Lieben Sie Dallas? Streit-Lust-Schrift wider den Dünkel der Kultur 3548365132

Lieben Sie Dallas? Streit-Lust-Schrift wider den Dünkel der Kultur. Gruber und Raabe, Nürnberg. Überarbeitete und erweit

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German Pages [99] Year 1984

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Lieben Sie Dallas? Streit-Lust-Schrift wider den Dünkel der Kultur
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Populäre Kultur Lektorat: Martin Compart Ullstein Buch Nr. 36513 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Überarbeitete und erweiterte Fassung

der Originalausgabe von 1983 bei Verlag Gruber & Raabe in Nürnberg Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1984 by Verlag Ullstein & Autor Printed in Germany 1984 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3 548 36513 2

Oktober 1984

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Zeller, Michael: Lieben Sie Dallas?: Streit-Lust-Schr.

wider d. Dünkel d. Kultur / Michael Zeller. - Überarb. u. erw. Fassung d. Orig.-Ausg. - Frankfurt/M; Berlin; Wien:

Ullstein, 1984.

(Ullstein-Buch; Nr. 36513: Populäre Kultur) ISBN 3-548-36513-2 NE:GT

Michael Zeller

Lieben Sie Dallas? Streit-Lust-Schrift wider den Dünkel der Kultur

Der Autor: Michael Zeller, geboren 1944 in Breslau, Dr. phiI., habilitiert an der Universität Erlangen, lebt als freier Schriftsteller in Nürnberg. Zur Zeit Atelierhaus-Stipendium Worpswede. Weitere Veröffentlichungen (in Auswahl): Fehlstart-Training (Roman, Verlag Sauerländer, Aarau/Schweiz, 1978), Aus meinen Provinzen (Gedichte, Verlag >plakaterienatürlich< ist, sodaß immer weiterein Leben bei > verschleiertem Licht« ausgedrückt wird - ein vages poetisches Etwas, das zwar über den einzelnen hinausgeht und in dem er sich dennoch bequem am Feierabend breit machen kann in der Illusion, letztlich etwas unveräußerlich Besonderes zu sein« (Rolf Dieter Brinkmann 1969). Nehmen wir eine Figur wie Johannes Mario Simmel in der Literatur. Warum zieht er diesen schon mythisch zu nennen­ den Haß der weniger erfolgreichen Schriftsteller auf sich? Romanfabrikanten wie Kempowski, wie Härtling, wie Bienek, wie Wohmann und Walser emigrieren doch nur deshalb in die »Hohe Literatur«, in der sie so wenig verloren haben wie Simmel, weil sie nicht so lebendig schreiben können wie der Stammler von Monte Carlo. Da ist soviel Heuchelei in dem Gewerbe der Herren Karasek, die sie nur notdürftig hinter ihrem volkserzieherisch dünnen Zeigefinger verstekken können. Hier verkommt der aufklärerische Impuls zur Nebelwerferei, und zwar wissentlich, und also zynisch, die

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mit derjenigen der »amerikanischen Fernsehindustrie« ganz gut mithalten kann, auf ihre Weise, hochdotiert auch sie. Sehen die Herolde der »Hohen Kunst« vom Himmel hoch durch ein Werk wie DALLAS vielleicht am Ende nur ihre Pfründe gefährdet, die Subventionen des Staates etwa, die da von biederen Kultusministerialbeamten ins Blaue hinein vergeben werden auf den bloßen Verdacht hin, den die Herren vom Schlage Hellmuth Karaseks immer wieder auf den neuesten Stand bringen müssen, mit dem »Faust« als Schlagetot auf dem Panier? Ja, DALLAS reißt die Zwei-Klassen-Gesellschaft der Kultur in Westdeutschland auf, und das ist den Intellektuellen natürlich peinlich. »Sagt es niemand, nur dem Weisen, weil die Menge gleich verhöhnt.« Ein schönes Wort, ein wahres Wort! Nur: was sich dahinter an unredlichem Qualm verber­ gen kann, das wissen diese hochdotierten Meinungsmacher doch wohl am besten. Deshalb: Nieder mit DALLAS! Und für dieses Bannwort vom Fernseher herab dann noch fix - sagen wir - tausend Eier aus dem Steuertopf in die Tasche gesteckt. Vor der Kamera mit »Faust« gewedelt und hinter der Kulisse die Faust gelockert zur offen hingehaltenen Hand. Wen überkommt angesichts dieses widerlichen KulturHandels nicht Sehnsucht nach der Geradheit und Ehrlichkeit eines J. R. Ewing? Hand aufs Herz, Mädel & Jungs: ich habe den Eindruck, wir müssen samt und sonders etwas herunterstylen, den Gänsen näher als den Albatrössern, wie wir leider nun einmal sind. Und warum nicht einmal eine Chance dem Lächeln? Denn es kann sich ungeheuer lohnen. Das Münchener Institut für angewandte Psychologie hat eine Langzeitstudie erstellt. Danach steigt nach dem Genuß von DALLAS beim Deutschen Menschen die »Bereitschaft zur Zärtlichkeit um durchschnittlich 17 Prozent und die Dauer des Liebesspiels um 6 Prozent«. Wohlgemerkt: das sind nur Durchschnittswerte!

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Nacht über Southfork

Blauschwarz senkt sich die texanische Nacht auf die Ranch. Der Abendbrottisch ist abgedeckt, der Verdauungs-Whisky mit den letzten Artigkeiten im Familienkreise herunterge­ spült. Jetzt werden die Schlafzimmer aufgesucht. Zeit für J. R., zu seinem Stetson zu greifen und käufliche Liebe in Dallas zu suchen. Sue Ellen giftet dem davoneilen­ den Gatten nach: »Welche Nutte ist denn heute dran, mein Schatz?« J.R., schon in der Tür, kehrt seinen Bassetblick noch einmal zurück und stellt beinahe milde fest: »Das ist doch wohl egal, Liebling. Jedenfalls eine, die besser ist als die, die ich hier im Hause habe.« Die texanische Nacht blauschwarz über Southfork. Leise rollen die Pneus der Limousine in der Toreinfahrt der Farm. Die Frustration legt sich verhärmt ins Ehebett. Und Kater drehen rastlos ihre Runden.

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Dallas-G'stanzl

Warum denn nicht reimen, wenn es der Wahrheitsfindung dient?

Als Betthupfer wählen die zwei Grazien Likör. Sue Ellen: »Die Ewings lieben allein die Macht!« Doch da erscheint Bobby, ganz frisch vom Friseur, und Pam lispelt glanzäugig leise: »Gut Nacht!«

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Die Not des Stillstands...

Über die Southfork-Ranch spannt sich ein ungetrübter blauer Himmel. Pam in einem weinroten Trägerkleid: fast nackt die schönen teuren Kugeln. Draußen - hier in Deutschland arktische Kälte. Es ist Januar. Auch hier der Himmel blau, aber seidiger, dünner. Schneemassen bringen in den Groß­ städten Süddeutschlands den öffentlichen Verkehr zum Erlie­ gen. Für eine Fahrt von Salzburg nach München werden Zeiten von 18 Stunden gemeldet. In Florida vernichtet der Frost Teile der Zitrusplantagen. 75 Städte, vor allem im mittleren Westen derUSA, melden die niedrigsten Tempera­ turen, die dort je gemessen wurden. Die Zahl der Personen, die unmittelbar in Schnee und Kälte zu Tode kamen, wird mit 130 angegeben. Und Pam fährt im offenen schwarzen Mercedes mit einem weinroten Trägerkleid weich über die breiten Straßen von Texas. Aber wer möchte tauschen mit ihr, trotz der Hundekälte hier?

Nachwuchs-Sorgen im Hause Ewing. Pamela Ewing, gebo­ rene Barnes, ist schwanger, doch der Fötus ist von einer Erbkrankheit bedroht, die in der Linie ihrer väterlichen Familie grassiert. Die Logik dieser Krankheit ist vertrackt; sie bricht erst ein Dreivierteljahr nach der Geburt aus (wenn überhaupt). Das persönliche Problem von Pam scheint groß genug: Soll sie ein Kind austragen - das zudem von ihrem Mann Bobby dringlich gewünscht wird -, um es nach einem Jahr mögli­ cherweise wieder zu verlieren? Eine pathetische Situation für eine Frau. Darüber müßte mit der Familie gesprochen wer­ den, zumindest mit Ehemann Bobby. Doch wir befinden uns in DALLAS, und da geht eben oft 13

das Allereinfachste nicht. Denn es tritt von gleicher Schwere zu dem Krankheitsfall eine familienpolitische Komplikation hinzu, eine Blutrache ä la Texas gleichsam, nicht mehr brachial, sondern heimtückischerweise im Genetischen aus­ getragen. Gesetzt: Pam wird Mutter, das Kind stirbt; gesetzt weiter: J. R.'s Sohn John Ross, der Stammhalter der Ewings, der erst ein paar Wochen alt ist, würde von der gleichen Krankheit befallen (denn wir wissen ja, daß nicht J. R. der Vater ist, sondern Cliff Barnes, Pams Bruder und Intim-Feind der Ewings): dann flöge das ganze heikle Ethos - der Sippenstolz - der Ewings auf. Deshalb muß Pam sich allein durchringen zu einer Ent­ scheidung, und deshalb wissen wir Zuschauer mehr von ihrer Seelennot als Bobby, der Gatte. Mit ihren Überlegungen beweist Pam indes, daß sie jetzt eine Ewing geworden ist. Gerade darum darf sie sich mit den Ewings, selbst mit Bobby, nicht beraten, muß ihr Barnes-Geschick und -Erbe (die Krankheit) und die erworbene Clan-Ideologie der Ewings in ihrer Spannung allein aushalten.

Die Fachzeitschrift »Geburtshilfe und Frauenheilkunde« berichtet in diesen Tagen von extrakorporalen Befruchtun­ gen, die an der Universitäts-Frauenklinik in Erlangen zum erstenmal in Deutschland an vier Frauen vorgenommen wurden. Die Lokal- und die Boulevard-Presse bringen große Aufmacher mit der Ankündigung der »Retortenbabys«. Im April sollen sie ans Licht treten.

Ewing-Oil stagniert. Der Erbfeind des Clans, J. R.'s Schwager und sein Stellver­ treter bei der Vaterschaft des eigenen Sohnes, Cliff Barnes, sitzt an den Hebeln der einflußreichen texanischen Umwelt­ organisation und dreht den Ewings alle Möglichkeiten für

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weitere Bohrungen im Land genüßlich mit vorgeschobenen »grünen« Argumenten ab. Da wagt J. R. den großen Sprung nach vorn, ohne jede Absicherung geht er aufs Ganze. Hinter dem Rücken der Familie nimmt er bei einem Banken-Konsortium einen 100Millionen-Kredit auf. Als Sicherheit dafür muß er das Familien-Heiligtum und mütterliche Erbe, die Southfork Ranch, verpfänden. Das Geld soll in Erdölbohrungen an der »ostasia­ tischen Küste« investiert werden. Ein Land wird nicht eigens genannt. An welches Land aber mag wohl der amerikanische Fernsehzuschauer denken, wenn auf diese Region angespielt wird? Da braucht man keine Phantasie und keine HarvardBildung, da braucht man auch nicht zwischen den Zeilen zu schauen. In diesen Tagen lacht J. R. dieses brutale Lachen mit den gespannten Lippen vor der schneidenden Zahn-Phalanx, dieses Lachen, da wie ein Faustschlag in den Magen wirken kann - er lacht es häufiger als sonst, zu jeder Gelegenheit, nervös verzerrt, beinahe schon hysterisch.

In den deutschen Kinos läuft die Gag-Klamotte »Piratensen­ der Power Play« an, mit Mike Krüger und Thomas Gott­ schalk. Der Werbespruch: »DALLAS ist nicht alias, drum ab ins Kino!« Auch dies ein Schrei in der Not des Stillstands.

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... und seine Überwindung

Der Zeiger der Zeit-Maschine springt, wie es uns beliebt. 16. April '82. Das erste deutsche »Retortenbaby« ist in Erlangen zur Welt gekommen. Der Junge mit dem lautmaleri­ schen Namen »Wimmelbacher« wiegt 4150 Gramm und ist mit 53 cm überdurschnittlich groß. Der Leiter der Klinik, Karl-Günther Ober, berichtet, die »extrakorporale Befruch­ tung« sei in vier weiteren Fällen geglückt. Und allein in Erlangen stehen 560 Frauen auf der Warteliste. »Anders als in der englischen Öffentlichkeit«, schreibt die FAZ am 19. April, »wo heftige Auseinandersetzungen über die ethischen Fragen dieses Verfahrens ausgetragen werden, scheint man hierzulande bisher diesem Gesichtspunkt eine allzu große Bedeutung nicht beimessen zu wollen. Auch die katholische Kirche zeigt sich zurückhaltend.«

Während Victoria Principal (»Pam«) laut Drehvertrag dan­ kenswerterweise eine Schwangerschaft untersagt ist, hat die DALLAS-Produktionsfirma Lorimar Charlene Tilton (»Lucy«) in diesem Punkt freie Bahn gelassen, wohlweislich. Denn in ihrem Fall setzt man bei Lorimar mit verbissener Hoffnungs­ wut auf die alte Bauernregel, daß sich die Gesichtszüge einer werdenden Mutter mitunter veredeln. War es die irrwitzige Regie der Liebe oder steckte am Ende ein dicker Scheck von Lorimar dahinter (»Retortenehe«), als dieser Tage die Nach­ richt um den Erdball ging, Charlene Tilton habe sich verliebt, verheiratet und erwarte sogar schon ein Baby? (Ich wette: beim Druck dieser Zeilen ist ihre Ehe wieder im Teich.) Die drei Regisseure der Serie wollen jedenfalls dieses (von ihnen wahrscheinlich inszenierte) Wunder der Natur für den weiteren Gang ihrer Geschichte nutzen. Mit souveränem Zugriff soll das schnöde Leben gleich zur Kunst geläutert werden: von der Hand in den Mutter-Mund. 16

Wir werden sehen. Und die Maskenbildner können im Hollywood derweil ihre geschulten Hände in den Schoß legen, den eigenen natürlich, schon aus rechtlichen Grün­ den.

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Vorabend-Countdown

Sue Ellen wirft heftig die Wellen beiseite: Was raschelt gerade im Ehe-Stroh? Frau Pam dehnt sehnend den Busen ins Weite, ganz Mandelauge, keusch sowieso. Miß Ellie lächelt vom Sofa milde, so 'ne Seele von Mensch, klug und schön. Der Latzarsch von Lucy füllt endlich die Runde, die Damen taxieren die Überpfunde. Was tun sie, die Guten? Was schlägt jetzt die Stunde? Sie warten auf Whisky zum Abendklön. Doch Viehbaron Jock steht noch unter dem Föhn.

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Das sphinxhafte Lächeln des Matriarchats

Der Februar geht zu Ende. Nach Monaten meldet sich eine einstmalige Geliebte von mir am Telefon. Sie hätte Lust, sagt sie, sich mit mir wieder einmal zu treffen. Ich freue mich, wiedereinmal von ihr zu hören. Die lange Zeit der Trennung hat mein schlechtes Gewissen gelöscht und die Bitternis von Vorwürfen auf den Boden des Vergessens sinken lassen. Gut, treffen wir uns. Aber es ist DALLAS-Tag heute. Deshalb bitte ich Kathrin, den Abend bei mir zu verbringen, ganz unzweideutig; ich warne sie vor, daß ich von 21.45 bis 22.30 mir einen Fernsehfilm anschauen müsse. Kathrin hat keinen Fernsehapparat, und sie kennt die Serie auch nicht, denn sie studiert an der Universität. Aber mein Schwärmen überzeugt sie. So will sie sich den Film mitan­ schauen. Für mich - nebenbei - eine gute Probe, inwieweit die Serie auf einen, der ihr noch nicht verfallen ist, wirkt, inwieweit diese einzelne Folge, aus dem breiten epischen Gewebe gerissen, überhaupt verständlich oder gar spannend sein kann. Eine hervorragende Sendung heute. Die dramaturgischen Lunten, die am 12. Januar, also vor sechs Wochen, gelegt worden sind und angezündet, erreichen jetzt den Sprengkör­ per. Krachend geht es nieder, nieder auf das Haupt von J. R., der noch nie so erbärmlich und hilfloses Opferseinereigenen Intrigen war. Die Bohrungen im Fernen Osten verzögern sich wegen eines Unwetters vor der Küste. Der Tag, da die Rückzahlung des Bank-Kredits fällig ist, rückt näher. Die Bankiers lassen sich nicht vertrösten. Dunkle Schatten über der Southfork-Ranch, die J. R. ohne Wissen der Eltern verpfändet hat. Bobby deckt die heimli­ chen Machenschaften des Bruders auf und weiht Jock und die erstarrende Miß Ellie ein. Auch Jocks sentimentale Appel le an die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit den Banken kön­ 19

nen nichts mehr retten. Southfork soll unter den Hammer. J. R. ist wieder ein kleiner Junge geworden, sein Gesicht zeigt die störrische Melancholie eines Bassets. Sue Ellen, die kostbare Drohne, liegt mit sphinxhaftem Lächeln auf dem Ehebett und weidet sich an der Hilflosigkeit des verhaßten Gatten: ein Ehe-Martyrium von Strindbergscher Bosheit und Verlorenheit. Szenenwechsel. Miß Ellie läuft die Weite der Ranch ab, mit wehem Mund. Sie wird zur Retterin der Firma aus der Bedrängnis. Sie gibt das Weideland für Bohrungen aus der Hand. Als sie dann ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hat, verflucht sie ihren ältesten Sohn (»Das werde ich dir nie verzeihen, hörst du: n/e!«), und wenn man sie das sagen sieht, die kleine resolute Frau, glaubt man es ihr. Sie muß für den Sohn das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatnie auf Southfork bohren zu lassen -, brechen. Die Liebe zum Land, die Gebundenheit an das eigene Herkommen, das vom Tod besiegelte Vermächtnis des Vaters - das wiegt schwerer als die Bindung an das eigene Kind. Das Lächeln der Clan-Mutter hat an Glucken-Wärme verloren und an persönlichem Profil gewonnen: als Abstand von der männlichen Härte und macchiavellistischen Rück­ sichtslosigkeit, die sich die Ewings schuldig zu sein glauben. Der Fluch der Mutter und Sue Ellens Lachen, das aus dem Geheimnis ihres J. R. untergeschobenen Sohnes kommt: die stille Macht der Frauen reduziert den virilen Kraftprotz J. R. auf das Format eines Kaspers. Daß er auch jetzt noch einen Triumph verbuchen kann - Cliff Barnes ist ihm auf den Leim gegangen und gibt seinen Posten bei der Umwelt-Aufsichts­ behörde von Texas auf - nimmt sich gegenüber dem unver­ rückbar zähen Widerstand der Frauen wie der lächerliche Sieg in einem Pfadfinder-Wettkampf aus.

Szenenwechsel. Gegenüber der kämpferischen Miß Ellie und der dämonischen Sue Ellen fällt die schöne Pam heute abend 20

merklich ab. »Ich kann mit ihr nichts anfangen«, sagt Kathrin, schränkt aber mokant lächelnd ein: »Ich weiß, daß das dein Typ ist.« Nein, wir wollen nicht aufrollen, was zwischen uns war. Aber die Sendung hat ihr gut gefallen. Obwohl sie die Zusammenhänge zum Teil nur ahnen konnte, fand sie »Die Entscheidung« spannend und amüsant. Vielleicht nur ein Liebesdienst von Kathrin, der mich bestechen soll? Nach meinem Besuch in DALLAS aber bin ich gelöst. Die Zweifelsucht hat keine Chance mehr. Dann nehmen auch wir unseren Countdown-Whisky ein und suchen anschlie­ ßend die hinteren Gemächer auf. Irgendwie geht es nicht mehr so recht mit uns. Während wir miteinander schlafen, schiebt sich das Bild von Pam vor mein geweitetes Auge in jener zeitaufhebenden Sekunde. Ich wußte bis heute abend gar nicht, daß sie »mein Typ« sei. Aber man soll eben auch nichts Vergangenes mehr zum Leben erwecken wollen.

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Tele-Vision

Sich so von den Schuhkappen auf dem Bett grüßen lassen Hei! Das Alltagsgeröll um dich Cola-Dosen/Popcorn-Brösel/Zigarrenstaub und im Fernsehen das Bier an das du dich gerade hängst von der schönsten aller Frauen an die kußfeuchten Acryllippen geführt zu sehn und dann frißt ein drolliges Kleinkind dein letztes Popcorn auf und »Eine Cola für ein Lächeln« und dann das Wetter morgen: brillant! bis du vor lauter Glück über so viel Ansprache die Mattscheibe sprengst und dich in einen Berg von weißen Plastikkränzen mit schwarzen Plastikrosen träumst unter dem die letzte Ruhe lauert bei den Klängen des allerneusten Hits den die Totenschänder zärtlich abtanzen Bein an Bein wie Zaubersprüche es verheißen

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März-Geflüster

In der März-Nummer der Zeitschrift »konkret« werden BNDInterna veröffentlicht, die Dr. Hans Langemann, bis dato Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium des Inneren, in einer schwer nachvollziehbaren Gemütslage ausplaudert. Langemann erinnert sich, daß der Bundesnachrichten­ dienst ab 1963 in die Vietnam-Spionage eintrat, in heimli­ cher Konkurrenz zur CIA. Die BND-Meldungen aus Vietnam trugen den enttarnenden Stempel »Fleurop in jeder Form gesperrt«. So meldete der BND - Führungsunterrichtung Nummer 5045 vom22.Juni 1968-überden »wirtschaftlichenHinter­ grund des amerikanischen Engagements in Südostasien«: »Im Golf von Thailand sind überaus reiche Erdölvorkom­ men festgestellt worden. Obwohl diese Tatsache seit 1950 bereits der französischen Regierung bekannt war, ist die Öffentlichkeit nie darüber unterrichtet worden, da die großen internationalen Erdölgesellschaften den Kampf um die Bohr­ rechte aus naheligenden Gründen nicht zu einem Thema der Weltpolitik machen wollten. Die USA erhielten von diesen Erdölvorkommen Anfang der 50er Jahre Kenntnis. Nach Meinung der genannten Quellen (zwei thailändische Mini­ ster, General Prapas und Samarn Buravat, sowie Walter Levey; Vertreter des texanischen Ölkonsortiums, d. Red.) ist die gesamte Südostasienpolitik der USA auch im Zusammen­ hang mit ihren Bemühungen zu sehen, sich die Exklusiv­ rechte für den Abbau des Erdöls zu sichern... Inzwischen ist es 13 amerikanischen Erdölgesellschaften gelungen, von der thailändischen Regierung Konzessionen für die Ausbeutung zugesagt zu bekommen... Die Gewinne sollen 50 : 50 zwischen Thailand und den USA aufgeteilt werden.« Im April 1967 meldete EVA 102, er habe erfahren, daß inzwischen »alle Verträge zwischen amerikanischen Baufir­

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men und Südvietnamesen bis zum Januar 1971 verlängert« worden seien. »Alle Arbeitsverträge dieser Baufirmen (mei­ stens aus Texas, Madame Johnson sei an allen Firmen kommerziell interessiert) mit dem vietnamesischen Personal laufen bis Januar 1971. Man hat allgemein den Eindruck, daß sich die Amerikaner darauf vorbereiten, mindestens bis 1971 in Südvietnam anwesend zu sein. Die Verlängerung der Verträge scheint kein Zufall zu sein, sondern vielmehr eine Weisung Washingtons.« Liegt der resolut mütterlichen Miß Ellie das historische Vorbild von Ladybird Johnson zugrunde? Wer je Hollywood eine Traumfabrik nannte und DALLAS eine Seifenoper, zeigt, daß er von diesem Land nie etwas begriffen hat und wohl auch nichts begreifen will. Der kulturelle Dünkel, den Deutschlands Intellektuelle an den Tag legen, um ein anti-amerikanisches Ressentiment zu mästen und zu verschleiern, kommt uns teuer zu stehen. Mindestens die Kosten für die Agenten des BND - und die zechen und vögeln nicht billig, wie Langemann beiläufig offenlegt - könnten wir uns sparen, wenn wir endlich fernzusehen lernten. Der kluge Professor Walter Jens aus Tübingen am Neckar zum Beispiel wußte schon nach der ersten Folge von DAL­ LAS, daß die ganze Serie ein Krampf sei, und er sagte es auch als »Momos« in der ZEIT. Momos, so sollte es ein Abendlän­ der wissen, ist griechischen Ursprungs und damit etwas Besseres. In meinem »Reallexikon des classischen Alterthums für Gymnasien« von 1867 wird »Momos« als »Personification der Tadelsucht« geführt. »Er zerplatzte vor Ärger, weil er an Aphrodite nichts auszusetzen fand.« Nach diesem Blick ins ferne Alterthum weiß ich jetzt wenigstens, warum sich Professor Jens dem Anblick von Pam nicht auszusetzen wagt.

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Hit-Parade I

Eine amerikanische Frauenzeitschrift kürt den »charmante­ sten Mann« des verflossenen Jahres '81. Natürlich ist er es. Auf den Plätzen drängeln sich die Polit-Darsteller, denn 1981 war Wahljahr in den USA. 1. Larry Hagman 2. Ted Kennedy 3. Ronald Reagan

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Leiden einer schönen Seele

»Schlimmer und dem Ansehen der Vereinigten Staaten abträglicher als all die Gemeinheit, die DALLAS uns vor Augen führt, weniger kathartische als gastritische Wirkungen verursachend, ist die gemeine Machart dieses Fernsehwerks. Selten - und das will was heißen - sah man auf dem Bildschirm dürftiger konstruierte Geschichten mit schlechte­ ren Schauspielern dumpfer in Szene gesetzt. DALLAS-Intrigen sind so fein gesponnen wie Schiffstaue, DALLAS-Dialoge so sprachmächtig wie Funkwerbung, DALLAS-Erotik prickelt wie eingeschlafener Fuß. Das wächst sich zu einem einzigen antiamerikanischen Umtrieb aus.« DER SPIEGEL 20. Juli 1981

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Der 22. März 1982

Goethe wäre heuer 233 Jahre alt geworden, wenn er nicht heute vor 150 Jahren bereits gestorben wäre. Da in der deutschen Literatur derzeit nicht allzuviel läuft, ein guter Grund, Goethes Tod zu feiern. Die hiesigen Verlage schwelgten opulent im »GoetheJahr«. Die eingekauften Fest-Redner ließen es an Anstren­ gung (und Angestrengtem) nicht fehlen, aber einen neuen Gedanken wollten sie uns alle dann doch nicht verraten. Jetzt müssen wir wieder bis 1999 warten. Ein Blick in die Schriften des Alten aber schafft allemal Rat und Trost. Obwohl sein Sterbetag in diesem Jahr nur auf einen Montag fiel, hat uns der Olympier auch zu DALLAS etwas zu sagen. So besingt er als anachronistischer Zeitgenosse den dunklen Wehmuts-Blick von Pam alias Victoria Principal, die, wie alle ihre Verehrer wissen, aus Sizilien stammt. Prophetisch vor allem seine Vision des Fernseh-Zeitalters, das er in der kühnen Metapher der »Leimenwand« vorwegzu­ nehmen scheint. Wir dürfen sie wohl füglich für unsere Bedürfnisse als »Bildschirm« auf den neuesten Stand der Dinge bringen, den selbst zu erleben Goethe leider nicht mehr, wie gesagt, vergönnt war.

Sizilianisches Lied Ihr schwarzen Äugelein! Wenn ihr nur winket, Es fallen Häuser ein, Es fallen Städte; Und diese Leimenwand Vor meinem Herzen Bedenk doch nur einmal Die sollt nicht fallen!

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Dallas, go Home!

Anfang April. Wie das alternative Lebensgefühl zu einem emotionalen Anti-Amerikanismus ausartet, mit allen Zügen eines Kulturkampfes: Susanne, 23 Jahre alt, ist mit ihrem neuen Freund unter­ wegs und hat Hunger. Sie schlägt ihm vor, auf einen Sprung zu McDonald's zu gehen. Er: »Du kannst eher mit zehn Männern ins Bett gehen als einmal zu McDonald's.« Susanne bleibt hungrig. Der Freund ist Ende Zwanzig, Angestellter einer Versiche­ rung, guter Kenner, ja Fan des Deutsch-Rock, dem Rausch aus Alkohol und gut gefüllten Pfeifen gleichermaßen aufge­ schlossen, Fußballer in einer Freizeit-Mannschaft und dabei ein herzlicher Verächter Franz Beckenbauers (weil der Bayern München gegen Cosmos New York verriet). Ein ganz anderes und doch unterm Strich vergleichbares Stimmungs-Gemisch beobachte ich bei acht bis zehn Unter­ tertianern eines Erlanger Gymnasiums, denen der erste Flaüm auf der Oberlippe sprießt, der wie ein Bart gehätschelt wird. Die Stimmen sind tief, am Rande aber noch leicht brüchig. Einer von ihnen hat zu einer Abschieds-Föte eingeladen; die Familie, Bekannte von mir, verläßt die Stadt. Ich habe mich kurz vor 22 Uhr aus der Runde gestohlen, um im Nebenzimmer meinen DALLAS-Termin wahrzuneh­ men. Als ich zurückkomme von Pam und Miß Ellie und J. R. und all den Lieben, zurück in diesen Kreis der Fremden, werde ich mit mitleidig überlegenem Lächeln empfangen und dann in eine Grundsatzdebatte verstrickt. Sie wissen von mir, daß ich schreibe, daß ich frühereinmal an der Universität lehrte - alles respekteinflößende Kulturtä­ tigkeiten für sie, die zwischen uns eine fast mythenhafte Ferne legen. Aber durch meine DALLAS-Lust komme ich ihnen nicht etwa näher, sondern rücke noch weiter von ihnen ab. Jetzt soll ich ihnen - und sie meinen das grundsätzlich -

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meine Vorliebe für diese Serie erklären, nein: rechtfertigen. Sie, die ihre eigenen Gespräche unterbrechen, wenn vom Erwachsenen-Tisch literarische Brocken fallen - Botho Strauß oder Episches Theater oder Rest-Posten vom GoetheJahr -, und die sich bemühen, dann auch in das Gespräch einzusteigen: bei DALLAS hört ihre Toleranz und Lernbe­ gierde auf. Was drängt sie zu Großvater Brecht? Was lernen sie von Goethe? Sind ihnen die Intellektuellen-Monster des Botho Strauß näher als der pfadfinderhaft edle Bobby oder der kantig-maulfaule Cowboy Ray Krebbs? Doch das ist schon falsch gefragt. Denn wenn sie sich nicht verleugnen und vor mir - und den Eltern in Reichweite keine Doppel-Existenz mimen, dann kennen sie DALLAS gar nicht, haben noch keine einzige oder höchstens eine, allen­ falls zwei Folgen gesehen. So behaupten sie es jedenfalls. Was liegt da vor? Ist vielleicht das Fernsehen immer noch nicht kulturell satisfaktionsfähig für diese elitären Knaben mit ihren ausge­ fransten Jeans und den von der Auflösung bedrohten Turn­ schuhen? Doch ich bin sicher, daß sie die Öhrchen spitzten, redeten wir über eine Antigone-Inszenierung von Heyme oder Stein oder Neuenfels, die ab 23 Uhr über irgendein Abendprogramm spukt. Sagt ihnen der schöne Busen von Pam denn gar nichts, die beneidenswerte Hosenfigur von Sue Ellen, das fütternde Flittchen Lucy im College-Alter? Und die schnellen Autos? Das Idealbild einer Großmutter, Miß Ellie? Warum erfahren sie angeblich in dem perfekt inszenierten Alltags-Geschehen einer amerikanischen Millionärs-Familie nichts als einen Kulturschock? (Lebensverhältnisse, die ihnen von ihrem elterlichen Besitzstand her übrigens entschieden näher sind als mir.) Ist es am Ende diese Nähe, die sie da instinktiv ablehnen, das Normale, der Mangel an Exotik, der Ekel des Über­ drusses? Obgleich ich keine Lust verspüre, ihnen meinen Spaß an 29

DALLAS zu erklären, ja die Sucht beinahe, die mich auch jetzt gerade eben aus der Abschiedsfeier hinwegschleichen ließ in den schon halb ausgeräumten Fernsehraum des noblen Bungalows: an den Buben ist nichts auszusetzen. Sie sind freundlich, höflich, ja artig, und vor allem zeigen sie eine sympathische Offenheit, in Redesituationen, in denen meine Generation noch rote Ohren bekam, wenn sie nicht gleich lieber gemartert schwieg. So erkläre ich ihnen denn doch, daß ich ein alltagssüchti­ ger Zeitgenosse bin, der aus DALLAS authentisches Leben in Amerika innerhalbder wohlhabenden Schicht herauszulesen sucht. Ich merke, wie ich da meinerseits auf das Interpreta­ tionsschema ausweiche, das ihnen in der Schule eingedrillt worden ist - anhand von Brecht und Goethe und Botho Strauß. Ich bete also ein halbwegs seriöses Kultur-Interesse her. Aber wie soll ich ihnen denn sagen, daß es mir Pams große dunkle Augen und die Wolkenkratzer-Ästhetik von Texas und das unauflösbare familiär-politische Ränkespiel um Sex und Macht und Geld angetan haben? So wie mich jetzt, denke ich, schauen sie ihren Lehrer an, wenn er ihnen eine dieser weltfremden Lebensweisheiten vom Lehrplan eintrichtern will. Sind sie resistent dagegen? Wo bleibt jetzt ihre überlegene Moquerie? Sie schweigen mich an. Hinterher erst werden sie über mich reden. So wie wir das auch taten, damals, in der Pubertät, in stolzer Auflehnungspose und in folgsamer Unter­ werfung zugleich. Als ich mir die Bierflasche dann direkt an den Hals setze, weiß ich, was ich damit tue für sie. Aber schließlich will ich bei diesem kleinen Kulturkampf ja auch meinen Spaß haben und meine eigene Rolle spielen.

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»Schluß mit Dallas!

Das Unding ist nicht das Papier wert, das für seine Ankündi­ gung verschwendet wurde; es taugt nichts, nicht im Bösen und erst recht nicht im Guten - denn auch die Machart ist mies, die Schauspielerei unbedarft; Kostüm, stereotype Mimik, Cheese-Lächeln, Perlzähne und nichts dahinter! Kurz - schließt Euch uns an! Wir sagen: Dallas vier und Schluß! Macht Anti-Dallas-Reklame bei Freunden und Bekannten! Schreibt Protestbriefe an die ARD-Serienredaktion in Frankfurt! Und dann: Vergeßt die Ewings!« Süddeutsche Zeitung 23.Juli 1981 (nach vier Folgen von DALLAS)

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Direkteinblendung Wirklichkeit

Beim Mitternachts-Bier, das Schlenkerbein am Tresen. Keine Fragen mehr für heute. Nur schauen noch, abschauen vom bunten Schirm das Leben, bei abgedrehtem Ton. Der mit der roten 43 auf Bauch und Rücken tastet die schwarze Keule ab und nimmt sie fest in den Griff, holt zur Probe dreimal federnd in Schulterhöhe aus - beiläufig. Fast untergehend im Ritual der Vorbereitung, übergangslos vom Tändeln zum Ernst der WURF - die Kurve des harten Balls explodiert auf dem Holz und geht in tausend Lichtsplittern nieder im Jenseits der Stadionränge. Und noch einmal in Zeitlupe das ganze brutale Glück von 43 - jetzt erst gilt der Schlag im ganzen Land - und auch der Lauf um das BaseballFeld mit der Gliedersteifheit des schweren Mannes, der lieber Auto fährt. Und neben dir - Direkteinblendung Wirklichkeit - der Schwarze mit der selbsttätigen Marlboro und der fleißigen Bierdose und den Narben im Gesicht, daumentief. Weg­ schauend unter dem Floyd-Patterson-Filz auf die blinde Spiegelwand mit den Flaschensoldaten, aufgereiht zur dol­ larschweren Exekution, strengt er sich an, den Verheißungen eines freien Landes nachzukommen. Und die Sängerin in der Box singt dich an, ja dich, mein Freund, als ein BABY, auf der zweiten Silbe lang gezogen. Warum zweifelst du an dir? DU BIST ES! Und durch die Tür der Bar siehst du einen kleinen alten Chico mit Baseballmütze zwei hohe braune Kartons unterm Kinn einherbalancieren, vorbei, und du wünschst ihn dir noch einmal im Replay bei verdoppeltem Tempo und im Rückwärtsgang und mit versteckter Stufe. Und der da jagt seine Hüfte in den Pinball-Automaten rein, um ein Freispiel zu verlieren. Und drei Uhren, Firmengeschenke von drei Brauereien, sind einander spinnefeind und zeigen alle eine falsche Zeit 32

an. Was keinen kümmert. Der Schwere mit der roten 43 auf Bauch und Rücken hat derweil seinen Lauf um die Base zum zweitenmal abgewakkelt. Jetzt endlich befreit ihn die Kamera aus derZeitlupe und läßt ihn die Arme hochreißen. Die Keule achtlos im Sand. Der kleine Ball längst vergessen im Gefuchtel der Menge. Die Marlboro macht es jetzt schon fast ganz allein, bis aufs Anzünden. Das Bier läuft von selber aus der Dose. In der Musikbox hat die Rhythmus-Maschine längst die Regie über­ nommen. Der ausgespielte Flipper schnarrt eigenbrötlerisch vor sich hin. Hat da einer was gesagt? Die 43 erstarrt in der Pose des Triumphes beim nächsten Werbespot, mit abge­ drehtem Ton. Ein aktiv sprühender Mittdreißiger zeigt dir am Tresen drohend das authentische Leben in einem hausrats­ versicherten Eigenheim bei Erdnußbutterbrötchen.

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Szenen einer Tele-Ehe

20. April. Führers Geburtstag (Pst!) In drei Tagen wird Voll­ mond sein. Der Tierkreis tritt in das Zeichen des Stiers. Das Ehe-Match zwischen J. R. und Sue Ellen erreicht einen weiteren Höhepunkt. Sue Ellen hat ihr Ego von einem Psychiater aufpäppeln lassen (sie hat jetzt ihren Sohn John, den kleinen Bastard, seelisch »angenommen«), und mit ihrem smarten Cowboy-Lover Dusty Farlow im Rücken, der - o Glück! - ebenfalls Texaner und schwerreich ist, wagt sie den Aufstand gegen ihren Herrn. Ihre Taktik ist perfide: vor der Familie, beim abendlichen Drink im Salon, mimt sie die liebende Gattin, die mit weichen Bewegungen den verdutzten Kant-Kopf J. R.'s umschmeichelt. Oben dann, im Ehegemach, verkündet sie lächelnd den sexuellen Streik. J. R. ist verwirrt. Wieder diese Hundeaugen; der zornige Bub, der sein Spielzeug nicht bekommt. Doch Sue Ellen ist nicht gemein genug, ihr Racheglüst ohne letzte Delikatesse. Rache muß kalt genossen werden. Sie aber verplappert sie im voreiligen Triumphgefühl: sie wolle nach außen die perfekte Ehefrau spielen, um sich bei der Scheidung in eine gute rechtliche Position zu bringen. J. R. weiß umgehend Rat: »Du kannst sofort gehen. Aber John bleibt hier!« Spricht's, setzt den Stetson aufs Haupt und geht von dannen, bei einer neuen (blonden) Favoritin downtown sexuellen Trost zu schöpfen - für 200 Dollar in den Ausschnitt. Sue Ellen gibt nicht auf. Sie setzt einen Privatdetektiv auf die Fährte ihres Nacht für Nacht aushäusigen Mannes, um bei einer Scheidung John Ross zugesprochen zu bekommen. Das ist der Krieg. J. R. lächelt wieder verdächtig oft. Jetzt ist er in seinem Element. Er läßt die Puppen tanzen, bis hinauf zum Sheriff. »Ein Telefonat, ein Whisky, ein Pfiff durch die Zähne - so besiegelt oder unterläuft J. R., was bei unserei-

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nem eben den Amtsweg geht« (Corona Hepp). Alles hat seinen Preis, und keiner in Dallas kann mitbieten, wenn J. R. Ewing den Einsatz erhöht. Der Privatdetektiv wird gekauft, er fälscht seine eigenen Unterlagen. Heute abend nun will Sue Ellen im trauten Familienkreis die Bombe hochgehen lassen, die Beweise für J. R.'s Lotterle­ ben auf den Tisch legen und ihren Entschluß zur Scheidung verkünden. Es ist höchst raffiniert, wie Leonard Katzman das Tribunal des Familiengerichts inszeniert. Ich lerne in dieser Folge etwas über die Regeln der amerikanischen Diskretion, der schonenden Höflichkeit, die mir auf meinen Reisen in den USA immer gutgetan, die mich aber stets auch untergründig beunruhigt hat. Wo nehmen die Menschen dort diese Hal­ tung her? Es ist mehr, da war ich mir immer sicher, als Verstellung, es ist aber auch weniger als »Haltung«, am ehesten der gutbürgerlichen Lebensregel »Darüber spricht man nicht!« vergleichbar wohl. J. R. setzt diese Diskretion vor der Familie meisterhaft als Kampfmittel ein. Er zelebriert sie mit beinahe höfischer Artigkeit. Unter dem Vorwand, die Eltern schonen zu wollen, sagt er dabei gerade doch jenes eine Reizwort zuviel, das die Eltern nun die Ohren spitzen und auf Klärung dringen läßt. J. R. windet sich gekonnt, um sich Wort für Wort das Skandalon seiner Ehe entreißen zu lassen, mit dem sicheren Trumpf der gezinkten Papiere des Privatdetektivs im Rücken, auf die Sue Ellen ihr Spiel aufgebaut hat. Je vollendeter J. R. seine Rolle als guter, höflicher Sohn spielt, vor den atemlos lauschenden Eltern, vor Pam und Bobby, um somänadenhafter fällt Sue Ellen danach aus ihrer Rolle. Sie schreit, tobt, trommelt mit den Fäusten: sie vergißt sich, und damit kann sie sich nach den Gesetzen der familiären Dezenz allerdings vergessen. Keiner glaubt ihr mehr jetzt, selbst der gerechte Bobby nicht, auch nicht die sanfte Pam. Sue Ellen hat die Form gebrochen, und das scheint disqualifizierender noch als der Verlust ihrer Beweise für J. R.'s eheliche Untreue.

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Mit der heilen Familie im Hintergrund, ganz besorgter Ehemann, kann J. R. zum Telefon greifen und einen Arzt alarmieren: seine geliebte Gattin habe soeben bedauerlicher­ weise einen Nervenzusammenbruch erlitten. Keiner sieht es von der Familie, nur die Millionen Fernsehzuschauer in der westlichen Welt, wie J. R. dabei seine Zahnreihe zu dem diabolischen Grinsen entblößt. J. R. und Sue Ellen, denke ich, abschaltend: mit dem Charme von Piranhas wedeln sie umeinander, jede Geste ist falsch, Lug und Trug jedes Lächeln. Der abgründige Haß und die zähe, klebrige Ausweglosigkeit einer Ehe, die zu einem Kampf um den besseren Rechtstitel geworden ist. Die Welt hat die Elastitzität einer Gummizelle angenommen für die beiden, aber sie wahren die Dehors, zu denen sie Reichtum und gesellschaftliche Stellung verpflichten. Ich habe mehr gesehen heute abend als eine Lektion in angewandter amerikanischer Familiensoziologie. Irgend etwas hat sich in meinem Kopf, zuschauend, mitleidend, geklärt heute abend. Jetzt trinke ich erst mal ein Bier, und dann rufe ich doch noch einmal an.

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Dallas-G'stanzl

Blaugespült blickt treu Vater Jock in die Runde der Lieben,vom Black & White leicht besoffen Da bringt ein Vormann der Ranch die Kunde ein neuer unehelicher Sohn sei eingetroffen »Gib ihm die Jungstiere und laß ihn gewähren!« Miß Ellie verdrückt auf die Schnelle drei Zähren

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Erinnerung an Tricky Dicky

Später April. Heute war wieder eine Scharnier-Sendung: dramaturgische Leimruten, vor Wochen beiläufig ausgelegt, haben einen neuen Höhepunkt der Handlung angezogen mit weitausgreifenden Folgen für die Zukunft. Zu dieser Kulmi­ nation der Handlung haben vier bis fünf Sendungen hinge­ führt, und es wird ebenso viele Folgen brauchen, bis sich die hohen Wogen von heute wieder geglättet haben und dann als Intermezzo eine beinahe handlungslose, panorama-artige Ruhe-Nummer eingelegt wird, mit Sonne am SwimmingPool und den Ewing-Damen in Bikinis als schäferpoetische Beruhigung der Seh-Nerven. Heute also: Cliff Barnes, nach seinem Desaster mit der Kandidatur für den Senat, gewinnt bei der Staatsanwaltschaft wieder festeren Boden unter den Füßen, das heißt für ihn: er wittert am Horizont eine Möglichkeit, den Ewings neuerli­ chen Kampf anzusagen. Gewiß, Barnes ist vom Typ her der ewige, der geborene Verlierer, der von Ehrgeiz zerfressene, außengelenkte, ressentimentgeladene underdog. Aber sagte man das nicht auch von seinem ebenso unsympathischen, charakterlich ähnlich gewirkten Anwaltskollegen Richard M. Nixon, genannt Tricky Dicky? Einmal, wenn es den Sternen gefällt, kann ihr unermüdli­ ches Bohren, ihr masochistisches Durchhaltevermögen, die selbstachtungslose Angriffslust Erfolg haben. So sehr man einen Mann wie Barnes verachtet, so wenig darf man ihn auch nur einen Augenblick lang unterschätzen. Vielleicht gehört gerade das zu seinen Listen: daß er sich so weit zum Objekt des Ekels erniedrigt, bis man seiner selbst als Gegner überdrüssig wird und, angewidert, von ihm abläßt, einen Moment nur, der ihm genügt, entscheidend zuzuschlagen, mit der enthemmten Aggressivität seiner gedemütigten Seele. Folgender Fall: Barnes wird in der Staatsanwaltschaft die Akte eines ungeklärten Falles zugespielt: über das Skelett 38

eines Mannes, das man vor kurzem auf dem Boden der Southfork-Ranch bei Ausschachtungsarbeiten gefunden hat. Barnes kniet sich mit der ganzen Energie seiner beleidigten Existenz in die Sache hinein. Mit erstaunlichen Anfangserfol­ gen. Recherchen unter alten Cowboys und Ranchern fördern zutage, daß der Tote Hutchinson McKinney sei, bis 1952 Vorarbeiter auf der Ranch, ehe es - kurz nach dem Wahlsieg des Republikaners Eisenhower über Adlai Ewing (!) Steven­ son, den man auf der Ranch mit einem vierzehntägigen Besäufnis feierte - zu einer Auseinandersetzung mit Jock Ewing kam. »Wenn du morgen noch auf der Ranch bist, knalle ich dich abl« soll Jock seinem Vormann dabei ins Gesicht geschrieen haben. Barnes stößt nach, läßt das Gelände absuchen und findet in der Nähe des Platzes, wo das Skelett vergraben war, einen Revolver, als dessen Besitzer sich Jock Ewing bekennen muß. Mehr erfährt der Zuschauer für heute nicht. Wie wird es weitergehen? Ich bin mir sicher, daß Tricky Cliffy selbst mit seinen so guten Karten auch dieses Spiel wieder verliert. Natürlich traue ich dem nobel gewordenen, silberhaarigen Rauhbein Jock zu, daß er seinen Vormann umgelegt hat, aber ich traue Barnes nicht zu, daß er das je wird beweisen können: so wenig wie seine Vaterschaft bei John Ross Ewing III. Denn nicht nur medizinische Wissenschaftler sind käuf­ lich, sondern auch die Justiz (zu schweigen von der texani­ schen Polizei, die J. R. mit Dollarscheinen aus der Westenta­ sche zu ihrer, seiner Pflicht ruft). Über diese Prognose wird mir mit einemmal deutlich, warum die Serie DALLAS heißt, in Dallas spielt: Dallas, die Stadt, in der am 23. November 1963 der Präsident John F. Kennedy ermordet wurde, ist ein traumatischer Ort im amerikanischen Bewußtsein. Auch dieser prominente Mord hat bis heute keine eindeu­ tige und überzeugende Aufklärung gefunden. Lee Oswald 39

erschoß Kennedy, Jack Rubin erschoß Lee Oswald, Jack Rubin starb in der Haft, wie? Wir wissen ein paar Namen, aber wir wissen keine Zusammenhänge, bis heute. Dallas: das ist der Ort des Schweigens, des wissentlichen Unwissens. Dallas: das übertrifft selbst (Pardon, Professor Jens!) den vergleichsweise gemütlichen Selbstzweifel des Sokrates: Sie wissen, daß sie nichts wissen und nichts wissen werden, und sie wissen auch, warum das so ist, so sein muß. Ein Mann wie Richard M. Nixon konnte zum Präsidenten gewählt werden in diesem Land (und wiedergewählt), aber Kennedy, sein siegreiches Pendant bei der 60er Wahl, reich wie die Ewings, erfolgsverwöhnt, konnte auch als Präsident erschossen werden ohne Tataufklärung. Tricky Dicky sürzte dann über Watergate. Bei diesem vergleichsweise mittello­ sen Emporkömmling stieg mit letzter Anstrengung die ameri­ kanische Justiz gerade noch durch. Kennedy aber fiel in Dallas, rätselhafter als Achill vor Troja. In seinem Trauerzug damals - wir erlebten es am Fernseher mit - das ungesattelte schwarze, schwer in eine gerade Linie zu bändigende Pferd, das die herrenlos gewordene amerikanische Armee verkör­ perte - ja, das sind mythische Dimensionen, hier waltet wahrhaftig der uneinsehbare Ratschluß von Göttern - und jeder Zuschauer von DALLAS weiß es, auch der Sozialhil­ feempfänger in der Bronx weiß es, von den New York Islands bis zu den Red Wood Forests weiß es ein jeder: diese Gottheiten haben nicht 99 Namen, sie haben nur einen, und den kennt jedes Kamel: die Gottheit lebt, heißt und ist »DOLLAR«. Goldstaub auf den grünen Noten, die sie, für die das schwarze Pferd hinter dem Katafalk regellos tänzelte, hier in Westdeutschland, beim Besiegten, beim Verbündeten, beim Konkurrenten, auf den Bahnhofswechselstuben der Städte samstagnachts eintauschen, um noch ein Bier zu haben und ein Fräulein. Nein, Cliff Barnes, so gut es aussieht wieder einmal fürdich im Augenblick (und du blühst richtig auf mit dem Charme eines Nußknackers): nein, ich bin sicher, daß du auch 40

diesmal zweiter Sieger sein wirst, ob Jock den McKinney nun umgebügelt hat oder nicht. Solange die Ewingschen Ölquel­ len sprudeln, in Texas und im »Fernen Osten«, wirst du unterliegen. Das Stichwort für deine große Rolle in der Geschichte heißt Betriebsunfall, heißt »VIETNAM«. Wo liegen eigentlich meine Sympathien, wenn ich diese Schicksals-Symphonie der westlichen Welt mir anschaue dienstags zwischen 21.45 und 22.30? Wo liegen sie jetzt, danach, beim Schreiben? Beim Schreiben. Die Hände: auf den Tasten, nicht im Schoß. Hände, keine geballten Fäuste. Meine Hände, allein, beim Tuckern des Ölöfens, denn wir haben noch einmal einen Kälteeinbruch Ende April.

Ach, DALLAS ist wundervoll, mindestens so schön wie das Leben. Während Jock Ewing unter Mordverdacht gerät: was treibt da sein liebend Weib? Flößt Miß Ellie ihrem bedrängten Gatten Tröstliches ein? Tupft sie ihm den Schweiß aus den Kratern seiner Stirn? O nein, sie kämpft, die Ur-Mutter der texanischen Landschaft, gegen den Bebauungsplan des Mimosa-Parks, sie hält das Banner der Landschaftsschützer hoch - und verknallt sich ein wenig dabei in ihren Gegner, den Baulöwen. Aber auf Miß Ellie ist Verlaß. Für Ahorn und Schlehen im Mimosa-Park wird sie jeder Anfechtung ihres Fleisches widerstehen. Ich nehme jetzt noch jede Wette an: kein neues Hochhaus, und Miß Ellie bleibt doch sauber. Und meine Pam? Sie war heute wieder bezaubernder denn je (eierschalenfarbenes Kostüm mit dunkelbrauner Borte über dem herrlichen Birnenwuchs). Nachdem ich aufatmen konnte, daß ihre Liaison mit BeeGee Andy Gibb zu Ende gegangen ist (sie hat ihn verlassen!), muß ich nun von einem Techtelmechtel mit Frank Sinatra lesen. Aber man weiß ja, was diese geilen Klatsch-Journalisten einem alles in die Hosen schieben, wenn die sich übereinen attraktiven Hintern spannen.

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Alle Wetter!

Kalt und feucht ist es immer noch bei uns, Mitte Mai. Ausgerechnet die Eisheiligen werden - ab morgen - eine vorsommerliche Wärme in unsere Breiten tragen. Woher ich das weiß? Natürlich von der »Wetterkarte«. Beglaubigt aber hat die frohe Botschaft Peter Hussing, der Superschwerge­ wichtler aus dem Siegerland (Branchenname »Bär von Brach­ bach«), der in diesen Tagen um den Weltmeister-Titel in München boxt. Heute, nach seinem siegreichen Kampf im Viertelfinale gegen einen Kanadier, litt Hussing, der als extrem wetterfühlig gilt, unter dem Umschwung der Witte­ rung, vielmehr seiner Ankündigung. Hussing behielt recht. Der Beginn des Sommers '82 läßt sich auf den 12. Mai datieren. Es ist der Tag des Heiligen Pankraz, seines Zeichens erster Eisheiliger sowie Nothelfer. Ohne jeden Übergang brach mit diesem Tag eine hochsom­ merliche Hitze herein, die sich am Tag der »Kalten Sophie« auf Werte zwischen 24 und 28 Grad steigerte. Mit zwei, drei Griffen verwandelten sich die Frauen wieder zu Lustwesen der Straße. So straff beulten die Baumwollhemdchen in den Fußgängerzonen, auf den Promenaden der Parks, daß mir keine Erinnerung an das neue Farben-Diktat der FrühlingsSaison geblieben ist. Ich memoriere für diese subtropischen Eskapaden der Eisheiligen - der heißesten dieses Jahrhun­ derts - lediglich das schön gedoppelte Beuteltier. Gar nicht gut bekam die Hitze Peter Hussing. Seinen nächsten Kampf verlor der brave Mann - der Eisheilige Bonifaz tat gerade Dienst - sang- und klanglos. Der Traum vom Titel ist dahin. Mit Bronze nimmt der 34jährige seinen Abschied vom Ring. Bis zuletzt hatte man immer noch auf seinen großen Durchbruch gehofft. Aber vielleicht waren für den Fehlschlag Turbulenzen in der Atmosphäre verantwortlich, für die allein der Peter Hussing eine Antenne hatte. 42

Süchtig

Statt eines Werbespots Er war total betrunken. Er saß vor der erleuchteten Skala des Zigarettenautomaten und war mitten in einen Wildwest-Film geraten: der Marl­ boro-Cowboy verdient sich mit schwieligen Rothhändeln für Eve hart die Golddollars einzeln, während Peter Stuyvesant locker seine Ernte einfährt und dafür auch noch zum Lord von Overstolz ernannt wird. Er war total betrunken, als er da seinen Film vor sich ablaufen sah.

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Wort zum Dienstag

Ein deutscher Christenmensch bekennt Verlegenheiten: »In der einen oder anderen Verlegenheit werde ich wohl auch wieder in diese Serie hineingucken, von der ich denke, daß sie so ziemlich das mieseste, verkommenste Stück Fernsehen ist, das uns seit langem auf den Bildschirm gekom­ men ist.« epd/Kirche und Rundfunk 29. Juli 1981

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Der große Bluff

Mitte Mai. Hat der unsägliche Operetten-Krieg um die Falkland-lnseln denn doch einen tieferen Sinn, als das argentini­ sche Militärregime des Generals Galtieri zu stützen und britannische Prinzipientreue zu demonstrieren durch eine Regierung, die das nötig hat? Sind die mehreren hundert Soldaten im Südpazifik vielleicht doch nicht nur in einem Ehrenhändel von mittelalterlicher Regelstarre und Selbstver­ gessenheit ums Leben gekommen? In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lese ich heute von den Ergebnissen, die Probebohrungen in den siebziger Jahren in dem Kontinentalschelf um die Falklands/Malvinas gezei­ tigt haben. Der Befund ist nicht eindeutig, aber doch von einer zukunftsverheißenden Dimension, die diesen unerklär­ ten Krieg erklärbarer machen kann. Das internationale Bohrschiff »Glomar Challenger« ist im Dezember 1980 bei der Bohrung 511-500 Kilometer nord­ östlich der Falklands - auf ein »ungewöhnlich reiches Erdöl­ muttergestein« gestoßen, das »Erdöl für mehrere oder gar viele große Ölfelder »produziert hat«. Der Haken daran: Es liegt 500 Meter unterhalb des Meeresbodens. Seine »Ausbeu­ tung würde zwar unter den See- und Klimaverhältnissen enorme Investitionen erfordern (und möglichst nahe Land­ stützpunkte, wie die Falklands), doch schon heute technisch nicht utopisch sein, und bei solchen Vorratsziffern vielleicht sogar auch rentabel«. Soweit die FAZ. »Fata Morgana oder Geschäft der Zukunft?« Vielleicht ist es gerade die Unsicherheit einer großen Verheißung, die untergründig diesem Degenstück zwischen Heidschnucken­ herden seine erbitterten Energien zuführt: die nervösen, unkontrollierbaren Zuckungen eines Erdöl-Rausches? Abends dann DALLAS. Auch hier geht es um Erdöl, aber gegenüber dem nationalistischen Geräuchere in der engli­ schen und argentinischen Presse wird hier Klartext gespro­ 45

chen. Da sei J. R. vor, daß es etwas gäbe auf der Erde und unter ihr, das nicht in Dollars zu messen wäre. Diese Sprache und Denkweise erhellt für mich nicht nur den FalklandKonflikt, sie gibt mir auch noch einmal - im Rückblick Anschauungsunterricht über das amerikanische Engagement in Vietnam: Kapitalismus zum Anfassen. Von den asiatischen Ölfeldern der Ewings kommt schlimme Nachricht. »Rebellen« stehen vor der Übernahme des (anonymen) Staates; sie wollen alle Ölfelder verstaatli­ chen. J. R.'s erste spontane Reaktion: »Kann man ihre Führer erreichen? Bestechen Sie, wen Sie erreichen können!« Auf den Einwand, daß diese »Rebellen« alle »Fanatiker« seien, setzt J. R. die goldene Lebensweisheit: »Geld spricht alle Sprachen.« Erinnerungen werden wach an die texani­ schen Vettern Lyndon Baines und Ladybird Johnson aus einem anderen Bilderbuch. Doch hinter den markigen Worten J. R.'s nistet der Selbst­ zweifel an der amerikanischen Botschaft. Sind es etwa die Erfahrungen mit diesen vietnamesischen »Rebellen« und »Fanatikern« von damals, die J. R. nicht in selbstgefälligem Optimismus verharren lassen? Er scheint von den »Fanati­ kern« dann doch das ganz Undenkbare zu erwarten. Und so handelt er schnell. J. R. trommelt das texanische Erdölkartell zusammen und bietet ihm die Beteiligung an den asiatischen Bohrungen an. 75 Prozent will er abstoßen. Die Bosse glauben ihren Ohren nicht zu trauen, aber es ist wahr: Ewing will aus diesem lukrativen Geschäft aussteigen, um sich auf ein anderes Vorhaben konzentrieren zu können (Erdgasvorkommen vor der amerikanischen Ostküste). Einen Haken allerdings hat das Ganze, wie sollte es anders sein bei einem Partner wie J. R? Er will das Geld right now in einer Frist von zwei Stunden auf seinem Schreibtisch sehen. »Ich brauche das Geld jetzt - oder gar nicht.« Wer nicht wagt, gewinnt nicht. Die Herren fackeln nicht und sagen »Topp!«

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Es versteht sich, daß J. R. wieder eigenmächtig gehandelt hat, hinter dem Rücken von Jock und Bobby, die sich mit ihren Frauen im fernen Colorado aufhalten. In den Fernseh­ nachrichten muß Jock dann erfahren, daß in jenem asiati­ schen Land die Regierung gestürzt sei, die Ölfelder verstaat­ licht wurden. Die heimische Firma Ewing Oil - so der Nachrichtensprecher - müsse mit Verlusten rechnen, die »in die Milliarden gehen«. Das Knittergesicht von Jock versucht sich am Katastrophen-Look - die schauspielerischen Fähig­ keiten von Jim Davis überbieten nur unwesentlich diejenigen von Miß Charlene Tilton (»Lucy«) -, doch J. R., das WhiskyGlas in der Faust, kann dem Vater mit seinem schönsten, seinem abgefeimtesten Lächeln verkünden: »Ich glaube, Daddy, wir haben eben ein großes Geschäft gemacht.« Sein Feixen gefriert zum Standbild, über das der Abspann der Serie läuft. Der Titel dieser Folge hieß »Der große Bluff«.

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Das Attentat

18. Mai. Die Gewalt in DALLAS wird in der Regel körperlos ausgeübt. In den klimatisierten Büro-Etagen mit getönten Fensterscheiben, in der Plüsch-Konfektion der Ehe-Schlaf­ zimmer oder - zwei Grad pompöser - der Liebes-Nester zur Linken fallen nur Worte, niemals Fäuste. Dem Unterlegenen bleibt da nur ein Zähneknirschen und Fäusteballen, dem Sieger das süffige Grinsen nach innen. Gerade die sich magengeschwürfördernd dahinschleichende Gewalt inner­ halb des Kodex' von Ehrenmännern, die die »Dehors wah­ ren« um beinahe jeden Preis (wie Thomas Mann das nannte), speist diese Serie zusätzlich mit untergründiger Spannung. Heute entlädt sich diese lang angestaute Gewalt endlich einmal. Die Dämme des Hasses gegenüber J. R. brechen. Mit zwei Kugeln wird er nachts in seinem Büro von einem anonymen Täter niedergestreckt. Als Täter kommen in Frage die Ehefrau Sue Ellen; derewige Verlierer (und Schwager) Cliff Barnes; die abgehalfterte Geliebte (und Schwägerin) Kristin; die ausgebootete linke Hand für die schmutzigsten Geschäfte (und Beinahe-Schwager) Allan Beam und endlich jemand von den geprellten Männern des Öl-Kartells, die sich durch J. R.'s VerkaufsCoup milden asiatischen Erdölfeldern Verluste in Milliarden­ höhe eingehandelt haben. Einer von ihnen hat, finanziell ruiniert, bereits Selbstmord verübt. Sicher ist heute nur das eine: anders als Kennedy wird J. R. Ewing das Attentat von Dallas überleben. Einen amerikani­ schen Präsidenten kann man ersetzen, einen J. R. innerhalb der DALLAS-Serie nicht. In vier Wochen werden wir wissen, wer der Täter war. 84 Millionen Fernsehzuschauer drängte es in den USA vor ihre Geräte, um den Attentäter von J. R. dingfest zu machen. In Westdeutschland hat die Serie, die seit dem 30. Juni 1981 bei uns läuft, mehr als 14 Millionen Zuschauer. Das 48

sind 42 Prozent aller Fernsehteilnehmer hierzulande. Welt­ weit mobilisiert DALLAS 400 Millionen in ihren Fernsehses­ seln. Wenn dann erst noch die Chinesen dazukommen... Wie befand Andy Warhol 1981 so richtig: »Das Schönste an Tokio ist McDonald's. Das Schönste an Stockholm ist McDo­ nald's. Das Schönste an Florenz ist McDonald's. Peking und Moskau haben bis jetzt noch nichts Schönes.«

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Geschäftsfreunde oder Siegfrieds Tod

»Du siehst gut aus, Baby« sprach der Gangster mit Melos den Revolver hart im Griff unterm Mantel zu seinem Komplizen der gesungen hatte »Du siehst gut aus, Baby« Blöde lächelnd zwischen Eitelkeit und Todesangst die hochsteigt als Verdacht zärtelt der Verräter zum letztenmal die weiche Manschette völlig wehrlos für den Augenblick durch ein Wort als Lindenblatt »Du sahst gut aus, Baby« sprach der Rächer und drehte die Schönheit deshalb auf den Bauch

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Medias in Res oder Mittenmang im Kuddelmuddel

Gott sei Dank haben wir in diesem Land noch eine Presse, der die Aufklärung ihrer Leser oberstes Gebot ist. Bereits einen Tag vor der Attentats-Folge hätte ich, läse ich den SPIEGEL, erfahren können, daß es Kristin war, diej. R. die zwei Kugeln verpaßte. In seiner kommentierten Fernsehprogramm-Vor­ schau gab der SPIEGEL die Täterin preis, in einem Sprachge­ stus, der ebenso lapidar wie hämisch ist: »Kristin war's«, das »Ätsch« hat man, wohl als unhanseatisch, unterdrückt. Aufklärung als schadenfrohes Petzen, noch dazu kosten­ frei: sieht so die publizistische Unterstützung des Fernsehens als öffentlich-rechtliche Anstalt gegenüber privaten Kanälen aus, die der SPIEGEL sonst mit weinerlichem Pathos im Dienste der Volksgesundheit auf den Lippen führt? Doch wer wird schon so weit denken. Der auf den Klamauk des Elitären dressierte SPIEGEL-Leser jedenfalls nicht. Er - von Konrad Adenauer selig als »Dr. Lieschen Müller« typisiert - wird es lediglich dankbar ver­ merken, daß ihm sein Leib- und Magen-Organ wiedereinmal eine Information vorab erteilt hat, die ihn über den Rest der Nation erhebt. Diesesmal leider nur für vier Wochen. Länger allerdings hält der Aufklärungs-Journalismus vom Schlage des SPIEGEL ja ohnehin nur in den seltensten Fällen vor. Sein Elixier ist der Pseudo-Skandal, ex und hopp. Und das mit Methode. Denn ginge man den Dingen einmal tiefer auf den Grund, dann flögen die Steine, die da unten aufge­ wühlt werden, gar bald zurück in den Glashaus-Konzern an der Alster, der dem Ewing Building in DALLAS ja nicht völlig unähnlich ist. Die Aufklärung ä la SPIEGEL ist zum raschen Verzehr bestimmt, und sie lebt vom raschen Vergessen. OberflächenKritik als Strategie langfristiger Einschläferung - klar, daß der SPIEGEL da auf dem splissigen Hochseil seiner Gesellschafts­ und Kapitalismus-Kritik die Konkurrenz des eindeutigeren

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DALLAS zu fürchten hat. Ja, wenn der SPIEGEL wenigstens finanziell an der Serie beteiligt wäre, dann fiele den SinnProduzenten des Hauses Augstein mit der Geläufigkeit von freien Marktwirten wohl so manches elegante ästhetische Argument für DALLAS ein, mit Kronzeugen bestimmt nicht unter Walter Benjamin. Aber so... Überhaupt: man muß sich einmal anschauen, aus welcher Ecke dieses Landes der Kulturwind gegen DALLAS am schärf­ sten bläst. Als im Februar '82 die ARD-Intendanten über den Ankauf von 40 weiteren DALLAS-Folgen abstimmten, waren es just der Bayerische Rundfunk und der Sender Freies Berlin, die gegen die Verlängerung von DALLAS votierten. Als Argument hatten sie für diesen Nachmittag die jederzeit wohlfeile Hure »Publikumsgeschmack« gemietet. Intendant Wolfgang Haus vom SFB wollte die »Qualitäts­ maßstäbe innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems höher angesetzt« sehen und meinte, DALLAS sei »Kaugummi fürs Gehirn«. Hoiligs Blechle! Bläst man diesen Wortschaum einmal ab, dann wird das Vorgehen dieser beiden Sender, deren Programm-Praxis wohl nurein Schwärmer als liberal bezeichnen könnte, sofort einsichtig. Herr Reinhold Vöth aus Bayern z. B. hat sicher nur begrenzte Einsichten in ein gutes, zeitgemäßes Fernsehpro­ gramm. In der Frage der Machterhaltung scheint er mir dagegen über eine außergewöhnliche Sensibilität zu verfü­ gen. Leuten, die die leiseste Kritik an der »Freien Marktwirt­ schaft« als Majestätsbeleidigung des Staates einordnen und als solche verfolgen, muß es schon schummrig im Magen werden, wenn sie sich und ihresgleichen im Spiegel von DALLAS wiedersehen, statt des Tirolerhutes mit Gamsbart oder der Prinz-Heinrich-Mütze den großen Stetson auf dem Schädel. Diese eiseskalte, zynische Verkörperung des Kaptalismus in J. R. Ewing - dazu noch ohne jede ideologiekritische Aufdringlichkeit oder klassenkämpferische Dämonisierung, sondern just for fun in bunten, amüsanten Bildern für die.

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breite Masse: da wird das Geschwätz von den Sozialpartnern zu Sauermilch. Wie sprach David Jacob, der Ideen-Spender von DALLAS? »Es geht uns nicht um den Kapitalismus, auch nicht um öl, Machtmißbrauch oder sonst ein soziales Pro­ blem. Es geht um starke Emotionen und ihre erbärmlichen Folgen.« Klar, daß die Herren Haus und Vöth ihre Geldgeber lieber als vom Gewissen geplagte, fürs Ganze der Nation zergrü­ belte Geschäftsleute vom Schlage eines Thomas Budden­ brook verklärt und die Kapitalismus-Kritik lieber an das religiös-existentalistische Schwadronieren eines Franz Biber­ kopf delegiert sehen wollen, vom Genius Rainer Maria Fassbinders in dunkle Bilder gesetzt (»Alexanderplatz«), Zwar: die Einschaltquoten sind gering, aber das wird hierzu­ lande allemal noch als ein Qualitätsmerkmal gefeiert. Und die zünftige, kritische Filmkritik von der ZEIT über den STERN bis zum SPIEGEL flechten feinsinnige Lorbeerkränze für diese erlesene Kulturtat. Und die Schulkinder dieses Landes müssen dann in Besinnungsaufsätzen Argumente dafür sammeln, warum die Bilder in »Alexanderplatz« in vornehmen Grautönen ertrinken mußten, und warum man die Dialoge kaum verstehen durfte: weil's halt Kunst ist! So werden in Deutschland West Kulturereignisse insze­ niert. Wird aber, wie in DALLAS, vulgärer Klartext gespro­ chen,wenden sich die »kritischen« Zeitungen gelangweilt bis angewidert ab, und die reaktionären Meinungsmacher in den ARD-Intendanzen können in aller Muße und unbeachtet an den »Qualitätsmaßstäben« drehen, bis sie zäh und geschmei­ dig sind wie ein Strick. Befreiend zu sehen, daß in diesem Lande zwischen »Links« und Rechts doch noch Heilige Allianzen geschlossen werden, wenn es um die Hohe Kultur geht.

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Lied von der Reinheit

Alle Nutten sind blond, ihren Dreck fegen Gringos selbst beim Vögeln gilt die Regel: Nix Bimbos! Sie halten sich auch keinen Aufwisch-Nigger oder so ne fett-schwarze Mom für den Morgensaft In DALLAS finden die Schwarzen nicht statt und die Chicos kannst du gleich vergessen in diesem Clan dasch-bleicher Erdöl-Digger. Proporz-Heuchelei setzt keinen Zuschauer matt auf reines Gewissen ist keiner versessen Das ist die Botschaft, und die macht dich heiß Die Schweinereien in DALLAS sind strahlend weiß

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Mythos Dallas

Welcome to my nigh(mare! Alice Cooper

Während wir hier in Deutschland noch das Attentat auf J. R. Ewing seelisch verarbeiten müssen, wird in diesen Tagen des Mai in Washington der Prozeß gegen John Hinckley jr. eröffnet, den Mann, der am 30. März 1981 sechs Schüsse auf Präsident Reagan abfeuerte. Die Struktur seiner Familie, die jetzt in dem Prozeß öffentlich wird, weist eine verblüffende Übereinstimmung mit den Ewings auf. Beide Familien sind untrennbar mit der Stadt Dallas verbunden, beide Familien sind Sozialaufsteiger auf der schwarzen Fontäne des Erdöls. John Hinckley sen. hat sich als Öl-Ingenieur einen Betrieb mit Millionen-Umsatz aufgebaut, von dem er sich bereits wie Jock Ewing - zu Lebzeiten zurückziehen kann (als Chairman der eigenen Firma). Mittlerweile nach Denver umgezogen, dem neuen amerikanischen Zentrum der Ölin­ dustrie in Colorado, liegt das Geschäft derzeit in den Händen der zweiten Generation. Wie bei den drei Ewings scheint auch bei den drei Geschwistern Hinckley für den dritten Mann kein Platz zu bleiben. Bei den Ewings ist der Mittlere aus dem Wettbewerb herausgefallen und von dem Clan verstoßen worden: Gary, Alkoholiker, schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter weitab der Familie durch, unter anderem als Zimmerkellner oder Crou­ pier in Las Vegas. John Hinckley jr., der valiumsüchtige Attentäter, ist der Benjamin seiner Familie; er verbrachte, nachdem er einige Zeit auf Universitäten herumgelungert hatte, seine Tage vor dem Fernseher, vorzüglich in Motels. Die Fernsehserie DALLAS kann ihm dabei unmöglich entgan­ gen sein. Wie mag er sie gesehen haben, die aufdringlichen Ähn­

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lichkeiten mit jener Familie in Dallas, der Stadt, an die ihn die einzigen angenehmen Erinnerungen seiner Kindheit verbin­ den? Welche Möglichkeiten zur Identifikation boten ihm Gary, J. R. und Bobby Ewing an, welche Feindbilder schli­ chen sich ein bei ihm, der seiner Umwelt allein durch seine Fernseh-Leidenschaft auffiel? (Sie wußten von ihm »danach« lediglich, daß er ein »Media Freak« war.) Wie intensiv John Hinckley in den fertigen bewegten Bildern lebte, beweist seine Liebe für Jodie Foster, die kleine Prostituierte in Martin Scorceses Film »Taxi Driver« (1976). Hinckley hat diesen Film 16mal gesehen; er hat den Filmstar mit Liebesbriefen bombardiert und seine Gefühle für Jodie in einem Tagebuch festgehalten. Doch die Bilder antworteten ihm nicht. Mit dem Versuch, sich selbst wegzuräumen, trifft das Schwarze Schaf dann den Nerv der Hinckleyschen FamilienEhre. Ein Psychiater wird zu Rate gezogen; er empfiehlt den Eltern, ihren Jüngsten zu verstoßen. Als genauen Termin setzt er dafür den 30. März 1981 fest. Die Mutter chauffiert den biblisch Verurteilten - Abraham läßt sich von Sara vertreten - eigenhändig zum Flugplatz. Dort ist der Opferplatz. Der rächende Gott stößt vierstrahlig aus den Wolken herab. Etwas flüchtig, eingespannt in seinen Flugplan, nimmt er das Opfer an. Das Ticket ist bezahlt. Beim Abschied bemerkt die Mutter, immerhin: »Er sah so krank aus, so traurig und völlig verzweifelt. Ich ängstigte mich und wußte nicht, was ich machen sollte. John sagte: >Vielen Dank, Mutter, für alles, was du für mich getan hast«, und ich sagte nur: >Gern geschehen!«« Statt nach Kalifornien zu fliegen, dem lässigen Land der Sonne, nimmt der Verstoßene die Maschine nach Dallas, wo er seine besten Jahre verbracht hat (1963, dem Jahr, als Kennedy in Dallas erschossen wurde, haben die Hinckleys, Tribut an den sozialen Aufstieg, Dallas downtown mit einem Villenvorort vertauscht). Hier geht er jetzt zum Pfandleiher, einem »Rocky« Goldstein, kauft sich einen RG-14-Revolver 56

deutscher Herkunft, die Tatwaffe von Washington. Am 30. März, dem Tag, da das Ultimatum der Familie über den Versager in den eigenen Reihen abgelaufen ist, schießt Hinckley auf den Präsidenten, sechsmal, ein Versager auch hier noch. Die Schüsse treffen nicht tödlich. Es langt aber immerhin, die Aufmerksamkeit der Familie und der ganzen Nation auf seine armselige, zerstörte Existenz zu zwingen. »Bin ich im Fernsehen?« ist seine erste Frage im Gewahrsam von FBI-Beamten. Geschichten, wie sie das Leben schreibt, Geschichten aus dem Alltag einer Nation, mit der unser wirtschaftliches und politisches Geschick aufs engste verknüpft ist. Wer ange­ sichts dieser Fakten noch immer nicht den hohen ZeugnisWert und die atemberaubende Realistik der Seifenoper DAL­ LAS aus Hollywood begriffen hat, der allerdings mag weiter träumerisch seine Mußestunden mit dem verbringen, was hierzulande subventionsgepäppelt als Hoch-Kultur gespielt wird. Und wenn ihn dann eines Tages die Zeitläufe rauh aufwecken sollten aus der Reinheitseiner Kunst, darf er dann füglich wieder mit dem besten Gewissen von sich behaupten: er habe von alledem nichts gewußt. Postscriptum I: DAS URTEIL

Ende Juni haben die zwölf Geschworenen des Gerichts in Washington John Hinckley jr. für »nicht schuldig im Sinne der Anklage« befunden und ihn als »insane« (verrückt) verurteilt oder freigesprochen. Hinckley wurde in das geschlossene Asyl der »Heiligen Elisabeth« in Washington eingewiesen. Postscriptum II: SAURE-GURKEN-ZEIT

»Dallas, 10. August (rtr). Ein Amokläufer hat in einer texani­ schen Ortschaft nahe der Hauptstadt Dallas sechs Personen erschossen und vier andere verletzt. Der Mann, ein 46 Jahre 57

alter Lastwagenfahrer, tötete zunächst im Lagerhaus einer Transportfirma, von der er entlassen worden war, drei Kolle­ gen. Mit einem Lastwagen fuhr er dann zu einem anderen Gebäude des Unternehmens, wo er einen weiteren Kollegen erschoß und zwei weitere verletzte. Schließlich setzte er seinen Amoklauf im Lager eines benachbarten Supermarktes fort; hier starben zwei Menschen, und ein Dritter wurde verletzt. Als der Mann schließlich in eine Straßensperre geriet und hier versuchte, sich den Weg freizuschießen, wurde er von der Polizei getötet; ein Beamter erlitt dabei Verlet­ zungen.«

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Hitparade II: Kunst nach Noten

»Die Serie ist so, als würde man am Ende eines Regenbogens tatsächlich einen Topfmit Geld finden « Lee Rich, DALLAS-Produzent

Für eine Folge der DALLAS-Serie erhalten

Larry Hagman (J. R. Ewing) Patrick Duffy (Bobby Ewing) Linda Gray (Sue Ellen Ewing) Victoria Principal (Pamela Ewing) Charlene Tilton (Lucy Ewing) Ken Kercheval (Cliff Barnes) (Stand: 1982)

100000 Dollar 45 000 Dollar 35 000 Dollar 27000 Dollar 20000 Dollar 15 000 Dollar

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Beckenbauers Ende

1. Juni. Der heftige Sonnenbeschuß in den letzten Tagen macht die Natur der deutschen Lande fett und andrängend prall. Hemmungslose Wucherungen in allen Grüntönen. Der Flieder feierte ein üppiges Finale.Die Invasion von britischen Truppen auf den Falkland-Inseln ist zügig vonstatten gegan­ gen. Der Sturm auf Port Stanley wird vorbereitet. Die argenti­ nischen Soldaten sind in der Überzahl, aber es zeigt sich doch wieder einmal, daß - laut FAZ vom 2. Juni - »das süße Leben in Bueneos Aires den jungen Argentiniern mehr liegt als der Kampf gegen gut trainierte Berufssoldaten«. Soweit die Großwetterlage hier und draußen an diesem DALLAS-Tag. Doch die Fans müssen heute eine Viertel­ stunde länger warten auf Jock und Miß Ellie, denn zur angestammten DALLAS-Zeit nimmt Franz Beckenbauer sei­ nen Abschied aus der Arena. Er hat zu seinem letzten Spiel die gegenwärtige Nationalelf geladen, die sich auf die Welt­ meisterschaft in Spanien vorbereitet. Beckenbauer selbst spielt in der Elf des Hamburger Sportvereins, mit der legendä­ ren »5« des Libero auf dem Rücken, auch wenn er sogar heute den Libero nicht mehr spielen darf, bei jenem HSV, der seit zwei Tagen mit zuletzt kläglichen Leistungen sich den Titel eines Deutschen Meisters gesichert hat. Der Abschied von Franz Beckenbauer ist ein Ereignis von nationalem Interesse, auch wenn der Bundeskanzler Schmidt, wiewohl geladen, dem Spektakel den höchsten Ernst durch seine Abwesenheit verweigert. Das Fernsehen aber versagt sich diesem sportlich belanglosen Datum nicht. Es hält den Übergang fest, jene neunzig Minuten als Richt­ maß von Beckenbauers Genialität, da erden Wettbewerb der Wirklichkeit verläßt und zu seiner eigenen Legende wird. Für mich, dem ich Beckenbauer - wie sonst nur noch Cassius Clay - meine Norm in der Anschauung von körperli­ cher Eleganz zu danken habe, wird das Spiel zu einem

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zwiespältigen Erlebnis. Ja, da blitzt es noch auf, das große Können, mit den aus dem Fußgelenk geschleuderten VierzigMeter-Pässen. Und doch bewegt sich Beckenbauer in »sei­ ner« Mannschaft wie ein Fremdkörper, der von den Gegen­ spielern wie eine Reliquie geschont wird. Denn er gehört nicht mehr dazu mit seinem Stil. Die Entwicklung des Sports ist über ihn hinweggegangen. Man braucht diese langen Pässe gar nicht mehr, da man es sich angewöhnt hat, mit Ballabgaben auf kürzestem Raum mas­ siert geschlossen nach vorne zu gehen, um dann den Blitz zu zünden,wie das jetzt Breitner mit Rummenigge zur Vollen­ dung gebracht hat. Die Grandezza von Beckenbauers Spiel hat bereits etwas Museales. Auch Rudi Michel, der alte Kämpe am Mikrofon, spürt das und rettet sich in die rhetori­ schen Überschwünge exaltierter Begeisterung. Und dann, als die schwebende Peinlichkeit dieser Veran­ staltung greifbar wird, beinahe erlösend, mit Beckenbauers plaziertem Schuß in das eigene Tor, da ringt unser aller Betroffenheit nach Luft, am sichtbarsten bei Beckenbauer, der keine Miene verzieht, keine Spur eines Lächelns zeigt wie über einen gelungenen Scherz: nein, da ist sie, die Anrüh­ rung durch die neue Wirklichkeit, die neue Zeit auf dem grünen Rasen, zu der Beckenbauer von heute an nur noch als Mythos gehört. Alle verkrümeln sich nach dem Eigentor, und kerzengerade schreitet der »Kaiser« auf den Anstoßpunkt zu, Eiseskälte in der Miene, die ihm die Bannmeile der Unberührbarkeit sichert. Ich fürchte einen Moment lang, daß er jetzt den Bettel hinwirft und den Platz verläßt, aber er rappelt sich auf, mehr schlecht als recht, macht weiter, bekommt kurz vor Spiel­ schluß ein obligatorisches Abschiedstor geschenkt, und das war es dann: ein kurzes, abwesendes Winken in die Leere von 35 000 Menschen hinein, keine Ehrenrunde, kein über­ schwenglicher Trikottausch - mit wem auch? mit Breitner etwa, mit Rummenigge, die beide ebenso verbissen jetzt auf ihre Gegenwart pochen wie der »Kaiser« vor zehn Jahren? 61

Der letzte Gang in die Kabine ist kurz und lapidar. Beim Festbankett, im Plausch mit den Herren von Dohnanyi und Stücklen: da kann ich mir den Beckenbauer von heute schon lockerer, passender vorstellen als eben noch im FußballDreß auf dem Rasen. Uff! Das ist gerade noch einmal gut gegangen. Es war keine Sekunde zu früh, da das faszinierende Spiel dieses Manneszu Ende ging, nach achtzehn Jahren. Die Wehmut über den Abtritt hat sich in diesen neunzig Minuten restlos aufge­ braucht. Meine Verspannung löst sich erst wieder, als ich danach meine Freunde aus DALLAS in ihrer unberührbaren und unanfechtbaren Verläßlichkeit sehe: J. R., immer noch im Krankenhaus nach dem Attentat, ist zwischen zwei Operatio­ nen bereits wieder bei der Sache und spinnt die Fäden seiner erfolgreichen Bosheiten weiter.

Postscriptum: EIN MANN - EIN WORT »Kitzbühel (dpa). Franz Beckenbauer, deutscher RekordNationalspieler, zieht zweieinhalb Monate nach seinem >endgültigen< Abschied wieder die Fußballschuhe an. Wie sein Manager Robert Schwan in Kitzbühel bestätigte, wird Beckenbauer wieder für den amerikanischen Proficlub Cosmos New York spielen, bei dem er schon von 1977 bis 1980 unter Vertrag stand. >Franz wird von Mitte Oktober bis Mitte November mit Cosmos auf eine Fernost-Reise gehem, erklärte Schwan. Geplant sind Spiele in Südkorea, Japan und Neuseeland. Zuvor bestreitet Beckenbauer mit Cosmos am 21. September in Rio de Janeiro ein Abschiedsspiel für den früheren Kolle­ gen bei Cosmos, den Brasilianer Carlos Alberto.«

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Aus dem Seelenleben eines Lehrlings

8. Juni. DALLAS-Tag, am frühen Morgen. Im Fotogeschäft kontrolliere ich die Qualität der Schwarz­ weiß-Abzüge meiner Ablichtungen vom Bildschirm, denn seit kurzem verfolge ich DALLAS zusätzlich mit dem Auge der Kamera. Im Laden das Personal, zwei junge Angestellte, beide unter Zwanzig, sie und er. Sie: mollig-still-freundlich in sich hineinlächelnd, er: Ladenschwengel als Feuerkopf, frech und wild und zur krawattetragenden Bravheit verdammt. Das zuckt im Blick, das gärt beim Reden, der ist keine zwei Jahre mehr in diesem Geschäft (hoffe ich). »Aha, Bilder von DALLAS!« Das ist noch Kundendienst. »Gegen die Querstreifen da können Sie nichts machen. Das liegt am Fernsehbild.« Da ich rund um die Uhr im Dienst bin in Sachen DALLAS, wildert der Kunde jetzt als Reporter: »Was halten Sie von DALLAS?« Unter seinem nach allen Richtungen ausbrechen­ den Haarschopf ertönt die Trompete der innigen Ableh­ nung. »Die machen uns doch da was vor, so läuft das nicht im Leben!« Der Affekt ist beachtlich, und der Bursche läßt ihm lange Zügel, denn der Chef ist nicht im Laden. Die Einstellung der jungen Frau zu DALLAS ließe sich als »begeistert« umschrei­ ben, wenn man sich dabei nicht an ihrem Naturell versün­ digte. Leise lächelnd genießt sie Folge für Folge, bestimmt mit Nüßchen. Ihre Rundungen haben das Pummel Lucy längst hinter sich gelassen. So ist das immer mit den Reaktionen auf DALLAS. Das Pro und Contra ist entschieden, eindeutig, engagiert, manchmal leidenschaftlich (vor allem das Contra). Auf laue Indifferenz - na ja, nicht übel, geht so - bin ich niemals gestoßen. Der Feuerkopf mit Krawatte ist nicht mehr zu halten in 63

seinem Schimpfen. Wie oft er denn die Serie sehe? fragt der Reporter in sein Wettern. Manchmal, und dann immer erst nach 22 Uhr, weil er bis dahin auf die Schule gehe (aha, der Aufsteiger auf dem Sprung?). Ja, und dann der Wirbel, der in den Zeitungen um diese Typen gemacht werde, die Klatschgeschichten, ob die mit dem oder jenem: so weicht der Ungezähmte jetzt von der Serie selbst auf die DALLAS-Software aus. Gut so, dieser kritische Impuls. Ohne den ist wahrlich nichts zu genießen auf dieser Welt. Aber dann stellt sich seine Wachheit selbst ein Bein, schießt ihm ein anderes Sekret von irgendwo ins Hirn, quer, stürzen die Schaltungen des Bewußtseins ineinander, braut sich das zusammen, was man Volksempfinden nennen könnte: »Ja, wenn die Pam mal nach Deutschland kam, dann würd ich schon mal gern mit der!« (Um diesen Satz zu verstecken, benötige ich ein ganzes Buch.) Unberührt und ohne jeden Anflug von Eifersucht lächelt die Kollegin weiter in sich hinein. Welche Lust mag sie wohl kitzeln unter ihrer Haut? »Ade. Wir werden uns ja wiedersehen«, sagt der Kunde zahlend. Ab jetzt stehen auch die beiden unter seiner Beobachtung, ab jetzt gehören auch sie zu seinem DALLAS-Spiel.

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Dallas-G'stanzl

Sue Ellen sitzt sinnend am Swimming-Pool >Erst hat er's mit meiner Schwester getrieben dann tat er seine Schwägerin lieben Ach, wär mein J. R. dann doch lieber schwulh

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Kafka in Dallas

Nach dem Attentat hat die Beziehung zwischen Sue Ellen und J. R. eine neue Dimension erreicht; ich zweifle, ob man sagen kann, sie habe sich vertieft. Die Vertikale deutet Bewegung an, mit der die alte dramatische »Fallhöhe« operierte. Sie öffnet die Möglichkeit der Lösung, Er-Lösung, und sei es auch im Tod. Das endlos zähe Ehe-Schlinggewächs aber, das die beiden übersieh geworfen haben und das sie täglich weiter düngen, mit allem was sie tun und nicht tun: es ruft als Bild ehereine Steppenlandschaft auf, die unabsehbar weit im Horizont verschwindet, ohne daß von dort ein Locken ausginge: nur der automatisierte Zwang zum ewigen Gehen, zum Stolpern, Straucheln, weiter, immer weiter, ohne Sinn und Ziel, in einem Kreis, dessen Durchmesser die Lebenszeit der beiden ausmacht. Und warum sollte man sich diese öde Weite nicht im Bild der Prärie von Texas denken? Ich entsinne mich noch der Lähmung, die mich befiel, als ich mit Zwanzig die Verfilmung von Edward Albees »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« sah, in der Elizabeth Taylor und Richard Burton ihre Ehe spielen durften/mußten. Die Intensi­ tät von zwei Stunden Film sind in DALLAS - und das bringt einen ungeheuren Zugewinn an Wirklichkeit - über Jahre hin gespannt. Von der Gummizelle dieser Ehe prallen auch die beiden Kugeln ab, die auf J. R. abgefeuert wurden. Das Schlinggewächs spottet der Machete. Es ist ein genialer Kniff, wie die DALLAS-Macher die Annäherung von Sue Ellen an ihren Mann inszenieren, der nach dem Attentat zwischen Tod und Leben schwebt (»Auf des Messers Schneide«; 25. Mai und 1 .Juni); ihr zeigen sich die schauspielerischen Fähigkeiten von Linda Gray überzeu­ gend gewachsen: als eine faszinierende Mischung von Schuldgefühlen und - ja - nennen wir es »Liebe«. Sue Ellen, die ihren Mann erschießen wollte, ehe sie am

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Abend des Attentats bewußtlos im Alkohol versank, weiß nicht, ob sie im Suff die Tat begangen hat oder nicht. Der Zuschauer kann es aus Linda Grays Gesicht lesen, wie sie zunächst das schiere Entsetzen an das Krankenbett von J. R. treibt, wie sie unter der Maske der besorgten Ehefrau um seine Überlebenschance zittert: für sich. Je besser es J. R. geht nach den beiden Operationen, desto mehr löst sich Sue Ellens konventionelle Gatten-Rolle in einem eigenen Gefühl auf, fällt die Maske ab und tritt die liebende Sorge um einen anderen Menschen, um den anderen Menschen zutage, von J. R. knurrig-hilflos abgewehrt und auch angenommen, männlich-verstohlen. Der Schock des eingebildeten Gattenmords weicht Sue Ellens Starrheit auf. In Träumen (»Alpträume«; 8. Juni) arbei­ tet sie den Gefühls-Kloß J. R. ab, der ihr in Kopf und Körper steckt. Ihrem Psychiater Dr. Elby, der dümmlich dreinblikkenden Tennis-Übungswand, erzählt sie ihren zentralen Traum, der ihr die »Liebe« zu J. R. erhellt. Sie erlebt dies in der Vorstellungswelt von Franz Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«. So kommt diese wunderbare Geschichte endlich einmal unter die Leute. Sue Ellen träumt sich eingesperrt in einen langen, schma­ len, dunklen Gang, verfolgt von zwei Männern. Sie läuft um ihr Leben, bis sie am Ende des Korridors eine Tür erblickt. Die Tür ist offen, aber breit füllt ihren Rahmen J. R., der Gatte, aus. Da hört sie einen ohrenzerfetzenden Knall, schaut auf ihre Hand, darin liegt eine Pistole. J. R. ist verschwunden, die Tür vor ihr aber zugeschlagen. Wie heißt es bei Kafka am Ende? »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt.« Kafka war ein notorischer Junggeselle; er durfte noch an ein zentrales Ich glauben. Wo aber soll sich ein Durchgang öffnen für den, dessen personale Bestände in den jahrzehntelangen Abnutzungskämpfen einer Ehe abge­ stumpft, zerfressen, verfälscht worden sind? Immerhin, dieser Traum bedeutet Sue Ellens psychologi67

sehe Reinigung; aus ihm gewinnt sie die Einsicht, daß für sie - wie auch immer - ein Leben außerhalb des Bannkreises ihrer Ehe nicht lebbar ist. Das ist ihr »Urteil« für sich selbst. Sie nimmt es an. Doch was heißt das schon? Da wir es in dieser Beziehung mit der unrettbaren Verschlungenheit einer Ehe zu tun haben, weist - ebenso pathologisch unfrei - der andere (J. R.) die geleistete Seelen-Arbeit seiner Frau und ihre praktischen Konsequenzen eines neuen Anfangs ab, zieht sich in dem Maße, wie Sue Ellen sich ihm nähert, auf sich selbst zurück, flüchtet sich trotzig in den Schoß der Eltern, wie ein kleiner Junge, und läßt sich bei der Rückkehr aus dem Krankenhaus auf die Ranch von ihnen bemuttern als ein wiedergefundener Sohn. Sue Ellen steht zwei Schritte dahinter, mutterseelenal­ lein, und darf dem Gatten gerade noch das riesige Blumen­ bouquet der Eltern zum Willkommensgruß auf Southfork halten. Ist das blumiger Kitsch, oder ist das der traurige Stoff, aus dem die Ehen sind? Hießen die Autoren nicht lediglich Philip Capice, Leonard Katzman und Lee Rich, sondern Kafka oder wenigstens Albee: ei, wie täten sie dann alle tafeln und schmausen und schwelgen und leitartikeln mit ihren tiefen Begriffen von des Menschen Seele, unsere Vorschmecker des Schönen Wahren Guten. Doch Capice, Katzman und Rich gehen noch weiter, der plot ist mitnichten ausgeschöpft. Gegenüber der zurückge­ stoßenen Gattin taucht jetzt rächend Vater Staat auf - als bauchiger Sheriff - und präsentiert Sue Ellen die Tatwaffe mit ihren Fingerabdrücken und nimmt sie in »Gewahrsam« mit ihrer neuen Wahrheit. Es waren aber just die Eltern J. R.'s, die die Polizei auf die Spuren der Rivalin Schwieger-Tochter setzten. (Hätte denn Jock auch dann den Sheriff eingeschal­ tet, wenn er den Revolver im Schrank seines Sohnes Bobby gefunden hätte?) Jetzt erst ist die Geschichte voll und rund und fertig; jetzt endlich ist alles im Lot in dem Wahnsinns-Spiel zwischen

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einzelnem und Gesellschaft, wie es läuft auf dieser Welt, heute, gestern, und nicht erst seit Kafka. Zugegeben: es tragen die Atriden in DALLAS glatte Manie­ ren und Blue jeans, sie fahren Mercedes und trinken Coca Cola und essen - pfui! - Hamburger. Aber - beim großen Sophokles! - seit wann gilt es als ästhetisch disqualifizierend, wenn der Familien-Krieg in zeitgenössischen Kostümen geführt wird, in der Sprache, mit den Umgangsformen von heute? Muß das Bedeutende immer noch hinter dem Musse­ lin einer abendländischen Kulturtradition und auf dem Kothurn eines Feierabend-Idioms zelebriert werden? Klaro: bei der Antigone, die mitzulieben da war, zwickt der Untertertianer wie der SPIEGEL- und ZEIT-Kulturredakteur den Arsch zusammen, weil da irgendein innerer Rohr­ stock signalisiert: »Vorsicht, Kultur!« Und den Frust, den beide dann angesichts des hehren Griechen-Schmähs erle­ ben, weil sie in den Hexameter-Ewings aus Theben ihre Mami und ihre Frau Gemahlin nur äußerst unscharf erken­ nen, die zu Hause dräuen: diesen Frust laden sie dann ab als Hohn auf die Banalität der Gegenwart und ihrer Hervorbrin­ gungen. Hoch die Tassen auf die Selbstverachtung unserer Kultur­ träger in den Gymnasien, Redaktionsstuben, Lektoraten, Lehrplan-Laboratorien und anderen Behörden! Hoch die Tassen! Spült sie runter! Fürchtet keine rauhen Kehlen, denn sie sind ölig weich wie Kaba. »Sie denken wie keiner, und sie handeln wie alle« (Johann Gottlieb Fichte).

Postscriptum: NACHSCHUB AUS DER RETORTE

In diesen Juni-Tagen ist das zweite Retorten-Baby in den Erlanger Kliniken ans Licht gekommen. Für 1982 stehen noch weitere sieben Geburten an.

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Das Jahr auf seinem Zenit

15. Juni 82. Mit Pam durchs Jahr - DALLAS ist eine meiner Konstanten von 1982. Der Dienstagabend ist reserviert, da führe ich mir als Junggeselle meine Dosis Familienleben zu. Der Schrecken hält dann wieder für eine Woche vor. Doch auch bei dieser Regelmäßigkeit bleibt nichts im Gleichen. Wie unabsehbar lang und ausgefüllt manchmal sieben Tage sein können I Die vergangene Woche zum Beispiel teilte sich die Weltgeschichte mit übervollen Hän­ den aus. Da wird der nicht erklärte Krieg zwischen England und Argentinien um die Falkland-Inseln beendet. Die Briten haben Port Stanley eingenommen; 14800 argentinische Soldaten geben sich (für kurze Zeit wohl nur) gefangen. Aus dem Faltenwurf dieses Degenstücks um nationale Ehre (das immerhin auch tausend Menschen das Leben gekostet hat) arbeitet sich ein anderer, härterer Krieg in die Schlagzei­ len. Im Rahmen ihrer Philosophie der Vorwärts-Verteidigung greift die israelische Armee den Libanon an und nimmt seine Hauptstadt Beirut ein. Rache an der PLO - 10000 Tote und 60000 Flüchtlinge bis jetzt für einen angeschossenen israeli­ schen Botschafter - oder Genozid an den Palästinensern in Etappen? Die Schatten von Auschwitz jedenfalls fallen lang, und deshalb habe ich, gelinde gesagt, Schwierigkeiten mit meiner Wut und meinem Haß. Die Selbstzensur zwingt mir ein dumpfes Schweigen ab. Geschichtsphilosophisch abgekühlt, weiß ich nur soviel: durch das, was ein Begin heute als »Politik« praktiziert, wird der Unfrieden in dieser Region um mehr als Jahrzehnte verlängert. In Bonn tagt derweil der NATO-Rat. Die Rüstungs-Debatte zwischen den beiden Großmächten und die daran geknüpfte Friedens-Diskussion im westlichen Lager wirken angesichts der lokalen Kriege wie ein Streit um schreckliche, aber hohle

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Worte, jenseits des Verstehbaren. 350000 Menschen prote­ stieren in der stehenden Hitze von Fronleichnam auf den Rhein-Wiesen bei Bonn für den Frieden, gegen die drohende Nachrüstung der NATO. Zur gleichen Stunde feiern 70 000 Menschen Wiedersehen mit ihrer eigenen Vergangenheit im Münchener OlympiaStadion. Die Rolling-Stones treten immer noch auf, weil die meisten von ihnen noch leben. In Barcelona ist die 12. Fußball-Weltmeisterschaft eröffnet worden. Hunderte von katalanischen Turnern in weißem Dreß formen mit ihren Körpern Picassos Friedens-Taube auf dem Rasen von Nou Camp. Faschistische Ästhetik mit pro­ gressivem Inhalt? Naive Augenwischerei in Sachen »Frie­ den«, von Fußballer-Hirnen ausgeheckt? Symbol für das »neue« Spanien? Jedenfalls: als die Argentinier dann das erste Spiel bestreiten (und verlieren), sehen die spanischen Zuschauer in ihnen weniger den alten Weltmeister von 1978 als die Leute, deren Land sich mit den Briten um einen Weideplatz für Schafe im Atlantik balgt. Das fußballbeses­ sene England indes verzichtete aus dem gleichen Grund auf eine Fernsehübertragung des Spiels und der Eröffnungsfeier. Und dann stirbt in diesen Tagen Rainer Werner Fassbinder, nach 41 Filmen und 36 Jahren schnellen Lebens. Ein Genera­ tionsgenosse, eine Orientierungsmarke (in Anerkennung wie Ablehnung), eine verläßliche Größe; seine Arbeiten haben dreizehn Jahre meines Lebens begleitet. Seine Todesursache ist von den gerichtsmedizinischen Fachleuten immer noch nicht geklärt. Sie wird auch nie erklärbar sein, am ehesten noch mit seinem vorletzten Film, »DieSehnsuchtder Veronika Voss«. Die Sehnsucht-ja, und in schwarz-weiß. Das Niederdrückendste an dieser Todesnachricht war, daß man ihrer mit einem schauerlichen Kitzel immer gegenwärtig war. Ein Kunst-Schicksal ä la Rimbaud oder van Gogh: ist das die Kunst eigentlich wert? Meine Trauer ist zugleich auch Wut - und Selbstkritik, in mehr als einer Hinsicht. 71

Am selben Tag verabschiedet sich ein Freund von mir, der die Stadt verläßt. Er nutzt den Umzug, um sich von Büchern zu trennen, und vermacht mir die Schriften der RAF. Das alles drängt sich an von außen binnen einer Woche, auf dem Zenit dieses Jahres, und besetzt - neben dem Privaten, neben der Arbeit-deinen Kopf, deine Gefühle. Du kommst mit beiden nicht nach, von Verarbeiten gar keine Rede. Ein Taumel von Niedergeschlagenheit und da hinein irre Spritzer einer Euphorie. Nein, da verschafft dir die Dreiviertelstunde am Dienstagabend keinen Halt, es sei denn in der lächerlichen Regel deines eigenen Rituals. Dann klingelt die DALLAS-Thema-Musik auf, und du weißt bereits: heute wird die Attentäterin entlarvt, Angeödet verfolgst du die Routine der dir sattsam bekannten, vorgestanzten Bilder und Figuren, alle wieder wohlfrisiert und glatt wie Dosen­ kost. Und dann, zum Ende, doch noch ein Brocken, um den du, abgelenkt von dir und dem Draußen, wertfrei, nutzlos, spielerisch-verspielt deine Gedanken spinnen kannst. Kristin, die entlarvte Täterin, die katzenhafte Lady Mac­ beth, zeigt sich ihrem entkommenen Opfer J. R. ebenbürtig; Die Strafverschonung gedeiht in ihrem Bauch: sie ist schwan­ ger von J. R. »Soll ein Enkel von Jock Ewing im Gefängnis geboren werden?« Munter wächst die Saat der texanischen Atriden weiter, wie das Leben weiter geht mit seinen vielen Toden, unüber­ schaubar, und du wirst weiter dabei sein, hier wie dort.

Postscriptum: DIE SHOW MUSS WEITERGEHEN

Die schreibenden Ratten und andere gute Freunde wuseln um die Leiche Fassbinders und verkaufen sie in Stücken. Das dahingegangene Genie liebte auf seiner stürmisch kurzen Erdenbahn Roth-Händle und Pizza, den FC Bayern München und - DALLAS. Jeden Dienstag, erfahren wir, bestand Fass­ binder auf pünktlichem Drehschluß; keine Folge soll er versäumt haben. Eine Rose extra auf sein geschändetes Grab! 72

Nacht über Dallas

Startvergessen in das Ampelfernsehen schaun der roten Welle folgen im Haar des weichen Hüftschwungs der Geld will Bierdosen auf den Kopf stellen für ein kegeltolles Kind am Morgen die Zehen abzählen zur Musik eines Kuppelschreis und dann auf leichten Sohlen abrollen in die Hieroglyphe einer Leuchtreklame die du fröhlich für dich denken läßt zum Tagesaufklang irgendwo dahinten beim Schnellimbiß

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Hegel in weißen Stutzen

Sosehen wir uns wieder denn, ihr lieben Freunde, nicht ohne Rührung, nicht ohne Scham! Zwei Wochen im Juli war ich euch untreu, ging fremd auf anderen Kanälen in Sachen Fußball-Weltmeisterschaft in Spanien, überließ euch euren Ränken drüben in Dallas, sah wundervolle Spiele (und langweilige), herrliche Tore (und wenige Fouls), und sah - ja, ich künde eüch: ich sah die Wiedergeburt des häßlichen Deutschen. Die jungen deut­ schen Spieler - Durchschnittsalter bei 26 Jahren, die Geburtsjahrgänge also weit in jenen Goldenen Fünfziger Jahren, die in unserer Zeit nicht nur in Mode-Boutiquen wieder Karriere machen -, diese jungen deutschen Spieler lehrten die Welt - und nie verdient unser Planet diesen Namen mehr als durch die Einigungskraft des Fußballs - sie lehrten die Welt den Schrecken neu vor dem deutschen Wesen. Nein, die Abscheu vor diesen Fußball-Deutschen 1982 ging nicht zu Lasten jener Erinnerung an den faschistischen Terror im Namen Hitlers, ging nicht zu Lasten der wirtschaft­ lichen Vormacht in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg - sie schufen sie neu in Spanien, die jungen deutschen Männer, die in jeder Lage damit kokettierten, »Profis« zu sein, nüch­ tern, clever, kühl bis ans Herz: ohne Emotionen, erfolgsge­ trimmt, die anderen, die nicht so sind wie sie, als »Exoten« verhöhnend. Im Namen eines absolut gesetzten Erfolgs, dem das Fuß­ ballspielen nur Nebensache schien und Schönheit/Eleganz ein wesenloser Spuk, in diesem Namen sind sie bis ins Endspiel vorgedrungen, standen vor dem großen, perversen Triumph, der die Gesetze dieses Sports auf den Kopf gestellt hätte. Das stolze, mannhafte Britannien, die romanische Ästhetik der Franzosen - sie gingen in die Knie vor ihnen, die Welt begann zu zittern und zu raunen wieder über die Magie 74

der deutschen »Tanks« und »Panzer«, über die Irrationalität ihres Erfolges, der jedem Augenschein spottete: Lethargie wollte sich breitmachen, Schicksalsergebenheit in das Grau­ enhafte, aber der Große Gott des runden Leders hatte dann doch ein Einsehen, schuf das Gerechte im allerletzten Augen­ blick und ließ die Italiener Weltmeister werden. Nie hätte es einen Turniersieger gegeben, der freudloser war und ohne jede Liebe und Achtung, selbst im eigenen Land. Als ich sie dann sah, die jungen deutschen Männer nach der befreienden Niederlage, wie sie auf der Ehrentribüne des Bernabeu-Stadions zu Madrid beim Defilee vor ihrem Kanz­ ler standen: wie sei dem kleinen Mann im grauen SekretärsKittel, der keine Miene verzog, scheintot wirkend neben dem temperamtentvollem Greis Pertini, wie sie ihm die Hand gaben, ohne ihrerseits eine Miene zu verziehen, spontan und herzlich wie aus grauem Wachs gegossen: da war es sichtbar, wie sie auch jetzt noch, jetzt wieder, diese Deutschen, ihre Arbeit verrichteten, gestählte Profis auf beiden Seiten, die Generationsgrenze zwischen Schmidt und Briegel eingeeb­ net, emotionslos und eiskalt bis ans Herz, ausgebufft und abgekocht, ja: abgekocht wirkten sie bei dieser altmodi­ schen, unrentablen Prozedur des Handschlags. Und ich sah mehr in diesem kalten Bild auf Glas, ich sah uns, wie ich es so schnell nicht vergessen kann: uns West­ deutsche zu Beginn der achtziger Jahre. Und rannte los, in die Vorstadt, wo sie feierten und sangen und schrieen und hupten, die Eisdielen-Giovannis und Pizzeria-Paolas, trun­ ken vor Freude, nicht besoffen, und wurde ruhig dabei und froh und leicht und ließ sie erlöst weinen: diese meine deutsche Seele inmitten der »Exoten«. Am nächsten Morgen dann fand ich die Formel in der Zeitung, die mein Glück umschrieb, Europäer zu sein, nicht nur Deutscher. »Schwer« sei sie gewesen, die deutsche Mannschaft, stand inderspanischen Presse, »schwer wie ein Band Hegel oder ein Eisbein«. So sehe ich euch wieder denn, ihr Lieben aus Dallas, die 75

ihr mir am Dienstagabend für eine knappe Stunde das Vergessen schenkt, hier zu sein in meinem Vater-Land.

Postscriptum I: DIE ENDLÖSUNG DER DEUTSCHEN FRAGE Bonn reagiert profihaft kühl auf die Schlacht um Madrid. Da will der Bonner Regierungssprecher Rühl dem glorreichen Vize-Weltmeister, der wir geworden sind, doch schlankweg das Deutschtum bestreiten, unserem blonden Rummenigge quasi den Arier-Nachweis verweigern. Sonst allzu eilfertig bereit, die Siege westdeutscher Auswahlmannschaften als Triumphe des deutschen Sportes aufzuplustern - zumal in Richtung Osten -, sah sich Lothar Rühl nach quengelnden Rapporten aus den westdeutschen Botschaften, vor allem auch aus Algier, bemüßigt, den »häßlichen Deutschen« zu expatriieren undalleinHermann Neuberger anzuhängen, der als Saarländer sowieso ein deutscher Grenzfall ist. Es habe sich - dozierte Rühl subtil höheres Staatsrecht - bei der Auswahl in Spanien nicht um die »deutsche« Nationalmann­ schaft gehandelt, sondern um die Elf des »Deutschen Fuß­ ball-Verbandes«. Ist diese Scheidung schon in sich hinreichend juristisch schlüssig - die Kaffem sollen ruhig merken, daß auch ein Bonner Regierungssprecher seinen Band Hegel intus hat oder wie der heißt -, so gewinnt sie darüber hinaus eine wahrhaft philosophische Dimension, da es diesen »Deutschen Fuß­ ball-Verband« natürlich gar nicht gibt. Der unliebsame Fall der »Legion Neuberger« ist damit gelöst, per Annihilation, wie wir Deutsche sagen. Schon recht. Aber wo bleiben da wir »Deutschen«? Soll sich unsere schöne patriotische Seele - per Entscheid der eigenen Regie­ rung, die sich ihrer schämt - zu einem schieren »Verbands«Wesen verflüchtigen?

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Postscríptum II: TAKTISCHER HINWEIS FÜR JUPP DERWALL BEIM NEUAUFBAU UNSERER NATIONALELF »Bogotá, 15. August (AFP). Während eines Freundschafts­ spieles wurde in Kolumbien ein Fußballspieler im Strafraum ermordet, als er beim Stande von 1:2 die Verteidigung umspielt hatte und sich einschußbereit vor dem gegnerischen Torwart befand. Ihn traf ein Projektil aus einer Schußwaffe. Der Täter konnte nicht gefaßt werden.«

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Ein Macht-Wort

J. R., nach Attentat, Operationen und Rekonvaleszenz wie­ der gefährlich kregel auf den Beinen, ist zur Untätigkeit verdammt, denn Bobby führt Ewing Oil weiter: erfolgreich, expansiv, mit neuem Schwung und ohne alte Tricks. Da dröhnt der Erstgeborene auf der Ranch in sich hinein: »Ich mache Bobby kaputt, und wenn ganz Ewing Oil daran zugrunde gehen sollte!« Dynamit für die nächsten Folgen. Die Lunte ist gelegt. Die Schicksalsgötter zündeln schon, zum Wohl des Zuschauers. Denn dieser Bobby bringt mit seinem Fair Play wenn nicht die Firma, so doch zielstrebig die schöne Serie auf den Boden.

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Lied vom braven Bastard

Das Lied des braven Ray hat keiner noch gesungen und dabei ist der Bursche so überaus wohl gelungen Immer schluckt er's schön brav, rückt am Cowboy-Hut wenn J. R. ihm wieder ein Arges tut Er striegelt die Hengste, er zärtelt die Stiere wenn Donna ihn schmäht, dann trinkt er vier Biere Im wilden Duft von Bac nur übersteht er die Rodeos die Haare der Scham sind keimfrei durch Deos Ich wett ne Pfefferminz auf diesen Knaben Der ist zu propper, den will keine haben

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Zu gut um wahr zu sein

In diesen heißen Tagen des Monats Juli hängt meine Leiden­ schaft für DALLAS deutlich durch. Arbeitete der DienstagsTermin nicht bereits selbsttätig meine Wochenplanung durch, hätten es sich die Freunde und Bekannten nicht schon angewöhnt, mich für diesen Tag auszusparen - hei, welche Kreise das zieht! -, dann, fürchte ich, würde ich mir meine Pflichtbesuche auf der Southfork-Ranch wohl derzeit sparen. So aber muß ich meiner Gewohnheit treu bleiben. Zwei Gründe gibt es für meine Müdigkeit. Zum einen weiß das deutsche Fernsehen mit dem Jahresablauf dramaturgisch nichts anzufangen. Anders als in den USA zieht das Fernse­ hen hier mit der Ordnungssehnsucht einer Beamtenseele jahraus jahrein seine Sendungen durch, gönnt den Zuschau­ ern keine Pausen, Stauungen, Höhepunkte. Das Jahr besteht aus 365 Tagen, und damit basta. Mit der peinlichen Pünkt­ lichkeit wie in Krankenhäusern wird dem Publikum seine Mahlzeit verabreicht. Dabei wird auch Steak zum Eintopf. Zum zweiten: derzeit leitet Bobby die Geschäfte von Ewing Oil. Er tut dies so wohlfrisiert wie sein schwarzer Schopf den Schädel ziert. Mit dem Schwung des neuen Besens versucht Bobby, die Firma nach den Prinzipien von Fair Play zu führen: langjährige persönliche Bindungen werden bevorzugt, auch wenn die Konkurrenz höher bietet. Bobby setzt wieder auf Respektierlichkeit innerhalb des heimischen Ölkartells, in dem J. R. wie ein Hai wütete. Der Name der Firma, die Tradition des Hauses Ewing diese sentimentalen, nach rückwärts orientierten Werte lau­ fen unter dem Jüngsten der Familie dem schieren Profitden­ ken den Rang ab. Wie sympathisch, wie langweilig aber auch. Wir wissen nicht erst seit den Tagen des seligen Senators Thomas Buddenbrook aus Lübeck, wo diese Geschäftspraxis hinführt, die nach der Theorie der europäischen Soziologen

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erst in der dritten Generation sich breitzumachen pflegt. Aber in Amerika vollzieht sich nicht nur der Aufstieg rapider, hier setzt auch die Dekadenz früher ein. Mit diesem edlen Bobby als Zentralfigur hat DALLAS das niedrige Profil der anderen Familienserien, die die Wirklich­ keit des Alltags hemmungslos schönen. Jetzt endlich ist DALLAS so schlecht, wie es seine Verächter hier immer schon zu wissen meinten, oder wäre beinahe so schlecht, wenn wir uns nicht auf die Logik dieser Produktion verlassen dürften. Bobby wird Episode bleiben, altweibersommerlich erschöpft und flach. J. R. steht auf dem Sprung. Der Traum vom menschlichen Antlitz des Kapitalismus wird seiner Tatkraft nicht standhalten können. Er wird ihn wegfegen und damit die Wirklichkeit, wie wir sie kennen aus unserer alltäglichen Praxis, wieder ins Recht setzen. Mit einem realistischen Detail allerdings wartet DALLAS auch in seiner Durststrecke untauglicher Güte auf. Während Sue Ellen und der arbeitslose J. R. den zweiten Honigmond durchleben, zerfällt die Bilderbuch- und Hochglanz-Ehe zwischen Pam und Bobby zusehends unter dem Streß der Firmenleitung. Die protestantische Ethik des wachstums­ orientierten Wirtschaftens, zusätzlich garniert mit Skrupeln des Gewissens, zehrt die Zeit und die Energie für Liebe auf und reduziert die sexuelle Lust auf kurzlebige, käufliche Akte, auf einen nervösen Imbiß unter dem Diktat der Stopp­ uhr. Liebe als Funktion der Arbeit - die Erkenntnisse Max Webers bleiben in DALLAS, wirklichkeitsnah wie es ist, auch wenn, wie derzeit, nicht immer alles nach unseren Wün­ schen läuft, streng gewahrt.

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Zwei Genre-Szenen

Dallas, Juli '82. Hart auf hart die Schädel aneinander wie bei zwei texani­ schen Stieren im Kampf um eine Portion Corned Beef. Die Worte ausgestoßen mit dem knappen Atem der Erregung, eine Minute der Wahrheit zwischen zwei Generationen, ein Show Down im Cattlemen's Club von Dallas. Bobby, der Sohn, mit verzerrten Zügen, vom Schweißfilm der Überforderung belegt: »Du hast mir die Macht über Ewing Oil gegeben!« Das Knittergesicht von Jock, dem knüppelharten Firmengründer und Übervater: »Die Macht wird einem nicht gegeben. Macht muß man sich nehmen!« Die Eiswürfel in den Whisky-Gläsern auf den schweren Rauchglasplatten des Cattlemen's Club von Dallas wirken warm und weich. Einbruch des Schweigens. Dann wird neu eingeschenkt. Kein Zweifel, wessen Zukunft da weggetrun­ ken wird. San Francisco, Juli '82. Arm in Arm verlassen die beiden intimen Freunde Helmut Schmidt und George Shultz die Lounge des Hyatt-Hotels von San Francisco. Sie haben gerade gemeinsam an der Bar die letzte DALLAS-Folge gesehen. Draußen wartet eine Batterie von Mikrofonen auf die »Deutsch-amerikanische Freundschaft«. Es geht immer noch um dieses leidige »Pipeline-Ding«, um Reagans Embargo gegenüber dem europäisch-sowjetischen Erdgas-Röhren-Geschäft. Die »Deutsch-amerikanische Freundschaft« nimmt Platz, nachdem der Kanzler umständlich sein Jackett geöffnet hat. Er läßt braunen Schnupftabak auf die schwere Rauchglas­ platte bröseln, um auf staatsmännische Weise Zeit zu schin­ den. Sie hätten gerade, führt dann der Kanzler aus, in intensiven Beratungen die Formel gefunden für das kontro­

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verse Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt: es handele sich da im Grunde um nichts mehr als um einen »Familienstreit«. Elektrisiert springt George Shultz auf, eilt in die Lounge zurück und ruft seinen Präsidenten in Washington an. Dort ist es Mittag. Soeben hat der Präsident die erste Amtshandlung hinter sich gebracht. Er telefonierte mit Larry Hagman, dem Spezi aus Hollywood, gratulierte ihm zu seiner gestrigen Leistung als »J. R.« und ermunterte ihn heftig, umgehend wieder bei Ewing Oil einzusteigen. Er brauche solche harten Kerls wie ihn für sein Wirtschaftsprogramm gerade jetzt. Der Präsident findet Helmuts Lösungsvorschlag sofort einleuchtend, den Georgy ihm da durchgibt. So mag er die Politik, wenn sie lebensnah ¡stund griffig. Genüßlich läßt er einen rosaroten Gummibären auf seiner Zunge zergehen und gibt dem Außenminister dann sein »Okay«. Schon gleich bei seinem nächsten Gesprächspartner, dem Kapitän der Los Angeles Dodgers, wird der Präsident die Formel von dem »Familienstreit« verwenden. So wurde - dank DALLAS - gerade noch im letzten Augenblick das Embargo gegen die Commies auf den rechten Begriff gebracht und konnte auf Eis gelegt werden. Ja, es war auch höchste Zeit dafür, denn nur ein paar Tage danach fing da unten das »funny thing« in Beirut an, und vor allem: die Finalspiele um die amerikanische Baseball-Meisterschaft wurden eröffnet. Da brauchte der Präsident einen klaren Kopf und völlige Entscheidungsfreiheit. »Die Macht wird einem nicht gegeben. Macht muß man sich nehmenI« »Hey, George«, ruft der Präsident noch in den Hörer, »und sagen Sie einen schönen Gruß an Bobby, äh, an Hartmut!«

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Unser Mann in Mexiko

EIN RÄTSEL Schön zu sehen, wie harmonisch im späten Sommer die »Deutsch-amerikanische Freundschaft« sich entfaltet, Kunst und Leben in operettenhafter Unschuld versöhnend. Doch dieser Tage dröhnt feindselig schrill die Trompete eines Kultur-Kriegers in dieses Celluloid-Arkadien. Vor den Toren von Mexiko zieht er blank, der bilderstürmende Ritter, das »Kreativitätsbanner« vor seiner asketisch-abendländi­ schen Schulter aufgepflanzt. In heiligem Zorn eifert er gegen den »intellektuellen Impe­ rialismus«, mit dem eine ungenannt bleibende Großmacht die sublimen Kultur-Werte Alt-Europas und die, nun ja, naive Ursprünglichkeit der Dritten Welt überzieht und vernichtet. Der reisige Mann ruft deshalb die »Internationale der Kulturvölker« zu einem »regelrechten Kreuzzug gegen diese Herrschaft« auf. Runter mit den Jeans! Zerkratzt die ElvisPlatten! Verkleistert eure Bildschirme mit Wrigley's Chewing Gum, wenn DALLAS die »kreative Vitalität unserer Völker« verseucht! Noch immer wissen wir nicht, wer hinter diesen Wortbla­ sen in einer verhunzten Sprache steckt. Joseph Goebbels redivivus? Auch der zitierte bekanntlich Nietzsche, wie unser Mann in Mexiko, wenn sich seine zwei bis drei Gedanken in Ressentiments gegenüber den westlichen »Plutokratien« ver­ hedderten. Oder etwa ein akademischer Homunculus aus Adorno und Tretjakow und Abraham a Santa Clara? Hält Hermann Neuberger in St. Ingbert ein Grundsatz-Referat über die sittlichen Wurzeln des deutschen Fußballs? Oder ist hier gar ein intellektueller Mietling von J. R. Ewing am Werk, der mit diesem zynisch-antiamerikanischen Ballyhoo die Übernahme eines europäischen Medien-Konzerns durch Ewing Oil intonieren soll? 84

Noch immer verbirgt uns das Visier des Kultur-Kriegers seine wahren Züge. Doch still, hinter dem Rüstungsblech beginnt seine Stimme aufs neue zu scheppern: »Das Recht auf Schönheit ist ein Recht des Volkes, also ist es Pflicht der Regierenden und der Regierungen, dessen effektive Aus­ übung zu gewährleisten.« O Großer Gott der Kriege, wer gab dir armem Kerlchen diesen Sprach-Schrott ein? Sollte seine Rhetorik am Ende nur die Folge von Montezumas Rache sein, die unseren Mann in Mexiko bei der »effektiven Ausübung« seines und unseres »Rechts auf Schönheit« ereilt hat? Mehr wollen wir nun nicht verraten. Wer unseren Mann von Mexiko errät, darf die nächsten drei Folgen von DALLAS pausieren und in der dadurch gewonnenen Zeit vor der leeren Mattscheibe das »Kreativitätsbanner« des Abendlan­ des hochhalten.

AUFLÖSUNG

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Reserve hat Ruh'

10. August. Jetzt endlich ist Bobby out. Er hat die Leitung von Ewing Oil geschmissen. Doch nicht nur er war überfordert. Auch für den Zuschauer war es eine Qual zu sehen, wie der gute Junge sich da um ein anständiges Geschäftsgebaren bemühte und trotzdem Rendite machen wollte. J. R., der im Off intrigant lauernde Rivale, behielt diesesmal leider nicht Recht mit seiner Einschätzung: »Sogar Bobbys Loyalität hat ein Preisschild!« (3. Juli). Nein, Bobby hat seine Chance nicht genutzt. Nie konnte er den adretten Pfadfinder von nebenan abstreifen, der violetten Omis über die Straße hilft, ohne ihnen dabei unter den Rock zu fassen. Nett zu den Rindern, war er als Öl-Boß eine heroische Fehlbesetzung. Kaufleute sind doch noch im harm­ losesten Fall wenigstens »schillernde Persönlichkeiten«. Als habe man den Kopfgeld-Jäger im Western mit dem Gemüt eines Landpastoren ausgestattet, bleibt der sozialfreundliche Bobby als Firmenchef sauber, ein millionenschwerer Robin Hood, aber um welchen Preis! Erstens ließ er Frau Pam wochenlang sexuell saumäßig darben, daß den Zuschauer am Bildschirm ihre unerfüllt feucht schimmernden Augen jammerten und sicher Millio­ nen Männer da gerne eingesprungen wären (wer nicht, Hand aufs Herz?). Und dann hätte er - vor allem - beinahe die ganze DALLAS-Serie ruiniert. Denn diese Lebenslüge eines anstän­ digen Kapitalismus', wie an ihr in den Wirtschaftsteilen der hiesigen Tages- und Wochenzeitungen gesponnen wird in Kommentaren neben den Zahlenkolonnen: sie muß einem doch nicht auch noch von DALLAS eingehämmert werden. Hier wird der Wirklichkeit 45 Minuten lang pro Woche eine Chance gegeben. Göttliche Direktheit! Und so charmant dabei. Deshalb: Welcome back, J. R!

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Kopf oder Zahl?

Nach seinem Ausscheiden aus der Firmenleitung von Ewing Oil probt Bobby den totalen Ausstieg: er setzt auf alternative Energien. Sein erster Coup in dieser Richtung: aus den Ölgewinnen des Stammhauses finanziert er ein wissenschaft­ liches Projekt zur Erforschung von Sonnenenergie. Der ewige Verlierer mit dem freundlichen Gesicht als Förderer alternativer Utopien? Ist dem Projekt damit schon vor seinem Start das Urteil gesprochen? Mag sein. Doch die zeitsensiblen, zukunftswachen DALLAS-Macher halten sich auch die andere Option offen: der außerplanmä­ ßige Fortschritt, immer wieder von belächelten Philanthro­ pen und dickwandigen Querköpfen inszeniert, die in der Gegenwart kein Genügen fanden und finden, hat immer wieder seine reelle Chance gehabt, vor allem in den USA. Es ist ein Wettstreit auf des Messers Schneide, wie zwischen zwei feindlichen Brüdern. Die großartige Offenheit des DALLAS-Konzepts beläßt es jedem Zuschauer, sein eigener Polyhistor und Futurologe zu sein. Das Match ist offen. Hand auf Ihr Portemonnaie: Wieviel Mark setzten Sie auf Bobbys Sonnenköpfchen? Würden Sie nicht doch lieber Ihren Sparpfennig J. R. anvertrauen, auf daß er wuchere?

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Pink und Hermann Hesse

»Jocks Witwe findet Trost bei Miß Ellie.« Ich gebe zu: auch mich hat dieser Satz, mit dem »Frau aktuell« Ende September seine Leser am Kiosk auf die wohlvertrauten Pfade gen Dallas locken will, einige denkerische Anstrengung gekostet. Diese grandiose Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit! Dann aber war für mich nicht nur klar, daß mit »Jocks Witwe« Blanche Davis gemeint ist, die Witwe des Schauspie­ lers Jim Davis, der in der Rolle des »Jock« zwar immer noch wöchentlich als leibhaftige Kunstfigur über den westdeut­ schen Bildschirm stakste, von dem dieselben Zuschauer aber offenbar aus anderen Informationsquellen schon wissen, daß er »in Wirklichkeit« am 26. April 1981 gestorben ist. Nein, an diesem Satz der Regenbogen-Presse, der Fiktion und Wirk­ lichkeit auf mystische Weise ineins setzt, ging mir mit einem Schlag auf, daß DALLAS seinen Betrachtern eine ganz eigen­ artige, ungewohnte Betrachtungsweise abverlangt, von der ein radikaler Ästhet eigentlich nur schwärmen kann: die Sphären von Kunst und Leben laufen spielend und verspielt ineinander wie die Regenbogen-Farben eines Ölflecks auf regennassem Asphalt. Unser Kopf wird dabei, ohne daß es uns schwer fällt, zu einer höchst komplizierten Denk- und Wahrnehmungs-Ope ­ ration gezwungen, die Bert Brecht in seinem »Epischen Theater« mit weit geringerem Erfolg zu verwirklichen gesucht hat: die Zerstörung der ästhetischen Illusion, das Schleifen der Bühnen-Rampe als Leistung der Erkenntniskraft. Es ist eine »doppelte Optik«, die wir Fans Woche für Woche auf unser Gesellschaftsspiel DALLAS anwenden. Denn längst schon haben wir es uns angewöhnt, nicht nur das texanische Monopoly mit seinen festgelegten Rollen mitzuspielen, mit einer Intensität und einer Vertrautheit, die aus dem Gesetz der Serie kommt. Wir verbringen Woche für Woche eine Stunde mit diesen Menschen, und das ist 88

erheblich mehr - da hat der SPIEGEL-Fechter Hellmuth Karasek ganz recht - als die Zeit, die wir nahen Verwandten, den Eltern, den Geschwistern widmen, wenn sie in einer anderen Stadt leben. Durch den Dauerbeschuß schleichen sich die DALLAS-Figuren in unser Bewußtsein ein und drükken sich fest und unablösbar in unsere Phantasie: sie beset­ zen einen Großteil unseres Bildervorrats. Dagegen wendet sich ja in erster Linie unsere erlauchte Kultur-Kritik mit ihrem Vorwurf, DALLAS sei Gift, DALLAS sei Droge. Da diese unsere Intellektuellen aber, wenn man ihnen Glauben schenken darf, aus Ekel vor dem Pöbel-Werk aus Hollywood ihren zarten Nerven nur zwei oder drei Folgen zumuten durften, können sie den anderen Effekt natürlich nicht ermessen, der uns treue, allwöchentlich pünktliche DALLAS-Fans erreicht. Wir, und nur wir sehen, wie die Schauspieler in diesen Figuren spielen, wie sie - am deut­ lichsten vielleicht Larry Hagman als J. R. - ironisch mit ihren Rollen kokettieren (eine Ironie freilich, die amerikanischen Augen wohl deutlicher wird als deutschen), wie sie - und das ist kein Widerspruch - über Wochen, Monate, Jahre ihrer Arbeit hinweg mit diesen Rollen zusammenwachsen, eins werden mit ihnen, wie sie sie »blind« spielen, bis eben die völlig außenstehende, unbekannte Blanche Davis ebenso rechtmäßig als »Jocks Witwe« trauern darf wie Barbara Bel Geddes: Miß Ellie. Und wir, nur wir kennen uns aus in den Identitäten und in den Gegensätzen zwischen Rolle und Darsteller. Wir wissen, daß Larry Hagman-wie J. R. - einen Mercedes SEL 450 fährt und stets einen Stetson auf seinem Kantschädel sitzen hat; daß Jim Davis selig seine Erholung beim Reiten und bei FarmArbeiten fand; daß Patrick Duffy auch privat in CowboyStiefeln und Cowboy-Klamotten herumläuft. Wir wissen andererseits und genießen es als Kitzel, daß die keusche, mandeläugige Pam als Victoria Principal mehr Liebes-Affä­ ren hinter sich hat, als sie im Spiel J. R. Ewing angedichtet

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werden, oder daß das flippige Betthupferl Lucy als Charlene Tilton ein monogames Mäuschen ist (Lieblingsfarbe: pink, Lieblingsautor: Hermann Hesse). Und warum hat man einen der Ewings noch nie mit einer Zigarette, mit Zigarre oder Pfeife gesehen? Warum ließ sich die Kamera das Attribut einer prunkvollen, diamantenübersä­ ten Zigarettenspitze in Pam Ewings schmaler Hand entgehen? Wir wissen auch dies: weil der mächtige Schauspieler Larry Hagman ein militanter Nichtraucher ist und in seinem Vertrag ein Rauchverbot in den Studios ausgehandelt hat. So werden die kleinsten Marotten des Lebens auf dem kürzesten Weg zu Kunst und damit bedeutsam. Wohin diese »Doppelte Optik« führen mag, die hier einem westdeutschen Publikum anhand von DALLAS zum ersten­ mal, soweit ich sehe, eingeübt wird - ich weiß es nicht. Ich spüre nur, daß hierbei nicht nur alte ästhetische Maßstäbe und Modelle unserer europäischen Zivilisation ins Rutschen geraten. Deshalbhatwohl unsere Kultur-Kritik dieser Serie so erbittert den Fehde-Handschuh hingeworfen und verhüllt zugleich ihr greises Haupt davor, um sich von Schillers »Ästhetischer Erziehung des Menschen« nicht trennen zu müssen. Sind die Amerikaner tatsächlich Hinterwäldler, weil sie einen ehemaligen Schauspieler als Präsidenten gewählt haben, der diesen Part wie eine Hollywood-Nummer spielt nach den Skripts, die ihm andere, ghost writers, schreiben? Oder sind wir es, die sich darüber vornehm moquieren, so als vollziehe sich bei uns die Politik im Raum des Authentischen? J. R. Ewing brauchte wohl keine Sekunde für eine Antwort, und er würde sie äußern auf dem Bildschirm zu Millionen von Zuschauern zur besten Sendezeit. Bei uns könnte es vielleicht passieren, daß ein Politiker, angetrunken, im klei­ nen Kreis von Vertrauten, hinter vorgehaltener Hand diese Ansicht zu flüstern wagte.

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Ave, Friedrich, wir grüßen dich!

28. September 1982. Vier Wochen DALLAS-Pause für mich, vier Wochen außerhalb seines Geltungsbereichs: Ferien in Ungarn. Hier fließen zwar Coca Cola und Pepsi im Überfluß, alle unsere schönen Deostifte, Wrigley's Kaugummis mit ihrer ganzen Geschmacks-Palette sind da, aber gegenüber DALLAS hält der Vorhang gerade noch, der früher einmal so eisern war. Kein schwarzer Zigan im ganzen Land, der mir auf seiner flinken Fiedel die Titel-Melodie von DALLAS herbeizaubern konnte, und dabei kennen sie sonst alles hier, bishinunterzur Neuen Deutschen Welle. (Der absolute Zigan-Renner aber war der »Ententanz«.) Bei den Freunden und Bekannten, bei denen ich mich zurückmelde, hat sich in dem vergangenen September, einem prallen Sonnen-Monat in Mitteleuropa, nichts getan. Eine Freundin hat immerhin ihre Küche neu gestrichen. Wie anders bei den Lieben in DALLAS! Lucy ist in meiner Abwesenheit zur »Miß Young Dallas« gewählt worden (der Wettbewerb hat offenbar in einem Blindenheim stattgefunden). Der brave Bastard Ray KrebbsEwing hat endlich seine Donna heimgeführt. Deshalb dürfen beide jetzt am Frühstückstisch den gleichen Orangensaft trinken wie J. R. Und Bobby, der gute Junge, ist in den Senat gewählt worden und kämpft auch hier ungebrochen um persönliche Integrität. Ach Gott, nach der letzten Präsiden­ tenwahl holt das einen auch nicht vom Hocker. Das sind eher Kräuselungen am Rand, periphere Verschiebungen wie bei einem neu gemischten Kartenspiel um den Schwarzen Peter. Einschneidendes hat sich dagegen im Familien-Zentrum ereignet. Wieder einmal über ein »grünes« Problem, die Umwandlung eines Stückes texanischer Natur am TakapaSee in einem Freizeit-Park, ist die Ehe zwischen Jock und Miß Ellie in Turbulenzen geraten. Diesmal müssen sie besonders

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heftig sein, denn es gilt, den Abgang von Jim Davis, der die Dreharbeiten zu den letzten Folgen nur noch unter Schmer­ zen durchstehen konnte, bevor er am 26. April 1981 starb, dramaturgisch in die Wege zu leiten. Bald werden wir auch hier in Deutschland auf das Knittergesicht unter dem blauge­ spülten Haar-Helm verzichten müssen. Jim Davis, ohnehin nur zweite Wahl für diese Rolle - John Wayne war ursprüng­ lich vorgesehen als Jock, aber er mußte, selbst todkrank schon damals, absagen-, Jim Davis tritt zurück in die Kulisse der beiden Spiele: bei DALLAS und im Leben. Haltet mich meinetwegen für verrückt, aber es ist so (wenn man das DALLAS-Spiel einmal ernst genommen hat, ent­ grenzt es sich auf eine magische Weise, die ein wenig zum Fürchten ist): Wenn ich sie so sitzen sehe, in ihren Trotz verbohrt, zutiefst beleidigt, verbittert alte Rechnungen durch­ grübelnd, getrennt durch ein Umwelt-Problem (an der Ober­ fläche): Miß Ellie auf der Southfork-Ranch. Jock in seinem Appartment in Dallas, dann habe ich sie, die Bilder, die mir fehlen, zum Bruch der sozialliberalen Ehe, die sich in meiner Abwesenheit hier vollzogen hat und die uns übermorgen den neuen Kanzler Helmut Kohl bescheren wird. Da sitze ich, mit meinen Emotionen bis unter den Hals, mit meinen Befürchtungen, habe mir in aller Eile alle erreichba­ ren Fakten über den Hergang der Bonner »Wende« einver­ leibt, aber es fehlen mir die Bilder dazu, die Gesten, die Mimik einer Trennung, die eine historische Zäsur »in diesem unserem Lande« setzt. Und in meinem Hirn purzelt es durcheinander, daß es beinahe zum Schämen ist: oberfläch­ lich die fiktionale Geschichte einer amerikanischen FernsehSerie, in die ich mich freien Willens ein gutes Jahr lang habe hineinverstricken lassen; darunter das sich vor der Kamera ereignende Sterben eines Schauspielers, und tiefer endlich, nicht mehr rational zu orten, das Nachbeben eines Schocks in meinem Kopf über die Nominierung des künftigen Innenminsters Dr. Friedrich Zimmermann. Ich weiß sehr gut, wie mich da die Pathetik des Trivialen

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einholt und ein Denken in politischen Begriffen behindert. Aber dieses Wissen nützt mir jetzt überhaupt nichts. Nein, ich bekenne meine hilflos wabernde Orientierungslosigkeit ein, die in völlig inkommensurablen Wirklichkeits- und BildBereichen wildert. »Der Kanzler geht von Bord«, schon das ein historisches Zitat, Jim Davis stirbt, die Bilderbuch-Ehe zwischen Jock und Miß Ellie, auf die ich vor Wochen noch eine Bank gesetzt hätte, in Brüchen - in diesem Bruch stellt sich hier und heute mein zeitgenössisches Bewußtsein dar.

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Lied vom Luxus

Die Geräte sing ich, den Mann, den Wagenpark der Ewings O Schauer, kennst du sein Lob, pferdestark und formschön doch? Manches Modell gar siehest du, das auf Stuttgarts Höhen entworfen weichgefedert, lupenhaft leis, dreisterngeschmückt, automatikgekürt für den erhabnen Gebrauch unter hochhackigen Schuhen der Gattinen oder dem Cowboy-Kothurn der Herren, o Muse, mir bricht die Stimme darob!

Weltreiche zitterten dereinst vor einer Handvoll Pfeile Durch weniges Giftfielen, erinnre ich recht, Rom oder Athen Selbst Babylon wankte dazumalen, oder warn es die Pha­ raonen? Doch du, o DALLAS, Himmlische, bist geborgen im Dreistern von Cannstadt und sollst es, o Götter, bleiben bis auf das Ende der Tage! Denn in Texas erst kommt das Gerät, das teure, so recht zu sich selbst doch sing mal Männer und Geräte auf Schwäbisch es tönet zum Grausen Selbst du, Kollege Vergil, der du nicht ohn jedes Talent den Griffel einst führtest selbst du würdest im Grame die Feder beugen darnieder Hier aber, in Texas, der Heimstatt höherer Marktwirtschaft ist noch nicht verloren Phöbus Apolls hehrer Sang und Klang auf technischen Fortschritt, die kapitale Macht, das Knowhow zudem Sehet sie rollen, o Freunde des Schönen und Wahren und Guten 94

sehet Bobby und Pam wie Miß Ellie dahinwandeln auf leichtfüßigen Pneus hinan und hinab auf Texas' breiten Boulevards den Psychiater aufzusuchen ein Geschäftchen zu tätigen downtown oder eine Bonbonniere zu tragen gen Southfork Jetzt erst wird die deutsche Erfindung Ereignis erlangt ein höheres Recht Verhülle dein Haupt, o Muse, denkend, daß das gleiche Gerät der Parteisekretär einer anderen Welt über das staatlich verhängte Schlagloch steuert Wie, sag es mir an, Zeus oder ein andrer, soll hier erblühn das erhabene Dreigestirn? Ex Oriente Lux, das mag ja wohl angehn doch Luxus im Osten will mir kaum Tätlich erscheinen ja, der Rückkauf von Luxux für Lux nachgerade blasphemisch dünken Deshalb sing ich nur hier im hellen Westen von Texas das Loblied dir, Mercedes, sing die Geräte und Männer und, ach, die Frauen derer von Ewing so rein als eben die Muse mir Spätgeborenem den Hexameter gönnt.

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Abspann

Kneifen wir nicht verbissen die Augen zusammen vor dem Vorhersehbaren, als gäbe es keine Fortsetzung. Halten wir, vorläufig ein letztesmal der DALLAS-KunstDramaturgie vertrauend, die Augen offen auf das Leben als ein open end

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Pausenbild mit Tönen

Joey M. Orpheus steht in einem vollen Müll-Container, bis zu den Knien im Abfall versunken. Auf den Kopf hat er sich einen Karton gestülpt, der vormals Joghurt-Produkte barg. Die eingetrocknet fade Spur in der Ecke verrät seine gesunde Abstammung. Auf der Ramme seines T-Shirt-Bäuchleins schlägt Joey M. Orpheus die Gitarre. Lauthals auf dem Abfall-Friedhof singt er seine Lieder von Liebe und Tod. Die dankbarste und klügste Zuhörerin von Joey balanciert auf dem Rand des Containers. Braun getönt und wundervoll geformt, mit einem engen roten Kleid auf den griffigen Hüften, Schweißperlen am kostbar langen Hals: so ist sieeine glänzende Erscheinung. Sie hört dem Sänger mit gläsern kühler Leidenschaft zu. Und er dankt es ihr, auf seine Art. Zwischen den Liedern nimmt er sie in seine Hände, hebt sie an sein Gesicht, die Lippen, und gibt ihr einen langen, tiefen Zungenkuß, der seufzend endet, mit einem zarten Plop. Danach muß Joey wieder Luft für seine Gesänge holen. Nach drei oder vier Liedern ist die Geliebte ganz in Joey M. Orpheus eingegangen. Dann greift er sich eine neue Anhängerin. Die alte Liebe aber nimmt er zu sich in den Container, begräbt sie klirrend zu seinen Knien. Die Leichen seiner Lieben, die sich im Leeren erfüllt haben, häufen sich mit Joeys Liedern über Liebe und Tod, graben den Sänger ein bis zu den Hüften, er muß die Gitarre an die Brust heben, die Arme anwinkeln. Die reichlich genossene Liebe macht Joey schwer im Kopf und lähmt die Bewegungen seiner Arme im Krampf. Der Dreispitz ist ihm vorne über das Gesicht gekippt und bringt den Sang ins Gurgeln. Längst untauglich die Gitarre, zum Müll geworden. Von unten drängt all die genossene Liebe schon an des Sängers Hals: der letzte wichtige Spalt, die Schwelle nach

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außen, und auch Joeys Atem wird mählich schwächer und endlich schwach. Seine letzte Geliebte kann Joey M. Orpheus nicht mehr erreichen. Der ganzen Sehnsucht seines Lebens gibt sie noch einmal ein Ziel. Und er kennt keine Reue, auch wenn ihm seine vergangenen schönen Lieben so schwer und so been­ gend jetzt auf dem Adamsapfel liegen und ihm - ist das noch die Liebe? ist das schon der Tod? -, ihn erdrückend, beinahe schon zum Müll seines eigenen Lebens geworden, den letzten Laut von den Lippen nehmen, gemischt aus Wollust und Qual. Einer jener Passanten, die immer der Zufall des Weges führt, dorthin, wo es sie nichts angeht, er will in diesem Augenblick ein vages Zittern in der Bierflaschen-Halde des Müll-Containers bemerkt haben.

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