Schulz: Poetik des Hybriden, 19–21, 35–40; zur spätmittelalterlichen Heldendichtung Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen. 93 Markus Stock: „Alexander in der Echokammer“, 116. 94 Vgl. zum Tristan z. B. Walter Haug: „Der Tristan“; zum Parzival Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. 95 Markus Stock: „Alexander in der Echokammer“, 118. 96 Ebd., 119. Analoge Befunde für die Bezugnahmen auf den höfischen Roman in der Crône Heinrichs von dem Türlin oder im Wigalois Wirnts von Grafenberg schon bei Christoph Cormeau: „Wigalois“ und „Diu Crône“, 165–229; Peter Kern: „Bewußtmachen von Artuskonventionen“; ders.: „Die Auseinandersetzung mit der Gattungstradition“ sowie Cornelia Schu: „Intertextualität und Bedeutung“.

292 | Caroline Emmelius des Höfischen Romans und der Heldendichtung hat die mediävistische Forschung besonders beschäftigt: Der Doppelweg des klassischen Artusromans und das nicht allein für die Heldendichtung zentrale Brautwerbungsschema sind narrative Muster, auf die sich nachfolgende Texte beziehen und die sie bearbeiten.97 Die Gattungsgeschichte von Roman und Epos arbeitet daher mit einem dynamischen Konzept von Systemreferenzen wie Strukturwiederholungen, -variationen und Schemazitaten.98 Bezugnahmen auf den literarischen Raum der arthurischen oder heldenepischen Welt können jedoch auch punktuell erfolgen, etwa durch die Übernahme von Figurennamen in den manifesten Text.99 Dabei gelten Eigennamen grundsätzlich als intertextuelle Referenzen mit hohem Explizitheits- oder Markierungsgrad, die den manifesten Text besonders eindeutig auf den Prätext hin transparent machen.100 Entsprechend ordnet Helbig sie der Kategorie explizit markierter Intertextualität zu.101 Streng genommen sind Eigennamen aber in der Regel unmarkiert, d. h. ihre Nennung gilt als selbstevident und benötigt gerade keinen additiven, Transparenz herstellenden Kommentar. Damit aber kann der Eigenname nur dann kommunikative Relevanz entfalten, wenn der Rezipient entsprechendes Vorwissen zur genannten Figur mitbringt.102 Als explizit markierte Einzeltextreferenz kann hingegen auf Grund des ausführlich kontextualisierten Eigennamenzitats Gaweins warnender Hinweis auf Erecs verligen im Iwein gelten,103 ein komplexes Beispiel aus dem Minnesang liegt mit der sog. Reinmar-Walther-Fehde vor.104 || 97 Zum arthurischen Doppelweg vgl. exemplarisch Walter Haug: „Die Symbolstruktur des höfischen Epos“; ders.: „Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain/Iwain“; Hartmut Bleumer: Die „Crône“ Heinrichs von dem Türlin; zum Brautwerbungsschema vgl. u. a. Kerstin Schmitt: Poetik der Montage, bes. 52–67; zu strukturellen Hybridformen vgl. Hartmut Bleumer: „Schemaspiele“; Armin Schulz: Poetik des Hybriden; Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen. 98 Vgl. zur Begrifflichkeit Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane, 37–47 u. 144–146; ders.: „Erzählstruktur und Schemazitate im ‚Reinfried von Braunschweig‘“, bes. 332f.; Armin Schulz: Poetik des Hybriden, 35–40. 99 Vgl. für theoretische Überlegungen und ein Fallbsp. aus dem Parzival Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 147–169; für Artus- und Trojaroman sowie für die Dietrichepik Björn Reich: Name und maere. Zur Verwendung epischer Figurennamen in Minnesang und Sangspruchdichtung vgl. Volker Mertens: „Intertristanisches“; sowie Timo Reuvekamp-Felber: „Literarische Formen im Dialog“. 100 Vgl. Ulrich Broich: „Formen der Markierung“, 40; ausführlich zu den Verfahren und Funktionen intertextuell verwendeter Eigennamen Wolfgang G. Müller: „Namen als intertextuelle Elemente“, der hierfür geprägte Begriff der Interfiguralität bei dems.: „Interfigurality“. Ohne Rekurs auf die Intertextualitätsdebatte beschreibt das Phänomen bereits Theodore Ziolkowski: „Figures on loan“, pointiert 129f. 101 Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, 113–115. 102 Das betont etwa Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen, 27; vgl. auch Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 150–155. 103 Hartmann von Aue: Iwein, vv. 2790–2798. 104 Vgl. Ricarda Bauschke: Die „Reinmar-Lieder“ Walthers von der Vogelweide, deren Studie den Intertextualitätsbegriff mit Hempfer ganz auf Einzeltextreferenzen beschränkt (ebd., 21–23).

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3.3 Intertextualität und Quellenforschung Die historische und kulturelle Distanz zu den mittelalterlichen Texten hat in der Mediävistik in stärkerem Maße als dies für moderne und postmoderne Literatur erforderlich ist, eine Kultur des philologischen Kommentars hervorgebracht, zu der nach wie vor auch Quellenangaben gehören. Insofern ist gerade für die mediävistischen Literaturwissenschaften wichtig, das Verhältnis zwischen traditioneller Quellenforschung als dem, was man im Fach schon immer betrieben hat, und dem Intertextualitätskonzept zu klären.105 Eine Verkürzung von Intertextualität auf die summarische Nennung von Quellen und Vorlagen hatte schon Julia Kristeva befürchtet und sich daher von ihrer eigenen Begriffsprägung distanziert.106 Deshalb bemühen sich die Vertreter des methodischen Ansatzes, die Differenz intertextueller Analysen zur Quellen- und Einflussforschung herauszustellen: Intertextualitätsforschung bedeute nicht einfach „Spurensicherung“107, sondern untersuche das, was […] die Motivgeschichte und die sources-and-analogues-Forschung in positivistischer Faktenhuberei fragmentarisiert hatte. […] [Diese] älteren Studien [verfehlten] aufgrund methodischer Verkürzungen das Ziel der Intertextualitätsanalyse, den einzelnen Text als vielschichtige dialogische Replik innerhalb vielfältig vernetzter Textreihen zu lesen.108

Die Mediävistik hat im Vergleich zu diesen neuphilologischen Positionen weniger starke Berührungsängste mit den älteren Forschungspraktiken. Hier sieht man Quellen- und Intertextualitätsforschung nicht als konkurrierend oder gar einander ausschließend an, sondern versteht sie als aneinander anschließende, benachbarte Konzepte: Der Intertextualitätsbegriff hat gewiß dann keinerlei Sinn, wenn er nur ein neues Wort für Quellenforschung darstellt, er hat jedoch einen ganz präzisen Sinn, wenn er als kommunikativsemiotischer Begriff dem genetischen Begriff der ‚Quelle‘ gegenübergestellt wird.109

|| 105 Anregend hierzu Jay Clayton/Eric Rothstein: „Figures in the corpus“; ausführlich zum Verhältnis von Intertextualität und Einflussforschung Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität, 63– 98. 106 Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, 69; hierzu auch Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, 10f. 107 Ders.: „Konzepte der Intertextualität“, 19. 108 Ders.: „Zur Systemreferenz“, 58; vgl. auch Ulrich Broich: Art. ‚Intertextualität‘, 179. 109 Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, 19. Vgl. auch Gerd Dicke: Art. ‚Quelle‘, 203f., der sich ganz selbstverständlich intertextueller Terminologie bedient. Kritisch zur Intertextualität als theoretisch-methodischer Weiterung der Quellenforschung jedoch ebd., 205.

294 | Caroline Emmelius Insofern dürfte es sinnvoll sein, das Intertextualitätsparadigma prononcierter als bislang als theoretische und methodische Reformulierung und Weiterung der positivistischen Quellenforschung zu sehen. Dabei zeichnet es sich durch seine spezifische Zielsetzung aus, durch die „Umorientierung des Frageinteresses und des Reflexionsrahmens, in den die [...] Analyse eingebunden ist“110. Gründliche Quellenforschung ist in dieser Perspektive eine Voraussetzung, die die intertextuelle Lektüre erleichtern und befördern kann, dieser Lektüre selbst aber ist es aufgegeben, die verschiedenen Formen textueller Vernetzung systematisch nachzuweisen und sie v. a. auf ihr hermeneutisches Potential für den manifesten Text zu befragen.111

4 Intertextualität in der literarischen Praxis: Umberto Eco und Mechthild von Magdeburg 4.1 Die sinnliche Erfahrung des Adson von Melk und die Sprache der Mystiker Für den Autor und Literaturtheoretiker Umberto Eco ist das Mittelalter das Zeitalter intertextueller Textproduktion par excellence, einer Intertextualität freilich, die weniger die markierte und reflektierte Auseinandersetzung mit dem fremden im eigenen Text sucht als vielmehr den fremden als eigenen Diskurs wiederholt und fortschreibt. An seinem Erzähler Adson von Melk führt Eco vor, wie Textverständnis und Textumgang eines mittelalterlichen Lesers und Schreibers mit durchschnittlicher geistlicher Bildung und von mittlerem intellektuellen Niveau ausgesehen haben könnten. Adson ist Ecos betagter Chronist für die Morde in einer norditalienischen Benediktinerabtei, deren kriminalistische Aufdeckung er als junger Mönch an der Seite des gelehrten Franziskaners William von Baskerville mitverfolgte. An seinem Bericht lässt sich ein Verfahren nachvollziehen, das man als unwillkürliche Intertextualität bezeichnen könnte: Für Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, für moralische Wertungen des aktuellen Welt- und Gesellschaftszustands und besonders für intensive persönliche Erfahrungen findet Adson keine eigenen, individuellen Worte, sondern greift auf Formulierungen zurück, die seinem durch monastische Bildung angeeigneten Textarchiv entnommen sind: mittelalterlichen Chroniken, Zeitklagen, biblischen Texten sowie Schriften der Visions-, Viten- und Offenba-

|| 110 Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 14 (Zit.) u. 62. 111 Vgl. Klaus W. Hempfer: „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel“, 19f.

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rungsliteratur.112 So fasst der greise Erzähler gleich am Anfang des Romans seine griesgrämige Sicht auf die Gegenwart dem Topos des laus tempori acti gemäß in Bilder verkehrter Ordnung, die eine berühmte Verssatire aus den lateinischen Carmina Burana zitieren.113 In den Schlusssätzen formuliert derselbe Erzähler sein Gottesbild, indem er Zitate der Mystiker Eckhart, Tauler und Angelus Silesius montiert, die der Autor Eco pikanterweise in Johan Huizingas berühmter Abhandlung über den Herbst des Mittelalters vorgefunden hat.114 Der Forderung nach impliziter oder expliziter Markierung entsprechen diese intertextuellen Übernahmen kaum, vielmehr wiederholen sie vorgängige Rede, als sei kein Unterschied zwischen alt und neu, zwischen fremd und eigen.115 Aus neuzeitlicher Perspektive fällt ein solches Verfahren unter den Tatbestand des Plagiats, und es kann daher nicht überraschen, dass der Autor Eco augenzwinkernd als ‚literarischer Falschmünzer‘ bezeichnet wurde.116 Gleichwohl geht diese Zuschreibung an der Konstruktion des Textes vorbei, denn Eco benutzt seinen Chronisten ja gerade dazu, das unmarkierte Einstimmen des Erzählers in textuell bereits verfestigte Diskurse als spezifisch mittelalterliches Verfahren der Textproduktion zu präsentieren. Adsons nächtliche Liebesbegegnung mit dem Bauernmädchen in der Küche des Klosters liefert hierfür einschlägige Belege, etwa in der Beschreibung des Mädchens mit den Worten des Hohenliedes oder in der Verwendung der Flammenmetapher aus den Visionen der Hildegard von Bingen für den sexuellen Orgasmus.117 Der Versuch, körperliche Ekstase in der Sprache biblischer Liebes- und mystischer Visionsdich-

|| 112 Zu den mittelalterlichen Prätexten des Namens der Rose vgl. u. a. Jörn Gruber: „Spiel-Arten der Intertextualität“; Michael Thomas: „Die mystischen Elemente und ihre Funktion“; verstreute Hinweise gibt auch Eco selbst, vgl. ders.: Nachschrift, bes. 27f., 49–52. 113 Umberto Eco: Der Name der Rose, 24; die Textstelle zitiert, z. T. wörtlich, z. T. ungenau Carmina Burana 6, bes. vv. 1–8, 16–19, 29–36, 43f., das seinerseits mit zahlreichen Anspielungen auf biblische und antike Schriften arbeitet, vgl. Carmina Burana, 16–18. Eine ausführliche Analyse insb. der ungenauen oder verfälschenden Übernahmen bietet Jörn Gruber: „Spiel-Arten der Intertextualität“, 87–90, der überdies nachweisen kann, dass Eco nicht mit dem lateinischen Originaltext, sondern einer Paraphrase von Ernst Robert Curtius gearbeitet habe. 114 Umberto Eco: Der Name der Rose, 654f.; vgl. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters, 251–265, bes. 259f.; hierzu Jörn Gruber: „Spiel-Arten der Intertextualität“, 93f. 115 Dass der Text demnach einen Expertenleser fordert, mit dem der Roman eigentlich nicht rechnen kann, betont Ulrich Suerbaum: „Intertextualität und Gattung“, 77: „Diese [i. e. Ecos, C. E.] Intertextualität ist, was den Leser angeht, zum größten Teil ein Spiel für die Katz, weil er das Substrat – von einigen biblischen Texten abgesehen – nicht kennt.“ 116 Vgl. den Titel des Beitrags von Jörn Gruber: „Spiel-Arten der Intertextualität“, sowie ebd., 60f. u. 86–95. 117 Vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose, 330–333. In der Forschung gilt diese Szene als Schlüsselszene für die spezifische intertextuelle Verfasstheit des Romans, eine Einschätzung, die sich nicht zuletzt einer Selbstaussage des Autors in der Nachschrift zum „Namen der Rose“ verdankt, in der er den Schreibprozess der Szene als rauschhaftes Analogon zur dargestellten Liebeshandlung stilisiert, vgl. Umberto Eco: Nachschrift, 51f.

296 | Caroline Emmelius tung auszudrücken, bedient dabei nicht nur klischeehafte Annahmen über die Ununterscheidbarkeit von körperlicher und mystischer Liebe,118 sondern stellt einmal mehr die geringe textuelle Originalität des Erzählers aus. Freilich transportiert ein solches Erzählverfahren nicht wenige Vorurteile über mittelalterliche Schriftlichkeit: über unkritische Traditionsgebundenheit und Autoritätengläubigkeit, einen fehlenden Autorschaftsbegriff und kaum ausgeprägte Individualität. Vor dem Hintergrund dieses so geschickt wie überzeugend inszenierten Mittelalterklischees in einem Roman der Postmoderne fragt der folgende Abschnitt nach intertextuellen Verfahren in mittelalterlichen Texten, die literarisch konstruktive Alternativen zu den schlichten, bisweilen sogar verzerrenden Textreproduktionen des Erzählers Adson bieten. Gewählt werden hierfür Passagen aus dem Fließenden Licht der Gottheit der Mechthild von Magdeburg, in denen für die Darstellung des Verhältnisses von liebender Seele und göttlichem Partner explizite und implizite Bezüge auf das biblische Hohelied produktiv gemacht werden. Mechthilds Text ist ein hochrangiger Vertreter volkssprachlicher geistlicher Literatur und steht damit in denkbar weitem Gegensatz zum Bericht des Chronisten Adson.119 Wenn die folgenden Ausführungen insofern darauf zielen, mit Hilfe des Instrumentariums der Intertextualitätsmethodik die Spielräume sichtbar zu machen, die geistlichen Autoren des Mittelalters potentiell offen standen, dann geht es weniger darum, die intertextuellen Verfahren eines Adson von Melk als spezifisch mittelalterliche in Frage zu stellen, als vielmehr darum, sie zu ergänzen und die Vorstellungen von mittelalterlicher Intertextualität damit zu vervollständigen.

4.2 Zitat, Anspielung, Aneignung, Transformation: HoheliedIntertextualität im Fließenden Licht der Gottheit Die wichtigste intertextuelle Referenzgröße für das Fließende Licht der Gottheit stellt die Bibel dar, v. a. das Hohelied, der Psalter und die Prophetenbücher. Daneben spielt in geringerem und schlechter belegbarem Ausmaß geistliche Literatur in lateinischer und deutscher Sprache eine Rolle sowie vereinzelt auch höfische Literatur und vorliterarische, z. T. mündlich tradierte Kleinformen wie Rätsel, Sprichwort und

|| 118 Adsons Schwierigkeiten, reine geistliche und sündhaft weltliche Liebe phänomenologisch zu unterscheiden, werden im Roman verschiedentlich thematisiert, explizit z. B. in einem Gespräch mit dem Franziskanermystiker Ubertin da Casale (vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose, 306–308). 119 Auf eine literaturgeschichtliche Einführung zum Text muss hier verzichtet werden. Hervorragende Überblicke bieten Kurt Ruh: Geschichte der abendländische Mystik, Bd. 2, 245–295; Alois Maria Haas: Sermo mysticus, 67–135; Burkhard Hasebrink: „Das Fließende Licht der Gottheit“ sowie Vollmann-Profe in: dies. (Hg.): Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, 669–681.

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Spruch.120 Neben dem Psalter ist das Hohelied der sowohl in materieller als auch in struktureller Hinsicht am intensivsten genutzte Prätext für das Fließende Licht der Gottheit,121 v. a. „für die Darstellung der zentralen mystischen Erfahrung, der unio mystica“, kommt dem Hohenlied als Prätext „grundlegende Bedeutung zu“.122 In der Forschung werden die Prätexte des Fließenden Lichts zumeist traditionell als ‚Quellen‘ aufgeführt.123 Die Problematik des Quellenbegriffs zeigt sich dabei z. B. am Bibelstellenverzeichnis, das der neuhochdeutschen Übersetzung von Margot Schmidt beigegeben ist.124 Diese Aufstellung über die im Fließenden Licht zitierten bzw. verwendeten Bibelstellen bietet zwar einerseits eine wertvolle quantitative Übersicht über die grundsätzliche Relevanz bestimmter biblischer Bücher. Andererseits ist das Verzeichnis für die intertextuelle Analyse nur in begrenztem Maße nützlich, da das Prinzip der Stellensammlung nicht erläutert wird und somit undeutlich bleibt, was ‚Quelle‘ meint: So weisen die angegebenen Bibelstellen vielfach nur ein Stichwort auf (‚Fels‘, ‚Taube‘, ‚Wein‘), das auch in der entsprechenden Passage des Fließenden Lichts verwendet ist. Schon die Berücksichtigung des syntaktischen Kontextes und der kommunikativen Situation, in der die Bibelstelle steht, erschwert es jedoch in der Regel beträchtlich, die jeweiligen Bibelverse als Prätexte aufzufassen. Nach der in einem intertextuellen Sinne genauen und je spezifischen Transformation der Bildlichkeit des Hohenliedes für den Ausdruck der mystischen unio im Fließenden Licht fragt dagegen die Untersuchung von Susanne Köbele.125 Sie macht zum einen deutlich, dass die vom Hohenlied inspirierte Bildsprache spiritueller Sinnlichkeit im Fließenden Licht nicht Allegorie für einen abstrakten geistigen Sinn ist, sondern als unmittelbarer Ausdruck einer Einheit von Seele und Gott zu gelten hat, in der die körperlich gedachte Sinnenverhaftetheit nicht nur überwunden, sondern transformiert ist.126 Zum anderen arbeitet sie Verfahren wie die szenische Entfaltung von Hohelied-Motiven heraus, mit denen die „rekreativ produktive“ Bildsprache des Fließenden Lichts die biblische und exegetische Tradition „eigenständig

|| 120 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 676–678; zu den literarischen Formen im Fließenden Licht grundlegend Wolfgang Mohr: „Darbietungsformen der Mystik“. 121 Quantitativ entfallen auf das Hohelied und den Psalter in etwa gleich viele Zitate und Anspielungen, vgl. die Auflistung der Verweise – ohne terminologische Differenzierung – im Anhang zur nhd. Übers. von Margot Schmidt (Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit [Übers. Schmidt], 414–416); sowie ausführlich Elizabeth A. Andersen: The voices of Mechthild of Magdeburg, 147–181. 122 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 676f.; Alois Maria Haas: Sermo mysticus, 108–113; Hans-Georg Kemper: „Allegorische Allegorese“, 92–94. 123 Vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 676–678. 124 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Übers. Schmidt), 413–423. 125 Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 74–96. 126 Ebd., 74–85.

298 | Caroline Emmelius verwandelt“.127 Ergänzt und erweitert werden Köbeles Beobachtungen durch die Untersuchung von Elizabeth Andersen, die sich dezidiert an intertextueller Methodik und Terminologie orientiert. Andersen fasst Hoheslied und Psalter als gleichwertige intertextuelle Stimmen des Fließenden Lichts auf.128 Dabei fokussiert sie weniger die Ebene materieller Referenz als vielmehr die Ebene struktureller Analogien. Beide Prätexte zeichnen sich durch einen dialogischen Charakter aus, sie liefern dabei Folien für gegensätzliche Kommunikationsstrukturen, von denen das Fließende Licht in komplementärer Weise Gebrauch macht: „The paradigm of the Song of Songs offers a horizontal plane for the realisation of the loving soul’s relationship with God, whereas the model of the Book of Psalms provides a vertical dimension in the relationship of the prophet with God.“129 Im Folgenden geht es nicht um eine Revision der bisherigen Forschungsergebnisse. Im Zentrum steht vielmehr der Versuch, das Verhältnis zwischen biblischem Hohenlied und dem Fließenden Licht mit den terminologischen Möglichkeiten der Intertextualitätsmethodik an ausgewählten Fallbeispielen zunächst einmal präzise zu beschreiben.

4.2.1 Prätextnennung und direktes Zitat: Das Hohelied als lieht des Fließenden Lichts In zwei Passagen des Fließenden Lichts werden übersetzte Zitate aus dem lateinischen Bibeltext mit einem expliziten Verweis auf das Hohelied verbunden. Kap. III,20 des Fließenden Lichts führt die biblischen Inspirationsquellen an, mit denen Gott das Buch der Visionärin zu erleuchten versprochen hat. Moses, König David, der als Autor des Psalters gilt, sowie die Propheten Jeremias und Daniel werden als Lichter für Mechthilds Text bezeichnet. Sie sind charakterisiert als „Männer, deren Lebenssituationen aus M[echthild]s Sicht ihrer eigenen vergleichbar sind (Anfeindungen und Leid auf Grund der prophetischen Erwählung) und/oder deren Schriften ihr Schreiben beeinflußten“.130 Im Falle König Salomos, dessen Lebenswandel nicht als Vorbild taugt, wird die Qualität des wegweisenden und vorbildhaften Lichts auf den ihm zugeschriebenen Text des Hohenliedes übertragen:

|| 127 Ebd., 85 (Zit.), ausführlich hierzu 88–94. Die poetische Freiheit im Umgang mit den Prätexten, die sich in der „Unmittelbarkeit eines eigengesetzlichen Bildverfahrens“ niederschlägt, sieht Köbele durch die Volkssprachlichkeit von Mechthilds Text begünstigt, die in geringerem Ausmaß als das Lateinische auf bestimmte theologische Wissenschafts- und Auslegungstraditionen verpflichtet sei, vgl. ebd. 93f. 128 Elizabeth A. Andersen: The voices of Mechthild of Magdeburg, 147–181. 129 Ebd., 180f. 130 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 762 (Anm. zu 204,13–206,12).

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Salomones wort lúhtent – und sin werk nit, wan er selber vervinstert ist – in dem buoche Canticis, da dú brut so trunken kuene vunden ist und der brútegovme so rehte noetlich ir zuo sprichet: „Du bist alles schoene, min frúndinne, und kein vlekke ist an dir“ (III,20; S. 204,30– 206,2).131

Als Prätext des Fließenden Lichts kommt den leuchtenden Worten des buoches Canticis eine ästhetische Funktion zu. Sie zeigt sich insb. an der kommunikativen Interaktion zwischen weiblicher und männlicher Figur, die hier durch den Schönheitspreis der Geliebten repräsentiert ist. Die Rede des männlichen Sprechers ist eine direkte Übersetzung aus dem Hohenlied: tota pulchra es amica mea et macula non est in te (Ct 4,7).132 Die explizite Nennung des Hohenliedes, seine Charakterisierung und das markierte, direkte Zitat machen den Verweis auf den biblischen Prätext transparent. Darüber hinaus aber weist die Passage auch sog. Interpretationsfilter aus,133 die produktionsseitig zwischen Text und Prätext treten und auf die spezifische Aneignung sowie Interpretation des Hohenliedes im Fließenden Licht schließen lassen: Dazu gehört v. a. die Identifizierung der beiden Sprecherfiguren des Hohenliedes als brut und brútegovme. Der Vulgata-Text des Hohenliedes kennt zwar in Kap. 4 und 5 die Bezeichnung sponsa bzw. soror mea sponsa für die angesprochene Geliebte, verwendet ansonsten aber vorwiegend die Anrede amica mea.134 Die männliche Figur wird durchgehend als dilectus bezeichnet, die Bezeichnung sponsus fehlt hingegen im Text der Vulgata. Die Bezeichnung der beiden zentralen Sprecherfiguren des Hohenliedes als Braut und Bräutigam verweist demnach weniger auf den biblischen Prätext als vielmehr auf dessen Auslegungstraditionen, in denen die Liebesbeziehung zwischen weiblicher und männlicher Figur als Brautschaftsverhältnis zwischen je unterschiedlichen Instanzen allegorisiert wurde.135 Die brautmystische Hoheliedauslegung in den Predigten des Zisterzienserabts Bernhard von Clairvaux, der das Verhältnis der Figuren als Beziehung der menschlichen Seele zu Gott auslegt, liefert der intertextuellen Analyse einen konkreten Ansatzpunkt.136 Auf den mariolo-

|| 131 Zit. ist die Ausg. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. VollmannProfe). Überschreibungen wurden aufgelöst. 132 Zit. ist der Text der Vulgata: Biblia sacra (Ed. Gryson). 133 Vgl. die Begriffsprägung bei Heinrich F. Plett: „Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik“, 87, hier im Zusammenhang mit der Beobachtung, dass intertextuelle Bezüge manifesten Text und Prätext gleichermaßen semantisch anzureichern vermögen. Die „Existenz von ‚Interpretationsfiltern‘, die sich zwischen Text und Prätext schieben“ (ebd.), könne jedoch die wechselseitige Expansion von Bedeutung verhindern, hierzu oben Abschn. 2.2.4. 134 Vgl. Ct 4,8 für sponsa, Ct 4,9; 4,10; 4,12 und 5,1 für soror mea sponsa, Ct 1,14; 2,2 u. ö. für amica mea. 135 Vgl. Friedrich Ohly: Hohelied-Studien. 136 Ebd., 135–205; für eine Zusammenstellung möglicher Referenzen auf die bernhardinische Hoheliedauslegung im Fließenden Licht vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Übers. Schmidt), 429. Explizit markiert ist dieser intertextuelle Bezug allerdings nicht, Bernhard

300 | Caroline Emmelius gischen Auslegungsdiskurs verweist dagegen die direkte Rede des Bräutigams, die mit dem Hinweis auf die unbefleckte Schönheit der weiblichen Figur einen Zentralbegriff der Mariologie zitiert.137 Für die Aufschlüsselung der Bedeutung, die dem Hohenlied als Prätext für das Fließende Licht zukommt, ist neben dem Bibeltext somit auch seine Rezeption in der monastischen Theologie einzubeziehen, die ihn in bestimmter Weise kodiert und damit insgesamt semantisch anreichert. Aber auch der umgekehrte Prozess einer Semantisierung des Prätextes durch den manifesten Text lässt sich an der vorliegenden Textpassage aus Kap. III,20 beobachten. Spuren einer solchen semantischen Kodierung finden sich in den Charakterisierungen von Braut und Bräutigam, die das Liebesverhältnis der Figuren des Hohenliedes in einer für das Fließende Licht spezifischen Weise modellieren. Wenn die Braut des Hohenliedes bei Mechthild als trunken küene bezeichnet wird, rekurriert dies zum einen auf Passagen des Hohenliedes, in denen der Genuss von Wein Referenzgröße für die Qualität der Liebe138 oder Metapher für den Liebesgenuss ist.139 Auf dieser intertextuellen Basis wird trunkenheit im Fließenden Licht zur spezifischen Eigenschaft der Seele: Es charakterisiert die kühne Aufgabe des eigenen Willens, die ihrerseits Voraussetzung für die mystische Einung mit Gott ist.140 In dieser Bedeutung wird das Attribut der trunkenen Kühnheit wiederum der Braut des Hohenliedes zugeschrieben. Das semantische Profil des Prätextes wird so ergänzt und erweitert. In gleicher Weise nimmt die Charakterisierung der Rede des Bräutigams als noetliche, als bedrängend oder sogar überwältigend, semantische Schattierungen auf, die im Fließenden Licht dem Verhalten Gottes gegenüber der liebenden Seele zugeordnet werden.141 Dispositionen, die das Verhältnis von demütiger Seele und liebendem, aber zugleich auch willkürlich sich zu- und abwendendem Herrschergott charakterisieren können, werden auf die Figurenkonstellation des Hohenliedes rückübertragen: Der Prätext partizipiert auf diese Weise an den semantischen Kodierungen des manifesten Textes.

|| wird im Fließenden Licht nicht namentlich erwähnt. Skeptisch zur Frage direkter Abhängigkeit Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 76. 137 Zur mariologischen Auslegung im Kontext monastischer Theologie vgl. Friedrich Ohly: Hohelied-Studien, 121–135, 205–217. Den Bezug auf die verschiedenen Auslegungstraditionen des Hohenliedes kennt auch das „St. Trudperter Hohelied“, vgl. Urban Küsters: Der verschlossene Garten, 264– 271. 138 Vgl. Ct 1,2; 1,4; 2,4; 4,10; 8,2. 139 Vgl. Ct 5,1; 7,10. 140 Vgl. Kap. I,22; 38,21f., vgl. hierzu Margot Schmidt in: Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Übers. Schmidt), 349, Anm. 22; sowie Kap. I,44; S. 60,30f., hierzu Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 81f. Weitere Belege bei Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik, 268f. 141 Vgl. zur „göttliche[n] Übermächtigung“, wie sie etwa in Kap. IV,12 Ausdruck findet, Alois Maria Haas: Sermo mysticus, 92f.

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4.2.2 Prätextnennung, indirektes Zitat und Interfiguralität Ein zweites, indirektes Zitat aus dem Hohenlied eröffnet in Kap. III,3 des Fließenden Lichts den Dialog zwischen der Figur einer armen Seele und ihrer als frouwe brut bezeichneten Gesprächspartnerin, mit der die weibliche Sprecherfigur des Hohenliedes angesprochen ist: Frovwe brut, ir sprechent in der minne buoch úwerem lieben zuo, das er von úch vliehe. Berichtent mich notliche, frovwe, wie ist úch denne geschehen; wan ich wil lieber sterben, moehte es mir geschehen, in der luteren minne, denne ich got in der vinsteren wisheit heisse von mir gan (III,3; S. 162,17–21).

Das Zitat paraphrasiert in Übersetzung den Beginn des letzten Hoheliedverses: fuge dilecte mi et adsimilare capreae hinuloque cervorum super montes aromatum (Ct 8,14). Die Frage danach, wie es denn zu verstehen sei, dass die Braut des Hohenliedes ihren Geliebten von sich fort schicke, knüpft inhaltlich an die vorausgehende Rede der Seele an, in der sie beklagt, von Gottes Liebe jungfräulich unberührt zu sein und entsprechend unwissend, auf was sie genau verzichten müsse: O herre, wel ein armú sele das ist und ellende, dú hie in ertriche von diner minne maget ist! O, wer hilfet mir clagen, wie we ir ist? Wan si weis es selbe nit, des si enbirt, was das ist! (III,3; S. 162,13–16). Aus dieser Situation des Mangels heraus richtet sie ihre Frage an die Braut des Hohenliedes. Sie stellt damit eine kommunikative Situation her, die von markierter Interfiguralität gekennzeichnet ist: Dabei wird die Figur des Prätextes hier nicht nur namentlich zitiert, sie tritt vielmehr eigenständig agierend im manifesten Text auf.142 Die bernhardinische Auslegung des Liebesverhältnisses des Hohenliedes bildet dabei die Bezugs- und Verständnisfolie für die dialogische Interaktion. Ausgangspunkt ist der Kontrast zwischen dem idealen Brautschaftsverhältnis, wie es den Figuren des Hohenliedes zugeschrieben wird, und dem unvollkommenen, defizienten Gottesverhältnis der Figur der armen Seele. Der Hohenlied-Braut kommt es zu, die arme Seele anzuleiten, sie zu belehren und sie für Christus als ihren Bräutigam bereit zu machen. Am Bildkomplex der winzelle (III,3; S. 162,31 u. ö.), der wiederum ein Stichwort des Hohenliedes aufnimmt (vgl. Ct 2,4), entwickelt die Figur der Braut ein Programm maßloser Liebesbereitschaft gegenüber Gott, das in seiner Unbedingtheit den Widerstand der äußeren Welt geradezu notwendig herausfordert. Zugleich macht sie der Seele deutlich, dass die Zeiten trunkener Liebeseinung in der winzelle wechseln mit Zeiten von Entbehrung und Verzicht.143 Die Braut des Hohenliedes || 142 Den Begriff der Interfiguralität prägt Wolfgang G. Müller: „Interfigurality“, zum hier vorliegenden Typus der ‚re-used figure‘ vgl. ebd., 107–114, sowie Wolfgang G. Müller: „Namen als intertextuelle Elemente“, 146–148; zahlreiche Bsp. aus der deutschen Literatur des 19. und 20. Jhs. sind zusammengestellt bei Theodore Ziolkowski: „Figures on loan“. 143 Vgl. hierzu Hans-Georg Kemper: „Allegorische Allegorese“, 94.

302 | Caroline Emmelius erweist sich so als Rollenmodell für die arme Seele, die sich deren Positionen in der Kommunikation des Dialogs gleichsam performativ aneignet.144 In der Forschung zum Fließenden Licht ist der selbständige und kreative Prozess der Transformation und Aneignung des biblischen Hohenliedes und seiner Auslegungstraditionen besonders hervorgehoben worden. Alois Maria Haas hat diese Position auf eine griffige Formel gebracht: Mechthild gehe „über das bisher Bekannte weit hinaus: Sie interpretiert nicht mehr das Hohelied, sie experimentiert es.“145 Dass die Hohelied-Intertextualität des Fließenden Lichts jedoch nicht allein dem individuellen literarischen Experiment verpflichtet sei, sondern zugleich immer auch Interpretation des Bibeltextes sein wolle, hat dagegen Hans-Georg Kemper festgehalten.146 Die programmatische Frage der armen Seele nach der Exegese des letzten Hoheliedverses zum Auftakt des interfiguralen Dialogs ist hierfür ein wichtiger Anhaltspunkt.

4.2.3 Markierung durch Fremdsprachlichkeit Ein weiterer, weniger deutlicher Fall von Interfiguralität ergibt sich in Kap. I,46 durch ein direktes lateinisches Zitat aus dem Hohenlied. Das Kapitel entwirft das allegorische Tableau einer Braut, ihrer Attribute und ihrer zahlreichen Begleiter, die vielfach mit einer allegoretischen Deutung versehen sind. Dabei ist charakteristisch für den Text, dass allegorischer Entwurf und Allegorese nicht immer systematisch voneinander zu trennen sind, sondern bisweilen ineinander verschränkt werden.147 Die Allegorie mündet in eine dialogische Szene: Die Braut richtet ein Lied an ihren Geliebten, in dem sie ihr Leid beklagt, das nur er aufheben könne. Ein zunächst nicht näher spezifizierter Sprecher mahnt sie zur Geduld und sagt ihr zu, er halte sie jederzeit in seinen Armen. Im folgenden wird der Sprecher konkretisiert, wenn es heißt: So sprichet únser herre zuo siner userwelten brut: „Veni, dilecta mea, veni, coronaberis! (I,46; S. 70,24f.). Die Szene schließt mit der Krönung der Braut, der allegoretischen Auslegung der Krone, sowie dem Wunsch, Gott möge úns allen die Krone verleihen (I,46; S. 70,29).

|| 144 Zu performativer Lehre im Fließenden Licht Almut Suerbaum: „Die Paradoxie mystischer Lehre“. 145 Alois Maria Haas: Sermo mysticus, 110. Vgl. auch Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 85 u. 88–94, die den experimentellen Charakter der mechthildschen Bildgestaltung u. a. mit dem Begriff der „szenischen Entfaltung“ (88) fasst. 146 Hans-Georg Kemper: „Allegorische Allegorese“, 93f. 147 Für Bsp. vgl. Kap. I,46, u. a. S. 68,5f., 11f.; S. 70,15–17. Zum Verfahren auch Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 723; grundsätzlich zu den Formen der Allegorese im Fließenden Licht Hans-Georg Kemper: „Allegorische Allegorese“, 92–98; Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 85–96.

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Die lateinische Rede Gottes ist angelehnt an einen Vers aus dem Hohenlied: veni de Libano sponsa veni de Libano veni coronaberis (Ct 4,8). Anders als in den beiden oben genannten Textbeispielen wird das Hohelied als Prätext nicht ausdrücklich benannt. Gleichwohl lässt sich auch hier von einer expliziten Markierung sprechen: Zum einen macht die Fremdsprachlichkeit der direkten Figurenrede ihren Zitatcharakter deutlich, das Lateinische macht zugleich die Bibel als Prätext wahrscheinlich. Zum anderen liefert die Redeeinleitung mit der konkreten Benennung der Gesprächspartner als unser herre und userwelte brut vor dem Hintergrund der exegetischen Tradition einen präzisen Hinweis auf das Hohelied. Der sprachliche Registerwechsel, den der Dialogpartner der Braut mit dem Übergang von der Volkssprache ins Lateinische vollzieht, ist zugleich ein Wechsel des Gattungsregisters: Denn mit den Worten aus dem lateinischen Canticum canticorum zitiert der Sprecher einen lyrischen Text. Seine Rede erweist sich damit als äquivalent zum Gesang der Braut.

4.2.4 Aktivierung intertextueller Semantik durch Aggregation Für den Bereich der zahlreichen, nicht explizit markierten Verweise auf das Hohelied steht abschließend ein Textbeispiel, das die facettenreichen Spielarten intertextueller Anspielung im Fließenden Licht der Gottheit andeuten kann.148 Gewählt ist hier ein Fall, bei dem eine unmarkierte Einzeltextreferenz auf das Hohelied durch eine Systemreferenz auf den mittelhochdeutschen Minnesang ergänzt ist, um die Aussage der Sprechinstanz semantisch zu verdeutlichen und zu intensivieren. Die Textstelle steht im Zusammenhang eines Dialogs zwischen Seele und Gott, dessen wechselseitige hymnische Apostrophen schon strukturell auf die Preisreden des Hohenliedes verweisen. Die Seele spricht Gott an: O du hoher stein, du bist so wol durgraben, / in dir mag nieman nisten denne tuben und nahtegalen (I,14; S. 34,21f.). Auf engem Raum werden hier bildliche Vorstellungen und Metaphern mit- und ineinander verschränkt, die auf unterschiedliche Prätexte rekurrieren.149 Drei Bildkomplexe lassen sich dabei unterscheiden: Gott als Fels, die im zerklüfteten Fels nistende Taube und die Ergänzung der nistenden Taube um die Nachtigall.

|| 148 Vgl. Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit, 86. Eine Begründung für das Ungleichgewicht von präzisem Zit. und offener Anspielung sieht Elizabeth A. Andersen: The voices of Mechthild of Magdeburg, 151, in der fehlenden lateinischen Schulbildung Mechthilds: „Less bound to a written text, Mechthild no doubt drew on patterns of associative memory that she could then develop freely.“ 149 Der Anmerkungsapparat zur Übers. von Margot Schmidt, vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Übers. Schmidt), 18, bietet eine Aufstellung der ‚Quellen‘, die aber auf Grund der Heterogenität der Zusammenstellung der intertextuellen Analyse nur erste Ansatzpunkte liefern können.

304 | Caroline Emmelius Die Vorstellung von Gott als Fels ist im Alten Testament, und hier besonders im Psalter, vielfach formuliert.150 Die Bezeichnung der zerklüfteten Struktur des Felsen als durgraben ruft zugleich das Bild des gekreuzigten Christus auf.151 Das im Alten und Neuen Testament für Gott verwendete Bildrepertoire wird auf diese Weise weniger typologisch aufeinander bezogen als vielmehr trinitarisch ineinander verschränkt. Die Vorstellung, dass der Fels, als der Gott hier apostrophiert wird, eine Niststätte für Tauben biete, rekurriert wiederum auf eine Formulierung des Hohenliedes.152 Dort fordert der männliche Sprecher seine Geliebte auf: columba mea in foraminibus petrae in caverna maceriae ostende mihi faciem tuam sonet vox tua in auribus meis vox enim tua dulcis et facies tua decora (Ct 2,14).153 Im Kontext des Hohenliedes ist die Taube eine Metapher für die Geliebte, für den erwachenden Frühling, für die Liebe und ihre süße Artikulation im Liebeslied (vgl. Ct 2,12 u. 14). Das Bild der im Fels nistenden Taube, mit dem die Seele in Kap. I,14 Gott beschreibt, wird durch diese vom Hohenlied inspirierte Liebessemantik der Taubenmetapher zu einem Bild für die Liebeseinheit von Gott und Seele. Diese Lesart kollidiert allerdings mit der Deutung als Reinheits- und Keuschheitsmetapher, mit der die Taube bereits im Zusammenhang der Textstelle eingeführt ist. In Kapitel I,11, das vier Streitmächte Gottes nennt, ist mit der Formulierung tube ane gallen der Heilige Geist bezeichnet (S. 34,2).154 Vor dem Hintergrund dieser geistlichen Semantik ließe sich das Bild der im Fels nistenden Taube etwa als Metapher der Trinität verstehen. Die spezifische Liebessemantik des Hohenliedes, das wie gezeigt den Prätext für das Bild der nistenden Taube liefert, wäre damit freilich vollends verdeckt. Die im Fels nistende Taube als eine Metapher für die Liebeseinheit von Gott und Seele bliebe blind. Gesichert wird die Liebessemantik erst über das Stichwort der Nachtigallen, mit der die Sprechinstanz der Seele das Bild der nistenden Taube ergänzt. Auch die Bezeichnung nahtegal ist dabei ein intertextueller Verweis, der jedoch den Bereich der

|| 150 Vgl. u. a. Ps 28,1; für eine Zusammenstellung aller Belege vgl. Zürcher Bibelkonkordanz Bd. 1, 556f. 151 Vgl. hierzu Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 711. 152 Dass zerklüftete Felsen Vögeln Niststätten bieten, findet sich auch andernorts in der Bibel (vgl. Jer 49,16 u. Obd 3f.). Da die Felsstruktur hier jedoch literal und nicht metaphorisch verwendet ist, kann die intertextuelle Analyse solche Bibelverse im Unterschied zu einem Quellenverzeichnis (vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit [Übers. Schmidt], 18) nicht als Prätexte werten. 153 „Meine Taube im Felsennest, versteckt an der Steilwand, dein Gesicht lass mich sehen, deine Stimme hören! Denn süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht“ (HL 2,14). Zit. ist die Zürcher Einheitsübers. der Bibel. 154 Daneben ist die Formulierung bevorzugte Marienmetapher, vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (Ed. Vollmann-Profe), 710f.

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biblischen Prätexte dezidiert verlässt. Das Wort lässt sich als Systemreferenz auf die weltliche, volkssprachliche Liebeslyrik des Mittelalters verstehen, in der Nachtigall als Metapher für den Minnesang und die Minnesänger eingeführt ist.155 Als Repräsentant einer solchen Systemreferenz findet sich die Nachtigallenmetapher auch andernorts im Fließenden Licht.156 Im Kontext der Gottesapostrophe in Kap. I,14 vermag die aggregative Ergänzung der Nachtigall eben jene Konnotationen der Taube aufzurufen, die ihr im Hohenlied zugeschrieben werden, die im Kontext des Dialogs aber durch die bereits aktivierte Reinheitssemantik der Taube verdeckt sind: die Bedeutung als Vogel des Frühlings, der Liebe und des süßen Sangs. Dass der semantische Registerwechsel gelingt, zeigt die Antwort Gottes, in der er seine Gesprächspartnerin wie der männliche Sprecher des Hohenliedes als liebú tube bezeichnet (I,15; S. 34,24). Er hebt ihre Leidensbereitschaft hervor und betont damit die gerade in der weltlichen Lyrik topisch formulierte Zusammengehörigkeit von liep unde leit in der Liebe. Eine Verbindung von Liebes- und Reinheitsmetaphorik vollzieht sich dann in der Bezeichnung der Seele als reinú tube an dinem wesende (I,18; S. 36,16), mit der die göttliche Sprechinstanz die Anrede der Geliebten des Hohenliedes aufnimmt, die Metapher der Taube aber zugleich mit der wesensmäßigen Tugend der Reinheit verknüpft. Die Gottesanrede der Seele in Kap. I,14 bietet einen Einblick in die komplexen intertextuellen Verweis-, Aneignungs- und Transformationsverfahren, denen die Sprechinstanzen in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit das biblische Hohelied unterziehen. Im Rückgriff auf die Prätexte der Bibel schaffen sie sprachliche Bilder für die verschiedenen Zustände der Beziehung zwischen Seele und göttlichem Partner. Dabei tritt literales in Konkurrenz zu übertragenem, allegorischem Sprechen, treten traditionelle in Konkurrenz zu neuen Metaphern. Entscheidend dabei ist, dass das alt-neue Material der Prätexte im Zuge der sowohl interpretierenden als auch experimentierenden intertextuellen Verwendung keine statische Verfügungsmasse mit fixer Bedeutung darstellt, sondern der dialogischen Dynamik des manifesten Textes unterworfen ist und hierdurch zugleich sein eigenes semantisches Profil erweitert.

|| 155 Vgl. die programmatische Bezeichnung der Minnesänger als nachtigâlen im sog. Literaturexkurs von Gottfrieds Tristan (vv. 4751–4820), hierzu Ulrich Wyss: „Tristan und die ‚Nachtigallen‘“; zur Nachtigall in der Lyrik vgl. u. a. das Lindenlied Walthers von der Vogelweide, hierzu Hartmut Bleumer: „Walthers Geschichten“, 95–99. Einen literarhistorischen Überblick bietet Wendy Pfeffer: The change of Philomel, bes. 25–50 u. 169–184. 156 Vgl. Kap. I,44; S. 58,29f.; Kap. II,2; S. 78,10f.

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5 Fazit und Ausblick: Potentiale des Intertextualitätskonzepts im Kontext mediävistischer Forschung Die Fallbeispiele zeigen: Die Beschreibung intertextueller Bezugnahmen legt Semantisierungsprozesse offen, die sowohl punktuell als auch grundlegend zum Verständnis eines Textes beitragen können. Die Potentiale des Intertextualitätskonzepts sind damit bereits angedeutet: Je intensiver der intertextuelle Resonanzraum, in den sich ein Text stellt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er dessen Selbstverständnis, seine Poetik, betrifft. In der germanistischen Mediävistik sind solche Intertextualitätspoetiken v. a. für die narrativen Großformen des höfischen Romans und der Heldendichtung beschrieben worden, wobei der Fokus zum einen auf strukturellen Interferenzen unterschiedlicher Erzählmuster,157 zum anderen auf der Amalgamierung heterogener kultureller Semantiken liegt.158 Zur Charakterisierung dieser intertextuellen Poetiken werden vielfach literaturwissenschaftliche Begriffe herangezogen, die der Bildtheorie und Poetik der klassischen Moderne entstammen. Insb. der Begriff der Montage erweist sich als geeignet zur Kennzeichnung eines Erzählverfahrens, das heterogene Versatzstücke der literarischen Tradition in einer Weise fügt, dass strukturelle und semantische Brüche wahrnehmbar bleiben.159 Der postmodernen InterkulturalismusDebatte ist der Begriff des Hybriden entnommen, der im Zusammenhang der Romanpoetik beschreibt, dass die Anleihen bei unterschiedlichen literarischen Traditionen im manifesten Text gleichberechtigt nebeneinander stehen, ohne dass ihre immanenten Spannungen und Widersprüche zugunsten einer einheitlichen ideologischen Konzeption aufgelöst würden.160 Über solche Intertextualitätspoetiken einzelner Texte hinaus zeichnen sich zwei Perspektiven ab, unter denen das Intertextualitätskonzept für die mediävistische Forschung produktiv zu machen ist: Erstens ist in diachroner Perspektive noch einmal nach den literaturgeschichtlichen Konjunkturen intertextueller Verfahren zu fragen. Denn unabhängig von dem Befund, dass Texte sich in aller Regel nicht hermetisch gegen die Literaturgeschichte abschließen, scheint es auch in der mittelalterlichen Literatur Phasen intensiv und Phasen gering ausgeprägter Intertextualität || 157 Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, 149–168; Armin Schulz: Poetik des Hybriden, 36–40 u. 82–152; Lydia Miklautsch: Montierte Texte, 18f., zusammenf. 240–246. 158 Stephan Fuchs: Hybride Helden, z. B. 368–374; Armin Schulz: Poetik des Hybriden, 63–66; Lydia Miklautsch: Montierte Texte, 19f. u. 240–246. 159 Vgl. Markus Stock: „Alexander in der Echokammer“, 120f.; Kerstin Schmitt: Poetik der Montage, 86–94. 160 Mit dem Konzept struktureller und semantischer Hybridität arbeiten Stephan Fuchs: Hybride Helden; Armin Schulz: Poetik des Hybriden; Lydia Miklautsch: Montierte Texte.

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zu geben. Zu denken gibt dabei die Beobachtung, dass das Intertextualitätsparadigma v. a. für Texte Anwendung findet, denen die ältere Forschung auf Grund ihres deutlichen, dabei jedoch kaum innovativen Bezugs auf die literarische Tradition Epigonalität bescheinigte. Auch wenn die Abkehr von z. T. uneingesehenen Wertungsmodellen und die „Umorientierung des Frageinteresses“161 von den klassischen Mustern auf die Faktur der jeweils manifesten Texte wichtig und richtig ist, bleibt die Frage nach dem Zusammenhang von Intertextualitätskonjunktur und der Gattungsentwicklung von Roman und Epos. Um zu verhindern, dass das Intertextualitätsparadigma zu einem bloßen Synonym für konservative Traditionsbezüge in Roman und Epos wird, und um zugleich sicher zu stellen, dass intertextuelle Bezugnahmen auch auf die Öffnung und Transformation tradierter Strukturen und Semantiken abzielen können, wäre die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation für die mittelalterliche Gattungsgeschichte noch einmal zu stellen. Die zweite Perspektive erprobt die Erweiterung des eng gefassten methodischen Intertextualitätsbegriffs, indem der Referenzrahmen intertextueller Bezugnahmen für alternative Gattungen und Medien geöffnet wird. Jenseits von Einzeltext- und Systemreferenz kommen nun auch diejenigen Bezugnahmen in den Blick, die das System der Gattung des manifesten Textes verlassen bzw. überschreiten: Einen fruchtbaren Ausgangspunkt bilden etwa die Bezüge narrativer auf lyrische und lyrischer auf narrative Gattungen;162 erweitern lässt sich das Spektrum durch die Betrachtung generischer Intertextualität in geistlichen Texten wie Predigt oder Offenbarung.163 Forschungen zur Intermedialität lassen die enge Vorgabe des Text-Text-Kontakts ganz hinter sich und öffnen den Referenzrahmen für Bild- und Klangmedien, so dass sich die intertextuelle Analyse zur intermedialen erweitert.164 In der germanistischen Mediävistik finden solche Ansätze bislang v. a. in Forschungen zum Verhältnis von Text- und Bildmedien Niederschlag,165 in jüngeren Arbeiten kommen zunehmend jedoch auch musikalische und klangliche Medien in den Blick.166

|| 161 Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten, 14. 162 Vgl. schon den Hinweis bei Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik, 148f.; sowie die Beiträge des Bandes von Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius (Hgg.): Lyrische Narrative – Narrative Lyrik. 163 Vgl. z. B. Sandra Linden: „Der inwendig singende Geist“. 164 Vgl. Werner Wolf: Art. ‚Intermedialität‘; Aage A. Hansen-Löve: „Intermedialität und Intertextualität“; Jürgen E. Müller: „Intermedialität“, bes. 31f., Claus Clüver: Interarts studies; sowie Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität, 157–228; Fallbsp. bieten u. a. Peter V. Zima (Hg.): Literatur intermedial und Werner Wolf: The musicalization of fiction. 165 Einführend Horst Wenzel: „Zur Narrativik von Bildern“; exemplarisch für die umfassenden Forschungen zu Text-Bild-Verhältnissen in mittelalterlichen Literaturhandschriften Henrike Manuwald: Medialer Dialog. 166 Vgl. Anna Sziraky: Éros, lógos, musiké; Volker Mertens: „‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur“; Almut Schneider: „Sprachästhetik als ars cantandi“; Hartmut Bleumer: „Das Echo des

308 | Caroline Emmelius Die genannten Ansätze nutzen das ausdifferenzierte Instrumentarium der Intertextualitätsmethodik, zugleich nähern sie sich mit der Erweiterung des Referenzrahmens dem offeneren Intertextualitätskonzept Kristevas an, dessen Textbegriff immer schon schriftliche Texte, audio-visuelle Medien und kulturelle Diskurse integrierte. Insofern deuten sich in der Forschungsgeschichte des Intertextualitätsparadigmas mittlerweile Potentiale zur Konvergenz von Theorie und Methode an.

Literatur Primärtexte Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, adiuvantibus B. Fischer, I. Gribomont, H.F.D. Sparks, W. Thiele, recensuit et brevi apparatus critico instruxit Robert Weber, editionem quintam emendatam retractam praeparavit Roger Gryson, Stuttgart 2007. Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift, zweisprachige Ausg., vollst. Ausg. d. Originaltextes nach der v. B. Bischoff abgeschlossenen kritischen Ausg. v. A. Hilka und O. Schumann, Heidelberg 1930–1970. Übers. der lat. Texte von Carl Fischer, der mhd. Texte v. Hugo Kuhn, Anm. u. Nachw. v. Günter Bernt, 6., rev. Aufl., München 1995 (dtv 2063). Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, hg. i. A. d. Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. Für die Psalmen und das Neue Testament auch i. A. d. Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Evangelischen Bibelwerks in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1980. Eco, Umberto: Der Name der Rose. Roman, dt. v. Burkhart Kroeber, 17. Aufl., München 1993 (dtv 10551). Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit, hg. v. Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181, Bibliothek des Mittelalters 19). Dies.: Das fließende Licht der Gottheit, zweite, neubearb. Übers. m. Einführung u. Kommentar v. Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Mystik in Geschichte und Gegenwart, Texte und Untersuchungen Abt. I: Christliche Mystik, Bd. 11).

Theorie-/Forschungstexte Ackermann, Christiane/Hartmut Bleumer (Hgg.): Gestimmte Texte, unter Mitarbeit v. Mareike von Müller, Stuttgart 2013 (LiLi 171).

|| Bildes“; Caroline Emmelius: „Mechthilds Klangpoetik“; sowie die Beiträge in Christiane Ackermann/Hartmut Bleumer (Hgg.): Gestimmte Texte. – Es läge nahe, für die genannten intermedialen Phänomene das Stichwort der Interartifizialität zu bemühen, das terminologisch treffend an das Intertextualitätsparadigma anschließen könnte, in der germanistischen Forschung jedoch bislang für den in literarischen Texten geführten Diskurs um Rolle und Status der Künste reserviert ist, vgl. Susanne Bürkle/Ursula Peters (Hgg.): Interartifizialität.

Intertextualität | 309

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310 | Caroline Emmelius Cormeau, Christoph: „Wigalois“ und „Diu Crône“. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans, München 1977 (MTU 57). Culler Jonathan: The pursuit of signs. Semiotics, literature, deconstruction, London/Henley 1981. Ders.: Roland Barthes, New York 1983. Dicke, Gerd: Art. ‚Quelle2‘, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), 203–205. Draesner, Ulrike: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs „Parzival“, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36). Eco, Umberto: Nachschrift zum „Namen der Rose“, aus dem Ital. v. Burkhart Kroeber, München/Wien 1984. Emmelius, Caroline: „Mechthilds Klangpoetik. Zu den Kolonreimen im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘“, in: Elizabeth A. Andersen u. a. (Hgg.): Literarischer Stil. Mittelalterliche Literatur zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf 2011, Berlin 2015. Fischer, Hanns: Studien zur deutschen Märendichtung, 2. durchges. u. erw. Aufl., bes. v. Johannes Janota, Tübingen 1983. Fuchs, Stephan: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31). Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Frz. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993 (es N. F. 683). Gruber, Jörn: „Spiel-Arten der Intertextualität im ‚Namen der Rose‘. Aus der Werkstatt eines literarischen Falschmünzers oder Über die Kunst, aus fremden Texten neue Bücher zu machen“, in: Alfred Haverkamp/Alfred Heit (Hgg.): Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, München 1987 (dtv 4449), 60–96. Grubmüller, Klaus: „Erzählen und Überliefern. ‚Mouvance‘ als poetologische Kategorie in der Märendichtung?“, PBB 125 (2003), 469–493. Haas, Alois Maria: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1979. Hansen-Löve, Aage A.: „Intermedialität und Intertextualität: Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne“, in: Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel (Hgg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983 (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11), 291–360. Hasebrink, Burkhard: „‚Das Fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Eine Skizze“, in: Esther Pia Wipfler (Hg.): Bete und Arbeite! Zisterzienser in der Grafschaft Mansfeld, in Zusammenarb. m. Rose-Marie Knape, Halle/Saale 1998, 149–159. Haug, Walter: „Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach“, in: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, 483–512. Ders.: „Der Tristan – eine interarthurische Lektüre“, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Giessen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67), 57–72. Ders.: „Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain/Iwain“, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, unter Mitwirkung v. Peter Ihring, Tübingen 1999, 99–118. Hebel, Udo J.: Intertextuality, allusion, and quotation. An international bibliography of critical studies, New York u. a. 1989 (Bibliographies and Indexes in World Literature 18).

Intertextualität | 311

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312 | Caroline Emmelius Küsters, Urban: Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert, Düsseldorf 1985 (Studia humaniora 2). Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität, München 1982 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Reihe A, 1). Dies.: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990. Leitch, Vincent B.: Deconstructive criticism. An advanced introduction, New York 1983. Linden, Sandra: „Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott. Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg“, in: Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius (Hgg.): Lyrische Narrationen – Narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin/New York 2011 (Trends in Medieval Philology 16), 359–386. Lüers, Grete: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, unveränderter reprografischer Nachdr. d. Ausg. München 1926, Darmstadt 1966. Mai, Hans-Peter: „Bypassing intertextuality. Hermeneutics, textual practice, hypertext“, in: Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextuality, Berlin/New York 1991 (Research in Text Theory 15), 30–59. Manuwald, Henrike: Medialer Dialog: Die „Große Bilderhandschrift“ des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte, Tübingen u. a. 2008 (Bibliotheca Germanica 52). Martínez, Matías: „Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis“, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996 (dtv 4704), 430–445. Mertens, Volker: „Intertristanisches – Tristan-Lieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke“, in: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, Tübingen 1993 (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik 3), 37–55. Ders.: „‚Musikalischer Stil‘ in mittelalterlicher Literatur“, in: Elizabeth A. Andersen u. a. (Hgg.): Literarischer Stil. Mittelalterliche Literatur zwischen Konvention und Innovation, XXII. AngloGerman Colloquium Düsseldorf 2011, Berlin 2015. Miklautsch, Lydia: Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin/New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 36). Mohr, Wolfgang: „Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: Hugo Kuhn/Kurt Schier (Hgg.): Märchen, Mythos, Dichtung. FS für Friedrich von der Leyen, München 1963, 375–399. Müller, Jan-Dirk: „Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts ‚Ehzuchtbüchlein‘ und ‚Geschichtklitterung‘“, in: Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber (Hgg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und ihren praktischen Perspektiven, Frankfurt a. M. 1994 (FrühneuzeitStudien 2), 63–109. Müller, Jürgen E.: „Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept“, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, 31–40. Müller, Wolfgang G.: „Interfigurality. A study on the interdependence of literary figures“, in: Heinrich F. Plett (Hg.): Intertextuality, Berlin/New York 1991 (Research in Text Theory 15), 101– 121. Ders.: „Namen als intertextuelle Elemente“, Poetica 23 (1991), 139–165. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 2., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001. Ohly, Friedrich: Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958 (Schriften der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Geisteswissenschaftliche Reihe 1).

Intertextualität | 313

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314 | Caroline Emmelius Simon, Ralf: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata 66). Stenzel, Jürgen: Art. ‚Anspielung2‘,Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), 93–96. Stierle, Karlheinz: „Werk und Intertextualität.“, in: Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel (Hgg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983 (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11), 7–26. Stock, Markus: „Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbach Montagewerk“, in: Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer (Hgg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, 113–134. Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn u. a. 1998. Suerbaum, Almut: „Die Paradoxie mystischer Lehre im ‚St. Trudperter Hohenlied‘ und im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘“, in: Henrike Lähnemann/Sandra Linden (Hgg.): Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2009, 27–40. Suerbaum, Ulrich: „Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen“, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, unter Mitarbeit v. Bernd Middelich, Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), 58–77. Sziraky, Anna: Éros, lógos, musiké: Gottfrieds „Tristan“ oder eine utopische renovatio der Dichtersprache und der Welt aus dem Geiste der Minne und Musik?, Bern u. a. 2003 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 38). Thomas, Michael: „Die mystischen Elemente und ihre Funktion im Roman ‚Der Name der Rose‘“, in: Alfred Haverkamp/Alfred Heit (Hgg.): Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, München 1987 (dtv 4449), 123–151. Wenzel, Horst: „Zur Narrativik von Bildern und zur Bildhaftigkeit der Dichtung. Plädoyer für eine Text-Bildwissenschaft“, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, 317–331. Wolf, Werner: The musicalization of fiction. A study in the theory and history of intermediality, Amsterdam 1999 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 35). Ders.: Art. ‚Intermedialität‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, 2., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, 284f. Wolfzettel, Friedrich (Hg.): Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Giessen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67). Ders.: „Zum Stand und Problem der Intertextualitätsforschung im Mittelalter (aus romanistischer Sicht)“, in: ders. (Hg.): Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Giessen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67), 1–17. Ders. (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, unter Mitwirkung v. Peter Ihring, Tübingen 1999. Wyss, Ulrich: „Tristan und die ‚Nachtigallen‘“, in: Christoph Huber/Victor Millet (Hgg.): Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela 5. bis 8. April 2000, Tübingen 2002, 327–338. Zapf, Hubert: Art. ‚Bloom, Harold‘, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. v. Ansgar Nünning, 2., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, 65f.

Intertextualität | 315

Zima, Peter V. (Hg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995. Ziolkowski, Theodore: „Figures on loan. The boundaries of literature and life“, in: ders.: Varieties of literary thematics, Princeton 1983, 123–151. Zürcher Bibelkonkordanz. Vollständiges Wort-, Namen- und Zahlen-Verzeichnis zur Zürcher Bibelübersetzung. Mit Einschluss der Apokryphen, bearb. v. Karl Huber/Hans Heinrich Schmid, 3 Bde., Zürich 1969–1973.

316 | Caroline Emmelius

Andreas Kraß

Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) 1 Theoretische Einführung 1.1 Begriffsgeschichte Die kritische Heteronormativitätsforschung ist eine interdisziplinäre Forschungsperspektive, die man im englischen Sprachraum als Queer Studies bezeichnet.1 Sie wird auch in der germanistisch-mediävistischen Literaturwissenschaft produktiv rezipiert. Das englische Wort queer ist etymologisch mit dem deutschen Wort quer verwandt. Es bedeutet ursprünglich so viel wie ‚verquer‘ oder ‚seltsam‘ und wird umgangssprachlich als abwertende Bezeichnung für Homosexuelle benutzt. Seit den 1990er Jahren dient der Begriff in akademischen Diskursen als heteronormativitätskritische Kategorie. Heteronormativ ist eine gesellschaftliche, kulturelle und epistemologische Ordnung, die auf den binären Oppositionen des Geschlechts (Mann vs. Frau) und der Sexualität (hetero vs. homo/bi/trans/inter) beruht. Die Queer Studies hinterfragen diese Ordnung insb. aus kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. Sie lassen sich historisch aus drei Traditionen herleiten: der Sexualwissenschaft des 19. und frühen 20. Jhs., den Gay and Lesbian Studies der 1970er bis 1990er Jahre sowie der neueren Geschlechterforschung (Gender Studies). Die Queer Studies beschränken sich nicht auf die Erforschung sexueller Minderheiten, sondern richten ihren kritischen Blick auf die heteronormativen Ordnungsprinzipien, die das Verhältnis von Geschlecht und Sexualität regulieren. Sie analysieren das ‚Dispositiv der Sexualität‘2 und hinterfragen die ihm eigenen diskursiven Strategien der Normalisierung.

|| 1 Vgl. Annamarie Jagose: Queer Theory; Andreas Kraß (Hg.): Queer denken; ders.: Queer Studies in Deutschland; Gudrun Perko: Queer-Theorien; Nina Degele: Gender/Queer Studies; Beatrice Michaelis/Elahe Haschemi-Yekani (Hgg.): Quer durch die Geisteswissenschaften; William B. Turner: Genealogy of Queer Theory. 2 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, 95–158.

318 | Andreas Kraß

1.2 Sexualwissenschaft Die Anfänge der kritischen Heteronormativitätsforschung liegen in der Tradition der Sexualwissenschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. entstand.3 Der Arzt Magnus Hirschfeld (1868–1935) entwickelte die Theorie der ‚sexuellen Zwischenstufen‘, um das Phänomen der Homosexualität zu beschreiben.4 Im Vergleich mit der Vorstellung des Homosexuellen als eines dritten Geschlechts, wie sie der Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) vertrat, ist Hirschfelds Konzept der sexuellen Zwischenstufen differenzierter und komplexer. Die Vorstellung des dritten Geschlechts ist insofern heteronormativ geprägt, als es eine Inversion der traditionellen Geschlechterrollen postuliert: Der homosexuelle Mann verfügt demnach über eine weibliche, die homosexuelle Frau über eine männliche Seele. Das Modell der sexuellen Zwischenstufen entbindet Geschlecht und Geschlechtlichkeit tendenziell von binären Oppositionen, indem es von Mischungsverhältnissen und graduellen Abstufungen zwischen einem männlichen und einem weiblichen Pol ausgeht. Der Beginn der Epoche der Sexualwissenschaft im Sinne einer eigenständigen Disziplin lässt sich mit dem ersten Jahrgang der von Hirschfeld herausgegebenen Zeitschrift für sexuelle Zwischenstufen (1899) ansetzen, das vorläufige Ende mit der nationalsozialistischen Zerschlagung seines Berliner Instituts für Sexualwissenschaft im Rahmen der Bücherverbrennung (1933). Doch erschienen schon vor Hirschfelds Studien bedeutende Schriften zur Sexualwissenschaft, so z. B. Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (11886).

Magnus Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914) Von Anfang an waren Sexualwissenschaft und Literaturwissenschaft verschränkt. Karl Maria Benkert (alias Kertbeny, 1824–1882), Erfinder des Wortes ‚homosexuell‘, war ein ungarisch-österreichischer Schriftsteller.5 Viele Sexualwissenschaftler beriefen sich auf literarische Vorbilder wie Platons Mythos von den Kugelmenschen im Symposion. Magnus Hirschfeld (1868–1935) fügte seinem Standardwerk Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914) einen umfangreichen literaturgeschichtlichen Überblick an.6 In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für sexuelle Zwischenstufen erschienen Porträts homosexueller Dichter wie August Graf von

|| 3 Vgl. Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, 67–93. 4 Vgl. Rainer Herrn: Art. ‚Magnus Hirschfeld‘. 5 Vgl. Manfred Herzer: Art. ‚Karl Maria Benkert‘. 6 Vgl. Magnus Hirschfeld: Homosexualität, 944–948 (zu Goethe, Schiller), 1015–1026 (zu George, Platen, Wilde, Zola u. a.); vgl. auch ders.: „Mein Verhältnis zur schönen Literatur“ (1928).

Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) | 319

Platen, Hans Christian Andersen und Walt Whitman.7 Hirschfeld unterscheidet unter dem Gesichtspunkt der Homosexualität drei literaturgeschichtliche Epochen. In der ersten Epoche, der vorchristlichen Antike, habe es noch kein Homosexualitätstabu gegeben und die gleichgeschlechtliche Liebe sei selbstverständliches Thema der Literatur gewesen. Die zweite Epoche, der er auch das Mittelalter zurechnet, zeichne sich durch die Kriminalisierung und Tabuisierung der Homosexualität aus. Von der gleichgeschlechtlichen Liebe sei entweder nicht mehr oder nur noch von „ganz großen Dichter[n]“ gehandelt worden: Das verändert sich mit einem Schlage, als die ersten harten Gesetze erlassen wurden, welche die Todesstrafe über die Gefühlsbetätigung Homosexueller verhängten. Da hub das große Schweigen an. Die Liebe war nicht tot, aber vor Schreck verstummt, gelähmt vor Entsetzen. Nur die ganz großen Dichter, die das Lebensbild der Gesamtheit empfingen und wiedergaben, räumten ihr noch ein bescheidenes Plätzchen ein: ein Dante, Michelangelo, Shakespeare und Goethe; oder ein einzelner genialer Lebensbeobachter berührte sie, wie Honoré de Balzac […]. Aber das waren Ausnahmen. Die meisten trauten sich nicht an das Problem heran.8

Hirschfeld weiß also mit Dante nur einen mittelalterlichen Autor zu nennen, der Homosexualität thematisiere. In der dritten, um 1900 einsetzenden Epoche habe die moderne Sexualwissenschaft das Tabu gebrochen und das Thema der Homosexualität zunehmend in die Literatur zurück gefunden. Hirschfeld unterscheidet zwischen literarischen Werken, die Homosexualität explizit thematisieren, und solchen, die sie implizit verhandeln. Für den zweiten Fall nennt er Oscar Wilde als Beispiel: Selbst da, wo sie Gleichgeschlechtliches nicht darstellen, sind sie von einer besonderen Stimmung erfüllt, die mit der Natur des Dichters in direktem Zusammenhange steht. Der Kenner fühlt den Pulsschlag des Abseitigen auch dort, wo er sich zu verbergen sucht, so ist das ganze Maskenspiel Oscar Wildes, wie es sich vor allem in „Dorian Gray“ widerspiegelt, nur aus seiner sexuellen Psyche verständlich, aus der Situation, in der er sich mit seiner Besonderheit dem allgemeinen Dasein gegenüber sah. Der wirkliche Wilde trat erst hervor, als im Zuchthaus von Reading die Larve fallen mußte.9

Hirschfeld deutet für diesen zweiten Fall ein autorzentriertes Lektüreverfahren an, das der Camouflage des Dichters in Leben und Werk begegnet, indem es dessen „Maskenspiel“ durchschaut und den „wirklichen“ Dichter hervortreten lässt.

|| 7 Zu Platen: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1 (1899), 159–214; 6 (1904), 357–447; zu Andersen: 3 (1901), 202–230; zu Whitman: 7 (1905), 153–287. 8 Magnus Hirschfeld: Homosexualität, 1015. 9 Ebd., 1021.

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Hans Dietrich Hellbach, Die Freundesliebe in der Literatur (1931) Der Literaturwissenschaftler Hans Dietrich Hellbach (geb. 1906, Todesdatum unbekannt) bezieht sich in seiner Dissertation Die Freundesliebe in der deutschen Literatur (1931), die er unter dem Pseudonym Hans Dietrich veröffentlichte, auf Hirschfeld, um seine Studie theoretisch zu untermauern.10 Darin referiert und bestätigt er zwar die Konzepte des dritten Geschlechts und der sexuellen Zwischenstufen, hält den sexualwissenschaftlichen Diskurs aber nicht für geeignet, um literarische Phänomene zu beschreiben. Sein Vorbehalt besteht darin, dass die Sexualwissenschaft „den Geschlechtsakt zum Kriterium der Liebe“ erhebe.11 Der dem George-Kreis zugeneigte Literaturwissenschaftler spricht nicht von Homosexualität, sondern von ‚Freundesliebe‘ und ‚mannmännlicher Liebe‘, die aber die Option des sexuellen Verkehrs durchaus einschließt. Hellbach konzentriert sich auf die deutsche Literatur der Neuzeit, widmet aber dem Mittelalter zum Zwecke der „historische[n] Grundlegung“ einen Abschnitt von vier Seiten. Wie die „frühen Heldensagen aller Völker“ zeige auch das Nibelungenlied, dass „wir in der mannmännlichen Liebe ein menschliches Urphänomen sehen dürfen“. Der „heroische Mensch“, so Hellbach, „kennt nicht den nivellierenden Ausgleich der Geschlechter, sondern das Sichgatten des ähnlichen und gleichen, die Höhersteigerung“.12 Dass das Ideal der Männerliebe auch ein „innerer Schwerpunkt“ der höfischen Dichtung gewesen sei, belegt Hellbach mit dem Motiv der „Blutsbrüderschaft, wie sie aus der Treue Hagens, Iwanets Hingabe und dem Schmerz Markes um Tristans Verrat spricht“. Ferner erwähnt er das Rolandslied („die innig glühende Hinneigung Rolands zu Olivier“) und die Legende von Amicus und Amelius („das zärtlichste dieser Freundespaare, Amis und Amiles, die auf blühender Frühlingswiese heiße Küsse tauschen“). Als „reinste[s] Symbol“ der Freundesliebe sieht er die „männerbündlerische Atmosphäre des Gral“, die aber nicht zu „überspitzten sexuologischen Schlußfolgerungen“ verleiten dürfe. So habe sich eine genuin mittelalterliche „Freundschaftsdichtung“ herausgebildet, die aber im Konflikt mit jenen Dichtungen gestanden habe, die die Frauenliebe propagierten. Sei einerseits das „Entsagen der Frauenliebe“ noch „oberstes Gebot der Gralsritter“ gewesen, sei die Frauenliebe andererseits „im Tristan und dem Nibelungenlied bereits das zentrale Thema“. Die zunehmende Verdrängung der Freundesliebe habe zu ihrer „Verdeckung“ in der mystischen und zu ihrer „Entartung“ in der päderastischen Literatur des Mittelalters geführt:13 Von der Trias Freundschaft – Freundesliebe – Homosexualität, die zwar in sich deutlich abgegrenzt ist, aber als ganzes doch eine gewisse Einheit bildet […], ist der ragende und tragende

|| 10 Vgl. Hans Dietrich [Hellbach]: Freundesliebe, 8f. 11 Ebd., 18. 12 Ebd., 19. 13 Ebd., 18.

Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) | 321

Mittelpfeiler verkümmert und die beiden Eckpfeiler führen ein Eigenleben ohne die verbindende fruchtbare Mitte.14

Wie Hirschfeld sieht Hellbach den Grund hierfür in der homophoben Sexualfeindlichkeit des christlichen Mittelalters. Als Kritiker der gleichgeschlechtlichen Liebe nennt Hellbach den „Stricker in seiner ‚Klage‘, Ulrich von Lichtenstein in einer Stelle seines Frouwenbuches und Berthold von Regensburg in seinen Predigten“15. Gleichwohl habe es damals „eine ganze Literatur von [lateinischen] Gedichten auf männliche Geliebte gegeben“16. Außerdem führt Hellbach die Freundschaftsphantasien der Mystik an. Wenn Meister Eckart „das höchste Wunschbild, Gott, als Jüngling“ darstelle und Suso „die Engel, die ihn ‚herzlichst umfangen‘, als schöne Knaben bezeichnet“, dann sei dies „lediglich die Inbrunst derer, die sich Gott gegenüber als Braut empfinden und für die Duft, Wärme, Schönheit des geliebten Bräutigams nur Symbol göttlicher Kommunion sind“.17 Letztlich handle es sich bei diesen Vorstellungen um „verkappte Erotik“. Während also die diskursgeschichtlichen Eckpfeiler weiterhin Bestand gehabt hätten, sei der Mittelpfeiler weggebrochen, weil sich die höfische Dichtung, die zunächst noch das Ideal der Männerliebe weitergeführt habe, sich ganz der Frauenliebe zugewandt habe. Die Frau, so schreibt Hellbach, erhielt das „unumschränkte Liebesmonopol“.18

1.3 Gay and Lesbian Studies In eine neue Phase trat die Erforschung der Homosexualität im Zuge der Gay Liberation. Ein zentrales Datum waren die Stonewall Riots vom Juni 1969, als sich in New York Homosexuelle gegen eine Polizeirazzia in der – in der Christopher Street gelegenen – Bar Stonewall Inn zur Wehr setzten. Der in vielen Städten jährlich veranstaltete Christopher Street Day (im englischen Sprachraum Gay Pride genannt) erinnert an dieses Schlüsselereignis der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung. Seit den 1970er Jahren entstanden zahlreiche wissenschaftliche Studien, die sich mit der Geschichte der Homosexualität befassten.19 Sie gehen von der Vorstellung einer homosexuellen Identität aus, die Anerkennung und Gleichberechtigung verdiene. Michel Foucaults 1976 erschienene Studie Der Wille zum Wissen, der erste Teil seiner unvollendeten Geschichte der Sexualität, gehört in diesen Zusammenhang. Im Rahmen der Gay and Lesbian Studies entstanden seit den frühen 1990er Jahren die

|| 14 Ebd., 20. 15 Ebd., 22. 16 Ebd., 21. 17 Ebd., 22. 18 Ebd., 23. 19 Vgl. Ralph J. Poole: „Vom Einbezug der ‚Gay Studies‘“.

322 | Andreas Kraß ersten Forschungszentren, die sich Fragen der Homosexualität widmeten, so das Center for Lesbian and Gay Studies (CLAGS) an der City University of New York (CUNY). Für die Mediävistik sind v. a. die Studien von John Boswell, Historiker an der Yale University, zu nennen, insb. Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality (1980) und Same-Sex Unions in Premodern Europe (1994). Boswell wurde dafür kritisiert, dass er in seiner gelehrten Rekonstruktion der mittelalterlichen Geschichte des gleichgeschlechtlichen Begehrens die anachronistischen Begriffe gay und homosexual verwendete, um auf diese Weise den Homosexuellen eine Geschichte und somit eine Identität zu geben.20 Für den deutschsprachigen Raum ist auf die Schriften des Mittelalterhistorikers Bernd-Ulrich Hergemöller hinzuweisen.21 Hergemöller ist auch Herausgeber eines biographischen Lexikons zu homosexuellen Männern der deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart.22 In literaturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Zeitschrift Forum Homosexualität und Literatur relevant, die in den Jahren 1987 bis 2007 an der Universität Siegen erschien. In dieser von Wolfgang Popp und anderen Germanisten herausgegebenen Zeitschrift erschienen auch mediävistische Beiträge, die sich mit Verfasserinnen und Verfassern wie Hartmann von Aue, Berthold von Regensburg, Geiler von Kaysersberg, Hildegard von Bingen und Petrus Damiani auseinandersetzen.23 Dirck Linck und Alexandra Busch legten eine „lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts“ vor, die von der Antike bis in die Gegenwart reicht.24 Ein aufschlussreiches Beispiel für mediävistische Debatten zum Thema ‚Homosexualität‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters ist eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit dem Begehren befassen, das im Tristan Gottfrieds von Straßburg König Marke auf den jungen Helden richtet. Die Beiträge spiegeln jeweils den Diskurs, der zurzeit ihrer Entstehung über Homosexualität geführt wurde.25 Die Rekapitulation der Geschichte der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Homosexualität zeigt, dass ein autorzentrierter Lektüreansatz weit verbreitet ist. Das literarische Werk wird häufig als Dokument der sexuellen Orientierung des jeweiligen Verfassers oder der jeweiligen Verfasserin gelesen. Bekannte Beispiele für diese Form der Lektüre, die an das Literaturverständnis der Sexualwissenschaft des frühen 19. Jhs. anschließt, sind die Untersuchungen Außenseiter (1975) von Hans Mayer und Das offene Geheimnis (1994) von Heinrich Detering. Abgesehen davon, dass biographistische Deutungen in der heutigen Literaturwissenschaft eher umstritten sind, sind sie für die Interpretation mittelalterlicher Texte || 20 Zur Kritik vgl. Carolyn Dinshaw: „Boswell erinnern und vergessen“. 21 Bernd-Ulrich Hergemöller: Randgruppen; ders.: Sodom und Gomorrha. 22 Vgl. ders. (Hg.): Mann für Mann. 23 Vgl. das Gesamtregister der gesamten Zeitschrift, Stichwort ‚Mittelalter, frühe Neuzeit‘. 24 Dirck Linck/Alexandra Busch (Hgg.): Frauenliebe. Männerliebe; vgl. Claude J. Summers: Gay and lesbian literary heritage. 25 Vgl. Andreas Kraß: „Queer lesen“, 242–246.

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ohnehin kaum weiterführend, da man in der Regel über das Leben der Verfasserinnen und Verfasser nichts Näheres weiß. Darüber hinaus ist die Frage nach der ‚Homosexualität‘ mittelalterlicher Autoren und Figuren insofern methodisch zweifelhaft, als es diesen Diskurs zu jener Zeit noch nicht gab. Eher müsste man fragen, ob es Bezüge zum mittelalterlichen Diskurs über die Sodomie gibt, wie gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in der Vormoderne genannt wurden.

Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (1976) Michel Foucault (1926–1984) legte mit seinem mehrbändigen Werk Sexualität und Wahrheit eine Diskursgeschichte der Sexualität vor, die einen zentralen Beitrag zur Erforschung der Homosexualität bietet.26 V. a. der erste Band, der den Titel Der Wille zum Wissen trägt, erwies sich für die Gay and Lesbian Studies, aber auch für die Queer Studies als einflussreich. Foucault knüpft kritisch an den zeitgenössischen Diskurs der sexuellen Befreiung an und unterzieht ihn einer Kritik. Er wendet sich gegen die Repressionshypothese, die behauptet, dass nach einer langen Epoche des Tabus dieses endlich gebrochen worden sei; vielmehr handle es sich um die Fortsetzung eines bereits bestehenden Sexualitätsdiskurses unter neuem Vorzeichen. Foucault geht von der Prämisse aus, dass Sexualität ein diskursgeschichtliches Phänomen sei, das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. hervorgetreten sei. In dieser Zeit habe sich eine strategische Anordnung von Institutionen, Diskursen und Praktiken etabliert, die Foucault als Dispositiv der Sexualität bezeichnet.27 Dieses Dispositiv knüpfte sich an die medizinische (z. B. Magnus Hirschfeld) und psychologische (z. B. Sigmund Freud) Sexualwissenschaft. Es konzentrierte sich zunächst auf vier Schauplätze: das onanierende Kind, die hysterische Frau, den perversen Erwachsenen und das familienplanende Paar. Als Inbegriff des perversen Erwachsenen galt der Homosexuelle, dem erstmals eine spezifische Identität zugewiesen wurde. Jedoch sprach man im Zeitalter vor dem Sexualitätsdispositiv (so auch im christlichen Mittelalter) nicht von Homosexuellen, sondern, in Anlehnung an den biblischen Mythos von Sodom und Gomorrha, von Sodomiten.28 Der vormoderne Diskurs der Sodomie und der moderne Diskurs der Homosexualität sind somit derart verschieden, dass auch die Phänomene, die sie bezeichnen, nicht dieselben sein können. Foucault vergleicht die betreffenden Diskurse wie folgt: Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie

|| 26 Vgl. Holger Tiedemann: Art. ‚Michel Foucault‘. 27 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, 35. 28 Vgl. auch Andreas Kraß: „Sprechen von der stummen Sünde“.

324 | Andreas Kraß mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiognomie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und in den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, dass die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie – und hier kann der berühmte Artikel Westphals von 1870 über „die conträre Sexualempfindung“ die Geburtsstunde bezeichnen – weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.29

Die Opposition zwischen Sodomie (als Praktik) und Homosexualität (als Spezies) wiederholt sich implizit auf der Ebene des Geschlechts. Der Sodomit, der sich penetrieren lässt, handelt wie eine Frau und übertritt somit die in der Schöpfung festgelegte Geschlechterordnung; der Homosexuelle hingegen ist eine Frau insofern seinem männlichen Körper eine weibliche Seele innewohnt. Das Sexualitätsdispositiv macht den Homosexuellen zum Gegenstand einer Wissenschaft, während der vormoderne Diskurs v. a. darauf abzielte, bestimmte sexuelle Praktiken als Sünde zu verbieten, zu verfolgen und zu bestrafen. Entsprechend war das vormoderne Wissen von der Sodomie im Vergleich zur modernen Sexualwissenschaft „sehr viel verschwommener“ und von „Unsicherheit“ geprägt.30 Folglich bewegte sich die Sodomie zwischen Repression und Toleranz: [D]as nahezu allgemeine Schweigen darüber hatte lange Zeit eine doppelte Funktion: zum einen die extreme Strenge (die Feuerstrafe fand noch im 18. Jh. Anwendung, ohne vor der Mitte des Jhs. auf ernsthaften Protest zu stoßen) und zum andern eine sicher sehr weite Toleranz (die man indirekt aus der Seltenheit gerichtlicher Verurteilungen schließen und direkt in Zeugnissen über Männergesellschaften in der Armee oder an Höfen wahrnehmen kann).31

Foucault sieht die Wende vom Sodomie- zum Homosexualitätsdiskurs ambivalent. Einerseits habe das Dispositiv der Sexualität zur Ausweitung der sozialen Kontrolle geführt, andererseits aber auch die Eröffnung eines Gegendiskurses ermöglicht: „[D]ie Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Rechtmäßigkeit oder auf ihre ‚Natürlichkeit‘ zu pochen – und dies häufig in dem Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde.“32

|| 29 Ebd., 58. 30 Ebd., 51 31 Ebd., 123. 32 Ebd.

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Niklas Luhmann, Liebe als Passion (1982) Niklas Luhmanns (1927–1998) Studie Liebe als Passion versteht sich gewiss nicht als Beitrag zu den Gay and Lesbian Studies, kann aber gleichwohl als solcher genutzt werden.33 Auf der Basis literarischer Texte entwirft Luhmann mit dem Rüstzeug des Systemtheoretikers eine Diskursgeschichte der Liebe, in der er auch das Verhältnis von Freundschaft und Sexualität streift. Eine zentrale These lautet, dass die Konkurrenz zwischen (homosozialer) Freundschaft und (heterosozialer) Liebe als vorherrschender Code der Intimität in der Vormoderne stets zugunsten der Freundschaft, und zwar der Männerfreundschaft ausgefallen sei. Erst in der Romantik habe sich die Liebe (zwischen Mann und Frau) gegen die Freundschaft (zwischen Männern) durchgesetzt. Dass ihr dies gelungen sei, habe mit der „Aufwertung der Sexualität“34 zu tun. Seit der romantische Liebesdiskurs die Einheit von Liebe, Ehe und Sexualität propagierte und zugleich das Verhältnis der Eheleute nach dem Modell der Freundschaft als partnerschaftliches definierte, lief die Liebe der Freundschaft den Rang ab, die sich nunmehr der Frage stellen musste, wie sie es mit der Sexualität halte. Luhmann beschreibt das Dilemma wie folgt: Man lese nur die Fülle der ekstatischen, Körperliches einbeziehenden Formulierungen im religiösen und weltlichen Kult der Freundesliebe. Dass Freunde einander mit tausend Küssen überschütten; einander in die Arme fallen (und das noch in der Hütte!) und dass sie einander (wie Johannes Christo) an der Brust liegen; dass sie ganz unbefangen von Herzens‚ergüssen‘ reden – all das hätte nie so geschrieben werden können, wenn die Schreiber hätten befürchten müssen, dass ihnen unterstellt werden könnte, der Gedanke an ihren eigenen Körper hätte ihnen die Feder geführt.35

Damit hat Luhmann das Problem der Homosexualität zwar berührt, will aber nicht näher darauf eingehen. Er belässt es bei einer Fußnote, die auf Hellbachs Dissertation verweist: Das schwierige Problem der Homosexualität als einer heimlichen Hypothek auf dem Freundschaftskonzept lassen wir hier außer Acht. Zur Literaturfähigkeit dieses Komplexes vgl. Hans Dietrich, Die Freundesliebe in der deutschen Literatur, Leipzig 1931.36

Die lapidare Anmerkung zeigt, dass Luhmann die Sexualwissenschaft zur Kenntnis genommen hat. Auch Foucaults Thesen zur Sexualität waren ihm bekannt, wie er in einer anderen Fußnote zu erkennen gibt. Seit der Aufklärung des 18. Jhs. habe sich eine „positive Sexuallehre“ durchgesetzt, „die aber immer noch angewiesen ist auf das Gefühl, eigentlich abgelehnt und nur heimlich gewünscht zu werden“.37 Luh|| 33 Vgl. Rüdiger Lautmann: Art. ‚Niklas Luhmann‘. 34 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, 147. 35 Niklas Luhmann: Liebe als Passion, 145f. 36 Ebd., 147, Anm. 1. 37 Ebd., 34

326 | Andreas Kraß mann belegt dies mit Foucault: „Ausführlich hierzu jetzt Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit Bd. 1.“38 Im Vorwort zur englischen Ausgabe von Liebe als Passion legt Luhmann dar, in welchen Hinsichten die Systemtheorie der Diskursanalyse methodologisch überlegen sei, ohne dabei auf inhaltliche Fragen zu sprechen zu kommen.39 Gleichwohl lassen sich beide Perspektiven auf die Geschichte der Sexualität produktiv miteinander verknüpfen und für literaturwissenschaftliche Analysen fruchtbar machen. Luhmanns Thesen sind aus mediävistischer Perspektive zu relativieren.40 Wie C. Stephen Jaeger in einer Untersuchung zum mittelalterlichen Freundschafts- und Liebesdiskurs (Ennobling Love, 1999) nahelegt, sind die epochalen Phasen des Liebesdiskurses, die Luhmann ansetzt – nämlich, sehr verkürzt gesagt: höfische Liebe im Mittelalter (Liebe ohne Ehe und Sex), passionierte Liebe in der frühen Neuzeit (Liebe ohne Ehe mit Sex) und romantische Liebe seit 1800 (Liebe mit Ehe und Sex) – um 1200 bereits ko-präsent, allerdings auf verschiedene Gattungen verteilt: höfische Liebe im Minnesang, passionierte Liebe in den Tristanromanen, protoromantische Liebe in den Artusromanen.

Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men (1985) Eve Kosofsky Sedgwick (1950–2009) legte mit ihrer Studie Between Men einen literaturwissenschaftlichen Beitrag zu den Gay and Lesbian Studies vor, der sich auch für die Queer Studies als maßgeblich erwies. Sie untersucht englische Romane des 18. und 19. Jhs., in denen zwei Männer um eine Frau rivalisieren, und stellt die These auf, dass in solchen Dreieckskonstellationen die Beziehung zwischen den Männern mindestens so relevant sei wie das Begehren, das sie jeweils auf dieselbe Frau richten. Sedgwick leitet ihr Konzept von den Thesen ab, die René Girard in seinem Buch Figuren des Begehrens (1961) aufstellt. Girard spricht von Subjekten, Objekten und Mittlern des Begehrens. Bevor ein Subjekt sein Begehren auf ein Objekt richte, habe das Subjekt es einer dritten Person abgeschaut; es begehre somit das Begehren des Anderen und mache es sich zu eigen. Oftmals verleugne das Subjekt den mimetischen Charakter seines Begehrens und deklariere den Mittler zum Rivalen. Sedgwick nimmt zwei für die Gay and Lesbian Studies wichtige Modifikationen vor. Zum einen fokussiert sie nur solche Konstellationen, in denen zwei Männer um eine Frau rivalisieren; zum anderen verschiebt sie – wie es schon Girard in einzelnen Fällen nahelegt – die Mittlerposition auf das begehrte Objekt. Sedgwick bezeichnet diese geschlechtsspezifische Konstellation als erotisches Dreieck (erotic triangle) und den zwischen den Männern zirkulierenden Affekt als homosoziales Begehren (homo-

|| 38 Ebd., Anm. 22. 39 Vgl. Niklas Luhmann: Love as passion, 1–7. 40 Vgl. Andreas Kraß: „Freundschaft als Passion“, 97–101.

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social desire). Sedgwick postuliert ein virtuelles Kontinuum des männlich-homosozialen Begehrens, das in verschiedensten Formen auftreten könne, aber aufgrund der homophoben Struktur, der es unterworfen sei, in die Opposition von Homo- und Heterosexualität überführt werde. Das Konzept des erotischen Dreiecks ist daher geeignet, die Verflochtenheit, Gegenwendigkeit und Austauschbarkeit des homo- und heterosozialen Begehrens sichtbar zu machen. Obgleich Sedgwick ihre Thesen an neuzeitlichen Texten entwickelt hat, sind sie auch für die Deutung mittelalterlicher Literatur relevant. Sie können helfen, die heteronormative Brille abzusetzen und hinter Figurenkonstellationen, die auf der Oberfläche heterosexuell strukturiert sind, gleichgeschlechtliche Begehrensverhältnisse zu erkennen. Ein Musterbeispiel für die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes ist die zentrale Figurenkonstellation der mittelalterlichen Tristanromane. Das Begehren, das die Rivalen Marke und Tristan auf Isolde richten, ist zugleich von jenem Begehren durchdrungen, das Marke auf Tristan richtet.41 Marke, so könnte man sagen, begehrt Tristan in Isolde und Isolde in Tristan. Ein weiteres Beispiel ist das Nibelungenlied mit der Brautwerbung um Brünhild, bei der Gunther und Siegfried mithilfe der Tarnkappe eins werden, aber auch nacheinander den Platz im Bett neben Brünhild einnehmen.42 Auch der Prosalancelot ist in diesem Zusammenhang zu nennen.43 Es lohnt sich, das strikte Modell, an dem sich Sedgwick orientiert, im nächsten Schritt wieder zu öffnen – also gewissermaßen noch einmal auf Girard zurückzuführen – und auch solche Konstellationen zu untersuchen, in denen eine Frau zwei Männer begehrt (wie im Engelhard Konrads von Würzburg)44 oder zwei Frauen einen Mann oder zwei Männer einen dritten Mann.

1.4 Queer Studies Die Queer Studies stellen die Existenz einer homosexuellen Identität, die in den Gay and Lesbian Studies vielfach mit essentialistischer Tendenz vorausgesetzt wird, grundsätzlich in Frage. Sie vertreten einen Ansatz, der geschlechtliche und sexuelle Identitäten als kulturelle Konstrukte und performative Akte beschreibt. Den Terminus Queer Theory führte die Literaturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis im Jahr 1991 in dem Sonderheft „Queer Theory, Lesbian and Gay Sexualities“ der feministischen Zeitschrift difference ein. Foucaults und Sedgwicks Schriften haben sich, obwohl zunächst im Kontext der Gay and Lesbian Studies entstanden, als sehr einflussreich für die Queer Studies erwiesen. Sedgwick hat sich als „Queen Mother of || 41 Vgl. Andreas Kraß: „Queer lesen“, 242–246. 42 Vgl. Beatrice Michaelis: „Von tarnkappe“. 43 Vgl. Jutta Eming: „Der charismatische Körper“. 44 Vgl. Judith Klinger/Silke Winst: „Zweierlei minne stricke“; Silke Winst: Amicus und Amelius; Andreas Kraß: Geschriebene Kleider, 322–330, 336f.; ders.: „Freundschaft als Passion“, 108–115.

328 | Andreas Kraß Queer Theory“ 45 etabliert; der von ihr herausgegebene Band Novel Gazing umfasst zahlreiche Beispiele für die literaturwissenschaftliche Methode des Queer Reading. Als berühmteste und einflussreichste Theoretikerin der Queer Studies ist Judith Butler zu nennen, die als Professorin für Rhetorik den Literaturwissenschaften nahesteht; ihre Thesen sind auch in der germanistischen Mediävistik breit rezipiert worden. Für die literaturwissenschaftlichen Queer Studies haben sich zwei Mediävist_innen besonders engagiert: die Anglistin Caroyln Dinshaw und der Germanist James A. Schultz. Schultz richtete 1997 an der University of California Los Angeles das Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Studies Program ein und veranstaltete 2009 am Center for Medieval and Renaissance Studies eine Tagung zum Thema „Medieval Sexuality“. Dinshaw gründete 1999 an der New York University das Center for the Study of Gender and Sexuality (CSGS); außerdem rief sie 1995 gemeinsam mit David M. Halperin die Zeitschrift GLQ: A Journal of Gay and Lesbian Studies ins Leben, eines der wichtigsten Organe der Queer Studies. Für den deutschsprachigen Raum ist exemplarisch auf die DFG-Graduiertenkollegs „Geschlechterdifferenz und Literatur“ (München, 1992–2002), „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse“ (Frankfurt am Main/Kassel, 1999–2009) und „Geschlecht als Wissenskategorie“ (Berlin 2004–2013) hinzuweisen, in deren Rahmen auch mediävistische Dissertationen im Bereich der Queer Studies entstanden sind.46 Mediävistische Monographien zur Sexualität, die die Thesen der Gender Studies und zum Teil auch der Queer Studies zur Kenntnis nehmen, haben Ruth Mazo Karras und Rüdiger Schnell vorgelegt. Während Karras eine umfassende Typologie entwirft, die praktizierte und verweigerte, eheliche und außereheliche, männliche und weibliche, gegen- und gleichgeschlechtliche, freiwillige und erzwungene Formen der Sexualität berücksichtigt und die patriarchalische Prägung der Sexualität im europäischen Mittelalter beleuchtet, fokussiert Schnell allein die eheliche Sexualität.47 Ferner wurden einige mediävistische Sammelbände vorgelegt, die das Thema der Sexualität aus der Perspektive der Gender und Queer Studies behandeln.48 Beatrice Michaelis hat neben ihrer Studie (Dis-)Artikulationen von Begehren (2011) und dem von ihr mit herausgegebenen Sammelband Quer durch die Geisteswissenschaften (2005) zahlreiche Aufsätze zu queeren Fragestellungen vorgelegt49 und den Brückenschlag von den Queer Studies || 45 William B. Turner: Genealogy, 128. 46 Vgl. Beatrice Michaelis: (Dis-)Artikulationen von Begehren; Annabelle Hornung: Queere Ritter. 47 Vgl. Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität; Ruth Mazo Karras: Sexualität im Mittelalter. 48 Vgl. Karma Lochrie u. a. (Hgg.): Constructing medieval sexuality; Vern L. Bullough/James A. Brundage (Hgg.): Handbook; Glenn Burger/Steven F. Kruger (Hgg.): Queering the Middle Ages; Sharon Framer/Carol Braun Paternack (Hgg.): Gender and difference in the Middle Ages; Louise Fradenburg/Carla Freccero: Premodern sexualities; Lev M. Thoma/Sven Limbeck (Hgg.): „Die sünde“; mediävistische Beiträge finden sich ferner in: Christoph Lorey/John L. Plews (Hgg.): Queering the canon; Scott Spector u. a. (Hgg.): After the history. 49 Vgl. dies.: „Die Sorge um sich“; „Recht verschwiegen“; „Von tarnkappe, nagele und gêr“.

Kritische Heteronormativitätsforschung (Queer Studies) | 329

zur Intersektionalitätsforschung diskutiert.50 Für die frühe Neuzeit ist auf Monographien und Sammelbände von Alan Bray, Jonathan Goldberg, Lillian Faderman, Helmut Puff und Valerie Traub hinzuweisen.51 In den literaturwissenschaftlichen Queer Studies hat sich eine hermeneutische Perspektive etabliert, die man als Queer Reading bezeichnet.52 Dabei handelt es sich um ein kritisches Lektüreverfahren, das heteronormative Oppositionen dekonstruiert und mithilfe textnaher Analyse (close reading) die expliziten und impliziten Spielräume des Begehrens in den Blick nimmt. Das Verfahren des Queer Reading kann sich auf erprobte Modelle der Textlektüre stützen: Eve Sedgwicks Konzept des triangulierten Begehrens knüpft an Analyseverfahren des Strukturalismus an;53 Stephen Greenblatt geht Shakespeares Verkleidungskomödien mit den Mitteln des New Historicism auf den Grund;54 Jacques Derridas Studie zur Politik der Freundschaft bietet eine Dekonstruktion des philosophischen und politischen Ideals der Brüderlichkeit;55 mit den Mitteln der Psychoanalyse Sigmund Freuds und Jacques Lacans kann man dem verdrängten Begehren literarischer Texte auf die Spur kommen;56 David M. Halperin zeigt im Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse, welche vormodernen Diskurse in den modernen Diskurs der Homosexualität münden;57 Roland Barthes legt am Beispiel von Balzacs Novelle Sarrasine, in der ein als Opernsängerin auftretender Kastrat eine zentrale Rolle spielt, eine mustergültige Textanalyse im Sinne der Semiotik vor.58 Eine Sammlung von queeren Lektüren deutscher Literatur des Mittelalters und der Neuzeit haben Christoph Lorey und John L. Plews herausgegeben.59 Die für die Queer Studies grundlegenden Studien Judith Butlers wurden in der Mediävistik v. a. in zwei zentralen Monographien amerikanischer Literaturwissenschaftler/innen rezipiert. Die Anglistin Carolyn Dinshaw, Verfasserin der Studie || 50 Gemeinsam mit Gabriele Dietze und Elahe Haschemi Yekani: „Queer und Intersektionalität“. 51 Vgl. Alan Bray: Homosexuality in Renaissance England; ders.: The friend; Jonathan Goldberg (Hg.): Sodometries; ders.: Queering the Renaissance; ders.: Reclaiming Sodom; Lillian Faderman: Köstlicher als die Liebe der Männer; Helmut Puff: Sodomy in Reformation; Valerie Traub: The Renaissance of lesbianism in early modern England; dies.: Desire and anxiety. 52 Vgl. Andreas Kraß: „Queer lesen“; Anna Babka/Susanne Hochreiter (Hgg.): Queer Reading in den Philologien. 53 Vgl. dies.: Between men; anknüpfend an René Girard: Figuren des Begehrens; vgl. Andreas Kraß: „Das erotische Dreieck“. 54 Vgl. ders.: Verhandlungen mit Shakespeare, 66–91, 162–167 (Anm.). 55 Vgl. ders.: Politik der Freundschaft; s. dazu Andreas Kraß: „Im Namen des Bruders“. 56 Vgl. Tim Dean/Christopher Lane (Hgg.): Homosexuality and psychoanalysis; Andreas Kraß: „Der zerbrochene Spiegel“ sowie den Beitrag von Friedrich Wolfzettel i. vorl. Bd. 57 Vgl. ders.: „Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität“. Halperin unterscheidet vier vormoderne Diskurse, die im modernen Konzept der Homosexualität zusammengeflossen seien: Effemination, Päderastie, Freundschaft und Inversion. 58 Vgl. ders.: S/Z. 59 Vgl. dies. (Hgg.): Queering the canon.

330 | Andreas Kraß Getting Medieval (1999), und der Germanist James A. Schultz, Verfasser der Studie Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality (2006), beziehen in je verschiedener Weise Butlers Thesen zur Performativität des Geschlechts auf die Literatur des Mittelalters.

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (1990) Die zentrale These, die Judith Butler in ihren Büchern Das Unbehagen der Geschlechter, Körper von Gewicht und Die Macht der Geschlechternormen vertritt, lautet, dass das Geschlecht keine Naturtatsache, sondern ein performativer Akt sei. Butler kehrt die traditionelle Unterscheidung zwischen sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziale Geschlechterrolle) um, indem sie postuliert, dass die soziale Geschlechterrolle nicht aus dem biologischen Geschlecht hervorgehe, sondern soziale und kulturelle Vorstellungen die Wahrnehmung des biologischen Geschlechts ihrerseits prägten. Aus der These, dass der geschlechtliche Körper kulturell konstruiert sei, könne man nicht folgern, dass er kein Gewicht mehr habe. Wenn Butler vom Geschlecht als Effekt eines performativen Akts spricht, so weist sie auf den Aufführungscharakter des Geschlechts hin.60 Damit ist nicht gemeint, dass man sich das Geschlecht aussuchen kann wie ein Kleidungsstück, sondern dass das Geschlecht infolge der beständigen Wiederholung von Diskursen und Praktiken einer Zwangsjacke gleicht, der man kaum entrinnen kann. Insofern ist der Vorwurf der postmodernen Beliebigkeit hinfällig. Wenn Butler das Beispiel der Aufführung einer Drag Queen wählt, so will sie damit zweierlei illustrieren: Zum einen verweist der Aufführungscharakter der Travestie auf die performative Dimension des Geschlechts insgesamt, zum anderen liegt in der performativen Dimension ein Ansatzpunkt, um heteronormative Rollenbilder aufzubrechen. Aus der Performativität des Geschlechts folgt die Dekonstruktion der heteronormativen Oppositionen: von Mann und Frau, von gleich- und gegengeschlechtlichem Begehren. Es gibt kein Original, auf das sich Geschlecht und Sexualität beziehen könnten, sondern sie sind aufgrund des unhintergehbaren Aufführungscharakters immer schon Kopie der Kopie. Diese Thesen sind auch für literarische Texte von Belang, insofern fiktive Figuren nur als literarische Performanz existieren. In ihrem Fall kann man nicht in Versuchung geraten, hinter den Beschreibungen ihres Körpers oder ihrer Kleidung etwas Reales oder Natürliches zu suchen. Zudem bieten literarische Texte vielfältige Spielräume für virtuelle Grenzüberschreitungen, die insb. auch das Verhältnis von Geschlecht, Körper und Kleidung betreffen. In der germanistischen Mediävistik ist die These von Thomas Laqueur ausführlich diskutiert worden, dass in der Vormoderne das one sex-model dominiert habe, dass also im Unterschied zur neuzeitlichen

|| 60 Vgl. den Beitrag von Ulrich Barton und Rebekka Nöcker i. vorl. Bd., 413; 415f.; zur Genderthematik vgl. Andrea Sieber i. vorl. Bd.

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Vorstellung einer absoluten Geschlechterdifferenz der Unterschied der Geschlechter eher als relativ aufgefasst worden sei.61 Die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane seien als prinzipiell identisch wahrgenommen worden, nur dass man die männlichen für Aus- und die weiblichen für Einstülpungen gehalten habe. Entsprechend sei der Übergang zwischen den Geschlechtern in der Vormoderne fließender gewesen als in der Neuzeit. Dieser These entspricht der Befund, dass im Hohen Mittelalter die Differenzen zwischen männlicher und weiblicher Kleidung gering gewesen sind; diese unterschieden sich weniger in der Art als in der Länge der Gewänder.62 Hinsichtlich der Kleidung ist das Phänomen der Travestie besonders relevant.63 Man denke an die sog. Frauen- und Mädchenlieder des Minnesangs, in denen männliche Sänger eine weibliche Rolle aufführen und dies für dekonstruktive Effekte nutzen können. Wenn Walther von der Vogelweide in seinem Lied Under der linden in weiblicher Rolle singt: seht, wie rôt mir ist der munt, dann wird er gewiss auf seinen Mund gezeigt und somit auf die Diskrepanz zwischen dem Geschlecht des aufführenden Sängers und dem Geschlecht der aufgeführten Rolle hingewiesen haben.64 Ähnliches gilt für epische Texte des Mittelalters, in denen sich Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleiden.65

Carolyn Dinshaw, Getting Medieval (1999) Carolyn Dinshaw, die im Jahr 1990 bereits eine Studie über Chaucers sexuelle Poetik vorlegte, postuliert in ihrer nachfolgenden Studie Getting Medieval: Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern (1999) eine epochenübergreifende Kontinuität queerer Gemeinschaften. Wenn sie spätmittelalterliche englische Texte – poetische wie Chaucers Canterbury Tales und religiöse wie The Book of Margery Kempe – im Lichte der Queer Studies betrachtet und eine queer community across time veranschlagt, zielt sie – im Unterschied zu John Boswell, der für die Gay Studies ein ähnliches Projekt verfolgte – nicht auf eine sexuelle Identität, sondern auf die virtuelle Gemeinschaft derer, die sich, in welcher Epoche auch immer, der Heteronormativität entzogen haben.

|| 61 Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben; Joan Cadden: Meanings of sex difference; Brigitte Spreitzer: „Zur Konstruktion“. 62 Vgl. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider, 271–279. 63 Vgl. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. 64 Vgl. Andreas Kraß: „Saying it with flowers“. 65 Vgl. Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren (Hgg.): Manlîchiu wîp; E. Jane Burns: Courtly love undressed; Valerie R. Hotchkiss: Clothes make the man; Andrea Sieber: „Der Fall Achilles“; Andreas Kraß: Geschriebene Kleider, 280–308; ders.: „Das erotische Dreieck“ .

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James A. Schultz, Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality (2006) James A. Schultz bringt in seiner Studie erstmals den Code der höfischen Liebe mit der Diskursgeschichte der Sexualität ins Gespräch. Im Unterschied zu Dinshaw positioniert er sich nicht explizit im Kontext der Queer Studies, doch führt die Konfrontation mittelalterlicher und neuzeitlicher Diskurse der Liebe und Sexualität zu heteronormativitätskritischen Erkenntnissen, die literaturgeschichtlich belastbar sind. Dinshaw und Schultz wählen verschiedene Wege zum gleichen Ziel. Die eine beschwört die historische Kontinuität, um der sexuellen Insubordination eine Geschichte und eine Selbstverständlichkeit zu geben; der andere betont die historische Alterität, um die Selbstverständlichkeit moderner Vorstellungen von Liebe und Sexualität zu erschüttern. Schultz’ Thesen widersprechen vielem, was bislang als gesichertes Wissen über die höfische Literatur und Kultur des Hochmittelalters galt. Er räumt der höfischen Liebe einen zentralen Platz in der Geschichte der Sexualität ein. Mit ihr habe sich ein ideologischer Paradigmenwechsel vollzogen von der Sexualität zum Zweck der Fortpflanzung zur Sexualität zum Zweck der Lust.66 An dieser Verschiebung sei die höfisch-ritterliche Adelsgesellschaft des Hochmittelalters maßgeblich beteiligt gewesen, insofern sie als herrschende Klasse ein Ideal erotischer Beziehungen hervorgebracht habe, das von der Liebe keine andere Rechtfertigung verlangt als jene Hochstimmung, die sie den beteiligten Personen bringt. Was die in höfischer Weise Liebenden lieben, sei daher das Höfische selbst. Dann aber spiele die Frage nach dem Geschlecht eine nachgeordnete Rolle. Folglich greife für das höfische Mittelalter die Kategorie der Heterosexualität nicht.67 In höfischen Romanen beschränkten sich die Beschreibungen der Hauptfiguren auf solche Körperteile, die nicht geschlechtsspezifisch sind.68 Dagegen verweist Schultz auf das Phänomen der rhetorischen Geschlechterdifferenzierung, das sich mit Butlers Performativitätstheorie verknüpfen lasse. Die Differenz der Geschlechter entscheide sich nicht an den beschriebenen Körpern, sondern an der jeweiligen Art der Beschreibung.69 Folglich müsse die höfische Dichtung von der heterosexuellen Prämisse befreit werden, die von modernen Leser_innen in der Regel an sie herangetragen werden.70 Dem Mittelalter sei das Konzept der sexuellen Orientierung noch fremd gewesen.71 Wenn von körperlicher Liebe zwischen Mann und Frau die Rede sei (bîligen, umbevâhen, triuten, minnen), so werde sie nicht genital markiert, nicht an Reproduktion geknüpft und nicht heterosexuell definiert. Ihr Ziel sei allein die höfische Lust, die Erfüllung des Begeh|| 66 Vgl. James A. Schultz: Courtly love, 157. 67 Vgl. ebd., 83. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd., 35. 70 Vgl. ebd., 45f. 71 Vgl. ebd., 57.

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rens nach dem Höfischen. Damit wendet sich Schultz gegen die traditionelle Forschungsmeinung, dass die höfische Liebe in erster Linie ein ethisches Projekt sei. In der höfischen Liebesdichtung gehe es weniger um die Nobilitierung des höfischen Ritters als um die Erotisierung der höfischen Kultur.

2 Fallbeispiel: Heinrich von Veldeke, Eneasroman Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke bietet zahlreiche Ansatzpunkte, um die vorgestellten Positionen der Sexualwissenschaft, der Gay and Lesbian Studies und der Queer Studies zu illustrieren. Vier Aspekte sollen hervorgehoben werden: die Diskursgeschichte der Homosexualität (mit Foucault), die Konkurrenz zwischen Liebe und Freundschaft als Codes der Intimität (mit Luhmann), das Konzept des homosozialen Begehrens (mit Sedgwick) und die Performativität des Geschlechts (mit Butler). Dabei sind jeweils zwei literaturgeschichtliche Stufen zu berücksichtigen: das antike Epos (Vergil, Aeneis) einerseits sowie der altfranzösische Roman (Roman d’Éneas) und dessen mittelhochdeutsche Bearbeitung (Heinrich von Veldeke, Eneasroman) andererseits.

2.1 Foucault: Diskursgeschichte der Homosexualität Ausgehend von Foucaults diskursgeschichtlichem Ansatz sind in der westlichen Kultur drei epochale Diskurse über gleichgeschlechtliche Sexualität zu unterscheiden: Päderastie in der Antike, Sodomie in der christlichen Vormoderne und Homosexualität in der Neuzeit. Insofern ist es ein irreführender Anachronismus, wenn man im Falle des Eneasromans von Homosexualität spricht, da das neuzeitliche Dispositiv der Sexualität, insb. auch die Vorstellung des Homosexuellen als einer Spezies, im Mittelalter noch nicht existiert. In methodischer Hinsicht ist es notwendig, die historische Eigenart der mittelalterlichen Diskurse zu respektieren und die Projektion neuzeitlicher Vorstellungen auf mittelalterliche Texte zu vermeiden.

Vergil, Aeneis Bei Vergil ist an keiner Stelle davon die Rede, dass Aeneas eine Liebesbeziehung mit einem Mann unterhalten hätte. Ihn verbindet eine enge Freundschaft mit dem jungen Pallas, doch auf sexuellen Verkehr wird nicht angespielt. So verhält es sich auch in Homers Ilias, die mit den griechischen Kämpfern Achilles und Patroklos Vergil das Vorbild für die Gestaltung der Beziehung zwischen Aeneas und Pallas lieferte. Doch ist festzuhalten, dass in anderen antiken Dichtungen, die von den griechischen Waffenbrüdern erzählen, die körperliche Dimension ihrer Beziehung nicht

334 | Andreas Kraß nur als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern explizit angesprochen wird. Wenn Achilles in Aischylos Drama Die Myrmidonen den Verlust seines Geliebten beklagt, erinnert er sich an Küsse, Liebkosungen und ‚Schenkelverkehr‛.72 Wie Homer wird auch Vergil nicht explizit, spricht aber im Falle der trojanischen Krieger Nisus und Euryalus, die an Aeneasʼ Seite kämpfen, von der Liebe, die sie vereint habe (IX, 82: his amor unus erat).

Heinrich von Veldeke, Eneasroman Mit der diskursgeschichtlichen Verschiebung von der Päderastie zur Sodomie entstand das Problem, dass intime Beziehungen zwischen Männern in den Ruch eines naturwidrigen Frevels gerieten. Die mittelalterlichen Eneasromane verhalten sich zu dieser neuen Situation, indem sie zwei Szenen erfinden, in denen Eneas unterstellt wird, dass er sich der Sodomie schuldig gemacht habe. Diese Szenen dienen freilich der Entlastung des Protagonisten, denn die denunziatorischen Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, fallen auf jene zurück, die sie erheben. Als Verleumderin tritt Lavinias Mutter Amata auf. Weil Lavinia bereits Turnus versprochen ist, versucht sie ihrer Tochter Eneas auszureden. Sie unterstellt dem Trojaner, dass er sein Begehren nicht auf Frauen, sondern auf Männer richte. Im Roman d’Éneas verdammt sie ihn als sodomite (vv. 8583, 8611) und beklagt die Naturwidrigkeit seines Verhaltens.73 Die Saat der üblen Nachrede geht in Lavinia auf, die sich ihrerseits vorstellt, was Eneas wohl mit anderen Männern mache. Diese Szenen bestätigen Foucaults These, dass das Mittelalter den sexuellen Kontakt zwischen Männern als verfehltes Verhalten, nicht aber als Symptom einer spezifischen Veranlagung deutete. Heinrich von Veldeke kürzt die betreffenden Szenen und nimmt größere Rücksicht auf das Tabu der Sodomie. Er streicht diejenigen Passagen, in denen es um die sexuellen Praktiken der Sodomiten geht, denn ezn is ze sagenne niht gût, / waz her mit den mannen tût (282,39f.). Doch hält er sich in den wesentlichen Punkten an seine Vorlage. Er übernimmt die Behauptung, dass Eneas die Männer den Frauen vorziehe, den Bezug auf Didos Schicksal und den Vorwurf, dass Eneas die Reproduktionspflicht vernachlässige. Amata (die im deutschen Eneasroman namenlos bleibt) klagt (282,34–283,13): ‚diu werlt hât sîn schande, her is ein sô unreine man, || 72 Fragm. 66: „Der Schenkel Bund, den heilgen, hast du nicht gescheut, / O du, undankbar für so viel Liebkosungen!“; Fragm. 67: „Und deiner Schenkel gottgefälliger Verkehr“; Fragm. 68: „Fürwahr, ich küss’ ihn, fühle nicht Abscheu davor“; zit. n. Aischylos: Tragödien und Fragmente, 566– 569. 73 Vv. 8608–8610: „et ki si fait contre nature, / les homes prent, les femmes lait, / la naturel cople desfait“ („der so gegen die Natur verstößt, die Männer nimmt, die Frauen verschmäht, die natürliche Paarung zerstört“).

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daz ich im dîn niene gan, wandern hât niht gûten lîb, her geminnete nie wîb. ezn is ze sagenne niht gût, waz her mit den mannen tût, daz her der wîbe niene gert. dû wârest ubele zime gewert, wander nie wîb lieb gewan. phlâgen alle die man des bôsen sides des her phliget, den her vil unhôhe wiget der unsâlege Troiân, diu werlt mûste schier zergân inner hundert jâren, daz sage ich dir ze wâren: daz schadete vile sêre, sone worde nimmer mêre an wîbe kint gewunnen.‘

Auch Lavinia fasst sich viel kürzer. Wiederum wird die praktische Dimension der Sodomie weitgehend ausgespart, dafür kommen christliche Motive hinzu, die Sodomie als Sünde verteufeln (302,32–303,4): ‚deste baz getrouwe ich des, daz im unmâre sîn diu wîb. sô hazze got sînen lîb, daz ich sîn kundet ie gewan. waz tûfels minnet her an dem man? ez is ein michel bôsheit. wiste ich des die wârheit, daz her des scholdich wâre, mir wâre vil unmâre sîn schade und sîn schande. hern sal in diseme lande mit êren niemer blîben, der vîant is den wîben.‘

Heinrich von Veldeke führt die ungerechtfertigten Vorwürfe der Frauen stärker noch an den christlichen Sodomiediskurs heran als sein altfranzösischer Vorgänger. Die Absicht, die sich mit der Einfügung der betreffenden Passagen verbindet, scheint v. a. der Rechtfertigung der engen Freundschaftsbeziehung zwischen Eneas und Pallas zu dienen. Wenn der Vorwurf der Sodomie Eneas nicht trifft, dann trifft er auch nicht die Beziehung zu seinem Freund.

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2.2 Luhmann: Konkurrenz von Freundschaft und Liebe Nach Luhmann dominierte vor der Epoche der Romantik die Freundschaft zwischen Männern als Code der Intimität. Erst um 1800 habe die Liebe zwischen Mann und Frau diesbezüglich die Vorherrschaft über die Männerfreundschaft übernommen. Wie sich gezeigt hat, ist diese These hinsichtlich der höfischen Dichtung des Hochmittelalters zu differenzieren. Im Zeichen der Minne wird die Konkurrenz zwischen Freundschaft (Ritter/Ritter) und Liebe (Ritter/Dame) zu einem zentralen Thema der höfischen Dichtung.

Vergil, Aeneis In Vergils Aeneis steht die Dominanz der Männerfreundschaft als Code der Intimität außer Frage. Das Epos schildert eine kriegerische Welt, die um männliche Freunde und Feinde kreist. Die Beziehung zwischen Aeneas und Dido bleibt Episode, die Beziehung zwischen Aeneas und Lavinia wird nur am Rande erzählt. Von einer Liebesgeschichte zwischen Aeneas und Lavinia kann bei Vergil noch keine Rede sein. Das Epos schließt nicht mit der Feier des verschiedengeschlechtlichen Liebespaars, sondern mit der Rache des Protagonisten für seinen getöteten Freund. Turnus muss nicht deshalb sterben, weil er mit Aeneas um Lavinia rivalisiert, sondern weil er sich an der Leiche des Pallas vergreift, indem er dem Toten das Wehrgehenk stiehlt. Diese Konstellation ist bei Homer vorgebildet: Achilles tötet Hektor, weil dieser seinen Freund Patroklos getötet hat.

Heinrich von Veldeke, Eneasroman In den mittelalterlichen Eneasromanen wird die Konkurrenz zwischen Freundschaft und Liebe in vollem Maße ausgespielt.74 Fünf Punkte sind hervorzuheben: (1) Der affektive Grad der Beziehung zwischen den männlichen Freunden wird gegenüber dem antiken Epos noch gesteigert. Die Eneasromane schildern die Freundschaften zwischen Eneas und Pallas sowie zwischen Nisus und Euryalus als passionierte Beziehungen. (2) Die Steigerung des Freundschaftsdiskurses geht mit der Einführung des Liebesdiskurses einher. Die nach allen Regeln der höfischen Kunst ausgestaltete Liebesgeschichte um Eneas und Lavinia ist eine Erfindung der mittelalterlichen Eneasromane. Dieser Eingriff führt zu einer grundlegenden Änderung der Poetik des Textes. Die Eneasromane setzten der Dido-Episode eine umfangreiche Lavinia-Episode gegenüber und legen somit den Akzent auf die Liebesgeschichten, die Eneas durchläuft. Die Konkurrenz zwischen Liebe und Freundschaft wird also in der Weise gestiftet, dass die Freundschaft zwischen Eneas und Pallas gesteigert und mit der || 74 Vgl. Andreas Kraß: „ein unsâlich vingerlîn“.

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Liebe zwischen Eneas und Lavinia kontrastiert wird. (3) In den mittelalterlichen Eneasromanen wird nicht zwischen Liebe und Freundschaft differenziert. In beiden Fällen ist von minne die Rede, auch das Wort fruntschaft wird auf beide Paare bezogen. Daraus folgt, dass Freundschaft und Liebe nicht verschiedene oder gar gegensätzlichen Kategorien, sondern Spielarten desselben Phänomens sind. Der Wettstreit besteht somit nicht zwischen Freundschaft und Liebe, sondern zwischen homosozialer und heterosozialer Intimität. Entsprechend gibt es in beiden Fällen die Vorstellung, dass eine mit getauschten Ringen besiegelte Verlobung angemessen sei. Lavinia bedauert, dass sie es versäumt habe, dem kämpfenden Eneas einen Ring als Unterpfand ihrer Liebe mitzugeben (323,1–4): Het er (sprach si) mîn vingerlîn, her solde deste tûrer sîn und sterker ein michel teil und hete deste bezzer heil.

Dieses Versäumnis lässt sich Eneas gegenüber Pallas nicht zuschulden kommen. Er schenkt ihm als Zeichen seiner Liebe (minne und fruntschaft werden synonym gebraucht) einen Ring, den Turnus, nachdem er Pallas getötet hat, erblickt und raubt (207,12–16): ein vingerlîn heter an der hant der junkhêre Pallas, daz gab ime Ênêas dorch trouwe und dorch fruntschaft, dorch minne und dorch geselleschaft.

Pallas muss sterben, damit der Weg frei wird für Lavinia. Beiden Beziehungen eignet dasselbe Maß an Verbindlichkeit und Intimität. Amata liegt somit nicht völlig falsch, wenn sie den trojanischen Helden der Liebe zu einem anderen Mann bezichtigt. (4) Amata und Lavinia vergleichen das Verhältnis, das Eneas angeblich mit anderen Männern unterhält, mit der Liebe zwischen Mann und Frau. Eine Differenzierung zwischen heterosexuellem und homosexuellem Liebesakt steht ihnen nicht zur Verfügung. Lavinia bezeichnet die körperliche Liebe zwischen Männern als minne, wenn sie fragt: waz tûfels minnet her an dem man? (302,36). (5) Heinrich von Veldeke spricht an keiner Stelle davon, dass Eneas Dido geliebt habe. Das Wort minne wird nicht benutzt, um die Beziehung des trojanischen Helden zur karthagischen Königin zu bezeichnen; es bleibt allein zwei Beziehungen vorbehalten, die Eneas im Laufe der Erzählung eingeht: der Liebe zu Pallas und der Liebe zu Lavinia. Es ist nur die halbe Wahrheit, wenn man betont, dass die mittelalterlichen Eneasromane den Kontrast zwischen Dido und Lavinia profilieren. Zugleich arbeiten sie die Abfolge einer homo- und einer heterosozialen Liebe heraus. In beiden Fällen muss eine Figur weichen, damit eine andere den Platz an der Seite des trojanischen Helden ein-

338 | Andreas Kraß nehmen kann. Doch während Dido aus der Handlung verabschiedet wird, bleibt Pallas präsent. So gesehen handelt es sich um einen Dreischritt: Eneas bringt Dido keine Liebe entgegen, wohl aber Lavinia. Diese Liebesfähigkeit hat er mit einem Partner erworben, der Dido nachfolgt und Lavinia vorausgeht, nämlich mit Pallas. Dieser Aspekt ist für die Konkurrenz von Freundschaft und Liebe relevant, denn er bestätigt Luhmanns These, dass die passionierte Freundschaft das Modell für die romantische Liebe (im Sinne einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau) geliefert habe. Freilich findet dieser Vorgang nicht erst in der romantischen Dichtung um 1800, sondern bereits in der höfischen Dichtung um 1200 statt.

2.3 Sedgwick: Homosoziales Begehren und erotisches Dreieck Sedgwick geht von einem virtuellen Kontinuum des männlich-homosozialen Begehrens aus, das verschiedene Formen der affektiven Besetzung einschließt. Erst sekundär sei es zu einem Bruch gekommen, der das Kontinuum entlang der Opposition von Körper und Seele in solche Beziehungen aufteile, die entweder nur seelisch (z. B. Freundschaft) oder nur körperlich (z. B. Homosexualität) sind.

Vergil, Aeneis Die These der Existenz eines Kontinuums männlich-homosozialen Begehrens lässt sich an Vergils Aeneis bestätigen, die eine von heroischer Männlichkeit geprägte Welt entwirft. Die Beziehungen, die zwischen den Männern herrschen, sind vielfach vom Affekt bestimmt, der in verschiedener Weise zum Ausdruck kommt. Wenn Eneas Turnus tötet, weil dieser seinen Freund erschlagen hat, so ist der Affekt der Rache nur Kehrseite des Affekts der Liebe, die Eneas Pallas entgegenbringt. Das Kontinuum des homosozialen Begehrens ist noch vergleichsweise intakt. In der vorchristlichen Antike unterliegen Liebesbeziehungen zwischen Männern noch keinem vergleichbaren Tabu.75 Wenn in der Aeneis von körperlicher Liebe zwischen Eneas und Pallas keine Rede ist, so heißt dies nicht, dass diese Option ausgeschlossen wäre. Vergil sah nur keine Notwendigkeit, diese Option zu thematisieren. Entsprechend bedarf es auch nicht der Vermittlung über eine weibliche Figur, um männlich-homosoziales Begehren zu thematisieren. Weder Dido noch Lavinia wird eine solche Rolle zugewiesen. Sie kommt vielmehr einem Mann zu: Pallas dient als Medium, um den homosozialen Affekt zwischen Eneas und Turnus in Szene zu setzen. Die Triangulierung des Begehrens findet im Rahmen männlicher Homosozialität statt.

|| 75 Vgl. aber Scott Bravmann: Queer fictions of the past, 47–67.

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Das Thema der weiblichen Homosozialität ist in Vergils Aeneis ebenfalls präsent, wenngleich als Kopie des männlichen Pendants. Camilla und ihr Frauenheer repräsentieren eine Gesellschaft, die Männer nur zum Zweck der Fortpflanzung brauchen. Ihr Verhaltensmuster ist freilich ein heroisch-männliches, insofern sie sich als Kriegerinnen von den männlichen Kriegern kaum unterscheiden.

Heinrich von Veldeke, Eneasroman Die Situation ändert sich in den mittelalterlichen Bearbeitungen. Der Sodomieverdacht Amatas gegen Eneas indiziert, dass das Kontinuum des männlich-homosozialen Begehrens bereits gebrochen ist. Die mittelalterlichen Dichter stellen klar, dass der passionierten Beziehung, die Eneas zu Pallas unterhält, keine sexuelle Dimension eigne. Zu diesem Zweck wird der latente Sodomieverdacht einer Figur zugeordnet, die Eneas gegenüber missgünstig gesonnen ist. Auf diese Weise wird der Verdacht im Augenblick seiner Artikulation wieder ausgeräumt: Die Verleumdung fällt auf die Verleumderin zurück. Zugleich floriert das homosoziale Begehren der Männer, wie die passionierten Beziehungen zwischen Eneas und Pallas sowie Nisus und Euryalus zeigen. Letztere sind so eng miteinander befreundet, dass sie sich als ein und dieselbe Person verstehen. Nisus sagt zu Euryalus (181,17–21): ‚geselle, vil lieber man, daz ich weiz und daz ich kan daz kanst ouch dû und weist. wir sîn ein lîb und ein geist mit willen und mit werken.‘

Und Euryalus antwortet (182,10–19): ‚wir sîn ein fleisch und ein blût (sprach her), liebe frunt mîn, ichn weiz wie daz mohte sîn, wie wir daz ane geviengen, daz wir halbe hin ûz giengen und halbe beliben hie inne. daz dûhte mich unminne. nû uns got hât ein lîb gegeben, wir soln beide ensament leben und ouch ensament sterben.‘

In den mittelalterlichen Romanen kommt die Figuration des erotischen Dreiecks zum Zuge, die bei Vergil noch keine Rolle spielt. Der Ausbau der Figur der Lavinia und die Erfindung der höfischen Liebesgeschichte zwischen Lavinia und Eneas haben eine trianguläre Konstellation zur Folge, in der Eneas und Turnus um Lavinia rivalisieren. Die affektive Beziehung, die zwischen Eneas und Turnus besteht, ist

340 | Andreas Kraß nicht geringer als jene, die Eneas mit Lavinia verbindet. Doch kommt der homosoziale Affekt erst durch die Verschränkung des heterosozialen mit einem homosozialen Dreieck zur Geltung. Eneas und Turnus rivalisieren nicht nur um Lavinia, sondern wie bei Vergil auch um Pallas. Die entscheidende Szene ist jene, in der Turnus dem toten Pallas den Freundschaftsring raubt, den dieser von Eneas erhalten hatte. Man kann diesen Raub als Invasion oder Usurpation der Beziehung zwischen Eneas und Pallas lesen, so als wollte Turnus an Pallas’ Stelle treten und Freund des Eneas sein.

2.4 Butler: Performativität des Geschlechts Butlers These von der Performativität des Geschlechts lässt sich für die literaturwissenschaftliche Interpretation der Instanzen des Erzählers und der Figuren nutzen. Diese sind insofern verknüpft, als die Figuren sich durch Sprechakte des Erzählers konstituieren. Figuren setzen sich aus den Eigenschaften, Handlungen und Worten zusammen, die der Erzähler ihnen zuschreibt. Im Folgenden sollen zwei Episoden der Aeneis bzw. der mittelalterlichen Eneasromane näher in den Blick genommen werden: die Reaktion des Helden auf den Tod seines Freundes Pallas und die Beschreibung Camillas und ihres Frauenheers.

Vergil, Aeneis Vergil beschreibt, wie Aeneas, von tiefer Trauer um den toten Freund erfüllt, seufzt und weint, übt aber keinerlei Kritik an seinem Verhalten. Das männlich-homosoziale Klageritual fügt sich nahtlos in die heroische Welt der Aeneis ein. Auch Camilla, die an Turnus’ Seite gegen Aeneas kämpft, wird nicht problematisiert. Sie erscheint als kämpferische Jungfrau, die mit weiblichem Handwerk nichts zu schaffen hat (VII,805–807), und als Amazone, die im Kampf eine Brust entblößt (XI,648f.). Camilla wird für ihr Verhalten nicht getadelt, denn sie handelt im Einklang mit dem Rollenbild der Amazonen, die schon Homer als „männerähnliche Schar“ bezeichnete (VI,186).

Heinrich von Veldeke, Eneasroman Im deutschen Eneasroman wird die Männlichkeit des Eneas zweimal in Zweifel gezogen, und zwar jeweils in Situationen, in denen er von Leid erfüllt ist und zu einem Verhalten neigt, das als unmännlich empfunden wird. Als Eneas um seinen Freund trauert, zeigt er Gebärden, die seinen Gefolgsleuten als kintlîch (219,13) erscheinen. Und die unerfüllte Liebe zu Lavinia führt Eneas zur selbstkritischen Frage, ob er überhaupt noch als Mann gelten könne: Minne, jan bin ich doch niht ein wîb, / holfez mich iht, ich bin ein man (294,16f.). Leid, das aus Freundschaft und Liebe erwächst, bedroht die Männlichkeit des Helden.

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Während Eneas zwischen männlicher und weiblicher Performanz wechselt, bleibt Camilla der Rolle der männlichen Frau treu. Dafür wird sie von den Trojanern geschmäht, die den Widerspruch zwischen weiblichem Erscheinungsbild und männlichem Verhalten nicht ertragen. Denn Camilla ist von außerordentlicher Schönheit, die nach den Maßstäben der höfischen Gesellschaft jeder Dame zur Ehre gereicht. Sie sei, heißt es mit Bezug auf ihren Körper, wîblîch genûch (146,33). Doch verletzt ihr ritterliches Verhalten das Rollenbild der höfischen Dame (147,4–7)76: sie ne tet niht alse ein wîb, ie gebârde als ein jungelink unde schûf selbe ir dink, als sie ein ritter solde sîn.

Camilla pflegt vertrauten Umgang mit den Rittern, die an Turnus’ Seite kämpfen (147,39–148,3), doch nachts darf ihr kein Mann zu nahe kommen (148,4–14): ich sage û wes sie nahtes plach: dâ sie herberge gewan dar ne mûste dehein man neheine wîs nâher komen: des wart gûte war genomen, daz sis nimmer vergaz. Diu frouwe tetez ume daz, dorch andern neheinen rûm, si wolde ir magettûm bringen an ir ende sunder missewende.

Die Überschreitung der höfischen Geschlechterrolle wird geahndet, und zwar von zwei trojanischen Kriegern. Diese Szenen haben kein Vorbild bei Vergil. Orsilochus versucht seinen Mitstreitern die Furcht zu nehmen, dass es sich bei Camilla und ihren Gefährtinnen um unbesiegbare Meerjungfrauen handle, indem er eine von ihnen tötet (239,41–240,7): ‚wert ûch, helide gûte, mit manlîchem mûte! diz volk, daz ir hie gesiet, ez ne sind merminne niet, ez ist ein rechtez wîbhere. Swer sich ir niene were, hern gewinnet nimmer êre.‘

|| 76 Vgl. auch Heinrich von Veldeke: Eneasroman 174,20–25; 147,30–38.

342 | Andreas Kraß Für ihn ist es eine Frage der männlichen Ehre, dass sich die Ritter gegen Camillas Frauenheer zur Wehr setzen. Tarcho degradiert Camilla zum Objekt seines männlichen Begehrens (241,9–40): ‚waz meinet daz, frouwe maget, daz ir uns ritter sus jaget unde stechet unde slât? Waz wunders is daz ir gegât? Wie wânet ez ubil ende neme, daz ir sus gerne strîtet und statelîchen rîtet. Ich sag û wârlîche daz, ein ander storm zâme û baz, wâre daz irs phlâget: daz ir sanfte lâget an einem scônen bette, und wârez dâ ze wette das vehten umb die minne, dâ moht ir wol gewinnen, des phlâge ich gerne mit û zeim andern mâle danne nû, hin ze der nâhisten naht, daz ir versuchtet mîne maht. Dar umbe setze ich û mîn phant, einen trôischen bisant, der zwelfe geltent eine mark, ich weiz doch wol ir sît so stark, ir gewunnet schiere, ob mîn wâren viere. Daz wolde ich varen lâzen. Ez rouwet mich ze mâzen alse vil sô ich da sprach: ir hetet es fromen unde gemach und ich schaden und arbeit, des weste ich wol die wârheit.‘

Der Angriff ist signifikant für die höfische Geschlechterhierarchie. Mit dem Idealbild der Minnedame steigen die Anforderungen an die weibliche Geschlechterrolle, deren Verstöße umso heftiger geahndet werden.

3 Schlusswort Die heteronormativitätskritische Perspektive der Queer Studies hat sich inzwischen auch in der germanistischen Mediävistik etabliert. Sie versteht sich als ein methodischer und theoretischer Ansatz, der den Blick für das Begehren (desire) in ähnlicher

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Weise öffnen kann wie die Geschlechterforschung dies für die Kategorie des Geschlechts (gender) geleistet hat. Ein monologisches Erklärungsmodell für alle Phänomene der mittelalterlichen Literatur wird damit nicht beansprucht, das widerspräche auch der Kritik an der Monologizität des heteronormativen Denkens. Freilich stößt die Rezeption der Queer Studies in der germanistischen Mediävistik vereinzelt auch auf heftige Gegenwehr, so in mehreren Streitschriften Rüdiger Schnells.77 Schnell kritisiert an den Queer Studies, dass sie gesellschaftspolitisch motiviert seien. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Queer Studies ihre Agenda immerhin offenlegen, während das heteronormative Denken den naturgesetzlichen Geltungsanspruch seiner patriarchalischen Geschlechterpolitik in der Weise verschleiert, dass es sich als selbstverständliche und daher nicht erklärungsbedürftige Norm voraussetzt.78

Literatur Primärtexte Aischylos: Tragödien und Fragmente, hg. v. Oskar Werner, 4. Aufl., Darmstadt 1988. Heinrich von Veldeke: Eneasroman, nach dem Text v. Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachw. v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1989 (RUB 8303). Homer: Ilias, übertr. v. Hans Rupé, mit Urtext, Anh. u. Registern, 11. Aufl., Düsseldorf/Zürich 2001. Le Roman d’Éneas, übers. u. eingel. v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 9). Vergil: Aeneis, in Zusammenarb. mit Maria Götte hg. u. übers. v. Johannes Götte, mit einem Nachw. v. Bernhard Kytzler, 7. Aufl., München/Zürich 1988.

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348 | Andreas Kraß

Christian Kiening

Medialität 1 Medientheorie und Mediävistik Als die germanistische Mediävistik vor ungefähr zwanzig Jahren begann, sich verstärkt mit mediengeschichtlichen Fragen zu beschäftigen, geschah dies im Bewusstsein einer zunehmend als medialisiert erfahrenen Gegenwart, die einen anderen Blick auf die Vergangenheit stimulierte: diese nämlich als eigentümlichen Wiedergänger erscheinen ließ, dessen spezifische Arten der Sinnstiftung und -vermittlung noch oder wieder die Gegenwart betreffen. Unter Bezug auf Theorieansätze, die das Feld menschlicher Kulturtechniken (André Leroi-Gourhan), das Verhältnis von Oralität und Literalität (Walter J. Ong), die Materialität der Kommunikation (Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer) oder die Sinnoperationen sozialer Systeme (Niklas Luhmann) konfigurierten, schien zweierlei möglich: einerseits die mediävistisch in Gang gekommene Diskussion der Eigenart mittelalterlicher Textualität und Visualität, also etwa der Rolle der multisensoriellen Wahrnehmung, des Körpers und der Memoria, der Repräsentation und der symbolischen Kommunikation, in einen weiteren Kontext zu stellen und systematisch wie theoretisch anschlussfähig zu beschreiben; andererseits eben diese Beschreibung als eine für das Verstehen des medialen Haushalts der späten oder postindustriellen Moderne wesentliche zu erweisen. So entstand eine wissenschaftsgeschichtlich besondere Kombination: hier hermeneutische und semiotische Instrumentarien zur Erfassung der Alterität vergangener Sinnsysteme, dort posthermeneutische mediengeschichtliche Globalmodelle (Marshall McLuhan, Harold Adam Innis, Friedrich Kittler, Vilém Flusser, Paul Virilio) zur Annäherung an die Materialität der Geschichte.1 Das Ergebnis war ein intensiviertes Gespräch der germanistischen Mediävistik mit anderen mediävistischen Disziplinen: mit der Geschichtswissenschaft, die sich mit Fragen sozialer Kommunikation; mit der Kunstwissenschaft, die sich mit dem Zusammenhang von Bild, Medium und Körper; mit der Theologie, die sich mit den Vermittlungsdimensionen der Heilsgeschichte beschäftigte.2 Das Ergebnis war aber auch ein schillerndes Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Verfahren und dem epistemischen Gegenstand, das manchmal den Eindruck erweckte, es gehe um || 1 Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen; ders. (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe; ders.: Mediengeschichte. 2 Vgl. Marco Mostert: New approaches; Gerd Althoff (Hg.): Formen und Funktionen; Hedwig Röckelein: Kommunikation; Fabio Crivellari/Marcus Sandl: „Die Medialität der Geschichte“; Martina Stercken: „Medien und Vermittlung gesellschaftlicher Ordnung“; Klaus Krüger: „Bild – Schleier – Palimpsest“; Berndt Hamm/Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Media salutis.

350 | Christian Kiening ein Verstehen mehr der Gegenwart als der Vergangenheit.3 Dazu kamen die Mängel einer Pionierphase: Teilweise schien die Akzentsetzung v. a. in der Verwendung aktueller Medienterminologien zu bestehen.4 Oft wurden medientheoretische Grundannahmen mehr übernommen als kritisch befragt. So orientierte man sich an nachrichtentechnischen Kommunikationsmodellen, die, von der Trias Sender–Bote–Empfänger ausgehend, sowohl die Dynamiken der Kommunikation wie auch deren jeweilige kulturelle und historische Bedingungen ausblenden. Oder man folgte einem universalgeschichtlichen anthropologischen Verständnis von Medien als extensions of man, Erweiterungen der Sinne, die sich gemäß einer evolutionären Stufenlogik unterschiedlicher Gedächtnistypen vollzögen: von den primären Medien, die auf den Körper bezogen sind und ohne technische Hilfsmittel auskommen (brain memory), über die sekundären, die den Körper erweitern und auf Produzentenseite technische Hilfsmittel voraussetzen (script memory), zu den tertiären, die von Produzenten wie Rezipienten den Einsatz von Technik erfordern, und schließlich den quartären, die mit den Prinzipien von Digitalisierung und Vernetzung eine Sender und Empfänger neu konfigurierende hybride Integration aller anderen Medien ermöglichen.5 Der genauere Blick hat gezeigt: So wie generell jüngere Medien ältere nicht einfach ablösen, sondern v. a. verändern (und beobachtbar machen), so ist auch auf das Mittelalter bezogen kein glatter Übergang vom körpergebundenen zum schriftgestützten Gedächtnis zu erkennen. Die Zunahme pragmatischer Schriftlichkeit seit dem 12. Jh. führt weder zu einer Abnahme von Mündlichkeit noch zu einer Verminderung der Aura der Schrift. Sie führt weder zu einer Konkurrenz der ‚Künste‘ des Wortes und des Bildes noch zu einer Verdrängung des Körpers aus dem Kommunikationsprozess. Vielmehr kommt es zu Effizienz- und Komplexitätssteigerungen. Die Schrift ermöglicht Disziplinierung, Vereinheitlichung und Verstetigung, eröffnet aber auch der Inszenierung von Mündlichkeit oder dem Ineinander von Aura und Semiose, von Präsenz und Reflexion neue Geltungsdimensionen; zudem steht sie mit visuellen Formen in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht.6 Selbst in der Frühen Neuzeit behalten die Kommunikation der Körper und die Kommunikation unter || 3 Vgl. Haiko Wandhoff/Horst Wenzel: „Literatur vor und nach Gutenberg“; Ulrich Schmitz/Horst Wenzel (Hgg.): Wissen und neue Medien. Ausführlicher Problemaufriss mit reichen Nachweisen bei Christian Kiening: „Medialität in mediävistischer Perspektive“; ein anderer Blick bei Rüdiger Schnell: „Literaturwissenschaft und Mediengeschichte“. 4 Vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck; Haiko Wandhoff: Der epische Blick; ders.: „Speicher- und Schauräume“. 5 Der breiteste Überblick über Modelle, Formen und historische Sektoren bei Joachim-Felix Leonhard u. a. (Hgg.): Medienwissenschaft. 6 Vgl. Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hgg.): Verschriftlichung der Welt; dies. (Hgg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg; Christian Kiening/Martina Stercken (Hgg.): SchrifRäume; interessante Fallstudien: Nikolaus Henkel: „Titulus und Bildkomposition“; Stephan Müller: „,Erec‘ und ,Iwein‘ in Bild und Schrift“; ders.: „Alte Medien“.

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Anwesenden zentrale Bedeutung – trotz einer Zunahme anonymisierter Textverhältnisse, einer Umstellung auf stille, private, häusliche Lektüre und Bildbetrachtung und einer Verschiebung der im Buchkörper verankerten Sinngarantie auf Institutionen.7 In der (Post-)Moderne wiederum scheinen sogar vormoderne Phänomene (Oralität, Visualität, Multimedialität, Hypertextualität etc.) wiederzukehren oder neue Bedeutung zu erlangen.8 Es bietet sich insofern an, die elementaren Medien- und Gedächtnistypen weniger als schlichte Abfolge denn als funktionale Möglichkeiten zu begreifen, die sich in verschiedenen Gesellschaften zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Gemengelagen manifestieren. Auf diese Weise lässt es sich vermeiden, die Vormoderne im Sinne einer Vor- oder auch Gegengeschichte von der medialen Folie der Neuzeit oder Moderne her zu konstruieren. Indem man makrohistorische Annahmen über lineare oder nicht-lineare historische Prozesse forschungspragmatisch einstweilen einklammert und sich auf kleinere, überschaubare Einheiten konzentriert, sind präzisere Analysen möglich, die nicht nach dem Wesen ,des‘ Mediums fragen und den Blick nicht so sehr auf einzelne Medien, sondern auf Vermittlungsprozesse und ihre Dynamiken richten. Das, was wir Medium nennen, besitzt ja immer eine komplexe Struktur oder lässt sich seinerseits als Zusammensetzung oder Einschachtelung medialer Formen charakterisieren. So wie der materielle Überlieferungsträger (Codex) auf einem Beschreibstoff (Pergament, Papier) Zeichenanordnungen (Schrift) enthält, die ihrerseits aus einem Kommunikationssystem (Sprache) stammen, ist auch jedes andere Medium immer schon ein „System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das dem mit seiner Hilfe ablaufenden Zeichenverhalten bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt“.9 Statt vermeintlich klar umrissenen Einzelmedien kann dementsprechend das Interesse den Bedingungen gelten, unter denen etwas als Medium fungiert oder erscheint.10 Es muss sich dabei nicht nur um „historisch singuläre Konstellationen“ handeln, in denen sich erstmals „eine Metamorphose von Dingen, Symboliken oder Technologien zu Medien feststellen lässt“.11 Von Interesse können gerade auch solche Situationen sein, in denen vorhandene Mittel aufgegriffen und in ein neues Licht gerückt, variiert und transformiert, institutionalisiert, konventionalisiert und reflektiert werden. Geht man davon aus, Medien würden überhaupt erst im Ge-

|| 7 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Der Körper des Buches“; ders.: „Formen literarischer Kommunikation“; Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hgg.): Kommunikation und Medien; Fabio Crivellari u. a. (Hgg.): Medien der Geschichte; Marcus Sandl: Medialität und Ereignis. 8 Vgl. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. 9 Roland Posner: „Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation“, 302. 10 Ein recht oberflächlicher Differenzierungsversuch in dieser Richtung bei Werner Faulstich: Medien und Öffentlichkeiten. 11 Joseph Vogl: „Medien-Werden“, 122.

352 | Christian Kiening brauch zu Medien, stellt sich die Frage, wie die intrinsische Logik medialer Formen und deren vielfältige Kontexte miteinander zu verbinden sind. Sie zu beantworten bedarf es der genauen Analyse dessen, was jeweils in und mit einer Form vorgeht, die in irgendeiner Weise Vermittlungsaufgaben wahrnimmt, also einer Analyse der Medialität der ,Medien‘. Diese Medialität steht immer in einer Spannung zwischen dem, was uns als mediale Form begegnet, und dem, was diese Form ihrerseits an medialen Formen, z. B. an Darstellungen kommunikativer Akte, enthält. Die volkssprachige Literatur etwa, die (ungesicherter als die lateinische) stärker ihre eigenen Bedingungen reflektierte, ist reich an Szenen, in denen Gegebenheiten des Dichtens, Schreibens, Erzählens, Lesens, Singens oder allgemein des Kommunizierens thematisiert und Texte in Bezug auf Objekte oder Bilder profiliert werden. Mit dem, was Figuren in den Texten hören, sehen oder kommunizieren, steht nicht selten auch zur Diskussion, wie überhaupt die Ausbildung und Verstetigung von Sinn, die Verbindung zwischen Vermittlung und Verbreitung, Textualität und Materialität zu denken ist. Das macht es nötig, die ganze Palette an Prozessen der Kommunikation, Wahrnehmung und Imagination zu analysieren, über die ein Text auch mit bestimmten historischen Modellen des Medialen (etwa zeitgenössischen Theorien der Sprache und der Schrift, der Optik und der Akustik) verbunden ist,12 aber auch die verschiedenen Ebenen oder Beobachtungsordnungen des Gegenstands zu berücksichtigen: (1) die materielle Erscheinungsform des Gegenstands selbst (den Überlieferungsträger), (2) paratextuelle Formen, die (wie Inhaltsverzeichnisse, Prologe, Epiloge oder auch Akrosticha) vermittelnde Rahmen zwischen Dargestelltem und Darstellendem bilden, (3) diegetische Formen, die Medialität explizit ausstellen und zum Gegenstand einer Beobachtung zweiter Ordnung machen. Während die empirische, aber auch die frühe kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft einen Großteil ihrer Verheißung daraus bezog, dass sie die Determination von Sinn durch materielle Träger und Prozesse fokussierte, die ,unterhalb‘ der eigentlichen Bedeutungsvorgänge ablaufen, kommt es der historischen Medialitätsanalyse darauf an, den ganzen Reichtum an geschichtlichen Selbstbeschreibungen medialer Gegebenheiten überhaupt erst einmal zu erfassen. Anhand der Ostentationen, der Reflexionen und der Imaginationen des Medialen ist das Inventar an Erscheinungsformen zu rekonstruieren, das uns sehen lernt, dass auch Materialität nicht unabhängig von diskursiven Konstellationen existiert.13

|| 12 Vgl. Christian Kiening/Martina Strecken (Hgg.): Modelle des Medialen im Mittelalter. 13 Dieses Anliegen trifft sich teilweise mit einer jüngeren Medienphilosophie. Dieter Mersch (Medientheorien) bspw. fasst die Konstitutionsbedingungen wie auch Grenzen des Medialen, seine Erscheinungshaftigkeiten und blinden Flecke, seine Inszenierungen und Paradoxierungen ins Auge, Sibylle Krämer (Medium, Bote, Übertragung) die sprach- und zeichenphilosophischen sowie metaphysischen Implikationen des Medialen. Eine konsequente Historisierung ist damit allerdings jeweils nicht verbunden.

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Was sich damit abzeichnet, ist die methodologische Dimension der Frage nach historischer Medialität. Wenn manche neueren Arbeiten die Geschichte von Medialität mit einer Geschichte der technischen Kommunikationsmittel, Zeichensysteme oder Informationsträger identifizieren,14 scheinen sie zu suggerieren, es handle sich hierbei um einen neuen epistemischen Gegenstand wie etwa vor einiger Zeit Mentalitäten, Emotionen oder Ordnungen. Ich schlage hingegen vor, schon im Begriff der Medialität die Perspektive als mitthematisch zu begreifen, unter der etwas als medial zu betrachten ist.15 Wenn man danach fragt, was in welchen Situationen unter welchen historischen Gegebenheiten als Medium fungieren kann und was die Stellen, Orte und Konstellationen sind, an denen Medialität beobachtbar wird, entscheidet man sich für eine bestimmte Einstellung und Sichtweise, ja eine methodische Prämisse: geschichtliche Phänomene in ihrer Konstitution und Wirkung, ihrem Werden und Sich-Verändern sowie ihre Bindung an die Materialitäten der Kommunikation und die Dynamiken sozialer Sinnerzeugung zu fokussieren. Nicht unbedingt neue Gegenstände sind es also, die in den historischen Blick rücken, sondern (die spezifischen) Aggregatzustände von oft durchaus bekannten Gegenständen, die aber aus anderem Blickwinkel betrachtet werden. Will man die Eigenarten der mittelalterlichen medialen Gegebenheiten präziser bestimmen, wird es nicht genügen, dieses oder jenes als Medium zu verstehen und hier und da an Medientheorien anzuknüpfen. Auch wird es nicht befriedigen, den Medienbegriff einfach auf Verhältnisse vor dem Zeitalter der Medien zu übertragen und so die Mediengeschichte um ihre unzureichend erkannte Vorgeschichte zu ergänzen.16 Vielmehr sind die historischen wie systemischen Bedingungen der Möglichkeit des Medialen zu untersuchen und dabei analytische Kernbegriffe wie historische Modelle zu differenzieren. Das kann es ermöglichen, z. B. die bekannten Figuren medialer Übergänge (von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der Handschrift zum Buchdruck, von der körpernahen zur körperfernen Kommunikation) ihrerseits als Effekte diskursiver und epistemischer Konstellationen zu begreifen. Ein konsequent historisch-mediologischer Ansatz ist ein perspektivischer. Er versteht „Mediengeschichte als Evolution von Beobachterebenen“ und damit als Wahl einer bestimmten Sichtweise.17 Sein Ziel ist es, anhand einer Beobachtung prägnanter medialer Konstellationen und in kritischer Distanz ebenso zu globalhistorischen Mustern wie zu technologieorientierten oder quantifizierenden Vorgehensweisen einen analytischen wie systematischen Differenzierungsgewinn zu er-

|| 14 Vgl. Volker Depkat: „Kommunikationsgeschichte“, 9; vgl. auch Karina Kellermann (Hg.): Medialität im Mittelalter. 15 Vgl. Sybille Krämer: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?“, 82. 16 Vgl. Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien; Friedrich Kittler/Ana Ofak (Hgg.): Medien vor den Medien. 17 Ludwig Jäger: „Die theoretische Grundlegung“, 196.

354 | Christian Kiening zielen. Als „Teilprogramm kulturwissenschaftlicher Forschung“18 unternimmt er die Anstrengung, zwischen den historischen Konstellationen und den aktuellen Methodologien zu vermitteln.19

1.1 Historische Semantiken und Modelle Insofern die Untersuchung vormoderner Medialität es mit Phänomenen zu tun hat, die vor der Etablierung genuiner Mediendiskurse liegen, hat ihre besondere Aufmerksamkeit den Ausdrücken, Begriffen oder Kategorien zu gelten, in denen Mediales erfasst, bezeichnet und konzipiert wurde. Das sich etwa seit den 1920er Jahren ausbildende Verständnis von ,Medien‘ als technischen Vorrichtungen oder Ausdrucksmitteln, gedacht zur Speicherung, Übertragung oder Verbreitung, kann dabei nur bedingt als Folie dienen.20 Zwar lassen sich fraglos verschiedene Kommunikations-, Überlieferungs- und Verbreitungsformen früherer Epochen als ‚Medien‘ bezeichnen und auch frühe Formen der ,Medienreflexion‘ rekonstruieren – von der Thematisierung von Hören, Sehen und Schreiben, Stimme und Schrift in der Bibel, bei Hesiod und Platon über die Entfaltung materieller Form- und Vermittlungsdimensionen bei Aristoteles, der Vorstellung einer beständigen Selbstmitteilung der Welt durch simulacra, figurae oder imagines bei Lukrez bis hin zu den mittelalterlichen Seh-, Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorien sowie den angesprochenen narrativen Inszenierungen kommunikativer Gegebenheiten in volkssprachigen Texten. Doch ändert dies nichts daran, dass es weder der Sache noch dem Ausdruck nach ,Medien‘ im Sinne eines durch formale Gemeinsamkeiten gekennzeichneten, standardisierten Inventars von Aufzeichnungs- und Kommunikationstypen gab. Es herrschte „kein Bedarf an einem übergreifenden, standardisierten Kode oder einer in allen Teilsystemen geltenden Generalsemantik“21. Zwar wurde eine Fülle von generellen und spezifischen Klassifikationssystemen für alles Existierende und Denkbare entwickelt. Diese Systeme aber waren nach anderen Prinzipien organisiert als die neuzeitlichen: nach letztlich sprachlich oder genealogisch, nicht morphologisch oder merkmalsemantisch gedachten Modellen der Ähnlichkeit. Während die modernen Konstellationen des ,Dazwischen‘, seien es konkrete Figuren oder abstrakte Zeichen, Materialitäten, Institutionen oder Symbole (der Bote, der Film, das Geld oder der Frosch) dem Gedanken verpflichtet sind, es gäbe eine

|| 18 Jan-Dirk Müller: „Medialität“, 61. 19 Ansätze zur Umsetzung dieses Programms im Nationalen Forschungsschwerpunkt Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven, situiert an der Universität Zürich; s. auch die zahlreichen Bde. der gleichnamigen Reihe. 20 Begriffsgeschichtlich erhalten bei Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs v. a. die Antike sowie das 18./19. Jh. Profil. 21 Michael Giesecke: „Sinnenwandel und Sprachwandel“, 225.

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epistemologische Systemstelle, die sich verschieden besetzten ließe,22 ist eben dies für die Vormoderne nicht anzusetzen. Mittelalterliche Denker konnten zwar in der Figur des Boten theologische (Christus, Engel) und perzeptive (Sinneswahrnehmung) Vermittlungsmomente miteinander verbinden, zum Modell schlechthin von Kommunikation oder Medialität machten sie diese Figur aber nicht.23 Die Medien der Kommunikation wiederum hätten sie in ihren Klassifikationssystemen je nachdem unter verschiedenen Rubriken untergebracht: den freien oder den mechanischen Künsten, den menschlichen Hervorbringungen oder den Zeichen. Sie hätten sich in den Grundzügen, ungeachtet mannigfaltiger Differenzierungen im einzelnen, an das als Handbuch verbreitete Werk De doctrina christiana (397/426) gehalten, in dem Augustinus natürliche und konventionelle Zeichen unterschied, wobei er unter die letzteren auch jene rechnete, die einer wechselseitigen Vermittlung (communicatio) menschlicher Wahrnehmungen (sensus) dienen. Diese Zeichen umfassen sowohl, auf den Gesichtssinn bezogen, gestische, mimische und visuelle, wie, auf das Gehör bezogen, artikulatorische Formen. Das Interesse allerdings gilt weniger dem Verhältnis der Formen zueinander als ihrem Bezug zur Wirklichkeit und zur Wahrheit – wenn Bilder und Statuen in einem Atemzug mit Fabeln, Kleidung und Münzen genannt werden, so im Blick auf die Frage, inwieweit diese dem Schein und der Künstlichkeit verhafteten menschlichen Einrichtungen (instituta adumbrata) doch eine Ähnlichkeit mit den natürlichen, d. h. ein Vorbild in der Natur besäßen. In diesem Sinne unterscheidet auch der augustinisch geprägte Hugo von St. Viktor in einer der anderen für das Mittelalter grundlegenden Wissenschaftslehren, dem Didascalicon (um 1128), im Gefolge neuplatonischer Vorstellungen zwischen drei verschiedenen schöpferischen Werken: demjenigen Gottes, demjenigen der Natur und demjenigen des die Natur nachahmenden Menschen.24 Zu letzterem zählt er die „unzähligen Arten des Malens, Webens, Bildhauens und Gießens“ (I,9), die an späterer Stelle allerdings, wenn Hugo die artes mechanicae präsentiert, unter dem Stichwort der Waffenschmiedekunst (armatura) erscheinen, vor der Handelsschifffahrt, der Landwirtschaft, der Jagd, der Medizin und der Theaterkunst, die eigentlich den Bogen wieder zu den mimetischen Künsten schlagen könnte, hier aber nur im Hinblick auf die Frage behandelt wird, weshalb sie überhaupt, man denke an die frühchristlichen Verdikte über die heidnischen Schauspiele, zu den erlaubten menschlichen Handlungen zu zählen sei (II,20–27). Das zeigt, wie sehr hier gegenüber einer Einteilung gemäß formalen Gemeinsamkeiten diejenige gemäß vorgege-

|| 22 Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler (Hgg.): Was ist ein Medium?. 23 Nicolaus Cusanus etwa kontrastiert in De pace fidei (1453), Kap. 11, die Figur des Boten mit der des Erben, in dessen Wort „alle Worte der Boten und Sendschreiben enthalten“ seien. Zum Boten vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung; sowie aus mediävistischer Sicht Wendelin Knoch (Hg.): Engel und Boten; Stephan Müller: „Datenträger“; Sabine Chabr: Botenkommunikation und metonymisches Erzählen. 24 Vgl. auch Christiane Kruse: Wozu Menschen malen, 58–64.

356 | Christian Kiening benen Mustern dominiert: der Gliederung der Künste und Wissenschaften, des Aufbaus des Studiums, der anthropologischen Ursprünge verschiedener Tätigkeiten. Zwar wird das Tun der Dichter und Philosophen dadurch charakterisiert, dass sie verschiedenste „Dinge in eins zusammen“ würfen (compilantes) und „so gewissermaßen aus einer Menge von Farben und Formen ein einziges Bild“ machten (quasi de multis coloribus et formis, unam picturam facere; III,4) – doch lässt die metaphorische Brücke zwischen Schrift und Bild gerade unausgesprochen, welche gemeinsame mediale Systemstelle beide verbände.25 Zusammengeschlossen werden können verschiedene Formen dadurch, dass sie, ob als Modelle (exemplaria), Nachbildungen (exemplata), Schatten (umbrae), Nachklänge (resonantiae), Gemälde (picturae), Spuren (vestigia), Erscheinungsbilder (simulacra) oder Schauspiele (spectacula), allesamt eine sinnliche Erscheinung betreffen, die als Bezeichnendes auf ein Bezeichnetes führt (per signa ad signata), also einerseits eine Nachträglichkeit, andererseits einen Bezug zum Ursprünglichen besitzt (Bonaventura, Itinerarium, II,11). Der Vielzahl dieser Formen korrespondiert ein breites Spektrum an Reflexionen über die Arten der ,Vermittlung‘ – zwischen Gott und der Welt, dem Herrscher und den Untertanen, dem Äußeren und dem Inneren etc. –, Reflexionen indes, die, wie angedeutet, weniger mit Gemeinsamkeiten in den Instrumenten der Vermittlung als vielmehr mit ontologischen, sprachlichen oder rhetorischen Verknüpfungen operieren. Das Grundprinzip dieser Art medialen Denkens zeigt sich schon an den Verwendungsweisen des Ausdrucks medium selbst. Von alters her bezeichnete das lateinische Substantiv oder Adjektiv medium in allgemeiner räumlicher wie zeitlicher Hinsicht die Mitte, den Mittelpunkt, das Mittlere, das Mittel oder das Vermittelnde, oft in Überlagerung der Konnotationen, aber ohne besonderen Akzent auf den spezifisch materiellen Bedingungen der Formen des ,Medialen‘. V. a. in der Logik spielte der Ausdruck eine wichtige Rolle, und dementsprechend begegnet noch bei Thomas von Aquin medium am häufigsten in den Kommentaren zu den aristotelischen Schriften, wo die Mittel oder Werkzeuge des Schlusses, des Beweises oder der Wahrnehmung (medium demonstrationis, medium cognoscendi) im Zentrum stehen. Daneben gibt es, orientiert man sich am Sentenzenkommentar, unzählige Hinordnungen von zwei Größen auf eine Mitte hin: das Glied, welches das mittlere eines Syllogismus bildet (medius terminus), der Mensch als medium zwischen utibilia und fruibilia, die auctoritates als medium zwischen Altem und Neuem Testament, die natura als medium zwischen essentia und persona distincta, der intellectus als medium zwischen natura und voluntas, die potentia generandi als medium zwischen absolutum und relatum.26 Doch interessiert sich Thomas auch für die Konstellationen, in denen das medium nicht in seiner funktionalen || 25 Zum metaphorischen Aspekt solcher ,Kunsttheorien‘ vgl. Heike Schlie: „Ein ,Kunststück‘ Jan van Eycks“, 254–257. 26 Vgl. den Index zu den online zugänglichen Opera omnia; http://www.corpusthomisticum.org, 16.07.2015.

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oder ontologischen Zwischenstellung aufgeht. Er fragt, ob bestimmte Erscheinungsformen, die Engel etwa, den Status des Mittleren überschritten (lib. 1 d. 37 q. 4 a. 2), oder, wie im Falle Christi, eine nur personale, nicht aber substantielle Mittlerschaft innerhalb der Schöpfung besäßen (lib. 1 d. 20 q. 1 a. 2 arg. 2), oder ob Gott selbst überhaupt nicht durch ein Mittleres erkannt werden könne. Im Hinblick auf die letztgenannte Problemstellung, die die viel diskutierte Frage der mittelbaren oder unmittelbaren Gotteserkenntnis und -schau betraf, unterschied er in seiner Quaestio de veritate (q. 18 a 1 ad 1) drei Typen des Vermittelnden (medium): ein Mittel, unter oder aus dem (sub quo), ein Mittel, durch das (quo oder in quo), und ein Mittel, von dem (a quo) etwas gesehen oder erkannt wird.27 Der Sehvorgang selbst wurde ja in der Tradition als Kette von Vermittlungsvorgängen vorgestellt, bei denen, weil die Formen der Dinge nicht direkt auf den Sehsinn wirken können, untereinander verknüpfte und ineinander verschaltete Instanzen – Luft, Licht, Auge, Sehgeist – die extrema, das Körperliche und das Unkörperliche, verbinden.28 Das Licht entspräche dann dem ersten der genannten Typen (medium sub quo), die Form eines sinnlichen Gegenstands im Auge bzw. das Prinzip des Sehaktes dem zweiten (medium in quo) und eine Vermittlungsform zwischen dem Gegenstand und dem Auge dem dritten (medium a quo). Bezogen auf die Gottesschau kommt nun aber eine Vermittlung weder durch eine species noch durch eine similitudo in Frage. Damit bleibt allein die erste Möglichkeit, das medium sub quo, das als das Licht der göttlichen Herrlichkeit (lumen gloriae) bestimmt wird: ein Licht, das nicht eigentlich Licht ist und in dem die Differenz zwischen Medium und Medialisiertem verschwindet. In heilsgeschichtlicher Perspektive zeigt sich diese Differenzierung als eine Zuordnung von verschiedenen Phasen zu verschiedenen und verschieden zahlreichen Vermittlungsinstanzen: Während Gott selbst ohne jede Vermittlung (absque omni medio) sieht, brauchte der Mensch vor dem Sündenfall sowohl das Mittel der Ähnlichkeit wie jenes des geistigen Lichts, zu denen nach dem Fall auch noch die Erkenntnis anhand der geschaffenen Dinge hinzutreten muss – die Seligen benötigen hingegen nurmehr das lumen gloriae. Das Beispiel zeigt, wie der Ausdruck medium in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie theologische und epistemologische Aspekte verknüpfen kann. Im Hinblick auf die Wahrnehmung des Sinnlichen werden die Vermittlungsvorgänge fein nuanciert. Bonaventura etwa schreibt in seinem Itinerarium (II, 4): Die ganze Sinnenwelt tritt […] durch die Wahrnehmung in die menschliche Seele ein. Diese sinnenfälligen äußeren Dinge gelangen aber zuerst durch die Tore der fünf Sinne in die Seele. Sie gehen jedoch nicht […] der Substanz nach in sie ein, sondern durch ihre Ähnlichkeiten (similitudines). Diese entstehen zuerst in einem Vermittelnden (medium), gelangen von diesem ins Organ, und zwar vom äußeren ins innere, und kommen von dort in das Wahrnehmungsvermö-

|| 27 Vgl. Stephan Meier-Oeser: „Medienphilosophische Konzeptionen“, 57f. 28 Vgl. David C. Lindberg: Auge und Licht.

358 | Christian Kiening gen. So bewirken die Erzeugung einer Spezies im Vermittelnden (medium), ihre Weiterleitung vom Vermittelnden (medium) ins Organ und die Hinwendung des Erkenntnisvermögens zu dieser die Erfassung aller der Seele äußeren Dinge.

Während spätere Autoren wie Petrus Aureoli oder Wilhelm von Ockham darauf insistieren, dass die Erscheinungen (apparentiae) wie die Vermittlungsformen (medium) „kein reales, sondern nur ein intentionales Sein“29 haben, ist für Bonaventura die Mitte schon deshalb keine bloß intentionale, weil sie als zugleich vermittelt und vermittelnd gedacht ist – eine partizipative Mitte, in der sich die Extreme berühren und über die sich der Mensch auf seinen eigenen Ursprung zurückbezieht: lex Divinitatis est infima per media ad suprema reducere (Hexaëmeron, III 32).30 Dieser Rückbezug geschieht über die Seele, die ihrerseits „ein Mittleres (medium) zwischen den geschaffenen Dingen und Gott darstellt“ und „wie die Mitte (medium) zu ihren beiden Extremen“ ausgerichtet ist, so nämlich, dass „sie vom niederen Bereich eine bedingte Gewissheit empfängt, vom oberen Bereich aber eine schlechthinnige Gewißheit“ (ebd.). Die hier nur angedeuteten Diskurse führen auf eine Spezifik mittelalterlicher Medialität. Sie besteht nicht einfach darin, dass Mediation oft weniger im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Menschen als auf die im Göttlichen wurzelnden Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation betrachtet wird. Ebenso charakteristisch ist wohl das Verständnis von Medialität als einer inneren (substanziellen, genealogischen, logischen, partizipativen) Beziehung zwischen dem Mittleren und seinen Bezugspunkten. Schon Aristoteles hatte in seiner einflussreichen und im Mittelalter vielkommentierten Schrift Über die Seele (418b/419a) betont, die Sinneswahrnehmung bedürfe eines Durchlässigen, eines Dazwischen (to metaxy), das aber nicht einfach leer sein dürfe, sondern eine Wirkung ausübe: „Denn das Sehen kommt zustande, indem das Sinnesorgan etwas erleidet. Dies kann aber nicht durch die gesehene Farbe selber geschehen. Also ist es nur durch das Dazwischen möglich“ –, wobei die sich selbst zum Verschwinden bringende passive übertragende Substanz (Licht, Äther) mit aktiven Instanzen, Bewegung der Form einerseits, Gedächtnis, Vorstellung und Phantasia andererseits, zusammenhängt.31 Unmissverständlich heißt es dann bei Thomas von Aquin, das Mittlere müsse etwas von den Extremen an sich haben.32 Diese innere Beziehung impliziert, zeitlich gesehen, eine Partizipation am Ursprung wie am Ende: Das Medium kann, so andersartig es erscheinen mag, als Spur seines eigenen Ursprungs, Teilhabe an seiner eigenen Möglichkeitsbedingung und Andeutung seiner eigenen Zukunft gedacht werden. Es

|| 29 Stephan Meier-Oeser: „Medienphilosophische Konzeptionen“, 56. 30 Ein Zit. aus Dionysius Areopagita: De ecclesiastica hierarchia. 31 Vgl. Anca Vasiliu: Du diaphane; Frank Haase: Die Aristotelische Philosophie, 33–55. 32 Super I Epistolam B. Pauli ad Timotheum lectura, cap. 2, lectio 1: medium debet habere aliquid de utroque extremorum.

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kann nicht nur als Träger von Signifikanten gelten, sondern in die Position des Signifikats treten – gemäß der Vorstellung, die Erscheinungen der Welt, etwa die Himmelskörper, seien Elemente der göttlichen Selbstmitteilung gegenüber dem Menschen.33 Zwar stand jene Vorstellung, im 12. Jh. von Hugo von Sankt Viktor auf die griffige Formel gebracht, in der Rede Gottes hätten nicht nur die Wörter, sondern auch die Dinge Bedeutung (Didascalicon, V,3), immer in Spannung zu der anderen Vorstellung, die Schöpfung sei durch die menschliche Verworfenheit gestört und allenfalls durch geistige Transzendierung oder Transformierung als Medium des Göttlichen lesbar.34 Doch preisgegeben war das onto-theologisch gegründete Modell einer (prinzipiellen) Substanzrelation zwischen Schöpfer, Medium und Geschöpf damit nicht. Es wurde vielmehr in seinen partizipativen Aspekten durch Unterteilungen aufgefächert. Bonaventura etwa unterscheidet in seiner Schrift De scientia Christi (q. 4) gemäß den verschiedenen Beziehungsmöglichkeiten, die grundsätzlich zwischen Geschaffenem und Schöpfer bestehen, die Modalitäten der Spur (vestigium), des Abbilds (imago) und der Ähnlichkeit (similitudo): Als Spur befindet sich die Kreatur in einem Verhältnis zu Gott wie zu einem Prinzip, sofern sie Abbild ist wie zu einem Objekt, als Ähnlichkeitsbild schließlich wie zu einer eingegossenen Gottesgabe. Daher ist jede Kreatur Spur, weil sie von Gott ist, Abbild, wenn sie Gott erkennt, Ähnlichkeitsbild, sofern Gott in ihr wohnt.

Die Seele ist dann wiederum die Instanz, die zwischen Innen und Außen, höherer und niederer Welt vermittelt. Sie erfährt zwar passiones, bringt aber auch voces hervor, die sich wiederum in notae niederschlagen. Sie erkennt das Wahre und artikuliert es in Zeichen, ist damit wie das medium mehr ein ‚Mittel‘ denn eine bloße ‚Mitte‘ zwischen zwei Einheiten. Generell lässt sich also festhalten: Das medium stellt eine Verbindung dar und zugleich her. Unterschieden von dem, was es vermittelt, und doch diesem verbunden, ist es charakterisiert durch Fülle wie Mangel: Fülle aufgrund der Teilhabe des Vermittelnden am Vermittelten, Mangel aufgrund seiner Entfernung vom Ursprung. Das zeigt sich nicht nur in semasiologischer, sondern auch in onomasiologischer Perspektive, wenn man also nicht nach den historischen Bedeutungen des Ausdrucks medium, sondern nach den Ausdrücken für Phänomene des Medialen fragt. Ich greife nur ein Beispiel heraus: den Terminus figura. Schon früh, in klassisch römischer Zeit, konnte figura sowohl Visuelles (,Gestalt‘, ,Umriss‘) wie Ikonisches (,Urbild‘, ,Abbild‘, ,Scheinbild‘) oder Rhetorisches (,Trope‘) meinen. Hinzu trat dann, nach Auerbachs Deutung, mit den Kirchenvätern eine temporale Dimension, bezogen auf das Verhältnis von Altem und Neuem Testament: Die spezifische Zeit-

|| 33 Vgl. Jens Pfeiffer: Contemplatio Caeli. 34 Zu Hugos medial-heilsgeschichtlichem Denken Aleksandra Prica: Heilsgeschichten.

360 | Christian Kiening lichkeit von Ereignissen oder Personen transportiert Beziehungen zwischen Urbild und Abbild, die wiederum im Modus der Sprache erscheinen und verhandelt werden.35 Figura besetzt so eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Entitäten, Orten oder Zeiten. Sie verknüpft Körper-, Gestalt-, Bild- und Zeichenhaftigkeit, Ereignis und Prinzip, Darstellung, Wiederholung und Vollzug, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Verhülltes und Unverhülltes, Signifikant und Signifikat, Prophezeiung und Erfüllung. Sie verkörpert, visualisiert und verdeutlicht die Ursache und das Ziel, die Umbrüche und den Verlauf der Heilsgeschichte. Sie verweist über die Immanenz des heilsgeschichtlichen Syntagmas auf die Transzendenz des Paradigmas. Und dies wiederum in jener Spannung von Materialität und Immaterialität, Sinnlichkeit und Abstraktheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, referentieller und ontologischer Dimension des Zeichens, die oben schon begegnete: einerseits ein Reichtum an Beziehungshaftigkeit, an Anschaulichkeit, Gegenwärtigkeit und Fülle des Sinns, andererseits ein Unterschied zur Wahrheit selbst, eine Offenheit für die Zukunft, ein eschatologischer Ausstand.

1.2 Medialität des Heils36 „Vom Endlichen zum Unendlichen besteht keine Proportion“ (finiti ad infinitum nulla est proportio) – dieser bis auf Aristoteles zurückgehende Satz wird seit der Scholastik immer wieder zitiert. Er bringt zum Ausdruck, dass onto-theologisch das Endliche und das Unendliche kategorial verschieden, Schöpfer und Schöpfung durch eine radikale Differenz getrennt sind. Diese Differenz wird im Rahmen der christlichen Metaphysik nicht nur vom Menschen her gedacht, der das Göttliche als unvergleichlich begreift, sondern auch von Gott selbst her, von dem man annimmt, er beziehe sich im Geschaffenen auf eine zwar aus ihm hervorgehende, aber auch von ihm unendlich differente Entität. In diesem Sinne diskutiert Thomas von Aquin in der schon zitierten Quaestio de veritate die Frage, ob Gott etwas außerhalb seiner selbst erkennen könne. Die Ausgangsthese ist, dies sei nicht möglich: Das Mittel [medium], durch das eine Sache erkannt wird, muss in einem Verhältnis zu dem stehen, das durch es erkannt wird. Aber das göttliche Wesen steht in keinem Verhältnis zum Geschaffenen, weil es dieses selbst im Unendlichen überschreitet; vom Unendlichen aber zum Endlichen besteht kein Verhältnis [infiniti autem ad finitum nulla sit proportio]. Also kann Gott, indem er sein eigenes Wesen erkennt, nicht das Geschaffene erkennen (q. 2 a. 3 arg. 4).

|| 35 Erich Auerbach: „Figura“; vgl. auch Klaus Krüger: „Figuren der Evidenz“ und jetzt Christian Kiening/Katharina Mertens Fleury (Hgg.): Figura. 36 Vgl. zum Folgenden Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hgg.): Medialität des Heils und dort die Einleitung von Christian Kiening mit zahlreichen Nachweisen; außerdem Berndt Hamm/Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hgg.): Media Salutis.

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Die Synthese führt dann aber über diese Proposition hinaus, indem sie eine Unterscheidung im Modus der Proportionalität vornimmt: Etwas könne in zweifacher Weise in einem Verhältnis stehen – entweder untereinander oder durch gemeinsamen Bezug auf ein Anderes. Die erste Möglichkeit, proportio im eigentlichen Sinne, könne auf Endliches und Unendliches nicht zutreffen, da diese verschiedenen Klassen angehören; die zweite hingegen, eine proportionalitas, sei durchaus annehmbar, könne doch so, wie Unendliches zu Unendlichem generell in einer Beziehung stehe, auch zu dem medium in einer Beziehung stehen, durch das es erkannt werde; in diesem Sinne verbiete nichts anzunehmen, „das göttliche Wesen (essentia) sei ein Mittel (medium), durch das das Geschaffene erkannt werde“ (ebd.). Auf diese Weise ist ein Modell gegeben, einerseits an dem sozial und ethisch wichtigen Grundgedanken der Ähnlichkeit festzuhalten, wie er im ersten biblischen Schöpfungsbericht formuliert ist (Gen 1,26f.), andererseits den logisch notwendigen unendlichen Abstand zwischen creator und creatum zu betonen und beides wiederum, Differenz und Relation, Unvermittelbarkeit und Mittelbarkeit, zu integrieren. Dieses Modell erfährt seine anthropologisch-historische Umsetzung in der Idee der Schöpfung als eines Heilswerks in der Zeit, aufgespannt im Ganzen der Heilsgeschichte zwischen Schöpfung, Fall, Erlösung, Endzeit und Gericht. Hier gibt es denn auch ein spezifisches Moment der Vermittlung zwischen dem Göttlichen und dem Nicht-Göttlichen: in der Person des Messias, der seit Paulus als mesites, als Mittler zwischen Gott und den Menschen (mediator Dei et hominum; Tim 2,5) gilt. In Christus konnte, systemtheoretisch gesprochen, die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz dergestalt zugespitzt werden, dass sie in Form eines Reentrys auf beiden Seiten, derjenigen des Menschen und derjenigen Gottes, beobachtbar wurde.37 Doch diese Zuspitzung war zugleich eine, die historisch zu profilieren war vor der Folie anderer Konzepte, denen die paradox gefassten Partizipationsund Implikationsverhältnisse gerade abgesprochen wurden. Tertullian entwirft im frühen 3. Jh. seine Vorstellung der Eucharistie als einer figura, welche die Wahrheit des Körpers Christi in sich trägt, gegen die doketistischen oder adoptionistischen Vorstellungen der gnostischen Markioniten.38 Laktanz setzt in seiner Apologie des Christentums das Wunderwirken Jesu aufgrund seiner Göttlichkeit von der Naturbeherrschung zeitgenössischer Magier ab.39 Athanasius konturiert sein Mediationskonzept gegen die den historischen Jesus aus der höchsten Gottheit ausschließenden Ansätze der Arianer.40 Augustinus entwickelt sein Konzept der einzig wahren Mittlerschaft Christi in Auseinandersetzung mit Neuplatonikern wie Apuleius, die davon ausgingen, Dämonen würden Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen

|| 37 Vgl. Günter Thomas: „Die Unterscheidung der Trinität“, 97f. 38 Vgl. Erich Auerbach: „Figura“, 29f. 39 Vgl. Marie Theres Fögen: Die Enteignung der Wahrsager, 216. 40 Vgl. Jon M. Robertson: Christ.

362 | Christian Kiening darstellen, und damit im Verständnis Augustins die Differenz, die den Menschen von der Götterwelt trennt, eher sichtbar machten als aufhoben (De civitate dei, 9,13). Diese Differenz wurde früh schon als nicht nur theologische und frömmigkeitspraktische verstanden, sondern auch als medien- und zeichenbezogene. Paulus präsentiert im 2. Korintherbrief seinen christologischen, pneumatischen, emphatischen Schriftbegriff – in dem die Trennung von Botschaft und Adressat wie die Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Urheber aufgehoben ist – vor dem Hintergrund der als statisch hingestellten Schrift des mosaischen Gesetzes.41 Die Apostelgeschichte zeigt, wie sich die von Zeichen und Wundern begleitete Ausbreitung des Christentums gegen die (v. a. jüdischen) Widerstände durchsetzt. Das Johannesevangelium entwirft in Form des Ratsherrn Nikodemus eine jüdische Figur, die sich anders als die meisten auf das Außerordentliche, das sich ereignet, einlässt: „Rabbi, wir wissen, dass du als Lehrer von Gott gekommen bist. Denn niemand kann diese Zeichen wirken, die du wirkst, wenn nicht Gott mit ihm ist“ (Joh 3,2). Die christologischen Diskussionen des 3. und 4. Jhs. spielten dann anhand verschiedener Modelle von Identität und Differenz durch, wie das Mittlersein Christi genau verstanden werden könnte.42 Damit einher ging eine Schärfung der Unterscheidung zwischen medium und mediator. Hatte schon Augustinus in seinen Confessiones (X 43,68) festgestellt, Christus sei, insoweit Mensch, ein Mediator, insoweit aber Logos, nichts Mittleres, weil er Gott gleich, Gott bei Gott und zugleich ein einziger Gott sei, so differenzierte die Scholastik zwischen einer Mediation secundum autoritatem und secundum ministerium sowie zwischen einer konstitutionellen, ontologischen (medium) und einer funktionellen, kommunikativen (mediator) Mittlerschaft.43 Bonaventura wiederum bezog diese Mittlerschaft konsequent auf den Menschen. An Bibelstellen entlang, in denen der Ausdruck medium vorkommt, entwickelte er die Idee, Christus enthalte als Logos nicht nur alle Weisheit und Wissenschaft in sich, sondern sei auch selbst die Mitte aller Wissenschaften: der mit dem Sein befassten Metaphysik und der auf die Natur bezogenen Physik, aber auch der Mathematik, der Logik, der Staatskunst, der Jurisprudenz und der Theologie. In ein Verhältnis treten damit die alles umfassende Medialität Christi und die darauf gründenden, zwischen Metaphysik und Theologie aufgespannten menschlichen Wissenschaften. Es ergibt sich ein Schnittpunkt zwischen dem onto-theologisch-heilsgeschichtlichen Prozess, der sich in Christus manifestiert, und dem epistemologischwahrnehmungsbezogenen, in dem der Mensch Weltwissen und scientia Christi vereint.44

|| 41 Vgl. Christian Kiening/Ulrich Johannes Beil (Hgg.): Urszenen des Medialen, Kap. 5. 42 Vgl. Jon M. Robertson: Christ; Christian Kiening: „Mediologie – Christologie“. 43 Vgl. Artur M. Landgraf: Dogmengeschichte 2/2, 288–328. 44 Vgl. Bonaventura: Das Sechstagewerk, Coll. 1.

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In diesem Schnittpunkt fallen Grund und Aufhebung des Medialen zusammen – Nicolaus Cusanus wird Jesus Christus deshalb als medium absolutum bezeichnen.45 In diesem Begriff zeigt sich mit aller Deutlichkeit, dass den Kern der christlichchristologischen Medialität des Heils eine Paradoxie bildet: Das Heilswerk als geschichtliches gründet sich auf Vermittlung, doch diese Vermittlung ist eine, die ihre eigene Medialität sowohl ausstellt wie aufhebt. Sie ist ebenso notwendig wie vorläufig – notwendig hinsichtlich der Bedingungen einer weltlichen Immanenz, vorläufig hinsichtlich einer Aufhebung dieser Bedingungen am Ende der Zeiten. Sie vollzieht sich dergestalt, dass entweder das Mittelbare als Unmittelbares sich erweist oder die Unmöglichkeit einer eigentlichen proportio bewusst bleibt. Wie aber, so fragt sich dann, ist die für sich genommen nicht mittelbare Vermittlung ihrerseits den Menschen, den Christen, den Gläubigen vermittelbar? Wie ist sie von denen zu konzipieren und zu praktizieren, die sich nicht im Unmittelbaren zu bewegen vermögen und an die Anschauungs- und Verlaufsformen von Raum und Zeit gebunden sind? Die Antwort kann nur heißen: durch konkrete Medien, die aktuell verfügbar sind, während das absolute Medium nur virtuell gegeben ist, Medien, die verfügbar machen, was als Ereignis entzogen ist. Sie ermöglichen es, eine absolute Fülle von Sein, Sinn oder Zeit im Diesseits punktuell und augenblickshaft mit solcher Macht und Intensität aufscheinen zu lassen, dass überhaupt erst wahrnehmbar wird, was es verheißt, wenn ein noch ausstehendes Ganzes im Jenseits erfahrbar werden soll.46 Diese Medien situieren sich an jener Systemstelle, an der Beziehungen, ja Vermittlungen von Transzendenz und Immanenz verhandelt werden – paradox verhandelt werden, erscheint doch Transzendentes im Modus der Vermittlung und zugleich als dessen Grenze.47 Dabei gehen das Setzen und das Überspielen von Differenzen Hand in Hand. Einerseits werden die Pole strikt getrennt, andererseits die Trennungen beständig unterlaufen. Nicht erst im späten Mittelalter, wo komplementär zur Vergrößerung des Abstandes, der Gott von der Welt trennt, die Vermittlungen auf verschiedenen Ebenen vermehrt und entfaltet werden, spielt dies eine Rolle. Schon früh bestehen neben der christologisch gedachten Medialität diejenige des Buchs der Natur (Schöpfung) wie diejenige des Buchs der Bücher (sacra scriptura). Ihnen treten die durch Christus eingesetzten und im Neuen Testament verankerten Heils- oder Gnadenmittel zur Seite: die Wort-Verkündigung, die Taufe, das Abendmahl. Sie dienen dazu, das durch den Ratschluss des Vaters, das Werk Christi und die Wirkung des Heiligen Geistes (als das die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur vollziehende medium) begründete objektive Heilsgeschehen in subjektiver Heilsaneignung zugänglich zu machen. Sie knüpfen Heil an eine Ver|| 45 V. a. in De visione dei, Kap. 19; vgl. Christian Kiening/Ulrich Johannes Beil (Hgg.): Urszenen des Medialen, Kap. 8. 46 Vgl. etwa am Bsp. der Vision David Ganz: Medien der Offenbarung. 47 Vgl. Niklas Luhmann: „Das Medium der Religion“; ders.: Die Religion der Gesellschaft; Hartmann Tyrell: „Religiöse Kommunikation“.

364 | Christian Kiening mittlung in geschichtlichen Vorgängen, religiösen Institutionen und Personen, sakramentalen Formen, symbolischen Vollzügen und materiellen Erscheinungen – wie sie etwa in der Liturgie und im Kirchenraum in hoher Zahl zusammentreffen: in Gestalt von Altären, Reliquien, Taufbecken, Kultgefäßen, Kreuzen, Leuchtern, Büchern, Gewändern, Tüchern etc.48 Der französische Theologe und Bischof von Mende Guilhelmus Durandus hat im 13. Jh. in seinem Rationale diese Erscheinungen systematisiert: Er spricht von den officia, den res ac ornamenta und begreift sie jeweils als exemplar, d. h. als Formen, die ein Bild bieten und zugleich am Urbild teilhaben. Sie bedeuten etwas (significare) und stellen etwas dar (figurare), zugleich sind sie erfüllt von himmlischer Süßigkeit, sind sie als signa wie mysteria selbst heilsträchtig.49 Sie stehen allesamt „in einem elementaren Entsprechungsverhältnis zu Jesus Christus“,50 sind aber, was ihre Heilspotenz angeht, in der Art der Entsprechung vielfach abgestuft: Glas- und Wandmalereien, Teppiche und theologische Handschriften genießen nur in Ausnahmefällen jene Verehrung, die Reliquien, Kultbildern oder liturgischen Geräten oft zuteil wird. Andererseits sind auch heilstätige Objekte auf die sie begleitenden, sie legimitierenden und authentifizierenden Texte und Bilder angewiesen. Auch für sie gilt deshalb wie für alle konkreten medialen Erscheinungen, ungeachtet vielfältiger funktionaler Differenzen, in abgeleiteter Weise, was für die christologische Medialität selbst gilt: Sie tragen als Formen und Instanzen der Vermittlung etwas in sich von der Paradoxalität des Medialen. Sie sind charakterisiert durch Fülle und Mangel. Sie setzen auf die Teilhabe am Göttlichen und die Identität von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Zugleich aber machen sie die Grenzen einer absoluten Medialität sichtbar: die Inkommensurabilität des Absoluten und des Eingeschränkten, die Gleichzeitigkeit von Mitteilbarkeit und Unmitteilbarkeit, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit.51 Konstitutiv für die Idee, Heil könne im Nahraum präsent werden, ist denn auch das kontrastive Moment der Absenz. Es spielt schon deshalb eine zentrale Rolle, weil einerseits der Körper des Messias selbst, um den die Medialität des Heils kreist, aufgrund der Himmelfahrt abwesend ist, andererseits die Fülle des Heils, solange man sich im Diesseits bewegt und Welt und Geschichte andauern, noch aussteht. Zwar gibt es seit dem Hohen Mittelalter die Tendenz, die Präsenz- gegenüber den Absenzmomenten zu verstärken: Die Hostie wird in der Messe gezeigt, die Verehrung der sogenannten Herrenreliquien (Blut, Vorhaut, Dornen, Nägel etc.) gewinnt im populären Kult an Bedeutung, statt dem leeren Grabtuch wird im geistlichen || 48 Vgl. Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk. 49 Kirstin Faupel-Drevs: Vom rechten Gebrauch der Bilder, 373–380 (Übers. des Prologs). 50 Gunther Wenz: Art. ‚Sakramente II‘, Sp. 686. 51 Vgl. z. B. Michael Viktor Schwarz: „Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit medial“, in: ders.: Visuelle Medien, 25–64; generell Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung, Christian Kiening (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit.

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Spiel das Erscheinen des Auferstandenen vor der Himmelfahrt akzentuiert. Doch ändert dies nichts daran, dass Präsenz und Absenz sich nach wie vor vielfach und oft untrennbar verschränken.52 Die Präsenz des Heils bezieht ihre Intensität häufig gerade aus der Flüchtigkeit, der Momenthaftigkeit, der Unmöglichkeit der Dauer, mit der sie einhergeht. Diese Spannung wird im späteren Mittelalter noch dynamisiert, sowohl durch die Ausgestaltung des christologischen Mediationsmodells wie durch dessen Übertragung auf Maria, die in die zentrale Position der Gnadenmittlerin rückt, sowie auf alte und neue Heilige, die mit ihren Reliquien vielfältige Momente religiöser Transzendenz in die weltliche Immanenz infiltrieren.53 Dazu kommen neue Institutionen liturgischen oder semiliturgisch-ostentativen Charakters (Prozession, Heiltumsweisung, geistliches Spiel), neue kleinformatige Objekte (Pilgerzeichen, Rosenkranz, Andachtsbild), neue Typen von Bildwerken (Tafelbild, Triptychon, Klappretabel, großformatiger Flügelaltar, Hl.-Grab-Nachbau, Palmesel, bewegliches Kreuz). Manche von ihnen können im Sinne einer Akkumulation von Heilspotenzen kombiniert werden. Alle aber bringen neue mediale Räume (des Intimen, Privaten und Innerlichen) und mediale Komplexitäten mit sich, die sich durch Einschachtelungen, Potenzierungen und Rahmungen verschiedener Formen ergeben, wie sie beispielhaft an der Gregorsmesse zu beobachten sind.54 Nicht zu vergessen schließlich das, was mediengeschichtlich traditionell als markantestes Moment des Umbruchs zur Frühen Neuzeit begriffen wird: die Etablierung neuer Techniken des Drucks und der Vervielfältigung (Einblattdruck, Radierung, Blockbuch, typengedrucktes Buch).55 Sie führt dazu, dass zunehmend entindividualisierte Medien Heil an immer mehr Orten gegenwärtig machen, verbreiten und übertragen können, selbst aber in der Gefahr stehen, dieses Heil nicht mehr zu verkörpern, sondern nurmehr zu bezeichnen. Zwar soll die mechanische Reproduktion die Intensität von Heilswirkungen nicht beeinträchtigen, sondern womöglich sogar verstärken und mit besonderer Effizienz versehen. Doch bedarf sie dazu sekundärer Aufladungen. Auch kann sie als Anstoß verstanden werden, sich nicht mehr auf jene auratischen Objekte zu verlassen, in denen Heil mittelbar-unmittelbar da zu sein scheint. Die unübersehbare Vielfalt in der Medialisierung des Heils im späten Mittelalter hat insofern auch eine Kehrseite: Das Maß, in dem Heil in der Lebenswelt verfügbar gemacht wird, nährte kontrapunktisch die Skepsis gegenüber der Hingabe an äußerliche Bilder, materielle Gegebenheiten und körperliche Erscheinungen. Es ent-

|| 52 Vgl. auch Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi. 53 Vgl. Catherine Oakes: Ora pro nobis. Thomas von Aquin bezeichnet explizit als mediatores: Priester, Propheten, Engel und den Heiligen Geist (Summa theologica, IIIa q. 26 a. 1; Scriptum super sententiis, lib. 3, d. 2, q. 2, a. 2, qc. 2). 54 Vgl. Esther Meier: Die Gregorsmesse; Andreas Gormans/Thomas Lentes (Hgg.): Das Bild der Erscheinung. 55 Peter Schmidt: Gedruckte Bilder; Sabine Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte.

366 | Christian Kiening wickelte sich ein kritischer Diskurs, in dem die Gnadenwirkung und Heilskraft von Bildwerken nicht einfach angenommen, sondern diskutiert, an kontextuelle liturgische oder theologische Bedingungen geknüpft und nicht als magisches, sondern als symbolisches Phänomen behandelt wird.56 Zur Entfaltung kommen Tendenzen, die Realpräsenz des Göttlichen in Liturgie, Andacht oder Spiel an spiritualisierende und interiorisierende Bewegungen zu knüpfen. Daraus ergeben sich scheinbar diametral entgegengesetzte Möglichkeiten der Vermittlung. Das um 1300 entstandene Speculum humanae salvationis, das die biblische Heilsgeschichte anhand christologischer figurae als komplexen Verweiszusammenhang zeigt, entwirft ein ganzes Spektrum von Vermittlungsinstanzen: von den Propheten des Alten Testaments über Maria als Mediatrix und Christus als Mediator hin zu aktuellen geistlichen Autoritäten; aber auch von den figürlich-typologischen Sinnmustern der Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament über die figürlich-diagrammatischen Schemata hin zur Grundmetapher des Spiegels als zentralem Vermittlungsmodell von Materiellem und Immateriellem. Meister Eckhart hingegen (Predigt 16B) wendet sich in der gleichen Zeit gegen ein äußerliches Verständnis sakramentaler und epistemologischer Vermittlungen und insistiert darauf, das, was ein Bild des Urbildes ist, sei nicht einfach durch das Urbild vermittelt, vielmehr in seinem Sein voll und ganz von diesem abhängig. So wie Gott unvermittelt (âne mittel) im Bild und dieses unvermittelt in Gott sei, sei Sehen nicht als medialer Übertragungsvorgang vorzustellen, sondern als Moment der paradoxalen Identität von Sehendem und Gesehenem.57 Das wiederum verbindet die Predigt mit der sonst gerade auf die Fülle von Vermittlungen setzende Heilsdidaktik des Speculum. In beiden Fällen geht es um Verbindungen und Übertragungen, bei denen das Mediale gleichzeitig benutzt, ja ausgestaltet und aufgehoben oder eingeklammert ist. Während hier das Materielle als Erscheinungsform des Immateriellen gelten soll, soll es dort auf ein Nicht-(nur)-Materielles hin transzendiert werden.

2 Das Beispiel des geistlichen Spiels Zu den komplexesten medialen Formen des späten Mittelalters gehören die bereits angesprochenen geistlichen Spiele.58 Sie beziehen sich großteils auf die christologische Medialität zurück, verleihen ihr aber vielfältige Züge, indem sie Biblisches, Theologisches und Liturgisches, Textliches, Bildliches und Klangliches überblenden – im Dienste einer partizipatorischen Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens wie einer Vermittlung theologischer Gehalte und frömmigkeitspraktischer Nor|| 56 Vgl. Norbert Schnitzler: Ikonoklasmus. 57 Vgl. auch Thomas Lentes: „Der mediale Status des Bildes“. 58 Ausführlicher zum Folgenden Christian Kiening: „Präsenz – Memoria – Performativität“.

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men.59 Anschließend an etablierte Erscheinungsformen greifen sie gleichzeitig über die klerikal-sakralen Räume und die liturgisch-festlichen Zeiten hinaus und verschieben das Verhältnis nicht-mimetischer und mimetischer Elemente. Wie andere, thematisch und funktional verwandte religiöse Bilder und Texte betreiben sie eine Engführung von verinnerlichender Verkörperung und verkörperlichender Verinnerlichung des Heils mittels Gestalthaftem, Szenischem und Anschaulichem. Doch dies in Form eines performativen Handelns, das der figürlichen Verkörperung Als-obStatus verleiht und zugleich eine größere Gemeinschaft von Agierenden und Rezipierenden beteiligt. Benutzt werden Momente der Sukzessivität und der Simultaneität, um einem in Text und Bild autoritativ fixierten religiösen Gehalt kommemorative Präsenz und sinnliche Evidenz zu verschaffen. Daraus ergeben sich wiederum Spannungen zwischen medialen und transmedialen Sinnoperationen. Bspw. finden sich Seite an Seite Momente der Zeugenschaft (die Mittelbarkeit implizieren) und Momente der Erscheinung (die auf Unmittelbarkeit zielen): hier das Vorzeigen des Leichentuchs im leeren Grab, dort das Auftreten des Erlösers vor Maria Magdalena und den Jüngern. So sehr das zweite Moment die körperliche Evidenz schafft, die dem ersten fehlt, so sehr bleibt es prekär. Es knüpft die Evidenz an historische Zeugen, mit denen auch die Evidenz selbst eine historische wird, die in späterer Zeit zusätzlicher Geltungsstiftungen bedarf. Die Kehrseite des Verlangens nach Präsenz ist so die Notwendigkeit von Absenz, die dem, was geglaubt wird, erst die Basis verleiht, auf der geglaubt werden kann.60 Eben deshalb ist aber auch die Schrift, welche die Spiele überliefert, nicht einfach ein blasser Abklatsch der sinnlichen Fülle der theatralen Situation. Vielmehr stimuliert sie als ,kaltes Medium‘ (McLuhan) gerade aufgrund der Abwesenheit, die sie transportiert, die lebhafte Imagination von Anwesenheit. Sie erlaubt es im Sinne einer Partitur, die Fülle des Erscheinens im Schreiben, Lesen oder Hören auch abseits einer realen Aufführung in einer imaginativen Performanz herzustellen: anhand der sprachlichen, dialogischen und szenischen Dynamiken, der präsentativen, evokativen und signifikativen Dimensionen des Textes, seiner syntagmatischen und paradigmatischen Spannungen. Sie alle machen die Schrift zur Vollzugsform einer Memoria, die im Rückgriff auf die Vergangenheit zugleich den Ausgriff auf die Zukunft und die Verwandlung des Zeitlichen ins Überzeitliche perspektiviert, einer Memoria, die sowohl Heil zur Erscheinung bringt als auch in der Reflexion der Vermittlungsstrategien eine Steigerung von Nähe und Unmittelbarkeit ermöglicht. Die Vollzugsform zielt insofern zugleich auf eine Ostendierung wie eine Transzendierung ihrer eigenen Medialität im Hinblick auf die Medialität des Heilswerks.61 || 59 Vgl. Nikolaus Henkel: „Mediale Wirkungsstrategien“. 60 Zur Verschiebung von der ‚inszenierten Absenz‘ zur ‚inszenierten Präsenz‘ Christoph Petersen: Ritual und Theater. 61 Vgl. Christian Kiening/Martina Stercken (Hgg.): SchriftRäume; Christian Kiening: Mystische Bücher.

368 | Christian Kiening Diese Prinzipien lassen sich vielleicht am deutlichsten an einer Form erkennen, die nicht wie im Falle des Osterspiels an die traditionellen Abläufe der Liturgie anschließt und den mimetischen Nachvollzug ins Zentrum stellt, sondern eigene Vollzüge und Steigerungseffekte kreiert: dem Fronleichnamsspiel. Es beruht auf dem im 13. Jh. institutionalisierten Fronleichnamsfest, das seinerseits genau an jener Schwelle steht, an der eine Vermehrung der Heilspräsenzen mit einer Kontrolle ihrer Grundlagen einher ging. In ihm erhält die Durchdringung von Präsentischem und Dogmatischem einen Ort im kirchlichen Festkalender, an dem in einer paradoxen selbstreflexiven Heilsinszenierung sowohl die commemoratio der ursprünglichen Mahlgemeinschaft als auch deren institutio durch die kirchliche Liturgie gefeiert werden konnte. Das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, der erste deutschsprachige Vertreter der Gattung, bietet denn auch, analog zum Eucharistieereignis und dem Fronleichnamsfest selbst, ein heilsgeschichtliches Konzentrat, das über die zentralen Stationen des Sündenfalls, der Geburt und der Passion Jesu Christi, in das Dogma der Transsubstantiation mündet. Im Vordergrund steht die Vermittlung exemplarischer Aspekte der Heilsgeschichte durch Propheten und Apostel, nicht deren Dramatisierung in einem Handlungsablauf. Die einzelnen Reden gewinnen ihre Dynamik v. a. durch eine Spannung zwischen verschiedenen Momenten der Zeitlichkeit, der Gegenwärtigkeit und der Heilsgeschichte. Miteinander verflochten werden eine historische, eine heilsgeschichtliche und eine liturgische Zeitlichkeit. Einerseits sind die mit Christus verbundenen Ereignisse in einer Chronologie ab initio mundi fixiert. Andererseits ist immer wieder das Ganze der Heilsgeschichte im Blick: der Sündenfall, die Kreuzigung, die Endzeit. Und jeweils findet in Wir-Aussagen oder Publikumsanreden ein Brückenschlag zur aktuellen Situation statt; die Ausmalung des Jüngsten Gerichts durch Philippus schließt mit der Aufforderung, zu Christus, der da kegenwertig ist, zu beten (vv. 398–402). Auch sonst kommt es zu Überblendungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Johannes Baptista blickt auf die Taufe Christi als vergangene zurück und verweist gleichzeitig auf das Lamm Gottes als gegenwärtiges. Die Propheten sprechen in der Vergangenheit, doch im Wechsel mit den auf die Gegenwart Christi bezogenen Aposteln, die wiederum in dem zwischen Präsens und Präteritum wechselnden Credo die geschichtlichen Ereignisse zu gegenwärtigen macht: gegenwärtig für die Gemeinschaft in der rituellen Memorierung. Mit dem Credo kommt gleich eingangs jenes Stück ins Spiel, das sich zwischen Wortgottesdienst und eucharistischer Liturgie situiert und selbst schon jene konzentrierte heilsgeschichtliche Universalität verkörpert, um die es im ganzen Spiel geht. Und so wie seine Einheit durch Verteilung auf die Apostel eine überindividuelle und überhistorische Glaubensgemeinschaft erzeugt, so erzeugt umgekehrt die Vielheit der Gesänge eine überindividuelle und übertemporelle liturgische Gestimmtheit. Die Gesänge gehen jeweils den Reden der Propheten voran. Sie vermitteln zwischen der Faktizität des Credo und der Prophetizität der Visio, zwischen Augenzeugen-

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schaft und Seherschaft, zwischen christologisch bestimmter Institution und typologisch fundierter Providenz. Sie unterstreichen die Feierlichkeit des prophetischen Wissens und überführen dieses zugleich in liturgische Praxis. Sie basieren überwiegend auf jenen alttestamentlichen Stellen, die traditionell auf Christus hin gelesen wurden, begegnen aber im Rahmen des Spiels als neukontextualisierte ‚Zitate‘, die zentrale liturgische Momente des kirchlichen Festkreislaufs aufrufen. Sie entsprechen also nicht der konkreten Liturgie des Fronleichnamsfestes, konzentrieren vielmehr das Kirchenjahr und die sich zwischen Weihnachten, Ostern und Pfingsten abspielende Bewegung des Heilsgeschehens auf das Fest zu Ehren des Corpus Christi. Es kommt zu einer Überhöhung des christlichen Kults vor dem Dispositiv der Eucharistie. Vereint sich in diesem brennspiegelartig, was die Verknüpfung von sacrificium und eucharistia, von Göttlichkeit und Menschlichkeit, von Heilsverlust und Heilsgewinn ausmacht, so vereint sich im Spiel, was sonst aspekthaft auseinander tritt: Verkündigung, Geburt, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt des Erlösers. Schon in den einzelnen Gesängen und den ihnen zugrunde liegenden Bibelstellen kommt es zu Überblendungen der Zeitstufen. Der Verweis auf eine Jungfrauengeburt bei Jesajas ist eine alttestamentliche Prophezeiung, die im Neuen Testament (Lk 1,31) so aufgegriffen wird, dass das eine präsentische ecce im anderen sein Echo findet und dieses Echo als im Ausgangswort impliziert gilt: Die Gegenwart wird an die Zukunft gebunden, an eine Zukunft indes, die in Form einer Prophezeiung bereits in einer fernen Vergangenheit ausgesprochen und niedergeschrieben worden war. Doch damit nicht genug. Das Futurum ist zugleich ein Quasi-Performativ, das concipies wird ausgesprochen, um in der Gegenwart eine Wirkung zu zeitigen. Denn ein fast unmittelbares Echo – das ecce der Jungfrau – wird genügen, damit sogleich der Leib Christi im Schoß Marias empfangen wird.62

Im Spiel wird dadurch eine Präsenz inszeniert, die nicht auf mimetischer, sondern auf symbolischer Verkörperung beruht und doch, um dem Symbolischen Evidenz zu verleihen, mit dem Mimetischen als Möglichkeit operiert. Das zeigt sich an der Gegenwärtigkeit des Gottessohnes. Der Mediator Christus tritt nicht auf und ‚steht‘ doch im ‚Raum‘. Er ist als sprechende und handelnde Figur abwesend und doch als Grund und Ziel des Vorgeführten anwesend. Adam ‚sieht‘ ihn eingangs an jenem unbestimmten ‚dort‘, das mit den Pforten der Hölle assoziiert werden kann. Auch verschiedene der Propheten und Apostel ‚sehen‘ ihn. Johannes der Täufer verweist auf ihn als das Lamm Gottes (Ecce agnus dei). Caspar äußert seine Dankbarkeit, dass sein Wunsch, das kindelin zu sehen, nunmehr in Erfüllung gegangen sei. Christus ist also präsent in den signifikanten Bildern seiner Existenz: als König, der die Welt beherrscht, als Triumphator, der den Tod überwindet, als Lamm Gottes, das die Schuld hinwegnimmt, als Kind, das Mensch geworden ist – wobei schon die

|| 62 Georges Didi-Huberman: Fra Angelico, 121.

370 | Christian Kiening achronologische Folge der Bilder darauf verweist, dass diese Präsenz nicht im Sinne eines empirischen Jetzt zu verstehen ist. Da zu sein als imago heißt gleichzeitig nicht und doch da zu sein als corpus: nicht im Sinne einer Figur, doch im Sinne einer Realität, die sich in der Hostie manifestieren soll. Sie jedoch wird nicht einfach als abstrakte Form der Realpräsenz ins Spiel gebracht, sondern durch die Erscheinungsformen des abwesend-anwesenden Christus mit dessen Geschichte und Gegenwärtigkeit aufgeladen. Deshalb ist zwar verschiedentlich auf das Sakrament verwiesen. Die eigentlichen Konturen der Hostie bleiben jedoch im Ungewissen – bis in die Schlussrede hinein. In ihr interpretiert der Papst die typologische Beziehung zwischen dem alttestamentlichen Manna und der neutestamentlichen Hostie als Aufhebung des Vorläufigen im Endgültigen, des Andeutenden im Erfüllten. Gleichzeitig betreibt er eine performative Aufladung der eucharistischen Gegenwart in der Sprache. Im Wort und in dessen Wiederholung (daz ist ... daz ist ... daz ist [vv. 79, 85, 87] in Analogie zur eucharistischen Formel Hoc est corpus meum) vollzieht sich eine Beschwörung dessen, was man der Hostie per se nicht ansehen kann: dass sie ,süß‘ und ‚edel‘ und ,himmlisch‘ sei. In der durch den Papst sprachlich intensivierten Gegenwärtigkeit der Hostie kulminieren auch sowohl die dogmatischen wie die präsentischen Tendenzen des Fronleichnamsspiels. Einerseits wird hier jene Instanz greifbar, die am Ursprung der Institution steht, welche eine neue Dimension eucharistischer Frömmigkeit ermöglicht. Andererseits geht das innere und äußere Sehen der zuvor aufgetretenen Propheten und Zeugen in jenes Verkosten und Vereinnahmen über, dessen intensive Erfahrung das Institut des Fronleichnamsfestes erlaubt. Dieses Verkosten und Vereinnahmen soll aber seinerseits nicht als schlicht körperliches verstanden werden. Vielmehr unternimmt der Text alles, das Sinnliche von seiner bloßen Materialität zu befreien und gleichzeitig das Übersinnliche in materiellen Kategorien zugänglich zu machen. Aufgehoben werden Grenzen zwischen indexikalischen und symbolischen Zeichen ebenso wie solche zwischen Ereignis und Institution. Suggeriert wird die Möglichkeit eines realsymbolischen Zeichengebrauchs, der zwar ständig Bedeutungszuschreibungen benutzt, zugleich aber den Akt der Zuschreibung ontologisiert: Die verschiedenen Opfer, die die Heiligen Drei Könige dem kindelin darbringen, haben Verweischarakter und sind zugleich uffbare zeichen (Innsbrucker Fronleichnamsspiel v. 598) – Zeichen der Evidenz und der Offenbarung, in denen das Bezeichnete selbst anwesend sein soll, Zeichen für eine gegenwärtige Gemeinschaft, die sich ihrerseits von der reinen Sicht- zur höheren Glaubensgemeinschaft bewegt. Diese Profilierung einer christlichen Semiotik und Mediologie erfährt in der gleichen Zeit in anderen Texten Zuspitzungen, indem man sich verstärkt auf den alttestamentlichen Hintergrund bezieht. Die Juden erscheinen als entscheidende Triebfedern des Passionsgeschehens. An ihnen wird die heilsgeschichtliche Differenzierung auf soziale Ausgrenzungen bezogen. An ihnen wird demonstriert, wie gerade die am Verstehen scheitern, welche die religiöse Basis und die hermeneutischen Möglichkeiten besitzen sollten, und wie gerade sie, indem sie blind sind für die

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Mittlerrolle Christi, diese ermöglichen. Heilsökonomisch gesehen Erfüllungsgehilfen, sind sie sozialpolitisch und ethisch gesehen Sündenböcke, in denen die Monstrosität eines Erlösungsgeschehens, das des Opfers des Gottessohnes bedarf, sowohl kaschiert wie ausagiert wird. Zugleich kann an ihnen deutlich gemacht werden, worin die christliche Idee von Schuld und Erlösung und die mit ihr verbundene Medialität besteht. Die Spiele unternehmen es nicht nur, das Heilsgeschehen vorzuführen. Sie kommentieren es auch, reichern es mit theologischen Deutungen und antijudaischen Effekten an – indem sie z. B. die Schändlichkeit der Juden den neuen christlichen Institutionen gegenüberstellen, in denen auch ein neuer Zeichen- und Symbolbegriff dominiert. Im Donaueschinger Passionsspiel (ausgehendes 15. Jh.) wird ein regelrechter Zeichendiskurs vorgeführt.63 Die Juden beziehen sich ebenso wie der Teufel auf die großen Zeichen, die Jesus getan habe, und konfrontieren diesen immer wieder mit der Erwartung, er würde Zeichen tun, die sie zu überzeugen vermöchten. Doch die Wunder, die der Salvator wirkt, sind ebenso wenig wie die Prophetenworte, auf die er sich bezieht, geeignet, die Erwartung zu erfüllen. Hatte im Johannesevangelium, dem das Spiel hauptsächlich folgt, das Volk, angetan von Jesus, skeptisch gefragt, ob denn der Messias, so er kommt, „mehr Zeichen wirken [werde], als dieser gewirkt hat“ (Joh 7,31), ist im Spiel die jüdische Zuversicht auf das Kommende ungebrochen. In den Worten Leviathans: mir zwifflet nit zů dirre frist, / das der, so der gewar Messias ist, me zeichen tüg, dan disser kan (vv. 876–879). Für die Juden ist das wortzeichen, an das sie sich halten, das dem Salvator angelegte Narrenkleid (vv. 2772f.). Das von Jesus geschlagene Kreuzzeichen hingegen versetzt sie in Unruhe (vv. 467–469). Jesus selbst wiederum nimmt immer wieder auf die Zeichen Bezug und zitiert Beispiele dafür, dass Propheten in ihrer eigenen Zeit nichts gelten. Dergestalt ist das Verstehen der christlichen Zeichen durch die Juden auf die Zukunft verschoben, zugleich sollen deren Gültigkeit und das Unerhörte des Ereignisses sich bereits in der Gegenwart erweisen. Zum einen wird deshalb demonstriert, wie einzelne Figuren Jesus als Messias annehmen, indem sie sich auf die Zeichen verlassen. Zum andern geht es darum, dass Jesus selbst die eigenen Zeichen als nicht von ihm selbst hervorgebracht erweist. Der Gottessohn soll als Medium des Vaters, sein zeichenhaftes Wirken als dasjenige der höchsten Instanz erscheinen. Wer das in der rechten Gesinnung betrachte, der würde merken durch disse wort vnd bot, / ob das sye hie von gott, / oder ob allein durch mich (vv. 825–827). Wenn einer auf Ehre und Ruhm ziele, rede er viel von sich selbst, wa aber einer ret durch rat / des, so in gesendet hat, / der selbs wirt an der warheit funden (vv. 831–833; vgl. Joh 7,18).

|| 63 Vgl. zum Folgenden genauer Christian Kiening: „Christologische Medialität und religiöse Differenz“.

372 | Christian Kiening Die Grundfigur ist eine tautologische: Diejenigen, die wissen können, dass der Messias ein Medium Gottes ist, werden, so sie zu glauben gewillt sind, denjenigen, der sich selbst als Salvator bekennt, als solchen zu erkennen vermögen. Doch sie soll begriffen werden als paradoxe, die es erlaubt, eine mediale Intensität vor der Folie ihrer Negation herzustellen oder auch Transzendenzelemente in der Immanenz aufscheinen zu lassen und zugleich an Verstehensbedingungen zu koppeln. An denen, die Zeichen fordern, ohne die schon gegebenen verstehen zu können, soll die Fülle eben jener Zeichen erwiesen werden, die nicht einfach auf Abwesendes verweisen, sondern reale und paradoxe Metonymien darstellen – wie die Vera icon, die Veronika als zeichen präsentiert, bei dem das Antlitz am Tuch selbst ,hafte‘ (vv. 3195–3197)64. Das Tuch als ein Medium, das seine Bedeutung und Bedeutsamkeit in der Ostentation und Präsentation enthüllt, kann geradezu als Konzentrat dessen gelten, was das Spiel in seinem gleichzeitigen Beschwören christlicher Zeichen und Entlarven jüdischer Zeichenerwartungen ausstellt. Es transportiert eine Evidenz, die sich gerade aus dem medialen Oszillieren der Zeichen ergibt – dem Oszillieren zwischen bloß behaupteten oder angenommenen und sich selbst erfüllenden oder vollziehenden Zeichen. Wenn die moderne Medientheorie feststellt, dass Zeichen als Spuren immer einen (nicht-intendierten) Sinnüberschuss transportieren, der zu seiner Verkörperung des Mediums bedarf,65 so wäre die Relation hier anders anzusetzen: Der Sinnüberschuss der Zeichen ergibt sich durch das Urmedium, auf das sie sich beziehen, kann aber erst bei einer bestimmten Intentionalität zu Wirkung kommen. In diesem Sinne bleibt das Spiel auch nicht dabei stehen, ein richtiges und ein falsches Zeichenverständnis auf der Ebene der Figurenreden gegeneinander zu stellen. Es entwirft selbst Evidenzen, in denen Zentralmomente der Passionsgeschichte sowohl zur Anschauung kommen als auch sich auf gewisse Weise erfüllen. Entworfen werden imaginative Kristallisationskerne, in denen das szenische Geschehen in Bildformeln mündet: Judastod, Geißelsäule, Ecce homo, Kreuztragung, Marienklage, Anbringen der Inschrift etc. In diesen Bildformeln kommen sich sukzessive einstellendes und vorab fixiertes und gewusstes Ereignis zur Deckung. Am Ende des Streitgesprächs zwischen Christiana und Iudaea stellt die Personifikation der christlichen Kirche fest: dine wort sind luft vnd wind! / züm zeichen, das ir all sind blind / vnd das ir hand ein valschen glouben, / so tün ich dir verbinden din ougen / vnd brich dir din baner enzwey! – die nachfolgende Regiebemerkung vermerkt dies nochmals als auszuführenden Akt (vv. 3802–3806). Das Spiel lässt also die Handlung nicht einfach in die aus zahllosen Darstellungen bekannte Bildsymbolik münden. Es markiert den Übertragungsakt als solchen und nutzt ihn zugleich explizit, die wertlosen

|| 64 Vgl. hierzu auch Christiane Ackermann: „Schwellengänge in Raum und Zeit“; Ulrich Barton: „Vera icon und Schau-Spiel“. 65 Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat“, 79.

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jüdischen Worte, die nur Worte sind, von den sinnerfüllten christlichen abzusetzen, die mit einem Handeln konvergieren. So wird einerseits die Geltung des im Spiel Dargestellten unterstrichen, andererseits die Medialität der szenischen Darstellung transzendiert. Wenn in den Regiebemerkungen immer wieder auf den Als-ob-Charakter einer Handlung hingewiesen ist, liegt darin die Aufforderung, die dargestellte Wirklichkeit nicht in ihrer vordergründigen Erscheinung zu nehmen, sondern in ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung zur Entfaltung kommen zu lassen – in einer andächtigen ,Betrachtung‘ von Figuren, wie es im Prolog heißt, in denen sich nicht einfach die Vermittlung der Geschichte, sondern die Teilhabe an dieser über das Medium des Heiligen Geistes abspielen soll.66

3 Ausblick Vorstehend konnte nicht mehr als ein Ausschnitt aus den vielfältigen medialen Konstellationen der mittelalterlichen Überlieferung geboten werden. Er konzentrierte sich auf die theologischen, geistlichen und frömmigkeitsgeschichtlichen Diskurse, die durchaus nicht als vollständig dominierend angesehen werden dürfen. Vermittlungsfragen spielten vielmehr in zahlreichen Zusammenhängen, politischen, rechtlichen, sozialen, ästhetischen, eine zentrale Rolle – wobei die in sie hineinwirkenden Modelle häufig von der Theologie oder der Frömmigkeitspraxis zumindest affiziert waren. Insofern besitzt der gewählte Ausschnitt den Vorteil, an einem relativ kohärenten Bereich deutlich machen zu können, dass unter bestimmten Bedingungen theoretische und ästhetische Selbstbeschreibungsformen des Medialen sich aufeinander beziehen lassen und dass aus ihrer Untersuchung sich mehr ergeben kann als nur eine Aufpfropfung moderner medialer Kategorien auf mittelalterliche Verhältnisse. Wo der Blick sich auf die Eigenlogiken und spezifischen Semantiken, auf prägnante Untersuchungsfelder und modellhafte Konstellationen richtet, führt er weniger auf klare Vor- oder auch Gegenbilder zu einer Geschichte moderner Medialität als vielmehr auf eine komplexe Gemengelage, die sich weder bruchlos in das Narrativ einer ins Digitale mündenden Medienteleologie einordnen lässt noch mit späteren medialen Konstellationen ohne Verbindung ist: Man denke an das dialektische Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, das gerade für die frühe Moderne, in der sich eine systematische Medienreflexion auszubilden beginnt, zentral ist.67 Unübersehbar dürfte geworden sein, inwiefern, wie eingangs angedeutet, der mediologische Zugang einen methodologischen Charakter besitzt. Er will nicht

|| 66 Vgl. auch Regina Töpfer: „Implizite Performativität“. 67Vgl. Tobias Wilke: Medien der Unmittelbarkeit.

374 | Christian Kiening schlichtweg ein neues Paradigma institutionalisieren,68 vielmehr die vorhandenen Bemühungen um die Eigenheit vormoderner Texte, Bilder und Objekte weiterführen, und zwar dergestalt, dass (1) diese in ihren medialen Fakturen wie situativen Gegebenheiten und möglichen Kontexten analysiert, (2) die konkreten medialen Formen erster Ordnung mit den in ihnen und anderswo dargestellten und thematisierten Medialitäten zweiter Ordnung in ein Verhältnis gesetzt und (3) die Beobachtungsbedingungen der medialen Konstellationen reflektiert werden. Dies impliziert die Entscheidung für eine b e s t i m m t e Fokussierung von Geschichte und Überlieferung und die Möglichkeit, b e s t i m m t e Differenzierungen zu gewinnen, die aber zugleich das Spektrum der Aspekte, die an einem Gegenstand zu beobachten sind, erweitern können. Z. B. den performativen Aspekt – die Vollzugsdimensionen eines Objekts und einer Situation, die durch Rahmungen und Wiederholungen konstituiert wird. Oder den materiellen – die Gegebenheiten des Objekts oder der Situation, die für jeden Sinnvollzug benötigt und zugleich von diesem überschritten wird. Oder den semiotischen – die Zeichenhaftigkeit der Überlieferung, die auch dort gegeben ist, wo eine Präsenz von Objekt oder Situation zu dominieren scheint. Die Perspektive auf Medialität gälte dann dem, was sich materiell in den performativen Vollzügen semiotischer Gefüge als Vermittlungshaftigkeit zeigt, zugleich aber in der Materialität nicht erschöpft. Sie gälte den Möglichkeiten des Bedeutens, die weder einfach materiell fundiert und zeichenhaft codiert wären, sondern jeweils aus einer Bewegung z w i s c h e n beiden hervorgehen und in Wiederholung und Abweichung sich realisieren. Mit Wiederholung und Abweichung wären zugleich zentrale Aspekte gerade der mittelalterlichen Kultur tangiert, in der ,Medien‘ nicht nur der Übermittlung (von Information und Wissen), sondern auch der Übertragung (von Energie) dienten und beide, Übermittlung wie Übertragung, auf Vorgegebenes und Ursprüngliches bezogen waren, von denen her wiederum die Geltung des je Gegenwärtigen gesichert werden sollte. Von hier aus ließe sich ein Bogen schlagen sowohl zur medialen Situation der Moderne wie zu den theoretischen Grundlagen der medialen Beobachtung. Auf das erste bezogen wäre zu bedenken, inwiefern der historische Wandel nicht bloß mit technologischen, sondern auch mit epistemologischen Veränderungen zusammenhängt: bspw. einer Verschiebung der onto-theologischen und transzendenzbezogenen Grundierung von Medialität, die erst ein Verständnis des Medialen als eines universalen Apriori, einer formalen kommunikationslogischen Struktur und damit auch einer dem Realen gegenübertretenden eigenen Welt ermöglicht. Auf das zweite bezogen wäre zu überlegen, inwiefern der Grundzug mittelalterlicher Medialität, das medium in einer Figur wechselseitiger Implikation der extrema zu denken, nicht auch noch in der Moderne seine Spiegelungen findet. Luhmanns bekannte Unterscheidung von Medium und Form etwa ermöglicht ja nicht nur die Konzeptualisie-

|| 68 Etwas anders Horst Wenzel: Mediengeschichte, 11.

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rung des performativen Vollzugs des Medialen und lenkt nicht nur den Blick auf die Spannung von Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit.69 Mit dem Gedanken einer verschieden starken Koppelung von Elementen wird das Medium explizit nicht als ein Drittes, als ein ‚Dazwischen‘ gedacht und zugleich eine schematische Differenz von Universellem und Partikularem, Idee und Wirklichkeit, Muster und Ausführung vermieden. Statt das Vermittlungsproblem, das sich in allen dualen Weltmodellen stellt, durch die Einführung immer neuer ,Figuren des Dritten‘ zu lösen, wird hier ein sowohl prozessuales wie paradoxales Geschehen fokussiert, bei dem einerseits mit beständigen Umschlägen zwischen Aktuellem und Potentiellem, andererseits einem wechselseitigen Enthaltensein des einen im andern zu rechnen ist. Auch die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour oder die Theorie des agentiellen Realismus von Karen Barad stellen infrage, inwieweit Medien oder Apparate einfach als dritte Instanzen zwischen dem Menschen und den Dingen fungieren. Es könnte sich lohnen, diese Ansätze auf jene vormodernen Konstellationen zu beziehen, in denen die Grenzen zwischen Medialem und Realem, Texthermeneutik und Welthermeneutik, semiotischem und ontologischem Zeichenverständnis ebenfalls anders verliefen als in der ,klassischen Moderne‘, jene Konstellationen, in denen eine gegebene mediale Form als Erscheinungsform eines absoluten (ontologischen) Mediums gedacht werden konnte, das seinerseits das Mediale gerade aufhebt – an der Urform partizipierend und doch von ihr unterschieden. So gesehen könnte der mediävistische Blick auch die eine oder andere Implikation modernen medialen Denkens erhellen helfen.

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382 | Christian Kiening

Claudia Lauer

New Historicism 1 New Historicism Am Anfang stand der Traum vom Gespräch mit den Toten, den ich noch immer nicht aufgegeben habe. Der Fehler bestand darin, mir eine einzelne Stimme vorzustellen, die Stimme des Anderen. Wenn ich eine einzelne Stimme hören wollte, musste ich mir die unzähligen Stimmen der Toten anhören. Und wenn ich die Stimme des Anderen hören wollte, musste ich meiner eigenen Stimme lauschen. Das Gerede der Toten ist, wie mein eigenes, kein Privateigentum.1

Stephen Greenblatts berühmte Passage aus der Einleitung der Shakespearean Negotiations beschreibt geradezu programmatisch die Urszene einer wissenschaftlichen Lektüre, deren Impulse maßgeblich zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften beigetragen haben: Die Entstehung des New Historicism. Anfang der 1980er Jahre an der Universität in Berkeley entwickelt, prägt Greenblatt, ihr Begründer, den Ausdruck erstmals 1982 in der Einleitung einer von ihm herausgegebenen Sondernummer der Zeitschrift Genre.2 Nach Greenblatt versteht sich „the new historicism“3 dabei als Selbstbezeichnung einer neuen gemeinsamen Arbeitsweise der anglistischen Renaissance-Forschung, die sich durch eine doppelte Frontstellung gegen gängige Praktiken der Literaturinterpretation in den nordamerikanischen humanities auszeichnet. Zum einen begreift sie sich als Gegenbewegung zur bisherigen historischen Ausrichtung der Literaturwissenschaft, dem sog. old historicism, der vor allem in den Arbeiten John Dover Wilsons zum Tragen kommt und von einem monologischen, streng hierarchischen elisabethanischen Weltbild als Hintergrund für die Renaissance-Literatur ausgeht. Zum anderen setzt sie sich maßgeblich vom sog. New Criticism ab, einer seit den 1930er Jahren in den amerikanischen Literary Studies vorherrschenden Theorierichtung, die sich darauf konzentriert, literarische Texte nach ihrer inneren Struktur zu analysieren, ohne auf deren historische Herkunft und zeitgenössischen Kontext zu achten. Der New Historicism oder die poetics of culture bzw. cultural poetics (Bezeichnungen, die Greenblatt schon in einem Frühstadium seiner Theorieentwicklung bevorzugt) lassen sich als ein besonderes Verfahren historisch-kultureller Text- und Diskursanalyse verstehen, das darauf abzielt, den literarischen Text wieder mit jener ‚sozialen Energie‘ (social energy) aufzuladen, „die ihm als historisch bedingtes

|| 1 Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, 24. 2 Vgl. Stephen Greenblatt: „Introduction“. 3 Ebd., 5.

384 | Claudia Lauer Produkt bei seiner Entstehung in Fülle zu eigen war [...]“4, die ihm aber aufgrund der unvermeidlichen selektiven Überlieferung verloren ging. Louis A. Montrose, ein Mitbegründer dieses Ansatzes, hat die Formel geliefert, die seither als Definition des New Historicism gelten darf: Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte, die jetzt in der Literaturwissenschaft aufkommt, kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte.5

Mit den Begriffen ‚Geschichtlichkeit von Texten‘ und ‚Textualität von Geschichte‘ konfrontiert der New Historicism zwei der wichtigsten Elemente der Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung seit dem Historismus. Einerseits betont er die Vorstellung des gesellschaftlichen ‚Eingebettetseins‘ jeglicher Art von Geschriebenem; andererseits erscheint mit der ‚Textualität von Geschichte‘ der historisch-kulturelle Hintergrund eines Textes nicht fraglos gegeben, sondern ist ebenfalls wie ein Text als System von Zeichen strukturiert und damit selbst ein „Interpretandum“6. Unter Anleihen der Intertextualitätstheorie wird so die Frage, wie sich literarische Texte auf ihre geschichtliche Umgebung beziehen, neu gestellt und ein besonderes Modell der Beziehungen von Kunst und Gesellschaft entworfen. Diese sind nicht mehr einsinnig vertikal, im Sinne traditioneller Text-Kontext-Dichotomien und achsialer Hierarchien wie Text und geschichtlicher Hintergrund, Basis und Überbau oder Quelle und Werk. Im Zentrum steht vielmehr eine „horizontale Logik des Feldes“7, die „Text-Kontext-Relationen in Text-Kotext-Fragen transformiert“8, d. h. auf einer gleichen Ebene angesiedelt sieht, und den Schwerpunkt auf die Analyse und den Nachvollzug von Verhandlungen (negotiations) bzw. Austausch- und Zirkulationsprozessen zwischen unterschiedlichen kulturellen Sphären und Formen der Repräsentation von Diskursen in Texten legt. Die Begriff und Methode prägende Kerngruppe von Renaissance-Forschern an der Universität in Berkeley vereint damit von Anfang an nicht nur verschiedene Ansätze der Gender, African-American und Cultural Studies. Von einer im Sinne des britischen Cultural Materialism marxistisch-kulturwissenschaftlich geprägten Literaturwissenschaft her kommend, weist der New Historicism zugleich auch eine vielschichtige theoretisch-methodische Textur auf. Er reagiert auf die „praktischen Strategien von Verhandlung und Austausch“ und die „Gesamtstruktur von Produktion und Konsumtion“9 des amerikanischen Kapitalismus und dessen Politik. Maßgeblichen Einfluss haben aber auch poststrukturalistische Positionen. Dabei begreifen || 4 Anton Kaes: „New Historicism“, 254. 5 Louis A. Montrose: „Die Renaissance behaupten“, 67. 6 Anton Kaes: „New Historicism“, 256. 7 Peter Strohschneider: „Kultur und Text“, 100. 8 Ebd. 9 Stephen Greenblatt: „Grundzüge einer Poetik der Kultur“, 271.

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die New Historicists nach Roland Barthes den Text als „Gewebe von Zitaten, die den unzähligen Bereichen der Kultur entstammen“10, die wiederum selbst als ein Komplex von Texten im Sinne Jaques Derridas texte général zu verstehen ist.11 Darüber hinaus übernehmen sie wesentliche Positionen Michel Foucaults, der ab Herbst 1980 mehrfach in Berkeley lehrt und dessen diskursanalytische Überlegungen ebenso prägend wirken wie diejenigen zur Machttheorie und zu Praktiken des Selbst.12 Für die Analyse des Zusammenhangs von politischem, kulturellem und alltäglichem Lebensbereich stellen schließlich auch ethnographische Ansätze einen wesentlichen Orientierungspunkt dar. Im Zentrum steht die ethnologische Anthropologie von Clifford Geertz und die daran anknüpfende Writing-Culture-Bewegung, deren Blick und Methode der New Historicism auf die westlichen Kulturen überträgt: das Verständnis kultureller Ausdrucksformen als Zeichen und „selbstgesponnen[e] Bedeutungsgewebe“13 und deren Analyse mittels einer „dichten Beschreibung“ (thick description), einer nicht-wertenden, minutiösen Beschreibungstechnik. Die besondere Synthese von poststrukturalistischem Textualitätskonzept, Foucault’scher Diskursanalyse und ethnographischen Ansätzen spiegelt sich in einer spezifisch eigenen Analyse- und Darstellungstechnik wider. Stilprägend waren hier vor allem Greenblatts Studien, maßgeblich seine Shakespearean Negotiations. Um den Text wieder mit seiner verloren gegangenen ‚sozialen Energie‘ aufzuladen, setzt Greenblatt an der Wirkung kultureller Produkte an, indem er über das (ahistorische) Staunen (wonder) versucht, die Resonanz (resonance) des Textes zu reaktivieren, d. h. dessen Macht, über die „formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen [er] ursprünglich entstammt.“14 Ausgehend von einer Realität, die nur als texte général ausfindig zu machen ist, richtet er dabei „das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe aus der Kultur bzw. Geschichte“15 und verfolgt mittels einer intertextuellen Variante der ‚dichten Beschreibung‘ einzelne ‚Diskursfäden‘ aus den Texten in andere Texte, kulturelle Zonen und Medien, um so „jeweils ein Stück Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte [...]“16 zu rekonstruieren. Wie werden bspw.

|| 10 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“, 191. 11 Vgl. Jacques Derrida: „Positionen“, 120. 12 Vgl. zum Einfluss Foucaults zusammenfassend vor allem Moritz Baßler: „Einleitung“, 14–17. 13 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, 9. 14 Stephen Greenblatt: „Resonanz und Staunen“, 15. 15 Moritz Baßler: „Einleitung“, 15. 16 Ebd.

386 | Claudia Lauer […] zu einem konkreten Zeitpunkt Krankheit, Seuchen und Tod dargestellt? Wie werden Sexualität, Armut, Macht, Strafsystem und Krieg, Arbeit und Freizeit, Körper, Geschlecht und Identität repräsentiert? Wie stellt sich die Politik dar?17

Greenblatt macht damit nicht nur den Text als ‚Akteur‘ im Kulturprozess, als Knotenpunkt in einem kulturellen Gewebe greifbar, in dem sich zahlreiche Diskursfäden überschneiden. Indem er einen gemeinsamen Diskurs freilegt, der in den verschiedenen Texten, Medien und kulturellen Sphären auf unterschiedliche Weise repräsentiert, fortgeschrieben und mit anderen Diskursen und Praktiken verknüpft wird, rekonstruiert er Schritt für Schritt auch ein „subtiles, schwer fassbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk von Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen.“18 Literarische Texte wie diejenigen Shakespeares werden so neu gelesen als […] Ergebnis ausgedehnter Entlehnungen, kollektiver Tauschprozesse und wechselseitiger Begeisterungen. Sie sind durch die Verschiebung bestimmter Dinge – vor allem der normalen Sprache, aber auch von Metaphern, Zeremonien, Tänzen, Emblemen, Kleidungsstücken, abgegriffenen Geschichten und so weiter – aus einer kulturell abgegrenzten Zone in eine andere entstanden.19

Der New Historicism zielt demnach nicht auf die Interpretation eines Textes in seiner Totalität. Greenblatt interessiert vor allem, was es für einen Diskurs bedeutet, wenn er im Zuge einer solchen Tauschhandlung etwa aus dem Gebiet des kirchlichen Exorzismus, der Rechtsprechung oder der Medizin in das elisabethanische Theater gelangt und umgekehrt. Im Zentrum stehen also die Textränder, die „Fransen“20 des Textes und die Zirkulationen der durch sie hindurchführenden kulturellen Kräfte: die Austauschprozesse, Verhandlungen, Auseinandersetzungen und Verschiebungen zwischen den sich wechselseitig kontextualisierenden diskursiven und non-diskursiven Formen der Repräsentation von Diskursen zu einem spezifischen historischen Moment bzw. einer spezifischen historischen Epoche. Die Analyse der komplizierten Wege, in denen Literatur und Kultur ineinandergreifen, geht mit einer besonderen Darstellungstechnik einher. Um das subtile, oft subversive Ineinandergreifen verfolgen zu können, vernetzt der New Historicism literarische Texte mit zur gleichen Zeit zirkulierenden Texten aus anderen kulturellen Bereichen: mit literarischen wie nicht-literarischen Texten ebenso wie mit Bildern, Denkmälern, Filmen, Gebräuchen oder Ritualen. Damit erweitert der New Historicism die textuelle Quellenbasis um ein Vielfaches. Zugleich werden auch traditionelle Fächergrenzen durchlässig und die einzelnen historischen Situationen auf-

|| 17 Anton Kaes: „New Historicism“, 263. 18 Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, 12. 19 Ebd., 12f. 20 Moritz Baßler: „Einleitung“, 16.

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grund ihrer Vernetzung mit anderen Texturfeldern unendlich komplex. Folglich sieht sich der Interpret bei seinem Versuch, einen verständlichen wissenschaftlichen Text zu erstellen, mit einer unendlichen Materialfülle konfrontiert und rasch an den Grenzen der Praktikabilität. Es fehlt nicht nur […] die Geduld, tausende von Geschichten zu erzählen, jede mit ihren leichten Variationen. Das Problem ist […] [auch] eine Art Hoffnungslosigkeit: auf tausend Geschichten würden weitere tausend folgen, und dann weitere, ohne dass ausgemacht wäre, dass wir dem gesuchten Verständnis näherkommen.21

So kommt der New Historicism zu der Lösung, „von den Tausenden“ nur […] eine Handvoll ins Auge fallender Gestalten in Beschlag [zu nehmen], die viel von dem zu umfassen scheinen, was wir brauchen, und die sowohl ein intensives, individuelles Interesse belohnen als auch den Zugang zu umfassenderen kulturellen Mustern versprechen.22

Im Gegensatz zu ‚traditionellen‛ Interpretationen, die mehrheitlich die Suggestion objektiver Wahrheit unterstützen, ist sich der New Historicism bei der Rekonstruktion textueller Polyphonie explizit bewusst, dass der eigene Text die historische Verknüpfung nicht nur dar-, sondern auch herstellt. Die intensive archivarische Recherche wird deshalb mit einer in der Praxis oft sehr lesbaren Darstellungstechnik kombiniert, die sich betont anekdotisch und subjektiv präsentiert und in der das Nicht-Systematische, Widersprüchliche, Kontingente und Zufällige favorisiert wird: statt Vereinheitlichung Pluralität und Heterogenität, statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt eines festen Bedeutungskerns ein Spiel mit dem Bedeutungsüberschuss symbolischen Sprechens und statt totalisierender Gesamtbetrachtungen und Metanarrationen das Anekdotische, das überraschende Verbindungen innerhalb der verschiedenen Regionen des historisch-kulturellen Gewebes aufzeigt und synekdochisch für bestimmte historische Zusammenhänge steht. Der New Historicism präsentiert damit wie jede wissenschaftliche Darstellung seine Aussagen durch konstruierte Verknüpfungen und Konfrontationen, stellt zugleich aber auch deutlich deren Inszenierung aus. Mit anderen Worten: Er macht die Subjektivität des wissenschaftlichen Zugriffs durch seine anekdotischen oder synekdochischen Montagen offensichtlich und demonstriert dies durch verblüffende Kombinationen als Inszenatorisches. So verfährt der New Historicism letztlich selbst kulturpoetisch, indem er mit der Selektion und dem Arrangement des ‚richtigen‘ Materials ‚Sinn macht‘, und schreibt zudem in neuer Weise Literaturgeschichte: als Poetik der Kultur, „nicht in einer narrativ kohärenten, einsinnigen Erzählweise, sondern polyphon, unsystematisch, unvollständig, ohne Rücksicht auf traditionelle Epochensch-

|| 21 Stephen Greenblatt: „Selbstbildung in der Renaissance“, 42. 22 Ebd.

388 | Claudia Lauer wellen und mit besonderer Betonung der widersprüchlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“23.

2 New Historicism und germanistische Mediävistik Während sich der New Historicism in den USA trotz kritischer Stimmen rasch etabliert und nicht nur zum „dominanten Theorieparadigma einer sich zunehmend kulturwissenschaftlich begründenden Literaturwissenschaft“24 avanciert, sondern mit seiner „portmanteau quality“25 schnell auch für andere Forschungsdisziplinen attraktiv wird, begegnet er bei seiner Einführung in Deutschland einer langen und nahezu ungebrochenen Tradition und Praxis literaturhistorischer Textlektüre und Methoden. Entsprechend schwierig gestaltet sich seine Rezeption in der deutschen Literaturwissenschaft26 und speziell auch in der germanistischen Mediävistik, zu deren „altehrwürdigen Aufgaben“27 seit jeher Text-Kontext-Fragen und die Rekonstruktion zeitlich ferner und kulturell fremder Kontexte gehören. Setzt sich bereits früh die in Berkeley lehrende Altgermanistin Elaine C. Tennant kritisch mit Greenblatt auseinander,28 so zeigt sich auch in Deutschland von Anfang an Skepsis. Im Zentrum stehen dabei zwei grundlegende Vorbehalte. Zum einen wird dem New Historicism das innovative Potential abgesprochen und der Gewinn seiner poststrukturalistischen Theoreme bezweifelt. In ihrer Auseinandersetzung mit dem New Historicism kommt z. B. Ursula Peters, ähnlich wie bereits Hans Robert Jauß mit seinen Bemerkungen vom „alten Wein in neuen Schläuchen“29, zu dem Ergebnis, dass die germanistische Mediävistik nicht zuletzt durch die sog. Kuhn- und Ruh-Schule, aber auch durch Arbeiten etwa von Jan-Dirk Müller und Rüdiger Schnell in dem gesamten Fragekomplex ‚Literatur und Gesellschaft‘ über einen Standard an Methodenreflexion verfüge, „hinter den manche Kontroversen und selbstgewisse Proklamationen [...] im Umkreis des New Historicism wieder zurückzufallen scheinen“30 und der „manche Forderung des New Historicism längst und vor allem methodisch befriedigender“31 einlöse. Zum anderen erscheint mit der Kulturwissenschaft Geertz’scher Prägung das Proprium der Literaturwissenschaft bedroht. Besonders deutlich äu|| 23 Anton Kaes: „New Historicism“, 261f. Vgl. zur neuen Art von Literaturgeschichtsschreibung z. B. Denis Hollier (Hg.): A new history of French literature. 24 Udo J. Hebel: „Der amerikanische New Historicism“, 325. 25 H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism, XI. 26 Vgl. hierzu vor allem Claudius Sittig: „Was ernst an ihm ist, kann sie schon“. 27 Jan-Dirk Müller: „Einleitung“, VII. 28 Elaine C. Tennant: „Old philology“. 29 Hans Robert Jauß: „Alter Wein in neuen Schläuchen?“. 30 Ursula Peters: „Zwischen New Historicism und Gender-Forschung“, 239f. 31 Ebd., 247.

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ßert dies neben Rüdiger Schnell32 Walter Haug in seiner viel beachteten Kontroverse mit Gerhart von Graevenitz.33 Mit der Erweiterung des Textbegriffs und „einer geradezu [...] universale[n] Textwissenschaft“34, so Haug kritisch, blieben Ansätze wie der des New Historicism weitgehend metaphorisch. Zugleich fehle ihnen ein Konzept, die ästhetische Qualität eines literarischen Textes zu erkennen, was folglich auch das überkommene Selbstverständnis der Literaturwissenschaft(en) in Frage stelle. Wie virulent die Vorbehalte sind, das „Gebiet der mittleren deutschen Literatur zum Exerzierfeld modernistischer Literaturmethoden zu machen“35, zeigt sich auch nach der endgültigen Durchsetzung des cultural turn. Schlüsselwörter des New Historicism wie ‚Textualität von Geschichte‘, ‚Kultur als Text‘ oder ‚Zirkulation sozialer Energie‘ werden in ihrer Tragfähigkeit kritisch beleuchtet und ziehen die Forderung einer stärkeren theoretischen Konzeptionalisierung bzw. Differenzierung der Text-Kontext-Problematik nach sich.36 Weiterhin bleibt die Identität des Faches ein prekäres Thema. Und so führt die Kritik am kulturwissenschaftlichen Postulat einer basalen ‚Textualität der Kultur‘ nicht nur zu Versuchen, den New Historicism neu zu konturieren, sondern mündet letztlich auch in einem erneuten Plädoyer für den Eigen- und Mehrwert des Literarischen.37 Von dieser negativen Sicht setzten sich nur wenige Arbeiten ab. Neben dem amerikanischen Altgermanisten C. Stephen Jaeger38 ist in Deutschland vor allem Werner Röcke zu nennen, der den Theorieimport aus der amerikanischen Kulturwissenschaft im Sinne einer Diskursgeschichte begrüßt und einige Vorzüge der Grundannahmen des New Historicism herausstellt. Darüber hinaus erprobt er diese praktisch und entwirft am Beispiel von Mandevilles Reisebericht unter den Stichworten „Poetik des Fragments“ und „Zirkulation und Austausch kultureller Praktiken“ mögliche Perspektiven für die germanistische Mediävistik.39 Röckes früher und || 32 Rüdiger Schnell: „Autor und Werk“, 39–41. 33 Walter Haug: „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft“; Gerhart von Graevenitz: „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung“; Walter Haug: „Erwiderung auf die Erwiderung“. Vgl. ausführlich zur Debatte zuletzt Katrin Fischer: „Die Haug-Graevenitz-Debatte“. 34 Walter Haug: „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft“, 84. 35 Hans-Gert Roloff: „Zur Spannung von ‚Text‘ und ‚Kontext‛“, 219. 36 Vgl. hierzu z. B. Jan-Dirk Müller (Hg.): Text und Kontext und die dort versammelten Aufsätze. Vgl. z. B. zur Problematisierung der ‚Zirkulation sozialer Energie‛ und der Kontingenz der intertextuellen Bezugsstiftung Christian Kiening: „Versuchte Frauen“, v. a. 79, und zum Plädoyer einer stärkeren theoretischen Durchdringung der Text-Kontext-Problematik Beate Kellner: „Spiel mit gelehrtem Wissen“, 220f. u. 221, Anm. 9. 37 Vgl. hierzu beispielhaft Kathrin Stegbauer/Herfried Vögel/Michael Waltenberger (Hgg.): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung; vgl. zum betont kritischen Ansatz des Bandes v. a. die Einführung, 7–28; zu Versuchen der Neukonturierung des New Historicism Rainer Warning: „Shakespeares Komödie als Heterotopie“ und zum Plädoyer für den Eigen- und Mehrwert des Literarischen v. a. Peter Strohschneider: „Kultur und Text“. 38 Vgl. C. Stephen Jaeger: „New Historicism“. 39 Werner Röcke: „Mentalitätsgeschichte“.

390 | Claudia Lauer im Anschluss noch einmal wiederholter Versuch, den New Historicism für das Fach zu würdigen, hinterließ jedoch kaum Spuren. Auch wenn die germanistische Mediävistik seit dem cultural turn wesentliche Positionen und Forderungen des New Historicism implizit umsetzt und dieser als innovatives ‚Label‘ und „wichtiger Beitrag“40 im gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Methodenspektrum in aller Munde ist, beschränkt sich seine explizite Rezeption fast ausschließlich auf Passagen in kritisch abwägenden Forschungsberichten41 und wenige, vor allem jüngere Arbeiten, die mit Hilfe einzelner theoretischer Aspekte des New Historicism neue Zugänge zur mittelalterlichen Literatur suchen.42 Bis heute hat der New Historicism so gesehen in der germanistischen Mediävistik keinen größeren Einfluss gewinnen können: weder in der Theorie noch in der Praxis, noch in seinem heiteren Ernst, mit dem er die grundsätzliche wissenschaftliche Methodenproblematik bis in die Darstellungsebene hinein sichtbar macht. Die folgende Analyse setzt sich zum Ziel, noch einmal die Leistungsfähigkeit des New Historicism zu erproben und dessen Theorie, Praxis und Darstellungstechnik für die Interpretation und das Verständnis mittelalterlicher Literatur fruchtbar zu machen. Exemplarisch gezeigt werden soll dies anhand der Sangspruchdichtung, die sich wie kaum eine andere literarische Gattung des Mittelalters im Netzwerk gesellschaftlicher und literarischer Diskurse des mittelalterlichen Lebens verortet, und am Beispiel eines Sängers, dessen Wirkung bis heute Staunen erregt: der Ende des 13. Jhs. lebende Sangspruchdichter Boppe. Mit seinem altüberlieferten Werk ist er – neben so ‚großen‘ Sängern wie Walther von der Vogelweide und Heinrich von Meißen (Frauenlob), aber auch anderen Sangspruchdichtern wie dem Marner, Reinmar von Zweter oder Friedrich von Sonnenburg – nicht nur der ‚kleinste‘ unter den sog. zwölf Alten Meistern, die die Meistersänger ab dem 14. Jh. als Vorbilder und Begründer ihrer Kunst verehren. Zugleich hat er auch in beeindruckender Weise Erfolg: Er ist bis in das 17. Jh. namentlich wie literarisch fassbar und wird in unterschiedlichen historischen, literarischen und bildlichen Quellen rezipiert.

|| 40 Annegret Heitmann: „Einleitung“, 9. Vgl. z. B. auch die 2001 gegründete Zeitschrift KulturPoetik, die sich ausdrücklich als Forum für eine kulturwissenschaftliche, am New Historicism orientierte interdisziplinäre Forschung versteht. 41 Vgl. z. B. Christian Kiening: „Anthropologische Zugänge“, 43, 73f. u. ö. und Thomas Bein: „Praxis und Theorie“, 34–36. 42 Vgl. hierzu z. B. Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichten, v. a. 39–45, und generell die Arbeiten von Heiko Fiedler-Rauer: Arthurische Verhandlungen; Marion Oswald: Gabe und Gewalt; Anja Becker: Poetik der Wechselrede.

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3 Der ‚starke Boppe‘. New Historicism und mittelalterliche Literatur Swaz hôher vürsten, herren hât des Rînes vluz von Tisentis hin abe biz in den swachen duz, der aller helfe ist dâ nicht saelderîche; swaz ir hât Hollant, Brâbant, Flandern unde Krein, Wettelant, Westerrîch, der Karste und Lorrein, Frîôl, Stîre, Kernt und Ôsterrîche, swaz ir in Franken ist erkant, die vröuwent mich selten mit ir gâben; sam tuont die helde in Beierlant, die bî der Etsche und ouch die stolzen Swâben, Düringen, Sachsen, Mîzener; der Wettrobe, Hesse und ouch der Westevâle, der Bêhein und der Pôlân, der windschen herren gâbe ich selten mâle: sus bin ich von ir aller helfe leider gar verdrungen. * daz klage ich dem hôchgelopten vürsten wert, der êre gert, von Baden und ouch von Berne, dem alten und dem jungen. (I,20) Wie viele mächtige Fürsten und Herren der Rheinstrom hat / von Disentis hinab bis zu dem schwachen Rauschen, deren aller Hilfe macht da nicht glücklich; / wie viele von ihnen Holland, Brabant, Flandern und Krain, / Wettelant, Westerrîch, der Karst und Lothringen, / Friaul, Steiermark, Kärnten und Österreich hat, / wie viele von ihnen in Franken bekannt sind, / die beglücken mich nie mit ihren Gaben; / das tun ebenso wenig die Helden in Bayern, / die an der Etsch und auch die stolzen Schwaben, / Thüringer, Sachsen, Meißner; / der Wetterauer, der Hessen und auch der Westfalen, / der Böhmen und der Polen, der / slawischen Herren Gabe verzeichne ich nie: / So bin ich leider von ihrer aller Hilfe ausgeschlossen. / Das klage ich dem hochgelobten, vornehmen Fürsten, / der begierig nach Ansehen ist, / von Baden und auch von Verona, dem alten und dem jungen.43

Mit der Preisstrophe auf die Markgrafen von Baden44 wird Ende des 13. Jhs. ein Sangspruchdichter im südwestdeutschen Raum fassbar, dessen Werk die Große Heidelberger Liederhandschrift mit einem signifikanten Autorbild versieht (vgl. die Abb. am Ende des Beitrags): Vor den Augen von drei bewundernden Zuschauern macht der in leicht gebeugter Haltung stehende riesenhafte Mann das Unmögliche möglich und biegt in einem gigantischen Kraftakt mit bloßen Händen ein Hufeisen auseinander. Der ‚starke Boppe‘ – mit diesem Namen erscheint der Sänger ab dem

|| 43 Text und Übers. hier und im Folgenden nach Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe. 44 Vgl. u. a. Georg Tolle: Der Spruchdichter Boppe, 22; Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik, 150; Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter, 254.

392 | Claudia Lauer 14. Jh. in Konrads von Megenberg ‚Buch der Natur‘45, im ‚Ackermann von Böhmen‘46, in der späteren Meisterlied-Überlieferung und schließlich auch in den jüngeren Meister-Katalogen des 15., 16. und 17. Jhs.47 Wer ist dieser heute weitgehend unbekannte Sänger, der mit seinen in knapp zwanzig Handschriften überlieferten Sprüchen so erfolgreich überregional und lange wirkte?48 Und vor allem: Warum trägt er den Beinamen ‚der Starke‘? Die Frage nach der Identität Boppes und seiner ‚Stärke‘ ist nicht neu, zielt sie mit den Aspekten Autor, Werk und Wirkung doch auf den Kern eines kleinen „profilierten“49 Sangspruchdichter-Œuvres, das in der mediävistischen Forschung immer wieder vereinzelt Beachtung gefunden hat. Ausgehend von einem außerliterarisch bezeugten ‚starken Boppe‘ hat die Forschung sich bereits früh der Frage gewidmet, ob es sich dabei um den Sänger handle oder das Attribut erst später auf ihn übertragen wurde – eine Kontroverse, die bis heute nachwirkt. So sprechen sich z. B. Wilhelm Grimm, Wilhelm Wackernagel, Anton Schönbach und Karl Bartsch für eine Identität, Friedrich Heinrich von der Hagen, Moriz Haupt, Georg Tolle, Gisela Kornrumpf und Burghart Wachinger50 jedoch dagegen aus, da Boppes Sprüche, wie zuletzt auch Heidrun Alex betont, „keinen Hinweis“51 darauf geben. So nachvollziehbar die einzelnen Argumente sind, so deutlich offenbart sich deren Zirkularität im Rahmen traditioneller Text-Kontext-Dichotomien und vertikaler Hierarchien wie literarischem Werk und historischer Hintergrundquelle. Bis heute ist es der mediävistischen Forschung weder gelungen, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Sänger-Identität zu geben, noch die erstaunliche Wirkung des Sangspruchdichters zu erklären. Im Folgenden soll deshalb der Fall des ‚starken Boppe‘, mit dem Probleme der Autoridentifikation, Textinterpretation und -rezeption gleichsam schlaglichtartig gemeinsam in den Blick gerückt werden, noch einmal aufgegriffen und Antworten mit Hilfe der Theorie und Praxis des New Historicism gesucht werden – lässt sich damit doch nicht nur das Verhältnis von Text und Kontext, sondern v. a. auch die Frage der Identität des Sängers und dessen Erfolg neu beleuchten. Wenden wir uns zunächst erneut den beiden ‚außerliterarischen‛ Zeugnissen zu, die bislang als geschichtliche Hintergrundquellen für das literarische Werk und als historische Referenzpunkte für die Identität des Sängers dienten. || 45 Konrad von Megenberg: Buch der Natur, 197, 8–13. 46 Johannes de Tepla, civis Zacensis: Epistola cum Libello ackerman, XXX, 11. 47 Vgl. zu einem Überblick der Belege vor allem Gisela Kornrumpf: Art. ‚Boppe‛, 954. 48 Vgl. zur Überlieferung ebd., 954 und Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe, 5–13. 49 Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe, 1. 50 Vgl. Wilhelm Grimm: Die deutsche Heldensage, 402; Wilhelm Wackernagel: Ritter- und Dichterleben Basels, 299f.; Anton E. Schönbach: Studien, 91–94; Karl Bartsch: Deutsche Liederdichter, LVII ; Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.): Minnesinger, Teil 4, 693; Moriz Haupt: „Der starke Boppe“, 239; Georg Tolle: Der Spruchdichter Boppe, 9–22; Gisela Kornrumpf: Art. ‚Boppe‘, 954; Burghart Wachinger: Sängerkrieg, 116 Anm. 1. 51 Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe, 3.

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Basel und Umgebung 1270. In Rufach gab es am achten Tag nach dem Fest des Heiligen Petrus und Paulus reife Weintrauben. In Uffheim haben Wasserfluten eine Mühle zerstört und am Dreifaltigkeitsfest eine Frau mit ihrem Sohn in den Tod gerissen. In Thann wurde ein Küken mit vier Füßen aus dem Ei einer Henne gebrütet. Durch Basel spazierte ein gewisser Mann namens Stöcklein, der sagte, er sei Konradin, Sohn König Konrads, den Karl, Bruder des Königs von Frankreich, zusammen mit drei Adligen enthaupten ließ. Und in Basel ist ein Mann von mittelmäßiger Statur namens Boppe erschienen, von dem man sagte, er habe die Kraft von zehn oder zwanzig oder noch mehr Männern gehabt [...].52

Die Annales Basileenses des Colmarer Dominikanerchronisten gehören zu den bedeutendsten historiographisch-chronistischen Werken des 13. Jhs.53 Mit ihren lokal begrenzten und episodischen Aufzeichnungen, die sich auf mittelbare Informationsquellen stützen, geben sie einen lebendigen Einblick in die Vorkommnisse, die die Erlebniswelt und das Wirklichkeitsverständnis der Menschen Ende des Jhs. in und um Basel geprägt haben. Dabei präsentieren sie nicht nur Wetter- und Klimaverhältnisse, Erntezeiten und -güter sowie Wein- und Getreidepreise. Im Sinne einer Alltagsgeschichte halten sie auch betont Nicht-Alltägliches und Außergewöhnliches fest. Und so findet neben Ereignissen wie Kaiserkrönungen, Brandkatastrophen, Belagerungen, Tötungsdelikten, Diebstählen, Naturkatastrophen und Krankheiten im Jahr 1270 auch ein Mann namens Boppe Eingang in die Chronik, der trotz mittelmäßiger Statur die Kraft von zehn oder zwanzig oder noch mehr Männern gehabt haben soll. Auch wenn über seine Identität nur spekuliert werden kann, so offenbaren die Annales Basileenses mit ihrem bunten Nebeneinander von selbst Erlebtem oder gerüchteweise nur Gehörtem doch zweierlei: Mit dem Namen ‚Boppe‘ ist übermenschliche körperliche Kraft verbunden. Und: Diese erregt Aufsehen. Sie versetzt die Menschen in Staunen und ist so außergewöhnlich, dass sie als denkwürdiges Alltagsereignis festgehalten wird. Betrachten wir den zweiten ‚außerliterarischen‘ Beleg. Bekannt für seine zahlreichen Predigtreisen, die ihn u. a. auch durch Süddeutschland und die Schweiz führen, und seine z. T. heftige Kritik an der Gruppe der fahrenden Unterhaltungskünstler kommt der berühmte Franziskanermönch und Wanderprediger Berthold von Regensburg im Rahmen seiner sermones speciales auf die Gruppe der Kraftmenschen zu sprechen: Diejenigen, die eine zehn- oder zwanzigfach größere menschliche Kraft als andere hätten und mit ihrer Stärke gegen Löwen, Bären und Riesen || 52 Vgl. Annales Basileenses, 194: Botri maturi in octava Petri et Paul in Rubiaca. Inundatio molendinam in Uffhen destruxit; mulier cum puero submersa festo Trinitatis. In Than fotus fuit pulliculus, qua-tuor pedes habens, ex ovo galline. Per Basileam transivit quidam Stochilinus nomine, qui dicebat se es-se Conradinum, filium regis Conradi, quem Carolus frater regis Francie cum tribus nobilibus fecit de-collari. In Basilea fuit quidam Boppo nomine, vir mediocris stature, qui dicebatur 10 vel 20 vel etiam multorum amplius vires hominum habuisse [...]. 53 Vgl. zum Colmarer Dominikanerchronisten und seinen Werken vor allem Kurt Köster: „Die Geschichtsschreibung“; Erich Kleinschmidt: „Die Colmarer Dominikaner-Geschichtsschreibung“; ders.: Art. ‚Colmarer Dominikanerchronist‘.

394 | Claudia Lauer kämpften, brächten kaum Gutes zustande, lüden sich größte Sünde auf, seien Esel und geradezu dürr und dünn in Hinblick auf den Dienst Gottes. Wie Boppe seien sie beschaffen, der über die doppelte menschliche Kraft verfügte und nicht einen Tag, nicht einmal am Karfreitag, fasten konnte.54 Auch hier, so zeigt sich, steht der Name ‚Boppe‘ mit herausragender Körperkraft in Verbindung, die – so in einer Parallelüberlieferung55 – nicht nur doppelt, sondern sogar dreimal so groß wie die eines normalen Menschen eingeschätzt wird. Und auch hier erregt diese Kraft Aufsehen, bleibt im Gedächtnis und besitzt sagenhaften, ja gleichsam legendären Charakter. Darüber hinaus offenbart das Zeugnis allerdings noch etwas anderes. Aus der christlich-theologischen Sicht Bertholds ist dieser Ruhm stark zweifelhaft: Die herausragende menschliche Körperkraft geht mit Unmäßigkeit, geistigem Unverstand und sündhaftem Verhalten einher. Dies – so lässt sich der Vergleich mit den Kraftmenschen weiterdenken – verbietet letztlich auch jedwede Be- und Entlohnung der unterhaltsamen Darbietung. Mit anderen Worten: Kraftmenschen wie Boppe, die als Teil des fahrenden Volkes ihre Stärke zur Schau stellen, werden als verstandeslose Esel und Sünder von der Kirche verdammt und müssen demnach nicht nur um ihr Seelenheil, sondern immer auch um die Freigebigkeit und die Wertschätzung des Publikums bangen. Der erneute Blick auf die beiden zeitgenössischen Quellen zeigt zunächst ganz schlicht, dass der Name ‚Boppe‘ Mitte bzw. Ende des 13. Jhs. und vor allem im Südwesten des Reiches mit außergewöhnlicher menschlicher Körperkraft in Zusammenhang steht. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, welches Sinnpotential damit verbunden ist. In beiden Fällen Aufsehen erregend und als denkwürdiges Ereignis oder sagenhaftes Vorbild erinnerungswürdig, verschiebt sich seine Bedeutung gerade im christlich-theologischen Diskurs vom erstaunlichen Kuriosum verstärkt in das moralisch Verwerfliche und Sündhafte. In welcher Verbindung steht hierzu nun der Sangspruchdichter Boppe mit seinen Sprüchen? Anstatt wie bisher vorrangig aufgrund des Namens über eine vermeintliche Identität zu spekulieren, soll im Folgenden mit Hilfe des New Historicism der Blick genauer auf den altüberlieferten Bestand des Werkes gelenkt werden: Welche Sänger-Identität, so lässt sich fragen, präsentiert sich in den Sprüchen Boppes? Spielt hier Kraft ebenfalls eine Rolle und wenn ja, welche?

|| 54 Vgl. hierzu die Handschrift (Mikrofilm) Leipzig, UB, Ms. 496, Bl. 57r; Abdruck der Stelle auch bei Anton E. Schönbach: Studien, 91: sunt ut Poppones qui videlicet duplicem habuit virorum fortitudinem et unum diem vel etiam parasceve jejunare non potuit. Vgl. insg. zu den sermones speciales Georg Jakob: Die lateinischen Reden, 15f., 38–41 u. 98–106. 55 Vgl. den Abdruck der Stelle bei Anton E. Schönbach: Studien, 93: sunt ut Poppones, qui, ut mihi dixit, habuit fortitudinem trium virorum, et unum diem, vel etiam parasceven, jejunare non potuit.

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Das Corpus Boppes, wie es die ältesten Handschriften überliefern,56 vereint das gesamte Repertoire eines fahrenden Sangspruchdichters, der mit seiner volkssprachigen Kunst den öffentlichen und höfischen Diskurs ze hove unde an der strâzen aufnimmt und den Anspruch erhebt, seinem Publikum zu nützen und es zu erfreuen. Dabei präsentiert sich der Sänger im Rahmen seiner Gottes- und Marienpreisstrophen, Tugend- und Lasterlehren, politischen Strophen, Auseinandersetzungen mit anderen Sängern, aber auch Minnestrophen und Rätsel nicht nur immer wieder in unterschiedlichen Sprecher- bzw. Sänger-Rollen.57 Er erweist sich auch betont als Meister, der literarische und gelehrte Bildung mit der herkömmlichen geistlichen, moralischen und politischen Weisheit eines Sangspruchdichters vereint, und mit diesem Titel letztlich zudem Eingang in die Jenaer Liederhandschrift findet.58 Als besonderes Kennzeichen hat die Forschung früh die Gelehrsamkeit des Sängers betont59 und vor allem auf seine „mysteriöse[n]“60 Exempel und ausgefallenen Rätsel verwiesen, die aufgrund ihrer Erratizität z. T. bis heute ungelöst geblieben sind.61 Ein spezifisches Markenzeichen stellt darüber hinaus seine „ausgesprochene Vorliebe für anaphorische Reihungen, Namenskataloge u. ä.“62 dar. So finden sich katalogartige Reihungen von mariologischen Topoi oder anaphorisch gebündelte Aufzählungen ritterlicher Tugenden und Pflichten, aber auch priamelartige Verzeichnisse für die mannigfaltigen Vorzüge eines Herrschers oder nicht zuletzt, wie in dem Preis auf die Badener Markgrafen, katalogartige Namenshäufungen. Eine befriedigende Erklärung für beide Phänomene ist von der Forschung bislang nicht gegeben worden. Hier lohnt ein erneuter Blick. Es lässt sich nämlich nicht nur Boppes änigmatisch-gelehrtes Sprechen (in der Fortführung der Ergebnisse von Tobias Bulang zum Geltungspotenzial chiffrierten Sprechens in der Sangspruchdichtung)63 als nachdrückliche und unterhaltsame Präsentation der sängerischen Geistes- und Verstandesstärke lesen. Auch die zahlreichen Aufzählungen bringen eine besondere Kraft zum Ausdruck. Die anaphorischen Reihungen und Kataloge, die zur amplificatio innerhalb der ars rhetorica zu zählen sind, erweitern – so bereits Johannes Spi-

|| 56 Vgl. zu dieser für die Sangspruchdichtung und speziell auch für Boppe üblichen Trennung in ‚altüberlieferten Bestand‛ und die späteren Meisterliedhandschriften Gisela Kornrumpf: Art. ‚Boppe‘, 954 und Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe, 5f. 57 Vgl. allgemein zu den Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung Claudia Lauer: Ästhetik der Identität. 58 Vgl. Jenaer Liederhandschrift J, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101, 111v–113v, 111v. 59 Vgl. hierzu z. B. bereits Georg Tolle: Der Spruchdichter Boppe, 27, und Helmut de Boor: Die Deutsche Literatur, 454. 60 Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauch, 45. 61 Vgl. zur Form des Rätsels u. a. Volker Schupp: „Rätsel“, und speziell zu Boppes Rätsel v. a. Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel, 291–295. 62 Gisela Kornrumpf: Art. ‚Boppe‘, 956. 63 Vgl. Tobias Bulang: „wie ich die gotes tougen der werlte gar betiute“.

396 | Claudia Lauer cker – einerseits die entsprechende Argumentation und Aussageabsicht und entfalten andererseits eine besondere Ästhetik, die der Intensivierung des Ausdrucks dient.64 Und damit wird, so ließe sich Spickers Anregung fortführen, ebenfalls auf spezifisch literarästhetische Weise Kraft und Stärke demonstriert. Im Werk Boppes spannt sich dabei der Bogen von umfassenden schlagkräftigen Argumentationsketten in der geistlichen und weltlichen Lehre über hyperbolische Steigerungen in panegyrischen geistlichen wie politischen Strophen bis hin zu aggressiven Strophen im engeren künstlerischen Bereich, die z. T. wie in III,2 mit Kraftausdrücken, ausgefallenen Wörtern, Lautmalereien und starken Bildern außergewöhnliche Ausdrucksstärke besitzen und als „Schimpfkanonade“ bei „minimalem Gedankengehalt“65 einem ästhetisch codierten Wutausbruch gleichkommen. Welch große Kraft die amplifikatorischen Reihungen und Überbietungstopoi darüber hinaus entfalten können, zeigt ein Blick auf die folgende Strophe: Ich weiz wol, wenne mîn armuot ein ende haben sol: swenne der herzoge Meinhart vermiltet Kernt und Tirol und der giege ûz Ôsterlant umb êre gît die guoten stat ze Wiene und herzoge Heinrich von Beierlant nicht mê milte enpfliget und der künic Ruodolf dem soldân an gesiget und der Swarzwalt wirt verbrant und daz mer gevüllet ist mit griene und Würzeburc nicht wînes hât und elliu wazzer werdent vische laere und zucker wirt eins juden quât und altes wîbes minne hoverecht wirdet vröudebaere und der bischof von Strâzburc, Kuonrât, blîbet âne nît und der edel vürste von Baden daz alte Gebzenstein durch vorchte ûfgît. (IV,1) Ich weiß genau, wann meine Armut ein Ende haben wird: / wenn der Herzog Meinhard Kärnten und Tirol als Almosen verteilt / und der Narr aus Österreich / für das Lob [der Fahrenden] die vortreffliche Stadt Wien [an sie] verschenkt / und Herzog Heinrich von Bayern nicht mehr freigebig ist / und König Rudolf über den Sultan siegt / und der Schwarzwald verbrannt wird / und das Meer mit Sand gefüllt ist, / und Würzburg keinen Wein mehr hat / und alle Gewässer ohne Fische sind / und der Kot eines Juden zu Zucker wird / und die bucklige Liebe eines alten Weibes Freude beschert / und der Bischof Konrad von Straßburg seine Feindseligkeiten lässt / und der hohe Fürst von Baden aus Angst das alte Gebsenstein aufgibt.

Prägnant mit dem Personalpronomen ‚Ich‘ einsetzend, stellt die Strophe, die auf Grund der historischen Bezüge auf den Zeitraum zwischen 1283 und 1290 zu datie-

|| 64 Vgl. Johannes Spicker: „Geographische Kataloge“. 65 Burghart Wachinger: Sängerkrieg, 157.

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ren ist,66 eine Aufzählung unrealistischer Bedingungen dar, die erfüllt sein müssen, damit die Armut des Sängers beendet wird. Kennzeichnend für die Strophe ist nicht nur ihr herausragender geographischer Katalog. Prägend ist vor allem auch der Einsatz des rhetorischen Stilmittels des Adynatons, „eines der traditionsreichsten Signale für einen verzerrten Wirklichkeitsbezug“67, das im „Verbund mit den inhaltlichen, rhythmischen und klanglichen Parametern“68 eine besondere Wirkkraft entfaltet. So gelingt es dem Sänger in einer eigentümlichen Mischung aus pathetischkomisierendem Ton, die eingangs anzitierte Armuts- und Fahrendenklage in eine außergewöhnliche und gezielte Herrenschelte umzuwandeln und sich umgekehrt mit zahlreichen Anspielungen als ein Sänger zu profilieren, der sich im Südwesten des Reiches bestens auskennt. Zugleich offenbart sich noch eine weitere ‚Gewalttat‘: Mit dem Topos der ‚verkehrten Welt‘ und der paradoxen Periphrasenreihung, die die Kernaussage ‚niemals‘ durch das Zurschaustellen einer Unmöglichkeit inszeniert und die schwierige Existenz als Sänger konkretisiert,69 verbiegt der Sänger in einem außergewöhnlichen Kraftakt die Wirklichkeit und macht umgekehrt das Unmögliche möglich: In der Fiktionalität der Strophe erscheint eine Welt, deren Ordnung und Logik allein den Regeln des Sängers gehorcht und die so – das zeigt ein Blick auf die in J überlieferte Variante – „bei unterschiedlichen Anlässen“ immer wieder „nach lokalen Gegebenheiten neu aktualisiert“70 modelliert werden kann. Änigmatisch-gelehrtes und amplifikatorisches Sprechen – das Markenzeichen eines meisterlichen Sängers, der vor Verstand und Ausdruckskraft strotzt, der aber auch spezifische ‚Schwächen‘ aufweist. So endet der Sänger in einem Minnespruch, der priamelartig einen Katalog von Minnesklaven mit hervorragenden männlichen Eigenschaften gibt, mit der Aussage, dass er selbst all diesen Eigenschaften die Zuneigung der Geliebten vorziehen würde (I,18). Die aufgeführte Reihung der biblischen, historischen und literarischen Exempelfiguren präsentiert dabei in der Fiktionalität der Strophe (haet ich, waere ich) einen Sänger, der sich zunächst durch eine Akkumulation positiver körperlicher, geistiger und moralischer Eigenschaften gleichsam über die Maßen bzw. übermenschlich präsentiert. Indem der Spruch jedoch in der Negation all dieser Charakteristika und Fähigkeiten mündet, verneint der Sänger dies letztlich und offenbart so umgekehrt seine große Schwäche: All dies ist wertlos gegenüber der Zuneigung der Geliebten. Und so liest sich der Abschlussvers wiederum auch als letzte große rhetorische Steigerung: Er enthüllt die exorbitante Liebesstärke des Sängers, die diesen am Ende zum besten aller Minnesklaven macht.

|| 66 Vgl. zur Datierung Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik, 151. 67 Sonja Kerth: „Twerher sanc“, 85. 68 Johannes Spicker: „Geographische Kataloge“. 69 Vgl. hierzu ebd., v. a. 90. 70 Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter, 425f. Anm. 38.

398 | Claudia Lauer Eine ähnliche Dynamik zeigt ein letztes Beispiel: Ob al der werlte gar gewaltic waere ein man und ob sîn sin durchsünne, daz nie sin durchsan, und ob er wunder waere über elliu wunder; ob in gelücke trüege unz an der himel steln und ob er künde prüeven, wizzen unde zeln des meres griez, die sternen gar besunder; ob sîn kraft eine tûsent risen manlîch möchte ervellen unde twingen; ob hôhe berge und velse risen durch sîn gebot und ob er möchte bringen, swaz wazzer, luft, viur, erde weben, swaz wont von grunde unz an den trôn der sunnen; ob im ze rechter ê gegeben nâch wunsche waere ein wîp in êren wunnen, kiusche unde reine, wol gezogen, der schoen ein übergulde und ob er mit ir solte gar leben tûsent jâr – waz waere ez danne, und ob er nicht erwürbe gotes hulde! (I,1) Wenn ein Mann über die ganze Welt herrschte / und sein Verstand durchdringen würde, was nie ein Verstand durchdrang, / und wenn er das Wunder aller Wunder wäre; / wenn ihn das Glück bis zu Gottes Thron trüge / und wenn er alle Sandkörner des Meeres und alle Sterne einzeln / wahrnehmen, erfassen, zählen könnte; / wenn seine Kraft allein tausend Riesen / mutig zu Fall bringen und bezwingen könnte; / wenn hohe Berge und Felsen / auf seinen Befehl hin herabstürzten und wenn er hervorbringen könnte, / was Wasser Luft und Erde schaffen, / alles, was zwischen der Erde und dem Thron der Sonne existiert; / wenn ihm zu rechtmäßiger Ehe / eine vollkommene Frau zu höchstem Ansehen anvertraut wäre, / sittsam und ohne Tadel, mit Erziehung, schön über alles Maß, / und wenn er mit ihr volle / tausend Jahr leben sollte – / was nützte das alles, würde er nicht Gottes Huld erlangen.

Die prominente Eingangsstrophe des Boppʼschen Werkes in der Großen Heidelberger Liederhandschrift stellt einen außergewöhnlichen Gottespreis dar. Ähnlich wie im Minnespruch baut der Sänger zunächst in der Fiktionalität bzw. Irrealität der Bedingung (ob) mittels einer gewaltigen priamelartigen Aufzählung vor allem unrealistischer Verstandes- und Körperkräfte das Bild eines gleichsam übermenschlich begabten Mannes auf, das schließlich crescendoartig im letzten Vers kulminiert: waz waere ez danne, und ob er nicht erwürbe gotes hulde! Mit Hilfe eines erneut fulminant und groß angelegten Negationsmechanismus macht er also deutlich, dass jede noch so große menschliche Verstandes- und Körperkraft grundlegend dem obersten Herrn untersteht. Sie wird von Gott zugewiesen und steht in seinem Dienst. Nicht die Minne, sondern Gott lässt hier jede Form von Stärke und Kraft ohne seine Gnade als sinn- und nutzlos erscheinen. Und dies bedeutet auch: Im Bewusstsein dieser Erkenntnis erscheint der Sänger selbst nicht als wilder und verstandesloser Berserker, sondern als starker Diener und kraftvolles Werkzeug Gottes. Damit offen-

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bart sich hier ein Kippeffekt, der in seinem inhaltlichen Umfang und in seiner Gravität den des Minnespruchs grundlegend übersteigt: Wahre Größe und Stärke liegen in der irdischen Schwäche des Menschen, d. h. ob Macht, Verstand, Körperkraft, Ruhm, Glück oder Liebe – all dies ist wertlos gegenüber dem Besitz der Gnade Gottes. Insgesamt lässt sich also festhalten: Das Werk des Sangspruchdichters Boppe offenbart einen Sänger, für den ‚Kraft‘ und ‚Stärke‘ immer wieder eine besondere Rolle spielen. Dabei kommt es gegenüber dem Kraft-Diskurs in den historiographischen und christlich-theologischen Texten zu charakteristischen Austauschprozessen der verschiedenen Praktiken und Bedeutungen: Einerseits verschiebt sich die Kraft des Körperlichen und sie wird innerhalb des Literarischen vor allem als herausragende geistige und verbale Ausdruckskraft greifbar. Andererseits wird hervorragende physische Kraft wiederholt thematisch und vom Sänger im Verbund mit anderen Formen menschlicher Stärke immer wieder als ‚nichtig‘ ausgewiesen: Der Sänger inszeniert die Außergewöhnlichkeit menschlicher Größe und Stärke in irrealer Hyperbolik, um so letztlich jeweils wahre bzw. eigentliche Größe und Stärke zu demonstrieren. Im Rahmen der sängerischen Verhandlungen von ‚Kraft‘ und ‚Stärke‘ präsentiert sich so also nicht nur betont ein „Schwelger“ und „Großsprecher“, wie es das Wort poppe auch in anderen Zusammenhängen zum Ausdruck bringt,71 sondern es zeigt sich damit auch eine signifikante Wandlung von der ‚Meisterschaft des Armes‘ zur ‚Meisterschaft des Wortes‘. Darüber hinaus wird ebenfalls deutlich, wie spezifisch die Sänger auf regionale Bedingungen reagieren können. Denn: Als Berufssänger gehören die Sangspruchdichter zur großen Gruppe der Fahrenden, die mit ihrem vielseitigen Repertoire an Unterhaltung und Erbauung den Alltag des Publikums bereichern und guot umbe êre nemen, d. h. ihre Kunst im Austausch für materielle Entlohnung und ideelle Anerkennung feil bieten. In diesem Zusammenhang müssen sie sich, um mit ihrer Kunst Gehör zu finden, Geltung zu erlangen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht nur von Anfang an gegen die Konkurrenz anderer Fahrender durchsetzen, sondern auch gegen die harsche Kritik der Kirche wehren. Das Beispiel des ‚starken Boppe‘ zeigt dabei prägnant, wie der Sänger im existenziellen Kampf um Lebensunterhalt und Anerkennung das attraktive Aufmerksamkeits- und Wirkpotenzial der ‚Stärke‘ literarästhetisch aufgreift und gleichzeitig dem damit verbundenen Gefahrenpotenzial entgegenwirkt: Mittels Gelehrsamkeit, Bildung und Wissen präsentiert er sich als ästhetisch versierter, gebildeter und christlich-moralisch integrer Sänger und beugt so dem Vorwurf eines verstandeslosen und sündhaften Kraftmenschen vor.

|| 71 Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, 285: poppe swm = schwelger, grosssprecher; vgl. auch Alfred Götze: Frühneuhochdeutsches Glossar, Teil 3, 38: poppe m. = Großsprecher; poppen v. = durch Großsprecherei übertreiben, Boppe v. (rotw.) = lügen. Vgl. z. B. zu Neidhart Edmund Wießner (Hg.): Vollständiges Wörterbuch, 211.

400 | Claudia Lauer Kommen wir bei dem Versuch, die Identität und das Werk Boppes wieder mit seiner ursprünglichen ‚sozialen Energie‘ aufzuladen und den zeitgenössischen Resonanzraum auszuloten, am Schluss noch einmal zurück auf das Autorbild undcorpus in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, die als ältestes literarisches Zeugnis Boppes Anfang des 14. Jhs. vermutlich in oder um Zürich entstand und als „erster Beleg für eine [...] Verbindung“72 zwischen dem Kraftmenschen Boppe und dem Sänger gilt. Die Strophen der Handschrift, die mit insgesamt 40 Sprüchen in acht Tönen das größte Corpus Boppes beinhaltet,73 geben nämlich nicht nur generell einen Einblick in die historische Konstruktion einer attraktiven Sänger-Identität im interaktiven Prozess zwischen Literatur und Kultur. Gerade hier, in der redaktionellen Zusammenstellung und Profilierung, entschlüsselt sich letztlich auch das besondere Erfolgsgeheimnis des Sängers. Während bereits Hella Frühmorgen-Voss unterstrichen hat, dass die Auftraggeber und Illustratoren der Handschrift um die Lebensumstände der Autoren recht gut Bescheid wussten,74 hat speziell für Boppe vor allem Tobias Bulang deutlich gemacht, dass das Autorbild als „Vergegenwärtigung einer historischen Sängerperson unterbestimmt“75 sei und vielmehr als „Vergegenwärtigung eines Redaktionsprinzips“76 gelesen werden müsse. Im Zentrum, so Bulang, stehe die ikonographische Umsetzung der alttestamentlichen Figur des Simson, die vor allem mit entsprechenden namentlichen Anspielungen und den unterhaltsamen Rätselstrophen im Werk Boppes in Verbindung stehe.77 Die Analyse des Stärke- bzw. Kraft-Diskurses, der zwischen den sich wechselseitig kontextualisierenden kulturellen Sphären und Formen der Repräsentation zirkuliert, erlaubt es, die beiden Forschungsergebnisse weiter zu spezifizieren und zu verbinden. Denn es zeigt sich: Einerseits scheint im Bild des Sängers, der vor Zuschauern mit bloßen Händen ein Hufeisen auseinanderbiegt, eine Begebenheit auf, die – so enthüllen es die Annales Basileenses und die Predigten Bertholds – Anbindungen an regionalhistorische Lebensumstände besitzt. Und andererseits sind es nicht allein Boppes Rätsel, die im Zusammenhang mit

|| 72 Heidrun Alex: Der Spruchdichter Boppe, 2f. 73 Vgl. grundlegend zur Großen Heidelberger Liederhandschrift Gisela Kornrumpf: Art. ‚Die Heidelberger Liederhandschrift C‘ und Elmar Mittler u. a. (Hgg.): Codex Manesse. Im Autor-Corpus C finden sich zahlreiche Strophen, die sich ebenfalls unter Namen anderer Sänger finden. Damit wird nach Gisela Kornrumpf: Art. ‚Boppe‘, 956, die Authentizität der übrigen Strophen fraglich und erscheint z. B. auch Burghart Wachinger: Sängerkrieg, 157f. alles, was in C unter Boppe überliefert ist, in seiner Echtheit fragwürdig. Für die Redaktion der Sänger- bzw. Autor-Identität spielt die Frage der Echtheit jedoch nur eine sekundäre Rolle. 74 Hella Frühmorgen-Voss: „Bildtypen“, 77f. 75 Tobias Bulang: „wie ich die gotes tougen der werlte gar betiute“, 60. 76 Ebd. 77 Vgl. ebd., 60f. Vgl. zur Simson-Ikonographie bereits Gisela Siebert-Hotz: Das Bild des Minnesängers, 305; Joachim Bumke: Ministerialität und Ritterdichtung, 29 und 87 Anm. 142; Codex Manesse, Bd. II, 119.

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der bildlichen Darstellung Simsons stehen. Mit den Komponenten Verstandes- und Ausdruckskraft, Wutausbrüche, eine Schwäche für Frauen und dem Ausweis der Stärke als Werkzeug Gottes schimmert im meisterlichen Sänger-Profil vielmehr in Gänze das Bild des starken biblischen Helden durch. Mit anderen Worten: Es spiegelt sich in spezifisch literarästhetischer Weise geradezu das gesamte Leben Simsons, den Gott mit großer körperlicher Kraft segnet, der den Philistern fast unlösbare Rätsel aufgibt, der sich durch einen Mangel an Selbstbeherrschung sowie eine Schwäche für Frauen auszeichnet und seinen Status als Diener Gottes bereits im Namen trägt.78 Mit Hilfe der Theorie und Praxis des New Historicism erschließen sich demnach nicht nur die komplizierten Wege, in denen Literatur und Kultur ineinandergreifen. Am Ende entschlüsselt sich auch Boppes gesamte (Erfolgs-)Stärke: Sichtbar wird eine außergewöhnlich geltungsgesättigte Sänger-Identität, in der sich zeitgenössisches regionales wie meisterliches Identitäts-, Geltungs- und Unterhaltungspotenzial in faszinierender Weise überblenden und die damit auch noch Jhe. später über die engen Grenzen des oberdeutschen Raumes hinweg attraktive Strahlkraft besitzt.

|| 78 Vgl. zur Geschichte Simsons ‚Das Buch der Richter‘, 13–16.

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Abb.: Codex Manesse, UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848, fol. 418r.

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Ulrich Barton/Rebekka Nöcker

Performativität 1 Ein heterogenes Begriffsfeld Das kulturwissenschaftliche Konzept der ‚Performativität‘ umfasst die Ausführungs-, Vollzugs- und Aufführungsdimension sozialen Handelns und kultureller Praktiken. Es gehört zu den jüngeren theoretischen Perspektiven auf Kultur und bezeichnet sowohl eine methodisch-theoretische Sichtweise als auch ein qualitatives Merkmal eines Objekts oder Prozesses sowie einen pragmatischen Umgang damit.1 Zusammen mit ‚performance‘ und ‚Performanz‘ sind die Termini ‚Performativität‘ wie ‚das Performative‘ in ein Begriffsfeld eingebettet, das je nach disziplinärer Herkunft aus der Sprachphilosophie, Ethnologie, Kunst- und Theaterwissenschaft, Kulturanthropologie oder Soziologie heterogene, teils gegensätzliche Positionen beschreibt. Entsprechend uneinheitlich ist der Begriffsgebrauch2 und „eine übergreifende definitorische Bestimmung beinahe unmöglich“3. Weil das ursprünglich sprachphilosophische Konzept des Performativen in verschiedenen Theoriefeldern eine „nachgerade ubiquitäre[ ] Ausweitung“4 erfahren hat, die sich nicht auf einen gemeinsamen Knotenpunkt im Wurzelwerk der theoretischen und begrifflichen Verästelungen zurückführen lässt, wird in der Forschung die „fundamental ‚rhizomatische Struktur‘ des Konzepts“5 diskutiert sowie von „unterschiedlichen Theoriekernen“6 gesprochen. Auch das Spektrum der betrachteten Gegenstände und Vorgänge fächert sich breit auf: von der Ausführung gesellschaftlicher und religiöser Rituale über Theateraufführungen und Kunstdarbietungen, über Sprachhandeln (Sprechakte) und den mündlichen Vortrag bis zur materialen Inszenierung sprachlich basierter Texte sowie der Darstellungskultur im Internet.7 Den Neologismus performative prägte der Sprachphilosoph John L. Austin (1911–1960) in einer 1955 an der Harvard-Universität gehaltenen, 1962 postum unter

|| 1 Vgl. Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 221; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 53. 2 Vgl. Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“. 3 Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 217. 4 Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“, 39. 5 Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 38. 6 Erika Fischer-Lichte: Performativität, 37. 7 Weil sich im Rahmen einer Einführung nicht alle Auffassungen gleichermaßen berücksichtigen lassen, wird das Verfahren der schlaglichtartigen Auswahl und Beschreibung der ‚Hauptvertreter‘ gewählt. Dabei folgt die Strukturierung in Teilen den Darstellungen von Hans Rudolf Velten: „Performativität“; ders.: „Performativitätsforschung“; Erika Fischer-Lichte: Performativität und Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“.

408 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker dem Titel How to do things with words veröffentlichten Vorlesungsreihe.8 Austin leitete das englische Adjektiv ‚performative‘ von dem englischen Verb to perform ‚vollziehen, ausführen, aufführen‘ ab,9 um mit ihm das grundlegende Merkmal des Sprechverhaltens zu bezeichnen, dass bereits sprachliche Äußerungen selbst eine sozial-kommunikative Handlung darstellen und im Vollzug des Sprechakts soziale Wirklichkeit herstellen; diese Äußerungen nannte er performative Äußerungen (performative utterances). Hingegen ist der nominalisierte terminus technicus, das Substantiv ‚Performativität‘, seit den späten siebziger Jahren des 20. Jhs. in der Sprachphilosophie und Linguistik sowie in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen als Schlüsselbegriff für den Vollzugscharakter kommunikativer Handlungen und den Inszenierungscharakter sozialer Praktiken gebräuchlich. Ein zweiter, häufig synonym zu ‚Performativität‘ verwendeter Begriff ist ‚Performanz‘.10 Er bezeichnet ein seit den sechziger Jahren des 20. Jhs. von der Kunsttheorie wie der Linguistik beeinflusstes ästhetisches Konzept, das die Ausdrucksebene von Handlungen betont: Die Kunsttheorie zielt auf situations- und handlungsbezogene künstlerisch-experimentelle Darbietungen und theatrale Aufführungsakte insb. der avantgardistischen Performance- und Aktionskunst.11 Die Sprachtheorie unterscheidet im Anschluss an Noam Chomsky (*1928), der Ferdinand de Saussures (1857–1913) linguistische Komplementärkonzepte langue und parole weiterführte, die ‚Performanz‘ (engl. performance) als den konkret-aktualen Gebrauch sprachlicher Äußerungen von der ‚Kompetenz‘ (engl. competence), dem allgemeinen Regelund Kenntnissystem, das die konkreten Sprachäußerungen determiniert.12 Der Differenzierung von ‚Performativität‘ und ‚Performanz‘ liegt ein dominierendes, von der Theaterwissenschaft entwickeltes Verständnis zugrunde.13 Demzufolge fokussiert Performativität stärker den Vollzugscharakter sozialer Handlungen, insb. sprachlicher Äußerungen, während Performanz den Aufführungscharakter von Handlungen unterstreicht. Um begrifflichen, teils entlehnungsbedingten Unschär-

|| 8 Dt. Übers. der zwölf Vorlesungen: John L. Austin: Zur Theorie. 9 Zu lat. performare ‚völlig bilden‘, zu lat. forma ‚Form, Gestalt, Figur, Ausdruck(sweise)‘. Zu Austins Bezeichnung vgl. ders.: Zur Theorie, 29f. 10 Ebenfalls zu lat. performare, vgl. Anm. 9. Zu den Problemen eines synonymischen Gebrauchs s. Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 14f. 11 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 22–30, 34f. 12 Vgl. Noam Chomsky: Aspekte der Syntax-Theorie, 14. Zu Chomskys Unterscheidung s. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 37–54. 13 Eine weitere Unterscheidungsrichtung, und zwar zwischen linguistischer (Performanz) und sprachphilosophischer (performative Äußerung) Kategorie, führt Klaus W. Hempfer aus (vgl. ders.: „Performance, Performanz, Performativität“, 14–24). – Wichtige Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Begriffe in den verschiedenen Disziplinen diskutiert im Überblick Eckhard Schuhmacher: „Performativität und Performance“. Vgl. auch Andreas Hetzel: Art. ‚Performanz, Performativität‘, Sp. 839f.

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fen in der deutschsprachigen Diskussion14 zu begegnen, findet daneben der aus der angloamerikanischen Ethnologie, Theater- und Sozialwissenschaft stammende originäre Terminus performance Verwendung. Er bezeichnet den „Prozess der Verkörperung bzw. Ausführung und Wahrnehmung körperlicher Handlungen“15. In der jüngeren Zeit tritt in der amerikanischen performance-Theorie die Auffassung von ‚Ausführung‘ im Sinne von ‚Leistung‘ hinzu: Für den Organisations-, Technologieund Systemdiskurs des 20. und 21. Jhs. wird die These formuliert, dass performance die dominierende, global übergreifende Ordnungsstruktur sei, die als „power and knowledge“ an die Stelle der ‚Disziplin‘ des 18. und 19. Jhs. trete.16 Damit ist „die Frage nach der Ethik des Performativen“ aufgeworfen.17 Der Blick weitet sich ferner auf die Performanz von Wissen18 und hier bspw. sogar auf den „performative[n] Untergrund naturwissenschaftlicher Objektivität“19. Da die Grenzen fließend sind, betrachtet die Theoriebildung Performanz und performance vielfach als einen Aspekt von Performativität, deren theoretisch-methodische Konzeptualisierung bislang stärker ausdifferenziert ist.20 Wenngleich die theoretischen Kategorien durch zwei in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. geprägte Begriffe erfasst werden, sind sie keineswegs neu. Dies trifft ebenso auf die Reflexionen moderner Wissenschaftsdisziplinen zu, etwa der Ethnologie und Theaterwissenschaft,21 wie auf „einen Grundzug des Redeverständnisses der klassischen Rhetorik“22. Gleichwohl ist die seit den achtziger Jahren des 20. Jhs. existierende Performativitätsforschung ihrerseits noch weitgehend in den Anfängen begriffen.23 || 14 S. dazu Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 220f.; ders.: „Performativitätsforschung“, 549, Anm. 1. 15 Ders.: „Performativitätsforschung“, 549, Anm. 1. Eckhard Schuhmacher: „Performativität und Performance“, 384, Anm. 8, lehnt den Terminus ‚Performanz‘ zugunsten von ‚performance‘ ab, weil jener „in der deutschsprachigen Diskussion häufig verwendet wird, um beide Seiten abzudecken“. Auch Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 239, Anm. 12, empfiehlt, den Terminus ‚Performanz‘ „zur Bezeichnung von Aufführungen kultureller und ästhetischer Praktiken“ zu vermeiden, da sein Gebrauch vor dem Hintergrund der Übernahme aus der angloamerikanischen Diskussion, anders als performance, „zu undifferenziert“ sei. 16 Diese Position vertritt Jon McKenzie: Perform or else, 18 (Zit. ebd.). Vgl. dazu Erika FischerLichte: Performativität, 52. 17 Dies diskutiert Erika Fischer-Lichte: Performativität, 52 (Zit. ebd.). 18 Vgl. etwa den Sammelbd. Therese Fuhrer/Almut-Barbara Renger (Hgg.): Performanz von Wissen. 19 Matthias Kroß: „Performativität in den Naturwissenschaften“, 254. 20 Vgl. Andreas Hetzel: Art. ‚Performanz, Performativität‘, Sp. 840; Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 549, Anm. 1. 21 Zu performativen Ansätzen in der Ritualforschung um 1900 sowie bei der Gründung der Theaterwissenschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität, 15–21, 45. 22 Andreas Hetzel: Art. ‚Performanz, Performativität‘, Sp. 840. Ein Überblick über die Rolle der Performativität in der Rhetorik findet sich ebd., Sp. 840f., Sp. 852–860. 23 Zur Forschung s. Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“. Einen instruktiven Überblick über die theoretischen Ansätze bietet James Loxley: Performativity. – Wegweisend für die deutsch-

410 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker Ob die performative Sichtweise auf Kultur einen Paradigmenwechsel eingeleitet hat, wird unterschiedlich bewertet.24 Einigkeit besteht über die metaphorische Vorstellung fort von der ‚Kultur als Text‘ – der Auffassung, dass kulturelle Phänomene und Systeme durch ein strukturelles Gefüge bedeutungsvermittelnder Zeichen erzeugt werden25 – hin zur ‚Kultur als Aufführung‘ – einer Metapher, die neben monumentalen und artefaktorischen Werken auch die Praktiken umfasst, durch die eine Gesellschaft ihrem Selbstverständnis Ausdruck gibt und soziale Wirklichkeit allererst hervorbringt.26 Infolge des Betrachtungswandels vom Textcharakter zum Aufführungscharakter von Kultur zeigt sich der performative turn – scheinbar – als Gegenbewegung zum semiotischen Paradigma. Handeln und Vorgänge werden nicht mehr ausschließlich im Zusammenhang mit Zeichensystemen und deren Entzifferbarkeit, sondern auch als sozial wirksame Prozesse begriffen. Zeichen erscheinen nun nicht nur als Repräsentanten, sondern selbst als etwas Präsentes, und sie werden weniger von ihrer ideellen als vielmehr von ihrer materiellen Seite betrachtet.27 Dies wiederum verweist auf die Korporalität performativer Dynamiken von Erzeugen und Wahrnehmen, „welche die Körperlichkeit von Menschen, Dingen und Zeichen im Spektrum eines Materialitätskontinuums gleichermaßen umfasst.“28 Bereits damit ist angedeutet, dass Text und Performanz gerade „keine strikten Dichotomien der Kulturwissenschaften“29 sind und die Aufführungsdimension die Text- bzw. Zeichendimension keinesfalls ersetzt. Vielmehr stehen bei einem „performativ erweiterte[n] Textverständnis“30 die Wirklichkeit und Wirksamkeit von Zeichen, d. h. ihre Wahrnehmbarkeit, im Zentrum. Mit dem Präsenz- und dem Wahrnehmungsaspekt ist der des Ereignisses eng verbunden: Die Performanzsituation gestaltet sich als gemeinsame, mitunter in eins fallende Wirklichkeit von Ereignis und Wahrnehmung, Darstellung und Rezeption. Der zugrunde liegende Wirklichkeitsbegriff verweist auf die Präsenz im Hier und Jetzt, auf die Rezipientenperspektive sowie auf die Aspekte der Wahrnehmung, Konstitution und Transformation von Wirklichkeit.31 Der so verstandene „Vollzug eines Ereignisses und seiner Wahrnehmung, das auf ein (symbo-

|| sprachige Forschung ist v. a. der Berliner Sonderforschungsbereich (SFB) 447 Kulturen des Performativen (Laufzeit 1999–2010). Vgl. exemplarisch Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung; dies.: Ästhetik des Performativen; dies.: Performativität sowie ferner die Sammelbde.: dies./Doris Kolesch (Hgg.): Kulturen des Performativen; Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hgg.): Theorien des Performativen; dies./ders. (Hgg.): Praktiken des Performativen; Klaus W. Hempfer/Jörg Volbers (Hgg.): Theorien des Performativen. 24 S. dazu Doris Bachmann-Medick: Cultural turns, 105f. 25 Zu dieser Metapher vgl. ebd., 70–79. 26 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität, 31f. 27 Vgl. Sybille Krämer: „‚Performativität‘ und ‚Medialität‘“, 19f. 28 Ebd., 21. 29 Doris Bachmann-Medick: Cultural turns, 126. 30 Ebd., 106. 31 Vgl. Sybille Krämer: „‚Performativität‘ und ‚Medialität‘“, 21.

Performativität | 411

lisches) Ausdrucksgeschehen gerade nicht reduzierbar ist“, impliziert die ästhetische Dimension des Performativen.32

1.1 Sprachphilosophischer Ansatz John L. Austin, der Begründer der Sprechakttheorie, widerlegt die Auffassung des logischen Positivismus, dass Sprachäußerungen nur dann sinnvoll seien, wenn sie Wahrheitsbedingungen unterlägen.33 Entsprechend unterscheidet Austin zunächst zwischen sogenannten konstativen und performativen Äußerungen.34 Während jene Zustände feststellen und wahr oder falsch sein können, schaffen diese Zustände, indem sie mit dem Vollzug einer Handlung einhergehen, dessen Teil sie sind und den sie zugleich sprachlich beschreiben. Weil aber jeder konstativen Äußerung als Feststellung eine performative Dimension eigne und umgekehrt bei performativen Akten der Wahrheitswert durchaus bedeutsam sei (z. B. Gerichtsurteil, Zeugenaussage), verwirft Austin das Unterscheidungskriterium der logisch-semantischen Güte. Stattdessen behält er nicht nur den Terminus performative nun ausschließlich Äußerungen vor, deren illokutiver Gehalt vermittels eines entsprechenden Verbs explizit bezeichnet wird (Performativa)35, sondern differenziert auch drei Aspekte der Sprechakte selbst aus, die bei jedem Sprechen in je unterschiedlicher Dimension zum Tragen kommen (Lokution, Illokution, Perlokution).36 Auf dieser Basis entwickelt John R. Searle (*1932) eine allgemeine Theorie der Sprechakte.37 Er schließt – wie in Ansätzen bereits Austin – die Perlokutionen aus, verlagert den Fokus auf den Zusammenhang von der Satzbedeutung (propositionalem Gehalt) und dem Potenzial eines Satzes, als illokutionärer Akt verwendbar zu sein (illokutionäre Funktion)38, und beschreibt konstitutive Regeln für den Gebrauch || 32 Vgl. ebd., 14 (Zit. ebd.), 21. 33 Vgl. Ekkehard König: „‚Performativ‘ und ‚Performanz‘“, 60. Zu Austins Theorie vgl. im Überblick Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 135–153; Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 45–47; Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 19–21. 34 Vgl. besonders die zweite und die elfte Vorlesung, in: John L. Austin: Zur Theorie, 35–45, 153– 165 (wieder in: Uwe Wirth: Performanz, 63–71, 72–82). 35 Vollzugsformeln, die sich explizit performativer Äußerungen bedienen, sind etwa: ‚ich taufe‘, ‚ich grüße‘, ‚ich verfluche‘, ‚ich verhafte‘ oder das ‚hiermit erkläre ich euch‘ bei der Eheschließung. 36 Die ‚Lokution‘ umfasst die sprachliche Äußerung auf der Ebene der Lexik und Grammatik. Die ‚Illokution‘ bezeichnet Sprechakte, die als Akt der Äußerung eine Handlung vollziehen (neben den Performativa etwa Äußerungen mit einem Verpflichtungsanspruch: Versprechen, Einladung, Behauptung, Gelöbnis, Frage, Bitte, Rat). Die ‚Perlokution‘ ist ein Sprechakt, der eine affizierende Wirkung evoziert (z. B. Überzeugung, Anregung, Betroffenheit, Beleidigung, Verärgerung, Trost, Ermutigung). Vgl. John L. Austin: Zur Theorie, 110–125. 37 John R. Searle: Sprechakte; ders.: Ausdruck. Vgl. im Überblick Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 55–73. 38 Vgl. John R. Searle: „Was ist ein Spechakt?“, 89; ders.: Sprechakte, 49.

412 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker eines solchen Akts.39 Im Blick auf die Beziehung zwischen Sprache und Welt klassifiziert er fünf Typen der Sprechaktverwendung,40 deren illokutive Vollzugskraft41 sich wie folgt beschreiben lässt: Wir erzählen anderen, wie die Dinge liegen [Assertiva], veranlassen sie zum Gestalten der Welt [Direktiva], gehen Verpflichtungen für künftige Handlungen ein [Kommissiva], geben Einstellungen zu verschiedenen Situationen kund [Expressiva] und verändern die Welt durch bloßes Hervorbringen von Äußerungen [Deklarativa].42

Institutionelle Rahmenbedingungen können die Legitimität der mit dem Sprechakt beanspruchten Geltung festlegen. Demgegenüber vertritt Jacques Derrida (1930–2004) eine dekonstruktivistische Position.43 Er setzt sich kritisch mit der Sprechakttheorie auseinander, welche die Iterierbarkeit und Zitierbarkeit eines jeden Zeichens verkenne, und begreift die nicht-semiologische „Spur“44 der in der Wiederholung je anders aktualisierten Zeichen als Schrift: Indem sich jedes Zeichen bei der Iteration auf ein anderes Zeichen beziehe, eigne ihm das wesentliche Merkmal der Schrift (als geschriebener Sprache), die ihrerseits als Zeichen von Zeichen gilt, insofern sie lautsprachliche Repräsentationen in graphische Symbole transkribiert. Derrida verallgemeinert die vier grundlegenden Eigenschaften der graphembasierten Schrift45 nicht nur für alle sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichenordnungen, sondern auch für jede Erfahrung „außerhalb jeglichen Horizonts semiolinguistischer Kommunikation“46. Insb. sieht Derrida die graphemischen Attribute bei Sprechakten gegeben.47 In Ab-

|| 39 Vgl. ders.: „Was ist ein Spechakt?“, 94–103; ders.: Sprechakte, 88–99. Vgl. dazu Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 62–66. 40 Vgl. John R. Searle: „Eine Taxonomie“. Die fünf Sprechakt- bzw. Handlungstypen sind: Assertiva (z. B. mitteilen, feststellen, behaupten), Direktiva (z. B. bitten, befehlen, auffordern), Kommissiva (z. B. versprechen, garantieren, drohen, anbieten), Expressiva (z. B. gratulieren, kondolieren, sich entschuldigen), Deklarativa (entspricht den performativa bei Austin; z. B. zurücktreten, taufen, vertagen, ernennen). Vgl. zusammenfassend Ekkehard König: „‚Performativ‘ und ‚Performanz‘“, 62. 41 Zu Searles Unterscheidung von performance (‚Ausführung, Vollzug‘) und performatives s. ders.: „How performatives work“. Vgl. dazu Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 14f. 42 Ekkehard König: „‚Performativ‘ und ‚Performanz‘“, 63 (Ergänzungen in Klammern: U.B./R.N.). Vgl. auch Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 66f. 43 Vgl. im Überblick Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 217–240. 44 Jacques Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, 22. 45 Vgl. ebd., 23–28. Zur Systematisierung der vier Attribute (Abwesenheit, Iterierbarkeit und Alterierbarkeit, Kontextwechsel, Verräumlichung) s. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 225–228. 46 Jacques Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, 32. Zur ‚Erfahrung‘ vgl. ebd., 28. 47 Vgl. ebd., 36–41; dazu Sylvia Sasse: „Performativität“, 248–250. Zur Kritik an dieser für Derridas Theoriebildung fundamentalen Annahme s. Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 27–29, 33 (in Auseinandersetzung mit Searle).

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grenzung von Austin, der zitathafte Äußerungen als „unernst oder nichtig“ oder gar „parasitär“ ausschließt,48 argumentiert er, dass performative Äußerungen „als einem iterierbaren Muster konform“49 identifizierbar und also durch ihren Zitatcharakter gekennzeichnet seien. Es ist die Kulturphilosophin Judith Butler (*1956), die Derridas zeichentheoretische Kategorien der Wiederholbarkeit und Zitathaftigkeit einem (sprachlichen) Performativitätskonzept zuführt. Die vier Dimensionen von Performativität – eine ritualistisch-konventionalistische, eine zeitliche, eine theatrale und eine transformatorische – entwickelt sie im Zusammenhang mit ihrer Genderdiskussion (s. u.), überträgt Derridas Zeichendefinition aber auch auf ein diskursbasiertes Sprachhandeln, das Wirklichkeit einerseits bestätigt und andererseits außer Kraft setzt.50 Die performative Wirkung von Sprachhandlungen beruht auf ihrer Ritualität, dem Anschluss an außersprachliche rituell produzierte Konventionen, und auf ihrer Zitatförmigkeit: Der Sprechakt ist in eine Kette seiner vorausgehenden und vorausweisenden, als Zitate verstandenen Wiederholungen eingebunden, in der er sich sedimentiert. Das Attribut der Zeit- und Geschichtlichkeit eröffnet nicht nur die Perspektive auf den Aufführungscharakter der Wiederholung, die ihrerseits als Inszenierung des Wiederholten erscheint und dazu veranlasst, Analogien mit dem theatralen Schauspiel zu bilden. Vielmehr bietet es die Möglichkeit, Sprechakte in ihrer Bedeutung zu transformieren. Insb. kann (im Rahmen autoritäter Machtstrukturen) im Fall von politisch und juridisch folgenreichen Äußerungen (excitable speech) eine Zuweisung uminterpretiert und umfunktionalisiert werden (so der abwertende Gebrauch von queer in eine affirmative Äußerung des Selbstverständnisses).51 Voraussetzung ist die Annahme von der konstitutiven Funktion der Sprache, das Subjekt vermittels Benennung und Bezeichnung zu einem Mitglied der Sprachgemeinschaft, aber auch, es durch sprachliche Gewalt verletzbar zu machen. Dies bringt die Theoriebildung auf den von Louis Althusser geprägten Begriff der Anrufung (interpellation)52.

|| 48 Vgl. John L. Austin: Zur Theorie, 43f. (Zitate ebd.). Zu diesem in der Performativitätsforschung zentral diskutierten Problem s. Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“, 18–23; Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, 96–101; Sylvia Sasse: „Performativität“, 249; James Loxley: Performativity, 73–75; Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 25; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 39f. 49 Jacques Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, 40. 50 Judith Butler: Haß spricht. Vgl. zum Folgenden Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 241–260; Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 48–51; Andreas Hetzel: Art. ‚Performanz, Performativität‘, Sp. 847f. 51 Über die Queer Studies informiert der Beitrag von Andreas Kraß i. vorl. Bd. 52 Vgl. Louis Althusser: „Ideologie“, 142f.

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1.2 Sozial-, kultur- und theaterwissenschaftliche Ansätze Vor und neben dem sprachphilosophischen Ansatz entwickelt sich ein sozial-, kultur- und theaterwissenschaftlicher Gebrauch des performativen Konzepts. Er geht zurück auf den Ethnologen Milton Singer (1912–1994), der 1959 am Beispiel südasiatischer indigener Gesellschaften aufzeigt, dass sich textlose Gesellschaften durch den Vollzug kultureller oder ritueller Praktiken (theatraler und musikalischer Aufführungen, Umzüge, Feste, Spiele, Tänze) ihrer kulturellen Identität versichern.53 Singer führt mit dem Begriff der ‚cultural performance‘, deren Merkmale „eine begrenzte zeitliche Dauer, ein[ ] Anfang und ein Ende, ein[ ] organisierte[r] Handlungsablauf, eine Gruppe von Aufführenden, ein Publikum, ein[ ] Anlass sowie ein[ ] Ort der Vorführung“54 seien, die anthropologische Vorstellung des Rituals und die theaterwissenschaftliche Vorstellung der Aufführung zusammen.55 Die Parallelen eben jener beiden Vorstellungen – in Prozessualität, Organisationsweise und dramatischem Fortgang – untersucht der Kulturanthropologe Victor Turner (1920–1983). Auf Basis der Ritualtheorie Arnold van Genneps (1873–1957) entwickelt Turner 1957 in einer Studie über die südafrikanischen Ndembu das Konzept der vier Phasen des social drama zur Beschreibung von rituellen Abläufen sozialer Konflikte: Bruch zwischen Gruppen oder Personen (Verletzung der sozialen Norm), Krise (Gefährdung der sozialen Ordnung), Bewältigung (Maßnahmen zur Konfliktlösung, u. a. durch das Ritual), Reintegration oder Spaltung. Insofern die dritte, liminale Phase im labilen Übergang zwischen zwei sozio-kulturellen Statusund Identitätsbereichen (betwixt and between) ein hohes Maß an Kommunikation und (Selbst-)Darstellung mittels Aufführungen erfordert, begreift Turner sie als performance.56 Während Turner in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jhs. theaterwissenschaftliche Komponenten in die Ritualforschung einbringt, darunter das Drama als analytische Kategorie, und sogar Rituale im Rahmen experimenteller Workshops von Studierenden theatralisch nachspielen lässt,57 geht der Theateranthropologe und Regisseur Richard Schechner (*1934) den umgekehrten Weg. Er wendet die || 53 Milton Singer (Hg.): Traditional India. Dazu Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 217f.; ders.: „Performativitätsforschung“, 558f. 54 Ders.: „Performativität“, 218. Im Original Milton Singer (Hg.): Traditional India, xiii: „[A] definitely limited time span, a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“. 55 Zum Performativitätsverständnis in der Ritualtheorie der Sozialwissenschaften s. Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 54–56. 56 Vgl. Victor Turner: Schism; ders.: Das Ritual. Dazu Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 305–307; dies.: Performativität, 46–49; Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 218f.; ders.: „Performativitätsforschung“, 559; Doris Bachmann-Medick: Cultural turns, 118–120. Allgemein zu Turners Werk s. Tobias Benzing: Ritual und Sakrament; Peter J. Bräunlein: Zur Aktualität. 57 Vgl. Victor Turner: „Dramatisches Ritual“.

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Vier-Phasen-Theorie auf das Theater an, um die Integration theatraler Praktiken in soziale und anthropologische Gegebenheiten zu untersuchen, und beobachtet die Rekodierung des Verhaltens als Hauptmerkmal der sozialen wie ästhetischen Aufführung.58 In gemeinsamen, in den siebziger Jahren durchgeführten Projekten zum Verhältnis zwischen sozialem und ästhetischem Drama kommen die beiden Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass sich der Begriff ‚performance‘ gleichermaßen zur Bezeichnung ritueller Handlungen wie theatraler Inszenierungen (Rituale, Spiele, Vorträge, Theateraufführungen, Wettkämpfe, Tänze) eigne. Damit legen sie die terminologische wie konzeptionelle Grundlage für die Methodenbildung im interdisziplinären Forschungsfeld der Performance Studies.59 Möglich wird nun vor allem der kulturwissenschaftliche Anschluss des Begriffs der ‚performance‘ an den von Austin geprägten Begriff des ‚Performativen‘, der auf die Erweiterung des Vollzugs nichtsprachlicher Handlungen potenziell angelegt war.60 Eine theoretische Basis hat seit 1988 Judith Butler im Rahmen der Gender Studies geschaffen, indem sie – unter (teils impliziter) Bezugnahme u. a. auf Austin, Turner, Derrida und Jacques Lacan61 – mit der Kategorie der ‚Performativität‘ die kulturelle Konstitution des sozialen (gender) wie des biologischen (sex) Geschlechts annimmt.62 Als performativen Akt begreift Butler nicht nur sprachliche Kommunikation (das vielzitierte Beispiel ist die prä- oder postnatale Anrufung: ,Es ist ein Mädchen!‘), sondern auch weitere, außersprachliche körperliche Handlungen, deren „stilisierte Wiederholung“63 regulierende Normen inszeniert: „Die ‚performative‘ Dimension der Konstruktion ist genau die erzwungene unentwegte Wiederholung der Normen“64, und Zwang erscheint „als die eigentliche Bedingung für Performativität“65. Butler versteht Performativität diskurstheoretisch „als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“66. In Letzterem besteht die Analogie zu der von Austin entwickelten Auffassung des Performativen. Butlers Verständnis zufolge sind performative Akte ‚dramatisch‘,67 insofern die Wiederholung von Praktiken, etwa Gesten, Bewegungen,

|| 58 Vgl. Richard Schechner: Between theater; ders.: Performance theory. Dazu Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 219; ders.: „Performativitätsforschung“, 559; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 49–51. 59 Vgl. Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 219; ders.: „Performativitätsforschung“, 559. 60 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 34, 41. Kritisch dazu Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 49, Anm. 8. 61 Vgl. dazu Klaus W. Hempfer: „Performance, Performanz, Performativität“, 34–36. 62 Vgl. Judith Butler: „Performative Akte“; dies.: Das Unbehagen der Geschlechter; dies.: Körper von Gewicht; dies.: Die Macht der Geschlechternormen. Vgl. zum Folgenden Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 36–41; Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 48–50. 63 Judith Butler: „Performative Akte“, 302. 64 Dies.: Körper von Gewicht, 139. Vgl. auch ebd., 21. 65 Ebd., 139. 66 Ebd., 22. 67 Vgl. dies.: „Performative Akte“, 304f.

416 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker sowie von Sprachhandlungen körperliche und soziale Identität hervorbringt,68 und sie sind ‚nichtreferenziell‘, insofern sie nicht eine vorkulturell existente Identität ausdrücken (essenzialistische Position), sondern Geschlecht – wie auch jede andere soziale, ethnische, kulturelle Kategorie – als eine instabile, unfeste, flüchtige Identität erst prozesshaft erzeugen (konstruktivistische Position). Somit ist die performative Herstellung von geschlechtsspezifischer und sexueller Identität die Verkörperung (embodiment) bestimmter historisch-kultureller Möglichkeiten und der Körper das Ergebnis wiederholter performativer Interaktion.

‚Selbstreferentialität‘ und ‚Konstitution von (sozialer wie ästhetischer) Wirklichkeit‘ sind nicht nur für die Theorie sozialer Identitätskonstruktion leitend, sondern bilden auch die wesenhaften Merkmale des performativen Kunstwerks aus Sicht der Theaterwissenschaft.69 ‚Performativität‘ avanciert zu einem genuinen „Kernbegriff“70 schlechthin, der eng mit dem Aufführungsbegriff verknüpft ist. Der Germanist Max Herrmann (1865–1942) trug maßgeblich zur Gründung der deutschen Theaterwissenschaft bei, indem er mit Blick auf das mittelalterliche und frühneuzeitliche Theater nicht den Theatertext als das Wesentliche begriff, sondern die Aufführung als ein Spiel, an dem Darsteller und Zuschauer, die Körper- und Raumdimension gleichermaßen miterlebend, gemeinsam beteiligt seien.71 Daran anknüpfend legt Erika Fischer-Lichte die theoretische Grundlage für eine Ästhetik des Performativen.72 Nicht der Dramentext und seine (im Realisationsakt auf der Bühne hergestellte) Bedeutung rücken ins Zentrum, sondern die kontingenten und flüchtigen Komponenten der (zeitlich, räumlich, körperlich und lautlich situierten, im prozessualen Akt des Aufführens entstehenden und vergehenden) Aufführung selbst: – die physische Ko-Präsenz von Darsteller und Zuschauer als gleichermaßen beteiligten Akteuren, welche die medialen Bedingungen einer Aufführung bestimmen und in Rückkopplungsschleifen des gegenseitigen Austauschs agieren; – die Materialität der Aufführung (Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit/Stimmlichkeit); – die Wahrnehmung ihrer Gegenwärtig- und Flüchtigkeit; – die Hervorbringung einer nicht vorgegebenen Bedeutung im Verlauf des Aufführens; – die Ereignishaftigkeit, insofern sich Aufführung in einem „autopoietischen Prozess“73 selbst erzeugt und mit dem Produkt- oder Werkbegriff nur inadäquat beschreiben lässt.

|| 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 26f. 70 Ekkehard König: „Bausteine einer allgemeinen Theorie“, 51. 71 Zu Max Herrmann vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität, 19–21. 72 Vgl. zum Folgenden dies.: Ästhetische Erfahrung; dies.: Ästhetik des Performativen; dies.: Performativität. 73 Dies.: Performativität, 67.

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Entsprechend werden als Eigenschaften des Performativen „Unvorhersehbarkeit, Ambivalenzen, die spezifische Art der Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion sowie die transformative Kraft“74 genannt. Insofern die Simultaneitätsverhältnisse von Produktion und Rezeption jenseits der textbasierten Bedeutungszuweisung im Sinne eines performativen Überschusses die zentralen Betrachtungskategorien sind, wird der Theaterbegriff auf kulturelle Praktiken und Alltagshandeln ausgeweitet und werden ‚Aufführungen‘ definiert als „körperlich vollzogene Handlungen im Raum […], die von mindestens einem anderen wahrgenommen werden“75. Die performative Sichtweise der Theaterwissenschaft berührt sich mit der kultursoziologischen Perspektive auf die postindustrielle Moderne,76 die eine sich seit den ausgehenden 1960er Jahren zunehmend ausprägende performative Gesellschaft annimmt. Zu Beginn des 20. Jhs. hat der russische Theatertheoretiker Nikolai Evreinov (1879–1953) für die kulturerzeugende Wirkung des alltäglichen Lebens den Begriff ‚Theatralität‘ eingeführt – eine Auffassung, die nicht über Russland hinaus rezipiert wurde. 1959 lenkt die Gesellschaftstheorie des Soziologen Erving Goffman (1922–1982) erneut die Aufmerksamkeit auf die Theatralität der Alltagskultur.77 Nicht nur das Alltagsleben basiert auf Formen der Selbstdarstellung, Körperinszenierung und Ritualausführung. Auch institutionalisierte Felder wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Kirche, Militär, Sport oder Kultur zeigen vermittels spezifischer Inszenierungspraktiken die Bereitschaft zur Eventisierung. Signifikant für beide Bereiche der Darstellungskultur sind die Medieninszenierungen und hier entscheidend die durch das Internet und seine sozialen Netzwerke unterstützte visuelle Öffentlichkeit.78 Nur vereinzelt gibt es bislang Versuche aus soziologischer Perspektive, in Performativität insofern einen „spezifische[n] Aspekt der sozialen Praxis“79 zu sehen, als die Bildung sozialer Ordnung „irreduzibel an konkrete Vollzüge gebunden ist“80.

1.3 Literaturwissenschaftlicher Ansatz In der Literaturwissenschaft hat die kritische Auseinandersetzung mit Austins als provokant begriffener These, Literatur und Theater zeigten keine Wirkungsweise im Sinne performativer Äußerungen (s. o.), zu der Frage geführt, inwieweit literarische

|| 74 Ebd., 71f. 75 Ebd., 54. 76 Vgl. dazu Gabriele Klein/Wolfgang Sting: „Performance“. 77 Vgl. die theatersoziologischen Ausführungen bei Erving Goffmann: Interaktionsrituale. Dazu Erika Fischer-Lichte: Performativität, 27f. 78 Vgl. dazu z. B. Josef Bairlein u. a. (Hgg.): Netzkulturen. 79 Jörg Volbers: „Zur Performativität des Sozialen“, 157. 80 Ebd., 150.

418 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker Texte – ähnlich Texten, die analog Sprechakten funktional und institutionell eingebunden sind (bspw. juristisch wirksame Gesetzestexte, Ernennungsurkunden, Unabhängigkeitserklärungen) – die Wirklichkeit, auf die sie verweisen, hervorbringen.81 Dabei bleibt die strukturalistische und poststrukturalistische Literaturtheorie zunächst auf die Ebene sprachlicher Prozesse und der Sprachverwendung bezogen. Der auf der Frage nach dem Sprechaktstatus von Literatur basierenden Position, dass die fiktionale Sprachverwendung an illokutionärer Funktion einbüße, weil der Rezipient den unvollständigen literarischen Sprachakt imaginativ ergänzen muss, steht die Auffassung gegenüber, in der ästhetischen Rede ersetze die performative die konstative oder repräsentative Sprachfunktion: Roland Barthes (1915–1980) setzt in seinem Aufsatz Der Tod des Autors (1967) Performativität mit Selbstreferenzialität gleich. Im Akt des Schreibens, den er als ein Performativ (im Sinne Austins) auffasst, habe „die Äußerung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äußerungsgehalt) […] als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt“82; das Schreiben sei ohne Ursprung, vollziehe sich im Hier und Jetzt und produziere den Text als ein „Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“83 – eine Auffassung, die Derrida zum Programm erheben sollte. Im Akt des Lesens wiederum sammeln sich „alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt“84, und schreiben sich dem Leser ein. Damit ist der Wechsel zu einer rezeptionstheoretischen Perspektive eingeleitet, in deren Zuge der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser (1926–2007) mit Hilfe des Performanzbegriffs die Wirkung von Texten statt ihrer Bedeutung fokussiert. Iser begreift – mit Searle – fiktionale Rede (als illokutionären Sprechakt) in Abgrenzung von Sprechakten, die Situationen verändern und auf der Geltung bestimmter Konventionen basieren. Demgegenüber macht fiktionale Rede diese Konventionsbestände sichtbar, indem sie sie neu organisiert.85 In diesem Sinne hat sie erstens „die Qualität der Performanz, da es die Referenz unterschiedlicher Konventionsbestände als den Sinn des Texts hervorzubringen gilt“86. Zweitens bewirkt fiktionale Rede etwas derart, dass aus der horizontalen Organisation unterschiedlicher Konventionsbestände und aus der von den Strategien bewirkten Erwartungsdurchbrechung […] der fiktionale Text seine illocutionary

|| 81 Die folgende Übersicht über (post-)strukturalistische Ansätze basiert auf Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“, 25–34. 82 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“, 189. 83 Ebd., 190. 84 Ebd., 192. 85 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, 88. 86 Ebd., 101.

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force [gewinnt], die als Wirkungspotential die Aufmerksamkeit weckt, die Art des Zugangs lenkt und den Rezipienten zum Reagieren veranlaßt.87

Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette (*1930) argumentiert mit dem Begriff der ‚Intrafiktionalität‘88, dass Figurenrede im dramatischen oder narrativen Vollzug sowie die Erzählerrede „authentisch“ und „fiktional ernsthaft“ sei.89 Ebenso wie die Erzeugung einer Fiktion durch den realen Autor, indem er „vorgibt, Assertionen zu machen“, die Qualität eines performativen Akts besitze,90 und zwar „des Hervorbringens eines fiktionalen Werks“91, ist das Rezipieren der Fiktion ein ernsthafter Akt, insofern die fiktionale Rede einen „Appell an die imaginative Mitarbeit des Lesers“92 und somit eine ernsthafte illokutionäre Äußerung (Direktion, Deklaration oder Assertion) darstelle;93 geschaffen wird ein „mentale[r] Zustand“94. Weil sich die imaginative Wirkung aber nur rhetorisch organisieren lässt, versagen die illokutionären Kontrolleffekte zugunsten perlokutionärer, nicht vorhersehbarer Kräfte.95 Das Problem, dass die Rezipientenwirkung unkontrollierbar ist, beschreibt die Rezeptionstheorie im Anschluss an Iser mit dem Konzept der „Leerstelle“, die mit Hilfe von Regulierungsstrukturen die perlokutionäre Dimension im Akt des Lesens emanzipiert und zugleich steuert.96 Der Literaturtheoretiker Paul de Man (1919– 1983) führt dagegen die Unvorhersehbarkeit des Effekts auf die persuasive Wirkung zurück, die durch die Inkongruenz von grammatischer und rhetorischer Ebene einer illokutionären Äußerung zustande komme und diese zu einem rein perlokutionären Akt werden lasse. Das persuasive Performanzpotenzial literarischer und philosophischer Texte werde evoziert durch das inhärente Spannungsverhältnis zwischen der Zeichen- und Informationsebene einerseits und der repräsentierenden Ebene der rhetorischen Operationen andererseits, die beide einander stets unterliefen.97 Über die Diskussion um die illokutionäre oder aber perlokutionäre Funktion von Sprache im poetischen Kontext sowie um die Rolle des Neuarrangements von Zeichen im Schreib- und Leseakt hinaus sieht sich die jüngere Forschung dem grundlegenden Problem gegenübergestellt, dass sich die Gelingensbedingungen an|| 87 Ebd. 88 Vgl. Gérard Genette: „Die Fiktionsakte“, 62. 89 Vgl. ebd., 43f. (Zit. ebd.). 90 Vgl. ebd., 48f. (Zit. 49). 91 Ebd., 59. 92 Ebd., 50. 93 Vgl. ebd., 58f. 94 Ebd., 53. 95 Vgl. ebd., 59, 63. Dazu Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“, 30. 96 Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, 311 (Zit. ebd.). 97 Paul de Man: Allegorien des Lesens, 35–43. Zu de Mans Konzept vgl. Jonathan Culler: „Philosophy and literature“, 511f.; Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff“, 30–33; Sylvia Sasse: „Performativität“, 252f.; Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 567f.; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 140. Zu de Mans Performativitätsbegriff s. Gerald Posselt: Katachrese, 68–76.

420 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker derer disziplinärer Zugänge zur Performativität nur unzureichend auf komplexe Textstrukturen übertragen lassen.98 So treffen die Merkmale der Zeitlichkeit und Distinktivität (bezogen auf die Koinzidenz von Ereignis und Erzeugung) sowie der Simultaneität von Produktion und Rezeption in der Regel nicht zu, und es wird kontrovers diskutiert, ob ein Text in dem Sinne selbstreferenziell ist, dass er eine von ihm selbst konstituierte Handlung bildet. Ferner verbleibt die anthropologisch, kultur- oder geschichtswissenschaftlich beeinflusste Sichtweise darauf, dass Texte Identitäten konstituieren, Emotionskulturen prägen und symbolische Repräsentationen wie Gesten, Zeremonien, Rituale oder Bräuche dokumentieren, zwar vielfach notwendig auf der Ebene der textuell-material abgebildeten Darstellung performativer Handlungen oder sie begreift Texte als Skripte, die cultural performances vorgängig sind. Sie eröffnet jedoch die Möglichkeit, kulturelle Wahrnehmungserfahrungen etwa im Bereich der politisch-sozialen Ordnung zu beschreiben.99 Weil überdies die Theaterwissenschaft den Text zugunsten der Aufführung weitgehend nicht berücksichtigt, arbeitet die Literaturwissenschaft mit einem weiter gefassten Aufführungsbegriff, der „mediale[ ] Realisierungen sowie […] kulturelle[ ] und soziale[ ] Einbettungen und Wirkungen von Texten“100 umfasst.

An die Stelle der Frage, ob literarischen Texten das Merkmal ‚performativ‘ eigne oder nicht, ist inzwischen die Auffassung getreten, dass Performativität von Texten eine graduelle Eigenschaft ist. Zwei Konzepte textueller Performativität lassen sich unterscheiden: Die weitere Perspektive auf die Verwendungsweisen und Wirkungen weist Literatur grundsätzlich das Prädikat ‚performativ‘ zu, wohingegen die engere Perspektive auf bestimmte Textstrukturen und -elemente Differenzqualitäten (von Gattungen, narrativen und dramatischen Strategien, Adressatenbezügen, Schreibwiesen) herausarbeitet.101 Eine „pragmatische Vermittlung“102 zwischen dem enger und dem weiter gefassten Konzept strebt die im Rahmen des SFB 447 Kulturen des Performativen vorgenommene „Unterscheidung zwischen struktureller und funktio-

|| 98 Die folgenden Ausführungen beziehen sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“. Vgl. außerdem Hans Rudolf Velten: „Performativität“, 223–229; ders.: „Performativitätsforschung“, 550–562; Sylvia Sasse: „Performativität“, 252–255; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 135–145. 99 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns, 129. Vgl. etwa für die Geschichtswissenschaft Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hgg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“, 16. Zu Ritualverarbeitungen in der Literatur s. Doris Bachmann-Medick: „Kulturelle Spielräume“, 107–115. 100 Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“, 80. 101 Während Iser zufolge die performative Dimension von Literatur in der Interaktion zwischen Text und Rezipient besteht (s. o.), sieht sie der Literaturtheoretiker Jonathan Culler (*1944) bereits als eine doppelte Qualität der literarischen Äußerung (literary utterance) selbst gegeben, die das Wesen von „literature as event“ (ders.: „Philosophy and literature“, 517) markiere: Einerseits und analog zu Austins Auffassung „the literary work seems to accomplish a singular, specific act. It creates that reality which is the work“ (ebd., 516). Andererseits zeige sich das Performative der Literatur im Sinne Butlers „by a massive repetition that takes up norms and, possibly, changes things“ (ebd.). 102 Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“, 82.

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naler Performativität“103 literarischer Texte an. Jene fokussiert, „wie der Text macht, wovon er spricht, oder gegebenenfalls etwas anders macht, als er behauptet“, diese hingegen, „was ein Text auslöst“104. Strukturelle Performativität zielt auf die textuellen Strategien und Strukturen, die erstens die den Texten scheinbar mangelnden Koinzidenzrelationen simulieren, indem sie – etwa durch Fokalisierungs-, Blicklenkungs- und Visualisierungsverfahren, Apostrophe des Adressaten als anwesenden Kommunikationspartners, Fingieren von Situationen der Mündlichkeit – sinnliche (Ko-)Präsenz, Ereignishaftigkeit, Körperlichkeit suggerieren. Zweitens modellieren selbstreflexive und -referenzielle Textstrategien den Akt des Erzählens, Schreibens oder Darstellens und konstituieren einen Überschuss, der nicht im propositionalen Gehalt des Textes aufgeht und daher das Potenzial subversiver oder affirmativer Wirkung besitzt. Drittens vermögen es die Textualisierung symbolischer oder ritueller Handlungen und die textuelle Emotionsdarstellung, performative Phänomene und Strukturen lebensweltlicher Wirklichkeit darzustellen. Funktionale Performativität verweist auf die kulturelle Wirkung des Texts im Rezeptionsakt. Sie betrifft erstens das Potenzial des Texts, semantische Überschüsse zu produzieren sowie den Rezipienten durch nicht-intendierte Resonanzeffekte somatisch-sinnlich und emotional zu affizieren. Zweitens wird der Text – im Anschluss an den New Historicism105 und an die Erweiterung des Diskursbegriffs um körperliche Handlungen bei Judith Butler (s. o.) – als Medium der Konstitution individueller Identitäten, Prägung emotionaler Muster und Modellierung von Diskursen und kulturellen Praktiken und in diesem Sinne als weltschaffend und -verändernd wirksam begriffen. Drittens gibt die Art der Distribution und Zirkulation von Texten Aufschluss darüber, wie Elemente der literarischen Kultur in außerliterarische performative Kulturpraktiken eingebettet sind, etwa bei seiner Adaptation, Übersetzung oder Aufführung; die Materialität und die medialen Umformungen des Texts indizieren seine je spezifische soziale Existenzform. Die Interdependenz von struktureller und funktionaler Performativität zeigt sich dort, wo Textstrukturen die Fähigkeit besitzen, außertextuelle, konkrete Wirklichkeit zu schaffen. Der liminale Raum zwischen Text und Welt eröffnet die Möglichkeit zur Schwellenerfahrung, indem genuine performative Handlungen wie Schweigen, Lachen, Weinen oder wie verschiedene Gesten eine Gemeinschaft zwischen den Figuren der Textwelt und den Rezipienten der Lebenswirklichkeit herstellen und letztere nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, körperlich und rituell affizieren. Der Rezeptionsakt überschreitet die Textgrenze im Sinne eines Grenzbereichs zwischen Text und Körper, Sprache und Ritual, verbaler und nonverbaler Kommunikation. Eine darauf zielende performative Textstrategie ist die Indexikalisierung. Sie erzeugt einen Darstellungsspielraum zwischen Text und Welt, indem sie vermittels deiktischer Textorganisation in der Äußerung selbst auf die Situationen und Modalitäten der Äußerung verweist.106

Das Distinktionsmodell struktureller und funktionaler Performativität aufgreifend, hat sich Erika Fischer-Lichte der Performativität von Texten aus Sicht eines theaterwissenschaftlich geprägten Performativitätsverständnisses genähert. Ausgehend

|| 103 Ebd. Die betreffende Literatur ist ebd., 82, Anm. 17, sowie bei Erika Fischer-Lichte: Performativität, 202, Anm. 11, genannt. 104 Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“, 84. 105 Zum New Historicism vgl. den Beitrag von Claudia Lauer i. vorl. Bd. 106 S. dazu Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 557f.; Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“, 87–91.

422 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker von der Beobachtung, dass Iser und Culler übereinstimmend die aus dem Akt des Lesens resultierende wirklichkeitserzeugende Kraft von Literatur konstatieren,107 gelangt sie zu der Überzeugung, dass im Falle literarischer Performativität „vom Akt des Lesens ausgegangen werden [muss]“108. In Analogie zum Konzept theatraler Aufführung begreift sie diesen Akt als Wahrnehmungshandlung und somit zum einen als einen „Akt der Inkorporation des Gelesenen“, der eine „Ein- bzw. Verkörperung“ vollziehe und somatische Effekte beim Leser auslöse. Zum andern versetze das „Eintauchen in die Welt des Gelesenen“ den Leser in einen liminalen, aus der Alltagswelt isolierten Zustand mit „neue[n] Möglichkeiten der Imagination, Reflexion, Emotion, Identifikation u. a.“.109 Der Immersions- und Verkörperungs- sowie der liminale Transformationsprozess erfüllen zwei der Kriterien einer performativen Ästhetik110; zwei weitere – die Unvorhersehbarkeit der Dynamik performativer Prozesse im Blick auf ihre Planung und Emergenz111 sowie die Ambivalenzen von Aktivität und Passivität bzw. Produktivität und Destruktivität im Verlauf performativer Prozesse112 – sind in der Fähigkeit von Texten gegeben, nicht intendierte Imaginationen, Emotionen und Assoziationen hervorzurufen und damit neue Möglichkeiten des Denkens und Handelns zu eröffnen. Sie sind abhängig vom individuell-kulturellen Kontext des Rezipienten, und der Rezeptionsakt ist insofern durch textuelle Strategien weder vorhersehbar noch steuerbar.113 Die Vorstellung, dass der Text selbst die semantische Mehr- oder Uneindeutigkeit seiner Lektüre ausstellt und seine selbstreferenziellen Strategien theatralisch aufführt, findet ihren Niederschlag in der Metapher ‚Text als Bühne‘: Der Text inszeniert seinen eigenen Diskurs, seine sprachliche Performanz.114 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die performative Sichtweise auf literarische Texte diejenigen Strategien und Möglichkeiten fokussiert, die ein über den Rezipienten vermitteltes „kulturelles Wirkpotenzial“115 entfalten. In der „Manifestation von Präsenzeffekten“, in der „Auslösung affektiver und sozialer Wirkungen“ und im „Zeigen ihrer je besonderen Medialität sowie deren Reflexion“ offenbart sich die performative Qualität von Texten.116 So gesehen, steht das Konzept literarischer Performativität in einem engen Wechselverhältnis mit den Konzepten von Textualität, Literarizität, Rhetorizität, Medialität und Theatralität und erscheint sowohl als || 107 Vgl. Anm. 101. 108 Erika Fischer-Lichte: Performativität, 137. 109 Ebd., 138. 110 Vgl. ebd., 101–129. 111 Vgl. ebd., 75–85. 112 Vgl. ebd., 87–99. 113 Vgl. ebd., 141, 143. 114 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns, 126; Bernd Häsner u. a.: „Text und Performativität“, 84; Erika Fischer-Lichte: Performativität, 140. 115 Erika Fischer-Lichte: Performativität, 145. 116 Vgl. Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 551 (Zitate ebd.).

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Untersuchungsmethode als auch als Textmerkmal. Methodisch hat das Beschreibungsmodell zu einer Modifizierung literaturwissenschaftlicher Zentralbegriffe wie des Text-, Literatur-, Kommunikations-, Fiktions- und Rezeptionsbegriffs geführt.117 Auch rückt die Interferenz von Narrativität und Performance stärker in den Vordergrund.118

1.4 Germanistische Mediävistik Eine besondere Stärke der Performativitätstheorie liegt in ihrer hohen Anschlussfähigkeit an verschiedene Disziplinen, die etwa der Literaturwissenschaft ganz neue Perspektiven auf ihre eigenen Gegenstände ermöglicht. Den Hauptgegenstand mindestens der historisch arbeitenden Literaturwissenschaft, z. B. der Mediävistik, bilden jedoch weiterhin und unvermeidlich Texte, und so stellt sich die Frage, welche spezifisch eigene Leistung die literaturwissenschaftliche Arbeit am Text zur interdisziplinären Performativitätsforschung beitragen kann. Denn die Interdisziplinarität löst sich dann auf, wenn eine Disziplin die Ergebnisse der anderen nur reproduziert. Diese Gefahr besteht bei einem großen Teil dessen, was unter der funktionalen Performativität zusammengefasst wird: So wichtig und erkenntnisförderlich diese Perspektive ist – um stets mitzubedenken, dass Literatur nicht nur eine fiktional-repräsentierende, sondern auch eine wirklichkeitskonstituierende Seite hat, indem sie z. B. reales Lachen und Weinen bei den Rezipienten auszulösen, Emotionen zu codieren und längerfristig soziale und politische Wandlungsprozesse in Gang zu setzen vermag (s. o.) –, so schwierig gestaltet es sich, sie an den Texten selbst nachzuweisen, eben weil die so verstandene ‚Realität‘ ihrer Performanz außerhalb der Texte liegt. Überlegungen dazu sollen nicht prinzipiell ausgeschlossen werden, gerade dann nicht, wenn sie sich auf die Ergebnisse der anderen performativitätstheoretisch arbeitenden Disziplinen stützen können. Aber wichtiger und geeigneter für eine eigenständige literaturwissenschaftliche Methode ist das Konzept der strukturellen Performativität, da hier die Betrachtung der im Text angelegten performativen Strukturen im Mittelpunkt steht, die allein durch genaue Arbeit am Text geleistet werden kann. Überlegungen zur funktionalen Performativität eines Texts sollten auf der Analyse seiner strukturellen Performativität aufbauen, aber ihr nicht vorgreifen oder sie gar ersetzen.119 Welche Arbeitsfelder gibt es unter dieser Voraussetzung für die performativitätstheoretisch orientierte (mediävistische) Literaturwissenschaft? Ein systematisches und gut fassliches Überblicksmodell bietet Justin Vollmann: Er unterscheidet

|| 117 Vgl. ebd., 552f. 118 Vgl. Claudia Breger: An aesthetics of narrative performance. 119 Vgl. hierzu Anm. 123

424 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker zum einen den kulturwissenschaftlichen (Theater-, Ritualwissenschaften usw.) vom sprachphilosophischen (Sprechakttheorie usw.) Performativitätsbegriff, zum andern die Vollzugs- von der Repräsentationsebene eines Texts, d. h. die Ebene der Darstellung von der des Dargestellten. Diese Unterscheidungspaare lassen sich jeweils miteinander kombinieren, sodass sich vier Arbeitsfelder ergeben: der kulturwissenschaftliche bzw. sprachphilosophische Performativitätsbegriff auf der Vollzugsebene und der kulturwissenschaftliche bzw. sprachphilosophische Performativitätsbegriff auf der Repräsentationsebene. Die auf der Vollzugsebene angesiedelten Zugänge untersuchen, verkürzt gesagt, den Text in seiner ‚Aufgeführtheit‘ bzw. als Sprechhandlung;120 die auf der Repräsentationsebene angesiedelten untersuchen, ebenso verkürzt gesagt, wie Aufführungen bzw. Sprechakte im Text beschrieben oder erzählt werden.121 Für alle diese Zugänge finden sich Beispiele in der Forschung, und mit Vollmanns Modell lassen sie sich gut verorten. Allerdings ist auch hier, bei den literaturwissenschaftlich am Text arbeitenden Ansätzen, zu berücksichtigen, dass der modisch-inflationäre Gebrauch des Performativitätsbegriffs zu einer gewissen methodischen Unschärfe geführt hat, und man muss sich die Frage stellen, wie die Arbeit am Text so gewendet werden kann, dass sie als echt literaturwissenschaftliche Methode unter performativitätstheoretischem Vorzeichen gelten kann, in der Weise, dass sie Erkenntnisse ermöglicht, zu denen man durch andere literaturwissenschaftliche Methoden nicht käme. Streng genommen nämlich können nur die auf den Vollzug des Texts bezogenen als eigentlich performativitätstheoretische Methoden gelten,122 liegt doch die performativitätstheoretische Akzentverschiebung gegenüber dem semiotisch-hermeneutischen Textverständnis darin, das textlich Vermittelte (Repräsentierte) gerade nicht als etwas vom Text Unabhängiges, Loslösbares zu denken, sondern zu beobachten, wie es aus der Vermittlung, genauer: aus dem Prozess, dem Vollzug der Vermittlung, als sein Resultat überhaupt erst hervorgeht. Die Performativitätstheorien versuchen, die Trennung von Vermittlung und Vermitteltem, (Darstellungs-) Präsenz und Repräsentation, Zeichen und Bezeichnetem zu überwinden, und rücken die eigenständige Wirklich- und Wirksamkeit des Darstellungsmediums (z. B. des Texts) ins Zentrum der Aufmerksamkeit, da sie Repräsentation und Bedeutung lediglich als Effekte der Wirklich- und Wirksamkeit des Mediums verstehen (neben anderen möglichen

|| 120 Als Bsp. nennt Vollmann Minnesang und Schauspiel (kulturwissenschaftlich) bzw. Dichtung als Frauendienst (sprachphilosophisch); vgl. ders.: „Performing virtue“, 88f. bzw. 90. 121 Vollmanns Beispiele hierfür sind die erzählerischen Beschreibungen von Minnesang- und anderen Performances in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst oder auch die Darstellung von Emotionen in narrativen Texten (kulturwissenschaftlich) bzw. ebenfalls in Ulrichs Frauendienst die Minnelieder als Werbungsakte und die Erlösungsfrage in Wolframs von Eschenbach Parzival (sprachphilosophisch); vgl. ders.: „Performing virtue“, 89f. bzw. 90f. 122 Vgl. auch Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 549.

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Effekten). Ansätze, die nur repräsentierte Performanzen in den Blick nehmen, stehen deshalb zwangsläufig allein unter semiotisch-hermeneutischem, nicht performativitätstheoretischem Vorzeichen. Sie mögen das textlich Repräsentierte mittels performativitätstheoretischer Begrifflichkeit beschreiben; wenn sie jedoch nicht den Text als solchen performativ lesen, können sie nicht den Anspruch auf eine spezifisch performativitätstheoretische Methode (etwa in Abgrenzung von der hermeneutischen) erheben.123 Will man die Performativitätstheorie für eine literaturwissenschaftliche Methode mit eigener Kontur fruchtbar machen und nicht nur als Beschreibungsmodell verwenden, sollte man sich – hier wäre Vollmanns Modell entsprechend zuzuspitzen – auf zwei der genannten Arbeitsfelder beschränken, nämlich auf diejenigen der Performanzebene, d. h. man sollte diese zum einen mit Hilfe des kulturwissenschaftlichen, zum andern mit Hilfe des sprachphilosophischen Performativitätsbegriffs untersuchen. Die Repräsentationsebene darf und soll mit einbezogen werden, || 123 Es ist das Verdienst des Berliner SFB 447 Kulturen des Performativen, den Blick sowohl für repräsentierte Performanzen als auch für die funktionale Performativität geöffnet zu haben. Manchmal jedoch tritt zugunsten dieser Aspekte die Analyse der Performanzebene bzw. der strukturellen Performativität ein wenig in den Hintergrund: In ihrer methodischen Grundlegung „Emotionalität und Performativität“ verstehen Jutta Eming, Ingrid Kasten, Elke Koch und Andrea Sieber Emotionen als durch Prozesse konstituiert, die „sich mit Konzepten von Performativität beschreiben“ lassen (ebd., 217). Das ist für die Emotionsforschung aufschlussreich, führt aber nicht direkt zu einem literaturwissenschaftlichen Ansatz von Performativität, da eben nur die in den Texten dargestellten Emotionen, nicht die Texte und ihre Darstellung selbst performativ verstanden werden. Performativitätskonzepte sind hierbei Beschreibungsmittel für das in den Texten Repräsentierte, nicht Analysemittel für die Texte selbst. Jutta Eming: Emotion und Expression, bezieht die Medialität der Texte und die Rezeption insofern mit ein, als sie Emotionsdarstellungen als paradigm scenarios für die Rezipienten, um „Emotionen zu bestimmten Anlässen gleichsam einzuüben“ (ebd., 120), und Literatur insgesamt damit als „soziale Praktik zum Erwerb emotionaler Kompetenzen“ (ebd., 70) versteht. Diese funktionalistische Literaturdefinition folgt offenbar dem Konzept der funktionalen Performativität und zeigt genau dessen methodische Problematik auf: Sie determiniert von vornherein das Ergebnis der (eigentlich erst zu leistenden) Analyse einer konkreten Textstelle hinsichtlich der jeweiligen Interaktion zwischen Text und Rezipienten und reduziert die Interaktion auf Einübung, sozusagen ‚emotionale Didaxe‘. Da sich der Erfolg einer solchen Einübung zwangsläufig erst nachträglich einstellt – etwa in Form eines emotionalen Habitus oder, weiter gefasst, in mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen –, hilft ein so verstandenes Performativitätskonzept kaum bei der literaturwissenschaftlichen Analyse der konkreten Interaktion zwischen Text und Rezipienten in der Performanzsituation. – Beide Schwierigkeiten kommen zusammen bei Veltens exemplarischer Analyse einer Handlungsfolge aus Heinrich Wittenwilers Ring (ders: „Performativität“, 233–238): Das Repräsentierte – das Medium Brief und sein komischer Einsatz – wird mit sprechakttheoretischer und theaterwissenschaftlicher Terminologie lediglich beschrieben; die „Funktion“ (ebd., 237) der Darstellung sei, bei dem/den Rezipienten Gelächter „und somit Gemeinschaft zu stiften“ (ebd.) – auch hier die Verwendung des funktionalen Performativitätskonzepts. Die These, dass die Rezeption des Rings Gemeinschaft stifte, verdankt sich nicht der Analyse des Texts, sondern einem davon unabhängigen Vorverständnis von der Performativität des (textexternen) Lachens, das man auf jeden komischen Text anwenden kann.

426 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker zumal wenn die Performanz- auf der Repräsentationsebene gespiegelt und reflektiert wird; sie kann nur nicht der alleinige Gegenstand einer performativitätstheoretischen Lektüre sein. Um die beiden methodischen Unschärfen der literaturwissenschaftlichen Performativitätsforschung auf den Punkt zu bringen: Während das Konzept der funktionalen Performativität leicht dazu verführt, über den Text hinaus zu interpretieren, bleiben im Gegensatz dazu diejenigen Interpretationen, die Performanz allein auf der Repräsentationsebene untersuchen, innerhalb des Texts stecken, ohne den Blick auf seine performative Wirklichkeit zu richten. Der erste Ansatz führt nicht zu einer performativitätstheoretischen Methode unter literaturwissenschaftlichem Vorzeichen, weil man zu seinen Ergebnissen auch ohne Textanalyse kommen könnte; der zweite Ansatz führt nicht zu einer literaturwissenschaftlichen Methode unter performativitätstheoretischem Vorzeichen, weil man zu seinen Ergebnissen auch ohne die Performativitätstheorie käme. Eine performativitätstheoretische Textanalyse sollte also vornehmlich die strukturelle Performativität auf der Vollzugsebene eines Texts untersuchen. Ergänzt und unterstützt werden kann sie zum einen durch die Interpretation von Performanzen auf der Repräsentationsebene, zum andern durch die Berücksichtigung von Aspekten der funktionalen Performativität. Da der Performanzbegriff weiter gefasst werden kann und muss als der der Aufführung, bedeutet eine solche methodische und methodologische Konzentration keine Beschränkung auf allein diejenigen Texte, die nachweislich für eine Aufführung verwendet wurden (wie Minnelieder und Schauspiele). Denn jeder Text hat notwendigerweise eine Vollzugsdimension, die sich durch seine Medialität, seine Wahrnehmbarkeit, bestimmt.124 Wenn Darstellung von Wahrnehmung (Aisthesis) her verstanden wird, dann muss eine Lektüre, die den Vollzug der Darstellung untersucht, unweigerlich mit untersuchen, wie der Text konkret wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden kann, d. h., sie muss ihn von einer Wahrnehmungsinstanz her denken, von einem Rezipienten. Eine solche Lektüre historischer Texte wird den Rezipienten mindestens als Zeitgenossen der Erstperformanz zu konzipieren versuchen,125 darüber hinaus aber sich selbst als Vollzug einer wahrnehmenden

|| 124 Christian Kiening: „Präsenz – Memoria – Performativität“, spricht von einer spezifisch „textuellen Performativität“, die einer Unterscheidung etwa von Lesen und Aufführen noch vorausgeht und weder mit dem sprachphilosophischen noch mit dem kulturwissenschaftlichen Performativitätsbegriff zusammenfällt: „Sie beträfe eher die prinzipielle Ereignishaftigkeit eines Vollzugs, der dem Text eingeschrieben ist: in seinen sprachlichen, dialogischen und szenischen Dynamiken, seinen präsentativen, evokativen und signifikativen Dimensionen, seinen syntagmatischen und paradigmatischen Spannungen“ (ebd., 147). 125 Auch wenn man – was selten genug der Fall ist – über historische Rezeptionszeugnisse verfügt, ist es unmöglich, die reale historische Rezeption umfassend zu rekonstruieren. Darum muss es einer performativitätstheoretischen Lektüre auch nicht vorrangig zu tun sein: In erster Linie sollte sie

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und interpretierenden Rezeption mit reflektieren. Sie konzentriert sich sowohl auf die aisthetische als auch (darauf basierend) auf die ästhetische Dimension eines Texts126 und beschreibt (mögliche) Verstehens- und ästhetische Erfahrungsprozesse, die der Rezipient in der Interaktion mit dem Text durchläuft. Im Mitvollzug der sinnkonstituierenden Bewegung des Texts vermag der Rezipient selbst Transformationen zu erfahren, etwa vom Unwissenden zum Wissenden, vom Zuschauer zum Kultteilnehmer (und umgekehrt). Die paradigmatische Situation einer performativen Lektüre ist natürlich die Aufführung durch Darsteller vor Zuschauern; doch lässt sich eben auch die stille Lektüre eines Lesetexts aufführungsanalog als eine ereignishafte, interaktive Begegnung zwischen Darstellung (Text) und Wahrnehmendem (Leser) verstehen.127 Der Begriff ‚Vollzug‘ bzw. ‚Performanz‘ umfasst beide Rezeptionsformen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt v. a. darin, ob für die Bedeutungs- und Sinnkonstitution im Rezeptionsvollzug außertextliche Faktoren eine entscheidende Rolle spielen oder nicht; das tun sie offensichtlich bei einer theatralen Aufführung, zu der die leibliche Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern, Visualität, Klanglichkeit, Räumlichkeit, Requisiten usw. gehören, aber auch bei der ‚Inszenierung‘ eines Texts innerhalb einer Handschrift, in der das Seitenlayout (mise en page), die Anordnung und Art der Schrift (mise en texte) sowie eventuell auch der Einsatz von Bildern den Lektüreprozess prägen und eine Aufführung vor- oder nachbilden können.128 Der Rezeptionsvollzug lässt sich aber auch ganz ohne die Berücksichtigung solcher materieller Aspekte performativitätstheoretisch analysieren, nämlich als ein mentaler Lektüreprozess: Untersucht wird dabei, wie durch die Interaktion zwischen Text und lesendem Subjekt Bedeutung und Sinn konstituiert, aber auch subvertiert und unterminiert werden. Entscheidend ist also die Frage, ob innerhalb eines Rezeptionsprozesses außertextliche Faktoren bei der Bedeutungs- und Sinnkonstitution beteiligt sind oder nicht bzw. ob man sie mit einbeziehen will/muss oder nicht. So ergeben sich unter den genannten Prämissen folgende zwei (in sich nochmals differenzierte) Analysemethoden: 1. die Analyse der Vollzugsebene des Texts mit Hilfe des kulturwissenschaftlichen Performativitätsbegriffs

|| unter Berücksichtigung historischer Verstehenskontexte möglichst genau und vollständig alle potentiellen Interaktionsweisen zwischen Text und Rezipienten herausarbeiten. 126 Mit Blick auf den Gegenstand der (mediävistischen) Literaturwissenschaft ist hier von (historischen) Texten die Rede. Das Gesagte gilt aber für jede Art von Darstellungsmedien (Schauspiel, Bild, Musik), die auf je spezifische Weise performativ untersucht werden können. 127 Vgl. Ingrid Kasten: „In der Schwebe“, 82; Justin Vollmann: „Performing virtue“, 91; Hans Rudolf Velten: „Performativitätsforschung“, 556. 128 Vgl. Martin Huber: „Fingierte Performanz“; Keith Busby: „Mise en texte“; Volker Mertens: „Visualizing performance?“.

428 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker a) ohne oder b) mit Berücksichtigung außertextlicher Faktoren; 2. die Analyse der Vollzugsebene des Texts mit Hilfe des sprachphilosophischen Performativitätsbegriffs a) ohne oder b) mit Berücksichtigung außertextlicher Faktoren.129 Eine performativitätstheoretisch orientierte Lektüre kann sich auf eine der genannten Methoden beschränken, aber auch mehrere oder alle einbeziehen.130 Stützen wird sie sich vor allem auf solche Stellen, in denen ein Text auf sich selbst als Text, auf seinen Vollzug reflektiert, in denen er sagt, was er gerade tut, oder auch das Gegenteil von dem tut, was er sagt (performativer Selbstwiderspruch)131, und in denen er den gegenwärtigen Moment seiner Performanz thematisiert, etwa mit deiktischen Ausdrücken wie ‚hier‘ und ‚jetzt‘. Interessant sind dabei insb. solche Stellen, in denen der Text auf sein ‚Wahrgenommenwerden‘, auf die Interaktion mit Rezipienten reflektiert – dies ist besonders deutlich, wenn er die Rezipienten mit ‚ihr‘ bzw. ‚du‘ direkt anspricht und sie zu bestimmten (z. B. emotionalen) Reaktionen animiert.

1.4.1 Lyrik Es verwundert nicht, dass gerade der Minnesang und die Lyrik insgesamt eines der fruchtbarsten und am längsten bearbeiteten Felder der mediävistischen Performativitätsforschung darstellen. Die Vorläufer und frühesten Ansätze dieser Richtung rückten die Aufführungsbedingungen, d. h. die außertextlichen Faktoren, ins Zent-

|| 129 Dass eine solche Differenzierung sinnvoll ist, lässt sich gut am Minnesang zeigen: Performativ analysieren kann man ein Minnelied (1.a) hinsichtlich der Art und Weise, wie es den/die Rezipienten in eine Denkbewegung, einen emotionalen Zustand oder eine fiktive Wirklichkeit hereinzunehmen sucht, direkt oder indirekt anspricht, Präsenzeffekte erzeugt usw.; (1.b) hinsichtlich seiner konkreten Aufführung innerhalb eines höfischen Fests, der leiblichen Kopräsenz von Sänger, Dame und Publikum, vielleicht auch von Mäzen und Sängerkonkurrenten, der musikalischen Gestaltung, des Aufführungsorts und möglicher Requisiten, aber auch hinsichtlich seiner Präsentation innerhalb einer Handschrift; (2.a) hinsichtlich der Art und Weise, wie es Identitäten (z. B. die des lyrischen Ichs und die der Dame) und Bedeutungen konstituiert, verschiebt, auflöst, In- und Exklusionen vornimmt, und nicht zuletzt als Sprechakt, nämlich gattungsgemäß als Werbungshandlung, als Vollzugsform der höfischen Minne-Kultur oder überhaupt als künstlerische Äußerungsform; (2.b) hinsichtlich des stimmlichen oder auch schriftlichen Vollzugs der Werbungshandlung gegenüber einer eventuell kopräsenten Dame oder der Funktion des Lieds als eines Mediums zur Konstitution einer Fest-Wirklichkeit und -Gemeinschaft. 130 Eine alle diese Ebenen einbeziehende performative Lektüre eines Minnelieds (Walthers von der Vogelweide „Nemt, frouwe, disen kranz“) bietet Ingrid Kasten: „In der Schwebe“, 84–91. 131 Vgl. dazu hinsichtlich der Lyrik Jan-Dirk Müller: „Performativer Selbstwiderspruch“.

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rum der Aufmerksamkeit,132 und dies mit gutem Grund: Den Texten selbst lässt sich deutlich ablesen, dass Musikalität, Sangbarkeit und damit die Stimme eines Sängers sowie ein kopräsentes Publikum für die volle Wirklichkeit des jeweiligen Lieds essenziell sind. Für diese volle Wirklichkeit eines Texts im Rahmen seiner Performanz prägte Paul Zumthor den Begriff œuvre in Abgrenzung vom bloßen Text als sprachlichem Gebilde, das nur einen der für das œuvre konstitutiven Faktoren wie Stimme, Musikalität, Körperlichkeit, Gestik usw. darstellt.133 Wenn das Lied erst in der jeweiligen Aufführung seine volle Wirklichkeit erlangt, bietet jede schriftliche Fixierung desselben nur einen schwachen Abglanz davon. Es gibt somit nicht den einen festen Liedtext, sondern jede Aufführung kann das Lied auf jeweils neue Weise gestalten,134 was sich dann schriftlich in unterschiedlichen Liedfassungen (z. B. bezüglich der Strophenfolge) niederschlagen kann (mouvance); die Varianz der handschriftlichen Überlieferung spiegelt demnach (auch) die Performativität der Texte wider. In dieser Perspektive können im Text vorhandene Unstimmigkeiten, Widersprüche und offene Stellen lösbar erscheinen, indem man eine spezifische Aufführungssituation zu rekonstruieren versucht, mit deren Hilfe sie sich erklären lassen.135 Eine gewisse Gefahr hierbei besteht jedoch darin, dass solche Rekonstruktionsversuche unweigerlich spekulativ ausfallen und dass Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen in einem Text durchaus intendiert sein und seine Artifizialität ausmachen können.136 Wenn sich die mittelalterliche gegenüber der neuzeitlichen Lyrik dadurch auszeichnet, dass sie aufgeführt und nicht nur still gelesen wurde, dann muss man stets berücksichtigen, dass es neben dem textinternen lyrischen Ich im Mittelalter noch den textexternen Sänger des Lieds gibt, der nicht mit dem lyrischen Ich und auch nicht mit dem Autor identisch sein muss, sodass man theoretisch von ‚Situationsspaltung‘ (bezüglich der textinternen Minne- und der textexternen RezeptionsSituation) zu sprechen hätte.137 Da uns vom Minnesang nur die Texte überliefert sind, können wir kaum anders, als wie im Falle der neuzeitlichen Lyrik vom textinternen Ich auszugehen und von dort zu der genannten Unterscheidung und Spaltung zu kommen.138 Wenn man ein Lied jedoch von der Performanz her versteht, fallen im Hier und Jetzt der Aufführung mindestens das textinterne lyrische und das

|| 132 Vgl. Hugo Kuhn: „Minnesang als Aufführungsform“. 133 Paul Zumthor: Die Stimme und die Poesie, 36. 134 Vgl. ebd.: „Die performance ist […] konstitutiv für die Form“. 135 Vgl. Helmut Tervooren: „Die ‚Aufführung‘ als Interpretament“, insb. 55–61. 136 Vgl. ebd., 61; Margreth Egidi: „Text, Geste, Performanz“. 137 Vgl. Rainer Warning: „Lyrisches Ich und Öffentlichkeit“; Peter Strohschneider: „‚nu sehent, wie der singet!‘“ 138 Harald Haferland: „Minnesang als Posenrhetorik“, hält die Unterscheidung von internem und externem Ich für eine „Projektion […] aus einer Welt von Schrifttexten“ (75). Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine notgedrungen allein auf Texte bezogene literarische Analysemethode ganz auf solche Unterscheidungen verzichten kann.

430 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker textexterne Sänger-Ich zusammen,139 und man muss statt von ‚Situationsspaltung‘ von „Situationsverschmelzung“140 sprechen.141 Wenn man dann noch – mindestens für die Erstperformanz – unterstellt, dass der Sänger zugleich der Autor ist, dann scheint es in der Performanz keinerlei Unterschied zwischen lyrischem Ich, Sänger und Autor zu geben.142 Die viel diskutierte Frage, ob die Lied-Aussagen authentisch (das lyrische Ich verweist auf den Autor/Sänger) oder fiktiv (zwischen dem Autor/Sänger und dem lyrischen Ich besteht keine Verweisungsbeziehung) sind,143 lässt sich für das jeweilige einzelne Lied kaum eindeutig beantworten, geschweige denn für den Minnesang insgesamt. Auch ist für einen performativitätstheoretischen Ansatz diese Frage, obwohl sie sich gerade aufgrund der Performativität des Minnesangs stellt, gar nicht entscheidend, geht sie doch eher von einem semiotisch, nicht performativ gedachten Zeichenmodell aus, indem sie nach der Referentialität des Zeichens bzw. des Texts (hier des lyrischen Ichs bzw. seiner Aussagen) fragt statt nach seiner (potenziellen) Wirkung auf und seiner (potenziellen) Wahrnehmung durch kopräsente Rezipienten innerhalb einer Aufführungssituation.144 Die performative Wirklichkeit des Lieds bestimmt sich nicht durch das Verhältnis zwischen dem gesungenen Ich und dem Sänger, sondern durch dasjenige zwischen dem Sang und dem Publikum. Sie mag insofern fiktiv sein, als sie erst durch die Performanz des Lieds konstituiert wird, doch in diesem Sinne schafft auch ein (z. B. religiöses) Ritual eine fiktive Wirklichkeit, ohne dass Fiktion darin als Gegensatz zu Wahrheit verstanden würde;145 in performativitätstheoretischer Perspektive bedeutet Wirklichkeit nicht Referentialisierbarkeit, sodass weder ein von dieser abgegrenzter

|| 139 Vgl. Derk Ohlenroth: „Zum lyrischen Umfeld“, 30–33. 140 Hartmut Bleumer: „Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung“, 78. 141 Anders James A. Schultz: „Performance and Performativity“. Er unterscheidet zwei textinterne Ich-Rollen: den „lover“ und den „singer“, die man performativitätstheoretisch unterschiedlich fassen müsse: den „lover“ mittels des sprachphilosophischen (als Produkt sprachlicher Identitätskonstruktionen), den „singer“ mittels des kulturwissenschaftlichen Performativitätsbegriffs (als Funktion innerhalb der Aufführung). Die eine Ich-Rolle, der „singer“, bringe die andere, den „lover“, hervor (ebd., 384). In der Aufführung durch den „historical performer“ (ebd., 387) würden die beiden Rollen ineinandergeblendet, nicht aber mit dem „performer“ identifiziert (ebd., 387–392). 142 Vgl. Harald Haferland: Hohe Minne; Derk Ohlenroth: „Zum lyrischen Umfeld“, wobei Ohlenroth von mehreren unter dem Autornamen Walther von der Vogelweide versammelten Verfassern ausgeht. 143 Die Fiktionalität stellt z. B. Peter Strohschneider: „‚nu sehent, wie der singet!‘“, heraus; für die Authentizität plädiert Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Diskussion vgl. Jan-Dirk Müller: „Die Fiktion höfischer Liebe“. 144 Vgl. hierzu die erhellende Auseinandersetzung von Hartmut Bleumer mit den ‚klassischen‘ Positionen von Warning, Müller und Strohschneider in: „Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung“, 75–78, insb. in den Anm. 145 Entsprechend rückt Jan-Dirk Müller: „Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung“ den Minnesang in die Nähe von Ritualen. Zum hier vorauszusetzenden Fiktionalitätsbegriff vgl. ders.: „Die Fiktion höfischer Liebe“.

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Fiktionalitätsbegriff noch ein davon abgeleiteter Authentizitäts- oder Realitätsbegriff hier greifen kann. Je mehr das Publikum an der ‚fiktiven‘, d. h. durch das Lied performativ konstituierten, Wirklichkeit teilnimmt, sich mit ihr identifiziert, desto mehr verschwimmt die (semiotische) Grenze zwischen Kunst und Realität, Repräsentation und Präsenz.146 Die performativitätstheoretische Lektüre verfolgt, wie ein Lied eine solche fiktive Wirklichkeit herstellt und in was für ein interaktives Verhältnis (identifizierend/distanzierend/…) es die Rezipienten zu ihr setzt.147

1.4.2 Schauspiel Neben der Lyrik bildet das Theater einen Schwerpunktbereich der mediävistischen Performativitätsforschung, weil auch hierbei die Aufführung, d. h. die Performanz im engeren Sinne, von essenzieller Bedeutung ist. Die weltlichen Spiele, z. B. die Fastnachtspiele, kann man zum einen im Hinblick auf ihre konkreten Aufführungsbedingungen untersuchen,148 zum andern hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Ritualität149 sowie unter der Frage, inwiefern sie in ihrer Performanz die jeweils zugrundeliegende Ordnung subvertieren oder affir|| 146 Albrecht Hausmann: „Die vröide und ihre Zeit“, bestimmt den Minnesang als „Gemeinschaftshandeln, das für die Rezipienten Teilhabe an der Minnereflexion des Text-Ich bedeutet“ (ebd., 176). Für Harald Haferland: „Minnesang als Posenrhetorik“, ist Minnesang „sozialer Schein, kollektive Fiktion der höfischen Kultur, die Konzepte wie Minne generiert, um sich überhaupt als Kultur erst zu konstituieren“ (ebd., 88). Mit dem Begriff der „kollektiven Fiktion“ überwindet Haferland den zu schroffen, weil nicht performativ gedachten Gegensatz von Authentizität und Fiktionalität zugunsten eines pragmatischen, sozusagen performativen Fiktionsbegriffs, wie ihn Jan-Dirk Müller: „Die Fiktion höfischer Liebe“, ebenfalls entwirft: „In diesem Sinne ist der höfische Frauendienst eine ‚Fiktion‘, und der Minnesang ist die (literarische) Vollzugsform dieser Fiktion“ (ebd., 53). Die höfische Kultur – wie jede Kultur in performativitätstheoretischem Verständnis – konstituiert sich erst in ihrer Performanz, von der wiederum die Performanz des Minnesangs einen konstitutiven Teil darstellt. 147 Derk Ohlenroth: „Zum lyrischen Umfeld“, empfiehlt als das „sicherste ‚Zugangs‘-Verfahren“ zu den Liedtexten, „‚sich‘ als (quasi-authentischen) Rezipienten erst vom Text selbst ‚entwerfen‘ zu lassen. Die Frage nach dem genuinen Ort des Rezipienten bedeutet allerdings eine diametrale Umkehrung der gewohnten Rezeptionsperspektive: Im ersten Schritt handelt nicht ein Interpret (den ‚gibt es‘ zunächst noch nicht), sondern es ‚handelt‘ der Text – als Vergegenwärtigungsform seines originären Sprechers – in seiner elementaren Performativität, indem er erst einen Rezipienten ‚evoziert‘. Dieser wäre lediglich Ergebnis der performativen Wirkrichtung des Textes“ (ebd., 33f.). Hier ist der Text auch methodisch als Sprechakt gedacht, indem er den Rezipienten als Rezipienten überhaupt erst erschafft. So wenig ein Interpret sich selbst, seine Voreinstellungen und seinen Zugriff, ganz aus der Interpretation wird heraushalten können, so sehr verhilft doch Ohlenroths Richtlinie dazu, den ‚performativen Blick‘ einzunehmen. 148 Vgl. Eckehard Simon: Die Anfänge; Glenn Ehrstine: „Aufführungsort als Kommunikationsraum“; Johannes Janota: „Performanz und Rezeption“. 149 Vgl. Werner Röcke: „Text und Ritual“.

432 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker mieren150 oder auch, als Vollzugsmedien der Fastnacht, eine spezifische FastnachtsWirklichkeit konstituieren.151 Hieran können Fragen nach der performativen Dimension von Komik und Lachen (als einer auch körperlichen Reaktion der Rezipienten auf die Darstellung) anknüpfen.152 Im Falle des geistlichen Spiels erhielt die Berücksichtigung der Performanz besondere Brisanz durch den Versuch Rainer Warnings, die Spieltexte von der Performativität und Ritualität der Aufführungen her gegen die in den Texten behauptete Intention zu lesen: Sie gäben vor, christliche Gedächtnisveranstaltungen zu sein, vollzögen in Wahrheit aber vor- oder außerchristliche Rituale.153 Jan-Dirk Müller hat Warnings Thesen dahingehend modifiziert, dass man zumindest nicht ausschließen kann und stets mitbedenken muss, dass sich bei einer konkreten Aufführung Wirkungen entfalten können, die den offiziellen Intentionen zuwiderlaufen.154 Hier zeigt sich das subversive Potenzial des Performativen. Durchaus in Auseinandersetzung mit Warning hat man in den letzten zehn bis zwanzig Jahren verstärkt untersucht, wie denn der Status der geistlichen Spiele zwischen (christlichem oder nichtchristlichem) Ritual und Theater zu fassen sei.155 Neuerdings wurden die Spiele zunehmend mit Hilfe sprachphilosophischer Performativitätskonzepte analysiert.156 Die Performativität der geistlichen Spiele soll später anhand des Alsfelder Passionsspiels genauer in Augenschein genommen werden.

1.4.3 Geistliche, mystische Literatur Insb. in der Auseinandersetzung mit geistlicher und speziell mystischer Literatur hat sich gezeigt, wie hilfreich ein Performativitätsbegriff sein kann, der unabhängig von konkreten Aufführungen und außertextlichen Faktoren gedacht ist. Im geistli-

|| 150 Vgl. Volker Mertens: „Das Fastnachtspiel“; Klaus Ridder: „Fastnachtstheater“. 151 Vgl. Ulrich Barton: „Was wir do machen, das ist schimpf“. 152 Vgl. Hans-Jürgen Bachorski u. a.: „Performativität und Lachkultur“; Werner Röcke/Hans Rudolf Velten (Hgg.): Lachgemeinschaften; Sebastian Coxon: „Weltliches Spiel und Lachen“, insb. 232–238. 153 Vgl. Rainer Warning: Funktion und Struktur; ders.: „Hermeneutische Fallen“; ders.: „Auf der Suche nach dem Körper“. 154 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Mimesis und Ritual“; ders.: „Kulturwissenschaft historisch“. Zur Diskussion über Warnings Thesen vgl. Walter Haug: „Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen“. 155 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Realpräsenz und Repräsentation“; ders.: „Präsenz des Heils und Repräsentation“; Christoph Petersen: Ritual und Theater; ders.: „Imaginierte Präsenz“; die Beiträge im Sammelbd. Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (Hgg.): Transformationen des Religiösen; Regina Toepfer: „Implizite Performativität“. 156 Vgl. Elke Koch: „Endzeit als Ereignis“; Jutta Eming: „Marienklagen im Passionsspiel“; dies.: „Sprache und Gewalt“.

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chen Bereich gibt es Lektüreformen wie die ruminatio und die meditatio, bei denen es weniger darum geht, aus Texten bestimmte Informationen oder Aussagen zu gewinnen, als darum, den Lektüreprozess als solchen zu vollziehen, weil sich, so der Anspruch, der Rezipient durch diesen Prozess, durch das Lesen und die imaginative Vergegenwärtigung des Gelesenen, innerlich transformiert; eine solche Transformation kann in religiös-rituellen Kontexten als ‚Reinigung‘ bezeichnet werden. Hier wird das Lesen von vornherein performativ verstanden. Mystische Texte, die das, wovon sie handeln – nämlich Gott und die unio mit ihm –, zwangsläufig nicht beschreiben können, weil es sich aller sprachlichen Beschreibbarkeit entzieht, binden den Rezipienten in eine Bewegung ein, die Metaphern aufruft, um sie bewusst am Undarstellbaren scheitern zu lassen, und Stufenwege beschreitet, um gleichzeitig zu zeigen, dass es keine Vermittlungswege zum Absoluten gibt. Solche Texte inszenieren performative Selbstwidersprüche, und der Rezipient gewinnt gerade im MitVollzug dieser Selbstwidersprüche eine Ahnung davon, was die Texte scheinbar vergeblich zu beschreiben versuchen.157 Mystische Lektüreprozesse können wiederum von außertextlichen Faktoren wie Prozessionen158 oder Geißelungen begleitet sein oder im Rahmen einer Gemeinschaftsveranstaltung (einer Predigt etwa) stattfinden, sodass auch sie wie theatrale/rituelle Aufführungen analysiert werden können – wie umgekehrt geistliche Spiele nachweislich auch als Lese- und Meditationstexte gebraucht wurden und daher eine entsprechende Analyse erfahren können.159

1.4.4 Weltliche Erzählliteratur Bei weltlichen erzählenden Texten kann man, weil sie wie die lyrischen zunächst nicht privat gelesen, sondern öffentlich vorgetragen wurden, nach den konkreten Aufführungsbedingungen fragen und die Texte darauf hin untersuchen, wie sich diese Aufführungsbedingungen in ihnen widerspiegeln.160 Mit Hilfe der theaterwissenschaftlichen Performativitätstheorien lotet Matthias Däumer etwa das „performative Potenzial“ der Artusepik aus, indem er die Romane hinsichtlich der Rezitationssituation, der Wahrnehmungsregie und der Verschaltungen zwischen fiktiver und Aufführungswirklichkeit beleuchtet.161 Derk Ohlenroth interpretiert Erzähler-

|| 157 Michael Egerding: Die Metaphorik, Bd. 1, 107 spricht bezüglich der Predigten Meister Eckharts von der „performative[n] Kraft der Metaphorik für die Transposition“ der Hörer. Vgl. auch Susanne Köbele: „Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum“; Burkhard Hasebrink: „Elsbeth von Oye: Offenbarungen“; ders.: „mitewürker gotes“; Andrea Zech: „Performative Inszenierungen“. 158 Vgl. dazu Christian Kiening: „Prozessionalität“. 159 Vgl. Cornelia Herberichs: „Lektüren des Performativen“. 160 Vgl. die Beiträge im Sammelband: Evelyn Birge Vitz/Nancy Freeman Regalado/Marilyn Lawrence (Hgg.): Performing medieval narrative. 161 Vgl. Matthias Däumer: Stimme im Raum.

434 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker Partien (wie z. B. den Parzival-Prolog) dezidiert von der face-to-face-Situation des erstmaligen Vortrags her, d. h. mit Bezug auf die kopräsente Dame, in deren Dienst die Darbietung zu stehen beansprucht,162 oder auf kopräsente Sängerkonkurrenten, die gerade anderes erzählen wollen oder erzählt haben163 oder aus dem Stegreif lyrische Zwischenrufe in den Roman-Vortrag einwerfen.164 Doch auch die erzählenden Texte lassen sich ohne Berücksichtigung außertextlicher Faktoren und der Aufführungsumstände performativ lesen, so wenn die Lektüre in ihrer Prozessualität oder als Interaktion zwischen Text und (lesendem) Rezipienten in den Blick genommen wird.165 Ein besonders instruktives Beispiel hierfür bietet Vollmanns Interpretation der Krone Heinrichs von dem Türlin,166 die deshalb kurz erläutert werden soll: Auf der Handlungs- bzw. Repräsentationsebene dieses Romans spielen zwei Tugendproben eine Rolle, denen die Artusritter unterzogen werden und die die meisten von ihnen nicht bestehen. Vollmann überträgt das Motiv der Tugendprobe von der Repräsentations- auf die Vollzugsebene und deutet den Roman selbst als eine Tugendprobe, die dem Rezipienten gestellt wird. Die Tugend, auf die dieser geprüft werde, sei die des Verstehens, was zum einen meint: das Verfügen über literarische Vorkenntnisse zum Verstehen intertextueller Bezüge, und zum andern: das Verstehen, dass der Roman das Verstehen selbst, das Suchen und Finden von Bedeutung, zum Thema macht, das allein im verstehenden Nachvollzug durch den Rezipienten, in dessen eigenem Suchen und Finden von Bedeutung, ‚verstanden‘, d. h. ästhetisch erfahren, werden kann. Die Tugendprobe besteht, wer den Roman versteht, d. h. verstehend mit-vollzieht. Damit ist Vollmanns Interpretation, die als solche beansprucht, den Roman zu verstehen, der bewusste Vollzug der vom mittelalterlichen Autor gestellten Tugendprobe: In der Interpretation vollzieht sich die Tugend des Interpreten, und so tut sie das, was ihr Titel besagt: Performing virtue. Hier ist – als letzte Konsequenz jeder echt performativen Lektüre – die Rezeption durch den Interpreten selbst noch performativ und damit Performativität im vollen Umfang verstanden – und performiert.

|| 162 Vgl. Derk Ohlenroth: „wil ich triuwe vinden …?“. 163 Vgl. ders.: „Konkurrierende Erzählangebote“. 164 Vgl. ders.: „Die ‚Köche‘ in Walthers ‚Spießbratenspruch‘“; ders.: „Leiden im Glück“. 165 Zur Problematik der Bestimmung einer spezifischen Performativität narrativer Texte vgl. Susanne Reichlin: „Dietrich von der Glezze: Der Borte“, 182–184. 166 Vgl. Justin Vollmann: „Performing virtue“.

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2 Beispielanalyse: Das Alsfelder Passionsspiel (1501) Lange nachdem mit der antiken Kultur auch das Medium Theater verschwunden war, wurde es ab dem 10. Jh. aus dem christlichen Kult heraus zunehmend wiederbelebt: Es entstanden neu Oster-, Weihnachts- und Antichristspiele, ab dem 13. Jh. Fronleichnams- und Passionsspiele, von denen letztere im 15. und 16. Jh. den mit dem größten Aufwand inszenierten Spieltyp ausmachten.167 Aufgeführt wurden die Passionsspiele mehrere (zumeist zwei bis drei) Tage lang auf einem öffentlichen Platz in der Stadt, mit spielender oder zuschauender Beteiligung der gesamten (christlichen) Stadtbevölkerung, die sich durch eine solche cultural performance168 als religiöse und politische Gemeinschaft nach innen wie nach außen präsentieren und konstituieren konnte. Gespielt wurde auf der sog. Simultanbühne, was bedeutet, dass alle Darsteller auf dem (symbolisch in Himmel, Erde und Hölle dreigeteilten) Bühnenplatz anwesend waren und für ihren Part aus ihrem jeweiligen Spielstand hervortraten. Die Zuschauer standen um den Bühnenplatz herum oder folgten, so in Prozessionsspielen, dem Gang der Handlung von Spielstand zu Spielstand. Das umfangreichste (und nicht zuletzt deshalb mit das aufschlussreichste) deutschsprachige Passionsspiel ist das Alsfelder von 1501.169 Im Folgenden soll der Anfang des dritten Spieltags, der eigentlichen Passionshandlung, unter performativitätstheoretischer Perspektive untersucht werden. Der dritte Tag des Alsfelder Passionsspiels beginnt, wie schon der erste und zweite, damit, dass die Engel das Publikum singend zum Schweigen aufrufen. Man kann darüber spekulieren, ob in der konkreten Aufführungswirklichkeit die Unruhe unter den Beteiligten so groß war, dass solche Silete-Appelle notwendig waren;170 entscheidender ist, dass dieser Appell die Theatersituation überhaupt erst herstellt: Mit dem Schweige-Aufruf wird einem Teil der auf dem Marktplatz versammelten Menge die Rolle des ‚Auditoriums‘ im eigentlichen Sinne zugewiesen, d. h. performativ durch einen Sprechakt eine Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern, Spiel- und Publikumsrealität gezogen. Da es die Engel und damit Figuren des Spiels sind, die diese Grenze ziehen, wird die Grenze im selben Moment, in dem sie gezogen wird, aufgehoben, denn als direkte Adressaten der Engel sind die Zuschauer

|| 167 Zu Intention und Wirkung der Passionsspiele vgl. Johannes Janota: „Repraesentatio peccatorum“. 168 Zu diesem Begriff in Bezug auf das geistliche Spiel vgl. Ingrid Kasten: „Transformationen des Religiösen“, VII–X. 169 Zu den Aufführungsbedingungen vgl. Dorothea Freise: Geistliche Spiele, insb. 256–334. 170 Vgl. Johannes Janota: „Repraesentatio peccatorum“, 463f.

436 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker zugleich in die Spielrealität integriert. Die Aufführung unterläuft also von vornherein die von ihr selbst gezogene und sie überhaupt erst konstituierende Grenze.171 Nach dem Silete-Appell tritt der Proclamator auf, der, anders als die Engel, nicht zur Spielrealität gehört, sondern Aufbau und Intention des Spiels erläutert und damit das Spiel als Spiel in Abgrenzung von der Zuschauerrealität ausweist.172 Was genau er sagt, gibt der Text an dieser Stelle nicht preis, aber es dürfte wohl dem entsprechen, was er zu Beginn des ersten und des zweiten Tags gesagt hat: Das Spiel führe Christi Passion auf, da kein Mensch der Hölle entgehen könne, der nicht die Passion bedencke (v. 8). Die andächtige Betrachtung der durch das Spiel vermittelten Passion soll also vor der Verdammnis bewahren. Die Proclamatorrede des zweiten Tags schließt mit dem Appell: swiget alle yn disser zyt vnd beweynet Ihesus lyden. szo wel vch got selbers schribenn vnd ladenn ewiglichenn in synes vatter riche (vv. 3009–3013).

Wenn die Zuschauer jetzt, yn disser zyt, d. h. während der Aufführung, als schweigendes Auditorium Christi Passion mitleidend betrachten, werde Gott ihnen zum Lohn das Seelenheil schenken. Im emotionalen Mit-Vollzug der Handlung durchlaufen die Rezipienten, so der Anspruch, eine innere Transformation im Sinne einer religiösen Reinigung, die sie des Paradieses würdig macht. Durch das Schweigen und das Sicheinfügen in die passive Betrachterrolle akzeptieren die Zuschauer die Grenze zwischen Spiel und Realität nicht nur, sondern sie erschaffen sie selbst mit und ermöglichen so die Aufführung. Wenn sie aber im Rezeptionsprozess innerlich an dem dargestellten Geschehen Anteil nehmen, d. h. die Grenze imaginativ-affektiv überschreiten, fällt diese Grenze auch in dem Sinne, dass der im Hier und Jetzt der Aufführung nur theatral repräsentierte Erlösungstod für die Zuschauer ganz real Erlösung vermittelt. Die Performanz des Passionsspiels konstituiert sich durch die Grenzziehung vonseiten des Proclamators (bzw. der Engel) und durch die Anerken-

|| 171 Gleichwohl wird (explizit im Prolog zum ersten Spieltag) für die Nichtbeachtung der gezogenen Grenze eine Strafe angedroht: Störenfriede würden von den Teufeln in die Hölle abgeführt (vv. 111– 116) – gemeint sind die Teufel des Spiels und der Spielstand der Hölle. Das bedeutet, dass die das Spiel störenden Zuschauer zur Strafe quasi Teil der Spielrealität, nämlich Insassen des Höllen-Spielstands, werden: Sowohl der Sprechakt der Strafandrohung als auch die (gegebenenfalls vollzogene) Strafhandlung selbst scheinen also die Grenze zwischen Spiel und Realität zu unterlaufen. Die abgründige Kehrseite dieser Vorstellung ist jedoch, dass, wenn für die andächtig-stille Rezeption das Seelenheil versprochen wird, die störenden Zuschauer entsprechend mit der ‚realen‘ Höllenstrafe zu rechnen haben: Auch dies folgt aus einer als durchlässig gedachten Grenze zwischen Spiel und Realität. 172 Vgl. Glenn Ehrstine: „Präsenzverwaltung“, 63f.

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nung der Grenze vonseiten des Publikums und zielt zugleich auf die Grenzüberschreitung: Die Zuschauer sollen das Performierte im emotionalen Mit-Vollzug als präsent erleben und erfahren im Gegenzug die Präsenz des Heils. Einer Inszenierung, die beansprucht, bei richtiger Rezeption in ihrer Performanz Heil zu vermitteln, darf man Ritualität zuerkennen.173 Dieser Rahmen ist bei den nun folgenden Spielszenen stets mitzubedenken. Der dritte Tag beginnt mit der Verspottung Christi durch die Soldaten und Juden, und das Spiel von der Passion verkündet durch die Figur des primus flagellator, dass es nun erst eigentlich beginnt: sich hebet allerirst dyn klage (v. 5268) – es sagt, was es tut, und hebt so den Vollzug, die Präsenz des Geschehens ins Bewusstsein der Rezipienten. Auf einer weiteren Ebene zeigt sich das darin, dass das Spiel tatsächlich als Rollenspiel beginnt, nämlich als Spiel im Spiel: In einem gespielten Spottritual wird Christus mit Dornenkrone und rotem Umhang als König der Juden verkleidet, und die Juden und flagellatores spielen die Rolle der ihm huldigenden Untertanen. Die Doppelbödigkeit des Spiels zeigt sich in der Regieanweisung: Sie „setzen ihn in die Mitte des Spiels (ludi) [d. h. der Spielfläche] auf einen Thron und verspotten (deludunt) ihn“.174 Das Rollenspiel vollzieht sich vor den Augen des Publikums doppelt, auf zwei verschiedenen Ebenen: zum einen als Passionsspiel, zum andern als Spottspiel innerhalb des Passionsspiels. Deshalb kann auch die Rezeption dieses Rollenspiels doppelbödig werden: Gemäß der durch den Proclamator ausformulierten Spielintention sollen die gläubigen Zuschauer das Spiel im Spiel als falsches Spiel im Gegensatz zum wahren Spiel der Passion durchschauen und sich, indem sie am Passionsspiel teilnehmen, von dem darin enthaltenen Spiel der Ungläubigen abgrenzen. Auf diese Weise konstituiert sich die Gemeinschaft der Gläubigen in Abgrenzung von den dargestellten Ungläubigen.175 Da aber in der Performanz das ‚wahre‘ und das ‚falsche‘ Rollenspiel notwendig ineinander geblendet sind – der Beginn des dritten Passionsspieltages besteht ja in nichts anderem als im Vollzug des Spottspiels –, können die Zuschauer auch das Spottspiel mit identifizierender Beteiligung mit-vollziehen, und dies entweder so, dass sie sich die Unverbindlichkeit des ‚bloßen‘ Rollenspiels zunutze machen und sich die subversive Lust erlauben, das Zentrum ihres Glaubens zusammen mit den Soldaten ‚unverbindlich‘, in ästhetischer Freiheit mit zu verspotten,176 oder sogar, indem sie das Rollenspiel gerade nicht unverbindlich nehmen, sondern zusammen mit den Soldaten ein Gegenritual vollziehen, eben weil die Grenze zwischen Spiel und Realität beim Passi-

|| 173 Ähnlich bezüglich des Donaueschinger Passionsspiels: Regina Toepfer: „Implizite Performativität“, 127f. 174 […] ponunt eum in medium ludi super sedem et deludunt eum (vv. 5271b/c). 175 Vgl. Jan-Dirk Müller: „Mimesis und Ritual“, 563–568; ders.: „Kulturwissenschaft historisch“, 71f. 176 Vgl. ders.: „Mimesis und Ritual“, 568–571; ders.: „Kulturwissenschaft historisch“, 72–74.

438 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker onsspiel von Anfang an durchlässig ist.177 Die Performativität des Spiels erlaubt alle drei Rezeptionsmöglichkeiten, abgesehen von der vierten, dass eine schlechte Darbietung durch die Schauspieler die Zuschauer völlig von der Handlungswirklichkeit ablenkt und bei ihnen Lachen oder Empörung hervorruft, was selbstverständlich jederzeit passieren konnte.178 Auch die von den flagellatores gesprochenen Worte erlauben mehrere Rezeptionsmöglichkeiten; so sagt der zweite: Ach, lieben gesellen, nu sehet en an, wie glich ist hie eym konige gethan. geselle, dryt gen mich her, wiltu erfollen der Iudden begere. mer woln em gar schone seczen vff die krone. da midde wollen mer em bieden ere, glich als hie eyn konig were, vnd woln en dan an eyn crucz slagen. dar vmb wollen mer em alle neygen (vv. 5272–5281).

Mit seinem Schau-Appell – nu sehet en an – wendet sich der flagellator auf der Handlungsebene nur an seine lieben gesellen, aber unweigerlich lenkt er damit zugleich den Blick der Zuschauer auf den zur Schau (in medium ludi!) gestellten Christus. Wenn er daraufhin dazu aufruft, dass „wir“ (mer) ihm die Ehre erweisen und „uns“ vor ihm verneigen sollen, können sich die Zuschauer in dieses „Wir“ der Sehenden mit einschließen und die Ehrung mitvollziehen – entweder als subversives Spottritual oder als echte Ehrung des Gottessohns, der nur von den Ungläubigen verkannt wird, sodass die gläubigen Zuschauer den Worten des flagellator folgen können, ohne sie wie er als Verspottung zu verstehen. In jedem Fall lenken die Worte die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Christus und legen ihnen durch ihren Appellcharakter eine wie immer geartete Reaktion auf das Dargestellte nahe. Die Juden-Figuren kommen in der Spielrealität der Aufforderung des zweiten flagellator nach und knien vor Christus nieder,179 während der flagellator seine Schein-Huldigung fortsetzt und ihm das Szepter in die Hand drückt (vv. 5282–5289). Auch der dritte flagellator verneigt sich vor Christus und stellt ihm Fragen, die in der Spielrealität spöttische rhetorische Fragen sind, die aber von den Zuschauern Antworten zu fordern scheinen:

|| 177 Vgl. Rainer Warning: Funktion und Struktur, 162–243; ders.: „Hermeneutische Fallen“, 36–40; ders.: „Auf der Suche nach dem Körper“, 351–359. 178 Vgl. Johannes Janota: „Repraesentatio peccatorum“, 465f. 179 Iudei flectunt omnes genua (v. 5281a).

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Eya, Ihesus gekronet schone, wer gesach ye konigk szo woilgethon? ach, du konigk suberlich, wo ist nu dyn konigrich? won syn dyn knecht vnd dyn gesynde? wo mocht man eynen konigk fynden, der do sy glich yn der gewalt? du bist woil nach eym konig gestalt (vv. 5290–5297).

Die gläubigen Zuschauer können die Frage, ob man jemals einen schöneren und bezüglich der Macht ebenbürtigen König gesehen habe, für sich in einem anderen als dem vom flagellator gemeinten Sinne mit Nein beantworten. Gerade dadurch, dass der flagellator die Anwesenheit von Christi Hofstaat in Frage stellt, kann die versammelte Zuschauermenge sich aufgerufen fühlen, sich um so mehr als (sichtbar großes) Gefolge dieses Königs wahrzunehmen. Auf der Handlungs- bzw. Repräsentationsebene vollziehen all diese Reden der Soldaten nur ein Spottritual; sie sind insofern Sprechakte, als sie durch die gespielten Huldigungen Christus lächerlich machen. Aber nicht darin liegt ihre literaturwissenschaftlich relevante Performativität, sondern darin, dass sie die Zuschauer implizit dazu auffordern, in positiver oder negativer, affirmativer oder subversiver, identifizierender oder distanzierender Weise auf sie zu reagieren, sich über die Spielgrenze hinweg mit den Soldaten oder mit Christus zu verbünden und so Teil der performativ vergegenwärtigten Wirklichkeit zu werden. Nach der Rede des dritten flagellator gehen die Soldaten zum Spielstand des Pilatus zurück, und Christus, noch immer auf dem Thron in der Mitte des Platzes sitzend, wird von der Sinagoge und den Juden umringt und verspottet (deluditur) (vv. 5297c–d). Dann leitet die Sinagoge die nun folgende Kreuztragung ein (vv. 5298–5319). An einem anderen Ort der Spielfläche geht Johannes zu Maria und sagt ihr, dass ihr Sohn jetzt, zu disser frist (v. 5325), zur Hinrichtung geführt werde. Auf der Simultanbühne vollziehen sich diese Handlungen gleichzeitig, und das deiktische zu disser frist macht diese Gleichzeitigkeit bewusst und suggeriert den Zuschauern die aktuale Präsenz der Ereignisse. Überhaupt häufen sich in den folgenden Figurenreden die deiktischen Ausdrücke, die die Gegenwärtigkeit des Geschehens hervorheben, in auffälliger Weise: hude (vv. 5334, 5342, 5354, 5360, 5371, 5390 u. a.), an dissem tage (vv. 5342, 5354, 5372, 5394 u. a.). Dabei ist es gar nicht so wichtig, wer solche Deiktika ausspricht, sondern vielmehr, dass sie ausgesprochen werden, da sie in jedem Fall die Vollzugsdimension der Darstellung ins Bewusstsein der Rezipienten bringen sowie die Spiel- und die Zuschauergegenwart in eins setzen. Wichtig für die Performativität der Szene ist weiterhin, dass Maria nun deutlich als Mit-Zuschauerin eingesetzt wird: Sie selbst sagt, sie wolle hingehen und sehen (v. 5338), wie es ihrem Sohn ergehe, und die Regieanweisungen geben ebenfalls vor, sie sehe (videt), wie ihm das Kreuz aufgelegt werde (vv. 5339a, 5349b). Gerade weil

440 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker Maria zur Zuschauerin neben und mit den Zuschauern wird, sind ihre Worte für deren Rezeption und damit für die Performativität des Spiels insgesamt relevant. Sie sagt: Nu hebet sich aber myn leyt, wan ich sehe solich erbeyt. der der wernde heyl syn solle, gar an alle schulde muste hude an disszem tage das crucz zu der martel tragen. das wolde ich helffen tragen dir, want du hoist myn hercz swer. owe der groisszen leyde, saltu nu von mer scheyden. ach, solde ich hude sterben vor dich, wie sere myn hercz freuwet sich (vv. 5350–5361).

Zunächst fallen auch hier die vielen Deiktika auf, die die Gegenwärtigkeit und den Vollzug des theatral Dargestellten und von Maria Beschriebenen hervorheben: nu (vv. 5350, 5359), hude (vv. 5354, 5360), an disszem tage (v. 5354). Maria, die Zuschauerfigur innerhalb der Spielrealität, lässt das Gespielte für die Zuschauer außerhalb der Spielrealität als präsent erscheinen und holt sie so in diese herein.180 Auf der Repräsentationsebene gibt sie mit ihrer Rede nur ihrem Schmerz Ausdruck; auf der Vollzugsebene aber bietet sie den Zuschauern ein Modell für eine der (durch den Proclamator formulierten)181 Spielintention entsprechende Rezeptionshaltung an: Die Zuschauer können und sollen sich ihrer Reaktion anschließen und ihre Worte innerlich mit-vollziehen.182 Sie sollen wie sie dem Gottessohn das Kreuz helffen tragen und mit ihm oder an seiner Stelle sterben wollen. Das, was die Zuschauerfigur Maria hier vorbildlich verkörpert – Mitleiden (compassio) –, lässt sich ins Performative wenden und so als die für das Passionsspiel charakteristische Art der Performativität verstehen: Was sich vor den Augen der Zuschauer theatral vollzieht, die passio Christi, gewinnt seine volle Wirklichkeit erst im Mit-Vollzug, in der com-passio der Rezipienten. Es geht für die Zuschauer nicht nur darum, sich über die theatrale Repräsentation des vergangenen Geschehens an dieses zu erinnern, sondern daran teilzunehmen, so als ob es hier und jetzt stattfände; obwohl das Kreuz längst getragen und überwunden ist, hier und jetzt den Wunsch zu verspüren, es mitzutragen. Das Performative liegt im Zusammenspiel der sich vollziehenden Repräsentati-

|| 180 Vgl. Christoph Petersen: „Imaginierte Präsenz“, 52, 57. 181 Vgl. v. a.: mit andacht sollet er disz schawenn / vnd in alle vwern tagenn / Ihesu syn crucze helffen tragen (vv. 52–54). 182 Vgl. Ursula Schulze: „Schmerz und Heiligkeit“, 219; Christoph Petersen: „Imaginierte Präsenz“, 54–56.

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on und des Mit-Vollzugs durch die Rezipienten; als zeitgenössischer Ausdruck dafür kann compassio gelten.183 Das Mitleid als intendierte und von Maria vorgeführte Zuschauerreaktion wird im Folgenden ex negativo dadurch konturiert, dass die Juden es explizit ablehnen: Der Hohepriester Kaiphas vertreibt die Mitleidende mit den Worten: were nach szo groiß dyn klage, / szo enmagestu vns nyt erweichenn (vv. 5373f.), und der Jude Natan ruft die Soldaten dazu auf, Christus ohne Mitleid (an allen iamer, v. 5381) ans Kreuz zu schlagen. Mittels mitleidender Rezeption grenzen sich die Zuschauer von den als mitleidlos gekennzeichneten Juden ab und konstituieren sich als christliche Gemeinschaft. Wenn, gemäß den Reden des Proclamators und Marias, die von den Zuschauern erwartete Rezeption u. a. in dem Wunsch besteht, Christus das Kreuz tragen zu helfen, dann wird dieser Wunsch ihnen in der nun folgenden Szene um so nachdrücklicher vor Augen gestellt, als seine Erfüllung leiblich performiert wird: Weil Christus unter der Last des Kreuzes zusammenzubrechen droht, wird Simon von Cyrene dazu verpflichtet, das Kreuz mitzutragen. In Stellvertretung aller mitleidenden Zuschauer führt er szenisch das aus, was jene für sich selbst imaginieren sollen,184 sodass sie die Worte, die er spricht, ebenfalls in Stellvertretung mit-vollziehen können: Ach, Ihesus, was hostu den Iudden gethan, das sie dich an eyn crucz woln han? des wel ich vmmer myt der klagen. ich wel dir gern helffen tragen, want du bist von groisszer pyn krang vnd das crucz ist swere vnd lang. ich wel dir gern lichten dyn pyn vnd wel hude dyn hilffer syn. ich wel nemmen des cruczes eyn deyl, ab mer gescheen kunde heyl (vv. 5406–5415).

Simons Rede wirkt wie ein Gebet an Christus, das innerhalb einer Meditation gesprochen werden könnte: Sie performiert und stimuliert den Mit-Vollzug der Passion durch den Gläubigen, behauptet ihre Gegenwärtigkeit (hude) und formuliert, von || 183 Entsprechend geht die Vorrede zur Bordesholmer Marienklage (1475/76) so weit zu sagen, die Marienklage sei kein bloßes Spiel (ludus oder ludibrium), wohl im Sinne der aller Repräsentation (zunächst) anhaftenden Scheinhaftigkeit und Unverbindlichkeit, sondern die pia compassio Marie, die alle andächtigen Zuschauer ad compassionem bewege (vgl. ebd., 40). Mit compassio wird die Marienklage also sowohl auf Repräsentations- als auch auf Vollzugsebene bezeichnet; in ihrer Performanz ist sie compassio, und zwar zugleich diejenige Marias und die der Zuschauer. 184 Damit wird der „Wechsel von externer zu interner Fokalisation“, den Christiane Ackermann: „Schwellengänge in Raum und Zeit“, 90, für die Forderung des Proclamators an die Zuschauer, imaginativ mit Christus das Kreuz zu tragen, feststellt, umgekehrt, sodass die Zuschauerimagination noch enger mit der wahrgenommenen Spielwirklichkeit zusammengebunden wird.

442 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker der Simon-Figur her gedacht nicht unmittelbar einsichtig,185 die Hoffnung auf heyl als Lohn des Mit-Vollzugs. Das liegt auf einer Linie mit dem vom Proclamator vorab genannten Heilsversprechen. Die Rede Simons verdeutlicht, dass gerade sein Handeln, der leibliche Mit-Vollzug von Christi Passion, transformierend wirkt und die Aussicht auf das Seelenheil eröffnet. Im geistigen Mit-Vollzug seiner Worte und seines Handelns verbinden sich die Zuschauer mit ihm als ihrem Stellvertreter zu einer Gemeinde, die Gott in einem Gebet186 um Erlösung bittet – einem Gebet, das gerade in seinem affektiven Vollzug die Bedingung seiner Erfüllung leistet: Im inneren (Mit-)Sprechen dieses Gebets vollziehen die Rezipienten eine Handlung, die das zu verwirklichen beiträgt, worum sie bitten. Das Gebet muss (mit-)gesprochen werden, denn ohne (Mit-)Vollzug kein Heil. Das verleiht der Performanz des Spiels eine rituelle Qualität, die in der folgenden Szene noch gesteigert wird. Noch während des Kreuzwegs eilt Veronica zu Christus und bittet ihn um ein zeichen (v. 5444), mittels dessen sie seine Passion (dynen toid vnd dyn pyn, v. 5445) bedencken (v. 5445) könne. Wohl nicht zufällig greift sie mit dem bedencken (auch v. 5470) ein Schlüsselwort des durch den Proclamator gesprochenen Prologs auf, demzufolge die Aufführung des Passionsspiels dem heilswirksamen bedencken diene. Insofern darf das Spiel als ebensolches zeichen gelten wie das, das Christus nun Veronica schenkt: seine bildliche Repräsentation auf ihrem Schleier. Nachdem sie das Tuchbild empfangen hat, zeigt sie es laut Regieanweisung den Juden, den Töchtern Jerusalems und allgemein den Menschen (hominibus, v. 5455a), zu denen man wohl auch das Publikum zu zählen hat, und ruft alle zum Schauen auf: nu sehet alle, iung und alt, ir richen vnd er armen, sehet vnd lat vch erbarmen hude zu tage der iemmerlichen noit, die Ihesus vor vns gelidden hot. beweynen mer syn martel groiß, szo werden mer der engel gnoß. in dem hymmelthrone beschauwen mer gar schone syn gotlich anczlicz freydenrich (vv. 5481–5490).

Ihr Schau- und Mitleids-Appell suggeriert, dass die affektive Betrachtung des Bilds mit der jenseitigen Gottesschau, der visio beatifica, belohnt werde. Im Hintergrund dieser Verheißung steht die kultische Verehrung der Veronica-Reliquie (vera icon), || 185 Das Spiel hatte Simon bislang noch nicht als Christus-Anhänger eingeführt. In anderen Spielen hilft er Christus sogar nur widerwillig. 186 Zu den performativen Dimensionen der Gattung ‚Gebet‘ vgl. Christian Kiening: „Gebete und Benediktionen“, v. a. 101–104.

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des in Rom aufbewahrten Schweißtuchs, in das Christus sein Gesicht gedrückt haben und das seither das göttliche Antlitz zeigen soll. Als auf wundersame Weise entstandenem Medium des realen göttlichen Blicks wurde dem Bild heilbringende Wirkung zugeschrieben, und es wurden gemalte Kopien geschaffen, angesichts deren man beten und meditieren konnte, um über die Kopie in heilsamen Kontakt mit der Reliquie und dadurch mit dem Urbild Christus zu kommen.187 Eine solche gemalte Kopie188 zeigt hier Veronica den Zuschauern: Ein in der Zuschauerrealität allbekannter, traditioneller Kultgegenstand wird im Rahmen der PassionsspielAufführung als Requisit verwendet, von dem eine Figur innerhalb der Spielrealität behauptet, es sei die wahre Reliquie. Das Bild, das Veronica hier vorzeigt, schillert zwischen Requisit und Reliquie, Signifikant und Signifikat. In der und durch die Performanz wird das Requisit zur Reliquie: Diejenigen Zuschauer, die an ihr so teilnehmen, als ob das Dargestellte sich tatsächlich hier und jetzt abspielte, vollziehen im Grunde bereits diejenige ‚Meditation‘, die nötig ist, um durch die Kopie hindurch mit der realen Reliquie in Kontakt zu treten; sie sehen in dem Requisit nicht nur die Kopie, sondern, da sie durch den Mit-Vollzug Teil der Spielrealität sind, quasi die reale Reliquie, was bedeutet, dass sie die sonst allein durch Meditation und Gebet zu erreichende heilsame Wirkung hier und jetzt, im Rahmen der Performanz zu erfahren glauben dürfen.189 Durch die Performanz des Spiels und den Mit-Vollzug der Zuschauer verwandelt sich die Kopie in die vera icon selbst und wirkt entsprechend heilsvermittelnd. Inszeniert wird eine rituelle Schau, und das mittels eines Präsenzeffekts: Veronica ruft nämlich die Zuschauer auf, hude zu tage zu schauen und zu weinen, spricht aber von Christi Passion in der Vergangenheit (die Ihesus vor vns gelidden hot). Sie tritt also zusammen mit dem wundersamen Bild aus der Spielrealität heraus in die Zuschauerrealität, ohne aber das Spiel ganz zu verlassen, denn sie bleibt ja Veronica. Sie eröffnet eine mittlere, sozusagen liminale Ebene, die weder allein Spiel- noch allein Zuschauerrealität, weder allein (gespielte) Vergangenheit noch allein (alltägliche) Gegenwart ist, eine Ebene des betwixt-and-between, in der die Zeitlichkeit, die Präsenz der Performanz als solche spürbar wird, in der die Kopie den Zuschauern als vera icon nahe kommt, Christus über das Bild präsent zu sein scheint, zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen. Solche theatral erzeugten Prä-

|| 187 Vgl. genauer dazu und zu den Veronica-Szenen im Alsfelder und anderen Passionsspielen Ulrich Barton: „Vera icon und Schau-Spiel“. 188 Darüber, dass es sich um ein gemaltes Exemplar des ikonographischen vera-icon-Bildtyps handelt, gibt das Alsfelder Passionsspiel selbst keine Auskunft; man darf es aber aus der Veronica-Szene des Donaueschinger Passionsspiels schließen, das einen genaueren Einblick in die Inszenierungsmittel erlaubt: an dissem tůch sol ein veronica gemalet sin (vv. 3188c–d). 189 Christiane Ackermann: „Schwellengänge in Raum und Zeit“, 100f., beschreibt diese Form der Interaktion zwischen Medium und Rezipienten treffend als „Immersion“, als Eintauchen der Zuschauer in die Heilsgegenwart.

444 | Ulrich Barton/Rebekka Nöcker senzeffekte lassen die jeder Theateraufführung eigentümliche Ereignishaftigkeit besonders hervortreten. Darin, dass Veronica sich direkt an die Zuschauer wendet und Christi Passion als vergangen bezeichnet, ähnelt sie dem Proclamator, der zu Beginn die Spielintention erläutert und für das andächtige Zusehen die Seligkeit versprochen hat. Sie unterscheidet sich von ihm aber dadurch, dass sie Teil der Spielrealität ist. Wenn sie innerhalb des Spiels auf die Schau des Bilds reflektiert – zumal mit Begriffen, die der Proclamator für die Betrachtung des Spiels verwendet hat –, dann reflektiert sie unweigerlich zugleich auf die Betrachtung des Spiels. Anhand des Bilds verhandelt das Spiel seine eigenen medialen Bedingungen, bringt es seine eigene Performativität zur Sprache. Mit der vera icon inszeniert es sein poetologisches Symbol und erklärt sich so selbst zu einer vera icon, zu einem ‚wahren Bild‘. Die ‚Wirklichkeit‘ oder ‚Wahrheit‘ dieser Form von Repräsentation liegt in ihrer Performanz: Wirklich oder wahr wird das Spiel im und durch den Mit-Vollzug der Zuschauer, was sich in dem Anspruch widerspiegelt, dass die Zuschauer dabei eine (religiös-reinigende) Transformation durchlaufen. Durch die Performanz, die Aufführung und den Mit-Vollzug der Zuschauer, werden Vergangenheit und Gegenwart, Signifikant und Signifikat eins im Hier und Jetzt des theatralen Vollzugs. Hier zeigt sich deutlich, wie das semiotische und das performative Theaterverständnis sowohl unterschieden als auch aufeinander bezogen sind: Dem semiotischen zufolge ist das Passionsspiel nur Repräsentation des vergangenen Geschehens, das deren Wahrheit ausmacht, zeichen zum bedencken, wie Veronica über das Bild sagt und der Proclamator über das Spiel sagen könnte; die Wahrheit des Signifikanten (Spiel) ist das Signifikat (Passion Christi). Dem performativen Verständnis zufolge eignet der Repräsentation, dem Signifikanten selbst Präsenz, Wahrheit, Wirklichkeit, die nicht von der Referenz auf ein Signifikat, sondern von der Interaktion mit kopräsenten Rezipienten abhängen. Das semiotische Modell entspricht durchaus der Selbstbeschreibung des Spiels etwa im Prolog, aber der spezifischen Funktions- und Wirkungsweise des Spiels kommt man mit dem performativen Modell, das die semiotischen Aspekte inkludiert, weitaus näher. Abschließend seien zur Verdeutlichung sowohl der Spielinterpretation als auch des hier vorgestellten methodischen Ansatzes noch einmal die einzelnen performativitätstheoretischen Aspekte benannt. Untersucht werden kann die Performanzebene des Texts 1. mit Hilfe des kulturwissenschaftlichen Performativitätsbegriffs a) ohne Berücksichtigung außertextlicher Faktoren: Spiel- und Schwellenfiguren sprechen den Rezipienten teils direkt, teils indirekt an: Schau- und Mitleidsappelle lenken seine Aufmerksamkeit und seine emotionale Reaktion. Deiktika suggerieren die Gegenwärtigkeit des Dargestellten (was bei der szenischen Performanz mit Hilfe außertextlicher Faktoren noch gesteigert wird). Im imaginativaffektiven Mit-Vollzug nimmt der Rezipient an der dargestellten Heilsgeschichte teil.

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b) mit Berücksichtigung außertextlicher Faktoren: Zur Aufführung auf dem Marktplatz gehört eine Vielzahl von Darstellern und Zuschauern, was kollektive Rituale ermöglicht: entweder ‚christliche‘ – der Zusammenschluss der andächtigen Zuschauer im gemeinsamen Gebet mit dem ‚Vorbeter‘ Simon oder die rituelle Schau mittels des vera-icon-Requisits – oder ‚gegen-christliche‘ – das Spott- oder Sündenbockritual an Christus. Die szenische Gewaltdarstellung kann eine eigene, nicht-intendierte Faszination auslösen. Das Requisit des Veronica-Tuchs wird so inszeniert, dass die Zuschauer einen Präsenzeffekt erleben können. Die ganze Veranstaltung trägt mit ihrem Heilsanspruch Züge eines kollektiven Rituals. 2. mit Hilfe des sprachphilosophischen Performativitätsbegriffs a) ohne Berücksichtigung außertextlicher Faktoren: Die Darstellung selbst ist Medium und Ausdruck des heilbringenden religiösen Gedenkens. Die Szene konstituiert einen Gegensatz zwischen den Christen und den ‚Anderen‘, den Juden, d. h. zwischen zwei Gruppen, zu denen sich der Rezipient identifizierend oder distanzierend zu verhalten hat; Mitleid bzw. Mitleidslosigkeit definieren die jeweiligen Identitäten. Das Gebet, das der einzelne Rezipient für sich zusammen mit Simon sprechen kann, ist der imaginative Vollzug des geforderten Mittragens von Christi Kreuz und damit eine Handlung, die den Handelnden dessen würdig macht, worum er bittet. b) mit Berücksichtigung außertextlicher Faktoren: Die Reden von Schwellenfiguren fungieren als Sprechakte, die die Theatersituation sowohl herstellen (Engel, Proclamator) als auch unterlaufen (Engel, Proclamator, Veronica). Ein Teil der versammelten Menge wird zum Publikum, zum Auditorium erklärt, das sich durch richtiges Verhalten als christliche Gemeinschaft konstituieren kann. Deiktika leisten die Verbindung von gesprochener Rede und Wirklichkeit.

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Performativität | 451

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Friedrich Wolfzettel

Psychoanalytische Literaturwissenschaft 1 Rezeption der Psychoanalyse in der mediävistischen Literaturwissenschaft .

Psychoanalytische Literaturinterpretation hat ihren Ausgangspunkt bei Sigmund Freud (1856–1939), der die in der Therapie gewonnenen Erkenntnisse in seine kultur- und literaturtheoretischen Arbeiten umsetzte.1 Für die Wertigkeit und Legitimität der psychoanalytischen Literaturkritik ist dies von großer Bedeutung. Mit Peter von Matt gesprochen: „Ich gehe aus von der Tatsache, dass Sigmund Freud eines der wichtigsten Modelle an bestimmten literarischen Gegenständen gefunden, an ihnen exemplifiziert und nach ihnen benannt hat.“2 Der Ödipus-Komplex ist das berühmteste Beispiel. Grundlegend ist dabei der zugleich entwicklungsgeschichtlich (phylogenetisch) und individualpsychologisch (ontogenetisch) definierte Begriff des Unbewussten, der in dem topischen Modell von Es, Ich und Überich die vom Bewusstsein verdrängten und vom Überich zensierten, weil nicht sagbaren Wünsche und Vorstellungen bezeichnet. In dem epochalen Werk Die Traumdeutung3, deren Erscheinen 1900 das Menschenbild der Moderne begründet, ist Freud dem Konnex von Trieb und Entstellung nachgegangen. In dem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908)4 macht nun Freud den Schritt vom Traumgeschehen zur Literatur bzw. Kunst, indem er Dichtung als Kompromiss zwischen Traum und Realität, d. h. als unbewusstes Phantasieren oder Tagtraum begreift und damit der Sphäre des Unbewussten annähert.5 Neben die beabsichtigte ‚Botschaft‘, ja vielleicht sogar gegen diese schiebt sich so der phantasmatische Aspekt der unbewussten und nicht eingestandenen Sehnsüchte und Ängste, die durch die Gewissensinstanz des Überich zensiert werden. Das literarische Werk erscheint als Kompromissbildung zwischen dem „egoistischen Tagtraum“ und den „Abänderungen und Verhüllungen“ der Form; der „Lustgewinn“, die „Verlockungsprämie“ oder „Vorlust“ ergibt sich für den Dichter wie für den Rezipienten aus diesem ‚Spiel‘.6 Die formgewordene individuelle Neurose arbeitet wie der Traum mit den Mitteln der Verdichtung und Verschiebung, die nicht erst seit Lacan mit den linguistischen Termini ‚Metapher‘ und

|| 1 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. X. 2 Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 10. 3 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. II. 4 Vgl. ders.: Studienausgabe, Bd. X, 169–179. 5 Vgl. Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 76–104. 6 Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. X, 179.

454 | Friedrich Wolfzettel ‚Metonymie‘ gleichgesetzt werden. In dem genannten Aufsatz Freuds geht es um die verdrängte Neurose des ‚Familienromans‘, in dem sich das junge Ich in der ödipalen Phase der Entwicklung innerlich von den jetzt abwertend betrachteten Eltern löst und sich als Königssohn und Findelkind phantasiert. Marthe Robert hat in diesem Motiv, das in zahlreichen alten Erzählungen und Legenden deutlich wird und das z. B. Jean-Charles Huchet als Gründungslegende des afrz. Roman de Thèbes und des mittelalterlichen Romans interpretiert hat,7 eine Voraussetzung für die Entstehung des frühneuzeitlichen Romans gesehen.8 Ziel der psychoanalytischen Literaturinterpretation ist mithin, solche unbewussten Strukturen, in diesem Fall eine Figur der Selbstüberhöhung des Ichs und der Verdrängung der Wirklichkeit, aus der Werkstruktur zu isolieren und die daraus resultierende Ambivalenz des Werks und seiner scheinbar eindeutigen Aussage zu bestimmen.9 Der Ambivalenzbegriff begründet die ‚veruneindeutigende‘ Funktion jeder psychoanalytischen Interpretation, die insofern neben die klassische Hermeneutik tritt und deren Ergebnisse problematisiert10 – problematisiert, nicht pathologisiert, denn die Arbeit des Dichters besteht ja darin, die ‚abstrakte Struktur‘11 eines unbewussten Triebes in bewusste Form zu gießen und den Tagtraum, den Freud mit dem Spiel des Kindes vergleicht, zu einem tragfähigen Konstrukt zu entwickeln, der die Übertragung auf den Rezipienten erlaubt.12 Nach den kontroversen Diskussionen der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jhs. ist es um die Psychoanalyse freudscher Prägung eher still geworden; auch wird man seit dieser Zeit kaum von entscheidenden Fortschritten und Neuerungen sprechen können. Bernd Urban attestiert den neueren mediävistischen Arbeiten schon 1984/85 eine methodische Reife, die eigentlich nur noch die umfassende, systematische Einführung verlange.13 Als ein neueres Beispiel wäre die Arbeit von Walter Schönau14 zu nennen, die freilich die angloamerikanische Perspektive einschließlich Lacan betont und auf das Mittelalter nicht eingeht. Der Beitrag zur Psychohistorie von Hedwig Röckelein 199915 berührt die Psychoanalyse nur am Rande. Eben weil die Psychoanalyse heute nicht mehr wie damals im Zentrum des Interesses steht, bzw. problematisiert worden ist, es aber auch im Zeitalter der „Ich-Illusion“ (Michael Gazzaniga) töricht wäre, die Rolle des Unbewussten leugnen zu wollen, bildet psychoanalytische Literaturbetrachtung über die einzelnen Schulen hinweg || 7 Vgl. Jean-Charles Huchet: Le roman médiéval, 175–222. 8 Vgl. Marthe Robert: Roman des origines et origines du roman. 9 Vgl. Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 66–75. 10 Vgl. auch Elio Gioanola: Psicanalisi, ermeneutica e letteratura. 11 Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 63. 12 Vgl. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. X, 179: „ […] daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen“. 13 Vgl. Bernd Urban: „Psychoanalytische Interpretation mittelalterlicher Literatur“, 370. 14 Vgl. Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. 15 Vgl. Hedwig Röckelein: „Psychohistorie und Mediävistik“.

Psychoanalytische Literaturwissenschaft | 455

auch in der Mediävistik eine mögliche kritische Perspektive, die in der Regel andere Aspekte ergänzt und so komplementäre Funktion hat. Historisch bedeutet die Psychoanalyse für die Mediävistik ein Modernisierungsprojekt, ohne das weitere inzwischen selbstverständliche Entwicklungen wie die Gender- oder Queer-Forschung undenkbar wären.16 Explizit sind psychoanalytisch geprägte Interpretationen auch deshalb selten geworden, weil das entsprechende Instrumentarium längst Teil der hermeneutischen Praxis geworden ist. Es geht freilich um eine kritische Perspektive, die im Zuge kulturwissenschaftlicher Problematisierung in einem – nicht immer konfliktfreien – Nebeneinander mit Psychohistorie, Mentalitätsgeschichte, Genderund Emotionsforschung steht,17 weil sie anders als solche z. T. historisch positivistischen Disziplinen nach dem Verdrängten, Ungesagten, Nicht-Bewussten mittelalterlicher Literatur und Kultur fragt und als methodisches Instrumentarium immer eine auch irritierende Funktion hat. Als eminent kritische Perspektive ‚begleitet‘ Psychoanalyse nicht die Kultur- und Literaturgeschichte; sie fragt nach dem verdrängten ‚Anderen‘ und dem Preis der kulturellen Schöpfungen und sorgt so erst für eine ganzheitliche Perspektive, welche die beschreibenden Disziplinen allein nicht erbringen können. Als solche ist sie partiell, aber auch unersetzlich. Christiane Ackermann ist Recht zu geben, wenn sie betont, dass sich nicht die Frage des Ob für das Verhältnis von Psychoanalyse und mittelalterlicher Literatur stellt, sondern danach, in welcher Weise und in welcher Funktion die Psychoanalyse zur Deutung mittelalterlicher Phänomene herangezogen wird.18 Von Jacques Lacans aporetischem Verständnis des Verhältnisses von Literatur und psychoanalytischer Theorie ausgehend hat Huchet 1985 den Begriff der ‚clinique littéraire‘ der Literatur in die Diskussion gebracht,19 die als Experimentierfeld des Nicht-Sagbaren (l’impossible sexuel) fungiert und das paradoxe Verhältnis von écrire und effacer, Sagen und Verwischen ins Bewusstsein rücken.20 Die Psychoanalyse erscheint so einmal mehr als kritisches Korrektiv der einseitig historischen Forschung, als Ort, an dem das Andere der kulturellen Phänomene offenbar wird. Was Huchet mit dem Beispiel der drei allmählich verblassenden Blutstropfen im Schnee im Perceval von Chrétien zu zeigen versucht, gilt wohl grundsätzlich und belegt die Nähe der psychoanalytischen Sehweise lacanscher Provenienz zur ontologischen

|| 16 Einen Überblick zu diesen Ansätzen bieten die Beiträge von Andrea Sieber und Andreas Kraß i. vorl. Bd. 17 Vgl. hierzu Rüdiger Schnell: „Psychoanalyse“, 370. 18 Vgl. Christiane Ackermann: „Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie“, 43. Vgl. dort auch die Ausführungen zur Rezeption der psychoanalytischen Literaturtheorie in der Mediävistik und zur Entwicklung der Psychoanalyse als Literatur- und Zeichentheorie (ebd., 9–29). Zur Kontextualisierung der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Semiotik innerhalb der Subjektivitätsund Körperdebatte vgl. dies.: Im Spannungsfeld von Ich und Körper, 23–43 u. 53–65. 19 Vgl. Jean-Charles Huchet: Littérature médiévale et psychanalyse, 21–42, bes. 27, Anm. 2. 20 Vgl. ebd., 193–236.

456 | Friedrich Wolfzettel Literaturkritik eines Maurice Blanchot,21 für die der Preis des Erfolgs im Scheitern liegt: „Das Verschwinden des letzten Tropfens macht die Schrift zu einem mit dem Geschlechtsakt isomorphen misslungenen Akt, ein Vorgang, der das Misslingen im Verschwinden zum Ausdruck bringt, d. h. eine sich selbst auslöschende Schrift und ein unvollendeter Roman.“22 D. h. die sich im Schnee auflösenden Blutstropfen werden zu Zeichen im Schnee, zu Resten einer sich entziehenden écriture des Unbewussten. Diese ‚Schrift‘ auf der weißen Schneedecke hat Henri Rey-Flaud als Menetekel der unbewussten Angst und Verklemmtheit vor dem Hintergrund des Vergessens und Verdrängens des uneingestandenen Begehrens interpretiert; das viel kommentierte Motiv des Sich-Vergessens verweist mithin auf eine für Werk und Helden typische Handlungshemmung oder Beinahe-Handlung und letztlich auf eine IchSpaltung hin.23 Den zahlreichen hermeneutischen, anthropologischen und motivgeschichtlichen Deutungen des berühmten Motivs entzieht die psychoanalytische Interpretation mithin nicht die Legitimität; sie hält diesen nur den Spiegel der Problematik des Textes vor. Von daher lässt sich der verunsichernde, ja frustrierende Charakter der psychoanalytischen Perspektive erklären, die immer nur das Nicht-Gesagte, Andere, Fehlende, Unterdrückte andeuten kann, aber keine in sich geschlossene Deutung, gleichsam als Alternative zu bisherigen Interpretationen, anzubieten weiß und notwendig, wie man ihr vorgeworfen hat, im Bereich des Allgemeinen bleibt – eines Allgemeinen, das freilich die jeweils spezifische Textur als Tarnung einer tieferen Doppelbödigkeit, als Ausdruck der Zensur des Unbewussten ausweist. Letzteres nicht zuletzt deshalb, weil ja der Text als bewusst gestricktes Gewebe (wörtl. textus) immer schon verdeckende, ‚verkleidende‘ Funktion hat und nur an einzelnen Stellen oder in seiner Tiefenstruktur das verdrängte Andere zu erkennen gibt. Psychoanalytische Sehweise ist eben deshalb immer nur komplementär, weil sie den konkreten Reichtum eines ‚Textes‘ nicht in Frage stellt und stattdessen nur dessen dunkle Kehrseite bewusst macht. Um noch ein Beispiel zu erwähnen: In seinem Aufsatz „Von der Fee nur der Fuß“ betont Stephan Fuchs-Jolie, wie in der Geschichte des Ritters von Staufenberg, einer durch und durch ‚glatten‘, problemlosen Version des archetypischen Motivs oder Phantasmas der Mahrtenehe (der Verbindung eines Sterblichen mit einer andersweltlichen Feengestalt) und der Melusinensage, ein während der – tabuisierten – Hochzeit des Helden plötzlich durch die Saaldecke dringender, nackter Fuß der verleugneten Feengeliebten die Kohärenz des Textes ‚stört‘. Bezeichnend aber ist zugleich, dass dieser störende Charakter des Motivs im || 21 Vgl. Friedrich Wolfzettel: „Maurice Blanchot“. 22 „La disparition de la dernière goutte fait de l’écriture un acte manqué, isomorphe à l’acte sexuel, un procès manifestant dans l’effacement le ratage qui s’accomplit. Une écriture qui s’efface, un roman demeurant inachevé“ (Jean-Charles Huchet: Littérature médiévale et psychanalyse, 208; diese sowie die nachfolgenden dt. Übers.: F. W.). 23 Vgl. Henri Rey-Flaud: „Le sang sur la neige“.

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‚kohärenten‘ Text keine Auflösung findet. Fuchs-Jolie deutet psychoanalytische Aspekte nur an; er beabsichtigt keine geschlossene Interpretation, sondern insistiert lediglich auf dem Bruch. Der „Sinn des Tabus“ bleibt ebenso „undurchschaubar“ wie der des fraglichen Motivs, „ein Bruchstück, eine Verheißung, ein Glück, als Ganzes aber entzogen“, Ausdruck eines „entgrenzten Körper[s]“ gegenüber den „sozial dressierten Körpern“ und Ausdruck eines Glücksphänomens, das sich der Held durch die Übertretung des Tabus selbst entzogen hat.24 Im Sinne Huchets scheint der nackte Fuß ähnlich wie die Blutstropfen im Schnee eine gegenläufige écriture des Unbewussten freizulegen, die in einem ‚traumhaften‘ Augenblick den offiziellen ‚Text‘ durchkreuzt. Inkohärenz als Erkennungszeichen des Unbewussten, das an der Schwachstelle (la faille) eines Textes zu ahnen ist und als das eigentlich Unsagbare der Verbalisierung und Vertextung widerstrebt. Wie es Huchet am Beispiel der tragischen Novelle des 13. Jhs. La Chastelaine de Vergi25 zeigt: Der dreimalige Bruch des Schweigegebots der Heldin, zuerst des liebenden Helden, der sich gegenüber seinem Herrn und Freund rechtfertigen möchte, dann des Herrn in der nächtlichen Szene mit seiner neugierigen und perfiden Frau, schließlich letzterer gegenüber der ahnungslosen Heldin selbst, steht dem unbewussten Gesetz des „impossible sexuel“ entgegen, weil es das Unsagbare zur Sprache macht („inscrit l’amour dans le champ sexuel“) und entwertet.26 Die Verletzung des Tabus, „la parole empêchée“27, zieht die Proliferation der Sprache und Perforation der scheinbar höfischen Oberfläche nach sich und entlarvt deren Perversion und Negativität. Es ist jedoch festzustellen, dass die in den 1970er Jahren aufblühende Reflexion über Literatur und Psychoanalyse mit wenigen Ausnahmen ‒ Johannes Cremerius (1974), Reinhold Wolff (1975), Peter Dettmering (1974), Peter von Matt (1972) u. a. ‒ dem Mittelalter wenig Beachtung geschenkt hat: Nur Wolfgang Beutin, der Autor der späteren großen Arbeit Sexualität und Obszönität (1990), hat schon 1972 mit dem Band Literatur und Psychoanalyse den Weg gewiesen, den er selbst, Karl Bertau, Walter Haug, Rolf Endres, Helmut Birkhan, Jürgen Kühnel, Hans-Ulrich Müller u. a. in der Germanistik weitergehen sollten. Auch in der Romanistik erfolgte eine Neuorientierung (meist unter lacanistischen Vorzeichen) kaum vor den 1980er Jahren; sie ist v. a. mit den Namen Roger Dragonetti und Charles Méla verbunden. Frühere Ansätze etwa von G. M. Mowatt (1969/70) über den Tristan- und Iwein-Roman oder von Gerald Bertin, der schon 1958 die ödipale Konstitution des Tristanstoffs untersucht,28 sind ohne große Wirkung geblieben, während die neueren Arbeiten den Boden für die Akzeptanz psychoanalytischer Fragestellungen bereiteten – auch da, wo das Ergebnis nicht geteilt wurde. Wir erinnern an unseren Forschungsbericht von || 24 Stephan Fuchs-Jolie: „Von der Fee nur der Fuß“, 68. 25 Vgl. Jean-Charles Huchet: Littérature médiévale et psychanalyse, 129–156. 26 Ebd., 138. 27 Ebd., 132. 28 Vgl. Gerald A. Bertin: „The Oedipus complex“.

458 | Friedrich Wolfzettel 198529 und unseren Beitrag zur Mutterfixierung im Lancelot en prose (1980 bzw. 1983).30 Nun ist es richtig – wie oft eingewendet wurde –, dass sich Sigmund Freud selbst kaum für das Mittelalter interessierte, doch taugt dies kaum zur Begründung der offensichtlichen Leerstelle zwischen Vorgeschichte, Antike und Neuzeit, die bekanntlich einen gleichermaßen breiten Raum im Denken Freuds einnehmen.

2 Einwände gegen die Psychoanalyse von der mediävistischen Literaturwissenschaft Zur Erklärung für das ausgesparte Mittelalter sind immer wieder zwei Argumente vorgebracht worden, die bei näherer Betrachtung nicht überzeugen. Da ist einmal der Hinweis auf die fehlende Autorfigur, die keine Psychopathographie im Stil der klassischen Studien von den 1930er Jahren bis in die Nachkriegszeit erlaube. Die „Bedeutungslosigkeit der Autorfrage“31 verbunden mit der Instabilität des mittelalterlichen Texts (mouvance), die vor allem Bernard Cerquiglini in seinem Éloge de la variante 1989 zum Ausgangspunkt einer ‚neuen‘ Philologie gemacht hat, wurde gegen die Anwendung der angeblich autor- und textzentrierten Methode ins Feld geführt. Huchet hat daher in seiner Clinique littéraire den Akzent auf Diskurse und Gattungen gelegt. Das Argument ist freilich eher pragmatischer als logischer Natur, da theoretisch auch die Textversion eines wenig oder gar nicht bekannten Autors oder Schreibers Gegenstand einer psychoanalytischen Lesart sein kann. Gerade die Fehler, Versehen, Verbesserungen, die bisher fast ausschließlich in philologischer Hinsicht interessant waren, könnten für die Psychoanalyse fruchtbar gemacht werden. Doch trifft es tatsächlich zu, dass – wie Huchet konstatiert – „der mittelalterliche Autor existiert nicht, er ist nur das Raunen seiner Werke“32? Genügt die Tatsache geringen Wissens über einen Namen, um Schlüsse vom Werk auf den Autor auszuschließen? Und was heißt ‚mittelalterlich‘, wenn es um die biographisch sehr wohl fassbaren Autoren schon des 13. und vor allem des 14. und 15. Jhs. geht? Und endlich hat gerade der oft konstatierte Vorrang des Textes vor dem Autor die programmatische Wende der psychoanalytischen Literaturkritik zu einer Psychoanalyse des Textes gefördert und die Mediävistik in gewisser Weise zum Vorreiter neuer methodischer Orientierung gemacht – in Deutschland unter freudianischen Vorzeichen, in Frankreich unter lacanistischen Prämissen – und den Sinn dafür geschärft, dass das Unbewusste eines Textes im jeweiligen Text selbst zu suchen ist und nicht in den || 29 Vgl. Friedrich Wolfzettel: „Mediävistik und Psychoanalyse“. 30 Vgl. ders.: „Lancelot et les fées“. 31 „[N]on-pertinence de la question de l’auteur“ (Jean-Charles Huchet: Littérature médiévale et psychanalyse, 12). 32 „[L]’auteur du Moyen Age n’existe pas, il n’est que le bruit de ses œuvres“ (ebd., 44).

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Projektionen eines Autors. Dennoch genügt es, an den seinerzeit wegweisenden Beitrag von Jean Györy, „Prolégomènes à une imagerie de Chrétien de Troyes“ (1967/68), zu erinnern, um die Möglichkeit und Fruchtbarkeit auch einer auf den Autor bezogenen Textanalyse anzuerkennen. Györy, der zwischen der Logik des Diskurses und „dem latenten Inhalt, der allein zählt“33 unterscheidet, interpretiert z. B. den Anfang des Érec-Romans als Ausdruck der symbolischen Selbsterhöhung des Aufsteiger-Klerikers Chrétien, „eines jungen Mannes, der seine Armut auf einen anderen oder eine andere projiziert und sich selbst mit einer geliehenen Aura umgibt“34. Die Abfolge der großen Romane erscheint in dieser Perspektive als Weg des Autors zu sich selbst, verspricht aber zugleich Aufschluss über ähnliche Biographien; die Mutter-Fixierung, verbunden mit der Vaterlosigkeit Percevals im Conte du Graal, wäre so vielleicht nicht auf Chrétien beschränkt und könnte als Indiz für ein sozialpsychologisches Syndrom im Anbruch und Umbruch des städtischen ‚bürgerlichen‘ Mittelalters begriffen werden. Ein zweiter, ebenfalls nur scheinbar gewichtiger Einwand bezieht sich auf die sog. Alterität des Mittelalters und besagt, dass die im Klima des Fin de Siècle in Wien entstandene Psychoanalyse auf die spätbürgerliche Familie zugeschnitten sei und damit schlechterdings für eine Erklärung älterer Epochen nicht tauge. Wolfgang Beutin hat dieses – von den Kritikern fast obsessionell aufgebrachte – Argument mit dem Hinweis auf ein entwicklungsgeschichtliches Modell zu entkräften versucht, das an Friedrich Engels Der Ursprung der Familie und an dem Konzept des Zivilisationsprozesses bei Norbert Elias orientiert ist,35 und Gerhard Grandtke hat am Beispiel des Kindheitsmotivs und der Beziehungen zwischen Zivilisationstheorie (Psychohistorie) und Psychoanalyse die notwendige Vermittlungskategorie des ‚historischen Subjekts‘ geltend gemacht.36 Psychoanalyse ist so naturgemäß, wie etwa Jürgen Kühnel in einem Vergleich zwischen König Ödipus und der mittelalterlichen Gregorius-Legende gezeigt hat,37 immer auch historisch grundiert. Aber bedarf es einer solchen Geschichts- bzw. Zivilisationstheorie überhaupt? Man vergisst dabei ja leicht, dass die Familienkonstellation Freuds ungeachtet des zeitgeschichtlichen Kolorits und der Orientierung an der bürgerlichen Familie ein Beziehungs- und ‚Aktantenmodell‘ (Algirdas Julien Greimas) darstellt, in dem die einzelnen Instanzen oder Imagines unschwer delegiert oder übertragen werden können. Ödipuskomplex, Bruderzwist, Vatermord, Mutterfixierung u. a. können sich, aber müssen sich nicht in originär familialen Konstellationen der bürgerlichen Familie entfalten. Die These || 33 „[L]e contenu latent, le seul véridique“ (Jean Györy: „Prolégomènes“ [1967], 362). 34 „[D]’un jeune homme qui projette sa pauvreté sur autrui [hier Enide] et revêt sa propre personne de splendeurs empruntées“ (ebd., 379). 35 Vgl. Wolfgang Beutin: „Psychoanalytische Kategorien“, bes. 269–296. 36 Vgl. Gerhard Grandke: „Überlegungen zum Problem der Rekonstruktion des ‚historischen Subjekts‘“. 37 Vgl. Jürgen Kühnel: „Ödipus und Gregorius“.

460 | Friedrich Wolfzettel einer „kulturbedingten Relativität der psychoanalytischen Theorie“38 ist so nur bedingt aussagekräftig. Ganz abgesehen davon, dass sich auch die gängige psychologisierende Interpretationspraxis um solche Alteritätsprobleme kaum je gekümmert hat. Alfred Adler hat schon in seiner frühen Interpretation des Chrétienschen Yvain 1935 darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Literaturwissenschaft darin bestehe, eben „die hinter dem eigentlichen Text liegende[n], unbegreifliche[n], aber darum nicht weniger realen Zusammenhänge begrifflich zu ordnen“39, auch wenn diese dem mittelalterlichen Autor auf Grund seiner andersartigen kulturellen Prägung nicht begrifflich sein mochten. Mit Ulrich Müller wird man also davon ausgehen können, dass es „so etwas wie ‚psychische Universalien‘ gibt“ und dass „bestimmte Bedürfnisse (Ängste, Wünsche, Triebe) universal sind“, dass es mithin möglich ist, „Methoden und Ergebnisse einer modernen psychologischen Richtung auf andere Epochen und Gesellschaftsformen zu übertragen“.40 Dies selbstverständlich unter der Prämisse, die letztlich immer abstrakte psychoanalytische Diagnose an die „jeweils unterschiedlichen sozialen Bedingtheiten“41 anzupassen und mit der Begrifflichkeit und Bildwelt des jeweils gültigen Weltbilds abzugleichen. Peter Dinzelbacher hat z. B. in einem Vergleich zwischen mittelalterlichen Jenseitsvisionen und den Ergebnissen moderner Sterbeforschung nicht nur die fundamentale Ähnlichkeit des psychoanalytischen Prozesses, sondern auch die epochenspezifische Prägung der Bildwelten wie z. B. die Rolle der Schreckensvisionen in einer „Epoche der Angst“42 hervorgehoben. Es ist Aufgabe einer kulturgeschichtlichen Forschung, die symbolischen Bezüge psychoanalytischer Literaturkritik in die Koordinaten einer alteritätsbewussten, historischen Perspektive zurück zu übersetzen, d. h. den psychoanalytischen Befund im Lichte der kulturgeschichtlichen Konstellation zu deuten und gegebenenfalls zu nuancieren, mit sozialgeschichtlichen Daten abzugleichen und mit archetypischen, folkloristischen und mythischen Bildern zu vermitteln. Wenn sich etwa Paul Zumthor in einem Chrétienartikel von 1977 auch auf Michel de Certeau, L’écriture de l’histoire (1975), beruft, um vor der Gefahr einer „nouvelle rhétorique“ psychoanalytischer Natur43 zu warnen, so vergisst der große Strukturanalyst und Semiotiker dabei, dass Certeau gerade in seiner Untersuchung des freudschen Diskurses am Beispiel der Mosesinterpretation von 1939 und in seiner Analyse einer Teufelsneurose im 17. Jh. gezeigt hat, wie Kulturgeschichte psychoanalytisch als Prozess immer komplexerer Tarnung und Verschiebung des neurotischen Potentials begriffen werden kann und Individualpsychoanalyse immer schon historische Kulturanthropologie voraussetzt. Wie z. B. Marthe Robert in ihrem schon || 38 Burkhardt Krause: „Zur Psychologie von Kommunikation und Interaktion“, 217. 39 Alfred Adler: „Yvain, der Löwenritter“, 129. 40 Ulrich Müller: „Die Ideologie der Hohen Minne“, 287. 41 Ebd. 42 Vgl. Peter Dinzelbacher: „Mittelalterliche Vision und moderne Sterbeforschung“, 42. 43 Paul Zumthor: „Médiéviste ou pas“, 317.

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genannten Buch Roman des origines et origines du roman (1972) des ‚Familienromans‘ im vorbürgerlichen Roman zwischen Klassik und Aufklärung in Frankreich zeigen konnte, bedarf der Aufweis einer archetypischen Konstellation nicht der bürgerlichen Familie. Im Gegenteil kann Alterität im Sinne von Hans Robert Jauß als Chance begriffen werden, das ‚Eigene‘ im ‚Anderen‘, vertraute Strukturen hinter der fremd gewordenen kulturellen Oberfläche zu entdecken.

3 Psychoanalyse als methodische Chance für die mediävistische Literaturwissenschaft Gerade die zweifellos gegebene Entbiographisierung bei der Perspektivierung mittelalterlicher Literatur durch psychoanalytische Kategorien ebenso wie das Denken in kulturanthropologischen Konstellationen können mithin als methodische Chance begriffen werden, wenn es darum geht, ausgehend von dem familial geprägten Unbewussten neue Formen interaktiver Konstellationen, mythischer Verdichtungen und Übertragungen zu untersuchen. Wie etwa das Gesetz der Verschiebung (in Kontiguitätsbezügen) auch in der mittelalterlichen Literatur zur Tarnung des „impossible sexuel“ (Huchet) fungiert, hat Michel Zink am Beispiel des Erkennungszeichens der Rose auf dem Schenkel der Heldin in dem historischen Abenteuerroman Guillaume de Dole (bekannter unter dem Titel Roman de la Rose) von Jean Renart (frühes 13. Jh.) zeigen können.44 Natürlich verweist das indiskret kolportierte Zeichen auf der Haut im Sinne des freudschen Begriffs der ‚Verschiebung‘ auf das Geschlecht der Heldin; gleichzeitig bildet diese Einsicht auch einen Hinweis auf mögliche psychoanalytische Deutungen des verbreiteten folkloristischen Erkennungsmotivs des Muttermals, das nicht auf das Mittelalter beschränkt ist. Im Zuge der wachsenden Akzeptanz psychoanalytischer Fragestellungen hat vor allem der Begriff des ‚Phantasmas‘ eine kaum mehr methodisch reflektierte Aufwertung erfahren. Unabhängig vom Autorbegriff können (unbewusste) Zwangsvorstellungen in verschiedensten Kontexten und Bildern einander zugeordnet werden. Selbst da, wo noch kein schlüssiger Deutungsansatz vorliegt, verspricht der Begriff wertvolle Aufschlüsse über das Unbewusste eines Textes, der sich im Zusammenspiel der Phantasmen als seine eigene ‚Psychoanalyse‘ ausweist – ganz so, als wäre die viel kommentierte conjointure Chrétienscher Herkunft zugleich eine Form psychoanalytischer Verdichtung. So hat etwa Gertrud Steiner von der „phantasmagorischen Wiederkehr der || 44 Vgl. Michel Zink: Roman rose et roman, 67: „De même que le roman glisse à côté de son histoire, celle de la gageure, de même l’histoire glisse à côté de son centre indicible […], de même la rose rouge a glissé du centre jusque sur la cuisse“ (Ebenso wie der Roman seine eigentliche Geschichte, die der Wette, nur streift, streift die Geschichte ihren unnennbaren Mittelpunkt, und ebenso ist die rote Rose vom Mittelpunkt des Körpers zum Oberschenkel geglitten).

462 | Friedrich Wolfzettel ‚verlorenen Zeit‘ im ‚Erec‘ Hartmanns von Aue“45 gesprochen; Méla machte in der Literatur um 1200, Conte du Graal, Le Bel Inconnu, Aucassin et Nicolette oder Le Jeu de la Feuillée, das Phantasma der verlorenen Mutter aus, „der den in sich ununterscheidbaren Gesichtszügen der Mutter und der Geliebten gemeinsame Schatten“46. Im Lichte von Alexandre Leupins Deutung des Graal-Vulgate-Zyklus47 und der Suche nach einer Sakralität der écriture ließe sich z. B. die von Peter von Matt eingebrachte Vorstellung einer Opus-Phantasie48 auch für die Mediävistik fruchtbar machen. Nicht zufällig ist der Begriff des Phantasmas ja auch eine zentrale Kategorie der seit den 1960er Jahren in Frankreich entstehenden Nouvelle Critique, die entscheidend zu einer neuen Form der auf das Gesamtwerk eines Autors bezogenen, bildhaften Literaturkritik beigetragen hat und die – wie bei Roland Barthes oder Jean Starobinski – auf die Fragestellung nach der Signatur einer Epoche ausgeweitet werden konnte. In seiner Essaysammlung La parola e il fantasma nella cultura occidentale (1977) hat z. B. Giorgio Agamben den Begriff kulturphilosophisch benutzt und zum Signum eines ganzen Kulturkreises gemacht. Das ‚Phantasma‘ entspricht z. T. dem freudschen Begriff des ‚Tagtraums‘, eines im Wachzustand imaginierten Szenariums mit Wunscherfüllungscharakter, geht aber insofern darüber hinaus, als der Begriff auch Angstzustände und neurotische Zwangsvorstellungen umschreiben kann. Literarisch gesehen bezieht er sich auf einzelne Bilder und Komplexe, aber auch auf Strukturzwänge wie etwa das Auserwählungsmotiv, das Findelkind- und ‚Familienroman‘-Phantasma. Der psychoanalytische Ansatz ist auch da mit Händen zu greifen, wo auf psychoanalytische Kategorien im engeren Sinne verzichtet wird. Die psychocritique von Charles Mauron wäre hier ebenso zu nennen wie der von der Grenobler Schule um Gilbert Durand eingebrachte Begriff des ‚imaginaire‘, der ungeachtet seiner Herkunft von der Tiefenpsychologie Jungscher Prägung unschwer mit psychoanalytischen Fragestellungen in Verbindung zu bringen ist und sich in der Ich-Psychologie Lacans wiederfindet.49 Ein schönes Beispiel gibt Huchet unter dem Titel La grammaire du phantasme littéraire.50 In dem Turiner Fragment des Tristan von Thomas finden wir die ungewöhnlich konkret geschilderte und daher symptomatische Szene des ‚kühnen Wassers‘. Tristan hat König Marke und Isolde verlassen müssen und in der heimatlichen Bretagne die Namensvetterin der Geliebten, Isolde Weißhand, geehelicht, ohne freilich die Ehe zu vollziehen. Bei einem Ausritt mit dem Bruder – Isolde reitet im Da-

|| 45 Vgl. Gertrud Steiner: Das Abenteuer der Regression. 46 „[L]’ombre commune aux visages en eux-mêmes indiscernables de la mère et de la maîtresse“ (Charles Méla: Blanchefleur, 53). 47 Vgl. Alexandre Leupin: Le Graal et la littérature. 48 Vgl. Peter von Matt: „Die Opus-Phantasie“. 49 Die „recherches sur l’imaginaire“ wurden begründet von Gilbert Durand: Les structures anthropologiques de l’imaginaire (1969). 50 Jean-Charles Huchet: „La grammaire du fantasme littéraire“.

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mensitz – kommen die beiden durch eine Furt, und Isolde lacht plötzlich hell auf. Nach dem Grund befragt, erzählt sie dem Bruder, das Wasser sei ebenso hoch zwischen ihre Schenkel gespritzt, wie keines Mannes Hand und schon gar nicht Tristan es je gewagt hätten. Huchet interpretiert nun die Episode als Text im Text, d. h. als Szenario einer unbewusst imaginierten, lustvoll erlebten Vergewaltigung, in dem sich alle Einzelheiten zu einem stimmigen ‚Anderen‘ zusammenschließen. Das sich aufbäumende Pferd wird zum Phallus, vor dem Isolde die Schenkel öffnet, während sie die Hände aneinander presst. Das im Schlamm rutschende Pferd, das wieder auf die Hufe gefallen ist, entspricht dem gleitenden Penis, das spritzende Wasser natürlich dem männlichen Samen. Isolde schreit vor Lust, und der anschließende Bericht des Vorgefallenen an den Bruder verschweigt und offenbart zugleicht das NichtSagbare. Im Zusammenhang mit dem angedeuteten Motiv des Schlagens oder Stoßens (frapper) mit den Sporen bringt Huchet die Szene wortspielerisch auf den Punkt: 1) Isolde schlägt ein Geschlecht; 2) Ein Geschlecht schlägt Isolde; 3) Isolde ist geschlagen.51 Das Phantasma ist Teil eines größeren Kontextes, den es in einer Einzelszene blitzartig erhellt, indem die Logik des Unbewussten an Sprachsignalen festgemacht ist.

4 Der Ödipuskomplex im Sinne Sigmund Freuds und die höfische Liebe Schon zu Lebzeiten Freuds war die Psychoanalyse ein methodisches Instrumentarium mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Für die literarische Analyse fallen diese freilich kaum ins Gewicht und beeinträchtigen nicht die von Anfang an gegebene Tendenz zu einer mythenspezifischen und strukturalen Sehweise, wie sie bspw. in der Dreieckskonstellation des Ödipuskomplexes modellhaft gegeben ist. So stellt das zentrale Phänomen der sog. höfischen Liebe ohne Zweifel eine ödipale Neurose dar, die der verehrten Dame eine Mutterrolle zuweist und das gegen den ‚Vater‘ gerichtete Begehren des verehrenden Ich dem ödipalen Tabu unterwirft. Helmut Birkhan52 hat dies am Beispiel von Neidhart von Reuental gezeigt. Die ödipale Deutung ist noch plausibler, wenn man mit Erich Köhler53 die wesentlichen Vertreter der sog. Minnelyrik seit den Provenzalen im niederen aufsteigenden Ritteradel sieht, der seinen Platz an der Seite des alten Feudaladels sucht. Soziale und kollektivpsychologische Konstellation sind so kongruent. Die Fruchtbarkeit der von Henning Krauß und Reinhold Wolff54 angesprochenen Verbindung von Literatursoziologie und Psycho|| 51 1) „Iseut frappe un sexe“; 2) „Un sexe frappe Iseut“; 3) „Iseut est frappée“ (ebd., 58). 52 Vgl. Helmut Birkhan: „Neidhart von Reuental und Sigmund Freud“. 53 Vgl. Erich Köhler: Trobadorlyrik und höfischer Roman, 5–8. 54 Vgl. Henning Krauß/Reinhold Wolff (Hgg.): Psychoanalytische Literaturwissenschaft und

464 | Friedrich Wolfzettel analyse liegt hier auf der Hand. Erst mit Hilfe der Psychoanalyse gelingt es so überdies, die soziale Epochenstruktur auch psychologisch zu verankern und den Verdrängungsbegriff zur Erklärung der eigentlich zentralen Signatur des Hochmittelalters einzusetzen. Mit Blick auf die Zensurinstanz der Kirche hat Ulrich Müller hier in seinem schon genannten Beitrag von 1986 von einer „ekklesiogenen Kollektivneurose“55 gesprochen, die zugleich in Umkehrung patriarchalischer Frauenfeindlichkeit auf verdrängte Männerängste verweise. Als „an institutionalized response to the Oedipus complex“56 hatte ja schon Richard A. Koenigsberg 1967 die höfische Liebe interpretiert, d. h. als Kulturalisierung einer Neurose, die das eigentlich Neue des Mittelalters im Vergleich mit der Antike repräsentiere. Im Gegensatz zu den späteren Alteritätsverfechtern stellt der Verfasser z. B. die Ähnlichkeit der Beschreibung der Liebe in Freuds Psychologie des Liebeslebens und dem Traktat De Amore von Andreas Capellanus fest und sieht eine direkte Vorwegnahme der freudschen Dialektik der überhöhten und der verachteten Mutter in der widersprüchlichen Zweiteiligkeit des Traktats, der die höfische Liebe zuerst scheinbar zustimmend beschreibt, um sie am Ende als verwerflich anzuprangern. Es ist die bislang einzige plausible, aber wenig genutzte Erklärung für ein philologisch unlösbares Problem. Vielleicht sollte man hier auch die – wiewohl unter lacanistischen Vorzeichen stehende – schon genannte Studie von Méla über die Ununterscheidbarkeit von Mutterbild und Geliebter57 in einer Reihe von Werken des späten 12. und frühen 13. Jhs. anführen: „In diesen Romanen ist das Abenteuer immer weiblichen Geschlechts“58. Zusammen mit den Überlegungen Huchets zum weiblichen Imaginaire des Thebenromans59 ergäbe sich so eine breite, psychoanalytisch bestimmte Sehweise der Wiederkehr des Verdrängten seit der Mitte des 12. Jhs. Die höfische Neurose erklärt die vielfältigen Ausprägungen der Doppelung des Frauenbildes, wie sie in dem gängigen typologischen Kürzel EVA – AVE (= Maria) deutlich wird, welches unmittelbar das bürgerliche Syndrom Engel/Dirne vorwegnimmt. Die freudsche Analyse erweist sich hier einmal mehr als das einzig verfügbare und gültige Erklärungsmuster. Unter dem Titel La névrose courtoise hat sich in Frankreich Rey-Flaud 1983 in ähnlicher Weise geäußert und Huchet hat sich 1987 unter dem Titel L’amour discourtois erneut mit dem Thema befasst. Da sich solche Überlegungen auch auf das höfische Lied beziehen, zeigen sie die Möglichkeiten psychoanalytischer Gattungstheorien, insofern bestimmten ‚Textsorten‘ eine je spezielle ‚Entlastungsfunktion‘ im literarisch-kulturellen System zugewiesen wird. So wäre etwa an die Thesen von Jonathan Saville zum mittelalterli|| Literatursoziologie. 55 Vgl. Ulrich Müller: „Die Ideologie der Hohen Minne“, 296. 56 Vgl. Richard A. Koenigsberg: „Culture and unconscious fantasy“, 47. 57 Vgl. Charles Méla: Blanchefleur, 53. 58 „[L]’aventure […] est toujours, en ces romans, féminine“ (ebd., 24). 59 Vgl. Jean-Charles Huchet: Le roman médiéval.

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chen Tagelied (The medieval erotic Alba, 1972) zu erinnern, dessen Struktur („structure as meaning“!) die Überwindung der ödipalen Regression der Liebesnachtphantasie (‚Wunschprinzip‘) durch das morgendliche ‚Realitätsprinzip‘ spiegele. Oder es wäre an die Deutung der Pastourelle durch Michel Zink zu denken, für den die beliebte lyrisch-balladeske Gattung, welche die Liebesbegegnung eines Adligen oder Klerikers mit einer Hirtin beschreibt, Ausdruck mythischer Evasion und Wunscherfüllungsphantasie eines Ichs ist und natürlich auch zeitweiliges Ausbrechen aus den Zwängen des Höfischen signalisiert.60 Die oft beschworene ‚Modernität des Mittelalters‘61 machen nicht zuletzt solche Ansätze transparent. So ist das (obszöne/perverse) Lachen des Mittelalters62 seit langem ein bevorzugtes Forschungsprojekt der an der Witz-Theorie Freuds orientierten Komödien- und Fabliau-Forschung.63 Einen der anspruchsvollsten Versuche psychoanalytischer Gattungsforschung stellt zweifellos Ilse Nolting-Hauffs „Zur Psychoanalyse der Heldendichtung“ (1978) dar. Analog zum freudschen ‚Traumgedanken‘ interpretiert die Verfasserin die historische Umdeutung durch den „Sagengedanken“64 als kollektiv-narzisstische Kompromissbildung und Korrektur der Wirklichkeit, als Produkt von „kollektivem Vergessen und kollektiver Fehlerinnerung“.65 Die ödipale Dominante etwa im Rolandslied (vgl. Howard Bloch, 1973)66 äußert sich für Nolting-Hauff vor allem in der Vaterproblematik und der Aufspaltung der Vaterimagines in einen positiven Vater (Karl) und einen negativen Vater (den Verräter Ganelon), auf den der Tötungswunsch projiziert wird; der Tod des Helden erscheint in diesem Lichte als unbewusste Selbstbestrafung.67 Die Vaterproblematik spielt offensichtlich auch für die Gattung Roman eine Rolle. Auf die Thesen Freuds in Totem und Tabu verweist z. B. Huchet in seinen Überlegungen zur Geburt des neuzeitlichen Romans, der mit dem im Thebenroman ge|| 60 Vgl. Michel Zink: La Pastourelle. 61 Vgl. Joachim Heinzle: Modernes Mittelalter. 62 Vgl. Wolfgang Beutin: Sexualität und Obszönität. 63 Jean Bellemin-Noël: Psychanalyse et littérature, 74, bringt den Unterschied zwischen Tragödie und Komödie (der mutatis mutandis auch für das Mittelalter gilt) auf die Formel: Im ersten Fall ist der Held das Opfer, im letzteren begeht er die Aggressionen selbst und lebt dabei sein unbewusstes Ich aus. Noch einfacher bei Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, 66: „Entweder wird die Vaterfigur umgebracht oder nicht.“ Zum Fabliau, „un texte sans profondeur“ (108), vgl. Jean-Charles Huchet: Littérature médiévale et psychanalyse, 93–126; der Autor sieht in der sich selbst preisgebenden écriture der Perversion („le fabliau: un fétiche qui fait de la littérature une perversion“, 101) einen Grenzfall, der den Roman gleichsam aufhebt: „Le fabliau ne subvertit pas la poétique du roman, il l’invalide en soulignant la dimension purement rhétorique“ (114) („Anstatt die Romanpoetik zu untergraben, bestärkt das Fabliau diese durch die Betonung der rein rhetorischen Dimension“). Stärker an Freud und seiner Theorie des Witzes orientiert, sieht Jean Batany: „L’apologue social des strates libidinales“ (1980), in der Kürze des Textes das Lachen des Verdrängten. 64 Ilse Nolting-Hauff: „Zur Psychoanalyse der Heldendichtung“, 442. 65 Ebd., 455. 66 Vgl. R. Howard Bloch: „Roland and Oedipus“. 67 Nolting-Hauff: „Zur Psychoanalyse der Heldendichtung“, 461.

466 | Friedrich Wolfzettel schilderten Vatermord der Ödipus-Sage einsetzt und die Folgeentwicklung als immer neue Suche (Wiederholungszwang) nach dem toten Vater erscheinen lässt. Dass auch die lacanistische Forschung das Vaterproblem ins Zentrum stellt, wird noch zu besprechen sein. Die ödipale Wendung gegen den Vater liegt naturgemäß auch den wichtigen Tristan-Deutungen zugrunde: Gerald A. Bertin schon 1958, Françoise Barteau 1972 oder Wolfgang Beutin 1977, der auch den Kampf mit dem Ungeheuer, etwa Siegfrieds mit dem Drachen im Nibelungenlied, als Kampf gegen den übermächtigen Vater deutet. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein von Bernd Urban zitierter Brief des achtzehnjährigen Sigmund Freud, der die Erträglichkeit der unritterlichen Tristanhandlung mit der poetischen Verkleidung der Umstände erklärt: „[…] daß Marke alt und Tristan jung ist, daß ein Liebestrank die beiden [Liebenden] gefesselt, daß Markes Schwäche und Unfähigkeit […] selbst wieder eine Entschuldigung der Liebenden ist.“68 Die volle Tragweite der ödipalen Konstellation des Tristan-Stoffs wird deutlich, wenn man mit Gerald Bertin (1958) die Allmachtsphantasie des Helden, der die Vatertötung schon im Drachenkampf und im Kampf mit Morholt vorweggenommen hat, mit der regressiven Mutterfixierung im Minnegrotten- (bzw. Laubhütten-)Motiv verbindet und Impotenz und Tod als Ausdruck der Selbstbestrafung deutet. Otfried Ehrismann (1981) hat ja daran erinnert, dass Siegfried nach der Drachen-Vater-Tötung und dem Bruderkampf mit den Zwergen dem schwachen ‚Vater‘ Gunther die ‚Mutter-Geliebte‘ Brunhilde zuführt, ähnlich wie Tristan für Marke auf Brautwerbung geht. Dass wir es im Übrigen mit einer dialektischen Bewegung zu tun haben, in der der Tötung des Vaters die Wiederherstellung der Vatergewalt folgt, konnte Beutin (1975) am Nibelungenlied ebenso wie an anderen zweiphasigen Texten wie Heinrich von Kempten oder dem Gregorius von Hartmann von Aue zeigen. Auch dies ist ein Beispiel für die Ablösung des Wunscherfüllungs- durch das Realitätsprinzip. Michel Zink hat 1978 einen Traum Joinvilles als Ausdruck der Vatergewinnung und ödipales Gegenmodell interpretiert; in der glückhaften Beziehung des Chronisten zu Ludwig dem Heiligen zeige sich zugleich ein Moment der Ich-Gewinnung und Ich-Aufwertung durch die Identifikation mit dem Vater, wie sie in der umgekehrten Perspektive des Elektra-Komplexes von Rolf Endres (1973) am Beispiel der Selbstaufopferung der schönen Meierstochter im Armen Heinrich von Hartmann gezeigt worden ist. Paradigmatisch macht Endres die Pertinenz des freudschen Instrumentariums für sozial- und kulturgeschichtliche Problemstellungen deutlich, insofern sich die „psychologischen Strukturen als Abbild tatsächlicher Strukturen“69 deuten lassen.

|| 68 Vgl. Bernd Urban: „Psychoanalystische Interpretation mittelalterlicher Literatur“, 363. 69 Rolf Endres: „Über die gesellschaftliche Bedingtheit“, 72.

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5 Das Begehren in der Theorie Jacques Lacans Anders als die Theorie Freuds ist die dem Strukturalismus verpflichtete Weiterentwicklung der freudschen Thesen durch Jacques Lacan (1902–1981) keine historische Kulturanthropologie, sondern eine negative Erkenntnistheorie, die durch die Begriffe der Entfremdung und des entfremdeten Begehrens (désir) geprägt ist. Mit Ausnahme des berühmten Aufsatzes (1956) über The purloined letter von E. A. Poe, der sein Beispiel lediglich aus der Literatur bezieht, beansprucht Literatur als solche bei Lacan keinen eigenen Raum in der Theorie des sog. symbolischen Bereichs von Sprache und Kultur. Vielleicht hat gerade diese Neutralität zur Beliebtheit des lacanschen Denkens in der nicht-deutschen Mediävistik beigetragen, die ihren Gegenstand damit uneingestanden aufwerten und Alterität positivieren konnte. Die vorgebliche Subjektlosigkeit der mittelalterlichen Literatur erwies sich in dieser Perspektive als Vorteil. Denn der kulturgeschichtlichen Übertragbarkeit der freudschen Psychoanalyse steht bei Lacan eine strikt textgebundene Problematik des Kulturphänomens ‚Sprache‘ gegenüber, die jede biographische Methode irrelevant macht und für die es auch „keine Metasprache“ gibt, „in die die hermeneutischen Befunde übersetzt werden könnten“.70 Die Arbeiten von Lacan, mit denen nach Peter Widmer die „zweite Revolution der Psychoanalyse“71 einsetzt, wurden seit den 1950er Jahren veröffentlicht; die Seminare erreichten vor allem seit den 1960er Jahren beinahe Kultstatus.72 Seit den 1970er Jahren sorgte die ursprünglich von Lacan selbst geleitete Reihe Connexions du champ freudien bei den Editions du Seuil für eine rasche Verbreitung und Anbindung an die Methodendiskussionen, was vor allem durch Zeitschriften wie Poétique und Littérature bestätigt wird. Lacan, der sich als Freudschüler verstand und in den 1930er Jahren medizinisch über Paranoia gearbeitet hatte, begriff die Psychoanalyse dennoch weniger als therapeutische Wissenschaft denn als sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Disziplin, die von der Forschung in die Nähe von Heidegger, Wittgenstein und Derrida gerückt wurde.73 Bekannt ist sein Diktum, dass das Unbewusste wie eine Sprache konstruiert sei. Indem Lacan die von Ferdinand de Saussure betonte Arbitrarität der Beziehung von Signifikant und Signifikat (Wort und Bedeutung) noch radikalisiert und gegen das Abbilddenken bei Saussure den Vorrang des leeren Signifikanten behauptet, nähert er sich der Sprachphilosophie eines Jacques Derrida, dessen différance-Begriff die immer aufgeschobene und nie einholbare Bedeutung umschreibt.74 Vor allem || 70 Walter Schönau: Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft, 150. 71 Peter Widmer: Subversion des Begehrens. 72 Den Seminarbänden Écrits, Écrits I. Anthologie und Écrits II (Paris 1966, 1970, 1971) entsprechen die deutschen Bände Schriften I, Schriften II, Schriften III (Olten u. a., 1973, 1975, 1980), die seitengleich von Suhrkamp, Frankfurt a. M., übernommen wurden. 73 Vgl. Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte, 273. 74 L’écriture et la différence von Jacques Derrida erschien 1967.

468 | Friedrich Wolfzettel kommt er dem von Zumthor und Dragonetti geltend gemachten „esprit de jonglerie“75 der Sprache im Mittelalter entgegen und öffnet den Weg für eine Hermeneutik der Mehrdeutigkeit. Gerda Pagel hat Lacans Werk als „Praktizierung eines ‚subversiven Diskurses‘“ charakterisiert, „der sich im Spiel von Andeutungen und Querverweisen, von Brüchen und Differenzen vor jeder Verfestigung und Identifizierung bewahren will“.76 Die zutiefst pessimistische, psychoanalytische Wissenschaft vom Menschen, deren Ziel nicht primär Heilung, sondern Erkenntnis ist,77 kann hier naturgemäß nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Beschränken wir uns auf einige wenige, für die Literaturwissenschaft folgenreiche Aspekte. Der zentrale Begriff der lacanschen Philosophie ist, wie schon gesagt, der des ohnmächtigen Begehrens (désir), der die Geschichte der menschlichen Reifung als „eine Folge von unheilbaren Abtrennungen markiert“78 und die angenommene Ganzheit und Einheit des Ichs als Illusion entlarvt. Das heißt, der Mensch erreicht nie den Status des Erwachsenseins. Es ist das Begehren der Sprache selbst, die dem freudschen Überich entsprechende Sphäre des Gesetzes (la loi), die den väterlichen, gesellschaftlich geprägten Bereich des Symbolischen (le symbolique) verkörpert und die zugleich den Phallus, den Signifikanten der Leere und der Unmöglichkeit des Genusses, repräsentiert.79 Die Sprache füllt und wiederholt zugleich den Mangel (manque), und „[d]er Mensch […] sieht sich diesem Widerholungszwang ausgeliefert“80. Geprägt ist sie von dem hinter ihr liegenden Zustand des Imaginären (l’imaginaire), den Lacan dem vorsprachlichen mythischen Mütterlichen zuordnet, nach deren Prägung das Kleinkind sich in der sog. Spiegelphase (stade du miroir) erstmals euphorisch als imaginäres Ganzes sieht, und diese Ganzheitsillusion wird hinfort auf die dualen Beziehungen übertragen. „Verliebtsein bewahrt immer etwas von diesem Einssein-Wollen mit dem anderen“81, d. h. das Begehren bleibt der narzisstischen Phase der Kindheit verhaftet, während das Leben im Bereich des Symbolischen für immer als mangelhaft empfunden wird. Das Imaginäre bezeichnet den Bereich narzisstischer „Selbstfindung, insofern diese der Illusion des Eins-sein-Wollens mit sich selbst als einem anderen unterliegt“82, ein „Spiel der Identifizierung“, aus dem sich „der immense Reichtum der Phantasien“ entwickelt.83 Die von Freud eingeleitete Demontage des Ichs wird hier ins Extreme fortgeführt. Mit dem Eintritt in den väterlichen Bereich des Symbo|| 75 Paul Zumthor: „Jonglerie et langage“. 76 Gerda Pagel: Jacques Lacan‘ zur Einführung, 541. 77 Hierzu Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewusste und Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Vgl. auch Alexandre Leupin (Hg.): Lacan and the human sciences. 78 Ebd., 281. 79 Vgl. ebd., 284. 80 Ebd. 81 Peter Widmer: Subversion des Begehrens, 80. 82 Gerda Pagel: Jacques Lacan zur Einführung, 31. 83 Ebd., 24.

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lischen betritt das Ich den Bereich der leeren Signifikanten und ist der Verewigung des Begehrens ausgeliefert, welche den Verzicht auf die Präsenz des Dings und – analog zum Kastrationsbegriff bei Freud – das Erlebnis der Differenz impliziert. Das symbolische Universum der Sprache stiftet Kultur, indem es die Natur und Unmittelbarkeit negiert. Das heißt, Sprache ist immer schon entfremdete Sprache: „In den Diskurs des sprachlich strukturierten Unbewußten eingeschrieben, klafft das Begehren zwischen Gesagtem und Sagen, zwischen Aussage und Äußerung […].“84 Vater- und Mutterimagines sind so von konkreten Instanzen abgelöst; sie werden zu entwicklungspsychologischen Stadien umgedeutet, die sprachontologisch begründet sind. Daher spricht Lacan von le nom du père, dem bloßen Namen des Vaters. Auffällig ist ferner, dass der ursprüngliche therapeutisch-aufklärerische Impetus Freuds („Wo Es war, soll Ich werden“)85 tendenziell zugunsten einer Positivierung des regressiven Begehrens nach dem vorsprachlichen Bereich aufgegeben wird, da das Imaginäre im frühkindlichen Spiegelstadium zumindest die Illusion der Einheit gewährt hatte. Von daher ist auch eine gewisse Nähe zur Tiefenpsychologie und den „recherches sur l’imaginaire“ des Gaston Bachelard-Schülers Gilbert Durand zu konstatieren.86 D. h. die Sprache wird wahr, nur wo sie sich zum Imaginären hin öffnet, wo sie ‚löchrig‘ wird, wo sich die Spuren des Unsagbaren, „die unendlichen Spiegelungen dessen, was immer nur als verlorenes Schreiben erscheint“,87 die Bruchstellen (failles) des Subversiven auftun. Und die Aufgabe psychoanalytischer Literaturkritik liegt nicht im Nachweis individuell zuschreibbarer Neurosen oder epochenspezifischer Syndrome, sondern nurmehr im Aufweis des immer schon spezifischen Charakters der Literatur, ihres verräterischen Sprachspiels und ihrer „pensée mythique“88, da „die gemeinsame Sache mit einer auf keine Wirklichkeit rückführbaren Welt“89 gerade nicht als neurotisch verzerrte Widerspiegelung der Wirklichkeit zu erfassen ist. Wie es Méla einmal sagt: Die mittelalterliche Literatur wird hier nicht als Vorstufe der Moderne, sondern als unerreichtes Vorbild psychoanalytischer Gesetzmäßigkeit begriffen.90 Psychoanalytische Literaturbetrachtung dieser Art ist notwendig Psychoanalyse der Entfremdung. Méla gehört zu der sog. Genfer Schule, für die vor allem Roger Dragonetti lange Zeit stand. Sein Buch La vie de la lettre au Moyen Age (Le Conte du Graal), das 1980

|| 84 Ebd., 67. 85 Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. I, 516. 86 Siehe Anm. 49. 87 „[L]es reflets infinis de ce qui jamais ne s’écrit qu’en pure perte“ (Charles Méla: Blanchefleur, 19). 88 Ders.: La Reine et le Graal, 100. 89 „[P]artie prenante d’un monde irréductible au réel“ (ebd., 99). 90 Vgl. Charles Méla: Blanchefleur, 97: „Le Moyen Age n’est pas le balbutiment de la vérité psychologique; il n’en est la perfection inigalée“.

470 | Friedrich Wolfzettel in den Connexions du champ freudien erschien, zeigt schon im Titel den Vorrang der psychoanalytischen Sprachkritik vor dem eigentlichen, in die Klammer gesetzten Werk und den Vorrang der Sprachproblematik vor der Psychologie. Aus der Sicht der oben genannten Prämissen wäre im Entwicklungsroman Perceval eigentlich alles klar: Der junge Held befreit sich aus dem Schoß des mütterlichen imaginaire und macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Vater bzw. nach dem symbolischen Bereich der Väter. Doch für diese steht nur der Name des Vaters, mit den ständigen Verschiebungen zu Väterinstanzen bis hin zu Gott, die Problematik des Nennens in einem Verwirrspiel der ‚Namen‘, durch das sich die der Theologie entzogene weltliche ‚Literatur‘ immer schon als Akt der Usurpation vor einem Hintergrund des Mangels erweist. Implizit sind wir nicht weit von den Thesen Györys enfernt, denn – wie der Verfasser einmal bemerkt – „das Werk Chretiens verbirgt den Wahnsinn unter einer theologischen Sprache“,91 d. h. es usurpiert „eine autorisierte Sprache“92, um den illegitimen und transgressiven Charakter des Literarischen zu verbergen.93 In dem Lacan gewidmeten Werk interessiert sich Dragonetti eben nicht für Psychologie, denn wenn für Lacan das Unbewusste die Sprache des Anderen ist, dann muss es darum gehen, dieses Andere in einem unlesbar gewordenen, sich entziehenden und mehrdeutigen Text sichtbar zu machen (die doppelte Investitur der Schrift94). „[G]ewisse scheinbare Sicherheiten problematisieren“,95 lautet das Programm, das die Identität der Protagonisten ebenso infrage stellt wie die Aussagekraft des Geschilderten, das nur den Mangel verdeckt und sich eben deshalb hilflos einem Wiederholungszwang ausliefert. Der in der Forschung gerne von der Perceval-Handlung abgetrennte und dieser seitenverkehrt gegenübergestellte GauvainTeil erscheint dann als onirische Spiegelung, Gauvain als der ‚Andere‘ in Perceval selbst. Weder tiefenpsychologisch noch mythisch interpretierbar, entzieht sich der Conte du Graal jeder beruhigenden symbolischen oder allegorischen Deutung, ganz zu schweigen von den beliebten moraltheologischen Ansätzen der Forschung. Das geschaffene Werk ist daher zugleich das getötete Werk, „l’œuvre assommée“96, und das Monument der Verdrängung, der mit der Sprachwerdung und dem Eintritt in das Symbolische verbunden war. Dragonetti trifft sich hier mit Méla, der in seinem 1979 ebenfalls bei Seuil publizierten Buch La Reine et le Graal den Roman als virtuell unabschließbare Suche nach der verdrängten Wahrheit begreift und sich dabei gegen jede „grobschlächtige Psychoanalyse“97 wendet.

|| 91 „[L]’oeuvre de Chrétien masque sa folie sous un langage théologique“ (Roger Dragonetti: La vie de la lettre, 122). 92 „[U]ne parole autorisée“ (ebd.). 93 Vgl. ebd., 239. 94 „[L]a double investiture de la lettre“ (ebd., 216). 95 „Rendre problématiques certaines évidences acquises“ (ebd., 30). 96 Ebd., 241. 97 „[P]sychanalyse grossière“ (Charles Méla: La Reine et le Graal, 121).

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Tatsächlich sind die Arbeiten von Méla, Rey-Flaud und Huchet freilich von dem Bemühen geprägt, lacanianische, sprachontologische Ansätze mit freudianischen Kategorien zu verbinden und dabei zugleich dem mythenpsychologischen Material gerecht zu werden. Méla etwa stellt die Suche Percevals nach dem spirituellen Vater (sprachspielerisch: Perceval = Père! ce val)98 dem Reich der Mütter in der GauvainHandlung gegenüber, erklärt aber ähnlich wie Dragonetti den Abbruch des unvollendeten Werks aus dessen ‚Unmöglichkeit‘ („weil er mit seiner eigenen Unmöglichkeit konfrontiert wird“)99. Der Roman als solcher wird zur Suche nach dem ‚Namen des Vaters‘ und das heißt auch, nach der Legitimität der in der Sphäre des Symbolischen angesiedelten Sprache, die wiederum die Identität des Helden und seines Namens garantieren soll. Auch Dragonetti betont ja, dass Perceval seinen Namen nicht einfach trägt, sondern auf die Frage der Cousine hin gleichsam erfinden muss: Perceval/Perchevaus als derjenige, der die Täler (des Unbewussten) durchstoßen soll. In Blanchefleur et le saint homme (1979) hat Méla die Begegnung des Helden mit dem Fischerkönig als Spiegelszene interpretiert, in dem sich das Geheimnis seiner Herkunft andeutet, während er sich mit seinem Schweigen gleichzeitig das Reich der Sprache verschließt. Ein Spiel der Verschiebungen und Substitutionen macht den Roman zum Ort einer unabschließbaren Suche nach der verdrängten Wahrheit. Der Fischerkönig ist in seinem Geschlecht verletzt (mahaignié), wie der Vater nach der Erzählung der Mutter zwischen den Schenkeln getroffen wurde; der Chevalier Vermeil wird von Perceval im Auge getroffen, wie einst sein älterer Bruder ins Auge getroffen wurde. Bruderkampf, Wiederbegegnung mit dem Vater und symbolischer Vatermord, da der Held durch sein Schweigen die Heilungschancen vergibt? Notwendige Schuld des Helden, der sich der inzestuösen Liebe der Mutter entzogen hat, aber gerade darum in seiner weiteren Entwicklung einem sexuellen Tabu (dem sog. sorplus der körperlichen Vereinigung) unterworfen ist? Nicht zufällig stößt ja das sexuelle Begehren seines Doubles Gauvain nach Clarissant an das Inzesttabu und das Tabu der Mutter. So verweist ein einmal konflikthaftes und dann wieder komplementäres Schwanken von einem Begriff zum anderen. Das Paradox der Geschichte Percevals ist das eines Helden, der seinem Schicksal nur begegnen kann, indem er eben den Fehler macht, der ihm die Vollendung verweigert.100

|| 98 Vgl. ebd., 85. 99 „[P]arce qu’il rencontre son impossibilité“ (ebd., 89). 100 „Ainsi une oscillation, conflictuelle et complémentaire selon les moments, renvoie d’un terme à l’autre. Le paradoxe de l’histoire de Perceval est celui d’un héros qui ne peut répondre à son destin sans commettre, par là même, la faute qui lui en interdit l’accomplissement“ (ebd.).

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6 Funktionen der psychoanalytisch basierten Literaturinterpretation Psychoanalytische Interpretation heißt nicht nur bei Dragonetti, diesem Spiel der wechselseitigen Verweise und Widersprüche nachzugehen, ja diesen nur scheinbar in sich geschlossenen Text als offenes Fragment zu lesen, das ständig über sich hinausweist und nicht mehr der klassischen philologischen Lektüre zugänglich ist: „Ein mittelalterlicher Text steht niemals allein. Was er verbirgt, lässt sich anderswo entdecken. Die Windungen, zu denen die Kritiker gezwungen sind, entsprechen den Irrungen der abenteuernden Ritter!“101 Psychoanalytisches Interpretieren löst jede identitäre Spurensuche als Illusion auf und entlarvt jede einstimmige Sinnzuschreibung. Françoise Barteau spricht in ihrer vergleichenden Tristan-Studie102 von einer notwendigen lecture plurielle, welche die illusionäre Einheit und Eindeutigkeit des Textes auflöst. Es genügt, sich die Rede Lacans vom leeren phallischen Signifikanten im väterlichen Bereich von Kultur und Sprache in Erinnerung zu rufen, um die ganze Tragweite dieser bislang radikalsten Absage an herkömmliche Interpretationsmethoden zu ahnen. Wie Méla und Dragonetti vorzugsweise gezeigt haben, leistet ja auch die noch nicht normierte, dialektal schwankende Graphik und Lautgestalt der Wörter und Namen dieser Pluralisierung Vorschub. Die ‚Ambivalenz‘ ist immer schon der Leitbegriff psychoanalytischen Verstehens, das diese Eigenart bekanntlich mit dem mythischen Denken gemein hat. Das Gralsschloss, ein Ort des Lichts und der Erleuchtung, ist auch der Ort des Todes und der Impotenz, das bergende imaginaire der Mutter ist zugleich der Bereich der infantilen Regression; und Vaterlosigkeit heißt auch, dass die beiden Sphären sich wechselseitig ausschließen und sich gleichwohl im Motiv der Impotenz begegnen. Aber das von lacanistischen Deutungen erzeugte Klang- und Assoziationsgeflecht geht weit über solche polaren Ambivalenzen hinaus; es macht jede Struktur schon im Ansatz zunichte und überantwortet den Text dem analytischen Interpreten, der nicht das Andere, sondern mögliche Aspekte des Anderen offen legt und Geschichten der Verdrängung nachzeichnet. So interpretiert Méla den Übergang von Chrétien und der sog. Première Continuation, der Fortsetzung des Conte du Graal, zu den eschatalogischen Visionen eines Robert de Boron und der Quête du Saint Graal als bewusste Verdrängung des ‚Unsagbaren‘ (indicible), das durch eine Verchristlichung verdeckt wird,103 die wiederum als massive Verdrängung des Sexuellen zu verstehen ist.104

|| 101 „Un texte médiéval ne si lit jamais seul. Ce qu’il dérobe se laisse surprendre ailleurs. Les méandres sont aussi nécessaires aux critiques que l’errance aux chevaliers aventureux!“ (ebd., 94). 102 Françoise Barteau: Les romans de Tristan et d’Iseut: Introduction à une lecture plurielle. 103 Vgl. ebd., 131. 104 Vgl. Alexandre Leupin: Le Graal et la littérature.

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Der psychoanalytische Befund ist aber nicht das bloße Ergebnis eines Glasperlenspiels lacanianischer Provenienz. Indem die klassische freudsche Analyse in die lacanschen Denkstrukturen eingebracht wird, öffnen sich diese zugleich für neue Perspektiven in Gattungsgeschichte und Psychohistorie. Der genannte Befund verweist offensichtlich auf die Identitätskrise des Romans, der die Krise des Helden und die konkomitante Krise des Artusreichs beschreibt, aus dem nur noch die utopische Lösung des Gralsreichs einen Ausweg zu zeigen scheint. Eben diese Utopie ist jedoch ebenfalls von Impotenzangst überschattet: Die Fruchtbarkeitsorgie der lichtvollen Gralsmahlzeit im Inneren der Burg ist umgeben von dem durch Impotenz verursachten und konnotierten waste land. Die psychoanalytische Perspektive erweist hier ihre Funktion im Hinblick auf die Symptomatologie im kulturellen und sozialen Bereich. Der Ritterroman debütiert nach Huchet um die Mitte des 12. Jhs. im Zeichen des Ödipus und des ödipalen Aufstands der Jungen.105 Ein halbes Jh. später erscheint der Held des letzten und anspruchsvollsten Romans Chrétiens, des immer wieder als größtes Werk des Mittelalters bezeichneten Conte du Graal, nach ReyFlaud, Méla oder z. B. auch Jean-Guy Gouttebroze106 als „Oedipe inversé“107, der im mütterlichen Sexualverbot gefangen bleibt, der die erlösende Frage nicht stellt und das ‚Gesetz des Vaters‘ nicht erfüllt: „als Umkehrung des väterlichen Gesetzes zugunsten des archaischen Rechts der Mütter“108, wie es Percevals Double Gauvain im wiedergefundenen Reich der Mutter ebenfalls demonstriert. Mit Rey-Flaud: „Der Gralsmythos seinerseits beweist, in welcher Weise die neurotische Befangenheit in der Abstinenz das latente Fortbestehen des Matriarchats zum Ausdruck bringt und so das wahre Gesicht der Königin entlarvt“109, d. h. der Mutter, die Gauvain im Château des Merveilles neben der Schwestergeliebten trifft, aber auch der Mutter Percevals. Die Psychoanalyse hat überdies die angemaßte Ich-Identität des Helden als Maske entlarvt, als persona, die Rey-Flaud mit einem Wortspiel als personne = ‚niemand‘ deutet.110 In der älteren Literatur vor Freud scheint ja die Psychoanalyse als literaturwissenschaftliches Instrumentarium immer da am fruchtbarsten, wo der Interpret bereits einen Vorschein, eine Ahnung psychoanalytisch relevanter Zusammenhänge beim Autor konstatieren kann. Der Conte du Graal scheint ein solches Werk zu sein, das eine ganze Epoche beleuchtet.

|| 105 Vgl. Jean-Charles Huchet: Le Roman médiéval. 106 Jean-Guy Gouttebroze: „L’arrière-plan psychique et mythique“. 107 Jean-Charles Méla: La Reine et le Graal, 178. 108 „[C]omme renversement de la loi du père au profit du droit archaïque des mères“ (ebd., 249). 109 „Le mythe du graal démontre, de son côté, comment l’enlisement névrotique dans l’abstinence exprime la persistence latente du matriarcat et découvre le véritable visage de la reine“ (Henri ReyFlaud: Le Sphinx et le Graal, 81). 110 Vgl. ebd., 269.

474 | Friedrich Wolfzettel Für Huchet, der ausgehend von dem Perceval-Film Perceval le Gallois von Éric Rohmer einen Beitrag mit dem sprechenden Titel „Mereceval“111 verfasste, ist die Mutterproblematik überhaupt der Schlüssel des Chrétienschen Spätwerks, das die „inzestuöse Wurzel der sexuellen Hemmung“112 offenbart. Die quête des Helden, „auf das verbotene mütterliche Objekt gerichtet, ist von jetzt an mit dem Zeichen des Unmöglichen behaftet“113. Die Fragehemmung Percevals vor dem Gral verweist auf die tabuisierte Mutterbindung und die „impossible Joie“, die den Roman selbst als ‚psychoanalytischen‘ Roman ausweist: „Das nämliche Unvermögen betrifft das Subjekt, die Lust und den Roman; der Roman hat die Aufgabe, diesen Mangel des Subjekts und die Unangemessenheit jeder Lust zugleich aufzudecken und zu verbergen“114. Der Roman wird zum Medium psychoanalytischer Aufklärung, was im Übrigen von vornherein alle angepassten, glücklich endenden continuations inauthentisch erscheinen lässt: Unter der Feder Chrétiens de Troyes macht der mittelalterliche Roman nicht nur die Wurzeln seiner Malaise offenbar, aus der Freud später die Psychoanalyse ableiten wird. Er wurzelt sich auch in eben dieser Malaise ein. Die Literatur und die Psychoanalyse haben es somit mit einem nämlichen verbotenen Wissen zu tun, welches, weil unmöglich, verschwiegen wird und nur zwischen den Zeilen zu lesen ist.115

Huchet geht noch weiter als Györy mit seiner Inzest-Theorie und Gouttebroze mit dem Schlagwort des „Œdipe inversé“; für ihn gibt es für den Helden, der beim Abschied die Mutter tot oder ohnmächtig zu Boden sinken sieht, keine Erlösung: Als Gefangener des „désir de l’Autre“ (Lacan) ist er „für immer sich selbst entfremdet“116. Er ist in gewisser Weise der erste entfremdete Held der abendländischen Literatur, denn erst hier entwickelt Chrétien die Problematik von der Mutter her: „Das Besondere des Conte du Graal besteht darin, die Frage des sexuellen Engpasses auf die Mutter zu schieben“117. Daher bezeichnet der Weg des ausziehenden jungen Helden weniger die Stationen des in der Chrétienforschung vorrangigen Konstrukts des klassischen Bildungsromans als einen phantasmatischen Weg des Selbstverlusts,

|| 111 Jean-Charles Huchet: „Mereceval“. 112 „[R]acine incestueuse de l’impossible sexuel“ (ders.: Littérature et psychanalyse, 217). 113 „[T]ournée vers l’objet maternel interdit, […] est désormais marquée du signe de l’impossible“ (ders.: „Psychanalyse et littérature médiévale“ [1985], 226). 114 „Une même insuffisance affecte le sujet, la jouissance et le roman; le roman a la charge de dévoiler et de taire la faille du sujet et l’inadéquation de toute jouissance“ (ebd.). 115 „Sous la plume de Chrétien de Troyes, le roman médiéval non seulement rend manifeste mais s’enracine au cœur de ce ‚malaise‘ dont Freud tirera la psychanalyse. La littérature et la psychanalyse s’avèrent donc aux prises avec un même savoir ‚inter-dit‛, tu parce qu’impossible et dit entre les mots“ (ebd.). 116 „[E]xilé à jamais de lui-même“ (ders.: „Mereceval“, 77). 117 „[L]’extraordinaire du Conte du Graal, c’est d’arrimer à la mère la question de l’impasse sexuelle“ (ebd., 78).

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der mit der Wiederholung des „meurtre initial“118 am Chevalier Vermeil einsetzt und in dem der Lehrer Gornemant zugleich auf die Wahrheit der ‚anderen Welt‘ Gore (GORE-NE-MENT = ‚Gore lügt nicht‘) stößt – „der Ort der Wahrheit, an dem jedes Subjekt seine Suche nach einem verlorenen Objekt verortet“119. Pervevax li chaitis (Perceval le malheureux) (v. 3582) bleibt wie sein Double Gauvain „Gefangener der Mutter, des Imaginären und des Todes “120. Er ist der Gefangene der mütterlichen Sprache, die, gegründet auf dem fehlenden Namen des Vaters, keine Macht über die Welt hat, weil der Ursprung dieser Sprache verloren ist. Der Gral wird zum Symbol „des Unmöglichen, das auch die Sprache tangiert“, „der abgeschnittenen Zunge/Sprache“121 „eine Epiphanie des Unmöglichen“122. Im Lichte der Arbeiten von Dragonetti, Rey-Flaud und Huchet könnte man noch weiter gehen und die Geschichte der Conte du Graal-Forschung selbst als Ausdruck der Verdrängung charakterisieren, durch die das im eigentlichen Sinn ‚unheimliche‘ und sperrige Spätwerk in einen biederen, religiös überhöhten Bildungs- und Entwicklungsroman entschärft wurde. Tatsächlich offenbart das Werk, wie wir an anderer Stelle zu zeigen versucht haben, einen ‚anderen Chrétien‘.123 In seinem Buch über die Psychoanalyse der Gauvain-Handlung, Le Chevalier, l’Autre et la Mort, hat Henri Rey-Flaud dies auf den Punkt gebracht. Denn die Ausblendung der GauvainHandlung aus dem Conte de Graal, der auf diese Weise zum Perceval wird, steht am Anfang der erbaulichen Umdeutung des unvollendeten Doppelromans, in dem Gauvain als Double Percevals fungiert. Wie der muttergebundene Perceval als „Mereceval“ (Huchet) die Sprachwerdung des Symbolischen verpasst, gerät Gauvain immer tiefer in die Welt der Mütter – Yguerne erscheint auch nach ReyFlaud als Doppelgängerin der „veuve dame“, Percevals Mutter124 –, des Imaginären und des Todes. Aber Gauvain ist selbst nicht nur der ‚Andere‘ Percevals, „ein umgedrehter Perceval“125, er wird auch mehrfach mit seinem eigenen verdrängten Anderen konfrontiert.126 Rey-Flaud spricht von einer „einer Reihe der Doppelgänger“127 in diesem „Universum einander zugeordneter Spiegel“128, einer fundamental regressiven, zukunftslosen Welt, in der sich der narzisstische Held bewegt. Die folgenlose Liebelei in Escavalon, wo die Schachspielepisode in eine verkehrte Welt, „generali|| 118 Ebd., 80. 119 „[L]e lieu de la vérité où tout sujet origine sa quête autour d’un objet perdu“ (ebd., 81). 120 „[P]risonnier de la mère, de l’imaginaire et de la mort“ (ebd., 94). 121 „[D]e l’impossible qui affecte la langue“; „langue tranchée“ (ders.: Littérature et psychanalyse, 225). 122 „[U]ne épiphanie de l’impossible“ (ebd., 226). 123 Vgl. Friedrich Wolfzettel: „Der lange Weg zu einem anderen Chrétien“. 124 Henri Rey-Flaud : Le Chevalier, l’Autre et la Mort, 175. 125 „Perceval inversé“ (ebd., 100). 126 Ebd., 164 f. 127 „[G]alerie des doubles“ (ebd., 156–162). 128 „[U]nivers de miroirs confrontés“ (ebd., 156–178).

476 | Friedrich Wolfzettel sierte Inversion“129, mündet, die Liebe der noch kindlichen „Pucele as Manches Petites“, der jüngeren Tochter des Tiebaut in Tintagel, eine Art „Lolita en Brocéliande“130, die sich Gauvain anbietet, und endlich der Beinahe-Inzest mit Clarissant im Château des Merveilles beleuchten diese regressive Tendenz und legen wiederum die Nähe zu Percevals Werdegang nahe. Und ein Netz von Klanganalogien in den Namen – angefangen von Percé-val (‚Durchstoße das Tal‘) und Gaut-vain (‚Besieg den Wald‘)131 unterstreicht das geschlossene Universum der Wiederholungen, Verkleidungen und Spiegelungen. Hier wie an anderen Beispielen liefert die psychoanalytische Deutung einen Rahmen, den Rahmen des Unbewussten, Anderen für den scheinbar festen Inhalt, der auf diese Weise seine Autonomie verliert und sich in seiner Widersprüchlichkeit offenbart. Wie schon eingangs festgestellt: Psychoanalyse ersetzt die Interpretation nicht, aber sie stört den manifesten Text und macht die Lektüre – mit Françoise Barteau – zu einer lecture plurielle, das heißt auch, einer offenen und notwendig unabgeschlossenen Lektüre, so wie der psychoanalytische Prozess unabgeschlossen ist und in gewisser Weise an jedem Punkt des Textes einhaken kann – ähnlich wie Freud selbst von einem scheinbar beliebigen, aber auffälligen Punkt seine Überlegungen entwickelte. Von daher muss man auch eine grundsätzliche Kritik Daniel Poirions relativieren, die dieser ausgehend von der Antrittsvorlesung von Claude Lévi-Strauss am Collège de France 1973 geäußert hat; die Vorbehalte gegen die Anthropologie richten sich auch gegen die Psychoanalyse,132 welche die konkrete Vielfalt des Textes in abstrakte Analogiemuster auflöse. Ein solcher Einwand lässt außer Acht, dass die konkrete Vielheit des Textes auf dem nicht gesagten Anderen und seinem latenten Muster aufruht und von daher ihre je spezifische Beleuchtung erhält.

Literatur Ackermann, Christiane: „Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue)“, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 48 (2007), 9–44. Dies.: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach und im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein, Köln u. a. 2009 (Ordo 12). Adler, Alfred: „Yvain. Der Löwenritter“, Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 13 (1935), 185–189; wiederabgedruckt in: Reinhold Wolff (Hg.): Psychoanalytische Literaturkritik, München 1975, 125–129. Agamben, Giorgio: La parola e il fantasma nella cultura occidentale, Torino 1977 (Saggi 579). Askew, Melvin: „Courtly Love: neurosis as institution“, Psychoanalytic Review 52 (1965), 19–29.

|| 129 „[L]’inversion généralisée“ (ebd., 173). 130 Ebd., 65. 131 Vgl. ebd., 42. 132 Vgl. Daniel Poirion: „L’ombre mythique de Perceval dans le Conte du Graal“.

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Spatial Turn/Raumforschung 1 Laokoon und der spatial turn Lange rückte die Literaturwissenschaft die Zeitlichkeit, das Nacheinander als Spezifikum der Literatur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Demgegenüber wurde die Raumdarstellung als Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft zu „bloß zierende[m] Beiwerk“1 marginalisiert. Die Begründungen für diese Vernachlässigung des Raums gegenüber der Zeit sind vielfältig. Das Spektrum reicht, so Hartmut Böhme, von der „allgemeinen Abwertung von Körper und Materie in der abendländischen Philosophie“ seit dem Platonismus über „die um 1800 eingeleitete Ablösung topologischer [...] durch temporalisierende Wissensformen“ bis zur Tabuisierung der Raumforschung nach 1945 aufgrund der „Besetzung räumlicher Kategorien durch die [...] nationalsozialistische Geopolitik“.2 Besonders nachhaltig dürfte jedoch die Vorrangstellung der Zeit und die damit verbundene Raumvergessenheit der Literaturwissenschaft durch Gotthold Ephraim Lessings Laokoon-Betrachtungen geprägt sein: „Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.“3 Zwar sind Raumanalysen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung keineswegs ganz ausgeblieben. Doch Räume werden dabei in der Regel lediglich als Rahmen der Handlung gesehen und ihre Darstellungen unter dem Oberbegriff der ,Beschreibung‘ diskutiert, welche als das „atemporale, statische Andere einer zeitlich organisierten, dynamischen Narration“4 gilt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. hat sich die Beschäftigung mit dem Raum, insb. unter dem zunehmenden Einfluss der Kulturwissenschaften, wieder verstärkt, so dass das Phänomen ‚Raum‘ in den letzten Jahren auch in der Literaturwissenschaft zu einer Schlüsselkategorie avancierte.

|| 1 Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: „Raum“, 19. 2 Vgl. Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, X–XII. Zum letzten Punkt vgl. auch Doris Bachmann-Medick: „Spatial Turn“, 286. Die Raumwissenschaften, darunter insb. die Human- und Kulturgeographie, setzen sich heute mehr denn je mit der Problematik geodeterministischer bzw. geopolitischer Implikationen auseinander, s. z. B. Rudolf Maresch/Niels Werber (Hgg.): Raum – Wissen – Macht. 3 Gotthold Ephraim Lessing: „Laokoon“, 130. Sylvia Sasse weist darauf hin, dass Lessing hier nicht von einem relativistischen Raumkonzept ausgeht, sondern Raum als einen sich ausdehnenden Körper denkt. Lessings Semiotik ziele demnach auf Körper und Handlung als Gegenstände von Malerei und Dichtung. Literatur verstehe Lessing in diesem Sinne als unkörperliche Erscheinungsform (vgl. dies.: „Literaturwissenschaft“, 225f.). 4 Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: „Raum“, 19.

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1.1 Vordenker des spatial turn und das Problem eines transdisziplinären Raumkonzepts Obgleich die Hinwendung zum Raum, der sog. spatial turn, heute als disziplinenübergreifende Entwicklung konstatiert wird (nahezu jede Geistes-/Kultur-/Sozialwissenschaft hat heute ihren eigenen spatial turn), steht die Explikation eines transdisziplinären Raumbegriffs, der als Grundlage einer universalen Raumforschung dienen könnte, nach wie vor aus.5 Vielmehr werden jeweils disziplinintern zahlreiche, oft durchaus verschiedene Raumkonzepte entwickelt, die sich mehr oder weniger stark an kulturwissenschaftlichen Auffassungen von Raum und Räumlichkeit orientieren. Gleichwohl lässt sich ein raumtheoretischer Kanon umreißen, der den spatial turn und die damit verbundenen Raumentwürfe maßgeblich beeinflusst hat und mithilfe dessen die grundlegenden Prämissen dieser ,Wende zum Raum‘ deutlich werden. So beruht die Neukonzeptualisierung des Raumparadigmas für den spatial turn prinzipiell auf einer Dynamisierung des Raumbegriffs, die zu verschiedenen Zeiten und von ganz unterschiedlichen Ansätzen aus ihre Impulse gewonnen hat. Zentral ist dabei durchweg die Ablösung von der Vorstellung eines statischen Behälterraums, wie sie Aristoteles in seiner Physik entwickelt und die in ihrer Wirkung auf den europäischen Raumdiskurs kaum überschätzt werden kann: Aristoteles beschreibt Raum ebendort als „,das unmittelbar einen jeden Körper Umfassende‘“ bzw. als „(äußere) Abgrenzung eines jeden“ und vergleicht den Raum mit einem „Gefäß“.6 Dieses substantialistische Konzept von Raum bildet gleichsam die Folie für eine jahrhundertelange Auseinandersetzung, die den Behälterraum tradiert, sein Konzept diskutiert, modifiziert und differenziert, um schließlich auch radikale Gegenentwürfe zu provozieren. So formuliert etwa Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 1715 ein relativistisches Konzept von Raum, das der substantialistischen Auffassung vom Raum als Behälter diametral entgegengesetzt ist: Raum wird gerade nicht als Substanz definiert, sondern als relationale Ordnung von Orten. Raum – so schreibt Leibniz in einem Briefwechsel mit Samuel Clarke – sei „das, was sich ergibt, wenn man die Orte zusammenfaßt“7. Diese Priorisierung des relationalen Ordnungsbegriffs vor dem Substanzbegriff in Bezug auf den Raum bildet einen prägenden Einschnitt in der Tradition || 5 Michael C. Frank u. a. verweisen in ihrer Einführung auf die ambivalente Semantik des deutschen Wortes ,Raum‘, das zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen umfasst, die bspw. im Englischen auf zwei verschiedene Wörter verteilt sind. So bezeichnet room eine räumliche Um- oder Eingrenzung, wohingegen space in seiner Bedeutung für eine potentiell grenzenlose Ausdehnung steht (vgl. dies.: „Räume – Zur Einführung“, 12). Ein wortgeschichtlicher Vergleich der beiden Ausdrücke ,Raum‘ und ,espace‘ findet sich bei Jörg Dünne/Stephan Günzel: Raumtheorie, 10. 6 Aristoteles’ Physik, IV, 2, 209b, 154–157. 7 Samuel Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716, 79.

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der Raumdiskurse und wird grundlegend für die kulturwissenschaftlichen Raumkonzepte des spatial turn. Ebenso wendet sich Immanuel Kant in seiner Studie Von dem Raume gegen eine substantialistische Raumauffassung, wenn er sagt, der Raum sei kein Gegenstand der Erfahrung, sondern vielmehr „reine Anschauung“8. Die damit vorgenommene enge Verknüpfung des Raums mit dem wahrnehmenden, leiblichen Subjekt bildet die wesentliche Grundlage für die phänomenologische Raumphilosophie des 20. Jhs., die mit dem Konzept des anthropologischen Raums wiederum entscheidende Impulse für den spatial turn bietet.9 Auch in den Naturwissenschaften, vor allem in der Physik, lässt sich der substantielle, absolute, statische Raum, den unter anderen auch Isaac Newton vertreten hatte, nicht ohne weiteres halten. Einschneidend wirkt hier, dass Albert Einstein zu Beginn des 20. Jhs. mit seiner Relativitätstheorie die umfassende Relativität der Bezugssysteme herausstellt und damit belegt, dass Raum nicht substantiell gegeben ist, sondern durch die Interaktion von Raumkörpern je unterschiedlich und neu bestimmt wird.10 Insb. die Kultur- und Sozialwissenschaften des 20. Jhs. greifen dann das relativistische Raumkonzept im Rahmen ihrer kulturtheoretischen Untersuchungen auf, indem sie den Raum als soziale Konstruktion bestimmen. Als federführend ist in diesem Zusammenhang Henri Lefebvre zu nennen, der in seinem Werk La production de l’espace von 1974 die gesellschaftliche Konstitution von Raum fokussiert. „Jede Gesellschaft“, behauptet Lefebvre, produziert einen ihr eigenen Raum. [...] Die räumliche Praxis einer Gesellschaft sondert ihren Raum ab; in einer dialektischen Interaktion setzt sie ihn und setzt ihn gleichzeitig voraus: Sie produziert ihn langsam, aber sicher, indem sie ihn beherrscht und ihn sich aneignet.11

Lefebvre wendet sich damit gegen die Vorstellung von Raum als neutralem Rahmen, in dem sich historische Ereignisse vollziehen. Stattdessen versteht er Raum als Produkt einer sozialen Praxis, d. h. als relationales Gefüge, das sich allererst durch gesellschaftliche Praktiken formiert.

|| 8 Immanuel Kant: „Von dem Raume“, 59. 9 Die phänomenologische Raumtheorie wendet sich gegen naturwissenschaftliche Raumentwürfe; sie geht von der Raumerfahrung eines konkreten Leib-Subjekts aus. Maurice Merleau-Ponty stellt bspw. fest: „Der Raum ist nicht […] ein Netz von Beziehungen zwischen Gegenständen, so wie sie als Dritter ein Zeuge meines Sehens erblicken würde, oder ein Geometer, der ihn rekonstruiert und überblickt. Es ist vielmehr ein Raum, der von mir aus als Nullpunkt der Räumlichkeit erfaßt wird. Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihm eingefangen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir“ (ders.: „Das Auge und der Geist“, 31). 10 Vgl. Albert Einstein: „Relativität und Raumproblem“; ders.: „Raum. Äther und Feld in der Physik“. 11 Henri Lefebvre: „Dessein de l’ouvrage“, zit. n. der Erstübers. v. Jörg Dünne, in: ders./Stephan Günzel: Raumtheorie, 330f., 335.

484 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Als ebenso bedeutend für die Entwicklung des spatial turn ist Michel Foucault einzustufen. Er knüpft an die soziale Perspektivierung Lefebvres an. Seine Proklamation vom anbrechenden Zeitalter des Raums in der Gegenwart, eingebettet in eine kurze Geschichte des sozialen Raums, ist heute fester Bestandteil eines ungeschriebenen Manifests des spatial turn: „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und Zerstreuten.“12 Darüber hinaus schließt Foucault mit seinem Konzept der Heterotopie indirekt an die relativistischen Raumauffassungen an, in denen relationale Lage, Verortung, Prozesse der Inklusion und Exklusion den Raum allererst konstituieren.13 Werden auf diese Weise in unterschiedlichen Disziplinen neue Raumkonzepte anvisiert und entwickelt, erhält der spatial turn seinen eigentlichen Namen jedoch erst 1989 in einer Studie des amerikanischen Humangeographen Edward Soja, der die Dominanz des Historismus und „the loss of spatial consciousness“14 kritisiert und einen „spatial turn“15, d. h. eine stärkere Akzentuierung der Kategorie Raum, innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung fordert.16 Damit plädiert Soja nicht etwa gegen die Kategorie der Zeit, vielmehr strebt er mit seinen Forderungen eine Gleichgewichtung von zeitlichen und räumlichen Aspekten an. Was an Lefebvre und Foucault wie auch Soja paradigmatisch deutlich werden kann, ist, dass der Raum dezidiert nicht als unveränderlich vorhanden und physisch festgelegt bestimmt wird – wie es die Behälterraumvorstellung impliziert. Vielmehr betonen sie die durch Interaktion bedingte Konstitution bzw. kulturelle Gemachtheit von Räumen. Raum wird somit weniger als Ursache denn vielmehr als Wirkung bzw. Effekt verstanden. Damit ist der Singular ,Raum‘ aufzugeben und fortan zu ersetzen durch die Pluralität verschiedenster Konzepte von Raum und Räumlichkeit. Das Problem eines transdisziplinären Raumbegriffs muss damit vorerst ungelöst bleiben. Kritiker verweisen wiederholt auf die bisweilen verstörende Heterogenität des Raumdiskurses und die teilweise unzulänglich reflektierten Verfahren der Raumforschung. Die Defizite sind jedoch, wie Hartmut Böhme richtig formuliert, nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die topographische Diskursbildung gegenüber den Theorien der Geschichtsschreibung und der historischen Narratologien (aus genannten Gründen) erheblichen Nachholbedarf hat.17 Gleichzeitig muss be-

|| 12 Michel Foucault: „Von anderen Räumen“, 931. 13 Vgl. ebd., 935–942. 14 Edward Soja: Postmodern geographies, 39. 15 Ebd. 16 Jörg Döring verweist auf die spezifische Dynamik, dass der spatial turn zwar auf die Geographie als ,Raumspezialistin‘ rekurriert und auch von einem Humangeographen ausgerufen wurde, dieser sich dabei aber selbst auf kulturwissenschaftliche Konzepte des Raums bezieht, angeregt durch Henri Lefebvre und Michel Foucault (vgl. ders.: „2. Spatial Turn“, 90f.). 17 Vgl. ders.: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, Xf.

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tont werden, dass es gerade die Überwindung eines einsinnigen, statischen, substantialistischen und deterministischen Raumbegriffs ist, die den spatial turn charakterisiert. Stephan Günzel bemerkt dazu treffend: „Eine Konsequenz des spatial turn kann daher der Verzicht auf eine Bestimmung dessen sein, was ‚der Raum‘ ist. – Denn auf die Frage ,Was?‘ ist nur eine Antwort möglich, die Raum ein ‚Etwas‘ sein lässt.“18 Die Absenz eines übergreifenden Raumparadigmas ist mithin als bewusste Entscheidung für die Heterogenität, Pluralität und Dynamik von Raumkonzepten zu verstehen. Dieses gesteigerte Interesse an der Diversität und Dynamik von Raumkonzepten zeichnet den spatial turn aus. Dabei dürften die wenigen Hinweise zu historischen Raumkonzepten deutlich gemacht haben, dass das ,Neue‘ des spatial turn nicht in einer ,Neuentdeckung‘ des Raums oder räumlicher Aspekte liegt. Denn die Dimension des Raums sowie das Interesse an ihr sind, anders als die Medientheorie mit Blick auf die Globalisierungs- und Digitalisierungsprozesse des 20. Jhs. konstatierte, nie verschwunden.19 Auch nicht neu im 20. Jh. ist das dynamische Raumkonzept, das sich in verschiedenen Formen und Brechungen bereits lange vorher angekündigt hat. Vor diesem Hintergrund ist der spatial turn, besonders bezogen auf die Literaturwissenschaft, eher als ein re-turn zu betrachten. Neu ist jedoch die Aktualisierung und weiterführende Ausdifferenzierung der veränderten Raumauffassungen auf einer breiten, interdisziplinären Basis und die heuristische Umsetzung dieses Wissens in einer forcierten Forschungspraxis, die das dynamische Raumparadigma als Interpretament in seiner Produktivität allererst deutlich machen konnte und nach wie vor deutlich macht.20

1.2 Schlüsseltexte zum Raum in der Literatur Wie bereits dargelegt, setzt die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Raum nicht erst mit dem spatial turn ein. So entwickeln etwa Ernst Cassirer, Jurij M. Lotman und Michail M. Bachtin im Verlauf des 20. Jhs. lange vor dem spatial turn || 18 Ders.: „Raum – Topographie – Topologie“, 16. 19 Die Rede vom Verschwinden des Raums bzw. vom Ende der Geographie geht zurück auf den Begriff der time-space-compression des Humangeographen David Harvey. Harvey beschreibt damit das Gefühl eines schrumpfenden Globus im Zuge der geographischen Expansion des Kapitalismus (vgl. ders.: The condition of postmodernity, 240). Döring versteht den spatial turn vor diesem Hintergrund als „Gegenbewegung gegen diesen […] Raumexorzismus in der Medientheorie“ (vgl. ders.: „2. Spatial Turn“, 95). 20 Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, XII, bemerkt diesbezüglich: „Es ist auch hier so wie bei den vielen turns, die den Geisteswissenschaften abgenötigt wurden: sie stellen weniger eine Wende zu etwas Neuem dar als den Aufruf zur Erinnerung an verdrängtes oder vergessenes Wissen.“ Zur Evidenz des spatial turn aus anderer Perspektive vgl. Doris BachmannMedick: „Spatial Turn“, 302–304.

486 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer ästhetische Raummodelle, die heute wichtige Anknüpfungspunkte für die aktuelle literaturwissenschaftliche Raumforschung bieten. Cassirer formuliert in seinem Aufsatz Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum von 1931 ein Raumkonzept, das sich stark an Leibniz’ Überlegungen zum Raum orientiert: Auch Cassirer räumt dem Ordnungsbegriff gegenüber dem Seinsbegriff den Vorrang ein. Er konstatiert weiter, dass es keine feststehende, allgemeine Raumanschauung geben kann, weil es keine Struktur des Raums an sich gibt. Denn der Raum, so meint Cassirer, „gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht“21. Damit stellt Cassirer das Verhältnis von Raum (= Struktur) und Bedeutung (= allgemeiner Sinnzusammenhang) als ein wechselseitiges dar: Der Raum ist der jeweiligen Handlung nicht vorgängig als ein statischer Rahmen. Er ist vielmehr in seiner Gemachtheit aufs Engste mit der Textbedeutung verwoben: Von ihr aus konstruiert, präfiguriert er mögliche Handlungen oder erscheint als deren Resultat. In dieser engen Verwobenheit mit der Textbedeutung liegt die primäre Legitimation einer literaturwissenschaftlichen Raumforschung, denn nur bzw. erst wenn der Raum als mehr betrachtet wird als der bloße Ort der Handlung, kann er als weitreichendes Interpretament für die Literaturwissenschaft interessant werden. Vor diesem Hintergrund der je eigenen Räumlichkeit, die jeder literarische Text entwirft, plädiert Cassirer für einen umfassenden Pluralismus der Raumkonzepte.22 Die vielfältigen Raumentwürfe und deren unterschiedliche Perspektivierungen innerhalb des spatial turn lassen sich geradezu als Antwort auf diese Forderung lesen. Nahezu zeitgleich entwickeln Bachtin und Lotman in den 1970er Jahren jeweils zwei erzähltheoretische Ansätze, die sich in besonderem Maße mit dem Raum bzw. der Raumdarstellung in literarischen Texten auseinandersetzen und bis heute das literaturwissenschaftliche Nachdenken über den Raum prägen: Unter dem Einfluss der strukturalen Linguistik entwirft Lotman 1972 in seiner Studie Die Struktur literarischer Texte eine spezifische Raumsemantik, die von einer manifesten Oppositionsstruktur der räumlichen Organisation literarischer Texte ausgeht. Diese räumliche Relation erlaubt, Lotman zufolge, die Darstellung nicht-räumlicher Relationen wie die Darstellung spezifischer Regeln oder Normen; so kann etwa eine topologische Opposition wie ,nah – fern‘ überführt werden in eine normativ aufgeladene Kontrastierung von ,eigen – fremd‘.23 Im Rahmen dieser Oppositionsstruktur kommt der Literatur nach Lotman ein reflexives, ja sogar „revolutionäres“24 Moment zu, wenn die Figur die im Text als ,Norm‘ gesetzte Grenze zwischen den oppositionell angeordneten, handlungskonstitutiven Teilbereichen überschreitet: Dadurch werde nicht nur die normative Ordnung der fiktionalen Welt hinterfragt bzw. destabilisiert, sondern || 21 Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“, 26. 22 Vgl. ebd., 23f. 23 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, 313. 24 Ebd., 339.

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ebenso die normative Ordnung des kulturellen Bezugsraums.25 Voraussetzung für diese Wechselwirkung ist, dass Lotman die Raumentwürfe literarischer Texte in direktem Zusammenhang mit ihren kulturhistorischen Entstehungskontexten und deren kulturellen Raumordnungen und Wertvorstellungen sieht: Im Sinne der Repräsentation sind die Räume der literarischen Texte eng bezogen auf die kulturellen Raumkonzepte ihres Entstehungskontextes.26 Gleichzeitig spiegeln diese literarischen Räume in ihrer Konstruiertheit eben diejenige ästhetische Freiheit der Literatur, aufgrund derer die Literatur Normen- und Wertehierarchien hinterfragen und damit ihrerseits produktiv in kulturelle Sinnsysteme eingreifen kann. Auch bei Bachtin steht das Verhältnis von literarischem Text und kulturhistorischem Kontext im Mittelpunkt der Überlegungen zu Raum, Räumlichkeit und Raumdarstellung in literarischen Texten. Gegenüber Lotman bezieht Bachtin jedoch den Zeitaspekt kategorial mit ein. So entwickelt er 1973 den für seine Überlegungen zum Roman zentralen Begriff des ,Chronotopos‘.27 Dieser fokussiert, dass Raum und Zeit im Roman nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, da beide sich wechselseitig hervorbringen und nur in ihrer Verschränktheit anschaulich werden, denn „[d]ie Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“28. Ausgehend von dieser Beobachtung, erarbeitet Bachtin verschiedene chronotopische Grundtypen des Romans, in denen sich nach seiner Theorie spezifische historische Ausprägungen der Raum-Zeit-Vorstellungen spiegeln. So etwa sieht er die antike Biographie, den Ritterroman oder den Schelmenroman durch unterschiedliche Chronotopoi organisiert und definiert. Raum-Zeit-Systematik und Gattungstraditionen werden damit auf das Engste korreliert. Beide Ansätze, sowohl Lotmans Raumsemantik wie auch Bachtins Theorie des Chronotopos, erscheinen in ihrer Perspektivierung kultureller Ordnungen im Zusammenspiel mit ihren räumlichen Repräsentationen in der Literatur als deutlich kulturtheoretisch geprägt. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht das spezifische Verhältnis literarischer Raumentwürfe und kultureller Ordnungen, wobei der Literatur nicht nur eine repräsentative Funktion zukommt; sie hat im Rahmen dieses Verhältnisses aufgrund ihrer reflexiven Struktur überdies eine aktive, performative Potenz.29 Gerade in der Literatur kann die für den spatial turn zentrale Doppelperspek|| 25 Vgl. ebd., 338f. 26 Zur Aktualität und zur narratologischen Relevanz der Kultursemiotik Jurij Lotmans vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung, 116–128. Koschorke hebt dabei die oftmals unbeachtete Differenziertheit des Sphärenmodells Lotmans hervor und stellt die Bedeutung von Unschärfe, Unordnung und Desintegration heraus, die der übersichtlichen Bipolarität, die Lotmans Sphärenmodell auf den ersten Blick kennzeichnet, entgegensteht (vgl. ebd., 129, 133). 27 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. 28 Ebd., 7. 29 Zum performativen Charakter von Literatur vgl. den Aufsatz von Ulrich Barton und Rebekka Nöcker i. vorl. Bd., 417–445.

488 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer tivierung des Raums als kulturell geprägte und gleichzeitig (kultur-)produktive Wahrnehmungskategorie besonders prägnant zutage treten. Diese kultursemiotische Perspektivierung des Raums hat sich in der jüngeren Literaturwissenschaft intensiviert.

1.3 Der spatial turn und die Literaturwissenschaft Die Hinwendung zum Raum in der Literaturwissenschaft, wie sie sich seit dem ausgehenden 20. Jh. beobachten lässt, ist nicht nur verbunden mit der Einführung des Begriffs ‚spatial turn‘, sondern auch mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung dessen, was darunter zu verstehen ist. Während spatial turn inzwischen als übergeordneter Begriff für die umfassende transdisziplinäre, zugleich theoretisch reflektierte Raumforschung gelten kann, werden demgegenüber die Begriffe ,topographical turn‘ und ,topological turn‘ abgegrenzt. Die Bezeichnung ‚topographical turn‘ geht zurück auf einen Aufsatz von Sigrid Weigel,30 in dem sie am spatial turn der Kultur- und Sozialwissenschaften im Zuge des Reimports aus den angloamerikanischen cultural studies eine rematerialisierende Tendenz beobachtet, die mit einer Ontologisierung des Raums einhergeht: Orte werden nicht mehr nur als narrative Figuren oder Topoi untersucht, sondern geraten auch als konkrete, geographisch identifizierbare Lokalität wieder in den Fokus. In diesem Zusammenhang werde der realgeographische Raum bisweilen als „Anfang und Ursache anthropologischer Gesetzmäßigkeiten oder Regeln“31 verstanden. Die damit drohende „Raumfalle“32 (die zurück zu einem naturalisierenden, geodeterministischen Raumdiskurs führen würde) sucht der topographical turn zu vermeiden, indem zwar verstärkt physische Raumaspekte aufgerufen werden, selbst diese jedoch als kulturelle Repräsentationsformen von Raum in den Blick rücken: Auch der konkrete Raum wird so als Text betrachtet.33 Die Betonung des topographical turn liegt mithin auf -graphic, der distinkten Verbindung von Raum und Schrift. D. h. auch geographische Räume werden als Produkt kultureller Einschreibung verstanden.

|| 30 Vgl. Sigrid Weigel: „Zum ,topographical turn‘“. 31 Ebd., 160f. 32 Roland Lippuner/Julia Lossau: „4. Kritik der Raumkehren“, 111. 33 Der cultural turn schließt mit seinem Kultur-als-Text-Paradigma an poststrukturalistische Zeichentheorien an. Analog dazu geht der kulturwissenschaftlich geprägte spatial turn von einem Raum-als-Text-Paradigma bzw. von der Annahme aus, kulturelle Prozesse kämen räumlich zur Anschauung und umgekehrt beeinflussten Räume kulturelle Praktiken. Vgl. Sigrid Weigel: „Zum ,topographical turn‘“, 160; Jörg Döring/Tristan Thielmann: „Einleitung: Was lesen wir im Raume?“, 15–19; Kirsten Wagner: „3. Topographical Turn“, 103f.

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In der Konsequenz nimmt der topographical turn schwerpunktmäßig topographische und kartographische Kulturtechniken der Repräsentation von Räumen in den Blick. So wird bspw. die Kartographie, ursprünglich eine Hilfswissenschaft der Geographie, als Raumschrift unter literaturwissenschaftlichen Aspekten gelesen: Nach der Lesart des topographical turn repräsentiert eine Karte nicht nur konkrete Räume, sie gibt als téchne auch Aufschluss über den jeweiligen Entwicklungs- und Wissensstand einer Kulturpraxis. In sie schreiben sich darüber hinaus spezifische Intentionen und Machtinteressen ein. In ihrer scheinbaren Neutralität kann sie mithin zu einem machtvollen Instrument werden und neue Orientierungen kreieren. Karte und Kultur stehen somit in einem wechselseitig konstitutiven, sozusagen gleichursprünglichen Verhältnis.34 Die Engführung von ,Karte‘ und ,Kultur‘ verfolgt auch Hartmut Böhme, indem er in seinem Sammelband Topographien der Literatur den spezifischen Beitrag der deutschen Literatur zur Entstehung von kulturellen Topographien bzw. kulturgeschichtlich entwickelten Raumkonzepten untersucht. Kultur, so seine Kernthese, ist als spatialisierender Akt im Sinne der Raumnahme von jeher mit der Entwicklung von Topographien verbunden.35 Bei jeder Kultivierung geht es um die „Sicherung von räumlicher Beständigkeit“36; dies geschieht durch eine Gliederungsarbeit, die den kultivierten Raum als solchen hervorbringt: „Kultur als Verräumlichung und Verstetigung ist somit ein Akt der Entwilderung durch Errichtung von Grenzen und Abwehrmechanismen.“37 Dabei schreibt sich die Kultur nicht nur in den Raum ein, die entwickelten Topographien wirken wiederum als Organisationsformen von Wissen und als Wahrnehmungsmuster auf die Kultur zurück und bringen somit selbst Kultur hervor. Die Literatur ist in diesen doppelten Konstitutionsprozess eingelassen. Böhme versteht sie als vernetzte Räume mit eigenen Kartographien.38 Indem die Literatur gleichsam vermittelnd die unterschiedlichen Modelle des Räumlichen nicht nur spiegelt und verstetigt, sondern terrainsondierend auch erst herstellt und entwirft, habe sie an der Entwicklung kultureller Topographien einen „aktiven Anteil“39. Böhmes Raumkonzept grenzt sich dabei deutlich von jedem Substantialismus ab: „,Raum an sich‘, der immer schon oder gar substanziell ,da‘ ist und der alles,

|| 34 Vgl. Jürg Glauser/Christian Kiening: „Einleitung“. 35 Vgl. Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, XIII, XVIII. Aus der Beobachtung, dass kulturelle Organisation mit den Kulturtechniken des Raums anfängt, entwickelt Böhme seinen Begriff der kulturellen Topographien. 36 Vgl. ders.: „Kulturwissenschaft“, 198. 37 Ebd., 199. 38 Vgl. ders.: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, IX. 39 Ebd., XXII.

490 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Dinge und Bewegungen, ,in sich‘ aufnimmt, gibt es nicht […].“40 Im Zentrum seines Raum- wie auch Kulturbegriffs steht vielmehr die Bewegung: Bewegung […] ist diejenige Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert […]. Dies bedeutet: Die Bewegungen, die Menschen mit ihrem Körper und als Körper im Raum vollziehen, erschließen erst das, was als Raum historisch erfasst werden kann.41

Über die Bewegung ist der Raum unauflösbar mit Leiblichkeit verbunden, von der ausgehend der Raum sich überhaupt erst aufspannt.42 Böhme stellt sich hiermit in eine leiblich orientierte Tradition des Raumdenkens und verlängert den phänomenologischen Raumdiskurs gewissermaßen kulturwissenschaftlich: Aus dem mikrokosmischen Raum des Leibes werden über verschiedene Prozesse „die Modelle des Räumlichen gewonnen […], mit denen Kulturen ihre Ordnungen organisieren“43. Diese Produktivität des Leibes schreibt schließlich die Literatur fort, indem sie ihre Raumentfaltung häufig über die Bewegung des Protagonisten organisiert. Wie der spatial turn hat jedoch auch der topographical turn hinsichtlich der Bestimmung von Begriffen und Methode mit Unschärfen zu kämpfen. Denn der topographical turn vermag sich in der Beschäftigung mit Kartographie und der Kultivierung ,natürlicher‘ Räume trotz aller Bemühungen nicht ganz vom Substanzbegriff des Raums zu lösen. Daher bevorzugt Stephan Günzel den Begriff der ,Topologie‘ gegenüber dem der ,Topographie‘.44 Der topographical turn geht ausschließlich von relativistischen und dynamischen Raumkonzepten aus. Er fokussiert dabei nicht nur die Kulturtechniken der Repräsentation von topographischen Räumen, sondern beschäftigt sich allgemeiner mit der Beschreibung der Konstitution räumlicher Verhältnisse hinsichtlich übergreifender medialer Aspekte.45 Der Gebrauch der Bezeichnungen ist jedoch z. T. fließend und erfordert die Sichtung der jeweiligen Definition vom Einzeltext aus. Michel de Certeau etwa unterscheidet zwar Topographie und Topologie im Kontext seiner Betrachtungen zu Räumen, die in Erzählungen geschaffen und durchlaufen werden, nicht jedoch das Topographische und das Topische: Das Topische bzw. Topographische bezeichnet demnach die vorexistierenden Raumstrukturen, die nach dem mathematisch-geometrischen Modell gedacht werden. Als Topologien versteht de Certeau hingegen die Praktiken, die den Raum erzeugen: „Der Handlungsspielraum, in den sie [die Erzählung] eintritt, besteht aus Bewegungen; er ist topologisch, d. h. mit der Verzerrung von Figuren verbunden, und nicht topisch,

|| 40 Ders.: „Kulturwissenschaft“, 196. 41 Ebd., 197. 42 Nach Böhme liefert der Leib „die erste Raumgliederung“ (ebd., 198). 43 Ebd., 194. 44 Vgl. Stephan Günzel: „Raum – Topographie – Topologie“, 16f. 45 Vgl. ebd., 13.

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d. h. er definiert keine Orte.“46 Topographie wird hier, anders als bei Weigel und Böhme, somit gerade nicht als Kulturtechnik der Repräsentation verstanden, sondern vielmehr in Opposition zum performativen Ansatz des Topologischen.47 Wieder anders bestimmt Vittoria Borsò den Begriff ,Topologie‘. Sie versteht ihn als Verfahren im Rahmen der Entwicklung einer literaturwissenschaftlich-topologischen Methode, mit dessen Hilfe kritisch „über die Bedingungen der Produktion, der Dynamik oder der Emergenz von Raum“48 reflektiert werden kann. Eine topologische Literaturwissenschaft in ihrem Sinn versucht, literarische Topographien als Konstellationen topologisch zu analysieren. Gegenüber dem topographical turn werden v. a. die Dynamik des Raums sowie die materielle Dimension der Schrift als eigenständiger Text- und Bildraum stärker berücksichtigt.49 Borsò betont dabei die kritische Distanz zum Begriff des Kulturraums als lesbaren Text. Statt den Raum als Text zu lesen, gehe es „vielmehr […] um den Raum des Textes selbst“50. Trotz der Verschiebungen im Einzelfall sind Topographie und Topologie somit deutlich gegeneinander abzugrenzen. Gemeinsam ist ihnen jedoch der Aufruf zur kritischen Reflexion im Sinn des spatial turn. Untersuchungen zu Raum und Räumlichkeit in der Literatur sind, so lässt sich zusammenfassen, keine Erfindung des spatial turn, sondern seit jeher fest in der Forschungsgeschichte der Literaturwissenschaft verankert. Gleichwohl hat die literaturwissenschaftliche Raumforschung unter dem Einfluss postmoderner Literaturund Kulturtheorien mit dem spatial turn einen entscheidenden Aufschwung erfahren. Hierfür lassen sich zwei Gründe festmachen: Zum einen die Favorisierung dynamischer und prozessualer Raumkonzepte. Erst auf dieser Basis konnte ein Instrumentarium gewonnen werden, das in der Lage war, die vielfältigen und komplexen literarisch entworfenen Räume, deren Konzeptionen weit über das hinausgehen, was sich als statische Beschreibung fassen lässt, analytisch einzuholen. Zum anderen das Verständnis der Raumsemantik als Kultursemantik. Insofern der Literatur in Bezug auf ihre Raumentwürfe dabei nicht nur eine repräsentative Funktion, sondern gleichzeitig eine performative Potenz zukommt, konnte sie in verstärkter Weise das Frageinteresse auf sich ziehen. Von diesen Ansätzen aus eröffnen sich für die raumorientierte jüngere Literaturwissenschaft neue Forschungsfelder, wobei sich grundsätzlich zwei Ebenen der Betrachtung unterscheiden lassen. 1) Raum und Räumlichkeit in der Literatur: Auf dieser Ebene werden die Erscheinungsformen, Darstellungsweisen und Funktionen von Räumen im literarischen Text in den Blick genommen. Wichtige Ansatzpunkte sind hier der Zusammen|| 46 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, 236. 47 Vgl. Vittoria Borsò: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“, 20. 48 Dies: „Topologie als literaturwissenschaftliche Methode“, 279. 49 Vgl. ebd., 294. 50 Ebd., Anm. 47.

492 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer hang von Raum und Bewegung, Raum und Figur sowie Raum und Zeit. Gerade unter dem Aspekt der Bewegung kann ein relativistisches Raumkonzept für die Literaturwissenschaft besonders produktiv werden, denn literarische Raumentwürfe stehen in der Regel in flexiblem Bezug zu den sich in der histoire bewegenden bzw. wahrnehmenden Figuren. Literarische Räume geraten dabei weniger im traditionellen Sinn als passiver, statischer Rahmen der Handlung in den Blick, sondern erweisen sich vielmehr als „Präfigurationen von Aktionen“51 bzw. als deren Folgen. Diese Handlungsmöglichkeiten, die dem jeweiligen Raumentwurf eingeschrieben sind, und die orientierenden Bewegungen bzw. Handlungen der Figuren laden den Raum mit Bedeutung auf und prägen zugleich die Figurenzeichnung. So wird die Figurenkonstitution neben der narrativen Aneignung vergangener Erfahrungen auch über die Auseinandersetzung mit Räumen entwickelt. Über die Kriterien der Bewegungs- und Figurenkonstitution wird schließlich einmal mehr deutlich, dass Raum sich immer in der Zeit konstituiert und sich mithin gerade in der Literatur nicht als von der Zeit abgelöst betrachten lässt. 2) Literarische Raumdarstellung als kultureller Bedeutungsträger: Auf dieser Ebene werden die raumkulturellen Funktionen literarischer Texte untersucht. Ausgangspunkt bildet die doppelte Funktion der Literatur, die sich aus dem Wechselverhältnis von kulturellem und literarischem Diskurs ergibt. Literarische Texte können sowohl als Repräsentationen wie auch als Produzenten kultureller Raumordnungen gelesen werden. In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick zum einen auf kulturelle Kontexte und ihren Transfer, zum anderen auf die Genesebedingungen von kulturell relevanten Raumordungen in den Texten sowie auf die Medialität und die Materialität von Literatur, die den Text selbst zum Raum machen. V. a. auf der zweiten Ebene gelang der raumorientierten Literaturwissenschaft mit der Übernahme spezifischer Raumkonzepte und kulturtheoretischer Fragestellungen der Anschluss an die Kulturwissenschaften, denen die literaturwissenschaftliche Raumdebatte insgesamt entscheidende Impulse verdankt.52 Umgekehrt ist es nun jedoch auch Aufgabe der Literaturwissenschaft, den eigenen Beitrag zur interdisziplinären Raumforschung im Zusammenschluss beider Betrachtungsebenen deutlich zu machen. So kommentiert eine raumorientierte Literaturwissenschaft nicht nur die Konstruktion von Räumen in der Literatur, sie kann darüber hinaus || 51 Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, XIX. 52 Wir widersprechen an dieser Stelle der Auffassung von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, dass die Textwissenschaften sich besonders schwer täten, „Räume in einem interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Rahmen zu erfassen“ (vgl. dies.: „Raum“, 20). Im Gegenteil: Unserer Ansicht nach indizieren die vielfältigen, kulturwissenschaftlich gefärbten Bezeichnungen raumorientierter Literaturwissenschaft die Schwierigkeit, sich gegenüber der Kulturwissenschaft abzugrenzen, bspw. ist mitunter die Rede von ,raumkulturwissenschaftlicher Literaturwissenschaft‘.

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Methoden bereitstellen, die die spezifischen Genesebedingungen von Räumen und deren jeweilige semantische Valeurs in ihrer Heterogenität auch in anderen Disziplinen analysierbar machen.53 Neben der Frage nach möglichen Anschlussstellen zum transdisziplinären Diskurs muss allerdings auch kritisch diskutiert werden, wo die Transdisziplinarität der Debatte möglicherweise an ihre Grenzen stößt. An dieser Stelle ist die raumorientierte Literaturwissenschaft dazu aufgefordert, neben allen Berührungspunkten mit anderen Disziplinen ihren eigenen ,Standort‘, ihren ,Gegenstand‘ und ihre eigenen Methoden zu definieren und damit auch das Spezifische literarischer Raumdarstellung herauszustellen.54 So bleibt zu beachten, dass sich der literarische Raumdiskurs insofern kategorial vom physikalischen, philosophischen und eben auch kulturwissenschaftlich-soziologischen unterscheidet, als Literatur theoretische Konzepte in ihrer Darstellung von Räumen nie eins zu eins übernimmt und abbildet, sondern sie in einem Prozess der Dynamisierung, Modifizierung und Amalgamierung adaptiert, mit anderen Perspektivierungen mischt, bis zur Unkenntlichkeit überschreibt. Ja, die Literatur entwirft als ,Gegendiskurs‘, d. h. in ihrer Möglichkeit zum experimentellen Freiraum, im Extremfall Räume, die außerhalb jeder bisher konzipierten Ordnung angesiedelt sind und die deshalb a-logisch, un-denkbar und damit auch un-anschließbar sind.55 Gerade mittelalterliche, aber auch postmoderne literarische Texte weisen immer wieder derartige eigengesetzliche Raumkonstruktionen auf. Eben weil die Raumkonstruktionen sich häufig nicht aus einer kulturhistorisch vorgängigen Perspektive bzw. über einen theoretisch präfigurierten Ansatz bestimmen lassen, verlangen sie umso mehr eine spezifisch literaturwissenschaftliche Analyse, die nicht deduktiv, sondern induktiv ihren Gegenstand bestimmt. Einen hilfreichen Zugang bietet in dieser Richtung Ansgar Nünning, der in seinem Aufsatz Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung demonstriert, wie sich Räume in der Literatur im Rückgriff auf ,traditionelle‘ literaturwissenschaftliche Kategorien der Narratologie präzise beschreiben lassen.56 So schlägt Nünning auch bei der Analyse der Raumdarstellung eine Unterscheidung zwischen paradigmatischer, syntagmatischer und diskursiver Achse vor. Fragt die paradigmatische Analyse nach der Selektion von Räumen hinsichtlich ihrer intertextuellen oder außertextuellen Referenz, so analysiert die syntagmatische Achse deren Kombination im Zuge der literarischen Darstellung, während die diskursive Achse die spezifische

|| 53 Vgl. Sylvia Sasse: „Literaturwissenschaft“, 230. 54 Es geht hier um das alte Problem der Abgrenzung der Literaturwissenschaft gegenüber der Kulturwissenschaft und um die Frage nach dem drohenden Verlust des Gegenstands. Vgl. dazu Walter Haug: „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?“; Gerhart von Graevenitz: „Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung“; Walter Haug: „Erwiderung auf die Erwiderung“. 55 Vgl. Annette Gerok-Reiter: „Unort Minne. Raumdekonstruktionen als Neukonzeptualisierung der Minne im späthöfischen Sang“. 56 Zur (historischen) Narratologie vgl. den Beitrag von Hartmut Bleumer i. vorl. Bd.

494 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Perspektivierung der kombinierten Räume innerhalb der literarischen Darstellung untersucht. „Diese narratologischen Kategorien“, so fasst Nünning zusammen, „bieten nicht nur wichtige Anhaltspunkte zur Analyse der Formen literarischer Raumdarstellung, sondern sie bilden auch die Grundlage, um Hypothesen zur Funktionalisierung und Semantisierung des Raumes in der Literatur zu formulieren.“57 Nünnings methodologischer Entwurf stellt damit unter Berücksichtigung der Einsichten der jüngeren Raumforschung den Anschluss an die Kernkompetenzen der Literaturwissenschaft her, schließt dabei aber keinesfalls kulturwissenschaftliche Perspektiven aus. Auch Katrin Dennerlein versucht mit ihren Vorschlägen zu einer ‚Narratologie des Raumes‘ eine spezifisch literaturwissenschaftlich orientierte Beschreibungssprache für die narrativen Mittel zur Darstellung von Räumen zu entwickeln, grenzt sich dabei jedoch deutlich von der kulturwissenschaftlichen Favorisierung dynamischer bzw. relativistischer Raumkonzepte des spatial turn ab. Im Rückgriff auf kognitionswissenschaftliche Modelle geht sie stattdessen vom Containerraum als alltäglicher und damit basaler Raumvorstellung aus. In der Konzentration auf das substantialistische Raumkonzept und damit auf die Beschreibung der konkreten, materiellen Räume der erzählten Welt bleiben die relationalen Räume ebenso konsequent ausgeklammert wie eine weitergehende Deutung metaphorischer, symbolischer und funktionaler Aspekte. Dennerlein bietet mit ihrer Terminologie ein klares Instrumentarium zur narratologischen Analyse physisch-konkreter Räume in literarischen Texten; gleichwohl stellt sich die Frage, ob sich literarische Raumdarstellung wie auch Raumwahrnehmung tatsächlich strikt von nicht-räumlichen Deutungsebenen getrennt betrachten lassen. Die aktuelle literaturwissenschaftliche Raumforschung stellt sich somit als ein breites Spektrum an Prämissen und Methoden dar: Auf der einen Seite stehen Ansätze, die stark durch kulturwissenschaftliche Raumkonzepte geprägt sind und eng an kulturwissenschaftliche Fragestellungen zum Raum anschließen. Auf der anderen Seite erproben narratologische Untersuchungen spezifisch literaturwissenschaftliche Analyseverfahren der literarischen Raumdarstellung, die mitunter quer zu den Prämissen des spatial turn liegen können.

|| 57 Ansgar Nünning: „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung“, 46.

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2 Die literaturwissenschaftliche Mediävistik und der spatial turn 2.1 Hinweise zur Forschung Unter dem Einfluss des spatial turn wurde der Raumbegriff auch in der mediävistischen Literaturwissenschaft zunehmend modifiziert und erweitert. Bereits in der älteren Forschung zur mittelalterlichen Literatur war die Raumdarstellung Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Allerdings gingen diese, wie in der Literaturwissenschaft insgesamt, in der Regel von einem vergleichsweise eng gefassten, gegenständlichen Raumbegriff aus und bezogen sich im Wesentlichen auf Landschaftsdarstellungen bzw. Landschaftsmotive oder Verfahren der Allegorese.58 Eine Zäsur in der Raumforschung mediävistischer Literaturwissenschaft zeichnete sich jedoch Mitte des 20. Jhs. ab. Als maßgeblich sind die Arbeiten Rainer Gruenters, Dieter Röths, Ingrid Hahns und Joachim Schröders zu nennen, die sich in ihren Überlegungen zur Raumdarstellung in der mittelalterlichen Literatur vom substantialistischen Raumkonzept wie auch von der Perspektivierung topischer Räume lösen und den Raumbegriff selbst zunehmend problematisieren. So kritisiert Gruenter 1953 den unreflektierten Gebrauch eines ahistorischen Landschaftsbegriffs, der nicht auf die mittelalterliche Literatur anwendbar sei.59 Er nimmt demgegenüber „raumgesättigte Wörter“60 wie walt, wüeste, wilde in den Blick, um von ihnen aus die spezifische Raumwahrnehmung und -darstellung in der erzählenden Dichtung des Mittelalters nachzuvollziehen.61 Röth entwickelt in seiner Studie Dargestellte Wirklichkeit im frühneuhochdeutschen Prosaroman 1959 den Terminus der ,durchwanderten Landschaft‘ und verweist damit als erster auf die Bewegung als konstituierendes Prinzip der Erzeugung von Raumimaginationen.62 1963 fragt Hahn in einer Untersuchung der Raumdarstellung im Tristanroman63 nach dem Raum als kultureller Erscheinung sowie nach individuellen Feinstrukturen räumlicher Entwürfe und stellt wie Röth die Bedeutung der Bewegung für die Raumkonstitution heraus. Schröder führt 1972 den Begriff ,Schauplatz‘ ein, um der Problematik der Termini ,Natur‘, ,Landschaft‘ und ,Raum‘ zu begegnen und den Modus der literarischen Konstrukti-

|| 58 Z. B. Hilde Mittelbach: Natur und Landschaft im klassisch-höfischen Epos; Josef Billen: Baum, Anger, Wald und Garten; Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum. 59 Vgl. Rainer Gruenter: „Landschaft“. 60 Ders.: „Zum Problem der Landschaftsdarstellung“, 249. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. Dieter Röth: Dargestellte Wirklichkeit, 215. 63 Vgl. Ingrid Hahn: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan.

496 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer on hervorzuheben.64 D. h. Räumlichkeit wird in dieser Phase der Neuorientierung zunehmend als Mittel poetischer Inszenierung und Funktionalisierung erkannt, das jeweils historischen Bedingungen unterliegt.65 Mit der Fokussierung auf dynamische Raumkonzeptionen im Sinne des spatial turn haben sich für die Interpretation mittelalterlicher Literatur schließlich neue, fruchtbare Zugänge eröffnet, so dass sich die Untersuchung der Raumdarstellung in eine Vielzahl möglicher Lesarten ausdifferenziert hat. Zeugnis hierfür sind verschiedene Sammelbände jüngeren Datums, die sich von unterschiedlichen Perspektiven aus mit Raumvorstellungen, literarischer Raumkonstitution und Raumwahrnehmung im Kontext mittelalterlicher Literatur auseinandersetzen.66 Darüber hinhinaus gibt es inzwischen zahlreiche Einzelstudien, von denen an dieser Stelle nur zwei herausgehoben werden sollen:67 Als grundlegend gilt Uta Störmer-Caysas Monogra-phie Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Ro-man. Störmer-Caysa entwickelt Raumkonzepte, die auf die Spezifik mittelalterlicher Literatur zugeschnitten bzw. aus ihr hergeleitet sind. Dabei betont sie mit dem Ver-weis auf Michail Bachtins Theorie des Chronotopos die Verschränkung von Raum und Zeit. Als Überschneidungspunkt zwischen beiden stellt sie immer wieder die raumkonstituierende Bewegung des Helden als besonderes Spezifikum der Raum-darstellung mittelalterlicher Literatur heraus. Eine andere Perspektive auf literarische Raumdarstellung stellt Carsten Morsch in seiner 2011 veröffentlichten Studie Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200 vor. Im Zentrum steht hier weniger die Frage, wie Texte um 1200 Räume entwerfen, sondern vielmehr wie sie Raum- und Wahrnehmungserfahrungen ermöglichen. Morsch steht damit als Beispiel für eine Reihe von Studien, die – ausgehend von den Vorarbeiten der jüngeren Raumforschung – den Fokus aus-

|| 64 Vgl. Joachim Schröder: Zu Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen. 65 Zu ergänzen wäre an dieser Stelle ein Hinweis auf Erwin Kobels Untersuchungen zum gelebten Raum, die eine phänomenologische Raumbetrachtung im Rahmen mediävistischer Literaturwissenschaft anstießen. Kobel betont die Differenz literarischer Raumentwürfe gegenüber dem Raumbegriff der Physik und der Mathematik (vgl. ders.: Untersuchungen zum gelebten Raum). Ebenfalls hervorzuheben ist die umfangreiche Forschung von Hartmut Kugler zur mittelalterlichen Stadt, zum Europa-Bild der mittelalterlichen Literatur sowie zur mittelalterlichen Kartographie und literarischen Geographie. 66 Einige Beispiele: Laetitia Rimpau/Peter Ihring (Hgg.): Raumerfahrung – Raumerfindung; Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume; Jürg Glauser/Christian Kiening (Hgg.): Text – Bild – Karte; Burkhard Hasebrink u. a. (Hgg.): Innenräume in der Literatur; Matthias Däumer/Annette Gerok-Reiter/Friedemann Kreuder (Hgg.): Unorte; Sonja Glauch/Susanne Köbele/Uta Störmer-Caysa (Hgg.): Projektion – Reflexion – Ferne. 67 Ausführliche Bibliographien zur literaturwissenschaftlichen Raumforschung in der Mediävistik finden sich bei Hartmut Beck: Raum und Bewegung, 244–257; Andrea Glaser: Der Held und sein Raum, 29–47; Kai Tino Lorenz: Raumstrukturen einer epischen Welt, 26–45.

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weiten auf die Bedingungen der Kognition als notwendigem Korrelat virtueller Räume.68

2.2 Zur Spezifik der Raumdarstellung in der mittelalterlichen Literatur Der spatial turn hat, so lässt sich konstatieren, in der mediävistischen Literaturwissenschaft zu besonders produktiven Konvergenzen geführt – und dies aus zwei Gründen: Zum einen ist den Raumdarstellungen mittelalterlicher Literatur durch die Verschränkung von literarischem und religiösem Diskurs immer schon eine potentielle Lesbarkeit nach dem Vorbild der Bibelexegese eingeschrieben, welche von einer prinzipiellen Deutbarkeit der gottgemachten Welt ausgeht.69 Diese prinzipielle Deutbarkeit im Sinne einer exegetischen Lesart ist besonders in Bezug auf topische Raumversatzstücke70 und ihre theologisch tradierte Semiotik zu beobachten. So übernehmen die mittelalterlichen Autoren zahlreiche räumliche Metaphern aus dem religiösen Diskurs wie Wegmetaphern oder die topische Semantisierung von rechts und links.71 Gottfried von Straßburg expliziert diese exegetische Lesart im Tristan, wenn er seinen Erzähler sagen lässt:

|| 68 So fasst Haiko Wandhoff mit virtuellen Räumen „allgemein jeden medial vermittelten, mehr oder weniger immersiven ,Raum des Möglichen oder Unmöglichen‘, in dem der Benutzer sich navigierend durch symbolische Welten bewegen kann […]“, wobei die Integration des Beobachters, der an der Konstitution virtueller Räume einen aktiven Anteil hat, zentral sei (ders.: Ekphrasis, 34). Auch Martin Seel betont die Rekurrenz von virtuellem Raum und konkretem Erfahrungsraum: Virtuelle Räume erlauben die „Erfahrung einer [...] leiblich unerreichbaren Welt innerhalb der leiblich erreichbaren Welt“ (ders.: „Medien der Realität – Realität der Medien“, 259). Zu Virtualität bzw. virtuellen Räumen in der mittelalterlichen Literatur vgl. auch Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume; Ralf Schlechtweg-Jahn: „Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des Tristan“. 69 Vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, 34f.; Wolfgang Harms: Homo viator in bivio, 11–27. 70 Mit ‚topischen Versatzstücken‘ sind Raumentwürfe bzw. Naturausschnitte gemeint, die nicht entsprechend einer Situation individuell semantisiert werden, sondern die einen Raum grob skizzieren in Anlehnung an eine bereits etablierte Tradition, wie z. B. des locus amoenus. Die topische Raummarkierung kann im Text in verschiedensten Situationen chiffrenartig eingesetzt werden und erzeugt dabei eine traditionell vorgegebene Raumimagination (vgl. dazu Ernst Robert Curtius: „Die Ideallandschaft“). 71 Zur topischen Semantisierung von Weg und Richtung in mittelalterlicher Literatur: Elisabeth Schmid: „Lechts und rinks“; Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, 53– 63; Ernst Trachsler: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, 83–95.

498 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Nun sol iuch niht verdriezen, irn lat iu daz entsliezen, durch welher slahte meine diu fossiure in dem steine betihtet wære, als si was (vv. 16923–16927).

Die Verse bilden den Auftakt zu einer der prominentesten Raumdarstellungen der mittelalterlichen Literatur: die Schilderung der Minnegrotte, in die Tristan und Isolde sich nach ihrer Verbannung vom Hof flüchten. Der Erzähler verweist hier auf das zu differenzierende semiotische Potential der Raumdarstellung, indem die Deutung, die er gibt, weit über den Literalsinn und damit den materialen Rahmen hinausgeht. Topische und allegorische Raumkonzepte mit ihrem Anspruch tradierter theologischer Deutungspraktiken sind jedoch nur eine Variante der Raumkonstruktion. Es ist ebenso, ja wohl noch häufiger zu beobachten, dass die literarischen Texte das theologische Konzept des in vorgegebenen Strukturen und Traditionen deutbaren Raums nicht nur überschreiten, sondern geradezu konterkarieren. Hieran knüpft das zweite Spezifikum der Raumgestaltung mittelalterlicher Literatur an, die radikale Figurenbezogenheit der Raumkonstruktion. Raum und Landschaft werden dabei nicht als dem Helden vorgängig gedacht, sondern entfalten sich gleichzeitig mit ihm, d. h. in Abhängigkeit von seiner Bewegung. Erst diese Bewegung konstituiert den Raum, der damit in seiner Darstellung gerade nicht vorgängig, sondern in einem hohen Maß vom Helden und seiner Aufgabe her bestimmt ist. Mit dieser engen Bindung an die Bewegung des Helden bleiben solche Räume gleichsam instabil und flüchtig. Störmer-Caysa hat dieses Phänomen unter dem Begriff des ,Sprossraums‘ gefasst.72 Die Sprossräume unterscheiden sich in den signifikanten Punkten Kohärenz und Kontinuität grundsätzlich vom Behälterraum oder einer linear verrechenbaren statischen Raumkonzeption. In einigen Fällen werden Raumdarstellung, Held und Handlung derart enggeführt, dass die Räume sich in ihrer Konstitution als eine Extension des Protagonisten selbst und seines Handelns lesen lassen. Dies trifft in besonderem Maße auf den höfischen Roman zu, in dem die Identitätssuche des Helden immer auch mit einer konkret-räumlichen Suchfahrt verbunden ist, wobei der Raum in seiner Darstellung oft die jeweilige Entwicklungsstufe des Helden widerspiegelt. Neben diesen Sprossräumen weist die mittelalterliche Literatur jedoch sehr wohl auch jene stabilen, feststehenden und vorgängigen Räume auf, die einem Text als Realpartikel oder auch als kartographische Versatzstücke eingeschrieben sein können. Die Raumdarstellung mittelalterlicher Literatur ist, so ließe sich zusammenfassen, gerade charakterisiert durch eine grundsätzliche Spannung, die von vorgegebenen, gegenständlichen Raumkonzepten über topische Deutungsräume bis || 72 Vgl. dies.: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, 70–75. Zum Phänomen des ,Sprossraums‘ unter den veränderten Bedingungen der Lyrik vgl. Annette Gerok-Reiter: „Unort Minne“.

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zu instabilen Räumen reicht, die sich in Abhängigkeit von Figuren entfalten. Damit verorten sich die Raumkonstruktionen mittelalterlicher Texte mit einer bemerkenswerten Bandbreite in jenem Spannungsfeld von substantialistischer und relativistischer Raumvorstellung, welches den gesamten raumtheoretischen Diskurs charakterisiert. Gerade die auffallend unterschiedlichen Raumentwürfe und Darstellungstechniken der mittelalterlichen Texte zeigen, dass diese das divergente Potential der Raumdarstellung in besonderem Maße nutzen, kombinieren und in seinen je spezifischen Deutungsoptionen erproben.73 Ein Einblick in mögliche Modi mittelalterlicher literarischer Raumkonzeptionen, ihre Funktionalisierung sowie die sich daran anschließenden Analyseoptionen soll im Folgenden am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan gegeben werden.

3 Raumdarstellung in Gottfrieds von Straßburg Tristan 3.1 Vorbemerkung Betrachtet man zunächst die geographischen Räume und die Landschafts- oder besser Naturräume im Tristan, so fällt schnell ins Auge, dass Raumdarstellung bei Gottfried nicht primär auf Orientierung oder Anschauung bzw. landschaftlichen Realismus zielt.74 Paradigmatisch kann hier vielmehr zutage treten, inwiefern sie ihr eigentliches Bedeutungspotential erst im funktionalen Zusammenspiel mit Held und Handlung gewinnt. Das Spezifikum der Raumdarstellung Gottfrieds liegt dabei nicht in der Konstruktion gänzlich neuer Räume, sondern in der Überlagerung, Pluralisierung und Umcodierung verschiedener bestehender Raumkonzepte, die schließlich zur Auflösung des einen stabilen Raums führen. Dieser Destabilisierungsprozess lässt sich insb. an der komplexen Darstellung des Hofes von König Marke nachweisen. Hier entfalten sich gleich mehrere Räume, die an unterschiedliche Konzepte von Räumlichkeit gebunden sind. || 73 Eine umfassende Untersuchung verschiedener fiktionaler Raumentwürfe in der mittelhochdeutschen Epik unternimmt das Dissertationsprojekt von Franziska Hammer: Raumpoetologie um 1200. Raumdarstellung und Raumkonstruktion im Nibelungenlied, in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Wolframs von Eschenbach Parzival (erscheint vorauss. 2016). 74 Der Text gibt keine zusammenhängende geographische Folie, auf der man die Bewegung des Helden kartographisch nachzeichnen könnte. Ein Raumüberblick bzw. großräumige Orientierung wird nur dort gegeben, wo die Handlung es verlangt. Auch die Darstellung der Naturräume wie Meer oder Wald bleibt in ihren Konturen unscharf. Motive, wie z. B. die immer gleichgestaltigen tobenden Wellen, die für den Seesturm und damit für den Raum der Verirrung stehen, sind primär funktional gestaltet und erscheinen in der Zusammensetzung räumlicher Topoi oft klischeehaft.

500 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Seiner historischen Semantik nach bezeichnet ,Hof‘ zunächst nichts weiter als einen umschlossenen Raum beim Haus. Von hier aus weitet sich die Bedeutung auf den gesamten Gebäudekomplex aus. Im Zuge der Übernahme der französischen Adelskultur verweist ,Hof‘ schließlich auf die Wohnstätte oder allgemein den Aufenthaltsort des Fürsten. ,Hof‘ kann allerdings über diese konkret räumliche Komponente hinaus auch für die personale Umgebung des Fürsten sowie eine Versammlung der Fürsten stehen.75 Ja, der mittelalterliche königliche Hof ist, besonders in Zeiten, in denen das Reisekönigtum noch präsent ist, vor allem ein Raum, der sich durch personale Interaktion konstituiert.76 In der zweiten Variante erweist sich der Hof als ein flexibler Raum mit unbestimmten Grenzen. Hieran anschließend ist man insb. bei der Suche nach dem höfischen Interaktionsraum auch in literarischen Zeugnissen gezwungen, über den physischen, substantialistischen Raumbegriff hinauszugehen. Die Darstellung des Hofes im Tristan umfasst mit ihren unterschiedlichen Raumkonzepten eben jene unterschiedlichen Facetten des Hofes: einerseits den Hof als konkret-substantiellen Aufenthaltsort, d. h. als architektonischen Raum, andererseits den Hof als Interaktionsraum, der dynamisch-relational konstituiert ist, sei dies durch Binnendifferenzierung als Intimraum quer zum öffentlichen Repräsentationsraum oder durch Abgrenzungsprozesse nach außen als Raum personaler Gemeinschaft. Dabei gehen beide Arten der Darstellung z. T. ineinander über.

3.2 Der Hof als architektonischer Raum Die höfische Architektur tritt vor allem in der ersten Ankunftsszene Tristans am Hof Markes hervor. Als Tristan erstmals Tintajol entdeckt, erkundigt er sich bei der Jagdgesellschaft, welche Burg er vor sich habe: ‚ei‘ sprach er ,lieber meister min, saget waz bürge mag diz sin?

|| 75 Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 420f.; Georg Friedrich Benecke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, 698; Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. I, Sp. 1320. Zum Begriff ,Hof‘ bzw. ,höfisch‘: Joachim Bumke: Höfische Kultur, 78– 82; Elke Brüggen: „Räume und Begegnungen“; Stefan Erlei: ,Höfisch‘ im Mittelhochdeutschen. 76 Vgl. Ralf Schlechtweg-Jahn: „Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des Tristan“, 77. Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller diskutieren die Problematik der Semantik des ,Hofes‘ und der ,höfischen Gesellschaft‘ um 1200 insb. unter dem Gesichtspunkt, dass der Hof des 12. und 13. Jhs. als realhistorische Institution schwer fassbar ist (vgl. dies.: „Vorwort“, 9–17). Auch Bumke weist darauf hin, dass die Vorstellung einer ständisch homogenen höfischen Gesellschaft als Bezugsgruppe der höfischen Literatur äußerst problematisch ist (vgl. ders.: Höfische Kultur, 73, 76, 81). Einen Ausweg bietet die Vorstellung des idealen Hofes als Sinnparadigma höfischer Idealität (vgl. Annette GerokReiter: „Der Hof als erweiterter Körper des Herrschers“).

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diz ist ein küniclich castel.‘ der meister sprach: ,deist Tintajel.‘ ,Tintajel? a welh ein castel!‘ (vv. 3155–3159).

‚Burc‘ und das aus dem Französischen entlehnte ‚castel‘ stehen hier gleichbedeutend nebeneinander.77 Im Folgenden führen die einzelnen Raumdetails analog zu Tristans Annäherung an den Markehof schrittweise ins Zentrum des Hofes. Wie in anderen höfischen Romanen des Mittelalters sind die höfischen Begrüßungsrituale dabei fest an architektonische Details gebunden: Die Ankömmlinge erreichen den Burghof, werden vom palas, dem Festsaal, aus bereits dabei beobachtet, woraufhin der Gastgeber sich in den Burghof begibt, um seine Gäste offiziell zu begrüßen und wiederum in den palas zu führen.78 Als die Jagdgesellschaft das Burgtor durchschreitet und das Innere der Burg erreicht, setzt sie unter der Anleitung Tristans zu einem stattlichen Hörnerkonzert an:79 und als diu rotte gar in kam, Tristan sin hornelin do nam und hürnete also riche und also wunnecliche, jene alle, die da mit im riten, daz die vor vröuden kume erbiten, daz sime ze helfe kamen und alle ir horn namen und hürneten vil schone mit ime in sime done. er vuor in vor ze prise, si nach in siner wise bescheidenlichen unde wol: diu burc diu wart gedœnes vol (vv. 3209–3222).

|| 77 ‚Burc‘ ist neben ‚hûs‘ und ‚veste‘ das mhd. Wort für die Burg, kann aber darüber hinaus auch eine befestigte Stadt umfassen. ‚Castel‘ hingegen ist dem Frz. entlehnt. Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur, 144f.; Georg Friedrich Benecke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. I, 165: ‚burc‘ mit den Bedeutungen Burg, befestigte Stadt und castel. 78 Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur, 148. Elke Brüggen hat die Adventus-Szenen in der mittelalterlichen Literatur als beschreibbares Muster herausgearbeitet (vgl. dies.: „Räume und Begegnungen“). 79 C. Stephen Jaeger weist darauf hin, dass die Szene der Jagdprozession vor Tintajol Formen der höfischen Prozession und des fürstlichen Einzugs übernimmt. Als Merkmale nennt er die Anordnung der Jäger in Zweierpaaren, die Lindenkränze, die Tristan sich und dem Jägermeister schneidet, sowie den feierlichen Gang unter dem ohrenbetäubenden Hornschmettern, wobei Tristan als Zeremonienmeister amtiert (vgl. ders.: „Höfisches Fest“, 198f.).

502 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer Anstelle einer zu erwartenden architektonischen Beschreibung des Burginneren wird der Raum durch den Klang der Hörner, der den Hof durchdringt, gleichsam von innen heraus modelliert.80 nu was diu rotte iezuo komen vür den palas an die tür: da was vil ingesindes vür geloufen durch den hornschal; si nam groz wunder über al, waz des geschelles wære (vv. 3230–3235).

Tristan hat Einzug in Tintajol gehalten – und dies als musikalischer Eroberer. Mit seinem Hörnerklang hat er einen Raum geschaffen, in dem er allein der Herrscher ist, denn – wie mehrmals hervorgehoben wird – er beherrscht dieses Hörnerspiel wie kein anderer.81 Gerade im vremeden horndone (v. 3248) ist neben der Vorzüglichkeit Tristans bereits die Gefährdung der bestehenden Machtverhältnisse am Markehof mitinszeniert, die seine Außerordentlichkeit und seine vremede mit sich bringen. So erschrickt man zunächst vor den Künsten des neuen Gastes: Der künic und al diu hovediet, do si daz vremede jageliet gehorten und vernamen, si erschraken unde erkamen vil innecliche sere, wan ez da vor nie mere da ze hove wart vernomen (vv. 3223–3229).

Die Ankunftsszene in Tintajol beinhaltet somit zwar zentrale architektonische Elemente der mittelalterlichen Burg wie das Burgtor und den großen Saal. Entscheidend ist jedoch, dass dieser grob umrissene architektonische Raum von einem klanglichen Raum überlagert wird, so dass die materiellen Grenzen durch die Musik durchlässig zu werden scheinen. Dieser Klangraum wiederum wird von der Tristanfigur bewusst erzeugt.82 Für Tristan sind, so die Deutung, an diesem Hof zunächst keine Grenzen gesetzt. Auf räumlicher wie auch auf klanglicher Ebene wird an die-

|| 80 Weiterführende Literatur zur Relation von Raum und Klang: Christiane Ackermann/Hartmut Bleumer (Hgg.): Gestimmte Texte, bes. die Aufsätze von Christiane Ackermann/Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius und Almut Schneider. 81 Vgl. Horst Wenzel: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 340: „Akustisch manifestiert sich der Hof als Resonanzraum für die Demonstration von legitimer Herrschaft mit schal oder durch schallen.“ Dazu auch Sabine Žak: Musik als „Ehr und Zier“, 12: „[…] zur Selbstdarstellung unangefochtener Macht gehört die Verbreitung eindrucksvollen Lärms, er ist ein Teil des prächtigen Aufzugs wie ein großes Gefolge, stattliche Rosse, prunkvolle Kleidung, Schmuck und Fahnen“. 82 Zum Klangraum im Tristanroman vgl. Ingrid Hahn: Raum und Landschaft, 62f.

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ser Stelle vorweggenommen, wie subtil Tristan diesen Raum für sich erobern und gleichzeitig unterlaufen wird. Der architektonische Raum bleibt dabei in seiner Darstellung bruchstückartig und bietet wenige Anhaltspunkte für eine geschlossene Raumvorstellung des jeweiligen höfischen Handlungsschauplatzes. Auch im späteren Textverlauf lösen sich nur dann einzelne Raumdetails aus der indifferenten Gesamtdarstellung, wenn diese für die fortlaufende Handlung notwendig sind. Damit unterscheidet sich die Darstellung der höfischen Architektur im Tristanroman eklatant von denen anderer mittelalterlicher Texte, in denen die Architektur nicht nur markanter in die Schilderung des gesellschaftlichen Lebens auf der Burg miteinbezogen, sondern geradezu märchenhaft überhöht wird,83 wie bspw. im Nibelungenlied, als der Erzähler Isenstein, die Burg Brünhilds, beschreibt: Sehs unt ahzec türne si sâhen drinne stân, drî palas wîte unt einen sal wol getân von edelem marmelsteine, grüene alsam ein gras, dar inne selbe Prünhilt mit ir ingesinde was (Str. 404).

Der Tristan weist hingegen so gut wie keine derartigen Beschreibungen höfischer Pracht auf.84 Ja, die höfischen Räume erscheinen in ihrer Ausstattung nahezu leer. Diese Vernachlässigung der architektonischen Darstellung liegt in der Handlung begründet, die sich gerade nicht vorrangig in den öffentlichen Repräsentationsräumen des Hofes abspielt, sondern sich in Interaktionsräumen vollzieht, welche sich quer zum öffentlichen Raum entfalten, äußerst dynamisch sind und sich – statt durch eine architektonische Konturierung – durch die verschiedenen Relationen der Figuren konstituieren.

3.3 Höfische Binnenräume der Intimität Funktion der Interaktionsräume, die quer zum öffentlichen Repräsentationsraum liegen, ist es, einen temporären Schutz vor den Blicken der höfischen Öffentlichkeit zu ermöglichen. So können Tristan und Isolde hier ihre heimliche Liebe leben; ebenso können hier ihre Widersacher immer wieder neue Intrigen spinnen, um diese heimliche Liebe aufzudecken. Man kann solche Räume in Anlehnung an Sebastian Baier ,Binnenräume der Intimität‘ nennen.85 Intimität bezeichnet nach Baier eine || 83 Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur, 148f. 84 Eine Ausnahme bildet bezeichnenderweise die Beschreibung der Minnegrotte, die als außerhöfischer Raum erzählerisch mit allen Attributen höfischer Pracht ausgestattet ist (vgl. Rainer Gruenter: „Das wunnecliche tal“, 397). 85 Sebastian Baier: „Heimliche Bettgeschichten“. Horst Wenzel bevorzugt den Begriff der Heimlichkeit als Pendant zur höfischen Öffentlichkeit und meint damit einen Raum, der eine besondere Nähe möglich macht bzw. „alles das, was den Blicken und dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen

504 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer enge Beziehung zweier Menschen, deren gemeinsames Geheimnis einen Dritten kategorisch ausschließt.86 Der Tristan macht an mehreren Stellen deutlich, dass diese Intimität nach spezifischen räumlichen Arrangements verlangt bzw. zunächst räumlich hergestellt werden muss.87 Nachdem Tristan und Isolde Cornwall erreicht haben, müssen sie die schützende Abgeschlossenheit der Kemenate ihres Schiffes verlassen und sind gezwungen, sich am Markehof neue intime Räume zu erschließen, um weiterhin ihre illegitime Beziehung leben zu können. Dabei verfolgen sie zwei unterschiedliche Strategien: Sie ,intimisieren‘ den Raum entweder durch Verschließen bzw. Unzugänglichkeit oder durch gezielte Verdunkelung bzw. durch Behinderung der Sichtbarkeit. Als Beispiel für eine derartige ,Intimisierung‘ des höfischen Raums lässt sich die Szene lesen, in der Tristan Isolde heimlich in ihrer Kemenate aufsucht: wan gieng et baltliche dar, da man im sine tougenheit bescheiden hæte und uf geleit. nu er in die kemenaten kam, Brangæne ein schahzabel nam: vür daz lieht leinde si daz (vv. 13502–13507).

|| wird […], als mögliches Konstituens für eine exklusive Gemeinschaft zwischen zwei oder mehreren Menschen, für Liebe, Ehe oder für Konspiration.“ Heimlichkeit ist dabei doppeldeutig und kann in Abhängigkeit von der Perspektive als verborgen oder als vertraut bestimmt werden (vgl. Horst Wenzel: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 341f.). Anders als Wenzel und Baier nutzt Werner Röcke den Begriff ‚privat‘. Er sieht im Rückzug der Liebenden von der Öffentlichkeit des Hofes, in der ‚privaten‘ Verständigung untereinander und in der Erfüllung ihres ‚privaten‘ Glücks den ursprünglichen Sinn von privatio erfüllt. Die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die Jürgen Habermas gesellschaftsgeschichtlich erst im 17. Jh. verortet, beginne in literarischen Entwürfen mithin wesentlich früher, wenngleich der private Rückzug bei Gottfried nur temporär sei und schließlich als Experiment scheitere (vgl. Werner Röcke: „Im Schatten des höfischen Lichtes“, 54). 86 Vgl. Sebastian Baier: „Heimliche Bettgeschichten“, 190–192. 87 Vgl. Abram de Swaan: „Inszenierung der Intimität“, 43: „Intimität muß sich innerhalb eines spezifischen räumlichen Arrangements herstellen, das es gestattet, bestimmte Dinge vor anderen Personen zu verbergen und andere Dinge bestimmten Personen zu enthüllen.“ Horst Wenzel weist darauf hin, dass zudem die Eindimensionalität der öffentlichen Rede Bedingung für die Erschließung eines Raums nichtöffentlichen Handelns ist. Die Gleichzeitigkeit der öffentlichen und heimlichen Handlungsebene spalte die Sprache der Protagonisten auf in eine öffentliche Sprache des Hofes und eine „Arkansprache der Liebe“ (Horst Wenzel: „Die Zunge der Brangäne“, 366). Damit konstituiere sich eine „eigene Semantik der Heimlichkeit“ (ebd.), in der die Bedeutung der Signifikanten intersubjektiv festgelegt wird. Die Trennung der Liebenden von der Hofgesellschaft vollzieht sich demnach nicht nur konkret räumlich, sondern zeigt sich darüber hinaus als Übergang in eine andere, differente Wahrnehmungsstruktur, die wiederum einen exklusiven Raum intimer Kommunikation konstituiert (vgl. ebd., 361).

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Hier wird detailliert geschildert, wie der Raum vorsätzlich verdunkelt wird, um das Geheimnis der Liebenden zu wahren. Zuständig für das Arrangieren eines locus intimus88 ist in den meisten Fällen Brangäne, die vertraute Kammerdienerin Isoldes. Als Bindeglied zwischen dem heimlichen Liebespaar und der höfischen Öffentlichkeit wacht sie über die Ungestörtheit der beiden. Doch nicht selten hat der intime Raum eine undichte, „defekte Stelle“89, über die der ausgeschlossene Dritte eindringen kann. So auch in diesem Fall, wie der Erzähler – im Spiel mit seiner eigenen Handlungsregie – in den folgenden Versen schildert: nun weiz ich, wie si des vergaz, daz si die tür offen lie und si wider slafen gie (vv. 13508–13510).

Die Liebenden laufen durch Brangänes Versagen Gefahr, entdeckt zu werden, denn ein Mitglied des Hofes, Marjodo, ist misstrauisch geworden und daraufhin Tristans Spuren bis zur Kemenate Isoldes gefolgt. Mit der Verfolgung wechselt die Perspektive. Das Geschehen wird nun vom Standpunkt der Marjodo-Figur geschildert, die sich Schritt für Schritt dem Ort des betrügerischen Ehebruchs nähert: er sleich vil lise hin zer tür unde wartete dervür und sach Tristandes spor dervor. hie mite sô volget er dem spor hin durch ein boumgertelin. ouch leitet in des manen schin über sne und über gras, da er vor hin gegangen was, unz an der kemenaten tür (vv. 13561–13569).

Aufgrund dieser eingeschränkten, internen Perspektivierung wird der Rezipient ebenfalls aus dem intimen Raum der Liebenden ausgeschlossen. So löscht mit Brangäne auch der Text gewissermaßen das Licht über dem ehebrecherischen Geschehen.90 Das Bild des Verfolgers, der die Fährte Tristans liest und seinen Fuß sorgfältig in die Spuren des Verfolgten setzt,91 verleiht der Darstellung zudem Plastizität und

|| 88 Sebastian Baier: „Heimliche Bettgeschichten“, 202. 89 Ebd., 196. 90 Horst Wenzel bemerkt, dass die Zuordnung von Licht und Schatten nicht selten eine Aussage über die Rechtlichkeit oder die moralische Bewertung einer Situation enthält. Die Sphäre der Heimlichkeit wird dabei allgemein als Sphäre verminderter Integrität, des latent Bösen bewertet, kann aber zugleich auch die Sphäre besonderer Möglichkeiten sein und offeriert damit in jedem Fall ein kritisches Potential (vgl. ders.: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 346, 350). 91 Allgemein sind Spuren im Wechselspiel von List und Gegenlist von grundlegender Bedeutung. Sie sind die Achillesferse Tristans und verraten ihn mehrmals beinahe. Außer im Schnee hinterlässt

506 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer steigert die Spannung der Szenerie durch die Akzentuierung des linearen Procedere, das unweigerlich auf den Moment der Entdeckung zuzuführen scheint. Doch eben dieses zielsichere, lineare Procedere verliert sich offensichtlich wieder an der Schwelle zum Binnenraum der Intimität in einer nuancierten Gegensteuerung: So bemerkt Marjodo, als er an der Tür der Kemenate angelangt ist, dass sie offen steht, tritt jedoch erst nach längerem Zögern ein. Da der Raum abgedunkelt ist, ist Marjodo zudem auf das Ertasten des Raums angewiesen, was zur Folge hat, dass er sich nur unsicher bewegen kann. Schließlich bietet nurmehr sein Gehör eine Orientierung: sus gienger allez enbor und greifende mit henden an muren unde an wenden, biz er zir beider bette kam, si beidiu samet dar an vernam und horte al ir gelegenheit (vv. 13590–13595).

Den Binnenraum der Intimität erschließt sich Marjodo somit allein mit Hilfe des Tast- und Gehörsinns, nicht mit Hilfe des Gesichtsinns. Wenngleich die Intimität der Liebenden durch das Eindringen Marjodos gestört ist, bleibt das Geheimnis der beiden eben deshalb vor der höfischen Öffentlichkeit gewahrt, denn Voraussetzung für ein abschließendes Urteil ist die unzweifelhafte Sichtbarkeit, die im öffentlichen Raum des Hofes die Basis der Konsensbildung abgibt, hier aber erfolgreich durch die Dunkelheit behindert wird.92 Der Hof hat jedoch Verdacht geschöpft und ist den beiden Liebenden wortwörtlich auf der Spur, so dass Tristan und Isolde sich immer wieder neue Räume erschließen müssen, in denen sie sich weiterhin unbemerkt treffen können. Aus diesem Ringen um einen intimen Raum am Hof bezieht die Erzählung von den gegenseitigen Listen und Intrigen nicht nur ihre Spannung.93 Es wird zugleich deutlich, dass sich die intimen Binnenräume allererst aus diesem iterativen Ringen konstituieren, d. h. durch die wechselnden Aktionen der internen Ausgrenzung Tristans und Isoldes bzw. des Hofes. Architektonische Raumdetails werden dabei allenfalls – wie || Tristan Spuren im Tau und im Sand. In einer anderen Szene streuen seine Gegenspieler Mehl aus, um seine Spuren nachvollziehen zu können. Die Spur wird als Beweis der Untreue funktionalisiert. Als Bindeglied zwischen Konkretion und Abwesenheit markiert sie die Grenzüberschreitung. Doch die Beweiskette schließt sich nie vollständig: Einmal fehlt die Spur, ein anderes Mal führt sie ins Leere. So heißt es in einer anderen Szene (vv. 15253–15258): er [Marke] hæte zuo den stunden / an sinem bette vunden / diu schuldegen minnen spor / und vant dekeinez dervor. / hie mite was ime diu warheit / beidiu geheizen und verseit. Zum Phänomen der Spur: Martin Baisch: „Zeichen lesen im höfischen Roman“. 92 Vgl. Horst Wenzel: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 339, 347. Wenzel bemerkt richtig, dass es gerade die Sphäre des verborgenen Handelns, der Nichtöffentlichkeit des Geheimen ist, die Marke immer wieder die Herrschaft sichert. 93 Vgl. Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg, 101f.

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die unverschlossene Tür im genannten Beispiel – als materialisierte Grenze funktionalisiert. Insgesamt bleiben die Räume, eben weil sie Funktionen von internen Ausgrenzungsprozessen sind, flüchtig bzw. sind permanent in Konstitution oder Auflösung begriffen.94

3.4 Der Hof als Gemeinschaft Das Pendant des intimen Raums, das mittels der Tür ausgeschlossen werden soll, ist die höfische Öffentlichkeit. Gemeint ist diesmal der Hof in seiner personalen Bedeutung: also der Hof als „Kollektivsubjekt“95, der zunehmend zum Gegenspieler der Liebenden wird und schließlich die Binnenräume der Intimität aufzuheben versteht. Von Beginn an ist das Verhältnis zwischen Tristan und dem Hof Markes von Ambivalenz geprägt. Der Hof ist zunächst begeistert von den außergewöhnlichen Fähigkeiten Tristans. Trotz seiner bewundernswerten Auftritte bleibt Tristan am Hof jedoch der ellende gast (v. 2921), ein Fremder. Eine dauerhafte Integration ist ihm nicht möglich, denn seine außerordentlichen Fähigkeiten überschreiten den Horizont des Höfischen. Zudem stört die herausgehobene Stellung Tristans die empfindliche Balance des höfischen Beziehungsgeflechts und stellt für die Hofgesellschaft von Beginn an eine potentielle Bedrohung dar.96 Als Marke Tristan zunehmend offen bevorzugt, schlägt die anfängliche Bewunderung zunächst in Missgunst und schließlich in Feindseligkeit um. Dabei charakterisiert den Hof eine undurchdringliche Anonymität. Nur selten lösen sich einzelne Figuren wie Marjodo aus der anonymen Masse und treten Tristan sichtbar gegenüber. Man beratschlagt sich, wie man sich Markes neuen Lieblings entledigen könnte. Der Plan, Tristan als Brautwerber Markes abermals nach Irland zu schicken, kommt einem Mordkomplott gleich. Obgleich das Verhältnis zwischen Marke und dem Hof hierarchisch ist, eignet dem Hof offensichtlich die Macht, die Geschehnisse nachhaltig zu beeinflussen: Marke folgt dem Rat seines Hofes.97 Der Hof wird damit für Tristan noch vor seiner Begegnung || 94 An dieser Stelle ließe sich evtl. anschließen an Michel Foucaults Konzept der Heterotopie als ,verwirklichter Utopie‘, die u. a. durch komplexe Öffnungs- und Schließmechanismen charakterisiert ist (vgl. ders.: „Von anderen Räumen“). Die Tristanminne bringt im Sinne dieser Definition immer wieder heterotope, temporäre Räume hervor. Für diese Anregung danken wir Sylvia Brockstieger. 95 Harald Haferland: Höfische Interaktion, 266. 96 Das enge Netzwerk höfischer Beziehungen basiert auf dem Grundsatz der Reziprozität. Einander überschneidende Beziehungen oder eine privilegierte Beziehung wie die von Marke und Tristan gefährden den Hof als solchen potentiell (vgl. Harald Haferland: Höfische Interaktion, 179; ebenfalls dazu Rainer Gruenter: „Der Favorit“). 97 Vgl. Herbert Kolb: „Der Hof und die Höfischen“, 237: „Die Zusammengehörigkeit von König, Hof und Land läßt zwar noch deutlich ein Verhältnis der Abstufung erkennen, in welchem der Hof dem König nachgeordnet und dem Land vorgeordnet ist; oft aber erscheinen König und Hof in einem

508 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer mit Isolde zu einem von Machtkämpfen zerrissenen Raum, der ihn in seiner Identität zunehmend gefährdet.98 Auf der anderen Seite distanziert sich Tristan mit dem illegitimen Verhältnis zu Isolde und dem damit einhergehenden Treuebruch an Marke selbst schließlich deutlich von der höfischen Gesellschaft. Zu kurz gedacht wäre es jedoch, das Verhältnis der Liebenden zum Hof nur als oppositionell zu fassen. Denn Tristan und Isolde werden zugleich als vorbildliche Mitglieder des Hofes gezeigt; als solche sind sie fortwährend bemüht, die höfische Norm nicht zu verletzen.99 Die Illegitimität ihrer Beziehung aber verhindert per se eine stabile Eingliederung in die höfische Gesellschaft. Zeugen für dieses wiederum ambivalente Verhältnis der Liebenden zum Hof sind die vieldiskutierten Verse der Minnegrottenepisode: sin hæten umbe ein bezzer leben niht eine bone gegeben wan eine umbe ir ere. waz soltin ouch da mere? (vv. 16875–16878).

In diesen Versen drückt sich das Dilemma Tristans und Isoldes aus: Sie leben und verkörpern die höfischen Ideale, doch gleichzeitig bleibt ihnen eine dauerhafte Integration am Hof aufgrund ihrer ehebrecherischen Liebe versagt.100 Diese anhaltende Ambivalenz, die den sozialen Identitätsraum der höfischen Öffentlichkeit unterminiert, löst sich auf, als es schließlich zum endgültigen Ausschluss vom Hof – zur Verbannung Tristans – kommt. Damit ist eine drei-schrittige Struktur zu erkennen: Der Hof seines Onkels Marke wird dem Waisenkind Tristan vom Erzähler zunächst als neue Heimat und damit als topographisch und sozial stabiler Identitätsraum zugedacht. Diese Sicherheit und Stabilität der topographischen und sozialen ,Verortung‘ verändert sich jedoch zunehmend durch die Ambivalenzen, die den Interaktionen, die den Hof als personales Gefüge ausmachen, eingeschrieben sind. Gänzlich aufgegeben, ja pervertiert bietet sich die anfängliche Schutzfunktion des Hofes dar, wenn der Hof Tristan zur feindlichen Umgebung wird, die ihn verstößt. In Korrespondenz zu dieser endgültigen Trennung vom Mar-

|| Verhältnis der Nebeneinanderordnung auf gleicher Höhe, das Eigenwillen und Eigenständigkeit des Hofes gegenüber dem König verrät [...]“. 98 Vgl. Anette Sosna: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200, 253. 99 Vgl. Horst Wenzel: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 353f. 100 Es ist darüber nachzudenken, ob nicht die illegitime Beziehung zu Isolde materialisierter Ausdruck einer Distanz ist, die von Beginn an das Verhältnis zwischen Tristan und dem Markehof charakterisiert. Vgl. dazu Hans Fromm: „Tristans Schwertleite“, 168: „Innerlich ist er von besonderem Zuschnitt, steht als Einzelner dort, wo später nur noch Eine, Isolde, ihm begegnen kann.“ Fromm betont die gesellschaftsentrückte Stellung Tristans vor aller Isoldenhandlung. Röcke geht hingegen davon aus, dass erst mit dem Minnetrank und der Liebe Tristans und Isoldes die Einheit des Hofes gestört ist (vgl. ders.: „Im Schatten des höfischen Lichtes“, 48).

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kehof scheinen auch auf der Darstellungsebene die Verfahren der performativen Konstitution der Binnenräume bzw. der Interaktionsräume aufgegeben zugunsten eines statisch-oppositionellen Raumkonzepts im Lotman’schen Sinne. Doch mit Tristans Aufenthalt in Arundel kommt es schließlich zu einer erneuten Fortschreibung des eingeleiteten Destabilisierungsprozesses, wenn Tristan versucht, den Verlust des Markehofes als Rahmen der Selbstvergewisserung durch den Hof Kaedins zu ersetzen. In verwirrten Monologen gibt Tristan seiner zunehmenden Desorientierung Ausdruck: ich wæne, uz Curnewale ist worden Arundele, Karke uz Tintajele und Isot uz Isote (vv. 19008–19011).

Arundel wird hier von Tristan als Spiegelung des Markehofes und seines Personals insinuiert. Doch gerade die räumliche Überkreuzung bzw. Überblendung von Gegenwart und Vergangenheit macht eine neue konkrete Verortung und Identifizierung Tristans unmöglich. Sein Bezugsraum erscheint vielmehr entleert, als ein lediglich aus Sprachzeichen bestehender Raum,101 dessen einzige Orientierungskoordinaten für Tristan die Signifikanten des Markehofes sind, die sich innerhalb des Hofs Arundels kaum vermitteln oder integrieren lassen. Die fortschreitende Destabilisierung gipfelt schließlich in einem gänzlich aufgelösten Raum, dem jedes Strukturmerkmal und jegliche spezifische Semantik fehlen: wie kunde man mich vinden? ine kan es niht erdenken wie: man suoche da, so bin ich hie; man suoche hie, so bin ich da: wie vindet man mich oder wa? wa man mich vinde? da ich bin: diu lant enloufent niender hin; so bin ich in den landen, da vinde man Tristanden (vv. 19514–19522).

Tristan verliert sich in den landen, ungreifbar im Irgendwo und Nirgendwo. Der Verlust eines definierten Raums und der Verlust der Identität gehen Hand in Hand. An dieser Stelle bricht der Text Gottfrieds ab.

|| 101 Vgl. Annette Gerok-Reiter: Individualität, 182–190.

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4 Resümee: Raum und Identität im Tristan Die Analyse zeigt, so lässt sich zusammenfassend sagen, mit welcher Produktivität der konkrete architektonische Raum des Hofes von anderen Raumkonzepten wie Klangräumen oder intimen Interaktionsräumen überlagert wird. Der Hof wird dem Rezipienten somit nicht als ein homogener Behälterraum vor Augen geführt, sondern zeigt sich als heterogenes Gefüge, das in performativen Akten jeweils erzeugt, verschoben, stabilisiert oder destabilisiert wird. Und auch in seiner Interaktionsstruktur erscheint der Hof mehrgestaltig: Im Rahmen des ambivalenten Verhältnisses zwischen der Tristan- bzw. der Isoldefigur und dem Hof ist er gleichzeitig Raum sozialer Integration und Anerkennung sowie Raum der Machtkämpfe und Intrigen, bis er schließlich gänzlich umcodiert wird zum feindlichen Raum der Bewährung, zum Raum undurchdringlicher Fremde. Tristan verliert damit den Hof als festen, verlässlichen Bezugsrahmen, der ihn in seiner Identität bestätigt.102 Der endgültige Verlust des Markehofes als Raum der Selbstvergewisserung manifestiert sich schließlich in Tristans Scheitern, Tintajol durch Arundel zu ersetzen. Die Pluralisierung und Dynamisierung der Räume, die eine Identitätszuschreibung Tristans z. T. konstituierte, jedoch mehr noch in Frage stellte, läuft damit auf eine umfassende Destruktion jeglicher Stabilität zu. Dabei korrespondiert diese fortschreitende Aufhebung eines maßgeblichen Bezugraums mit einem Helden, der von Beginn an durch seine vremede, also Heimatlosigkeit, gekennzeichnet ist und der in seiner Identität ungreifbar bleibt, bis er sich selbst als verloren bezeichnet. In seiner Darstellung des Hofes ruft Gottfried somit permanent mehrere Raumkonzepte mit unterschiedlichen Konnotationen auf, die in ihrer Überlagerung zu einer Destabilisierung des Raums bzw. von Räumlichkeit überhaupt führen, d. h. den Raum zunehmend diffus und konturlos erscheinen lassen. Raum ist dabei nicht nur in seiner Konstruktion, sondern in diesem Fall auch in seiner Destruktion ausgesprochen eng mit der Identitätskonzeption des Protagonisten verknüpft und indiziert von hier aus im intertextuellen Vergleich schließlich auch spezifische Gattungsvorgaben. Denn mit der aufgezeigten Raumkonzeption tritt der Tristan in ein spannungsreiches Verhältnis zum Artusroman, in dem der Held sich im Zuge seiner gesellschaftlichen Reintegration in der Fremde bewähren muss, bevor er an den Artushof zurückkehrt, der als stabiler Bezugsrahmen des Helden fungiert. Dieses Verhältnis von Held und Hof zeigt sich im Tristan als geradezu verkehrt: Tristan zieht nicht vom Hof aus in die Fremde, er betritt vielmehr aus der Fremde den Hof. Dementsprechend finden die eigentlichen Bewährungsproben für Tristan nicht außerhalb, sondern innerhalb des Hofes statt – und zwar im Zuge der Intrigen, die sein ganzes Geschick fordern. Der fremde, unhöfische Raum und der höfische Raum erscheinen damit umcodiert: Der Hof selbst steht im Tristanroman für die feindliche, || 102 Vgl. Anette Sosna: Fiktionale Identität, 253.

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lebensbedrohliche Fremde, für einen Raum, der erobert werden muss, dem Überlebensräume abgewonnen werden müssen und der schließlich zum unüberwindbaren Widerstand wird.103 So erfolgt mit der Dynamisierung räumlicher Konzeptionen eine Problematisierung des idealen Helden, wie er im arthurischen Roman entworfen wird. Indem die Krise als vremede in die Figur selbst verlagert wird, wird eine Reintegration am Hof im arthurischen Sinne als eine räumliche, identitätsstiftende Aufgehobenheit unmöglich. Wie eng im Tristan die Fähigkeiten des Protagonisten an die Beherrschung des Raums gebunden sind, ist augenfällig. Denn die Auflösung des Raums und einer greifbaren Identität korrespondiert mit dem Verlust der Autorität der Tristanfigur und ihrer Verfügungsgewalt über das Geschehen. Dabei scheint die Verfügungsgewalt über den Raum und das Geschehen in umgekehrter Proportion zunehmend geradezu aus der Hand Tristans in die Hand des Autors re-transponiert. In der Konsequenz rückt dabei – in topologischer Perspektive – ein entscheidender weiterer Raum auf der Metaebene in den Blick: Das werc der erzählten Geschichte als einzig stabiler Raum, in dem sich – wie in der Minnegrotte – wandeln lässt und das doch zugleich als entferntes Gegenüber zum Staunen anregt: wir kapfen allez wider berc / und schouwen oben an daz werc (vv. 16953f.).

|| 103 Wenzel spricht von einer Doppelstruktur und der Dynamisierung einstmals statischer Oppositionen, die entstehen, weil der Text öffentliche und nichtöffentliche Sphäre nicht eindeutig bewerte; vielmehr wechsle die Perspektive zwischen der Partizipation am öffentlichen und nichtöffentlichen Geschehen. Damit ermögliche der Text verschiedene Modi der Lektüre (vgl. ders.: „Öffentlichkeit und Heimlichkeit“, 350, 357). Auch Röcke konstatiert eine Verschiebung bzw. Neudeutung stereotyper Gegensätze im Tristanroman Gottfrieds. Er beobachtet eine Abschwächung der Gegensätze zwischen öffentlicher und privater Sphäre durch die Erweiterung des dualistischen Musters zu einem triadischen, in dem Gottfried die Minnegrotte als einen „dritten Ort“ konstruiert, in dem Öffentlichkeit und Privatheit nicht gegensätzlich gedacht, sondern miteinander verbunden dargestellt sind (vgl. ders.: „Im Schatten des höfischen Lichtes“, 51).

512 | Annette Gerok-Reiter/Franziska Hammer

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Michael Egerding

Systemtheorie 1 Systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft als Desiderat und Chance der mediävistischen Forschung Abgesehen von einzelnen Versuchen hat sich die mediävistische Forschung noch nicht die Perspektive der Systemtheorie zu eigen gemacht, den Blick vom Einzelnen auf das Funktionsgefüge zu richten, in dem das Einzelne steht, das infolge dessen nicht als Einzelnes, sondern nur in seinem Zusammenhang mit anderem Einzelnen beobachtet, beschrieben und erklärt wird. Viel zu wenig Beachtung fanden daher in der mediävistischen Forschung m. E. bislang: – die Relationen, durch die die einzelnen Elemente zu einem System miteinander verbunden sind; – die verschiedenartigen Systeme, die sich voneinander durch spezifische Operationen – z. B. Gedanken als Letztelemente von psychischen und Kommunikationen als Letztelemente von sozialen Systemen – unterscheiden; – die Funktionen, Präferenzen, Strukturen und Prozesse, die ein bestimmtes System in Differenz zu anderen Systemen in der Umwelt des jeweiligen Systems hervorbringen und erhalten. So können in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft der Neuzeit bspw. auf der Ebene der sozialen Systeme aufgrund ihrer Funktion, spezifische Probleme für das Gesamtsystem der Gesellschaft zu bearbeiten, etwa das System des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft etc., voneinander unterschieden werden. An den Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme knüpft Manuel Braun an, wenn er mit Hilfe der Systemtheorie als Frage- und Erklärungsraster den literarischen Neuansatz, der sich in der Thematisierung der Vergesellschaftungsformen ‚Ehe‘, ‚Liebe‘ und ‚Freundschaft‘ im deutschen Prosaroman des 16. Jhs. verfolgen lässt, zu beschreiben und zu erklären versucht.1 In ähnlicher Weise fragt Susanne Knaeble mit ihrer Arbeit zum Parzival Wolframs von Eschenbach nach der Funktion des Religionssystems für ein höfisches Erzählen von Gott. Sie möchte aufgrund ihres Interesses für religiös konnotierte und strukturierte Erzählmuster im Parzival2 ihre Aufmerksamkeit auf die Dependenz des höfischen

|| 1 Vgl. Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft, 22f. u. 355. 2 Vgl. Susanne Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott, 32, Anm. 110.

518 | Michael Egerding Erzählens vom Religiösen richten und dabei in Anlehnung an Luhmanns funktionale Kunst- und Religionstheorie3 die Funktionalität von Religion im höfischen Kontext einerseits und die Möglichkeiten höfischen Erzählens vom Göttlichen andererseits in Beziehung setzen4. Die Funktion des Religionssystems für höfisches Erzählen ist auch Gegenstand der Arbeit von Silvan Wagner. In seiner Studie zeigt er auf, wie das Religionssystem bei den in den untersuchten Texten auftretenden Paradoxien funktionalisiert wird, um die höfischen Paradoxien und die daraus folgende drohende Handlungsfähigkeit verhandelbar zu machen und durch neue, aus dem Religionssystem gewonnenen Handlungsmöglichkeiten zu bewältigen.5 Interesse am religiösen System motiviert ebenfalls die Untersuchung von Michael Egerding,6 der neben der Entwicklung einer systemtheoretisch basierten Theorie des Exempels mit dem Begriffsinventar der Systemtheorie versucht, die Exempla, die in Texten der deutschen Mystik für die Beziehung von Gott und Mensch verwendet werden, zu beobachten, zu beschreiben und im Kontext der Systemtheorie zu erklären.

2 Zum Konzept einer systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft Im Folgenden soll auf der Grundlage von Niklas Luhmanns Systemtheorie der Versuch gemacht werden, das Konzept einer systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft zu skizzieren. Ich fasse dieses in acht Punkten zusammen: 1) Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist die Feststellung, dass Kunst und Literatur soziale Systeme sind, die jeweils – wie jedes soziale System – eine Kommunikation ausbilden, die durch einen Code spezifiziert wird. Jedenfalls wird durch code-spezifische Strukturierung erreicht, dass die Kommunikation unter dem Gesichtspunkt zum Beispiel von Haben/Nichthaben gebracht wird, wenn man Tauschprozesse anschließen will, und nicht zugleich unter dem Gesichtspunkt von gut/schlecht oder von wahr/unwahr.7

Genauerhin resultiert die codespezifische Strukturierung der Kommunikation aus der Perspektive, unter der ein Problem beobachtet und bearbeitet wird; die Codierung schränkt den Bereich der Kommunikation ein, indem sie den Gesichtspunkt || 3 Vgl. ebd., 36. 4 Vgl. ebd., 3. 5 Vgl. Silvan Wagner: Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters, 422. 6 Vgl. Michael Egerding: Die Exempla in der deutschen Mystik – systemtheoretisch beobachtet. 7 Niklas Luhmann: „Ist Kunst codierbar?“, 16.

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wirksam macht, unter dem die Komplexität eines Problems reduziert wird. Ein binär konstruierter Code sorgt dafür, dass aus allen Informationen und potentiellen wie aktuellen Kommunikationen in der Umwelt diejenigen ausgewählt werden, die für das jeweilige System von Bedeutung sind: Über Codes erreichen Systeme eine Umverteilung von Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten im Vergleich zu dem, was an Materialien oder Informationen aus der Umwelt anfällt. Ob kommunikativ bejaht oder verneint wird, hängt dann nicht mehr von Vorkommnissen in der Umwelt, sondern von intern steuerbaren Prozessen der Selektion ab.8

Mit dem jeweiligen Systemcode wie auch mit weiteren symbolischen Generalisierungen wird der kommunikative Erfolg sichergestellt, d. h. dass Ego die Selektionsofferte Alters übernimmt und adäquat anschließt. Dadurch ist es möglich, dass die durch die Selektion Alters reduzierte Komplexität wirksam in anschließendes Erleben und Handeln Egos übertragen wird.9 2) Fragt man nach der spezifischen Funktion der Literatur im Vergleich zur Funktion anderer sozialer Systeme und – speziell – im Vergleich zu anderen Disziplinen der Kunst (Malerei, Musik etc.), so ist diese aus der Art der Einschränkungen zu erschließen,10 der die in einem literarischen Werk gestellten Probleme und deren Problemlösungen unterliegen. Grundlegend für eine derartige – allgemein für das Kunstsystem und speziell für die Literatur als Subsystem der Kunst geltende – Bestimmung ist die Tatsache, dass im Medium der Kunst/Literatur inszenierte Probleme und Problemlösungen fiktionalen Charakter tragen. Dies heißt, dass die ‚reale Realität‘ mit ihren aktuellen Sinnformen im literarischen Werk suspendiert und eine Welt erzeugt wird, deren Glaubwürdigkeit nicht mehr von der Übereinstimmung mit allseits bekannter Alltagswirklichkeit abhängt, sondern von der Stimmigkeit, mit der diese neue Welt konstruiert ist. Indem also das literarische Medium – wie Kunst als Medium im Allgemeinen – der bekannten Realität (‚reale Realität‘) gegenüber nicht mehr verpflichtet ist, eröffnen sich überraschende Ordnungsmöglichkeiten,11 von denen aus die normale, allen bekannte Wirklichkeit vergleichend betrachtet werden kann.12 Von daher kann im Rahmen von Luhmanns Überlegungen zur Kunst die Funktion der Literatur genauer bestimmt werden als Möglichkeit, „die Welt in der Welt erscheinen zu lassen“13 und der Welt zu ermöglichen sich selber zu beob-

|| 8 Ders.: „Einführende Bemerkungen“, 172f. 9 Vgl. ebd., 173. 10 Vgl. ders.: „Ist Kunst codierbar?“, 22. 11 Vgl. ders.: „Weltkunst“, 199 u. 229. 12 Vgl. ders.: „Literatur als fiktionale Realität“, 280f. 13 Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 108.

520 | Michael Egerding achten. Ergebnis einer derartigen Beobachtung ist die Einsicht in die Kontingenz aller realisierten Form; d. h. dass alles auch anders sein kann, als es ist.14 3) Zentral für das hierbei zutage tretende Verständnis von Kunst und Literatur ist die Medium/Form-Differenz, aufgrund derer aus lose miteinander gekoppelten Wirklichkeitselementen selegiert wird und die ausgewählten Elemente zu einer festen Form miteinander verbunden werden. Mit der Tatsache, in freier Entscheidung – weder notwendig noch beliebig und unabhängig von der faktischen Wirklichkeit – Relationen zwischen einzelnen Elementen herzustellen, ist die Möglichkeit gegeben, Sinn zu produzieren, der bei der Aktuellsetzung von Sinn in der vertrauten Lebenswirklichkeit (‚reale Realität‘ Luhmanns) als Sinnmöglichkeit ausgeschieden wurde; oder es ist auch möglich, bereits aktuellen Sinn so zu modellieren, dass das Vertraut-Selbstverständliche fragwürdig wird und aufgrund dessen zu intensiverer Beobachtung herausfordert. 4) Immer geht es um eine System/Umweltdifferenz; wie jedes System zieht das Literatursystem mit seinen Operationen eine Grenze, die den Unterschied zu dem markiert, was als seine Umwelt ihm nicht angehört. Infolge des Komplexitätsgefälles zwischen System und Umwelt – die Umwelt enthält immer mehr Möglichkeiten, als vom System aktualisiert werden kann – ist das System unaufhörlich zu Selektionen gezwungen. Zur Umwelt, auf die das literarische System sensibel reagiert und aus der sie selegiert, zählen vor allem die Systeme, die durch Sinngebrauch charakterisiert sind – also psychische und soziale Systeme.15 Und es ist genau dieser Sinngebrauch, der infrage gestellt wird, wenn Literatur durch unwahrscheinliche Sinnbildungen bestehende Sinnerwartungen enttäuscht und dadurch zur Reflexion16 und – noch weitergehend – zu einer veränderten Sinngenerierung in ihrer ‚realen Realität‘ anregt. 5) Produktion und Rezeption von Literatur basieren auf Beobachtung. Ein Autor beobachtet im Prozess des Herstellens die durch Festlegungen erzeugten Unterscheidungen, die als interne Formen ihrerseits Elemente eines Werkes sind, das dadurch eine eigene, von anderen Werken unterscheidbare Form gewinnt.17 Da jede Festlegung von bestimmten Merkmalen – einer Figur, einer Handlung etc. – den Ausgangspunkt für weitere Festlegungen bildet, muss der Autor immer wieder prüfen, was bislang geschehen ist und was noch geschehen kann; d. h. er muss auf der Grundlage des Codes ‚passend/nichtpassend‘ beobachten, ob eine Form zur bereits entwickelten Formenkombination passt oder nicht bzw. ob eine realisierte Form An|| 14 Vgl. Niklas Luhmann: „Literatur als fiktionale Realität“, 287. 15 Vgl. ders.: Soziale Systeme, 18. 16 Vgl. ders.: „Literatur als Kommunikation“, 377. 17 Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, 64.

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schlussfähigkeit produziert oder nicht.18 Schließlich wird ein Autor sein entstehendes Werk daraufhin beobachten, wie andere es möglicherweise beobachten werden.19 In Anknüpfung an die Sinnerwartungen seiner Leser wird er diese durch die Einführung außergewöhnlicher Formenkombinationen zunächst frustrieren; andererseits muss es ihm gelingen, durch die Art der Mitteilung – im Oszillieren zwischen Redundanz und Varietät, von Wiedererkennen und Überraschung20 – das Unwahrscheinliche wahrscheinlich zu machen,21 dass seine Informationen verstanden werden, d. h. der überraschende Sinn, der daraus resultiert, dass ursprünglich vertraute Objekte und Sachverhalte etc. mit Hilfe von bislang in der ‚realen Realität‘ ausgeschlossenen, im Kunstwerk dagegen aktuell gesetzten Unterscheidungen/Formen bzw. Formenkombinationen einen neuen Sinn erhalten,22 was letztlich – unabhängig von der ‚realen Realität‘ – zur Generierung einer neuen Ordnung und damit zur Neubeschreibung von Wirklichkeit führt: […] Man könnte mit Freud auch von Umschreiben sprechen oder von Neukategorisierungen. Schon bei den einzelnen Operationen der Herstellung und Betrachtung von Kunstwerken verändert alles, was hinzugefügt wird, das, was schon da ist. Etwas Passendes ergänzt und revolutioniert möglicherweise den Sinn bereits gesetzter Formen.23

6) Auch der Betrachter von Kunst, in unserem Falle der Leser eines literarischen Werkes, ist wie der Künstler ein Beobachter zweiter Ordnung: Während der Künstler seinen Unterscheidungsgebrauch reflektiert, indem er die von ihm eingesetzten Unterscheidungen unter dem Aspekt unterscheidet, was man als Leser zu sehen bekommt, wenn er dem literarischen Werk weitere (Unterscheidungs-)Merkmale einfügt, muss der Betrachter sehen können, welche Formen mit welchem Unterscheidungseffekt eingesetzt worden sind.24 Darin ist die Möglichkeit zur Kommunikation gegeben, die die Unterscheidungen thematisiert, aus deren Vernetzung das literarische Werk besteht.25 Die Entschlüsselung der Unterscheidungsstruktur und der darauf bezogenen sprachlichen Modellierung bildet eine wichtige Voraussetzung für das Verstehen der Informationen, die im Werk mitgeteilt werden sollen.26 Eine andere Voraussetzung stellt der Modus der Beobachtung dar, den Luhmann mit dem Begriff der Betrachtung zu fassen versucht. Gemeint ist damit in Spannung zur einma-

|| 18 Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 106 u. 108. 19 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 71. 20 Vgl. ders.: „Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems“, 331. 21 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 105. 22 Vgl. Niklas Luhmann: „Literatur als fiktionale Realität“, 284. 23 Ebd. 24 Vgl. ders.: „Wahrnehmung und Kommunikation an Hand von Kunstwerken“, 253; vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, 101. 25 Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, 63. 26 Vgl. ebd., 71.

522 | Michael Egerding ligen Beobachtung eine wiederholte und deshalb von Fall zu Fall verschieden ausfallende Beobachtungsoperation.27 7) Literatur kann als semiotisch inszeniertes soziales System verstanden werden, als spezieller Konstruktionsmodus sozio-kulturellen Wissens, bei dem einerseits soziale Strukturen gespeichert und andererseits semiotische Strukturen als Sinn für soziale Systeme bereitgestellt werden.28 Ein literarischer Text macht Sinn, indem er durch eine bestimmte Wahl von Unterscheidungen, d. h. von Formen, In-formationen erzeugt, die in Bezug auf psychische und soziale Systeme Alternativen zu bislang aktualisiertem Sinn und damit dessen Kontingenz zu erkennen geben. Die durch das jeweilige literarische Werk in Gang gebrachte Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie die direkte Referenz auf die ‚reale Realität‘ suspendiert zugunsten einer Welterzeugung, die – oft unklar und undeutlich – das gewohnte Verstehen irritiert und deren Sinn beim Lesen nicht sofort gefunden, sondern gesucht werden muss. Denn literarische Kommunikation verweigert sich der denotativen Funktion der Sprache und damit einer möglichst eindeutigen Beziehung zu Weltsachverhalten,29 indem sie die Sprache als Medium betrachtet, das Sinn generiert durch konnotative Rekursionen von Worten, d. h. durch – auf ganz verschiedene Weise ausfallende – engere Kopplungen von Worten als den Elementen des literarischen Mediums: So wie Atome, wenn sie zu Molekülen zusammengeschlossen werden, ihre interne Elektronik ändern müssen, so modifiziert auch die Poesie den Wortsinn. Sie mag überraschend neue Nuancen, mag Verfremdungen erzeugen; sie kann aber auch Gebrauchsworten der Alltagssprache ihren ursprünglichen Sinn zurückgeben und dadurch überraschen. Pauschal verwendete Formeln werden aufgebrochen und rekonstruiert. Sie werden textstellenabhängig, also strukturdeterminiert gebraucht und damit in ihrer Wiedererkennbarkeit eingeschränkt. Und wie jeder Formengebrauch hat auch dieser den Sinn, auf das dadurch Ausgeschlossene hinzuweisen. Andere Worte können das aufnehmen, was ungesagt geblieben ist, aber sie können auch bestätigen, dass Vieles und Wichtiges ungesagt zu bleiben hat. Immer spielt also die andere Seite der Form mit – als eine Grenze, die im weiteren Verlauf des geführten Beobachtens gekreuzt oder als immer wieder dieselbe Grenze als unmarked space verschiedener Worte fixiert wird. Der Grund für diesen Übergang von denotativem zu konnotativem Wortgebrauch liegt in der Notwendigkeit einer poetischen Schließung des Gedichts – einer Schließung, für die bei diesem Texttyp nicht die Form der Erzählung gewählt wird. Der Gebrauch des referentiellen Wortsinns würde den Leser in die Welt verweisen und dort in den Weiterverweisungen des Sinnes von Realität verloren gehen. Die Einheit des Gedichts kann deshalb nur auf der konnotativen Ebene erreicht werden im Gebrauch der Freiheiten, die gegeben sind, wenn man Worte nur als Medium verwendet.30

|| 27 Vgl. ebd., 76. 28 Vgl. Claus-Michael Ort bei Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, 46f. 29 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 200. 30 Ebd., 200f.

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Entscheidend für die Kunst- und Literaturkommunikation ist, dass diese auf einer strukturellen Kopplung von Bewusstseins- und Kommunikationssystem basiert:31 Dadurch dass ein Künstler beobachtungsgeleitet seine Unterscheidungen selektiert und ein Betrachter als Beobachter der Unterscheidungen fragt, welche Informationen sich daraus gewinnen lassen zur Sicht von Welt, Mensch, Natur etc., entstehen Sinnangebote für das psychische System des Betrachters/Lesers und (in Kommunikation mit anderen psychischen Systemen) für soziale Systeme – je nachdem, welches soziale System aufgrund der im Kunstwerk bzw. im literarischen Werk entfalteten Thematik als spezifische Umwelt fungiert.

8) Wenn infolge einer Beobachtung zweiter Ordnung das, was sich Beobachtern erster Ordnung – den Figuren in einem literarischen Werk – als Schicksal oder unumgängliche Handlungsnotwendigkeit darstellt, in seinem kontingenten Charakter erkannt wird; und wenn grundsätzlich dadurch, dass Literatur intra-, intertextuell und in Bezug auf die ‚reale Realität‘ Alternativen zu aktualisierten Formen von Sinn ins Spiel bringt, ist zu fragen: Warum sind bestimmte Sinnangebote zum Zuge gekommen bzw. nicht berücksichtigt worden? Ist in Anbetracht des kontingenten Charakters von Sinnsetzungen im literarischen Werk zu erkennen, warum sich bestimmte Sinnangebote gegenüber anderen durchsetzen. Und – um mit Luhmann zu formulieren – damit zusammenhängend: „Was taugt [...] besonders, wenn es darum geht, in einer offenen Situation nächste Ereignisse vorzustrukturieren und sie durch Selbst- und Fremdfestlegung wahrscheinlicher zu machen?“32 Schließlich ist generell für die Beobachtung eines literarischen Werkes – wie bei jedem System – als Leitfrage zu formulieren: Wie reagieren die in einem literarischen Werk inszenierten Systeme auf ein Problem, d. h. auf ein unbestimmtes, mit den Strukturen der im literarischen Werk sich findenden Systeme nicht koordiniertes Ereignis? Welches der zur Verfügung stehenden Systeme leitet mit welchem Strukturaufbau einen Prozess der Problemlösung ein, der im positiven Fall eine regulierende Wirkung auszuüben vermag?33

3 ‚Der nackte Ritter‘ – systemtheoretisch gelesen Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des vorgestellten Theoriekonzepts geht es im Folgenden darum, Problem und Problemlösung im Märe des Strickers ‚Der nackte

|| 31 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 106. 32 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 168. 33 Vgl. ebd., 170f.

524 | Michael Egerding Ritter‘34 systemtheoretisch zu beobachten, zu beschreiben und zu erklären. Dabei wird so vorgegangen, dass nach einer knappen Inhaltsangabe ein (mögliches) Verstehen des Textes entwickelt wird, das auf einer Beobachtung des Märe basiert, die die Begrifflichkeit der Systemtheorie heranzieht. Kennzeichnend für diese Begrifflichkeit ist, dass es sich mehr um ein Begriffsnetz als um einzelne, voneinander ganz unabhängige Begriffe handelt. Von Luhmann „mit Bezug aufeinander“35, zur gegenseitigen Schärfung, bestimmt lassen sich die einzelnen Begriffe der Systemtheorie zu unterschiedlichen ‚Zusammenhangslinien‘ verknüpfen; sie dienen der Informationsgewinnung, für die die Differenz zum konkreten Text konstitutiv ist: In Abstraktion vom Text wird dieser nicht kopiert oder widergespiegelt; vielmehr wird die unbestimmte Komplexität des Textes durch die Eigenkomplexität des Beobachtungssystems (‚Begriffszusammenhang‘) so umgewandelt, dass aus dem jeweiligen Text Informationen gewonnen und verarbeitet werden können.36 Inhaltsangabe: Ein Ritter kommt auf einer Reise durchfroren und durchnässt abends zu einem Mann, der ihn freundlich aufnimmt und ihn im Beisein seiner Frau und seiner Töchter nach besten Kräften umsorgt. Mit der Zeit wird es in der Stube so warm, dass alle ins Schwitzen kommen. Der Hausherr entledigt sich des Obergewandes und empfiehlt das auch dem Ritter. Doch trotz allen Zuredens widersetzt sich dieser der Bitte seines Wirtes, bis dieser, in der Meinung, seinem allzu förmlichen Gast einen Gefallen zu tun, seinen Knechten den Wink gibt, den Ritter gewaltsam von seinem Rock zu befreien. Sie folgen seinem Befehl, aber da der Gast weder Hemd noch Hose trägt, sitzt er nun zum Entsetzen aller nackt vor den Frauen. Beschämt zieht er seinen Rock wieder an und verlässt im Zorn den unklugen Ratgeber. – Epimythion: Wer einen Gast bei sich hat, soll diesem nicht übereifrig dienen, sonst erntet er keinen Dank.37

Die System/Umwelt-Differenz im Märe Das Märe beginnt mit der Phase, in der das im Zentrum stehende Familiensystem einer Veränderung unterliegt. Auch wenn direkt keine strukturellen Vorkehrungen getroffen worden sind, um die in Form der Ankunft eines fremden Ritters erfolgende Einwirkung der Umwelt zu regulieren, scheint die Integration in das Familiensystem problemlos erfolgt zu sein. Zur Erklärung dieses Prozesses finden sich im Text zwei Hinweise: Zum einen erscheint die gegenüber dem System unbestimmte Komplexität der Umwelt dadurch reduziert, dass aufgrund von bereits vor der Ankunft des Fremden im Familiensystem kommunizierten Informationen dieser nicht völlig unbekannt ist. Zum anderen kann der Fremde bei der Begrüßung gezeigte Gesten als nonverbal kommuniziertes Mitteilungsverhalten des Familiensystems – die Frau des Hausherrn und seine Töchter küssen ihn zur Begrüßung – so verstehen, dass er vom

|| 34 Der Stricker: Verserzählungen I, Nr. 10, 126–130. 35 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 12. 36 Vgl. ebd., 13. 37 Vgl. Hanns Fischer: Märendichtung, 527f.

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Familiensystem aufgenommen ist und zeitweise – in der Rolle des Gastes – in dieses integriert wird. Als weitere Einwirkung der Umwelt bestimmt die sich entwickelnde Hitze des mit der Aufnahme des Gastes angezündeten Feuers das Erleben und Handeln der in der Stube versammelten psychischen Systeme (beobachtbar rinnen den Anwesenden Schweißperlen von der Stirn; vv. 27–29). Alle anwesenden psychischen Systeme bleiben füreinander in Hinblick auf ihr mögliches Handeln intransparente Umwelt. Darum beginnt der Hausherr zur Koordination des Handelns – eine zentrale Funktion sozialer Systeme – eine Kommunikation mit dem Gast.

Kommunikation Dass die einzelnen psychischen Systeme zu Elementen eines sozialen Systems, des Familiensystems, werden, hängt von den Operationen ab, die sie realisieren: Konstitutiv für psychische Systeme ist, dass (autopoietisch) ein Gedanke den nächsten erzeugt; die einzelnen psychischen Systeme verhalten sich zueinander wie ein Sandkorn in einem Sandhaufen: Füreinander sind sie eine black box; die wechselseitige Intransparenz resultiert daraus, dass es von außen – wenn ein System (Alter) ein anderes System (Ego) beobachtet – unvorhersehbar ist, über welche Möglichkeiten ein System verfügt und nach welchen Selektionskriterien es aus den abstrakt möglichen Relationen zwischen seinen verschiedenen Elementen auswählt.38 Nur wenn die Bewusstseinssysteme ihre Gedanken kommunizieren, können sie in Kontakt kommen und sich aufeinander beziehen. Auf der Grundlage von Kommunikation entstehen also soziale Systeme. Wie die Gedanken bei psychischen Systemen sind Kommunikationen, die sich ereignen, die ‚Letztelemente‘ sozialer Systeme. Sie ereignen sich, stellen Relationen zu anderen Kommunikationen her und werden durch Anschlusskommunikationen fortgesetzt. Was kommuniziert wird und in welcher Relation die jeweilige Anschlusskommunikation zur vorangegangenen steht, trägt kontingenten Charakter. Dies wird im Märe deutlich, wenn das Familiensystem überraschend vertraut – die Frau und die drei Töchter küssen den Gast – in nonverbaler Form an die zurückliegende Kommunikation anschließt, in der über die große wirde (v. 6) des Ritters informiert wurde. Entscheidend für die genauere Beschreibung und Erklärung der weiteren Kommunikation zwischen dem Ritter und dem Hausherrn ist die Unterscheidung zwischen Information, Mitteilung und Verstehen: Der Hausherr informiert (was sagt er; was bleibt dadurch ausgeschlossen?) den Gast über seine Motivation für seine Bitte, in Anbetracht der Hitze den Überrock abzulegen (vv. 34–39). Wie er (mimisch, gestisch, mündlich/schriftlich, verbal, mit welchen Worten?) und warum er (was möchte er mit seiner Information erreichen?) diese Information über seine Motivation mit-

|| 38 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 94f.

526 | Michael Egerding teilt, lässt der Text offen. Systemtheoretisch kann dies damit erklärt werden, dass Alter (Hausherr) mit der Mitteilung seiner Mitteilungsabsicht versucht, den Kommunikationsprozess zu steuern. Ziel Alters ist, bei Ego (Gast) ein Verstehen seiner Aufforderung, der eigentlichen Information, zu erreichen, indem er über die Mitteilung der Mitteilungsabsicht das Verstehen des Selektionssinns (Selektivität der Information, Selektivität des Mitteilungsverhaltens) erleichtert: Alter entscheidet sich, als Sinnmöglichkeit das Ablegen der Überkleider zu aktualisieren (Selektivität der Information) und diese Entscheidung als Wunsch Ego mitzuteilen, weil er für alle gemach haben möchte (Selektivität der Mitteilung); Ego ist in seinem Verstehen der Differenz zwischen Information und Mitteilung durch die Kommunikation der Mitteilungsabsicht konditioniert: Er kann sich vom Wissen um die Gründe der Mitteilung her erklären, warum Alter (der Gastgeber) dieses und kein anderes Thema für die Kommunikation ausgesucht hat. Dass Ego seinerseits seine Motivation nicht kommuniziert, ist darin begründet, die von der Gastgeberfamilie an seine Person geknüpfte, auf höfisches Verhalten gerichtete Erwartung zu schützen: Wenn der Gast seine eigentlichen Motive kommunizieren würde, würde diese Erwartung zerstört, was erhebliche Umstrukturierungen im Gastgebersystem auslösen würde (Exklusion des Gastes). Das Wissen auf eine derartige Aussicht blockiert daher die Kommunikation des Gastes; infolgedessen bleiben die wahren Gründe für seine Ablehnung der Selektionsofferte Alters, den Überrock abzulegen, latent.39

Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Mit der Selektionsofferte Alters ist die weitere Kommunikation eingeschränkt: Alles, was weiterhin kommuniziert wird, kann nicht mehr unbestimmt beliebig sein.40 Vielmehr muss Ego, der Gast, als Adressat darauf mit Annahme oder Ablehnung reagieren. Damit steht in Frage, wie es gelingen kann, dass Alters Kommunikation Erfolg hat, d. h. wie Ego zur Annahme motiviert werden kann.41 An sich ist der Kommunikationserfolg unwahrscheinlich, weil Ego die von Alter erbetene Selektion aus verschiedenen Sinnmöglichkeiten (den Überrock anzulassen oder auszuziehen etc.) als Prämisse eigenen Verhaltens genauso annehmen wie ablehnen kann.42 Indem Alter aber mit der Präferierung von Bequemlichkeit (gemach) und infolgedessen dem Ablegen von Kleidung in Anbetracht der herrschenden Hitze auf zivilisatorisch standardisierte Grundwerte und -muster für die Bewältigung von bestimmten Problemen (zu große Hitze) zurückgreift, bringt er eine generelle, von der konkreten Situation unabhängige Motivation ins Spiel, die zugleich die erfolgte Kommunikation so konditioniert, dass sie als Motivationsmittel zur Annahme des von Alter unter|| 39 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 459. 40 Vgl. ebd., 204. 41 Vgl. ebd., 221. 42 Vgl. ebd., 218.

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breiteten Selektionsvorschlages, den Überrock abzulegen, fungieren kann.43 Denn aufgrund ihres generellen Charakters gewinnt die von Alter vorgebrachte Motivation universelle Geltung; sie vermag – was prinzipiell nicht zu erwarten ist – sowohl Alters wie auch Egos Handeln in Reaktion auf das Erleben ihrer spezifischen Umwelt koordinierend zu regeln. Die dadurch wirksam werdende Transformation des Unwahrscheinlichen in Wahrscheinlichkeit schreibt Luhmann der Funktion der ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ zu. Kommunikationsmedien – wie Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht, Religion, Kunst sowie bestimmte Grundwerte – stellen Verbindungen zwischen Kommunikationen her, die sonst keine Anschlüsse finden würden. Das GLU stellt dazu fest: Unter ‚Generalisierung‘ versteht man die Behandlung einer Mehrheit von Verweisungen als Einheit. Der Sinn einer spezifischen Kommunikation erschöpft sich nicht in der Kommunikation selbst, sondern kondensiert zu Formen, auf die man sich in anderen Situationen, zu anderen Zeitpunkten und mit anderen Partnern beziehen kann. Die Sinngeneralisierung erfolgt durch Symbole, die eine Einheitsformierung unter einer Mehrheit der Referenzen erlaubt. Dank dieser symbolischen Generalisierung kann die Perspektive des Mediums universelle Geltung gewinnen [...] und jede spezifische Situation regeln.44

Wenn im vorliegenden Märe Ego (Gast) dennoch nicht die Selektionsofferte Alters (Gastgeber) annimmt, müssen seinem Handeln Relevanzgesichtspunkte zugrunde liegen, die den Mechanismus, der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu eigen ist, außer Kraft setzen.

Struktur Mit der Aufnahme des Gastes wandelt sich die strukturierte Komplexität des sozialen Systems der Gastgeberfamilie zunächst in unstrukturierte Komplexität. Zur Integration des Gastes ist ein Neuaufbau der Ordnung in diesem System und damit eine – nach bestimmten Gesichtspunkten erfolgende – erneute Strukturbildung erforderlich: Da aktuell Sinn nur durch Selektion aus verschiedenen Möglichkeiten zu gewinnen ist,45 machen Handlungen, die auf den Gast bezogen sind, nur dann Sinn, wenn nicht alles möglich ist, sondern im Gastgebersystem durch Strukturbildung der Möglichkeitsspielraum so stark eingeschränkt wird, dass nur ganz wenige Relationen (Handlungen, Kommunikationen) in Bezug auf den Gast zugelassen sind: Eine Struktur besteht also [...] in der Einschränkung der im System zugelassenen Relationen. Diese Einschränkung konstituiert den Sinn von Handlungen, und im laufenden Betrieb selbst-

|| 43 Vgl. ebd., 222. 44 Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 191. 45 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 94.

528 | Michael Egerding referentieller Systeme motiviert und plausibilisiert der Sinn einer Handlung dann natürlich auch das, was als Verknüpfbarkeit einleuchtet.46

In sozialen Systemen bilden Erwartungen die Strukturen, die den Möglichkeitsspielraum einschränken, indem sie sich auf etwas beziehen, was selbst – anders als die momenthaften, instabilen Ereignisse – von Dauer ist, mehr oder weniger generelle Gültigkeit besitzt und deshalb kein Ereignis ist. Allein deshalb sind sie in der Lage, aus den laufend erscheinenden und vergehenden Ereignissen (Handlungen, Kommunikationen) bestimmte zu verknüpfen, indem sie andere, vom System bereit gehaltene Möglichkeiten exkludieren.47 Als identisch bleibende Bezugspunkte für Erwartungen dienen Personen, Rollen, Programme und Werte.48 In der vorliegenden Erzählung fungiert als Grundlage für die Erwartungsfestlegung der Wert des höfischen Verhaltens sowie – als weiterer Identifikationspunkt, jedoch mit einem geringeren Abstraktionsgrad – die Person des (nackten) Ritters, der aufgrund seines Rufes, seiner wirde, bestimmte, auf den Wert des Höfischen bezogene, konkrete Erwartungen bei der Gastgeberfamilie aufbaut.49

Erwartungen im ‚Nackten Ritter‘ Der sich in den vv. 1–63 findende Erwartungszusammenhang erlaubt folgende Schematisierung: – selbstverständliche Erwartung des Gastgebers auf Annahme der Entkleidungsofferte; – Enttäuschung der Erwartung des Gastgebers durch Ablehnung des Gastes; – Beibehaltung der normativen Erwartung, sich in Anbetracht der Hitze des Überrocks zu entledigen; – zugleich Bemühung des Gastgebers um Verständnis des von der selbstverständlichen Erwartung abweichenden Verhaltens des Gastes durch Erklärung der Motive seiner Ablehnung der Offerte; – gewaltsames Handeln zur Durchsetzung der normativen Erwartung. Anhand des Schemas kann für das vorliegende Märe verifiziert werden, was Luhmann in Hinblick auf das Medium ‚Sinn‘ ausführt: „Speziell die Literatur nutzt dieses Medium, um durch unwahrscheinliche Sinnbildungen, offensichtliche Fiktionalität, Paradoxien [...] und viele andere Formen der Frustrierung von Sinnerwartungen zu Reflexion anzuregen.“50

|| 46 Ebd. 47 Vgl. ebd., 388f. 48 Vgl. ebd., 429. 49 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 46. 50 Niklas Luhmann: „Literatur als Kommunikation“, 377.

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Im Folgenden soll versucht werden, den Prozess der Frustrierung von Sinnerwartungen, den Gastgeber und Gast erleben, im Einzelnen zu erklären: Die mit der Bitte an den Gast verknüpfte Erwartung des Hausherrn auf Annahme der Selektionsofferte – den Überrock aufgrund der großen Hitze abzulegen – wird vom Gast enttäuscht. Dreimal fordert der Gastgeber den Gast auf (vv. 34–39, 42–45, 53–59), zweimal weigert sich der Gast, seiner Aufforderung nachzukommen (vv. 40f., 47–52). Der normative Charakter der Gastgebererwartung ist zweifach motiviert: Zum einen greift der Gastgeber auf ein fraglos akzeptiertes allgemeines Verhaltensmuster zurück; zum anderen gibt der Gast ihm keine Gründe an, die sein vom allgemein Üblichen abweichendes Verhalten plausibel machen: Die Information des Gastes, dass es ihm wol tue, wenn er sein Obergewand anlässt, führt in Anbetracht der eindeutig als zu heiß wahrgenommenen Situation nicht zur Veränderung der Erwartung, die der Hausherr aufgrund der erlebten Hitze mit Blick auf ein entsprechendes Handeln entwickelt hatte. Während er selbst auf die durch die Hitzeentwicklung bedingte Störung in seiner Umwelt mit dem Ausziehen seines Überrocks reagiert, scheint der Gast keine Störung zu erleben und kommuniziert daher auch nicht erwartungsgemäß. Damit ist die vom Hausherrn aufgestellte Erwartungsordnung gestört, d. h. das Programm, das die Bedingungen festlegt, die erfüllt sein müssen, damit gemach als zentraler Wert erreicht wird.51 Indem der Hausherr seine Aufforderung, ergänzt um den ihn in seinem Handeln bestimmenden Wert des gemach, wiederholt, macht er deutlich, dass sich für ihn die von ihm beobachtete Realität nicht geändert hat; deshalb konfirmiert er seine Bitte und ändert nicht seine Erwartung (im Sinne einer kognitiven, lernbereiten Erwartung)52. Die erneute Entgegnung des Gastes (vv. 46– 52) konfrontiert den Gastgeber mit einer anderen Erwartungsordnng, für die die Leitdifferenz zuht/unzuht leitend ist. Damit signalisiert der Gast für den Gastgeber, dass er vom Verhaltensprogramm des sozialen Systems der höfischen Gesellschaft, das ihm über Erziehung vermittelt wurde, nicht abweichen möchte. Ihm geht es also, in der Sicht des Gastgebers ganz unabhängig vom faktischen Zustand in seiner Umwelt (der großen Hitzeentwicklung im Zimmer), um die Erfüllung des gesellschaftlichen Verhaltensprogramms, das der Realisierung der hövescheit als oberstem Wert des sozialen Systems der Gesellschaft dient: der wirt sprach: ‚nu lât den strît! ich weiz wol, daz ir hövisch sît. sô laege ich zwô sühte, ê ich iuch iuwer zühte sô sêre lieze engelten. ir soldet mich darumbe schelten, lieze ich iuch hie haben ungemach.‘ (vv. 53–59).

|| 51 Vgl. ders.: Soziale Systeme, 432–434; vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 139f. 52 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 437.

530 | Michael Egerding Der Konflikt zwischen Gastgeber und Wirt entzündet sich also an der Frage, welches Verhalten in Bezug auf die von allen gleich wahrgenommene Umwelt das richtige ist. Während der Gast den programmatischen Vorschlag des Gastgebers, der sich entsprechend der hövescheit besorgt um das Wohlbefinden des Gastes zeigt, zur Erreichung von gemach in Abrede stellt – er fühlt sich auch ohne Ablegen des Überrocks wohl –, bezweifelt der Gastgeber das Erziehungsprogramm, das zur hövescheit führen soll. Festzuhalten ist: Keiner der beiden negiert gemach und hövescheit als Werte an sich,53 in Frage steht nur das Programm bzw. der Grad ihrer Generalisierung, von dem sie sich bei der Reaktion auf das Erleben der spezifischen Umwelt leiten lassen. Auffällig ist dabei, dass der Gastgeber für sich beansprucht, was er dem Gast in Hinblick auf dessen Position abspricht: Er geht davon aus, dass man unabhängig von der aktuellen Situation generell erwarten kann, dass jeder bei großer Hitze seine Kleidung entsprechend anpasst. Am Widerspruch des Gastes muss er lernen, dass er seine Erwartung auf Typisches oder Normales zu hoch generalisiert hat.54 In diesem Zusammenhang erhebt er zugleich den Vorwurf, dass die vom Gast genossene höfische Erziehung mit ihrem Erziehungsprogramm dessen Verhalten zu sehr determiniert, d. h. zu wenig generalisiert hat, so dass sich der Gast im Kontext dieser Bestimmung – quasi als ‚Opfer der höfischen Erziehung‘ – gar keinen Handlungsspielraum einräumen kann. Luhmann hält bei seinen Ausführungen zur Generalisierung von Erwartungen beide Aspekte fest: Erwartungen, die in einer gewissen Unabhängigkeit vom faktischen Ereignis gelten, auf das sie sich beziehen, kann man auch als generalisiert bezeichnen. [...] Generalisierte Ewartungen lassen inhaltlich mehr oder weniger unbestimmt, was genau erwartet wird [...].55

Kontingenz An der Negierung des Angebots, das der Gastgeber dem Gast macht, wird deutlich: Das Verhalten des Gastes (Ego) ist für den Gastgeber (Alter) unvorhersehbar; beide sind füreinander black boxes, da die Selektionskriterien, die jeder seinen Handlungsentscheidungen zugrunde legt, von außen nicht beobachtbar sind. Anders als vom Gastgeber erwartet, verläuft die Reaktion des Gastes auf seine Sinnofferte: Er möchte nicht so handeln, wie der Gastgeber ihm vorgeschlagen hat. Damit ist eine Selektionskoordination durch den Gastgeber am Gast gescheitert; der mit gemach generalisierte Regelungsversuch der Koordination der Selektion56 von Möglichkeiten zur Reduktion der mit der übergroßen Hitze gegebenen Komplexität in der Umwelt || 53 Der Gast bestreitet ja nicht, dass gemach ein Wert ist. Ausdrücklich betont er sogar, dass er sich mit seiner Kleidung trotz der Hitze wol fühle. Bestritten wird von ihm nur, dass zum Wohlfühlen das Ablegen seines Überrocks erforderlich sei (vgl. vv. 40f.). 54 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 139. 55 Vgl. ebd., 445. 56 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 191.

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aller im Raum sich befindlichen psychischen Systeme ist fehlgeschlagen. Indem der Gastgeber seinem Knecht anordnet, den Gast mit Gewalt von seinem Überrock zu befreien, nimmt er dem Gast jegliche Wahlmöglichkeit; anstelle mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Gastfreundschaft, Recht oder Sitte auf dessen Motivationsstruktur einzuwirken und dadurch die Selektivität des Gastes zu steuern, wählt er ein Vorgehen, bei dem er die Selektions- und Entscheidungslast ausschließlich selbst übernimmt.57 Folge des Gastgeberhandelns ist, dass die um den Ofen versammelten Personen – das Gastgebersystem – mit der Wahrnehmung der Nacktheit des Ritters die Kontingenz ihrer Erwartung erleben; denn das soziale System lernt in der Begegnung mit dem Gast: Auch wenn aufgrund des ritterlichen Status und vor allem aufgrund des vorauseilenden Rufes höfisches Verhalten des Ritters fraglos vorauszusetzen ist, ist diese Annahme nicht notwendig, sondern es muss – wie ihre konkrete Erfahrung evident macht – immer damit gerechnet werden, dass es auch anders möglich ist.58

Beobachtung I Der Gastgeber beobachtet bei allen Anwesenden, daz in vor hitze der sweiz / von dem houbete nider ran (vv. 28f.). Gemäß dem Schema Erleben/Handeln greift er – wie dargestellt – in Reaktion auf die erlebte Hitze auf ein allgemein bewährtes Handlungsmuster zurück und generalisiert es in Hinblick auf den Gast, indem er diesem Muster mit Gewalt bei ihm Geltung verschafft (s. o.). Wichtig für die Handlungsentwicklung ist: Der unbestimmte Zusammenhang von Elementen in der Umwelt des Familiensystems (Vater, Töchter, Diener, Gast) wird vom Gastgeber in organisierte Komplexität, d. h. in „Komplexität mit selektiven Beziehungen zwischen den Elementen“59, überführt, indem er mit seinen beobachtungsleitenden Unterscheidungen die komplette Relationierbarkeit aller Elemente in seiner Umwelt aufgrund der bei ihm vorhandenen geringen Verknüpfungskapazität60 einschränkt auf eine begrenzte Anzahl von Elementen. Entscheidend ist dabei, dass die Einheit eines Elements nicht vorgegeben ist, sondern durch das jeweilige Beobachtungssystem konstituiert wird, das ein Element als Element für Relationierungen in Anspruch nimmt.61 Indem der Gastgeber als Beobachtungssystem die Elemente ‚Hitze‘, ‚vor Schweiß triefender Haare‘ und ‚Kleidung‘ (seiner wie der des Gastes) aufeinander bezieht, qualifiziert er diese Elemente als zusammenhängend und erzeugt mit dem Weglassen von anderen, ebenfalls möglichen Relationen eine bestimmte Komplexität im Sinne der Definition Luhmanns: || 57 Vgl. Niklas Luhmann: Macht, 9 u. 53. 58 Vgl. ders.: Einführung in die Systemtheorie, 318. 59 Ders.: Soziale Systeme, 46. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. ebd., 42 u. 49f.

532 | Michael Egerding Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft sein kann. [...] Komplexität in dem angegebenen Sinne heißt Selektionszwang. Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko. Jeder komplexe Sachverhalt beruht auf einer Selektion der Relationen zwischen seinen Elementen, die er benutzt, um sich zu konstituieren und zu erhalten. Die Selektion placiert und qualifiziert die Elemente, obwohl für diese andere Relationierungen möglich wären.62

Dies heißt aber auch: Wer seligieren will, muss unter Zugrundelegung der Unterscheidung ‚Element‘ und ‚Relation‘ die Situation der selektiven Verknüpfbarkeit63 beobachten. Auf der Grundlage dieser Beobachtung rekonstruiert man dann mit dem Ziel, die vorhandene Komplexität zu reduzieren, unter Heranziehung von systemeigenen Selektionsmustern, die aus der Erwartungsstruktur des Beobachtersystems resultieren, das Relationsgefüge im Zusammenhang der gegebenen komplexen Situation.64 Im ‚Nackten Ritter‘ führt die Beobachtung der Auswirkungen der Beobachtung des Gastgebers, d. h. der aus dessen Beobachtung der situativen Komplexität resultierenden Selektion seines Anschlusshandelns,65 zur Irritation aller Anwesenden. Denn die zu beobachtende Nacktheit des Gastes enttäuscht die Erwartungen des Gastgebers, dessen Handeln – die Befreiung des Gastes von seinen Kleidern in Anbetracht der im Raum herrschenden Hitze – auf gemach ausgerichtet war. Sie enttäuscht auch die Erwartungen in die Leistungsfähigkeit des aktuell operierenden Beobachtersystems: Die Umweltkomplexität, hier die des Gastes, ist nicht rekonstruierbar; die Komplexitätskonstruktion in Bezug auf den Gast war falsch; das Gastgebersystem hat sie durch seine Beobachtungsoperationen nicht erfasst.66 Der Gast seinerseits ist enttäuscht in seiner Erwartung, als Person das allgemeine Wissen zu bestätigen, das über ihn im Umlauf ist.

Beobachtung II Der Erzähler beobachtet im ‚Nackten Ritter‘ das kommunikative Verhalten der verschiedenen psychischen Systeme. Indem er in seiner Wahrnehmung des Geschehens das Verhalten des sozialen Systems bzw. der verschiedenen psychischen Systeme unterscheidet von dem, was sich darin mitteilt, kommt er zur Erklärung der Frage, warum die Figuren so handeln und erleben, wie sie handeln und erleben. Auf diese Weise motiviert er die einzelnen Elemente, die das Familiensystem bilden (Gastgeber/Vater, Töchter, Diener und in das System integrierter Gast; vgl. vv. 5–10, 20f., 30f., 65, 78, 82, 89f.). Interessant in diesem Zusammenhang ist die Beobach|| 62 Ebd., 46f. 63 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 94. 64 Vgl. Niklas Luhmann zur Reduktion von Komplexität, in: Soziale Systeme, 49. 65 Vgl. ebd., 407. 66 Vgl. Claudio Baraldi (Hg.): GLU, 95.

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tung des Erzählers, dass der Gastgeber mit der gleichen Unterscheidung wie er selbst beobachtet: Der Gastgeber beobachtet das Handeln des Gastes, der seine Oberkleider nicht ausziehen will, und unterscheidet zwischen Information und Mitteilung, d. h. er interpretiert das von ihm erlebte Faktum der Verweigerung des Angebots die Kleider auszuziehen, indem er Gründe benennt, die plausibel machen sollen, warum der Gast so handelt, wie er handelt (vv. 40–59). Der Erzähler beobachtet seinerseits, dass das – auf der Differenz von Information und Mitteilung beruhende – Verstehen67 des Gastgebers die eigentliche Ursache für die weitere Handlungsentwicklung ist. Denn das Verstehen ist in Wirklichkeit ein Missverstehen; das auf diesem Missverstehen basierende weitere Handeln – die gewaltsame Befreiung des Gastes von seinen Oberkleidern – eröffnet eine neue Möglichkeit von Beobachtung von etwas, was nicht erlebt und deshalb auch nicht beobachtet werden sollte: die Nacktheit des Gastes. Dass dem Erzähler die Differenz von Information und Mitteilung bewusst ist, zeigt sich im Epimythion, in dem der Rezipient vom Erzähler aufgefordert wird, ausschließlich den Willen eines Gastes wahrzunehmen und entsprechend zu handeln (vv. 91–96). Eigentliche Kommunikation mit einem Gast, die ein Verstehen voraussetzt, das die Differenz von Information und Mitteilung realisiert, sollte – wie sich beim vorliegenden Märe für den Erzähler aus der Erfahrung von Kontingenz beim Verstehen ergibt – demnach nicht mehr stattfinden.

Beobachtung III Der Rezipient beobachtet (b) – wie der Erzähler – die Beobachtung der Figuren (a) und (c) die Beobachtung der Figuren durch den Erzähler. Dies heißt: Er beobachtet die Kommunikation des Erzählers daraufhin, was er und wie er seine Beobachtung der Beobachtung der Figuren kommuniziert. Generell beobachtet der Rezipient die Produktion von Unterscheidungen; er verfolgt den erzählerischen Prozess, in dessen Verlauf der Text zunehmend an Markiertheit und damit an Form gewinnt.68 Durch wiederholtes Betrachten des Textes kann es einem Rezipienten gelingen, dessen Unterscheidungsstruktur zu entschlüsseln69 und die über Wiederholung, Parallelisierung, Verdoppelung etc. konstruierten Formzusammenhänge zu erfassen. Im ‚Nackten Ritter‘ bildet eingangs der Parallelismus einen Formzusammenhang, der auf der sprachlichen Ebene die Übereinstimmung von Gast und Gastgeber hervorhebt. Gestisch schließt sich der Begrüßungskuss (v. 13) der Hausfrau und der Töchter an diese Übereinstimmung an. Verstärkt wird dies noch durch die Form der Platzierung von Gast und Töchtern im Raum – er het schoener tohter drî, / die satzten den gast under sich (vv. 18f.) –, die durch den Unterschied zu anderen möglichen

|| 67 Vgl. ebd., 90. 68 Vgl. Niklas Luhmann: „Weltkunst“, 194. 69 Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, 69f.

534 | Michael Egerding Konstellationen ebenfalls einen – Übereinstimmung vermittelnden – Informationswert erhält. Vor allem ist es aber die als minne (v. 65) oder liebe (vv. 21, 47) bezeichnete Handlungspräferenz des Gastgebersystems (Vater, Frau, Töchter), die sich in den verschiedenen Vollzügen wiederholt und dadurch einen weiteren Formzusammenhang herstellt: Die zutage tretenden Emotionen (wol, vv. 3, 11; vro, vv. 9f.; vroelich, v. 20), die nonverbale Körperkommunikation (v. 13), die Gestik (s. o.) und die Aufstellung der Personen im Raum kondensieren zur Einstellung der Minne. Und es ist gerade diese vom Gastgeber wiederholt vollzogene Einstellung, die das Handeln aufgrund der unterstellten Übereinstimmung in die Katastrophe führt: dâ wart der gast beroubet / durch die grôzen minne / der êren und der sinne (vv. 64–66). Noch ein anderer Formzusammenhang kann im Anschluss an die Erfahrung zu großer Hitze und des daraus resultierenden Figurenhandelns entdeckt werden. Beobachtet man mit dem Schema redundant/variabel,70 fällt auf: Es geht um einen, mit den Verben abe-/überziehen wiederholt bezeichneten, Vorgang (vv. 33, 37, 42, 51, 63), der zum Ziel hat, die Temperaturempfindung zu reduzieren. Zugleich wird durch die Paronomasie zuht/unzuht (vv. 49, 56) überraschend mit der erzeugten Redundanz gespielt: Es ist zugleich ein äußeres und ein inneres Geschehen gemeint. Das äußerlich zu beobachtende ane hân (v. 41) entspricht in der Sicht des Hauswirts der zuht (v. 56); für den Gast bedeutet der äußerliche Vorgang des abe ziehen ausschließlich unzuht (v. 49). Gegenüber der Sicht des Gastes setzt der Gastgeber das abe ziehen mit einem äußeren und zugleich inneren Befreiungsvorgang parallel: Die Entledigung der Oberkleider fällt zusammen mit der Befreiung des Gastes von der genossenen höfischen Erziehung (vv. 54–57). Indem der Text auf diese Weise das Beobachten oszillieren lässt zwischen der Wiederholung bzw. dem Wiedererkennen vertrauter Verhaltensmuster (Entledigung von Kleidung bei zu großer Wärme) und überraschender Variabilität (beim Gast, der den Überrock nicht ablegen will), wird eine Polysemie evoziert, aufgrund derer die Reaktion auf ein zu heißes Zimmer eine neue Perspektive erhält: Der Gast möchte die aktuelle Form der Kleidung stabil halten, während der Gastgeber eine grundsätzliche Instabilität von Formen zum Anlass für Veränderung nimmt. Der Gastgeber, der die Veränderungsverweigerung mit der Stabilität der Persönlichkeitsformung durch eine höfische Erziehung erklärt, muss am Ende den Gast äußerlich in seinem gänzlich ungeformten körperlichen Medium wahrnehmen, das eigentlich konstant inaktuell ist, aber dadurch, dass es als andere, unsichtbare Seite der (Kleider-)Form aktuell sichtbar geworden ist, zum Skandal führt. Die Erzählung ‚Der nackte Ritter‘ führt einen Prozess des Durcharbeitens von verschiedenen, teilweise ganz unwahrscheinlichen Formkombinationen vor, die auch ein Kreuzen der durch die Form (die Kleidung) markierten Grenze verlangen. Die Zeit, die zum Kreuzen der Grenze erforderlich ist, ist

|| 70 Vgl. ebd., 170 u. 180–182.

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die Zeit, in der der Prozess erzählt wird, der von wirde und êre zu schande bzw. von Inklusion des Gastes in das soziale Familiensystem zu dessen Exklusion führt.

Re-entry Mit dem Begriff ‚re-entry‘ wird beschrieben, dass die Unterscheidung in das Unterschiedene wieder eintritt.71 Im Fall des vorliegenden Märe: Das vom höfischen System Unterschiedene (das Nicht-Höfische) kommt im System des Höfischen wieder vor, weil sich der Gast, der wegen seiner hövescheit vielgepriesene höfische Ritter, unhöfisch verhält. Die in der unerwarteten paradoxen Beobachtung des unhöfischen Charakters eines höfischen Ritters aufbrechende Kontingenz führt zur Handlungsunfähigkeit aller Beteiligten, da das Versagen des höfischen Codes und der daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten diesen in seiner regulierenden Funktion generell in Frage stellt: Denn wie vermag dieser Code noch zu garantieren, dass Unhöfisches prinzipiell ausgeschlossen wird, wenn sogar schon die Beobachtung von diesem aufgrund seines latenten Status problematisch ist? Und wie ist der (vorliegende) Fall zu lösen, wenn beobachtet wird, dass eigentlich vom Höfischen Ausgeschlossenes unbeobachtet Anschluss im höfischen System gefunden hat? Der in seiner unhöfischen Realität beobachtete Ritter löst das Problem des Eintritts des vom höfischen System Ausgeschlossenen in das System aufgrund der Einsicht in die nicht länger mehr herzustellende Anschlussfähigkeit an das höfische System, indem er die Konsequenzen zieht und sich aus diesem exkludiert.

4 Ergebnisse: Warum mittelalterliche Literatur systemtheoretisch beobachten und beschreiben? Literatur, die sich in so großer zeitlicher Distanz zur Gegenwart wie die mittelalterliche Literatur befindet, unterliegt fast automatisch dem Verdacht einer Abweichung vom Gewohnt-Vertrauten – ein Sachverhalt, der mit den Begriffen der Alterität, Andersheit und Fremdheit mit unterschiedlichen Akzentsetzungen begrifflich benannt wird.72 Dass es dabei um keine Abweichung im Einzelnen, sondern in einem umfassenden Sinn geht, zeigt sich auch im behandelten Märe ‚Der nackte Ritter‘: Figuren, Räume, Handeln, Wertsetzungen im Märe bilden im Kontext heutiger Welterfahrung erratische Blöcke, die nur deshalb heutigem Verstehen nicht als solche erscheinen, weil im Fremden des Textes Vertrautes zu entdecken ist und die vorhandenen fremden Elemente infolge eines identifikatorischen Lesens in das Vertraute

|| 71 Vgl. ders.: Einführung in die Systemtheorie, 82 u. 87f. 72 Vgl. zur Alterität den Aufsatz von Sandra Linden i. vorl. Bd., bes. 143; 152.

536 | Michael Egerding aufgehoben werden. Dies führt dazu, dass die vorhandene Distanz des Märe zu heutiger Wirklichkeitserfahrung leicht aus dem Blick gerät; die Textrezeption geschieht dann ‚am Fremden vorbei‘ mit der Folge, dass sich ein Schein von Normalität über die Textwelt des Märe, die ein Rezipient beobachtet, auszubreiten droht. Demgegenüber versteht Luhmann seinen Theorieentwurf geradezu als Versuch, diesen Schein der Normalität zu durchbrechen und „Normales für unwahrscheinlich zu erklären“73. Dazu dient die funktionale Analyse, die Gegebenes problematisiert, indem sie dieses mit der Unterscheidung Problem/Problemlösung beobachtet und zur Informationsgewinnung, ausgehend vom Gegebenen, danach fragt, wie X möglich sein kann.74 Dadurch dass auf diese Weise die Bedingungen der Möglichkeit von etwas untersucht werden, präzisiert die Analyse – um mit Luhmann zu formulieren – „die Bedingungen, unter denen Differenzen einen Unterschied ausmachen“75. Das mit dem Schema Problem/Problemlösung arbeitende Beobachten erweist sich dabei als zirkulär; denn das beobachtete Gegebene ist – je nachdem, welche Theorie (die für Luhmann immer auch als „Problementdeckungshilfe“76 fungiert) herangezogen wird – sowohl als Problem, von dem aus weiter nach seiner Lösung gefragt wird, wie auch als Problemlösung zu verstehen, von der aus das zugrunde liegende Problem zu entdecken ist,77 oder die reproblematisiert werden muss, weil die gefundene Lösung unzureichend war. Unabhängig davon, unter welchem Aspekt man Gegebenes beobachtet, wird mit der funktionalen Analyse die Relation Problem – Problemlösung nicht um ihrer selbst willen verfolgt, sondern deshalb, weil man durch den Einsatz der funktionalen Analyse andere Problemlösungen ermitteln und miteinander hinsichtlich ihrer funktionalen Äquivalenz vergleichen möchte. Alles Gegebene erscheint durch eine derartige Relationierung als kontingent: Verschiedene Ursachen haben die gleiche Wirkung und umgekehrt eine Ursache kann verschiedene Wirkungen haben.78 Immer geht es um die Kontingenz des Vorhandenen und die Vergleichbarkeit des Verschiedenen: Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als

|| 73 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 162. 74 Vgl. ebd., 83. 75 Ebd. 76 Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 424f. 77 Vgl. ebd., 423–425. 78 Vgl. Detlev Krause: Luhmann-Lexikon, 173.

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Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten.79

Um die Beziehung zwischen Problem und möglicher Problemlösung für das Märe ‚Der nackte Ritter‘ spezifizieren zu können, müssen die konkreten Bedingungen präzisiert werden, unter denen eine Lösung der Probleme erfolgt, die sich im ‚Nackten Ritter‘ finden, bzw. unter denen das zum Problem wird, was als Problemlösung gewählt wurde. Dazu wurde mit dem Begriffsinstrumentarium der Systemtheorie ein Beobachtungssystem eingesetzt, das aufgrund seiner Abstraktheit Vergleichsgesichtspunkte bereitstellt, mit deren Hilfe auch Gleichheiten an etwas festzustellen sind, das auf den ersten Blick als ungleich erscheint.80 Auf diese Weise gelingt es (1) nicht nur in besonderem Maße, mittelalterliche Literatur anschlussfähig an heutige Erfahrung zu machen; es ist darüber hinaus (2) auch möglich, in dem sehr verschieden ausfallenden Figurenhandeln Gemeinsamkeiten zu entdecken, die auf funktionalen Äquivalenzen beruhen. Ferner (3) ermöglicht eine funktionale Analyse im Kontext der Systemtheorie eine Beobachtung, die sich von der Figuren- und Erzählerperspektive im Text unterscheidet; sie zeichnet nicht einfach nach, was die verschiedenen psychischen Systeme (Figuren, Erzähler) denken und erleben; vielmehr bewegt man sich – so Luhmann – mit der für die funktionale Analyse fruchtbar gemachten Systemtheorie [...] in ungewöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich […].81

Infolge der auf diese Weise beschriebenen Distanz zur Objektwelt vermag ein textexternes Beobachtersystem mit seiner Analyse sowohl Funktionen und Strukturen am Objektsystem, d. h. bestimmten Figuren im Text, ausmachen, die für diese selbst nicht sichtbar sind, als auch bekannte Strukturen und Funktionen auf der Basis der von der Systemtheorie gewonnenen abstrakten Vergleichsgesichtspunkte mit anderen Möglichkeiten in Beziehung zu setzen mit dem Ergebnis, dass diese als kontingent erfahren werden.82 Für die Interpretation des Strickerschen Märe ‚Der nackte Ritter‘ bedeutet dies: Abstrakter Ausgangspunkt für die Beobachtung war die Problemkonstruktion des Textes. Hohe Relevanz hatte dabei die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung der Relation von Problem und Problemlösung einschließlich der Bedingungen, denen sie unterliegen. Deutlich wurde: Das Grundproblem, das das Märe ‚Der nackte Ritter‘ bestimmt, ist letztlich die Frage: Wie ist in der vom Text modellierten Welt soziale Ordnung möglich angesichts der Erfahrung, die ein Fami|| 79 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 83f. 80 Vgl. ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 409. 81 Ders.: Soziale Systeme, 13. 82 Vgl. ebd., 89.

538 | Michael Egerding liensystem mit einem nicht zu ihm Gehörenden, mit einem – trotz seiner vordergründigen Bekanntheit – Fremden,83 macht; wenn dieser trotz des Bemühens um Inklusion in das Familiensystem durch verschiedene Formen der Gastfreundschaft fremd bleibt, vielmehr im Gegenteil: durch den Prozess des Inkludierens so fremd wird, dass er sich selbst aus dem ihm Gastfreundschaft gewährenden Familiensystem für immer exkludieren muss; wenn also die anvisierte Problemlösung zum eigentlichen Problem wird? Es ist das besondere Verdienst des Strickers, mit seiner komplexen Erzählung gezeigt zu haben, welches problematische Potential eine in Gang gebrachte Problemlösung enthalten kann. Diese Komplexität mit den Möglichkeiten der Systemtheorie genauer herauszuarbeiten, war das Ziel der Interpretation. Es ging um die Beobachtung der Bedingungen für die erforderliche Problemlösung sowie um die Erklärung der Funktionen, die einzelne Elemente – Strukturen, Erwartungen Operationen etc. – im Rahmen der jeweiligen Problemlösung und der erneuten Problematisierung dieser Lösung im untersuchten Märe haben. Darüber hinaus wurden mit der bei der Untersuchung des Märe verwendeten systemtheoretischen Begrifflichkeit abstrakte Vergleichsgesichtspunkte geschaffen, die es möglich machen, ganz unterschiedliche – zwischen Vertrautheit und Unvertrautheit oszillierende – Texte in Beziehung zu setzen mit dem Ziel, im Verschiedenartigen funktionale Äquivalenzen zu entdecken. Auf diese Weise ist dann auch die von Hans Robert Jauß proklamierte „Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur“84 präziser zu bestimmen: Gerade die große Distanz der mittelalterlichen Literatur zur Gegenwart, die Andersheit ihrer Vorstellungswelt und der in ihr sich spiegelnden gesellschaftlichen Ordnung, bildet eine gute Voraussetzung für eine genaue Beobachtung gegenwärtiger Literatur, bei der das in ihr inszenierte Leben als kontingent, eben auch anders möglich, und zugleich trotz ihrer Verschiedenartigkeit in bestimmter Hinsicht als äquivalent zu erfahren ist, wenn sie mit Literatur anderer Epochen verglichen wird – insb. der des Mittelalters wegen des ihr zugrunde liegenden, in besonderer Weise anders geordneten Weltentwurfs: Man kann vermuten, daß Einsichten um so größeren Erkenntniswert besitzen, je verschiedener die Sachverhalte sind, an denen sie bestätigt werden können. Das Funktionieren trotz Heterogenität ist deshalb selbst eine Art Beweis [...]. Nach einer alten, einsichtigen Regel treten Wahrheiten in Zusammenhängen auf, Irrtümer dagegen isoliert. Wenn es der funktionalen Analyse gelingt, trotz großer Heterogenität und Verschiedenartigkeit der Erscheinungen Zusammenhänge aufzuzeigen, kann dies als Indikator für Wahrheit gelten [...].85

|| 83 Vgl. vv. 5f. Dort heißt es vom Gastgeber: er het in niemêr gesehen / und hôrte im grôzer wirde jehen [...]. 84 Hans Robert Jauß: „Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur“, 9–47. 85 Ebd., 90f.

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Literatur Primärtext Der Stricker: Verserzählungen I, hg. v. Hanns Fischer, 5., verb. Aufl., bes. v. Johannes Janota, Tübingen 2000 (Altdeutsche Textbibliothek 53).

Theorie-/Forschungstexte Baraldi, Claudio (Hg.): GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. M. 1997 (stw 1226). Braun, Manuel: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 60). Egerding, Michael: Die Exempla in der deutschen Mystik: systemtheoretisch beobachtet, Paderborn 2011. Jauß, Hans Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1978, München 1977. Knaeble, Susanne: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs „Parzival“, Berlin 2011 (Trends in Medieval Philology 23). Krause, Detlev: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, 4. Aufl., Stuttgart 2005 (UTB 2184; Soziologie fachübergreifend). Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990 . Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. Ders.: Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, 4. Aufl., Heidelberg 2008. Ders.: Schriften zu Literatur und Kunst, hg. v. Niels Werber, Frankfurt a. M. 2008 (stw 1872). Ort, Claus-Michael: „Systemtheorie und Literatur. Teil II: Der literarische Text in der Systemtheorie“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1,20 (1995), 161–178. Reinfandt, Christoph: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten. Ein systemtheoretischer Entwurf zur Ausdifferenzierung des englischen Romans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Heidelberg 1997 (Anglistische Forschungen 252). Ders.: „Systemtheorie und Literatur. Teil IV: Systemtheoretische Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1,26 (2001), 88–118. Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin 2011.

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Glossar Die Schlüsselbegriffe sind alphabetisch aufgeführt. Die jeweiligen Autorinnen und Autoren werden durch Namenskürzel hinter den einzelnen Einträgen nachgewiesen. Ähnlichkeit, Analogie Sie bilden schon nach der logischen Definition der Metapher durch Aristoteles (Poetik I,21) die beiden Grundoperationen der Metaphernbildung: Während sich die Ähnlichkeit auf genus-species-Relationen (logisch/ontologisch) bezieht und letztlich auf Identität zielt, modelliert die Analogierelation Differenzen: Die Metapher kann mithin sowohl als Figur der Identität als auch der Differenz interpretiert werden. UF

Alterität Wichtiger Leitbegriff der Mediävistik; er referiert auf die kulturell-historische Distanz zwischen Mittelalter und Moderne. Die mittelalterliche Literatur wird aber nicht als völlig fremd gesetzt, sondern der Begriff bezeichnet eine graduelle Unvertrautheit, die mit literaturwissenschaftlichen Mitteln reflektiert wird. ‚Alterität‘ impliziert eine „Hermeneutik der Differenz“ (Christian Kiening) und fordert dazu auf, die Fremdheit bewusst wahrzunehmen und eine selbstverständliche und unreflektierte Übertragung moderner Auffassungen auf historische Situationen zu vermeiden. SL

Anthropologies Die in den USA als Wissenschaft etablierten und kulturwissenschaftlich ausgerichteten anthropologies meinen keine Wissenschaft vom Menschen und sind somit mit dem deutschen Begriff der ‚Anthropologie‘ nicht adäquat übersetzt. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie, d. h., es wird nach der Einbindung von Menschen in bestimmten, meist fremden kulturellen Zusammenhängen gefragt. SL

Codierung Der Begriff wird in unterschiedlichen Theoriezusammenhängen mit abweichender Bedeutung gebraucht; in der sozial- und literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung wird er eher unscharf verwendet. ‚Codierung von Emotionen‘ meint hier die kollektiv geteilten Grundlagen der kulturellen Verständigung über Emotionen, des Wissens über sie, ihrer Kommunikation und des Umgangs mit ihnen – Grundlagen, die bspw. im Bereich der Sprache über das Lexikon (Emotionswörter), Metaphern oder Diskurse gebildet werden, aber auch außersprachlich verfasst sind, etwa in Formen sozial erworbenen Situationswissens, Ausdrucks- oder Höflichkeitsregeln.

542 | Glossar In literaturwissenschaftlichen Analysen wird mit dem Codierungsbegriff meist der Gedanke verbunden, dass literarische Darstellungen von Emotionen nicht nur auf vielfältige Weise an diese kulturellen Gemeinsamkeiten anschließen, sondern zur Codierung von Emotionen ihrerseits beitragen können. EK

Crossdressing Bezeichnet den Kleidertausch zwischen den Geschlechtern. Durchkreuzt wird die binäre Logik geschlechtlicher Stereotype (weiblich/männlich), wobei die Arbitrarität von Köper- und Kleidersemantik den Konstruktionscharakter von gender transparent macht. AS

Diskurs Der Begriff ‚Diskurs‘ in seiner heutigen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Verwendung geht u. a. auf Michel Foucault zurück, der den Begriff für seine diskursanalytischen Schriften einsetzte. Dabei fällt zunächst auf, dass der Begriff sowohl die individuelle Rede als auch – im Kollektivsingular – die Gesamtheit einer spezifischen Menge von Aussagen bezeichnen kann, wenn etwa vom medizinischen Diskurs die Rede ist; dabei bleibt offen, nach welchen Regeln letztere Diskurse voneinander abgegrenzt werden können. Grundsätzlich sind Diskurse als ‚Praktiken‘ zu verstehen, die systematisch das hervorbringen, von dem sie sprechen. Damit ist auch gesagt, dass ein Diskurs nicht nur (sprachliche) Aussagen, sondern auch (soziale) Praktiken umfasst. Darüber hinaus ‚machen‘ Diskurse Sinn – und zwar genau in dem Maße, in dem sie Unsinn ausschließen. Was aber Unsinn ist, wird ebenfalls vom Diskurs bestimmt. JH

Dispositiv der Sexualität Der von Michel Foucault eingeführte Terminus bezeichnet eine machtgesättigte Konstellation aus Diskursen, Praktiken und Institutionen, die das Denken und Handeln des Menschen disponiert. Das neuzeitliche Dispositiv der Sexualität deutet das Begehren als klassifizierendes Identitätsmerkmal. AK

Doing Gender Der von Candace West und Don H. Zimmerman eingeführte Begriff betont, dass geschlechtliche Identität (gender) kein stabiles Konstrukt darstellt, sondern durch permanente Wiederholung in performativen Akten hervorgebracht werden muss. AS

Glossar | 543

Edition Darunter versteht man die philologische Aufbereitung einer (historischen) Textquelle. Insb. im Bereich der Handschriftenkultur steht die Editorik vor vielen Problemen, weil ein Kulturbetrieb, der prinzipiell einen intermedialen Charakter hat (beständiger Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit), ein großes Varianzpotenzial mit sich bringt. Der Editor muss Lösungen erarbeiten, wie er mit diesen Varianten umgeht, und einen je eigenen Weg finden zwischen den Extremen der Rekonstruktion eines verlorenen Originals auf der einen Seite und einer manipulationsarmen Dokumentation positiver Textzeugen auf der anderen. TB

Einzeltextreferenz Bezug eines manifesten Textes auf einen spezifischen Prätext. CE

Emotion, Emotionsforschung Der Begriff ‚Emotion‘ wird verwendet, um den Bereich menschlichen Fühlens zu bezeichnen, der über das leibliche Spüren von körpereigenen physiologischen Erscheinungen wie Hunger oder Müdigkeit und äußeren Einwirkungen wie Schmerz oder Kälte durch kognitive Anteile hinausgeht und der in einem Spektrum von distinkten Zuständen konzeptualisiert und erlebt wird. Er fungiert je nach Terminologie als Oberbegriff für weitere Bezeichnungen wie Affekt und Gefühl, kann von diesen konzeptuell abgegrenzt, aber auch synonym zu ihnen verwendet werden. Bei der Emotionsforschung handelt es sich um ein heterogenes Forschungsfeld, an dem lebens-, sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen beteiligt sind und das durch die thematische Klammer der Emotionen zusammengefasst wird, wobei die Bezeichnung für unterschiedliche theoretische Bestimmungen offen ist. EK

Episteme Der Begriff ‚Episteme‘ (frz. épistémè) ist ein Lehnwort aus dem Altgriechischen, in dem es ‚Verstehen‘, ‚Wissen‘, ‚Einsicht‘ v. a. in praktischer Hinsicht bezeichnet. Michel Foucault verwendet den Begriff in seinen diskursanalytischen Arbeiten, um die – meist unbewusste – historische Struktur von Wissen zu bezeichnen: Er fragt nicht nach dem, was gewusst wird, sondern wie gewusst wird – welche Gegenstände als wissenschaftlich gelten, welche Ordnungssysteme anerkannt und welche Beweisstrategien akzeptiert werden. Foucault geht von historischen Brüchen in der Episteme aus, durch die sich Inhalt und Form von Wissen grundlegend ändern können, so dass dieses sich nicht in ein lineares Geschichtsbild einfügen lässt. JH

544 | Glossar Gender, Sex ‚Gender‘ bezeichnet die sozio-kulturell determinierte Geschlechtsidentität und fungiert als Gegenpol zum Begriff ‚sex‘, der für das anatomische Geschlecht gebraucht wird. Das Begriffspaar ermöglicht die Dekonstruktion und Entnaturalisierung von Geschlechterordnungen. AS

Heteronormativität Bezeichnet eine normative Gesellschafts-, Denk- und Zeichenordnung, die auf den Binarismen des Geschlechts (männlich/weiblich) und der Sexualität (hetero/homo) beruht, aber weit über diese hinausreicht. AK

Homosoziales Begehren Der von Eve Kosofsky Sedgwick eingeführte Terminus (homosocial desire) meint affektiv aufgeladene Beziehungen zwischen Personen desselben Geschlechts. Homosoziales Begehren schließt homosexuelles Begehren ein, ist aber nicht auf dieses reduzibel. Homosoziales Begehren artikuliert sich in literarischen Texten oft in triangulären Figurenkonstellationen, insb. als Rivalität zweier Männer um eine Frau. AK

Interaktion Während die Substitutionstheorie von der Vorstellung eines tertium comparationis ausgeht, nach der die Semantiken der beiden relationierten Wörter (tenor–vehicle) auf ein gemeinsames Drittes verweisen (Achill–Löwe = tapfer), werden nach der Interaktionstheorie (Ivor A. Richards/Max Black) nicht lexikalische, natürliche, sondern kulturelle Semantiken (focus–frame) zuerst vom Menschen auf das Objekt und dann wieder auf den Menschen projiziert: Wissenschaftlich gesehen, ist der Wolf weder gefräßig, hinterhältig noch böse; es ist die kulturelle Erfahrung, die ihm diese Eigenschaften zuschreibt. UF

Intertext In der poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie die Vorstellung eines Kollektivs oder Archivs aller Texte, aus dem Texte generiert werden können und in das sie in ihrer je spezifischen semantischen, pragmatischen, kulturellen Codierung wiederum eingehen. CE

Glossar | 545

Intertextuelle Referenz, intertextueller Bezug, intertextuelle Einschreibung Wiederholung von Zeichen(-komplexen) des Prätextes im manifesten Text; unterschieden wird zwischen materiellen (z. B. Zitat) und strukturellen Zeichenwiederholungen. CE

Kommunikation Sie umfasst die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen und basiert auf einer dreifachen Selektion: (1) Für Information ist eine Selektion aus einem (bekannten oder unbekannten) Repertoire von Möglichkeiten konstitutiv. (2) Ferner hat jemand eine bestimmte Intention für seine Mitteilung; dementsprechend wählt er – bewusst oder unbewusst – aus einem Verhaltensrepertoire ein Verhalten, das diese Information mitteilt. (3) Die Kommunikation kommt nur dann zustande, wenn die Information und die Intention für die Mitteilung als unterschiedliche Selektionen verstanden werden. Da die Unterscheidung der Information von ihrer Mitteilung entscheidend für das Verstehen der Kommunikation ist, nennt Luhmann (etwas ungewöhnlich) den Mitteilenden ‚Alter‘ und den Adressaten ‚Ego‘. ME

Komplexität Ab einer bestimmten Zahl von Elementen ist es nicht mehr möglich, dass jedes Element mit jedem anderen Element eine Relation eingeht. Komplexität meint, dass immer mehr Möglichkeiten gegeben sind, als aktualisiert werden können. Daher muss bei jeder Verbindung von Elementen zwischen mehreren Möglichkeiten ausgewählt werden. In Bezug auf die Umwelt gilt, dass das System seine Komplexitätsunterlegenheit gegenüber der Umwelt durch die ihm zur Verfügung stehenden Selektionsmuster wettmacht, indem es deren komplexen Relationszusammenhang durch einen zweiten Zusammenhang mit reduzierten Relationen rekonstruiert. ME

Manifester Text Text, der eine intertextuelle Referenz oder Einschreibung aufweist. CE

Markierung Im manifesten Text nachweisbares Verfahren, die Verwendung intertextueller Referenzen zu verdeutlichen und auf den oder die Prätexte hin transparent zu gestalten; unterschieden werden je nach Intensität der Markierung u. a. explizite und implizite Markierung. CE

546 | Glossar Medialität Bezeichnung weniger für eine Eigenschaft von Medien als für die (kognitive, soziale, kultuelle, historische) Bedingung der Möglichkeit medialer Phänomene, Zustände und Prozesse. Sie sind dort zu verorten, wo Übertragungen, Vermittlungen, Verkörperungen oder medial gebundene Wahrnehmungsereignisse stattfinden, und dort besonders zu beobachten, wo an den Schnittstellen oder den selbstreflexiven Schleifen medialer Formen Auffälligkeiten entstehen. CK

Medium In der älteren Tradition Bezeichnung nicht so sehr für eine Form der Kommunikation oder der Speicherung als vielmehr für die Mittel/Werkzeuge des Beweises oder der Wahrnehmung sowie für die Mitte zwischen verschiedenen Größen. Diese Mitte ist als eine gedacht, die an den Extremen partizipiert, zwischen denen sie steht – das gilt für das am Sehvorgang beteiligte medium (Licht, Auge, Sehsinn) ebenso wie für die Seele als medium „zwischen den geschaffenen Dingen und Gott“ (Bonaventura). CK

Misogynie Der aus dem Griechischen entlehnte Begriff bezeichnet das Phänomen der diskursiven Frauenfeindlichkeit als repressives Mittel der Machtausübung. Misogyne Diskurse prägen in Abhängigkeit vom historischen Kontext spezifische Codierungsmuster und Topoi aus, die zur Negativzeichnung und Diffamierung von Weiblichkeit beitragen. AS

Motivation, Motivierung Im russischen Formalismus differenzierte, in der späteren erzähltheoretischen Diskussion unter Berücksichtigung der missverständlichen Terminologie von Clemens Lugowski (bes. bei Matíaz Martínez) wieder amalgamierte Begriffe: Der Begriff der ‚Motivation‘ liegt anfangs auf der Ebene der Geschichte und ist handlungslogisch bestimmt (kausale oder finale Motivation einer Handlung); der Begriff der ‚Motivierung‘ liegt hingegen auf der Ebene der Erzählung und leitet sich vom Motiv als Begriff für eine semantische Einheit ab (kompositorische oder realistische Motivierung in der Erzählung). Demgegenüber hat die jüngere amalgamierende Auffassung der ‚Motivation‘ einen anhaltenden Diskussionsbedarf um Logik und Semantik mittelalterlichen Erzählens freigesetzt. HB

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Narrative Ebenen Metaphorischer wissenschaftlicher Ausdruck für die verschiedenen Konzeptbereiche der erzähltheoretischen Analysetektonik, die je nach Theoriekonzept unterschiedliche Extensionen haben und daher auch in unterschiedlicher Zahl postuliert werden. Dabei verdeutlicht ihre wissenschaftsgeschichtlich zunehmende Ausdifferenzierung zugleich den ihnen zugrundeliegenden Korrelationsgedanken (z. B. Fabel–Sujet; story–plot; histoire–récit–narration; Geschehen–Geschichte–Erzählung– Präsentation der Erzählung etc.). HB

Narratologie a) discours-Narratologie: Im weiteren Sinne Sammelbezeichnung für Erzähltheorien, die an der Erzählinstanz und dem ihr zugeschriebenen narrativen Diskurs ansetzen; im engeren Sinne nach der strukturalistisch-linguistischen Differenzierung durch Tzvetan Todorov eine am narrativen Aussagevorgang orientierte Narratologie, welche die ältere formalistische Begriffsopposition von Fabel und Sujet durch die Begriffskorrelation von histoire und discours ersetzt und damit narrative Prozesse des Erzählers und des Erzählens als semiotische Verfahren beschreiben kann. b) histoire-Narratologie: Im weiteren Sinne Sammelbezeichnung für Erzähltheorien, die an der dargestellten Handlung oder Geschichte eines Erzähltextes ansetzen; im engeren Sinne strukturalistisch begründete Narratologie, die auf eine grundlegende Semantik der Erzähltextes zielt, welche sie modellhaft über die Analyse der histoire- oder Geschichtsebene und der ihr inhärenten semantischen Terme, Relationen und Prozesse analysiert. HB

Paradigma Anders als das Syntagma operieren paradigmatische Relationen nicht auf der Basis von Verkettungsprozeduren (Morpheme zu Worten, Worte zu Sätzen, Sätze zum Text) und Kontextbildung, sondern mit Hilfe von Selektions- und Substitutionsprozessen. Diese Verfahren teilt die Metapher mit anderen Ersetzungsfiguren (Tropen: z. B. Metonymie, Allegorie, Ironie). Paradigmatische Argumentation (auch Erzählen) verfährt weder deduktiv noch induktiv, sondern sucht die aus dem Einzelfall ableitbaren Schlussfolgerungen zu gewinnen. Die Metapher als Paradigma ist also sowohl eine literarische Figur als auch eine Figur des Wissens. UF

Performanz Meint allgemein den Vollzug einer Handlung, z. B. einer Sprachhandlung (linguistische Sprechakttheorie), einer gender-konstituierenden Handlung (Gender Studies), eines Rituals (Ritual Studies), einer theatralen Inszenierung (Theaterwissenschaft). In letzterer Hinsicht ist ‚Performanz‘ synonym mit ‚Aufführung‘ und meint dann die

548 | Glossar körperlich dargebotene Handlung eines Akteurs, die von mindestens einem Rezipienten wahrgenommen wird. Begrifflich lässt sich ‚Performanz‘ folgendermaßen von der ursprünglich durch die Sprechakttheorie geprägten ‚Performativität‘ unterscheiden: Während Performanz ein handelndes autonomes Subjekt voraussetzt, bringt Performativität als qualitatives Potenzial einer Äußerung die Handlung und sein Subjekt allererst hervor. UB/RN

Präsenz, Repräsentation ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘ lassen sich nur in Relation zueinander definieren: ‚Präsenz‘ meint die unmittelbare Gegenwart eines Wesens oder Dinges, ‚Repräsentation‘ dagegen die Vergegenwärtigung oder Darstellung eines Wesens oder Dinges über ein davon verschiedenes Medium. Ein Präsenzeffekt entsteht durch die (scheinbare) punktuelle Aufhebung der Medialität einer Repräsentation. UB/RN

Prätext Text, auf den eine intertextuelle Referenz verweist, oder der das Material für eine intertextuelle Einschreibung bereit stellt. CE

Queer Das englische Adjektiv ‚queer‘ ist etymologisch mit dem deutschen Wort ‚quer‘ verwandt. Es bedeutet ursprünglich ‚verquer‘, ‚seltsam‘ und wurde umgangssprachlich abwertend für Homosexuelle benutzt. Seit den 1990er Jahren dient der Begriff in politischen und akademischen Zusammenhängen als affirmative Selbstbezeichnung und heteronormativitätskritische Kategorie. AK

Queer Reading Bezeichnet eine literaturwissenschaftliche Methode der Lektüre, welche die expliziten und impliziten Konstellationen des Begehrens analysiert und die heteronormative Strukturen eines Textes dekonstruiert; vgl. das von Eve Kosofsky Sedgwick entwickelte Konzept des ‚erotischen Dreiecks‘. AK

Regression Rückfall in ein entwicklungspsychologisch überholtes Stadium bzw. in ontogenetisch ältere Verhaltensmuster (libidinöse Stufen, Objektbeziehungen u. ä.). Als Ausdruck der Flucht vor der Realität stellt die Regression im freudschen Sinn einen Abwehrmechanismus dar, der Neurosen begründet. FW

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Resonanz und Staunen (resonance and wonder) ‚Resonanz‘ und ‚Staunen‘ sind zwei wichtige Begriffe des New Historicism, die die besondere Wirkung von Kulturgegenständen umschreiben. Unter ‚Resonanz‘ versteht Stephen Greenblatt die besondere Macht des ausgestellten Objekts über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt. Demgegenüber verweist das ‚Staunen‘ auf die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter aus der Bahn zu werfen, ihm ein Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln und eine Ergriffenheit in ihm zu provozieren. CL

Ritual Ein Ritual ist eine vorstrukturierte, symbolische Handlung, die durch ihre Performanz Wirklichkeit konstituiert bzw. transformiert oder die Präsenz von etwas Heiligem bewirkt. Diese Kraft wird ihr aufgrund der Einhaltung bestimmter zeremonieller Regeln und ihrer Wiederholbarkeit zugeschrieben. Oft finden Rituale innerhalb von Gemeinschaften und im Rahmen von Feierlichkeiten statt. UB/RN

Russischer Formalismus Kunst- und literaturtheoretische Gruppierung der 1920er und -30er Jahre, die zum Teil in radikaler und polemischer Form den Vorrang der Form vor dem Inhalt proklamiert und damit poetische wie literarhistorische Prozesse modernistisch als Verfremdungsprozesse beschreibt. Die mit den Überpointierungen gewonnenen terminologischen Differenzierungen werden über ihre zunehmende Systematisierung in der formalistischen Spätphase (Boris Tomaševskij) für den französischen Strukturalismus und von hier aus für die moderne Narratologie insgesamt grundlegend. HB

Sinn Bezeichnet bei Niklas Luhmann den Überschuss von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Das Prozessieren von Sinn ist ein ständiges Neuformieren der sinnkonstitutiven Differenz von Aktualität und Möglichkeit. Demnach vollzieht sich Sinn als laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. ME

Soziale Energie (social energy) ‚Soziale Energie‘ ist einer der zentralen Begriffe des New Historicism. Weitgehend gedacht als rhetorische Wirkungskategorie versteht Stephen Greenblatt unter dieser Metapher das besondere Potenzial literarischer Texte, in ihrer spezifischen gesellschaftlichen Situierung als Kraftfelder sozialer Verhandlungen und Prozesse zu fungieren und transhistorisch Wirkung auf den Rezipienten zu speichern. Für die Ver-

550 | Glossar handlungen von Kulturprodukten in unterschiedlichen diskursiven Formationen, kulturellen Praktiken und Artefakten prägt Greenblatt zudem die Formel der ‚Zirkulation sozialer Energie‘ (circulation of social energy). CL

Spatial Turn Der Begriff steht einerseits für ein gesteigertes, disziplinenübergreifendes Forschungsinteresse an Fragen des Raums und der Räumlichkeit seit dem Ende der 1980er Jahre. Andererseits bezeichnet der ‚spatial turn‘ eine grundsätzliche Neuperspektivierung von Raum, bei der dieser nicht als konkrete Substanz, sondern als relationales, durch Interaktion konstituiertes Gefüge bestimmt wird. AG/FH

System Als kleinste Einheit liegen einem System (nicht weiter von diesem reduzierbare) Elemente (z. B. Gedanken, Kommunikationen) zugrunde, die miteinander selektiv verknüpft werden. Aufgrund der spezifischen Art und Weise der Selektion und Verknüpfung bildet sich die Struktur eines Systems aus. D. h.: Charakteristisch für ein psychisches System sind aufeinander folgende Gedanken, für ein soziales System Kommunikationen. Ein soziales System ist an das Bewusstsein (das psychische System) gekoppelt, da es bei seiner Kommunikation darauf angewiesen ist, dass das psychische System die Außenwelt über das Bewusstsein wahrgenommen und in Gedanken transformiert hat. ME

Systemreferenz In der Intertextualitätsforschung Bezug eines manifesten Textes auf Eigenschaften eines Systems von Prätexten, z. B. auf die Konventionen einer Gattung. CE

System, Umwelt Ein System entsteht, wenn seine Operationen eine Grenze ziehen zu dem, was als Umwelt nicht zum System gehört. Ein System schränkt auf systemspezifische Weise das ein, was es als Elemente miteinander verbindet: Es operiert zum einen immer nur innerhalb des Systems, zum anderen erzeugt es die Qualität von Elementen dadurch, dass es Elemente aufeinander bezieht, indem es aufgrund seiner begrenzten Komplexität zugleich andere – auch denkbare – Verknüpfungsmöglichkeiten weglässt. Da das, was nicht direkt von den Operationen des Systems betroffen ist, als das Außen des Systems (d. h. als seine Umwelt) immer mehr Möglichkeiten enthält, als das jeweilige System aufzuweisen hat, besteht aufgrund des Komplexitätsgefälles eine Differenz zwischen System und Umwelt. Dies führt dazu, dass ständig Selektionen erforderlich werden, mit deren Hilfe das System die Differenz reguliert.

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Auf diese Weise wird Komplexitätsunterlegenheit durch Selektionsstrategien ausgeglichen. ME

Tagtraum Umgangssprachlich wird der Tagtraum als Wachtraum verstanden, in dem erwünschte oder gefürchtete Vorstellungen in die Phantasie eindringen und zu einer verzerrten Alltagswahrnehmung führen. Sigmund Freud benutzt den Begriff, um die Überformung des kreativen Prozesses durch unbewusste narzisstische Phantasievorstellungen in der Nähe zum kindlichen Spiel zu bezeichnen. FW

Theatralität Im weiten Sinne meint ‚Theatralität‘ die Gesamtheit der Bedingungen und Elemente von Theater, inklusive seiner Performativität. Im engen Sinne meint ‚Theatralität‘ den Als-ob-Charakter einer theatralen Handlung, das Rollenspiel, die theatrale Repräsentation im Gegensatz zur Wirklichkeit und Präsenz einer nicht-gespielten Handlung. UB/RN

Topik Die Topik bildet ein Feld innerhalb der Argumentationslehre, auf das sich speziell die Rhetorik stützt: Sie argumentiert mit einer besonderen Schlussfigur (Enthymem), die anders als der Syllogismus nicht mit strengen Wahrheitsrelationen arbeitet (Alle Menschen sind sterblich: Sokrates ist ein Mensch: Sokrates ist sterblich), sondern mit relativen Erfahrungsgehalten (z. B. Alle Menschen lügen: Sokrates ist ein Mensch: Sokrates lügt). Dieses Erfahrungswissen (Sprichworte, Exempel, Metaphern) wird durch den Common Sense gebildet und zielt nicht auf Wahrheit, sondern auf Wirklichkeit. Anders als die Logik kann so Geschichte (das kulturelle Gedächtnis) zum Argument gemacht werden. UF

Topographical Turn Der topographical turn ist eine Ausdifferenzierung des spatial turn. Im Zentrum steht nicht der physisch vorgegebene Raum, sondern die Verbindung von Raum und Schrift und damit die kulturell verschiedenen Repräsentationsformen von Raum als kartographische und topographische Kulturtechniken. Der topographical turn knüpft an das Kultur-als-Text-Paradigma der Kulturwissenschaften an. AG/FH

552 | Glossar Topological Turn Der topological turn ist eine Ausdifferenzierung des spatial turn. Topologische Untersuchungen gehen nicht vom physischen Raum aus, sondern beschäftigen sich mit der Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte. Raum wird dabei nicht als formale Einheit aufgefasst, vielmehr wird Räumlichkeit als abstrakte relationale Struktur verstanden. Der topological turn knüpft an zentrale Prämissen des Strukturalismus und der Phänomenologie an. AG/FH

Transgression Impliziert eine Veränderungslogik, bei der nicht nur eine normative Grenze überschritten wird, sondern in paradoxer Weise diese Norm zugleich durchkreuzt und affirmiert wird. AS

Übertragung In der Übertragung projiziert das Subjekt einen bestimmten unbewussten Beziehungstypus auf seine Beziehung mit dem Gegenüber. Häufig geht es dabei um die Reaktivierung infantiler Muster. In der analytischen Beziehung zwischen dem Ich und dem Therapeuten wird dieser Mechanismus systematisch benutzt. FW

Varianz In der Editionsphilologie hat der Begriff ,Varianz‘ den des ,Fehlers‘ abgelöst. Die Rede von Varianz setzt immer eine Vergleichsgröße voraus. Besitzen wir von einem Text nur eine Abschrift, so gibt es zu diesem Text auch keine Varianten. Aber schon bei zwei Handschriften, die einen Text überliefern, wird man auf Varianten stoßen, und seien diese noch so klein. Dies bringt eine Handschriftenkultur, die von Menschen (und nicht von Maschinen) aufrecht erhalten wird, zwangsläufig mit sich. Texte, die von ihren Autoren in die Welt entlassen worden sind, gehen im Mittelalter durch viele Ohren, Münder und Hände. Auf diesen Wegen verändern sich die Texte. Die frühe Germanistik betrachtete diese Veränderungen mit viel Missmut und stufte sie als Fehler ein – immer mit einem Blick auf ein fehlerloses Original. Heute aber haben Varianten einen eigenen Wert; sie helfen uns, einen Einblick in die Prozesse vergangener Textkulturen zu gewinnen. TB

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Verdrängung Das Ich versucht, triebhaft gesteuerte Bilder und Vorstellungen, vor allem aber traumatische Erlebnisse nicht ins Bewusstsein dringen zu lassen, um sich Unlustgefühle zu ersparen. Freud benutzt das Muster der Verdrängung auch als Beispiel für andere Formen der Abwehr. FW

Verhandlung (negotiation) ‚Verhandlung‘ ist ein Schlüsselbegriff des New Historicism, der maßgeblich durch Stephen Greenblatt und dessen Arbeiten geprägt wurde. Ausgehend von einer Realität, die nur als texte générale ausfindig zu machen ist, und einem Modell horizontaler Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft beschreibt er die wechselseitige Beziehung von Entlehnungen, die verschiedenen Austauschprozesse und Verschiebungen zwischen den unterschiedlichen kulturellen Sphären und Formen der Repräsentation von Diskursen. CL