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alexander kirichenko
Senecas Tragödien und die Rhetorik des Sehens
Lehrreiche Trugbilder
ie moderne Rezeption der Tragödien Senecas wird von den Oppositionen zwischen Rhetorik und Theater und zwischen Philosophie und Literatur dominiert. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, dieses dualistische Denken zu überwinden. Das gelingt vor allem durch eine Analyse der rhetorischen Mechanismen, die dazu dienen, den visuell überwältigenden Effekt der senecanischen Rhetorik in einen kognitiven Prozess zu transformieren. Senecas Rhetorik des Sehens wird anschließend sowohl im Kontext der kaiserzeitlichen visuellen Ästhetik als auch innerhalb von Senecas philosophischem Œuvre betrachtet. Als Folge entsteht ein differenzierteres Porträt des Seneca tragicus, dessen Rhetorik zutiefst theatralisch ist, dessen dramatische Dynamik durch die statische Rhetorik ihre Kraft überhaupt erst entfalten kann, der literarische Anspielungen zu philosophischen Zwecken verwendet und gerade in seinen philosophischsten Momenten vor allem ein Dichter bleibt.
kirichenko
kirichenko · Lehrreiche Trugbilder
Lehrreiche Trugbilder
Druckfarben cyan magenta gelb schwarz
Universitätsverlag
isbn 978-3-8253-6249-2
win t e r
Heidelberg
bi bli oth ek d er k lassisch en altertu m sw issen s cha f t en Herausgegeben von
j ürg en paul s chwin dt Neue Folge · 2. Reihe · Band 142
alexander kiri ch en ko
Lehrreiche Trugbilder Senecas Tragödien und die Rhetorik des Sehens
Universitätsverlag
w i n ter Heidelberg
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Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung.
umschlagbild Matthias Grünewald: Die Versuchung des Heiligen Antonius, Isenheimer Altar, 1506–1515, Musée d’Unterlinden, Colmar
isb n 978-3-8253-6249-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o13 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben. Th. Bernhard, Auslöschung: Ein Zerfall
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. R.M. Rilke, Archaischer Torso Apollos
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Teil I. Ekphrasis und Metatheater 1. Das Leben als Heldentat: Hercules Furens
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2. Imago mortis: Phaedra
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3. Ein Blick de profundis: Agamemnon
61
4. Der Tod als Spektakel: Troades
79
5. Der blanke Horror: Medea
101
6. Das innere Monster: Oedipus
119
7. Die Entfesselung eines Überbietungskünstlers: Thyest
147
Teil II. Schock und Erkenntnis 8. Mirabile visu: Das Staunen in der visuellen Ästhetik der Kaiserzeit
169
9. Lehrreiche Trugbilder: Philosophie und Theater in Senecas Œuvre
207
10. „Du musst dein Leben ändern“: Der Chor und das tragische Spektakel
249
Bibliographie
281
Index locorum
295
Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die ich im November 2011 am Fachbereich II der Universität Trier eingereicht habe. Die erste Fassung des Manuskripts entstand größtenteils zwischen November 2010 und Mai 2011 während meines Forschungsaufenthalts an der Universität Cambridge im Rahmen des Feodor-Lynen-Programms der Alexander von Humboldt Stiftung. Mein besonderer Dank gilt der Alexander von Humboldt Stiftung nicht nur für die Gewährung des Stipendiums, sondern auch für die Übernahme der Druckkosten, die die Publikation des Buches ermöglichte. Meine Entscheidung, eine Monographie über Senecas Tragödien zu schreiben, geht auf den Vortrag zurück, den ich anlässlich der Tagung Choral Intermedialities in Greek Drama im Oktober 2009 an der Northwestern University in Evanston, IL gehalten habe. Ich danke Marianne Hopman and Renaud Gagné für die Einladung und den Tagungsteilnehmern für die anregende Diskussion. Farouk Grewing danke ich dafür, dass er mich im Juni 2009 gebeten hat, eine Sitzung seiner Vorlesung zur neronischen Literatur an der Universität Wien zu übernehmen. Einige der Grundgedanken dieses Buches haben sich bei der Vorbereitung auf diese Vorlesung herauskristallisiert. Zusätzlich möchte ich mich sowohl bei den Mitgliedern der Habilitationskommission (Stephan Busch, Oliver Hellmann, Franziska Schößler, Christine Walde und Georg Wöhrle) als auch bei den Freunden bedanken, die einzelne Kapitel gelesen haben (Thomas Lemmens, Martin Stöckinger), und insbesondere bei Sabine Heck, die das gesamte Manuskript sorgfältig redigiert hat. Für alle verbleibenden Fehler bin ich natürlich allein verantwortlich. Jürgen Paul Schwindt danke ich schließlich für die Aufnahme des Buches in die Reihe Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Juni 2013
Trier
Einleitung Beim Nachdenken über die Tragödien Senecas wird man mit unzähligen Widersprüchen konfrontiert. Schon die Figur des Autors – eines der mächtigsten Menschen seiner Zeit und eines stoischen Moralisten, der die illusorische Natur aller irdischen Güter predigte – verkörpert für viele moderne Leser ein schwerlich nachvollziehbares Oxymoron.1 Dass gerade dieser Stoiker, der mit wirkungsvoller Eloquenz für die seelische Ruhe plädierte, gleichzeitig Theaterstücke schrieb, die einige der beunruhigendsten Bilder der antiken Literatur enthalten, wirkte auf einige Leser bereits in der Spätantike so befremdlich, dass man gelegentlich sogar so weit ging, Seneca philosophus und Seneca tragicus zu zwei verschiedenen Menschen zu erklären.2 Die Tatsache, dass Seneca nicht nur als Berater Neros – des notorischen imperator scaenicus – tätig war,3 sondern auch sein Leben auf äußerst theatralische Weise beendete, indem er sich in der Rolle des platonischen Sokrates in Szene setzte,4 verkompliziert dieses widersprüchliche Bild noch mehr. Das Verhältnis der Tragödien Senecas zu ihrem unmittelbaren kulturellen Kontext ist nicht weniger verwirrend. Einerseits besitzen wir keinerlei zeitgenössische Zeugnisse, die Senecas Tragödien direkt erwähnen: Sogar Senecas eigene zahlreiche Prosaschriften enthalten keinen einzigen direkten Hinweis auf seine Theaterstücke.5 Dies hat zur Folge, dass sich über die Entstehung und die zeitgenössische Rezeption der Tragödien nichts mit Sicherheit sagen lässt: Wir wissen 1 2
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Griffin (2008), 23. Sidonius Apollinaris, Carm. 9.232-238. Siehe dazu Ker (2006). Vgl. Segal (1986), 11: „Seneca’s portrayal of powerful emotions to shock or horrify his audience seems increasingly refractory to a philosophical interpretation which would see him as combating these emotions.“ Alessandro Schiesaro betrachtet die Möglichkeit einer von einem stoischen Philosophen gedichteten Tragödie als einen unlösbaren logischen Widerspruch, Schiesaro (2003), 253: „What we ultimately face is the impossibility of Stoic tragedy. For sapientes will have no interest in it, and proficientes are as likely to be deceived by it as they are to draw useful precepts.“ Plin. Paneg. 46.4. Vgl. Bartsch (1994), 36-62. Der locus classicus, in dem Senecas Selbstmord geschildert wird, ist Tac. Ann. 15.6263. Zur theatralischen Natur von Senecas Tod siehe Ker (2009), 113-146. Das beste vorhandene Zeugnis ist eine mögliche Anspielung auf die Tragödien in Senecas Apocolocyntosis: Vgl. Sen. Apoc. 12.1-2 fundite fletus, edite planctus, / resonet tristi clamore forum; Sen. Tr. 131 fundite fletus; Sen. HF 1108 resonet maesto clamore chaos. Dazu siehe Nisbet (1990), 95-97.
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weder, in welchem Lebensabschnitt, unter welchen Umständen, oder in welcher Reihenfolge Seneca seine Tragödien verfasste,6 noch ob sie zu seinen Lebzeiten jemals aufgeführt wurden. Andererseits sind Senecas Tragödien nicht nur in ihrer zeitgenössischen Kultur zutiefst verwurzelt, sondern prägen auch maßgebend unser Bild der neronischen Epoche. Die außerordentliche Besessenheit der senecanischen Figuren mit Rollenspiel, was die Tragödien wie den Gipfel des antiken Metatheaters erscheinen lässt,7 sowie ihre Schilderung der blutigen Folgen des Machtmissbrauchs evozieren unweigerlich das aus den historiographischen Berichten des Tacitus, des Sueton und des Cassius Dio berühmt-berüchtigte Bild des kaiserlichen Muttermörders, dessen ungezügelte Grausamkeit selbstbewusst theatralische Formen annahm.8 Diese unübersehbaren Parallelen haben zur Folge, dass einige Forscher es sogar für gerechtfertigt halten, in Senecas Tragödien transparente politische Allegorien zu sehen.9 Gleichzeitig könnte man sich aber auch ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Seneca und dem durch die Geschichtsschreibung tradierten Bild der neronischen Zeit vorstellen: Es ist in der Tat nicht undenkbar, dass Senecas paradigmatische Darstellungen der in mythologischen Königshäusern stattfindenden Gräueltaten einen direkten Einfluss auf die literarische Schilderungen des Lebens Neros ausübten. Der Prozess der Übertragung der senecanischen tragischen Poetik auf das Leben Neros kommt in der Octavia – der pseudo-senecanischen fabula praetexta – am deutlichsten zum Vorschein, denn die Hauptakteure dieses Stückes – Nero selbst, seine Mutter Agrippina, seine geschiedene Frau Octavia, seine neue Frau Poppaea und (was besonders aufschlussreich ist) sein Berater Seneca – reproduzieren in ihrem Verhalten die sofort erkennbaren Denk-, Rede- und Verhaltensmuster der Protagonisten der authentischen Tragödien Senecas.10 Gleichzeitig weisen sowohl die Octavia als auch einige der echten Theaterstücke Senecas offensichtliche Parallelen zu den Schilderungen der Herrschaft Neros bei Tacitus und Sueton auf.11 Es ist zwar unmöglich festzustellen (und darum letztendlich 6
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Zu den wichtigsten Anhaltspunkten, auf die man sich sowohl bei der absoluten als auch bei der relativen Datierung der Tragödien Senecas stützen könnte, siehe Nisbet (1990) und Dingel (2009). Vgl. Mario Erasmos Buch zur römischen Tragödie (Erasmo 2004), dessen Kapitel zu Seneca schlicht Metatragedy heißt. Siehe auch Boyle (1997), 112-137. Bartsch (1994), 1-35. Vgl. Bishop (1985), Lefèvre (1985b). Vgl. Ferri (2003), 46-50. Vgl. Boyle (2008), lvi-lxxiv. Siehe auch A.J. Boyles (2011, lxxxii) Bemerkungen zu den Parallelen zwischen den Darstellungen des Selbstmordes Iocastes in Senecas Oedipus (1038-1039) und des Selbstmordes Agrippinas in Oct. 368-372 und Tac. Ann. 14.8.4: „The coincidence of phraseology is remarkable. Whatever the date of Seneca’s Oedipus, both Tacitus and the dramatist of Octavia seem to have seen in the presentation of Jocasta a suitable model for their account of Nero’s mother, one which
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auch nicht besonders wichtig), ob das Verhalten von Senecas blutrünstigen Figuren auf konkreten zeitgenössischen Vorbildern basiert, ob die Darstellungen der theatralisierten Gewalt bei Seneca das Bild der neronischen Epoche in der Geschichtsschreibung beeinflussten, oder (was viel wahrscheinlicher ist) ob es keine in der Begrifflichkeit der Quellenforschung formulierbare direkte Verbindung zwischen den beiden gibt. Viel wichtiger ist, dass die unbestreitbaren Übereinstimmungen zwischen der Geschichtsschreibung der Kaiserzeit und Senecas Tragödien die letzteren als den Inbegriff der neronischen Literatur und somit der neronischen Epoche überhaupt erscheinen lassen, und dies ungeachtet der Tatsache, dass sie von den erhaltenen zeitgenössischen Quellen vollkommen ignoriert werden und dass nicht einmal ihre Entstehungszeit unter Nero als sicher gelten darf.12 Ähnlich kontrovers verhält es sich auch mit der nachantiken Bewertung der Tragödien. Es gibt zweifelsohne unzählige antike Autoren, deren späterer Ruf äußerst radikalen, vom Zeitgeist und Geschmack abhängigen Schwankungen unterlag. Es gibt aber wohl keinen anderen klassischen Schriftsteller, der mit ähnlicher Bedingungslosigkeit wie Seneca tragicus zu unterschiedlichen Zeiten gepriesen und getadelt wurde. T.S. Eliot bringt die Einzigartigkeit der Stellung Senecas in der Weltliteratur in seinem ursprünglich 1927 verfassten Essay auf den Punkt:13 In the Renaissance, no Latin author was more highly esteemed than Seneca; in modern times, few Latin authors are more consistently damned.
Als die einzigen komplett überlieferten in lateinischer Sprache verfassten antiken Tragödien waren es in der Tat Senecas Stücke, und nicht etwa die der griechischen Tragiker, die als die wichtigsten klassischen Vorbilder für die Tragödie der Renaissance und der frühen Neuzeit dienten.14 Somit prägten sie das über Jahrhunderte bestehende Verständnis des Tragischen in der europäischen Literatur im Allgemeinen.15 Im neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hingegen war man von den theatralischen Erzeugnissen Senecas bestenfalls irritiert. Dass Senecas Dramen nach dem Ende der klassizistischen Tragödie keinen spürbaren Einfluss auf die zeitgenossische literarische Produktion mehr ausübten, darf wohl kaum überraschen. Der veränderte literari-
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sustained the rumors of incest between Agrippina and her son and underscored the moral perversion at the heart of the late Julio-Claudian court.“ Vgl. Tarrant (1976), 7: „What should be clear, however, is that the fashionable interpretation of these works as ‚Neronian’ has no secure basis in fact; they could with equal justification be regarded as Claudian, Gaian, or even Tiberian.“ Eliot (1951), 69. Braden (1985); Boyle (1997), 141-210. Zur Rolle Senecas für die in der Renaissance vorherrschende „idea of tragedy“ siehe Staley (2010).
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sche Geschmack fand aber auch Einzug in literaturgeschichtliche Abhandlungen, die Seneca mit solcher Einstimmigkeit verurteilten, dass Otto Regenbogen, der im gleichen Jahr, in dem das Seneca-Essay des T.S. Eliot entstand, eine der ersten den Tragödien Senecas wohlgesinnten Abhandlungen in deutscher Sprache veröffentlichte, seiner Studie eine wahrhafte Apologie voranschicken musste:16 Wer heutigen Tages, und zumal in Deutschland, den Versuch macht, vor einem weiteren Kreise über Senecas Tragödien zu handeln, den Problemen, die sie aufgeben, nachzugehen, ihrem Wesen und ihrer eigenen Art nachzufragen, der befindet sich in einer schwierigen Lage. Er steht gegenüber einmal, man möchte fast sagen günstigen Falles, einem Nichtkennen, aber auch einer Fremdheit im engeren Sinne, einem Vorurteil, das den ‚Schwulst’ und ‚Bombast’ der ‚rhetorischen Tragödie’ ablehnt.
Vorwürfe von ‚Bombast’, ‚Schwulst’ und ‚Rhetorik’ (der letztgenannte Begriff dürfte als eines der schlimmsten Schimpfwörter im Arsenal der englisch- und deutschsprachigen Literaturkritik bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet werden)17 konstituierten in der Tat Jahrzehntelang den einzigen konzeptuellen Rahmen, in dem sich die ästhetische Auseinandersetzung mit Senecas Tragödien bewegte. Ihre statische, rein deskriptive Rhetorik und ihr damit einhergehender Mangel an theatralischer Dynamik wurden so stark betont, dass unter den meisten Kritikern kein Zweifel daran bestand, dass sie nicht nur zu Senecas Zeiten nie aufgeführt wurden, sondern auch dass sie überhaupt nicht aufgeführt werden können. In Senecas Charakteren sah man, vor allem im Vergleich zu ihren griechischen Vorbildern, künstlich konstruierte Figuren, die kein natürliches Empfinden zeigen und die ihre Gedanken in gestelzten, maßlos aufgeblähten Deklamationen äußern. Die angeblich amorphe Struktur der senecanischen Stücke zeugte für die Kritiker dieser Zeit von einer planmäßigen „Auflösung des Dramenkörpers,“18 und man vertrat auch generell die Meinung, dass die „barocken“ Eigenschaften der tragischen Poetik Senecas, sowie seine Besessenheit mit ekelerregenden Gewaltdarstellungen als Symptome der allumfassenden „Dekadenz“ der römischen Kaiserzeit betrachtet werden müssen. Wie
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Regenbogen (1927/1928), 5. Vgl. Waine Booths bahnbrechende Studie The Rhetoric of Fiction aus dem Jahre 1961, in der er die auf die platonischen Trennung zwischen µίµησις und διήγησις zurückgehende und zur Literaturkritik des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts immer noch unzertrennlich gehörende Opposition zwischen „telling“ und „showing“ aufzubrechen versucht, indem er demonstriert, dass jedes angeblich reine „Zeigen“ in einem Erzähltext genauso rhetorisch ist wie die reinste Form des „Erzählens“. Vgl. Friedrich (1933).
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einstimmig diese Ablehnung in der Tat war, lässt sich dem folgenden vernichtenden Urteil T.S. Eliots entnehmen:19 The prose Seneca, the „Seneca morale“ of Dante, sill enjoys a measure of tepid praise, though he has no influence; but the poet and the tragedian receives from the historians and critics of Latin literature the most universal reprobation. Latin literature provides poets for several tastes, but there is no taste for Seneca.
Heutzutage gibt es wieder deutlich mehr „taste for Seneca“ als zu Zeiten Eliots und Regenbogens, was sich nicht nur an der unaufhaltsam anwachsenden Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen, Übersetzungen und Kommentare, sondern auch an gelegentlichen Theateraufführungen seiner Tragödien zeigt: Die Kombination aus kühner Rhetorik, gewagten Verfremdungseffekten und unverhohlenem Genuss an übertrieben naturalistischen Schilderungen von Gewalt und Tod wirken nicht mehr abschreckend, sondern geradezu anziehend auf das postmoderne Publikum, zu dessen ästhetischem Erfahrungshorizont sowohl jede erdenkliche Form von Abweichung von realistischen Konventionen als auch drastische Gewaltdarstellungen des Horrorgenres gehören. Der gestiegene Grad an Akzeptanz, mit der man Senecas Dramen begegnet, ändert jedoch nichts daran, dass Senecas Theater gerade als Theater auf das heutige Publikum äußerst seltsam wirkt: Einen zwei- bis dreihundert Verse langen, episch anmutenden Monolog innerhalb einer Theateraufführung unterzubringen, ist zweifelsohne eine schwer zu bewältigende Herausforderung für einen modernen Regisseur,20 und der unbestreitbare Mangel der senecanischen Tragödien an herkömmlicher dramatischer Dynamik erklärt, warum der wissenschaftliche Diskurs nach wie vor von der Frage nach der „Theatralität“ dieser Theaterstücke dominiert wird. Mehr noch: Dieser Diskurs konstruiert sich um die zwei seit jeher vertrauten Dichotomien der Seneca-Rezeption herum – der zwischen Rhetorik und Theater und der zwischen Philosophie und Literatur. 19 20
Eliot (1951), 69-70. Renaud Gagné (Cambridge) hat mich auf den folgenden Bericht über die Aufführung des Agamemnon im Frühling 2011 an der Comédie française in Paris aufmerksam gemacht, in dem auf die Probleme des Regisseurs direkt rekurriert wird (Pierre Assouline in Le Monde am 30. Mai 2011): „D’autant que le metteur en scène luimême, le québécois Denis Marleau, reconnaît que l’œuvre se caractérise par „sa structure atypique, trouée, en apparence mal proportionnée et sans enchaînement causal“; et comme si la barque n’était pas assez chargée, il a l’honnêteté de rappeler que le monologue exceptionnellement long du messager Eurybate, racontant le naufrage de la flotte grecque, exprimant par la même occasion la peur romaine de la mer, divise la pièce en deux; que l’action est quasiment inexistante; et que toute cette évocation de l’histoire de Troie repose sur une dramaturgie de l’attente d’un événement, le premier des trois temps de la tragédie grecque, suivi de sa réalisation et enfin de sa déploration.“
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Die alte Debatte über die Aufführung von Senecas Tragödien wurde in den sechziger Jahren mit der Publikation von Otto Zwierleins programmatisch betitelter Studie Senecas Rezitationsdramen wiederbelebt.21 Seitdem haben sich drei Positionen innerhalb dieser Debatte herauskristallisiert, die Senecas Tragödien entsprechend als Rezitations-, Lese- und Theaterdramen betrachten. Da es bekanntlich keine direkten antiken Zeugnisse gibt, die eine dieser Theorien unwiderlegbar beweisen könnten, wird die Aufführungsfrage für viele Forscher notgedrungen zu einer Glaubensfrage. Bezeichnend ist dabei, dass die Kontrahenten dieses Glaubenskrieges in der Regel dazu tendieren, zur Bekräftigung ihrer jeweiligen Theorie nur einen gewissen Teil der auffälligsten Merkmale der tragischen Poetik Senecas zu beachten und den Rest weitgehend zu ignorieren. Die Anhänger der These, Senecas Tragödien seien in der Antike aufgeführt worden, berufen sich auf die Szenen von außerordentlicher dramatischer Intensität, die es fast in jedem senecanischen Stück gibt, auf die metatheatralische Selbstreflexivität der tragischen Charaktere, sowie auf die durch die moderne Praxis bestätigte grundsätzliche Aufführbarkeit der Tragödien; auf dieser Grundlage erklären sie die Eigenart der Tragödien Senecas als Ergebnis einer organischen graduellen Entwicklung der Aufführungspraxis von der klassischen, über die hellenistische, republikanische und augusteische Tragödie.22 Diejenigen hingegen, die in Senecas Tragödien Deklamations- bzw. Lesedramen sehen, lenken ihr Augenmerk erwartungsgemäß vor allem auf Illusionsbrüche, die auf einer den stringent mimetischen Erfordernissen entsprechenden tragischen Bühne undenkbar wären, sowie auf statische deskriptive Passagen, die in einem richtigen Theaterstück wie ein unzumutbarer Fremdkörper erscheinen würden.23 Etwas vereinfacht formuliert, lässt sich also die Herangehensweise vieler Forscher als selektiv darstellen: Sie erkennen zwar den Kontrast zwischen rhetorischer Statik und dramatischer Dynamik in Senecas Tragödien an, erklären ihn jedoch nicht; stattdessen versuchen sie den daraus entstehenden Widerspruch einfach zu glätten, indem sie das eine Element der Dichotomie hervorheben und das andere als zweitrangig und somit als weniger beachtenswert behandeln. Auf dieser methodologischen Grundlage entstehen folglich Interpretationen, von denen man meinen könnte, dass sie grundverschiedene literarische Werke behandeln. Die Debatte über die grundsätzliche Vereinbarkeit zwischen den zwei wichtigsten Bestandteilen von Senecas literarischem Œuvre – den philosophischen Prosaschriften und den Tragödien – wird mit ähnlichen Mitteln geführt. Innerhalb dieser Debatte lässt sich auch zwischen drei Grundpositionen unterscheiden, 21 22 23
Zwierlein (1966). Siehe z. B. Tarrant (1978), Sutton (1986) und die meisten Beiträge in Harrison (2000). Zwierleins Argumente für Senecas Tragödien als Rezitationsdramen wurden neulich von Christoph Kugelmeier (2007) überprüft und weitgehend bestätigt. Zu Senecas Tragödien als Lesedramen siehe Fantham (1982), 34-49.
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laut denen die Ziele, die Seneca in seinen Tragödien verfolgt, mit denen seiner Prosaschriften identisch, ihnen diametral entgegengesetzt, oder mit ihnen in gar keiner Weise verbunden sind. Und wieder einmal gelangen die Anhänger dieser Theorien zu ihren Ansichten, indem sie die widersprüchliche Natur der senecanischen Texte weitgehend zu glätten versuchen und all das, was die jeweilige Sichtweise zu unterminieren droht, oft außer Acht lassen. Diejenigen, die in Seneca tragicus vor allem einen stoischen Philosophen sehen, konzentrieren sich auf die in jeder senecanischen Tragödien im Überfluss vorkommenden moralisierenden Sentenzen, die zahlreiche Parallelen in seinen Prosaschriften finden, und – in noch stärkerem Maße – auf die Chorpartien, von denen einige in der Tat wie kurze philosophische Traktate in Versen gelesen werden können.24 Die unwiderlegbaren Ähnlichkeiten zwischen ausgewählten tragischen und philosophischen Passagen der senecanischen Werke verleiten einige Forscher dazu, dass sie auch in den Tragödien ausschließlich Moralpredigten sehen, die ihr Ziel durch abschreckende Darstellungen der für das philosophisch gesinnte Publikum mit allen Mitteln zu vermeidenden Verhaltensmuster erreichen. Diejenigen hingegen, die den Seneca tragicus als den Antipoden des Seneca philosophus betrachten, weisen darauf hin, dass sich das Verhalten der senecanischen Figuren in der Regel auf keine eindeutige Formel reduzieren lässt, die die moralphilosophischen Lehren der stoischen Schriften in irgendeiner Weise unterstützen könnte, und dass das bedrückende Weltbild, das in den Tragödien gezeichnet wird, die im Grunde optimistische Vorstellung vom philosophischen Fortschritt eines Stoikers komplett ausschließt.25 Diejenigen schließlich, denen Senecas Stoizismus als vollkommen irrelevant für das Verständnis der Tragödien gilt, betonen zwar auch den Kontrast zwischen der moralisierenden Haltung der philosophischen Schriften und der geradezu ansteckend wirkenden Schilderung des absoluten moralischen Chaos in den Tragödien; für sie stellt jedoch Seneca tragicus kein philosophisches, sondern ein rein literarisches Problem dar, bei dessen Lösung man keine Zeit auf gelegentliche Übereinstimmungen mit stoischen Glaubensätzen zu verschwenden braucht, sondern sich vielmehr auf die Erforschung intertextueller Bezüge zu den griechischen Tragikern und den augusteischen Dichtern (vor allem Vergil, Horaz und Ovid) konzentrieren soll.26 Mit der Frage nach dem philosophischen Gehalt der senecanischen Tragödien geht auch die Frage nach dem möglichen Mechanismus ihrer Wirkung auf das intendierte Publikum einher. Für diejenigen, die die philosophische Relevanz der Tragödien leugnen, verfolgen Senecas übertriebene Darstellungen der aus den Fugen geratenen Leidenschaften im Grunde dasselbe Ziel wie die griechische 24 25 26
Z.B. Regenbogen (1927/1928), Marti (1945), Pratt (1983), Lefèvre (1985a) und, viel moderater und nuancierter, Rosenmeyer (1989) und Staley (2010). Cf. Dingel (1974). Z.B. Schiesaro (2003); Littlewood (2004).
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Tragödie, die laut Aristoteles beim Rezipienten durch das stellvertretende Erleben von Mitleid und Furcht zur emotionalen Nähe und somit zur „Reinigung der Affekte“ (κάθαρσις παθηµάτων) führen soll.27 Diejenigen hingegen, die auf der moralphilosophischen Bedeutung der Tragödien bestehen, sehen ihre Wirkung auf den Rezipienten in erster Linie in philosophischer Belehrung, die durch die Herstellung einer emotionalen Distanz zur Bühnehandlung erreicht wird: Wenn man einen überzeugten Stoiker als den intendierten Rezipienten der senecanischen Tragödie postuliert, wird dieser zwar möglicherweise auf das Leiden der tragischen Helden auch mit Mitleid reagieren, allerdings nicht mit dem Mitleid eines Mitfühlenden, der im leidenden Helden sich selbst erkennt, sondern mit dem Mitleid eines das Geschehen aus der sicheren Distanz verfolgenden Psychotherapeuten (d.h. eines Seneca philosophus oder eines Epiktet), der genau weiß, wie man eine kranke Seele heilen könnte.28 Demnach wäre das senecanische Theater nicht mit der aristotelischen Auffassung einer mimetischen, zur Freisetzung der emotionalen Energie führenden Tragödie, sondern mit dem epischen Theater Bertold Brechts zu vergleichen, dessen Ziel vor allem in einem verfremdenden Blick auf die Realität besteht, der den Zuschauer dazu befähigt, zu einer abstrakten Erkenntnis zu gelangen.29 Eines der wichtigsten Ziele, die ich in meinem Buch verfolge, ist, das von mir gerade skizzierte dualistische Denken, das den Großteil der SenecaForschung bestimmt, so weit wie möglich zu überwinden. Dieses Ziel versuche ich dadurch zu erreichen, dass ich beide Elemente der Dichotomien, die die tragische Poetik Senecas prägen, gleichermaßen ernst nehme. Meines Erachtens können „entweder oder“ Fragen zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen führen, weil die Fragen selbst eventuell nicht richtig gestellt sind. Seneca ist ohne Zweifel sowohl auf rhetorisch-epische Weise statisch als auch auf dramatische Weise dynamisch, sowohl distanziert philosophisch als auch emotional bewegend. Das Ziel soll nicht sein, ein für allemal festzustellen, welches Element dieser Dichotomien stärker ausgeprägt ist als das andere, sondern vielmehr vorsichtig zu ertasten, wie diese scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften innerhalb desselben literarischen Konstruktes koexistieren, wie sie miteinander interagieren, um die ästhetische und kognitive Wirkung des Ganzen zu verstärken. Als Folge soll ein differenzierteres Porträt des Seneca tragicus entstehen, dessen Rhetorik zutiefst theatralisch ist und dessen dramatische Dynamik durch die statische Rhetorik ihre Kraft überhaupt erst entfalten kann; der literarische Anspielungen zu moralphilosophischen Zwecken verwendet und der gerade in seinen philosophischsten Momenten vor allem ein Dichter bleibt.
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Vgl. Schiesaro (2003), 245. Zu verschiedenen möglichen Anwendung des katharsisBegriffes an die tragische Poetik Senecas siehe Staley (2010), 72-81. Nussbaum (1993); Bartsch (2006), 255-282. Nussbaum (1993), 148-149. Vgl. dagegen Schiesaro (2003), 243-251.
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Die Kontraste zwischen der statischen Rhetorik der deskriptiven Passagen und der dramatischen Dynamik der Bühnenhandlung einerseits und zwischen der philosophischen Distanz der Chorpartien und der durch die außerordentlich drastischen Schilderungen der menschlichen Leiden(schaften) erzeugten emotionalen Nähe andererseits prägen alle authentischen Tragödien Senecas mit der einzigen Ausnahme der Phoenissen, in denen all diese Elemente gänzlich fehlen:30 In dieser Tragödie, die auf dem Sujet der Sieben gegen Theben basiert und im Großen und Ganzen auf die Phoenissen des Euripides zurückgeht, gibt es weder ausgedehnte, der epischen Tradition verpflichtete deskriptive Passagen, noch besonders dynamische Handlungsabschnitte; weder sich an ekelerregenden Details ergötzende Gewaltdarstellungen noch Chorpartien.31 Da die Phoenissen keines der Merkmale, deren Erforschung ich mich in diesem Buch widme, enthalten, verzichte ich komplett auf die Besprechung dieser Tragödie und konzentriere mich auf die übrigen sieben. Während die Phoenissen mit dem Scheitern Iokastes, ihre beiden Söhne vom gegenseitigen Mord abzuhalten, enden, d.h. bevor die eigentliche tragische Handlung überhaupt erst beginnt, bringt Seneca das tragische Geschehen in den übrigen sieben Tragödien immer zu einem erschütternden Abschluss. Im Hercules Furens tötet Hercules seine Familie, indem er seiner Frau den Kopf abhackt und den Kopf seines Sohnes so zerschlägt, dass daraus Gehirnmasse herausplatzt (Sen. HF 1005-1007 und 1024-1026). Am Ende der Troades führt der Sturz des Astyanax von einem Turm dazu, dass sein Körper in Stücke gerissen wird (Sen. Tr. 1110-1117). Medea tötet am Ende der gleichnamigen Tragödie ihre Kinder direkt auf der Bühne vor unseren Augen und vor den Augen ihres Vaters (Sen. Me. 967-1027). Die Phaedra endet mit der mühsamen Wiederherstellung des Leichnams des Hippolytus, der nicht einfach zerstückelt, sondern über ein riesiges Areal zerstreut ist (Sen. Ph. 1256-1274). Verhältnismäßig harmlos wirkt dagegen der Schluss des Oedipus, in dem der Titelheld sich auf der Bühne blendet, seine leeren blutüberströmten Augenhöhlen mit Genugtuung betastet und anschließend sein entstelltes Gesicht seiner Mutter/Ehefrau zeigt, die den Anblick so unerträglich findet, dass sie – auch direkt auf der Bühne – den Selbstmord begeht (Sen. Oe. 935-979 und 998-1041). Im Agamemnon sind Clytaemnestra und Aegisth weit davon entfernt, sich mit der bloßen Tötung des Agamemnon zufrieden zu geben, sondern zerstückeln selbst dann noch seinen leblosen Leichnam weiter, wenn sein Kopf vom restlichen Leib bereits halb abgetrennt ist (Sen. Ag. 897-907). Und schließlich enthält der Thyest nicht nur eine detaillierte Beschreibung davon, wie Atreus die Söhne seines Bruders zerstückelt, auf verschiedene kulinarisch abwechslungsreiche Art 30
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Ich schließe mich der Meinung derer an, die an der senecanischen Autorschaft des Hercules Oetaeus zweifeln. Zur Debatte über die Authentizität des HO siehe Rozelaar (1985), 1349-1352; Walde (1990), 1-2. Das Stück wird generell für unvollendet gehalten. Siehe dazu Frank (1995a), 1-16.
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und Weise zubereitet und an ihren Vater verfüttert (Sen. Th. 641-788), sondern auch eine Schilderung der unerträglichen Agonie des Thyest bei der Entdeckung seiner unfreiwilligen Freveltat (Sen. Th. 920-1112). In anderen Worten endet jede Tragödie mit einem wahrhaften visuellen Schock, den man bei der Konfrontation mit den unmittelbar wahrnehmbaren Folgen der Auflösung der physischen Einheit des menschlichen Körpers erlebt. In meinem Buch konzentriere ich mich vor allem auf diesen unerträglichen visuellen Schock, dem wir als Rezipienten (Leser, Zuhörer, Zuschauer?) am Schluss jeder senecanischen Tragödie ausgesetzt werden. Ich analysiere zum einen die rhetorischen Mechanismen, die Seneca innerhalb jedes Stückes einsetzt, um die erschütternde Wirkung des ohnehin kaum zu bewältigenden visuellen Schocks noch weiter zu verstärken. Zum anderen beschäftige ich mich mit der – sowohl ästhetischen als auch kognitiven – Wirkung dieses Schocks auf den Rezipienten. Bei meiner Analyse stellt es sich heraus, dass alle sieben Tragödien zur Verstärkung ihres visuellen Effekts mehr oder weniger die gleiche Rhetorik des Sehens verwenden. Einfach formuliert, besteht das Ziel dieser Rhetorik darin, dem Rezipienten den Eindruck zu vermitteln, dass der visuelle Schock, den er am Ende jeder Tragödie erlebt, das Schlimmste ist, was man sich überhaupt vorstellen kann, um anschließend diesen lähmenden Schock in den Impuls zu einem kognitiven Prozess zu transformieren. In allen sieben Tragödien basiert diese Rhetorik auf dem gleichen Mechanismus einer doppelten aemulatio. Um zu verstehen, wie diese aemulatio funktioniert, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass als die wichtigste den senecanischen Tragödien zugrundeliegende binäre Opposition nicht diejenige zwischen Handlung und Rhetorik zu betrachten ist, sondern diejenige zwischen dem auf der Bühne gespielten tragischen Plot und anderen mythischen Sujets. Es gibt zwei wichtige intertextuelle Kanäle, über die die äußere narrative Welt in die Welt der Bühnenhandlung eindringt: Es handelt sich dabei einerseits um deskriptive Passagen, die der epischen (vor allem der vergilischen) Tradition verpflichtet sind, und andererseits um metatheatralische Passagen, in denen Senecas tragische Figuren vorgeben, andere – sowohl tragische als auch epische – Handlungen nachzuspielen. Das Ziel von Senecas aemulatio besteht darin, beide Aspekte dieser äußeren literarischen Welt durch die Bühnenhandlung zu überbieten. Eines der zentralen Themen meines Buches sind also die zahlreichen deskriptiven Passagen der senecanischen Tragödien, oder Ekphraseis.32 Unter Ekphrasis verstehe ich natürlich nicht die Beschreibung eines Kunstobjekts (die Bedeutung, die sich in der modernen Literaturtheorie etablierte), sondern, im Einklang mit der antiken rhetorischen Theorie, jede Textpassage, deren Ziel in keiner bloß informativen Auflistung von Gegenständen bzw. Ereignissen, 32
Zur Rolle der Beschreibungen in Senecas Tragödien siehe auch Tietze Larsson (1994) und Aygon (2004).
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sondern vielmehr darin besteht, das Geschilderte dem Rezipienten (dem Leser bzw. dem Zuhörer) direkt vor Augen zu führen (Ps.-Hermogenes, Progymnasmata, p. 22, 1.10 ἔκφρασίς ἐστι λόγος περιηγηµατικὸς ἐναργῶς ὑπ᾿ ὄψιν ἄγων τὸ δηλούµενον).33 Das wichtigste rhetorische Mittel, das einem Redner bzw. einem Schriftsteller erlaubt, diese Illusion der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung beim Rezipienten zu erzeugen und somit den Zuhörer bzw. den Leser in einen virtuellen Augenzeugen oder Zuschauer der geschilderten Ereignisse zu verwandeln, wird in der rhetorischen Theorie ἐνάργεια (Anschaulichkeit) genannt.34 Ἐνάργεια dient also laut der rhetorischen Theorie vor allem dazu, eine Beschreibung oder eine Erzählung in ein imaginäres Spektakel zu transformieren. Wie ich an zahlreichen Beispielen zeige, verfolgt der Gebrauch dieses Mittels in Senecas ekphrastischen Passagen auch kein anderes Ziel. Entgegen dem einst höchsteinflussreichen Urteil von T.S. Eliot („In the plays of Seneca, the drama is all in the word, and the word has no further reality behind it“) demonstriere ich also, dass Senecas ekphrastische Rhetorik markante theatralische Züge aufweist, da es ihr gelingt, die Illusion zu vermitteln, dass wir das Geschilderte mit eigenen Augen sehen können und somit zu virtuellen Zuschauern werden. Die primäre Funktion der ekphrastischen Rhetorik Senecas besteht dabei keineswegs darin, die Bühnenhandlung durch eine deskriptive Pause zu verlangsamen, sondern vielmehr darin, den Blick des Rezipienten auf die Bühnenereignisse zu schärfen: Das, was wir als virtuelle Zuschauer einer Ekphrasis „gesehen“ haben, bereitet uns gleichsam darauf vor, was wir als tatsächliche Zuschauer der Bühnenereignisse am Ende jedes Stücks sehen werden. Die Verbindung kommt in erster Linie dadurch zustande, dass die uns in den ekphrastischen Passagen vor Augen geführten Ungeheuer der vergilischen Unterwelt, sowie andere übernatürliche, auf der Bühne schlicht undarstellbare Erscheinungen, die auch auf eine reiche literarische Tradition zurückgehen, immer in Relation zu den allzu realen menschlichen Grausamkeiten der Bühnenhandlung gesetzt werden: Es stellt sich nämlich jedes Mal explizit heraus, dass der visuelle Schock, den wir am Ende jedes Stückes erleben, mit den Schrecken der Unterwelt nicht nur vergleichbar ist, sondern diese sogar übertrifft. Diese eigenartige Rhetorik der aemulatio beruft sich also zwar auf erkennbar epische Schilderungen. Die episch anmutenden Beschreibungen dienen aber dazu, uns die Kulmination des dramatischen Bühnengeschehens als etwas wahrnehmen zu lassen, was die entsetzlichsten phantastischen Bilder des Mythos in den Schatten stellt. Es stellt sich folglich heraus, dass bei Seneca das genuin Theatralische nur durch die statische ekphrastische Rhetorik überhaupt erst richtig zur Geltung kommen kann.
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Für weitere Texte siehe Lausberg (1960), 399-401. Vgl. Webb (2009), 1-11. Z.B Plut. Mor. 347a ὁ γοῦν Θουκυδίδης ἀεὶ τῷ λόγῳ πρὸς ταύτην ἁµιλλᾶται τὴν ἐνάργειαν, οἷον θεατὴν ποιῆσαι τὸν ἀκροατὴν.
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Die epische Unterwelt ist jedoch nicht das einzige literarische Vorbild, das auf Senecas Bühne überboten wird. Die Handlung jeder senecanischen Tragödie wird zusätzlich als überbietendes Nachspielen wenigstens eines weiteren tragischen (oder epischen) Sujets konzipiert. Die Existenzberechtigung vieler von Senecas Charakteren scheint ausschließlich darin zu bestehen, dass sie allseits bekannte literarische Sujets nicht nur erkennbar reproduzieren, sondern auch in irgendeiner Hinsicht übertreffen. Die Kulmination des Bühnengeschehens, die den stärksten visuellen Schock innerhalb der Bühnenwelt erzeugt, wird somit auch als überbietendes Nachspielen eines anderen literarischen Ereignisses verstanden. Diese doppelte Rhetorik der aemulatio hat zweierlei Folgen. Zum einen werden innerhalb der Bühnenwelt nicht nur überbietende, sondern auch in einem wesentlich direkteren Sinne zugängliche, fast unmittelbar erlebbare Versionen der phantastischen literarischen Schreckensbilder erschaffen. Zum anderen lässt gerade der unerträgliche visuelle Schock, den man durch die direkte Konfrontation mit diesen überbietenden Schreckensbildern erlebt, das Verständnis aufkommen, dass es sich bei der ekprhastisch nachgebildeten bzw. metatheatralisch nachgespielten Realität um nichts anderes als Ansammlung von Klischees handelt – um eine bloße „Nur-Literatur“, die gerade im Vergleich mit dem wahrhaftig aufrüttelnden Bühnengeschehen als leblos und künstlich erscheint. Als Folge weicht der Teufelskreis der literarischen Nachahmungen in den letzten Szenen jeder Tragödie der von literarischen Klischees weitgehend bereinigten Unmittelbarkeit des physischen Schmerzes. Senecas fast sadistisch wirkende Rhetorik der aemulatio scheint dabei ausdrücklich das Ziel zu verfolgen, den Rezipienten den nach der Implosion der „Nur-Literatur“ übrigbleibenden Schmerz zum Anlass für eine allgemeingültige kognitive Erkenntnis nehmen zu lassen. Der Weg zu einer philosophischen Distanz gegenüber dem tragischen Geschehen führt jedoch bei Seneca immer über eine erschütternde emotionale Nähe: Das Wissen erlangt man nur, indem man (mit)leidet. Somit erweist sich die visuelle Fülle der senecanischen Rhetorik zwar als Ansammlung bloßer substanzloser Trugbilder; diese entpuppen sich jedoch im Nachhinein als den kognitiven Prozess intensivierende und darum äußerst lehrreiche Trugbilder. Dies ist eine Kurzfassung meiner Sicht auf die tragische Poetik Senecas, die ich in den folgenden Kapiteln sowohl analytisch (in Einzelstudien der sieben Tragödien) als auch synthetisch (durch zwei Kontextualisierungen und einen abschließenden Gesamtblick auf Senecas tragisches Werk als Ganzes) detailliert erörtern werde. Teil I meines Buches (Ekphrasis und Metatheater) besteht aus sieben close readings. Obwohl es sich nach meiner Darstellung ergibt, dass alle von mir behandelten senecanischen Tragödien nach ähnlichen rhetorischen Prinzipien funktionieren, habe ich vorgezogen, nicht die Funktionsweise einzelner rhetorischer Elemente in einer Reihe von thematisch organisierten Kapiteln zu besprechen, sondern jede Tragödie als eigenständiges (und einzigartiges)
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Konstrukt einzeln zu würdigen. Der größte Vorteil dieser Vorgehensweise ist m. E., dass dadurch nicht nur die Ähnlichkeiten, sondern auch die nicht weniger bedeutsamen Unterschiede zwischen einzelnen Stücken am deutlichsten zum Vorschein kommen. In meiner Analyse stelle ich aber nicht nur fest, dass alle senecanischen Tragödien mehr oder weniger auf der gleichen kognitiven Grundstruktur basieren, sondern versuche gleichzeitig auch meiner Darstellung eine gewisse narrative Struktur zu verleihen. Es wird wohl kaum überraschen, dass die Geschichte, die ich dabei erzähle, auch einen Einfluss der senecanischen Rhetorik der aemulatio aufweist.35 Die Reihenfolge, in der ich die Tragödien bespreche, entspricht zwar nicht der in den meisten Editionen, sie ist aber auch nicht vollkommen beliebig. Ich beginne in medias res mit dem meines Erachtens offensichtlichsten Fall, an dem sich die Funktionsweise der senecanischen Rhetorik des Sehens am einfachsten demonstrieren lässt. Jedes darauffolgende Kapitel baut auf den Ergebnissen des (bzw. der) früheren auf, sodass jede im weiteren Verlauf der Studie besprochene Tragödie wenigstens in einer Hinsicht als eine überbietende Version der bereits besprochenen erscheint. Somit bildet die Abfolge der ersten sieben Kapitel auch eine für die tragische Poetik Senecas so charakteristische Steigerung, die mit der Besprechung des „entfesselten Überbietungskünstlers“ Atreus in Kapitel 7 ihren Gipfelpunkt erreicht. Den sieben Kapiteln des ersten, analytischen, Teils folgen drei verallgemeinernde Kapitel von Teil II (Schock und Erkenntnis). In Kapiteln 8 und 9 versuche ich zwei verschiedene Aspekte der senecanischen Rhetorik des Sehens aus dem zeitgenössischen kulturellen Kontext heraus zu erklären. Zunächst analysiere ich Senecas überbietende visuelle Ästhetik im Kontext dessen, was man am ehesten als kaiserzeitliche Popkultur bezeichnen könnte, womit ich vor allem die mit der römischen Arena verbundene Unterhaltungsindustrie und deren Einfluss auf die zeitgenössische Literatur und Kunst meine. Anschließend betrachte ich Senecas Betonung des kognitiven Aspektes des Sehens im Kontext seines gesamten literarischen Œuvres. Mein Ziel ist dabei zu zeigen, dass seine philosophischen Schriften, vor allem die Briefe, auf einer ähnlichen Rhetorik des Sehens basieren wie die Tragödien. Durch diese Erkenntnis kommt die philosophische Bedeutung der Tragödien m. E. viel deutlicher (und gleichzeitig viel weniger erzwungen) zum Vorschein als bei den meisten in der Vergangenheit unternommenen Versuchen, in ihnen Spuren der stoischen Orthodoxie aufzudecken. In diesen zwei Kapiteln zeige ich aber nicht nur, wie man die kognitive Relevanz des in Senecas Tragödien stattfindenden visuellen Schocks im Kontext der Kultur der Kaiserzeit am besten verstehen könnte, sondern weise auch auf die grundlegenden Unterschiede zwischen der senecanischen Auffassung der 35
Wie Isabella Tardin Cardoso in ihrem 2009 erschienenen Beitrag zum Thema „Philologie und Nachahmung“ zurecht betont, ist es in der Tat unvermeidlich, dass man den Autor, über den man schreibt, bis zu einem bestimmten Grad imitiert.
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Tragödie einerseits und sowohl der aristotelischen als auch der stoischen Literaturtheorie andererseits. Und schließlich analysiere ich in Kapitel 10 die senecanischen Chorpartien, die ich bei der Analyse einzelner Tragödien in den ersten sieben Kapiteln absichtlich außer Acht gelassen habe. Dabei zeige ich, dass die wichtigste Funktion des Chors darin besteht, uns vorzuführen, welche Wirkung Senecas Rhetorik des Sehens auf den Rezipienten haben kann. Das schauspielerische, metatheatralische Oszillieren des Chors zwischen der Bühnenwelt und einer äußeren Zuschauerperspektive, zwischen emotionaler Nähe und philosophischer Distanz, dient dazu, unser Verständnis der Tragödien als einer Reihe lehrreicher Trugbilder, die gerade mittels eines erschütternden visuellen Schocks zur Erkenntnis führen, weiter zu verstärken.
Teil I Ekphrasis und Metatheater
1. Das Leben als Heldentat: Hercules Furens Es wird bereits im Prolog des Hercules Furens angedeutet, dass die Handlung des Stücks auf einer Überbietung anderer mythologischer Sujets basiert und dass dieser Effekt durch visuell beeindruckende Beschreibungen übernatürlicher Phänomene noch weiter verstärkt wird. Juno tritt hier nicht nur als Prologsprecherin, sondern gewissermaßen auch als Regisseurin auf, die das bevorstehende Geschehen plant und in Gang setzt.1 Das Leitmotiv ihrer Rede ist eine Klage über die zunehmend besorgniserregende Allmächtigkeit des Hercules: Nachdem er alle Monster der Erde besiegt und nun mit der Vollendung seiner größten Heldentat – der Bezwingung der Unterwelt – die bisher als unangetastet geltenden Grenzen außer Kraft gesetzt habe, bestehe die durchaus begründete Befürchtung, er könne auch für den Himmel zu einer Gefahr, zu einem rücksichtslosen Tyrannen, werden, was die gesamte bestehende Weltordnung durcheinander bringen würde.2 Da Juno sich selbst für das außer Kontrolle geratene Erstarken des Hercules verantwortlich macht (denn sie war es schließlich, die dafür sorgte, dass er mit immer neuen, immer schwierigeren Herausforderungen konfrontiert wurde), sieht sie jetzt ihre Aufgabe darin, dazu beizutragen, dass die Welt von diesem gefährlichsten aller Monstren befreit wird.3 Weil aber niemand stark genug ist, um gegen Hercules anzutreten, kann er naturgemäß nur von sich selbst besiegt werden (Sen. HF 84-85): quaeris Alcidae parem? nemo est nisi ipse: bella iam secum gerat. Du suchst dem Alkiden einen Ebenbürtigen? Niemand ist es außer ihm selbst: nun soll er Kriege mit sich selbst führen.
Da der größte Heilbringer zwar gerade im Begriff ist, sich in das schlimmste Monster zu verwandeln, diesen unwiderruflichen letzten Schritt jedoch noch 1
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Zur Juno-Gestalt im Prolog zu Senecas HF siehe Shelton (1978), 17-25; Lawall (1983), 6-10; Guastella (2001), 20-22; Schiesaro (2003), 183-186; Li Causi (2006), 120-127; Wiener (2006), 84-90; Fischer (2008), 57-91. Sen. HF 64-65 caelo timendum est, regna ne summa occupet / qui vicit ima: sceptra praeripiet patri. Vgl. Schmitz (1993), 116-118; Littlewood (2004), 107-127. Vgl. Sen. HF 35-36 dum nimis saeva impero, / patrem probavi, gloriae feci locum und 75ff.
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nicht ganz vollbracht hat, kann er als eine aus zwei voneinander leicht abtrennbaren Facetten bestehende Persönlichkeit aufgefasst werden.4 Bei der Inszenierung des Kampfes zwischen diesen beiden Facetten übernimmt Juno die Aufgabe einer Regisseurin. Dabei wiederholt sich ein durch und durch bekanntes Muster, denn Juno war es schließlich, die dafür sorgte, dass Hercules mit immer neuen, immer schwierigeren Herausforderungen konfrontiert wurde. Folglich muss sie nur weiterhin das tun, was aus ihrer Sicht dignum noverca ist (Sen. HF 112).5 Der Unterschied zu allen früheren Heldentaten des Hercules besteht diesmal allerdings nicht nur darin, dass die Herausforderung um einiges größer sein wird (denn der Bezwinger aller anderen bekannten Monstren ist per definitionem der stärkste Gegner überhaupt), sondern auch darin, dass der Sieg mit einer niederschmetternden Niederlage gleichzusetzen wäre, die schlimmer ist als der Tod (Sen. HF 114-117): inveni diem, invisa quo nos Herculis virtus iuvet. me vicit? et se vincat et cupiat mori ab inferis reversus. Ich habe den Tag gefunden, an dem mich die verhasste Tapferkeit des Hercules freuen kann. Er hat mich besiegt? Auch sich selbst soll er nun besiegen, und nach seiner Rückkehr von den Unterirdischen soll er zu sterben wünschen.
Es wird hier also explizit festgestellt, dass die bevorstehende Selbstzerstörung des Hercules paradoxerweise als seine allergrößte Errungenschaft konzipiert werden könnte. In anderen Worten wird die Handlung der Tragödie bereits im Prolog als etwas dargestellt, was das vertraute mythologische Muster nicht nur nachspielt, sondern auch überbietet. Der Appell an bekannte Erzählmuster ist dennoch nicht die einzige Methode der Affektsteigerung, die im Prolog indirekt angedeutet wird. Als die größte Grenzüberschreitung, die Hercules bisher begangen habe, nennt Juno seine Katabasis, die sie als eine frevelhafte Offenbarung der Geheimnisse der Unterwelt auffasst – als das Sichtbarmachen von etwas, was für immer unsichtbar bleiben sollte. Juno betont dabei, dass sie die Schreckensbilder des Hades mit ihren eigenen Augen gesehen habe, von denen sie einige in einer kurzen ekphrastischen Passage höchst lebhaft beschreibt (Sen. HF 47-60):6 4
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Zur Gestalt des senecanischen Hercules und zu ihren Verbindungen mit den HerculesDarstellungen in der griechischen und römischen Literatur siehe Fitch (1987), 15-20; Billerbeck (1999), 1-29. Zur senecanischen Juno als einer typischen literarischen Stiefmutter siehe Watson (1995), 113-128. Zu dieser Passage siehe Aygon (2004), 310.
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effregit ecce limen inferni Iovis et opima victi regis ad superos refert. parum est reverti, foedus umbrarum perit: vidi ipsa, vidi nocte discussa inferum et Dite domito spolia iactantem patri fraterna. cur non vinctum et oppressum trahit ipsum catenis paria sortitum Iovi Ereboque capto potitur? en retegit Styga! patefacta ab imis manibus retro via est et sacra dirae mortis in aperto iacent. at ille, rupto carcere umbrarum ferox, de me triumphat et superbifica manu atrum per urbes ducit Argolicas canem. viso labantem Cerbero vidi diem pavidumque Solem; me quoque invasit tremor, et terna monstri colla devicti intuens timui imperasse. Siehe! Er zerstörte die Schwelle des unterirdischen Jupiter und bringt nun zurück die Ehrenbeute des besiegten Königs zu den Göttern des Himmels. Die Rückkehr ist aber ein geringes Übel; der Vertrag mit den Schatten gilt nicht mehr: ich sah, ich selbst sah, wie er die Nacht der Unterirdischen aufspaltete, Dis bändigte und seinem Vater die von dessen Bruder losgerissene Beute hochmütig darreichte. Warum zieht er nicht ihn selbst, dessen Los ebenbürtig ist mit dem des Jupiter, in Ketten gebunden und überwältigt daher? Warum erlangt er nicht die Herrschaft über dem von ihm besiegten Erebos? Er deckt die Styx auf! Der Weg zurück von den untersten Manen ist geöffnet worden, und die Geheimnisse des erbarmungslosen Todes liegen offen. Doch er protzt damit, dass er den Kerker der Schatten aufgebrochen hat, er triumphiert über mich und führt mit seiner hochmütigen Hand den schwarzen Hund durch die argolischen Städte. Ich sah, wie der Tag beim Anblick des Cerberus wankte, wie die Sonne sich fürchtete. Auch mich übermannte das Zittern, und, als ich die drei Hälse des besiegten Monstrums sah, hatte ich Angst vor meinem eigenen Befehl.
Die Sichtbarwerdung des Monströsen, des Unsichtbaren, des Unvorstellbaren, die im Mittelpunkt dieser Passage steht und die das Ungeheuerliche an Hercules’ bereits begangener Tat besonders veranschaulicht, findet eine Parallele in den bald darauf folgenden detaillierten Beschreibungen von Ungeheuern der Unterwelt, die Hercules zur Selbstzerstörung bewegen sollen (Sen. HF 86-91): adsint ab imo Tartari fundo excitae Eumenides, ignem flammeae spargant comae, viperea saevae verbera incutiant manus. i nunc, superbe, caelitum sedes pete,
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Ekphrasis und Metatheater humana temne. iam Styga et manes, ferox, fugisse credis? hic tibi ostendam inferos. Die Eumeniden, aufgescheucht aus dem tiefsten Boden des Tartarus, sollen sich hier einfinden, ihre feurigen Haare sollen Flammen versprühen, ihre unerbittlichen Hände sollen Schlangenpeitschen schwingen. Geh nun, Übermütiger, suche die Wohnsitze der Himmlischen auf, verachte Menschliches. Du glaubst wohl, du seiest bereits der Styx und den Manen entkommen? Hier werde ich dir die Unterwelt zeigen.
Die lebhafte Visualisierung infernalischer Wesen steht demnach stellvertretend für die Ereignisse, die auf der Bühne stattfinden sollen.7 Hercules’ selbstgefällige Überzeugung, er sei den Schrecken der Unterwelt endgültig entkommen, erweist sich als vollkommen illusorisch, da es sich herausstellt, dass er diese unvorstellbaren Monstrositäten aus Versehen nicht nur im wörtlichen Sinne (im Falle des Cerberus), sondern auch metaphorisch freigesetzt und auf die Erde mitgebracht hat, sodass er nun hier (Sen. HF 91 hic) etwas erleben wird, was die Schreckensbilder des Tartarus in den Schatten stellt. Im weiteren Verlauf der Tragödie spielen diese beiden im Prolog nur indirekt angedeuteten Muster die zentrale Rolle: Die Handlung wird einerseits wie ein überbietendes Nachspielen anderer narrativer Szenarien konzipiert und andererseits als etwas unvergleichlich Entsetzlicheres als die unvorstellbarsten übernatürlichen Schreckensbilder, die in deskriptiven Passagen beschrieben werden. Im Laufe des Stückes imitiert Hercules nicht nur seine eigenen früheren Heldentaten, auf die der Text mehrfach anspielt.8 Die Handlung wird vor allem von einem gewissen Parallelismus zwischen dem Verhalten des Hercules und dem seines Gegners bzw. Doppelgängers Lycus geprägt, der während Hercules’ Abwesenheit den Thron usurpierte.9 Lycus bezeichnet sich selbst als einen typischen Tyrannen, einen Emporkömmling, der sich auf nichts anderes als seine eigene virtus verlassen kann (Sen. HF 337-341):10 non vetera patriae iura possideo domus ignavus heres; nobiles non sunt mihi avi nec altis inclitum titulis genus, sed clara virtus: qui genus iactat suum, aliena laudat.
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Vgl. Solimano (1998), 241-242. Dabei ersetzt Seneca die euripideische Lyssa durch Gestalten, deren Schilderung der vergilischen Darstellung der Unterwelt Einiges zu verdanken hat. Siehe auch Staley (2010), 98-100. Z. B. Sen. HF 213-248, 524-546. Boyle (1997, 106) nennt Lycus zutreffend „the poor man’s Hercules.“ Vgl. Pratt (1983), 117-118. Vgl. Littlewood (2004), 31-35.
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Ich besitze nicht als träger Erbe die alten Rechte eines väterlichen Hauses. Ich habe keine adeligen Vorfahren, keine Herkunft, die dank hohen Auszeichnungen geachtet ist; meinen Ruhm verdanke ich meiner Tapferkeit: derjenige, der auf seine Abstammung stolz ist, lobt fremde Verdienste.
Der Kontrast zwischen dem Emporkömmling Lycus und Hercules, der sich einer direkten Abstammung von Jupiter rühmt, könnte kaum größer sein. Das Ziel des Lycus besteht darin, Hercules nicht nur als Herrscher von Theben zu ersetzen, sondern auch als Ehemann von Megara, und, falls ihm dies nicht gelingen sollte, die gesamte Familie des Hercules zu vernichten.11 In dem darauf folgenden Dialog zwischen Lycus, Megara und Amphitryon werden wir mit zwei miteinander unvereinbaren Wahrnehmungsparadigmen konfrontiert. Aus der Sicht der Familie des Hercules resultiert Lycus’ Versuch, den Gottessohn Hercules nachzuahmen, in einer zwar gefährlichen, dennoch wenig überzeugenden Parodie.12 Für Lycus, der sowohl der Idee der göttlichen Abstammung des Hercules als auch der Vorstellung, dieser könne selbst zu einem Gott werden, mit unverhohlener Skepsis begegnet, stellt sich die Situation dagegen entschieden anders dar: Er betrachtet Hercules als einen Verlierer, der als gemeiner Diener den Willen anderer zu erfüllen hat; sich selbst hingegen sieht er als einen unangefochtenen König, der durch einen ehrlichen Kampf an die Macht kam.13 Dieser scheinbar unüberbrückbare Kontrast löst sich jedoch bei näherer Betrachtung weitgehend auf. Trotz seiner vermeintlichen Ablehnung des Stellenwertes einer aristokratischen Abstammung will Lycus mit Megara noble Nachkommen zeugen,14 um seine Macht zu festigen. Zudem bedient sich Amphitryon bei dem Versuch, Lycus’ Argumente zu widerlegen, einer Logik, die derjenigen ähnelt, auf die sich Lycus selbst stützte, um seine Herrschaft zu legitimieren: Wie Lycus seine Königswürde durch seinen militärischen Sieg errungen habe, so verdiene laut Amphitryon auch Hercules dank seiner Heldentaten ein göttliches Dasein.15 Die beiden entgegensetzten Positionen gehen so weit ineinander über, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Bezeichnenderweise konstituiert die Tötung des Lycus die letzte Heldentat, die Hercules vollbringt, bevor er seinen Verstand verliert. Erst jetzt – und nicht etwa nach seiner Bezwingung der Unterwelt – betrachtet er seine Mission als erfüllt und bereitet ein Danksagungsritual für Jupiter vor.16 Seine selbstsichere 11 12 13 14 15 16
Sen. HF 350-351 quod si impotenti pertinax animo abnuet, / stat tollere omnem penitus Herculeam domum. Vgl. Sen. HF 372-520. Zur Lycus-Gestalt bei Seneca siehe Shelton (1978), 32-37. Sen. HF 397-413, 432, 465-471. Sen. HF 345-348 una sed nostra potest / fundare vires iuncta regali face / thalamisque Megara: ducet e genere inclito / novitas colorem nostra. Sen. HF 439-476. Sen. HF 914 Tonantem nostra adorabit manus. Vgl. Wiener (2006), 91-94.
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Antwort auf die Aufforderung seines (menschlichen) Vaters, er solle sich nach dem Blutvergießen rituell reinigen lassen, ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung (Sen. HF 918-924): Am. nate, manantes prius manus cruenta caede et hostili expia. He. Utinam cruore capitis invisi deis libare possem: gratior nullus liquor tinxisset aras; victima haut ulla amplior potest magisque opima mactari Iovi, quam rex iniquus. Amphitryon: Sohn, entsühne zunächst die nach dem blutigen Mord deines Feindes triefenden Hände. Hercules: Wenn ich nur das Blut dieses verhassten Hauptes den Göttern als Gießopfer darbieten könnte! Es gibt keine Flüssigkeit, die sich zum Benässen der Altäre besser geeignet hätte. Kein vorzüglicheres und kein prächtigeres Opfertier könnte Jupiter geschlachtet werden als ein ungerechter König.
In seinem überheblichen Siegesrausch scheint Hercules die Meinung zu vertreten, menschliche Gesetze besäßen für ihn keine Gültigkeit mehr. Er bestraft seinen Feind so, als sei er bereits ein Gott.17 Dadurch, dass er sich über das Gesetz stellt, verwandelt er sich in einen Tyrannen – in einen rex iniquus – in eine Figur also, die er eigentlich für das Gegenteil seiner selbst hält.18 Dabei erinnert seine Missachtung des religiösen Gebots an Theseus’ Bericht über die von ihm gemeinsam mit Hercules unternommene Katabasis, in dem er die absolute Vorhersehbarkeit des allgemeingültigen göttlichen Gerechtigkeitsprinzips hervorhebt (Sen. HF 735-752): quod quisque fecit, patitur; auctorem scelus repetit suoque premitur exemplo nocens: vidi cruentos carcere includi duces et impotentis terga plebeia manu scindi tyranni. quisquis est placide potens dominusque vitae servat innocuas manus et incruentum mitis imperium regit animoque parcit, longa permensus diu felicis aevi spatia vel caelum petit vel laeta felix nemoris Elysii loca, 17 18
Vgl. Tobin (1966), 64; Lawall (1983), 13. Zur Transformation eines Königs in einen Tyrannen siehe Cic. Rep. 1.65 cum rex iniustus esse coepit, perit illud ilico genus, et est idem ille tyrannus. Siehe auch Littlewoods Bemerkungen über die Unmöglichkeit, die virtus des senecanischen Hercules vom Gehabe eines Tyrannen zu unterscheiden: Littlewood (2004), 31-36.
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iudex futurus. sanguine humano abstine quicumque regnas: scelera taxantur modo maiore vestra. Was jeder tat, das erleidet er; das eigene Verbrechen sucht den Urheber wieder auf, und dem Schuldigen nach dem von ihm selbst gesetzten Beispiel heimgezahlt: Ich sah, wie blutrünstige Herrscher ins Gefängnis geworfen wurden und wie der Rücken eines mächtigen Tyrannen durch Plebeierhand aufgerissen wurde. Jeder, der seine Macht mit Milde ausübt, der als Herrscher über das Leben die Unschuld seiner Hände bewahrt, der sanftmütig und frei von Blutvergießen sein Reich regiert, der sein Gemüt beherrscht, – dieser erreicht, nachdem er lange Strecken eines glücklichen Lebens durchmessen hat, entweder den Himmel oder als Glückseliger die fröhlichen Stätten des elysischen Haines, um Richter zu werden. Enthalte dich menschlichen Blutes, der du herrschst: Eure Verbrechen werden nach einem strengeren Maß bestraft.
In diesem Zusammenhang erscheint Hercules’ mörderischer Wahnsinn wie eine gerechte Strafe für seine grenzenlose Überheblichkeit. Er setzt in seinem benebelten Geisteszustand gewissermaßen das fort, was er bei vollem Verstand anfing: Er tötet seine eigenen Kinder, indem er sich einbildet, er töte Lycus’ Söhne und erlösche dadurch alle Spuren seiner Existenz auf Erden.19 Die Ermordung des Lycus erweist sich also im Nachhinein als das erste Symptom von Hercules’ Verwandlung in einen Tyrannen, dessen Missetaten diejenigen seines Widersachers bei weitem übertreffen.20 Das, was Hercules tut, erscheint nun als eine maßlos aufgeblähte Version der Verbrechen des Lycus. Während dieser seine Feinde in einem Kampf umbringt, tötet Hercules seine eigene wehrlose Familie. Während Lycus’ Ambitionen sich darauf beschränken, Tyrann von Theben zu sein, will Hercules in seinem Wahnsinn den Himmel erobern und Jupiter entmachten.21 Und während Lycus nur droht, Megara – die Ehefrau des Herrschers von Theben – umzubringen, erfüllt Hercules stellvertretend diese Drohung, indem er sie für Juno – die Ehefrau des Herrschers des Universums – hält.22 Dass Hercules dabei zu einer aufgeblähten
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Sen. HF 987-989 sed ecce proles regis inimici latet, / Lyci nefandum semen: iniusto patri / haec dextra iam vos reddet. Die Tatsache, dass der senecanische Hercules in seinem Wahnsinn meint, er töte Lycus’ Kinder, und nicht, wie sein Vorgänger bei Euripides, diejenigen des Eurystheus (Eur. Her. 963-989), dient dazu, die Verbindung zwischen den beiden Figuren noch weiter zu vertiefen. Einen ausführlichen Vergleich zwischen den Darstellungen des Wahnsinns des Hercules bei Euripides und bei Seneca findet man in Papadopoulou (2004). Vgl. Littlewood (2004), 25-36. Sen. HF 955-973. Sen. HF 1018 teneo novercam.
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Version einer bloßen Parodie seiner selbst wird, lässt seine Selbstniederlage besonders würdelos erscheinen. Die außerordentliche Ungeheuerlichkeit der Tat des Hercules wird jedoch nicht nur dadurch unterstrichen, dass sie als ein überbietendes Nachspielen anderer mythologischer Plots dargestellt wird. Ein zentrales Motiv des Hercules Furens ist die Verwendung der Schreckensbilder der Unterwelt als einer Metapher für das unbegreifliche Ausmaß von Hercules’ Verbrechen. Die gesamte Handlungsstruktur der Tragödie ist so konzipiert, dass man sukzessive darauf vorbereitet wird, die Lage des Protagonisten nach der Ermordung seiner Familie als etwas Schlimmeres zu betrachten denn alle erdenklichen literarischen Unterweltstrafen. Diese Einsicht wird dem Leser mittels einer ausgeklügelten Rhetorik des Sehens nahe gelegt. Etwa in der Mitte des Stückes befindet sich eine sich über mehr als hundertsiebzig Verse erstreckende ekphrastische Passage (Sen. HF 658-829), die zur Entwicklung der Handlung nichts Greifbares beiträgt.23 Wie wir bereits gesehen haben, muss Hercules nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt feststellen, dass sein Thron von dem skrupellosen Aufsteiger Lycus usurpiert worden ist, der den Vater und die beiden Brüder von Hercules’ Frau Megara ermordet hat und nun danach trachtet, Megara selbst zur Heirat zu zwingen. Gemäß seiner heldenhaften Natur begibt sich Hercules unverzüglich auf die Suche nach dem widerwärtigen Verbrecher, um ihn so schnell wie möglich zu töten, ehe er überhaupt die Gelegenheit ergreifen kann, seine Frau ordentlich zu begrüßen.24 Nach Hercules’ hastigem Weggang verbleiben auf der Bühne nur sein Vater Amphitryon und Theseus, der ihn auf seiner Unterweltreise begleitet hatte.25 Diese Handlungspause nützt Amphitryon, um Theseus ausführlich nach den Einzelheiten der Katabasis zu befragen. Im Laufe dieses Dialogs fügen sich Theseus’ detaillierte Antworten zu einer höchst lebhaften Beschreibung der unterirdischen Geographie und Bevölkerung zusammen. Die Beschreibung ist so konstruiert, dass man als Rezipient jeden Schritt des üblichen Weges, den die Seelen der Verstorbenen zurücklegen, mitverfolgen kann. Zunächst erfolgt eine Beschreibung der Landschaft, die den Eingang in die Unterwelt von Taenarus umgibt (Sen. HF 664-667):
23 24 25
Zu dieser Passage im Allgemeinen siehe Shelton (1978), 50-57; Aygon (2004), 197207. Bei Euripides befindet sich dagegen an dieser Stelle ein Dialog zwischen Hercules und Megara. Vgl. Sen. HF 592-640 und Eur. Her. 523-582. Der Hauptgrund, warum Seneca Theseus mit Hercules nach Mykene kommen lässt, scheint in der Tat darin zu bestehen, dass er einen Erzähler für Hercules’ Heldentaten in der Unterwelt braucht. Bei Euripides befindet sich dagegen Theseus zu diesem Zeitpunkt bereits in Athen und kommt erst am Ende der Tragödie nach Mykene, um Hercules Hilfe zu leisten (Eur. Her. 1163ff.).
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hic ora solvit Ditis invisi domus hiatque rupes alta et immenso specu ingens vorago faucibus vastis patet latumque pandit omnibus populis iter. Hier öffnet seinen Eingang das Haus des verhassten Dis, klafft tief ein Felsen, und in einer ungeheuerlichen Höhle reißt ein unermesslicher Abgrund sein weites Maul auf und erschließt allen Völkern einen breiten Weg.
Die auffällige Häufung von Adjektiven, die die außergewöhnliche Größe einzelner Elemente dieser Landschaft betonen (altus, immensus, ingens, vastus, latus), verleiht der Beschreibung einen Hauch des Übernatürlichen und bereitet uns somit auf die alles Denkbare in den Schatten stellende Unfassbarkeit der Unterwelt vor.26 Die außerordentliche Penetranz, mit der dem Leser das unablässige Offenstehen dieser überdimensionierten Öffnung eingehämmert wird (ora solvit, hiat, faucibus vastis patet, pandit), transformiert dabei den Lektüreprozess in eine Art persönliche Katabasis. Auf die Beschreibung dieser beeindruckenden Landschaft folgt die des Weges, der in die Unterwelt hinunterführt. Dabei fällt besonders die explizite Betonung der Veränderung der Sichtbedingungen auf: Wir bewegen uns langsam weg von der vertrauten Welt des Sonnenscheins in die unvorstellbare Finsternis des Hades hinein. Der Text scheint einen besonderen Wert darauf zu legen, uns diesen Prozess so präzise wie möglich vorzuführen: Es ist fast so, als müssten sich unsere Augen erst langsam an die Finsternis gewöhnen, um ihre Einzelheiten besser erkennen zu können (Sen. HF 668-672): non caeca tenebris incipit primo via; tenuis relictae lucis a tergo nitor fulgorque dubius solis adflicti cadit et ludit aciem: nocte sic mixta solet praebere lumen primus aut serus dies. Nicht unsichtbar vor Dunkelheit beginnt zuerst die Straße; dürftiger Schimmer des zurückgelassenen Lichtes im Rücken und unsicherer Schein der verfinsterten Sonne fällt hinein und täuscht das Auge: So pflegt der Beginn oder das Ende des Tages, vermischt mit der Nacht, sein Licht zu spenden.
Der Sog der sukzessiven Gewöhnung an die Dunkelheit, dem wir als Rezipienten dieser Passage unterworfen werden, scheint das unaufhaltsame Hinuntergleiten 26
Zur Verwurzelung dieser Schilderung in der vergilischen Darstellung der Unterwelt siehe Fitch (1987), 293. Zu den Ausdrücken des ‚Monströsen’ in Senecas Tragödien im Allgemeinen siehe Solimano (1998).
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in den Hades nachzuahmen, das laut Theseus die Seelen der Verstorbenen erleben (cf. Sen. HF 675 nec ire labor est; ipsa deducit via). Die ekphrastische Rhetorik ist hier also dezidiert darauf ausgerichtet, die Zuhörer nicht einfach in Zuschauer, sondern in Miterlebende zu verwandeln.27 Nun folgt eine detaillierte Auflistung einzelner, in jeder literarischen Beschreibung der Unterwelt unentbehrlicher und darum höchst klischeehaft wirkender Elemente der Geographie des Hades (die Lethe, der Kokytos, etc.) sowie in der literarischen – insbesondere der vergilischen – Tradition fest verwurzelter allegorischer Abstraktionen, die diese Landschaft bewohnen (Fames, Pudor, Metus, Pavor, usw.).28 Im Anschluss stellt Amphitryon die Frage nach dem Ertragsreichtum des unterirdischen Bodens (Sen. HF 697 estne aliqua tellus Cereris aut Bacchi ferax?), woraufhin Theseus in seiner Antwort die allgemeinen Eigenschaften der Unterwelt durch eine Reihe von Negationen schildert (Sen. HF 698-700): non prata viridi laeta facie germinant nec adulta leni fluctuat Zephyro seges; non ulla ramos silva pomiferos habet. Nicht gedeihen fruchtbare Wiesen in grüner Pracht, nicht wogt reife Saat im sanften Zephyr, keine Bäume haben obstbeladene Äste.
Die Unterwelt entpuppt sich somit als eine Art „Unort“ im wahrsten Sinne des Wortes – als ein Ort, der in jeder erdenklichen Hinsicht als das Gegenteil all dessen bezeichnet werden kann, was einem aus eigener Erfahrung vertraut ist.29 Dieser durchgängige Appell an die empirische Welt lässt die unvorstellbar finstere Wüstenlandschaft des Tartarus, wenn auch ex negativo, vor unseren Augen entstehen. Nach der Vollendung der von Juno gestellten Aufgabe (der Bezwingung des Cerberus) kann Hercules auf die Erde zurückkehren. In perfekter Symmetrie zum Anfang der Passage wird der Rückweg mit der gleichen enargeia beschrieben wie der Hinweg. Bei dieser Beschreibung ist von besonderer Bedeutung, dass sie nicht mehr durch die Augen des Theseus bzw. des Hercules, sondern durch die nicht an das Sonnenlicht gewöhnten Augen des Cerberus fokalisiert wird (Sen. HF 813-816, 821-827): postquam est ad oras Taenari ventum et nitor percussit oculos lucis ignotae novus, resumit animos victus et vastas furens 27 28 29
Vgl. Webb (2009), 87-106. Vgl. Verg. Aen. 6. 268-294. Zum Konzept eines „Unortes“ und zu Unorten in Senecas Tragödien siehe Walde (2010), insb. 282-284.
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quassat catenas. [...] [...] vidit ut clarum diem et pura nitidi spatia conspexit poli, oborta nox est: lumina in terram dedit, compressit oculos et diem invisum expulit aciemque retro flexit atque omni petit cervice terram; tum sub Herculeas caput abscondit umbras. Nachdem man an den Rand des Tartarus kam und der ungewohnte Glanz des ihm unbekannten Lichtes seine Augen berührte, erlangt er, obwohl besiegt, seinen Mut wieder und rüttelt wütend die gewaltigen Ketten. [...] Als er das helle Tageslicht und leuchtende Weiten des klaren Himmels sah, wurde es für ihn Nacht: Er senkte den Blick zum Boden nieder, presste seine Augen zusammen, verbannte das verhasste Licht, drehte sein Gesicht zurück und suchte die Erde mit allen seinen Hälsen; dann verbarg er sein Haupt unter Hercules’ Schatten.
Die Tatsache, dass dem Rezipienten die an sich vollkommen vertraute Ansicht der empirischen Welt aus dem Blickwinkel eines infernalischen Ungeheuers dargeboten wird, konstituiert einen höchst ausgeklügelten Kunstgriff: Dadurch wird das Vertraute radikal verfremdet und mit dem Unvorstellbaren mehr oder weniger gleichgesetzt. Für Cerberus stellt unsere vom Sonnenlicht überflutete Welt eine genauso schwer zu bewältigende visuelle Herausforderung dar wie die Finsternis des Hades für Hercules und Theseus. Cerberus’ außerordentlicher Widerstand gegen die Notwendigkeit, das Tageslicht zu sehen, wird implizit mit dem freiwilligen Entschluss der beiden Helden, die Schrecken der Unterwelt zu sehen, kontrastiert. Durch eben diesen Kontrast erscheint die vertraute empirische Welt als etwas, was die Schrecken der Unterwelt gewissermaßen übertreffen könnte. Dies wird in dieser Passage auch dadurch vorweggenommen, dass der Höllenhund eine Zuflucht vor dem Sonnenlicht nur unter Hercules’ Schatten finden kann: Nicht nur bringt Hercules das Infernalische auf die Erde; er trägt es – für die Bewohner der Unterwelt bereits deutlich erkennbar – in sich. Dieses hier nur indirekt angedeutete Motiv entfaltet sein volles Potenzial in der Schilderung von Hercules’ Wahnsinn. Nach seiner Reise in die Unterwelt, die der Chor zu seiner größten Heldentat erklärt,30 gibt es für ihn keine Herausforderungen mehr: Wie Juno selbst im Prolog zugibt, sind auf Erden keine Monstren mehr übrig, die sie ihm noch schicken könnte.31 Darum schwebt Hercules zunächst die Vision einer vollkommenen Harmonie unter seiner eigenen Herrschaft vor – eine Vision, die er in seinem Gebet an Jupiter ausführlich formuliert (Sen. HF 927-938):32 30 31 32
Sen. HF 830-837. Sen. HF 30-42. Vgl. Schmitz (1993), 125-127.
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Ekphrasis und Metatheater stet suo caelum loco tellusque et aether; astra inoffensos agant aeterna cursus, alta pax gentes alat; ferrum omne teneat ruris innocui labor ensesque lateant. nulla tempestas fretum violenta turbet, nullus irato Iove exiliat ignis, nullus hiberna nive nutritus agros amnis eversos trahat. venena cessent, nulla nocituro gravis tumescat herba. non saevi ac truces regnent tyranni; si quod etiamnum est scelus latura tellus, properet, et si quod parat monstrum meum sit. An seinem Ort stehenbleiben soll der Himmel, auch die Erde und der Äther. Die ewigen Sterne mögen ihre Bahnen ungestört ziehen, tiefer Frieden die Völker nähren. Der schuldlose Ackerbau besitze alles Eisen, Schwerte mögen verborgen bleiben. Kein rasender Sturm möge das Meer aufrühren, keine Flamme sich an Jupiters Zorn anzünden, kein durch winterlichen Schnee genährter Strom aufgerüttelte Felde mit sich reißen. Gift verliere seine Wirkung, kein Kraut blähe sich mit schädlichem Saft auf. Erbarmungslose und wütende Tyrannen sollen nicht regieren. Und soll die Erde noch irgendein Verbrechen hervorbringe, so möge sie eilen, und wenn sie noch irgendein Monstrum erschafft, so sei es meins.
Das ist eine höchst bemerkenswerte Passage.33 Einerseits erinnert die von Hercules vorgetragene Vision von Ordnung, Frieden und Stabilität eindeutig an die Schilderungen des unter der Obhut eines (semi-)göttlichen Herrschers zurückkehrenden goldenen Zeitalters,34 die sich sowohl in der augusteischen als auch in der späteren römischen (insbesondere neronischen) Literatur zu einem unentbehrlichen panegyrischen Topos entwickeln.35 Andererseits kommt diese euphorische Schilderung der künftigen paradiesischen Zustände, die sich nur eines rhetorischen Mittels, nämlich der Negation vertrauter Eigenschaften der bekannten empirischen Welt, bedient, Theseus’ Beschreibung der Unterwelt verstörend nahe. Wie schwer es manchmal ist, die perfekte Harmonie des goldenen Zeitalters vom höllischen Chaos zu unterscheiden,36 wird in der unmittelbar darauf folgenden Darstellung von Hercules’ Wahnsinn mit viel größerer Anschaulichkeit demonstriert. 33 34 35 36
Für eine detaillierte Besprechung von Hercules’ Gebet siehe Motto-Clark (1994). Vgl. Littlewood (2004), 110-114. Siehe Kap. 8. Vgl. Boyle (1997), 108. Zum Motiv des Goldenen Zeitalters in Senecas Tragödien im Allgemeinen siehe Maxia (2000). Vgl. Octavia 377-434, wo der Gegensatz zwischen der Vollkommenheit des goldenen Zeitalters und dem Chaos auch weitgehend aufgehoben wird. Dazu siehe Boyle (2008), ad loc.
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Zu den Symptomen des Wahnsinns, die Hercules plötzlich zu zeigen beginnt, zählen nicht nur Halluzinationen, die ihn am helllichten Tag sich ins Chaos stürzende Sternbilder sehen lassen,37 sondern auch die Tatsache, dass er sich nun nicht mehr mit seiner ursprünglichen Vision einer von ihm selbst harmonisch regierten Welt zufrieden gibt. Er fällt vielmehr in das vertraute heldenhafte Verhaltensmuster, nach dem er jede bereits vollbrachte Heldentat übertreffen muss (Sen. HF 955-959):38 perdomita tellus, tumida cesserunt freta, inferna nostros regna sensere impetus: immune caelum est, dignus Alcide labor. in alta mundi spatia sublimis ferar, petatur aether: astra promittit pater. Die Erde ist bezwungen, das anschwellende Meer hat sich beruhigt, das unterirdische Reich meinen Angriff verspürt: Nur der Himmel ist unangetastet – eine des Alkiden würdige Aufgabe. In die hohen Räume der oberen Welt werde ich mich begeben, der Äther soll nun aufgesucht werden: Mein Vater verspricht mir schließlich die Sterne.
Nach der Bezwingung der Unterwelt bleibt folglich nur der Himmel übrig. Dadurch, dass Hercules jetzt den Entschluss fasst, diesen göttlichen Bereich zu erobern, verwandelt er sich, im Einklang mit der von Juno im Prolog formulierten Befürchtung: Aus dem größten Heilsbringer, der der Welt ein neues goldenes Zeitalter verheißt, wird das fürchterlichste Monster, das die bestehende Weltordnung in den Zustand des ursprünglichen Chaos zurückzuwerfen droht (Sen. HF 965-986).39 Es ist bezeichnend, dass Hercules diese bevorstehende Eroberung als ein Nachspielen zweier früherer ähnlicher Versuche darstellt, die gescheitert sind – der Titanomachie und der Gigantomachie: Laut Hercules’ Wahnvorstellung brechen zu diesem Zweck die in die Unterwelt verbannten Titanen und Giganten, sowie andere infernalische Gestalten, aus dem Tartarus aus.40 Somit transformiert sich seine wahnwitzige Himmelfahrt in eine übertriebene Version seiner Katabasis, während die daraus resultierende Vermischung zwischen Himmel und Hölle den Unterschied zwischen Hercules und einem der infernalischen Monster – einem Giganten, einem Titanen – gänzlich zu nivellieren scheint.
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Zu den Symptomen des Wahnsinns in Senecas HF siehe Auvray (1989), 85-90. Zu ihren kosmischen Ausmaßen siehe Schmitz (1993), 127-134. Bezeichnenderweise bildet sich Hercules bei Euripides nur ein, er töte die Söhne des Eurystheus (Eur. Her. 963-989). Dazu siehe Schmitz (1993), 135-136. Sen. HF 967-981.
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Da es sich bei diesem kosmischen Kampf um eine von Juno induzierte wahnsinnige Vision handelt, die sich von der auf der Bühne dargestellten Realität radikal unterscheidet, entfaltet sich das Geschehen gleichzeitig auf zwei Ebenen: Während Hercules selbst seine krankhafte Phantasie schildert, berichtet Amphitryon von der Tötung dessen Familie, die auf der Bühne tatsächlich stattfindet (Sen. HF 1004-1007): scelus nefandum, triste et aspectu horridum: dextra precantem rapuit et circa furens bis ter rotatum misit; ast illi caput sonuit, cerebro tecta disperso madent. O abscheuliches Verbrechen, traurig und entsetzlich anzuschauen: Mit der Rechten hat er den Flehenden ergriffen und rasend zweimal, dreimal im Kreis herumgeschleudert. Und jenem dröhnte der Kopf, das Haus trieft von der zerspritzten Gehirnmasse.
Die beiden Ebenen – die makrokosmische und die mikrokosmische – ergänzen sich dabei gegenseitig. Die unvorstellbare Grausamkeit der Tötung der eigenen Familie wird einerseits auf die gleiche kosmische Ebene gehoben wie die archetypischen Verbrechen der Titanen und der Giganten. Andererseits machen die visuell verstörenden Schilderungen der über die Bühne fliegenden Körperteile und der aus dem Kopf eines Kindes herausfließenden Gehirnmasse, wovon es in Amphitryons Bericht nur so wimmelt,41 die Abstraktion dieses kosmischen Konflikts direkt greifbar: Auf diese Weise bereitet es nicht nur Amphitryon selbst unerträgliche Schmerzen, dieses Spektakel sehen zu müssen, sondern auch dem Rezipienten (dem Leser, dem Zuhörer, dem Zuschauer), für den er diesen ekphrastischen Alptraum erschafft. Die schmerzende Konkretheit der Beschreibungen Amphitryons hinterlässt den bleibenden Eindruck, dass das, was auf der Bühne gerade geschieht, unvergleichlich schlimmer ist als die gesamte Schar der unterirdischen Monstren, die sich Hercules in seinem Wahnsinn vorstellt. Die Schrecken der Unterwelt und die riesigen, für ihre Missetaten in die Unterwelt verbannten Ungeheuer sind wahrscheinlich die furchteinflößendsten Gestalten, die sich im mythologischen Fundus der griechisch-römischen Literatur finden lassen. Der Hauptgrund, warum Seneca diese Bilder nicht nur hier, sondern, wie wir sehen werden, auch in allen anderen Tragödien, mit solcher Beharrlichkeit einsetzt, scheint vor allem in ihrer Funktion als Folie für die noch größere Horrorwirkung des Bühnengeschehens zu bestehen. Das, was wir auf der Bühne sehen, ist somit immer schlimmer als die schlimmsten Schreckensbilder, die man sich aufgrund der eigenen literarischen Erfahrung vorstellen kann. 41
Sen. HF 1005-1007 dextra precantem rapuit et circa furens / bis ter rotatum misit; ast illi caput / sonuit, cerebro tecta disperso madent. 1024-1026 in coniugem nunc clava libratur gravis: / perfregit ossa, corpori trunco caput / abest nec usquam est.
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Dieser Aspekt der dargestellten Bühnenrealität wird im letzten Akt der Tragödie besonders stark hervorgehoben. Als Hercules nach seinem Anfall von Wahnsinn aufwacht, hält er zunächst das von ihm selbst angerichtete Blutbad für eine hartnäckige Erinnerung an die Schreckensbilder der Unterwelt (Sen. HF 1143-1146): unde prostrata ad domum video cruenta corpora? an nondum exuit simulacra mens inferna? post reditus quoque oberrat oculis turba feralis meis? Wieso sehe ich blutige Leichen ausgestreckt vor dem Haus? Oder ist etwa mein Geist die Gestalten der Unterwelt noch nicht losgeworden? Versammelt sich eine unterirdische Schar vor meinen Augen auch nach der Rückkehr?
Was Juno im Prolog prophezeite,42 wird nun also erfüllt: Die ‚hiesige’ (hic) Realität lässt sich für Hercules von der Unterwelt nicht mehr unterscheiden. Mehr noch: Der Tod (das heißt, das ewige Verweilen unter den Schrecken der Unterwelt – im entferntesten Winkel des Tartarus) kommt ihm jetzt als die einzig denkbare Lösung vor, um den noch schlimmeren Schrecken dieser Welt zu entkommen (Sen. HF 1221-1226): dira Furiarum loca et inferorum carcer et sonti plaga decreta turbae – si quod exilium patet ulterius Erebo, Cerbero ignotum et mihi, hoc me abde, Tellus; Tartari ad finem ultimum mansurus ibo. Ihr furchteinflößenden Stätten der Furien und Kerker der Unterirdischen und Gebiet, der frevelhaften Schar zugeteilt, – wenn noch irgendein Verbannungsort jenseits des Erebus offenbleibt, sowohl dem Cerberus als auch mir unbekannt, verbirg mich dort, Erde; zur äußersten Grenze des Tartarus werde ich gehen, um dort zu bleiben.
Man kann nun mit aller Deutlichkeit erkennen, dass die visuell höchst beeindruckenden Schilderungen der übernatürlichen Schreckensbilder der literarischen Unterwelt hauptsächlich dazu dienen, das sich innerhalb der rein menschlichen Welt abspielende Bühnengeschehen als unübertreffbar grausam erscheinen zu lassen. Wir sehen somit, dass die gesamte Handlung der Tragödie auf einer doppelten aemulatio basiert, deren Ziel offenbar darin besteht, die Kulmination 42
Sen. HF 91 hic tibi ostendam inferos.
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des Bühnengeschehens als ein jegliche Vorstellungskraft übersteigendes Ereignis darzustellen. Einerseits werden dabei andere narrative Sujets so transformiert, dass die in ihnen dargestellten Grausamkeiten überboten werden. Dies betrifft in erster Linie die Verwandlung des Hercules in eine noch entsetzlichere Inkarnation eines Tyrannen und eines infernalischen Ungeheuers. Andererseits dienen die Beschreibungen des Übernatürlichen (vor allem des Infernalischen) dazu, das unvorstellbar Ungeheuerliche der Bühnenhandlung hervorzuheben. Darstellungen der mythologischen Schreckensbilder verfolgen dennoch nicht ausschließlich das Ziel, den durch die Bühnenhandlung erzeugten visuellen Schock zu steigern. Die Erkenntnis, die auf der Bühne dargestellte Realität übertreffe die Grausamkeit der traditionellen literarischen Unterwelt, führt am Ende des Stückes zu einer weiteren – abstrakteren – Erkenntnis. Die Art und Weise, auf die Hercules seinen Selbstmordentschluss formuliert, entspricht haargenau der ursprünglichen Vorstellung Junos, gemäß welcher sein Sieg über sich selbst seine größte Heldentat darstellen sollte (Sen. HF 1279-1282): purgare terras propero. iamdudum mihi monstrum impium saevumque et immite ac ferum oberrat: agedum, dextra, conare aggredi ingens opus, labore bis seno amplius. Die Erde zu reinigen beeile ich mich. Schon lange bewegt sich vor meinen Augen ein frevelhaftes, grauenvolles, ungezähmtes, wildes Ungeheuer: wohlan, meine Rechte, wage eine gewaltige Tat anzufangen, größer als die zweimal sechs Arbeiten.
Die unmittelbare Konfrontation mit den sowohl visuell als auch moralisch verstörenden Folgen seines Verbrechens führt dazu, dass er sich selbst als das schlimmste Monster wahrnimmt, dem er jemals begegnet ist. Die Befreiung der Erde von diesem Monster würde seine bisherigen Heldentaten tatsächlich übertreffen. Amphitryon gelingt es jedoch schließlich, Hercules zu überreden, am Leben zu bleiben, indem er den heroischen Aspekt des von Hercules geplanten Selbstmordes nachhaltig relativiert: Er droht nun seinerseits mit Suizid (was ein weiteres Verbrechen darstellen würde, das Hercules auf dem Gewissen lasten würde) und betont mit besonderem Nachdruck, Juno und nicht Hercules selbst sei für die begangene Gräueltat verantwortlich (Sen. HF 1296 hoc Iuno telum manibus emisit tuis).43 Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Hercules nicht mehr den Selbstmord, sondern sein künftiges Leben, das Leben mit der unauslöschlichen Schuld, zu seinen Heldentaten rechnet (Sen. HF 1316-1317):
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Claudia Wiener (2006, 98-102) wertet diese Interaktion als „ein erfolgreiches Therapiegespräch.“ Zu Hercules’ Ablehnung des Selbstmordes am Ende der Tragödie siehe auch Palmieri (1999), 132-149.
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eat ad labores hic quoque Herculeus labor: vivamus. Auch diese Tat zähle zu den Hercules-Taten: ich soll leben.
Als die größte Heldentat des Hercules galt bis dahin seine Katabasis.44 Nun kommt etwas so Banales wie das Leben als solches (vivamus) hinzu – eine Heldentat, die nach der im Laufe des Stückes konsequent angewendeten heroischen Logik, größer sein muss als die Bezwingung der Monstren der Unterwelt.45 Mehr noch: Erst die Entscheidung, weiterzuleben, bedeutet ironischerweise für Hercules einen echten Sieg über seine Erzfeindin Juno. Am Ende der Tragödie begegnen wir also einem ziemlich simplen Gedanken: Am Leben zu bleiben ist unter Umständen heldenhafter als mythologische Monstren zu besiegen.46 Im Nachhinein scheint die gesamte visuell beeindruckende Überfülle, mit der wir im Laufe des Stückes bombardiert worden sind, – sowohl die klischeehaften literarischen Monstrositäten als auch die haarsträubenden Schilderungen der Gewalt – nur ein einziges Ziel zu verfolgen: nämlich diesen einfachen Gedanken so anschaulich und überzeugend wie möglich wirken zu lassen. Die überladene Rhetorik der aemulatio stürzt zwar am Ende unter ihrem eigenen Gewicht ein. Was jedoch davon übrig bleibt, ist zum einen ein unauslöschbar starker visueller Eindruck, der die emotionale Wirkung des sich aus den Trümmern herauskristallisierenden Gedankens ungemein verstärkt. Zum anderen hinterbleibt der Eindruck, dass man diesen durch seine Einfachheit bestechenden Gedanken ohne die selbstdekonstruierende Rhetorik des Sehens gar nicht hätte so überzeugend darstellen können. Wie ich in den nächsten Kapiteln zeigen werde, basieren alle Tragödien Senecas auf verschiedenen Versionen dieser eigentümlichen Rhetorik.
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Vgl. Sen. HF 529-557, wo die Katabasis als die letzte – und somit die größte – Heldentat erwähnt wird. Es darf kaum überraschen, dass man in Euripides’ Herakles nichts Vergleichbares findet. Bei Euripides wird Herakles zwar auch – dieses Mal von Theseus – erfolgreich überredet, von einem Selbstmord abzusehen; dies geschieht jedoch mit der Begründung, er könne sich in einem der zahlreichen athenischen Heiligtümer einer rituellen Reinigung unterziehen: Eur. Her. 1313-1420; vgl. die letzten Worte von Senecas Hercules Furens (Sen. HF. 1341-1344): nostra te tellus manet. / illic solutam caede Gradivus manum / restituit armis: illa te, Alcide, vocat, / facere innocentes terra quae superos solet. Zum Vergleich zwischen den Schlusspartien der beiden Tragödien siehe Lieberg (1994). Zur Bedeutung dieser Vorstellung in Senecas philosophischen Schriften siehe Kap. 9.
2. Imago mortis: Phaedra Einige der auffälligsten Unterschiede zwischen Senecas Phaedra und Euripides’ Hippolytus erwecken den Eindruck, Seneca verfolge in seiner Tragödie in erster Linie das Ziel, den ursprünglichen Plot nach den Prinzipien seiner Rhetorik des Sehens umzugestalten. Bei Euripides wird Phaedras Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytus bekannt, während sich ihr Mann Theseus als theoros (Pilger) außerhalb der Stadt aufhielt (Eur. Hip. 792, 807). Um die Scham der Entdeckung zu vermeiden, erhängt sich Phaedra, hinterlässt jedoch eine Notiz, in der sie Hippolytus fälschlich beschuldigt, er habe sie vergewaltigt (Eur. Hip. 856-886). Als Theseus dies nach seiner Rückkehr erfährt, wendet er sich unverzüglich an seinen Vater Poseidon mit der Bitte, Hippolytus mit dem Tod zu bestrafen (Eur. Hip. 887-890). Daraufhin schickt Poseidon einen aus den Meereswogen aufsteigenden Stier, der Hippolytus’ Pferde in Panik versetzt (Eur. Hip. 1073-1254). Hippolytus wird zwar an seinem Gespann hängend lange durch raues Terrain gezogen, sodass er dem Tod nahe steht, wenn er am Ende der Tragödie auf die Bühne gebracht wird (Eur. Hip. 1342-1346). Er hat jedoch immer noch genügend Kraft, um sich mit seinem Vater, der von Artemis über die wahren Hintergründe des Geschehenen aufgeklärt worden ist und seine vorschnelle Tat nun zutiefst bereut, zu versöhnen (Eur. Hip.1347-1461). Senecas Tragödie basiert auf einer ähnlichen Handlung.1 Im Gegensatz zu Euripides steht bei ihm allerdings nicht die Entwicklung der Handlung im Mittelpunkt, sondern die transformative Wirkung des visuellen Schocks, den die Charaktere erleben. Genauso wie im Hercules Furens werden in der Phaedra Beschreibungen unvorstellbar monströser Phänomene als Folie für das Bühnengeschehen verwendet. Es ist in diesem Zusammenhang besonders symptomatisch, dass Theseus bei Seneca, im Gegensatz zur euripideischen Version der Geschichte, nicht aus einer benachbarten Gegend von einem Tempelbesuch zurückkehrt, sondern, analog zum Herkules im Hercules Furens, aus der Unterwelt. Es überrascht daher kaum, dass die Schrecken der Unterwelt für Theseus, ebenso wie für Herkules, den wichtigsten Referenzpunkt darstellen, an dem er die in der oberen Welt stattfindenden Ereignisse misst. So erscheint ihm zum Beispiel der Schock nach der vermeintlichen Entdeckung, Hippolytus habe Phaedra vergewaltigt, viel 1
Zum Verhältnis zwischen der senecanischen Phaedra und den beiden Tragödien des Euripides, die sich mit dem gleichen Sujet befassen (dem erhaltenen Hippolytos und dem verlorenen Hippolytos kalyptomenos) siehe Segal (1986), 3-17; Mayer (2002), 515; Gill (2005), 166-172.
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schlimmer als die ewige Wartezeit, die er in der Unterwelt zugebracht hat, denn erst jetzt hält er es für angemessen, auf das verhängnisvolle Versprechen seines Vaters Neptun zurückzugreifen (Sen. Ph. 949-953): numquam supremum numinis munus tui consumeremus, magna ni premerent mala; inter profunda Tartara et Ditem horridum et imminentes regis inferni minas, voto peperci: redde nunc pactam fidem. Niemals würde ich das höchste Geschenk deiner Gottheit verschwenden, wenn mich nicht große Leiden bedrängten. In den Tiefen des Tartarus, beim schrecklichen Dis und unter unablässigen Drohungen des unterirdischen Königs habe ich auf die Äußerung dieses Wunsches verzichtet: jetzt erfülle das vereinbarte Abkommen.
Die obere Welt, in die Theseus zurückkehrt, erweist sich also, wie für Herkules, als weitaus schlimmer denn die schrecklichsten Bilder der literarischen Unterwelt. Mehr noch: In Übereinstimmung mit dem Hercules Furens wird das verstörendste der innerhalb des Stückes geschehenden Ereignisse – der Tod des Hippolytus – in Relation zur literarischen Welt des Übernatürlichen gesetzt. Der Tod des Hippolytus wird in einem detaillierten Botenbericht geschildert, der unter anderem eine Ekphrasis des von Neptun aus den Meerestiefen geschickten Monsters enthält. Sowie im Hercules Furens, wo die Beschreibung des sukzessive dunkler werdenden Weges auf die Finsternis des Tartarus vorbereitet (Sen. HF 658-672), geht hier der Erscheinung des Monsters eine Darstellung der diese Erscheinung ankündigenden Naturphänomene voraus, die bereits jegliche Vorstellungskraft übertrifft: Es handelt sich um ein noch nie gesehenes kosmisches Ereignis, das das Meer, den Himmel und die Erde bedroht (Sen. Ph. 10071017): cum subito vastum tonuit ex alto mare crevitque in astra. nullus inspirat salo ventus, quieti nulla pars caeli strepit placidumque pelagus propria tempestas agit. non tantus Auster Sicula disturbat freta nec tam furens Ionicus exsurgit sinus regnante Coro, saxa cum fluctu tremunt et cana summum spuma Leucaten ferit. consurgit ingens pontus in vastum aggerem, tumidumque monsro pelagus in terras ruit. nec ista ratibus tanta construitur lues: terris minatur.
Phaedra
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... als plötzlich das weite Meer aus den Tiefen ertönte und sich bis zu den Sternen erhob. Kein Wind weht in der Brandung, es donnert in keinem Gebiet des ruhigen Himmels, ein aus ihr selbst geborener Sturm erschüttert die friedliche See. Der Auster wühlt die sizilischen Wogen nicht so heftig auf, nicht so wütend erhebt sich das Jonische Meer unter der Herrschaft des Corus, wenn die Felsen in der Flut erbeben und der weiße Schaum den Gipfel des Leukates peitscht. Die gewaltige See erhebt sich zu einem riesigen Berg und die aufgeblähte Welle stürzt sich in einer übernatürlichen Erscheinung über das Land. Und nicht Schiffe richtet sich dieses so massive Verderben: Es bedroht das Festland.
Im Gegensatz zu Euripides’ Stück, in dem das aus den Meereswogen erscheinende Wesen einfach als ein riesiger Stier bezeichnet wird (Eur. Hip. 1214 κῦµ᾿ ἐξέθηκε ταῦρον, ἄγριον τέρας), tritt bei Seneca ein noch nie gesehenes Mischwesen auf.2 Die Beschreibung dieses Ungeheuers wird nicht nur durch eine Rhetorik der maßlosen Übertreibung geprägt, sondern auch durch eine außerordentliche Detailfreude, die dem Rezipienten dazu verhilft, sich das Geschilderte so genau wie möglich vorzustellen (Sen. Ph. 1035-1047): quis habitus ille corporis vasti fuit! caerulea taurus colla sublimis gerens erexit altam fronte viridanti iubam; stant hispidae aures, orbibus varius color, et quem feri dominator habuisset gregis et quem sub undis natus: hinc flammam vomunt oculi, hinc relucent caerula insignes nota; opima cervix arduos tollit toros naresque hiulcis haustibus patulae fremunt; musco tenaci pectus ac palear viret, longum rubenti spargitur fuco latus; tum pone tergus ultima in monstrum coit facies et ingens belua immensam trahit squamosa partem. Was für eine Gestalt hatte dieser gewaltige Körper! Ein Stier, seinen blauen Nacken hoch tragend, hob seine hohe Mähne auf der grünlichen Stirn empor; borstig stehen seine Ohren, die Augen haben eine wechselnde Farbe – sowohl jene, die der Herr einer wilden Herde, als auch die, die eine im Meer geborene Kreatur hätte. Von der einen Seite versprühen seine Augen Feuer, von der anderen leuchten sie außergewöhnlich mit bläulichem Glanz; der massive Nacken erhebt steile Muskeln, und offene Nüstern dröhnen bei jedem klaffenden Atemzug; die Brust und die Wamme grünen mit festklebendem Moos, die breite Flanke ist besprenkelt mit rötlichem Tang; dann schließt sich seine Gestalt hinten am Rücken in 2
Zu dieser grotesken Gestalt siehe Segal (1984), 318-322; Mader (2002).
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Ekphrasis und Metatheater eine groteske Erscheinung zusammen, und das schuppenbedeckte Ungeheuer zieht seine gigantische Länge nach sich.
Besonders bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass die einzige Tätigkeit des Ungeheuers, von der im Text berichtet wird, darin besteht, dass es erscheint.3 Die bloße Ansicht des Monströsen konstituiert demnach offenbar den wichtigsten Impuls, der die Pferde des Hippolytus in Panik versetzt und schließlich zu dessen Tod führt (Sen. Ph. 1050-1104). Der kausale Zusammenhang zwischen dem Sehen und dem Tod verstärkt den durch die ekphrastische Visualisierung erzeugten emotionalen Effekt noch weiter. Die ausdrückliche Betonung der Visualisierung des Monströsen macht die Ähnlichkeit zwischen dem Botenbericht in der Phaedra und der Mordszene im Hercules Furens ziemlich frappierend. Genauso wie im Hercules Furens die wahnsinnige Vision des Herkules, in der er die aus der Unterwelt ausgebrochenen Titanen und Giganten den Olymp erstürmen sieht, als Folie für die Tötung seiner eigenen Familie fungiert, wird hier der Tod des Hippolytus durch die Erscheinung des Meeresungeheuers auf das Niveau eines kosmischen Ereignisses gehoben.4 Zudem stellt es sich, wiederum analog zum Hercules Furens, heraus, dass das eigentliche Ereignis, von dem berichtet wird, jegliche mittels einer übertriebenen ekphrastischen Rhetorik darstellbare Monstrosität bei weitem übertrifft. Der vom infernalischen Ungeheuer verursachte visuelle Schock wirkt in der Tat relativ harmlos neben der Schilderung dessen, was mit Hippolytus als Folge dieser Erscheinung geschieht. Der Kontrast zwischen Senecas und Euripides’ Versionen des Unglücks des Hippolytus ist dabei besonders symptomatisch. In Euripides’ Stück wird Hippolytus – gefangen in einem festen, aus Zaumzeug beim Umsturz des Wagens entstandenen Knoten – von seinen erschrockenen Pferden eine Zeit lang weiter gezogen (Eur. Hip. 1236-1237 ἡνίαισιν ἐµπλακεὶς / δεσµὸν δυσεξέλικτον ἕλκεται δεθείς) und schwer verletzt (Eur. Hip. 1239 θραύων τε σάρκας), schafft es aber am Ende, sich zu befreien (Eur. Hip. 12441246 χὠ µὲν ἐκ δεσµῶν λυθεὶς [...] πίπτει). Bei Seneca ereignet sich stattdessen Folgendes (Sen. Ph. 1093-1110): late cruentat arva et inlisum caput scopulis resultat; auferunt dumi comas, et ora durus pulchra populantur lapis 3
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Sen. Ph. 1031-1034 inhorruit concussus undarum globus / solvitque sese et litori invexit malum / maius timore, pontus in terras ruit / suumque monstrum sequitur. Es ist dabei bezeichnend, dass Seneca diesen Prozess als eine Art Geburt konzipiert; siehe dazu Boyle (1985), 1317-1320; Furley (1992). Vgl. Rosenmeyer (1989), 156. Der Vergleich zwischen Hippolytus und dem vom Himmel herabstürzenden Phaethon (Sen. Ph. 1090-1092) dient dazu, die wahrhaftig kosmische Dimension des Geschehens noch mehr zu betonen.
Phaedra
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peritque multo vulnere infelix decor. moribunda celeres membra pervolvunt rotae; tandemque raptum truncus ambusta sude medium per inguen stipite ingesto tenet, paulumque domino currus affixo stetit. haesere biiuges vulnere – et pariter moram dominumque rumpunt. inde semianimem secant virgulta, acutis asperi vepres rubis omnisque truncus corporis partem tulit. errant per agros funebris famuli manus, per illa qua distractus Hippolytus loca longum cruenta tramitem signat nota, maestaeque domini membra vestigant canes. necdum dolentum sedulus potuit labor explere corpus. Weit herum befleckt er die Felder mit Blut, und sein zertrümmerter Kopf prallt von den Felsen ab; seine Haare werden von Sträuchern weggerissen, und harter Stein verwüstet seine ansehnlichen Gesichtszüge, und die unglücksbringende Schönheit geht durch zahlreiche Wunden zugrunde; die schnellen Räder schleudern seine sterbenden Glieder herum; und endlich hält ein Baumstrunk mit seinem verkohlten Pfahl den Fortgerissenen fest, indem der Stamm mitten durch die Leiste hineindringt, und der Wagen wird von seinem aufgespießten Lenker für eine kurze Zeit zum Stehen gebracht. Die beiden Rosse bleiben an der Wunde hängen – und zerreißen dann zugleich das Hindernis und den Meister. Darauf hin zerschneiden Gebüsche den Halbtoten; sowohl Brombeersträuche mit ihren rauhen Dornen als auch jeder Baumstrunk trugen einen Teil seines Körpers. Eine mit der Bestattung beauftragte Dienerschar irrt nun durch die Felder, durch jene Orte, wo der zerstückelte Hippolytus einen langen Pfad mit blutigen Spuren gezeichnet hat, und seine Hündinnen spüren traurig nach den Gliedern ihres Herrn. Die fleißige Bemühung der Trauernden konnte bis jetzt den Körper nicht vervollständigen.
Die von Euripides skizzierten tödlichen Wunden des Hippolytus erscheinen gemessen an dieser Beschreibung eines gleichsam pulverisierten Körpers wie ein harmloser Kratzer – genauso wie die in Senecas Stück der Todesszene unmittelbar vorangehende Darstellung eines furchterregenden infernalischen Monsters dagegen wie eine aufgeblähte literarische Platitude wirkt.5 Gleich den entsprechenden Passagen im Hercules Furens dient hier eine klischeehaft wirkende Schilderung des Übernatürlichen hauptsächlich dazu, die emotionale Wirkung einer unvorstellbaren physischen Grausamkeit, die in der menschlichen Welt des Dramas stattfindet, noch weiter zu verstärken.
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Zu Hippolytus’ Zerstückelung bei Seneca siehe Most (1992).
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Ekphrasis und Metatheater
Diese lebhafte ekphrastische Inszenierung der haarsträubenden Zerstückelung genügt Seneca jedoch anscheinend noch nicht. Im letzten Akt der Tragödie werden einzelne Körperteile des zerrissenen Hipplolytus auf die Bühne gebracht. Als Theseus mit eigenen Augen sieht, was er getan hat, besteht für ihn (genauso wie für Herkules nach dem Mord an seiner Familie) kein Zweifel mehr daran, dass es sich um das Schlimmste handelt, was er jemals erblickt hat: Sein einziger Wunsch ist jetzt auch, die im Vergleich harmloseren Schrecken der Unterwelt zu sehen (Sen. Ph. 1201-1203): pallidi fauces Averni vosque, Taenarii specus, unda miseris grata Lethes vosque, torpentes lacus, impium rapite atque mersum premite perpetuis malis. Ihr, Schlünde des bleichen Avernus, taenarische Höhlen, Woge der Lethe, den Elenden willkommen, und ihr, träge Gewässer, reißt den Frevelhaften her und bedrängt den Versunkenen mit ewigen Übeln.
Die Tatsache, dass seine Rückkehr aus der Unterwelt zum Tod seines Sohnes (und seiner Frau) führt, wird, wie im Hercules Furens, als etwas unvergleichlich Schlimmeres bezeichnet denn alles, was er im Tartarus erlebt hat (Sen. Ph. 12131219): in hoc redimus? patuit ad caelum via, bina ut viderem funera et geminum necem, caelebs et orbus funebres una face ut concremarem prolis ac thalami rogos? donator atrae lucis, Alcide, tuum Diti remitte munus; ereptos mihi restitue manes. Dazu bin ich zurückgekehrt? Hat sich der Weg zum Licht des Himmels geöffnet, damit ich zwei Bestattungen und einen doppelten Mord sehe, damit ich verwitwet und kinderlos mit der einen Fackel die Scheiterhaufen des Sohnes und der Ehefrau anzünde? Alkide, Geber des schwarzen Lichtes, gib Dis dein Geschenk zurück; erstatte mir die Manen zurück, die mir entrissen wurden.
Aus seiner Sicht existiere jedoch keine Todesart, die sein Verbrechen gebührend bestrafen könnte. Theseus, der die jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Qualen gesehen hat, durch die Tantalus, Tityos, Pirithous in der Unterwelt bestraft werden, wünscht sich nun etwas Ähnliches.6 Seine Entscheidung, am Leben zu bleiben, folgt offenbar derselben Logik wie die ähnliche 6
Sen. Ph. 1226-1228 graviora vidi, quae pati clausos iubet / Phlegethon nocentes igneo cingens vado. / quae poena memet maneat et sedes, scio.
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Entscheidung, die Herkules am Ende des Hercules Furens trifft: Das, was er jetzt sehen muss – den langwierigen aussichtslosen Prozess der Suche nach den überall zerstreuten Körperteilen seines Sohnes, – wird als etwas weitaus Schlimmeres als die entsetzlichsten Schrecken der Unterwelt dargestellt, und darum konstituiert gerade das Leben, und nicht der Tod, eine angemessene Strafe (Sen. Ph. 1256-1268): disiecta genitor membra laceri corporis in ordinem dispone et errantes loco restitue partes: fortis hic dextrae locus, hic laeva frenis docta moderandis manus ponenda: laevi lateris agnosco notas. quam magna lacrimis pars adhuc nostris abest! durate trepidae lugubri officio manus, fletusque largos sistite, arentes genae, dum membra nato genitor adnumerat suo corpusque fingit. hoc quid est forma carens et turpe, multo vulnere abruptum undique? quae pars tui sit dubito; sed pars est tui: hic, hic repone, non suo, at vacuo loco. Erzeuger, richte die zerstreuten Glieder des geschundenen Körpers nach ihrer Ordnung her und bringe die auseinandergerissenen Teile an Ort und Stelle. Hier ist der Ort für seine starke Rechte. Hier muss man die linke Hand hinlegen, im Lenken der Zügel geschult: ich erkenne die Merkmale seiner linken Seite. Wie groß ist der Teil, der sich unseren Tränen noch entzieht! Zitternde Hände, harrt aus bei dieser traurigen Pflicht. Wangen, bleibt trocken und haltet eure reichen Tränenströme zurück, während der Vater seinem Sohn die Glieder zuzählt und seinen Körper herstellt. Das hier, was ist das, gestaltlos und hässlich, an allen Seiten von zahlreichen Wunden zerfetzt? Ich weiß nicht, welcher Teil von dir es ist; aber es ist ein Teil von dir: Leg es hierhin, hierhin, nicht an seinen eigenen, sondern an einen leeren Platz.
Das Zusammenbauen des Körpers des Hippolytus wird als ein langwieriger, hoffnungsloser, im wörtlichen Sinne unendlicher Prozess beschrieben: Seine einzelnen Körperteile sind nicht mehr erkennbar, und es sind einfach zu viele, als dass man sie jemals alle finden könnte.7 Dies führt zu einer grenzenlosen Frustration, die einer typischen Unterweltstrafe – wie etwa dem bodenlosen Fass der Danaiden, dem ewig herunterrollenden Stein des Sisyphus, oder dem unstillbaren Durst des Tantalus – gleicht. Dieser Vorgang wird aber mit solch einer 7
Vgl. die letzten Worte, die Theseus an seine Diener richtet (Sen. Ph. 1278-1279): at vos per agros corporis partes vagas / inquirite. Die Suche ist weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein.
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Ekphrasis und Metatheater
ekphrastischen Anschaulichkeit skizziert, dass man als Rezipient die Schmerzen des Theseus fast als die eigenen erleben könnte. Theseus ist jedoch nicht der Einzige, der mit diesem qualvollen visuellen Schock konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang ist es von höchster Bedeutung, dass sowohl die Todesart, die Seneca für seinen Hippolytus wählt, als auch die seinen Tod begleitenden Umstände viel weniger an die Darstellung des Unglück des Hippolytus in Euripides’ Hippolytus als an den Tod des Pentheus in Euripides’ Bacchen erinnern.8 Die Schilderung der Suche nach den unzähligen über ein großes Areal verstreuten Körperfetzen des Hippolytus wirkt wie eine maßlos übertriebene Version der Beschreibung des Sammelns von Pentheus’ Überresten in den Bacchen (Eur. Ba. 1216-1220): ἕπεσθέ µοι φέροντες ἄθλιον βάρος Πενθέως, ἕπεσθε, πρόσπολοι, δόµων πάρος, οὗ σῶµα µοχθῶν µυρίοις ζητήµασιν φέρω τόδ᾿, εὑρὼν ἐν Κιθαιρῶνος πτυχαῖς διασπαρακτὸν κοὐδὲν ἐν ταὐτῷ πέδου. Folgt mir, die bedauernswerte Last des Pentheus tragend, folgt mir, ihr Diener, bis vor das Haus. Erschöpft durch unzählige Suchaktionen trage ich seinen Körper, den in den Schluchten des Kithäron gefunden habe, er war ganz zerstückelt, kein Körperteil war an der selben Stelle zusammen mit den anderen.
Die Bacchen-Szene konstituiert innerhalb der klassischen Literatur wahrscheinlich eine der anschaulichsten Darstellungen der Transformation eines visuell verstörenden Anblicks in eine moralisch relevante Erkenntnis.9 In dieser Episode dreht sich alles um die Frage, was und wie man sieht. Agave, die im Zustand eines bacchantischen Wahns den Körper ihres Sohnes Pentheus auseinandergerissen hat, ist zu Beginn des Textabschnittes nach wie vor davon überzeugt, dass das, was sie in den Händen hält, der Kopf eines von ihr heldenhaft besiegten Löwen sei. Mehr noch: Sie wirft Kadmos vor, dass sein Sehvermögen aufgrund seines fortgeschrittenen Alters eingeschränkt sei (Eur. Ba. 1251-1252 ὡς δύσκολον τὸ γῆρας ἀνθρώποις ἔφυ / ἐν τ᾿ ὄµµασι σκυθρωπόν), und wünscht ihren Sohn zu sehen, damit dieser ihren Triumph bestaune (Eur. Ba 1257- 1258 τίς αὐτὸν δεῦρ᾿ ἂν ὄψιν εἰς ἐµὴν / καλέσειεν, ὡς ἴδῃ µε τὴν εὐδαίµονα). Kadmos betont dagegen die Notwendigkeit, dass Agave die Wahrheit erkennen müsse, obwohl diese Erkenntnis notgedrungen sehr schmerzhaft sein werde (Eur. Ba 1259-1262):
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Vgl. Segal (1986), 215-219; Boyle (1997), 87. Zum Motiv von Vision und Erkenntnis in Euripides’ Bacchen siehe Segal (1982), 223-232; Oranje (1984), 94-96; Gregory (1985); Thumiger (2007), 141-142.
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φεῦ φεῦ· φρονήσασαι µὲν οἷ᾿ ἐδράσατε ἀλγήσετ᾿ ἄλγος δεινόν· εἰ δὲ διὰ τέλους ἐν τῷδ᾿ ἀεὶ µενεῖτ᾿ ἐν ᾧ καθέστατε, οὐκ εὐτυχοῦσαι δόξετ᾿ οὐχὶ δυστυχεῖν. Oh weh! Wenn es euch bewusst wird, was ihr getan habt, wird es euch furchtbar schmerzen; wenn ihr aber für immer in dem Zustand bleibt, in dem ihr euch befindet, werdet ihr euch, obwohl unglücklich, nicht unglücklich vorkommen.
Dieser endgültigen (Selbst-)Erkenntnis geht allerdings der Moment eines rein visuellen Schocks voran, in dem der Löwenkopf sich in Agaves Augen plötzlich in den brutal abgetrennten Kopf ihres eigenen Sohnes verwandelt (Eur. Ba 12771284): Κα. τίνος πρόσωπον δῆτ᾿ ἐν ἀγκάλαις ἔχεις; Αγ. λέοντος, ὥς ἔφασκον αἱ θηρώµεναι. Κα. σκέψαι νυν ὀρθῶς· βραχὺς ὁ µόχθος εἰσιδεῖν. Αγ. ἔα, τί λεύσσω; τί φέροµαι τόδ᾿ ἐν χεροῖν; Κα. ἄθρησον αὐτὸ καὶ σαφέστερον µάθε. Αγ. ὁρῶ µέγιστον ἄλγος ἡ τάλαιν᾿ ἐγώ. Κα. µῶν σοι λέοντι φαίνεται προσεικέναι; Αγ. οὔκ, ἀλλὰ Πενθέως ἡ τάλαιν᾿ ἔχω κάρα. Kadmos: Wem gehört das Gesicht, das du in deinen Armen hältst? Agave: Dem Löwen, wie die Jägerinnen sagten. Kadmos: Nun schau es dir genau an! Man kann es ohne lange Anstrengung sehen. Agave: Oh, was sehe ich? Was halte ich hier in meinen Händen? Kadmos: Betrachte es und versuche es klarer zu erkennen. Agave: Ich Elende! Was ich sehe, bereitet mir den größten Schmerz. Kadmos: Scheint es dir immer noch einem Löwen zu gleichen? Agave: Nein, ich halte den Kopf des Pentheus, ich Unglückliche.
Wenn man den letzten Akt von Senecas Phaedra gegen diese Episode der Bacchen liest, erhält die Tatsache, dass Senecas Phaedra, im Gegensatz zu Euripides’ Phaedra, die sich noch vor Theseus’ Ankunft umbringt, so lange am Leben bleibt, bis sie den zerstückelten Körper des Hippolytus sehen kann, eine tiefere Bedeutung.10 Dadurch nämlich verwandelt sich Phaedra in eine Art euripideische Agave, die die auf die Bühne gebrachten Körperteile ihres (Stief)– Sohnes mit Schauder betrachten muss. Der Moment, in dem sie dem unerträglichen Anblick des auseinandergerissenen Körpers ausgesetzt wird, hat auf sie einen ähnlich transformativen Effekt wie Agaves Erkennen ihres Sohnes: 10
Zu Phaedras Selbstmord im Allgemeinen bei Seneca siehe Palmieri (1999), 47-82.
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Ekphrasis und Metatheater
Es ist in erster Linie der unerträgliche visuelle Schock, durch den sie sich ihrer Schuld bewusst wird (Sen. Ph. 1168-1169): Hippolyte, tales intuor vultus tuos talesque feci? Hippolytus, in diesem Zustand sehe ich dein Gesicht? Habe ich es so gemacht?
Dabei ist es besonders bezeichnend, dass Phaedras Erkenntnis, gleich derjenigen der Agave, als eine Art Erwachen aus dem Wahn und Erlangung des „richtigen“ Sehens bezeichnet werden kann: Sowie Agave in ihrer dionysischen Raserei anstelle ihres Sohnes einen fürchterlichen Löwen sieht, sieht auch Phaedra aufgrund ihrer verhängnisvollen Liebe in Hippolytus zunächst nur ein Monster – eine Art Minotaurus, der auf immer in ein Labyrinth eingeschlossen werden soll.11 Es ist unmöglich zu übersehen, dass verschiedene Charaktere in Senecas Phaedra (insbesondere Phaedra selbst) ihre eigene Geschichte während des Stückes immer wieder als ein Nachspielen des Minotaurus-Mythos empfinden. Im Hercules Furens haben wir im Laufe der Handlung mit einer leicht nachvollziehbaren graduellen Verwandlung des Herkules aus einem allseits gefeierten Heilbringer in einen Tyrannen (Lycus) und ein Monster (einen Titanen, einen Giganten) zu tun. In der Phaedra hingegen geht es eher darum, dass die Bühnenhandlung zwar fast während der gesamten Tragödie als eine überbietende Nachahmung eines anderen Mythos wahrgenommen wird, sich diese Sichtweise jedoch als eine bloße Illusion, als ein auf eine verstörende Weise gescheitertes Schauspiel entpuppt, hinter dem sich eine grundsätzlich andere Geschichte verbirgt. Phaedra selbst betrachtet bereits am Anfang des Stückes ihre Liebe zu Hippolytus gewissermaßen als eine Imitation der in der Geburt des Minotaurus resultierenden Liebe ihrer Mutter zum Stier (Sen. Ph. 113-123): fatale miserae matris agnosco malum: peccare noster novit in silvis amor. genetrix, tui me miseret? infando malo correpta pecoris efferum saevi ducem audax amasti; torvus, impatiens iugi adulter ille, ductor indomiti gregis – sed amabat aliquid. quis meas miserae deus aut quis iuvare Daedalus flammas queat? non si ille remeet, arte Mopsopia potens,
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Sen. Ph. 121-123. Die zentrale Bedeutung des Minotaurus-Mythos in Senecas Phaedra wird auch von Boyle (1985, 1316-1320) hervorgehoben.
Phaedra
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qui nostra caeca monstra conclusit domo, promittat ullam casibus nostris opem. Ich erkenne das verhängnisvolle Übel meiner unglücklichen Mutter: Sowohl ihre als auch meine Liebe kennt sich damit aus, wie man eine Sünde in den Wäldern begeht. Habe ich mit dir Mitleid, Mutter? Von unsäglichem Übel befallen hast du den unfügsamen Anführer einer wilden Herde geliebt. Roh war dieser Ehebrecher, der Herr einer unbändigen Herde, und ertrug das Joch nicht – und doch verspürte er etwas Liebe! Welcher Gott, welcher Dädalus kann mir in diesem Unglück helfen, meine Flamme zu lindern? Selbst wenn derjenige zurückkäme, der, durch attische Kunst mächtig, unser Scheusal im dunklen Haus einsperrte, könnte er meinem Schicksal keine Hilfe versprechen.
Phaedras nüchterne Analyse transformiert dabei das Schicksal ihrer Mutter in ein leicht erkennbares Szenario (vgl. Sen. Ph. 113 agnosco), das sie jetzt nicht nur widerwillig nachspielen, sondern auch in einigen wesentlichen Punkten übertreffen muss: Ihre Liebe ist genauso unausweichlich und verhängnisvoll wie die ihrer Mutter; gleichzeitig ist sie jedoch noch schlimmer, weil ihr Verlangen nicht gestillt werden kann.12 Phaedras Stiefsohn, der unbändige Waldbewohner Hippolytus, verwandelt sich in diesem Vergleich in Pasiphaes wilden Stier, und die aus ihrer Begegnung mit ihm entstandene Liebe wird zu einer erschreckenden Monstrosität, die allerdings nicht wie Minotaurus in einem Labyrinth versteckt werden kann (vgl. Sen. Ph. 121-123).13 Bezeichnenderweise betrachtet die Amme – die Adressatin der Rede – die Situation ebenfalls als ein überbietendes Nachspielen (Sen. Ph. 142-143 quid domum infamem aggravas / superasque matrem?)14 und sieht in Hippolytus einen neuen Minotaurus (Sen. Ph. 174-177): cur monstra cessant? aula cur fratris vacat? prodigia totiens orbis insueta audiet, natura totiens legibus cedet suis, quotiens amabit Cressa? Warum halten sich die Monstren zurück? Warum steht der Hof deines Bruders leer? Wird der Erdkreis jedes Mal von ungewohnten Zeichen
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Vgl. Eur. Hip. 337-340 (ὦ τλῆµον, οἷον, µῆτερ, ἠράσθης ἔρον), wo die Parallele zwar auch angedeutet wird, ohne sich jedoch, wie bei Seneca, zu einem der zentralen Leitmotive des Stückes zu entwickeln. Zu weiteren Parallelen zwischen Hippolytus und dem Stier, die im Text gezogen werden siehe Boyle (1985), 1316. Vgl. auch Hippolytus’ Worte in Sen. Ph. 687-689 o scelere vincens omne femineum genus, / o maius ausa matre monstrifera malum / genetrice peior.
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Ekphrasis und Metatheater hören, wird die Natur jedes Mal ihre Gesetze brechen, wenn eine Kreterin liebt?
In anderen Zusammenhängen fühlt sich Phaedra eher an andere Aspekte des Mythenkomplexes um den Minotaurus erinnert. Da Theseus’ Reise in die Unterwelt mit seinem Umherirren im Labyrinth explizit verglichen wird, verwandelt sich Phaedra in seiner Abwesenheit indirekt in eine Art Ariadne, die auf dessen Rückkehr nach dem Kampf gegen den Minotaurus wartet. Passend dazu betrachtet sie Hippolytus als ein Abbild des jungen Theseus und versetzt sich damit selbst in die Rolle der ihn liebenden Ariadne (Sen. Ph. 645-650):15 Hy. Amore nempe Thesei casto furis? Ph. Hippolyte, sic est: Thesei vultus amo illos priores, quos tulit puer, cum prima puras barba signaret genas monstrique caecam Gnosii vidit domum et longa curva fila collegit via. Hy. Du entbrennst doch wohl in purer Liebe zu Theseus? Ph. Hippolytus, so ist es: Theseus’ Gesichtszüge liebe ich, diejenigen, die er früher als Jugendlicher hatte, als der erste Bartwuchs seine glatten Wangen zeichnete, als er das finstere Haus des knossischen Monstrums sah und die langen Faden auf seinem gekrümmten Weg sammelte.
Diese Verbindung wird dadurch noch verstärkt, dass Hippolytus als in Wäldern umherirrender, wilde Tiere jagender Jäger dargestellt wird,16 was an den durch das Labyrinth herumirrenden Minotaurus-Mörder Theseus erinnert. In einem früheren Kontext betont Phaedra weiterhin, dass sie sich von Theseus verlassen und verraten fühlt – gewissermaßen wie Ariadne, die einst von Theseus auf der Insel Dia zurückgelassen wurde (Sen. Ph. 91-92): profugus en coniunx abest praestatque nuptae quam solet Theseus fidem. Sieh, mein Gemahl ist wie ein Flüchtling fort und hält seiner Gemahlin die für Theseus typische Treue.
Von diesem Standpunkt aus erscheint ihr neuer Geliebter – zumindest in Phaedras Phantasie – wie ein willkommener Ersatz für den abwesenden Theseus, fast wie eine Art Bacchus, der Ariadne damals rettete und heiratete. Diese nur 15
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Vgl. Sen. Ph. 663-666 te te, soror, quacumque siderei poli / in parte fulges, invoco ad causam parem: / domus sorores una corripuit duas, / te genitor, at me gnatus. Armstrong (2006), 290-292. Vgl. Sen. Ph. 1-84. Siehe dazu Zoccali (1997); Littlewood (2004), 269-300.
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indirekt angedeutete Perspektive wird dadurch betont, dass die natürliche Schönheit des Hippolytus in einem der Chorlieder als der Schönheit des Bacchus überlegen dargestellt wird.17 Phaedra nimmt demnach ihre eigene verhängnisvolle Situation als Nachspielung verschiedener früherer Episoden ihrer Familiensage wahr.18 Besonders bedeutungsvoll ist dabei, dass sie die in die Bühnenhandlung verwickelten Charaktere in einzelne Facetten zerlegt. Dies hat zur Folge, dass sie sich selbst abwechselnd in der Rolle ihrer Mutter und ihrer Schwester sieht und dass Hippolytus ihr abwechselnd als Minotaurus, als Theseus und als Dionysus erscheint. Eine derart fragmentierende Wahrnehmung kann zweifelsohne als Anzeichen ihres verwirrten Geisteszustandes betrachtet werden. Sie hat jedoch zudem, wie ich weiterhin zeigen werde, viele weitergehende Konsequenzen für die Funktionsweise des gesamten Dramas. Die Parallelen zwischen dem Bühnengeschehen und dem Minotaurus-Mythos beschränken sich nicht nur auf Phaedras Wahrnehmung ihrer selbst und des Hippolytus. Auch Theseus wird im Laufe des Stückes in einzelne widersprüchliche Facetten zerlegt. Einerseits wird seine Unterweltreise wie eine überbietende Version seiner Abenteuer im Labyrinth beschrieben: Der Hauptgrund, warum Theseus zweifelsohne aus dem Tartarus zurückkehren werde, besteht laut der Amme darin, dass die Unterwelt für ihn nichts anderes als eine Art Labyrinth darstelle.19 Andererseits wird der Gang des Theseus in die Unterwelt nicht nur – explizit – mit seinem Kampf gegen den Minotaurus im Labyrinth verglichen, sondern auch – implizit – mit der Katabasis des Herkules. Nach der Lektüre des Hercules Furens erscheint die Unterweltreise des Theseus auf den ersten Blick wie ein durch und durch bekanntes Ereignis: Genauso wie im Hercules Furens, kehrt Theseus als Begleiter des Herkules zurück, der ins Reich der Toten hinabstieg, um Cerberus zu entführen.20 So läuft in den beiden Tragödien der Ausgang dieser Expedition nach dem gleichen Schema ab. Was den Anfang und die Motivation der Katabasis des Theseus betrifft, so haben wir es in der Phaedra mit einer etwas anders nuancierten Version zu tun. Im Gegensatz zur untergeordneten Rolle, die er im Hercules Furens spielte,21 soll sich Theseus in diesem Stück nicht als treuer Begleiter eines größeren Helden, sondern auf eigene Initiative in 17
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Sen. Ph. 753-760 et tu, thyrsigera Liber ab India, / intonsa iuvenis perpetuum coma, / tigres pampinea cuspide temperans / ac mitra cohibens cornigerum caput, / non vinces rigidas Hippolyti comas. / ne vultus nimium suspicias tuos: / omne per populos fabula distulit, / Phaedrae quem Bromio praetulerit soror. Vgl. die Besprechung der „multiple versions of the self“ in Senecas Phaedra in Fitch – McElduff (2002), 171-174. Sen. Ph. 224 solus negatas invenit Theseus vias. Vgl. Mayer (1990), ad loc. Vgl. Kap. 1. Hier begleitet er Herkules auf dessen Katabasis von Anfang an als treuer Gefährte (vgl. Sen. HF 646-649 o magni comes / magnanime nati, pande virtutum ordinem, / quam longa maestos ducat ad manes via, / ut vincla tulerit dura Tartareus canis).
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Ekphrasis und Metatheater
die Unterwelt begeben haben. Überdies bestand sein Ziel darin, Proserpina – die Königin des Hades selbst – zu entführen, und nicht etwa den Cerberus – eine zwar wichtige, neben Proserpina jedoch eher zweitrangige Figur in der unterirdischen Hierarchie.22 Verglichen mit der im Hercules Furens geschilderten Katabasis wirkt dieses Szenario geradezu wie ein verzweifelter Versuch, den größten Helden par excellence mit allen erdenklichen Mitteln zu übertreffen – was völlig im Einklang mit dem für Senecas Tragödien im Allgemeinen typischen agonistischen Erzählprinzip steht. Der Unterschied zwischen den beiden Katabasisversionen liegt aber nicht nur in ihrem jeweiligen Ziel. Es ist von besonderer Bedeutung, dass das wahnwitzige Vorhaben des Theseus kläglich misslang. Dieses Scheitern hatte zur Folge, dass Theseus so lange in der Unterwelt verharren musste, bis Herkules dorthin herunterstieg, um Cerberus gefangen zu nehmen, und nach seiner erfolgreichen Heldentat auch ihn mitnahm.23 Dadurch, dass er mit einem der schlimmsten Ungeheuer der Unterwelt so direkt in Verbindung gebracht wird, hat Theseus nicht länger den Status des Bezwingers eines Monsters (des Minotaurus) inne, sondern den eines mit Cerberus vergleichbaren Monsters, das eines Herkules bedarf, um aus dem Tartarus herausgeholt zu werden! Mehr noch: Das Misslingen des Vorhabens des Theseus im Totenreich bedeutet gleichzeitig das Misslingen seiner aemulatio – seines Versuchs, ein anderes Erzählmuster auf eine überbietende Weise nachzuahmen. Nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt verhält sich Theseus – ungeachtet seines Scheiterns und seiner virtuellen Gleichsetzung mit einem Monster – weiterhin wie ein Bezwinger von Monstren. Diesmal ist es jedoch Hippolytus, den er – genauso wie Phaedra – für das schlimmste Monster hält, das man sich vorstellen kann, und ihn dadurch wieder in ein im Minotaurus-Mythos verwurzeltes Rollenmuster hineinzuzwängen versucht. Da es Theseus gelungen ist, einem Ort zu entrinnen, von dem sonst niemand zurückkehrt, ist er nun sicher, dass sein Sohn ihm nirgendwohin entkommen kann (vgl. Sen. Ph. 941 scis unde redeam). Als angemessene Strafe für diesen erscheint Theseus nur der Tod, weshalb er seinen Vater Neptun bittet, Hippolytus in den Tartarus zu werfen.24 Hippolytus wird demnach als ein Monster betrachtet, das in die Unterwelt
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Sen. Ph. 93-95 fortis per altas invii retro lacus / vadit tenebras miles audacis proci, / solio ut revulsam regis inferni abstrahat. Senecas Version der Ereignisse in der Phaedra stimmt dabei mit der Schilderung in Euripides’ Herakles überein: Eur. Her. 618-619 Αµ. χρόνον δὲ πῶς τοσοῦτον ἦσθ᾿ ὑπὸ χθονί; / Ηρ. Θησέα κοµίζων ἐχρόνισ᾿ ⟨ἐξ⟩ Ἅιδου, πάτερ. Sen. Ph. 843-845 malorum finis Alcides fuit, / qui cum revulsum Tartaro abstraheret canem, / me quoque supernas pariter ad sedes tulit. Sen. Ph. 945-947 en perage donum triste, regnator freti! / non cernat ultra lucidum Hippolytus diem / adeatque manes iuvenis iratos patri.
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gesperrt werden muss, damit es kein weiteres Unheil anrichten kann.25 Die Verbannung ins Totenreich – an einen Ort, der im Laufe der Tragödie immer wieder mit dem Labyrinth in Verbindung gebracht wird – erinnert natürlich auch an den von Phaedra in ihrem ersten Monolog erwähnten Vergleich zwischen ihrer ungeheuerlichen Liebe und derjenigen ihrer Mutter zu Minotaurus (Sen. Ph. 121-123). Im Prinzip erfüllt Neptun somit nicht nur den direkt an ihn gerichteten Wunsch des Theseus, sondern auch den Wunsch Phaedras, den sie am Anfang der Tragödie äußerte: Nun wird ihre Liebe in einem Labyrinth versteckt, das wesentlich sicherer ist als das von Daedalus erbaute, aus dem es wirklich kein Entkommen gibt.26 Wir sehen also, dass das Verhältnis zwischen der auf der Bühne dargestellten und der nachgeahmten Erzählstruktur in der Phaedra durch permanente Fragmentierung gekennzeichnet ist, bei der jede Figur – je nach Betrachtungsperspektive – als ein großer Held und als ein schreckliches Monster fungieren kann. Der Effekt, der durch dieses facettenreiche System von wechselseitigen Widerspiegelungen produziert wird, unterscheidet sich erheblich von der direkten Überbietung von Präzedenzfällen, mit der wir es im Hercules Furens zu tun haben. Hier handelt es sich um eine sich selbst ständig in Frage stellende Nachahmung, die am Ende durch den unerträglichen Anblick des zerstückelten Körpers des Hippolytus für endgültig gescheitert erklärt wird. Hippolytus kann somit als Opfer eines grausamen Schauspiels betrachtet werden, in das er wider Willen hineingezogen wird. Es ist auffällig, dass Hippolytus die einzige Figur der Tragödie ist, die sich fast bis zum Schluss dagegen sträubt, ihr Leben als Nachspielung eines anderen tragischen Plots zu betrachten. Stattdessen versucht er, wie sein Auftritt im Prolog hinreichend zeigt, das dezidiert untragische – der menschlichen Zivilisation mit ihren ungezügelten Leidenschaften abgewandte – Leben eines frommen Anhängers von Diana zu führen.27 Er scheint sich mit allen Mitteln dagegen zu wehren, eine ihm von der literarischen Kultur der Stadt auferlegte Rolle zu übernehmen, und scheitert am Ende, weil sich sein alternativer Lebensentwurf beim Zusammenprall mit der ausgeklügelten Rhetorik seiner Mitmenschen als eine realitätsferne Utopie erweist. Die Handlungen aller anderer Figuren der Tragödie zielen offenbar darauf ab, Hippolytus aus seiner dem städtischen Leben und seinen intellektuellen Versuchungen abgewandten Askese herauszuzerren. Dies geschieht in erster Linie dadurch, dass die unschuldige Einfachheit seiner Selbstwahrnehmung durch eine pointierte Anwendung unterschiedlicher sich selbst gegenseitig in Frage stellender Diskurse fragmentiert wird. Wie wir bereits gesehen haben, begründet 25 26 27
Zu den Verbindungen zwischen Hippolytus und dem Minotaurus siehe Boyle (1985), 1318-1319. Vgl. Sen. Ph. 946 adeatque manes iuvenis iratos patri. Vgl. Davis (1983), 114-117.
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Phaedra die angebliche Unabwendbarkeit ihrer verbotenen Leidenschaft mithilfe einer im mythologischen Diskurs verwurzelten Logik. Diese Erläuterung geht jedoch über den bloßen Verweis auf ihre durch einen ähnlich abwegigen Liebeswahn gepeinigten Mutter Pasiphae hinaus. Phaedra präsentiert zusätzlich zwei kausale Erklärungen ihrer Liebe als eines durch übernatürliche Kräfte bedingten Phänomens. Die erste wird aus der Geschichte ihrer eigenen Familie abgeleitet, die sich einer Abstammung vom Sonnengott rühmen darf und darum von Venus bestraft wird (Sen. Ph. 124-128):28 stirpem perosa Solis invisi Venus per nos catenas vindicat Martis sui suasque, probris omne Phoebeum genus onerat nefandis: nulla Minois levi defuncta amore est, iungitur semper nefas. Venus, die die Nachkommen des verhassten Sonnengottes verabscheut, rächt sich an uns für die Ketten, die ihr und ihrem Mars aufgelegt wurden, und belastet das gesamte Geschlecht des Phöbus mit ruchloser Schande: Keine Frau aus dem Haus des Minos ertrug die Liebe leicht; mit ihr ist immer ein Frevel verbunden.
In der zweiten stellt Phaedra ihre eigene Liebe als Illustration der allumfassenden Macht des Liebesgottes dar, der sogar die größten Götter verfallen (Sen. Ph. 184-187): quid ratio possit? vicit et regnat furor, potensque tota mente dominatur deus. hic volucer omni pollet in terra impotens ipsumque flammis torret indomitis Iovem. Was könnte die Vernunft? Der Wahnsinn triumphiert und herrscht, und der mächtige Gott ergreift Besitz von meinem ganzen Verstand. Dieser beflügelte Gott genießt eine unbegrenzte Herrschaft auf der ganzen Erde und verbrennt sogar Jupiter selbst mit seinen ungezähmten Flammen.
Bemerkenswert ist aber, dass diese Erklärungen sofort in Frage gestellt werden, da die Amme in ihrer Reaktion auf Phaedras Tirade diese Art von mythologischer Kausalität unmissverständlich als eine leere, selbstgefällige Fiktion präsentiert (Sen. Ph. 195-203):29 28 29
Davis (1983), 117-120. Es ist höchst bezeichnend, dass Aphrodite sich bei Euripides dagegen nur darum bemüht, Hippolytus zu bestrafen: Eur. Hip. 1-57. Vgl. Pratt (1983), 92-93; Wiener (2006), 60-68. Zu den philosophischen Wurzeln der Position der Amme siehe vor allem Fischer (2008), 107-115.
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deum esse amorem turpis et vitio favens finxit libido, quoque liberior foret titulum furori numinis falsi addidit. natum per omnis scilicet terras vagum Erycina mittit, ille per caelum volans proterva tenera tela molitur manu regnumque tantum minimus e superis habet: vana ista demens animus ascivit sibi Venerisque numen finxit atque arcus dei. Dass die Liebe ein Gott sei, erdichtete die schändliche und dem Laster frönende Lust, und, damit sie umso mehr Freiheit genieße, verlieh sie dem Wahnsinn den Titel einer falschen Gottheit. Also schickt Erycina ihren Sohn zum Herumirren durch alle Länder; er schießt durch den Himmel fliegend die frechen Pfeile mit zarter Hand ab, und, obwohl der kleinste unter den Göttern, besitzt er eine so große Königswürde: diese Trugbilder dachte sich ein irrsinniger Geist aus, der die Gottheit der Venus und den Bogen des Gottes erdichtete.
Durch diese rationalistische Sicht wird jede Form eines übernatürlichen Erklärungsapparats als ein niedrigere Motive beschönigendes Schauspiel bloßgelegt. Implizit führen diese offenen Zweifel an der Gültigkeit des mythologischen Diskurses dazu, dass die Vorstellung, die auf der Bühne aufgeführte Handlung sei ein Nachspielen eines mythologischen Präzedenzfalls, auch zu bröckeln beginnt. Trotz ihrer scheinbar kompromisslosen Kritik an Phaedras mythologischer Logik kann die Amme nicht anders, als weiterhin die Rolle einer tragischen Amme zu spielen. Deswegen unterbindet sie Phaedras aus ihrer rationalistischen Perspektive vollkommen sinnvoll erscheinenden Selbstmordentschluss und erklärt sich bereit, ihrer Herrin mit allen zugänglichen diskursiven Mitteln zu helfen.30 Als Folge wird nun die Göttlichkeit der Diana mit der gleichen Vehemenz dekonstruiert, mit der die Amme vorhin Venus und deren Entourage für bloße Fiktionen erklärte. Der darauffolgende direkte Angriff auf Hippolytus erfolgt auf seinem eigenen Terrain. Es wird ihm anschaulich vorgeführt, dass die für ihn unantastbaren Gewissheiten nichts anderes als Konventionen sind, die sich – rhetorisch und schauspielerisch – genauso zerlegen lassen wie jeder andere Mythos. Der erste Schritt dieses Angriffs besteht darin, dass die vom Liebeswahn geplagte Phaedra plötzlich eine Art Maskerade veranstaltet (Sen. Ph. 387-403):31 removete, famulae, purpura atque auro inlitas vestes, procul sit muricis Tyrii rubor, 30 31
Vgl. Schmidt (1995). Zu dieser Passage siehe Gazich (2000), 131-147.
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Ekphrasis und Metatheater quae fila ramis ultimi Seres legunt: brevis expeditos zona constringat sinus, cervix monili vacua, nec niveus lapis deducat auris, Indici donum maris; odore crinis sparsus Assyrio vacet. sic temere iactae colla perfundant comae umerosque summos, cursibus motae citis ventos sequantur. laeva se pharetrae dabit, hastile vibret dextra Thessalicum manus: talis severi mater Hippolyti fuit. qualis relictis frigidi Ponti plagis egit catervas Atticum pulsans solum Tanaitis aut Maeotis et nodo comas coegit emisitque, lunata latus protecta pelta: talis in silvas ferar. Entfernt, ihr Dienerinnen, die mit Purpur und Gold bedeckten Gewänder, fern sei die Röte der tyrischen Purpurschnecke, die Fäden, die die am Ende der Welt lebenden Serer, von den Ästen sammeln; ein schmaler Gürtel binde die lockeren Falten meines Kleides, der Hals sei frei von geschmiedetem Schmuck, kein schneeweißer Stein, Geschenk des indischen Meeres, beschwere meine Ohren; das aufgelöste Haar dufte nicht nach assyrischem Parfum. So nach Willkür durcheinandergebracht sollen meine Haare den Nacken und die Schultern von oben überfließen und, vom schnellen Lauf bewegt, den Winden folgen. In meine linke Hand werde ich den Köcher nehmen, mit der Rechten werde ich den thessalischen Speer schwingen: so war die Mutter des strengen Hippolytus. Wie die Amazone vom Tanais oder von der Maeotis, als sie nach dem Verlassen der Gebiete des eiskalten Pontus ihre Scharen führte, den attischen Boden stampfend, und ihre Haare band und dann wieder lockerte, ihre Seite durch den halbmondförmigen Schild geschützt, so werde ich mich in die Wälder begeben.
Dass sich eine Königin, die von Venus besessen ist bzw. wegen ihres ungezügelten Luxuslebens den Verstand verloren hat, wie eine keusche Anhängerin der Diana in Szene setzt, wirkt natürlich wie ein skurriles Schauspiel. Wichtig ist allerdings, dass die Rolle, die Phaedra hier übernehmen will, die einer weiblichen Version des Hippolytus ist – nämlich seiner Mutter, einer skythischen Amazone. Dadurch, dass das Reinheitsideal, nach dem Hippolytus strebt, durch eine bloße Verkleidung imitiert werden kann, wird es seiner angeblichen diskursiven Unschuld beraubt: In der theatralischen Welt, in die Hippolytus langsam hineinzogen wird, ist es nicht mehr so einfach, zwischen dem angeblichen Original und einer plausiblen Nachahmung zu differenzieren. Hippolytus’ göttliche Schutzpatronin wird anschließend direkt attackiert. Die Amme nähert sich Hippolytus, während dieser zu Diana betet. Bevor sie ihn anspricht, betet sie ebenso zu einer Göttin, die scheinbar auch Diana ist, sich
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aber bei näherer Betrachtung von der Diana des Hippolytus stark unterscheidet. Hippolytus’ Diana ist, wie sein Hymnus an sie im Prolog des Stücks ausgiebig zeigt (Sen. Ph. 54-84), eine jungfräuliche Göttin der Jagd, die ihren keuschen Anhänger vor den verderblichen Einflüssen der Außenwelt schützt. Die Amme beginnt damit, dieser Waldgöttin zu huldigen, transformiert sie jedoch im Laufe ihres Gebets in eine mehr oder weniger entgegengesetzte Gottheit – in die Göttin der Magie Hekate, bei der eine unglücklich verliebte Frau normalerweise Hilfe suchen würde, um den Geliebten zu gewinnen (Sen. Ph. 409-417):32 o magna silvas inter et lucos dea, clarumque caeli sidus et noctis decus, cuius relucet mundus alterna vice, Hecate triformis, en ades coeptis favens. animum rigentem tristis Hippolyti doma: det facilis aures; mitiga pectus ferum: amare discat, mutuos ignes ferat. innecte mentem: torvus aversus ferox in iura Veneris redeat. O Göttin, mächtig in Wäldern und Hainen, leuchtendes Himmelsgestirn und Zierde der Nacht, in dessen wiederkehrendem Wechsel die Welt erglänzt, dreiförmige Hekate, wohlan, offenbare dich wohlgesinnt meinem Unterfangen. Bändige den starren Geist des Hippolytus: nachgiebig leihe er sein Ohr; besänftige sein wildes Herz: er lerne zu lieben, erwidere die Leidenschaft. Verstricke seinen Sinn: obwohl widerspenstig, abweisend und unerbittlich, möge er in den Rechtsbereich der Venus zurückkehren.
Das, was in Hippolytus’ Wald eine unantastbare, eindeutige Bedeutung besaß, wird in der Welt des königlichen Palastes widersprüchlichen Interpretationen ausgesetzt. Hier ist Diana nicht immer gleich Diana. Hier ist ein Name nichts anderes als eine phonetische Hülle, hinter der sich mitunter das Gegenteil des intendierten Sinngehalts verbergen kann. In der darauffolgenden Rede der Amme wird das wichtigste Prinzip, nach dem Hippolytus lebt, auf ähnliche Weise rhetorisch pervertiert. Wie wir aus dem Prolog wissen, nimmt Hippolytus die philosophische Vorstellung eines Leben gemäß der Natur geradezu wörtlich: Er lebt von der städtischen dekadenten Kultur abgewandt, umgeben von der Natur, und völlig nach ihrem Rhythmus.33 Deswegen ist es umso auffälliger, dass das Leitmotiv der Rede der Amme in einer Aufforderung zu einem Leben im Einklang mit der Natur besteht (Sen. Ph.
32 33
Vgl. Segal (1986), 64-67. Diana, an die die Amme betet, steht außerdem in der Tradition der literarischen Darstellungen von Liebeszauber, z.B. Theokrit, Id. 2. Vgl. Segal (1986), 60-76; Davis (1983); Petrone (1984), 73-82.
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481 proinde sequere naturam ducem).34 Bemerkenswert ist jedoch, dass dieser Satz für die Amme eine vollkommen andere Bedeutung besitzt: Sie versteht unter Natur ausschließlich die menschliche Natur. Um mit dieser im Einklang zu leben, muss man nur Sex haben und sich fortpflanzen – also ein Leben führen, das dem des Hippolytus diametral entgegengesetzt ist.35 In seiner Antwort beteuert Hippolytus wiederum die wahre Natürlichkeit seines asketischen Lebens im Vergleich zu dem von der Amme gepredigten Leben in städtischer Geselligkeit und voller erotischem Genuss.36 Im Laufe seines langen Monologs wird aber zunehmend klar, dass sein Weltbild – weit davon entfernt, eine bloße Negation verschiedener Diskurse der städtischen Kultur zu verkörpern – in einem leicht erkennbaren literarischen (philosophischen, ideologischen) Paradigma verwurzelt ist (Sen. Ph. 525-539): hoc equidem reor vixisse ritu prima quos mixtos deis profudit aetas. nullus his auri fuit caecus cupido, nullus in campo sacer divisit agros arbiter populis lapis; nondum secabant credulae pontum rates: sua quisque norat maria; non vasto aggere crebraque turre cinxerant urbes latus; non arma saeva miles aptabat manu nec torta clausas fregerat saxo gravi ballista portas, iussa nec dominum pati iuncto ferebat terra servitium bove; sed arva per se feta poscentes nihil pavere gentes, silva nativas opes et opaca dederant antra nativas domos. Ich glaube wirklich, dass diejenigen, die das erste Zeitalter hervorbrachte, in der Gesellschaft der Götter auf diese Weise lebten. Sie hatten kein blindes Verlangen nach Gold, kein geheiligter Stein auf dem Feld trennte die Besitztümer voneinander als Schiedsrichter der Völker; noch nicht überquerten Schiffe waghalsig die See: jeder kannte nur die eigenen Meere; Städte umgaben ihre Flanken nicht mit massiven Fortifikationen und zahlreichen Türmen; der Krieger passte keine Waffen seiner grausamen Hand an, noch brach die gespannte Schleudermaschine die geschlossenen Stadttore mit schwerem Gestein auf; der Erde wurde noch nicht befohlen, einen Herrscher zu dulden, und sie ertrug keine Knechtschaft unter dem in Joch gespannten Ochsen, sondern die von selbst ertragrei34
35 36
Z. B. Sen. ep. 5.4 nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere. Siehe Abel (1991), 51-52 für weitere Parallelen sowohl bei Seneca als auch bei früheren Stoikern. Vgl. Segal (1986), 97-102. Sen. Ph. 483-564.
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chen Äcker nährten nichts verlangende Völker, der Wald bot seine eigenen Schätze an, und schattige Höhlen lieferten eine natürliche Behausung.
Vergleicht man diese Passage mit dem die Metallzeitalter behandelnden Abschnitt des ersten Buches der Metamorphosen Ovids, kann man sehen, dass wir es mit einer typischen Darstellung des goldenen Zeitalters zu tun haben.37 Im weiteren Verlauf seiner Rede folgt Hippolytus zwar nicht dem viergliedrigen Schema der Metallzeitalter, wie es sich bei Ovid und in zahlreichen anderen Versionen dieses Ideologems finden lässt,38 zeichnet allerdings, dem üblichen Paradigma entsprechend, ein hoffnungsloses Bild des vollkommenen moralischen Verfalls, der am Ende des goldenen Zeitalters einsetzt.39 Hippolytus’ asketisches, den verderbenden Einflüssen dieser Welt abgewandtes Leben konstituiert somit nichts anderes als einen Versuch, inmitten dieses Verfalls das goldene Zeitalter wieder zu beleben. Das bald darauf folgende Gespräch zwischen Hippolytus und Phaedra illustriert mit besonderem Nachdruck, dass jeder Kontakt zwischen Hippolytus’ kompromissloser Aufrichtigkeit und der schattierungsreichen rhetorischen Versiertheit seiner Umwelt von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. In Hippolytus’ heiler Welt besitzt alles eine eindeutige Bedeutung: Die Frau seines Vaters ist für ihn automatisch die eigene Mutter (Sen. Ph. 608 mater), die königliche Macht seines Vaters ist selbst in dessen Abwesenheit unantastbar, denn Hippolytus zweifelt keinesfalls an dessen höchst unglaubwürdiger Rückkehr aus der Unterwelt (Sen. Ph. 624 aderit sospes actutum parens). Genau diese Gewissheiten versucht Phaedra nun in ihrer Hippolytus ambig erscheinenden Rede (Sen. Ph. 639 ambigua voce verba perplexa iacis) rhetorisch zu unterminieren, indem sie ihm suggeriert, er solle die Funktionen seines Vaters als Staatsmann und als Ehemann übernehmen.40 Hippolytus’ plötzliche Konfrontation mit seiner nach solchen durch und durch rhetorischen Prinzipien funktionierenden Umwelt hat nicht nur zur Folge, dass sich sein Weltbild als lebensfremde Utopie erweist, sondern auch dass er sich wünscht, die gesamte Welt würde in den primitiven Chaoszustand zurückfallen, der weit vor dem goldenen Zeitalter
37
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Ov. Met. 1.89-112. Zur Bedeutung der Vorstellung vom goldenen Zeitalter für die Selbstwahrnehmung des senecanischen Hippolytus siehe Segal (1986), 77-105; Critelli (1998); Bellandi (2007), 66-70. Zum ovidischen Einfluss auf Senecas Chaosdarstellungen siehe Tarrant (2002). Vgl. z.B. Octavia 397-428; Boyle (2008), ad loc. Zur Entwicklung dieses Motivs von Hesiod bis Ovid siehe Kubusch (1986). Zu seiner Bedeutung in Senecas Tragödien im Allgemeinen siehe Segal (1983); Maxia (2000). Eine psychoanalytische Deutung von Phaedras Wunsch, den Vater durch den Sohn zu ersetzen, findet man in Segal (1986), 180-201.
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liegt und der Entstehung des geordneten Kosmos vorangeht (Sen. Ph. 671676):41 magne regnator deum, tam lentus audis scelera? tam lentus vides? et quando saeva fulmen emittes manu, si nunc serenum est? omnis impulsus ruat aether et atris nubibus condat diem, ac versa retro sidera obliquos agant retorta cursus. Großer Herrscher der Götter, so duldsam hörst du von Verbrechen, so duldsam siehst du sie an? Und wann wirst du den Blitz aus deiner erbarmungslosen Hand schleudern, wenn jetzt noch wolkenloser Himmel ist? Der gesamte Äther stürze erschüttert ein und verberge den Tag unter schwarzen Wolken, und die Sterne sollen sich rückwärts wenden und, zurückgedrängt, von ihren Bahnen seitlich abweichen.
Phaedras widernatürliche Lust zerstört das scheinbar kohärente Gebilde, auf dem Hippolytus’ goldenes Zeitalter basierte, und verwandelt den misogynen Jäger in eine verachtenswürdige Jagdbeute einer Frau (Sen. Ph. 683-686):42 sum nocens, merui mori: placui novercae. dignus en stupris ego? scelerique tanto visus ego solus tibi materia facilis? hoc meus meruit rigor? Ich bin schuldig, ich habe verdient zu sterben: ich habe meiner Stiefmutter gefallen. Bin ich also eines schändlichen Übergriffes würdig? Und für ein solches Verbrechen schien allein ich dir geeignet, das fügsame Material zu bieten? Dies hat meine Strenge verdient?
Hippolytus Selbstwahrnehmung, die zunächst auf einer aus seiner Sicht unantastbaren „Wahrheit“ zu beruhen schien, erweist sich somit als genauso provisorisch – beliebig interpretierbar und letztendlich fiktional – wie die in der rein mythologischen Kausalität begründete (Selbst)Wahrnehmung Phaedras. Die Zerstörung, oder vielmehr die Fiktionalisierung, des Weltbildes des Hippolytus wird von Theseus fortgesetzt, der den asketischen Lebensstil seines Sohnes für eine bloße Show – eine Fiktion – erklärt (Sen. Ph. 915-919):
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Vgl. Octavia 391-394 qui cum senescit, tantus in caecum chaos / casurus iterum, tunc adest mundo dies / supremus ille, qui premat genus impium caeli ruina. Vgl. Segal (1986), 121-123.
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ubi vultus ille et ficta maiestas viri atque habitus horrens, prisca et antiqua appetens, morumque senium triste et affectus graves? o vita fallax, abditos sensus geris animisque pulcram turpibus faciem induis. Wo ist diese Miene, wo sind die vorgetäuschte Manneswürde und das rauhe Aussehen, das Altertümliche und das Herkömmliche nachahmend, wo sind die mürrische Sittenstrenge eines Greises und die ernsthafte Gesinnung? O trügerisches Leben, du hegst verborgene Gedanken und setzt eine hübsche Maske auf deine verwerfliche Gesinnung.
Dadurch, dass das Modell, nach dem er bis dahin sein Leben zu führen gedachte, zu einer Fiktion degradiert wird, sieht sich Hippolytus nun gezwungen, nach den ihm von außen auferlegten, einem anderen Szenario entstammenden Regeln zu spielen. Ich habe bereits gezeigt, dass der Tod des Hippolytus sowohl von Phaedra als auch von Theseus in der Begrifflichkeit des Minotaurus-Mythos betrachtet wird: So wie Minotaurus ins Labyrinth eingesperrt wird, so wird Hippolytus in die Unterwelt verbannt. Es ist aber durchaus bemerkenswert, dass Hippolytus erst kurz vor seinem Tod beginnt, sein Leben auch als Nachspielung des Minotaurus-Mythos zu sehen. In seiner eigenen Wahrnehmung ist er allerdings kein Minotaurus-ähnliches Monster, sondern ein Bezwinger von Monstren, der in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Dabei ist es von höchster Bedeutung, dass das Ungeheuer, das Neptun schickt, um Hippolytus zu töten, wie eine überbietende Version des Minotaurus wirkt: Es handelt sich um ein Mischwesen, das zum Teil wie ein Stier aussieht.43 Daher ist es kaum überraschend, dass Hippolytus seine Konfrontation mit diesem Monster als ein Nachspielen von Theseus’ Kampf gegen den Minotaurus versteht (Sen. Ph. 1066-1067): haud frangit animum vanus hic terror meum: nam mihi paternus vincere est tauros labor. Dieses leere Schreckensbild bricht meinen Mut nicht, denn Stiere zu besiegen ist für mich eine vom Vater ererbte Aufgabe.
Bezeichnenderweise scheitert sein Versuch, den Kampf gegen den Minotaurus nachzuahmen, genauso kläglich wie sein Traum von einem goldenen Zeitalter inmitten einer Welt, die ihre Unschuld längst verloren hat: Hippolytus wird besiegt und erweist sich somit als Opfer und nicht als Bezwinger eines Monsters. Als Phaedra später dessen zerstückelten Körper sieht, vergleicht sie ihn tatsächlich explizit mit einem Opfer des Minotaurus (Sen. Ph. 1170-1173): 43
Sen. Ph. 1036-1037 caerulea taurus colla sublimis gerens / erexit altam fronte viridanti iubam.
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Ekphrasis und Metatheater quis Cresius, Daedala vasto claustra mugitu replens, taurus biformis ore cornigero ferox divulsit? Welcher zweigestaltige kretische Stier, die von Dädalus erbauten Verließe mit mächtigem Brüllen erfüllend, wild in gehörntem Antlitz hat deine Glieder [1169 membra] auseinandergerissen?
Wie ich schon angedeutet habe, markiert der visuell qualvolle Anblick des zerstückelten Körpers des Hippolytus das Fehlschlagen jeglicher Versuche, das Leben nach einem vorher überlegten Szenario zu führen. Senecas außerordentliche Besessenheit mit der in kleinste Teile zerlegten Leiche des Hippolytus im letzten Akt der Phaedra44 wirkt wie eine Veranschaulichung dieses Misslingens. Somit entpuppen sich nach der rhetorischen Sezierung nicht nur Phaedras und Theseus’ in der heroischen Begrifflichkeit verhaftete (Selbst)Wahrnehmungen, sondern auch der dem heroischen Ethos dezidiert abgewandte asketische Lebensentwurf des Hippolytus als bloße Fiktionen, die allesamt zum tragischen Scheitern verurteilt sind.45 Aus dieser Perspektive erhält das letzte Bild der Tragödie, in dem Theseus versucht, den Körper seines Sohnes zusammenzubauen, eine besonders schmerzhafte Resonanz (Sen. Ph. 1256-1268).46 Die Einheit von Hippolytus’ Körper ist genauso unwiderruflich verloren wie die Illusion des goldenen Zeitalters, die er zu leben versuchte, oder die Illusion des heroischen Ethos, auf der das Leben des Theseus basierte. Das hoffnungslose Bemühen, die Einheit dieses Körpers wiederherzustellen, nur damit er beweint und begraben werden kann, wird somit zu einem höchst anschaulichen Symbol für die Sinnlosigkeit einer nachgeahmten, nur scheinbar einheitlichen Welt- und Selbstsicht. Es ist besonders symptomatisch, dass Theseus’ Aktivität hier als corpus fingere bezeichnet wird, was in diesem von verschiedenartigen Auseinandersetzungen mit Illusion und Fiktionalität stark geprägten Kontext47 so viel zu bedeuten scheint wie „den Schein eines Körpers – einer Einheit – zu erschaffen.“48 Wichtig ist dabei jedoch nicht nur, dass es sich um die Nachbil44 45
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Dazu siehe vor allem Most (1992), 391-395. Vgl. auch Phaedras Worte in Sen. Ph. 1191-1194 audite Athenae, tuque funesta pater / peior noverca: falsa memoravi et nefas, quod ipsa demens pectore insano hauseram, mentita finxi. Vgl. Eur. Ba. 1300 ἦ πᾶν ἐν ἄρθροις συγκεκλῃµένον καλῶς; Diese Parallele verfestigt die tiefgreifende Verbindung zwischen Senecas Phaedra und Euripides’ Bacchen. Am Schluss der Phaedra wird fingere zu einer der am meisten betonten Tätigkeiten. Zusätzlich zu Theseus’ Vorwurf, Hippolytus’ maiestas sei ficta (Sen. Ph. 915), siehe auch Phaedras Worte, die ihrem Selbstmord unmittelbar vorangehen (Sen. Ph. 1194 mentita finxi). Siehe z.B. Rhet. Her. 4.45 quod hic locus non est a tota causa separatus sicuti membrum aliquod, sed tamquam sanguis perfusus est per totum corpus orationis;
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dung eines bereits toten Körpers handelt – um eine Fiktion also, die scheinbar beliebig, provisorisch und fragmentiert ist und hinter der sich nichts anderes als gähnende Leere verbirgt (vgl. Sen. Ph. 1268 non suo, at vacuo loco), – sondern auch dass Theseus dieses fiktive Bild überhaupt erst erschaffen und betrachten muss, um sich von allen im Laufe des Stückes nachgespielten Fiktionen endgültig verabschieden und im gestaltlosen Bild des Todes sein eigenes Verbrechen erkennen zu können (vgl. Sen. Ph. 1249 Hippolytus hic est? crimen agnosco meum). Diese höchst schmerzhafte Begegnung mit dem Unvorstellbaren (mit sich selbst und dem Tod als solchem) wird also erst dadurch darstellbar, dass sie als eine Art Erweiterung (und gleichzeitig Negierung) der sadistischen ekphrastischen Anschaulichkeit erscheint, die unerträglich weit über alles hinausgeht, was man in früheren literarischen Behandlungen der Hippolytus-Sage – bei Euripides und Ovid – vorfindet.49
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Sen. ep. 84.2 ut, quidquid lectione collectum est, stilus redigat in corpus; Quint. inst. 4.1.77 Ovidium res diversissimas in speciem unius corporis colligentem (die Rede ist von den Metamorphosen). Zum Vergleich zwischen diesen drei Darstellungen (Ovids Schilderung der Zerstückelung des Hippolytus befindet sich in Met. 15.497-546) siehe vor allem Segal (1984) und Most (1992).
3. Ein Blick de profundis: Agamemnon Im Agamemnon spielt das Motiv der Bühnenhandlung als überbietender Nachahmung eines anderen mythischen Sujets eine noch spürbarere Rolle als im Hercules Furens oder in der Phaedra. Das Nachspielen erfolgt auf zwei Ebenen: Einerseits werden die beiden Mörder Agamemnons – Clytaemnestra und Aegisth – als aufgeblähte Abbilder anderer Figuren aufgefasst; andererseits wird die Ermordung selbst als eine in gewisser Hinsicht überbietende Version der Eroberung Trojas konzipiert. Gleichzeitig kommt der Beschreibung von Phänomenen, welche die menschliche Vorstellungskraft übersteigen, eine ähnliche Bedeutung zu wie in den beiden bereits analysierten Tragödien: Sie dient als Folie, die das, was innerhalb der Handlung geschieht, als das schrecklichste Ereignis schlechthin erscheinen lässt. Ein zusätzliches Element der visuellen Rhetorik, das wir weder im Hercules Furens noch in der Phaedra beobachten konnten, das aber in anderen Tragödien eine prominente Funktion einnehmen wird, besteht im Agamemnon darin, dass das Bühnengeschehen wie eine Art Spektakel wirkt, das von einem internen Publikum gesehen wird. Dass die gesamte Bühnenhandlung auf einer doppelten Überbietung fußt, wird bereits im vom Geist des verstorbenen Thyest vorgetragenen Prolog vorweggenommen.1 Thyest, der für sein Vergehen in den tiefsten Winkel des Tartarus verbannt wurde, betrachtet nun bei seiner kurzfristigen Wiederkehr den Ort, an dem er diese Verbrechen begangen hat, mit äußerstem Unbehagen (Sen. Ag. 1-6): opaca linquens Ditis inferni loca, adsum profundo Tartari emissus specu, incertus utras oderim sedes magis: fugio Thyestes inferos, superos fugo. en horret animus et pavor membra excutit: video paternos, immo fraternos lares. Die dunklen Räume des unterirdischen Dis verlassend, bin ich hier, entsandt aus der tiefen Höhlen des Tartarus, unsicher, welchen der beiden Orte ich mehr verabscheue: ich, Thyestes, fliehe die Bewohner der Unterwelt, die Bewohner der oberen Welt bringe ich zum Fliehen. Mein Sinn erschaudert, und Furcht schüttelt 1
Zum Prolog des Agamemnon und zu seinem Verhältnis zum Prolog des Thyest siehe Paratore (1982); Boyle (1983), 200, 209-210; Wiener (2006), 300-307; Fischer (2008), 227-230.
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Ekphrasis und Metatheater meine Glieder: ich sehe den Wohnsitz meines Vaters, vielmehr noch meines Bruders.
Im Gegensatz zum Hercules Furens und zur Phaedra, wo eine ähnliche Einsicht bis zum Ende des jeweiligen Stückes auf sich warten lässt, wird im Agamemnon der Ort, an dem die Handlung stattfindet, gleich zu Beginn als eine noch entsetzlichere Version der Unterwelt bezeichnet. Thyest sehnt sich sogar danach, dorthin zurückzukehren (Sen. Ag. 12 libet reverti), wo die stets in solchen Zusammenhängen erwähnten Frevler bestraft werden (Sisyphus, Perithous, Tantalus).2 Die Aufzählung dieser allseits bekannten Sträflinge führt Thyest zu einer wichtigen Erkenntnis, in der er sich selbst mit (unter anderem) Tantalus vergleicht (Sen. Ag. 22-25): sed ille nostrae pars quota est culpae senex? reputemus omnes quos ob infandas manus quaesitor urna Gnosius versat reos: vincam Thyestes sceleribus cunctos meis. Doch jener Greis – welch geringen Teil meiner Schuld trägt er? Überdenken wir alle, die der knossische Richter wegen ihrer unsäglichen Freveltaten mit seiner Urne schuldig spricht: ich, Thyest, werde sie alle mit meinen Verbrechen übertreffen.
Thyest entspricht demnach ziemlich genau dem Typus des zu ewigen Qualen im Tartarus verdammten Frevlers (man könnte sagen, er spielt das von solchen Figuren vorgegebene Muster nach), er erweist sich jedoch als noch schlimmer. Dieses auf einer grenzenlosen Überbietung basierende Handlungsprinzip, das auch den beiden bereits besprochenen Tragödien auf unterschiedliche Weisen zugrunde liegt, wird hier nicht erst im Laufe der Plotentwicklung sukzessive herausgearbeitet, sondern gleich am Anfang des Prologs plakativ formuliert. Damit endet das Überbietungsschema jedoch noch lange nicht. Thyest erscheint aus den Tiefen der Unterwelt, um anzukündigen, dass die Reihe der von ihm und seinem Bruder Atreus begonnenen Verbrechen nun in der nächsten Generation fortgesetzt wird. Die kurz bevorstehende siegreiche Rückkehr Agamemnons, eines Sohnes des Atreus, aus Troja veranlasst Thyest dazu, den Mord an Agamemnon für das wichtigste Lebenswerk seines eigenen Sohnes Aegisth zu erklären (Sen. Ag. 48-52): causa natalis tui, Aegisthe, venit. quid pudor vultus gravat? quid dextra dubio trepida consilio labat? quid ipse temet consulis torques rogas, an deceat hoc te? respice ad patrem: decet. 2
Vgl. Sen. HF 750ff., Me. 744ff., Ph. 1229ff., Th. 4ff. Tarrant (1976), ad loc.
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Der Grund, warum du geboren wurdest, Aegisth, ist da. Warum beschwert Scham dein Gesicht? Warum sinkt deine Rechte hinab, zitternd und unsicher in ihrem Entschluss? Warum gibst du dir selbst Ratschläge, quälst dich und fragst, ob dir dies anstehe? Denk an deinen Vater: es steht dir an.
Die Aufgabe des Aegisth besteht somit darin, die von seinem Vater vorgelebte Rivalität fortzusetzen.3 Und da es jetzt um die Ermordung des größten Königs der griechischen Welt geht (Sen. Ag. 38 rex ille regum), könnte man sagen, dass Aegisth dieses bekannte Szenario in gewisser Hinsicht übertreffen muss. Bezeichnenderweise spielt bei Seneca, im Gegensatz sowohl zu Aischylos’ Agamemnon als auch zu anderen Versionen des Mythos in der griechischen Literatur,4 die Rache für die Opferung der Iphigenia5 als Motiv für Clytaemnestras Entschluss, ihren Mann zu töten, nur eine nebensächliche Rolle.6 Als die wichtigste treibende Kraft hinter ihrem Mordplan nennt Clytaemnestra ihre eigene Verdorbenheit, die bereits viel zu weit fortgeschritten ist, als dass man sie rückgängig machen könnte (Sen. Ag. 108-115): quid, segnis anime, tuta consilia expetis? quid fluctuaris? clausa iam melior via est. licuit pudicos coniugis quondam toros et sceptra casta vidua tutari fide; periere mores ius decus pietas fides et qui redire cum perit nescit pudor; da frena et omnem prona nequitiam incita: per scelera semper sceleribus tutum est iter. Warum, träges Gemüt, trachtest du nach gefahrlosen Entschlüssen? Warum schwankst du? Der bessere Weg ist bereits verschlossen. Einst war es dir möglich, das sittsame Bett des Gatten und sein verwaistes Szepter mit unschuldiger Treue zu schützen; Sitte, Recht, Anstand, Pflichtgefühl, Treue sind zugrunde gegangen, sowie Scham, die, einmal verloren, nicht zurückkehren kann; lass die Zügel schießen und sporne deine Verdorbenheit folgsam an: der Weg durch Verbrechen ist für Verbrechen immer sicher.
3 4
5 6
Zur Figur des Aegisth bei Seneca siehe Schenkeveld (1976). Zur Betonung der Wiederholung im Prolog des Agamemnon siehe Fischer (2008), 230-235. Vorsenecanische Versionen des Agamemnon-Stoffes werden von Tarrant (1976, 823) aufgelistet. Eine detaillierte Besprechung von Senecas „Modellen“ im Agamemnon findet man in Marcucci (1996) und Degiovanni (2004). Vgl Aesch. Ag. 228-247. Dazu Furley (1986). Bei Seneca wird dieses Motiv nur nebenbei (und erst nachträglich) erwähnt: Sen. Ag. 158-173, insb. 162-163 pudet doletque: Tyndaris, caeli genus, / lustrale classi Doricae peperi caput!
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Das Einzige, was Clytaemnestra bleibt, ist, ihre üblen Taten durch weitere noch üblere Taten zu überbieten. Sich selbst zu übertreffen genügt ihr jedoch nicht. Unter verschiedenen Möglichkeiten der Handhabung ihrer bevorstehenden Begegnung mit ihrem aus Troja zurückkehrenden Mann schwebt Clytaemnestra die Flucht mit ihrem Liebhaber Aegisth vor (Sen. Ag. 121-124): vel Mycenaeas domos coniuncta socio profuge furtiva rate. quid timida loqueris furta et exilium et fugas? soror ista fecit: te decet maius nefas. ... oder fliehe dein mykenisches Zuhause auf heimlichem Kahn, vereint mit deinem Gefährten. Warum sprichst du ängstlich von Geheimnistuerei, Exil und Flucht? Deine Schwester hat solches getan: dir steht ein größerer Frevel an.
Sie lehnt dieses Szenario mit der Begründung ab, sie dürfe ihre Schwester nicht einfach nachahmen, sie müsse sie übertreffen. Am Ende des Stückes wird klar, dass es Clytaemnestra gelungen ist, ihren Wunsch zu verwirklichen, da sie im Gegensatz zu ihrer daneben regelrecht unschuldig wirkenden Schwester ihren Mann kaltblütig mit eigenen Händen umbringt. Wir haben es hier also mit der gleichen Art der narrativen aemulatio zu tun, die wir bei Seneca bereits mehrfach beobachtet haben. Der an dieser Stelle angedeutete Wettbewerb mit Helena nimmt jedoch ein anderes Motiv vorweg, das, wie wir sehen werden, das gesamte Geschehen des Stückes weitgehend bestimmt. Helenas Flucht mit Paris ist schließlich eines der Schlüsselereignisse, die zur Einnahme und Zerstörung Trojas führten. So wie Helena für die Zerstörung Trojas verantwortlich ist, so ist Clytaemnestra für den Tod Agamemnons verantwortlich. Dabei überbietet sie, als Anstifterin und Vollstreckerin dieser Tat, zweifelsohne die in ihrer Geschichte nur als passive Beute fungierende Schwester. Am Anfang der Tragödie wird die Parallele zwischen den beiden Ereignissen zwar nur auf die denkbar indirekteste Weise angedeutet, sie entwickelt sich allerdings im weiteren Verlauf zu ihrem zentralen Leitmotiv. Mehr noch: Die rhetorische Strategie des Stückes besteht hauptsächlich darin, die Ermordung Agamemnons als eine überbietende Version der Eroberung Trojas darzustellen. Genauso wie im Hercules Furens und in der Phaedra wird auch hier die unermessliche Grausamkeit des am Ende stattfindenden Todes unter anderem durch eine lange ekphrastisch ausgerichtete Botenrede vorbereitet.7 Im Gegensatz zu den beiden bereits besprochenen Tragödien ist das Thema dieser ekphrastischen Passage keine infernalische Monstrosität, sondern ein Seesturm. Obwohl diese Beschreibung im Großen und Ganzen auf die Schilderung des 7
Eine detaillierte Besprechung dieser Passage findet man in Aygon (2004), 132-140.
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Seesturmes in Aischylos’ Agamemnon (636-680) zurückgeht,8 erhält sie – in der typisch senecanischen Manier – den Charakter einer kosmischen Katastrophe.9 Um die Ankunft des Agamemnon aus Troja anzukündigen, erreicht Eurybates als Erster Mykene und berichtet in einer langen Botenrede von den Einzelheiten der Rückfahrt (Sen. Ag. 406-584). Es stellt sich heraus, dass die Rückkehr Agamemnons, die das unmittelbar vorangehende Chorlied als ein außerordentlich fröhliches Ereignis angekündigt hat, durch den alles Denkbare übersteigenden Seesturm überschattet wird, der nun den größten Sieger wie einen erbärmlichen Besiegten erscheinen lässt (Sen. Ag. 410-413): quin ipse Atrides aequore immenso vagus graviora pelago damna quam bello tulit remeatque victo similis, exiguas trahens lacerasque victor classe de tanta rates. Ja, der Atride selbst, auf dem unermesslichen Meer umherstreifend, erlitt zur See größere Verluste als im Krieg und, der Sieger, kehrt einem Besiegten ähnlich zurück, von solch einer großen Flotte nur eine unbeträchtliche Anzahl abgewrackter Schiffe mit sich schleppend.
Die rhetorische Strategie der darauffolgenden detaillierten Beschreibung des Seesturmes, die wie die Katabasis im Hercules Furens mit Elementen der homerisch-vergilischen Epostradition angereichert ist,10 verfolgt in erster Linie offenbar zwei Ziele: Einerseits soll eine durchgehende Parallelisierung zwischen dem Sturm und einer epischen Schlacht das wahrhaftig epische Ausmaß des Geschilderten hervorheben; andererseits soll mit allen erdenklichen Mitteln, insbesondere durch den permanenten Appell an die visuelle Wahrnehmung, ein möglichst genaues Bild dieser epischen Katastrophe evoziert werden, damit dieses Bild anschließend als Folie für noch schrecklichere Ereignisse verwendet werden kann, die sich im weiteren Verlauf der Handlung zutragen. Die Passage beginnt mit dem Aufbruch der griechischen Flotte aus Troja und der unsäglichen Freude, die der Anblick der verwüsteten Stadt den Siegern bereitet (Sen. Ag. 435-436 iuvat videre nuda Troiae litora, / iuvat relicti sola Sigei loca). Diese visuelle Freude wird durch eine erzählerische Freude ergänzt, da die griechischen Krieger die Zeit damit vertreiben, dass sie Erinnerungen an den abgeschlossenen Krieg austauschen (Sen. Ag. 444-448): fususque transtris miles aut terras procul, quantum recedunt vela, fugientes notat, 8 9 10
Tarrant (1976), 10; Lavery (2004). Zur zentralen Bedeutung der „kosmischen Dimension“ in Senecas Tragödien im Allgemeinen siehe Schmitz (2003). Vgl. Marcucci (1996), 71-80.
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Ekphrasis und Metatheater aut bella narrat: Hectoris fortis minas currusque et empto redditum corpus rogo, sparsum cruore regis Herceum Iovem. ... und auf der Ruderbank hingestreckt beobachtet der Krieger die Länder, die mit der Fortbewegung der Segel in immer weitere Ferne fliehen, oder er erzählt von den Kämpfen: von den Drohungen des tapferen Hektor, vom Pferdewagen, vom Leichnam, der einem erkauften Scheiterhaufen übergeben wurde, und vom herkeischen Jupiter, der vom Königsblut besprengt wurde.
Dass dabei vor allem die grausamsten Episoden der letzten Phase der Kämpfe erwähnt werden (die Schleifung Hektors, der Freikauf seines geschundenen Leichnams und die haarsträubende Ermordung des Priamus an einem JupiterAltar),11 bildet einen verstörenden Kontrast zur scheinbar idyllischen Beschreibung der Meeresstille, die nur durch eine Schar verspielter Delphine unterbrochen wird (Sen. Ag. 449-455). Gleich im Anschluss wird deutlich, dass diese Reminiszenz einer epischen Grausamkeit jedoch lediglich ein Vorbote einer noch schlimmeren Katastrophe ist, die im Nachhinein eine gebührende Antwort auf die unbekümmerte Schadenfreude der Griechen liefert. Dem Seesturm geht, der Katabasisbeschreibung im Hercules Furens entsprechend, eine Veränderung der Sichtbedingungen voraus: Es wird Nacht (Sen. Ag. 465-466). Der nächtliche Ausbruch des Sturmes wird dann wie eine wahrhaftig kosmische Katastrophe geschildert, durch die die Welt in den ursprünglichen Chaoszustand zurückfällt (Sen. Ag. 485-487):12 mundum revelli sedibus totum suis ipsosque rupto crederes caelo deos decidere et atrum rebus induci chaos. Du hättest glauben können, die gesamte Welt werde aus ihren Grundfesten gerissen und die Götter selbst fielen aus dem zerrissenen Himmel und das schwarze Chaos umhülle die Natur.
Daher darf es kaum überraschen, dass die Finsternis, die das Unwetter mit sich bringt, eine infernalisch anmutende, absolute Finsternis ist, die nur von gelegentlichen – unter den Umständen höchst ersehnten – Blitzen durchleuchtet wird (Sen. Ag. 491-497): nec hoc levamen denique aerumnis datur, videre saltem et nosse quo pereant malo: 11 12
Vgl. Tarrant (1976), ad loc. Vgl. Tarrant (2002), 358. Zu den stoischen Hintergründen der Chaosdarstellungen in Senecas Tragödien siehe Mazzoli (2006).
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premunt tenebrae lumina et dirae Stygis inferna nox est. excidunt ignes tamen et nube dirum fulmen elisa micat; miserisque lucis tanta dulcedo est malae: hoc lumen optant. Und nun wird nicht einmal diese Linderung ihrem Elend zuteil, wenigstens zu sehen und zu wissen, durch welches Übel sie zugrunde gehen. Finsternis lastet auf ihren Augen, und es herrscht die unterirdische Nacht der unheilvollen Styx. Es fallen aber doch Flammen herab, und der düstere Blitz zuckt aus einer zerrissenen Wolke; und so groß ist der Reiz des schrecklichen Feuers für die Unglücklichen: sie begehren dieses Licht.
Diese so eindrucksvoll inszenierte Visualisierung der infernalischen Finsternis erweist sich nun als ein überbietendes Nachspielen der epischen Grausamkeit, welche sich von der Siegesfreude der Griechen zu Beginn der Passage kontrastiv abhob. Jetzt wird explizit behauptet, dass es besser gewesen wäre, in Troja zu fallen als diese Version eines Weltuntergangs erleben zu müssen (Sen. Ag. 512516): quid fata possunt! invidet Pyrrhus patri, Aiaci Ulixes, Hectori Atrides minor, Agamemno Priamo: quisquis ad Troiam iacet felix vocatur, cadere qui meruit gradu, quem fama servat, victa quem tellus tegit. Wozu ist das Verhängnis imstande! Pyrrhus beneidet seinen Vater, den Ajax Odysseus, den Hektor der jüngere Atride, Agamemnon den Priamus: jeder, der in Troja gefallen ist, wird glücklich geheißen, wer einen Tod beim Kämpfen verdiente, wen der Ruhm unversehrt bewahrt, wen die besiegte Erde deckt.
Die Verbindung zwischen dem geschilderten Ereignis und dem trojanischen Krieg wird nicht nur dadurch festgestellt, dass es für noch schrecklicher erklärt wird als etwa der Tod des Priamus, sondern auch dadurch, dass der Seesturm wie eine typische epische Schlacht beschrieben wird, an der Götter teilnehmen.13 Darüber hinaus nimmt die Schlacht auch einen kosmischen Charakter an, da Pallas bei ihrem Angriff auf Ajax keine gewöhnlichen Waffen, sondern die ihr von Jupiter zur Verfügung gestellten Blitze benutzt (Sen. Ag. 528-533): 13
Es handelt sich dabei um eine genuin epische Episode, die auf die homerische Odyssee (Hom. Od. 4.499-511) zurückgeht und die als einer der wichtigsten Referenzpunkte für die Darstellung des Zornes Junos in Vergils Aeneis fungiert: Verg. Aen. 1.39-41 Pallasne exurere classem / Argivom atque ipsos potuit submergere ponto, / unius ob noxam et furias Aiacis Oilei? Siehe auch Marcucci (1996), 64-65.
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Ekphrasis und Metatheater ecce alia clades. fulmine irati Iovis armata Pallas quidquid aut hasta minax aut aegide et furore Gorgoneo potest, hoc igne patrio temptat, et caelo novae spirant procellae. solus invictus malis luctatur Aiax. Siehe, ein weiteres Unglück. Mit den Blitzen des zornigen Jupiter bewaffnet greift Pallas alles, was sie mit der Lanze oder Ägis oder Gorgos Wut vermag, mit diesem väterlichen Feuer an, und neue Stürme blasen durch den Himmel. Allein Ajax kämpft, vom Unheil unbesiegt.
Ajax begegnet seiner Feindin zunächst mit der Überheblichkeit eines erfahrenen Kriegers, der bereits mehrere Götter in einem Nahkampf besiegt hat, und fordert sogar den rechtmäßigen Besitzer der von Pallas gegen ihn geschleuderten „fremden Waffen“ (Sen. Ag. 551 aliena tela) zu einer direkten Attacke auf (Sen. Ag. 552 quid si ipse mittat?). Diese heroische Pose wird durch die Einmischung eines anderen Gottes – Neptun – unterbunden, der den Felsen, auf dem Ajax nach der Zerstörung seines Schiffes durch Pallas’ Blitze Zuflucht genommen hat, zum Einsturz bringt (Sen. Ag. 552-555). Das kosmische Ausmaß der Katastrophe wird somit zum einen dadurch hervorgehoben, dass sie von den größten olympischen Göttern orchestriert wird, zum anderen aber auch dadurch, dass Ajax’ Tod als eine ihm durch nichts Geringeres als die Natur selbst bescherte Niederlage – die drei kosmischen Elemente (Erde, Feuer und Wasser) – konzipiert wird (Sen. Ag. 555-556 quem cadens secum tulit / terraque et igne victus et pelago iacet). Die Parallelisierung zwischen dem Seesturm und einer epischen Schlacht erzielt also einen Effekt, den wir bereits aus mehreren anderen Beispielen in Senecas Tragödien kennen: Das Dargestellte wird in ein ehrwürdiges literarisches Paradigma hineingeschrieben (diesmal handelt es sich nicht um eine epische Katabasis, sondern um epische Seesturm- und Schlachtbeschreibungen), und schließlich für eine überbietende Version dieses Paradigmas erklärt (denn der Seesturm gleicht hier dem Weltuntergang, und an dieser Schlacht nimmt die gesamte Natur – das Meer, der Himmel und die Erde – teil).14 Die Funktion dieser höchst eindrucksvollen – die Rhetorik der Übertreibung fast ad absurdum treibenden – ekphrastischen Passage ähnelt der Funktion der Ekphrasis der Unterwelt im Hercules Furens. Bei der Analyse des Hercules Furens habe ich behauptet, dass die lebhafte Visualisierung der Schrecken des Tartarus letztendlich als Folie für die noch schrecklicheren Ereignisse verwendet wird, die auf der Bühne stattfinden. Im Agamemnon stellt sich heraus, dass der Tod, den der eponyme Protagonist nach seiner Ankunft durch seine eigene Frau und ihren Liebhaber, den verwerflichen Feigling Aegisth erleidet, die in der Beschreibung des Seesturmes gezeichneten Schreckensbilder übertrifft. Mehr 14
Vgl. Shelton (1983), 168-170.
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noch: Da der Seesturm aus Agamemnons Perspektive als ein schmerzhafteres Ereignis beschrieben wird als der würdelose, heimtückische Mord an Priamus,15 haben wir es hier offensichtlich mit einer doppelten Überbietung zu tun: Das, was wir nun sehen, stellt gewissermaßen den Mord an Priamus in dritter Potenz dar. Noch vor der endgültigen Ankunft Agamemnons betritt der Chor der gefangenen Troerinnen die Bühne, deren Choregos Cassandra nach ausgiebigen Klagen über die unwiderrufliche Zerstörung ihrer Heimat und ihrer Familie vom prophetischen Wahn heimgesucht wird (Sen. Ag. 720-774). Es handelt sich dabei um die erste der beiden Visionen, die Cassandra im Laufe der Tragödie erlebt. Diese Visionen bilden einen eng miteinander verknüpften Komplex, weil sich in ihnen sukzessive die Vorstellung von Ermordung des Agamemnon als einer Inversion und gleichzeitig eines überbietenden Nachspielens der Zerstörung Trojas entwickelt.16 Der Grad der Veranschaulichung, der in diesen Passagen erzielt wird, entspricht der zunehmenden Klarheit, mit der Cassandra die sich ihr offenbarende Wahrheit vernimmt. Eine weitere beiden Passagen gemeinsame Eigenschaft ist, dass sie das Dargestellte als eine Art Spektakel inszenieren, dem ein internes Publikum beiwohnt: Während Cassandra in der zweiten Passage als die einzige Zuschauerin fungiert, besteht das in der ersten Vision heraufbeschworene Publikum aus Cassandras gesamter Familie, die die auf der Bühne stattfindenden Ereignisse aus der Unterwelt betrachtet. Die erste Vision Kassadras beginnt – genauso wie die Beschreibungen des Seesturmes im vorhergehenden Akt und die der Katabasis im Hercules Furens – mit einer Veränderung der Sichtbedingungen (Sen. Ag. 726-727): ubi sum? fugit lux alma et obscurat genas nox alta et aether abditus tenebris latet. Wo bin ich? Das gütige Licht flieht, und schwarze Nacht verhüllt meine Wangen, und der Äther, in der Finsternis verborgen, ist unsichtbar.
Das Bild, das sich aus dieser infernalischen Finsternis langsam herauskristallisiert, stellt das Urteil von Paris dar (Sen. Ag. 730-733) – das Ereignis, das schließlich zur Zerstörung Trojas führte (insb. Sen. Ag. 733 agrestis iste alumnus evertet domum).17 Auf dieses Bild folgt ein verfremdeter Hinweis auf die bevorstehende Ermordung des Agamemnon, in dem er als Löwe erscheint, der einen unwürdigen Tod durch eine Löwin erleidet (Sen. Ag. 734-740).18 Die beiden Geschehnisse werden hierbei lediglich angedeutet. Trotz dieser orakelhaft 15 16 17 18
Sen. Ag. 512-514 invidet Pyrrhus patri, / Aiaci Ulixes, Hectori Atrides minor, / Agamemno Priamo. Vgl. Boyle (1983), 200-202; Littlewood (2004), 215-226. Tarrant (1976), ad loc. Vgl. Aesch. Ag. 1258-1260.
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nebulösen Ausdrucksweise wird nicht nur der zeitliche Rahmen der trojanischen Sage umrissen (sein Anfang mit dem Urteil von Paris und sein endgültiges Ende mit dem Mord an Agamemnon), sondern auch eine klare Parallele zwischen den beiden Schlüsselereignissen gezogen. Nach dieser flüchtigen Vision öffnen sich vor Cassandras Augen die Urtiefen des Tartarus, in denen sie ihre im trojanischen Krieg ermordeten Familienangehörigen sieht. Bezeichnenderweise betont Cassandra die Freude, mit der sie die Schreckensbilder der Unterwelt betrachtet (Sen. Ag. 750-752 iuvat per ipsos ingredi Stygios lacus, / iuvat videre Tartari saevum canem / avidique regna Ditis!). Diese Freude ist zum einen eine weitere Manifestation des Motivs, das wir bereits im Hercules Furens, in der Phaedra und im Prolog des Agamemnon beobachtet haben, wonach sich die Grausamkeit der oberen Welt als schlimmer denn die schlimmsten Monstren des Tartarus entpuppt. Zum anderen ist sie auch Ausdruck der psychologisch leicht nachvollziehbaren Sehnsucht Cassandras nach ihrer eigenen Familie, die sie als einzige Überlebende nun verspürt. Es ist deswegen umso ergreifender, dass Cassandra die Ihrigen an ihrer Vision teilhaben lassen möchte – sie will, dass sie alles sehen, was sie sehen kann (Sen. Ag. 754-758): vos, umbrae, precor, iurata superis unda, te pariter precor: reserate paulum terga nigrantis poli, levis ut Mycenas turba prospiciat Phrygum. spectate, miseri: fata se vertunt retro. Euch, ihr Schatten, flehe ich an, dich, Welle, bei der die Götter schwören, bitte ich ebenso: öffnet ein wenig die Bedeckung des dunklen Gewölbes, damit die flüchtige Schar der Phryger Mykene vor sich erblickt. Schaut, ihr Unglücklichen: die Schicksale wenden sich rückwärts.
Hier vollzieht sich demnach auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig eine komplette Umkehrung. Einerseits konstituiert das unmittelbar bevorstehende Ereignis – die Ermordung Agamemnons – aus trojanischer Perspektive eine Rache für die Zerstörung Trojas: Dabei geht es allerdings nicht nur um eine Wiedergutmachung, sondern vielmehr, wie sich zeigen wird, fast eine Art „Ungeschehenmachen“ der Katastrophe, die für die Verwandlung nahezu der gesamten trojanischen Königsfamilie in ein unterirdisches Publikum verantwortlich ist.19 Andererseits haben wir es mit einer umgekehrten Nekromomantie zu tun. Die Bewohner der Unterwelt werden nicht – wie im nekromantischen Normalfall – angerufen, um über vor den Lebenden verschlossene Geheimnisse 19
Vgl. Medeas Worte nach der Vollendung ihrer Rache (Sen. Me. 982-986): iam iam recepi sceptra germanum patrem, / spoliumque Colchi pecudis auratae tenent, etc. Zu Senecas Agamemnon als einer Rachetragödie siehe Shelton (1976).
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Auskunft zu geben,20 sondern um etwas sehen zu können, das am helllichten Tag in der oberen Welt geschieht. Aus einem Spektakel werden somit die Toten zum Publikum. Diese eigenartige metatheatralische Wendung fordert uns als empirische Rezipienten indirekt dazu auf, die Kulmination des Stückes ebenso als Spektakel zu betrachten, dem wir de profundis beiwohnen. Nebenbei sei bemerkt, dass die Verdoppelung des Blicks, die in Cassandras Vision stattfindet, diese Szene in eine durch die Einführung des prophetischen Elementes verfeinerte, metaphorisierte Version der Katabasisdarstellung des Hercules Furens transformiert (Sen. HF 658-827): Cassandras Katabasis geschieht nur in ihrer Imagination und beginnt damit, dass sie ihren hellseherischen Blick graduell in die Tiefen des Tartarus hinabsenkt (so, wie sich Herkules sukzessive der absoluten Finsternis der Unterwelt nähert). Der in die entgegengesetzte Richtung gewandte Blick der Bewohner der Unterwelt, die die in der oberen Welt stattfindenden Gräueltaten beobachten sollen, erinnert dagegen an die Konfrontation des Cerberus mit dem Sonnenlicht im Hecules Furens (Sen. HF 813-817). Die eigentliche Mordszene wird – der tragischen Tradition folgend – in einer Art Botenrede geschildert.21 Das Einzigartige an dieser Episode ist jedoch, dass Cassandra als Bote auftritt, die das Geschehene nicht wie ein konventioneller Augenzeuge, sondern durch ihre hellseherische Kraft beobachtet.22 In dieser zweiten Vision wird alles, was in der ersten nur als indirekt angedeutete Vorahnung erschien, so überwältigend klar, dass sogar die Prophetin selbst über die Deutlichkeit der sich ihr offenbarenden Bilder erstaunt ist. Am nachdrücklichsten zeigt sich dabei die Verbindung zwischen der Zerstörung Trojas und dem Mord an Agamemnon (Sen. Ag. 867-875): res agitur intus magna, par annis decem. eheu quid hoc est? anime, consurge et cape pretium furoris: vicimus victi Phryges. bene est: resurgis Troia; traxisti iacens pares Mycenas, terga dat victor tuus! tam clara numquam providae mentis furor ostendit oculis: video et intersum et fruor; imago visus dubia non fallit meos: spectemus! Eine große Tat wird drinnen aufgeführt, den zehn Jahren ebenbürtig. Weh, was ist das? Mein Herz, richte dich empor und erhalte den Lohn deines Wahns: wir, die besiegten Phryger, haben gesiegt. So ist es gut: du stehst wieder auf, Troja; gefallen, hast du Mykene – gleich dir – mitgerissen, dein Besieger kehrt den Rücken! So Klares hat die Verzückung des 20 21 22
Vgl. Sen. Oe. 530-658. Siehe Shelton (1993), 175-176; Mazzoli (1993). Tarrant (1976), 335-336.
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Ekphrasis und Metatheater hellseherischen Sinnes meinen Augen niemals zuvor gezeigt: ich sehe und nehme teil und genieße; es ist kein zweifelhaftes Bild, das meine Sicht betrügt: lasst und sehen!
Der bevorstehende Mord konstituiert eine vollkommen symmetrische Umkehrung. In Cassandras Vorstellung wird durch diese Tat der Untergang Trojas ungeschehen gemacht: Aus Besiegten werden Sieger, und der stolze Sieger erleidet eine vernichtende Niederlage. Klarer kann man den bislang immer wieder indirekt angedeuteten Gedanken, die Ermordung Agamemnons stelle ein Nachspielen der Zerstörung Trojas dar, nicht ausdrücken. Wie in allen anderen Beispielen von Senecas narrativer aemulatio, die ich schon analysiert habe, erweist sich dieses Nachspielen außerdem als Überbietung, denn jetzt geschieht an einem einzigen Tag ein Äquivalent dessen, was beim ersten Anlauf zehn Jahre in Anspruch genommen hat (Sen. Ag. 867 res agitur intus magna, par annis decem). Darüber hinaus ist die Vision, die es Cassandra ermöglicht, zu dieser klaren Erkenntnis zu gelangen, von ungewöhnlicher Art. Zum ersten Mal in ihrer bis dato eher unglücklich verlaufenen Karriere als Prophetin bereitet ihr der prophetische Wahn eine wahrhaftige Freude (vgl. furor – fruor)!23 Zum ersten Mal operiert sie nicht mit dunklen, interpretationsbedürftigen, nur in orakelhafter Sprache fassbaren Bildern, sondern mit Erscheinungen, an deren Bedeutung kein Zweifel besteht. Die Eindeutigkeit des Sich-Offenbarenden verwandelt Cassandra von einer Seherin in eine Zuschauerin, die angespannt darauf wartet, was als nächstes geschieht (spectemus!). Die nun folgende Beschreibung der Mordszene stellt alles, was sich innerhalb des Palastes abspielt, so anschaulich dar, dass die Berichterstatterin Cassandra die Rezipienten (sowohl die internen, Cassandras in die Unterwelt verbannte Familie, als auch die externen: uns) zu Teilhabern an ihrer Offenbarung, und das heißt ebenso zu Zuschauern, macht. Dadurch erfüllt sie die Ambition, die sie bei ihrer ersten Vision äußerte.24 Bemerkenswert ist aber nicht nur, dass hier der anschauliche Detailreichtum den Visualisierungsprozess anspornt, sondern auch, dass die beschriebene Szene im wörtlichen Sinne wie ein theatralisches Nachspielen des Untergangs Trojas wirkt (Sen. Ag. 875-880): epulae regia instructae domo, quales fuerunt ultimae Phrygibus dapes, celebrantur: ostro lectus Iliaco nitet merumque in auro veteris Assaraci trahunt. et ipse picta veste sublimis iacet, Priami superbas corpore exuvias gerens.
23 24
Staley (2010), 60-62. Vgl. Sen. Ag. 758 spectate, miseri: fata se vertunt retro.
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Ein Gastmahl, veranstaltet im königlichen Haus – wie der letzte Schmaus für die Phryger – wird gefeiert: das Lager glänzt von trojanischem Purpur, und sie schlürfen unvermischten Wein aus dem Goldgeschirr des alten Assarakus. Und er selbst liegt auf einer Erhöhung in buntem Gewand, Priamus’ prächtige Kleidung an seinem Körper tragend.
Agamemnon erscheint hier wie eine Reinkarnation des Priamus: Das hier stattfindende Abendmahl ist ein Nachspielen des letzten königlichen Abendmahls vor der Zerstörung Trojas, und Agamemnon trägt sogar – was nach einer im wörtlichen Sinne theatralischen Verkleidung aussieht – Priamus’ eigene Kleider! Bezeichnenderweise transformiert sich gleich darauf die dem Erzfeind entnommene Bekleidung in ein verhängnisvolles Netz, in das der vermeintliche Sieger wie eine Jagdbeute gefangen wird. Dabei ist das, was nun geschieht, im Gegensatz zu Cassandras erster prophetischer Vision, in der die Ermordung Agamemnons wie ein erhabenes Bild des Todes eines Löwen inszeniert wurde, viel banaler und dadurch noch würdeloser und erschreckender (Sen. Ag. 892896): at ille, ut altis hispidus silvis aper cum casse vinctus temptat egressus tamen artatque motu vincla et in cassum furit, cupit fluentes undique et caecos sinus dissicere et hostem quaerit implicitus suum. Aber wie ein borstiger Eber in den tiefen Wäldern, wenn er im Netz gefesselt dennoch auszubrechen versucht, durch seine Bewegung die Fesseln fester schnürt und vergeblich rast, so wünscht dieser die Falten, die ihn von überall her umfließen und ihn blenden, zu zerschneiden und sucht, obwohl festgebunden, seinen Gegner.
Agamemnon wird aber nicht nur wie ein Eber mit einem Netz gefangen, sondern auch wie ein Opfervieh an einem Altar geschlachtet (Sen. Ag. 897-900): armat bipenni Tyndaris dextram furens, qualisque ad aras colla taurorum prius designat oculis antequam ferro petat, sic huc et illuc impiam librat manum. Die rasende Tochter des Tyndareus bewaffnet die Rechte mit der Doppelaxt, und wie einer, der an den Altären den Nacken der Stiere zunächst mit den Augen bemisst, bevor er ihn mit dem Eisen schlägt, so schwingt sie ihre frevelnde Hand bald hierhin, bald dorthin.
Dieses Detail – der Mord an Agamemnon als pervertierter Opferritus – erinnert uns zum wiederholten Male daran, dass wir es mit einem Nachspielen des
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Ekphrasis und Metatheater
Untergangs Trojas zu tun haben bzw. mit einem Nachspielen der Ermordung des Priamus durch Pyrrhus an einem Altar.25 Durch seinen Tod verwandelt sich Agamemnon endgültig in ein Ebenbild des Priamus. Somit wird aus einer scheinbar rein metatheatralischen Wendung – einer Verkleidung, einer höhnischen Nachäffung des Feindes – ein wahrhaftig tragisches Ereignis.26 Cassandras Vision endet mit einer typisch senecanischen Darstellung einer Körperzerstückelung.27 An deren Schluss werden wir an das am Anfang der Tragödie erwähnte Motiv erinnert, das Aegisth als Abbild seines Vaters Thyest und Clytaemnestra als Abbild ihrer Schwester Helena schildert (Sen. Ag. 901907): habet, peractum est. pendet exigua male caput amputatum parte et hinc trunco cruor exundat, illinc ora cum fremitu iacent. nondum recedunt: ille iam exanimem petit laceratque corpus, illa fodientem adiuvat. uterque tanto scelere respondet suis: est hic Thyestae natus, haec Helenae soror. Er hat’s, es ist getan.28 An einer dünnen Verbindung hängt sein schlecht abgetrennter Kopf, und hier strömt Blut aus dem Rumpf heraus, dort liegen brüllend seine Lippen. Sie lassen aber noch nicht los: er sticht den bereits Leblosen und zerteilt seinen Leichnam, sie hilft ihm beim Schlachten. Beide ähneln mit der so großen Untat den Ihren: er ist Thyests Sohn, sie ist Helenas Schwester.
Die Mörder handeln folglich im Einklang mit den Rollen, die ihnen durch ihre Abstammung auferlegt worden sind und übertreffen, wie ich bereits gezeigt habe, dabei das jeweilige Original: Aegisth ermordet den König aller griechischen Könige, während Clytaemnestra eine Grausamkeit an den Tag legt, die für ihre Schwester undenkbar wäre.29 Die ekphrastische Anschaulichkeit, mit der die Gräueltat geschildert wird, dient dazu, diesen Eindruck zu verstärken.
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Vgl. Boyle (1983), 201; Boyle (1985), 1313. Gleichzeitig bildet diese Anspielung, mit der die Parallelisierung zwischen der Tötung Agamemnons und der Zerstörung Trojas abgeschlossen wird, ein ringkompositorisches Echo zur ersten Andeutung dieses Motivs in Eurybates’ Botenrede, in welcher der Tod des Priamus ebenfalls besonders hervorgehoben wurde: Sen. Ag. 448 sparsum cruore regis Herceum Iovem. Zu den senecanischen Körperzerstückelungen im Allgemeinen siehe Most (1992). Zum Ursprung dieser Ausdrücke in der Sprache des Gladiatorenspiels siehe Tarrant (1976), ad loc. und Rosenmeyer (1989), 56-62. Vgl. Tarrant (1976), 333-335.
Agamemnon
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Der Kreis schließt sich endgültig in der letzten Szene der Tragödie, in der Cassandra die Freude verkündet, mit der sie dem Tod entgegensieht (Sen. Ag. 1004-1011): ne trahite, vestros ipsa praecedam gradus. perferre prima nuntium Phrygibus meis propero: repletum ratibus eversis mare, captas Mycenas, mille ductorem ducum, ut paria fata Troicis lueret malis, perisse dono, feminae stupro, dolo. nihil moramur, rapite, quin grates ago: iam, iam iuvat vixisse post Troiam, iuvat. Zieht mich nicht fort, ich werde euren Schritten selbst vorangehen. Ich eile, als Erste meinen Phrygern die Nachricht zu überbringen: das Meer sei mit gesunkenen Schiffen gefüllt, Mykene erobert, der Anführer der tausend Anführer durch ein Geschenk, durch die Unzucht einer Frau, durch eine List umgekommen, um mit gleichem Schicksal für das Unglück Trojas zu büßen. Ich zögere nicht, reißt mich fort, ich bin sogar dankbar: jetzt, jetzt ist es eine Freude, Troja überlebt zu haben, jetzt ist es eine Freude.
Der bevorstehende Tod versetzt Cassandra in die Rolle einer Botin, die ihrer Familie (die ihr in der ersten Vision als ein in der Unterwelt befindliches Theaterpublikum erschien) die fröhliche Nachricht überbringt, dass der Zerstörer Trojas das Schicksal der zerstörten Stadt nacherlebt und dadurch die Zerstörung gewissermaßen ungeschehen gemacht hat. Diese perfekt abgeschlossene Struktur wird jedoch am Ende des Stückes durch die Einführung eines neuen Sujets nachhaltig destabilisiert. Nach Cassandras zweiter Vision, in der sie den Mord an Agamemnon in aller Deutlichkeit sieht – also nach dem Abschluss der Handlung, die sich inhaltlich mit Aischylos’ Agamemnon deckt, – folgt eine überraschende Coda, die auf die Handlung von Aischylos’ Choephoren hinweist. Während Aischylos am Ende seines Agamemnon nur indirekt andeutet, dass Orestes in Zukunft den Mord an seinem Vater rächen wird,30 antizipiert Seneca dieses künftige Ereignis in einer ausführlichen dramatischen Szene. Im Gegensatz zu Aischylos’ Stück, in dem Orestes die gesamte Handlung hindurch aus Argos abwesend ist, stellt sich bei Seneca erst nach der Ermordung Agamemnons plötzlich heraus, dass Orestes dringend aus der Stadt weggebracht werden muss, um dem tragischen Schicksal seines Vaters zu entkommen (Sen. Ag. 910-912). Seine Schwester Elektra spricht an dieser Stelle explizit davon, dass sie in ihm den künftigen Rächer für den Mord an
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Aesch. Ag. 1646-1648 Ὀρέστης ἆρά που βλέπει φάος, / ὅπως κατέλθων δεῦρο πρευµενεῖ τύχῃ / ἀµφοῖν γένηται τοῖνδε παγκρατὴς φονεύς.
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Agamemnon sieht (Sen. Ag. 910 fuge, o paternae mortis auxilium unicum).31 Strophius, der König von Phokis und der Vater des Pylades, kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um, wie er hofft, seinem Freund Agamemnon zum Sieg über Troja zu gratulieren. Es ist besonders bezeichnend, dass sich Strophius ebenso eines Sieges rühmen darf – nämlich eines rezenten Sieges bei den Olympischen Spielen (Sen. Ag. 918-921): Phocide relicta Strophius Elea inclutus palma revertor. causa veniendi fuit gratari amico, cuius impulsum manu cecidit decenni Marte concussum Ilium. Ich, Strophius, kehre nun nach dem Verlassen der Phokis zurück, berühmt durch die olympische Siegespalme. Der Grund meines Kommens war, meinen Freund zu beglückwünschen, von dessen Hand angeschlagen Ilium fiel, erschüttert durch den zehn Jahre langen Krieg.
Anstatt an einer doppelten Siegesfeier teilzunehmen, übernimmt er nun die Aufgabe, den Sohn seines ermordeten Freundes zu retten. Erstaunlich ist dabei vor allem, dass Strophius Orestes, um ihn zu verstecken, die eigenen Insignien eines Olympiasiegers tragen lässt (Sen. Ag. 935-941): cape hoc decorum ludicri certaminis, insigne frontis; laeva victricem tenens frondem virenti protegat ramo caput, et ista donum palma Pisaei Iovis velamen eadem praestet atque omen tibi. tuque, o paternis assidens frenis comes, condisce, Pylade, patris exemplo fidem. Nimm diese Belohnung eines Kampfspieles als Schmuck für deine Stirn; die Linke, den Siegerzweig haltend, schütze deinen Kopf mit grünendem Laub, und diese Palme, Gabe des pisäischen Jupiter, diene dir sowohl als Verhüllung und als Vorzeichen. Und du, als Gefährte bei den väterlichen Zügeln sitzend, lerne, Pylades, am Beispiel deines Vaters die Treue.
Dass der kleine Orestes Mykene wie ein theatralisch verkleideter Olympiasieger verlässt, ist natürlich ein klarer Hinweis auf den echten Sieg, den er bei seiner Rückkehr als Erwachsener – in der nächsten Folge dieses scheinbar unendlichen tragischen Spektakels – erringen wird. Clytaemnestras Verbrechen wird also nicht unbestraft bleiben. Noch wichtiger ist allerdings die Tatsache, dass wir hier den Kern einer neuen Geschichte sehen, die im Begriff ist, sich nach genau den gleichen Prinzipien zu entfalten wie diejenige, die soeben auf der Bühne aufge31
Vgl. Shelton (1983), 177-178.
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führt wurde. Diese Geschichte wird auch ein vorgegebenes Muster nachspielen und dieses übertreffen: Einerseits wird die Treue, die Strophius dem ermordeten Agamemnon gegenüber zeigt, in der nächsten Generation von Orestes und Pylades nachgeahmt (Sen. Ag. 941 condisce, Pylade, patris exemplo fidem), woraus die festeste freundschaftliche Verbindung schlechthin entsteht;32 andererseits wird Orestes’ Mord an seiner Mutter – nach der üblichen Logik der Rache – den Mord an Agamemnon nachspielen und ihn dadurch gleichsam ungeschehen machen, so wie dieser Mord in Cassandras Augen die Zerstörung Trojas ungeschehen machte. Da es sich bei Orestes’ Tat zudem um einen Muttermord und somit einen so entsetzlichen Tabubruch handelt, dass er nur durch eine göttliche Intervention der Erinnyen (in Aischylos’ Eumeniden) gebührend bestraft werden kann, lässt sich getrost behaupten, dass dieses künftige Verbrechen das gerade Dargestellte bei weitem überbieten wird. Wir sehen also, dass das, was für Cassandra das zufriedenstellende Ende ihrer Geschichte darstellt, für Elektra den Anfang einer neuen, ähnlichen Geschichte bedeutet, deren Vollendung sie in Zukunft mit der gleichen Genugtuung erleben wird. Das Leben mag für Elektra zwar – wie für die meisten anderen leidenden Helden des senecanischen Dramas – im Moment schlimmer sein als der von ihr ersehnte Tod (Sen. Ag. 996 El. mortem aliquid ultra est? Ae. vita, si cupias mori). Dennoch muss sie am Leben bleiben, um sowohl das Ende ihrer gerade begonnenen Geschichte zu sehen als auch die Tatsache zu erkennen, dass dieser scheinbar endgültige Schluss nichts anderes als ein täuschender Schluss ist, auf den eine weitere, eventuell noch schlimmere Handlung folgen könnte. Die Prophetin Cassandra nimmt diese erschütternde Tatsache bereits mit der gleichen Klarheit wahr, mit der sie den Mord an Agamemnon vor ihrem geistigen Auge sah. Da ihre Geschichte schon abgeschlossen ist, darf sie nun sterben und ihre als tragisches Publikum beschriebene Familie in den Tiefen der Unterwelt wiedertreffen. In ihren letzten Worten prophezeit sie ihren Peinigern ein baldiges ruhmloses Ende, das diese in eine Tiefe stürzen wird, die derjenigen ähnelt, in der sich Cassandra momentan befindet (Sen. Ag. 1012):33 Cl. furiosa, morere. Ca. veniet et vobis furor. Cl. Stirb Wahnsinnige. Ca. Der Wahnsinn wird auch über euch kommen.
Nun ist Cassandra auch im Begriff, sich endgültig in eine Zuschauerin zu verwandeln, die den unendlichen Teufelskreis der in der oberen Welt stattfindenden überbietenden tragischen Nachahmungen aus der Unterwelt – aus einem im Vergleich sicheren, jenseits dieses Teufelskreis befindlichen Ort – verfolgen kann. 32 33
Shelton (1983), 177. Zur letzten Szene des Agamemnon siehe Boyle (1993), 207-208; Paratore (19881989); Marcucci (1996), 42-47.
4. Der Tod als Spektakel: Troades In den Troades gibt es zwar, wie in jeder anderen senecanischen Tragödie, ekphrastische Passagen, in denen übernatürliche, kaum vorstellbare Erscheinungen ausführlich beschrieben werden. Im Gegensatz zu den bereits besprochenen Beispielen scheint dabei jedoch das Motiv des Monströsen als Folie für das noch schrecklichere Bühnengeschehen eine weniger spürbare Rolle zu spielen. Diese auf den ersten Blick untergeordnete Funktion der visuellen aemulatio als eines Mittels der Affektsteigerung wird zum Teil dadurch kompensiert, dass der Schluss des Stückes wie ein Bühnenspiel konzipiert ist (und das in einem wesentlich wörtlicheren Sinne als es in den metatheatralischen Szenen des Agamemnon der Fall war). Von diesem Bühnenspiel wird überdies in einer im Grunde ekphrastischen Botenrede berichtet, die besonders viel Wert auf die Schilderung der emotionalen Reaktion eines internen Publikums legt und somit ein mögliches externes Rezeptionsparadigma konstituiert.1 Die narrative aemulatio nimmt in den Troades eine eigenartige Form an, die wesentlich komplexer ist, als alles, was wir bisher gesehen haben. Diese Komplexität besteht in erster Linie darin, dass nicht nur ein einziger narrativer Strang konsequent nachgespielt wird, sondern mehrere (zwar thematisch verbundene, jedoch voneinander unabhängige) mythologische Sujets. Außerdem spiegeln sich zwei der parallel verlaufenden Handlungen gegenseitig wider, was die Situation noch zusätzlich verkompliziert. Dies hat zur Folge, dass die Überbietung als eine eigenartige Verdoppelung eines nachzuspielenden „Originalstoffs“ betrachtet werden kann.2 Die Aufopferung von Priamus’ Tochter Polyxena an den Geist des Achill und die Hinrichtung von Hectors Sohn Astyanax nach der Eroberung Trojas stellten von der kyklischen Ilias Parva bis zu Buch 13 von Ovids Metamorphosen ein vielbehandeltes literarisches Motiv dar.3 Von den tragischen Bearbeitungen dieses Stoffes sind nur zwei Tragödien des Euripides, die Trojanerinnen und
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Vgl. Schiesaro (2003), 235-243. Zum „paratactic parallelism“ als dem wichtigsten strukturellen Prinzip in Senecas Troades siehe Owen (1970). Vgl. Lawall (1982); Boyle (1994), 18-37; Littlewood (2004), 90-102. Zu früheren literarischen Versionen der beiden Ereignisse siehe Fantham (1982), 5068; Boyle (1994), 15-18; Keulen (2001), 10-11.
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Hecuba, komplett überliefert.4 Beide Ereignisse geschehen in allen erhaltenen Versionen mehr oder weniger zeitgleich, allerdings unabhängig voneinander.5 Was die Motivation für die Ermordungen betrifft, so herrscht bei Senecas literarischen Vorgängern trotz gewisser Abweichungen im Detail ein weitgehender Konsens: Polyxena wird dem bereits verstorbenen Achill bei der Verteilung der menschlichen Beute unter den griechischen Kriegern, entweder durch die Volksversammlung oder weil der Geist der Achilles nach dem Blut eines trojanischen Mädchens verlangt, zugesprochen.6 Der Grund für die Hinrichtung des Astyanax besteht, wenn er überhaupt genannt wird, in der drohenden Gefahr, der kleine Junge werde zu einem heldenhaften Nachfolger seines Vaters heranwachsen und sich für die Zerstörung Trojas rächen.7 An Senecas Version fällt im Vergleich zu allen vorangegangenen besonders auf, dass er (nach seinem üblichen Muster) den Mord an den beiden trojanischen Gefangenen als ein Nachspielen früherer mythischer Ereignisse darstellt (die Opferung Polyxenas als Nachspielen der Opferung Iphigenias und die Hinrichtung des Astyanax als Nachspielen des Todes Hectors). Zudem – und darin liegt eine besondere Eigenart der Troades – verbindet er die Geschehnisse auf das Engste miteinander, sodass das eine als Abbild des anderen erscheint. Bevor ich mich mit den beiden Hinrichtungsdarstellungen im Einzelnen auseinandersetze, möchte ich mich darauf konzentrieren, wie Seneca diese beiden Ereignisse in einen gemeinsamen dramatischen Kontext integriert. Der gemeinsame Handlungsrahmen besteht in einer eigenartigen – postumen – Fortführung des Kampfes zwischen Achill und Hector. Da die Helden bereits tot sind, treten sie nun als Geister aus der Unterwelt hervor, um die Hinterbliebenen ihren unversöhnlichen Antagonismus spüren zu lassen. Beide Erscheinungen werden in typisch senecanischen ekphrastischen Passagen
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Zu Senecas Umgang mit seinen euripideischen Vorbildern in den Troades siehe Calder (1970); Fantham (1982), 71-75. E.g. Eur. Tr. 261-263 (Polyxena) Τα. Πολυξένην ἔλεξας ἢ τίν᾿ ἱστορεῖς; / Εκ. ταύταν· τῷ πάλος ἔζευξεν; / Τα. τύµβῳ τέτακται προσπολεῖν Ἀχιλλέως. 725 (Astyanax) ῥῖψαι δὲ πύργων δεῖν σφε Τρωικῶν ἄπο. Ov. Met. 13. 415-417 mittitur Astyanax illis de turribus, unde / pugnantem pro se proavitaque regna tuentem / saepe videre patrem monstratum a matre solebat. 13.429-473 (Polyxena), insb. 13.445-448 ‚immemores’que ‚mei discreditis’ inquit [sc. Achilles], ‚Achivi, / obrutaque est mecum virtutis gratia nostrae? / ne facite! utque meum non sit sine honore sepuclrum, / placet Achilleos mactata Polyxena manes.’ Eur. Tr. 247-277 (Volksversammlung); Eur. Hec. 37-41, Ov. Met. 13.439-526 (der Geist des Achill). Eur. Tr. 702-705 Εκ. καὶ παῖδα τόνδε παιδὸς ἐκθρέψειας ἂν / Τροίᾳ µέγιστον ὠφέληµ᾿, ἵν᾿ οἵ ποτε / ἐκ σοῦ γενόµενοι παῖδες Ἴλιον πάλιν / κατοικίσειαν καὶ πόλις γένοιτ᾿ ἔτι und 723 λέξας [sc. Ὀδυσσεύς] ἀρίστου παῖδα µὴ τρέφειν πατρός.
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beschrieben, die zahlreiche Ähnlichkeiten aufweisen.8 Sowohl Talthybius, dem sich der Geist des Achill offenbart, als auch Andromacha, der sich ihr verstorbener Mann Hector im Traum zeigt, berichten davon, dass sie die Vision mit lähmender Furcht erfüllte.9 In typisch ekphrastischer Manier, die die Illusion der visuellen Wahrnehmung bei dem Rezipienten verstärken soll, betonen beide zudem, dass sie diese jeglicher Glaubwürdigkeit trotzenden Erscheinungen mit eigenen Augen gesehen haben.10 Ferner (und völlig im Einklang mit der zentralen Rolle, die die Unterweltmotivik in allen Tragödien Senecas spielt) werden beide Gespenster als Offenbarungen der Geheimnisse des Tartarus präsentiert.11 Neben diesen offensichtlichen Ähnlichkeiten, die die Gestaltung dieser Offenbarungsszenen auszeichnen, lassen sich zwischen ihnen auch erhebliche Unterschiede feststellen, die mit besonderem Nachdruck hervorheben, dass es sich schließlich um die Fortsetzung des letzten Kampfes zwischen Achill und Hector handelt. Einer dieser Unterschiede besteht in den äußeren Umständen, genauer gesagt, in den Sichtbedingungen, unter denen die jeweilige Erscheinung stattfindet. Talthybius sieht Achill im Licht der morgendlichen Sonne, deren Aufgang den aus der Unterwelt Aufsteigenden begleitet (Sen. Tr. 170-171 summa iam Titan iuga / stringebat ortu, vicerat noctem dies).12 Andromacha dagegen erblickt Hector nachts im Traum, und berichtet, anstelle der von Talthybius besonders pointierten klaren Wahrnehmung, von „der Erstarrung ihres erschrockenen Verstandes“ (Sen. Tr. 442 mentis attonitae stupor). Dieser Kontrast zwischen den Wahrnehmungsmodalitäten der jeweiligen Offenbarung wird weiterhin dadurch verstärkt, dass die Erscheinungsbilder der beiden Toten grundverschiedene Momente ihrer jeweiligen heldenhaften Laufbahn festhalten. Achill tritt als Sieger auf, und zwar – was durch die rhetorisch wirksame Erwähnung dieses Ereignisses am Ende der Auflistung seiner Heldentaten ausdrücklich betont wird – in erster Linie als Sieger über Hector (Sen. Tr. 181-189): emicuit ingens umbra Thessalici ducis, Threicia qualis arma proludens tuis iam, Troia, fatis stravit aut Neptunium cana nitentem perculit iuvenem coma, 8 9
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J.-P. Aygon spricht in diesem Zusammenhang von portraits en écho: Aygon (2004), 382-385. Vgl. Sen. Tr. 168 (Talthybius) pavet animus, artus horridus quassat tremor; 435-436 (Andromacha) hic proprie meum / exterret animum, noctis horrendae sopor. Dazu siehe Walde (2001), 361-372. Sen. Tr. 169-170 (Talthybius) maiora veris monstra (vix capiunt fidem) / vidi ipse, vidi; 443 (Andromacha) cum subito nostros Hector ante oculos stetit. Sen. Tr. 178-180 (Talthybius) tum scissa vallis aperit immensos specus / et hiatus Erebi pervium ad superos iter / tellure fracta praebet ac tumulum levat; 430-431 (Andromacha) Stygis profundae claustra et obscuri specus / laxantur. Vgl. Schmitz (1991), 175-183.
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Ekphrasis und Metatheater aut cum inter acies Marte violento furens corporibus amnes clusit et quaerens iter tardus cruento Xanthus erravit vado, aut cum superbo victor in curru stetit egitque habenas Hectorem et Troiam trahens. Der riesenhafte Schatten des thessalischen Anführers sprang hervor, so wie er, sich auf dein, Troja, fatales Ende vorbereitend, die thrakischen Waffen niederschmetterte oder den mit schneeweißem Haar glänzenden Sohn Neptuns zu Boden warf oder wie er inmitten der Schlachtreihen in grauenvollem Gemetzel rasend Ströme mit Leichen versperrte, und der Xanthus, nach dem Weg suchend, aus seinem blutigen Flussbett langsam trat, oder wie er siegreich in seinem majestätischen Wagen stand und die Zügel lenkte, Hector und Troja schleifend.
Aber nicht nur die Auflistung seiner größten kriegerischen Errungenschaften dient dazu, seine unantastbare Siegerpose zu unterstreichen. Dass er nun mit unverhohlener Drohung den ihm zustehenden Teil der menschlichen Kriegsbeute einfordert, fasst Achill selbst als Wiederaufnahme seines berüchtigten Zorns auf, der den Ausgangspunkt der homerischen Ilias bildet (Sen. Tr. 191-196):13 ‘ite, ite, inertes, debitos manibus meis auferte honores, solvite ingratas rates per nostra ituri maria. non parvo luit iras Achillis Graecia et magno luet: desponsa nostris cineribus Polyxene Pyrrhi manu mactetur et tumulum riget.’ ‚Geht, geht, ihr Feiglinge, entzieht die Ehren, die ihr meinen Manen schuldet, löst die undankbaren Schiffe, um durch meine Meere zu fahren. Es hat Griechenland nicht wenig gekostet, den Zorn Achills abzuwenden, viel wird es noch kosten: Polyxena, mit meiner Asche verlobt, werde mir von Pyrrhus’ Hand geopfert und benetze mein Grab.’
Der offenkundige Parallelismus zwischen den Gründen für die hier geschilderte ira und die am Anfang der Ilias im Mittelpunkt stehende µῆνις (Hom. Il. 1.1) hebt zusätzlich hervor, dass wir es hier mit dem unbesiegbaren homerischen Helden zu tun haben. Das Verlangen des toten Achill nach dem Blut der Polyxena unterscheidet sich kaum von seinem Verlangen nach dem Körper der Briseis zu Lebzeiten. Auch in diesem Fall hat der durch die ausbleibende Erfüllung dieses Begehrens verursachte Zorn verheerende, aus dem homerischen Präzedenzfall wohlbekannte, Konsequenzen: Die Tatsache, dass sich Agamemnon, der damals Achills Beute Briseis für sich beanspruchte, dieses Mal wieder 13
Vgl. Boyle (1994), 155-156; Boyle (1997), 71.
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mit allen Kräften darum bemüht, dem Helden seinen Anteil der menschlichen Beute vorzuenthalten, verstärkt diesen Parallelismus noch weiter.14 Hector erscheint dagegen als Besiegter, als einer, der jegliche Hoffnung aufgegeben hat (Sen. Tr. 443-450): cum subito nostros Hector ante oculos stetit, non qualis ultro bella in Argivos ferens Graias petebat facibus Idaeis rates, nec caede multa qualis in Danaos furens vera ex Achille spolia simulato tulit; non ille vultus flammeum intendens iubar, sed fessus et deiectus et fletu gravis similisque nostro, squalida obtectus coma. ... als plötzlich Hector vor meinen Augen stand, nicht so, wie er, den Krieg gegen die Argiver führend, die griechischen Schiffe mit idäischen Fackeln angriff, nicht, wie er im ergiebigen Morden gegen die Danaer raste und eine wahre Beute von einem vorgetäuschten Achill nahm; nicht jenes mit feurigem Glanz leuchtende Gesicht, sondern müde, zu Boden gesenkt, vom Weinen beschwert, meinem eigenen ähnlich, mit zerzausten Haaren bedeckt.
Mehr noch: Der Hector, mit dem wir hier konfrontiert werden, ist kein homerischer ruhmreicher Held (dies wird explizit durch eine Reihe von Negationen betont), sondern wird sofort als der Hector erkennbar, der sich Aeneas beim Untergang Trojas in Buch 2 der Aeneis zeigte (Verg. Aen. 2.270-276): in somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector visus adesse mihi largosque effundere fletus, raptatus bigis ut quondam, aterque cruento pulvere perque pedes traiectus lora tumentis. ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo Hectore qui redit exuvias indutus Achille vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis! Siehe, da war mir im Traum so, als stehe mir Hector vor Augen, in tiefster Trauer, und vergieße reichliche Tränen, so wie er einst war, als er vom Zweigespann dahingeschleift worden war, schwarz vom blutigen Staub, seine aufgeschwollenen Füße durchbohrt mit Riemen. Weh mir, wie sah er aus, wie sehr er sich vom Hector unterschied, der die Rüstung Achills tragend zurückkam oder das phrygische Feuer auf die Schiffe der Danaer schleuderte.
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Wilson (1983), 33-36.
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Nicht nur das Auftreten des senecanischen Hector basiert auf dem seines vergilischen Prototyps. Auch die bei Seneca angeführte Begründung für seine Erscheinung stammt direkt aus eben dieser Szene des zweiten Buches der Aeneis. Bei Vergil sucht Hector Aeneas bekanntlich auf, um ihn dazu aufzufordern, das zu retten, was noch von Troja übrig ist (Verg. Aen. 2.289-295): ‚heu fuge, nate dea, teque his’ ait ‚eripe flammis. hostis habet muros; ruit alto a culmine Troia. sat patriae Priamoque datum: si Pergama dextra defendi possent, etiam hac defensa fuissent. sacra suosque tibi commendat Troia penatis; hos cape fatorum comites, his moenia quaere magna pererrato statues quae denique ponto.’ ‚Weh, fliehe, Sohn der Göttin,’ sagt er, ‚und entreiße auch dich diesen Flammen. Der Feind hat schon die Stadtmauern erobert; Troja stürzt vom hohen Gipfel. Genug ist das Vaterland und für Priamus getan: wenn Pergamum durch Menschenhand beschützt werden könnte, wäre es durch meine beschützt worden. Troja vertraut dir die heiligen Bräuche und seine Penaten an; nimm sie als Begleiter deines Schicksals; für sie suche gewaltige Mauern, die du nach deinen Irrfahrten über das Meer schließlich gründen wirst.
Eine ähnliche Bitte richtet Hector bei Seneca an Andromacha (die Verwendung des Imperativs eripe am Anfang der senecanischen Rede verstärkt die ohnehin offensichtliche intertextuelle Verbindung) (Sen. Tr. 452-456):15 ‚dispelle somnos’ inquit ‚et natum eripe, o fida coniunx: lateat, haec una est salus. omitte fletus – Troia quod cecidit gemis? utinam iaceret tota. festina, amove quocumque nostrae parvulam stirpem domus.’ Er sagt: ‚Jage den Schlaf weg und bringe unseren Sohn fort, treue Gattin: möge er verborgen bleiben, dies ist die einzige Rettung. Lass die Tränen – weinst du, weil Troja gefallen ist? O läge es ganz darnieder! Beeile dich, bringe weg, wohin auch immer es sein mag, den kleinen Spross unseres Hauses.’
Demnach verwandelt sich Andromacha in dieser Episode in eine Art Aeneas. Genauso wie er soll sie nun den noch verbleibenden Rest bewahren, aus dem Troja später wiedergeboren werden könnte. Astyanax erscheint somit fast wie 15
Weitere Verbindungen zwischen Senecas Darstellung von Andromacha und Vergils Aeneis werden von Andrew Zissos (2008, 199-209) ausführlich besprochen.
Troades
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Aeneas’ Sohn Ascanius, dessen Nachkommen Troja neu gründen sollen.16 Die von Andromacha beteuerte Hoffnung, dass Astyanax zu einem neuen Hector heranwachsen könnte,17 entspricht dabei der in der Aeneis propagierten Vorstellung, die Nachkommen des Aeneas seien symbolische Reinkarnationen dieses Urahnen des römischen Volkes. Im Prinzip wird hier also ein Versuch unternommen, das von der Aeneis vorgegebene Szenario nachzuspielen, in welchem der niedergeschlagene Hector erscheint, um den Hinterbliebenen eine Zukunftshoffnung zu geben. Die Art und Weise, auf die hier dieser Versuch misslingt, betont das Motiv des Sieges Achills über Hector, das, wie wir bereits gesehen haben, den beiden Offenbarungsszenen zugrunde liegt. Andromachas Versuch, Aeneas als Retter der letzten Überreste seiner Familie nachzuahmen, ist natürlich von vorneherein zum Scheitern verurteilt, da sie sich im Gegensatz zu Aeneas in Gefangenschaft befindet und folglich keine Möglichkeit hat, aus Troja zu fliehen. Auch ihren Sohn kann sie nur schwerlich verbergen, denn die Stadt ist so zerstört, dass sie keine brauchbaren Versteckmöglichkeiten mehr bietet (Sen. Tr. 476-481). Die grausame Ironie der Situation besteht jedoch hauptsächlich darin, dass der einzige Ort, der laut Andromacha als Zufluchtstätte für Astyanax in Frage komme, das Grab dessen Vaters Hector sei.18 Wenn Andromacha ihren Sohn ihrem verstorbenen Mann anvertraut, wirkt es so, als sende sie ihn auf eine Reise in die Unterwelt (Sen. Tr. 519-521):19 dehisce tellus, tuque, coniunx, ultimo specu revulsam scinde tellurem et Stygis sinu profundo conde depositum meum. Öffne dich, Erde, und du, Gatte, zerteile die Erde, bis zu der tiefsten Höhle sie aufreißend, und verbirg im tiefen Schoß der Styx mein anvertrautes Gut.
Diese dunkle Vorahnung des sich unausweichlich nähernden Todes erweist sich im weiteren Verlauf der Handlung als prophetisch. Von Odysseus erfährt Andromacha, dass die Griechen Astyanax hinrichten wollen und deswegen 16 17
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Vgl. Fantham (1982), 281-282; Schiesaro (2003), 194-196. Sen. Tr. 469-474 o nate sero Phrygibus, o matri cito, / eritne tempus illud ac felix dies / quo Troici defensor et vindex soli / recidiva ponas Pergama et sparsos fuga / cives reducas, nomen et patriae suum / Phrygibusque reddas? Sen. Tr. 483-486 est tumulus ingens coniugis cari sacer, / verendus hosti, mole quem immensa parens / opibusque magnus struxit, in luctus suos / rex non avarus: optume credam patri. Vgl. Sen. Ph. 1238-1240 dehisce, tellus, recipe me dirum chaos, / recipe, haec ad umbras iustior nobis via est: / gnatum sequor. Sen. Oe. 868-870 dehisce, tellus, tuque tenebrarum potens, / in Tartara ima, rector umbrarum, rape / retro reversas generis ac stirpis vices.
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überall nach ihm suchen (Sen. Tr. 524-555). Für Odysseus ist es natürlich ein Leichtes, Andromachas Täuschungsmanöver (Astyanax sei, wie die meisten anderen Trojaner, unter den Trümmern der Stadt verschollen) als solches zu durchschauen.20 Er stellt sie vor folgende Wahl: Wenn Astyanax tatsächlich tot sei (oder sie den Ort, an dem sie ihn versteckt halte, nicht verraten wolle), solle als Kompensation für die nicht stattfindende Hinrichtung des Sohnes das Grab des Vaters geebnet werden (Sen. Tr. 634-641). Erst jetzt wird das wahre Ausmaß der dieser Episode zugrundeliegenden grausamen Ironie deutlich, denn die Tatsache, dass das Versteck mit dem Grab identisch ist, macht die Rettung des Astyanax zu einer schlicht unmöglichen Aufgabe. Der Hauptgrund, warum Andromacha die Zufluchtstätte verrät, besteht natürlich in dem Bestreben, zu verhindern, dass ihr Sohn durch den Zusammensturz des Grabes seines Vaters ums Leben kommt (Sen. Tr. 686-691): quid agis? ruina mater et gnatum et virum prosternis una? forsitan Danaos prece placare poteris. conditum elidet statim immane busti pondus – intereat miser ubicumque potius, ne pater natum obruat prematque patrem natus. Was tust du? Du, die Mutter, vernichtest mit einem Schlag deinen Sohn und deinen Ehemann? Vielleicht kannst du noch die Danaer durch Bitten besänftigen? Das gewaltige Gewicht des Grabhügels wird den Verborgenen sofort zerquetschen – der Unglückliche gehe lieber zugrunde, wo auch immer es sei, möge nur der Vater nicht den Sohn begraben oder der Sohn auf dem Vater lasten.
Besonders bemerkenswert an diesem hypothetischen Szenario ist, dass es ein ziemlich genaues Echo zur geplanten rituellen Ermordung der Polyxena bildet: Astyanax könnte nun am Grab des Hector sterben – so wie Polyxena am Grab des Achill. Andromachas Verrat an Astyanax konstituiert somit den letzten verzweifelten Versuch, zu unterbinden, dass ein weiterer Familienangehöriger nach einem von Achill diktierten Muster stirbt. Dieser Versuch scheitert jedoch genauso kläglich wie ihr erster, von Aeneas inspirierter, Versuch, Astyanax zu retten. Wie wir nämlich sehen werden, wird Astyanax schließlich in unmittelbarer Nähe von Hectors Grab hingerichtet – in gleicher Weise wie Polyxena an Achills Grab geopfert wird. Der unendliche Teufelskreis der literarischen Nachahmungen, in dem die Charaktere der Troades gefangen sind, ist damit aber noch lange nicht abge20
Sen. Tr. 568-570 simulata remove verba; non facile est tibi / decipere Ulixem: vicimus matrum dolos / etiam dearum. Zu dieser Szene siehe Aygon (2005). Zur Gestalt des Odysseus in Senecas Troades siehe Föllinger (2005).
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schlossen. Wie ich bereits erwähnt habe, sind die beiden am Ende der Tragödie stattfindenden Ermordungen ebenso als Nachspielungen anderer mythologischer Sujets zu verstehen. Im Falle der Opferung Polyxenas werden immer wieder Details betont, die die Ähnlichkeit mit der Opferung Iphigenias hervorheben. Die Rede des Talthybius, in der er von der Erscheinung des Geistes des Achill berichtet, beginnt mit dem Verweis auf die exakte Symmetrie zwischen dem Beginn und dem Ende des trojanischen Krieges: Wie damals hat die griechische Flotte auch jetzt Schwierigkeiten, den Hafen zu verlassen (Sen. Tr. 164-165):21 o longa Danais semper in portu mora, seu petere bellum, petere seu patriam volunt. O Verzögerung, die die Danaer immer im Hafen lange verweilen lässt, ob sie in den Krieg ziehen oder in die Heimat fahren wollen.
Darüber hinaus übernimmt der Geist des Achill nun die Rolle der Artemis, die einst die griechische Flotte in Aulis festhielt, bis ihr Agamemnons Tochter Iphigenia geopfert wurde: Jetzt ist er es, der den Aufbruch der Griechen verhindert, was er erst dann aufzugeben bereit ist, wenn ihm ein junges Mädchen (in diesem Fall Priamus’ Tochter Polyxena) geopfert würde.22 Es ist bezeichnend, dass bei Seneca anstelle des Dialogs in Euripides’ Hecuba, in dem Odysseus Hecuba die Gründe für die Ermordung ihrer Tochter nahe legt (Eur. Hec. 218341), ein Gespräch zwischen Achilles’ Sohn Pyrrhus und Agamemnon stattfindet. Das kraftvollste Argument des Pyrrhus gegen Agamemnons Bedenken an der Zweckmäßigkeit eines weiteren unschuldigen Opfers besteht darin, dass jemand, der so kaltblütig seine eigene Tochter geopfert hat, niemals als überzeugender Anwalt für die Tochter seines besiegten Erzfeindes auftreten könnte (Sen. Tr. 246-249): dubitatur etiam? placita nunc subito improbas Priamique natam Pelei gnato ferum mactare credis? at tuam gnatam parens Helenae immolasti: solita iam et facta expeto. Zögerst du noch? Beschlossenes lehnst du nun plötzlich ab und glaubst, es sei unzivilisiert, die Tochter des Priamus dem Sohn des Peleus aufzuop21
22
Bezeichnend ist, dass dieser symmetrische Aufbau, wie so viele andere Motive in den Troades, letztendlich auch auf das zweite Buch der Aeneis zurückgeht, nämlich auf Sinons fingierten Bericht von seiner von Odysseus inszenierten und von Calchas angekündigten Hinrichtung: Verg. Aen. 2.116-119 „sanguine placastis ventos et virgine caesa, / cum primum Iliacas, Danai, venistis ad oras; sanguine quaerendi reditus animaque litanda / Argolica.“ Vgl. Boyle (1997), 71; Littlewood (2004), 92-95.
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Ekphrasis und Metatheater fern? Doch deine Tochter hast du, der Vater, für Helena schlachten lassen: ich verlange Vertrautes und bereits Getanes.
Als wollte er den Parallelismus zwischen den beiden Ereignissen zusätzlich stärken, lässt Seneca den Propheten Calchas den Willen des Achill bestätigen – genauso wie er im Iphigenia-Mythos den Willen der Artemis verkündet.23 Damit enden die Ähnlichkeiten allerdings noch lange nicht. In Euripides’ Iphigenia in Aulis wird Iphigenias Opferung als ihre Hochzeit mit Achill inszeniert.24 Bei Seneca soll Polyxena nun, wie Calchas ausdrücklich betont, mit Achill auf grausame Weise – durch ihren Tod – ‚vermählt’ werden (Sen. Tr. 360-365): dant fata Danais quo solent pretio viam: mactanda virgo est Thessali busto ducis; sed quo iugari Thessalae cultu solent Ionidesve vel Mycenaeae nurus, Pyrrhus parenti coniugem tradat suo: sic rite dabitur. Das Schicksal erlaubt den Danaern um den gewohnten Preis die Fahrt: eine Jungfrau muss auf dem Grab des thessalischen Anführers geschlachtet werden; doch im Brautgewand, in dem sich thessalische, jonische und mykenische Frauen zu vermählen pflegen; Pyrrhus übergebe seinem Vater die Braut: so wird sie ihm gebührend übergeben.
Zudem besteht der ursprüngliche Plan der Griechen, Polyxena zu ihrer eigenen Hinrichtung zu locken, darin, eine Hochzeit mit Achilles’ Sohn Pyrrhus vorzutäuschen (Sen. Tr. 876-878): nam te Pelasgae maximum gentis decus, cui regna campi lata Thessalici patent, ad sancta lecti iura legitimi petit. Denn dich bietet des pelasgischen Volkes größter Glanz, dem sich das Königreich weit über thessalische Gefilde erstrecket, zum heiligen Recht eines gesetzmäßigen Ehebettes.
Da Polyxena im Gegensatz zu Iphigenia nur mehr eine Kriegsgefangene ist, die allen Befehlen ihrer neuen Herren gehorchen muss, scheint es für dieses höfliche Täuschungsmanöver keine andere Veranlassung zu geben, als eine weitere Ähnlichkeit mit dem Schicksal Iphigenias zu evozieren. In anderen Worten wird 23 24
Vgl. Sen. Tr. 360-370 und Eur. IA 89-90 Κάλχας δ᾿ ὁ µάντις ἀπορίᾳ κεχρηµένοις / ἀνεῖλεν Ἰφιγένειαν ἣν ἔσπειρ᾿ ἐγὼ / Ἀρτέµιδι θῦσαι τῇ τόδ᾿ οἰκούσῃ πέδον. Eur. IA 98-100 κἀν δέλτου πτυχαῖς / γράψας ἔπεµψα πρὸς δάµαρτα τὴν ἐµὴν / πέµπειν Ἀχιλλεῖ θυγατέρ᾿ ὡς γαµουµένην.
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die gesamte Ereigniskette als Nachspielung der Iphigenia-Geschichte dargestellt, die hier in einer ähnlichen Situation von der nächsten Generation wiederaufgeführt wird. Die Hinrichtung des Astyanax wird auf eine ähnliche Weise inszeniert. Mit viel mehr Nachdruck als seine Vorgänger weist Seneca darauf hin, dass der Grund, warum Astyanax sterben muss, darin besteht, dass er potenziell zu einem neuen Hector heranwachsen könnte (Sen. Tr. 550-551 magna res Danaos movet, / futurus Hector: libera Graios metu).25 Es wird außerdem ausdrücklich betont, dass Astyanax genau von dem Turm heruntergeworfen wird, von dem aus ihm sein Großvater Priamus die Kämpfe Hectors zu zeigen pflegte (Sen. Tr. 1076 paterna puero bella monstrabat senex). Die Tatsache, dass ausgerechnet Achills Sohn Pyrrhus die Hinrichtung von Hectors Sohn Astyanax durchführt, erhält in diesem Kontext eine besondere Bedeutung. Wie im Falle der Opferung Iphigenias wird auch hier eine Episode aus dem Leben Achills (diesmal die Tötung Hectors) haargenau in die nächste Generation übertragen. Des Weiteren verbindet Seneca die beiden Hinrichtungen, die in anderen literarischen Versionen rein chronologisch – in keinem direkten Zusammenhang miteinander – stattfinden,26 durch eine eigenartige Kausalität. Obgleich Agamemnon anfangs Zweifel an der Notwendigkeit, den Befehl des verstorbenen Achill zu befolgen, äußerte, gibt er unter dem Ansturm des Pyrrhus nach und ordnet an, den Propheten Calchas zu befragen. In seiner Antwort liefert der Seher nicht nur eine dezidierte Bestätigung von Achilles’ Willen, sondern fügt außerdem die Hinrichtung des Astyanax hinzu (Sen. Tr. 365-370): non tamen nostras tenet haec una puppes causa: nobilior tuo, Polyxene, cruore debetur cruor. quem fata quaerunt, turre de summa cadat Priami nepos Hectoreus et letum oppetat. tum mille velis impleat classis freta. Doch hält nicht dieser Grund allein unsere Schiffe fest: ein Blut, edler als das deine, Polyxena, schulden wir. Derjenige, nach dem das Schicksal verlangt, stürze vom höchsten Turn herunter, Priamus’ Enkel und Hectors Sohn, und begegne dem Tod. Dann mag die Flotte mit tausend Segeln das Meer füllen.
Wir haben es demnach offensichtlich mit einem weiteren Beispiel der typisch senecanischen narrativen aemulatio zu tun, in deren Verlauf ein mythologischer 25
26
Vgl. Eur. Tr. 723 λέξας [sc. Ὀδυσσεύς] ἀρίστου παῖδα µὴ τρέφειν πατρός. Das Thema einer hypothetischen Zukunft des Astyanax wird ausführlich von Susanna Phillippo (2007-2008) behandelt. Vgl. Eur. Tr. 247-277 und 790-739; Ov. Met. 13.415-473.
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Präzedenzfall überboten wird (nobilior tuo ... cruore debetur cruor): Während Polyxenas Wert als Königstochter dem Wert der in der ursprünglichen Geschichte geopferten Iphigenia entspricht, wird der Sohn des größten trojanischen Helden, was nach der hier propagierten heroischen Moral selbstverständlich ist, noch höher eingestuft. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass das nachzuahmende Ereignis nicht nur überboten, sondern auch verdoppelt wird.27 Der Schluss von Senecas Troades, der dem Ende von Euripides’ Iphigenia in Aulis weitgehend nachempfunden ist,28 bestätigt diesen Eindruck noch weiter: Anstelle der ihren Tod freiwillig akzeptierenden Iphigenia begegnen uns zwei dem Tod mit heldenhafter Selbstbeherrschung entgegentretende Hinrichtungsopfer. Auf den theatralischen Charakter der Bühnenereignisse macht Seneca dadurch aufmerksam, dass jeder Handlungsabschnitt wenigstens einen berühmten mythischen Stoff nachzuahmen scheint. Dass es sich wirklich um ein Schauspiel handelt, zeigt sich ferner darin, dass Schauspiel in den Troades immer dazu dient, wahre Tatsachen zu vertuschen, und dass dieses offensichtliche Schauspielern immer zum Scheitern verurteilt ist. Wie in der Phaedra erweist sich somit die in der Mythologie verwurzelte Kausalität als bloße Fiktion. Die Phaedra hat allerdings primär die unvermeidlich zu einem tragischen Ende führende Konfrontation zwischen rational konstruierten Diskursen und der wesentlich weniger rationalen Welt zum Inhalt. In den Troades hingegen geht es um die Konfrontation zwischen dem Individuum und den ideologisch motivierten Mythen, die die Mächtigen zur Bändigung des Individuums heranziehen. Der Dialog zwischen Pyrrhus und Agamemnon, in dem sie über die Zweckmäßigkeit der Opferung Polyxenas diskutieren, ist in dieser Hinsicht besonders bezeichnend. In erster Linie fällt auf, dass keiner der beiden Gesprächspartner auf die übernatürliche Erscheinung des Geistes Achills Bezug nimmt. Pyrrhus’ Argumente für die Opferung bestehen keinesfalls darin, dass es ein schlechtes Omen wäre, den Willen einer aus den Tiefen der Unterwelt aufsteigenden Seele zu verletzen. Er führt vielmehr einen im heroischen Ethos verwurzelten Vergleich zwischen weniger verdienstvollen Helden, die alle ihren Teil der Beute bereits erhalten haben, und dem eigentlichen Sieger über Troja an, der offenbar leer ausgeht (Sen. Tr. 207-210): velis licet quod petitur ac properes dare, sero es daturus: iam suum cuncti duces tulere pretium. quae minor merces potest tantae dari virtutis? Selbst wenn du nun wolltest, ja wenn du eiltest, ihm das zu geben, wonach er verlangt, wirst du es zu spät geben: alle Anführer haben bereits ihren 27 28
Vgl. Schiesaro (2003), 190-202; Fischer (2008), 209-210. Fantham (1982), 89-90; Littlewood (2004), 101.
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Preis erhalten. Welche geringere Belohnung kann man solch großer Tapferkeit geben?
Auch in Agamemnons Antwort auf Pyrrhus’ Rede bleibt die übernatürliche Motivation, die die Handlung mit dem Auftreten des Geistes Achills zu bestimmen scheint, völlig außen vor. Ohne die vermeintliche Unantastbarkeit einer solchen Vision zu beachten, schildert er die geplante Opferung Polyxenas als sinnlosen, unmoralischen Akt und betont, dass nach der endgültigen Zerstörung Trojas Zurückhaltung und Milde mehr Vorteile bringen könnten als die bereits überholte Grausamkeit des Krieges (Sen. Tr. 255-259): quid caede dira nobiles clari ducis aspergis umbras? noscere hoc primum decet, quid facere victor debat, victus pati. violenta nemo imperia continuit diu, moderata durant. Warum besudelst du den edlen Schatten des ruhmreichen Anführers mit grauenhaftem Mord? Es ziemt sich vor allem dies zu erkennen, was der Sieger tun und der Besiegte ertragen muss. Niemand hat mit Gewalt ausgeübte Herrschaft lange behalten, gemäßigte dauert an.
Anders gesagt zeigt sich Agamemnon hier als Idealbild eines milden Herrschers, der den blinden Glauben an traditionelle mythisch-religiöse Vorstellungen ablehnt und seine Entscheidungen stattdessen aufgrund von rein rationalen – ethischen – Überlegungen trifft.29 Auf Pyrrhus’ wiederholte Nachfrage hin kontrastiert Agamemnon den ewigen poetischen Ruhm, den er als den einzig gebührenden Lohn für die Taten eines Helden darstellt, mit dem barbarischen und für einen Helden geradezu beleidigenden Menschenopfer (Sen. Tr. 292300): Py. nullum Achillis praemium manes ferent? Ag. ferent, et illum laudibus cuncti canent magnumque terrae nomen ignotae audient. quod si levatur sanguine infuso cinis, opima Phrygii colla caedantur greges fluatque nulli flebillis matri cruor. quis iste mos est? quando in inferias homo est impensus hominis? detrahe invidiam tuo odiumque patri, quem coli poena iubes. Py. Werden Achills Manen keinen Preis davontragen? Ag. Doch, das werden sie, und alle werden ihn in Liedern loben, und unbekannte Länder 29
Dazu siehe Fantham (1982), 248-253.
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Ekphrasis und Metatheater werden seinen großen Namen hören. Wenn sich seine Asche durch vergossenes Blut erquicken lässt, dann soll man die fetten Hälse einer phrygischen Herde schlachten, dann soll Blut fließen, das keine Mutter zum Weinen bringt. Was ist das für eine Sitte? Wann ist jemals ein Mensch als Totenopfer für einen anderen Menschen dargebracht worden? Wende den Hass und den Missgunst von deinem Vater ab, den du durch Strafe zu ehren befiehlst.
Aus dieser aufgeklärten Sicht erscheint die übernatürliche Begründung der geplanten Gräueltat als eine offensichtliche Kaschierung ihres wahren – ziemlich banalen und niedrigen – Grundes, der nur darin besteht, sich erneut an den Besiegten zu rächen. Das einzig Problematische an dieser aufgeklärten Rede ist, in der das Menschenopfer als ein Akt von unerhörter Grausamkeit bezeichnet wird, ist, dass sie aus dem Munde Agamemnons stammt und dadurch ihre komplette Überzeugungskraft einbüßt. Wie Pyrrhus bereits dargelegt hat, opferte dieser sogar die eigene Tochter – und das nicht einmal auf Befehl des größten Helden aller Zeiten, sondern wegen einer leichtsinnigen Ehebrecherin (Sen. Tr. 248-249 at tuam gnatam parens / Helenae immolasti; vgl. 331 iamne immolari virgines credis nefas?). Man bekommt, gestützt durch die skeptischen Bemerkungen des Pyrrhus, den Eindruck, dass Agamemnon durch die Ablehnung eines neuen Menschenopfers seine zu spät empfundene Scham für die Opferung seiner Tochter zum Ausdruck bringen will und durch die Anwendung dieser aufgeklärten Denkweise Absolution zu erlangen sucht. Dadurch, dass die rationale Kritik an der übernatürlichen Kausalität von einer durch und durch kompromittierten Figur vorgetragen wird, kann das Übernatürliche erst recht die Oberhand gewinnen: Tiresias, der in dem ausweglosen Disput zwischen Pyrrhus und Agamemnon vermitteln soll (Sen. Tr. 351-352 potius interpres deum / Calchas vocetur: fata si poscent, dabo), bestätigt nicht nur den ursprünglichen Willen des Achill, sondern erweitert ihn um ein zweites Opfer. Der Zusammenprall der Diskurse – dem heroischen des Pyrrhus, dem aufgeklärt philosophischen des Agamemnon und dem religiösen des Calchas – lässt alle drei wie substanzlose, schauspielerische Posen erscheinen, die man einnimmt, um einen persönlichen bzw. politischen Nutzen oder einen beeindruckenden Effekt zu erreichen.30 Als Drahtzieher hinter der vornehmen Fassade des religiösen Diskurses entpuppt sich im weiteren Verlauf der Tragödie Odysseus, der sich im Gegensatz zu allen anderen Figuren nicht einmal die Mühe macht, seine rein politischen Ziele hinter einem übernatürlichen Deckmantel zu verhüllen (Sen. Tr. 526-535): Graiorum omnium procerumque vox est, petere quos seras domos 30
Littlewood (2004), 91-93.
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Hectorea suboles prohibet: hanc fata expetunt. sollicita Danaos pacis incertae fides semper tenebit, semper a tergo timor respicere coget arma nec poni sinet, dum Phrygibus animos natus eversis dabit, Andromacha, vester. augur haec Calchas canit; et, si taceret augur haec Calchas, tamen dicebat Hector, cuius et stirpem horreo. Es ist die Stimme aller Griechen und ihrer Anführer, die Hectors Sprössling, eine verspätete Heimreise anzutreten verhindert. Nach ihm verlangt das Schicksal. Der ängstliche Glaube an einen unsicheren Frieden wird die Danaer immer beherrschen, die Furcht im Rücken wird sie immer zurückzuschauen zwingen und wird sie nicht die Waffen niederlegen lassen, solange euer Sohn, Andromacha, den besiegten Phrygern Mut geben wird. Dies weissagt der Vogelschauer Calchas. Und auch wenn der Vogelschauer Calchas dies verschwiege, so pflegte es Hector zu sagen, von dem ich sogar den Nachkommen fürchte.
Auf der einen Seite gibt Odysseus vor, im Auftrag des verstorbenen Achill zu handeln und sich auf die Prophezeiung des Calchas zu stützen. Auf der anderen Seite lässt er jedoch durchblicken, dass der religiöse Diskurs nichts anderes als ein vollkommen durchsichtiger Vorwand für den wahren – politisch motivierten – Grund für die Ermordung des Astyanax ist, der mit der Autorität des Weissagers gar nichts zu tun hat und nur in der Angst vor einem „neuen Hector“ besteht. Somit ist der berechnende Zyniker Odysseus wesentlich ehrlicher als Pyrrhus oder Agamemnon, die in ihrem Umgang mit der bevorstehenden Gräueltat auch auf vorgegebene Denkmuster zurückgreifen. Auch andere Charaktere werden gezwungen, in Rollen zu schlüpfen. Nachdem Andromacha Astyanax unter dem Grab Hectors versteckt hat, gibt sie im Gespräch mit Odysseus vor, ihr Sohn sei wie die Mehrheit der trojanischen Bevölkerung bei der Eroberung der Stadt ums Leben gekommen (Sen. Tr. 570571). Sie spielt also die Rolle einer trauernden Mutter. Odysseus gelingt es ihren Betrug aufzudecken, indem er sie aus dieser Rolle herausfallen lässt: Nachdem sie gehört hat, auf welche Weise die Griechen ihren Sohn umbringen wollen, verliert sie kurzfristig die Fassung, zeigt durch ihr plötzlich aufkommendes Mitleid, dass Astyanax noch lebt, und entlarvt sich selbst als schlechte Schauspielerin (Sen. Tr. 625-626): intremuit: hac, hac parte quaerenda est mihi; matrem timor detexit: iterabo metum. Sie zitterte: Von dieser, ja von dieser Seite muss ich sie auf die Probe stellen. Angst verriet die Mutter: ich werde die Angst erneuern.
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Als Helena im darauffolgenden Akt vorgibt, Polyxena die gute Nachricht ihrer bevorstehenden Hochzeit mit Pyrrhus zu überbringen, fällt es Andromacha nicht mehr schwer, dieses ungeschickte Schauspiel zu durchschauen.31 Aus ihrer Interaktion mit Odysseus weiß sie bereits viel zu gut, dass die Griechen Mythos und Religion lediglich als Mittel benutzen, konkrete politische Ziele durchzusetzen. Deswegen fordert sie Helena auf, ihre gezwungene Theatralik aufzugeben und das wahre Vorhaben der Griechen zu verraten (Sen. Tr. 927-933): fare quos Ithacus dolos, quae scelera nectat; utrum ab Idaeis iugis iactanda virgo est, arcis an celsae edito mittenda saxo? num per has vastum in mare volvenda rupes, latere quas scisso levat altum vadoso Sigeon spectans sinu? dic, fare, quidquid subdolo vultu tegis. Sag, welche Listen, welche Verbrechen der Ithaker plant. Soll die Jungfrau vom Ida-Berg geworfen oder vom emporragenden Felsen der hohen Burg gestürzt werden? Soll sie über diese Klippen, die das hohe Sigeon, auf seine seichte Bucht schauend, mit zerklüfteter Flanke erhebt, ins breite Meer geschleudert werden? Sprich, sag, was auch immer du mit deinem verlogenen Gesicht verbirgst.
Das Besondere an den Troades ist, dass das Schauspiel keine bloße Metapher bleibt. Das Stück endet mit einem regelrechten Spektakel, das in einer explizit theatralischen Atmosphäre aufgeführt wird.32 Im letzten Akt der Tragödie werden wir mit zwei Hinrichtungen, und dementsprechend mit zwei Bühnen und zwei Zuschauerräumen konfrontiert. Die Hinrichtung des Astyanax findet auf dem einzigen zumindest zum Teil erhaltenen Turm der sonst vollkommen zerstörten Stadtmauer statt.33 Die Beschreibung dieses Turms zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Prozess der Verwandlung des Turms selbst von einem Zuschauerraum in eine Bühne und des Astyanax von einem Zuschauer in einen Schauspieler nachbildet (Sen. Tr. 1071-1076): turre in hac blando sinu fovens nepotem, cum metu versos gravi Danaos fugaret Hector et ferro et face, paterna puero bella monstrabat senex. haec nota quondam turris et muri decus, nunc saeva cautes, undique adfusa ducum plebisque turba cingitur. 31 32 33
Zur Figur der Helena siehe Fantham (1982), 337-338. Shelton (2000), Schiesaro (2003), 235-243. Sen. Tr. 1068 est una magna turris e Troia super.
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Auf diesem Turm zeigte der Greis dem Knaben die Kämpfe des Vaters, den Enkelsohn zärtlich auf den Schoß nehmend, als Hector die in entsetzlicher Furcht zurückgeworfenen Danaer mit Feuer und Schwert in die Flucht schlug. Dieser einst berühmte Turm und Schmuckstück der Mauer, nun ein düsteres Riff, wird von einer überallher herbeigeströmten Schar von Anführern und vom Volk umgeben.
Die hier thematisierte radikale Transformation des physischen Raumes und seiner Semantik im Zuge der Stadtzerstörung trägt dazu bei, die erschütternde Tragik des Metatheaters Senecas zu untermauern: Die Stelle, von der aus der Sohn früher als Zuschauer die Siege seines Vaters über die Griechen beobachten konnte, wird zu einer Bühne, auf der er dessen Tod nachspielt. Um diesen Schauplatz herum sitzt wie in einem Amphitheater ein neugieriges Publikum, das aus ehemaligen Akteuren, sowohl griechischer als auch trojanischer Herkunft, besteht.34 Derjenige, der sich ehemals – mit Stolz und Spannung – einer Teichoskopia hingeben konnte, agiert nun als Schauspieler in einem grausamen Spektakel, während sich das, was früher ein echtes Schlachtfeld war, in einen bloßen Zuschauerraum verwandelt. Diese räumliche Inversion entwickelt sich zu einem ergreifenden Symbol für die erniedrigende, unwiderrufliche Niederlage, die die Stadt erlitten hat. Der ohnehin schmerzhafte Verlust der Würde wird als Transformation in ein rein theatralisches Phänomen aufgefasst – in ein Spektakel, das den Untergang des heroischen Ruhmes verachtungsvoll zelebriert. Die perfekte Symmetrie der Umkehrung tritt außerdem dadurch noch stärker hervor, dass das Grab Hectors ein Teil des riesigen Amphitheaters ist, in dem sich die Zuschauer dieses makabren Spektakels versammeln (Sen. Tr. 10771087): totum coit ratibus relictis vulgus. his collis procul aciem patenti liberam praebet loco, his alta rupes, cuius in fastigio erecta summos turba libravit pedes. hunc pinus, illum laurus, hunc fagus gerit et tota populo silva suspenso tremit. extrema montis ille praerupti petit, semusta at ille tecta vel saxum imminens muri cadentis pressit, atque aliquis (nefas) tumulo ferus spectator Hectoreo sedet. Die ganze Volksschar verlässt die Schiffe und kommt zusammen. Den einen bietet ein Hügel freie Sicht aus der Ferne auf das offene Gelände, den anderen ein hoher Felsen, auf dessen Gipfel eine Menschenmenge, sich auf den Zehspitzen erhebend, balanciert. Diesen trägt eine Fichte, 34
Vgl. Shelton (2000), 107-112; Littlewood (2004), 240-258.
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Ekphrasis und Metatheater jenen ein Lorbeerbaum, den eine Buche, und der gesamte Wald bebt unter dem an ihm hängenden Volk. Der eine sucht den Rand eines schroffen Berges, ein anderer lastet auf einem halbverbrannten Dach oder den überhängenden Stein der zerfallenden Mauer, und einer (o Frevel!) sitzt als grausamer Zuschauer auf Hectors Grabhügel.
Somit wird – trotz Andromachas Bemühungen35 – das Grab Hectors in den Tod des Astyanax einbezogen. Besonders erschütternd ist dabei, dass Hector – der ehemals heldenhafte, von seinem Sohn bewunderte Kämpfer – indirekt zu einem Zuschauer degradiert wird, der den zynisch inszenierten Tod seines Sohnes tatenlos mit ansehen muss. Im Falle der Polyxena stellt sich die Situation etwas weniger komplex dar. Schließlich steht bereits seit der Erscheinung des Geistes Achills im zweiten Akt fest, dass sie auf seinem Grab geopfert werden soll. Das Grab fungiert demnach erwartungsgemäß als Bühne, auf der Polyxenas Tod inszeniert wird. Da es sich am Meeresufer befindet, kann sich das Publikum nur im Halbkreis darum herum versammeln. Die Landschaft bildet also nicht, wie bei der Hinrichtung des Astyanax, ein den Schauplatz von allen Seiten umgebendes Amphitheater, sondern – im technischen Sinne des Wortes – ein halbrundes Theater (Sen. Tr. 1118-1125): praeceps ut altis cecidit e muris puer flevitque Achivum turba quod fecit nefas, idem ille populus aliud ad facinus redit tumulumque Achillis. cuius extremum latus Rhoetea leni verberant fluctu vada; adversa cingit campus et clivo levi erecta medium vallis includens locum crescit theatri more. Nachdem der Knabe von der hohen Mauer gestürzt war und die Schar der Achäer den von ihnen begangenen Frevel beweint hatte, kehrte dieser selbe Volk zur Ausübung eines weiteren Verbrechens zum Grab des Achill zurück, dessen äußersten Rand die rhoeteischen Gewässer mit sanften Wogen peitschen; die vordere Seite wird von einer Ebene umgeben, und ein Tal, sich in sanftem Abhang erhebend und den in der Mitte liegenden Raum einschließend, steigt wie ein Theater an.
Die theatralischen Eigenschaften, die in der Beschreibung der doppelten Hinrichtung betont werden, beschränken sich jedoch nicht nur auf die Charakterisierung des Raumes, in dem sie stattfindet. Seneca lenkt das Augenmerk zusätzlich auf die emotionale Reaktion der Zuschauer. Einerseits wird dem 35
Sen. Tr. 689-691 intereat miser / ubicumque potius, ne pater natum obruat / prematque patrem natus.
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Publikum eine Mischung aus Betroffenheit und Abscheu zugeschrieben: Alle Zuschauer – selbst der zynische Odysseus – finden den Anblick der sich dem Tod freiwillig hingebenden trojanischen Kinder außerordentlich bewegend (Sen. Tr. 1097-1098 moverat vulgum ac duces / ipsumque Ulixem), während das Spektakel als solches eine perverse Anziehungskraft auf sie ausübt: Man sieht es, obwohl (oder weil?) es unerträglich grausam ist (Sen. Tr. 1128-1129 magna pars vulgi levis / odit scelus spectatque).36 Andererseits wird von den griechischen sowie trojanischen Zuschauern berichtet, sie seien durch die seit Aristoteles als archetypisch tragisch geltenden Affekte – Mitleid (Sen. Tr. 1146 mirantur et miserantur) und Furcht (Sen. Tr. 1136-1137 terror attonitos tenet / utrosque populos) – vereint.37 Auf diese Weise zeigt sich nochmals deutlich, dass das im letzten Akt der Troades nachgespielte Spektakel nicht nur einen bekannten tragischen Stoff nachahmt, sondern auch als die Aufführung einer Tragödie im technischen (aristotelischen) Sinne des Wortes betrachtet werden könnte. Um den emotionalen Effekt der Beschreibung zu steigern, verwendet die Botenrede, in der dieses Spektakel eingebettet ist, die für die senecanische Tragödie im Allgemeinen typische Rhetorik der aemulatio: Von beiden Ermordungen wird behauptet, sie würden alle Grausamkeiten übertreffen, die während des Krieges begangen wurde (Sen. Tr. 1056-1058): o dura fata, saeva miseranda horrida! quod tam ferum, tam triste bis quinis scelus Mars vidit annis? O harte Schicksalsschläge, grauenvolle, beklagenswerte, furchtbare! Welche ebenso abscheuliche, ebenso traurige Gräueltat hat Mars in den zweimal fünf Jahren gesehen?
Andromacha reagiert auf den Bericht über die Hinrichtung ihres Sohnes, indem sie dieses Ereignis für die schlimmste jemals geschehene Grausamkeit erklärt (Sen. Tr. 1104-1109): quis Colchus hoc, quis sedis incertae Scytha commisit, aut quae Caspium tangens mare gens iuris expers ausa? non Busiridis puerilis aras sanguis aspersit feri, nec parva gregibus membra Diomedes suis epulanda posuit.
36 37
Owen (1970), 136; Mader (1997); Shelton (2000), 110-111; Schiesaro (2003), 241242. Ar. Poet. 1449b24-28 ἔστιν οὖν τραγῳδία µίµησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας µέγεθος ἐχούσης [...] δι᾿ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τοιούτων παθηµάτων κάθαρσιν. Vgl. Staley (2010), 89-92.
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Ekphrasis und Metatheater Welcher Kolcher, welcher Skythe von ungewissem Wohnsitz hat dies begangen, oder welches am Kaspischen Meer lebende, vom Gesetz unberührte Volk hat dies gewagt? Das Blut eines Knaben hat die Altäre des Busiris nicht besprüht, noch hat Diomedes kindliche Glieder seinen Pferden zum Speisen angeboten.
Dieses bei Seneca übliche Motiv wird am Ende der zweiten Hinrichtung dadurch verstärkt, dass der sonst so kaltblütige Pyrrhus, der dieses Mal als Mörder des Priamus stilisiert wird, zögert, bevor er Polyxena umbringt: Dieser Mord ist um so viel schlimmer als der Mord an Priamus, dass sogar Pyrrhus erstaunlicherweise Anzeichen von Mitleid zeigt (Sen. Tr. 1154 novumque monstrum est Pyrrhus ad caedem piger). Die durch die Rhetorik der aemulatio maßlos erhöhte emotionale Wirkung erfährt noch eine weitere Steigerung, da der Rezipient implizit dazu aufgefordert wird, das gesamte tragische Schauspiel durch die Augen des staunenden und mitfühlenden internen Publikums zu sehen.38 Gleichzeitig wirkt das Spektakel „realer“ und erschütternder als alle denkbaren Präzedenzfälle, weil der ekphrastische Stil des Botenberichts dem Rezipienten die dargestellte Grausamkeit mit allen Mitteln der enargeia vorführt. So zum Beispiel in der typisch senecanischen Beschreibung der Zerstückelung von Astyanax’ Körper (Sen. Tr. 11101117): quos enim praeceps locus reliquit artus? ossa disiecta et gravi elisa casu; signa clari corporis, et ora et illas nobiles patris notas, confundit imam pondus ad terram datum; soluta cervix silicis impulsu, caput ruptum cerebro penitus expresso – iacet deforme corpus. Welche Gliedmaßen ließ der schroffe Ort übrig? Die Knochen sind zerstreut und vom schweren Sturz zerschlagen. Die vertrauten Merkmale seines schönen Körpers, das Gesicht und jene edlen Züge seines Vaters, brachte sein auf die Erde heruntergestürztes Gewicht durcheinander; der Nacken zerbrach durch den Aufprall am Fels, der Kopf platzte auf und ließ aus dem Inneren das Gehirn hervortreten – sein Körper liegt entstellt.
Die ergreifende ekphrastische Anschaulichkeit verbindet sich in der letzten Szene der Troades mit der expliziten Thematisierung der emotionalen Reaktion eines Theaterpublikums. Diese enge Verknüpfung dient offenbar unter anderem dazu, die in der rhetorischen Theorie so beliebte Vorstellung von dem sich in einen virtuellen Zuschauer verwandelnden Zuhörer einer ekphrastischen Passage 38
Schiesaro (2003), 242-243.
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zu konkretisierten und zu veranschaulichen.39 Dies hat wiederum zur Folge, dass der von Seneca sonst eher implizit zur Affektsteigerung eingesetzte theatralische Effekt der ekphrastischen Rhetorik intensiviert wird. Durch dieses Mittel wird beim Rezipienten der Eindruck verstärkt, die Handlung der Tragödie bestehe nur aus unübertreffbaren Superlativen. Die letzte Szene der Tragödie ist also wie ein Spektakel konzipiert: Hier werden bekannte tragische Stoffe (die Opferung der Iphigenia und der Tod Hectors) in einem explizit wie ein Theater bzw. Amphitheater gestalteten Raum nachgespielt und von einem Publikum bestaunt, das typisch tragische Affekte zeigt. In einem wichtigen Punkt erscheint die fast ad nauseam wiederholte Betonung der Theatralität der Schlussszene jedoch irritierend falsch. Das, was man an dieser Stelle wie ein tragisches Spektakel wahrnimmt, ist eigentlich kein bloßes Nachspielen: Es handelt sich nämlich um einen wirklichen – nicht vorgetäuschten – Tod. Als Folge kann die Kombination aus Furcht und Mitleid, die das interne Publikum dieses erschütternden Dramas empfindet, in keiner aristotelischen Katharsis dieser Affekte resultieren. Ganz im Gegenteil: Der Zynismus, mit dem die zur Ausführung der beiden Hinrichtungen benötigte ausgeklügelte Bühnenszenerie eingesetzt wird, lässt den beim Publikum Furcht und Mitleid verursachenden Tod umso bedrückender wirken.40 Am Ende erweist sich das komplexe theatralische Konstrukt als eine bloße Hülle, hinter der sich nichts anderes als die absolute, unermessliche Leere des Todes verbirgt – eine Leere, die Hecuba in ihren die Tragödie abschließenden Worten mit bestürzender Klarheit als etwas im Vergleich zur soeben aufgeführten Bühnenhandlung Ersehntes darstellt (Sen. Tr. 1165-1177): ite, ite, Danai, petite iam tuti domos; optata velis maria diffusis secet secura classis: concidit virgo ac puer; bellum peractum est. quo meas lacrimas feram? ubi hanc anilis expuam leti moram? natam an nepotem, coniugem an patriam fleam? an omnia an me? sola mors votum meum, infantibus, violenta, virginibus venis, ubique properas, saeva: me solam times vitasque, gladios inter ac tela et faces quaesita tota nocte, cupientem fugis. non hostis aut ruina, non ignis meos absumpsit artus: quam prope a Priamo steti. Geht, geht, ihr Danaer, sucht eure Häuser in Sicherheit auf; die Flotte durchschneide unbekümmert das erwünschte Meer mit ausgebreiteten Segeln. Es stürzten die Jungfrau und der Knabe; der Krieg ist beendet. 39 40
Webb (2009), 87-106. Vgl. Boyle (1997), 67-73.
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Ekphrasis und Metatheater Wohin soll ich meine Träne tragen? Wo soll diese Verzögerung eines greisen Todes ausspeien? Soll ich nun meine Tochter oder meinen Enkel, meinen Gatten oder die Heimat beweinen? Oder alles? Oder nur mich? O Tod, mein einziger Wunsch, du kommst gewaltsam zu kleinen Kindern und Jungfrauen, grausam eilst du überall: nur mich fürchtest und vermeidest du, mich, die dich unter Schwertern, Geschossen und Fackeln gesucht hat, mich, die dich begehrt, fliehst du. Weder der Feind noch der Untergang, noch das Feuer verzehrten meine Glieder: Wie nahe bei Priamus stand ich!
Als Rezipienten werden wir demnach aufgefordert, die Handlung nicht nur mit den Augen eines Theaterpublikums, sondern auch mit Hecubas Augen zu sehen. Entscheidend ist jedoch, dass die unermessliche Leere des Todes, die wir am Ende aus Hecubas Perspektive wahrnehmen, erst dadurch darstellbar wird, dass sie als Negation der visuellen Reize des theatralischen Spektakels verstanden werden kann, das wir durch die Augen eines imaginierten Theaterpublikums gesehen haben.
5. Der blanke Horror: Medea Die Medea endet bekanntlich, wie die Troades, mit einem als grausames Spektakel inszenierten Kindermord. Diesmal ist das Schauspiel zwar für keine in einer theatralisch anmutenden Landschaft versammelte Menschenmenge bestimmt, sondern für einen einzigen Zuschauer – Medeas untreuen Mann Jason. Die (meta)theatralische Wirkung dieser Szene wird aber mit sogar noch größerem Nachdruck hervorgehoben, als es am Ende der Troades der Fall war: Medea verkündet unmissverständlich, dass ihr die Tötung ihrer Kinder erst dann echte Genugtuung bereite, wenn Jason dabei als Zuschauer anwesend sei (Sen. Me. 993-994 derat hoc unum mihi, / spectator iste).1 Die Mittel, durch die diese Wirkung erzielt wird, unterscheiden sich jedoch rasant von denjenigen, die dafür in den Troades eingesetzt werden. Im Gegensatz zu den Troades wird in der Medea nur ein einziges narratives Paradigma nachgespielt, nämlich Medeas eigene Vergangenheit. Dies erinnert an das Nachspielen der eigenen Heldentaten durch Herkules im Hercules Furens: So wie Herkules alle bereits vollbrachten Leistungen übertreffen muss, so verkündet auch Medea bereits im Prolog, dass sie sich an ihrem Mann mit einem Verbrechen rächen wird, das noch grausamer ist als all diejenigen, die sie schon begangen hat (Sen. Me. 44-55): quodcumque uidit Pontus aut Phasis nefas, uidebit Isthmos. effera ignota horrida, tremenda caelo pariter ac terris mala mens intus agitat: vulnera et caedem et vagum funus per artus – leuia memoraui nimis: haec uirgo feci; grauior exurgat dolor: maiora iam me scelera post partus decent. accingere ira teque in exitium para furore toto. paria narrentur tua repudia thalamis: quo uirum linques modo? hoc quo secuta es. rumpe iam segnes moras: quae scelere parta est, scelere linquenda est domus.
1
Zur selbstbewussten Theatralik des Finales von Senecas Medea siehe Rosenmeyer (1989), 52-53; Boyle (1997), 131-133; Hine (2000), 36 und ad loc.; Littlewood (2004), 226. Zur Konstruktion von Senecas Medea-Gestalt im Allgemeinen siehe Walde (2009).
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Ekphrasis und Metatheater Welche Untat auch immer der Pontus oder Phasis gesehen haben – Korinth wird sie auch sehen. Wilde, noch unbekannte, furchtbare Leiden, die Himmel und Erde zugleich zum Schaudern bringen, bewegt mein Geist in sich: Wunden, Mord, durch die Glieder wandernder Tod – viel zu Leichtes fällt mir ein: dies tat ich als Jungfrau; mein Schmerz richte sich gewichtiger auf: größere Frevel stehen mir nach der Geburt meiner Kinder zu. Rüste dich mit Zorn aus und bereite dich zum Verderben mit voller Wut. Die Geschichte von der Auflösung deiner Ehe wird derjenigen von deiner Hochzeit ähneln: auf welche Weise wirst du deinen Gatten verlassen? So wie du ihm gefolgt bist. Nun brich die träge Verzögerung ab: den Haushalt, der durch ein Verbrechen entstand, musst du mit einem Verbrechen verlassen.
Aus Kolchis floh Medea auf einem Schiff über das Meer, nachdem sie ihren Bruder getötet hatte (vgl. Sen. Me. 964-971). Die Flucht aus Korinth am Ende der Tragödie basiert zwar auf demselben Muster, übertrifft es allerdings spürbar: Medea bringt nicht nur Creusa, die neue Frau Jasons, und deren Vater Creon, sondern auch ihre eigenen Kinder um und flieht anschließend, wie im Prolog bereits angedeutet (Sen. Me. 32-34), auf dem von zwei Drachen gezogenen Wagen in den Himmel (Sen. Me.1022-1024): sic fugere soleo. patuit in caelum via: squamosa gemini colla serpentes iugo summissa praebent. So pflege ich zu fliehen. Ein Weg in den Himmel hat sich geöffnet: zwei Schlangen halten ihre schuppenbedeckte, unters Joch gespannte Hälse hin.
In diesem Nachspielen ist alles um so viel beeindruckender und/oder grausamer als im nachgeahmten Original, dass man getrost behaupten könnte, dass keine andere senecanische Tragödie ein anschaulicheres Beispiel der narrativen aemulatio bietet. Trotz der offensichtlichen Einfachheit des sich abzeichnenden Überbietungskonstruktes erweist sich die Funktionsweise der Handlung als ähnlich komplex wie in allen anderen senecanischen Tragödien. Das Erscheinen geflügelter Drachen am Ende der Medea, die die auf dem Dach ihres Hauses stehende (Sen. Me. 973 excelsa nostrae tecta conscendam domus), von einer bewaffneten Menge umlagerte (Sen. Me. 980 fortis armiferi cohors) Titelfigur aus dieser scheinbar ausweglosen Situation befreien, konstituiert offensichtlich ein typisches Exempel eines deus ex machina – einer Auflösung des sonst unlösbaren Konflikts durch einen göttlichen Eingriff.2 Dass der 2
Es ist besonders bedeutungsvoll, dass Aristoteles das Ende von Euripides’ Medea für eines der offensichtlichsten Exempel eines deus ex machina-Endes hielt: Ar. Poet. 1454a37-b2 φανερὸν οὖν ὅτι καὶ τὰς λύσεις τῶν µύθων ἐξ αὐτοῦ δεῖ τοῦ µύθου συµβαίνειν, καὶ µὴ ὥσπερ ἐν τῇ Μηδείᾳ ἀπὸ µηχανῆς. Vgl. Lusching (2007), 63-84.
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Wagen göttlicher Provenienz ist, wird zwar in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich betont, lässt sich aber aus dem im Prolog von Medea an ihren Vater Aeetes (einen Sohn des Sonnengottes) gerichteten Gebet ableiten (Sen. Me. 3234): da, da per auras curribus patriis vehi, committe habenas, genitor, et flagrantibus ignifera loris tribue moderari iuga. Gib, gib, dass ich durch die Luft auf dem Wagen meines Ahnen fahre, vertraue mir die Zügel an, Erzeuger, und gestatte mir, das feuertragende Gespann mit brennenden Riemen zu lenken.
Wie einst Phaethon, bittet nun Medea ihren Vater um Erlaubnis, den Wagen des Sonnengottes lenken zu dürfen.3 Der am Ende der Tragödie erscheinende Wagen erfüllt offenbar genau diese Bitte. Angesichts dieser tiefen Verwurzelung der Rettung Medeas in der hier unter Beweis gestellten außerordentlichen Funktionsfähigkeit des göttlichen Apparats (Medea äußert – und zwar nur indirekt – einen Wunsch an ihren göttlichen Ahnen, und dieser schickt ihr – und zwar zum ausdrücklich von ihr gewünschten Zeitpunkt nach Vollendung ihrer Rache –übernatürliche Hilfe) wirken die ohnehin höchst effektvoll ins Spiel gesetzten, von Jason vorgetragenen letzten Worte der Tragödie umso verblüffender (Sen. Me. 1026-1027):4 per alta vade spatia sublime aetheris, testare nullos esse, qua veheris, deos. Geh durch die hohen Räume des erhabenen Äthers, bezeuge, dass es da, wo du fährst, keine Götter gibt.
Die orakelhafte Eigenschaft dieses Satzes, der sich einer eindeutigen Interpretation entzieht (gibt es also gar keine Götter? oder gibt es nur im Himmel keine? oder nur in Medeas Anwesenheit?),5 verleiht dem Ende des Stückes nicht nur eine eindrucksvolle rhetorische Pointiertheit (denn „Götter“ sind sowohl das letzte als auch das erste Wort der Tragödie: di coniugales), sondern auch eine nachdenklich stimmende, fast rätselhafte Offenheit: Kann es überhaupt einen Sinn ergeben, jemandem, der durch einen deus ex machina in den Himmel fährt, 3 4 5
Hine (2000), ad loc. Vgl. Ov. Met. 2.47-48 currus rogat ille [sc. Phaethon] paternos / inque diem alipedum ius et moderamen equorum. T.S. Eliot (1951, 73) bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „I can think of no other play which reserves such a shock for the last word.“ Vgl. Hine (2000), 31-33. Siehe auch Dingel (1974), 108-109; Wiener (2006), 45-46. Eine detaillierte Besprechung der philosophischen und der theologischen Implikationen des Schlusses von Senecas Medea findet man in Fischer (2008), 157-177.
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zu sagen, es gebe dort oben keine Götter? Bei dem Versuch, mich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, werde ich mich notgedrungen beschränken müssen: Ich werde die möglichen moralischen, religiösen, philosophischen oder formallogischen Implikationen dieses widerspruchsvollen Satzes absichtlich außer Acht lassen,6 um mich stattdessen nur darauf zu konzentrieren, was der Kontrast zwischen der Omnipräsenz der Götter in den ersten vier Akten der Tragödie und der am Ende deklarierten gottlosen Welt im Kontext der von mir behandelten Ästhetik der aemulatio bedeuten könnte. Wie ich bereits erwähnt habe, beginnt die Tragödie mit einem Götteranruf. Zunächst werden die olympischen – oder genauer gesagt, außerhalb des Tartarus angesiedelten – Götter angesprochen: Götter der Ehe (di coniugales) im Allgemeinen, Lucina, Minerva, Neptun, der Sonnengott und die mit dem Mond identifizierte Hekate (Sen. Me. 1-7). Alle genannten Götter besitzen eine offensichtliche Relevanz für den Medea-Mythos.7 Da die letzten beiden einigen literarischen Versionen der Geschichte zufolge diejenigen Gottheiten sind, bei denen Jason seinerzeit Medea ewige Treue geschworen hat,8 erscheint es durchaus passend, dass Medea in diesem Kontext alle Götter in zwei Gruppen einteilt (Sen. Me. 7-9 quosque iuravit mihi / deos Iason, quosque Medeae magis / fas est precari): diejenigen, in deren Präsenz Jason sein Meineid leistete, und diejenigen, die anzubeten es sich für sie selbst ziemt. Die letzteren listet sie folgendermaßen auf (Sen. Me. 9-12): noctis aeternae chaos, aversa superis regna manesque impios dominumque regni tristis et dominam fide meliore raptam, voce non fausta precor. Zum Chaos der ewigen Nacht, zum von den Himmlischen abgewendeten Reich, zu den verruchten Manen, zum Herrn des traurigen Reiches und zur Herrin, der der Raub mehr Treue einbrachte, bete ich mit unheilvoller Stimme.
Medea fleht demnach alle Götter sowohl des Himmels als auch der Unterwelt an, ihr zur Hilfe zu kommen. Besonders viel verspricht sie sich von den zuletzt Genannten (Sen. Me. 13-18): nunc, nunc adeste sceleris ultrices deae, crinem solutis squalidae serpentibus,
6 7 8
Dazu siehe z.B. Nussbaum (1994), 439-483; Lefèvre (1995). Hine (2000), 111-113; Fischer (2008), 169-170. Vgl. Ov. Met. 7.94-97 per sacra triformis / ille deae, lucoque foret quod numen in illo, / perque patrem soceri cernentem cuncta futuri / eventusque suos et tanta pericula iurat.
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atram cruentis manibus amplexae facem, adeste, thalamis horridae quondam meis quales stetistis: coniugi letum novae letumque socero et regiae stirpi date. Jetzt, jetzt erscheint, ihr Rachegöttinnen des Verbrechens, mit eurem von aufgelösten Schlangen strotzenden Haar, erscheint, die schwarze Fackel mit blutigen Händen umklammernd, so wie ihr einst schauderhaft in meinem Schlafgemach standet: der neuen Gattin, dem Schwiegervater und den königlichen Sprösslingen gebt den Tod.
Wir werden an dieser Stelle also wieder einmal mit einer in allen senecanischen Tragödien enthaltenen, höchst eindrucksvollen Visualisierung der infernalischen Mächte konfrontiert. Diese Mächte werden, wie gewöhnlich, aus ihrer Unsichtbarkeit in der Unterwelt ans Licht des Tages heraufbeschworen, um in der oberen Welt eine Verwüstung unvorstellbaren Ausmaßes anzurichten. Der Prolog der Medea präsentiert somit das übliche senecanische Muster in nuce, nach dem die anschaulich visualisierten Monstrositäten des Tartarus in erster Linie dazu dienen, den ohnehin erschreckenden Effekt der innerhalb der Handlung stattfindenden Ereignisse (in diesem Fall – des Mordes an Creon und Creusa) zu erhöhen. Es kristallisiert sich jedoch heraus, dass die Mobilisierung der furchteinflößenden Mächte der Unterwelt bei weitem nicht die schlimmste Strafe darstellt, die sich Medea vorstellen kann (Sen. Me. 19-26): num peius aliquid? quod precer sponso malum? vivat; per urbes erret ignotas egens exul pavens invisus incerti laris, iam notus hospes limen alienum expetat; me coniugem opto, quoque non aliud queam peius precari, liberos similes patri similesque matri – parta iam, parta ultio est: peperi. Ist denn etwas noch schlimmer? Welches Unheil soll ich dem Bräutigam wünschen? Er soll leben; er irre durch unbekannte Städte; dürftig, verbannt, ängstlich, verhasst und heimatlos trachte er nach der fremden Schwelle, ein bereits bekannter Besucher; ich wünsche ihm mich als Gattin und – es gibt nichts Schlimmeres, was ich ihm wünschen könnte – Kinder, die dem Vater und der Mutter ähneln; geboren, geboren ist bereits die Rache: ich habe geboren.
Während der Mord an Creon und Creusa wie ein wahrhaftig kosmisches Ereignis angekündigt wird, zu dessen Ausführung zahlreiche Gottheiten benötigt werden, braucht Medea für die noch schrecklichere Strafe (peius aliquid), die sie für
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ihren Mann vorgesehen hat, keinerlei übernatürliches Brimborium, sondern letztlich nur ihre Kinder. Die genauen Konturen dieser die Kinder mit einbeziehenden Strafe zeichnen sich erst im letzten Akt der Tragödie ab. Eines tritt aber bereits im Prolog deutlich hervor – nämlich der Kontrast zwischen der Bestrafung Creons und Creusas, die mittels der klischeehaften göttlichen Gestalten der literarischen Unterwelt als ein schlicht unvorstellbares Ereignis visualisiert wird, und der noch schlimmeren Bestrafung Jasons, die mit vergleichsweise banalen, alltäglichen, in der empirischen Welt leicht zugänglichen Mitteln auszukommen scheint. Genau dieser Kontrast prägt die Darstellung der beiden Bestrafungen im vierten und fünften Akt der Tragödie. Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen Senecas und Euripides’ Medea besteht darin, dass bei Seneca anstelle des euripideischen fast einhundert Verse umfassenden, den Tod von Creon und Creusa detailliert schildernden Botenberichtes (Eur. Me. 1136-1230),9 nur der folgende kurze Austausch zwischen dem Boten und dem Chor stattfindet (Sen. Me. 879-890):10 Nun. periere cuncta, concidit regni status; nata atque genitor cinere permixto iacent. Cho. qua fraude capti? Nun. qua solent reges capi: donis. Cho. in illis esse quis potuit dolus? Nun. et ipse miror vixque iam facto malo potuisse fieri credo. Cho. quis cladis modus? Nun. avidus per omnem regiae partem furit immissus ignis: iam domus tota occidit, urbi timetur. Cho. unda flammas opprimat. Nun. et hoc in ista clade mirandum accidit: alit unda flammas, quoque prohibetur magis, magis ardet ignis; ipsa praesidia occupat. Bote: Alles ist zugrunde gegangen, eingestürzt ist der Bestand des Reiches; Tochter und Vater liegen in vermischter Asche. Chor: Durch welche Heimtücke gefangen? Bote: Durch welche Könige meist gefangen werden: durch Geschenke. Chor: Welche Hinterlist konnte in ihnen sein? Bote: Auch ich wundere mich, und obwohl das Unheil bereits geschehen ist, kann ich kaum glauben, dass es geschehen konnte. Chor: Welcher Art ist das Unglück? Bote: Gierig rast das Feuer wie losgeschickt durch jeden Teil des Königspalastes: das ganze Haus ist bereits eingestürzt, man fürchtet für die Stadt. Chor: Wasser lösche die Flammen. Bote: Auch dieses Wunder geschieht in diesem Unglück: Wasser nährt die Flammen, und je mehr man das Feuer abhält, desto stärker brennt es; selbst das Abwehrmittel greift es an.
9 10
Vgl. Ohlander (1989), 274-275. Hine (2000), 198: „This is one of the shortest Messenger scenes in ancient drama.“
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Überraschend wirkt dieser kurze Dialog nicht nur im Vergleich mit der entsprechenden Szene bei Euripides, sondern auch im Hinblick auf Senecas eigene Praxis. Anstatt der üblichen ekphrastischen Rhetorik, die in Senecas Dramen bei der Darstellung ekelerregender Grausamkeiten sonst stets zur Anwendung kommt, haben wir hier nur diese sachliche, trockene Berichterstattung vorliegen, die im Prinzip lediglich die Tatsache konstatiert, dass das von Medea im Prolog angekündigte Racheszenario weitgehend in Erfüllung gegangen ist (Sen. Me. 3536): gemino Corinthos litore opponens moras cremata flammis maria committat duo. Korinth, mit seiner doppelten Küste Hindernisse in den Weg stellend, soll eingeäschert von Flammen die zwei Meere miteinander verbinden.
Dieser komplette Verzicht auf jegliche ekphrastische Visualisierung der Gewalt (es ist fast so, als übe sich hier Seneca, der sonst immer darauf aus zu sein scheint, seine griechischen Vorbilder rhetorisch zu übertreffen, in einer für ihn uncharakteristischen Zurückhaltung), ist natürlich nur ein täuschender Eindruck, denn für die nicht vorhandene Darstellung des Mordes steht bei Seneca stellvertretend die Darstellung der Vorbereitung Medeas auf diesen Mord in Form eines magischen Rituals, dessen Beschreibung Senecas übliche Rhetorik der aemulatio besonders überspitzt. Neben dem euripideischen Botenbericht, der außerordentlich harmonisch in den Handlungsablauf integriert ist, erscheint diese ohne Zweifel maßlos aufgeblähte Darstellung eines magischen Rituals tatsächlich wie ein nutzloses barockes Ornament – wie das Paradebeispiel für die berüchtigte ‚Auflösung des Dramenkörpers’ schlechthin, die in Senecas Tragödien angeblich stattfinden soll.11 Wie ich nun aber zeigen möchte, spielt die in dieser Szene vorgenommene Visualisierung des Monströsen eine ähnliche Rolle wie im Hercules Furens, in der Phaedra und im Agamemnon. Die visuelle Evozierung der eindrucksvollsten, durch die literarische Tradition gebotenen Schreckensbilder, deren Offenbarung als Sinnbild für die Grausamkeit des hinter den Kulissen stattfindenden Mordes an Creon und Creusa fungiert, dient hier als Folie für den noch grausameren Mord an den eigenen Kindern, den Medea ohne jegliche übernatürliche Hilfe direkt auf der Bühne – vor aller Augen – begeht. Das im vierten Akt von Senecas Medea dargestellte magische Ritual besteht aus endlos wirkenden Überbietungsstufen. Jeder – sogar der erste – Schritt scheint eine schier unübertreffbare Fülle zu erreichen, nur um dann im nächsten Schritt ebenfalls überboten zu werden. Am Ende erreicht die Intensität einen 11
Die These von der Auflösung des Dramenkörpers wurde in erste Linie von Regenbogen (1927/1928, 1965) und Friedrich (1933) vertreten. Zu dieser Szene der Medea als einer Manifestation solch einer Auflösung siehe Zwierlein (1966), 110-112.
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solchen Übersättigungsgrad, dass das Gefühl entsteht, jeder weitere Überbietungsversuch müsse unvermeidlich zum Implodieren des Gesamtkonstrukts führen. Die Szene beginnt mit der Rede der Amme, in der sie explizit ankündigt, dass das, was Medea plant, viel schlimmer sein wird als alle bis dahin von ihr vollbrachten Schreckenstaten (Sen. Me. 670-675): pavet animus, horret: magna pernicies adest. immane quantum augescit et semet dolor accendit ipse vimque praeteritam integrat. vidi furentem saepe et aggressam deos, caelum trahentem: maius his, maius parat Medea monstrum. Mein Herz bebt, es zittert: ein großes Unglück steht bevor. Entsetzlich, wie ihr Schmerz wächst und sich selbst anzündet und seine vergangene Stärke erneuert. Ich habe oft gesehen, wie sie von Wahnsinn bemächtigt die Götter angriff and den Himmel herunterzog: Medea bereitet eine größere Ungeheuerlichkeit, eine größere als diese.
Die regelrecht unvorstellbaren Taten, die die vertrauten Hierarchien und Gesetze der Natur außer Kraft setzen,12 werden im Vergleich zu dem, was Medea jetzt vorhat, für Bagatellen erklärt. Darauf folgt die detaillierte Beschreibung einzelner Schritte des Rituals, von denen jeder eine Überbietung des vorhergehenden darstellt. Bei diesem Ritual geht es einzig und allein darum, das stärkste Gift zuzubereiten, das es je gegeben hat, um damit Creon und Creusa umzubringen. Der alles Denkbare überschreitenden Natur dieses Vorhabens entsprechend, erhält auch der Zubereitungsprozess ein wahrhaftig kosmisches Ausmaß. Medea ruft zunächst alle verborgenen, bösen, todbringenden Kräfte der Erde zu sich, und zwar aus der ganzen Welt: aus dem Süden, aus dem Osten und aus dem Norden (Sen. Me. 681-684). Sodann kriecht eine Menge giftiger Schlangen heran (Sen. Me. 684-685 tracta magicis cantibus / squamifera latebris turba desertis adest), bereit, jeden Tötungsbefehl zu erfüllen (Sen. Me. 686-689). Allerdings stellt sich dies als ungenügend heraus: Die furchteinflößenden Monster der Erde sind offenbar nicht schädlich (oder vielleicht einfach nicht erhaben, nicht literarisch?) genug (Sen. Me. 690-693): 12
Zu Medea als Prototyp der klischeehaften Figur einer thessalischen Hexe (der wir in zahlreichen literarischen Texten von Aristophanes bis Apuleius begegnen) siehe Phillips (2002). Vgl. z. B. Hor. ep. 5.45-46 quae sidera excantata voce Thessala / lunamque caelo deripit und Apul. Met. 1.8 ‚saga’ inquit ‚et divina, potens terram suspendere, fontes durare, montes diluere, manes sublimare, deos infimare, sidera extinguere, Tartarum ipsum inluminare’. Zur Magie (und somit auch zu Medea) in der römischen Dichtung siehe auch Tupet (1976), Fauth (1999), Baldini Moscadi (2005).
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‚parva sunt’ inquit ‚mala et vile telum est, ima quod tellus creat: caelo petam venena. iam iam tempus est aliquid movere fraude vulgari altius. „Klein sind,“ sagt sie, „die Übel und wertlos die Waffe, die die unterste Erdtiefe erschafft: vom Himmel werde ich Gifte holen. Nun, nun ist es Zeit, etwas Höheres als einen gemeinen Betrug in Gang zu setzen.
Die gewöhnliche Volksmagie wird hier demnach als wirkungsloser Aberglaube (fraus vulgaris) abgetan. Um diese zu übertreffen, muss Medea ihre Kräfte aus dem Himmel beziehen. Die Überbietungsstrategie ist hier sowohl physikalischer als auch literarischer Natur: Der Himmel lässt sich selbstverständlich schwieriger bändigen als die Erde, und ihn bevölkern darüber hinaus lauter mythologische Gestalten, deren Ehrwürdigkeit von der literarischen (unter anderem der gelehrten astronomischen) Tradition hinreichend bezeugt wird (Sen. Me. 694-704):13 huc ille vasti more torrentis patens descendat anguis, cuius immensos duae, maior minorque, sentiunt nodos ferae (maior Pelasgis apta, Sidonius minor), pressasque tandem solvat Ophiuchus manus virusque fundat; adsit ad cantus meos lacessere ausus gemina Python numina, et Hydra et omnis redeat Herculea manu succisa serpens caede se reparans sua. tu quoque relictis pervigil Colchis ades, sopite primum cantibus, serpens, meis. Hierher steige jener Drache herab, der nach der Art eines ungeheueren wilden Stromes vor Augen offen liegt, dessen unermessliche Knoten zwei Wildtiere zu spüren bekommen, ein größeres und ein kleineres (das größere mit Pelasgern verknüpft, das kleinere mit Sidoniern), und endlich entspanne Ophiuchus seine zusammengedrückten Hände und lasse die Schlangen das Gift herabströmen;14 zu meinen Gesängen erscheine auch Python, der es wagte, die Zwillingsgottheiten herauszufordern,15 und Hydra und jede ihrer Schlangen, die von Herkules’ Hand abgeschnitten wurden, kehre zurück, sich durch den eigenen Tod wiederherstellend. Auch du, immer wachsame Schlange, zum ersten Mal durch meine Gesänge eingeschläfert, erscheine, die Kolcher verlassend.
13 14 15
Hine (2000), 179-180; Németi (2003), 244-246. Vgl. Arat. Phaenom. 74-87, Cic. Arat . Fr. 15, Germ. Arat. 73-89. Vgl. Hyg. Fab. 53.140, Apollod. Bib. 1.4.1.
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Ekphrasis und Metatheater
Nicht nur von allen im Himmel ansässigen schlangenartigen Wesen soll Medea ihr Gift bekommen, sondern auch von Pflanzen aller Gegenden der Welt, die in einem langen gelehrten geographischen Katalog aufgelistet werden (Sen. Me. 705-730). Die wirksamsten Gifte, die sowohl die physische als auch die literarische Welt zu bieten haben, mischt sie nun zusammen (Sen. Me. 731-738). Kaum glaubt man, der absolute Gipfel der Übertreibung sei bereits erreicht, wird der Bogen noch weiter gespannt. Es besteht natürlich kein Zweifel daran, dass die entstandene Giftmischung schädlich genug wäre, Creon und Creusa mehrfach zu töten. Dies jedoch scheint Medea nicht zu reichen. Ihre Giftmischerei begleitet sie mit einem Lied, von dem die gesamte Welt erbebt (Sen. Me. 739 mundus vocibus primis tremit) und in dem sie, wie im Prolog angekündigt, an die schrecklichsten Mächte der Unterwelt betet: Chaos, Dis, Tartarus, die üblichen in der Unterwelt bestraften Verbrecher – Ixion, Tantalus, Sisyphus, die Danaiden. Sie alle sollen nun erscheinen, um Medea behilflich zu sein (Sen. Me. 740-749). Folglich haben wir es hier tatsächlich mit einem kosmischen Ereignis zu tun, für das sich der Himmel, die Erde und die Unterwelt vereinen. Diese in den meisten anderen senecanischen Tragödien als der Gipfel des Monströsen geltende Visualisierung des Kosmischen und des Infernalischen ist an dieser Stelle offenbar noch nicht genug! Zuletzt wird schließlich Hekate angerufen – die ominöse Mondgöttin, die Schutzpatronin der Magie (Sen. Me. 750-751). Dabei stellt sich allerdings heraus, dass ein schlichtes Gebet mitnichten ausreicht, um Hekate zum Erscheinen zu bewegen. Medea muss zuerst die gesamte Welt in den Zustand des Chaos versetzen (Sen. Me. 752-767). Die typisch senecanische Schilderung der komplett aus den Fugen geratenen Welt (die Sonne und die Sterne scheinen gleichzeitig, der große Bär berührt das Meer, die Flüsse fließen zurück, usw.) endet mit dem Stehenbleiben der Sonne und dem Zittern der sonst bewegungslosen Hyaden (Sen. Me. 768-769).16 Nun, da auch die obere Welt ein widernatürliches – monströses – Antlitz erhalten hat, könnte Hekate eigentlich erscheinen (Sen. Me. 770 adesse sacris tempus est, Phoebe, tuis). Wer an dieser Stelle denkt, die Göttin werde sich ohne weitere Umstände offenbaren, irrt aber gewaltig, denn zuvor muss Medea noch einen weiteren – jambischen, in der Tradition von Horazens „magischen“ Epoden stehenden – Hymnus singen,17 in dem sie die von ihr für Hekate vorbereiteten Opfergaben enumeriert (Sen. Me. 771-786). Natürlich handelt es sich hierbei um keine gewöhnlichen Gaben (alles andere würde schließlich nach der Schilderung der sich ins Chaos stürzenden Welt antiklimaktisch wirken), sondern um Reminiszenzen der tödlichsten und abscheulichsten Gestalten der Mythologie – wie Typhon, Nessus, die Kindermörderin Althaea (was im Kontext natürlich besonders passend ist), die Harpye, der stymphalische Vogel, die lerneische Hydra. 16 17
Hine (2000), 188. Zu Anspielungen auf Horaz in diesem Hymnus siehe Hine (2000), 189.
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Erst nach dieser durch die endlos verzögernden Überbietungsstrategien wahrhaftig qualvollen, alptraumartigen rhetorischen Kanonade erscheint endlich die Göttin (Sen. Me. 785-786 sonuistis, arae, tripodas agnosco meos / favente commotos dea). Die ohnehin unerträgliche emotionale Intensität wird noch dadurch erhöht, dass Medea in ihrem Gebet die visuelle (und zum Teil auditive) Wahrnehmung dieser Offenbarung hervorhebt (Sen. Me. 787-796): video Triviae currus agiles, non quos pleno lucida vultu pernox agitat, sed quos facie lurida maesta, cum Thessalicis vexata minis caelum freno propiore legit. sic face tristem pallida lucem funde per auras, horrore novo terre populos inque auxilium, Dictynna, tuum pretiosa sonent aera Corinthi. Ich sehe den lenksamen Wagen der Trivia, nicht jenen, den sie mit vollem Antlitz die Nacht hindurch leuchtend, sondern den sie schwermütig mit leichenblassem Antlitz lenkt, wenn sie, von thessalischen Drohungen geplagt, den Himmel mit sich nähernden Zügeln durchwandert. So fahl lass dein trauriges Licht aus deiner Fackel durch die Lüfte herabströmen, erschrecke die Völker mit neuartigem Schauder, und dir zu Hilfe, Dictynna, sollen die wertvollen Erzerzeugnisse von Korinth erschallen.
Diese Schreckenserscheinung soll Medea nun helfen, das von ihr als Geschenk für Creusa vorbereitete Gewand mit dem alles vernichtenden Feuer zu durchtränken, welches sie – und dies ist offensichtlich eine weitere Manifestation ihres Überbietungseifers – von keinen geringeren mythologischen Figuren erhalten hat als Prometheus, Vulkan und Phaethon (Sen. Me. 817-832). Im Rahmen der in dieser Szene an die Spitze getriebenen Rhetorik der aemulatio ist es von großer Bedeutung, dass Hekates Rolle laut Medea in erster Linie darin bestehe, die Wirkung dieser sowohl chemisch als auch rhetorisch übersättigten, aus allen (un)denkbaren mythologischen Gift- und Feuerarten gebrauten Mischung, zusätzlich zu verstärken (Sen. Me. 833 adde venenis stimulos, Hecate). Folglich verhelfen Seneca derart aufgebauschte, rhetorisch kaum zu überbietende kosmische Schreckensbilder dazu, die Ermordung Creons und Creusas wie eine Katastrophe ungesehenen Ausmaßes symbolisch zu visualisieren. Diese Schilderung entspricht haargenau dem im Prolog getätigten proleptischen Hinweis Medeas auf den Mord an Creon und Creusa, bei dem sie ausdrücklich an die furchteinflößenden Mächte der literarischen Unterwelt appellierte (Sen. Me. 9-18). Auch die darauf folgende Darstellung der Bestrafung Jasons entspricht dem Szenario, das Medea bereits im Prolog andeutete: Das wichtigste
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Instrument dieser Bestrafung sind schließlich keine übernatürlichen Mächte des Tartarus, sondern Medeas eigene Kinder. Darüber hinaus bezeichnet Medea, wie schon im Prolog angekündigt (Sen. Me. 19 num peius aliquid?), die bevorstehende Rache an Jason als etwas, das alle ihre bisherigen Gräueltaten (und das schließt die gerade begangene, als schier unvorstellbar dargestellte Ermordung von Creon und Creusa mit ein) in den Schatten stellen wird (Sen. Me. 904-910): quidquid admissum est adhuc, pietas vocetur. hoc age! en faxo sciant quam levia fuerint quamque vulgaris notae quae commodavi scelera. prolusit dolor per ista noster: quid manus poterant rudes audere magnum, quid puellaris furor? Medea nunc sum; crevit ingenium malis. Alles, was ich bis jetzt begangen habe, soll Barmherzigkeit genannt werden. Wohlan! Und ich werde dafür sorgen, dass sie erkennen, wie nichtig und von wie gewöhnlicher Sorte die Untaten sind, mit denen ich seine beglichen habe. Durch diese veranstaltete mein Schmerz ein Vorspiel: Was für eine große Tat konnten unerfahrene Hände wagen, was eine mädchenhafte Wut? Jetzt bin ich Medea; gewachsen ist mein Charakter durch die Leiden.
Erst jetzt, da sie sich selbst mehrfach übertroffen hat, entfaltet Medea in vollem Maße ihr Potenzial und wird zu Medea – eine Entwicklung, die sie in ihrem Dialog mit der Amme im zweiten Akt explizit voraussagt (Sen. Me. 171 Nut. Medea – Me. fiam).18 Die eigenartige Tatsache, dass sie, um wahrhaftig Medea zu werden, immer schlimmere Verbrechen begehen muss, erinnert an die Darstellung des heroischen Werdegangs des Herkules im Hercules Furens: Dort wird implizit betont, dass Herkules, um Herkules zu bleiben, immer größere Heldentaten vollbringen muss. Mehr noch: Genauso wie im Hercules Furens die von unvorstellbaren Ungeheuern wimmelnde Darstellung der Katabasis nur als Folie für die allergrößte Heldentat des Herkules verwendet wird, die in keiner Bezwingung eines neuen mythologischen Monsters, sondern ausschließlich in der scheinbaren Banalität einer widerwilligen Fortsetzung des Lebens besteht (Sen. HF 1316-1317 eat ad labores hic quoque Herculeos labor: / vivamus), – so benötigt auch Medea zur Vollendung ihres größten Verbrechens keine übernatürlichen Mittel. Im Nachhinein kann man also behaupten, dass die Darstellung von Medeas Bezwingung der göttlichen Mächte, die den Anschein einer aus allen Nähten platzenden rhetorischen Monstrosität erweckt, hauptsächlich einen Zweck erfüllt: Sie soll die noch größere – dabei aber nackte, vollkommen 18
Vgl. Gallimberti-Biffino (2000); Trinacty (2007-2008), 70-72.
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entrhetorisierte – Grausamkeit eines ohne jegliche übernatürliche Einwirkung begangenen Mordes betonen. In den Konflikt, dessen Zeugen wir im fünften Akt werden, sind keine grotesken mythologischen Gestalten involviert. Es handelt sich vielmehr um einen rein inneren Konflikt, der an die Spaltung von Herkules’ Persönlichkeit in einen unbesiegbaren Heilsbringer und einen skrupellosen Tyrannen im Hercules Furens erinnert. Es ist ein Konflikt zwischen den gleichermaßen starken leidenschaftlichen Impulsen, die Medea einerseits als Mutter und andererseits als betrogene Ehefrau empfindet (Sen. Me. 926ff., insb. 927-928: ira discessit loco / materque tota coniuge expulsa redit.). Zudem stellt es sich heraus, dass eine rein abstrakte Darstellung gegeneinander kämpfender emotionaler Impulse viel dramatischer wirken kann als die Darstellung eines Kampfes gegen mythologische Monstren (Sen. Me. 988-992): quid nunc moraris, anime? quid dubitas? potens iam cecidit ira? paenitet facti, pudet. quid misera feci? misera? paeniteat licet. feci. voluptas magna me invitam subit, et ecce crescit. Warum zögerst du jetzt, mein Herz? Warum zweifelst du? Hat sich der mächtige Zorn bereits gelegt? Ich bereue die Tat, ich schäme mich. Was habe ich Elende getan? Elende? Ja, ich mag es bereuen. Doch habe ich es getan. Große Wollust rückt an mich wider Willen heran, und siehe, sie wächst.
Trotz dieser dezidiert vollzogenen Entmythologisierung des Konflikts versuchen die Mächte der literarischen Unterwelt, ihren Weg in die Handlung zurückzufinden. Als Medea kurz davor steht, ihre Kinder zu töten, wird sie plötzlich von einer Unterweltvision heimgesucht (Sen. Me. 958-966): Quonam ista tendit turba Furiarum impotens? quem quaerit aut quo flammeos ictus parat, aut cui cruentas agmen infernum faces intentat? ingens anguis excusso sonat tortus flagello. quem trabe infesta petit Megaera? cuius umbra dispersis uenit incerta membris? frater est, poenas petit: dabimus, sed omnes. fige luminibus faces, lania, perure, pectus en Furiis patet. Wohin bewegt sich diese zügellose Furienschar? Nach wem sucht sie oder wozu bereitet sie ihre feurigen Schläge? Oder wem droht der unterirdische Trupp mit blutigen Fackeln? Eine riesenhafte Schlange zischt, unter geschwungener Geißel gewunden. Wen greift Megaera mit unheilvollem
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Ekphrasis und Metatheater Prügel an? Wessen Schatten kommt, verschwommen, mit zertrennten Gliedern? Es ist mein Bruder, er verlangt nach Strafe: wir werden zahlen, aber ganz. Stich Fackeln in meine Augen hinein, zerfleische, verbrenne mich, meine Brust steht den Furien offen.
Da sie die Tötung ihrer Kinder als ihre persönliche Rache für den von ihr um Jasons willen begangenen Mord an ihrem Bruder wahrnimmt, bittet sie dessen Schatten um Erlaubnis, die Tat ohne göttliche Hilfe eigenhändig zu erledigen (Sen. Me. 967-971): discedere a me, frater, ultrices deas manesque ad imos ire securas iube: mihi me relinque et utere hac, frater, manu quae strinxit ensem – victima manes tuos placamus ista. Befiehl, Bruder, den Rachegöttinnen mich zu verlassen und zu den untersten Manen in Frieden zu gehen: überlasse mich mit und benutze, Bruder, diese Hand, die das Schwert gezuckt hat – mit diesem Opfer besänftige ich deine Manen.
Dabei wird ausdrücklich betont, dass Medea für die Ausführung ihrer schlimmsten Gräueltat keine aus ihrer Unsichtbarkeit herausgezogenen Mächte der Unterwelt benötigt. Alles, was sie braucht, um dieses (ista) Opfer zu bringen, ist diese (hac) Hand. Die außergewöhnliche Deixis dieser Passage hebt den sich am Ende der Tragödie vollziehenden Verzicht auf rhetorisch aufgeblähte Schilderungen zugunsten einer unmittelbar wahrnehmbaren Handlung hervor. Im Gegensatz zur Darstellung des Mordes an Creon und Creusa verzichtet hier Medea also nicht nur auf göttliche Hilfe, sondern auch auf die damit einhergehende ekphrastische Rhetorik (man könnte fast sagen, auf jede Art von Rhetorik überhaupt), denn der Mord wird hier in keinem Botenbericht geschildert, sondern spielt sich direkt auf der Bühne ab, was in nur einem Satz konstatiert wird.19 Der Kontrast zu der entsprechenden Szene in Euripides’ Medea ist in diesem Fall genauso aufschlussreich wie im Falle der Darstellung des Mordes an Creon und Creusa. Bei Euripides findet der Mord an den Kindern – wie es bei Morden in allen überlieferten griechischen und einigen senecanischen Tragödien üblich ist – hinter den Kulissen statt, sodass man auf der Bühne nur Hilferufe hören kann, auf die der Chor höchst emotional reagiert.20 Der in Senecas Medea auf der Bühne geschehende Mord ist dagegen in vielerlei Hinsicht – selbst innerhalb des 19 20
Der Mord am zweiten Sohn wird noch weniger wortreich angedeutet: Sen. Me. 10191020 misereri iubes. – / bene est, peractum est. Eur. Me. 1270-1293 Πα. ἰώ µοι. / Χο. ἀκούεις βοὰν ἀκούεις τέκνων; / ἰὼ τλᾶµον, ὦ κακοτυχὲς γύναι, κτλ.
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senecanischen Korpus – einzigartig: Im Vergleich zu einer ähnlichen auf der Bühne stattfindenden monströsen Tötung (Herkules Mord an seinen eigenen Kindern im Hercules Furens), die, wie wir gesehen haben, von einem rhetorisch höchst komplexen doppelten Kommentar begleitet wird (von Herkules’ Beschreibung seiner wahnwitzigen Vision, die dem Ganzen einen kosmischen Charakter verleiht, und von Amphitryons ekphrastischer Schilderung des sich tatsächlich entfaltenden haarsträubenden Geschehens), bleibt Medeas Tat beinahe unkommentiert. Es findet in anderen Worten zwischen der begangenen Grausamkeit und unserer Wahrnehmung keinerlei rhetorische Vermittlung statt. Als Leser der Medea werden wir daher viel mehr als in irgendeiner anderen Tragödie Senecas dazu aufgefordert, uns in die Rolle eines Theaterpublikums zu versetzen und uns vorzustellen, dass der Mord direkt vor unseren Augen geschieht. Die dadurch erzielte Illusion einer unmittelbaren Wahrnehmung eignet sich zweifelsohne dazu, einen stärkeren emotionalen Effekt zu erzeugen als die normalerweise zu Visualisierungszwecken eingesetzte ekphrastische Rhetorik. Die Bedeutung dieser direkten visuellen Konfrontation mit einer unvorstellbaren Grausamkeit wird weiterhin dadurch erhöht, dass die letzte Szene der Medea als Bühnenspiel konzipiert ist. Wie ich am Anfang dieses Kapitels bereits erwähnt habe, lässt sich die am Schluss der Medea mit besonderem Nachdruck betonte Theatralik mit der Theatralisierung der doppelten Hinrichtung im letzten Akt der Troades vergleichen. Im letzten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass die Transformation des Astyanax von einem Zuschauer in einen Schauspieler in Senecas Troades als symbolischer Inbegriff der Niederlage Trojas verstanden werden kann. Medea erlebt eine ähnliche Metamorphose, die allerdings zum Ausdruck ihres Triumphs wird. Am Anfang der Tragödie wird Medeas verzweifelte Lage dadurch hervorgehoben, dass sie, zu einer passiven Rezipientin degradiert, das von Jason aufgeführte Hochzeitsspektakel nicht einmal sehen darf (Sen. Me. 116 occidimus: aures pepulit hymenaeus meas). Ihre erfolgreiche Rache sieht sie nun als eine Wiederaufführung dieser von ihr verpassten Hochzeit. Diese neue „Hochzeit“ wird jedoch nach einem von Medea vorgegebenen Szenario zelebriert.21 Sie ist gewissermaßen die Regisseurin, die bestimmen kann, nach welchen Regeln gespielt wird, und genießt den Anblick des von ihr veranstalteten Spektakels (Sen. Me. 893-894): egone ut recedam? si profugissem prius, ad hoc redirem. nuptias specto novas. Ich soll mich zurückziehen? Wenn früher geflohen wäre, käme ich zu diesem Anlass zurück. Ich schaue eine neuartige Hochzeit.
21
Zur Bedeutung der Ehe- und Hochzeitsbegrifflichkeit in Senecas Medea siehe Abrahamsen (1999).
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Als sie nach der Tötung des ersten Kindes den toten Körper aufs Dach mitzieht, steht sie dort wie auf einer Bühne und antizipiert die Reaktion des sich nähernden Publikums (Sen. Me. 976-977): nunc hoc age, anime: non in occulto tibi est perdenda virtus; approba populo manum. Nun ans Werk, mein Herz: Dein Mut darf nicht im Verborgenen verschwendet werde; lass das Volk deine Hand deutlich sehen.
Wie Cassandra im Agamemnon den in der Unterwelt befindlichen trojanischen Zuschauern versichert, das Spektakel von Agamemnons Tod werde die Zerstörung Trojas ungeschehen machen, betrachtet auch Medea die nach ihren eigenen Vorstellungen umdefinierte „Hochzeit“ zwischen Jason und Creusa als eine Art Ungeschehenmachen aller Grausamkeiten, die sie wegen Jason getan oder erlebt hat (Sen. Me. 982-986): iam iam recepi sceptra germanum patrem, spoliumque Colchi pecudis auratae tenent; rediere regna, rapta virginitas redit. o placida tandem numina, o festum diem, o nuptialem! Nun, nun habe ich Zepter, Bruder, Vater zurückbekommen, die Kolcher besitzen das erbeutete Vlies des goldenen Schafes; die Königsmacht ist zurückgekehrt; zurückgekehrt ist die geraubte Jungfräulichkeit. O ihr endlich beschwichtigten Götter, o festlicher Tag, o hochzeitlicher!
Mit der Verwandlung Medeas von einer passiven Zuschauerin in eine den Ablauf ihres Spektakels bestimmende Schauspielerin geht die Transformation Jasons von einem Akteur in einen Zuschauer einher (Sen. Me. 992-994): derat hoc unum mihi, spectator iste. nil adhuc facti reor: quidquid sine isto fecimus sceleris perit. Nur dies fehlte mir, er als Zuschauer. Ich denke, dass bisher nichts geschehen ist: Alles, was ich an Verbrechen ohne diesen da begangen habe, ist verloren.
Jason bildet somit das interne Publikum, dessen Rezeption des Geschehens explizit thematisiert wird, wodurch wir als externe Rezipienten indirekt dazu aufgefordert werden, das Ganze durch seine Augen zu sehen.22 Im Gegensatz zu 22
Littlewood (2004), 201-204.
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den im Agamemnon und in den Troades dargestellten internen Zuschauern, die beim jeweiligen ihnen gebotenen Spektakel eine Genugtuung bzw. eine Illusion der tragischen Katharsis erleben, verspürt Jason beim grauenvollen Anblick des Mordes nichts anderes als einen unerträglichen, mit dem Leben unvereinbaren Schmerz (Sen. Me. 997-1005): Me. congere extremum tuis natis, Iason, funus ac tumulum strue: coniunx socerque iusta iam functis habent a me sepulti; gnatus hic fatum tulit, hic te vidente dabitur exitio pari. Ia. per numen omne perque communes fugas torosque, quos non nostra violavit fides, iam parce nato. si quod est crimen, meum est: me dedo morti; noxium macta caput. Medea: Errichte deinen Kindern den letzten Scheiterhaufen, Jason, und baue ihnen den Grabhügel: Gattin und Schwiegervater haben die den Hingeschiedenen anstehenden Ehren bereits erhalten, vor mir begraben; dieser Sohn hat sein Schicksal erlitten, jener wird vor deinen Augen dem gleichen Verderben übergeben. Jason: Bei allen Göttern, bei unserer gemeinsamen Flucht und beim gemeinsamen Ehebett, die nicht meine Treue verletzt hat, verschone nun den Sohn. Wenn es eine Schuld gebt, gehört sie mir: mich liefere ich dem Tod aus; schlachte den schuldigen Kopf.
Der durch das Miterleben dieser – zum Teil selbstverschuldeten – unvorstellbaren Grausamkeit hervorgerufene Sterbewunsch erinnert an die Schlussszenen des Hercules Furens und der Phaedra, in denen Herkules und Theseus den Anblick ihrer toten Kinder ebenso unerträglich finden. Diese Wirkung wird allerdings paradoxerweise durch die von mir bereits erwähnte komplette Abwesenheit jeglicher ekphrastischer Rhetorik verstärkt. Demnach haben wir es hier mit dem absoluten – von Verbalakrobatik bereinigten – blanken Horror zu tun. Die Intensität dieses Horrors wird zwar auch im Laufe der Szene maßlos erhöht; dies geschieht jedoch nicht, wie bei der Darstellung des magischen Rituals im vierten Akt, mittels endloser rhetorischer Überbietungen, sondern durch eine sadistische Handlungsverzögerung, die Medea grenzenlos zu genießen scheint (Sen. Me. 1016-1017) perfruere lento scelere, ne propera, dolor: meus dies est; tempore accepto utimur. Genieß in vollen Zügen dein langsam ausgeführtes Verbrechen, eile nicht, mein Schmerz: der Tag gehört mir; wir nutzen die gewährte Zeit.
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Angesichts des allumfassenden Kontrastes zwischen den beiden Mordszenen, der sich als Gegensatz zwischen Rhetorik und Handlung, zwischen Übernatürlichem und Menschlichem, zwischen mythologischer Bildlichkeit und psychologischer Unmittelbarkeit präsentiert, lassen sich die letzten Worte der Tragödie meines Erachtens besser verstehen (Sen. Me. 1026-1027 per alta vade spatia sublime aetheris, / testare nullos esse, qua veheris, deos). Dieser Satz behält selbstverständlich seine orakelhafte Suggestivität, die eine Vielfalt von philosophischen, ethischen und religiösen Auslegungen ermöglicht. Die von mir in diesem Kapitel dargestellte Perspektive verleiht ihm eine zusätzliche Konnotation. Von diesem Standpunkt aus betrachtet erscheinen die göttlichen Gestalten, deren visuell übersättigte Darstellungen das Gros des vierten Akts ausmachen, als Bestandteil des ekphrastischen Überflusses, von dem sich die Schilderung des Mordes im fünften Akt dezidiert distanziert. Dadurch, dass Medea ohne jegliche göttliche Hilfe eine Gräueltat begeht, deren Grausamkeit sie für viel größer erklärt als diejenige der früheren – von göttlichen Wesen überbevölkerten – Episode, bezeugt sie bereits hinreichend (vgl. testare), dass man keine übernatürlichen Kräfte (oder besser gesagt: keine klischeehaften literarischen Schreckensbilder) benötigt, um den reinen – unüberbietbaren – Horror darzustellen. Und wenn man sie braucht, dann nur als Folie, um die emotionale Wirkung des absoluten Horrors noch weiter zu verstärken. Am Ende der Tragödie wird Jason diesem blanken – rein menschlichen – Horror augesetzt. Die Tatsache, dass er die sich in den letzten Worten des Stückes offenbarende Wahrheit erkennt, zeigt, dass das von Medea veranstaltete Spektakel die intendierte Wirkung erreicht hat. Ihre Absicht scheint in erster Linie darin zu bestehen, Jason durch ihre überbietende Rache mit aller Deutlichkeit sehen zu lassen, welchen Schmerz er ihr zugefügt hat. So muss er letztlich gezwungenermaßen seine Frau erkennen (Sen. Me. 1021 coniugem agnoscis tuam?) und dadurch zugleich die für ihn bis dahin verborgene Unermesslichkeit der eigenen Missetat. Auf diese Weise wird der am Ende der Medea dargestellte blanke Horror zum Symbol einer schmerzhaften Selbsterkenntnis.
6. Das innere Monster: Oedipus Im Oedipus wird wie in der Medea das übernatürlich Monströse in mehreren visuell beeindruckenden Passagen beschrieben. Des Weiteren erweisen sich die in den ekphrastischen Passagen dargestellten Bilder analog zur Medea als funktional überflüssig, da die eigentliche Auflösung ohne jegliche übernatürliche Hilfe zustande kommt. Sie dienen lediglich als Folie für die sich am Ende des Stückes offenbarende, von jeglicher Übernatürlichkeit bereinigte innere Monstrosität. Die Dekonstruktion der klischeehaften literarischen Rhetorik erfolgt in diesem Drama jedoch nach einem etwas anderen Prinzip. Während wir am Ende der Medea eine die Intensität eines klassischen griechischen Dramas erreichende effektvolle Selbstinszenierung vorfinden, ist im Oedipus die Rolle der Bühnenhandlung auf ein absolutes Minimum reduziert. Wir haben es hier mit einem für ein Theaterstück ungewöhnlich statischen Konstrukt zu tun. Wie ich zeigen werde, rührt diese eigenartige Statik in erster Linie daher, dass im Oedipus Beschreibungen unglaublicher übernatürlicher Erscheinungen nicht als Kontrast zu noch schlimmeren Bühnenereignissen verwendet werden, sondern als Mittel zum Sichtbarmachen einer längst vollendeten Tatsache. Die statische Natur des senecanischen Oedipus lässt sich besonders anschaulich im Vergleich zu Sophokles’ Oedipus Tyrannus illustrieren. Nachweisbare Abweichungen von den erhaltenen griechischen Prototypen liefern, wie wir bereits mehrmals bemerkt haben, außerordentlich erhellende Einsichten in Senecas eigene tragische Poetik. Im Falle des Oedipus ist das Bewusstsein der Präsenz der sophokleischen Vorlage hinter der Textoberfläche besonders entscheidend für unser Verständnis des Stückes: Senecas ausdrückliches Ziel scheint nämlich, wie wir sehen werden, darin zu bestehen, aus dem von Aristoteles als die ideale Tragödie schlechthin betrachteten sophokleischen Drama eine im aristotelischen Sinne absolut undramatische Anti-Tragödie zu erschaffen,1 in der allerdings die eigentümliche senecanische Rhetorik des Sehens auffallend stark zur Geltung kommt. Einer der Gründe, warum Aristoteles Sophokles’ Oedipus Tyrannus lobend hervorhebt,2 besteht bekanntlich darin, dass dieses Stück ein vorzügliches Beispiel einer Peripetie darstellt (Ar. Poet. 1452a22-26):
1 2
Vgl. Fantham (2001), 120-121. Zu Aristoteles’ „Lieblingstragödien“ siehe White (1992).
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Ekphrasis und Metatheater ἔστι δὲ περιπέτεια µὲν ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττοµένων µεταβολή, καθάπερ εἴρηται, καὶ τοῦτο δὲ ὥσπερ λέγοµεν κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ ἀναγκαῖον, οἷον ἐν τῷ Οἰδίποδι ἐλθὼν ὡς εὐφρανῶν τὸν Οἰδίπουν καὶ ἀπαλλάξων τοῦ πρὸς µητέρα φόβου, δηλώσας ὃς ἦν, τοὐναντίον ἐποίησεν. Eine Perepetie ist, wie bereits erwähnt, eine Änderung der Handlungsablaufs ins Gegenteil, die dabei nach der schon erörterten Regel der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit erfolgt, wie z.B. im Oedipus, wo [der Bote] kommt, um Oedipus zu erfreuen und ihn von der Angst vor seiner Mutter zu befreien, aber, nachdem er sagt, wer Oedipus ist, die entgegengesetzte Wirkung erreicht.
Die hier von Aristoteles kursorisch zusammengefasste Szene, in der zunächst der Bote verkündet, Oedipus sei nur ein Adoptivsohn der Merope und müsse deswegen keine Angst vor einer inzestuösen Beziehung mit seiner Mutter haben, und ihn der Hirte dann unmissverständlich als Sohn dessen eigener Frau Iocaste identifiziert, bildet nur den wichtigsten Wendepunkt der sich innerhalb des Stückes vollziehenden Transformation eines stolzen, tatkräftigen Staatsmannes in einen zusammengebrochenen Krüppel, der seinem eigenen – unwissentlich gegebenen – Befehl folgend ins Exil gehen muss.3 Bei Seneca kann diese Verwandlung gar nicht erst stattfinden, da der Oedipus, dem wir im ersten Akt begegnen, niedergeschlagener wirkt als sein sophokleischer Prototyp am Ende der Tragödie.4 Merkwürdigerweise verkündet Senecas Oedipus gleich am Anfang seines ersten Monologs, dass ihn die in der Stadt wütende Pest nur mit Gedanken an die sowohl gefährliche als auch ephemere Natur des Königtums erfüllt (Sen. Oe. 6-11): quiscumque regno gaudet? o fallax bonum, quantum malorum fronte quam blanda tegis! ut alta ventos semper excipiunt iuga rupemque saxis vasta dirimentem freta quamvis quieti verberat fluctus maris, imperia sic excelsa Fortunae obiacent. Freut sich jemand über die Königswürde? O trügerisches Gut, wie viel Unglück verbirgst du hinter deiner so freundlichen Stirn! Wie hohe Berge immer die Winde auffangen und wie die Flut eines noch so ruhigen Meeres die Klippe peitscht, die mit ihren Felsen die gewaltigen Brandungen auseinanderbringt, so sind emporgehobene Staatsmächte der Fortuna ausgeliefert.
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Dazu siehe Schmitt (2008), 429-433, wo man auch zahlreiche Verweise auf weitere Sekundärliteratur findet. Vgl. Pötscher (1977), 324-330; Poe (1983); Paduano (1988); Mader (1995), 305-306.
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Im Gegensatz zum sophokleischen Oedipus, der sich zu Beginn seiner Tragödie sofort bereit erklärt, alles zu tun, um seinen Untertanen in dieser schweren Stunde zu helfen, scheint der senecanische Oedipus nicht imstande zu sein, an etwas anderes als an sich selbst zu denken: Er betrachtet die Katastrophe, die seine Stadt dezimiert, lediglich als eine gegen ihn persönlich gerichtete Strafe, gegen die er nichts mehr unternehmen kann oder will. Diese absolut handlungsunfähige, angsterfüllte Gestalt ist in der Tat nur ein blasser Schatten seines sophokleischen Vorgängers.5 Die Unmöglichkeit einer dramatischen Peripetie wird hier jedoch nicht nur dadurch hervorgehoben, dass der senecanische Oedipus bereits vor dem Beginn des Stückes die Charakterwende vollzogen zu haben scheint, für deren Darstellung Sophokles beinahe das gesamte Drama benötigt. Die durch einen sich sukzessive entfaltenden Plot entstehende Spannung muss auch deshalb ausbleiben, da der Oedipus Senecas die Lösung, die bei Sophokles nach mühsamer detektivischer Arbeit zutage tritt, bereits im Prolog andeutet: In Sophokles’ Version lernen wir relativ schnell, dass die Pest beendet werden kann, wenn man den Mörder von Laius findet und bestraft; allerdings wird erst am Ende endgültig klar, dass es sich dabei um Oedipus handelt;6 bei Seneca hingegen lesen wir gleich in der ersten Szene Folgendes (Sen. Oe. 28-36): iam iam aliquid in nos fata moliri parant. nam quid rear quod ista Cadmeae lues infesta genti strage tam late edita mihi parcit uni? cui reservamur malo? inter ruinas urbis et semper novis deflenda lacrimis funera ac populi struem incolumis asto – scilicet Phoebi reus. sperare poteras sceleribus tantis dari regnum salubre? fecimus caelum nocens. Nun, nun bereiten sich die Schicksalskräfte, etwas gegen mich zu unternehmen. Denn was soll ich davon halten, dass die Seuche, die das kadmeische Volk plagt, so weitreichend in ihrer Verwüstung, mich allein verschont? Für welches Unglück werde ich aufgespart? Inmitten der Trümmer der Stadt, der mit immer neuen Tränen zu beweinenden Begräbnisse und der Scheiterhaufen des Volkes stehe ich unversehrt da – freilich ein Angeklagter des Phöbus. Konntest du hoffen, dass für solche Verbrechen ein heiles Königtum gegeben wird? Ich habe den Himmel schädlich gemacht.
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Vgl. Wiener (2006), 105-109. Soph. OT 106-107 τούτου [sc. Λαίου] θανόντος νῦν ἐπιστέλλει σαφῶς / τοὺς αὐτοέντας χειρὶ τιµωρεῖν τινας. 1182 ἰοὺ ἰού· τὰ πάντ᾿ ἂν ἐξήκοι σαφῆ.
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Oedipus spürt demnach bereits zu diesem Zeitpunkt, dass er die eigentliche Ursache der Katastrophe sein könnte.7 Mehr noch: Er deutet an, dass die Lösung des Problems in seinem Exil bestehen könnte (Sen. Oe. 77-80): sperne letali manu contacta regna, linque lacrimas, funera, tabifica caeli vitia quae tecum invehis infaustus hospes, profuge iamdudum ocius – vel ad parentes. Verwirf das von deiner tödlichen Hand angerührte Königtum, verlass die Tränen, die Begräbnisse, die aufzehrende Schädlichkeit des Himmels, die du, ein unheilvoller Gast, mit dir hineinbringst, fliehe nun endlich möglichst schnell – und sei es zu deinen Eltern!
Das, wofür der sophokleische Oedipus beinahe die gesamte Tragödie benötigt, wird von Seneca in den ersten achtzig Versen zwar nicht eindeutig formuliert, jedoch klar angedeutet. Es entsteht der Eindruck, der senecanische Oedipus habe das sophokleische Original gelesen und bemühe sich nun darum, die wichtigsten Punkte des Plots so knapp wie möglich zusammenzufassen.8 Schon an dieser Stelle merkt man, dass das senecanische Drama mit der Nachahmung der spannenden Wirkung des sophokleischen Plots rein gar nichts zu tun hat. Der gesamte Plot wird vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Wie ich nun zeigen möchte, besteht Senecas Ziel darin, die griechische Vorlage nach den Prinzipien seiner eigenen – überwiegend visuellen – Poetik zu transformieren: Im Gegensatz zu Sophokles berichtet Seneca nicht von einer leidenschaftlichen – und am Ende selbstzerstörenden – Suche nach Wahrheit, sondern erschafft eine anschauliche Illustration für den sukzessiven Prozess des Sichtbarwerdens einer dunklen Vorahnung. Das Thema des Sehens, das im Mittelpunkt von Senecas Oedipus steht, spielt bekanntlich auch in Sophokles’ Oedipus Tyrannus die zentrale Rolle. Die Handlung des sophokleischen Dramas wird weitgehend vom Kontrast zwischen dem physisch blinden Tiresias, der imstande ist, die verborgene Wahrheit zu sehen, und dem sehfähigen Oedipus, der in einem wesentlicheren Sinne blind ist, bestimmt.9 Der Dialog, in dem Tiresias verkündet, Oedipus selbst sei der Mörder, nach dem er suche, konzentriert sich auf Gegenüberstellung verschiedener Arten des Sehens. Oedipus’ erste spontane Reaktion auf diese ihm vollkommen unglaubwürdig erscheinende Offenbarung besteht darin, dass er Tiresias eine vollkommene – nicht nur wörtlich zu verstehende – Blindheit vorwirft (Soph. OT 371 τυφλὸς τά τ᾿ ὦτα τόν τε νοῦν τά τ᾿ ὄµµατ᾿ εἶ) und seine propheti7 8 9
Vgl. Schmitz (1993), 25-35. Vgl. Henry – Walker (1983), 128-130. Dazu siehe Lefèvre (2001), 124-130.
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sche Kunst für das Werk eines im Dienste eines vermeintlichen politischen Konkurrenten stehenden Scharlatanen erklärt (Soph. OT 385-389): ταύτης [sc. ἀρχῆς] Κρέων ὁ πιστός, οὑξ ἀρχῆς φίλος, λάθρᾳ µ᾿ ὑπελθὼν ἐκβαλεῖν ἱµείρεται, ὑφεὶς µάγον τοιόνδε µηχανορράφον, δόλιον ἀγύρτην, ὅστις ἐν τοῖς κέρδεσιν µόνον δέδορκε, τὴν τέχνην δ᾿ ἔφυ τυφλός. Der treue Kreon, der vom Anfang an ein Freund war, hintergeht mich heimlich und wünscht mich der Macht zu berauben, indem er diesen hinterlistigen Zauberer anstiftet, diesen verlogenen Scharlatan, der nur für den Gewinn Augen hat, in seiner Kunst aber blind ist.
Diese angeblich allumfassende Blindheit des Tiresias, die seine Kunstfertigkeit als „Seher“ in Frage stellt, kontrastiert Oedipus mit seiner eigenen Fähigkeit, Rätsel zu lösen, auf die er besonders stolz ist: Diese Begabung führte schließlich dazu, dass er, und nicht etwa Tiresias, seinerzeit das Rätsel der Sphinx löste und dadurch die Stadt rettete (Soph. OT 390-398): ἐπεὶ φέρ᾿ εἰπέ, ποῦ σὺ µάντις εἶ σαφής; πῶς οὐχ, ὅθ᾿ ἡ ῥαψῳδὸς ἐνθάδ᾿ ἦν κύων, ηὔδας τι τοῖσδ᾿ ἀστοῖσιν ἐκλυτήριον; καίτοι τό γ᾿ αἴνιγµ᾿ οὐχὶ τοὐπιόντος ἦν ἀνδρὸς διειπεῖν, ἀλλὰ µαντείας ἔδει· ἣν οὔτ᾿ ἀπ᾿ οἰωνῶν σὺ προυφάνης ἔχων οὔτ᾿ ἐκ θεῶν του γνωτόν· ἀλλ᾿ ἐγὼ µολών, ὁ µηδὲν εἰδὼς Οἰδίπους, ἔπαυσά νιν, γνώµῃ κυρήσας οὐδ᾿ ἀπ᾿ οἰωνῶν µαθών. Denn sag mir doch, wo bist du zuverlässig als Seher? Warum denn, als die Sängerin, diese Hündin, hier war, hast du diesen Bürgern nicht etwas Erlösendes verkündet? Das Rätsel zu lösen war doch nicht die Aufgabe des erstbesten Mannes, sondern man brauchte prophetische Kunst, die du offenbar weder von den Vögeln noch von irgendeinem der Götter erhalten hast. Stattdessen kam ich, der nichts wissende Oedipus, und zwang sie aufzuhören; mit dem Verstand habe ich es erreicht, ohne von den Vögeln belehrt zu werden.
Besonders bemerkenswert ist dabei der Unterschied zwischen Tiresias’ angeblich wirkungsloser prophetischer Kunst und Oedipus’ eigener natürlicher Intelligenz, die ihm dazu verhilft, beim Lösen des Rätsels auf jegliches divinatorische Brimborium zu verzichten. Erzürnt durch diesen unschmeichelhaften Vergleich verrät Tiresias noch weitere Aspekte aus dem bislang verborgenen Lebensabschnitt des Oedipus. Außerdem kontrastiert er nochmals verschiedene Arten des
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Sehens miteinander – Oedipus’ physische Sehkraft, die er bald für immer einzubüßen wird, und dessen gleichzeitige Unfähigkeit, das Wesentliche wahrzunehmen (Soph. OT 412-419): λέγω δ᾿, ἐπειδὴ καὶ τυφλόν µ᾿ ὠνείδισας· σὺ καὶ δέδορκας κοὐ βλέπεις ἵν᾿ εἶ κακοῦ, οὐδ᾿ ἔνθα ναίεις, οὐδ᾿ ὅτων οἰκεῖς µέτα. ἆρ᾿ οἷσθ᾿ ἀφ᾿ ὧν εἶ; καὶ λέληθας ἐχθρὸς ὢν τοῖς σοῖσι αὐτοῦ νέρθε κἀπὶ γῆς ἄνω, καὶ σ᾿ ἀµφιπλὴξ µητρός τε καὶ τοῦ σοῦ πατρὸς ἐλᾷ ποτ᾿ ἐκ γῆς τῆσδε δεινόπους ἀρά, βλέποντα νῦν µὲν ὄρθ᾿, ἔπειτα δὲ σκότον. Ich sage, da du mich als Blinden verspottet hast: du kannst zwar sehen, siehst aber nicht, in welchem Unglück du dich befindest – weder wo du wohnst noch mit wem du lebst. Weißt du, von wem du abstammst? Du ahnst nicht, dass du den Deinigen sowohl da unten als auch hier auf Erden Feind bist; mit doppeltem Schlag wird einst der dir auf den Fersen folgende Fluch deiner Mutter und deines Vaters dich aus diesem Land verjagen, dich, der jetzt noch richtig sieht, dann aber blind wird.
Im Prinzip nennt er hier die wichtigsten Anhaltspunkte der Oedipus-Geschichte, die im weiteren Verlauf der Tragödie sukzessive ans Licht kommen werden. Auffällig ist, dass er sie in einer höchst orakelhaften – rätselhaften – Sprache formuliert, die sich nicht leicht deuten lässt (Soph. OT 438-441): Τε. ἥδ᾿ ἡµέρα φύσει σε καὶ διαφθερεῖ. Οι. ὡς πάντ᾿ ἄγαν αἰνικτὰ κἀσαφῆ λέγεις. Τε. οὔκουν σὺ ταῦτ᾿ ἄριστος εὑρίσκειν ἔφυς; Οι. τοιαῦτ᾿ ὀνείδιζ᾿ οἷς ἔµ᾿ εὑρήσεις µέγαν. Tiresias: Der heutige Tag wird dich sowohl zeugen als auch vernichten. Oedipus: Wie rätselhaft und unklar sagst du alles! Tiresias: Bist du aber nicht am besten dazu geeignet, es zu erraten? Oedipus: Verspotte nur das, worin du mich groß finden wirst.
Tiresias’ rätselhafte Worte dienen dazu, Oedipus nochmals an dessen gefeierte Fähigkeit als Rätsellöser zu erinnern. Da Oedipus diese Herausforderung annimmt, besteht fast der gesamte darauf folgende Handlungsablauf darin, dass er diese Begabung erneut unter Beweis stellt. Besonders wichtig ist, dass er sich dabei keinerlei Künste eines Vogelschauers oder sonstiger übernatürlicher Mittel bedient, sondern die Lösung des Rätsels nur anhand von Indizien findet. Daraus entsteht eine der frühesten (und nach wie vor der spannendsten) kriminologischen Analysen der Weltliteratur, in der der Ermittler, der sich im Laufe der Ermittlung als Verbrecher erweist, Ergebnisse der Zeugenbefragung mit seinen
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eigenen Erinnerungen vergleicht und am Ende diesen erschütternden Kriminalfall unwiderlegbar aufdeckt.10 Dass Oedipus gerade eine Selbstblendung als Strafe für sein Verbrechen wählt, wirkt insofern absolut passend, als dass es das Thema des Sehens auf eine moralisch höchst überzeugende Weise abschließt: Seine anfängliche Überheblichkeit dem blinden Propheten gegenüber weicht einem Zustand, der dem des Tiresias nicht ganz unähnlich ist: Das Sehen der Wahrheit erweist sich nämlich als mit dem physischen Sehen unvereinbar.11 Seneca transformiert diese kriminalistische Parabel über den Verlust und das Erlangen des Sehvermögens in etwas typisch Senecanisches. Wie ich bereits bemerkt habe, „sieht“ Oedipus, wenn auch ziemlich vage, schon in der allerersten Szene der Tragödie den eigentlichen Grund für das die Stadt heimsuchende Unglück in seiner eigenen Person. Dadurch, dass Seneca seinem Protagonisten diese Einsicht so früh erlaubt, entzieht er seinem Drama jegliche Möglichkeit, zu einer spannenden Geschichte zu werden: Die darauf folgenden Szenen sind in der Tat alles andere als im herkömmlichen Sinne spannend, denn sie vermögen es nicht mehr, einen sich durch eine enge logische und strukturelle Verknüpfung zwischen Anfang, Mitte und Ende auszeichnenden aristotelischen Plot zu bilden.12 Stattdessen haben wir es bei Seneca mit einem von mir bereits am Anfang dieses Kapitels angedeuteten statischen Bild zu tun, das sich zunächst nur schwerlich – wie vom Nebel umhüllt – erahnen lässt, aber im Laufe des Stückes zunehmend sichtbar wird. Diesen Effekt der graduellen Sichtbarwerdung erreicht der Autor mit den uns aus allen anderen Tragödien vertrauten Mitteln: der ekphrastischen Visualisierung des Monströsen und der Nachspielung anderer mythologischer Sujets. Es ist ziemlich auffällig, dass das Theben, das Oedipus in seinem anfänglichen Monolog beschreibt, als ein Ort mit drastisch verminderten Sichtbedingungen bezeichnet wird (Sen. Oe. 1-5):13 iam nocte Titan dubius expulsa redit et nube maestum squalida exoritur iubar, lumenque flamma triste luctifica gerens prospiciet avida peste solatas domos, stragemque quam nox fecit ostendet dies. Schon kehrt, nachdem die Nacht vertrieben wurde, der Titan unsicher zurück, und, betrübt durch unreinliche Umwölkung, entsteht sein Glanz, 10 11 12
13
Segal (2001), 88-107. Lefèvre (2001), 133-142. Ar. Poet. 1450b26-31. Zur zentralen Bedeutung dieser auf Aristoteles zurückgehenden Auffassung des Erzählplots für verschiedene Gattungen der griechischen Literatur, sowie für die „westliche“ narrative Tradition im Allgemeinen siehe Lowe (2000), insb. 61-78. Vgl. Schmitz (1993), 19-24.
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Ekphrasis und Metatheater und, das traurige Licht mit seiner verderblichen Flamme tragend, wird er auf die von der gierigen Pest verwaisten Häuser hinabschauen, und der Tag wird die von der Nacht angerichtete Vernichtung zeigen.
Jedes mit Licht assoziierte Substantiv ist in dieser Passage mit einem Adjektiv versehen, das die Möglichkeit der erfolgreichen Lichterzeugung in Frage stellt: Die aufgehende Sonne ist unsicher, ihre Strahlen deprimierend, das von ihnen gespendete Licht traurig, usw. Die Schilderung dieser dunklen Welt vervollständigt erschütternde Bilder der durch die Pest verursachten Verwüstung. Der Darstellung dieses unaufhaltsamen Massensterbens, die auf die ehrwürdige klassische Tradition der Pestbeschreibungen zurückgreift (Sen. Oe. 52-70)14 geht eine erweiterte Beschreibung der damit verbundenen Veränderungen in der Natur voran (Sen. Oe. 37-51). Diese Schilderung besteht auffälligerweise nur aus Verneinungen der als normal betrachteten Zustände: Der Wind weht nicht, die Flüsse, die Quellen und die Pflanzen sind trocken, der Mond ist verdunkelt, die gesamte Welt ist blass vor Nebel, man sieht nachts keine Sterne. Sowohl die hier skizzierte, nachts und tagsüber herrschende Finsternis als auch die Anhäufung der die vertrauten irdischen Eigenschaften verneinenden Negationen erinnert deutlich an eine typische literarische Darstellung der Unterwelt, wie wir sie zum Beispiel aus dem Hercules Furens kennen (Sen. HF 658-829).15 Die Stadt, die Seneca an dieser Stelle ekphrastisch entstehen lässt, ist demnach ein typischer ‚Unort’,16 ein überirdisches Totenreich, aus dem es keine Rettung mehr gibt. Es ist bezeichnend, dass Oedipus’ Wunsch, diesem Alptraum zu entkommen, so groß ist, dass er sich bereit erklärt, vel ad parentes (Sen. Oe. 81) zu fliehen: Dieser Ort ist offensichtlich schlimmer als Inzest und Vatermord; dieser Ort ist die Hölle. Noch wichtiger ist, dass Oedipus, der sich selbst für den Ausbruch der Pest verantwortlich fühlt (Sen. Oe. 36 fecimus caelum nocens), eigentlich derjenige ist, der seine Stadt in eine Art Unterwelt verwandelt. Als Iocaste ihn in einem kurzen Monolog an seine königliche Würde erinnert,17 scheint Oedipus plötzlich aus seinem Starrsinn zu erwachen. Er verwandelt sich dadurch jedoch nicht in den tatkräftigen Staatsmann, der sich bei Sophokles der Lösung des seine Stadt zerstörenden Problems voll und ganz widmet, sondern in einen typisch senecanischen Helden, der gegen Monstren kämpft. Iocastes Appell hat lediglich zur Folge, dass in Oedipus die Erinnerungen an seinen Sieg über die verhängnisvolle Sphinx wach werden. Die Sphinx 14 15
16 17
Töchterle (1994), 182; Boyle (2011), 125-128. Zu den „kosmischen Auswirkungen der Pest“ im Prolog des Oedipus siehe Schmitz (1993), 41-54. Insb. Sen. HF 698-700 non prata viridi laeta facie germinant / nec adulta leni fluctuat Zephyro seges; / non ulla ramos silva pomiferos habet, etc. Vgl. auch die erste Chorpassage des Oedipus, insb. 160-179 rupere Erebi claustra profundi, etc. Dazu siehe Schmitz (1993), 54-59 und Walde (2010). Walde (2010). Sen. Oe. 81-86, insb. 86 haud est virile terga Fortunae dare.
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wird hier allerdings nicht, wie bei Sophokles, als eine rein intellektuelle Herausforderung dargestellt, sondern als ein typisches furchteinflößendes Monster: (Sen. Oe. 87-102): abest pavoris crimen ac probrum procul, virtusque nostra nescit ignavos metus: si tela contra stricta, si vis horrida Mavortis in me rueret – adversus feros audax Gigantas obvias ferrem manus. nec Sphinga caecis verba nectentem modis fugi: cruentos vatis infandae tuli rictus et albens ossibus sparsis solum; cumque e superna rupe iam praedae imminens aptaret alas verbera et caudae movens saevi leonis more conciperet minas, carmen poposci: sonuit horrendum insuper, crepuere malae, saxaque impatiens morae revulsit unguis viscera expectans mea; nodosa sortis verba et implexos dolos ac triste carmen alitis solvi ferae. Weit von mir entfernt ist der schändliche Vorwurf der Furcht, und mein Mut kennt keine trägen Ängste: wenn Schwerter gegen mich gezückt würden, wenn die entsetzliche Kraft des Mars auf mich stürzte – würde ich gegen wilde Giganten kühn meine gegnerischen Hände tragen. Auch vor der Sphinx, die ihre Worte in undurchsichtige Wendungen flocht, bin ich nicht geflohen: den blutigen Rachen der abscheulichen Weissagerin und den von zerstreuten Knochen weiß glänzenden Boden habe ich ertragen; und als sie, vom emporragenden Felsen bereits nach der Beute trachtend, die Flügel zurechtlegte und, die Peitsche ihres Schweifes bewegend, nach der Art eines wütenden Löwen Drohungen erklingen ließ, da verlangte ich nach ihrem Rätsel: Schauderliches ertönte von oben; ihre Kinnbacken knirschten, und ihre Kralle, keinen Verzug vertragend, riss Felsen heraus, meine Eingeweide erwartend. Die knorrigen Worte ihres Orakelspruchs, ihre verwickelten Listen und das traurige Lied des geflügelten Tiers habe ich gelöst.
In dieser Passage lassen sich alle geläufigen Merkmale von Senecas Rhetorik der aemulatio erkennen. Das Aussehen der Sphinx selbst, die von ihr verursachte Verwüstung und Oedipus’ Begegnung mit ihr werden in einer kurzen ekphrastischen Passage beschrieben, die uns die unvorstellbare Monstrosität dieses mythologischen Wesens vor Augen führt. Da er schon einmal ein so haarsträubendes Ungeheuer besiegt habe, sei er nun bereit, einem größeren Monster zu begegnen (z.B. einem Giganten), und folglich, wie es bei Seneca üblich ist, seine frühere Heldentat zu übertreffen. Es ist besonders bedeutsam, dass Oedipus am Ende seiner Tirade zu der Ansicht gelangt, die Pest stelle möglicherweise nur
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einen Racheakt der Sphinx dar, die es nun ein weiteres Mal zu besiegen gelte (Sen. Oe. 106-108): ille, ille dirus callidi monstri cinis in nos rebellat, illa nunc Thebas lues perempta perdit. Jene Asche, jene entsetzliche Asche des verschlagenen Monsters erneuert den Krieg gegen mich, dieses Übel, obwohl vernichtet, stürzt nun Theben ins Verderben.
Wir haben es hier mit einer ausgeklügelten Verflechtung zweier Motive zu tun. Einerseits wirkt Oedipus’ Vorstellung, er müsse noch einmal gegen die Sphinx antreten, wie eine typisch senecanische Nachspielung einer bereits erprobten mythologischen Handlung. Andererseits erinnert uns die vorgeschlagene Erklärung der Pest als Rache der Sphinx unweigerlich an Oedipus’ erste Hypothese hinsichtlich der Ursache der Epidemie (er selbst sei eventuell schuldig am Unglück seiner Stadt). Das Nebeneinanderstellen dieser scheinbar widersprüchlichen Erklärungen resultiert in einer virtuellen Gleichsetzung zwischen Oedipus und einem mythologischen Monster. Dies lässt schon jetzt erahnen, dass die Tragödie des senecanischen Oedipus in erster Linie darin bestehen wird, dass sein inneres Monster, das Theben in eine Hölle auf Erden transformiert hat und das in der Tat viel schlimmer ist als die Sphinx, mit zunehmender Deutlichkeit sichtbar wird. Im weiteren Verlauf des Stückes begegnen wir immer wieder ähnlichen Kombinationen: Der Überfluss an Informationen, die in einem klassischen (aristotelischen, sophokleischen) Plot unabwendbar zu einer schnellen Lösung des Geheimnisses beitragen müssten, bei Seneca jedoch gänzlich konsequenzlos bleiben, wird mit einer ausgiebigen ekphrastischen Rhetorik verbunden, die zur Visualisierung übernatürlicher – oder einfach ominöser – das Bekanntwerden dieser Informationen begleitender Phänomenen dient. Bei Sophokles klingt die Antwort des delphischen Orakels, die Creon nach seiner Rückkehr verkündet, klar und unmissverständlich (Soph. OT 96-107: man müsse den Mörder des Laius finden und bestrafen); Creon sieht in ihr eine fröhliche Nachricht (Soph. OT 86 ἐσθλήν) und Oedipus eine Aufforderung, sofort an die Arbeit zu gehen, um die vom Gott gestellte Aufgabe möglichst rasch und effizient zu erfüllen (Soph. OT 132-146). Bei Seneca verhält es sich anders. Die Aufforderung des Orakels, den Mord an Laius zu rächen, wird zwar auch zitiert (Sen. Oe. 217-220); Creon fasst den Orakelspruch jedoch als verwirrend auf (Sen. Oe. 212 responsa dubia sorte perplexa iacent); Oedipus, der seinem literarischen Charakter zufolge jede Verwirrung als eine Aufforderung zum Rätsellösen verstehen muss (Sen. Oe. 216 ambigua soli noscere Oedipodae datur), will überraschenderweise gar nicht erst mit der Suche nach dem Mörder beginnen; er erkundigt sich direkt bei Creon, ob die Gottheit auch Hinweise auf
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dessen Identität gegeben habe (Sen. Oe. 222 quem memoret ede Phoebus, ut poenas luat), und erhält sogar eine positive Antwort. Anstelle der bei Sophokles einwandfrei funktionierenden komplexen kausalen Ereigniskette, in der die endgültige Auflösung lange genug verzögert wird, um eine graduell steigende Spannung zu erzeugen, haben wir hier erneut einen Kurzschluss vorliegen.18 Die Antwort auf Oedipus’ Frage erfolgt zwar nicht sofort, doch wird die Verzögerung mit ganz anderen Mitteln erreicht als bei Sophokles: Bevor Creon den die Identität des Mörders erläuternden hexametrischen Orakelspruch wortwörtlich zitiert, skizziert er in einer ekphrastischen Passage, in der zahlreiche ominöse Details enthalten sind, das Bild der die Orakelbefragung begleitenden Umstände (Sen. Oe. 223-231):19 sit, precor, dixisse tutum visu et auditu horrida; torpor insedit per artus, frigidus sanguis coit. ut sacrata templa Phoebi supplici intravi pede et pias numen precatus rite summisi manus, gemina Parnasi nivalis arx trucem fremitum dedit; imminens Phoebea laurus tremuit et movit domum ac repente sancta fontis lympha Castali stetit. incipit Letoa vates spargere horrentes comas et pati commota Phoebum. Möge es, so bitte ich, gefahrlos sein zu sagen, was zu sehen und zu hören schauderhaft ist; Erstarrung hat sich meiner Glieder bemächtigt, eiskalt gerinnt mein Blut. Als ich den heiligen Tempel des Phöbus demütigen Fußes betrat und, zur Gottheit betend, meine frommen Hände nach gehörigem Brauch emporhob, da ließ die doppelte Spitze des schneebedeckten Parnass ein drohendes Dröhnen erklingen; der ragende Lorbeerbaum des Phöbus erzitterte und brachte das Gebäude zum Beben, und plötzlich kam das heilige Wasser der kastalischen Quelle zum Stehen. Die Prophetin des Letosohnes begann ihr emporstarrendes Haar hin und her zu schütteln und, erregt, den Phöbus zu empfangen.
Dadurch, dass wir die Natur furchteinflößende Zeichen geben und die Pythia alle aus der römischen Literatur bekannten prophetischen Verhaltensklischees erfüllen sehen,20 ahnen wir sofort, dass gleich etwas besonders Schreckliches 18 19 20
Zur Verzögerung der Auflösung in einem „classical plot“ siehe Lowe (2000), 65-73. Vgl. Schmitz (1993), 60-63. Töchterle (1994), 271-272; Boyle (2011), 172. Zum Erzittern des Lorbeerbaums und des gesamten Tempels kurz vor der Selbstoffenbarung des Apoll siehe z. B. Call. h. 2.1-2 οἷον ὁ τὠπόλλωνος ἐσείσατο δάφνινος ὅρπηξ / οἷα δ᾿ ὅλον τὸ µέλαθρον. Zum typischen Verhalten der Pythia siehe z.B. Verg. Aen. 6.46-51 ‚deus ecce deus!’ cui talia fanti / ante fores subito non vultus, non color unus, / non comptae mansere comae; sed pectus anhelum, / et rabie fera corda tument, maiorque videri / nec
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folgen wird. Diese Erwartung wird keineswegs enttäuscht, wenn wir den Orakelspruch zu lesen / zu hören bekommen (Sen. Oe. 233-238): mitia Cadmeis remeabunt sidera Thebis, si profugus Dircen Ismenida liquerit hospes regis caede nocens, Phoebo iam notus et infans. nec tibi longa manent sceleratae gaudia caedis: tecum bella geres, natis quoque bella relinques, turpis maternos iterum revolutus in ortus. Dem kadmeischen Theben werden mild gestimmte Gestirne zurückkehren, wenn der flüchtige Gast die ismenische Dirke verlässt, schuldig am Mord des Königs, dem Phoebus auch als Kind schon bekannt. Die Freude am frevelhaften Mord wird dir nicht lange bleiben: du wirst gegen dich selbst Kriege führen, und deinen Kindern wirst du auch Kriege hinterlassen, abermals zum mütterlichen Ursprung schändlich zurückgekehrt.
Das Orakel nennt hier in einer dunklen (typisch orakelhaften) Sprache alle notwendigen Eigenschaften, die die geschilderte Person eindeutig als Oedipus identifizieren. Mehr noch: Der Orakelspruch enthält kaum etwas, was Oedipus selbst im ersten Akt nicht gesagt hätte: eine frühere Bekanntschaft mit Apoll, ein mögliches inzestuöses Verhältnis mit der Mutter, die Schuld am Ausbruch der Pest, das Exil als eventuelle Lösung.21 Um dies erkennen zu können, muss man eigentlich kein Ausnahmetalent im Rätsellösen besitzen. Der senecanische Oedipus scheint diese durchaus relevanten Informationen allerdings vollkommen zu ignorieren. Seine Reaktion auf Creons Bericht klingt so, als habe er nur das gehört, was bereits bei Sophokles nachzulesen ist (man müsse nach dem Mörder des Laius suchen), nicht jedoch die Hexameterpassage, die ihn mehr oder weniger eindeutig als Mörder identifiziert.22 Das Paradoxe an dieser Szene besteht demnach darin, dass sich in ihr, obwohl sie viel mehr Information enthält als die entsprechende Szene bei Sophokles, kein spürbarer Zuwachs an Wissen feststellen lässt. Stattdessen lässt diese Episode das, was ohnehin als bekannt gilt, sichtbarer werden. Dies geschieht einerseits mittels einer weiteren Portion ekphrastischer Ominosität und andererseits dadurch, dass die im Prolog indirekt gemachte Andeutung, Oedipus selbst könnte eventuell das Monster sein, gegen das er kämpft, expliziter formuliert wird (Sen. Oe. 237 tecum bella geres). Die an dieser Stelle deutlicher hervortretende Verinnerlichung des Konflikts wird außerdem dadurch verstärkt, dass der senecanische Oedipus anstatt der bei
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mortale sonans, adflata est numine quando / iam propiore dei. Vgl. auch Luc. Phars. 5.161-224. Vgl. Sen. Oe. 16 hoc me Delphicae laurus monent; 20-21 thalamos parentis Phoebus et diros toros / gnato minatur impia incestos face; 36 fecimus caelum nocens; 80-81 profuge iamdudum ocius – / vel ad parentes. Vgl. Soph. OT 132-146 und Sen. Oe. 239-243.
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Sophokles in diesem Zusammenhang stehenden Absichtserklärung, den Mörder mit allen zugänglichen Mitteln aufzuspüren, die Götter bittet, diesen mit der Ausübung der scheußlichen Verbrechen zu bestrafen, an denen er sich selbst nach wie vor für unschuldig hält (Sen. Oe. 257-263): cuius Laius dextra occidit, hunc non quieta tecta, non fidi lares, non hospitalis exulem tellus ferat: thalamis pudendis doleat et prole impia; hic et parentem dextera perimat sua, faciatque (num quid gravius optari potest?) quidquid ego fugi. Ihn, durch dessen Rechte Laius ums Leben kam, sollen keine friedsamen Häuser, keine treuen Laren, kein gastfreundliches Land als Verbannten aufnehmen: möge er an schändlicher Ehe und an verruchter Nachkommenschaft leiden; auch seinen Vater töte er mit der eigenen Rechten und tue (doch gibt es etwas Schlimmeres, was man ihm wünschen kann?) – und tue alles, wovor ich geflohen bin.
Um die ohnehin offensichtliche Gleichsetzung zwischen sich selbst und dem gesuchten Mörder noch weiter zu betonen, verbindet er den Wunsch, an den von Apoll vorausgesagten Verbrechen weiterhin unschuldig zu bleiben, mit der Entschlossenheit, den Schuldigen zu fangen (Sen. Oe. 270-273): ita molle senium ducat et summum diem securus alto reddat in solio parens solasque Merope noverit Polybi faces, ut nulla sontem gratia eripiet mihi. So wahr möge mein Vater sein hohes Alter sanft verbringen und seinem letzten Tag auf hohem Thron begegnen und Meroe möge nur Hochzeitsfackeln des Polybus kennen, als keine Gnade mit den Schuldigen entreißen wird.
Die ausdrückliche Betonung der in einem erschreckend wörtlichen Sinne zutreffenden Unmöglichkeit, den Schuldigen von Oedipus zu trennen (eripere), erinnert deutlich an die Narziss-Episode in Ovids Metamorphosen, die alle denkbaren Arten der Selbst-Reflexivität bekanntlich auf die Spitze treibt23 und deren Gestaltung im Übrigen dem sophokleischen Oedipus einiges verdankt.24 Die Plage des Narziss besteht auch darin, dass er zwischen dem Subjekt und dem Objekt (in diesem Fall im Zusammenhang mit keiner kriminalistischen 23 24
Hardie (2002), 143-172; Bartsch (2006), 84-103. Gildenhard – Zissos (2000).
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Fahndung, sondern mit einer Liebe) nicht unterscheiden kann, was am Ende zu einer in jeder Hinsicht tragischen Selbsterkenntnis führt.25 Diese Parallele ist umso erhellender, als dass die Narziss-Geschichte wahrscheinlich das anschaulichste Paradigma für die optische (Selbst)Erkenntnis als Voraussetzung für die kognitive (Selbst)Erkenntnis in der gesamten römischen Literatur liefert.26 Dass Seneca seinen Oedipus bereits an dieser Stelle im Einklang mit diesem narzisstisch selbstreflexiven Schema agieren lässt, ist nicht nur ein weiteres höchst interessantes Beispiel der typisch senecanischen Intertextualität, die die griechischen Tragiker stets höchst produktive Verbindungen mit Vergil und Ovid eingehen lässt,27 sondern gibt auch einen wichtigen proleptischen Hinweis auf die visuelle (Selbst)Erkenntnis, die sich am Ende des Stücks ereignen wird. Nach dieser selbstreflexiven Entblößung stellt Oedipus an seine Untertanen eine weitere Frage, die ihn, wie wir aus Sophokles wohl wissen, der Lösung des Problems näher bringen könnte (Sen. Oe. 274-275): sed quo nefandum facinus admissum loco est, memorate: aperto Marte an insidiis iacet? Doch sagt, an welchem Ort das grauenhafte Verbrechen begangen wurde: ist er einem offenen Kampf oder einer Hinterlist erlegen?
Als Antwort erhält er von Creon eine genaue Beschreibung des Tatortes, die weitgehend dem entspricht, was Oedipus bei Sophokles von Iocaste in einem – wohlgemerkt – späteren Zusammenhang erfährt.28 Im Oedipus Tyrannus ruft diese Beschreibung beim Titelhelden sofort eine deutliche Erinnerung an einen ähnlichen Vorfall wach, in den er selbst verwickelt war, und lässt kaum noch Zweifel daran offen, dass er der gesuchte Täter sein muss.29 Bei Seneca könnte diese verfrüht bekanntgewordene Information zu einem erneuten narrativen Kurzschluss führen. Um diesen Kurzschluss zu vermeiden, gewährt Seneca 25
26
27 28 29
Wie in der Oedipus-Geschichte prophezeit auch hier Tieresias dem Protagonisten das aus der Selbsterkenntnis erfolgende tragische Ende: Ov. Met. 3.346-348 de quo consultus, an esset tempora maturae visurus longa senectae, fatidicus vates ‚si se non noverit’ inquit. Und wie in der Oedipus-Geschichte besteht auch hier paradoxerweise die Tragik darin, dass der Protagonist mit sich selbst identisch ist: Ov. Met. 3.463 o utinam a nostro secedere corpore possem! Vgl. Gildenhard – Zissos (2000), 134-140; Hardie (2002), 165-166. Bartsch (2006), 85: „In Ovid’s hands, and because of the uniquely Ovidian insertion of a prophecy about self-knowledge, the story becomes one that is not only about love, vision, and the self, but also about philosophy: if the story is erotic because the act of seeing leads to love, it is also philosophical because the gaze mirrored upon the self leads to what Ovid has chosen to call self-knowledge.“ Schiesaro (1992). Vgl. Sen. Oe. 276-287 und Soph. OT 729-753. Soph. OT 754ff. αἰαῖ, τάδ᾿ ἤδη διαφανῆ κτλ.
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seinem Oedipus erst gar keine Gelegenheit, über diese entscheidende Mitteilung nachzudenken, indem er Creon seine Rede durch eine plötzliche Ankündigung der Ankunft des Tiresias unterbrechen lässt (Sen. Oe. 288ff.). Dies führt wiederum dazu, dass sich Oedipus, anstatt wie bei Sophokles von seinem außerordentlichen Denkvermögen Gebrauch zu machen, der göttlichen Gabe des blinden Propheten anvertraut. Es ist in diesem Zusammenhang besonders symptomatisch, dass Aristoteles den sophokleischen Oedipus Tyrannus als ein vorzügliches Beispiel für eine direkt aus dem Plot heraus gewonnene Wiedererkennung anführt.30 Da Seneca die endgültige Auflösung bereits am Anfang als bekannt voraussetzt, überrascht es kaum, dass er auf eine derartige Plotwendung verzichten muss.31 Genauso wenig verwunderlich ist die Tatsache, dass er die logische Struktur des sophokleischen Plots auch an dieser Stelle durch lange ekphrastische Passagen ersetzt, die religiöse/magische Rituale (eine Eingeweideschau und eine Nekromantie) darstellen und deren Ziel ausschließlich darin zu bestehen scheint, durch die Schilderung erschreckender übernatürlicher Erscheinungen die schon mehrfach angedeutete innere Monstrosität des Protagonisten sichtbarer hervortreten zu lassen. Selbstverständlich sind diese beiden ekphrastichen Passagen für das Fortschreiten des Plots vollkommen überflüssig,32 denn der senecanische Oedipus wird am Ende, ebenso wie bei Sophokles, das Rätsel auf vollkommen „natürlichem“ Wege lösen. Die augenscheinliche Hinfälligkeit des Übernatürlichen betont Seneca zudem dadurch, dass er die Figur des Tiresias, der sich an beiden Ritualen maßgeblich beteiligt, beinahe grotesk wirken lässt. Man könnte fast sagen, es handle sich um eine Parodie des sophokleischen Tiresias, da er nicht nur im physischen Sinne blind ist, sondern zudem das verkörpert, was ihm Oedipus in Sophokles’ Stück vorwirft: Der senecanische Tiresias ist zweifelsohne auch τὴν τέχνην τυφλός (Soph. OT 389).33 In seinen anderen literarischen Inkarnationen gilt Tiresias’ prophetisches „Sehen“ in der Regel als Kompensierung des Verlustes seiner physischen Sehkraft.34 Hier haben wir es
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Ar. Poet. 1455a16-17 πασῶν δὲ βελτίστη ἀναγνώρισις ἡ ἐξ αὐτῶν τῶν πραγµάτων, τῆς ἐκπλήξεως γιγνοµένης δι᾿ ἐοικότων, οἷον ἐν τῷ Σοφοκλέους Οἰδίποδι. Dazu siehe Schmitt (2008), 540-545. Vgl. Mader (1995), 305-306. Siehe Wiener (2006), 109-123, wo diese Szenen als „gescheiterte Hilfesuche“ gedeutet werden. Einen ausführlichen Vergleich zwischen den Tiresias-Darstellungen bei Sophokles und Seneca findet man in Roisman (2003). Zwei verschiedene Versionen der Erblindung des Tiresias finden sich in Kallimachos’ fünftem Hymnus und in Ovids Metamorphosen. In beiden Fällen fungiert jedoch die prophetische Gabe als Kompensation der physischen Blindheit. Vgl. Call h. 5.119-121 τῷδε γὰρ ἄλλα / τεῦ χάριν ἐξ ἐµέθεν πολλὰ µενεῦντι γέρα, / µάντιν ἐπεὶ θησῶ νιν ἀοίδιµον ἐσσοµένοισι und Ov. Met. 3.336-338 at pater omnipotens (neque enim licet
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dagegen mit einem doppelten Krüppel zu tun, der im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nichts mehr sehen kann. Dass er seine hellseherische Kraft aufgrund seines fortgeschrittenen Alters bereits eingebüßt hat, gibt Tiresias bei Seneca selbst zu (Sen. Oe. 297-298): si foret viridis mihi calidusque sanguis, pectore exciperem deum. Wenn mein Blut noch frisch und heiß wäre, würde ich den Gott in meiner Brust empfangen.
Auffällig ist, dass der einstige Prophet seine erloschene Gabe in der Begrifflichkeit beschreibt, die zur Schilderung nicht nur der prophetischen Raserei sondern auch der poetischen Inspiration eines epischen vates passen würde.35 Diese dezidierte Distanzierung von einem literarischen Genre bedeutet gleichzeitig eine Annäherung an ein anderes: Als epischer vates untauglich, versucht sich Tiresias in dieser Szene nämlich in der Rolle eines römischen haruspex,36 was an den zu einem historiographischen Klischee (zum Beispiel bei Livius) gehörenden Gebrauch von Prodigien als Mittel zur Transformation von rein kontingenten Ereignissen zu moralisch überzeugenden, vom Schicksal kausal bestimmten Erzählungen erinnern mag.37 Das Merkwürdige an Tiresias’ Verwandlung aus einem vates in einen haruspex ist, dass er sich als Blinder für die letztere Rolle überhaupt nicht eignet. Die zu interpretierenden Zeichen müssen ihm zunächst genau beschrieben werden, was seine Tochter Manto in einer Reihe darauffolgender ekphrastischer Passagen übernimmt (Sen. Oe. 308ff.).38 Mantos außerordentlich lebhafte
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inrita cuiquam / facta dei fecisse deo) pro lumine adempto / scire futura dedit poenamque levavit honore. Vgl. Luc. Phars. 1.63-65 (der Adressat ist Nero) sed mihi iam numen; nec, si te pectore vates / accipio, Cirrhaea velim secreta moventem / sollicitare deum Bacchumque avertere Nysa. Zur von Vergil inspirierten vates-Poetik Lukans siehe Leigh (1997), 16-19. Zur römischen Vorstellung vom Dichter als vates siehe Newman (1967). Töchterle (1994), 335: „Der Abschnitt stellt neben dem verwandten bei Lucan 1.616ff. die ausführlichste Beschreibung eines extispicium dar und dient als wichtige Quelle zur Rekonstrution der etruskischen Disziplin, von der keine geschlossene Abhandlung auf uns gekommen ist.“ Vgl. Boyle (2011), 186-188. Zu solchem Gebrauch der Prodigien in der römischen Historiographie siehe Ripat (2006). Eine umfangreiche Liste solcher Prodigien – überwiegend aus historiographischen Quellen (viele stammen tatsächlich aus dem Werk des Livius) – findet man in Rasmussen (2003), 53-116. Diese Szene geht auf eine Episode in Sophokles’ Antigone zurück (Soph. Ant. 9981032), in der der blinde Tiresias verwirrende Zeichen auch nur mit Hilfe eines sehenden Interpreten deuten kann (1012-1014 τοιαῦτα παιδὸς τοῦδ᾿ ἐμάνθανον πάρα / φθίνοντ᾿ ἀσήμων ὀργίων μαντεύματα. / ἐμοὶ γὰρ οὗτος ἡγεμών, ἄλλοις δ᾿ ἐγώ),
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Darstellungen dienen natürlich dazu, das sich in der komplexen Semiotik der Eingeweideschau offenbarende Monströse mit allen ihr zugänglichen Mitteln der enargeia so anschaulich wie möglich zu visualisieren. Bei unserer eigenen Betrachtung dieser Passage ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die in ihr dargestellte Kommunikation zwischen Manto und Tiresias die Kommunikation zwischen Seneca und seinen Rezipienten mit besonderer Genauigkeit repliziert. Während Manto typisch senecanische ekphrastische Beschreibungen liefert, fungiert der blinde Tiresias als virtueller Zuschauer dieses für ihn unsichtbaren Spektakels. Dass wir dabei implizit dazu aufgefordert werden, das Ganze mit den blinden Augen des Tiresias zu sehen, ist ein äußerst kluger Kunstgriff, weil dadurch die in der rhetorischen Theorie so hoch gepriesene Transformation des Zuhörers einer Ekphrasis in einen Zuschauer greifbar gemacht und veranschaulicht wird: Als Zuhörer einer ekphrastischen Passage sind wir schließlich immer nur blinde Zuschauer, die sowohl die äußere Erscheinung, als auch die Bedeutung des von uns allein mit dem inneren Auge Gesehenen anhand von sprachlichen Zeichen bestimmen müssen. Alle Zeichen, die Manto beschreibt, machen die ohnehin bereits hinreichend klar gewordene Monstrosität des Oedipus noch sichtbarer.39 Sein Wesen ist natürlich darum besonders schwer zu erfassen, weil er die üblichen biologischen und gesellschaftlichen Kategorien (Vater – Ehemann – Sohn) vollkommen außer Kraft setzt. Das, was im Falle von Herkules und Medea als vorübergehende leidenschaftliche Konflikte zwischen einzelnen Facetten ihrer jeweiligen Persönlichkeiten aufgefasst werden kann (zwischen Held und Tyrann, zwischen Ehefrau und Mutter), wird hier zur grundlegenden, unzertrennlichen Basis von Oedipus’ Wesen. Er kann nicht mehr sein oder lassen, was er will. Er ist ein lebendes Oxymoron, eine komplette – kognitive und moralische – Verwirrung, ein absolutes Chaos. Eben dieses Chaos, das aus einer Reihe von Oxymora und Adynata besteht, wird durch die von Manto geschilderten Zeichen angedeutet und somit sichtbar gemacht. Das Opferfeuer hat kein eindeutiges Erscheinungsbild: Es ist wie ein wechselhafter Regenbogen, der, da er alle Farben aufweist (Sen. Oe. 317 quis desit ille quive sit dubites color), nicht gedeutet werden kann; seine Form entspricht auch keiner der beiden von Tiresias für möglich – also interpretierbar – gehaltenen Alternativen (Sen. Oe. 309 clarus ignis et nitidus und 313-314 incertus viae et fluctuante turbidus fumo), sondern weist ein doppeltes – und deswegen undeutbares – Bild auf (Sen. Oe. 321-323 sed ecce pugnax ignis in partes duas / discedit et se scindit unius sacri / discors favilla). Das Weinopfer scheint sich in Blut zu verwandeln und die dabei entstehenden Ausdünstungen sehen aus, als würden sie den königlichen Kopf mit dichtem
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diese jedoch, im Gegensatz zum senecanischen Tiresias, vollkommen korrekt deutet (1015 καὶ ταῦτα τῆς σῆς ἐκ φρηνὸς νοσεῖ πόλις). Vgl. Schmitz (1993), 75-85.
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Nebel bedecken. Das erinnert uns zwar deutlich an das im ersten Akt gezeichnete Bild des durch die krankhaften Ausdünstungen der Pest umhüllten Oedipus, bei Tiresias verursacht es jedoch lediglich ein jegliche Interpretationstätigkeit von vorneherein ausschließendes Erschrecken (Sen. Oe. 328-334): quid fari queam inter tumultus mentis attoniti vagus? quidnam loquar? Sunt dira, sed in alto mala: solet ira certis numinum ostendi notis: quid istud est quod esse prolatum volunt iterumque nolunt et truces iras tegunt? pudet deos nescioquid. Was könnte ich sagen, zwischen den Unruhen des verblüfften Sinnes schwankend? Was soll ich verkünden? Es ist ein entsetzliches Unheil, doch noch tief verborgen. Der Zorn der Götter äußert sich für gewöhnlich in sicheren Zeichen: was ist es, was sie offenbaren wollen und wiederum nicht wollen, und warum verhüllen sie ihren ingrimmigen Zorn? Etwas (ich weiß nicht was) erfüllt die Götter mit Scham.
Es ist in diesem Zusammenhang außerordentlich bezeichnend, dass Tiresias die Meinung vertritt, die üblichen Zeichen des göttlichen Zorns seien eindeutig; denn so verhält es sich ja in der Tat fast immer in historiographischen Texten, in denen zuverlässig funktionierende Prodigien oft zu einer conditio sine qua non werden, um Geschichte in narrativer Form zu präsentieren.40 Tiresias’ Verwunderung über die angebliche Uninterpretierbarkeit der Zeichen wirkt in diesem Kontext ziemlich ironisch: Einerseits betont sie die offensichtliche Tatsache, dass wir uns in keinem historischen Text befinden, sondern in einer senecanischen Tragödie, in der die Monstrosität stets ein kosmisches, alles Denkbare übersteigendes Ausmaß annimmt; andererseits wissen wir aber ganz genau, worauf sich die beschriebenen Zeichen beziehen, was aus der nie zuvor gesehenen Scham der Götter – entgegen Tiresias’ Feststellung – ein im Einklang mit der üblichen Tradition der Prodigiendeutung stehendes, vollkommen eindeutiges Zeichen macht.41 Die Prodigien sind an dieser Stelle folglich doch genauso zuverlässig wie bei Livius; sie sind nur, wie es in Senecas Rhetorik der aemulatio üblich ist, noch globaler und furchteinflößender. Die darauf folgende Beschreibung des Opferritus enthält die gleiche ironische Mischung aus einer für uninterpretierbar erklärten Ungeheuerlichkeit 40
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Ripat (2006), 166-174. Die wichtigsten überlieferten Quellen der stoischen Einstellung zur Divination sind Cic. Div.1 und Sen. Nat. Quaest. 2.32. Dazu siehe Bobzien (1998), 144-179. Zur Verwurzelung dieser Szene des senecanischen Oedipus in der stoischen Begründung der Mantik siehe Schmitz (1993), 76-79 und Busch (20062007). Pratt (1939), 93-99; Davis (1991), 158-159; Busch (2006-2007), 228-229.
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und einer vollkommen eindeutigen Übertragbarkeit auf den dramatischen Kontext. Die Art und Weise, auf die die beiden Opfertiere (eine Kuh und ein Stier) sterben, ist zwar zweideutig (denn sie sterben sehr unterschiedlich), antizipiert allerdings ziemlich genau das Ende von Iocaste und Oedipus. Wie Iocaste stirbt die Kuh sofort nach einem einzigen Schlag und blutet reichlich aus der Wunde.42 Der Stier dagegen stirbt in langsamer Agonie, was Oedipus’ Darstellung seiner Selbstblendung als verlangsamtes Sterben vorwegnimmt.43 Zudem fließt das Blut des Stiers überwiegend aus (seinem Mund und) seinen Augen, genauso wie es bei Oedipus nach seiner Selbstblendung der Fall sein wird.44 Auch die inneren Organe bieten eine recht ominöse Sicht: Die Opfertiere erweisen sich als widernatürliche infernalische Monster, die das typisch senecanische Bild der ins Chaos zurückgeworfenen Natur evozieren (Sen. Oe. 371-375): natura versa est; nulla lex utero manet. scrutemur, unde tantus hic extis rigor. quod hoc nefas? conceptus innuptae bovis, nec more solito positus alieno in loco, implet parentem. Die Natur ist verkehrt; die Gebärmutter folgt keinem Gesetz. Lass uns erforschen, woher diese so große Steifheit in den Eingeweiden kommt. Was ist das für ein Gräuel? Ein Fötus in einer unbesamten Färse, nach ungewohnter Art an fremder Stelle liegend, füllt die Mutter aus.
Dieses apokalyptische Adynaton wird außerdem dadurch verstärkt, dass das von der jungfräulichen – und bereits geschlachteten – Kuh geborene Kalb die Opferdiener angreift (Sen. Oe. 979-980). Die Erwähnung des stöhnenden Opferfeuers steigert die rhetorische Intensität, mit der diese als Naturkatastrophe kosmischen Ausmaßes inszenierte rituelle Schlachtung beschrieben wird, ins Unermessliche (Sen. Oe. 383). Deutlicher – und sichtbarer (hörbarer?) – kann man die Monstrosität eines widernatürlichen Vatermörders wirklich nicht ausdrücken. Dennoch erklärt Tiresias diese ominösen Zeichen für unschlüssig (Sen. Oe. 390-394): nec alta caeli quae levi pinna secant nec fibra vivis rapta pectoribus potest 42
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Vgl. Sen. Oe. 347-348 huius per ipsam qua patet pectus viam / effusus amnis (die Kuh) und 1040-1041 iacet perempta. vulneri immoritur manus / ferrumque secum nimius eiecit cruor (Iocaste). Vgl. Sen. Oe. 342-344 at taurus duos / perpessus ictus huc et huc dubius ruit / animamque fessus vix reluctantem exprimit (der Stier) und 948-949 quod saepe fieri non potest fiat diu; / mors eligatur longa (Oedipus). Vgl. Sen. Oe. 349-350 sed versus retro / per ora multus sanguis atque oculos redit (der Stier) und 978-979 rigat ora foedus imber et lacerum caput / largum revulsis sanguinem venis vomit (Oedipus).
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Ekphrasis und Metatheater ciere nomen; alia temptanda est via: ipse evocandus noctis aeternae plagis, emissus Erebo ut caedis auctorem indicet. Weder die diejenigen, die mit leichtem Flügel die Höhen des Himmels durchschneiden, noch die aus der noch lebenden Brust herausgerissenen Eingeweide können den Namen preisgeben; ein anderer Weg soll versucht werden: ihn selbst soll man aus der Landschaft der ewigen Nacht heraufbeschwören, damit er, aus dem Erebus entlassen, den Urheber des Gemetzels bekannt macht.
Es stellt sich also heraus, dass Tiresias nicht nur als vates, sondern auch als haruspex nichts taugt, was aber in diesem Kontext kaum überraschen dürfte, da man ohnehin nicht allen Ernstes hätte erwarten können, dass eine Eingeweideschau eine so genaue Information wie den Namen des Mörders preisgeben würde.45 Diese Absicht wird in dieser Szene auch nicht wirklich verfolgt. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, die bereits bekannte Monstrosität noch anschaulicher zu visualisieren, sie sowohl für Oedipus als auch für uns noch sichtbarer zu machen, als es bis jetzt der Fall war. Die nach einem Chorlied folgende Beschreibung der Nekromantie, bei der Laius selbst nach dem Namen seines Mörders gefragt wird, bietet eine weitere Verstärkung der visuellen Reize, die schon in der Darstellung der Eingeweideschau einen kaum verträglichen Übersättigungsgrad erreicht haben. Gleichzeitig wird an dieser Stelle das Gattungsparadigma aufgenommen, von dem sich die Darstellung der Eingeweideschau explizit distanzierte, denn Creons Bericht geht im Wesentlichen auf die berühmtesten epischen Totenbefragungen zurück: Odysseus’ Nekyia in Buch 11 der Odyssee und Aeneas’ Katabasis in Buch 6 der Aeneis. Tiresias, der das Ritual durchführt, ist demzufolge auch eine Mischung aus dem Tiresias der Odyssee und der Sibylle der Aeneis.46 Die in dieser Szene geschilderte Totenbefragung ist keine Katabasis, bei der man in die Untiefen der Unterwelt hinabsteigen muss, sondern, wie die nekyia in der Odyssee, ein 45
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Zusätzlich zu zahlreichen Passagen bei Livius sind Cic. Div. 2.28-41 und Plin. NH 11.186-195 die wichtigsten literarischen Quellen für die römische Praxis von extispicium. Dazu siehe Rasmussen (2003), 117-148. Entscheidend sind dabei der Zukunftsbezug des Rituals und die höchst abstrakte Natur der Befragung, bei der man in der Regel keine konkreteren Antworten als ein schlichtes ‚ja’ oder ein schlichtes ‚nein’ erwarten durfte. Vgl. Rasmussen (2003), 117: „The sources emphasize that extispicy was used as a means of obtaining approval or disapproval of the gods, for instance before making political or military decisions, in connection with consular inaugurations, before a magistrate’s departure for the provinces, and before the state committed to decisive military engagements.“ Zu diesen, und weiteren, literarischen Inspirationsquellen dieser Passage siehe Töchterle (1994), 427-431; Boyle (2011), 238-239. Zur griechisch-römischen Nekromantie im Allgemeinen siehe Ogden (2001).
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nekromantisches Ritual, bei dem die Seelen der Toten durch Opferhandlungen zum Heraufsteigen aus der Unterwelt bewogen werden. Im Gegensatz zur Odyssee-Szene nimmt Tiresias dabei jedoch nicht die Rolle des Befragten, sondern nur eines Vermittlers, der, wie die Sibylle in der Aeneis, dem Bittsteller Kontakt mit der Totenwelt ermöglicht. Es sieht folglich doch so aus, als sei Tiresias – zumindest in dieser Episode – ein vates, und zwar nicht nur weil er die Funktion der vergilischen Sibylle erfüllt (Verg. Aen. 6.65 o sanctissima vates), sondern auch weil er, so wie Vergil selbst, für den die Sibylle nichts anderes darstellt als eine metapoetische Projektion seiner eigenen Funktion als vates,47 richtige Worte finden muss, um die Geheimnisse der Unterwelt ans Tageslicht zu bringen. Vergils poetische Worte „öffnen“ (pandere) das Verborgene metaphorisch, indem sie es vor dem inneren Auge des Lesers entstehen lassen (Verg. Aen. 6.264-267): di, quibus imperium est animarum, umbraeque silentes et Chaos et Phlegethon, loca nocte tacentia late, sit mihi fas audita loqui, sit numine vestro pandere res alta terra et caligine mersas. Götter, die ihr über die Seelen herrscht, schweigsame Schatten, Chaos und Phlegethon, nachts schweigende Gegend weit und breit, es sei mir gestattet, Gehörtes zu auszusprechen, sei es mir von eure Göttlichkeit gestattet, Dinge zu offenbaren, die tief in die Finsternis der Erde versenkt sind.
Vergils Katabasis-Bericht ist demzufolge nichts anderes als eine Art poetische Nekromantie. Bei Seneca wird aus dieser Metapher ein wörtlich gemeintes Bild der sich durch Tiresias’ magisches Gebet (Sen. Oe. 561 carmen magicum) eröffnenden Unterwelt (Sen. Oe. 572-573): rata verba fudi: rumpitur caecum chaos iterque populis Ditis ad superos datur. Gültige Worte habe ich ausgesprochen: das blinde Chaos öffnet sich, und den Völkern des Dis wird ein Weg in die obere Welt gewährt.
Diese klaren Verknüpfungen lassen es umso natürlicher erscheinen, dass die sich durch Tiresias’ rituelle Handlungen offenbarende Totenwelt in Creons ekphrastischem Bericht, der diese Offenbarung für uns sichtbar macht, zu einer Version der vergilischen Katabasis wird. Der locus horridus, an dem das nekromantische Ritual stattfindet (Sen. Oe. 530-547), ist eine Mischung aus Vergils beiläufiger Beschreibung der Unterwelt 47
Siehe Gowers (2005) mit zahlreichen Verweisen auf weitere Sekundärliteratur.
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als eines dicht bewaldeten Ortes (Sen. Oe. 131 tenent media omnia silvae) und seiner Schilderung des finsteren Waldes, in den sich Aeneas vor seiner Katabasis auf der Suche nach dem goldenen Zweig begeben muss. Bei Seneca befinden wir uns ebenso in einem aus lauter verhängnisvoll anmutenden Bäumen bestehenden schwarzen (Sen. Oe. 530 niger) Wald.48 Im Schatten dieser Bäume sind vom Licht der Sonne noch nie berührte Gewässer zu sehen, die an die Gewässer des Tartarus erinnern.49 Analog zu Vergil findet der Opferritus, bei dem schwarzes Vieh geopfert wird, in einer Höhle statt50 Als das Ritual seine Wirkung zu zeigen beginnt, meint man in beiden Fällen das Bellen der Hunde Hekates zu vernehmen.51 Die Unterwelt, die sich bei Seneca anschließend eröffnet, ist auch eine vergilische, von zahlreichen lebensverneinenden Abstraktionen und sonstigen Monstren bevölkerte.52 Bevor das eigentliche Zielobjekt der Totenbefragung erscheint, begegnet man bei beiden Autoren einer Reihe Verstorbener, die innerhalb der jeweiligen Geschichte besondere Relevanz besitzen.53 Wichtig ist jedoch vor allem, dass das Hauptziel des Kontaktes mit der Totenwelt in beiden Fällen darin besteht, den Vater des jeweiligen Bittstellers zu befragen (dass Oedipus Laius über Creons Vermittlung befragt, ist dabei völlig unerheblich; Oedipus spielt trotzdem die Rolle des seinen verstorbenen Vater Anchises befragenden Aeneas).54 Der aus der Unterwelt aufsteigende Laius sagt in seiner langen Rede (Sen. Oe. 626-658) schließlich lediglich das, wofür Tiresias bei Sophokles nur wenige Verse braucht (Soph. OT 350-353) und was man ohnehin schon längst weiß. Die wichtigste Funktion der Aussage des Laius ist somit darin zu suchen, dass sie den bereits mehr als einmal angedeuteten Gedanken, dass Oedipus in gewisser
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Dazu gehören eine Zypresse, eine praktisch vertrocknete Eiche, und die besonders beängstigende, alles andere überschattende ingens arbor, die wie eine Reminiszenz der vergilischen arbor opaca in Aen. 6.136 wirkt. Sen. Oe. 544-546 tristis sub illa, lucis et Phoebi inscius, / restagnat umor frigore aeterno rigens; / limosa pigrum circumit fontem palus. Zu weiteren Parallelen siehe Töchterle (1994), 431-432; Boyle (2011), 241-242. Sen. Oe. 556-557 nigro bidentes vellere atque atrae boves / antro trahuntur. Vgl. Verg. Aen. 6.237-247. Sen. Oe. 568 latravit Hecates turba. Vgl. Verg. Aen. 6.257-258 visaeque canes ululare per umbram / adventante dea. Sen. Oe. 589-594 (Horror, Luctus, Morbus, Senectus, Metus, Pestis). Vgl. Verg. Aen. 6.273-277 (Luctus, Curae, Morbi, Metus, Fames, Egestas, Letum, Labos). Bei Vergil erscheinen unter anderen Palinurus (Aen. 6.337-383) und Dido (Aen. 6.450-476); bei Seneca sind es Zethus und Amphion (die Erbauer von Theben, Sen. Oe. 610-612), Niobe und Agave (zwei aus Theben stammende frevelhafte Mütter, Sen. Oe. 613-617), und schließlich Agaves Sohn Pentheus (Sen. Oe. 617-618). Wie wir sehen werden, konstituiert Agaves Mord an ihrem Sohn ein Paradigma, nach dem Seneca das Verhältnis zwischen Iocaste und Oedipus konzipiert. Boyle (2011), 255.
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Hinsicht mit einem Monster gleichzusetzen sei, mit aller Deutlichkeit formuliert (Sen. Oe. 640-641): fratres sibi ipse genuit – implicitum malum magisque monstrum Sphinge perplexum sua. Er hat für sich selbst Brüder gezeugt – ein verwickeltes Unheil und ein Monster unergründlicher als seine Sphinx.
Laius bestätigt den im Prolog indirekt angedeuteten Verdacht. Durch seine inzestuöse Ehe hat Oedipus ein Monster, das schlimmer sei als die Sphinx, erschaffen, und gegen eben dieses Monster kämpft er nun. Ferner wird das Verschwinden des Oedipus aus Theben mit der Befreiung der Stadt von den lebensverneinenden, unter normalen Umständen im Tartarus angesiedelten Abstraktionen in Verbindung gebracht (Sen. Oe. 652-653 Letum Luesque, Mors Labor Tabes Dolor / comitatus illo dignus, excedent simul).55 Die erschreckenden Personifikationen der vergilischen Unterwelt, die Laius durch sein Erscheinen in einem (fast) wörtlichen Sinne sichtbar macht, dienen also nur dazu, die ohnehin offensichtliche Einsicht, Oedipus sei ein tödliches Monster, dass seine Stadt in eine Hölle auf Erden verwandele, zu veranschaulichen. Die hauptsächliche Funktion der nekromantischen Szene, das Offensichtliche sichtbarer zu machen, wird zudem dadurch unterstrichen, dass Oedipus dem Bericht seines Schwagers keinen Glauben schenkt und die Lösung schließlich auf dem gleichen – rein logischen – Weg wie sein sophokleischer Vorläufer findet. Nachdem Oedipus Creon ins Gefängnis geworfen hat, sucht ihn plötzlich eine Erinnerung heim (Sen. Oe. 768-772): redit memoria tenue per vestigium, cecidisse nostri stipitis pulsu obvium datumque Diti, cum prior iuvenem senex curru superbus pelleret, Thebis procul Phocaea trifidas regio scindit vias. Eine Erinnerung kehrt mir auf schwacher Spur zurück, durch den Schlag meines Stocks sei ein mir Begegnender gefallen und dem Dis übergeben, als zuerst der Greis, hochmütig auf seinem Wagen, den Jüngling beiseite stieß, weit weg von Theben, da, wo das phokische Gebiet den Weg dreizackig spaltet.
Diese Erinnerung mutet wie eine direkte Reaktion auf Creons fast fünfhundert Verse früher dargebotene Schilderung des Ortes an, an dem Laius ermordet wurde (Sen. Oe. 276-287). Die restlichen zentralen Ereignisse des ursprüngli55
Vgl. Sen. Oe. 589-594.
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chen sophokleischen Plots werden nun in weniger als hundert Versen im Schnelldurchlauf zusammengefasst (Sen. Oe. 776-867): Iocaste beschreibt das Aussehen des Laius; der alte Mann aus Korinth berichtet sowohl vom Tod des Polybus als auch davon, dass Oedipus sein Adoptivsohn ist; der Hirte (Phorbas) erkennt in Oedipus den Sohn Iocastes, den er einst dem korinthischen Hirten übergeben hat. Aus dieser Perspektive wirken die fast fünfhundert Verse einnehmenden ominösen Visualisierungen übernatürlicher Phänomene endgültig wie ein merkwürdiger Alptraum, dessen Hauptziel allein darin besteht, das metaphorisch Monströse durch die in der Schilderung des wörtlich Monströsen geschulte Sprache des Epos und der Historiographie so anschaulich wie möglich zu präsentieren. Damit ist jedoch noch nicht die höchste Stufe der Visualisierung erreicht, denn Oedipus’ inneres Monster wird am Ende der Tragödie in einem vollkommen wörtlichen Sinne sichtbar. Seine spontane Reaktion darauf, dass er nun endgültig seine Lage mit blendender Klarheit sieht, ist der Todeswunsch. Doch diesen hält Oedipus – in einer uns bereits aus dem Hercules Furens und aus der Phaedra bekannten Wendung – für eine viel zu leichte Lösung,56 da sie dem Leid, das er seinem Vater angetan hat, keine gebührende Gerechtigkeit leistet. Die Selbstblendung wählt er in erster Linie mit der Begründung, dass sie schlimmer als der Tod sei (insbesondere der Tod seines Vaters: Sen. Oe. 951 morere, sed citra patrem), weil sie in einem in die Länge gezogenen Sterben resultiere (Sen. Oe. 949 mors eligatur longa). Der Botenbericht, in dem Oedipus’ Selbstblendung beschrieben wird, wimmelt, wie es bei Seneca bei solchen Begebenheiten in der Regel der Fall ist, von ekelerregenden physischen Details, die uns mit einer sadistischen enargeia vor Augen geführt werden (Sen. Oe. 961-970): gemuit et dirum fremens manus in ora torsit. at contra truces oculi steterunt et suam intenti manum ultro insecuntur; vulneri occurrunt suo. scrutatur avidus manibus uncis lumina, radice ab ima funditus vulsos simul evolvit orbes; haeret in vacuo manus et fixa penitus unguibus lacerat cavos alte recessus luminum et inanes sinus saevitque frustra plusque quam satis est furit. Er stöhnte und, entsetzlich ächzend, wandte die Hände gegen sein Gesicht. Doch stehen ihnen entgegen schaurig die Augen, und eifrig folgen sie ihres Herrn Hand von selbst; ihrer Wunde eilen sie entgegen. Mit seinen krummen Fingern durchstöbert er die Augen gierig, und, sie aus ihren
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Vgl. Sen. HF 1316-1317 und Ph. 1238-1279.
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Wurzeln gänzlich reißend, zieht er die Augenäpfel hervor; im Leeren bleibt nun seine Hand wie angeheftet, und mit den Nägeln zerfetzt sie bis auf das Innerste die tief ausgehöhlten Winkel seiner Augen, ihre leeren Tiefen, und sie rast vergeblich und wütet mehr als nötig.
Wie üblich kontrastiert Seneca die unerträglich gesteigerte emotionale Wirkung dieser fast unmittelbar wahrnehmbaren körperlichen Zerstörung indirekt mit der visuellen Überfülle der klischeehaften literarischen Monstren und stellt sie somit unweigerlich als echter und schmerzhafter dar. Oedipus begibt sich nun – genauso wie Theseus in der Phaedra oder Jason in der Medea – in seine eigene private Unterwelt, in die er als Ungeheuer ohnehin gehört, in der es allerdings keine visuellen Reize, sondern nur schwarze Leere gibt (Sen. Oe. 971-973): tantum est periclum lucis? attollit caput cavisque lustrans orbibus caeli plagas noctem experitur. So groß ist die Gefahr des Lichtes? Er hebt das Haupt, und, die Räume des Himmels mit seinen leeren Augenhöhlen betrachtend, erprobt er seine Nacht.
Oedipus scheint jetzt sein zweites – schlimmeres – Monster besiegt zu haben (vgl. Sen. Oe. 974 victor). Als er aber in der letzten Szene der Tragödie die Bühne betritt, sieht er mit seinen von Blut überströmten gähnenden Augenhöhlen selbst wie ein Ungetüm aus, dessen Anblick nicht auszuhalten ist. Seine eigene – ursprünglich nur im Inneren verborgene – Monstrosität ist nun für alle sichtbar, und dieses neue, monströse Gesicht erweist sich als das einzige, das zu seinem Wesen passt (Sen. Oe. 1003 vultus Oedipodam hic decet).57 Dieses schreckliche Aussehen ist in erster Linie für eine konkrete Zuschauerin, nämlich für Iocaste, bestimmt. Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass Senecas Stück aus der Tragödie des Oedipus am Ende zu einer Tragödie der Iocaste wird. Der Schluss des Oedipus ist nach dem gleichen Prinzip konstruiert wie der Schluss der Phaedra: Um Iocaste die Ungeheuerlichkeit der Situation, in die sie sich unwissentlich verwickelt hat, auch visuell erkennen zu lassen, schreibt Seneca das Ende von Sophokles’ Oedipus Tyrannus gemäß des von Euripides’ Bacchen vorgegebenen Szenarios um, sodass auch der Oedipus im Nachhinein wie eine eigenartige Nachspielung der euripideischen Tragödie wirkt.58 Anspielungen auf die Bacchen sind über das gesamte Stück verstreut. 57
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Zur Visualisierung des Monströsen als einem der wichtigsten Leitmotive von Senecas Tragödien im Allgemeinen siehe Staley (2010), 96-120. Zu den unterschiedlichen Motivationen für Oedipus’ Selbstblendung bei Sophokles und bei Seneca siehe Mader (1995). Zum Einfluss der Bacchen auf die Phaedra siehe Kap. 4. Wie Iocaste bleibt Phaedra so lange am Leben, bis sie den verstümmelten Körper ihres (Stief)Sohnes sieht.
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Ekphrasis und Metatheater
Zum ersten Mal wird das Dionysische im langen Chorhymnus auf Bacchus hervorgehoben, der sich etwa in der Mitte des Werkes befindet (Sen. Oe. 403508). Im Zentrum dieser Passage befindet sich bezeichnenderweise eine Schilderung der Zerstückelung des Pentheus durch Agave, wobei die – sowohl visuelle als auch kognitive – Verwirrung der Bacchantinnen beim Aufwachen aus ihrer Trance besonders hervorgehoben wird (Sen. Oe. 436-444):59 nunc Cadmeas inter matres impia Maenas comes Ogygio venit Iaccho, nebride sacra praecincta latus. tibi commotae pectora matres fudere comam thyrsumque levem vibrante manu ... iam post laceros Pentheos artus Thyades oestro membra remissae velut ignotum videre nefas. Nun kam unter kadmeischen Müttern eine frevelhafte Mänade als Gefährtin dem ogygischen Iacchus, mit dem heiligem Hirschfell um die Hüften umgürtet. Von dir in Wahnsinn versetzt lösten die Mütter ihr Haar, und, mit der Hand den leichten Thyrsus schwingend... Schon nach der Zerstückelung von Pentheus’ Gliedern sahen die Thyiaden, ihre Körper von der Raserei befreit, den Frevel, als wäre er ihnen unbekannt.
Unter den dem Ruf des Tiresias gehorchenden, aus der Unterwelt aufsteigenden Seelen spielen wieder die beiden tragischsten Figuren der Bacchen – Agave und ihr Sohn Pentheus – eine besonders prominente Rolle (Sen. Oe. 615-618): peior hac genetrix adest furibunda Agave, tota quam sequitur manus partita regem: sequitur et Bacchas lacer Pentheus tenetque saevus etiamnunc minas. Eine Mutter, die noch schlimmer ist als diese,60 erscheint nun, die rasende Agave, begleitet von der gesamten Schar, die den König zerstückelte: den Bacchantinnen folgt auch der zerfetzte Pentheus und hält wütend immer noch an seinen Drohungen fest.
In seiner Rede an Oedipus zieht Laius eine explizite Parallele zwischen den beiden unglücklich verlaufenen Mutter-Sohn-Geschichten (Agave und Pentheus vs. Iocaste und Oedipus) (Sen. Oe. 626-630): 59 60
Zu dieser Passage siehe Mantovanelli (1996). Nämlich Niobe: Sen. Oe. 613-615.
Oedipus
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O Cadmi effera, cruore semper laeta cognato domus, vibrate thyrsos, enthea gnatos manu lacerate potius – maximum Thebis scelus maternus amor est. O verrohtes, dich an verwandtem Blut immer ergötzendes Haus des Kadmus, schwingt den Thyrsus, vielmehr zerreißt mit entzückter Hand eure Söhne – die größte Untat ist für Theben Mutterliebe.
Dadurch, dass die inzestuöse Beziehung Iocastes mit Oedipus mit Agaves Mord an Pentheus parallelisiert wird, vollzieht sich ein überraschender Perspektivenwechsel, der das, was bis dahin als alleinige Schuld des Oedipus galt, als eine viel komplexere Angelegenheit erscheinen lässt. Diese Parallelisierung wird weiter vertieft, wenn sich Oedipus nach seiner schrecklichen Entdeckung zunächst wünscht, zur Strafe wie Pentheus von Agave auseinandergerissen zu werden (Sen. Oe. 930-933): ipse tu scelerum capax, sacer Cithaeron, vel feras in me tuis emitte silvis, mitte vel rabidos canes – nunc redde Agaven. Du selbst, verfluchter Kithäron, der du viele Verbrechen umfasst, sende gegen mich aus deinen Wäldern wilde Tiere oder schicke tollwütige Hunde – jetzt lass Agave zurückkehren.
Angesichts dieser zahlreichen Anspielungen, die sich zu einem relativ schlüssigen Gesamtbild zusammenfügen, überrascht es kaum, dass der Schluss von Senecas Oedipus eher an Euripides’ Bacchen als an Sophokles’ Oedipus Tyrannus erinnert. Bei Sophokles geht Iocastes Selbstmord Oedipus’ Selbstblendung zeitlich voran, und es ist gerade ihr Tod, der den Titelhelden dazu bewegt, sich – mit der spontanen Begründung, er finde den Anblick ihres toten Körpers zu unerträglich – zu verstümmeln.61 Bei Seneca dagegen blendet sich Oedipus, wie wir bereits gesehen haben, um die Qualen seines Vaters zu übertreffen, und dadurch verwandelt er sich in ein schreckliches Monster, dessen Anblick für jeden eine wahre visuelle Tortur darstellt. Besonders wichtig ist jedoch, dass er dies tut, während Iocaste noch am Leben ist, da es für Seneca außerordentlich bedeutsam zu sein scheint, dass auch sie dieses Ungeheuer sieht. In diesem Kontext ist es nicht verwunderlich, dass der Chor Iocastes Reaktion auf das Gewahrwerden des verstümmelten Körpers ihres Sohnes mit der Reaktion Agaves vergleicht, als sie endlich erkennt, dass die Körperreste, die sie vor 61
Soph. OT 1265-1266 ὁ δ᾿ ὡς ὁρᾷ νιν, δεινὰ βρυχηθεὶς τάλας, / χαλᾷ κρεµαστὴν ἀρτάνην, κτλ.
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Ekphrasis und Metatheater
sich sieht, keinem Löwen, sondern ihrem Sohn Pentheus gehören (Sen. Oe. 1004-1007):62 en ecce, rapido saeva prosiluit gradu Iocasta vaecors, qualis attonita et furens Cadmea mater abstulit gnato caput sensitque raptum. Siehe da, mit hastigem Schritt schreitet Iocaste, der Besinnung beraubt, wie die kadmeische Mutter, die, bestürzt und rasend, dem Sohn den Kopf abriss und erst dann verstand, dass sie ihn weggerafft hatte.
Diese Begegnung ist für beide gleichermaßen unerträglich. Die Stimme seiner Mutter zu hören bedeutet für Oedipus eine unerwünschte Unterbrechung seines selbstgewählten Exils in der Hölle der Blindheit (Sen. Oe. 1012-1013 quis frui tenebris vetat? / quis reddit oculos? matris, en matris sonus!). Dass Iocaste nun, wie die euripideische Agave, in den verstümmelten Körperresten (Sen. Oe. 1021 reliquias corporis trunci) ihren Sohn wiedererkennen muss, dient als eine visuelle Verstärkung ihrer kognitiven Erkenntnis (Sen. Oe. 1009-1010 quem te vocem? / gnatumne?). Diese erweist sich als dermaßen verwirrend, dass ihr auf der Bühne stattfindender Selbstmord, bei dem sie sich ein Schwert in die Gebärmutter rammt, zur Erfüllung ihres primären Wunsches wird, die physische Ursache dieser kognitiven Verwirrung zu eliminieren (Sen. Oe. 1038-1039 hunc, dextra, hunc pete / uterum capacem, qui virum et gnatos tulit).63 Die Umgestaltung des Schlusses von Senecas Oedipus nach dem optischen Paradigma, das auf die euripideischen Bacchen zurückgeht, hat den Zweck, den durch das Sichtbarwerden von Oedipus’ Monstrosität entstandenen visuellen Schock mit besonderer Anschaulichkeit vorzuführen. Was wir nun am Ende sehen, ist nicht nur die schwarze, gestaltlose Leere, in der Oedipus selbst vergeblich die Erlösung von seinem inneren Monster sucht, sondern ein sowohl kognitiv, als auch visuell verstörendes Bild, das diesen Zustand greifbar und erlebbar macht.
62 63
Vgl. Eur. Ba. 1277-1284. Zum Gebrauch der Verwandtschaftsbegriffe in dieser Szene siehe Frank (1995), 124125. Zu Iocastes Selbstmord in Senecas Oedipus siehe auch Palmieri (1999), 27-46.
7. Die Entfesselung eines Überbietungskünstlers: Thyest Der Prolog des Thyest basiert auf dem gleichen Muster wie der Prolog des Agamemnon, wirkt jedoch in vielerlei Hinsicht wie dessen massiv übersteigertes Abbild.1 Wie wir gesehen haben, verspürt der Geist des Thyest, der im Agamemnon als Prologsprecher fungiert, bei seiner überraschenden Rückkehr in die obere Welt nur die Nostalgie nach seinem qualvollen Dasein im Tartarus. Er deutet an, dass der im Laufe der darauf folgenden Handlung geschehende Mord an Agamemnon, einem Sohn von Thyests Bruder Atreus, durch Thyests eigenen Sohn Aegisthus eine Übertragung des Hassverhältnisses zwischen den beiden verstorbenen Brüdern in die nächste Generation darstelle.2 Der Thyest behandelt das entsetzliche, aus diesem Hassverhältnis heraus entstandene Verbrechen, das – der üblichen senecanischen Rhetorik der aemulatio folgend – auch bereits im Prolog als die grausamste aller jemals begangenen Untaten bezeichnet wird. Die Methode, durch die dieser Eindruck entsteht, mutet wie eine rhetorisch verstärkte Version dessen an, womit wir im Agamemnon-Prolog konfrontiert wurden. Zu Beginn des Thyest erscheint der Geist eines in besonderem Maße frevelhaften Vorfahren – des Tantalus, eines archetypischen für seine gottlosen Vergehen im Tartarus gepeinigten Sträflings.3 Im Gegensatz zum Geist des Thyest im Agamemnon-Prolog drückt er nicht einfach den Widerwillen aus, mit dem er seine ehemalige Wirkungsstätte in der oberen Welt sieht, sondern nimmt an, dass die von ihm soeben wahrgenommene Veränderung eine Verhärtung der bis dahin abgebüßten Strafen bedeute (Sen. Th. 13 in quod malum transcribor?).4 Mykene zu sehen stellt für Tantalus demnach eine schlimmere Strafe dar als die gewöhnlich als der Inbegriff des unerträglichen Leidens geltenden Tantalusqualen. Dadurch hebt Seneca mit viel größerer Nachdrücklichkeit als im Agamemnon hervor, dass der Ort, an dem die Handlung des Stücks stattfindet, sämtliche literarische Vorstellungen von der Unterwelt in den Schatten stellen wird. Viel eindeutiger als im Agamemnon klingt außerdem die gleich in Tantalus’ erstem Monolog geäußerte Überzeugung, die Verbrechen seiner Nachkommen würden seine eigenen übertreffen (Sen. Th. 18-20): 1 2 3 4
Vgl. Fischer (2008), 235-243. Zum Vergleich zwischen den beiden Prologen siehe auch Paratore (1982). Zum Prolog des Thyest siehe Monteleone (1980). Sen. Ag. 10-52. Neben Sisyphus, Tityos und Ixion; vgl. Hom. Od. 11.576-600 und Sen. Ag. 15-21, Me. 743-746, Ph. 1229-1235. Vgl. Sen. Oe. 31 cui reservamur malo?
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Ekphrasis und Metatheater iam nostra subit e stirpe turba quae suum vincat genus ac me innocentem faciat et inausa audeat. Schon entsteht aus meinem Stamm eine Schar, die ihr eigenes Geschlecht überbietet, mich unschuldig erscheinen lässt und Ungewagtes wagt.
Dieses vertraute Muster wird hier jedoch nicht nur expliziter formuliert als sonst, sondern auch dadurch besonders veranschaulicht, dass es durch die Einführung eines dialogischen Austauschs zwischen Tantalus und der Furie theatralisiert wird. Die die Bühne betretende Furie fordert, analog zu den Erinnyen, die Hercules im Hercules Furens zu einem selbstzerstörenden Wahnsinn anspornen, Tantalus dazu auf, seine Nachkommen zur Ausübung unerhörter Grausamkeiten zu bewegen.5 Außerdem stellt sie die bevorstehende Handlung als eine Nachspielung des von Tantalus begangenen Verbrechens dar (Sen. Th. 62-63 non novi sceleris tibi / conviva venies).6 Mehr noch: Tantalus erscheint in der Rede der Furie als ein typisches Monster der Unterwelt, das die obere Welt durch sein Auftreten mit einem Hauch monströser Grausamkeit infizieren soll (Sen. Th. 53 imple Tantalo totam domum). Das Auftauchen des Tantalus in Mykene soll also die gleiche verwüstende Wirkung haben wie das Verweilen des Oedipus in Theben.7 Im Gegensatz zu Oedipus ist sich Tantalus allerdings über seine eigene Monstrosität völlig im Klaren. Aus diesem Grund rechnet die Furie damit, dass er, wie die meisten nach aemulatio trachtenden Helden in Senecas Tragödien (vor allem aber der Geist des Thyest im Agamemnon-Prolog), mit Begeisterung auf die sich eröffnende Möglichkeit einer überbietenden Nachspielung einer Handlung, in die er selbst einmal involviert war, reagieren werde (Sen. Th. 64 tuamque ad istas solvimus mensas famem).8 Dass Tantalus’ Verhalten von diesem Muster zunächst abweicht (er erweist sich, wie Oedipus, als ein widerwilliges Monster, das die Stadt so schnell wie möglich wieder verlassen will),9 stellt eine besonders effektvolle, in keiner anderen senecanischen
5 6 7 8
9
Vgl. Sen. HF 87-106 und Sen. Th. 23-121. Zum Gastmahlmotiv im Thyest siehe Aygon (2003). Zur Tantalus-Figur siehe Boyle (1983), 209-222; Schiesaro (2003), 27-28, 36-40; Erasmo (2006). Vgl. Sen. Oe. 1-5, 27-70 (die Beschreibung der Auswirkungen der Pest) und Sen. Th. 87-89 mittor ut dirus vapor / tellure rupta vel gravem populis luem / sparsura tellus? Boyle (1997), 116-117; Littlewood (2004), 131-132. Die Furie sagt auch explizit, dass das bevorstehende Gastmahl das Verbrechen des Tantalus übertreffen wird: Sen. Th. 66-67 inveni dapes / quas ipse fugeres. Sen. Th. 68-83 ad stagna et amnes et recedentes aquas / labrisque ab ipsis arboris plenae fugas, etc. und Sen. Oe. 80-81 profuge iamdudum ocius – / vel ad parentes und das Finale, in dem Oedipus die Stadt in Begleitung von allegorischen Bewohnern der vergilischen Unterwelt verlässt (vgl. Sen. Oe. 1058-1060 mortifera mecum vitia terrarum extraho. / violenta Fata et horridus Morbi tremor, / Maciesque et atra Pestis et
Thyest
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Tragödie belegte Überbietungsstrategie dar: Über das Ausmaß des bevorstehenden Verbrechens sagt schon einiges aus, dass der schlimmste aller bisherigen Frevler von der Furie durch die Intensivierung seiner Qualen zu einem kurzen, zu dieser Untat verleitenden Aufenthalt auf der Erde gezwungen werden muss.10 Die beiden unentbehrlichen Komponenten der senecanischen Überbietungsästhetik werden demnach bereits im Prolog vorweggenommen. In den verbleibenden vier Akten bestimmen sie weiterhin, wie üblich, die gesamte Struktur des dramatischen Geschehens. Die Handlung der Tragödie erweist sich realiter als groteske Überbietung der Verbrechen des Tantalus. Dieser wollte bekanntlich die Allwissenheit der olympischen Götter einer Prüfung unterziehen, indem er ihnen die gekochte Schulter seines eigenen Sohnes Pelops bei einem Gastmahl anbot.11 Die Tat des Atreus basiert offensichtlich auf einem ähnlichen Muster, übertrifft es aber noch an Grausamkeit, da er die beiden Söhne seines Bruders Thyest tötet, zerstückelt und kocht und diesen das Fleisch der eigenen Kinder unwissentlich verspeisen lässt. Die Tötung der beiden Kinder wird überdies wie ein makabres Ritual inszeniert, bei dem ihre Körper den Göttern der Unterwelt geopfert werden. Dies scheint an die Darreichung eines einzigen Körperteils des Pelops an olympische Götter angelehnt zu sein, überragt diese jedoch an Ominosität.12 Zu diesem Muster passt zudem die Tatsache, dass Thyest unmittelbar nach seiner unwissentlichen Freveltat einen Zustand erlebt, der an das ewige Entgleiten der Nahrungsmittel – an die Qual also, der Tantalus in der Unterwelt als Bestrafung ausgesetzt ist – erinnert (Sen. Th. 985-989):13 sed quid hoc? nolunt manus parere, crescit pondus et dextram gravat; admotus ipsis Bacchus a labris fugit circaque rictus ore decepto fluit, et ipsa trepido mensa subsiluit solo. Doch was ist das? Meine Hände wollen mir nicht gehorchen, das Gewicht des Bechers wächst und belastet die Rechte; der Wein flieht direkt vor meinen Lippen, wenn ich ihn näher bringe, und fließt um die klaffenden Kiefer herum, den Mund täuschend, und selbst der Tisch springt auf dem unruhigen Boden empor.
10 11 12 13
rabidus Dolor, / mecum ite, mecum. ducibus his uti libet und Verg. Aen. 6.273-277: Luctus, Curae, Morbi, Metus, Fames, Egestas, Letum, Labos). Sen. Th. 96-100. Vgl. Pindar, Ol. 1.46-51; Ov. Met. 6.401-411. Littlewood (2004), 131. Vgl. Sen. Th. 1-5 quis inferorum sede ab infausta extrahit / avido fugaces ore captantem cibos? / [...] peius inventum est siti / arente in undis aliquid et peius fame / hiante semper?
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Ekphrasis und Metatheater
Das abscheuliche Verbrechen des Tantalus ist aber nicht der einzige Präzedenzfall, den es im Thyest zu übertreffen gilt. Wie die Medea ist der Thyest in erster Linie eine Rachetragödie: Die ersten Worte, die Atreus auf der Bühne ausspricht, weisen die Rache als einzige Motivation für sein geplantes Verbrechen aus (Sen. Th. 176-180): ignave, iners, enervis et (quod maximum probrum tyranno rebus in summis reor) inulte, post tot scelera, post fratris dolos fasque omne ruptum questibus vanis agis iratus Atreus? Fauler, Feiger, Weichlicher und, was ich für die größte Schandtat eines Tyrannen in höchster Stellung halte, Ungerächter, nach so vielen Verbrechen, nach so vielen Listen deines Bruders, nach dem Bruch jeden göttlichen Gesetzes beschäftigst du dich mit leeren Beschwerden, erzürnter Atreus?
Medea rächt sich an Jason hauptsächlich für seine Untreue. Sie konzipiert ihre mehrstufige Racheaktion als Überbietung der von ihr früher im Interesse ihres Mannes begangenen Verbrechen.14 Auch Atreus rächt sich an seinem Bruder vor allem dafür, dass dieser eine Liebesbeziehung mit seiner Frau hatte.15 Seine größte Sorge bei der Planung der Tat besteht darin, dass sie das ursprüngliche Verbrechen in den Schatten stellen soll (Sen. Th. 192-197): age, anime, fac quod nulla posteritas probet, sed nulla taceat. aliquod audendum est nefas atrox, cruentum, tale quod frater meus suum esse mallet – scelera non ulcisceris, nisi vincis. et quid esse tam saevum potest quod superet illum? Wohlan, mein Herz, tue, was keine Nachkommenschaft billigen, aber auch keine verschweigen kann. Ein scheußlicher, blutiger Frevel muss gewagt werden, einer, den mein Bruder lieber selbst hätte verüben wollen – Verbrechen rächst du nicht, wenn du sie nicht übertriffst. Und was kann so grausam sein, dass es sein Verbrechen überböte?
Atreus nimmt sein Verhältnis mit Thyest demzufolge als Wettbewerb wahr, bei dem es nicht darum geht, welcher der beiden Brüder zu einem scheußlicheren 14 15
Vgl. Sen. Me. 44-55, insb. 49-50 haec virgo feci; gravior exurgat dolor: / maiora iam me scelera post partus decent. Sen. Th. 176-180, insb. 179-180 post fratris dolos / fasque omne ruptum. Dazu siehe Tarrant (1985), 38-40.
Thyest
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Verbrechen fähig ist, sondern nur darum, welcher schneller handelt. Am Ende des Stückes behauptet Atreus sogar, Thyest sei nicht wegen des grausamen Todes seiner Söhne bestürzt, sondern nur weil er bei diesem Wettbewerb verloren habe (Sen. Th. 1104-1110):16 scio quid queraris: scelere praerepto doles; nec quod nefandas hauseris angit dapes: quod non pararis! fuerat hic animus tibi instruere similes inscio fratri cibos et adiuvante liberos matre aggredi similique leto sternere – hoc unum obstitit: tuos putasti. Ich weiß, worüber du dich beklagst: du leidest darunter, dass dir dein Verbrechen weggerissen wurde; es bedrückt dich nicht, dass du den gottlosen Schmaus verschlungen, sondern dass du ihn nicht selbst zubereitet hast! Dir war auch danach gewesen, für den nichts ahnenden Bruder ein ähnliches Mahl zu veranstalten und mit Hilfe ihrer Mutter meine Kinder anzugreifen und sie in ähnlichem Tod hinzustrecken – nur dies allein war dir im Weg: du hieltest sie für deine eigenen.
Das Einzige, was Thyest laut Atreus von einem ähnlichen Verbrechen abgehalten habe, sei sein eigenes früheres Vergehen: die Affäre mit Atreus’ Frau. Durch seine vorbeugend überbietende Gräueltat meint Atreus nicht nur die Legitimität der eigenen Kinder bewiesen, sondern auch, wie Medea nach der Tötung ihrer Kinder, die ursprüngliche Kränkung ungeschehen gemacht zu haben (Sen. Th. 1098-1099 liberos nasci mihi / nunc credo, castis nunc fidem reddi toris). Doch ist eine bloße überbietende Nachspielung grauenvoller Präzedenzfälle natürlich nicht die einzige Methode der Affektsteigerung, der sich Seneca im Thyest bedient. Bereits im Prolog geht hervor, dass die Ungeheuerlichkeit der im Thyest dargestellten Verbrechen in eine Relation mit visuell beeindruckenden Schilderungen der Unterwelt (und anderer verwandter Phänomene) gesetzt wird: Das metaphorische Infizieren der Tantalus-Nachkommen mit dessen mörderischem Geist begleitet zugleich die von der Furie in einer kurzen ekphrastischen Passage anschaulich beschriebene Transformation der gesamten Natur in ein überdimensioniertes Abbild der Tantalusqualen, in eine typische senecanische Unterwelt also, die mittels einer konsequenten Negierung aller vertrauter Eigenschaften der empirischen Welt charakterisiert wird.17 Der längste und ausführ16
17
Siehe auch Sen. Th. 193-196 aliquod audendum est nefas / atrox, cruentum, tale quod frater meus / suum esse mallet – scelera non ulcisceris, / nisi vincis. Dazu siehe Schiesaro (2003), 141; Littlewood (2004), 182. Sen. Th. 107-109 cernis ut fontis liquor / introrsus actus linquat, ut ripae vacent / ventusque raras igneus nubes ferat? Sen. Oe. 37-45, insb. 37-38 non aura gelido lenis
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Ekphrasis und Metatheater
lichste ekphrastische Abschnitt, der das Bühnengeschehen mit den Bildern des Totenreiches in Verbindung bringt, befindet sich jedoch im Botenbericht, der die Ermordung der Söhne des Thyest durch Atreus schildert. Die sadistische Rhetorik der aemulatio, die Seneca in dieser Episode an den Tag legt, stellt alles in den Schatten, was wir in Senecas Tragödien bis jetzt gesehen haben. Der Ort, an dem Atreus die Kinder tötet, sieht genauso aus wie der locus horridus, an dem Tiresias im Oedipus sein nekromantisches Ritual durchführt: Es ist ein aus ominösen, mit dem Tod assoziierten Bäumen bestehender Wald, in dessen Dunkelheit sich ein finsteres, dieses Mal explizit mit der Styx verglichenes Gewässer verbirgt, wo man die Seelen der Verstorbenen stöhnen und die Hunde der Hekate bellen hört;18 selbst davon zu hören, was man dort zu sehen bekommt, würde einen zum Schaudern bringen (Sen. Th. 670671 quidquid audire est metus / illic videtur), da dieser Ort von Monstren bevölkert werde, die schlimmer als diejenigen seien, die man sonst kennt (Sen. Th. 673 maiora notis monstra). In dieser ekphrastischen Passage finden sich alle üblichen Elemente von Senecas Beschreibungen des Monströsen, die stets das Ziel verfolgen, mit rhetorischen Mitteln einen visuellen Schock zu erzeugen. Das Besondere an dieser Szenerie ist jedoch, dass es sich dabei weder um die Unterwelt im eigentlichen Sinne, wie im Hercules Furens oder in der Medea, noch um einen ferngelegenen, von der empirischen Normalität vollkommen abgetrennten infernalischen Ort, wie im Oedipus, sondern um den königlichen Palastgarten handelt (Sen. Th. 641-653): in arce summa Pelopiae pars est domus conversa ad Austros, cuius extremum latus aequale monti crescit atque urbem premit et contumacem regibus populum suis habet sub ictu; fulget hic turbae capax immane tectum, cuius auratas trabes variis columnae nobiles maculis ferunt. post ista vulgo nota, quae populi colunt, in multa dives spatia discedit domus. arcana in imo regio secessu iacet, alta vetustum valle compescens nemus,
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afflatu fovet / anhela flammis corda, etc., 41ff. deseruit amnes umor, etc.; Sen. Th. 110-111 pallescit omnis arbor ac nudus stetit / fugiente pomo ramus und Sen. HF 700 non ulla ramos silva pomiferos habet; Sen. Th. 120-121 en ipse Titan dubitat an iubeat sequi / cogatque habenis ire periturum diem und Sen. Oe. 1-5 iam nocte Titan dubus expulsa redit, etc. Zum Bild von Theben im Oedipus als einer Art Unterwelt siehe Kap. 6. Sen. Th. 665-677 fons stat sub umbra tristis et nigra piger / haeret palude: talis est dirae Stygis / deformis unda quae facit caelo fidem, etc. Vgl. Sen. Oe. 530-547. Zum vergilischen Hintergrund der Beschreibung dieses locus horridus siehe Smolenaars (1998).
Thyest
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penetrale regni, nulla qua laetos solet praebere ramos arbor, etc. Hoch auf der Burg ist ein Teil des Pelops-Hauses, gegen den Süden gerichtet, dessen äußerste Flanke sich nach Art eines Bergs emporhebt und die Stadt beherrscht und das seinen Königen widerspenstige Volk mit ihrem Schlag bedroht; hier leuchtet ein riesenhaftes Gemach, große Menschenmengen fassend, dessen vergoldeten Balken Säulen tragen, mit bunten Malereien vorzüglich geschmückt. Hinter diesen allgemein zugänglichen Bereichen, die das Volk besucht, teilt sich das reiche Haus in viele Räume auf. Tief abgeschieden liegt ein geheimer Bezirk, in tiefem Tal einen alten Hain umfassend, der innerste Kern des Reiches, in dem kein Baum jemals fruchtbare Zweige hinhält usw.
Der Tartarus beginnt in diesem Stück folglich direkt hinter der mit Gold verzierten, einladenden, von allen bewunderten Fassade des weitläufigen königlichen Palastes. Die Unterwelt ist somit nicht, wie sonst, das Gegenteil, nicht die absolute Negation unserer vertrauten Welt; sie ist vielmehr als ein Teil dieser Welt zum Greifen nahe und lediglich durch eine hauchdünne Oberfläche verdeckt. Gerade durch die Betonung dieser scheinbar schon immer dagewesenen Nähe wirkt diese Version des Totenreiches viel verstörender als alle anderen, denen wir bei Seneca begegnen. Die Beschreibung dieses infernalischen Ortes dient nur dazu, das dort geschehende Verbrechen noch grausamer erscheinen zu lassen als die gerade evozierten Bilder der literarischen Unterwelt. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass Atreus, wie bereits erwähnt, sein Verbrechen wie einen Opferritus inszeniert, was an zwei andere Morde in Senecas Tragödien erinnert – den an Polyxena (Sen. Tr. 1118-1154) und den an Agamemnon (Sen. Ag. 887-907). Wie diese beiden Opferriten kann das hier skizzierte pseudo-religiöse Spektakel auch als Nachspielung einer früheren ähnlichen Handlung (nämlich Tantalus’ Darbietung eines Körperteils seines Sohnes an die in seinem Palast versammelten olymplischen Götter) gesehen werden. Und natürlich handelt es sich dabei in der Tat um eine überbietende Nachspielung. Verglichen mit den beiden anderen Opfermordschilderungen erreicht das sadistische Ergötzen an abstoßenden Einzelheiten in dieser Passage ein selbst für Seneca unerhörtes Ausmaß. Die Schilderung des Opferritus erfolgt, gleich derjenigen von Medeas magischem Ritual (Sen. Me. 670-848), in mehreren, in ihrer emotionalen Wirkung ansteigenden Stufen, die am Ende den Eindruck einer schier unübertreffbaren Ungeheuerlichkeit erzeugen. Bezeichnend ist bereits, dass die der Ausübung des Opfermordes vorangehenden schrecklichen Prodigien weit davon entfernt sind, Atreus von seinem Vorhaben abzuschrecken. Stattdessen erfüllen sie ihn sogar mit dem Wunsch, den drohenden Göttern selbst Angst einzujagen (Sen. Th. 704705 atque ultro deos / terret minantes). Der erschreckende Effekt wird zusätzlich durch eine Reihe sadistisch wirkender Verzögerungen, sowohl in Atreus’ Hand-
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Ekphrasis und Metatheater
lungen als auch in der Rhetorik des Boten, gesteigert: Atreus überlegt sich lange und pedantisch, welches Kind er zuerst tötet,19 während der Bote seinen Bericht durch lange epische Gleichnisse verlangsamt.20 Mehr noch: Der Bote erhöht bewusst die quälende Horrorwirkung seiner Nachricht, indem er genau auf die Intensivierung der Reaktion seiner Rezipienten (des Chors) achtet und mit besonderem Nachdruck betont, dass das, was man naturgemäß für den höchsten Gipfel der Grausamkeit halten könnte, lediglich eine Stufe innerhalb eines scheinbar unaufhaltsamen Steigerungsprozesses darstellt (Sen. Th. 743-747): Cho. o saevum scelus! Nun. exhorruistis? hactenus si stat nefas, pius est. Cho. an ultra maius aut atrocius natura recepit? Nun. sceleris hunc finem putas? gradus est. Chor: O grauenhaftes Verbrechen! Bote: Ihr habt euch entsetzt? Wenn sein Gräuel damit aufhört, ist er ein tugendhafter Mensch! Chor: Kann die Natur noch darüber hinaus etwas Größeres oder Grauenvolleres ertragen? Bote: Du hältst das für das Ende des Frevels? Es ist nur eine Stufe.
Dass die in Atreus’ Ritual sowie im Botenbericht an den Tag gelegte Überbietungsästhetik die Vorstellung von jeglichem verträglichen Schluss, sei es ethisch oder ästhetisch, von vorneherein sprengt, zeigt sich im weiteren Verlauf dieses Abschnittes mit außerordentlicher Anschaulichkeit. Die auf jedes Detail achtende, sachliche Schilderung der mit genüsslicher Umständlichkeit durchgeführten (pseudo)religiösen Handlungen21 – der Inspektion der Eingeweide der geschlachteten Opfer, der sorgfältigen Zerstückelung ihrer Körper, der Zubereitung der daraus gewonnenen Speisen – lässt nicht nur alle übrigen denkbaren Gräueltaten, sondern auch die meisten anderen Beschreibungen von Körperzerstückelungen, ohne die keine senecanische Tragödie auskommt, vollkommen harmlos erscheinen. Besonders befremdlich an dieser Szene ist der rasante Kontrast zwischen der zwanghaften, rituellen und rhetorischen, Ordnung sowie der daraus resultierenden absoluten – sowohl ontologischen als auch sprachlichen – Verwirrung, die z. B. darin resultiert, dass die Ratlosigkeit hinsichtlich 19
20
21
Sen. Th. 713-716 quem prius mactet sibi / dubitat, secunda deinde quem caede immolet. / nec interest – sed dubitat et saevum scelus iuvat ordinare. Zur Gestaltung und Bedeutung dieses Rituals siehe Schiesaro (2003), 85-98. Sen. Th. 707-713, 732-736. Richard Tarrant (1985), 192 führt diese Gleichnisse auf Ovids Metamorphosen (Ov. Met. 5.164-167 und 6.636-637) zurück. Vgl. Schiesaro (2003), 122-126. Sen. Th. 689-690 servatur omnis ordo, ne tantum nefas / non rite fiat. Vgl. Sen. Th. 713-716.
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des Ursprungs des unmittelbar wahrnehmbaren chaotischen Zustandes der Natur durch ein subjektloses Verb ausgedrückt werden kann (Sen. Th. 771-772 nec facile dicas corpora an flammae gemant: / gemuere).22 Noch verstörender ist jedoch die Tatsache, dass das skizzierte grenzenlose Grauen selbst zum Ende dieser Passage hin nach wie vor weit davon entfernt zu sein scheint, zu einem Abschluss zu gelangen: Der Bote stellt nämlich explizit fest, dass das Schlimmste erst dann komme, wenn der mit dem Fleisch seiner eigenen Söhne inzwischen gesättigte Thyest das Ausmaß des von ihm unwissentlich begangenen Verbrechens endgültig sehe (Sen. Th. 782-787): in malis unum hoc tuis bonum est, Thyesta, quod mala ignoras tua. sed et hoc peribit. verterit currus licet sibi ipse Titan obvium ducens iter tenebrisque facinus obruat taetrum novis nox missa ab ortu tempore alieno gravis, tamen videndum est. tota patefient mala. In deinem Unglück, Thyest, ist dies das einzig Gute, dass du dein Unglück nicht kennst. Doch das wird dir auch verloren gehen. Mag der Titan selbst seinen Wagen wenden, in die entgegengesetzte Richtung fahrend, und mag die schwere Nacht, gesandt vom Aufgang zu ungehöriger Zeit, das abscheuliche Verbrechen unter neuartiger Finsternis vergraben, dennoch muss es sichtbar werden. Alle Gräuel werden ans Licht gebracht.
Angesichts der mit Nachdruck betonten Notwendigkeit, das Verborgene zu erblicken, überrascht es kaum, dass der letzte Akt der Tragödie auf dem aus dem Oedipus bekannten Muster der Sichtbarwerdung einer inneren Monstrosität basiert. Die ungeheuerliche Tat, die Thyest unbewusst begangen hat, lässt in seinen Augen die Trennlinie zwischen Subjekt und Objekt weitgehend verschwimmen: Wie Oedipus den von ihm gesuchten Verbrecher nicht mehr von sich selbst trennen kann (Sen. Oe. 273 nulla sontem gratia eripiet mihi), ist nun auch Thyest mit seinen Söhnen, nach denen er verzweifelt sucht, auf skurrile Weise eins geworden (Sen. Th. 998 reddam, et tibi illos nullus eripiet dies). Der Moment, in dem Thyest seine innere Monstrosität definitiv erkennt, wird, wie es bei Seneca üblich ist, durch eine Veränderung der physischen Sichtbedingungen markiert (Sen. Th. 992-995): magis magisque concussi labant convexa caeli; spissior densis coit caligo tenebris noxque se in noctem abdidit: fugit omne sidus.
22
Littlewood (2004), 236-237.
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Ekphrasis und Metatheater Mehr und mehr wanken die Wölbungen des erschütterten Himmels; dichter als tiefe Finsternis versammelt sich der Nebel, und die Nacht hat sich in Nacht verborgen: jeder Stern ist auf der Flucht.
Thyest fühlt sich nun, wie Oedipus,23 von undurchdringlicher Finsternis umhüllt.24 In dieser absoluten Dunkelheit sehnt er sich danach, seine Kinder zu sehen, und Atreus erfüllt den Wunsch seines Bruders, indem er ihm ihre übriggebliebenen Gliedmaßen, ihre abgeschnittenen Köpfe, Hände und Füße, zeigt (Sen. Th. 1002-1005): Th. adeste, nati, genitor infelix vocat, adeste. visis fugiet hic vobis dolor. – unde obloquuntur? At. expedi amplexus, pater; venere. Thyest: Kommt hierher, ihr Söhne, der unglückliche Erzeuger ruft euch, kommt hierher. Wenn ich euch sehe, wird dieser Schmerz gelindert. – Von woher sprechen ihre tadelnden Stimmen? Atreus: Breite deine Arme aus, Vater; sie sind gekommen.
Dieser Anblick ist nicht nur widerwärtig und schockierend, sondern er öffnet Thyest allmählich die Augen für die Lage, in der er sich eigentlich befindet: So wie Jason, Phaedra und Iokaste durch den Anblick ihrer toten (zerstückelten bzw. verstümmelten) Kinder gezwungen werden, die unerträgliche Wahrheit über ihre abartigen Familienverhältnisse zu erkennen,25 nimmt jetzt auch Thyest in der dargebotenen visuellen Grausamkeit in erster Linie die Feindschaft zwischen sich und seinem Bruder wahr (Sen. Th. 1005-1006 At. natos ecquid agnoscis tuos? / Th. agnosco fratrem).26 Bevor er das wirkliche Ausmaß der eigenen Ungeheuerlichkeit begreift, steht er zunächst wie Oedipus vor orakelhaft klingenden Rätseln (Sen. Th. 1030-1031 quidquid e natis tuis / superest habes, quodcumque non superest habes). Erst nachdem ihm Atreus nach langem sadistischem Hinauszögern verkündet, wo sich die restlichen Körperteile seiner 23 24
25
26
Vgl. Sen. Oe. 971-973 attollit caput / cavisque lustrans orbibus caeli plagas / noctem experitur. Diese durch das abscheuliche Verbrechen verursachte Sonnenfinsternis wird im letzten Chorlied der Tragödie besonders ausführlich geschildert (Sen. Th. 789-884). Vgl. Sen. Th. 1035-1036 hoc est deos quod puduit, hoc egit diem / aversum in ortus. Zum literarischen Motiv der Sonnenfinsternis als Folge der cena Thyestea siehe Volk (2006). Vgl. Sen. Me. 1021 coniugem agnoscis tuam? Ph. 1168-1169 Hippolyte, tales intuor vultus tuos / talesque feci? Oe. 1009-1112 quid te vocem? / gnatumne? dubitas? gnatus es: gnatum pudet; / invite loquere gnate – quo avertis caput / vacuosque vultus? Littlewood (2004), 210.
Thyest
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Söhne befinden (Sen. Th. 1034 epulatus ipse es impia natos dape), transformiert sich die verstörende Ansicht in die unleugbare Erkenntnis der eigenen monströsen Natur (Sen. Th. 1038-1040): abscisa cerno capita et avulsas manus et rupta fractis cruribus vestigia – hoc est quod avidus capere non potuit pater. Ich sehe abgetrennte Köpfe, abgerissene Hände und Füße, abgeschnitten von den gebrochenen Beinen – das ist, was der gierige Vater nicht aufnehmen konnte.
Wie alle senecanischen Helden, die durch einen unerträglichen visuellen Eindruck zu einer noch unerträglicheren Selbsterkenntnis gezwungen werden, sucht Thyest ein akuter Todeswunsch heim. Die Erfüllung dieses Verlangens erscheint ihm insofern von besonderer Dringlichkeit, als dass sie seiner Meinung nach die einzige Möglichkeit biete, seine Kinder zu beerdigen.27 Dieser Wunsch bleibt ihm jedoch trotz ausgiebiger Gebete an die Götter der Unterwelt und des Himmels (Sen. Th. 1077-1096) verwehrt. Das Leben erweist sich, wie in jeder anderen senecanischen Tragödie, als schlimmere Strafe denn die übernatürlichen Schreckensbilder des Todes. Der effektvolle Kontrast zwischen Thyests konstanter Evozierung mythologischer Bilder des Chaos und des Weltuntergangs einerseits (mit den unvermeidlich dazugehörenden Giganten und sonstigen Monstren)28 und Atreus’ penibler Obsession mit den Einzelheiten der von ihm inszenierten, erschreckend realen Gräueltat entspricht dem üblichen senecanischen Muster: Demgemäß übertrifft die menschliche – innerhalb der dramatischen Handlung ausgeführte – Grausamkeit jegliche in der literarischen Tradition verankerten klischeehaften Monstrositäten. Die letzten Worte der Tragödie erhalten in diesem Kontext eine besondere Bedeutung (Sen. Th. 11101112): Th. vindices aderunt dei; his puniendum vota te tradunt mea. At. te puniendum liberis trado tuis. Thyest: Die Götter werden als Rächer erscheinen; ihnen zur Bestrafung übergeben dich meine Gelübde. Atreus: Dich übergebe ich zur Bestrafung deinen Kindern. 27 28
Sen. Th. 1090-1092 si gnatos pater / humare et igni tradere extremo volo, / ego sum cremandus. Sen. Th. 1007-1009 non ad infernam Styga / te nosque mergis rupta et ingenti via / ad chaos inane regna cum rege abripis? 1011-1012 stare circa Tantalum / uterque iam debuimus; 1013 Tartara; 1016 Acheron; 1018 Phlegethon; 1071 (Nox Tartarea), 1084 (Gigantes).
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Ekphrasis und Metatheater
Es ist kaum verwunderlich, dass Atreus, der – wie Medea – durch seine unvorstellbare Gräueltat die göttlichen Gesetze außer Kraft setzte, indem er selbst die Rolle eines Gottes übernahm,29 die Vorstellung der Götterrache für absolut überholt hält. Die Strafe, der Thyest nun unterzogen wird, wirkt dagegen erschreckend real, da für ihn, wie für Oedipus, keine Möglichkeit mehr besteht, sich von seinem inneren Monster zu trennen. Das introspektive Sehen des Thyest, das zu einer entsetzlichen Selbsterkenntnis führt, ist jedoch nicht die einzige Art des Sehens, die in dieser Tragödie thematisiert wird. Wie Medea inszeniert Atreus seine Rache als Bühnenspiel, bei dem er selbst als Regisseur, Akteur und Zuschauer zugleich fungiert.30 Der schmerzhafte Prozess der Sichtbarwerdung der inneren Monstrosität des Thyest ist in Atreus’ Augen nichts anderes als ein unterhaltsames Spektakel, das dadurch umso spannender wirkt, dass sein Hauptdarsteller sich nicht darüber im Klaren ist, dass er eine vorbestimmte Rolle spielt (Sen. Th. 903-907): libet videre, capita natorum intuens, quos det colores, verba quae primus dolor effundat aut ut spiritu expulso stupens corpus rigescat. fructus hic operis mei est. miserum videre nolo, sed dum fit miser. Es ist angenehm zu sehen, welche Farbe sein Gesicht zeigt, wenn er die Köpfe seine Söhne betrachtet, welche Worte sein erster Schmerz ausschüttet oder wie sein Körper erstarrt, atemlos und steif. Das ist die Frucht meiner Mühe. Nicht unglücklich will ich ihn sehen, sondern wie er unglücklich wird.
Atreus verhält sich hier wie Medea, die ihre Rache erst dann als befriedigend empfindet, als sie Jasons Zuschauerreaktion auf das von ihr veranstaltete Spektakel sieht.31 Und gleich wie Medea genießt er dabei den Anblick seines leidenden Opfers. Da er aber, im Gegensatz zu Medea, die Kinder nicht direkt vor ihrem Vater töten kann, muss er sich damit zufrieden geben, ihm den grausamen Mord durch eine besonders anschauliche ekphrastische Passage vor Augen zu führen (Sen. Th. 1057-1065). Erst nachdem er sich davon überzeugt hat, dass diese Erkenntnis seinem Bruder hinreichend Schmerzen bereitet, hält er seine Rache für ein gelungenes Spektakel (Sen. Th. 1096-1098): 29
Sen. Th. 888 dimitto superos. Vgl. Schiesaro (2003), 152-153: „Atreus constantly refers to the level of human interaction, and his self-fashioning as a god is in fact consistent with the notion that gods do not have any impact on human activities. The standard criteria for divinity are wrecked: each man is his own god provided that he can muster sufficient power. The ambivalent affirmation of divinity in a godless world communicates one of the most chilling messages of the play.“ 30 Schiesaro (2003), 235-243; Littlewood (2004), 209-215. 31 Sen. Me. 992-993 derat hoc unum mihi, / spectator iste. Vgl. Boyle (1997), 112-137.
Thyest
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nunc meas laudo manus, nunc parta vera est palma. perdideram scelus, nisi sic doleres. Jetzt lobe ich meine Hände, jetzt ist die Siegespalme wahrhaftig gewonnen. Mein Verbrechen hätte ich verschwendet, wenn es dir nicht so sehr weh täte.
So endet die Tragödie mit dem gleichen Motiv, mit dem sie anfing. Im Prolog meinte Tantalus, selbst die Vorstellung davon, die Grausamkeiten seiner Nachkommen sehen zu müssen, sei eine Strafe, die seine ewigen Qualen in der Unterwelt in den Schatten stelle (Sen. Th. 1-121). Das Sehen – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne – erweist sich auch für Thyest als die denkbar qualvollste Bestrafung. Wie es bei Seneca allerdings stets der Fall ist, übertrifft die zwischenmenschliche Interaktion die sich unter den Monstern der Unterwelt abspielende Szene an Grausamkeit, weil sich die Furie, die Tantalus nach einem kurzen leidvollen Aufenthalt auf der Erde zurück in den Tartarus entlässt, im Vergleich zu dem haltlosen Sadisten Atreus geradezu barmherzig zeigt. Wir sehen nun also, dass die meisten Motive, denen wir im Thyest begegnen, verschiedene Muster aufgreifen, die uns aus anderen Tragödien bereits bekannt sind: Wie in allen seinen Tragödien konzipierte Seneca die Handlung als eine überbietende Nachspielung anderer Mythen, deren sowohl visuell als auch moralisch schockierende Wirkung durch die Verwendung der dagegen harmlos erscheinenden Unterweltmotivik in besonderem Maße intensiviert wird; wie in den Troades und im Agamemnon steht die Schilderung eines makaberen Opferritus im Mittelpunkt; analog zum Oedipus wird einer der beiden Protagonisten gezwungen, seine innere Monstrosität zu erkennen; und wie in der Medea fungiert der andere als Regisseur eines sadistischen Spektakels, wobei er das Leiden seines Gegners mit offenkundigem Genuss betrachtet. Dass manche dieser Motive im Thyest ein besonders monströses Ausmaß erreichen, konstituiert jedoch bei weitem nicht den bemerkenswertesten Aspekt dieser Tragödie. Das Interessante am Thyest besteht in erster Linie darin, dass die Rache des Atreus wie eine ausgeklügelte künstlerische Aktivität dargestellt wird.32 Atreus handelt zwar zweifelsohne aus einem unkontrollierbaren leidenschaftlichen Impuls heraus.33 Jeder Schritt seines Racheaktes – von den ersten Anfängen bis zu seinen unmittelbaren Folgen – zeichnet sich jedoch durch eine distanziert ästhetisierende Haltung aus. Deswegen erweist sich Atreus nicht nur als ein von Rache besessener Sadist, sondern auch als ein ehrgeiziger Überbietungskünstler.
32 33
Zur Interpretation des Atreus als eines selbstbewussten Künstlers siehe Schiesaro (2003), 70-138. Vgl. Schiesaro (1994).
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Ekphrasis und Metatheater
Wie bereits gesehen, besteht die wichtigste Motivation bei der Planung seines Verbrechens für Atreus darin, die ihm von Thyest zugefügte Kränkung mit seiner Rache an Grausamkeit zu übertreffen. Beim Nachsinnen über die Art der Bestrafung gerät Atreus zunehmend in Ekstase (Sen. Th. 249-262): At. excede, Pietas, si modo in nostra domo umquam fuisti. dira Furiarum cohors discorsque Erinys veniat et geminas faces Megaera quatiens: non satis magno meum ardet furore pectus, impleri iuvat maiore monstro. Sat. quid novi rabidus struis? At. Nil quod doloris capiat assueti modum; nullum relinquam facinus et nullum est satis. Sat. Ferrum? At. Parum est. Sat. Quid ignis? At. Etiamnunc parum est. Sat. Quonam ergo telo tantus utetur dolor? At. ipso Thyeste. Sat. Maius hoc ira est malum. At. Fateor. tumultus pectora attonitus quatit penitusque volvit; rapior et quo nescio, sed rapior. Atreus: Geh weg, Gnade, wenn es dich in diesem Haus jemals gab. Die unheilvolle Furienschar und die zwieträchtige Erinye möge kommen und Megära, zwei Fackeln schwingend: meine Brust brennt mit einem nicht ausreichend großen Wahn, mit einer größeren Abscheulichkeit will ich mich erfüllen. Gefolgsmann: Was planst du Neues, du Tollwütiger? Atreus: Nichts, was das Ausmaß eines gewohnten Schmerzes annehmen könnte; keinen Frevel lasse ich aus, und keiner ist genug. Gefolgsmann: Das Schwert? Atreus: Es ist zu wenig. Gefolgsmann: Wie wäre es mit Feuer? Atreus: Ebenso zu wenig. Gefolgsmann: Dann welcher Waffe wird sich so ein großer Schmerz bedienen? Atreus: Thyest selbst. Gefolgsmann: Dieses Verbrechen ist größer als dein Zorn. Atreus. Ich gebe es zu. Verzückter Aufruhr bringt meine Brust zum Beben und erschüttert sie im Innersten: ich werde fortgerissen, ich weiß nicht wohin, aber ich werde fortgerissen.
Die Vorstellung, er könne nun ein Verbrechen ungesehenen Ausmaßes begehen, lässt Atreus Symptome zeigen, die, wie Alessandro Schiesaro zeigte, an den Zustand einer poetischen Inspiration erinnern, wie er in Ps.-Longins Περὶ ὕψους beschrieben wird: Er fühlt sich von einer fremden Macht ergriffen, die ihn nach
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etwas unvorstellbar Erhabenem trachten lässt.34 Es erscheint in diesem Zusammenhang besonders passend, dass die Furien und die Erinyen für Atreus die klassische Musenrolle übernehmen.35 Im Gegensatz zu einem archaischen Dichter wird seine Phantasie jedoch nicht nur von einer göttlichen Instanz, sondern auch – wie bei einem hellenistisch-römischer poeta doctus – von einem literarischen Vorbild, nämlich von der hauptsächlich aus Ovids Metamorphosen bekannten Geschichte von Tereus, Procne und Philomela, beflügelt (Sen. Th. 272-278):36 vidit infandas domus Odrysia mensas – fateor, immane est scelus, sed occupatum: maius hoc aliquid dolor inveniat. animum Daulis inspira parens sororque; causa est similis: assiste et manum impelle nostram. liberos avidus pater gaudensque laceret et suos artus edat. Das odrysische Haus hat bereits einen frevelhaften Schmaus gesehen – ich gestehe, das Verbrechen ist entsetzlich, doch ist es schon begangen: mein Schmerz möge etwas Größeres erfinden. Gib mir Mut, daulische Mutter, und ihre Schwester auch; die Angelegenheit ist ähnlich: hilf mir und treib meine Hand an. Voller Gier und mit Freude zerreiße der Vater seine Söhne und esse die von ihm gezeugten Glieder.
Der Sinneseindruck, den dieses literarische Vorbild ausübt, ist so stark, dass er die exakte Szenerie des bevorstehenden Verbrechens vor Atreus’ Augen entstehen lässt (Sen. Th. 281-282 tota iam oculos meos / imago caedis errat).37 34
35
36 37
Ps.-Longin. Subl. 13.2 πολλοὶ γὰρ ἀλλοτρίῳ θεοφοροῦνται πνεύµατι τὸν αὐτὸν τρόπον ὃν καὶ τὴν Πυθίαν λόγος ἔχει τρίποδι πλησιάζουσαν, ἔνθα ῥῆγµά ἐστι γῆς ἀνάπνεον ὥς φασιν ἀτµὸν ἔνθεον, αὐτόθεν ἐγκύµονα τῆς δαιµονίου καθισταµένην δυνάµεως παραυτίκα χρησµῳδεῖν κατ᾿ ἐπίπνοιαν· οὕτως ἀπὸ τῆς τῶν ἀρχαίων µεγαλοφυίας εἰς τὰς τῶν ζηλούντων ἐκείνους ψυχὰς ὡς ἀπὸ ἱερῶν στοµίων ἀπόρροαί τινες φέρονται, ὑφ᾿ ὧν ἐπιπνεόµενοι καὶ οἱ µὴ λίαν φοιβαστικοὶ τῷ ἑτέρων συνεθουσιῶσι µεγέθει. Schiesaro (2003), 129-130. Vgl. Sen. Th. 250-254 dira Furiarum cohors / discrosque Erinys veniat et geminas faces / Megaera quatiens: non satis magno meum / ardet furore pectus, impleri iuvat / maiore monstro. Ov. Met. 6.424-674. In Ps.-Longins Terminologie würde man solch eine emotional bewegende Wirkung einer literarischen Darstellung, die den Rezipienten das Geschilderte gleichsam sehen lässt, als phantasia bezeichnen. Ps.-Longin. Subl. 15.1 ὄγκου καὶ µεγαληφορίας καὶ ἀγῶνος ἐπὶ τούτοις, ὧ νεανία, καὶ αἱ φαντασίαι παρασκευαστικώτατοι· οὕτω γοῦν ἡµεῖς εἰδολωλοποιίας δ᾿ αὐτὰς ἔνιοι λέγουσι. καλεῖται µὲν γὰρ κοινῶς φαντασία πᾶν τὸ ὁπωσοῦν ἐννόηµα γεννητικὸν λόγου παριστάµενον· ἤδη δ᾿ ἐπὶ τούτων κεκράτηκε τοὔνοµα ὅταν ἃ λέγεις ὑπ᾿ ἐνθουσιασµοῦ καὶ πάθους βλέπειν δοκῇς καὶ ὑπ᾿ ὄψιν τιθῇς
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Ekphrasis und Metatheater
Wie stark die Wirkung ist, die Atreus’ selbstbewusst überbietende Umsetzung dieser Vision auf den Rezipienten hat, kann man dem Botenbericht entnehmen, in dem der Mord an Thyests Söhnen geschildert wird (Sen. Th. 623625): quis me per auras turbo praecipitem vehet atraque nube involvet, ut tantum nefas eripiat oculis? Welcher Wirbelwind wird mich eilig durch die Lüfte tragen oder mit schwarzer Wolke umhüllen, um so eine große Untat meinen Augen zu entreißen?
Es handelt sich dabei um einen Akt visueller Gewalt, der den Wahrnehmenden gleichsam verstümmelt, indem er ihm das verstörende Bild für immer ins Gedächtnis einbrennt (Sen. Th. 635-636 haeret in vultu trucis / imago facti). Die Qual, die der Betrachter dieser Szene erlebt, ist vergleichbar mit dem Schmerz, den Thyest im Moment seiner schrecklichen (Selbst)Erkenntnis empfindet (vgl. Sen. Th. 623-624 ut tantum nefas / eripiat oculis und 998 tibi illos nullus eripiet dies). Eben dieses Bild prägt nun der Bote durch die Wortkunst seiner ekphrastischen Passage seinen Zuhörern/Lesern ein. Seine virtuose Rhetorik spiegelt dabei, wie ich bereits bemerkt habe, die Einzelheiten der selbstbewusst künstlerischen religiösen Travestie wider, die Atreus in dieser Szene veranstaltet, und lässt schließlich dieses unauslöschbare Bild auch vor unseren Augen entstehen. Das Ergebnis dieser ekphrastischen Virtuosität ist, völlig im Einklang mit dem von Ps.-Longin postulierten Gebot, nicht einfach enargeia, sondern ein unmittelbar wahrnehmbares Angstgefühl,38 wie die Reaktion des Chors – des direkten Rezipienten des Botenberichts – bestätigt (Sen. Th. 743-744 Cho. o saevum scelus! / Nun. exhorruistis?). Die Wirkung der in dieser Passage sowohl von Atreus als auch vom Boten praktizierten ungezügelten Überbietungskunst (vgl. Sen. Th. 746-747 sceleris hunc finem putas? / gradus est), die in einem „erhabenen“ Text unter normalen Umständen durchaus erwünscht wäre, entfaltet sich hier zu einem qualvollen Alptraum, in dem die graduelle Steigerung der Horroreffekte kein ästhetisch oder ethisch akzeptables Ende finden kann. Im letzten Akt der Tragödie erreicht Atreus’ Überbietungswahn eine wahrhaftig kosmische Dimension. Nach seiner erfolgreich vollbrachten Gräueltat fühlt er sich den Göttern überlegen (Sen. Th. 885-889):
38
τοῖς ἀκούουσιν. Vgl. Schiesaro (2003), 130-132. Das Konzept von phantasia werde ich im neunten Kapitel im Detail besprechen. Ps. Longin 15.2 ὡς δ᾿ ἕτερόν τι ἡ ῥητορικὴ φαντασία βούλεται καὶ ἕτερον ἡ παρὰ ποιηταῖς, οὐκ ἂν λάθοι σε, οὐδ᾿ ὅτι τῆς µὲν ἐν ποιήσει τέλος ἐστὶν ἔκπληξις, τῆς δ᾿ ἐν λόγοις ἐνάργεια, ἀµφότεροι δ᾿ ὅµως τό τε παθητικὸν ἐπιζητοῦσι καὶ τὸ συγκεκινηµένον.
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aequalis astris gradior et cunctos super altum superbo vertice attingens polum. nunc decora regni teneo, nunc solium patris. dimitto superos: summa votorum attigi. bene est, abunde est, iam sat est etiam mihi. Den Sternen gleich schreite ich, und, über alle mich erhebend, berühre ich mit meinem stolzen Haupt den hohen Himmel. Jetzt habe ich die Königswürde, jetzt den Thron meines Vaters. Die Götter entlasse ich: die Krönung meiner Wünsche habe ich erreicht. Gut ist es, überreichlich gut, nun ist es sogar mir genug.
Es stellt sich allerdings heraus, dass er – trotz seiner scheinbaren Zufriedenheit – nicht mehr aufhören kann. Die Vollendung der Tat ist nicht mehr genug. Nun will er für seine beispiellose Überbietungskunst bewundert werden und benötigt Zuschauer (Sen. Th. 890-895): sed cur satis sit? pergam et implebo patrem funere suorum. ne quid obstaret pudor, dies recessit: perge dum caelum vacat. utinam quidem tenere fugientes deos possem, et coactos trahere, ut ultricem dapem omnes viderent – quod sat est, videat pater. Doch warum soll es mir reichen? Ich werde weiter gehen und den Vater mit den Leichen seiner Söhne vollstopfen. Damit sich keine Scham mit in den Weg stellt, hat sich der Tag zurückgezogen: ans Werk, solange der Himmel herrenlos ist. Wenn ich nur die fliehenden Götter zum Bleiben zwingen und gewaltsam hierher ziehen könnte, damit sie alle den rächenden Schmaus sähen! – Es reicht, wenn ihn der Vater sieht.
Dieser Wunsch wird Atreus vergönnt, und er kann sich an den seinem Bruder durch sein kunstvoll inszeniertes Spektakel zugefügten Qualen satt sehen. An dieser Stelle entpuppt er sich endgültig als ein völlig entfesselter Überbietungskünstler, dem die Kontrolle über die in seiner Imagination entstehenden Horrorbilder komplett entglitten ist. Obwohl er am Ende zugibt, dass die Ausführung seines Plans im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen ist (Sen. Th. 10961098), quält ihn zwischendurch die Vorstellung, dass die Grenze, die er seiner Rache gesetzt hatte, theoretisch noch hätte überschritten werden können (Sen. Th. 1052-1067): sceleri modus debetur ubi facias scelus, non ubi reponas. hoc quoque exiguum mihi: ex vulnere ipso sanguinem calidum in tua defundere ora debui, ut viventium biberes cruorem – verba sunt irae data
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Ekphrasis und Metatheater dum propero. ferro vulnera impresso dedi, cecidi ad aras, caede votiva focos placavi, et artus, corpora exanima amputans, in parva carpsi frusta et haec ferventibus demersi aenis; illa lentis ignibus stillare iussi; membra nervosque adscidi viventibus, gracilique traiectas veru mugire fibras vidi et aggressi manu mea ipse flammas – omnia haec melius pater fecisse potuit, cecidit in cassum dolor: scidit ore natos impio, sed nesciens sed nescientes. Verbrechen braucht Maß, wenn du Verbrechen begehst, nicht wenn du es erwiderst. Auch dies ist mir zu gering: ich hätte das warme Blut direkt aus der Wunde in deinen Mund gießen sollen, damit du ihr Blut trinkst, während sie noch lebten – vor Eile wurde mein Zorn betrogen. Mit tief eindringendem Schwert verwundete ich sie, schlachtete sie am Altar, besänftigte mit ihrem Opferblut die Feuerstätte, ihre Gliedmaßen, die entseelten Körper zerstückelnd, rupfte ich in kleine Stückchen und versenkte die einen in die kochenden Erzgefäße; die anderen ließ ich über schwelendes Feuer tröpfeln; Glieder und Muskeln schnitt ich den Lebenden ab, die vom feinen Spieß durchbohrten Eingeweide sah ich dröhnen, und selbst schürte ich die Flammen mit eigener Hand – all das hätte der Vater besser erledigen können, mein Schmerz hat sich umsonst verbraucht: er zerriss mit frevelndem Mund seine Söhne, doch unwissend, doch Unwissende.
Hier wird uns mit aller Deutlichkeit die ausweglose Absurdität einer überbietenden Nachahmung vorgeführt. Eine ähnliche Einsicht liegt auch am Ende jedes anderen senecanischen Dramas nahe (insbesondere im Agamemnon). Der wichtigste Unterschied zwischen dem Thyest und den übrigen Tragödien besteht darin, dass in diesem Stück die Absurdität vor allem aus der Perspektive des sie praktizierenden Künstlers gezeigt wird.39 Was dadurch sichtbar wird, ist das Bild einer grenzenlosen Frustration. Wenn man sich das Übertreffen eines bereits vorgegebenen Musters – sei es im Verbrechen oder in der Kunst – als einziges Ziel setzt, ist man dazu verurteilt, sich in einem ewigen Teufelskreis zu bewegen. Dieses Vorhaben kann nämlich, wenn man es ernst nimmt, durch nichts zu einem Abschluss finden: Jede bereits erreichte Überbietung kann immer weiter überboten werden, und ein sinnvolles Ende, bei dem man eine wahre Befriedigung erreichen könnte, ist nie in Sicht. Trotz seines scheinbaren
39
Dies geschieht auch in der Medea; im Thyest spielt dennoch die Betonung der künstlerischen Aktivität des Rachekünstlers eine unvergleichlich größere Rolle.
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Triumphs wird Atreus letztlich zu einem solchen zu ewiger Frustration verurteilten Überbietungskünstler.40 Dass dieser frustrierte Überbietungskünstler ironischerweise wie eine überbietende Version des Tantalus wirkt, schließt endgültig den Kreis, der im Prolog angedeutet wurde. Tantalus scheint sich mit seiner ewigen – dafür aber stabilen und vorhersehbaren – Frustration abgefunden zu haben und zieht sie sogar der abgeschmackten Endlosigkeit tragischer Überbietungen vor, die er auf der Erde gegen seinen Willen wieder in Gang setzen muss. In Atreus findet sich der Hauptakteur des infernalischen Plans, zu dessen Ausführung Tantalus von der Furie missbraucht wird. Er ist es in erster Linie, der hier mit dem Geist des Tantalus infiziert wird (vgl. Sen. Th. 53 imple Tantalo totam domum). In ihm verwandelt sich allerdings die Frustration seines frevelhaften Vorfahren, die aus der Unmöglichkeit entsteht, die einfachsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, in eine Frustration, die mit der Befriedigung immer weiter ausufernder Wünsche stetig zunimmt. Der vermeintliche „ultimative Kick“, nach dem Atreus vergeblich strebt, ist ohne Zweifel mit den scheinbar zum Greifen nahen, sich jedoch sofort wieder entziehenden Gewässern und Früchten der Tantalusqualen vergleichbar.41 Im Gegensatz zu den deutlich sichtbaren Gegenständen, durch die Tantalus angelockt und getäuscht wird, existiert der „ultimative Kick“ nur in der Imagination des Überbietungskünstlers, was das Streben danach zu einer noch aussichtsloseren Angelegenheit macht.
40
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Diese auffällige Betonung der ausweglosen Frustration des Atreus lässt das von Alessandro Schiesaro (2003, insb. 70-138) gezeichnete Bild des Atreus als einer bedingungslos bewunderungswürdigen Künstlerfigur, die in sich die Quintessenz der tragischen Poetik Senecas verkörpere, ziemlich einseitig erscheinen. Im neunten Kapitel meines Buches, in dem ich das Verhältnis zwischen Seneca tragicus und Seneca philosophus ausführlich analysiere, entwickle ich einen Interpretationsansatz, der die grundlegenden Prinzipien von Schiesaros Lesart in Frage stellt. Zu Atreus’ unersättlichem Appetit siehe Boyle (1983), 209-213.
Teil II Schock und Erkenntnis
8. Mirabile visu: Das Staunen in der kaiserzeitlichen visuellen Ästhetik Aristoteles listet in der Poetik sechs Bestandteile einer klassischen Tragödie auf (1450a7-10) – den Mythos, die Charaktere (ἤθη), die sprachliche Gestaltung (λέξις), die Denkweise (διάνοια), den visuellen Aspekt (ὄψις) und die lyrische Chordichtung (µελοποιία). Da er die Tragödie in erster Linie als Nachahmung einer Handlung versteht,1 spielen in seiner Tragödienästhetik naturgemäß der Mythos (eine Ereigniskette, die eine kausal verbundene Einheit bildet)2 und die Charaktere die wichtigste Rolle.3 Die Denkweise (διάνοια) hat dagegen eine untergeordnete Funktion (1450b5-7),4 während der visuelle Aspekt sich ganz außerhalb der poetischen Kunst befindet (1450b16-20): ἡ δὲ ὄψις ψυχαγωγικὸν µέν, ἀτεχνότατον δὲ καὶ ἥκιστα οἰκεῖον τῆς ποιητικῆς· ἡ γὰρ τῆς τραγῳδίας δύναµις καὶ ἄνευ ἀγῶνος καὶ ὑποκριτῶν ἔστιν, ἔτι δὲ κυριωτέρα περὶ τὴν ἀπεργασίαν τῶν ὄψεων ἡ τοῦ σκευοποιοῦ τέχνη τῆς τῶν ποιητῶν ἐστιν. Der visuelle Aspekt besitzt zwar eine Anziehungskraft, ist jedoch das Kunstloseste hat am wenigsten mit der Dichtkunst zu tun: Denn die Wirkung der Tragödie ist auch ohne Aufführung und Schauspieler möglich; zudem ist die Kunst eines Bühnenausstatters wichtiger für die Verwirklichung der visuellen Effekte als die der Dichter.
Wenn man die senecanischen Tragödien aus dieser aristotelischen Perspektive heraus betrachten würde, bekäme man unweigerlich den Eindruck, Seneca stelle die aristotelische Auffassung der Tragödie auf den Kopf.5 Wie ich in den ersten 1 2 3 4 5
Dazu siehe Freeland (1992), 112-116; Kosman (1992); Schmitt (2008), 328-331. Vgl. Belfiore (2000); Lowe (2000), 3-16, insb. 6-7. Zum Begriff ἦθος in Aristoteles’ Poetik siehe Schütrumpf (1970); Held (1995). Zum Verhältnis zwischen πρᾶξις, ἧθος und διάνοια siehe Blundell (1992). Dies würde natürlich keinesfalls bedeuten, dass man annehmen muss, Seneca habe Aristoteles’ Poetik gekannt und beim Verfassen seiner Tragödien an die darin enthaltenen Kategorisierungen gedacht! Als die einzige aus der Antike überlieferte theoretische Abhandlung über das Wesen der klassischen Tragödie eignet sich jedoch Aristoteles’ Poetik ideal dafür, die auffälligsten Unterschiede zwischen der senecanischen und der griechischen Tragödie sichtbarer zu machen. Die kontrastive Anwendung von aristotelischen Schemata, die zugegebenermaßen eher präskriptiv und der
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sieben Kapiteln gezeigt habe, wird bei Seneca nicht nur der Mythos als solcher, sondern auch frühere literarische Texte, in denen dieser Mythos behandelt wurde, immer als bereits bekannt vorausgesetzt, was zur Folge hat, dass der Effekt seiner Dramen von überraschenden Wendungen einer Ereigniskette unabhängig ist. Das mit einer intertextuellen Verdichtung einhergehende Herunterspielen der Bedeutung des Mythos führt aber bei Seneca zu einer außerordentlichen Hervorhebung des visuellen Aspekts (ὄψις) – selbst wenn man darunter nicht, wie bei Aristoteles, die durch die Gestaltung des Bühnenbildes oder der Kostüme erzeugten special effects,6 sondern die emotionale Wirkung der ekphrastischen Rhetorik verstehen muss.7 Man könnte also sagen, dass es Seneca – dank seiner Rhetorik des Sehens – gelingt, die aus der aristotelischen
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poetischen Vielfalt der tatsächlich aufgeführten griechischen Tragödien nicht immer gerecht sind, an die Tragödien Senecas ist umso naheliegender, als die senecanische visuelle Poetik, wie ich in den ersten sieben Kapiteln meiner Studie zeigte, von einem in der klassischen Tragödie unbekannten Grad an Schematismus gekennzeichnet ist (denn jede Tragödie Senecas folgt, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, mehr oder weniger demselben Schema, das eine visuelle und eine metatheatralische Überbietung miteinander kombiniert). Kurze Überlegungen zum Kontrast zwischen der aristotelischen und der senecanischen Poetik der Tragödie findet man z. B. auch in Fantham (2001), 120-121. Zur Bedeutung der opsis im aristotelischen Tragödienverständnis siehe Cantarella (1967); Belfiore (1992), 232. Vgl. auch Ar. Poet. 1453b1-9 ἔστιν µὲν οὖν τὸ φοβερὸν καὶ ἐλεεινὸν ἐκ τῆς ὄψεως γίνεσθαι, ἔστιν δὲ καὶ ἐξ αὐτῆς τῆς συστάσεως τῶν πραγµάτων, ὅπερ ἐστὶ πρότερον καὶ ποιητοῦ ἀµείνονος. [...] τὸ δὲ διὰ τῆς ὄψεως τοῦτο παρασκευάζειν ἀτεχνότερον καὶ χορηγίας δεόµενόν ἐστιν. οἱ δὲ µὴ τὸ φοβερὸν διὰ τῆς ὄψεως ἀλλὰ τὸ τερατῶδες µόνον παρασκευάζοντες οὐδὲν τραγῳδίᾳ κοινωνοῦσιν. Demzufolge würde eine Tragödie, die den visuellen Aspekt über den Mythos stellt, kein Mitleid erzeugen, während die Furcht, die sie erzeugen würde, von einer grenzenlosen, geradezu monströsen Art wäre. Es ist höchst bezeichnend, dass man in der Forschung gelegentlich Anwendungen eben dieses Schemas an Senecas Tragödien findet. Vgl. z.B. Birt (1911), 336: „Senecas Tragödie ist eine Tragödie der Furcht und nicht des Mitleids. Der Dichter geht überall darauf aus, Entsetzen und Schrecken zu erregen, und Gestalten, die uns rühren und menschlich ergreifen, gibt es in seinen Dramen kaum. Denn alle Leidenschaften sind in ihnen weit über das normale Maß hinaus gesteigert, was ein natürliches Mitempfinden in uns unmöglich macht.“ Aristoteles’ Ablehnung der Überbetonung des visuellen Aspekts wird in einigen republikanischen und augusteischen Zeugnissen über Tragödienaufführungen in Rom widergespiegelt (Cic. Fam. 7.1.2; Hor. Ep. 2.1.187-93), laut denen die Tragödie in der Tat zu einer Aneinanderreihung von spektakulären special effects verkommen war. In diesem Zusammenhang stimme ich Sander Goldbergs Einschätzung der Rolle der Rhetorik in Senecas Tragödien zu (im Gegensatz zu mir spricht er nicht von der ekphrastischen, sondern von der deklamatorischen Rhetorik im Allgemeinen), Goldberg (1996), 284: „Declamatory rhetoric may (though I think wrongly) be the scholar’s despair, but it was certainly the salvation of tragedy.“
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Perspektive unpoetische Kategorie der ὄψις nicht einfach in einen legitimen Bestandteil, sondern in den wichtigsten Aspekt seiner tragischen Poetik zu transformieren.8 Was sich am Ende jeder senecanischen Tragödie feststellen lässt, ist das ungezügelte Verlangen des Autors, die Bühnenhandlung als eine nicht nur überbietende, sondern auch unmittelbar greifbare und erlebbare Version von anderen literarischen Motiven darzustellen: Hercules’ Mord an seinen Kindern, die Zerstückelung des Hippolytus, Oedipus’ Selbstblendung usw. sind nicht einfach überbietende Nachspielungen von anderen bekannten mythologischen Erzählmustern (von Hercules’ Kampf gegen die Monstren der Unterwelt, von der Grausamkeit des Minotaurus, von Oedipus’ Sieg über der Sphinx usw.); diese als sekundär markierten Ereignisse sind hier nicht mehr Teil einer rein literarischen, entlegenen Welt des Mythos, sondern finden innerhalb der in einem wesentlich direkteren Sinne zugänglichen Bühnenwelt statt. Senecas visuelle Rhetorik suggeriert also, dass in seinen Dramen, wenn auch nur in der Imagination des Rezipienten, etwas unmittelbar wahrnehmbar gemacht werden kann, was die wildesten literarischen Phantasien übertrifft. In diesem Kapitel möchte ich diesen für Senecas Dramen so charakteristischen Drang zur Unmittelbarkeit der Wahrnehmung im Kontext der zeitgenössischen visuellen Kultur betrachten, in der sich ein ähnlicher Drang in verschiedensten Bereichen beobachten lässt – von der Selbstdarstellung des Kaisers bis hin zur Gestaltung privater Häuser. Eines der charakteristischen Merkmale der kaiserzeitlichen Ideologie besteht bekanntlich darin, dass jeder spätere Kaiser sich gezwungen sieht, seine eigene Regierungszeit als derjenigen seines Vorgängers überlegen zu präsentieren.9 Besonders deutlich lässt sich diese Tendenz am Beispiel der kaiserzeitlichen Rezeption und Entwicklung des ursprünglich augusteischen Ideologems der Regierungszeit eines Kaisers als der Rückkehr des Goldenen Zeitalters verfolgen. Die Vorstellung von der Möglichkeit einer Rückkehr der paradiesischen Zustände, die am Anfang der menschlichen Geschichte geherrscht haben sollen, basiert auf einer Verflechtung von sowohl griechischen als auch römischen Mythologemen.10 Einerseits spielt bei der Herauskristallisierung dieser Vorstellung der hesiodische Metallzeitaltermythos eine wichtige Rolle, der die Weltgeschichte wie einen unaufhaltsamen, von der absoluten Perfektion des goldenen menschlichen Geschlechts unter der Herrschaft des Kronos bis zum zeitgenössi8 9
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Vgl. allgemeine Bemerkungen zur zentralen Bedeutung der visuellen Wahrnehmung in Senecas Tragödien in Solimano (1991), 66-69. Diese Tendenz zeigt sich am greifbarsten im Phänomen der damnatio memoriae, in dem der jeweilige Regierungsvorgänger für einen abscheuwürdigen Tyrannen erklärt wird, was zur Folge hat, dass alle sichtbaren Spuren seiner Regierungszeit (vor allem natürlich seine Porträts) so weit wie möglich beseitigt werden. Dazu siehe Varner (2008). Kubusch (1986), 91-184.
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schen brutalen eisernen Zeitalter hinführenden Verfall darstellt.11 Im hesiodischen Mythos wird Kronos bekanntlich von Zeus entmachtet und auf immer in den Tartarus verbannt.12 Auf römischem Boden erlebt Kronos ein viel weniger verhängnisvolles Schicksal. Hier wird er mit Saturn identifiziert, der ursprünglich als ein mythischer König galt, unter dessen Herrschaft Latium eine ideale gesellschaftliche Ordnung genossen haben soll.13 Um den griechischen Mythos mit dem römischen zu harmonisieren, wird erzählt, Saturn sei nicht in die Unterwelt verbannt worden, sondern habe sich nach Latium retten können, das somit – sei es nur für eine beschränkte Zeit – zur letzten Insel des ursprünglichen „Paradieses auf Erden“ geworden sei.14 Die Vorstellung davon, dass diese paradiesischen Zustände überhaupt zurückkehren können, wurde in Rom dadurch begünstigt, dass hier das jährliche Fest der Saturnalien eine wesentlich zentralere Stellung besaß als das entsprechen Fest der Kronien in der griechischen Welt: Die Saturnalien – eine Art Karneval, bei dem man einige Tage lang eine Art saturnisches Goldenes Zeitalter ausleben durfte, indem man die übliche soziale Ordnung auf den Kopf stellte und den Überfluss an Essen, Trinken und Heiterkeit genoss – waren in der Tat eines der wichtigsten Ereignisse des römischen Festkalenders.15 Diese in der römischen Kultur tief verankerte Vorstellung wird – zunächst unter Augustus, dann auch unter seinen Nachfolgern – zu wesentlich ernsteren Zwecken verwendet: Das Goldene Zeitalter soll nun also nicht für wenige Tage zurückkehren, um im Rahmen eines ausgelassenen theatralisierten Festes den Teilnehmern eine uneingeschränkte Lizenz zum Saufen zu bescheren; seine Rückkehr ist kein Witz mehr, und es kommt, um zu bleiben.16 Die zentrale Rolle dieses Motivs in der Selbstdarstellung des Princeps wird durch zahlreiche unter Augustus entstandene literarische Texte und Werke der bildenden Kunst belegt – in der letzteren überwiegend in der Gestalt von Fortuna mit Füllhorn und anderen die großzügige Fülle der Natur andeutenden Bildern.17 Ein anderes in der bildenden Kunst mit besonderer Häufigkeit verwendetes Symbol des Anbruchs einer neuen Ära ist das sogenannte sidus Iulium – ein nach 11 12 13 14
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Hes. Erga 109-201. Dazu siehe Clay (2003), 81-99. Hes. Theog. 851 Τιτῆνες θ᾿ ὑποταρτάριοι Κρόνον ἀµφὶς ἔχοντες. Zum hesiodischen Kronos-Mythos siehe Versnel (1993), 90-99. Vgl. Verg. Geo. 1.125-128; Ov. Met. 1.89-112. Dazu Kubusch (1986), 128-133; Versnel (1993), 143; Galinsky (1996), 93-100. Verg. Aen. 8.319-325 primus ab aetherio venit Saturnus Olympo / arma Iovis fugiens et regnis exsul ademptis. / is genus indocile ac dispersum montibus altis / composuit legesque dedit, Latiumque vocari / maluit, his quoniam latuisset tutus in oris. / aurea quae prohibent illo sub rege fuere saecula, etc. Zu den römischen Saturnalien im Allgemeinen und zu ihrem Verhältnis zu den griechischen Kronien siehe Versnel (1993), 146-227. Vgl. Versnel (1993), 192-205; Galinsky (1996), 90-106. Zanker (1987), 177-188; Galinsky (1996), 106-121.
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der Ermordung von Julius Caesar für mehrere Tage am Himmel erscheinender Komet, der als die in die Reihen der Götter aufgenommene Seele Caesars und somit als eine Art göttliche Segnung für die Regierungszeit von dessen Nachfolger Octavian verstanden wird.18 Dieses an sich vollkommen transparente Schema wird jedoch dadurch nachhaltig verkompliziert, dass das Erscheinen des sidus Iulium in der unmittelbaren Perspektive zu keinen paradiesischen Zuständen, sondern zu den lange andauernden Bürgerkriegen führte. Darum konnte schließlich die Rückkehr des Goldenen Zeitalters nur als die Rückkehr des harmonischen Friedens nach der Überwindung des Chaos der Bürgerkriege (nach dem Actium-Sieg) verstanden werden.19 In seiner Eigenschaft als siegreicher Friedensbringer wird Augustus deswegen nicht zu einem Jupiter stilisiert, dessen Herrschaft sich auch erst im Zuge seines Sieges über infernalisch anmutenden Monstren (den Giganten und den Titanen) etablieren konnte.20 Die Überlappung dieser beiden (und anderer) auf den ersten Blick eher widersprüchlichen mythologischen Motive führte zur Entstehung eines außerordentlich flexiblen ideologischen Systems, das auf eine höchst nuancierte Weise den Eindruck vermitteln sollte, es handle sich bei der Herrschaft des Princeps um ein wahrhaftiges imperium sine fine, das nicht nur räumlich sondern auch zeitlich unbegrenzt ist.21 Nach Augustus scheint sich dieses Paradigma so verfestigt zu haben, dass es zu einem festen Bestandteil der Kaiserpanegyrik wurde, was zur Folge hatte, dass die Regierungszeit jedes darauf folgenden Kaisers zu einem neuen goldenen Zeitalter erklärt werden konnte. Das offensichtliche Problem mit der genauen Übertragung dieses fest etablierten Motivs auf immer neue Träger besteht darin, dass es sehr schnell zu einem inhaltsleeren Topos zu verkommen und somit seine panegyrische Glaubwürdigkeit gänzlich einzubüßen drohte. Um dieser Gefahr zumindest teilweise auszuweichen, rekurrierte man, wie wir gleich sehen werden, zu folgenden Strategien: Einerseits wurde das unter dem jeweiligen neuen Kaiser eintreffende Goldene Zeitalter als dem ursprünglichen augusteischen gewissermaßen überlegen – als sozusagen noch goldener – dargestellt; andererseits wurde Einiges davon, was im ursprünglichen Paradigma wie eine erhabene Metapher verstanden wurde, konkretisiert, wörtlich genommen, und sozusagen direkt erlebbar gemacht. Unter den Texten, die diese Thesen zu belegen vermögen, spielen die höchstwahrscheinlich unter Nero entstandenen Eklogen des Calpurnius Siculus eine
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Hor. c. 1.12.46-8 micat inter omnis Iulium sidus velut / inter ignis luna minores. Vgl. auch Verg. Ecl. 9.45-47; Ov. Met. 15.745-851. Kubusch (1986), 126-127; Zanker (1987), 172; Ramsey – Licht (1997); Williams (2003). Galinsky (1996), 80-83. Hardie (1986), 85-156. Verg. Aen. 1.279.
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besondere Rolle.22 Die erste Ekloge kombiniert das aus Vergils vierter Ekloge entlehnte Motiv der Prophezeiung eines bevorstehenden Goldenen Zeitalters mit der Anspielung auf das Lied des Silen aus Vergils sechster Ekloge:23 Bei Calpurnius finden im Wald zwei Hirten – Corydon und Ornytus – ein auf einem Baumstamm aufgeschriebenes, vom Gott Faunus verfasstes (Calp. Ecl. 1.32 satus Aethere Faunus) Gedicht, das die bereits stattfindende Rückkehr des Goldenen Zeitalters lobpreist. Die neue Ära wird im Einklang mit dem aus Vergil bekannten Paradigma als die an die Herrschaft Saturns erinnernde Zeit des Friedens und der Harmonie beschrieben (Calp. Ecl. 1.63-64 plena quies aderit, quae stricti nescia ferri / altera referet Latialia regna; vgl. Saturnia regna in Verg. Ecl. 4.6).24 Ein Punkt, in dem die Übertragung des augusteischen Paradigmas auf die kaiserzeitliche Realität ein wenig anachronistisch wirkt, ist jedoch die Vorstellung, dass das neue Goldene Zeitalter das Ende der Bürgerkriege bedeute (Calp. Ecl. 1.50-51 nullos iam Roma Philippos / deflebit).25 Es wirkt fast so, als würde Calpurnius, dem ererbten augusteischen Ideologem zuliebe, zu dem der Sieg in den Bürgerkriegen unzertrennlich gehörte, seine eigene historische Realität komplett ausblenden – als würden wir uns, anders gesagt, im ersten Jahrhundert vor und nicht nach Christus befinden.26 Es stellt sich jedoch bei näherer Betrachtung heraus, dass der Autor gar das augusteische Goldene Zeitalter leugnen will, ganz im Gegenteil: Er nimmt direkten Bezug auf das augusteische Paradigma, aber er tut es, nur um das eigene – neue – Goldene Zeitalter für besser zu erklären (Calp. Ecl. 1.77-88): cernitis ut puro nox iam vicesima caelo fulgeat et placida radiantem luce cometem proferat? ut liquidum niteat sine vulnere sidus? numquid utrumque polum, sicut solet igne cruento spargit et ardenti scintillat sanguine lampas? 22
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Zur Datierung von Calpurnius’ Eklogen siehe Fugmann (1992); Baldwin (1995); Horsfall (1997). Zum Verhältnis der neronischen Literatur zur augusteischen im Allgemeinen siehe Mayer (1982). Hubbard (1996), 70-77. Vgl. auch die beiläufige Erwähnung der Saturnia regna in Silens Lied in Verg. Ecl. 6.41. Das neue Goldene Zeitalter ist auch das Thema von Calpurnius’ 4. Ekloge. Zu diesem Motiv bei Calpurnius siehe Martin (1996). Ein ähnliches Motiv kommt auch in den sogenannten carmina Einsiedlensia vor, die man für gewöhnlich auch in die neronische Zeit datiert. Dazu siehe Merfeld (1999). Bezeichnenderweise verursachte dieser scheinbare Anachronismus – besonders bei Historikern – erhebliche Interpretationsschwierigkeiten. So fühlte sich E. Champlin (1978) unter anderem deswegen veranlasst, die Verfassung der Calpurnius-Gedichte in die Zeit des Alexander Severus (3. Jahrhundert nach Christus) zu datieren, während T.P. Wiseman (1982) darin einen Verweis auf die angeblich bürgerkriegsähnlichen Zustände unter Claudius sah. Vgl. Küppers (1985), 346-355.
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at quondam non talis erat, cum Caesare rapto indixit miseris fatalia civibus arma. scilicet ipse deus Romanae pondera molis fortibus excipiet sic inconcussa lacertis, ut neque translati sonitu fragor intonet orbis nec prius ex meritis defunctos Roma penates censeat, occasus nisi cum respexerit ortus. Seht ihr, wie schon die zwanzigste Nacht mit klarem Himmel Licht spendet und einen in sanftem Licht strahlenden Kometen hervorbringt? Seht ihr, wie hell der Stern ohne Wunde glänzt? Besprüht etwa die Fackel, so wie gewöhnlich, die beiden Himmelspole mit blutigem Feuer, funkelt sie mit brennendem Blut? Einst war sie jedoch anders, als sie nach Caesars Entrückung den unglücklichen Bürgern todbringende Waffen ankündigte. Sicherlich wird der Gott selber das Gewicht der römischen Masse ohne jegliche Erschütterung mit starken Schultern so übernehmen, dass kein Dröhnen bei der Übertragung der Weltmacht ertönt und dass Rom nicht früher denkt, die Penaten hätten ihr verdienstvolles Wirken völlig beendigt, bevor es den Sonnenuntergang im Osten erblickt.
Der nach dem Tod des Claudius erscheinende Komet, von dem hier höchstwahrscheinlich die Rede ist, ist zwar auch in anderen Quellen bezeugt.27 Bei Calpurnius wird er aber wie eine neue Version des sidus Iulium dargestellt. Er übertrifft jedoch das Original sowohl durch seine Stärke als auch durch die Bedeutung dessen, was er ankündigt: Er scheint fast dreimal so lange (bereits seit zwanzig Tagen, und nicht erst seit sieben wie beim ersten Mal);28 er erscheint, ohne dass ein ehrwürdiger Vorgänger des jetzigen Herrschers brutal umgebracht werden musste (so ist es zumindest in der Fiktion des Gedichts);29 und er bringt das Goldene Zeitalter ohne die ursprüngliche Verzögerung durch die blutigen Bürgerkriege.30 Doch das neue Goldene Zeitalter wird gelegentlich nicht nur für „goldener“ erklärt als das augusteische, sondern auch für golden in einem wesentlich wörtlicheren Sinne, als es in den augusteischen Texten der Fall war. Während bei Ovid in der Ars amatoria die Reduzierung der „Goldenheit“ des augusteischen 27 28
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Suet. Claud. 46; Plin. NH. 2.92; Cass. Dio 60.35.1. Zu dem sieben Tage lang scheinenden sidus Iulium siehe z.B. Plin. NH. 2.94 ipsis ludorum meorum diebus sidus per septem dies in regione caeli sub septentrionibus est conspectum. Weitere antike Quellen sind in Ramsey – Licht (1997, 155-177) gesammelt. Wenn es sich bei dem gelobten Kaiser tatsächlich um Nero handeln soll, sieht die Lage laut historiographischen Quellen entschieden anders aus. Zur von Agrippina veranlassten Vergiftung des Claudius siehe z.B. Tac. Ann. 12.66-76; Suet. Claud. 44. Vgl. Carmina Einsiedlensia 2.32-34 sed procul a nobis infelix gloria Sullae / trinaque tempestas, moriens cum Roma supremas / speravit et Martia vendidit arma. Siehe Korzeniewski (1971), ad loc.
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Regimes auf das unmittelbar wahrnehmbare physische Gold zur Materie eines ziemlich gewagten Witzes wird (Ov. Ars 2.277-278 aurea sunt vere nunc saecula: plurimus auro / venit honos: auro conciliatur amor),31 trägt bei späteren Autoren der sichtbare, ins Staunen versetzende Aspekt des wörtlich zu verstehenden Goldes zum Lob der neuen „goldenen“ Zeit erheblich bei. Der Vergleich zwischen Vergils vierter Ekloge und der Nero-Panegyrik in Senecas Apocolocyntosis ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Bei Vergil singen die Parzen ein Lied, in dem sie die Rückkehr des Goldenen Zeitalters unter Octavian prophezeien, und spinnen dabei wie immer einen Faden, dessen Farbe nicht explizit erwähnt wird (Verg. Ecl. 4.46-47 ‚talia saecla’ suis dixerunt ‚currite’ fusis / concordes stabili fatorum numine Parcae). Das Spinnen der Parzen ist hier also nur eine übliche, metaphorisch zu verstehende Aktivität (das Spinnen des Schicksals),32 deren Einzelheiten jedoch in einem Lied verbalisiert werden müssen. Bei Seneca wird aus diesem Lied etwas wesentlich Greifbareres (Sen. Ap. 4.1.3-9): at Lachesis, redimita comas, ornata capillos, Pieria crinem lauro frontemque coronans, candida de niveo subtemina vellere sumit felici moderanda manu, quae ducta colorem assumpsere novum. mirantur pensa sorores: mutatur vilis pretioso lana metallo, aurea formoso descendunt saecula filo. Lachesis aber, ihre Haare bekränzt, ihre Locken geschmückt, die Frisur und die Stirn mit pierischem Lorbeer krönend, nimmt aus schneeweißer Wolle unbefleckte Fäden, um sie mit glücklicher Hand einzurichten. Gesponnen, wechseln sie ihre Farbe. Die Schwestern bestaunen die Wollarbeit: Die billige Wolle verwandelt sich in kostbares Metall, vom wohlgestalteten Garn steigen goldenen Zeiten herab.
Hier brauchen die Parzen gar nicht zu singen (gesungen wird hier dagegen von einem größeren Gott – von Apoll, der den laudandus sogar explizit mit sich selbst vergleicht),33 denn ihr Auftauchen in einem panegyrischen Kontext wirkt automatisch wie eine Anspielung auf Vergils vierte Ekloge. Deswegen bedarf hier das Gold des Goldenen Zeitalters auch keiner ausdrücklichen Verbalisierung. Es wird stattdessen unmittelbar – visuell – wahrnehmbar gemacht in der sich verändernden Farbe des von den Parzen gesponnenen Fadens. Der visuelle Aspekt des sich hier vollziehenden Wunders wird unter anderem dadurch besonders betont, dass es sogar die Parzen, die sonst immer selbst das Schicksal 31 32 33
Vgl. Janka (1997), ad loc. Vgl. Cat. 64. 307ff. Sen. Apoc. 4.1.22-23 ille mihi similis vultu similisque decore / nec cantu nec voce minor. Zu diesem Gedicht siehe Eden (1984), 75-79; Lund (1994), 72-75.
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bestimmen und deswegen nicht besonders leicht durch überraschende Schicksalswendungen zu beeindrucken sind, ins Staunen versetzt (mirantur pensa sorores). Dass die kaiserzeitliche Ästhetik generell dazu tendierte, die Metaphorik des ursprünglichen Ideologems in eine konkrete – visuell wahrnehmbare – Begrifflichkeit zu übersetzen, lässt sich anhand eines späteren Beispiels sehen, das den gleichen Mechanismus aus der offiziellen Panegyrik in den Bereich der Popkultur überträgt. Als eines der Merkmale des bevorstehenden Goldenen Zeitalters werden bei Vergil Schafe erwähnt, deren Wolle nicht gefärbt werden muss, sondern von selbst eine Palette von Farben annimmt – unter anderem die gelbgoldene Farbe des Safrans (Verg. Ecl. 4.42-44): nec varios discet mentiri lana colores, ipse sed in pratis aries iam suave rubenti murice, iam croceo mutabit vellera luto. Die Wolle wird nicht mehr die Lüge der bunten Farben lernen, sondern der Widder wird selbst auf den Wiesen sein Vlies bald durch den zart rötenden Purpur bald durch den goldgelben Safran ändern.
Am Ende von Buch 10 von Apuleius’ Metamorphosen wird eine pantomimische Aufführung des Mythos vom Paris-Urteil ausführlich beschrieben. Der Sieg der Venus über ihre göttlichen Kontrahentinnen wird am Ende dieses Spektakels durch ein Ereignis beschlossen, das auf die paradiesischen Zustände in Vergils Ekloge anzuspielen scheint (Apul. Met. 10.34):34 tunc de summo montis cacumine per quandam latentem fistulam in excelsum prorumpit vino crocus diluta sparsimque defluens pascentis circa capellas odoro perpluit imbre, donec in meliorem maculatae speciem canitiem propriam luteo colore mutarent. Dann sprang vom äußersten Gipfel des Berges aus einer verborgenen Röhre in Wein aufgelöster Safran hoch in die Luft und sprühte hier und da in einem wohlriechenden Regen auf die weidenden Ziegen, bis sie durch Befleckung eine schönere Gestalt annahmen, indem sie ihre eigene blendende Weiße in Safrangelb verwandelten.
Innerhalb dieser ballettartigen Performance kann natürlich kein explizites Wort vom Goldenen Zeitalter gesprochen werden. Stattdessen wird diese Vorstellung durch eine Anspielung auf einen bekannten literarischen Text visuell – durch das wörtliche Goldenwerden – vermittelt und dadurch konkretisiert und sozusagen erlebbar gemacht. 34
Zimmerman (2000), 404.
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Dass in dieser in einem provinziellen Kontext aufgeführten Performance, die mit dem Kaiser nichts direkt zu tun hat, sondern nur den Einfluss und die Großzügigkeit eines privaten Showveranstalters glorifizieren soll,35 ein Konkretisierungsmechanismus angewendet wird, der demjenigen von Senecas NeroPanegyrik nicht ganz unähnlich ist, zeigt, dass die von mir postulierte Tendenz zur eindrucksvollen Visualisierung von ursprünglich metaphorisch zu verstehenden literarischen Bildern wahrhaftig alle Bereiche der kaiserzeitlichen Kultur durchdringt. Mehr noch: Diese scheinbar marginalen Beispiele sind meines Erachtens außerordentlich bezeichnend für die Funktionsweise der kaiserzeitlichen visuellen Kultur überhaupt. Die hier stattfindende kompromisslose Konkretisierung dessen, was im Rahmen des ursprünglichen Paradigmas nur eine erhabene Metapher war, stimmt, wie ich gleich zeigen werde, mit der allgemeinen Tendenz überein, die ererbten Muster dadurch zu überbieten, dass sie greifbar und erlebbar gemacht werden. Anders gesagt, wird hier die augusteische Vorstellung, die Realität weise gewisse Ähnlichkeiten zum Mythos auf, von der Vorstellung, der Mythos werde zu einer Realität, die diesen Mythos eventuell sogar übertreffe, weitgehend abgelöst. Die Eklogen des Calpurnius Siculus geben nicht nur ein Beispiel für die überbietende Nachahmung des augusteischen Ideologems vom Goldenen Zeitalter, sondern können auch als eine anschauliche Illustration des Lebens in den unter dem neuen Kaiser eingetretenen paradiesischen Zuständen betrachtet werden.36 Insbesondere die letzte – siebte – Ekloge zeigt, dass das Gefühl, in einem neuen Goldenen Zeitalter zu leben,37 nicht zuletzt durch das rein visuelle Staunen vermittelt wird. Und wieder haben wir es hier mit dem Versuch einer Überbietung nicht nur des augusteischen Ideologems, sondern auch eines konkreten augusteischen Prätextes zu tun. Die dramatische Situation in diesem Gedicht basiert weitgehend auf derjenigen von Vergils erster Ekloge: So wie bei Vergil einer der beiden Gesprächspartner – Tityrus – aus Rom zurückkehrt und von dem anderen – Meliboeus – über die Einzelheiten seines Aufenthalts befragt wird, so dreht sich der in der siebten Ekloge des Calpurnius geführte Dialog zwischen Lycotas und Corydon um den Rom-Aufenthalt des letzteren. In beiden Fällen haben wir es mit ausgedehntem Lob der Stadt und mit den gottesgleichen Errungenschaften des von dort aus regierenden Herrschers zu tun (vgl. Verg. Ecl. 1.19-35 und Calp. Ecl 7.23-84). Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Gedichten besteht jedoch darin, dass im Gegensatz zum durch die Bürgerkriege entwurzelten vergilischen Meliboeus, der im Begriff ist, in eine ungewisse Richtung auszuwandern (Verg. Ecl. 1.3), Lycotas bei Calpurnius ein 35 36 37
Sein Werdegang wird in Ap. Met. 10.18 beschrieben. Vgl. Fear (1994), 276-277. Wie es fast mit jedem aus der Antike überlieferten panegyrischen Gedicht der Fall ist, sehen einige Forscher auch in dieser Ekloge des Calpurnius eine verdeckte Kritik des Regimes: Davis (1987), 48-49; Newlands (1987).
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nur durch sein hohes Alter getrübtes, ansonsten jedoch vollkommen glückliches Leben zu führen scheint, dessen Qualität durch den Bericht seines Freundes über die unvorstellbar wundersame Stadt eventuell sogar noch weiter erhöht wird (vgl. Calp. Ecl. 7.19-22). Es gibt bei Calpurnius demzufolge keinen Antagonismus zwischen der überwältigend reichen Stadt und dem verwüsteten Land: Sowohl die Stadt als auch das Land sind gleichermaßen glücklich und wohlgeordnet – als unzertrennliche Bestandteile einer vollkommen harmonischen Welt.38 Das Gros der Ekloge wird durch eine lange Beschreibung der in dem – höchstwahrscheinlich neronischen – Amphitheater veranstalteten Spiele eingenommen,39 die Corydon gesehen haben soll. Der alles Denkbare übertreffende Glanz des Amphitheaters wird hier nicht nur mit den weniger beeindruckenden Lebensumständen des Sprechers kontrastiert,40 sondern auch mit der bukolischen Welt im Allgemeinen und – implizit – mit Vergils Dichtung (Calp. Ecl. 7.4-6): o piger, o duro non mollior axe, Lycota, qui veteres fagos nova quam spectacula mavis cernere, quae patula iuvenis deus edit harena. Oh, wie träge bist du, Lycotas, und nicht weicher als ein Holzbrett! Du siehst lieber die alten Buchen als die neuartigen Veranstaltungen, die ein jugendlicher Gott in der weiten Arena bietet.
Das neue Spektakel im Amphitheater (nova spectacula), von dem Corydons Gesprächspartner nicht die geringste Vorstellung haben kann, wird den veteres fagi gegenübergestellt, was sich wie eine Anspielung – unter anderem – auf den ersten Vers von Vergils erster Ekloge liest (Verg. Ecl. 1.1 Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi)41 und somit wie eine Art „Alexandrian footnote“, in der „alt“ einen indirekten Hinweis auf einen literarischen Vorgänger – also in diesem Fall Vergil – implizieren könnte.42 Was durch diese Anspielung indirekt konnotiert wird, ist nicht nur, dass das neue Goldene Zeitalter besser sei als das 38 39 40
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Vgl. Fear (1994). Townend (1980), 169-174. Wie in Theokrits 15. Idyll, auf das sich das Motiv eines sozial unterprivilegierten Zuschauers bei einem vom Herrscher veranstalteten Spektakel innerhalb der bukolischen Dichtung letztendlich zurückführen lässt. Vgl. Newlands (1987), 228. Kein Zufall ist auch, dass bei Calpurnius aus der vergilischen patula fagus eine patula harena wird. Vgl. auch Verg. Ecl. 3.12 ad veteres fagos. Dieser von David Ross (1975, 78) geprägte Begriff wurde von Stephen Hinds (1998) auf eine breitere Palette von intertextuellen Phänomenen übertragen. Siehe insbesondere seine Überlegungen zu Vergils itur in antiquam silvam (Verg. Aen. 6.179) als Verweis nicht nur auf eine konkrete Passage aus Ennius’ Annalen (175-179 Sk.), sondern auf den Stil und den Inhalt des ennianischen Epos im Allgemeinen: Hinds (1998), 11-13.
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augusteische oder dass die neuartigen Wunder der römischen Unterhaltungsindustrie besser seien als die seit jeher unveränderte bukolische Welt,43 sondern auch dass die neuen Shows eventuell nicht schlechter seien als die traditionelle bukolische Dichtung. Dementsprechend erweist sich die Erzählung Corydons in Lycotas’ Augen als nicht weniger entzückend als seine Lieder (Calp. Ecl. 7.2021 non aliter mihi dulce loquere, / quam cantare soles), da alles, was Corydon in der Stadt gesehen hat, bei weitem die menschliche Vorstellungskraft übersteigt und alles vorher Gesehene in den Schatten stellt (Calp. Ecl. 7.35-46): quid tibi nunc referam, quae vix suffecimus ipsi per partes spectare suas? sic undique fulgor percussit. stabam defixus et ore patenti cuntaque mirabar necdum bona singula noram, cum mihi iam senior, lateri qui forte sinistro iunctus erat, „quid te stupefactum, rustice,“ dixit, „ad tantas miraris opes, qui nescius auri sordida tecta, casas, et sola mapalia nosti? en ego iam tremulus et vertice canus et ista factus in urbe senes stupeo tamen omnia certe.“ vilia sunt nobis quaecumque prioribus annis vidimus, et sordet quidquid spectavimus olim. Was soll ich dir jetzt noch berichten? Ich vermochte kaum selber alle Einzelheiten für sich zu betrachten. So erschüttert hat mich der von überall herströmende Glanz. Ich blieb stehen wie gebannt und bewunderte mit offenem Mund alles, ohne zu wissen, was das im Einzelnen für Schätze waren, als ein schon älterer Mann, der zufällig neben mir zu meiner Linken saß, zu mir sprach: „Was wunderst du dich, dass du über so große Pracht erstaunt bist – der du mit Gold nicht vertraut bist und nur ärmliche Behausungen, Hütten und Nomadenzelte kennst? Siehe, auch ich, der ich schon zittrig und grauhaarig und in dieser Stadt ein Greis geworden bin, staune trotzdem durchaus über dies alles.“ Wertlos kommt mir jetzt alles vor, was ich in den früheren Jahren gesehen habe, und alles, was ich zuvor betrachtet habe, erscheint ärmlich und schmutzig.
Die Vorstellung, man lebe in der besten aller möglichen Welten, wird hier also nicht zuletzt durch das rein visuelle Staunen vermittelt, das von den in dieser Welt entstandenen Bauwerken und den in dieser Welt aufgeführten Spektakeln verursacht wird. Ähnliche panegyrische Motive finden sich auch in einem etwas späteren kaiserzeitlichen Text – in dem anlässlich der Eröffnung des Amphitheaters unter dem Kaiser Titus in 80 n. Chr. veröffentlichten Liber spectaculorum Martials. 43
Vgl. Calp. Ecl. 7.16-18 nec mihi, si quis / omnia Lucanae donet pecuaria silvae, / grata magis fuerint quam quae spectavimus urbe.
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Das Amphitheater selbst wird gleich im ersten Gedicht wie ein Gebäude dargestellt, das den berühmtesten Bauten der Welt überlegen ist (Mart. Spect. 1):44 Barbara pyramidum sileat miracula Memphis, Assyrius iactet nec Babylona labor; nec Triviae templo molles laudentur Iones, dissimulet Delon cornibus ara frequens; aëre nec vacuo pendentia Mausolea laudibus immodicis Cares in astra ferant. omnis Caesareo cedit labor Amphitheatro, unum pro cunctis fama loquetur opus. Das barbarische Memphis schweige von den Wundern der Pyramiden, assyrische Arbeit prahle nicht mit Babylon; man soll auch die zarten Jonier nicht wegen Trivias Tempel loben; der aus vielen Hörnern gebaute Altar soll seine Verbindung mit Delos leugnen; und die Karer sollen das in der freien Luft schwebende Mausoleum nicht zu den Sternen tragen. Jedes Bauwerk ziehe sich vor dem kaiserlichen Amphitheater zurück: Der Ruhm wird künftig ein einziges Werk für alle nennen.
Das, was man nun in Rom mit den eigenen Augen sehen kann, übertrifft aber nicht nur alle erdenklichen Wunder ferner Länder, sondern auch die unglaublichen Geschichten alter Mythen (Mart. Spect. 26): lusit Nereidum docilis chorus aequore toto et vario facilis ordine pinxit aquas. fuscina dente minax recto fuit, ancora curvo: credidimus remum credidimusque ratem, et gratum nautis sidus fulgere Laconum lataque perspicuo vela tumere sinu. quis tantas liquidis artes invenit in undis? aut docuit lusus hos Thetis aut didicit. Auf der gesamten Meeresfläche spielte eine gelehrige Schar der Nereiden und bemalte in wechselhafter Ordnung das bereitwillige Wasser. Ein Dreizack drohte mit geradem, ein Anker mit krummem Zahn: Wir glaubten ein Ruder und ein Schiff zu sehen, und dass das Gestirn der Spartaner, den Seeleuten willkommen, leuchtete und dass sich die breiten Segel in durchsichtigem Bausch aufblähten. Wer erfand solche Künste in klaren Wellen? Entweder lehrte Thetis diese Spiele, oder sie lernte von ihnen.
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Coleman (2006), 1-13. Einen ähnlichen rhetorischen Duktus findet man u. a. auch in Statius’ Beschreibung der Kolossalstatue des Domitian in Silv. 1.1.8-9 nunc age fama prior notum per saecula nomen / Dardanii miretur equi, etc. Dazu siehe Newlands (2002).
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Die Synchronschwimmerinnen im überfluteten Amphitheater können sich nicht nur zu einer sofort erkennbaren Schifffigur zusammentun – mitsamt Anker und Ruder: Ihre Kunst ist so vollkommen, dass man denken könnte, sie seien nicht einfach authentisch wirkende Nachahmungen der Nereiden, sondern die Nereiden selbst, von denen Thetis das Schwimmen gelernt habe.45 In einem anderen Gedicht wird das Eindringen des Mythos in die Realität mit noch größerem Nachdruck betont (Mart. Spect. 5): Iunctam Pasiphaen Dictaeo credite tauro: vidimus, accepit fabula prisca fidem. nec se miretur, Caesar, longaeva vetustas: quidquid fama canit, praestat harena tibi. Glaubt daran, dass Pasiphae sich mit dem diktäischen Stier verband: Wir haben es gesehen, und der alte Mythos wurde glaubwürdig. Die antike Urzeit soll sich nicht mehr bewundern, Caesar: alles, was die Tradition besingt, führt die Arena dir vor.
Ob es bei dieser Szene, wie Kathy Coleman vermutet,46 um eine theatralisierte Hinrichtung oder, wie Sueton anlässlich einer ähnlichen Show in seiner NeroVita behauptet,47 um eine besonders glaubwürdige Mimesis geht, ist ungewiss. Eines ist allerdings hinreichend klar: Sowohl in diesem als auch in manchen anderen Gedichten dieser Sammlung48 wird ausdrücklich betont, dass das, was man in der Arena sieht, den Eindruck vermittelt, alte Mythen würden erfolgreich zum Leben erweckt. Die Tatsache, dass dadurch die Glaubwürdigkeit eines jeder Glaubwürdigkeit trotzenden Mythos bestätigt wird, dient unter anderem dazu, die Überlegenheit des aufgeführten Spektakels gegenüber den literarischen Texten hervorzuheben, aus denen man normalerweise Kenntnisse solcher Mythen schöpfen würde, denn im Gegensatz zu einem literarischen Text, den man als eine bloße fabula, als nichts anderes als ein Märchen, abtun könnte, sieht man nun das Unvorstellbare unwiderlegbar mit den eigenen Augen: Der Mythos wird dadurch glaubwürdig gemacht, dass er sozusagen erlebbar gemacht wird. Eines der wichtigsten Leitmotive des Liber spectaculorum ist, dass man eine fast wörtlich zu verstehende Wiederbelebung oder gar Überbietung des Mythos der wundersamen Kraft des Kaisers verdanke.49 Das Motiv einer technisch perfektionierten (und in gewisser Hinsicht überbietenden) Replizierung des Mythos ist jedoch keine Erfindung der kaiserlichen Ideologen oder der panegyri45 46 47 48 49
Coleman (1993), 63-65; Coleman (2006), 212-217. Coleman (1990), 63-64; Coleman (2006), 62-68. Suet. Nero 2.12 inter pyrricharum argumenta Taurus Pasiphaam ligneo iuvencae simulacro abditam iniit, ut multi spectantium crediderunt. Vgl. Mart. Spect. 6, 12 (und 13), 16, 27, 28 (Lindsay). Coleman (1990), 70-73.
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schen Dichter. Man könnte eigentlich Martials uneingeschränktes Lob der illusionistischen Darstellung bloß als den Gipfelpunkt der Tendenz betrachten, die für die populärsten kaiserzeitlichen Theatergattungen – den Mimus und den Pantomimus – ohnehin charakteristisch ist.50 Als eins der auffälligsten Merkmale des Mimus – einer Form des komischen Volkstheaters, die man als „die Nachahmung des Lebens“ schlechthin verstand51 – wird der übertriebene Hang zur realitätsgetreuen Nachahmung angeführt,52 die beeindruckende illusionistische special effects mit einschloss.53 Ähnliches gilt auch für den Pantomimus – eine ballettartige Performance, in der ein Solotänzer mitunter mehrere Figuren spielte und dabei komplexe narrative Inhalte nur mittels Gestik und Tanz vermittelte.54 Lukian lässt in seiner Schrift über den Pantomimus erkennen, dass die erstaunliche Glaubwürdigkeit der Nachahmung, durch die mythologische Figuren zum Leben erweckt zu werden scheinen, auch von dieser Gattung nicht wegzudenken war.55 Apuleius’ Beschreibung des Parisurteil-Pantomimus am Ende des zehnten Buchs der Metamorphosen – die detaillierteste aus der Antike überlieferte Darstellung eines Pantomimus – konzentriert sich auch in erster Linie darauf, dass hier nur aus Kunst und Literatur bekannte Figuren lebendig erscheinen, was das Publikum den Mythos fast unmittelbar erleben lässt.56
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Zum antiken Mimus im Allegemeinen siehe Fantham (1989), Panayotakis (1995), Webb (2008), 95-138; Kirichenko (2010), 11-44. Diomedes. Gram. Lat. I 491, 15f. Keil): µῖµός ἐστιν µίµησις βίου τά τε συγκεχωρηµένα καὶ ἀσυγχώρητα περιέχων. Vgl. Cic. de or. 2.242 mimorum est enim et ethologorum, si nimia est imitatio. 243 sed in illo superiore genere narrationis vel imitationis vitanda est et mimorum et ethologorum similitudo. Quint. Inst. 6.3.29 oratori minime convenit distortus vultus gestusque, quae in mimis rideri solent. dicacitas etiam scurrilis et scaenica huic personae alienissima est: obscenitas vero non a verbis tantum abesse debet, sed etiam a significatione. In den meisten überlieferten Berichten über den Laureolus-Mimus wird realistisch wirkendes künsliches Blut erwähnt: Suet. Cal. 57 et quum in Laureolo mimo, in quo actor proripiens se ruina sanguinem vomit, plures secundarum certatim experimentum artis darent, cruore scena abundavit. J. A.J. 19.1 αἷµα τεχνικὸν πολὺ τὸ περὶ τὸν σταυρωθέντα ἐκκεχυµένον. Dazu siehe Wiemken 1972, 148-149; Herrmann 1985. Lada-Richards (2007), 19-28. Vgl. z.B. Lukian, Salt. 83 ὀρχούµενος γὰρ τὸν Αἴαντα µετὰ τὴν ἧτταν εὐθὺς µαινόµενον, εἰς τοσοῦτον ὑπερεξέπεσεν ὥστε οὐχ ὑποκρίνασθαι µανίαν ἀλλὰ µαίνεσθαι αὐτὸς εἰκότως ἄν τινι ἔδοξεν. Zur Rolle der Mimesis im Pantomimus siehe Webb (2008), 87-90. Apul. Met. 10.32 illos teretes et lacteos puellos diceres tu Cupidines veros de caelo vel mari commodum involasse; nam et pinnulis et sagittulis et habitu cetero formae praeclare congruebant et velut nuptialis epulas obiturae dominae coruscis praelucebant facibus. Dazu siehe May (2008). Zum möglichen Einfluss des Pantomimus auf die Tragödien Senecas siehe Zimmermann (1990) und Zanobi (2008).
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Ein ähnlicher Hang zu einer möglichst genauen Authentizität der Nachahmung lässt sich übrigens in gelegentlichen Bemerkungen zu Tragödienaufführungen beobachten, die bereits aus der spätrepublikanischen und der augusteischen Zeit stammen.57 In einem Brief an Marcus Marius beklagt Cicero den verkommenen zeitgenössischen Geschmack, der bei einer Tragödie nur ins Staunen versetzende visuelle Effekte zu goutieren scheint, die den Sinn einer mimetischen Darstellung auf eine möglichst genaue Kopie der nachzuahmenden Realität reduzieren (Cic. Fam. 7.1.2): quid tibi ego alia narrem? nosti enim reliquos ludos; qui ne id quidem leporis habuerunt, quod solent mediocres ludi. apparatus enim spectatio tollebat omnem hillaritatem, quo quidem apparatu non dubito quin animo aequissimo carueris. quid enim delectationis habent sescenti muli in ‘Clytaemnestra’ aut ‚in equo Troiano’ creterrarum tria milia aut armatura varia peditatus et equitatus in aliqua pugna? quae popularem admirationem habuerunt, delectationem tibi nullam attulissent. Wozu soll ich dir Weiteres erzählen? Du kennst ja die übrigen Spiele; sie hatten nicht einmal so viel Anmut, wie gewöhnliche Spiele es normalerweise tun. Das Staunen über die Bühnenausstattung nahm jegliche Freude weg, und zweifelsohne wirst du nicht darüber bestürzt sein, dass du diese Bühnenausstattung nicht gesehen hast. Denn was für ein Vergnügen können sechshundert Maultiere in der Clytaemnestra oder dreitausend Mischkrüge im Equus Troianus oder bunte Bewaffnung der Infanterie und der Reiterei in irgendeiner Schlacht? All das fand bei der Menge eine staunende Bewunderung; dir hätte es keine Freude gemacht.
Solch eine Performance ist von der erhabenen aristotelischen Vorstellung von einer Tragödie, die nicht das Tatsächliche, sondern das Mögliche nachahmt,58 unendlich weit entfernt. Hier wird alles, zu Ciceros Entsetzen, so naturalistisch wie möglich dargestellt, sodass die erstaunten Zuschauer nicht zu einem (ästhetisch mitarbeitenden) Theaterpublikum, sondern zu (vollkommen passiven) virtuellen Augenzeugen der ursprünglichen Ereignisse stilisiert werden. Ähnlich beklagt auch Horaz die unaufhaltsam steigende Bedeutung von visuellen Effekten gegenüber dem poetischen Inhalt bei Theateraufführungen (Hor. Ep. 2.1.187-93): Verum equitis quoque iam migravit ab aure voluptas omnis ad incertos oculos et gaudia vana. Quattuor aut pluris aulaea premuntur in horas 57 58
Goldberg (1996), 265-275. Ar. Poet. 1451a36-38 φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρηµένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾿ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον.
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dum fugiunt equitum turmae peditumque catervae; mox trahitur manibus regum fortuna retortis, esseda festinant, pilenta, petorrita, naves, captivum portatur ebur, captiva Corinthus. Aber bei den Rittern ist das Vergnügen auch schon von den Ohren zu den unzuverlässigen Augen und somit zu sinnentleerten Freuden abgewandet. Bis zu vier Stunden und mehr bleibt der Vorhang heruntergelassen, während Ritterschwadronen und Infanteriescharen vorüberziehen. Bald werden Könige hereingeschleppt, vom Schicksal geschlagen, die Hände am Rücken gefesselt; dann eilen Kampfwagen vorüber, Kutschen, Kaleschen, Schiffe, erbeutetes Elfenbein wird getragen und erbeutetes Erz aus Korinth.
Solche Theatervorstellungen, die die originalgetreue Nachahmung eines römischen Triumphs auf die Bühne brachten,59 unterscheiden sich natürlich nur geringfügig von im Amphitheater oder im Circus Maximus aufgeführten Schlachtennachspielungen (insbesondere Naumachien), die sich seit Julius Caesar einer ungebrochenen Popularität erfreuen. Hier werden konkrete Schlachten – sowohl zeitgenössische (z.B. der Krieg gegen die Britannen unter Claudius),60 als auch historische (z.B. die bei Cassius Dio erwähnten Seeschlachten der Kerkyrer gegen die Korinther, der Athener gegen die Syrakusier, oder der Athener gegen die Perser),61 oder gar fiktive (z.B. Tyrer gegen Ägypter)62 – so nachgespielt, dass man als Zuschauer das Gefühl gehabt haben muss, man sei bei der Schlacht selbst anwesend und verfolge sie mit den eigenen Augen.63 Die von Kaisern veranstalteten naturalistischen Nachspielungen von Mythen oder historischen Ereignissen sind also nur eine – zugegebenermaßen besonders aufwendig gestaltete – Manifestation der vorherrschenden (fast cineastisch anmutenden) visuellen Ästhetik, deren Ziel vor allem darin zu bestehen scheint, die Illusion einer unmittelbaren Präsenz des dargestellten (über alle Maße erstaunlichen, im empirischen Alltag unerreichbaren) Ereignisses so weit wie möglich zu erhöhen. Diese Ästhetik prägte jedoch nicht nur die kaiserzeitliche Performancekultur, sondern auch die zeitgenössische bildende Kunst. Die Möglichkeit einer optischen Täuschung, die den Betrachter eine Kunstdarstellung mit der dargestellten Realität verwechseln lässt, wird zu einem fest etablierten literarischen Topos mehr oder weniger zeitgleich mit der Entstehung der mimetischen Kunst.64 Dies wird zum Beispiel in einem Fragment von 59 60 61 62 63 64
Zum theatralischen Aspekt des römischen Triumphs siehe Beard (2007), passim und Östenberg (2009), 258-292. Suet. Claud. 21.6. Cassius Dio 66.25.3-4 und 55.10.7. Suet. Iul. 39.4. Zu den römischen Naumachien im Allgemeinen siehe Coleman (1993). Zur Entstehung der naturalistischen Kunst siehe Tanner (2006), 31-96.
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Aischylos’ Satyrspiel Theoroi belegt, in dem die Satyrn beim Betrachten ihrer eigenen Ebenbilder mit Erstaunen feststellen müssen, dass nicht einmal „ihre Mutter“ die nachgebildeten und die echten Gesichter auseinanderhalten könnte.65 Zahlreiche – überwiegend in Plinius’ Naturkunde überlieferte – Anekdoten über griechische Künstler aus der klassischen Zeit, die mimetische Erzeugnisse von solch einer Realitätsähnlichkeit kreierten, dass sogar andere erfahrene Künstler davon getäuscht wurden,66 sowie unzählige literarische Texte von Theokrit bis Philostrat, in denen die Fähigkeit, den Betrachter hinsichtlich des ontologischen Status des dargestellten Gegenstandes in die Irre zu führen, als der bewundernswerteste Aspekt der mimetischen Kunst gepriesen wird,67 bezeugen die prägende Bedeutung des Illusionismus für die Kunstwahrnehmung mehr oder weniger im gesamten Verlauf der klassischen Antike.68 Dass über das Verhältnis zwischen der Realität und der künstlerischen Illusion nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst selbst intensiv reflektiert wurde, zeigt vor allem das reiche überlieferte Material der römischen Wandmalereien, in denen man eine ähnliche Durchlässigkeit zwischen der fantastischen Welt des Mythos (bzw. der mythologisierten Geschichte) und der empirischen Welt des Betrachters feststellen kann wie in der römischen Performancekultur. Besonders auffällig an den römischen Wandmalereien ist, dass ihre mimetischen Darstellungen zahlreiche Kunstgegenstände mit einschließen – fantasievolle architektonische Kreationen, Skulpturen und vor allem mythologische Gemälde – und dadurch eine Welt erschaffen, in der man als Betrachter gleichzeitig mehreren Fiktionalitätsebenen gegenübersteht.69 Diese künstliche Welt dient natürlich in erster Linie dazu, den architektonischen Raum zu erweitern, in dem sich der Betrachter befindet.70 Diese Tendenz zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit im sogenannten zweiten Stil,71 der sich vor allem durch einen außerordentlichen architektonischen Illusionismus auszeichnet: In solchen Bauten wie der pompeianischen Villa der Mysterien, der Villa von P. Fannius Synhistor in Boscoreale oder der Villa der Poppaea in Oplontis eröffnet sich durch die Wände eine Perspektive auf weitläufige Säulen- und Arkadenhöfe, mit 65
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Aesch. TrGF 3, Theoroi F 78a. 11-17 εὐκταῖα κόσµον ταῦτ[α] τῷ θεῷ φέρω / καλλίγραπτον εὐχάν. / τῇ µητρὶ τἠµῇ πράγµατ᾿ ἂν παρασχέθοι· / ἰδοῦσα γάρ νιν ἂν σαφῶς / τρέποιτ᾿ ἂν αἰάζοιτό θ᾿ ὡς / δοκοῦσ᾿ ἔµ᾿ εἶναι, τὸν ἐξ- / έθρεψεν· οὕτως ἐµφερὴς ὅδ᾿ ἐστίν. Siehe O’Sullivan (2000). Zu Plinius’ Geschichte der griechischen Kunst siehe Tanner (2006), 235-246. Zur Rolle der visuellen Mimesis in der hellenistischen Literatur siehe MännleinRobert (2007). Vgl. Elsner (2007), 1-26. Zur Wirkung der komplexen bildlichen Programmen römischer Häuser auf den Betrachter siehe Elsner (1995), 62-87. Vgl. Drerup (1959); Ling (1991), 23; Elsner (1995), 65. Zu den vier Stilen der römischen Malerei siehe Clarke (1991), 31-77; Mielsch (2001), 19-92.
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Efeu bedeckte Pavillons inmitten von Gartenlandschaften, und sonstige fantasievolle architektonische Arrangements.72 Oft verwandeln sich dabei Zimmer in eine Art Säulenhallen, wo zwischen den gemalten, den Raum komplett umrahmenden Säulen sich weitere – und viel größere – ähnlich strukturierte Räume auftun. Die Funktion der gemalten Architektur als Abbildung der echten Architektur des Hauses wird besonders dann evident, wenn in einem Peristyl gemalte Säulen direkt gegenüber echten Säulen positioniert werden.73 Theatermasken (Symbole der theatralischen Mimesis), die solche architektonischen Fantasien des zweiten Stils oft schmücken, scheinen dabei als selbstreflexive Anspielungen auf den mimetischen Status der dargestellten Realität zu fungieren. Dass diese Mimesis mehr als eine realitätsgetreue Erweiterung des den Betrachter umgebenden empirischen Raums anstrebt, zeigt sich nicht nur in den übertriebenen Dimensionen und der märchenhaften Üppigkeit der dargestellten Architektur, sondern auch darin, dass die sich in den Interkolumnien eröffnenden Durchblicke mitunter keinen einheitlichen Raum, sondern eine Ansammlung von Raumfragmenten zu bilden scheinen. So ist es z.B. in einem der Räume der Villa von P. Fannius Synhistor in Boscoreale, in dem sich unmittelbar nebeneinander ein kunstvoll verwilderter Garten, ein Säulenhof und eine Art Stadtanblick befinden.74 Dadurch, dass man in solchen Räumen dazu aufgefordert wird, mehrere – im Einzelnen mit den illusionistischen Erwartungen kompatible, zusammengenommen jedoch widersprüchliche – Perspektiven anzunehmen, entwickelt man eine polyvalente Sichtweise, die in der empirischen Realität nicht möglich wäre. Diese verspielte Überlappung von Raumdarstellungen zeigt mit besonderer Klarheit, dass wir es hier mit keiner lebensechten, sondern mit einer ins Staunen versetzenden, überbietenden Nachahmung der empirischen Realität zu tun haben.75 Im späteren zweiten Stil entwickelt sich aus solch einer überbietenden Nachahmung die Tendenz zu wahrhaftig fantastischen – in der empirischen Welt schlicht unmöglichen – Darstellungen: Die gemalten Säulen werden nicht nur zu lang und zu dünn, als dass sie ihre architektonische Funktion in der Realität erfüllen könnten, sondern nehmen manchmal pflanzenähnliche groteske Formen an.76 Passend dazu bestehen auch sonstige Ornamente zunehmend aus ebenso grotesken Mischwesen, die Elemente von Kunstgegenständen, Menschen, Tieren und Pflanzen miteinander vereinen. Die bekannteste zeitgenössische Reaktion 72
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Zum zweiten Stil siehe Ling (1991), 23-51; Mielsch (2001), 29-66. Zur Villa der Mysterien und zur Villa der Poppaea in Oplontis als Paradebeispielen des zweiten Stils siehe Clarke (1991), 113-123. Zur Villa des Publius Fannius Synistor siehe Bergmann, et al. (2010). Vgl. Ling (1991), 50; Mielsch (2001), 29-32. Ling (1991), 28-29; Elsner (1995), 65-66; Mielsch (2001), 33-38. Ling (1991), 31; Elsner (1995), 62-74. Ling (1991), 39; Mielsch (2001), 53-66.
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auf die Popularität solcher offenkundig nicht-mimetischen Formen in der Kunst findet sich bei Vitruv (Arch. 7.5.3-4): sed haec, quae ex veris rebus exempla sumebantur, nunc iniquis moribus inprobantur. nam pinguntur tectoriis monstra potius quam ex rebus finitis imagines certae: pro columnis enim struuntur calami striati, pro fastigiis appagineculi cum crispis foliis et volutis, item candelabra aedicularum sustinentia figuras, supra fastigia eorum surgentes ex radicibus cum volutis teneri flores habentes in se sine ratione sedentia sigilla, non minus coliculi dimidiata habentes sigilla alia humanis, alia bestiarum capitibus. haec autem nec sunt nec fieri possunt nec fuerunt. quemadmodum enim potest calamus vere sustinere tectum aut candelabrum ornamenta fastigii, seu coliculus tam tenuis e mollis sustinere sedens sigillum, aut de radicibus et coliculis ex parte flores dimidiataque sigilla procreari? at haec falsa videntes homines non reprehendunt sed delectantur, neque animadvertunt, si quid eorum fieri potest necne. All dies, was als Nachbildung von wirklichen Dingen entlehnt wurde, wird jetzt aufgrund von verkommenen Sitten missbilligt. Denn auf den Verputz malt man lieber Ungeheuerlichkeiten als klare Abbildungen von bestimmten Dingen: Anstelle von Säulen werden kannelierte Rohrstängel gesetzt, anstelle von Dachgiebeln appagineculi77 mit gekräuselten Blättern und Voluten; dazu noch Kandelaber, die Abbildungen kleiner Häuser tragen, und über ihren Giebeln zarte Blumen, die sich aus Wurzeln mit Voluten erheben und ohne jeglichen Sinn kleine sitzende Statuetten tragen; außerdem noch zarte Stängel, die Halbfiguren tragen, von denen die einen Menschen-, andere Tierköpfe haben. Solche Dinge gibt es aber nicht, kann es nicht geben, hat es nicht gegeben. Wie kann nämlich ein Schilfrohr ein Dach tragen, oder ein Kandelaber den Schmuck des Giebels? Wie kann so ein zarter und biegsamer Stängel eine sitzende Statuette tragen oder wie können aus Wurzeln und Stängeln teils Blumen, teils Halbfiguren entstehen? Aber obwohl Menschen sehen, dass diese Dinge falsch sind, tadeln sie sie nicht, sondern finden daran Gefallen und interessieren sich nicht dafür, ob es etwas davon geben kann oder nicht.
Es verwundert kaum, dass Vitruv als Verfechter einer klassizistischen mimetischen Ästhetik kein Verständnis für diejenigen zeigt, die solche Abweichungen von der empirischen Realität goutieren.78 Die Tatsache aber, dass vielen seiner Zeitgenossen das Eintauchen in eine surreale Welt, die zwar aus erkennbar mimetischen Elementen besteht, diese jedoch zu grotesken Fantasiegeschöpfen 77 78
Bedeutung unklar, vgl. Fensterbusch (1964), Anm. 451. Vgl. Vitr. Arch. 7.5.1 namque pictura imago fit eius, quod est seu potest esse, uti homines, aedificia, naves, reliquarumque rerum, e quibus finitis certisque corporibus figurata similitudine sumuntur exempla. Dazu siehe Clarke (1991), 49-53; Elsner (1995), 51-62.
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zusammensetzt, einen großen Genuss bereitete, zeigt eine wichtige Wende im ästhetischen Wertesystem, wo nun ein ausgeklügeltes Spiel mit Illusion allmählich einen Vorrang über der reinen Reproduzierbarkeit der Realität erhält.79 Dieses Spiel mit Illusion erlangt eine besondere Brisanz, als, seit dem späteren zweiten Stil, Darstellungen von Architektur durch Darstellungen von in sie inkorporierten Gemälden erweitert werden.80 In den frühesten Wandmalereien dieser Art kann man solche Fiktionen zweiten Grades vom Hintergrund der illusionistisch dargestellten Architektur dadurch leicht unterscheiden, dass die ersteren durch eine andere – fast impressionistisch anmutende – Technik markiert sind: Die Architektur sieht somit erkennbar „realer“ aus als die in den nachgeahmten Gemälden dargestellte Realität.81 Im späten zweiten und insbesondere im vierten Stil verschwimmt aber die Grenze zwischen verschiedenen Fiktionalitätsebenen, was zur Folge hat, dass man nicht immer mit Sicherheit feststellen kann, ob es sich bei einem bestimmten Bildelement um eine Gemäldedarstellung oder um einen auf derselben Fiktionalitätsebene befindlichen architektonischen Durchblick handelt.82 Mehr noch: Dadurch, dass hier Nachahmungen von klassischen – also in der Regel kompromisslos mimetischen – Gemälden gelegentlich in den Kontext von offenkundig fantastischer Architektur inkorporiert werden, kann es sogar zu einem umgekehrten Verhältnis kommen, bei dem die Fiktion zweiten Grades „realistischer“ wirkt als der sie umgebende Kontext.83 Noch interessanter wird es aber dann, wenn der architektonische Kontext und/oder die nachgeahmten Gemälde menschliche Figuren enthalten. Das Spiel mit der mimetischen Illusion nimmt hier verschiedene Formen an. In der Regel wird die mimetisch dargestellte Architektur von generischen menschlichen Figuren bevölkert (wie z.B. auf den sogenannten „skenographischen“ Wandmalereien in Neros Goldenem Haus),84 die als Abbilder der menschlichen Welt des Betrachters zu fungieren scheinen, während auf den in den architektonischen Kontext inkorporierten Gemälden erkennbare mythologische Szenen dargestellt werden. Gelegentlich kommt es jedoch zu eigenartigen Interferenzen, die noch mehr dazu beitragen, die Grenze zwischen dem Mythos und der (überbietend nachgeahmten) empirischen Realität nachhaltig zu destabilisieren. Im soge79
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Ovids Metamorphosen, in denen Verwandlungen in nova corpora mitunter zur Entstehung von visuell höchst grotesken Erscheinungen führen, könnte man als ein mehr oder weniger zeitgenössisches literarisches Äquivalent dieser Ästhetik betrachten. Vgl. Galinsky (1999); Feldherr (2010), 241-341. Ling (1991), 37-42. Ling (1991), 112. Ling (1991), 34-35. Vgl. Mielsch (2001), 79-92. Als besonders anschauliches Beispiel dieser Tendenz könnte man das sogenannte „Haus der Livia“ auf dem Palatin erwähnen. Dazu siehe Clarke (1991), 50-52; Ling (1991), 37-38; Mielsch (2001), 54-60. Ling (1991), 74-77; Mielsch (2001), 81-86.
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nannten Odysseefries vom Esquilin sieht man zum Beispiel mythologische Szenen durch fensterartige Interkolumnien innerhalb des gemalten architektonischen Arrangements des Zimmers.85 Manchmal werden aber mythologische Szenen direkt inmitten der illusionistisch dargestellten Architektur platziert, ohne dass sie vom umgebenden Kontext in irgendeiner Weise abgetrennt sind, wie zum Beispiel auf einer Wandmalerei im pompeianischen Haus des Pinarius Cerialis, auf der Orestes und Pylades dargestellt sind.86 Durch diese Kontextualisierung der mythologischen Darstellungen wird die Distanz zwischen dem Betrachter und der Welt des Mythos verringert, denn Götter und Heroen erscheinen nun da, wo man sonst generische Figuren erwarten würde, die sich normalerweise als Abbilder der sich innerhalb der echten Architektur des Hauses bewegenden Betrachter verstehen lassen. Das Verschwimmen der Grenze zwischen dem Mythos und (einer illusionistischen Darstellung) der Realität wird in manchen Kompositionen des vierten Stils, der – bezeichnenderweise – unter Nero den Gipfel seiner Popularität erreichte, besonders auf die Spitze getrieben.87 In einem der Räume des pompeianischen Hauses der Vettier sind zwar generische und mythologische Figuren räumlich voneinander abgegrenzt und auch sonst (z.B. durch ihre unterschiedliche Größe) voneinander unterscheidbar. Sowohl die einen als auch die anderen sind aber in der gleichen illusionistischen Technik gemalt, sodass mythologische Bilder gewissermaßen auch wie durch ein Fenster betrachtete Durchblicke erscheinen.88 Gerade durch solche Nebeneinanderstellungen wird die Illusion von Unmittelbarkeit erschaffen, die an die Mythennachspielungen im kaiserlichen Amphitheater erinnert: Dadurch dass der Unterschied zwischen dem Mythos und dem Abbild der architektonischen Realität des Hauses weitgehend reduziert wird, wird hier der Mythos dem Betrachter auch fast zum Greifen nahe. Dass man in römischen Häusern Mythos und (nicht-mythologische) Realität mehr oder weniger auf die gleiche Weise wahrnehmen kann, ist jedoch nicht die einzige Quelle des unwiderstehlichen Staunens, das man hier als Betrachter erleben muss. Beim Betreten römischer Häuser in Kampanien wird man auch heute noch durch eine regelrechte Bilderflut überwältigt: Zusätzlich zu mythologischen Bildern und zu illusionistischen Darstellungen von Architektur und Landschaften wird man mit gemalten Abbildern von fast lebendig wirkenden Skulpturen, sowie mit verschiedenartigen farbenprächtigen Ornamenten konfrontiert, die eine Vielfalt von Motiven mit einschließen, unter denen nicht nur einzelne Figuren sind (Vögel, Tiere, Fische, Kränze, Kandelaber, usw.), sondern auch Darstellungen weiterer – kleinerer – in ornamentale Schemata 85 86 87 88
Ling (1991), 108-111; Mielsch (2001), 50-53. Ling (1991), 127-129; Mielsch (2001), 79-81. Clarke (1991), 164-265. Clarke (1991), 208-235; Ling (1991), 78-80; Mielsch (2001), 86-90.
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integrierter Bilder, auf denen wiederum Landschaften, Stillleben und mythologische Szenen vertreten sind. Diese fast erdrückende visuelle Üppigkeit war aber vor dem Ausbruch des Vesuv nicht nur intakt, sondern beherbergte, zusätzlich zu mimetischen Darstellungen von Kunst in den Wandmalereien, weitere, echte, Kunstwerke und sonstige Gegenstände, deren Kombination den ohnehin überwältigenden visuellen Effekt ins wahrhaft Unermessliche getrieben haben muss. Das beste zeitgenössische Zeugnis der Reaktion eines Betrachters auf solche unerträgliche (nebenbei bemerkt, nicht nur visuelle) Fülle findet man wahrscheinlich in der Cena Trimalichionis, der längsten überlieferten Episode von Petrons Satyrica.89 Alle Motive, die wir bis jetzt gesehen haben, werden hier miteinander kombiniert und auf die Spitze getrieben. Der Gastgeber (ein unvorstellbar reicher Freigelassener namens Trimalchio) inszeniert sich sowohl in der Ausschmückung seines Hauses als auch bei der während des Gastmahls angebotenen Unterhaltung wie ein Kaiser und übernimmt dafür typische Elemente der kaiserlichen Bildersprache. In dieser wie eine groteske Parodie erscheinenden Selbstglorifizierung lässt Trimalchio seinen eigenen Aufstieg von einem Sklaven hin zu einem der reichsten Menschen der Welt in einer Reihe von mythologischen Wandmalereien darstellen,90 die in einer erkennbaren Anspielung auf das Motiv des Goldenen Zeitalters gipfeln (Petr. Sat. 29):91 praesto erat Fortuna cum cornu abundanti et tres Parcae aurea pensa torquentes. Darauf war Fortuna mit überladenem Füllhorn und die drei Parzen, goldene Fäden drehend.
In diesem Bild wird die von mir bereits mehrfach beobachtete Tendenz zur Versachlichung einer Metapher noch deutlicher als sonst: Während aus den vergilischen, das Goldene Zeitalter in einem Lied prophezeienden Parzen in Senecas Apocolocyntosis Parzen werden, die einen sich sukzessive in Gold verwandelnden Faden spinnen, gehen die Parzen bei Trimalchio noch einen Schritt weiter und benutzen für ihren Faden goldene Wolle. Wie eine weitere Konkretisierung der ursprünglichen Metapher wirkt auch die Tatsache, dass Trimalchios Gäste – wie die Ziegen in Apuleius’ Beschreibung des ParisurteilPantomimus – mit Safran besprüht werden und dadurch zu ihrem Unbehagen – 89 90
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Vgl. Bergmann (1994), 248. Petr. Sat. 29. Trimalchio erlebt hier eine regelrechte Apotheose: Er wird von Minerva nach Rom geführt (ipse Trimalchio capillatus caduceum tenebat Minervaque ducente Roman intrabat) und anschließend von Merkur hochgehoben (in deficiente iam porticu levatum mento in tribunal excelsum Mercurius rapiebat). Vgl. Bodel (1994), 243-251; Grewing (2010), 20-21. Zum Füllhorn als einem Element der Bildlichkeit des Goldenen Zeitalters siehe Zanker (1987), 177-184.
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wie die Schafe in Vergils vierter Ekloge – selber im wörtlichen Sinne golden werden; besonders bezeichnend ist, dass sie in diesem merkwürdigen Ereignis, im Einklang mit dem üblichen offiziellen Ideologem, sofort eine Anspielung auf den Kaiserkult erkennen (Petr. Sat. 60):92 omnes enim placentae omniaque poma etiam minima vexatione contacta coeperunt effundere crocum, et usque ad os molestum umor accidere. rati ergo sacrum esse ferculum tam religioso apparatu perfusum, consurreximus altius et „Augusto, patri patriae, feliciter“ diximus. Alle Kuchen und alle Früchte begannen, schon bei der kleinsten Berührung, Safran zu versprühen, und die lästige Flüssigkeit reichte uns bis zum Mund. Wir dachten also, dass das mit so frommer Pracht getränkte Gericht eine Opfergabe sei. Deswegen erhoben wir uns gemeinsam und sprachen: „Hoch lebe Augustus, der Vater des Vaterlandes.“
Das Goldene Zeitalter präsentiert sich hier offensichtlich als eine bereits vollendete Tatsache, und zu bestaunen ist hier dementsprechend nicht das unbegreifliche Wunder seiner Rückkehr, sondern konkrete Auswirkungen seiner uneingeschränkten Üppigkeit. Die unübersehbare Konvergenz zwischen dem Motiv von Saturnia saecula der panegyrischen Dichtung und dem im Geiste der Saturnalien veranstalteten ausgiebigen Gastmahl, die dem Ganzen ein deutliches Element einer über alle Maße übertriebenen Satire verleiht, dient aber unter anderem auch dazu, die in der kaiserzeitlichen Ästhetik fest verankerte Tendenz zur beeindruckenden Versachlichung des Mythos auf eine besonders spürbare (nicht nur sichtbare, sondern auch riechbare und, wie wir sehen werden, essbare) Weise zu veranschaulichen. Encolpius – der Ich-Erzähler von Petrons Roman – fungiert innerhalb dieser Episode in erster Linie als erstaunter Betrachter, dessen Haltung mit derjenigen des Corydon in Calpurnius’ siebter Ekloge Einiges gemeinsam hat.93 Was Encolpius im Haus des Trimalichio betrachtet, ist ein multimediales Spektakel, in dem unterschiedliche Kunstformen (zu denen nicht nur Schauspiel und bildende Kunst gehören, sondern auch Kulinarik) miteinander verbunden werden und dessen Einzelheiten die erstaunliche Üppigkeit der Amphitheaterspiele (von der Art, die bei Calpurnius geschildert wird) in einigen Punkten sogar übertrifft.94 Wie wir gleich sehen werden, wird bei Trimalchio das Unerreichbarste und das 92
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Es ist jedoch besonders pikant, dass hier die Safran versprühenden Früchte von einer aus Teig geformten Priap-Figur angeboten werden. Zur Möglichkeit einer dadurch konnotierten sexuellen Aggression siehe Rimell (2002), 100. Encolpius’ Erstaunen findet weitere Parallelen in den Villen-Gedichten von Statius’ Silven. Siehe Newlands (2002). Vgl. Petr. Sat. 34 subinde intraverunt duo Aethiopes capillati cum pusillis utribus, quales solent esse eorum qui harenam in amphitheatro spargunt, vinumque dedere in manus; aquam enim nemo porrexit.
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Unglaublichste ebenso erlebbar gemacht wie im kaiserlichen Amphitheater. Was daran aber besonders erstaunlich ist, ist nicht nur, dass es Trimalchio gelegentlich gelingt, den Kaiser zu übertreffen, sondern auch, dass die von ihm zum Staunen dargebotenen Wunder nicht im öffentlichen Bereich der Arena, sondern in einem privaten Haus erlebt werden können.95 Ein beispielloser Überbietungsehrgeiz prägt jeden Aspekt von Trimalchios zur Schau gestelltem Leben. So wie er die erhabene Bildersprache der mythologischen Wandmalereien für die Darstellung seines eigenen Freigelassenenlebens verwendet, so kann er sich erlauben, in seinen Haushalt alles zu inkorporieren, was als entweder zeitlich oder räumlich unerreichbar gelten dürfte – zum Beispiel einen hundert Jahre alten falernischen Wein (Petr. Sat. 34 ‚Falernum Opimianum annorum centum’) oder den von echten attischen Bienen erzeugten Honig (Petr. Sat. 38 mel Atticum ut domi nasceretur, apes ab Athenis iussit afferri). Mehr noch: So wie Neros domus aurea zwei römische Hügel miteinander verband und somit angeblich die gesamte Hauptstadt zu verschlingen drohte,96 so verbindet Trimalchios Besitz zwei Kontinente und macht sie dadurch gewissermaßen zu Erweiterungen seiner Villa (Petr. Sat. 48 nunc coniungere agellis Siciliam volo, ut cum Africam libuerit ire, per meos fines navigarem). Die Tatsache, dass alles in Trimalchios Leben solche hypertrophen, die kaiserlichen Anstrengungen mit beneidenswerter Leichtigkeit in den Schatten stellenden Dimensionen einnimmt, ist zweifelsohne absolut grotesk.97 Für meine Überlegungen ist jedoch viel wichtiger, dass Trimalchio in diesem Punkt sozusagen „voll im Trend liegt“, denn wie der Kaiser in seiner Eigenschaft als Städtebauer und Veranstalter von Amphitheaterspielen scheint auch er den Rezipienten seines überwältigenden Spektakels den Eindruck vermitteln zu wollen, dass bei ihm jeder Mythos, jede abwegigste Fantasie Realität werden kann.98 Es ist also kein Wunder, dass Encolpius bei der Besichtigung von Trimalchios Haus mit einer Übermenge von erstaunlichen visuellen Eindrücken wörtlich „vollgestopft“ wird, noch bevor er die Schwelle überschreitet (Petr. Sat. 28 sequimur nos admiratione iam saturi).99 Das Haus selbst erweist sich dann 95 96
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Zum grundsätzlichen Durcheinander zwischen innen und außen in Trimalchios Haus siehe Grewing (2010), 31-36. Suet. Nero 31 non in alia re tamen damnasior quam in aedificando domum a Palatio Esquilias usque fecit, quam primo transitoriam, mox incendio absumptam nominavit. Mart. Spect. 2 his ubi sidereus propius videt astra colossus / et crescunt media pegmata celsa via, / invidiosa feri radiabant atria regis / unaque iam tota stabat in urbe domus. Zu weiteren antiken Quellen über die domus aurea siehe Bergmann (1993), 18-25. Siehe auch Elsner (1994). Vgl. Hales (2009). Zu weiteren Parallelen zwischen Trimalchio und Nero siehe Walsh (1970), 137-139. Das metaphorische Potenzial der Nahrungsaufnahme in Petrons Satyrica ist eins der zentralen Themen der Studie von Victoria Rimell (2002).
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sehr schnell als die Quintessenz aller erdenklichen Sinnesreize. Das erste, was er innerhalb des Hauses sieht, ist das Bild eines Hundes, das so lebensecht aussieht, dass es dem Erzähler eine richtige Angst einjagt (Petr. Sat. 29): ceterum ego dum omnia stupeo, paene resupinatus crura mea fregi. ad sinistram enim intrantibus non longe ab ostiarii cella canis ingens, catena vinctus, in pariete erat pictus superque quadrata littera scriptum ‚cave canem’. et collegae quidem mei riserunt, ego autem collecto spiritu non destiti totum parietem persequi. Übrigens wäre ich, während ich alles bestaunte, beinahe umgefallen und hätte mir die Beine gebrochen. Denn links vom Eingang war, nicht weit von der Kammer des Pförtners entfernt, ein riesiger Kettenhund an die Wand gemalt, und über ihm stand in Großbuchstaben geschrieben: VORSICHT! HUND! Und trotz des Gelächters meiner Kameraden riss ich mich zusammen und ließ mich nicht davon abhalten, die gesamte Wand genau zu betrachten.
Encolpius’ Naivität, die ihn eine Bilddarstellung mit der Realität verwechseln lässt, ist jedoch nicht nur lächerlich, sondern signalisiert auch die Bedeutung, die täuschende Nachahmungen im Laufe der gesamten Episode haben werden.100 Der Anblick, mit dem Encolpius im Atrium von Trimalchios Haus konfrontiert ist, ist jedoch nicht nur täuschend, sondern auch außerordentlich überwältigend. Zusätzlich zum erschreckend wirkenden Wachhund und zu den mythologisch stilisierten Bildern von Trimalchios Leben sieht Encolpius noch Folgendes (Petr. Sat. 29-30): notavi etiam in porticu gregem cursorum cum magistro se exercentem. praeterea grande armarium in angulo vidi, in cuius aedicula erant Lares argentei positi Venerisque signum marmoreum et pyxis non pusilla, in qua barbam conditam esse dicebat... interrogare ergo atriensem coepi, quas in medio picturas haberent. ‚Iliada et Odyssian’ inquit ‚ac Laenatis gladiatorium munus’. non licebat ‡multaciam‡ considerare... In der Halle merkte ich auch eine Gruppe von Läufern, die mit ihrem Lehrer trainierten. Außerdem sah ich ein großes Regal in der Ecke und in ihm einen kleinen Schrein, in dem silberne Laren standen, sowie ein marmorne Venusstatue und eine nicht gerade winzige Kiste, in der, wie man sagte, der erste Bart des Hausherrn aufbewahrt wurde... Ich begann also den Hausdiener zu fragen, was für Bilder sie in der Mitte hätten. „Ilias und Odyssee“, sagte er, „und das Gladiatorenspiels des Länas.“ Es war nicht möglich, die ‡Vielfalt‡ anzusehen... 100
Zur trompe-l’œil-Darstellung des Wachhundes in Trimalchios Atrium siehe Veyne (1963); Grewing (2010), 14-15. Zur Rolle der Mimesis in der Cena siehe Panayotakis (1995), xii-xv; Kirichenko (2010), 185-199.
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Die vielfältigen visuellen Eindrücke, die durch einen unübersichtlichen Wust von Personen, Gegenständen und thematisch höchst heterogenen Bilddarstellungen erzeugt werden, führen zu einer kaum erträglichen, den Betrachter in den Zustand permanenten Staunens versetzenden visuellen Übersättigung. Die Tatsache, dass dieser visuelle Mischmasch sowohl auf die Standardwerke der Hochliteratur (die Ilias und die Odyssee) als auch auf die populäre Unterhaltungsindustrie (ein Gladiatorenspiel) anspielt, vertieft den Eindruck einer allumfassenden (und nur darum eher wahllos und beliebig wirkenden) Universalität, die jeden erdenklichen Aspekt der Realität zu einem visuell beeindruckenden Anblick verarbeiten kann.101 Die Übersättigung, mit der Trimalchios Gäste zu ringen haben, ist jedoch nicht nur visuell, sondern auch auditiv (denn Trimalchios Sklaven singen ununterbrochen, sodass man das Gefühl bekommt, man würde einem Pantomimenchor zuhören)102 und vor allem natürlich kulinarisch: Die Tatsache, dass den Gästen immer größere und immer elaborierter zubereitete Gerichte serviert werden – selbst dann noch, wenn jeder Gedanke ans Essen einen Brechreiz zu verursachen droht,103 – macht diesen alles beherrschenden visuellen und auditiven Übersättigungszustand noch konkreter und greifbarer. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin, dass die unterschiedlichen Medien, die im Laufe des Gastmahls eingesetzt werden, sich voneinander nicht trennen lassen, sondern sich zu einem einheitlichen multimedialen, mimetischen Spektakel zusammenfügen. Interessanterweise besitzen die ungebildeten Charaktere Petrons genug Abstraktionsvermögen, um Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen mimetischen Künsten zu einem der wichtigsten Themen dieser Episode zu machen: Der Freigelassene Plocamus vergleicht seine frühere Kunstfertigkeit als Mime, Pantomime, und – etwas aus der Reihe fallend, dafür aber zu seinem sprechenden Namen (πλόκαµος = Locke) passend – als Friseur mit der Kunst des sprichwortartig besten mimetischen Künstlers schlechthin – des griechischen Malers Apelles (Petr. Sat. 64 quando parem habui nisi unum Apelletem);104 Trimalchio selbst imitiert daraufhin eine Trompete (Petr. Sat. 64 cum tubicines esset imitatus); ein junger Sklave aus Alexandria (einer Stadt, die in Rom unter
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Zum Chaos und zur Inversion als charakteristischen Merkmalen der Ästhetik von Trimalchios Haus siehe Hales (2009); Grewing (2010). Petr. Sat. 31 experiri volui an tota familia cantaret, itaque potionem poposci. paratissimus puer non minus me acido cantico excepit, et quisquis aliquid rogatus erat ut daret: pantomimi chorum, non patris familiae triclinium crederes. Vgl. z. B. Petr. Sat. 69 et haec quidem tolerabilia erant, si non ferculum longe monstrosius effecisset ut vel fame perire mallemus. Vgl. Herod. Mim. 4.72-76, wo Apelles als der beste mimetische Künstler überhaupt erwähnt wird, der alles imitieren kann: ἀληθιναί, Φίλη, γὰρ αἰ Ἐφεσίου χεῖρες / ἐς πάντ᾿ Ἀπέλλεω γράµµατ᾿. οὐδ᾿ ἐρεῖς ῾κεῖνος / ὤνθρωπος ἒν µὲν εἶδεν, ἒν δ᾿ ἀπηρνήθη᾿, / ἀλλ᾿ ᾦ ἐπὶ νοῦν γένοιτο καὶ θέων ψαύειν / ἠπείγετ᾿.
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anderem für ihre mimetischen Ausschweifungen berühmt-berüchtigt war)105 ahmt eine Nachtigal nach (Petr. Sat. 68 luscinias coepit imitari); ein weiterer Sklave wird zu einem mimetischen Virtuosen erklärt, der alles und jeden nachzuahmen vermag.106 In diese Reihe von mimetischen Künstlern fügt sich dann auch nahtlos Trimalchios Koch, der auf den passenden Namen Daedalus hört (Petr. Sat. 69-70): nam cum positus esset, ut nos putabamus, anser altilis circaque pisces et omnium genera avium, ‘’ inquit Trimalchio ‘quidquid videtis hic positum, de uno corpore est factum’. ego, scilicet homo prudentissimus, statim intellexi quid esset, et respiciens Agamemnonem ‘mirabor’ inquam ‘nisi omnia ista de facta sunt aut certe de luto. vidi Romae Saturnalibus eiusmodi cenarum imaginem fieri’. necdum finieram sermonem, cum Trimalchio ait: ‘ita crescam patrimonio, non corpore, ut ista cocus meus de porco fecit. non potest esse pretiosior homo. volueris, de vulva faciet piscem, de lardo palumbum, de perna turturem, de colepio gallinam. et ideo ingenio meo impositum est illi nomen bellissimum; nam Daedalus vocatur. Denn als, wie wir zumindest dachten, eine Mastgans, umgeben von Fischen und allerlei Vögeln, auf den Tisch gebracht worden war, sagte Trimalchio: „Freunde, was ihr hier vor euch liegen seht, ist alles aus einer Materie gemacht.“ Ich als besonders intelligenter Mensch verstand natürlich sofort, was es war, drehte mich zu Agamemnon und sagte: „Ich werde mich wundern, wenn all das nicht aus Wachs oder meinetwegen aus Ton gemacht ist. In Rom habe ich bei den Saturnalien gesehen, wie man eine solche Nachbildung von Speisen anfertigte.“ Ich hatte meine Rede noch nicht beendet, als Trimalchio sprach: „So wahr ich zunehmen will – an Vermögen, nicht an Körpergewicht: das hat mein Koch aus Schweinefleisch gemacht. Einen wertvolleren Menschen kann es gar nicht geben. Wenn du willst, macht er dir aus der Gebärmutter einen Fisch, aus dem Speck eine Taube, aus dem Schinken eine Turtel, aus der Keule ein Hähnchen. Und aus diesem Grund wurde ihm nach einem Einfall von mir der schönste Name überhaupt gegeben: er heißt nämlich Daedalus.
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Cic. Rab. Post. 35 audiebamus Alexandriam, nunc cognoscimus. Illim omnes praestigiae, illim, inquam, omnes fallaciae, omnia denique ab iis mimorum argumenta nata sunt. Hist. Aug. M. Ant. philos. 29.1-3 fidicinae et tibicines et histriones scurrasque mimicos et praestigiatores et omnia mancipiorum genera, quorum Syria et Alexandria pascitur voluptate. Petr. Sat. 68 ‘et numquit [sc. Habinnas] ‘didicit, sed ego ad circulatores eum mittendo erudibam. itaque parem non habet, sive mulionem volet sive circulatores imitari. desperatum valde ingeniosus est: idem sutor est, idem cocus, idem pistor, omnis musae mancipium.’
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Diesem Daedalus redivivus gelingt es also, das Gastmahl des Trimalchio in eine überbietende Version der Saturnalien zu verwandeln und somit das unwiderruflich vergangene goldene Zeitalter mit noch nie erlebter Intensität wiederzubeleben. Deswegen ist es kaum verwunderlich, dass diese saturn(al)ische Kochkunst in die Reihe mimetischer Künste aufgenommen wird.107 Noch wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass der mythische Künstler Daedalus (zu dessen Errungenschaften übrigens nicht nur solche mimetischen Täuschungen gehören wie die berüchtigte Holzkuh, mit deren Hilfe Pasiphae ihre verhängnisvolle Lust für den Stier befriedigen konnte,108 sondern auch Statuen, die von lebenden Menschen kaum zu unterscheiden waren)109 von Trimalchio genauso domestiziert wird wie die gesamte Welt der griechisch-römischen Hochkultur. Dadurch wird noch ein Mythos erlebbar gemacht – und zwar auf eine besonders spürbare Weise: Dieses Mal kann man den Mythos nicht nur sehen, wie es in der kaiserlichen Arena immer der Fall war, sondern auch noch schmecken. Die mimetischen Eigenschaften der Kulinarik beschränken sich bei Trimalchio jedoch nicht darauf, dass hier das Essen zu einem Werk der bildenden Kunst wird.110 Gelegentlich werden während des Gastmahls verschiedene Gerichte in einer Manier serviert, die an eine Art pantomimisches Spektakel erinnert. Das Servieren eines Wildschweins wird zum Beispiel nicht nur zum Anlass für ein eher plattes Wortspiel genommen (Petr. Sat. 36 Carpe, Carpe), sondern auch wie ein Gladiatorenspiel inszeniert: processit statim scissor et ad symphoniam gesticulatus ita laceravit obsonium, ut putares essedarium hydraule cantante pugnare. Sofort erschien ein Vorschneider und zerfetzte, zur Orchestermusik einen pantomimischen Tanz aufführend, die Vorspeise so, dass man hätte denken können, ein Gladiator führe, begleitet von den Klängen einer Wasserorgel, einen Wagenkampf auf.
Der Auftritt der Homeristae – einer Pantomimentruppe, die eine epische Episode nachspielen, – endet mit der Darstellung des wahnsinnig gewordenen Ajax, der
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Vgl. Platons Gleichsetzung zwischen Kochkunst und Rhetorik z.B. in Pl. Gorg. 465c. Vgl. die Beschreibung der autobiographischen Gestalten auf den von Daedalus selbst erschaffenen Toren des Apoll-Temples in Cumae in Verg. Aen. 6.14-33, insb. 24-26 hic crudelis amor tauri suppostaque furto / Pasiphae mixtumque genus prolesque biformis / Minotaurus inest. Zu Daedalus als archetypischer Künstlerfigur siehe Morris (1992), insb. 215-237 zum magischen Aspekt von Daedalus’ künstlerischen Erzeugnissen. Vgl. Petr. Sat. 36 leporemque in medio pinnis subornatum, ut Pegasus vederetur. notavimus etiam circa angulos repositorii Marsyas quattuor, ex quorum utriculis garum piperatum currebat super pisces, qui quasi in euripo natabant.
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in der Welt des Gastmahls dadurch funktionalisiert wird, dass er zu allgemeiner Bewunderung ein zum Servieren vorbereitetes Kalb zerlegt (Petr. Sat. 59): secutus est Aiax strictoque gladio, tamquam insaniret, vitulum concidit, ac modo versa modo supina gesticulatus mucrone frusta collegit mirantibusque partitus est. Es folgte Ajax, der, als sei er wahnsinnig, mit gezücktem Schwert das Kalb zerhackte, mit der Spitze die Stücke aufsammelte, sich bald nach oben bald nach unten bewegend, und an die staunenden Gäste verteilte.
Dass der Mythos bei Trimalchio durch Nachahmungen in verschiedenen Medien direkt erlebbar (nicht nur sichtbar, sondern auch essbar) wird, ist nicht das einzige Element der zeitgenössischen Ästhetik, das er benutzt, um seine Vorbilder zu überbieten. Die Beschreibung seines Grabmals, das er dem Bildhauer Habinnas am Ende der Episode in Auftrag gibt, erreicht auch wahrhaftig mythische Dimensionen.111 Es handelt sich um ein riesiges Mausoleum, das auf das Motiv der unbegrenzten Fülle des Goldenen Zeitalters indirekt anspielt (Petr. Sat. 71 omne genus enim poma volo sint circa cineres meos, et vinearum largiter) und dabei die Struktur von Trimalchios Haus und sein Leben insgesamt weitgehend repliziert, um ihn, nach seiner eigenen Formulierung, auch nach dem Tod leben zu lassen (Petr. Sat. 71 ut mihi contingat tuo beneficio post mortem vivere). Somit verwandelt sich Trimalchios Leben in ein von allen zu bestaunendes, überbietendes mimetisches Kunstwerk. Wir können nun also deutlich sehen, dass die von mir beobachtete Tendenz der senecanischen Tragödien, ihre eigene Handlung als eine sowohl überbietende als auch unmittelbar erlebbare Nachspielung anderer mythologischer Sujets und literarischer Motive darzustellen, sich völlig im Einklang mit der visuellen Ästhetik befindet, die nicht nur für die Performancekultur, sondern auch für die bildende Kunst im ersten Jahrhundert nach Christus prägend ist.112 In dem Rest dieses Kapitels möchte ich versuchen, den auf den modernen Leser wahrscheinlich am verstörendsten wirkenden Aspekt von Senecas Rhetorik des Sehens in der zeitgenössischen visuellen Kultur zu kontextualisieren, nämlich seine außerordentliche Besessenheit mit den graphischen Darstellungen von Tod, Verstümmelung und Körperzerstückelung. Während am Ende von Petrons Cena der Tod nur in einer Art mimischer Farce nachgeahmt wird,113 führte der grenzenlose Hang der kaiserzeitlichen Ästhetik zu naturalistischen Darstellungen unweigerlich dazu, dass der Tod in 111 112
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Zu Trimalchios Grab siehe Whitehead (1993); Hope (2009). Einen ganz anders nuancierten (die vorrangige Bedeutung des Grotesken hervorhebenden) Vergleich zwischen den Tragödien Senecas und der Kunst der neronischen Epoche findet man in Varner (2000). Vgl. Panayotakis (1995), 102-109.
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den in der römischen Arena aufgeführten theatralisierten Performances oft nicht fingiert wurde, sondern, dem nachgespielten Szenario entsprechend, tatsächlich auf der Bühne stattfand. Es wird zum Beispiel generell angenommen, dass Teilnehmer an den Schlachtennachspielungen oder Naumachien, die offensichtlich nichts anderes waren als durch einen narrativen Gehalt erweiterte und besonders aufwendig gestaltete Gladiatorenspiele, bisweilen wirklich bis zum Tod kämpften.114 Häufige Erfahrungen mit dem echten Sterben in der Arena, kombiniert mit der allgemeinen Tendenz der römischen Performancekultur zum ungezügelten Naturalismus, führten offensichtlich dazu, dass römische Zuschauer das fingierte Sterben in einer pantomimischen Theateraufführung für einen unverzeihlichen Bruch der Glaubwürdigkeit halten konnten, wie der folgende auf den heutigen Leser eher skurril wirkende Witz des neronischen Epigrammatikers Lukillios zu bezeugen scheint (AP 11.254):115 Πάντα καθ᾿ ἱστορίην ὀρχούµενος, ἓν τὸ µέγιστον τῶν ἔργων παριδὼν ἠνίασας µεγάλως. τὴν µὲν γὰρ Νιόβην ὀρχούµενος ὡς λίθος ἔστης, καὶ πάλιν ὢν Καπανεὺς ἐξαπίνης ἔπεσες. ἀλλ᾿ ἐπὶ τῆς Κανάκης ἀφυῶς, ὅτι καὶ ξίφος ἦν σοι καὶ ζῶν ἐξῆλθες· τοῦτο παρ᾿ ἱστορίην. In deinem Tanz entsprach alles dem Mythos. Indem du eine Sache, die aber am wichtigsten von allen war, übersehen hast, hast du uns enttäuscht. Als du Niobe spieltest, hast du still wie ein Stein gestanden, während du als Kapaneus plötzlich gefallen bist. Als Kanake zeigtest du aber kein Talent: obwohl du das Schwert hattet, hast du die Bühne lebend verlassen. Das war anders als im Mythos.
Theatralisierte Hinrichtungen (oder „fatal charades“, wie Kathy Coleman sie treffend genannt hat),116 bei denen ein zu Tode verurteilter Verbrecher starb, während er eine mythologische Rolle spielte, kompensieren reichlich für dieses beklagenswerte Manko. Von demselben Lukillios stammt zum Beispiel folgendes Epigramm, in dem das wie eine Heldentat des Hercules uminterpretierte Verbrechen mit einer Sterbensart bestraft wird, die an den Tod des Hercules auf dem Oeta erinnert (AP 11.184): ἐκ τῶν Ἑσπερίδων τῶν τοῦ Διὸς ἦρε Μενίσκος ὡς τὸ πρὶν Ἡρακλέης χρύσεα µῆλα τρία. καὶ τὶ γάρ; ὡς ἑάλω, γέγονεν µέγα πᾶσι θαῦµα ὡς τὸ πρὶν Ἡρακλέης ζῶν κατακαιόµενος. 114
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Coleman (1990), 70: „Since the participants in these occasional spectacles were usually prisoners-of-war and damnati, naumachiae were effectively an extension en masse of the gladiatorial duel, and thus a form of ‚indirect’ death penalty.“ Zu Lukillios siehe Nisbet (2003), 36-81. Coleman (1990).
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Schock und Erkenntnis Meniskos hat aus den hesperischen Gärten des Zeus, so wie Hercules früher, drei Äpfel gestohlen. Und was nun? Als er geschnappt wurde, gab es ein für alle zu bewunderndes Spektakel: so wie Hercules früher, wurde er lebend verbrannt.
Eine solche Performance, bei der der Schauspieler mit der von ihm gespielten Rolle so sehr verschmilzt, dass er nicht nur in der Bühnenfiktion, sondern auch in der empirischen Welt stirbt, erreicht die höchstmögliche Stufe der in der kaiserzeitlichen Ästhetik generell angestrebten Transformation einer mimetischen Darstellung in eine genaue Kopie des ursprünglichen Ereignisses.117 Die ‚fatal charades’ vollziehen mit einer für uns erschreckend humorvollen Leichtigkeit den unvorstellbaren Schritt von einem Horrorfilm zu einem ‚snuff film’.118 Eine anschaulichere Illustration der für die römische visuelle Kultur charakteristischen Tendenz, den Mythos in die Realität zu verwandeln, kann man sich wirklich kaum vorstellen. Man hat schon oft bemerkt, dass die Ästhetik der römischen Arena einen prägenden Einfluss auf verschiedene Texte der spätaugusteischen und kaiserzeitlichen Literatur ausübte. Andrew Feldherr hat zum Beispiel auf zahlreiche Verbindungen zwischen den Gewaltdarstellungen in den Metamorphosen Ovids und der Welt des Amphitheaters hingewiesen;119 Matthew Leigh hat gezeigt, dass viele Kampfszenen in Lucans Bellum civile wie für ein erstauntes Publikum bestimmte gladiatorische Einzelkämpfe, Naumachien, oder Tierhetzen inszeniert werden;120 und ich selbst habe Parallelen zwischen einigen Szenen im Goldenen Esel des Apuleius und der für die römische Arena typische Inszenierungsdynamik gezogen.121 Auf die Rolle der aus dem Bereich des Gladiatorenspiels stammenden Terminologie bei den Mordschilderungen in Senecas Tragödien ist auch immer wieder hingewiesen worden.122 Was ich nun aber zeigen möchte, ist, dass die von mir festgestellte Obsession Senecas mit dem Tod als einer visuell schockierenden Nachspielung besonders auffällige Gemeinsamkeiten mit den
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Zu den naturalistischen Tendenzen des kaiserzeitlichen (insbesondere des neronischen) Theaters siehe Bartsch (1994), 1-62. Zum ‚snuff film’ als einer extremen Version des Horrorgenres, wo der Zuschauer im Glauben gelassen wird, der auf dem Bildschirm dargestellte Mord sei nicht gespielt, sondern real, siehe Black (2002). Zur Anziehungskraft der Gewalt in der römischen Arena siehe Fagan (2011), insb. 230-273. Feldherr (2010), 160-198. Leigh (1997), 234-291. Kirichenko (2010), 45-58. Vgl. Rosenmeyer (1989), 56-62. Phrasen wie bene est, peractum est (Sen. Me. 1019), die die Darstellung des Mordes (bzw. der Selbstverstümmelung) in Senecas Tragödien oft begleiten, entstammen der Sprache des Gladiatorenspiels. Siehe Boyle (2011), 342 zu Sen. Oe. 998 bene habet, peractum est. Vgl. auch Sen. Ag. 901 habet, peractum est und Tarrant (1976), ad loc.
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Mirabile visu
‚fatal charades’ – also mit dem ultimativen Ausdruck des kaiserzeitlichen visuellen Naturalismus – aufweist. In den ersten sieben Kapiteln habe ich gezeigt, dass das Finale jeder senecanischen Tragödie mit besonderer Deutlichkeit erkennen lässt, dass der am Ende stattfindende Mord (bzw. Selbstverstümmelung im Oedipus) nichts anderes als eine überbietende Nachspielung eines anderen mythologischen Sujets darstellt: Hercules tötet seine Kinder im Glauben, er würde weiterhin gegen mythologische Monstren kämpfen; der Tod des Agamemnon ist eine Wiedergutmachung für die Zerstörung Trojas und ist wie eine das Original übertreffende Nachspielung des Mordes an Priamus inszeniert; in den Troades sterben Polyxena und Astyanax auf einer Art Bühne, indem sie mythologische Präzedenzfälle nachspielen – die Aufopferung Iphigenias und den Tod Hectors; Medea tötet ihre Kinder, um ihre früheren Verbrechen zu übertreffen; Oedipus’ Selbstblendung wird wie eine überbietende Version seines Sieges über die Sphinx konzipiert; und im Thyest ist Atreus ein wahrhaftiger Überbietungskünstler, der mehrere mythologische Vorbilder auf einmal zu übertreffen versucht – die unsäglichen Verbrechen seines Bruders und seines Vorfahren Tantalus, sowie „das thrakische Verbrechen“ von Procne und Philomela. In jeder dieser Tragödien wird der am Ende stattfindende Tod (bzw. die Selbstverstümmelung) nicht nur für entsetzlicher erklärt als der jeweilige nachgespielte mythologische Präzedenzfall, sondern auch – dank der rhetorischen Illusion der Unmittelbarkeit der Darstellung – für entsetzlicher als die gesamte Welt literarischer Monstren; in jeder Tragödie wird solch ein (alles Denkbare überbietender) Vorfall für ein internes Publikum inszeniert, das begreifen muss, dass es sich diesmal um kein Schauspiel mehr handelt, und dass die Konsequenzen dessen, was sie nun sehen, erschreckend real sind. Die Rhetorik eines der Epigramme aus Martials Liber spectaculorum – einer unserer besten Quellen für die römischen ‚fatal charades’ – lässt die gesamten von mir aufgelisteten Eigenschaften erkennen (Mart. Spect. 9):123 Qualiter in Scythica religatus rupe Prometheus adsiduam nimio pectore pavit avem, nuda Caledonio sic viscera praebuit urso non falsa pendens in cruce Laureolus. vivebant laceri membris stillantibus artus inque omni nusquam corpore corpus erat. denique supplicium vel domini iugulum foderat ense nocens,
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Coleman (1990), 64-65; Coleman (2006), 82-96. Shadi Bartsch (1994, 52-55) zeigt überzeugend, dass das Nachspielungsparadigma, dem wir in Martials Epigrammen über die fatal charades begegnen – trotz ihres späteren Datums –, ein wertvolles Licht auf die Theaterkultur der neronischen Epoche wirft.
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Schock und Erkenntnis templa vel arcano demens spoliaverat auro, subdiderat saevas vel tibi, Roma, faces. vicerat antiquae sceleratus crimina famae, in quo, quae fuerat fabula, poena fuit.
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Wie Prometheus, an den skythischen Felsen angekettet, mit seiner riesenhaften Brust den unermüdlichen Vogel ernährte, so bot Laureolus, an einem nicht vorgetäuschten Kreuz hängend, dem kaledonischen Bären seine entblößten Eingeweide an. Seine zerfetzten Gliedmaßen lebten noch, obwohl aus ihnen Blut tröpfelte, und an seinem gesamten Körper gab es vom Körper nichts mehr. Schließlich erlitt er die verdiente Todesstrafe: Der Frevler hat bestimmt seinem Vater und seinem Herrn die Kehle mit dem Schwert durchbohrt oder, Wahnsinniger, den geheimen Goldschatz aus Tempeln geraubt, oder er hat dich, Rom, mit wütenden Fackeln angezündet. Der Verbrecher hat die Untaten der antiken Sage übertroffen; ihm wurde, was Mythos gewesen war, zur Strafe.
Die hier geschilderte Hinrichtung, bei der ein Räuber gekreuzigt und dabei von einem Bären lebendig gefressen wird, wirkt einerseits wie eine Version des sogenannten Laureolus-Mimus – eines der populärsten kaiserzeitlichen MimusStücke überhaupt, das auch damit endete, dass der Protagonist, der Anführer einer Räuberbande, auf der Bühne hingerichtet wurde.124 Im Unterschied zum Mimus handelt es sich hier aber um keine nachgeahmte, sondern um eine echte Hinrichtung, denn es wird ausdrücklich betont, dass dieser „Laureolus“ auf einem echten (non falsa) Kreuz hängt. Obwohl dieses Spektakel also nach einem belustigenden Mimus aussieht, transformiert es sich, dank dem Wegfallen des mimetischen Elements, in eine im Liber spectaculorum so häufig thematisierte Wiederbelebung eines Mythos. Die Bestrafung, zu deren Augenzeugen hier die Zuschauer werden, wird deswegen wie eine Nachspielung der Bestrafung des Prometheus durch den sich von dessen Körper ernährenden Adler verstanden. Die beiden Motive – Laureolus und Prometheus – vermischen sich im weiteren Verlauf des Gedichts. Die beiden erstgenannten Verbrechen, die der Sträfling mutmaßlich begangen haben soll (Mord und Diebstahl aus einem Tempel), passen ideal zu einem zu Tode verurteilten Räuber;125 das letzte (eine Brandstiftung, die die gesamte Hauptstadt zu vernichten drohte) tut es zwar auch, lässt aber gleichzeitig auch an Prometheus denken, der für nichts anderes als seine Schenkung des Feuers and die Menschen mit unerträglichen Qualen bestraft wurde.126 Der Missbrauch dieses Geschenks, den Martial hier vermutet, ist ohne Zweifel ein viel schlimmeres Verbrechen als das ursprüngliche Verbrechen des Prometheus. Deswegen überrascht es auch kaum, dass es laut Martial mythologi124 125 126
E.g. Suet. Cal. 57, Juv. 8.186-188. Siehe Wiemken (1972), 148-149; Herrmann (1985); Kirichenko (2010), 49-52. Coleman (2006), 94-95. Vgl. Hes. Th. 565-569.
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Mirabile visu
sche Vorbilder übertrifft (vicerat antiquae sceleratus crimina famae) und dass, um solch ein Verbrechen zu bestrafen, der Mythos zur Realität werden muss (quae fuerat fabula, poena fuit). Diese Realität ist aber, wie es im Liber spectaculorum oft der Fall ist, dem Mythos deutlich überlegen, denn im Gegensatz zu einer fabula lässt sie keinen Platz für Zweifel: Sie ist nicht einfach sichtbar; sie äußert sich in außerordentlich verstörenden Bildern, die man als Zuschauer nicht leicht vergessen wird (vivebant laceri membris stillantibus artus / inque omni nusquam corpore corpus erat). Wir haben es hier also – genauso wie in Senecas Tragödien – mit einer in gewisser Hinsicht überbietenden Replizierung des Mythos zu tun, die – wiederum wie in Senecas Tragödien – durch die Zurschaustellung eines verstümmelten (zerstückelten) Körpers ihre verstörende Wirkung erreicht. In einem anderen Epigramm aus dem Liber spectaculorum ist die Übereinstimmung zwischen fabula und poena etwas weniger eindeutig (Mart. Spect. 24): quidquid in Orpheo Rhodope spectasse theatro dicitur, exhibuit, Caesar, harena tibi. repserunt scopuli mirandaque silva cucurrit, quale fuisse nemus creditur Hesperidum. adfuit inmixtum pecori genus omne ferarum et supra vatem multa pependit avis, ipse sed ingrato iacuit laceratus ab urso. haec tantum res est facta παρ᾿ ἱστορίαν.
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Was Rhodope in Orpheus’ Theater angeblich gesehen hatte, zeigte dir, Caesar, die Arena. Felsen krochen, und der Wald eilte herbei, so bewundernswert, wie man sich den Hain der Hesperiden vorstellt. Allerlei wilde Tiere waren dabei, vermischt mit Hausvieh, und über dem Sänger schwebten viele Vögel. Doch er selbst lag da, zerfetzt von einem undankbaren Bären. Nur dies allein geschah anders als in der mythischen Geschichte.
Im Gegensatz zum oben zitierten Epigramm des Lukillios, wo die Abweichung des Nachspielens von dem ursprünglichen Szenario (παρ᾿ ἱστορίαν) zu einer Enttäuschung führt, wird sie hier als Quelle einer merkwürdigen Genugtuung aufgefasst. Einer der Gründe dafür besteht darin, dass diese Abweichung hier zu keinem Bruch der Glaubwürdigkeit bei der Aufführung des ursprünglichen Szenarios führt, sondern zwei verschiedene Szenarien auf eine höchst überraschende Weise miteinander kombiniert: Der Anfang präsentiert den Mythos von dem die gesamte wilde Natur verzaubernden Gesang des Orpheus; das Ende basiert auf einer ganz anderen Episode des Orpheus-Mythos,127 die zu den 127
Trotz der ungewöhnlich starken Betonung der Abweichung vom angeblich angestrebten ursprünglichen Szenario basiert die Struktur der in diesem Epigramm geschilderten Performance auf einem Prinzip, das uns aus anderen, sich mit den fatal charades
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Schock und Erkenntnis
Bedürfnissen einer ‚fatal charade’ viel besser passt, – dem Mythos von den vom dionysischen Wahnsinn erfüllten Bassariden, die Orpheus wegen seiner Ablehnung der Frauen zerstückeln.128 Die Tatsache, dass der hungrige Bär, der, dem ersteren Szenario entsprechend, sich von Orpheus’ Lied verzaubern lassen sollte, sich für die wundersame Gesangskunst unempfänglich zeigt und den göttlichen Sänger in Stücke reißt, lässt die Nachahmung einerseits als vollkommen gescheitert erscheinen: Dadurch, dass der Bär den Zauber bricht, wird sofort klar, dass es sich um keine genaue Replizierung des ursprünglichen Wunders handelt, sondern nur um eine bloß nachahmende Bühnendarstellung. Andererseits fällt der „undankbare Bär“ nicht einfach aus der Rolle heraus, die er zu spielen schien, sondern seine Handlungen entsprechen gleichzeitig einem zwar ganz anderen, mit dem Orpheus-Mythos jedoch auch eng verbundenen Szenario. Es stellt sich in anderen Worten heraus, dass das gescheiterte Nachspielen eines Mythos gleichzeitig als erfolgreiches Nachspielen eines anderen fungiert. Der durch die plötzliche Divergenz erzeugte Überraschungseffekt zwingt uns, unsere ursprüngliche Hypothese hinsichtlich der Bedeutung des aufgeführten Spektakels radikal zu überdenken: Die grausame Ironie dieser ‚fatal charade’ besteht darin, dass das, was wie eine mimetische (pantomimische) Darstellung eines glorreichen, die gesamte Natur verzaubernden Orpheus aussah, sich wie eine erschreckend wörtlich gemeinte Replizierung des Mythos vom zerstückelten Orpheus erweist. Der von mir in diesem Gedicht Martials festgestellte Mechanismus entspricht ziemlich genau der Funktionsweise des Nachspielens in Senecas Phaedra. Im Gegensatz zu allen anderen senecanischen Tragödien zeichnet sich die Phaedra, wie ich im zweiten Kapitel gezeigt habe, dadurch aus, dass hier alle Versuche, die Bühnenhandlung wie eine Nachspielung eines anderen Mythos zu präsentieren, kläglich scheitern. Besonders verhängnisvolle Konsequenzen hat dieses Scheitern natürlich für Hippolytus, der am Ende des Stücks, wie „Orpheus“ im Martial-Epigramm, zerstückelt wird. Das Scheitern der Nachspielung ist hier aber, genauso wie bei Martial, nur partiell. Hippolytus scheitert zwar als Minotaurus, für den ihn Phaedra hält, und als Abbild seines Vaters – des MinotaurusMörders Theseus. Sein Tod wird aber am Ende trotzdem in der Begrifflichkeit
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auseinandersetzenden Epigrammen bekannt ist, wo zwei Episoden desselben Mythenkomplexes auf eine überraschende Weise kombiniert werden: In AP 11.184 und in Martials Laureolus-Epigramm repliziert der Tod der beiden Hinrichtungsopfer den Tod der mythologischen Figuren, deren Heldentaten ihre jeweiligen Verbrechen – in der poetischen Fiktion der Gedichte – nachgeahmt haben sollen (bei Lukillios führt ein Diebstahl „aus dem Garten der Hesperiden“ zu einem wahrhaftig herkuleischen Tod; bei Martial wird sowohl das Leben als auch der Tod des „Laureolus“ in der Begrifflichkeit des Prometheus-Mythos verstanden); ebenso stirbt auch in diesem Epigramm der Verbrecher, der den zauberhaften Sänger Orpheus spielt, den gleichen Tod wie Orpheus am Ende seiner mythologischen Laufbahn. Coleman (2006), 180.
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des Minotaurus-Mythos verstanden, denn in seinem zerstückelten Zustand sieht er wie ein typisches Opfer des Minotaurus aus (Sen. Ph. 1170-1173): quis Cresius, Daedala vasto claustra mugitu replens, taurus biformis ore cornigero ferox divulsit? Welcher zweigestaltige kretische Stier, die von Daedalus erbauten Verließe mit mächtigem Brüllen erfüllend, wild in gehörntem Antlitz hat deine Glieder [1169 membra] auseinandergerissen?
Wie der Tod von Martials „Orpheus“ entspricht auch der Tod des Hippolytus einem Element des Mythos, den alle Charaktere vergeblich nachzuspielen versuchten. Es ist aber ironischerweise keines der Elemente, mit denen Hippolytus im Laufe der Tragödie in Verbindung gebracht wurde. Es ist genau seine überraschende Verwandlung aus einem Monster bzw. dem Bezwinger eines Monsters in ein schutzloses Zerstückelungsopfer, die, wie in Martials theatralisierter Hinrichtung, zeigt, dass die gesamte Nachspielung παρ᾿ ἱστορίαν verlaufen ist. Wir sehen nun also, dass der Effekt der Unmittelbarkeit, den Seneca am Ende jeder seiner Tragödien erreicht, der allgemeinen Tendenz der kaiserzeitlichen Ästhetik entspricht, den Mythos als etwas direkt Erlebbares darzustellen. Das Staunen, das wir als Rezipienten von senecanischen Tragödien erleben, verwandelt uns gewissermaßen auch in Zuschauer von uneingeschränkt illusionistischen Shows im kaiserlichen Amphitheater, in denen die alten literarischen Mythen nicht nur naturalistisch nachgespielt, sondern auch überboten werden. Das Besondere an Senecas Dramen ist natürlich, dass in ihnen dieser Effekt, wie ich bereits am Anfang dieses Kapitels betonte, nicht (oder zumindest nicht nur) mit Hilfe komplexer technischer Ausrüstung, sondern mit rein rhetorischen Mitteln erreicht wird.129 Gleichzeitig ist für Seneca das visuelle Staunen genauso wenig ein Selbstzweck wie für Veranstalter der kaiserlichen Spektakel: Wie die aufwendig gestalteten mythologischen Hinrichtungen in der Arena immer das Ziel verfolgen, dem Publikum den Eindruck von der uneingeschränkten Gerechtigkeit des Kaisers zu vermitteln,130 so entpuppt sich immer hinter der visuell beeindruckenden Oberfläche von Senecas Tragödien auch eine weiterführende Bedeutung. 129 130
Vgl. Goldberg (1996). Coleman (1990), 72: „In this context the emperor was seen to be the person who enabled the ultimate processes of the law to take their course, and at the same time provided thrilling and novel entertainment for his people. [...] Yet the roles are reciprocal: the spectators by their presence endorse the workings of justice, and by their participation they help fulfill it aims.“
9. Lehrreiche Trugbilder: Philosophie und Theater in Senecas Œuvre In seinem 57. Brief beschreibt Seneca eine Reise, die er an einem verregneten Tag aus Baiae nach Neapel unternahm. Angesichts des wütenden Sturms schien eine Seefahrt wenig ratsam.1 Doch erwies sich auch der Landweg als ähnlich strapazenreich: Mit Schlamm bedeckte Straßen gaben einem das Gefühl, man sei auch hier mit einem Schiff unterwegs.2 Beim Betreten der sogenannten crypta Neapolitana – eines langen Tunnels, der Baiae mit Neapel verband3 – geriet aber der Reisende endgültig vom Regen in die Traufe (Sen. ep. 57.2):4 nihil illo carcere longius, nihil illis facibus obscurius, quae nobis praestant non ut per tenebras videamus, sed ut ipsas. ceterum etiam si locus haberet lucem, pulvis auferret, in aperto quoque res gravis et molesta: quid illic, ubi in se volutatur et, cum sine ullo spiramento sit inclusus, in ipsos, a quibus excitatus est, recidit? Nichts ist länger als dieser Kerker, nichts ist dunkler als diese Fackeln, die uns nicht durch die Dunkelheit, sondern die Dunkelheit selbst sehen lassen.5 Übrigens, selbst wenn der Ort Licht hätte, würde der Staub es
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Sen. ep. 57.1. Vgl. Sen. ep. 53.1 quid non potest mihi persuaderi, cui persuasum est ut navigarem? Zur ringkompositorischen Bedeutung des Schifffahrtsmotivs im sechsten Buch der epistulae morales (epp. 53-57) siehe Berno (2006), 323-324. Sen. ep. 57.1 et tantum luti tota via fuit, ut possim videri nihilominus navigari. Zur crypta Neapolitana siehe Schönegg (1999), 73; Berno (2006), 335-337. Sen. ep. 57.1 a ceromate nos haphe excepit in crypta Neapolitana. Es handelt sich eigentlich um eine athletische Metapher (totum athletarum fatum mihi illo die perpetiendum fuit) – wörtlich: ‚vom Schlamm der Arena in die Besprühung mit Sand’. Dazu siehe Berno (2006), 334. Dieses – zweifelsohne ironisch gemeinte – Bild erhält jedoch eine etwas ernsthaftere Bedeutung im Kontext der Vorstellung Senecas von theatrum mundi, die auch weitegehend auf einer Parallelisierung zwischen dem menschlichen Leben und einem Kampf in der Arena basiert. Das Konzept von theatrum mundi werde ich am Ende dieses Kapitels im Detail besprechen. Ipsas kann sich natürlich nicht nur auf tenebras, sondern auch auf facibus beziehen. Das Bild von Fackeln, die nur sich selbst sichtbar machen, betont die Absolutheit der im Tunnell herschenden Dunkelheit genauso wie das – zugegebenermaßen interessantere – Bild des Lichtes, das so schwach ist, dass es die Dunkelheit nicht zu
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Schock und Erkenntnis vernichten, der sogar im Freien eine unangenehme und beschwerliche Sache ist, geschweige denn dort, wo er in sich selbst herumfliegt und, da er ohne jeglichen Luftzug eingeschlossen ist, auf diejenigen zurückfällt, von denen er aufgewirbelt wurde.
Kaum dachte man also, die Situation sei beschwerlich genug, wurde es noch schlimmer: Der dunkle stürmische Tag wich der absoluten – sichtbaren! – Dunkelheit des Tunnels, und der verflüssigte Schlamm der Straßen fand sich im Tunnel wieder in der noch lästigeren Form des Staubs, der einem nicht nur die Fortbewegung erschwerte, sondern auch die Sehkraft endgültig raubte. Dieses höchst anschaulich gezeichnete Bild, das auch uns nicht nur dieses durchaus gewöhnliche Naturereignis, sondern auch die Dunkelheit selbst (ipsas) sehen lässt, bleibt jedoch nicht ohne intellektuelle Konsequenzen für den Betrachter (Sen. ep. 57.3): aliquid tamen mihi illa obscuritas, quod cogitarem, dedit: sensi quendam ictum animi et sine metu mutationem, quam insolitae rei novitas simul ac foeditas fecerat. Doch hat mir diese Dunkelheit etwas zum Nachdenken gegeben: Ich spürte einen starken Eindruck auf meine Seele und keine Angst, sondern eine Veränderung, die die Neuartigkeit und die Hässlichkeit des ungewohnten Anblicks verusacht hatte.
Seneca bemerkt weiterhin, dass solch eine starke emotionale Reaktion auf etwas Neuartiges und Schockierendes selbst für einen Weisen unvermeidlich wäre,6 und untermauert diese Ansicht durch weitere Beispiele (Sen. ep. 57.4-5): quaedam enim, mi Lucili, nulla effugere virtus potest; admonet illam natura mortalitatis suae. itaque et vultum adducet ad tristia et inhorrescet ad subita et caligabit, si vastam altitudinem in crepidine eius constitutus despexerit; non est hoc timor, sed naturalis adfectio inexpugnabilis rationi. itaque fortes quidam et paratissimi fundere suum sanguinem alienum videre non possunt. quidam ad vulneris novi, quidam ad veteris et purulenti tractationem inspectationemque succidunt ac linquuntur animo. alii gladium facilius recipiunt quam vident.
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beheben vermag, sondern sie noch deutlicher als solche wahrnehmbar macht. Die Zweitdeutigkeit ist m. E. intendiert. Sen. ep. 57.3 non de me nunc tecum loquor, qui multum ab homini tolerabili, nedum perfecto absum, sed de illo, in quem fortuna ius perdidit: huius quoque ferietur animus, mutabitur color. quaedam enim, mi Lucili, nulla effugere virtus potest: admonet illam natura mortalitatis suae.
Philosophie und Theater
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Denn manchen Empfindungen, mein Lucilius, entkommt keine Tapferkeit; die Natur erinnert einen an seine Sterblichkeit. Deswegen wird man seinen Gesichtsausdruck den traurigen Umständen entsprechend verziehen und bei etwas Plötzlichem erschaudern, und es wird einem dunkel vor den Augen, wenn man in eine unermessliche Tiefe, an ihrem Rand stehend, herunterschaut; dies ist keine Angst, sondern eine natürliche Gemütsbewegung, die die Venunft nicht überwinden kann. Deswegen können manche, die stark sind und in höchstem Maße dazu bereit, ihr eigenes Blut zu vergießen, fremdes nicht sehen. Manche sinken zusammen und werden ohnmächtig beim Sehen einer frischen Wunde, manche beim Sehen der Behandlung einer alten eitrigen Wunde. Anderen fällt es leichter, einen Schwerthieb zu empfangen als zu sehen.
Der durch einen verstörenden Anblick verursachte visuelle Schock sei also keine Schwäche, derer man sich schämen muss, sondern eine unvermeidliche körperliche Reaktion, die auf die Weisheit oder den Mut des Betrachters nicht den geringsten Schatten werfe und die von den – durchaus kontrollierbaren – Regungen in der Psyche (d.h. von den Leidenschaften) unterschieden werden müsse.7 Außerdem hat dieses unangenehme Erlebnis durchaus positive Folgen, denn, wie Seneca nochmals ausdrücklich betont, setzt der visuelle Schock (ictus animi, mutatio) einen Denkprozess in Gang (Sen. ep. 57.6 sensi ergo, ut dicebam, quandam non quidem perturbationem, sed mutationem). Dies vollzieht sich allerdings erst dann, wenn der Reisende sich wieder außerhalb der vermeintlichen Gefahr befindet – beim ersten Anblick des Lichts am Ende des Tunnels (Sen. ep. 57.6):
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Vgl. Sen. Ira 2.2 omnes enim motus qui non voluntate nostra fiunt invicti et inevitabiles sunt, ut horror frigida adspersis, ad quosdam tactus aspernatio; ad peiores nuntios surriguntur pili et rubor ad inproba verba suffunditur sequiturque vertigo praerupta cernentis: quorum quia nihil in nostra potestate est, nulla quominus fiant ratio persuadet. Solche – physischen, natürlichen – Reaktionen unterscheidet Seneca von irrationalen, widernatürlichen Affekten, oder Leidenschaften, die in der Psyche stattfinden (vgl. Stobaeus 2.88, SVF 3.378, LS 56A πάθος δ᾿ εἶναί φασιν ὁρµὴν πλεονάζουσαν καὶ ἀπειθῆ τῷ αἱροῦντι λόγῳ ἢ κίνησιν ψυχῆς ἄλογον παρὰ φύσιν) und durchaus kontrollierbar sind: Sen. ira 2.2 ira praeceptis fugatur; est enim voluntarium animi vitium. Sen. ira 2.3 nam si quis pallorem et lacrimas procidentis et inritationem umoris obsceni altumve suspirium et oculos subito acriores aut quid simile indicium adfectus animi signum putat, fallitur nec intellegit corporis hos esse pulsus. Zur grundsätzlichen Kontrollierbarkeit der psychischen Affekte in der stoischen Psychologie siehe Sorabji (2000), 45-47. Obwohl Seneca mit Nachdruck dafür plädiert, dass man die Leidenschaften bekämpfen muss, bemüht er sich wiederholt – sowohl in den philosophischen Schriften, als auch in den Tragödien – darum, beim Rezipienten körperliche, schockartige Reaktionen hervorzurufen, um ihn aufzurütteln und dadurch zum Nachdenken zu zwingen.
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Schock und Erkenntnis rursus ad primum conspectum redditae lucis alacritas rediit incogitata et iniussa. illud deinde mecum loqui coepi, quam inepte quaedam magis aut minus timeremus, cum omnium idem finis est. quid enim interest, utrum supra aliquem vigilarium ruat an mons? nihil invenies. erunt tamen, qui hanc ruinam magis timeant, quamvis utraque mortifera aeque sit: adeo non effectus, sed efficientia timor spectat. Und dann ist beim ersten Anblick des wiedergegeben Lichts auch die Heiterkeit, unüberlegt und aus freien Stücken, zu mir zurückgekehrt. Ich begann darauf hin mit mir selbst Folgendes zu sprechen: Wie sinnlos ist es, dass wir manches mehr oder weniger fürchten, obwohl alles dasselbe Ende hat! Welchen Unterschied gibt es, ob über einen ein Wachthaus oder ein Berg stürzt? Du wirst keinen finden. Dennoch wird es Menschen geben, die das letztere Unglück mehr fürchten werden, obwohl beide gleichermaßen tödlich wären: so sehr achtet die Furcht nicht auf die Wirkung, sondern auf die wirkenden Kräfte.
Obwohl es nach wie vor durchaus nachvollziehbar bleibt, warum die furchteinflößende Dunkelheit des potenziell einsturzgefährdeten Tunnels einen angstähnlichen Zustand verursachen konnte, erweist sich im Nachhinein sowohl dieses Angst(?)erlebnis selbst als auch die Todesangst im Allgemeinen als vollkommen unbegründet. Das Sehen in der Dunkelheit führt also paradoxerweise zur Erleuchtung. Damit endet jedoch der durch die absolute Dunkelheit des Tunnels angespornte Gedankengang noch lange nicht. Seneca tut zunächst so, als würde er seine gerade eben durch die Angst vor dem Einsturz des Tunnels empirisch gewonnene Einsicht vom Tod als gemeinsamem Ende aller Dinge mit der stoischen Lehre parallelisieren, nach der die Seele den Tod eines zerquetschten Körpers auch nicht unbeschadet überleben könne und sogleich zerstreut werde (Sen. ep. 57.7):8 nunc me putas de Stoicis dicere, qui existimant animam hominis magno pondere extriti permanere non posse et statim spargi, quia non fuerit illi exitus liber? Nun glaubst Du, dass ich von den Stoikern rede, die der Meinung sind, die Seele eines Menschen, der von einem großen Gewicht zerquetcht worden ist, könne nicht bestehen bleiben und zerstreue sich sofort, da sie keinen freien Ausgang gefunden habe?
Es stellt sich allerdings heraus, dass diese auf den ersten Blick offensichtliche Analogie gänzlich irreführend ist und dass Seneca die stoische Sicht auf diese 8
Berno (2006), 356-357. Zur Körperlichkeit der Seele im Stoizismus, siehe Long (1996), 224-249; Gill (2010), 153-158.
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Frage vehement ablehnt (Sen. ep. 57.7 ego vero non facio; qui hoc dicunt, videntur mihi errare). Überraschenderweise führt also das, was am Anfang wie eine Antizipation des absoluten Endes aussah, zur Begründung der Unsterblichkeit der Seele. Die Analogie zwischen der Seele und einem festen Körper, der beim Zerquetschen gleichsam pulverisiert wird (spargi), sei laut Seneca wenig plausibel: Die Seele sei eher mit einer feineren Materie – mit dem Feuer, mit der Luft, oder mit einem Blitz – zu vergleichen (Sen. ep. 57.8-9): quemadmodum flamma non potest obprimi, nam circa id effugit, quo urgetur; quemadmodum aer verbere atque ictu non laeditur, ne scinditur quidem, sed circa id, cui cessit, refunditur; sic animus, qui ex tenuissimo constat, deprehendi non potest nec intra corpus effligi, sed beneficio subtilitatis suae per ipsa, quibus premitur, erumpit. quomodo fulmini, etiam cum latissime percussit ac fulsit, per exiguum foramen est reditus, sic animo, qui adhuc tenuior est igne, per omne corpus fuga est. itaque de illo quaerendum est, an possit immportalis esse. hoc quidem certum habe: si superstes est corpori, opteri illum nullo genere posse, quoniam nulla immortalitas cum exceptione est, nec quicquam noxium aeterno est. Vale. Wie die Flamme nicht erstickt werden kann (denn sie entkommt um das herum, wovon sie verdrängt wird), wie die Luft durch Schlag und Stoß nicht verletzt, nicht einmal gespalten wird, sondern um das herum zurückfließt, vor dem sie zurückgewichen ist, so kann auch die Seele, die aus der feinsten Materie besteht, weder festgehalten noch innerhalb des Körpers zerstört werden, sondern dank ihrer Feinheit bricht sie gerade durch das heraus, wodurch sie bedrängt wird. Wie ein Blitz, auch wenn er noch so weit schießt und leuchtet, durch eine kleine Öffnung zurückkehren kann, so entweicht auch die Seele, die noch viel feiner ist als das Feuer, durch jeden Körper. Deswegen muss man bei ihr die Frage stellen, ob sie unsterblich sein kann. Folgendes darfst du auf jeden als sicher betrachten: wenn sie den Körper überlebt, kann sie auf keine Weise zerquetscht werden, da es keine Unsterblichkeit mit Ausnahmen gibt und nichts dem Ewigen schaden kann. Lebe wohl!
Die Reise durch die bedrückende crypta Neapolitana endet also paradoxerweise mit der Unsterblichkeit der Seele. Es erscheint offensichtlich, dass der Verlauf dieser Reise dem Höhlengleichnis aus dem siebten Buch des platonischen Staats einiges zu vedanken hat.9 Das Ziel dieser allegorischen Erzählung besteht bekanntlich darin, die im Großen und Ganzen bereits ausformulierte Ideenlehre zu veranschaulichen:10 Die Schatten, die die Höhlenbewohner auf der Wand ihres Gefängnisses sehen, sind nur ein Sinnbild der visuell wahrnehmbaren, vergänglichen empirischen Welt, während 9 10
Schönegg (1999), 74. Nightingale (2004), 94-98.
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Schock und Erkenntnis
der von der Sonne durchflutete Bereich außerhalb der Höhle, den ein hypothetischer Flüchtling zu Gesicht bekommt, für die unveränderbare Welt der Ideen steht.11 Dem Sonnenschein ausgesetzt, wird der an die Dunkelheit der Höhle gewöhnte Betrachter zunächst kurzfristig geblendet. Nachdem er sich an die neuen Sichtbedingungen gewöhnt hat, kann er aber die obere Welt so sehen, wie sie ist. Die Veränderung (Pl. Rep. 516c6 µεταβολή), die er dabei erlebt, ist jedoch so tiefgreifend, dass ihm bei seiner Rückkehr die Wiedergewöhnung an das Sehen in der Dunkelheit der Höhle schwerfällt und man sogar meinen könnte, er sei von seiner Reise blind zurückgekehrt.12 Bei Seneca findet man zwar auch das Bild einer Reise vor, die durch eine gefängnisähnliche Höhle (nihil illo carcere longius) zum Licht führt, den Reseinden innerlich verändert (vgl. mutatio, µεταβολή) und ihn schließlich die Wahrheit eines im Grunde platonischen Gedankens (diesmal von der Unsterblichkeit der Seele) in einer Art mystischer Vision erkennen lässt. Ansonsten wird hier jedoch das ursprüngliche Erzählmuster einer grundlegenden Inversion unterzogen. Die platonisch angehauchte abstrakte Ansicht dient hier nicht wie in Platons Staat als Ausgangspunkt für ein allegorisches Gedankenexperiment. Ganz im Gegenteil: Die Formulierung dieser Ansicht folgt aus einem Erfahrungsbericht über ein durchaus banales Ereignis. Alles ist bei Seneca dementsprechend bodenständiger, alltäglicher und konkreter: Anstelle des fantastisch verfremdeten Bilds einer dürftig beleuchteten Höhle, die nichts Geringeres als die Welt als solche symbolisiert, haben wir es bei Seneca zunächst mit der Beschreibung eines regnerischen Tages in einer jedem Leser wohl bekannten Gegend zu tun, die in ihrer sofort erkennbaren topographischen Konkretheit geschildert wird. Dieser entscheidende Unterschied geht mit einer Reihe von weiteren Inversionen einher: Im Gegensatz zu Platon beginnt und endet die senecanische Reise in der Welt außerhalb der Höhle (es handelt sich also um keine Anabasis, sondern um eine Katabasis), man wird dabei nicht mit dem blendenden Licht, sondern mit der blendenden Dunkelheit konfrontiert, und die Veränderung, die man beim Verlassen des ungewohnten Ambientes feststellt, führt dazu, dass man die Dinge der eigenen Welt nicht schlechter, sondern besser sieht.
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Pl. Rep. 517a8-b6 ταύτην τοίνυν, ἦν δ᾿ ἐγώ, τὴν εἰκόνα, ὦ φίλε Γλαύκων, προσαπτέον ἅπασαν τοῖς ἔµπροσθεν λεγοµένοις, τὴν µὲν δι᾿ ὄψεως φαινοµένην ἕδραν τῇ τοῦ δεσµωτηρίου οἰκήσει ἀφοµοιοῦντα, τὸ δὲ τοῦ πυρὸς ἐν αὐτῇ φῶς τῇ τοῦ ἡλίου δυνάµει· τὴν δὲ ἄνω ἀνάβασιν καὶ θέαν τῶν ἄνω τὴν εἰς τὸν νοητὸν τόπον τῆς ψυχῆς ἄνοδον τιθεὶς οὐχ ἁµαρτήσει τῆς γ᾿ ἐµῆς ἐλπίδος, ἐπειδὴ ταύτης ἐπιθυµεῖς ἀκούειν. Nightingale (2004), 98-100. Pl. Rep. 516e3-517a4 εἰ πάλιν ὁ τοιοῦτος καταβὰς εἰς τὸν αὐτὸν θᾶκον καθίζοιτο, ἆρ᾿ οὐ σκότους ἂν ἀνάπλεως σχοίη τοὺς ὀφθαλµούς, ἐξαίφνης ἥκων ἐκ τοῦ ἡλίου; [...] καὶ λέγοιτο ἂν περὶ αὐτοῦ ὡς ἀναβὰς ἄνω διεφθαρµένος ἥκει τὰ ὄµµατα, καὶ ὅτι οὐκ ἄξιον οὐδὲ πειρᾶσθαι ἄνω ἰέναι. Nightingale (2004), 102-105.
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Diese umfassende Inversion des platonischen Erzählmusters ist aber nicht allein narratologischer Natur: Sie spiegelt auch eine grundlegend andere – erkennbar stoische – Epistemologie wider. Im Gegensazt zu Platon, für den die Existenz der Ideen als unabdingbare Voraussetzung für jede Form der Erkenntnis gilt,13 besteht laut den Stoikern der Ursprung allen Wissens im Sinneseindruck (φαντασία), dessen Funktionsweise bei Diogenes Laertius auf folgende Weise erklärt wird (Diog. Laert. 7.49-50, LS 39A, SVF 2.52): ἀρέσκει τοῖς Στωικοῖς τὸν περὶ φαντασίας καὶ αἰσθήσεως προτάττειν λόγον, καθότι τὸ κριτήριον, ᾧ ἡ ἀλήθεια τῶν πραγµάτων γινώσκεται, κατὰ γένος φαντασία ἐστί, καὶ καθότι ὁ περὶ συκαταθέσεως καὶ ὁ περὶ καταλήψεως καὶ νοήσεως λόγος, προάγων τῶν ἄλλων, οὐκ ἄνευ φαντασίας συνίσταται. προηγεῖται γὰρ ἡ φαντασία, εἶθ᾿ ἡ διάνοια ἐκλαλητικὴ ὑπάρχουσα, ὃ πάσχει ὑπὸ τῆς φαντασίας, τοῦτο ἐκφέρει λόγῳ. διαφέρει δὲ φαντασία καὶ φάντασµα· φάντασµα µὲν γάρ ἐστι δόκησις διανοίας οἵα γίνεται κατὰ τοὺς ὕπνους, φαντασία δέ ἐστι τύπωσις ἐν ψυχῇ, τουτέστιν ἀλλοίωσις, ὡς ὁ Χρύσιππος ἐν τῷ β` Περὶ ψυχῆς ὑφίσταται. Die Stoiker halten es für richtig, die Lehre vom Sinneseindruck und von der Sinneswahrnehmung besonders hervorzuheben. Laut dieser Lehre ist das Kriterium, das die Wahrheit der Dinge bestimmt, generisch betrachtet ein Sinneseindruck, und die Erklärung des Zustimmens, des Begreifens und des Denkens, die allem anderen vorangehen muss, kann ohne Sinneseindruck nicht zustande kommen. Denn der Sinneseindruck entsteht zuerst, und erst dann drückt der Gedanke, der sich sprachlich äußern kann, mit Worten das aus, was er durch den Sinneseindruck erlebt. Ein Sinneseindruck unterscheidet sich von der Sinnestäuschung (φάντασµα). Eine Sinnestäuschung ist ein vermeintlicher Denkprozess, der zum Beispiel in Träumen stattfindet. Ein Sinneseindruck ist hingegen eine Einprägung auf der Seele, d.h. eine Veränderung, wie Chrysipp in Buch 2 von Über die Seele feststellt.
Der Sinneseindruck (φαντασία)14 ist also als eine Art Einprägung auf der Seele im wörtlichen Sinne des Wortes zu verstehen (τύπωσις ἐν ψυχῇ), die zu einer Veränderung ihres Zustandes (ἀλλοίωσις) führt. Das Wahrgenommene wird, im Gegensatz zu bloßen Einbildungen oder Träumen (φάντασµα), von der Seele als wahr registriert. Die Zustimmung (συγκατάθεσις) zur Wahrhaftigkeit dieses Eindrucks führt zum Begreifen (κατάληψις) seines Gehalts. In vielen Quellen wird der Sinneseindruck, der unmissverständlich und ohne jegliches Hindernis 13 14
Gerson (2009), 30-44. Zum stoischen phantasia-Begriff siehe Long – Sedley (1987), 239-241; Watson (1988), 38-58; Brennan (2005), 51-61; Wildberger (2006b), 154-157. Weitere Quellen findet man in Long – Sedley (1987), 238-243.
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als wahr verstanden werden kann, mit dem Begriff φαντασία καταληπτική (kognitiver Sinneseindruck) bezeichnet, die Sextus Empiricus so beschreibt (Sext. Emp. M. 7.255, LS 40K):15 ἐνθένδε οὐχ ἁπλῶς κριτήριον γίνεται τῆς ἀληθείας ἡ καταληπτικὴ φαντασία, ἀλλ᾿ ὅταν µηδὲν ἔνστηµα ἔχῃ. αὕτη γὰρ ἐναργὴς οὖσα καὶ πληκτικὴ µόνον οὐχὶ τῶν τριχῶν, φασί, λαµβάνεται, κατασπῶσα ἡµᾶς εἰς συγκατάθεσιν, καὶ ἄλλου µηδενὸς δεοµένη εἰς τὸ τοιαύτη προσπίπτειν ἢ εἰς τὸ τὴν πρὸς τὰς ἄλλας διαφορὰν ὑποβάλλειν. Deshalb ist der kognitive Sinneseindruck nicht als das Kriterium der Wahrheit im Allgemeinen zu betrachten, sondern nur dann, wenn er kein Hindernis hat. Dieser Sinneseindruck, deutlich und kraftvoll, greift uns fast, wie man sagt, an den Haaren und zwingt uns zur Zustimmung, ohne dass er irgendwas anderes braucht, um diese Wirkung zu erreichen oder den Unterschied zu anderen Sinneseindrücken bemerkbar zu machen.
Dem auf diesem Wege eindeutig Begriffenen wird eine sprachliche Form (λεκτόν) verliehen,16 durch die sich das Denken (διάνοια) überhaupt erst äußern kann. Nach diesem Schema entstehen aber nicht nur konkrete Vorstellungen von den in der empirischen Welt sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen, sondern auch – durch einen übertragenen Gebrauch von konkreten Wahrnehmungen – abstrakte Konzepte.17 In der Sinneswahrnehmung liegt aber letztendlich der Ursprung nicht nur des Denkens, sondern auch des Handelns,18 das die Stoiker auch daraus ableiten, dass man einem Sinneseindruck zustimmt (φαντασία ὁρµητική).19 Der in Senecas 57. Brief vorgeführte Erkenntnisprozess illustriert dieses stoische Gedankengut an einem konkreten Beispiel. Der Sprecher nimmt hier 15 16 17
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Dazu siehe Reed (2002); Gerson (2009), 100-111. Die wichtigsten Quellen zum stoischen Konzept von λεκτά sind in Long – Sedley (1987), 196-204 gesammelt. Siehe auch Wildberger (2006b), 133-201. Vgl. Cic. Acad. 2.21 atqui qualia sunt haec quae sensibus percipi dicimus talia secuntur ea quae non sensibus ipsis percipi dicuntur sed quodam modo sensibus, ut haec: ‚illud est album, hoc dulce, canorum illud, hoc bene olens, hoc asperum’. animo iam haec tenemus comprehensa non sensibus. ‚ille’ deinceps ‚equus est, ille canis’. Vgl. Sen. ep. 113.18 omne rationale animal nihil agit, nisi primum specie alicuius rei inritatum est, deinde adsensio confirmavit hunc impetum. quid sit adsensio, dicam. oportet me ambulare: tunc demum ambulo, cum hoc mihi dixi et adprobavi hanc opinionem meam; oportet mihi sedere: tunc demum sedeo. Wildberger (2006a), 7779. Stobaeus 2.88.2-6 πάσας δὲ τὰς ὁρµὰς συγκαταθέσεις εἶναι, τὰς δὲ πρακτικὰς καὶ τὸ κινητικὸν παρέχειν. Wildberger (2006b), 338-340. Zu Affekten als “Folge einer irrigen Zustimmung zu Hinbewegungserscheinungen” siehe Wildberger (2006b), 212214.
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auch zunächst nur einen – besonders starken, geradezu erschütternden – Sinneseindruck wahr. Der ictus animi, der laut Seneca durch diese φαντασία verursacht wird, entspricht ziemlich genau der stoischen τύπωσις ἐν ψυχῇ, während die mutatio, die Seneca anschließend zu erleben meint, an die ἀλλοίωσις denken lässt, die laut den Stoikern als Folge einer φαντασία eintritt. Senecas Betonung der außerordentlichen Stärke dieses Sinneseindrucks erinnert weiterhin an Sextus’ Schilderung der φαντασία καταληπτική als einer unwiderstehlichen physischen Macht. Senecas Text lässt sich aus dieser Perspektive als eine literarisch bearbeitete Version des ursprünglichen λέκτον betrachten, aus dem sich eine Reihe von weiteren διάνοιαι entwickelt. Seneca serviert uns also in diesem Brief eine vollkommen homogene Mischung aus platonischen und stoischen Elementen. Er verwirft ausdrücklich die stoische Vorstellung von einer dem sterblichen Körper ähnlichen Seele, um sich durch die Umgestaltung eines der berühmtesten platonischen Erzählmuster zur platonisierenden Ansicht über die Unsterblichkeit der Seele zu bekennen. Diese Umgestaltung erfolgt jedoch auf der epistemologischen Grundlage des stoischen φαντασία-Konzepts, das erkenntnistheoretisch als das Gegenteil der platonischen Ideenlehre betrachtet werden kann.20 Der letzte Schritt – der Übergang von der Sterblichkeit des Körpers zur Unsterblichkeit der Seele – lässt sich dann nicht mehr eindeutig zuordnen: Einerseits könnte man diesen Übergang als Zustimmung zu einem besonders starken Sinneseindruck deuten, die – durchaus im Einklang mit dem stoischen Denken – zur Entstehung, oder eher zur Bekräftigung, eines abstrakten Konzepts führt; andererseits erfolgt diese Erkenntnis wie eine Art mystischer Offenbarung – wie eine platonische θεωρία, bei der man das Licht der Wahrheit unvermittelt sehen kann.21 Die Reise durch die crypta Neapolitana führt zwar also unmissverständlich zu Platon.22 Paradoxerweise gelangt Seneca dorthin auf einem – zumindest zum Teil – erkennbar stoischen Umweg. Besonders auffällig ist an diesem Text, dass Seneca hier keinen Versuch unternimmt, die von ihm bevorzugte Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele durch eine logisch stringente Argumentation zu untermauern. Anstelle eines philosophischen Beweises haben wir es hier mit einer auf den ersten Blick rein kontingenten Reihe von Bildern und Konzepten zu tun, die jedoch bei näherer Betrachtung bedeutungsträchtige assoziative Verknüpfungen bilden. Der feine Staub, der dadurch besonders lästig (res gravis et molesta) wirkt, dass er in einem Tunnel ohne natürliche Ventilation eingeschlossen ist (cum sine ullo 20 21 22
Gerson (2009), 90-91. Nightingale (2004), 107-118. Es ist symptomatisch, dass Seneca im nächsten – dem 58. – Brief die platonische Ontologie behandelt. Darum betrachtet Beat Schönegg (1999), 73-76, den 57. Brief als einen „Durchbruch zu Platon.“ Zum 58. Brief siehe Schönegg (1999), 77-107. John Henderson (2006) bietet eine noch breitere Auffassung des symbolischen (vor allem des metaliterarischen) Gehalts des 57. Briefes an und betrachtet ihn im Kontext der senecanischen „journey of a lifetime.“
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spiramento sit inclusus), findet eine zwar indirekte, doch im Wesentlichen erkennbare, Entsprechung in der stoischen Vorstellung von einer gleichsam pulverisierten Seele, die verstreut wird (spargi), weil ihr ein natürlicher Weg, den Körper zu verlassen, verwehrt bleibt (quia non fuerit illi exitus liber). Der zu einer mutatio führende ictus animi, den der Sprecher als Folge der absoluten – durch den Staub noch weiter verstärkten – Dunkelheit des Tunnels erlebt, hallt in der Beschreibung der Luft wider, die sich an jeden ihr im Weg stehenden Gegenstand anpasst (circa id, quod cessit, refunditur) und mit der die unsterbliche Seele verglichen wird (quemadmodum aer verbere atque ictu non laeditur ... sic animus ... erumpit). Die in diesem Brief geschilderte Reise, die von der notorischen Unbeständigkeit des Wassers (ut possim videri ... navigasse) über die durch den Staub intensivierte Finsternis zum Tageslicht am Ende des Tunnels (rursus ad primum conspectum redditae lucis) führt, ist also gleichzeitig eine Reise weg von der zweifelhaften, den Verstand verdunkelnden Vorstellung von einer staubähnlichen sterblichen Seele hin zur erhellenden Vorstellung von einer feuer- bzw. luftähnlichen unsterblichen Seele. Die konsequente Parallelisierung zwischen visuell wahrnehmbaren Phänomenen und abstrakten Konzepten lässt letztendlich den Schluss, der hier nicht einmal direkt formuliert, sondern nur angedeutet wird, besonders plausibel erscheinen: So wie man das Eingeschlossensein in einem furchterregenden – verstaubten und einsturzgefährdeten – Kerker überleben kann, so kann eventuell auch die Seele nach dem Tod des zerbrechlichen menschlichen Körpers weiter leben. Dadurch wird die Unsterblichkeit der Seele keineswegs bewiesen. Das von Seneca geschilderte Erlebnis lässt diese Ansicht lediglich als wahrscheinlich gelten. Die suggestive Rhetorik seines Textes verfolgt aber das Ziel, den Leser dieses Erlebnis nachempfinden zu lassen und ihn schließlich zur Akzeptanz der dadurch zum Vorschein kommenden Wahrheit zu verleiten. Die Visualisierung eines relativ banalen konkreten Ereignisses soll also den Rezipienten zur Zustimmung zu einem abstrakten Konzept bringen. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, dass die Fähigkeit der literarischen Sprache, starke Sinneseindrucke (φαντασίαι) beim Rezipienten hervorzurufen, eine wichtige Rolle in der antiken rhetorischen Theorie spielt. Die stoische Vorstellung davon, dass die Sinneswahrnehmung spontan zur Gedankenproduktion führt, wird in der rhetorischen Theorie als Mittel zur bewussten Beeinflussung des Rezipienten durch den Redner uminterpretiert.23 Im Traktat Über das Erhabene findet man ein klares Zeugnis des Bedeutungswandels dieses Begriffs (Ps.-Longin. Subl. 15.1):24
23 24
Webb (2009), 107-130. Webb (2009), 115-119. Im Gegensatz zu mir betont sie jedoch in erster Linie die Unterschiede zwischen dem philosophischen und dem rhetorischen Gebrauch des Begriffs.
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καλεῖται µὲν γὰρ κοινῶς φαντασία πᾶν τὸ ὁπωσοῦν ἐννόηµα γεννητικὸν λόγου παριστάµενον· ἤδη δ᾿ ἐπὶ τούτων κεκράτηκε τοὔνοµα ὅταν ἃ λέγεις ὑπ᾿ ἐνθουσιασµοῦ καὶ πάθους βλέπειν δοκῇς καὶ ὑπ᾿ ὄψιν τιθῇς τοῖς ἀκούουσιν. Generell versteht man unter einem Sinneseindruck jede erdenkliche Form des Gedankens, der zur Entstehung der Rede führt. Doch wird dieser Begriff heutzutage überwiegend in den Fällen benutzt, wenn du das, was du im Zustand einer leidenschaftlichen Entzückung sagst, zu sehen glaubst und den Zuhörern vor Augen führst.
Nach dieser Definition wird der philosophische φαντασία-Begriff (die erste Definition) in der rhetorischen Theorie mehr oder weniger zum Synonym von ἐνάργεια (die zweite Definition) – der Fähigkeit der Rede, das Beschriebene vor den Augen des Zuhörers so deutlich erscheinen zu lassen, als sei es tatsächlich da.25 In diesem Zusammenhang sei nochmals besonders betont, dass die auffälligste Eigenschaft einer φαντασία καταληπτική (eines Sinneseindrucks, der den Empfänger gleichsam zur Erkenntnis zwingt) laut Sextus Empiricus gerade darin besteht, dass sie ἐναργής (deutlich) sei.26 Bezeichnenderweise besitzten laut Quintilian die fiktiven φαντασίαι, die durch sprachliche ἐνάργεια erzeugt werden, genau diese Fähigkeit, den Rezipienten unterschwellig zur Zustimmung zum Gesichtspunkt des Redners zu zwingen (Quint. Inst. 6.2.29-30): at quo modo fiet ut adficiamur? neque enim sunt motus in nostra potestate. temptabo etiam de hoc dicere. quas φαντασίας Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene ceperit is erit in adfectibus potentissimus. quidam dicunt εὐφαντασίωτον qui sibi res voces actus secundum verum optime finget: quod quidem nobis volentibus facile continget; nisi vero inter otia animorum et spes inanes et velut somnia quaedam vigilantium ita nos hae de quibus loquor imagines prosecuntur ut peregrinari navigare proeliari, populos adloqui, divitiarum quas non habemus usum videamur disponere, nec cogitare sed facere: hoc animi vitium ad utilitatem non transferemus. Aber wie kommt es, dass wir beeinflusst werden? Die Gemütsbewegungen stehen doch nicht in unserer Gewalt! Ich werde versuchen auch davon zu sprechen. Das, was die Griechen φαντασίαι nennen – wir könnten sie als visiones bezeichnen –, durch die die Bilder abwesender Dinge dem Geist so dargestellt werden, dass wir meinen, sie vor Augen zu sehen und 25
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Anon. techn. 96 ἔστι δὲ ἐνάργεια λόγος ὑπ᾿ ὄψιν ἄγων τὸ δηλούµενον. Ps.Hermogenes, Progymnasmata, p. 22, 1.10 ἔκφρασίς ἐστι λόγος περιηγηµατικὸς ἐναργῶς ὑπ᾿ ὄψιν ἄγων τὸ δηλούµενον. Weitere Texte in Lausberg (1960), 399-401. Vgl. Elsner (1995), 25-28; Goldhill (2007), 3-7. Sext. Emp. M. 7. 255, siehe oben. Vgl. Staley (2010), 62-63.
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Schock und Erkenntnis sie wie leibhaftig vor uns zu haben: jeder, der diese gut erfasst hat, wird in der Beeinflussung der Gemütsbewegungen am stärksten sein. Manche nennen den εὐφαντασίωτος, der sich ein Bild von Dingen, Stimmen und Vorgängen, so wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, am besten machen kann. Und das kann uns, wenn wir wollen, leicht gelingen. Es ist doch so, dass uns in Zeiten der Muße, wenn wir uns leeren Hoffnungen hingeben und gleichsam am Tag träumen, solche Phantasiebilder so lebhaft erscheinen, als würden wir reisen, mit dem Schiff fahren, fechten, eine Volksansprache halten oder über Reichtümer, die wir nicht besitzen, verfügen, und das alles nicht in Gedanken, sondern in der Wirklichkeit. Sollen wir nicht aus dieser Schwäche des Geistes einen Gewinn machen?
Was Quintilian in dieser Passage beschreibt, ist der durch Rhetorik ermöglichte Prozess einer gezielten Transformation dessen, was die Stoiker höchstwahrscheinlich als φάντασµα bezeichnen würden (einer bloßen Einbildung oder eines Traums), in eine Art φαντασία καταληπτική.27 Die realitätsähnlichen φαντασίαι zweiten Grades, von denen er hier spricht, führen einem das Geschilderte so deutlich vor Augen, als könnte man es tatsächlich sehen.28 Solche φαντασίαι können aber nicht nur einen ähnlich starken Effekt wie unmittelbare Sinneswahrnehmungen erzeugen, denen man in der empirischen Realität ausgesetzt wird,29 sondern eventuell sogar einen stärkeren, denn im Unterschied zu einem unkontrollierbaren Fluss von Sinneswahrnehmungen werden die rhetorischen φαντασίαι gezielt eingesetzt, um die Wahrnehmung des Rezipienten zu manipulieren.30 In der rhetorischen Theorie wird also aus einer leeren Einbildung ein lebhaftes – wenn auch fingiertes – Erlebnis, das den Rezipienten (in Quintilians Fall – den Richter)31 nicht nur emotional bewegt, sondern ihn auch zu einer bestimmten Handlung verleitet (zum vom Redner angestrebten Urteilsspruch). In 27
28
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Es ist dabei besonders bezeichnend, dass eins der von Quintilian erwähnten Synonyme für ἐνάργεια ὑποτύπωσις heißt (Quint. Inst. 9.2.4 ab aliis ὑποτύπωσις dicitur proposita quaedam forma rerum ita expressa, ut cerni potius videatur quam audiri), was an die stoische Vorstellung von φαντασία als einer τύπωσις ἐν ψυχῇ erinnert. Quint. Inst. 6.2.32 insequetur ἐνάργεια, quae a Cicerone illustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere; et affectus non aliter quam si rebus ipsis intersimus sequentur. Webb (2009), 131-165. Pseudo-Longin geht sogar so weit, den Überzeugungseffekt einer gekonnt eingesetzten rhetorischen phantasia mit einer Versklavung des Zuhörers gleichzusetzen: Ps.Longin. Subl. 15.9 τί οὖν ἡ ῥητορικὴ φαντασία δύναται; πολλὰ µὲν ἴσως καὶ ἄλλα τοῖς λόγοις ἐναγώνια, κατακιρναµένη µέντοι ταῖς πραγµατικαῖς ἐπιχειρήσεσιν οὐ πείθει τὸν ἀκροατὴν µόνον, ἀλλὰ δουλοῦται. Goldhill (2007), 4. Quint. Or. 6.2.27 quare, in iis quae esse veri similia volemus, simus ipsi similes eorum qui vere patiuntur adfectibus, et a tali animo proficiscatur oratio qualem facere iudici volet.
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der stoischen Begrifflichkeit würde dies bedeuten, dass die Zustimmung (συγκατάθεσις) des Rezipienten zu einem zwar fiktiven, dennoch als real empfundenen Sinneseindruck bei ihm eine φαντασία ὁρµητική erzeugen kann. Die rhetorische Strategie von Senecas 57. Brief scheint genau diesen theoretischen Hintergrund widerzuspiegeln. In diesem im Grunde ekphrastischen Text führt Seneca seinen Lesern mit allen Mitteln der ἐνάργεια den geschilderten Sinneseindruck vor Augen. Dadurch entsteht eine φαντασία zweiten Grades (also eine Art Fiktion), die jedoch so lebhaft ist, dass man als Leser das geschilderte Erlebnis mitzuerleben glaubt. Durch Senecas kunstvolle Rhetorik, die den Leser dazu auffordert, an der Herauskristallisierung des Sinnes aktiv mitzuwirken – eigene Verknüpfungen zwischen zahlreichen Bildern und Konzepten herzustellen –, etwickelt dieser literarisch vermittelte Sinneseindruck eine besonders starke emotionale und intellektuelle Wirkung. Das eigentliche Ziel dieser Rhetorik besteht aber in erster Linie darin, den Leser so zu beeinflussen,32 dass er den Standpunkt des Autors (in diesem Fall hinsischtlich der Unsterblichkeit der Seele) übernimmt und künftig im Einklang mit dieser Erkenntnis handelt. Als Folge transformiert sich ein φάντασµα in eine φαντασία ὁρµητική. In diesem Brief sieht man in nuce die Essenz der Rhetorik des Sehens, die Senecas philosophische Schriften im Allgemeinen prägt. Seine sonstigen Prosaschriften – insbesondere die Briefe – sind bekanntlich auch keine trockenen Vorlesungen über die Dogmen der stoischen Philosophie, sondern außerordentlich kunstvolle literarische Werke, die Senecas eigenen Versuch, ein sinnvolles philosophisches Leben zu führen, dokumentieren und dadurch das Ziel verfolgen, jedem, der einen ähnlichen Versuch unternehmen will, praktische Hilfe zu leisten.33 Genauso wie in diesem Brief tendiert Seneca dabei oft dazu, sowohl auf eine logisch stringente Beweisführung als auch auf ungeteilte Treue gegenüber der stoischen Orthodoxie zu verzichten. Stattdessen betont er wiederholt, dass logische Feinheiten zu seinem durch und durch praktischen Ziel (zur Bekämpfung der Affekte, zum Erlernen der Fähigkeit, das Wesentliche vom Nebensächlichen – von den adiaphora – zu unterscheiden und das Leben im Einklang mit der Natur zu führen, usw.)34 nichts Greifbares beitragen, davon ja gar ablenken. Was nützt es, wundert sich Seneca, sich mit solchen für die stoische Ethik zwar zentralen, für das eigene Leben jedoch vollkommen nebensächlichen Fragen zu beschäftigen wie der Frage nach der Körperlichkeit des Guten?35 Oder mit der Frage, ob Gerechtigkeit und sonstige philosophische 32 33 34 35
Vgl. Quintilians adficere und Senecas rhetorische Instrumentalisierung der ursprünglichen naturalis adfectio inexpugnabilis rationi. Zur Therapie in Senecas Briefen siehe z.B. Graver (1996); in De ira, Nussbaum (1994), 402-438; im Stoizismus im Allgemeinen, Sorabji (2000), 159-300. Zu den wichtigsten Elementen der stoischen Lebensphilosophie siehe Brennan (2005). Vgl. Wildberger (2006b). Sen. ep. 106.3, 10-12 quae sint haec interrogas? quae scire magis iuvat quam prodest, sicut hoc, de quo quaeris: bonum an corpus sit? [...] bonum corporis corpo-
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Abstrakta beseelte Wesen sind?36 Kann man mit einem Syllogismus, wie es die Schriften der frühen Stoiker zu implizieren scheinen, die Todesangst besiegen (Sen. ep. 82.20-22)?37 Oder kann man wirklich, wie Zenon es versuchte, jemanden vom überflüssigen Alkoholkonsum mit Mitteln der Formallogik abhalten (Sen. ep. 83.9)? Anstatt sich in solchen leeren Worthülsen zu ergehen, die nur an den Intellekt appellieren, muss man als Philosoph, wenn man wirklich helfen will, anschauliche und bewegende Bilder kreieren, die dadurch ihre heilsame Wirkung entfalten, dass sie einem das Geschilderte gleichsam vor Augen führen und dadurch die Emotionen ansprechen (vgl. Sen. ep. 83.27 deformitatem rei et inportunitatem ostende rebus, non verbis).38 Mehr noch: Immer wieder betont Seneca mit Nachdruck, dass der Weg zu einem sinnvollen philosophischen Leben nicht nur über die Aneignung von stoischen Glaubenssätzen führt, denn das Ziel, das er in seinen Schriften verfolgt, besteht schließlich nicht darin, eine möglichst widerspruchlose Begründung der stoischen Philosophie anzubieten, sondern darin, zu zeigen, wie man eklektische Fragmente fremden Wissens so miteinander verbinden kann, dass sie
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rale est, bonum hominis et corporis bonum est: itaque corporale est. quoniam, ut voluisti, morem gessi tibi, nunc ipse dicam mihi, quod dicturum esse te video: latrunculis ludimus. in supervacuis suptilitas teritur: non faciunt bonos ista, sed doctos. apertior res est sapere, immo simpliciter satius est ad mentem bonam uti litteris, sed nos ut cetera in supervacuum diffundimus, ita philosophiam ipsam. quemadmodum omnium rerum, sic litterarum intemperantia laboramus: non vitae, sed scholae discimus. Sen. ep. 113.1 desideras tibi scribi a me, quid sentiam de hac quaestione iactata aput nostros: an iustitia, fortitudo, prudentia ceteraeque virtutes animalia sint. hac suptilitate effecimus, Lucili carissime, ut exercere ingenium inter inrita videamur et disputationibus nihil profuturis otium terrere. faciam quod desideras, et quid nostris videantur, exponam. sed me in alia esse sententia profiteor: puto quaedam esse, quae deceant phaecasiatum palliatumque. Hamacher (2006). Die Enttäuschung moderner Philologen und – vor allem – Philosophiehistoriker wegen Senecas Vorliebe für rhetorische Argumentation ist dabei ziemlich bezeichnend. Vgl. Cooper (2006), 55: „My complaint is that sometimes [...] Seneca so completely cuts off the basis on which he is encouraging his addressee to live from the reasons provided by Stoic philosophical theory for living that way, that it becomes highly questionable whether they can be making real progress toward virtue and the fully happy life if they follow him. Anyone who is making progress toward that goal, and wishes to make further progress, must never lose sight of the fact that the only way to do so is to increase their understanding of just why those ways of deciding, acting and living are the right and best ones.“ Ähnlich sieht auch Hijmans (1991) in Senecas philosophischem Schrifttum „stylistic splendor, failure to persuade“ und begründet damit seine „increasingly unfavourable reaction to the prose work of this author as it lies before us“ (36). Zur zentralen Rolle der bildlichen Sprache für Senecas philosophisch-pädagogisches Programm siehe Armisen-Machetti (1989).
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zu einem einheitlichen – eigenen, praktisch einsetzbaren – Wissen werden.39 Jede philosophische oder literarische Quelle (nicht nur Pythagoras, Platon oder Epikur, den Seneca mit besonderer Vorliebe zitiert, sondern auch Vergil und sogar Verse aus dem römischen Mimus – der niedrigsten Gattung des unterhaltsamen Volkstheaters) sei zu begrüßen, solange sie zur Verfestigung der eigenen ethischen Ansichten und somit zur Verbesserung des eigenen Lebens beitrage.40 Es darf dabei jedoch nicht darum gehen, ein möglichst umfangreiches philosophisches Wissen anzusammeln. Ganz im Gegenteil: Die Fähigkeit, Meinungen alter Autoritäten zu zitieren, sei nichts wert, es sei denn man nutze sie dafür, seine eigene – für das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit relevante – Meinung zu bilden.41 Seneca beschwert sich weiterhin über Philosophen, die sich mit technischen Fragen beschäftigen, denn sie verdunkeln vielmehr die Wahrheit, anstatt sie sichtbar zu machen.42 Gelegentlich weist er auf seine ideale Vorstellung davon hin, wie man das Licht der Wahrheit am besten wahrmehmen müsste: Diese Vorstellung ähnelt, wie es auch im 57. Brief der Fall war, dem im Grunde platonischen Bild einer mystisch-religiösen Betrachtungsweise, bei der man wie bei einem Initiationsritus die Wahrheit als Ganzes auf einmal aufnimmt.43 So eine Betrachtung ist jedoch nur für einen – rein hypothetischen – stoischen Weisen möglich. Für den Rest der Menschheit gilt stattdessen Folgendes (Sen. ep. 89.2): 39 40
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Siehe z.B. den Vergleich zwischen einem Philosophiestudenten und einer Biene in Sen. ep. 84.4-7. Vgl. Schönegg (1999), 69-72. Sen. ep. 8.8 potest fieri, ut me interroges, quare ab Epicuro tam multa bene dicta referam potius quam nostrorum. quid est tamen, quare tu istas Epicuri voces putes esse, non publicas? quam multi poetae dicunt, quae philosophis aut dicta sunt aut dicenda! non adtingam tragicos nec togatas nostras. habent enim hae quoque aliquid severitatis et sunt inter comoedias ac tragoedias mediae. quantum dissertissimorum versuum inter mimos iacet! Sen. ep. 33.7-8 ‚hoc Zenon dixit’: tu quid? ‚hoc Cleanthes’: tu quid? quousque sub alio moveris? [...] aliud enim est meminisse, aliud scire. meminisse est rem commissam memoriae custodire. at contra scire est sua facere quaeque nec ad exemplar pendere et totiens respicere ad magistrum. Sen. ep. 88.45 illi mihi non profuturam scientiam tradunt, hi spem omnis scientiae eripiunt. satius est supervacua scire quam nihil. illi non praeferunt lumen, per quod acies dirigatur ad verum; hi oculos mihi effodiunt. Sen. ep. 89.1-2 utinam quidem quemadmodum universa mundi facies in conspectum venit, ita philosophia tota nobis posset occurrere, simillimum mundo spectaculum. [...] sapientis quidem animus totam molem eius amplectitur nec minus illam velociter obit quam caelum acies nostra. Im 90. Brief (insb. Sen. ep. 90.28-29) vergleicht Seneca die Betrachtung der philosophischen Wahrheit mit einem Initiationsritus, was an den religiösen Ursprung des platonischen θεωρία-Begriffs erinnert. Vgl. Nightingale (2004), 40-71. Zur Rolle des Sehens im Erkenntinisprozess in Senecas philosophischen Schriften siehe Solimano (1991), insbesodere das Kapitel „Visione e conoscenza“ (92-103).
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Schock und Erkenntnis nobis autem, quibus perrumpenda caligo est et quorum visus in proximo deficit, singula quaeque ostendi facilius possunt nondum universi capacibus. Uns aber, die wir die Dunkelheit erst zerreißen müssen und deren Sehvermögen sogar in nächster Nähe versagt, können Einzelheiten leichter sichtbar gemacht werden, unfähig wie wir sind, das Ganze wahrzunehmen.
Um das Ganze zu verstehen, muss man also jede Einzelheit getrennt betrachten. Der Nebel, der unsere Sicht darauf behindert, kann sicherlich entweder durch eine philosophische Analyse oder durch moralische Vorschriften (praecepta, decreta) beseitigt werden.44 Das ist aber nicht die einzige – und bei weitem nicht die wichtigste – pägagogische Methode, die Seneca in seinen philosophischen Schriften benutzt. Eine weitere, aus Senecas Sicht wesentlich wirksamere Methode, für die er in mehreren Passagen plädiert, besteht in der Paränese – einer mit Überzeugung vorgetragenen Ermahnung, die den Zuhörer bzw. den Leser direkt dazu animieren soll, seine Ansichten und sein Leben zu ändern.45 Und schließlich gibt es noch die – von Seneca besonders beliebte – Methode, die wir im 57. Brief bereits beobachteten und die sich weder auf Dialektik noch auf Predigt, sondern auf visualisierende Rhetorik stützt. In unzähligen Passagen der philosophischen Schriften Senecas werden philosophische Ansichten durch ein ähnliches ekphrastisches Procedere wie im 57. Brief beleuchtet – also nicht logisch bewiesen, sondern ledeglich sichtbar und dadurch gleichsam erlebbar gemacht. Immer wieder begegnen wir bei Seneca Passagen, die das Bild eines konkreten Gegenstands oder Orts evozieren und dieses Bild anschließend zur Veranschaulichung einer abstrakten Vorstellung benutzen. Die detaillierte Beschreibung der Villa eines gewissen Vatia im 55. Brief entpuppt sich zum Beispiel als Sinnbild einer sinnlosen, todesähnlichen Trägheit, die dem philosophischen Ideal des otium entgegengesetzt ist;46 die Erwähnung von Pompeji am Anfang des 70. Briefes ruft bei Seneca Jugenderinnerungen wach, die ihn gleichzeitig an die Vergänglichkeit des Lebens erinnern und schließlich zur einer allgemeinen Reflexion über Leben, Tod und Selbstmord führen;47 Lucilius’ Bericht von seinem Vorhaben, den Aetna zu besteigen, bringt Seneca im 79. Brief zunächst zur Besprechung einer von Seemännern 44
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46 47
Zur Bedeutung der philosophischen Analyse für die stoische Therapie siehe Sorabji (2000), 159-168. Zur Rolle der praecepta und decreta in Senecas philosophischen Schriften siehe Mitsis (1993); Schafer (2009), 85-109. Siehe vor allem Sen. ep. 95.1 (haec pars philosophiae, quam Graeci paraeneticen vocant) und 108. Jula Wildberger (2006a), 86-88, sieht in der Paränese das wichtigste Element der pädagogischen Methode Senecas („exhortation as a cause of grasping“). Henderson (2004), 62-92, Hönscheid (2004), 96-139; Berno (2006), 159-231. Evenepoel (2004), 223-226; Ker (2009), 248-258.
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angeblich beobachteten physischen Eigenschaft des Berges (seiner sich graduell verringernden Größe), dann zum Aetna als Thema für eine poetische Ekphrasis, die Lucilius zu schreiben vorhat und die, wie Seneca beteuert, den Werken seiner Vorgänger in nichts nachstehen wird (par prioribus), und schließlich zur Vorstellung vom Erklimmen der Tugend – einem Vorhaben, bei dem sich alle darum bemühen, einander zu übertreffen, obwohl sie ein gemeinsames – gleich großes – Ziel verfolgen (Sen. ep. 79.8 cum ad summum perveneris, paria sunt, non est incremento locus, statur).48 Ekphraseis stellen jedoch nicht das einzige Mittel dar, das Seneca verwendet, um philosophische Abstraktionen anschaulich darzustellen. Ein weiteres Mittel besteht darin, dass man sie durch exempla – kurze, vor allem historische Erzählungen – illustriert. Seneca demonstriert nicht nur in seiner literarischen Praxis eine außerordentliche Vorliebe für solche erbaulichen Anekdoten,49 sondern reflektiert auch theoretisch über ihr Nutzen für den philosophischen Fortschritt (Sen. ep. 6.5): plus tamen tibi et viva vox et convictus quam oratio proderit; in rem praesentem venias oportet, primum quia homines amplius oculis quam auribus credunt, deinde quia longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla. Doch wird dir die lebendige Stimme und das Beisammensein noch mehr nützen als eine niedergeschriebene Rede. An den Ort des Geschehens musst du gehen, erstens weil Menschen ihren Augen mehr Glauben schenken als ihren Ohren, und zweitens weil der Weg über Vorschriften lang ist, der über Vorbilder kurz und wirksam.
Der Grund, warum exempla eine effizientere Methode als eine auf reinen Vorschriften basierende Belehrung darstellen, besteht also darin, dass sie, genauso wie ekphrastische Passagen, den Leser bzw. Zuhörer in eine Art Zuschauer verwandeln: Sie lassen ihn das Geschilderte gleichsam mit seinen eigenen Augen (oculis) sehen.50 Deskriptive oder narrative Veranschaulichungen können zwar die gleiche Bedeutung haben wie Vorschriften. Sie sind aber dadurch wirksamer, dass sie einem das Geschilderte wie in einem Theaterstück
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Schönegg (1999), 179-194. Eine Untersuchung der Quellen, der narrativen Technik und der rhetorischen Funktion von Senecas historischen exempla findet man in Mayer (1991). Vgl. auch Sen. Marc. 2-3 scio a praeceptis incipere omnis qui monere aliquem volunt, in exemplis desinere. Mutari hunc interim morem expedit; aliter enim cum alio agendum est: quosdam ratio ducit, quibusdam nomina clara opponenda sunt et auctoritas quae liberum non relinquat animum ad speciosa stupentibus. duo tibi ponam ante oculos et sexus et saeculi tui exempla.
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direkt vor Augen führen und dadurch die Nachahmung erleichtern,51 wie Seneca in seiner Zusammenfassung von Posidonius’ pädagogischen Ansichten betont (Sen. ep. 95.65-66): ait utilem futuram et descriptionem cuiusque virtutis; hanc Posidonius ethologian vocat, quidam characterismon appellant, signa cuiusque virtutis ac vitii et notas reddentem, quibus inter se similia discriminentur. haec res eandem vim habet quam praecipire; nam qui praecipit dicit ‚illa facies si voles temperans esse’, qui describit ait ‚temperans est qui illa facit, qui illis abstinet’. quaeris quid intersit? alter praecepta virtutis dat, alter exemplar. descriptiones has et, ut publicorum utar verbo, iconismos ex usu esse confiteor: proponamus laudanda, invenietur imitator. Er meint auch, die Beschreibung jeder einzelnen Tugend werde auch nützlich sein. Dieses Verfahren nennt Posidonius ethologia, andere bezeichnen es als charakterismos, da es die charakteristischen Merkmale jeder Tugend und jedes Fehlverhaltens wiedergibt, die dazu dienen, ähnliche Erscheinungen voneinander zu unterscheiden. Dies hat dieselbe Wirkung wir die Vorschriften; denn wer Vorschriften erteilt, sagt: „Dies wirst du tun, wenn du enthaltsam sein willst,“ und wer beschreibt, sagt: „Enthaltsam ist, wer dies tut, wer auf diese Sachen verzichtet.“ Fragst du, worin der Unterschied besteht? Der eine erteilt Vorschriften für eine Tugend, der andere zeigt ein Vorbild. Ich gestehe, dass solche Beschreibungen, oder, um den Begriff der Steuerpächter zu verwenden, ikonismoi, nützlich sind: Wenn wir Lobenswertes anschaulich machen, wird sich schon ein Nachahmer finden.
Nicht nur Anekdoten über allseits bekannte historische Figuren werden in Senecas philosophischen Schriften zur Veranschaulichung von abstrakten Konzepten verwendet. Auch sein eigenes Leben, wie er es in den Briefen schildert, wird wie eine Art exemplum konstruiert, das dem Leser zur Betrachtung und zur Imitation angeboten wird.52 Philosophischer Fortschritt ist also bei Seneca mit rhetorischer Visualisierung auf das Engste verbunden. Wie wir aber oben gesehen haben, zeigt Seneca seinen Lesern zu diesem Zweck nicht nur nachahmungswürdige exempla, sondern auch äußerst widerwärtige Bilder: Im 57. Brief betont er sogar 51 52
Zum „Drama“ und zur Theatralik von Senecas philosophischen Schriften siehe Hijmans (1966); Traina (1974); Bartsch (2006), 208-216; Ker (2009), 115-125. Schönegg (1999), 160-161; Schafer (2009), 108. Das Verhältnis zwischen sich selbst und seinem Adressaten entspricht demnach für Seneca dem üblichen philosophiehistorischen Paradigma einer Lehrer-Schüler-Beziehung, die immer auf Nachahmung des Lebensstiles eines Vorbildes basiert. Vgl. z.B. Sen. ep. 6.6 Zenonem Cleanthes non expressisset, si tantummodo audisset: vitae eius interfuit, secreta perspexit, observavit illum, an ex formula sua viveret. Platon et Aristoteles et omnis in diversum itura sapientium turba plus ex moribus quam ex verbis Socratis traxit, etc.
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ausdrücklich, dass gerade verstörende Sinneseindrücke (die Dunkelheit eines Tunnels, die unermessliche Tiefe einer Schlucht, menschliches Blut oder eine eitrige Wunde) in besonderem Maße dazu geeignet sind, den Betrachter zu einer philosophischen Reflexion zu animieren. Seneca demonstriert aber auch sonst eine große Vorliebe für solch eine schmerzhafte Rhetorik des Sehens. Die Behandlung durch Senecas Therapie muss offensichtlich zunächst wehtun, um ihre heilende Wirkung überhaupt erst entfalten zu können. Darum schildert er so gern etwas Widerliches oder moralisch Suspektes mit außerordentlicher Anschaulichkeit (mit genüsslichem Sadismus gezeichnete Bilder von Folter und Hinrichtungen erfreuen sich bei ihm besonderer Beliebtheit), und benutzt anschließend die aus diesem ictus animi erfolgende mutatio, um dem Leser eine διάνοια einzuprägen.53 Wir haben im 57. Brief gesehen, dass die durch die ekphrastische Rhetorik hergestellte Nähe (die Illusion, man erlebe das Geschilderte hic et nunc am eigenen Körper) paradoxerweise zu einer intellektuellen Distanz führen kann, die dem Geschilderten eine allgemeinere – übertragbare/übertragene – Bedeutung verleiht. Im Folgenden möchte ich zwei weitere Passagen besprechen, in denen Seneca solche eigenartige Kombination aus Nähe und Distanz besonders effektvoll zur Verstärkung seiner philosophischen Rhetorik einsetzt. Im ersten Buch von Senecas Naturales Quaestiones befindet sich die Erzählung (fabella – eine Art exemplum also) über einen gewissen Hostius Quadra, in dessen Schlafzimmer zahlreiche vergrößernde Spiegel so platziert waren, dass er selbst alle – aus Senecas Sicht unnatürlichen – sexuellen Aktivitäten, die er
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Vgl. z.B. Sen. ep. 14.5-6; 24.5-8; 70.20. Zu Darstellungen der körperlichen Schmerzen in Senecas Briefen siehe Edwards (1999). Shadi Bartsch, die in solchen Passagen eine besondere Art von Ekphrasis sieht („Stoic ekphrasis“), postuliert für Senecas philosophische Schriften – im Gegensatz zu mir – einen intendierten Leser, der auf solche Schilderungen mit sofortiger Unterdrückung jeglicher emotionaler Regung reagiert (Bartsch (2007), 94: „This, then, is the correct response to Stoic ekphrasis: not an emotional reaction, not to be moved, but to be unmoved“). Sie betont weiterhin den vermeintlichen Unterschied zwischen der „philosophical ekphrasis or phantasia“ und der „rhetorical/poetic ekphrasis or phantasia.“ Diese Interpretation basiert m. E. auf einer Verwechslung zwischen einem fast physischen, von einer unangehnemen Ansicht verursachten Schock und einer Leidenschaft (πάθος), die man natürlich mit allen Kräften unterdrücken muss. Vgl. Sen. ira 2.2-3. Was Seneca dagegen von seinen Lesern erwartet, ist, dass sie bei der Lektüre ein psychisches Äquivalent von physischen Schmerzen erleben, was paradoxerweise gerade auf die Seele einen positiven Effekt haben soll (vgl. Sen. ep. 57 ictus animi, mutatio), denn dadurch wird der „Patient“ der stoischen Therapie für Philosophie rezeptiver gemacht. Vgl. Epict. 3.23.30 ἰατρεῖόν ἐστιν, ἄνδρες, τὸ τοῦ φιλοσόφου σχολεῖον· οὐ δεῖ ἡσθέντες ἐξελθεῖν, ἀλλ᾿ ἀλγήσαντας. Siehe dazu Long (2002), 56-57.
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sowohl mit Männern als auch mit Frauen trieb, in „gezoomter“ Form ungehindert sehen konnte (Sen. Nat. 1.16.2):54 non erat ille ab uno tantummodo sexu impurus, sed tam virorum quam feminarum avidus fuit, fecitque specula huius notae cuius modo rettuli, imagines longe maiores reddentia, in quibus digitus bracchii mensuram et crassitudinem excederet. haec autem ita disponebat ut cum virum ipse pateretur aversus, omnes admissarii sui motus in speculo videret, ac deinde ipsius membri falsa magnitudine tamquam vera gaudebat. Dieser Mensch war nicht nur mit einem Geschlecht lasterhaft, sondern begehrte Männer ebenso wie Frauen und ließ sich Spiegel der eben erwähnten Art machen, die Bilder viel größer wiedergeben, wo ein Finger die Länge und Dicke eines Arms übertrifft. Diese Spiegel aber stellte er so auf, dass er, wenn er einen Mann über sich ließ, wenn auch abgewandt, alle Bewegungen seines Beischläfers im Spiegel sehen konnte und dann sich auch noch an der vorgespiegelten Größe des Gliedes erfreute, als wäre es in der Wirklichkeit so.
Seneca äußert hier also unverhohlen seinen Abscheu gegen solche aus seiner Sicht unerhörte Verdorbenheit. Im weiteren Verlauf entfaltet diese – insgesamt mehr als drei Teubner-Seiten lange (Sen. Nat. 1.16.1-9) – Passage jedoch eine Wirkung, die sowohl in ihrer expliziten ekphrastischen Anschaulichkeit als auch in ihrem allgemeinen rhetorischen Duktus der Wirkung eines – verbalen oder visuellen – pornographischen Erzeugnisses in nichts nachsteht. Man könnte im Prinzip sagen, dass die Rhetorik dieser Passage das in ihr Geschilderte mit außerordentlicher Treue nachahmt: Das erregte – ohnehin vergrößerte – Glied des Hostius Quadra, oder seines Sexpartners, wird durch den Spiegel noch weiter vergrößert, sodass es fast groteske Dimensionen einnimmt; diese – aus der Perspektive der moralischen Entrüstung Senecas – unsägliche Monstrosität, die jedoch so offensichtlich ist, dass man zu ihrer genauen Schilderung nicht mehr als einen kurzen Satz bräuchte, vergrößert Seneca durch seine Rhetorik noch weiter, indem er sie maßlos ausdehnt und dabei mittels einer typisch rhetorischen amplificatio – insgesamt dreimal – in immer intensiver wirkender Form schildert.55 54 55
Eine detaillierte Besprechung dieser Passage aus der Perspektive der antiken Ethik (und Optik) findet man in Bartsch (2006), 103-114. Der oben zitierten Passage folgt eine scheinbar abschließende Verallgemeinerung (Sen. Nat. 1.16.3 i nunc et dic speculum munditiarum causa repertum!), dann eine Verstärkung des bereits Gesagten (foeda dictu sunt quae...), dann ein unvorteilhafter Vergleich zwischen Hostius Quadra und einer Prostituierten (Sen. Nat. 1.16.6 est aliqua etiam prostitutis modestia...), und schließlich ein imaginärer Monolog, in dem Hostius selbst seine Taten nicht nur noch einmal ausführlich beschreibt, sondern auch noch seinen Stolz darauf zur Schau stellt (Sen. Nat. 1.16.7-9).
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Dies hat zur Folge, dass hier nicht nur der Täter, der vergrößerte Bilder „der Lust seines Mundes“ braucht (Sen. nat. 1.16.5 spectabat illam libidinem oris sui), um sich noch weiter aufzugeilen, als ein abstoßender Voyeur dargestellt wird. Seneca macht auch uns – die Leser – zu mitschuldigen Komplizen der geschilderten Perversionen: Er schildert den gesamten Vorgang mit einer erstaunlichen pornographischen Genüsslichkeit und lässt auch uns das durch seine virtuose Rhetorik Geschilderte in aller Klarheit nicht nur sehen, sondern auch miterleben. Senecas Rhetorik – die Lust seines Mundes sozusagen – scheint also das Ziel zu verfolgen, auf uns den gleichen Effekt auszuüben wie die visuellen Reize des Spiegels in Hostius Quadras Schlafzimmer.56 Mit anderen Worten soll hier die durch ἐνάργεια erzeugte φαντασία zweiten Grades die gleiche Wirkung entfalten wie die direkt wahrnehmbare φαντασία eines Spiegelbildes. Den Leser in den Zustand sexueller Erregung zu versetzen, gehört jedoch keineswegs zu den Hauptzielen dieses Textes. Im Gegenteil: Senecas eigentliches Ziel besteht ausschließlich darin, beim Leser eine kritische διάνοια – eine eindeutige Ablehnung des Geschilderten – zu erzeugen (Sen. nat. 1.16.9 facinus indignum!). Selbstverständlich rechnet er hier mit bedingungsloser Zustimmung seitens seiner philosophisch gesinnten Leserschaft. Dass er uns dabei zu mitschuldigen Komplizen der geschilderten Laster macht, dient paradoxerweise dazu, diese – bei einem philosophischen Publikum an sich auch ohnehin leicht zu erreichende – Zustimmung noch weiter zu verstärken, denn sie wird nun auch durch eine komplexe emotionale Reaktion unterstützt – sei es durch den sofortigen Ekel dem Geschilderten gegenüber oder durch den als Folge der unangemessenen sexuellen Erregung entstehenden Selbstekel,57 der – mit Hilfe von Senecas unter die Haut gehender Rhetorik – zur Heilung unserer eigenen moralischen Verfehlungen beitragen sollte. Eine ähnliche Passage befindet sich im 7. Brief, wo Seneca eine Reihe von öffentlichen Hinrichtungen in der Arena beschreibt (Sen. ep. 7.3-4): casu in meridianum spectaculum incidi, lusus expectans et sales et aliquid laxamenti quo hominum oculi ab humano cruore adquiescant. Contra est: 56
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Diese Wirkung könnte man als Rezipient genauso wenig kontrollieren wie den physischen Schmerz. Vgl. Sen. ira 2.3, wo Seneca unter anderen unkontollierbaren körperlichen Reaktionen inritationem umoris obsceni erwähnt. Vgl. die Unterscheidung, die Seneca in ep. 57.6 zwischen effectus und efficientia macht. Die physische Reaktion auf die efficientia (auf die Dunkelheit eines Tunnels oder auf eine pornographische Darstellung) ist unvermeidlich; das Ernstnehmen der effectus, das in der Angst vor dem Tod oder im Wunsch, Hostius nachzuahmen, resultieren könnte, ist aber um jeden Preis zu vermeiden. Die Wirkung dieser Passage basiert mit anderen Worten auf der Spannung zwischen den corporis pulsus (unkontrollierbar) und den adfectus animi (kontrollierbar), von der in Sen. ira 2.2-3 die Rede ist.
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Schock und Erkenntnis quidquid ante pugnatum est misericordia fuit; nunc omissis nugis mera homicidia sunt. Nihil habent quo tegantur; ad ictum totis corporibus expositi numquam frustra manum mittunt. Hoc plerique ordinariis paribus et postulaticiis praeferunt. Quidni praeferant? non galea, non scuto repellitur ferrum. Quo munimenta? quo artes? omnia ista mortis morae sunt. mane leonibus et ursis homines, meridie spectatoribus suis obiciuntur. interfectores interfecturis iubent obici et victorem in aliam detinent caedem; exitus pugntantium mors est. ferro et igne res geritur. haec fiunt dum vacat harena. ‚Sed latrocinium fecit aliquis, occidit hominem.’ quid ergo? quia occidit, ille meruit ut hoc pateretur: tu quid meruisti miser ut hoc spectes? ‚Occide, verbera, ure! quare tam timide incurrit in ferrum? quare parum audacter occidit? quare parum libenter moritur? plagis agatur in vulnera, mutuos ictus nudis et obviis pectoribus excipiant.’ intermissum est spectaculum: ‚interim iugulentur homines, ne nihil agatur.’ age, ne hoc quidem intellegitis, mala exempla in eos redundare qui faciunt? agite dis immortalibus gratias quod eum docetis esse crudelem qui non potest discere. Zufällig kam ich in eine Mittagsvorstellung und erwartete Unterhaltung, Witz und etwas, woran sich die Augen der Menschen vom Anblick des Blutes erholen können. Es was das Gegenteil: Alle Kämpfe, die vorher stattgefunden haben, waren dagegen gerade barmherzig; nun lässt man den Spaß beiseite und veranstaltet reines Menschenschlachten. Sie haben nichts, womit sie sich schützen können; da sie den Hieben mit dem ganzen Körper ausgesetzt sind, ist kein Hieb umsonst verschwendet. Die meisten ziehen solche Darbietungen den normalen, nach Wunsch des Publikums stattfindenden Gladiatorenspielen vor. Und warum sollen sie sie nicht vorziehen? Das Schwert wird weder vom Helm noch vom Schild zurückgestoßen. Wozu die Schutzmaßnamen? Wozu die Kampfkunst? Dies alles schiebt doch den Tod nur hinaus. Morgens werden Menschen den Löwen und Bären hingeworfen, mittags ihrem Publikum. Sie lassen Mörder zu Mordopfern werden und erhalten den Sieger für ein weiteres Gemetzel am Leben. Am Schluss ist der Tod der Kämpfenden. Mit Feuer und Schwert wird die Sache entschieden. Dies geschieht in Arena während der Mittagspause. „Aber einer von ihnen hat doch einen Raub begangen, hat einen Menschen ermordet!“ Na und? Vielleicht hat er es verdient, so behandelt zu werden, weil er gemordet hat. Womit hast aber du, Unglücklicher, es verdient, dies sehen zu müssen? „Töte, peitsche, verbrenn! Warum rennt er so furchtsam ins Schwert? Warum zögert er, stärker zu schlagen? Warum hat er so wenig Lust zu sterben? Man soll ihn mit Schlägen den tödlichen Waffen entgegen treiben! Bei gegenseitigen Schlägen sollen sie die nackte Brust direkt hinhalten!“ Das Schauspiel wird durch eine Pause unterbrochen: „Dann soll man ein paar Menschen erstechen, sonst passiert da gar nichts!“ Nur zu! Aber versteht ihr wirklich nicht einmal dies, dass schlechte Vorbilder auf die zurückfallen, die sie geben? Den unsterblichen Göttern sei dank, dass ihr einem Mann Grausamkeit beibringen wollt, der er es nicht lernen kann!
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Besonders wichtig an dieser Passage ist, dass das freiwillige Sehen eines solchen Spektakels laut Seneca keine passive, wertfreie Tätigkeit sein kann: Das Sehen des sinnlosen Tötens bedeutet notgedrungen eine direkte Komplizenschaft, die den Zuschauer unvermeidlich auch in eine Art Mörder verwandelt. Während dieser Umstand die hier dargestellten imaginären Zuschauer keineswegs zu stören scheint, fasst Seneca selbst die visuelle Konfrontation mit sinnlosem Abschlachten als eine Strafe auf. Dies macht den Sprecher zum einzigen Zuschauer, der die ganze Schärfe dieser Strafe empfindet und der, dank seiner unerschütterlichen philosophischen Position, imstande ist, die dargebotene Grausamkeit aus einer Außenperspektive zu betrachten und dadurch dem schädlichen Einfluss zu entkommen (eum docetis esse crudelem qui non potest discere).58 Der hier mit aller Deutlichkeit betonte Kontrast zwischen dem sich an abstoßender Gewalt ergötzenden Pöbel und dem aufgeklärten Philosophen impliziert, dass wir uns als Leser dieser Passage der vehementen Ablehnung des öffentlichen Blutvergießens sofort anschließen müssen.59 Die Trennlinie zwischen den beiden entgegengesetzten Wahrnehmungsmodalitäten ist jedoch keinesfalls scharf gezogen, denn es kann einem kaum entgehen, mit welcher rhetorischer Virtuosität Seneca die perverse Begeisterung des Volkes seinem intendierten – philosophisch gesinnten – Leser virtuell zugänglich macht. Diesen Unmittelbarkeitseffekt erreicht Seneca vor allem dadurch, dass er diese Passage zu einer detaillierten Ekphrasis entwickelt, die auf einer überbietenden Rhetorik des Sehens basiert. Beim Betreten der Arena erwartet der Sprecher eine Abwechslung vom dort normalerweise praktizierten Blutvergießen der Gladiatorenkämpfe. Was er stattdessen antrifft, übersteigt jedoch seine schlimmsten Befürchtungen: Anstelle eines ehrlich geführten Einzelkampfes, bei dem beide Kontrahenten bewaffnet sind, sieht er nun ein sinnloses Morden um seiner selbst willen, das jede andere Sterbensart, die man sonst in der Arena beobachten kann, zu einem Akt der Barmherzigkeit macht (quidquid ante pugnatum est, misericordia fuit). Um den Unmittelbarkeitseffekt noch weiter zu steigern, fügt er auch noch ein imaginäres Gespräch mit einem typischen Publikumsvertreter hinzu, das dem Ganzen eine fast theatralische Anschaulichkeit verleiht.60 Seneca lehnt
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Zu Senecas philosophischer Position in diesem Brief siehe Richardson-Hay (2006), 249-250. Zu Senecas angeblicher Einstellung zu solchen Veranstaltungen im Allgemeinen siehe Wistrand (1990) (eine eindeutig positive Einstellung); Richardson-Hay (2004) (eine eindeutig negative Einstellung). Die theatralische Metapher wird am Ende des Briefes wieder aufgenommen, wo das blutrünstige Glotzen der öffentlichen Veranstaltungen mit dem introspektiven Sehen des Philosophiestudiums kontrastiert wird: Sen. ep. 7.11-12 ‚haec’ inquit [sc. Epicurus] ‚ego non multis, sed tibi: satis enim magnum alter alteri theatrum sumus.’ ista, mi Lucili, condenda in animum sunt, ut contemnas voluptatem ex plurium adsensione venientem. multi te laudant. ecquid habes, cur placeas tibi, si is es, quem intel-
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also die Gewalt der Amphitheatershows nicht einfach kurzerhand ab: Durch die Kombination aus einer ekphrastischen Rhetorik und einem fingierten Dialog lässt er uns die mera homicidia zunächst in aller Deutlichkeit – durch eine außerordentlich lebhafte literarische Vermittlung – miterleben. Diese lebhafte Passage dient zwar dazu, der allgemeinen These, die sie illustriert (nihil vero tam damnosum bonis moribus quam in aliquo spectaculo desidere), eine größere Beweiskraft zu verleihen. Ob wir uns aber mit der moralischen Entrüstung des Sprechers sofort identifizieren oder uns zunächst in dem brutalen, die sinnlosen Morde genießenden Publikum wiedererkennen, liegt ganz bei uns. Ungeachtet unserer ursprünglichen Veranlagung wird uns jedoch durch den rhetorischen Duktus des Briefes der Sprung von der unmittelbaren emotionalen Reaktion auf den konkreten geschilderten Vorgang zur Zustimmung zur hier zu beweisenden allgemeinen Maxime (Sen. ep. 7.1 quid tibi vitandum existimes quaeris? turbam) nahegelegt – und immens erleichtert: Im ersteren Fall werden wir in unserer Überzeugung bestätigt; im letzteren dazu bewogen, unser als fehlerhaft dargestelltes Wertesystem von Grund auf zu überdenken und den Entschluss zu fassen, künftig anders zu handeln (d.h. die Menge zu meiden). Das Sehen der von Seneca gezeichneten verstörenden Bilder soll uns also im Idealfall dazu animieren, unser Leben zu ändern (was im stoischen Jargon heißen müsste, dass aus dem ursprünglichen Sinneseindruck eine φαντασία ὁρµητική wird). Es ist ziemlich auffällig, dass die Rhetorik des Sehens, die Seneca in seinen philosophischen Schriften verwendet, zahlreiche Ähnlichkeiten mit der Rhetorik aufweist, die wir in seinen Tragödien beobachteten. Die Verwendung der Ekphrasis in den philosophischen Schriften zur Veranschaulichung von philosophischen Konzepten ist durchaus vergleichbar mit der Rolle der Ekphrasis in den Tragödien als Folie für die dramatische Handlung. Die Tatsache, dass im 57. Brief eine höllische Dunkelheit zur Erleuchtung führt, findet eine greifbare Parallele in den zahlreichen Katabasis- (bzw. katabasisähnlichen) – Szenen in Senecas Tragödien, die immer dazu dienen, eine am Ende der Bühnenhandlung zum Vorschein kommenden Wahrheit deutlicher erscheinen zu lassen. Die im siebten Brief formulierte Vorstellung vom Sehen eines ekelerregenden Spektakels als einer Art Strafe ist eines der zentralen Leitmotive der senecanischen Tragödie überhaupt, wo das Sehenmüssen von verstörenden Bildern wiederholt für eine schlimmere Strafe erklärt wird als der Tod.61 Die überbietende Rhetorik, der wir in den besprochenen Passagen aus den philosophischen Schriften begegnen (die Dunkelheit des Tunnels übertrifft die Finsternis des stürmischen Tags; die sexuellen Perversionen des Hostius Quadra werden durch die vergrößernden Spiegelbilder und durch Senecas Rhetorik um das Vielfache vergrößert; die mera
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legant multi? introrsus bona tua spectent. Aus dem Bild einer Theateraufführung wird also eine philosophische Erkenntnis. Vgl. Hijmans (1966), 248. Sen. HF 1138-1294; Tr. 1165-1177; Me. 978-1027; Ph. 1159-1243; Oe. 1009-1039; Ag. 953-996; Th. 970-1112.
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homicidia in der Arena lassen das Blutvergießen eines Gladiatorenspiels wie eine unschuldige Bagatelle erscheinen) kommt dem Leser der senecanischen Tragödien auch erstaunlich bekannt vor: In jeder Tragödie werden wir auch mit einer Reihe von zunehmend erschreckenden Bildern bombardiert, die jedoch im Nachhinein – im Vergleich mit der ganz am Schluss stattfindenden wahrhaftig unerträglichen Mord- (bzw. Verstümmelungs-) Darstellung – allesamt verhältnismäßig harmlos wirken (vgl. insb. Sen. ep. 7.3 quidquid ante pugnatum est, misericordia fuit und Th. 744-745 exhorruistis? hactenus si stat nefas, / pius est und Me. 904-905 quidquid admissum est adhuc, / pietas vocetur). Die Feststellung, dass sich Seneca in seinen philosophischen Schriften einer ähnlichen Rhetorik bedient wie in den Tragödien, ist natürlich von höchster Bedeutung, denn sie berührt die ewige Frage nach der grundsätzlichen Kompatibilität zwischen Seneca tragicus und Seneca philosophus.62 Wenn diese Frage in bisheriger Forschung positiv beantwortet wurde, erfolgte dies in der Regel auf der Basis der stoischen Ethik (das Verhalten von Senecas Charakteren wurde demnach als Inbegriff bzw. Gegenteil des stoischen Lebensideals interpretiert),63 Psychologie (die Tragödien wurden somit als abschreckende dramatische Illustrationen der zerstörerischen Folgen des Zorns interpretiert, mit denen sich Seneca auch in De ira – auf eine dennoch eher diskursive Weise – auseinandersetzt),64 oder Kosmologie (demnach sah man in den Tragödien Manifestationen der stoischen συµπάθεια – des allumfassenden Parallelismus zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos).65 Man kann nicht leugnen, dass solche Interpretationen zu einem besseren Verständnis von Senecas Tragödien erheblich beitragen, indem sie sie in ihrem zeitgenössischen intellektuellen Kontext fester verordnen und in ihnen – oft auf eine durchaus überzeugende Weise – zusätzliche Bedeutungsfacetten aufdecken. Was ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels unternehmen will, ist jedoch kein neuer Vergleich zwischen Senecas Tragödien und einem bestimmten Aspekt des entpersonifizierten stoischen Gedankenguts. Stattdessen möchte ich darüber 62
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Die Bibliographie zu dieser Frage ist schier unübersichtlich. Unter den am häufigsten vertretenen Positionen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den philosophischen und den dramatischen Werken Senecas könnte man folgende besonders hervorheben: 1) Seneca nützt seine Tragödien, um stoische Dogmen zu predigen (z.B. Regenbogen (1927/1928), Marti (1945), Pratt (1983), Lefèvre (1985) und, viel moderater und nuancierter, Rosenmeyer (1989)); 2) der Seneca der Tragödien ist ein Antipode des Philosophen (z.B. Dingel 1974); 3) Senecas Tragödien haben keine richtigen Berührungspunkte mit seiner Philosophie; sie sind rein literarische (dramatische, rhetorische) Produkte (z.B. Schiesaro (2003), Littlewood (2004)). Ausführliche Besprechungen dieser Problematik findet man in Mayer (1994), Hine (2004) und Staley (2010), 11-23. Z.B. Marti (1945); Lefèvre (1985); Nussbaum (1997). Z.B. Gill (2006), 421-435; Staley (2010). Z.B. Regenbogen (1927/1928); Rosenmeyer (1989).
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nachdenken, welche Konsequenzen man aus den unübersehbaren Ähnlichkeiten zwischen Senecas dramatischer Technik und seiner eigenen – unverwechselbaren – philosophischen Rhetorik ziehen könnte. Oben habe ich auf drei pädagogische Methoden hingewiesen, die Seneca als Mittel zur Bekehrung des Rezipienten zu einem philosophischen Leben erwähnt bzw. praktiziert – Vorschriften (praecepta, an deren Wirksamkeit Seneca ernstafte Zweifel hegt), Ermahnung (Paränese) und Veranschaulichung (die beiden letzteren machen den Kern seiner philosophischen Rhetorik aus). Dass man in Senecas Tragödien keine direkte – an den Rezipienten gerichtete – Belehrung in der Form von praecepta oder Paränese erwarten darf, ist wohl eine offensichtliche – gattungsbedingte – Tatsache. Dafür spielt aber dort die ekphrastische Veranschaulichung eine umso prominentere Rolle.66 Am Anfang dieses Kapitels haben wir gesehen, dass Seneca in seinem 57. Brief die Fähigkeit von überwältigend unangenehmen Sinneseindrücken (von todesähnlicher Dunkelheit, von Blut und von eitrigen Wunden), einen kognitiven Anstoß zu geben, besonders hervorhebt. Wir haben weiterhin gesehen, dass Seneca diese theoretische Ansicht in mehreren Passagen praktisch umsetzt, um seine philosophische (therapeutische) Rhetorik zu verstärken. In all diesen Passagen wird ein rhetorisch vermittelter Sinneseindruck erzeugt, um den Rezipienten zur (durchaus ernsthaften, realen) Zustimmung zum philosophischen Standpunkt des Sprechers zu bewegen. Was könnte man aus dieser Perspektive heraus über die Sinneseindrücke sagen, die in Senecas Tragödien erzeugt werden? Wie ich in den ersten sieben Kapiteln meiner Studie gezeigt habe, verfolgt Senecas Rhetorik des Sehens in den Tragödien immer das Ziel, einem das Gefühl zu vermitteln, dass das, was man auf der Bühne bzw. durch seine Vorstellungskraft im Text sieht, das Schlimmste darstellt, was man jemals gesehen hat – was überhaupt jemals gesehen werden kann. Diese Rhetorik lässt sogar die absolute, von albtraumartigen Monstern bevölkerte Dunkelheit der Unterwelt, die die Handlung jeder senecanischen Tragödie weitgehend beherrscht, wie einen unschuldigen Kinderwitz erscheinen – im Vergleich zur aus dem Kopf eines Kindes herausplatzenden Hirnmasse, zu den frisch geleerten, unablässige Blutströme absondernden Augenhöhlen, und vor allem zu den zahlreichen zerstückelten menschlichen Körpern, von denen es in Senecas Tragödien nur so wimmelt. Was müsste denn laut Seneca, der offensichtlich der Meinung ist, die Dunkelheit eines schlecht gelüfteten Tunnels könne den Gedanken an den Tod und anschließend, wie in einer mystischen Offenbarung, an die Unsterblichkeit der Seele hervorrufen, – was müsste also aus dieser Perspektive passieren, wenn man DAS sieht/„sieht“?
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Siehe Gazich (2008), der in Senecas ἐνάργεια eine Visualisierung „di un’intenzione precettistica“ sieht.
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Wenn man das im 57. Brief vorgeführte Schema auf die Tragödien überträgt, müsste es wohl heißen, dass, da der ictus animi, der einem von diesen zweifelsohne stärkeren Sinneseindrücken verpasst wird, offensichtlich viel stärker ist als die Wirkung der ekphrastischen Rhetorik in den Prosaschriften, die daraus erfolgende mutatio (oder naturalis adfectio inexpugnabilis rationi) auch stärker ausfallen würde. Es ist in diesem Zusammenhang von höchster Bedeutung, dass man in stoischen bzw. stoisch beeinflussten Texten der Vorstellung begegnet, dass die Wirkung der durch Dichtung erzeugten fiktiven φαντασίαι wesentlich stärker ist als diejenige der rhetorischen. Dass sowohl die homerischen Epen als auch griechische Tragödien nichts anderes sind als „ein Sinneseindruck und eine Verwendung von Sinneseindrücken,“ wird zum Beispiel von Epiktet betont (Epict. 1.28.12 ἡ Ἰλιὰς οὐδέν ἐστιν ἢ φαντασία καὶ χρῆσις φαντασιῶν).67 Und der Autor von Περὶ ὕψους macht sogar einen Unterschied zwischen der rhetorischen und der poetischen φαντασία. Doch dieser Unterschied betrifft nicht das Wesen des Phänomens, sondern nur den Grad seiner Ausprägung (Ps. Longin. Subt. 15.2): ὡς δ᾿ ἕτερόν τι ἡ ῥητορικὴ φαντασία βούλεται καὶ ἕτερον ἡ παρὰ ποιηταῖς, οὐκ ἂν λάθοι σε, οὐδ᾿ ὅτι τῆς µὲν ἐν ποιήσει τέλος ἐστὶν ἔκπληξις, τῆς δ᾿ ἐν λόγοις ἐνάργεια, ἀµφότεραι δ᾿ ὅµως τό τε παθητικὸν ἐπιζητοῦσι καὶ τὸ συγκεκινηµένον. Es es dir wohl bekannt, dass φαντασία in der Rhetorik und bei den Dichtern unterschiedliche Ziele verfolgt: In Dichtung besteht ihr Ziel im Entsetzen, in Prosa hingegen in der Anschaulichkeit; doch beide Arten sind darauf aus, Emotionen zu erregen.
Mit anderen Worten funktionieren rhetorische Prosatexte und poetische Erzeugnisse nach einem ähnlichen Prinzip, da beide mittels φαντασία eine emotionale Wirkung bezwecken. Der Hauptunterschied zwischen den beiden besteht lediglich darin, dass die durch die letztere verursachten Emotionen wesentlich stärker ausfallen, denn anstelle der bloßen Visualisierung (ἐνάργεια) der Prosa haben wir es in der Dichtung mit einem wahrhaftigen emotionalen Aufruhr (ἔκπληξις) zu tun.68 Besser könnte man den Unterschied zwischen der Dunkelheit in der crypta Neapolitana und dem zerstückelten Körper des Hippolytus in der Tat nicht auf den Punkt bringen. Kann aber der durch eine Tragödie – insbesondere durch eine senecanische Tragödie – verursachte emotionale Aufruhr überhaupt noch zu einer Erkenntnis führen? Kann die blendende Dunkelheit des senecanischen Theaters dem Rezipienten eine διάνοια einprägen (vgl. ep. 57.3 aliquid tamen mihi illa obscuritas, quod cogitarem dedit)? Bevor wir uns dieser Frage widmen, müssen wir uns 67 68
Staley (2010), 55-56. Staley (2010), 62-63.
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daran erinnern, dass Seneca selbst im 108. Brief ausdrücklich betont, dass sich Dichtung laut den Stoikern unter Umständen sogar besser als Prosa zum Zwecke der philosophischen Therapie eignet (Sen. ep. 108.10):69 nam ut dicebat Cleanthes, ‚quemadmodum spiritus noster clariorem sonum reddit cum illum tuba per longi canalis angustias tractum patentiore novissime exitu effudit, sic sensus nostros clariores carminis arta necessitas efficit.’ eadem neglegentius audiuntur minusque percutiunt quamdiu soluta oratione dicuntur: ubi accessere numeri et egregium sensum astrinxere certi pedes, eadem illa sententia velut lacerto excussiore torquetur. Denn, wie Kleanthes sagte, „wie unser Atem einen lauteren Ton erzeugt, wenn ihn die Trompete, nachdem er durch die Enge des langen Rohres gezogen wurde, schließlich durch eine breitere Öffnung fließen lässt, so lässt auch der straffe formale Zwang eines Gedichts unsere Sinne klarer werden“ Dieselben Gedanken werden weniger achtsam vernommen und machen einen weniger starken Eindruck, solange sie in Prosa ausgedrückt werden. Wenn aber der Versrhythmus hinzukommt und eine regelmäßige metrische Struktur einen vorzüglichen Gedanken bindet, wird dieselbe Ansicht sozusagen mit mehr Muskelkraft hinausgeschleudert.
Man könnte also daraus schließen, dass die intellektuelle Wirkung von den in poetischen Texten erzeugten Sinneseindrücken nach einem ähnlichen Muster erfolgen müsste wie in der Prosa. Sowohl die spezifischen Eigenschaften des poetischen Mediums (Rhythmus, Metrum, Sprachgebrauch usw.) als auch die dadurch erhöhte Intensität der erzeugten Sinneseindrücke müssten aber diese Wirkung noch weiter verstärken. Diese Ansicht lässt sich natürlich sehr leicht mit Hilfe der von Seneca im weiteren Verlauf des 108. Briefes angebotenen moral-philosophischen Auslegung des ohnehin abstrakten vergilischen Diktums fugit irreparabile tempus (Sen. ep. 108.24-28; Verg. Geo. 3.284) untermauern. Wie gelingt es aber Seneca, den gerade durch seine Konkretheit lähmenden visuellen Schock, dem man als Zuschauer bzw. Leser der Tragödien ausgesetzt wird, zum einem kognitiven Impuls zu transformieren? Wir haben gesehen, dass die intellektuelle Wirkung der veranschaulichenden Rhetorik in Senecas philosophischen Schriften auf einer eigentümlichen Mischung aus Nähe und Distanz basiert: Zunächst wird dem Rezipienten das Gefühl vermittelt, er könne das Geschilderte in seiner Konkretheit fast unmittelbar miterleben; dann aber weicht die Illusion der Unmittelbarkeit einer distanzierten Perspektive, aus der heraus die gleiche Schilderung eine übertragbare – allgemeingültige – Bedeutung erhält; schließlich soll die Zustimmung zu dieser 69
Vgl. Nussbaum (1993), 109-121, wo sie auf „the non-cognitive view of poetry“ mancher Stoiker hinweist, und 126-127 – zu Senecas 108. Brief.
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Ansicht dazu führen, dass man sie als für sich selbst relevant empfindet und dadurch sein eigenes Denken und Verhalten ändert. Wie ich nun zeigen möchte, verwendet Seneca in seinen Tragödien einen ähnlichen rhetorischen Mechanismus. In Bezug auf die emotionale Wirkung der Tragödie lassen sich die Vorstellungen von Nähe und Distanz mit zwei verschiedenen philosophischen Traditionen in Verbindung bringen. Aristoteles sieht bekanntlich den Effekt der Tragödie auf den Zuschauer in erster Linie darin, dass dieser – vereinfacht formuliert – sich mit dem dramatischen Geschehen emotional identifiziert und somit beim Sehen der Bühnenereignisse Mitleid und Furcht, und schließlich eine Katharsis, erlebt.70 Die stoische Einstellung zur Tragödie ist der peripatetischen diametral entgegengesetzt. Laut Epiktet irrten tragische Figuren so offensichtlich, dass keine richtige Gefahr bestehe, man könne sich mit ihnen identifizieren, denn die von ihnen erlebten Katastrophen rührten eindeutig nur daher, dass sie die Welt der Äußerlichkeiten (adiaphora) zu ernst nähmen (Epict. 1.4.26):71 τί γάρ εἰσιν ἄλλο τραγῳδίαι ἢ ἀνθρώπων πάθη τεθαυµακότων τὰ ἐκτὸς διὰ µέτρου τοιοῦδ᾿ ἐπιδεικνύµενα; Sind denn Tragödien etwas anderes als in entsprechendem Versmaß dargestellte Leiden der Menschen, die Äußerlichkeiten zu sehr bewundert haben?
Der Plot jeder Tragödie illustriert lediglich, was geschieht, wenn man bloßen Erscheinungen einen zu großen Vertrauen schenkt, was aus der Perspektive eines stoisch gesinnten Lesers zwar purem Wahnsinn gleichkäme, was sich jedoch vom Verhalten eines durchschnittlichen (philosophisch unaufgeklärten) Menschen nur unwesentlich unterscheiden würde (Epict. 1.28.31-33): κρείσσων γάρ εἰµι τοῦ Ἀγαµέµνονος ἢ τοῦ Ἀχιλλέως, ἵν᾿ ἐκεῖνοι µὲν διὰ τὸ ἀκολουθῆναι τοῖς φαινοµένοις τοιαῦτα κακὰ ποιήσωσι καὶ πάθωσιν, ἐµοὶ δὲ µὴ ἀρκῇ τὸ φαινόµενον; καί ποία τραγῳδία ἄλλην ἀρχὴν ἔχει; Ἀτρεὺς Εὐριπίδου τί ἐστιν; τὸ φαινόµενον. Οἰδίπους Σοφοκλέους τί ἐστιν; τὸ φαινόµενον. Φοίνιξ; τὸ φαινόµενον. Ἱππόλυτος; τὸ φαινόµενον. τούτου οὖν µηδεµίαν ἐπιµέλειαν ποιεῖσθαι τίνος ὑµῖν δοκεῖ; τίνες δὲ λέγονται οἱ παντὶ τῷ φαινοµένῳ ἀκολουθοῦντες; – Μαινόµενοι. Bin ich denn Agamemnon oder Achill überlegen, sodass sie dadurch, dass sie bloßen Erscheinungen folgten, solche Übel begangen oder erlitten
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Ar. Poet. 1449b24-28 ἔστιν οὖν τραγῳδία µίµησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας µέγεθος ἐχούσης [...] δι᾿ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τοιούτων παθηµάτων κάθαρσιν. Siehe dazu Halliwell (1992); Lear (1992); Nehamas (1992). Vgl. Nussbaum (1993), 127-130.
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Schock und Erkenntnis haben? Und mir reicht die Erscheinung etwa nicht?72 Und welche Tragödie hat einen anderen Ursprung? Was ist der Atreus des Euripides? Eine Erscheinung. Was ist der Oedipus des Sophokles? Eine Erscheinung. Der Phoenix? Eine Erscheinung. Der Hippolytus? Eine Erscheinung. Und was für ein Mensch kümmert sich unserer Meinung nach gar nicht um solche Fragen? Und wie nennen wir diejenigen, die voll und ganz den Erscheinungen folgen? Wahnsinnige.
Diese Zitate belegen hinreichend, dass bei den Stoikern die Vorstellung, der philosophisch fortgeschrittene Rezipient könne in tragischen Figuren sich selbst erkennen, von einer radikalen Distanz zum tragischen Bühnengeschehen ersetzt wird.73 Diese Distanz gegenüber den dem trügerischen Schein verfallenen Charakteren hindert die Stoiker dennoch keineswegs daran, tragische Stoffe regelmäßig als lehrreiche Illustrationen von philosophisch relevanten Vorstellungen heranzuziehen, wie nicht nur zahlreiche Verweise auf Tragödien bei Epiktet belegen,74 sondern auch ein verlorenes Werk des Chrysipp, das angeblich so viele Zitate aus Euripides’ Medea enthielt, das es sogar als Chrysipps Medea bekannt war.75 Bezeichnenderweise hat es in der modernen Forschung Versuche gegeben, die emotionale Wirkung der senecanischen Tragödie entweder nur aus der aristotelischen oder nur aus der stoischen Perspektive zu erklären: So sieht zum Beispiel Alessandro Schiesaro bei Seneca hauptsächlich die aristotelische Nähe,76 während Martha Nussbaum (unter anderen) tendentiell eine stoische Distanz aufzudecken meint.77 Beide dieser Sichtweisen erweisen sich jedoch bei näherer Betrachtung als zu einseitig, denn in seiner Tragödiendichtung ist Seneca genauso eklektisch wie in seiner Philosophie: Er lässt in ihnen Aristoteles und die Stoa mit der gleichen Selbstverständlichkeit miteinander verschmel72 73 74 75
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Epiktet scheint hier die Perspektive eines philosophisch unaufgeklärten Durchschnittsmenschen anzunehmen. Vgl. Martha Nussbaums Theorie vom „critical spectarorship“, das sie für die stoische „cognitive view on poetry“ postuliert: Nussbaum (1993), 136-145. Nussbaum (1993), 128-129; Staley (2010), 7. Staley (2010), 69-70. Vgl. Epict. 1.28.6-10, wo das Leiden der euripideischen Medea als Unfähigkeit, Sinneseindrücke richtig zu deuten (d.h. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden); bezeichnenderweise fordert Epikter seine Leser auf, Mitleid mit dieser Unfähigkeit zu verspüren, was in diesem Fall allerdings keine Identifizierung mit der tragischen Figur sondern nur den Wunsch, ihr zu helfen, impliziert. Schiesaro (2003), 221-255. Nussbaum (1993), 148: „[T]he dramatic structure of Senecan drama actively impedes sympathetic identification, promoting critical spectatorship and critical reflection about the passions. For the central characters repel the spectator, making it very difficult to view them as anything but diseased.“ Vgl. Bartsch (2006), 281: „Seneca’s antiheroes provide us with a sobering counter-example to the exemplary mirror, the mirror of philosophic self-transformation.“
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zen,78 mit der er in seinem 57. Brief die stoische Epistemologie mit Platon vereinigt. Eine emotionale Identifikation mit tragischen Figuren ist nur möglich, wie Aristoteles zu implizieren scheint, wenn diese sich auf eine psychologisch nachvollziehbare Weise verhalten. Das ἦθος – der zweitwichtigste Bestandteil der Tragödie – manifestiert sich laut Aristoteles in erster Linie durch die Art der Entscheidungen, die fiktionale Figuren in schwierigen Situationen treffen (Ar. Poet. 1450b8-12): ἔστιν δὲ ἦθος µὲν τὸ τοιοῦτον ὃ δηλοῖ τὴν προαίρεσιν, ὁποῖά τις ἐν οἷς οὐκ ἔστι δῆλον ἢ προαιρεῖται ἢ φεύγει (διόπερ οὐκ ἔχουσιν ἦθος τῶν λόγων ἐν οἷς µηδ᾿ ὅλως ἔστιν ὅ τι προαιρεῖται ἢ φεύγει ὁ λέγων). Der Charakter ist das, was zeigt, wozu man neigt, wenn es nicht klar ist, ob man sich dafür oder dagegen entscheidet. Daher lassen diejenigen Reden keinen Charakter erkennen, in denen überhaupt nicht deutlich wird, wozu der Redende neigt oder was er ablehnt.
Da der µῦθος für Aristoteles die Nachahmung einer Handlung ist, müssen die Charaktere selbstverständlich auch konsequent mimetisch sein. Das heißt, dass man als Zuschauer immer in der Lage sein muss, psychologisch nachzuvollziehen, aus welchen handlungsbedingten Gründen eine bestimmte Figur in einer bestimmten Situation eine bestimmte Entscheidung trifft. Die Überlegenheit der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung (die in einem höheren Maße ausgeprägte philosophische Natur der Dichtung) besteht laut Aristoteles gerade darin, dass sie keine konkreten Menschen darstellt, sondern lediglich zeigt, wie eine mit bestimmten psychologischen Eigenschaften versehene Figur in einer bestimmten Situation reden/handeln kann oder muss (Ar. Poet. 1451b5-10):79 διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ µὲν γὰρ ποίησις µᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ᾿ ἱστορία τὰ καθ᾿ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου µέν, τῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συµβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατὰ
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Ich möchte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betonen, dass meine Überlegungen zu den Abweichungen der senecanischen Tragödien von den in Aristoteles’ Poetik formulierten Prinzipien keinesfalls implizieren, dass Seneca Aristoteles gelesen und/oder beim Schreiben der Tragödien an die aristotelische Poetik gedacht haben muss. Sowohl die von Aristoteles explizit formulierte tragische Poetik als auch die aus verschiedenen stoischen Schriften indirekt ableitbare Vorstellung von der Wirkung einer Tragödie sind für mich lediglich die offensichlichsten in der antiken Literaturtheorie etablierten Anhaltspunkte, die mir dazu verhelfen, die besondere Wesensart der senecanische Tragödie innerhalb der klassischen Literatur besser zu verstehen. Aristoteles ist für mich keineswegs eine Quelle, sondern einfach ‚good to think with’. De Ste. Croix (1992), Kloss (2003).
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Schock und Erkenntnis τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, οὗ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόµατα ἐπιτιθεµένη· τὸ δὲ καθ᾿ ἕκαστον, τί Ἀλκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν. Daher ist Dichtung erwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung drückt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere aus. Das Allgemeine besteht darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben darauf zielt die Dichtung, auch wenn sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder erlebt?
Tragische Figuren sind laut Aristoteles zwar Menschen, die besser sind als wir (Ar. Poet. 1448a); sie besitzen dennoch immer ein mimetisches psychologisches Gerüst (denn sie handeln immer κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον), in dem man sich selbst erkennen könnte. Darum ist es dem Rezipienten überhaupt erst möglich, beim Sehen einer Tragödie Mitleid und Furcht zu empfinden.80 Senecas Charaktere entsprechen dieser aristotelischen Vorstellung nur bedingt. Da sie letztendlich alle den griechischen tragischen Sujets entspringen, die auch Aristoteles bei der Verfassung der Poetik im Sinne hatte, überrascht es kaum, dass sich ihre Handlungen, Reaktionen und Empfindungen im Großen und Ganzen psychologisch nachvollziehen lassen: Hercules’ Selbstmordwunsch nach dem Mord an seiner Familie; Hippolytus’ Ekel mit seiner in ihn verliebten Stiefmutter; Cassandras Genugtuung nach der Ermordung des Peinigers ihrer Familie; Andromachas verzweifelter Wunsch, ihren Sohn vor den Griechen zu retten; Medeas Schmerz wegen der Untreue ihres Mannes, Jasons Verzweiflung nach dem Tod seiner Kinder usw. Die ohnehin starke emotionale Wirkung dieser traditionellen tragischen Plots wird durch die unverwechselbar senecanische Rhetorik noch zusätzlich auf die Spitze getrieben, was zur Folge hat, dass man am Ende jeder Tragödie einen wahrhaftigen emotionalen Schock (φόβος, ἔκπληξις) erleben muss, der jedoch Mitleid mit dem Schicksal der Figuren keineswegs ausschließen muss.81 80 81
Freeland (1992); Rorty (1992), 9-12. Demnach stimmt meines Erachtens Birts Einschätzung (Birt (1911), 336: „Senecas Tragödie ist eine Tragödie der Furcht und nicht des Mitleids“) nicht ganz. Es gibt in seinen Tragödien selbstverständlich zahlreiche Situationen, in denen er nicht nur mit einem visuellen Schock, sondern auch mit einer emotionalen Teilnahme des Rezipienten zu rechnen scheint. Es sind vor allem Situationen, in denen senecanische Helden einem verstörenden Anblick (in der Regel einem verstümmelten oder zerstückelten Körper) begegnen (Hercules, Theseus, die trojanischen und die griechischen Zuschauer bei der Hinrichtung von Astyanax und Polyxena, Jason, Iocaste, Atreus). Mitleid kan hier also dadurch entstehen, dass diese Charaktere beim Sehen Schmerzen empfinden. Diese Figuren Vgl. Sen. ep. 7.5 quia occidit ille, meruit ut hoc pateretur: tu quid meruisti miser, ut hoc spectes? Bezeichnenderweise ist also
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Im Einzelnen verhalten sich jedoch Senecas Charaktere nur selten κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον. Im Gegensatz zu seinem euripideischen Vorbild, wechselt zum Beispiel der senecanische Hercules nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt kein einziges Wort mit seiner angeblich so heiß geliebten Frau, sondern handelt weiterhin ausschließlich gemäß seiner heldenhaften Natur, die ihn ständig dazu zwingt, seine bereits begangenen Heldentaten durch immer größere zu übertreffen. Clytaemnestras graduell aufkommender Entschluss, ihren aus Troja zurückkehrenden Ehemann umzubringen, entspringt keinesfalls der psychologischen Komplexität ihres Charakters, sondern lediglich der Tatsache, dass sie Clytaemnestra ist – eine aus zahlreichen literarischen Darstellungen bekannte ruchlose Ehebrecherin, für die jeder Weg zur moralischen Besserung vollkommen verschlossen bleiben muss (Sen. Ag. 109 clusa iam melior via est). Ähnlich besteht die einzige Begründung von Medeas Handlungen darin, dass sie Medea ist (oder vielmehr werden will: Medea – fiam, Sen. Me. 171), was lediglich bedeutet, dass sie ihre eigenen bereits begangenen – und aus früheren literarischen Fassungen ihrer Geschichte wohl bekannten – Verbrechen so weit wie möglich übertreffen muss. Diese Liste könnte weiter fortgesetzt werden. Zusätzlich dazu, dass sie sich ununterbrochen darum bemühen, wie die Quintessenz ihrer eigenen literarischen personae zu erscheinen, spielen die meisten von Senecas Charakteren, wie wir gesehen haben, noch weitere – aus anderen mythologischen Sujets geliehene – Rollen nach. Dass Senecas Charaktere sich nur selten κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον verhalten, liegt also hauptsächlich daran, dass sie innerhalb einer radikal metatheatralischen Welt existieren, die aus keinen – im aristotelischen Sinne – mimetischen µῦθοι, sondern aus eigenartigen Verflechtungen und Projektionen von bereits in ihrer Gänze bekannten, durch eine jahrhundertelange literarische Tradition angereicherten Handlungsabläufen besteht. Dies hat unter anderem zur Folge, dass Senecas Charaktere das wichtigste aristotelische ἦθος-Kriterion – die Fähigkeit, existentielle Entscheidungen zu treffen – gar nicht erst erfüllen können: Sie wirken gerade darum so wenig mimetisch, weil sie, im Gegensatz zu den aristotelischen Charakteren, in der Welt der „Nur-Literatur“ gefangen sind: Sie sagen und tun nicht das, was eine durch bestimmte psychologische Eigenschaften ausgezeichnete Figur in einer bestimmten Situation sagen und tun würde, sondern nur das, wodurch eine bereits bekannte literarische Figur in einem bestimmten Zusammenhang ihrer bereits bekannten Geschichte am erkennbarsten charakterisiert werden könnte. Diese im Kontext einer Tragödie außerordentlich verfremdend wirkende Darstellungsart ähnelt aber merklich sowohl der Charakterzeichnung, die für die griechische und römische Deklamation typisch wäre,82 als auch der
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Senecas ἔλεος auch Teil des visuellen Paradigmas, das den Tenor seiner Tragödien weitgehend bestimmt. Siehe Russell (1983), 21-39; van Mal Maeder (2007), 10-18; Kirichenko (2010), 201211.
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schematischen, auf altbewährte Formeln reduzierten Skizzierung historischer Personagen vom Schlag eines Cato, die in den anekdotenhaften exempla der senecanischen philosophischen Schriften so prominent agieren.83 Als klarstes Beispiel solcher klischeehaften Einseitigkeit von Senecas tragischen Charakteren könnte der von mir im sechsten Kapitel bereits ausführlich besprochene erste Monolog des Oedipus dienen, wo der Titelheld in kaum mehr als achtzig Versen (Sen. Oe. 1-81) auf die wesentlichsten Punkte der OedipusGeschichte hinweist und dadurch das zeitliche Kontinuum des gesamten sophokleischen Plots zu einem atemporalen Emblem komprimiert. Wie wir gesehen haben, kann diese kurze Rede keinesfalls die Entfaltung eines tragischen Charakters darstellen, der sich laut Aristoteles durch seine die Handlung vorantreibenden Entscheidungen manifestieren müsste, denn Senecas Oedipus ist völlig außer Stande, überhaupt irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Stattdessen wirkt sein Monolog wie eine Deklamationsübung, bei der man aufgefordert wird, in möglichst knapper Form darzulegen, was Oedipus beim Ausbruch der Pest in Theben sagen könnte. Um dabei sowohl den Charakter von Oedipus selbst als auch den Plot des sophokleischen Originals möglichst erkennbar zu skizzieren, werden selbst diejenigen Elemente seiner mythologischen Biographie erwähnt, die aus rein chronologischen Gründen im Kontext eher unpassend wirken (z.B. seine Erkenntnis, er sei die eignetliche Ursache der Pest, Sen. Oe. 28-36). Anstatt einer psychologischen Entwicklung haben wir hier also ein statisches Porträt, in dem die ursprüngliche dramatische Temporalität zu einer erstarrten Quintessenz zusammenschmilzt, in der die erkennbarsten Entwicklungsstufen dieses literarischen Charakters mehr oder weniger gleichzeitig wahrgenommen werden können.84 Solche metatheatralische Verfremdung dient einerseits dazu, die psychologische Identifikation mit Senecas tragischen Figuren weitgehend zu erschweren. Andererseits wird die daraus erfolgende Außenperspektive auf die Bühnenhandlung dadurch unterstützt, dass am Ende jedes Stücks die frustrierende Sinnlosigkeit der schauspielerischen Haltung der senecanischen Charaktere offenbart wird, um den Platz für eine von jeder Künstlichkeit bereinigte, erschreckend reale Grausamkeit frei zu machen, die, wie ich im vorigen Kapitel zeigte, in der rohen Ästhetik der Amphitheaterspiele – der Gladiatorenkämpfe und der ‚fatal charades’ – verhaftet ist. Es ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, dass der Kontrast zwischen der Künstlichkeit des Theaters und der Wahrhaftigkeit des Amphitheaters, auch in Senecas philosophischen Schriften einen wichtigen Platz einnimmt. Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen werden bei Seneca immer wieder als lehrreiche Symbole für das 83 84
Zu Senecas historischen exempla siehe Mayer (1991). Seneca scheint dabei eine für die antike Mahlerei durchaus typische Darstellungsweise bewusst zu evozieren. Zu solchen Komprimierungen der zeitlichen Erzählfolgen in der antiken Mahlerei siehe Gutzwiller (2004).
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menschliche Leben im Allgemeinen erwähnt.85 Eines der anschaulichsten Beispiele dieser Art findet man in De providentia, wo der Kampf eines Gladiators mit dem Kampf eines Weisen gegen Fortuna verglichen wird (Sen. prov. 2.7-12): miraris tu, si deus ille bonorum amantissimus, qui illos quam optimos esse atque excellentissimos vult, fortunam illis cum qua exerceantur adsignat? ego vero non miror, si aliquando impetum capiunt spectandi magnos viros conluctantis cum aliqua calamitate. nobis interdum voluptati est, si adulescens constantis animi inruentem feram venabulo excepit, si leonis incursum interritus pertulit, tantoque hoc spectaculum est gratius quanto id honestior fecit. non sunt ista quae possint deorum in se vultum convertere, puerilia et humanae oblectamenta levitatis: ecce spectaculum dignum ad quod respiciat intentus operi suo deus, ecce deo dignum, vir fortis cum fortuna mala compositus, utique si et provocaverit. Wunderst du dich, dass jener Gott, der die Guten so sehr liebt, der sie möglichst tüchtig und vorzüglich sehen will, ihnen ein Schicksal zuteilt, an dem sich üben sollen? Ich hingegen wundere mich gar nicht, wenn man manchmal das Verlangen verspürt, große Männer gegen irgendein Unglück kämpfen zu sehen. Uns bereitet es gelegentlich Vergnügen, wenn ein junger Mann von standhaftem Mut ein ihn angreifendes Wildtier mit einem Jagdspieß aufgefangen hat, wenn er den Andrang eines Löwen ohne Angst ertragen hat, und dieses Schauspiel ist umso angenehmer, je ehrenvoller er dies getan hat. Solche Dinge können aber den Blick der Götter nicht auf sich ziehen: das ist eine Unterhaltung für Kinder und leichtsinnige Menschen. Doch hier ist ein Schauspiel, das es wert ist, dass es der auf sein Werk bedachter Gott sieht, das eines Gottes wert ist: ein starker Mann, gegen Fortuna gestellt, besonders aber wenn er sie selbst herausgefordert hat.
Eine Amphitheatershow wird somit zum Sinnbild des theatrum mundi, in dem ein stoischer Weiser die ihm vom Schicksal auferlegte Rolle so gut wie möglich zu spielen und dadurch den hohen Ansprüchen von Gott – dem einzigen intendierten Zuschauer dieses Spektakels – zu entsprechen versucht.86 Im Gegensatz zu dem so verstandenen Welttheater versteht Seneca das Theater als solches (sowohl das tragische als auch das komische) gelegentlich als
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Zur Vorstellung vom Leben als einem Gladiatorenspiel siehe u.a. Sen. ira 2.8.2 non alia quam in ludo gladiatorio vita est cum isdem viventium pugnantiumque. ferarum iste conventus est, nisi quod illae inter placidae sunt morsuque similium abstinent, hi mutua laceratione satiantur. hoc uno ab animalibus mutis differunt, quod illa mansuescunt alentibus, horum rabies ipso a quibus est nutrita depascitur. Vgl. Wistrand (1990). Rosenmeyer (1989), 47-56.
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Sinnbild der Täuschung, der Verstellung und des sinnlosen Rollenspiels, aus dem auch das gesamte übliche Leben besteht (Sen. ep. 80.7):87 saepius hoc exemplo mihi utendum est, nec enim ullo efficacius exprimitur hic humanae vitae mimus, qui nobis partes, quas male agimus, adsignat. Ille, qui in scaena latus incedit et haec resupinus dicit: en impero Argis; regna mihi liquit Pelops, qua ponto ab Helles atque ab Ionio mari urgetur Isthmos, servus est, quinque modios accipit et quinque denarios; ille qui superbus atque impotens et fiducia virium tumidus ait: quod nisi quieris, Menelae, hac dextra occides, diurnum accipit, in centunculo dormit. idem de istis licet omnibus dicas, quos supra capita hominum supraque turbam delicatos lectica suspendit; omnium istorum personata felicitas est. contemnes illos, si despoliaveris. Öfter muss ich auf dieses Beispiel hinweisen, denn kein anderes kann dieses Schauspiel des Menschenleben treffender auf den Punkt bringen – das Schauspiel, das uns Rollen zuweist, die wir schlecht spielen. Dieser, der mit effektvoller Pose die Bühne betritt und hochnäsig Folgendes sagt: „Seht her! Ich bin der Herrscher von Argos; Pelops hat mir sein Königtum hinterlassen, wo vom Hellespont und vom Ionischen Meer der Isthmus bedrängt wird,“ – er ist in Wirklichkeit ein Sklave, er bekommt fünf Scheffel und fünf Denare. Jener, der übermütig, herrschsüchtig und vor Selbstbewusstsein strotzend sagt: „Wenn du dich nicht beruhigst, Menelaos, wirst du von dieser Rechten getötet,“ – er bekommt einen Tageslohn und schläft in einem Lumpenkleid. Dasselbe darf man über all die Verwöhnten sagen, die über den Köpfen der Menschenmenge in einer Sänfte getragen werden: All dieser Menschen Glück ist nur gespielt. Du wirst sie verachten, wenn du ihnen die Verkleidung abgenommen hast.
Diejenigen, die zu viel Wert auf ihren sozialen Status und Besitz legen, werden also mit tragischen (bzw. mimischen) Schauspielern verglichen. Somit wird das theatralische Schauspiel zu einer anschaulichen Metapher für die stoischen adiaphora.88 Das Leben der meisten Menschen ist aus dieser Perspektive heraus 87
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Vgl. Sen. ep. 76.31 nemo ex istis quos purpuratos vides felix est, non magis quam ex illis quibus sceptrum et chlamydem in scaena fabulae adsignant: cum praesente populo lati incesserunt et coturnati, simul exierunt, excalceantur et ad staturam suam redeunt. Vgl. Senecas Bild vom Leben als einem von der Fortuna veranstalteten Theaterspiel: Sen. ep. 74.7-9 hanc enim imaginem animo tuo propone, ludos facere fortunam et in hunc mortalium coetum honores, divitias, gratiam excutere. [...] itaque prudentissimus quisque, cum primum induci videt munuscula, a theatro fugit et scit magno parva constare. [...] secedamus itaque ab istis ludis et demus raptoribus locum; ille spectent bona ista pendentia et ipsi magis pendeant. Siehe dazu Solimano (1991), 64-91.
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betrachtet nichts anderes als solch ein Schauspiel, bei dem jeder durch die wertenden Blicke seiner Mitmenschen gezwungen wird, eine ihm selbst im Grunde vollkommen fremde Rolle zu übernehmen (Sen. tranqu. 17.1): est et illa sollicitudinum non mediocris materia, si te anxie componas nec ullis simpliciter ostendas, qualis multorum vita est, ficta, ostentationi parata; torquet enim adsidua observatio sui et deprendi aliter ac solet metuit. nec umquam cura solvimur, ubi totiens nos aestimari putamus quotiens aspici; nam et multa incidunt quae invitos denudent et, ut bene cedat tanta sui diligentia, non tamen iucunda vita aut secura est semper sub persona viventium. Auch das ist ein idealer Nährboden für Unruhe, wenn du dich angstvoll verstellst und dich niemandem zeigst, wie du bist: so ist das Leben vieler, gespielt, bereit, sich zur Schau zu stellen. Denn die permanente Beobachtung seiner selbst ist eine Qual, bei der man fürchten muss, aufzufallen, wenn man sich anders als sonst benimmt. Und wir werden von der Sorge nie befreit, solange wir glauben, man beurteile uns jedes Mal, wenn man uns ansieht, denn es kommt oft vor, dass man ungewollt bloßgestellt wird, und selbst wenn solche Selbstkontrolle gut verläuft, ist das Leben derer weder angenehm noch unbekümmert, die immer hinter einer Maske leben.
Mit diesem falschen (fingierten, nur zur Schau gestellten) Leben, bei dem man immer Angst haben muss, aus Versehen aus der Rolle herausfallen zu können, wird das Ideal des stoischen Weisen kontrastiert, der als Einziger nur eine einzige Rolle spielt – die Rolle seiner selbst (Sen. ep. 120.22): magnam rem puta unum hominem agere. praeter sapientem autem nemo unum agit, ceteri multiformes sumus. modo frugi tibi videbimur et graves, modo prodigi et vani; mutamus subinde personam et contrariam ei sumimus quam exuimus. hoc ergo a te exige, ut qualem institueris praestare te, talem usque ad exitum serves; effice ut possis laudari, si minus ut adgnosci. Betrachte es als eine wichtige Sache, einen einzigen Menschen zu spielen. Außer dem Weisen spielt niemand nur eine Rolle, der Rest von uns hat viele Erscheinungsformen. Bald werden wir dir rechtschaffen und ernst, bald verschwenderisch und oberflächlich vorkommen; wir wechseln ständig die Maske und setzten eine auf, die mit der kontrastiert, die wir gerade abgenommen haben. Verlange also von dir, dass du die Rolle, die du entschieden hast zu spielen, bis zu deinem Tod bewahrst. Sorge dafür, dass man dich lobt oder sonst zumindest wiedererkennt.
Dieser Kontrast zwischen dem tragischen Theater als Inbegriff der offensichtlichen Verstellung und dem Gladiatorenspiel, das man nicht nur als ein brutales
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Spektakel, sondern auch als die anschaulichste Manifestation eines der zentralen Prinzipien der stoischen Philosophie betrachten kann, ist von höchster Relevanz für unser Verständnis von Senecas Tragödien. Dass in jeder Tragödie mehrere mythologische Sujets nachgespielt werden, zeigt, dass Senecas Charaktere auch sub persona leben: Sie verstecken sich, anders gesagt, hinter – bisweilen mehreren – theatralischen Masken (sie sind in der Tat multiformes!) und wollen dadurch um jeden Preis vermeiden, dass ihr eigenes Wesen als solches erkannt (adgnosci) wird. Die Tragik ihrer Bühnenexistenz besteht darin, dass sie am Ende immer dazu gezwungen werden, ihre theatralischen Masken abzulegen, die Welt der ‚Nur-Literatur’ zu verlassen und wie in einer Amphitheatershow – oft mit verheerenden Konsequenzen für ihr eigenes Leben – nur sich selbst zu spielen. Im Gegensatz zum von Seneca in seinen philosophischen Schriften imaginierten Szenario werden sie infolgedessen keineswegs zu exemplarischen stoischen Weisen, die im Begriff sind, Fortuna zu besiegen. Stattdessen haben sie bei dieser endgültigen Entblößung drei folgende Optionen: Sie werden zu Kämpfern, deren Kraft unter Beweis gestellt wird und die am Ende der Gewalt der Arena erliegen (z. B. Hippolytus, Agamemnon, Astyanax und Polyxena); zu Zuschauern, die – wie Seneca philosophus – aus diesen brutalen Spektakeln etwas Essentielles, wie erschreckend es auch sein mag, über sich selbst und über die Welt, in der sie leben, lernen (z.B. Cassandra, Hecuba); oder zu Inkarnationen des Schicksals, das dieses brutale Spektakel überhaupt erst ermöglicht (dies betrifft vor allem Medea und Atreus, die am Ende ihrer Tragödien zu götterähnlichen Figuren werden). Die Grenzen zwischen diesen drei Funktionen sind jedoch keineswegs scharf gezogen, was zur Folge hat, dass dieselbe Figur paradoxerweise mehr als eine Rolle nicht nur in der Bühnenwelt der jeweiligen Tragödie, sondern auch im senecanischen theatrum mundi spielen kann. Verschiedene Konstellationen, die sich daraus ergeben, dienen dazu, die abstrakte Vorstellung vom theatrum mundi in eine konkrete dramatische Bühnenhandlung umzusetzen: Hercules, Theseus, Andromacha, Jason, Iocaste und Thyest kann man z. B. als Kämpfer gegen Fortuna auffassen, die sich im Laufe der Handlung in Zuschauer eines grausamen Schicksalsspektakels verwandeln; Medea, Oedipus und Atreus hingegen begegnen uns zunächst als bloße Zuschauer der ihnen von Fortuna aufgezwungenen Ereignisse, entwickeln sich aber sukzessive zu Kämpfern gegen Fortuna und schließlich zu symbolischen Inkarnationen des Schicksals. Besonders auffällig ist dabei, dass diejenigen senecanischen Figuren, die als Folge ihres Verzichts auf das Schauspiel zu Zuschauern werden, oft – wie wir als Leser von Seneca philosophus – durch einen äußerst verstörenden Anblick zu einer erschütternden Erkenntnis gezwungen werden und dass diese Erkenntnis oft dem entspricht, was man auch aus Senecas philosophischen Schriften – auf eine wesentlich weniger traumatisierende Weise – lernen könnte. Der Ansicht, die Hercules am Ende des Hercules Furens erreicht, dass das Leben unter
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Umständen heldenhafter sein kann als der Selbstmord (Sen. HF 1316-1317 eat ad labores hic quoque Herculeus labor: / vivamus), begegnet man in Senecas philosophischem Œuvre fast so oft89 wie der Vorstellung, die viele Charaktere von Senecas Tragödien teilen,90 dass der Tod (auch der Freitod) einem Leben in Unwürde zu bevorzugen ist.91 Das uns vor allem aus dem Oedipus bekannte Motiv der Notwendigkeit, sich der eigenen inneren Monstrosität bewusst zu werden, um den Heilungsprozess zu beginnen, findet auch Parallelen in Senecas philosophischer Therapie.92 Die Lektionen über die Unausweichlichkeit des Schicksals, die zerstörerischen Auswirkungen des Zorns und die Relativität der gesellschaftlich hoch angesehenen Güter, die viele senecanische Figuren im Laufe der Bühnenhandlung lernen müssen, sind stoische Gemeinplätze, die den Kern von Senecas pädagogischem Programm bilden.93 Und schließlich besitzt der von Theseus am Ende der Phaedra unternommene hoffnungslose Versuch der Wiederherstellung des zerstückelten Körpers des Hippolytus eine besonders vielschichtige philosophische Resonanz. Wie ich im 2. Kapitel gezeigt habe, kann die Zerstückelung des Hippolytus im Kontext der tragischen Handlung als Visualisierung der Dekonstruktion seiner nur scheinbar einheitlichen Weltsicht verstanden werden. Im Kontext des senecanischen philosophischen Schrifttums lässt diese Dekonstruktion wiederum an die wahrhaftige Obsession Senecas mit der Einheit der zwar aus fremden Quellen entnommenen, und doch zum eigenen Wissen zu verarbeitenden philosophischen 89
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Vgl. z.B. Sen. ep. 78.2 saepe impetum cepi abrumpendae vitae: patris me indulgentissimi senectus retinuit. cogitavi enim non quam fortiter ego mori possem, sed quam ille fortiter desiderare non posset. itaque imperavi mihi, ut viverem. aliquando enim et vivere fortiter facere est. 104.3 indulgendum est enim honestis adfectibus; et interdum, etiam si premunt causae, spiritus in honorem suorum vel cum tormento revocandus et in ipso ore retinendus est, cum bono viro vivendum sit non quamdiu iuvat sed quamdiu oportet: ille qui non uxorem, non amicum tanti putat ut diutius in vita commoretur, qui perseverabit mori, delicatus est. hoc quoque imperet sibi animus, ubi utilitas suorum exigit, nec tantum si vult mori, sed si coepit, intermittat et se suis commodet. Zum Selbstmord in Senecas philosophischen Schriften siehe Evenpoel (2004), mit zahlreichen Verweisen auf weitere Sekundärliteratur. Zu weiteren Parallelen zwischen Hercules’ Entschluss, am Leben zu bleiben, und Senecas Prosawerken siehe Rose (1983). Sen. Tr. 1173-1175 me solam times [sc. mors] [...] cupientem fugis; Me. 1018 Ia. infesta, memet perime. Me. misereri iubes; Ph. 1238 dehisce tellus, recipe me dirum chaos; Ag. 996 El. mortem aliquid ultra est? Ae. vita, si cupias mori, etc. Zum Tod in Senecas Tragödien siehe Ker (2009), 125-138. Zu diesem Motiv im Kontext der neronischen Epoche, wo erzwungene Selbstmorde laut historiographischen Quellen zum Alltag zu gehören scheinen, siehe Ker (2009), 247-280. Vgl. Sen. ep. 6.1 et hoc ipsum argumentum est in melius translati animi, quod vitia sua, quae adhuc ignorabat, videt. Vgl. Bartsch (2006), 191-229. Pratt (1983), 73-131.
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Lebenseinsichten denken.94 Die tragisch gescheiterte Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn in der senecanischen Phaedra – es ist nämlich von höchster Bedeutung, dass Hippolytus gerade bei dem vergeblichen Versuch, eine Heldentat seines Vaters zu kopieren (Sen. Ph. 1066 nam mihi paternus vincere est tauros labor), zu einer Ansammlung von fremdartig wirkenden und schlecht zusammenhängenden Fragmenten wird und dass gerade sein im metatheatralischen Teufelskreis gefangener Vater einen vergeblichen Versuch unternimmt, aus diesen Fragmenten eine Kopie seines Körpers herzustellen (Sen. Ph. 1266 corpusque fingit) – wirkt dabei wie ein skurril verzerrtes Echo, oder vielmehr wie eine ex negativo erfolgende Illustration, von Senecas eigenem pädagogischen Ideal: Wie Seneca in einem seiner Briefe betont, solle man alte Autoritäten nicht eins zu eins kopieren, sondern sich ihr Wissen so zueigen machen, dass man ihnen wie ein Sohn, und nicht wie ein Ebenbild ähnelt, da imago res mortua est.95 Die Erfahrung, die wir als Rezipienten am Ende jeder senecanischen Tragödie machen, entspricht weitgehend auch der Erfahrung der Figuren, die durch den unerträglichen visuellen Schock zu einer ihr eigenes Leben auf immer transformierenden Erkenntnis gelangen. Wir werden dabei ebenfalls Zeugen davon, wie die erdrückende Masse, die aus der klischeehaften visuellen Rhetorik und der aussichtslosen Metatheatralik besteht, am Ende unter ihrem eigenen Gewicht einstürzt, um aus den Trümmern eine dagegen bereinigt und abstrakt wirkende Erkenntnis entstehen zu lassen. Genauso wie in den philosophischen Schriften lenken auch in den Tragödien die visuellen Sinneseindrücke vom kognitiven Gehalt keineswegs ab, sondern tragen vielmehr dazu bei, es dem Rezipienten möglichst wirksam einzuprägen.96 Die senecanischen Tragödien erweisen sich 94
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Vgl. z.B. Sen. ep. 33.5 quare depone istam spem posse te summatim degustare ingenia maximorum virorum: tota tibi inspicienda sunt, tota tractanda. res geritur et per lineamenta sua ingenii opus nectitur, ex quo nihil subduci sine ruina potest. Sen. ep. 89.1-3 rem utilem desideras et ad sapientiam properanti necessariam, dividi philosophiam et ingens corpus eius in membra disponi. facilius enim per partes in cognitionem totius adducimur. [...] dividi enim illam, non concidi, utile est. nam comprehendere quemadmodum maxima ita minima difficile est. [...] quicquid in maius crevit, facilius agnoscitur, si discessit in partes, quas, ut dixi, innumerabiles esse et parvulas non oportet. idem enim vitii habet nimia quod nulla divisio; simile confuso est, quidquid usque in pulverem sectum est. Vgl. auch Schönegg (1999), 195-221 zum 102. Brief. Sen. ep. 84.7 hoc faciat animus noster: omnia, quibus est adiutus, abscondat, ipsum tantum ostendat, quod effecit. etiam si cuius in te comparebit similitudo, quem admiratio tibi altius fixerit, similem esse te volo quomodo filium, non quomodo imaginem: imago res mortua est. Diese Interpretation entkräftet einen der wichtigsten Einwände gegen die Kompatibilität zwischen Senecas philosophischen Schriften und seinen Tragödien, der bekanntlich darin besteht, dass die in den letzteren geschilderten Ereignisse nichts anderes bewirken können, als einem die für eine Selbsterkenntnis wohl notwendige
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somit – völlig im Einklang mit dem stoischen Gedankengut – wie bloße Trugbilder (φαινόµενα); paradoxerweise werden sie jedoch gerade wegen – und nicht trotz – ihrer mit den aristotelischen Vorstellungen durchaus kompatiblen emotionalen Wirkung, zu außerordentlich lehrreichen Trugbildern. Dadurch verkörpern sie, wenn auch auf eine überraschend neuartige Weise, das πάθει µάθος (Aesch. Ag. 177) Prinzip der klassischen griechischen Tragödie. Gleichzeitig sind sie eben aufgrund ihres übermäßig betonten Lehrreichtums der klassischen Tragödienästhetik diametral entgegengesetzt. Am Anfang des vorigen Kapitels habe ich bereits behauptet, dass die Eigenart von Senecas Tragödien in einer Umkehrung der aristotelischen Tragödienästhetik gesehen werden könnte: Bei Seneca wird die Bedeutung der für Aristoteles zentralen Kategorie des µῦθος drastisch reduziert und an deren Stelle tritt die aus der aristotelischen Perspektive gänzlich außerhalb der poetischen Kunst befindliche Kategorie der ὄψις. In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass die aus der aristotelischen Perspektive zweitwichtigste Kategorie der ἦθη bei Seneca ihre Bedeutung ebenso weitgehend einbüßt. Stattdessen wird aber eine weitere Kategorie hervorgehoben, die für Aristoteles auch eine untergeordnete Rolle spielt, nämlich διάνοια.97 Der Hauptgrund, warum Aristoteles διάνοια herunterstuft,
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seelische Ruhe endgültig zu rauben. Siehe z.B. den Schluss von Alessandro Schiesaros Buch (Schiesaro (2003), 255): „There is too much pleasure in Atreus for the author or the audience to be uneffected by it. [...] He relishes passions and he relishes pain, his enemies’ pain. There is pleasure to be found in passions, and it is the pleasure that Thyestes and Atreus want us to share with them.“ Diese Annahme basiert, genauso wie Shadi Bartschs Idee von der „Stoic ekphrasis“ (Bartsch (2007)), auf der Verwechslung zwischen den unfreiwilligen – natürlichen – corporis pulsus (oder motus qui non voluntate nostra fiunt, also spontanen körperlichen Reaktionen auf starke Sinneseindrücke) und den adfectus animi (den Leidenschaften), die auf jeden Fall unter Kontrolle gehalten werden müssen (Sen. ira 2.2-3; insb. Sen. ira 2.2.3 nam si quis pallorem et lacrimas procidentis et inritationem umoris obsceni altumve suspirium et oculos subito acriores aut quid simile indicium adfectus animi signum putat, fallitur nec intellegit corporis hos esse pulsus.). Die Perversion des Atreus besteht gerade darin, dass es bei ihm genau umgekehrt ist: Im Gegensatz zu normalen Menschen zeigt er keine natürlichen „motus corporis“ (Sen. Th. 703-704 movere cunctos monstra, sed solus sibi / immotus Atreus constat), kann und will aber – als „entfesselter Überbietungskünstler,“ der vom Chor sehr passend als nec potens mentis (Sen. Th. 547) charakterisiert wird, – seine adfectus animi nicht zügeln (Sen. Th. 192-193 age, anime, fac quod nulla posteritas probet, / sed nulla taceat; vgl. 267, 270, 275 und insb. 261-262 rapior et quo nescio, / sed rapior). Ähnliches kann auch von anderen senecanischen Figuren gesagt werden, deren Leidenschaften laut Schiesaro auf den Rezipienten eine ansteckende Wirkung ausüben müssen. Was Seneca von uns erwartet, ist vielmehr, dass wir einen ictus, oder eine ἔκπληξις (vgl. Sen. Th. 744 exhorruistis?), erleben, was jedoch – in der Begrifflichkeit des 57. Briefes – zu einer positiven mutatio führen kann. Vgl. Staley (2010), 63. Ar. Poet. 1450b4-6 τρίτον δὲ διάνοια· τοῦτο δέ ἐστιν τὸ λέγειν δύνασθαι τὰ ἐνόντα καὶ τὰ ἁρµόττοντα, ὅπερ ἐπὶ τῶν λόγων τῆς πολιτικῆς καὶ ῥητορικῆς ἔργον ἐστίν
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liegt bekanntlich daran, dass sich diese Kategorie nicht auf die Gedanken bezieht, die die Charaktere aus den mimetischen Erfordernissen des Plots heraus äußern, sondern nur allgemeine Aussagen darüber, was – nicht in der Welt des Stücks, sondern überhaupt – stimmt oder nicht stimmt.98 Es ist offensichtlich, dass Seneca nicht nur in seinen philosophischen Schriften, sondern auch in seinen Tragödien besonders großen Wert auf die Etablierung einer so verstandenen διάνοια legt, denn durch seine Rhetorik des Sehens bewegt er den Rezipienten zu einer allgemeinen auf jedes individuelle Leben anwendbaren Erkenntnis. Wenn man also die Begrifflichkeit von Aristoteles’ Poetik auf Senecas tragische Poetik übertragen würde, müsste die διάνοια zweifelsohne an erster Stelle stehen – gefolgt von der ὄψις, deren Ziel jedoch hauptsächlich darin bestünde, nichts anderes als die διάνοια selbst sichtbarer zu machen.
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Ar. Poet. 1450b12 διάνοια δὲ ἐν οἷς ἀποδεικνύουσί τι ὡς ἔστιν ἢ ὡς οὐκ ἔστιν ἢ καθόλου τι ἀποφαίνονται, vgl. Blundell (1992)
10. „Du musst dein Leben ändern“: Der Chor und das tragische Spektakel Senecas Behandlung des Chors wirft eine Reihe interpretatorischer Fragen auf, denen man als Leser der klassischen griechischen Tragödie zunächst hilflos gegenüber stehen müsste.1 Schon mit der für jede griechische Tragödie selbstverständlichen Vorstellung, dass der Chor eine klar umrissene, von der Bühnenhandlung bestimmte Identität besitzt, stößt man bei Seneca auf erhebliche Schwierigkeiten.2 In manchen Passagen lässt sich zwar die Identität des Chors, wie in den griechischen Prototypen, dadurch problemlos feststellen, dass der Chor von anderen handelnden Figuren angesprochen wird oder auf seine Identität selbst rekurriert.3 Es gibt aber auch zahlreiche Chorpassagen, die man nur schwerlich mit der konventionellen Vorstellung von einer mit der fiktionalen Welt der Tragödie fest verbundenen Chorstimme versöhnen kann, denn der Chor scheint in ihnen das Bühnengeschehen wie eine völlig entkörperte Instanz aus einer Außenperspektive zu betrachten. Die auf diese Weise entstehende Verwirrung wird zusätzlich dadurch erhöht, dass sich einzelne Facetten der Choridentität, wie wir gleich sehen werden, häufig innerhalb eines Stückes auf das Schärfste widersprechen. Einer weiteren erheblichen Schwierigkeit begegnet man bei dem Versuch, die Angaben des Texts hinsichtlich der Bühnenpräsenz des Chors zu interpretieren. Im Gegensatz zur griechischen Tragödie wird das Betreten der Bühne durch den Chor bei Seneca in keiner Weise angekündigt. Dementsprechend gibt es natürlich auch keine Parodos, in der der Chor selbst handlungsbedingte Gründe für seinen Auftritt erklären könnte.4 Der Chor beginnt somit scheinbar unmotiviert zu singen, sodass jeder, der den Versuch unternimmt, Senecas Tragödien gemäß den für die griechische Tragödie typischen Bühnenkonventionen zu betrachten, mit einer eigenartigen Verwirrung ringen muss: Befindet sich der Chor vom Anfang an auf der Bühne oder betritt er diese unauffällig während des 1 2 3
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Vgl. Hill (2000), 562. Zu Argumenten für eine stabile Identität der senecanischen Chöre vgl. Sutton (1984) und Davis (1993), 38-63; zu Argumenten dagegen vgl. Hill (2000). Z.B. Sen. HF 827-829 densa sub laeto venit / clamore turba frontibus laurum gerens / magnique mertias Herculis laudes canit. Sen. Tr. 63-64 lamenta cessant? turba captivae mea, / ferite palmis pectora et planctus date. Sen. Ag. 586-587 sed ecce turba tristis incomptae comas / Iliades adsunt. Vgl. Sutton (1986), 35-37. Davis (1993), 11-12.
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Prologs?5 Die Texte der Tragödien Senecas lassen leider keine eindeutige Antwort auf diese Frage zu. Die Lage wird außerdem dadurch noch verwirrender, dass die Bühnenpräsenz des Chors auch im weiteren Verlauf der Tragödien eher flexibel gehandhabt wird. Es gibt bei Seneca immer wieder Episoden, die voraussetzen, dass der Chor während der Handlung abwesend sein muss: Entweder verkündet eine der handelnden Figuren explizit, dass sich auf der Bühne niemand außer den an der Konversation teilnehmenden Gesprächspartnern befindet,6 oder die Aussagen des Chors zeigen eindeutig seine vollkommene Unkenntnis von all dem, was im vorherigen Akt auf der Bühne vorgefallen ist.7 Um solche Situationen aus den traditionellen Bühnenkonventionen heraus zu erklären, haben manche Forscher für jede Tragödie ein höchst komplexes – und gerade darum besonders wenig überzeugendes – Bewegungsmuster postuliert, demzufolge der Chor die Bühne ständig verlassen und im Anschluss wieder betreten müsste – bisweilen mehr als einmal innerhalb eines einzigen Aktes.8 Angesichts solcher Schwierigkeiten überrascht es kaum, dass die Frage nach dem Grad der Integration der Chorpassagen in die dramatische Textur der senecanischen Tragödien auch umstritten ist. Die Meinungspalette umfasst in diesem Punkt mehr oder weniger jede Abstufung zwischen einer harmonischen 5 6
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Sutton (1986), 37-41. Die Anwesenheit des Chors, der sich eben noch auf der Bühne befand, wird z.B. in einer Szene der Phaedra einfach ignoriert (Sen. Ph. 599-601): Ph. commodes paulum, precor, / secretus aures. si quis est, abeat comes. / Hi. En locus ab omni liber arbitrio vacat. Es ist also fast so, als sei der Chor ein an einem offenen Fenster stehender Passant, der alles, was sich innerhalb des Hauses abspielt, beobachten und sich sogar mit seinen Bewohnern unterhalten kann, der aber nicht in der Lage ist, irgendwas dagegen zu unternehmen, wenn die Bewohner entscheiden, das Fenster von innen zuzuschließen. Vgl. Gärtner (2003), 1: „Abgesehen von dieser mangelnden persönlichen Profilierung verhält sich der Chor aber auch gelegentlich in eklatanter Weise inkonsequent gegenüber dem dramatischen Geschehen: Etwa im Thyest hat er offenbar mit angehört, wie Atreus gegen seinen Bruder ein gräßliches, alle bisherigen Verbrechen überbietendes Mordkomplott schmiedet (zumindest gibt der Text keinen Hinweis, daß der Chor während dieser Szene den Schauplatz des Geschehens verlassen hätte) – und trotzdem singt er im dritten Chorlied einen Lobpreis auf die Bruderliebe. Wenn man diesen Chor im aristotelischen Sinne als eine an der Handlung teilnehmende Person ansehen wollte, müßte man ihm geistige Demenz unterstellen.“ Vgl. Arist. Poet. 1456a25-27. Tarrant (1978), 221-228; Davis (1993), 11-38. Calder (1975) postuliert zu diesem einen kleinen, drei bis sieben Sänger umfassenden Chor, der die Bühne schnell verlassen und wieder betreten könnte. Siehe auch Boyle (1987), 78; Marschall (2000). Dafür gibt es, wie er selbst zugibt (Calder (1975), 328), keine antiken Belege. Angesichts dessen, was Seneca über die riesigen zeitgenössischen Chöre berichtet (Sen. ep. 84.9-10, siehe unten, Anm. 76), selbst wenn er höchstwahrscheinlich keine tragischen Chöre im Sinne hat, erscheint diese Annahme besonders wenig plausibel.
Der Chor
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Verschmelzung mit der Handlung (wie in der klassischen Tragödie) und einer vollkommenen Losgelöstheit vom Kontext (demnach hätten wir bei Senecas Chören mit den so genannten embolima zu tun, die laut Aristoteles für die Tragödie des vierten Jahrhunderts, und allem Anschein nach auch in der hellenistischen Zeit, typisch waren).9 Diese auffällige Diskrepanz in der Forschung erklärt sich unter anderem dadurch, dass sich Senecas Chorlieder in zwei grobe – grundverschiedene – Kategorien aufteilen lassen.10 Einerseits gibt es in senecanischen Tragödien zahlreiche Chorlieder, die emotionale Reaktionen auf konkrete auf der Bühne dargestellte Begebenheiten enthalten und sich dabei in der Begrifflichkeit der traditionellen griechischen Chorlyrik problemlos analysieren oder sogar auf bestimmte Chorpartien der griechischen Tragödie als Inspirationsquellen zurückführen lassen.11 Andererseits begegnet man unter Senecas Chorliedern einer großen Anzahl an Passagen, die dem dramatischen Geschehen gegenüber eine kühl distanzierte Haltung einnehmen und die deswegen wie kleine philosophische Traktate in Versen wirken. Demzufolge werden Senecas Chöre oft gemeinhin als Sprachrohr der als stoisch postulierten auktorialen Stimme erklärt, durch die die Rezeption der Tragödien in eine stoisch-orthodoxe Richtung gelenkt werden soll.12 Bereits aus diesen kursorischen Bemerkungen lässt sich klar erkennen, dass jeder Versuch, Senecas Chorlieder in der für die griechische Tragödie angemessenen Begrifflichkeit zu verstehen, zum Scheitern verurteilt sein muss, denn keine der üblichen Gewissheiten scheint hier in vollem Maße zu gelten: Senecas Chor ist weder völlig anwesend noch völlig abwesend;13 er scheint eine klare 9
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Vgl. Ar. Poet. 1456a25-32. Siehe z.B. Bishop (1964) und Davis (1993) (harmonische Verschmelzung) einerseits und Tarrant (1978), 222-228 und Martina (1996) (mehr oder weniger komplette Losgelöstheit) andererseits. Vgl. auch die Bemerkungen zur Typologie von Senecas Chorliedern in Mazzoli (1996). Dies hat zur Folge, dass man immer wieder versucht hat, die Beschaffenheit senecanischer Chorpartien im Allgemeinen entweder aus den bekannten Bühnenkonventionen der klassischen griechischen Tragödie (z.B. Sutton (1986), 35-42) oder aus den hypothetisch rekonstruierten Konventionen der hellenistischen und der republikanischen römischen Tragödie heraus zu erklären (z.B. Tarrant (1978), 221-228). Z.B. Nussbaum (1993), 148: „The [Senecan] chorus, frequently a guide for the spectator’s response, is moralizing and orthodox to a degree unknown in Greek tragedy; it usually lacks sympathy with the principal character. In these ways, Seneca promotes Stoic spectatorship.“ Vgl. Fitch (1987), 256: „[T]he Chorus in Senecan tragedy cannot be assumed to have a continuous existence outside the odes. It springs to life intermittently at the dramatist’s convenience, and may also be regarded as absent when it is convenient; elsewhere it is not so much ‚present’ or ‚absent’ as simply in abeyance. Correspondingly the amount of knowledge the Chorus displays in the odes depends not on its previous presence onstage but on the dramatist’s decision.“
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Identität zu haben und hat dann doch keine; seine Lieder haben keine spürbaren Auswirkungen auf die Bühnenhandlung und sind mit ihr doch sehr eng verbunden. Dass sich die griechische Tragödie auch in diesem Punkt als ein eher irreführendes Modell erweist, ist allerdings wenig verwunderlich, da Seneca, wie ich bereits an mehreren Beispielen gezeigt habe, in seinen Tragödien eine von seinen griechischen Prototypen grundverschiedene Ästhetik entwickelt. Die meisten Figuren in senecanischen Dramen sind sich bekanntlich stets dessen bewusst, dass sie – zusätzlich zu ihrer eigenen – mindestens eine weitere Rolle spielen. Auch der senecanische Chor bildet erwartungsgemäß keine Ausnahme von dieser radikal metatheatralischen Tragödienästhetik: Sein undefinierbarer Status an der Grenze zwischen Bühnenfiktion und Außenwelt lässt sich meines Erachtens am besten dadurch erklären, dass er nur die Rolle eines klassischen tragischen Chors spielt, ohne dabei jemals die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass es sich dabei um nichts anderes als ein Schauspiel handelt. Diese wechselhafte Grenzstellung erlaubt es dem Chor – mehr oder weniger nach Belieben – in die tragische Fiktion des Stücks hineinzutauchen, darin eine – oder in einem Fall sogar zwei verschiedene – Identitäten anzunehmen, und die verstörenden Bühnenereignisse emotional an sich herankommen zu lassen, nur um diese Fiktion anschließend wieder zu verlassen und ihre überwältigende visuelle Fülle von außen als Veranschaulichung einer allgemein gültigen Wahrheit zu betrachten.14 Die Oszillierung des Chors zwischen einer völligen Identifikation mit der tragischen Welt und der distanzierten Außenperspektive eines philosophisch aufgeklärten Zuschauers erfolgt in jeder senecanischen Tragödie nach einem individuellen Muster, das mit dem Charakter der jeweiligen Handlung fest verbunden ist. Hierbei ist der Zuschauer, zu dem der Chor gelegentlich wird, nicht immer „der ideale Zuschauer“, mit dessen Perspektive man sich als Rezipient zu jedem Zeitpunkt identifizieren muss. Ganz im Gegenteil: In manchen Fällen erscheint die Wahrnehmung der Bühnenereignisse durch den Chor als schlicht fehlerhaft. Das dient wiederum dazu, unsere Wahrnehmung des tragischen Spektakels erheblich zu verkomplizieren, weil wir in solchen Fällen dazu aufgefordert werden, eine distanzierte Haltung nicht nur in Bezug auf die Bühnenhandlung, sondern auch in Bezug auf die Rezeption dieser Bühnenhandlung durch den Chor anzunehmen. Der Chor zeigt uns also nicht immer den 14
Wir wissen zwar nicht, wie (oder ob überhaupt) sich Seneca die Aufführung seiner Tragödien vorstellte. Wenn ich aber eine senecanische Tragödie aufführen müsste, würde folgendes Szenario meinem Verständnis von Senecas Texten am ehesten entsprechen: Der Chor bleibt im Laufe des gesamten Stücks auf der Bühne, setzt jedoch nur für ausgewählte Chorlieder seine Maske(n) auf und verwandelt sich dadurch sichtbar in einen Schauspieler; ohne Maske ist er aber ein Außenbetrachter, der innerhalb der Bühnenwelt nicht mehr wahrgenommen werden kann. In jeder Tragödie hätten wir es dann mit verschiedenen Mustern (und sogar mit verschiedenen, schattierungsreichen Abstufungen) des Maskentragens zu tun.
Der Chor
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genauen Weg, dem wir folgen müssen. Die selbstbewusst schauspielerische Haltung des Chors hat eine viel wichtigere Konsequenz für unser Verständnis der Tragödien: Dadurch, dass der Chor die Trennlinie zwischen der Bühnenfiktion und der Außenwelt ständig kreuzt, verfestigt er den Eindruck, dass es sich bei der Bühnenhandlung um nichts anderes als ein bloßes Trugbild handelt; dadurch aber, dass er die Bühnenereignisse sowohl aus der Perspektive eines zur fiktionalen Welt gehörenden Akteurs erlebt als auch aus einer philosophisch distanzierten Perspektive heraus betrachtet, erlaubt er auch uns, das lehrreiche Potenzial dieses Trugbildes als Folge seiner emotionalen Wirkung zu erfahren. Was sich daraus ergibt, ist ein uns bereits aus Senecas philosophischen Schriften wohl bekanntes Rezeptionsparadigma, bei dem eine intellektuelle Erkenntnis auf dem Umweg über eine emotionale Erschütterung erreicht wird. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie Seneca den Chor einsetzt, um die Bühnenwelt seiner Tragödien zu destabilisieren, findet sich in den Troades. Das erste Chorlied dieser Tragödie ist wahrscheinlich die mit der griechischen Chortradition am engsten verbundene Passage, die man bei Seneca finden kann.15 In diesem von einem Chor der gefangenen Troerinnen gesungenen Klagelied übernimmt Hecuba die traditionelle Rolle eines Choregos, indem sie den Chor anspornt und somit dem Gesang eine thematische Struktur vorgibt (Sen. Tr. 98 Hectora flemus, 131 Priamo vestros fundite fletus).16 Am Ende dieses Chordialogs fordert Hecuba die gefangenen Frauen auf, auch ihr eigenes Schicksal zu beklagen.17 Darauf antwortet der Chor mit der folgenden Passage (Sen. Tr. 155-159): ‚Felix Priamus’ dicimus omnes; secum excedens sua regna tulit. nunc Elysii nemoris tutis errat in umbris interque pias felix animas Hectora quaerit. „Glücklich ist Priamus,“ sagen wir alle; scheidend nahm er sein Königreich mit sich. Jetzt wandert er in sicheren Schatten des elysischen Haines, und unter den frommen Seelen glücklich sucht er Hector.
Einerseits ist der an dieser Stelle zum Ausdruck gebrachte Gedanke typisch senecanisch, denn die Vorstellung davon, dass die auf der Bühne dargestellten Ereignisse die mythologischen Gestalten von Tod und Unterwelt bei weitem übertreffen, ist, wie wir mehrfach beobachten konnten, eines der wichtigsten 15 16
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Fantham (1982), 219-231; Boyle (1994), 144-145; Gärtner (2003), 30-32. Vgl. Gärtner (2003), 30: „Das erste Lied trägt schon formal Züge, die ungewöhnlich sind für senecanische Chorlieder. Es bedient sich der in der klassischen griechischen Tragödie üblichen Form des Wechselgesangs (Amoibaion).“ Vgl. Wilson (1983), 50; Davis (1993), 136-138.
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Leitmotive senecanischer Tragödien. Andererseits basiert die Rhetorik dieser Passage auf dem für die griechische Tragödie charakteristischen traditionellen religiösen Weltbild: Die Behauptung, das Leben der gefangenen Troerinnen sei schlimmer als der Tod, entfaltet seine Überzeugungskraft gerade dadurch, dass der Chor die als unzweifelhaft geltende selige post-mortem-Existenz der im trojanischen Krieg gefallenen Männer als etwas im Vergleich zum eigenen Leben Beneidenswertes darstellt. Nach dieser rhetorisch höchst überzeugenden Darstellung vom Leben nach dem Tod wirken die Aussagen der zweiten Chorpassage wie ein verblüffender Schock.18 Besonders bemerkenswert ist, dass diesem Chorlied zwei weitere Bestätigungen der traditionellen Unterweltsvorstellungen vorangehen – Talthybius’ Rede, in der er den aus dem Tartarus aufgestiegenen Geist des Achill detailliert beschreibt, und Calchas’ Verkündung, dass dieser Geist nicht nach einem, sondern nach zwei menschlichen Opfern verlangt (Sen. Tr 360-371). Umso verstörender wirkt in diesem Kontext die unmittelbar darauf folgende Chorpassage, in der die Existenz der soeben mit äußerster Anschaulichkeit geschilderten Welt des Übernatürlichen kurzerhand negiert wird: In diesem Chorlied werden sowohl die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod überhaupt als auch die gesamten damit verbundenen mythologischen Vorstellungen explizit für poetische Fiktionen erklärt (Sen. Tr. 397-408): post mortem nihil est ipsaque mors nihil, velocis spatii meta novissima; spem ponant avidi, solliciti metum: tempus nos avidum devorat et chaos. mors individua est, noxia corpori nec parcens animae: Taenara et aspero regnum sub domino limen et obsidens custos non facili Cerberus ostio rumores vacui verbaque inania et par sollicito fabula somnio. quaeris quo iaceas post obitum loco? quo non nata iacent. Nach dem Tod ist nichts, und der Tod selbst ist nichts – die letzte Zielsäule einer hastigen Laufbahn; die Gierigen mögen ihre Hoffnung aufge18
Vgl. Fantham (1982), 85: „[T]he message of the ode contradicts the beliefs, the dramatic experience, and even the explicit description of the Trojan women. [...] There is, to be sure, no parallel for such an editorial intrusion in Seneca’s other tragedies.“ Siehe dazu auch Kugelmeier (2001). Zu verschiedenen Versuchen, diesen Widerspruch zu glätten, siehe Davis (1993), 139-143; Boyle (1994), 172-173; Marino (1996); Scherer (1999); Gärtner (2003), 31-35. Hill (2000), 582: „The attempts to reconcile these two choruses have given rise to some extraordinary mental gymnastics.“
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ben, die Beunruhigten ihre Angst: die gierige Zeit verschlingt uns und das Chaos. Der Tod ist unteilbar; schädlich dem Körper, verschont er nicht die Seele: Taenarus und das Königreich unter dem strengen Herrn und der Cerberus, der als Wächter das nicht leicht zu durchschreitende Tor versperrt, sind nur leere Gerüchte, nichtige Worte und eine Fabel, gleich einem Traum. Du fragst, an welchem Ort du nach dem Tod liegen wirst? Da, wo Ungeborene liegen.
Diese kompromisslos skeptische Haltung gegenüber den Überlebenschancen der menschlichen Seele nach dem Tod, für die es übrigens in Senecas philosophischen Schriften klare Parallelen gibt,19 bildet einen gravierenden Kontrast nicht nur zum unmittelbaren dramatischen Kontext, in dem das Erscheinen der Seele eines Verstorbenen im Mittelpunkt steht, sondern auch zur Identität des Chors als einer Gruppe von Troerinnen, die in ihrem ersten Auftritt die Existenz des verstorbenen Priamus im Elysium für beneidenswert erklärten. Wir haben hier also eine eigenartige Identitätsspaltung des Chors vorliegen: Im zweiten Chorlied lässt der Chor einfach die Maske fallen, die er im ersten getragen hat, und betrachtet die übernatürliche, „tragische“ Welt aus einer aufgeklärten Außenperspektive heraus. Besonders erstaunlich an dieser Spaltung der Chorstimme ist, dass die skeptische Einstellung des Chors zur dramatischen Fiktion nur außerhalb dieser Fiktion – von uns – wahrnehmbar ist. Dies wird aus Andromachas Reaktion auf das zweite Chorlied hinreichend klar (Sen. Tr. 409-411): quid, maesta Phrygiae turba, laceratis comas miserumque tunsae pectus effuso genas fletu rigatis? Warum reißt ihr, Phrygiens elende Schar, das Haar, schlagt die jammervolle Brust und benetzt mit strömenden Tränen die Wangen?
Der Unterschied zwischen dem, was wir als Außenbetrachter in diesem Gesang hören, und dem, was Andromacha als fiktionale Figur hört, kann kaum größer sein: Wir hören eine nüchterne vernichtende Kritik der traditionellen mythologischen Vorstellung vom Leben nach dem Tod; sie hingegen hört nichts anderes 19
Vgl. z.B. Sen. Marc. 19 cogita nullis defunctum malis adfici, illa quae nobis inferos faciunt terribiles, fabulas esse, nullas imminere mortibus tenebras nec carcerem nec flumina igne flagrantia nec Oblivionem amnem nec tribunalia et reos et in illa libertate tam laxa ullos iterum tyrannos: luserunt ista poetae et vanis nos agitavere terroribus. Mors dolorum omnium exsolutio est et finis ultra quem mala nostra non exeunt, quae nos in illam tranquillitatem in qua antequam nasceremur iacuimus reponit. si mortuorum aliquis miseretur, et non natorum misereatur. Vgl. auch Sen. ep. 65.24 Mors quid est? aut finis aut transitus. Nec desinere timeo - idem est enim quod non coepisse -, nec transire, quia nusquam tam anguste ero. Zu Lukrez’ De rerum natura als einem möglichen Intertext dieser Chorpassage siehe Penwill (2005).
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als ein traditionelles ‚tragisches’ Klagelied – wenn überhaupt, dann nicht das zweite, sondern das erste Chorlied der Tragödie.20 Somit wird die wechselhafte Identität des Chors zum Instrument der Reflexion über die instabile, nur als eine visuell schockierende Gestalt zu verstehende Natur der tragischen Welt, hinter der sich jedoch eine abstraktere – der scheinbaren Bedeutung der visuellen Oberfläche mitunter entgegengesetzte – Bedeutung verbirgt. Die Spaltung der Chorstimme problematisiert also nicht nur den ontologischen Status des Chors selbst – seine Rolle als Schauspieler, der zwar seine traditionelle Funktion erfüllt, dennoch die rein schauspielerische Natur dieser Funktion nie außer Acht lässt, – sondern sie lenkt auch unsere Aufmerksamkeit auf die gesamte tragische Welt des Stückes als ein lehrreiches Trugbild. Eine ähnliche Spaltung der Chorstimme lässt sich ebenso im Agamemnon beobachten. Die beiden mittleren Chorlieder, in denen der Chor zwei verschiedene Rollen – Bürger von Argos und gefangene Troerinnen – spielt,21 lassen sich am besten als eine eng miteinander verknüpfte Einheit analysieren. Das zweite Chorlied ist ein fröhlicher, an eine Reihe von olympischen Göttern gerichteter Hymnus, der die Ankunft des Agamemnon zelebriert (vgl. Sen. Ag. 346-347 tu [sc. Iuno] nunc laurus Agamemnonias / accipe victrix). Diese senecanische Passage ist demnach eine derjenigen, die sich auf eine konkrete Gattung der klassischen griechischen Chordichtung zurückführen lassen.22 Mehr noch: Im Einklang mit der für den Chor der griechischen Tragödie typischen Selbstreferentialität rekurriert der Chor an dieser Stelle auch auf seine eigene Performance, die – dem Anlass gemäß – im fröhlichen Singen, Tanzen und Opfern besteht (Sen. Ag. 310-322).23 Mit anderen Worten haben wir es hier mit einem traditionell anmutenden Chorlied zu tun, das sich – wie in einer klassischen griechischen Tragödie – in den dramatischen Kontext der Handlung nahtlos einfügen könnte. Doch gerade in seinem unmittelbaren Kontext wirkt dieser Hymnus erstaunlicherweise vollkommen fehl am Platze: Unmittelbar vor dem Chorlied entfernen sich Clytaemnestra und Aegisth, um die Ermordung des in Argos noch nicht angekommenen Agamemnon zu planen, wodurch der Chor auf der Bühne zunächst allein zurückbleibt.24 Erst unmittelbar danach kommt Eurybates als erster in Argos an, um vom Seesturm zu erzählen, den die Flotte des Agamemnon bei der Heimkehr erlitt (Sen. Ag. 412-578). Der Chor singt somit seinen 20 21 22 23 24
Fantham (1982), 85; Hill (2000), 584. In der Regel geht man in der Forschung natürlich von zwei verschiedenen Chören aus. Siehe z.B. Gärtner (2003), 41. Zu vergleichbaren Passagen in der griechischen Tragödie siehe Tarrant (1976), 231233. Zur Selbstreferentialität des Chors in der griechischen Tragödie siehe Henrichs (19941995). Sen. Ag. 308-309 Cl. secede mecum potius ut rerum statum / dubium ac minacem iuncta consilia explicent.
Der Chor
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Hymnus gleichsam in einem zeitlichen und räumlichen Vakuum, in dem sein Gesang von anderen Akteuren des Dramas überhaupt nicht wahrgenommen wird: Der durch den Hymnus angedeutete feierliche Festzug anlässlich der siegreichen Rückkehr des Agamemnon kann in dem hier angegebenen Kontext innerhalb der dramatischen Fiktion gar nicht stattgefunden haben, da zum Zeitpunkt der vermeintlichen Aufführung des Hymnus in der Erzählzeit des Dramas dürfen die Rückkehrchancen des Agamemnon als bestenfalls ungewiss gelten. Noch merkwürdiger wird es jedoch, wenn am Ende des nächsten Akts – also nach Eurybates’ Erzählung vom Seesturm und unmittelbar vor der tatsächlichen Ankunft des Agamemnon – Clytaemnestra genau die Art von festlicher, von Musik und Tanz begleiteter Opferprozession ankündigt, die im zweiten Chorlied bereits geschildert wurde (Sen. Ag. 583-585): nunc omne laeta fronde veletur caput, sacrifica dulces tibia effendat modos et nivea magnas victima ante aras cadat. Nun bedecke sich jeder Kopf mit fröhlichem Laub, die Flöte – Begleiterin des Opferfestes – lasse süße Melodien ertönen, und ein schneeweißes Opfertier falle vor den großen Altären.
Im Gegensatz zum kontextuellen Vakuum, in dem die Performance des Hymnus im zweiten Chorlied (nicht?) stattfand, eignet sich diese Situation, in der die Ankunft des Agamemnon direkt bevorsteht, ideal für eine solche Aufführung. Es sieht folglich so aus, als müssten wir als Leser das uns bereits bekannte Lied in diesen – viel besser dazu passenden – Kontext gedanklich transponieren. Selbst wenn wir es tun, bleiben wir trotzdem nach wie vor die einzigen Rezipienten dieses fröhlichen Hymnus, denn in der Bühnenwelt der Tragödie findet seine Aufführung nicht statt. Stattdessen wird Clytaemnestras Ankündigung von einem auf die Bühne marschierenden Chor der trojanischen Frauen unterbrochen (Sen. Ag. 586-588): sed ecce, turba tristis incomptae comas Iliades adsunt, quas super celso gradu effrena Phoebas entheas laurus quatit. Doch siehe, eine traurige Schar, ilische Frauen mit ungekämmtem Haar sind da, über denen die unbändige Phöbus-Priesterin die Lorbeerzweige ekstatisch schwingt.
Anstelle des angekündigten traditionellen Hymnus hört man hier also ein Klagelied,25 das sich als eine stoisch anmutende Reflexion über die Vorzüge des Selbstmordes in einer ausweglosen Situation erweist (Sen. Ag. 589-592):26 25
Siehe Aricò (1996) für eine detaillierte Besprechung dieses Chorlieds.
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Schock und Erkenntnis heu quam dulce malum mortalibus additum vitae dirus amor, cum pateat malis effugium et miseros libera mors vocet, portus aeterna placidus quiete. Ach, wie süß ist das Unglück, das den Sterblichen gegeben ist, die unheilvolle Liebe zum Leben, wenn doch ein Fluchtweg aus den Leiden offensteht und der Freiheit schenkende Tod die Elenden ruft, ein ruhiger Hafen ewiger Ruhe.
Besonders wichtig an diesem Lied ist, dass die Schilderung der Troiae halosis, die im Wesentlichen auf das zweite Buch von Vergils Aeneis zurückgeht,27 in der Beschreibung eines fröhlichen Festzuges kulminiert, der sehr stark an die im Kontext der Rückkehr Agamemnons angedeutete Prozession erinnert (Sen. Ag. 637-648): secura metus Troica pubes sacros gaudet tangere funes. hinc aequaevi gregis Astyanax, hinc Haemonio desponsa rogo ducunt turmas, haec femineas, ille viriles. festae matres votiva ferunt munera divis, festi patres adeunt aras; unus tota est vultus in urbe; et, quod numquam post Hectoreos vidimus ignes, laeta est Hecabe. Befreit von Angst, berührt die troische Jugend mit Freude die heiligen Taue. Hier führt Astyanax, dort die dem hämonischen Scheiterhaufen Versprochene, Scharen der gleichaltrigen Herde: sie die weiblichen, er die männlichen. Feiernde Mütter tragen Weihgaben für die Götter, feiernde Väter schreiten zu den Altären; die ganze Stadt hat den gleichen Gesichtsausdruck; und, was wir nach Hectors Scheiterhaufen niemals gesehen haben, fröhlich ist Hecuba.
Der fröhliche Festzug, der als Vorbote des Niedergangs Trojas fungiert, bildet demnach eine klare Parallele zur Rahmenhandlung, wo ein ähnlicher Hymnus die brutale Ermordung des Agamemnon antizipiert. In beiden Fällen erweist sich die durch einen Hymnus ausgedrückte Vorfreude als völlig illusorisch (im Falle der Bühnenhandlung des Agamemnon ist sie auch noch in einem überraschend wörtlichen Sinne illusorisch, da die Aufführung des Hymnus nicht wirklich 26 27
Vgl. vor allem Sen. ep. 70. Zu weiteren Parallelen siehe Palmieri (1999), 17-26. Tarrant (1976), 285-294, weist in seinem Kommentar auf zahlreiche Parallelen hin.
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stattfindet). Dieser Parallelismus betont einerseits nochmals, dass in dieser Tragödie die Ermordung des Agamemnon als eine Art Nachspielung der Eroberung Trojas konzipiert ist.28 Andererseits nimmt das in diesem Chorlied besonders betonte Lob der befreienden Wirkung des Todes die zentrale Bedeutung dieses Motivs fürs Finale der Tragödie vorweg. Nachdem sie den nach der täuschenden Freude des Festzuges erfolgenden Untergang Trojas gesehen haben (vidimus wird hier mehrfach mit besonderem Nachdruck wiederholt),29 wünschen sich die gefangenen Troerinnen nur das Eine – so schnell wie möglich zu sterben; doch das Erschreckendste an ihrer Lage besteht gerade darin, dass ihnen der Todeswunsch verwehrt bleibt (Sen. Ag. 610 o quam miserum est nescire mori!). Ähnlich endet auch die Rahmenhandlung: Nachdem Electra die Ermordung ihres Vaters gesehen hat, will sie nichts anderes als sterben; sie wird jedoch von den Mördern ihres Vaters dadurch bestraft, dass man sie zwingt, am Leben zu bleiben (Sen. Ag. 994-996): El. concede mortem. Ae. Si recusares, darem: rudis est tyrannus morte qui poenam exigit. El. mortem aliquid ultra est? Ae. vita, si cupias mori. Electra: Gewähre mir den Tod. Aegisth: Wenn du ihn ablehnen würdest, würde ich ihn dir geben. Unkundig ist der Tyrann, der mit Tod die Strafe einfordert. Electra: Ist etwas schlimmer als der Tod? Aegisth: Das Leben, wenn du sterben willst.
Cassandra, die nicht nur die Zerstörung Trojas, sondern auch – im Mord an Agamemnon – das Ungeschehenmachen dieser Zerstörung gesehen hat, darf dagegen sterben und blickt ihrem eigenen Tod mit größter Zufriedenheit entgegen (Sen. Ag. 1010-1011): nihil moramur, rapite, quin grates ago: iam, iam iuvat vixisse post Troiam, iuvat. 28
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Die enge Verbindung zwischen Astyanax und Polyxena, die uns aus Troades bekannt ist, ist in diesem Zusammenhang natürlich besonders wichtig. Die Anführer der beiden Festzüge, die den Danksagungsopferritus begleiten, werden am Ende selber geopfert (vgl insb. Sen. Ag. 640 Haemonio desponsa rogo). Dasselbe Schicksal wird auch Priamus – einen weiteren Teilnehmer dieser Opferprozession – ereilen (Sen. Ag. 656-658 vidi, vidi senis in iugulo / telum Pyrrhi vix exiguo / sanguine tingui). Dieses Motiv antizipiert auf eine besonders pointierte Weise die Tötung des Agamemnon, die auch mit einem Opferritus verglichen wird (Sen. Ag. 897-899 armat bipenni Tyndaris dextram furens, / qualisque ad aras colla taurorum prius / designat oculis). Siehe dazu Kap. 3. Sen. Ag. 612 vidimus patriam ruentem nocte funesta; 627 vidimus simulata dona; 648 vidimus ignes; 656 vidi, vidi.
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Schock und Erkenntnis Ich zögere nicht, reißt mich fort, ich bin sogar dankbar: jetzt, jetzt ist es eine Freude, Troja überlebt zu haben, jetzt ist es eine Freude.
Der Tod als der einzige Ausweg aus dem endlosen Teufelskreis der tragischen Nachahmungen erweist sich somit als das zentrale Leitmotiv der Tragödie. Die dissonante Spaltung der Chorstimme in einen traditionellen tragischen Hymnus und eine philosophische Reflexion über Leben, Tod und Selbstmord dient letztendlich dazu, den ohnehin offensichtlichen Kontrast zwischen der tragischen Bühnenillusion und der mit ihrer Hilfe veranschaulichten abstrakten Bedeutung mit besonderer Pointiertheit hervorzuheben. Im dritten Chorlied des Hercules Furens geschieht auch etwas Ähnliches. Im Gegensatz zu allen anderen Chorliedern der Tragödie wird dem Chor in dieser Passage eine Identität und eine klare dramatische Funktion verliehen: Nach seinem detaillierten Bericht über die Unterwelt und die von Hercules dort vollbrachten Heldentaten wird Theseus plötzlich auf einen Festzug aufmerksam, dessen Mitglieder ein Lobeslied auf Hercules singen.30 Besonders erstaunlich ist, dass der angekündigte Lobesgesang erst ungefähr fünfzig Verse später anfängt (der Übergang dazu wird übrigens durch einen Wechsel des Versmaßes deutlich gekennzeichnet).31 Erst in diesem hinausgeschobenen zweiten Teil der Chorpassage haben wir es mit einem traditionell anmutenden fröhlichen Hymnus zu tun, in dem sowohl das Opferfest anlässlich der Rückkehr des glorreichen Helden als auch seine unvorstellbaren Errungenschaften besungen werden. Mehr noch: Um den traditionellen Charakter dieses Textabschnittes zu betonen, verweist der Chor – wie im zweiten Chorlied des Agamemnon – auf seine eigene kultische Funktion innerhalb dieses Festes (Sen. HF 875-879): Thebis laeta dies adest. aras tangite supplices, pingues caedite victimas; permixtae maribus nurus sollemnes agitent choros. Ein fröhlicher Tag für Theben ist da. Berührt demütig flehend die Altäre, schlachtet fette Opfertiere; Männer und Frauen sollen zusammen feierliche Tänze und Gesänge aufführen.
Diese festliche Freude steht allerdings in einem starken Kontrast zu den ersten zwei Dritteln der Chorpassage, die dem Hymnus vorangehen: Der Ton, die Haltung und der Inhalt dieses Abschnittes haben mit der ursprünglichen Ankündigung eines traditionellen Enkomions gar nichts zu tun und lassen sich mit der 30 31
Sen. HF 827-829 densa sed laeto venit / clamore turba frontibus laurum gerens / magnique meritas Herculis laudes canit. Fitch (1987), 334-335. Vgl. auch Davis (1993), 72-78.
Der Chor
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postulierten Identität des Chors als einer den Opferritus begleitenden Festprozession nur schwerlich vereinbaren. An der Oberfläche scheint auch dieser Abschnitt des Chorlieds Hercules’ Rückkehr aus der Unterwelt zu feiern. Im Gegensatz zu Theseus’ Schilderung der Unterwelt, die der Chorpassage unmittelbar vorangeht, werden hier jedoch keine von Hercules besiegten mythologischen Monstren beschrieben, sondern nur die unendliche Menge der Verstorbenen (Sen. HF 838-849): quantus incedit populus per urbes ad novi ludos avidus theatri, quantus Eleum ruit ad Tonantem quinta cum sacrum revocavit aetas; quanta, cum longae redit hora nocti crescere et somnos cupiens quietos libra Phoebeos tenet aequa currus, turba secretam Cererem frequentat et citi tectis properant relictis Attici noctem celebrare mystae: tanta per campos agitur silentes turba. So zahlreich wie das Volk, das durch die Städte zu den Spielen eines neuen Theaters gierig strömt, oder das, das zum Tempel des elischen Jupiter stürzt, wenn der fünfte Sommer das heilige Fest zurückgerufen hat; so zahlreich wie die Schar, die – wenn die Zeit der länger werdenden Nächte zurückkehrt und die im Gleichgewicht stehende Waage, nach ruhigem Schlaf trachtend, den Wagen des Phöbus zurückhält – die geheimnisvolle Ceres aufsucht, die Schar der attischen Mysten, die ihre Häuser verlassend, schnell eilen, die nächtlichen Riten zu feiern – so groß ist die Menge, die sich durch schweigende Felder bewegt.
Es ist natürlich kein Zufall, dass die Toten an dieser Stelle mit den Besuchern öffentlicher Spektakel verglichen werden – von einem Theaterspiel, von den Olympischen und den Pythischen Spielen und von den Eleusinischen Mysterien.32 Dadurch werden Verstorbene implizit als Zuschauer und die Unterwelt als Spektakel charakterisiert. Diese Parallelisierung entspricht ziemlich genau der Vorstellung von der Unterwelt als einer literarischen Domäne schlechthin, als welche sie, wie wir in den ersten sieben Kapiteln wiederholt gesehen haben, in Senecas Tragödien immer (insbesondere aber im Hercules Furens selbst) dargestellt wird. Das Spektakel, das man hier zu Gesicht bekommt, hat jedoch mit klischeehaften Bildern der literarischen Unterwelt rein gar nichts zu tun (Sen. HF 858-863):
32
Fitch (1987), 338-340.
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Schock und Erkenntnis qualis est vobis animus, remota luce cum maestus sibi quisque sensit obrutum tota caput esse terra? stat chaos densum tenebraeque turpes et color noctis malus et silentis otium mundi vacuaeque nubes. Wie ist euch zumute, wenn nach dem Verschwinden des Tageslichtes jeder von euch schwermütig spürt, dass sein Kopf von der ganzen Erde überschüttet ist? Es herrscht dichtes Chaos und unansehnliche Finsternis und die böse Farbe der Nacht und die Stille der schweigenden Welt und leere Wolken.
Der Tod bringt uns demzufolge keine visuell reizenden Monstren, die uns in Theseus’ Bericht vorgeführt wurden, sondern nur Finsternis und Leere. Die mythologische Vorstellung vom Tod entpuppt sich dadurch als eine rein poetische Fiktion. Diese Erkenntnis lässt den Chor noch einmal den Gedanken ausdrücken, der bereits den Tenor des ersten Chorliedes bestimmt hat: Da uns diese bodenlose Leere ohnehin bevorsteht, brauchen wir nicht dorthin zu eilen (Sen. HF 864 sera nos illo referat senectus).33 Die Begründung, die der Chor für diese Erkenntnis anführt, wirkt dabei besonders verstörend im Kontext eines Lobesliedes anlässlich einer erfolgreichen Rückkehr aus der Unterwelt (Sen. HF 865-866): nemo ad id sero venit, unde numquam, cum semel venit, poterit reverti. Niemand kommt zu spät dahin, woher er, einmal dort angekommen, nie zurückkehren kann.
Niemand kann zurückkehren. Deutlicher kann man es kaum sagen. Das am Anfang der Passage betonte Bild von Verstorbenen als Zuschauern im Unterwelttheater wird somit zum Bild von Theaterzuschauern – und das heißt, von uns als Rezipienten der Tragödie – als Sterbenden.34 Dass wir uns alle in dieser Passage angesprochen fühlen müssen, wird durch die wahrhaftig allumfassende
33 34
Vgl. auch Sen. HF 198 venit ad pigros cana senectus. Zu diesem Motiv siehe Degl’Innocenti Pierini (1996). Zur zentralen Bedeutung der Vorstellung vom Leben als einem graduellen Tod (cotidie mori) für Senecas philosophisches Denken siehe Schönegg (1999), 95-98; Ker (2009), 147-176. Vgl. Sen. ep. 1.2 quem mihi dabis qui aliquod pretium tempori ponat, quo diem aestimet, qui intellegat se cotidie mori? 24.20 cotidie morimur; cotidie enim demitur aliqua pars vitae, et tunc quoque cum crescimus vita decrescit. Vgl. auch Sen. ep. 58.23.
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erste Person Plural in der abschließenden Sektion dieser Passage besonders stark unterstrichen (Sen. HF 872-874): parce venturis: tibi, mors, paramur; sis licet segnis, properamus ipsi: prima quae vitam dedit hora carpit. Verschone diejenigen, die du dir kommen: für dich, Tod, bereiten wir uns: auch wenn du träge bist, beeilen wir und selbst: die erste Stunde, die uns Leben gibt, reißt es ab.
Aus einem Theaterpublikum, das sich gerade von den visuellen Reizen einer Bühnenhandlung betören lässt, verwandeln wir uns unweigerlich in Zuschauer eines Spektakels, das aus nichts anderem als der absoluten Finsternis des Todes besteht. Nach dieser Erkenntnis klingt natürlich das Lobeslied auf Hercules als heldenhaften Bezwinger des mythologischen Hades besonders verstörend. Die offensichtliche Spaltung der Chorstimme, die in diesem Chorlied stattfindet, führt dabei, genauso wie in den Troades, zu einer eigenartigen Verdoppelung der Wahrnehmung der Bühnenhandlung: In der Welt der dramatischen Fiktion wird nur der zweite Teil des Chorlieds – der in der mythologischen Begrifflichkeit fest verankerte Hymnus auf Hercules – registriert; den ersten Teil des Liedes, der diese mythologische Begrifflichkeit explizit ablehnt, hören nur wir, die außerhalb der Fiktion des Stückes befindlichen Rezipienten. Die auf der Bühne visuell wahrnehmbare tragische Welt erweist sich somit unmissverständlich als ein bloßes Trugbild, hinter dem sich eine erschreckende, nachdenklich stimmende Wahrheit verbirgt. Ähnliches geschieht übrigens auch im zweiten Chorlied des Hercules Furens, wo Hercules’ heroische Katabasis mit Orpheus’ „poetischer“ Katabasis parallelisiert wird (Sen. HF 569-591). An der Oberfläche besteht das rhetorische telos dieses Vergleichs darin, die bevorstehende Rückkehr des Hercules aus der Unterwelt vorwegzunehmen: Wenn es jemandem gelungen sei, der nur ein Dichter war, so der Gedankengang des Chors, werde es mit Sicherheit auch dem größten aller Helden gelingen. Aus der Nebeneinanderstellung dieser Mythen entwickelt sich jedoch eine weitere Bedeutungsebene. Es ist auffällig, dass am Ende des Chorlieds Orpheus’ tragisches Scheitern bei dem Versuch, seine Frau Euridike aus der Unterwelt zu befreien, erwähnt wird.35 Durch diese beiläufige Erwähnung wird unsere Aufmerksamkeit sowohl auf die illusorische Natur des Sieges des Orpheus als auch auf das Ende der Tragödie gelenkt, denn genauso wie Orpheus wird auch Hercules am Ende seine Frau durch seine eigene Verirrung verlieren. Noch aussagekräftiger ist die direkte Parallelisierung zwischen der heroischen Kraft des Hercules und der poetischen Kraft des 35
Sen. HF 588-589 odit verus amor nec patitur moras: / munus dum properat cernere, perdidit.
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Orpheus (Sen. HF 590-591 quae vinci potuit regia carmine, / haec vinci poterit regia viribus). Hercules wird also die Unterwelt auf die gleiche Weise besiegen, wie es Orpheus schon einmal getan hat, – nämlich gar nicht, da die echte Hölle für beide erst nach diesem vermeintlichen Sieg anfängt. Die von Hercules vollbrachte Heldentat wird somit mit Orpheus’ Dichtung, das Heroische mit Literatur gleichgesetzt: Das Heroische ist demnach nicht nur darum illusorisch, weil es sich unweigerlich selbst zerstört, sondern auch darum, weil es nichts anderes als Literatur – als bloße φαινόµενα – ist. Durch solche Passagen wird uns mit unwiderstehlicher Überzeugungskraft vorgeführt, dass das Sehen von tragischen Trugbildern eine conditio sine qua non für das Verstehen von abstrakten, in visueller Bildlichkeit kaum fassbaren Konzepten darstellt. Einen ähnlich verstörenden – und ähnlich lehrreichen – Effekt erreicht auch die Betonung der Unentbehrlichkeit des Sehens im Thyest. Im Gegensatz zu den drei gerade besprochenen Tragödien übernimmt der Chor im Thyest keine fiktionale Rolle. Dass der Chor hier keine klare dramatische Identität besitzt, bedeutet aber nicht, dass er als Zuschauer der auf der Bühne stattfindenden Ereignisse fungiert, denn seine Sicht bleibt fast bis zum Ende des Stücks außerordentlich beschränkt: Er sieht eigentlich kaum etwas davon, was wir als Zuschauer des Stücks sehen können. Er ist vielmehr ein vor einer verschlossenen Tür stehender Zuhörer, der sich mit den Informationen zufriedengeben muss, die zufällig nach außen durchdringen, was ihn allerdings nicht daran hindert, das eher mangelhaft verstandene Geschehen ausgiebig zu kommentieren. Dies hat wiederum zur Folge, dass seine an sich durchaus ‚richtigen’ philosophischen Überlegungen durch den dramatischen Kontext weitgehend außer Kraft gesetzt werden. Das erste Lied (Sen. Th. 122-175) verrät, dass der Chor über den Inhalt des unmittelbar vorangehenden Prologs, in dem sich die Furie dazu entscheidet, die Enkelsöhne des Tantalus mit dem unheilvollen Geist ihres Vorfahren zu infizieren, nicht informiert ist, da er – scheinbar nichtsahnend – für das Wohlbefinden der Tantalus-Nachkommen betet, das er mit dem Leiden des Tantalus selbst kontrastiert.36 Der Kontrast zwischen dem zweiten Lied und seinem dramatischen Kontext ist noch verstörender. Direkt davor (Sen. Th. 176335) beschließt Atreus, Thyest nach Mykene unter dem Vorwand einzuladen, er wolle mit jenem seine Königsmacht teilen, nur um bei dieser Gelegenheit seinen perversen Racheplan auszuführen. Der Chor scheint auch hier die wahren Begebenheiten nicht vernommen zu haben, weil er Freude anlässlich der angeblich bevorstehenden Versöhnung zwischen den beiden Brüdern äußert37 und dieses vermeintliche Ereignis zum Anlass für eine stoisch klingende Reflexion über das Wesen eines philosophischen Königtums nimmt, das darin besteht, dass man 36 37
Insb. Sen. Th. 136-138 tandem lassa feros exuat impetus / sicci progenies impia Tantali. / peccatum satis est. Vgl. Tarrant (1985), 106; Davis (1993), 119. Sen. Th. 336-338 tandem regia nobilis, / antiqui genus Inachi, / fratrum composuit minas.
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nichts fürchtet und nichts begehrt.38 Obwohl der Chor im dritten Lied aus der zur Schau gestellten Versöhnung zwischen Atreus und Thyest – völlig gerechtfertigt – die klischeehafte stoische Vorstellung von der Unbeständigkeit der guten Fortuna ableitet,39 scheint er das Ereignis als solches dennoch wieder einmal für bare Münze zu halten.40 Im letzten Chorlied der Tragödie erhält der Chor nun endlich seine Sehkraft. An der dem Chorlied vorangehenden Episode, in der der Bote alle Einzelheiten der Ermordung von Thyests Söhnen schildert, nimmt der Chor als Gesprächspartner teil. Besonders auffällig ist dabei, dass er auf diesen haarsträubenden Bericht eher zurückhaltend reagiert: Er kann zwar sein Schaudern nicht verbergen (Sen. Th. 743-744 Cho. o saevum scelus! / Nun. exhorruistis?), beschäftigt sich jedoch hauptsächlich damit, völlig sachliche Fragen zu stellen, die den Erzähler dazu animieren, immer weitere Details der grausamen Exekution preiszugeben.41 Erst in der darauffolgenden Chorpassage kommt es zu einer – außerordentlich starken – emotionalen Reaktion. Diese wird letztlich dadurch ermöglicht, dass der Chor das durch die entsetzliche Ermordung, Zerstückelung und Verspeisung der Kinder entstandene moralische Chaos in die auch aus anderen Tragödien Senecas wohl bekannte Weltuntergangsbegrifflichkeit übersetzt.42 Der Chor sieht die Sonne vom Himmel verschwinden und meint dabei, in diesem furchterregenden Ereignis viel mehr erblicken zu können – auch sonstige Himmelsgestirne, die von ihren vertrauten Laufbahnen abweichen, und somit den gesamten Kosmos, der in den ursprünglichen Chaoszustand hineinstürzt.43 Besonders bemerkenswert ist, dass der Chor sich nicht darüber im Klaren zu sein scheint, worin die – vollkommen offensichtliche – Ursache der 38
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Sen. Th. 339-368, insb. 342-348 nescitis, cupidi arcium, / regnum quo iaceat loco, / regem non faciunt opes [...] rex est qui posuit metus. Zu diesem Chorlied als „both an interlude in the surrounding action and an implicit commentary on it“ siehe Tarrant (1985), 137-138. Vgl. Davis (1993), 172-178; Gärtner (2003), 19-20. Sen. Th. 596-622 nulla sors longa est, etc. Davis (1993), 178-183. Vgl. Sen. Th. 546-549 credat hoc quisquam? ferus ille et acer / nec potens mentis truculentus Atreus / fratris aspectu stupefactus haesit. / nulla vis maior pietate vera est. Im Kontext klingt der erste Vers natürlich ziemlich ironisch: Niemand – außer dem Chor – würde so etwas jemals glauben! Vgl. Tarrant (1985), 168: „The Chorus’s deluded optimism, playing against the edgy ironies of the previous scene, heightens the suspense preceding the Messenger’s grisly report.“ Z.B. Sen. Th. 690 quis manum ferro admovet? 716 quem tamen ferro occupat? 719 quis iuvenis animo, quo tulit vultu necem? 730-731 quid deinde gemina caede perfunctus facit? / puerone parcit an scelus sceleri ingerit? Davis (1989), 431-434. In Sen. Th. 789-826 wird zunächst das Verschwinden der Sonne beschrieben. Dies führt anschließend zur Befürchtung eines Weltuntergangs: Sen. Th. 827-874, insb. 830-835 ne fatali cuncta ruina / quassata labent iterumque deos / hominesque premat deforme chaos, / iterum terras et mare cingens / et vaga picti sidera mundi / natura tegat.
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Schock und Erkenntnis
Sonnenfinsternis besteht (Sen. Th. 789-826). Dass der Chor nach dem Bericht über die cena Thyestea nicht in der Lage ist, über die Unermesslichkeit des auf diese Weise entstandenen moralischen Chaos zu reflektieren, und sich stattdessen nur auf die visuell wahrnehmbare Manifestation dieser wahrhaftig kosmischen Katastrophe konzentriert, ist vollkommen nachvollziehbar, da die Wahrheit, mit der hier der Chor konfrontiert ist, schließlich nicht nur die menschliche Vorstellungskraft übertrifft: Die cena Thyestea erweist sich als ein selbst für die Sonne unerträglicher Anblick, die sonst bekanntlich alles sieht, sich aber nun vom Himmel zurückzieht, um die Folgen des schrecklichsten jemals begangenen Verbrechens nicht sehen zu müssen.44 Die visuell beeindruckende Weltuntergangsmetaphorik, die dabei jedoch, wie bei Seneca üblich, im Vergleich mit den auf der Bühne geschehenden Ereignissen regelrecht blass und klischeehaft wirkt, stellt sich somit als das einzig denkbare Mittel dar, das der Chor einsetzen kann, um den durch das Sichtbarwerden der wahren Begebenheiten verursachten unvorstellbaren Schmerz ausdrücken zu können. Wichtig ist vor allem, dass der unerträgliche visuelle Schock zu keiner seelischen Erstarrung führt. Ganz im Gegenteil: Die durch die absolute Dunkelheit verursachte physische Erschütterung (vgl. Sen. Th. 828-829 trepidant, trepidant pectora magno / percussa metu) hilft dem Chor des Thyest – genauso wie Seneca in seinem 57. Brief – etwas Essentielles zu begreifen, nämlich die grundsätzliche Sinnlosigkeit der Todesangst (Sen. Th. 875-884):45 nos e tanto visi populo digni premeret quos everso cardine mundus? in nos aetas ultima venit? o nos dura sorte creatos, seu perdidimus solem miseri, sive expulimus! abeant questus, discede, timor: vitae est avidus quisquis non vult mundo secum pereunte mori. Sind wir aus dem gesamten Menschengeschlecht auserkoren, unter den Trümmern des Weltalls, seine Angeln verdreht, begraben zu werden? Ist über uns die Endzeit gekommen? O wir, vom harten Schicksal erschaffen: elend sind wir, ob wir die Sonne verloren oder vertrieben haben! Die
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Zum stoischen Gedankengut hinter der Schilderung dieser „cosmic disruption“ siehe Volk (2006), 185-194. Vgl. Sen. ep. 57.6 illud deinde mecum loqui coepi, quam inepte quaedam magis aut minus timeremus, cum omnium idem finis est? quid enim interest, utrum supra aliquem vigilarium ruat an mons? nihil invenies. erunt tamen, qui hanc ruinam magis timeant, quamvis utraque mortifera aeque sit.
Der Chor
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Klagen sollen aufhören; verschinde, Angst: nach dem Leben zu begierig ist jeder, der nicht sterben will, wenn die Welt mit ihm untergeht.
Diese abstrakte Wahrheit ist im Kontext allerdings alles andere als abstrakt, denn der Chor gelangt dorthin auf einem außerordentlich schmerzhaften Leidensweg: Er leitet sie nicht aus entkörperten philosophischen Prinzipien ab, sondern erlebt sie gleichsam am eigenen Leib. Diese Situation, in der dem Chor der Blick auf das Bühnengeschehen lange verwehrt bleibt und in der er erst am Ende durch einen unerträglichen visuellen Schock eine im Grunde philosophische Wahrheit erkennt, ist alles andere als typisch. In der Regel ist der Chor durchaus imstande, die dramatischen Ereignisse in ihrer Konkretheit adäquat wahrzunehmen und zu beschreiben, um sie anschließend – wie es auch mit den ekphrasischen und narrativen Passagen in Senecas philosophischen Schriften der Fall ist – aus einer distanzierten Perspektive heraus als Erfahrungen zu interpretieren, die für die Erkenntnis philosophischer Abstraktionen unentbehrlich sind. Dieser Übergang von der Konkretheit der visuellen Wahrnehmung zu einer allgemeingültigen Abstraktion lässt sich am Beispiel des ersten Chorlieds des Hercules Furens besonders anschaulich illustrieren. Am Ende des Prologs des Hercules Furens führt Juno den gerade einsetzenden Tagesanbruch als Hauptgrund dafür an, dass sie mit der Ausführung ihres mörderischen Plans möglichst schnell beginnen sollte.46 Dieser konkrete Naturvorgang dient dem Chor als Ausgangspunkt für seinen ersten Auftritt. Besonders bezeichnend hierbei ist, dass die Beschreibung des Tagesanbruchs mit rein mythologischen Bildern anfängt (Sen. HF 128-140): cogit nitidum Phosphoros agmen, signum celsi glaciale poli septem stellis Arcados ursae lucem verso temone vocat. iam caeruleis evectus aquis Titan summa prospicit Oeta; iam Cadmeis incluta Bacchis aspersa die dumeta rubent Phoebique fugit reditura soror. Pendet summo stridula ramo pinnasque novo tradere soli gestit querulos inter nidos Thracia paelex. Phosphoros bringt den glänzenden Trupp zusammen, das eisige Sternbild des erhabenen Himmelspols ruft mit den sieben Sternen der arkadischen 46
Sen. Ag. 123-124 movenda iam sunt bella: clarescit dies / ortuque Titan lucidus croceo subit. Zu diesem Chorlied siehe Mader (1990); Davis (1993), 126-136.
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Schock und Erkenntnis Bärin das Tageslicht, die Deichsel wendend. Schon schaut Titan, aus blauen Gewässern auftauchend, vom Gipfel des Oeta herab; schon rötet sich das durch die kadmeischen Bacchantinnen berühmte Dickicht, vom Tageslicht überströmt, und die Schwester des Phöbus flieht, um zurückzukehren. Schwirrend schaukelt auf dem höchsten Ast die thrakische Geliebte und freut sich, inmitten der klagenden Nester ihre Flügel der neuen Sonne zu überlassen.
Es fällt sofort auf, dass in dieser Passage die ganze Natur als eine Art Erweiterung der Mythologie konzipiert ist. Der Chor nimmt demnach anfangs die Natur in einer Begrifflichkeit wahr, die an die fantastische Welt von Ovids Metamorphosen erinnert, in der sich hinter jedem Naturphänomen eine menschliche – oder anthropomorphe – Gestalt verbirgt.47 Im weiteren Verlauf der Passage entfernt sich der Chor sukzessive von dieser rein mythologischen Perspektive. Er lässt die typisch tragische Welt der mythologischen Helden und mörderischen Königinnen hinter sich und richtet seinen Blick auf die alltägliche Arbeit (labor), die mit dem Tagesanbruch auch langsam in Gang kommt.48 Der Kontrast zur künstlichen – mythologischen, tragischen – Welt ist hier ziemlich frappierend: Anstelle der verwandelten Königstöchter und der von ihren Müttern zerstückelten oder ihrem eigenen Vater zum Verzehr dargebotenen Kinder tritt die noble Arbeit eines Hirten, eines Seemanns und eines Fischers, die allesamt aufwachen, um ihren Alltag zu beginnen (Sen. HF 139-158). Diese Beschreibung des unauffälligen menschlichen Alltags, den einfache Arbeiter genießen, mündet dann in eine Verallgemeinerung (Sen. HF 159-161): haec innocuae quibus est vitae tranquilla quies et laeta suo parvoque domus. Ihnen gehört dieses ruhige Los des unschuldigen Lebens und das Haus, das sich über das Wenige freut, das ihm gehört.
Im nächsten Schritt wird das einfache, mit grenzenlosem Glück gleichgesetzte Arbeitsleben mit der korrupten Welt von nach Profit gierigen Großstädtern kontrastiert, die sich vor den Mächtigen (den Königen) erniedrigen müssen, in der illusorischen Hoffnung, an deren unermesslichem Reichtum teilhaben zu
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Vgl. Fitch (1987), 164-168. Rose (1985) sieht in der Schilderung des Sonnenaufgangs in dieser Passage „imagery of cosmic self-destruction.“ Für Thomas Gärtner (2003), 3-4, ist das erster Chorlied des HF deswegen das anschaulichste Beispiel, das seine These belegen soll, die primäre Funktion des Chors in Senecas Tragödien bestehe ausschließlich darin, die Maxime, „besser, dem gemeinen Volk anzugehören“ (so lautet nämlich der Titel seines Aufsatzes), zu illustrieren.
Der Chor
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dürfen.49 Es stellt sich somit heraus, dass es im Grunde keinen erheblichen Unterschied zwischen realen und mythologischen Königen gibt. Beide stehen für bedeutungslose Äußerlichkeiten, von denen man sich distanzieren muss, um ein glückliches Leben führen zu können.50 Hercules’ Katabasis wird anschließend als Paradebeispiel eines solchen Eintauchens in die tragische Welt der Äußerlichkeiten angeführt, das darüber hinaus als eine frevelhafte Grenzüberschreitung mit einem ungewissen Ausgang aufgefasst wird (Sen. HF 186-191): nimium, Alcide, pectore forti properas maestos visere manes: certo veniunt tempore Parcae, nulli iusso cessare licet, nulli scriptum proferre diem: recipit populos urna citatos. Mit all zu tapferem Herzen eilst du, Alkide, die traurigen Manen zu sehen: nach festgesetzter Frist kommen die Parzen, niemand, der ihren Befehl erhalten hat, darf säumen, niemand darf, den für ihn bestimmt Tag verschieben: die Todesurne nimmt die aufgerufenen Völker auf.
Der Chor schließt sein Lied ab, indem er dieses durch Übertretung des richtigen Maßes ausgezeichnete tragische Leben als das Gegenteil seines eigenen Lebens darstellt (Sen. HF 198-201): venit ad pigros cana senectus, humilique loco sed certa sedet sordida parvae fortuna domus: alte virtus animosa cadit. Das grauhaarige Alter kommt zu den Untätigen, und an niedriger Stelle, aber stabil, bleibt das armselige Glück eines kleinen Hauses: die mutvolle Tugend stürzt tief.
Dieser Satz klingt natürlich wie eine weitere stoische Plattitüde,51 die jedoch im Kontext der Chorpassage eine unbestreitbare Überzeugungskraft entwickelt. Erst durch das Sehen der tragischen Bilder kann es anscheinend gelingen, diese Plattitüde mit Fleisch und Blut zu füllen: Erst durch einen Kontakt mit der Welt der tragischen Äußerlichkeiten kann der Chor offensichtlich seine Selbsterkenntnis überzeugend verfestigen und das sich auf der Bühne entfaltende Spektakel 49
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Sen. HF 162-168 spes immanes / urbibus errant trepidique metus: / ille superbos aditus regum / durasque fores expers somni / colit, hic nullo fine beatas / componit opes gazis inhians / et congesto pauper in auro. Sen. HF 178-179 dum fata sinunt, vivite laeti: / properat cursu vita citato, etc. Degl’Innocenti Pierini (1996).
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Schock und Erkenntnis
aus einer sicheren Außenperspektive betrachten. Das Chorlied als Ganzes, das von der Beschreibung eines Naturvorgangs zur Begründung des einzig richtigen Lebenswegs gelangt, klingt dabei wie eine versifizierte – und darum durch typisch poetische Bildlichkeit ausgiebig angereicherte – Version eines senecanischen Briefes. Eine ähnliche Rhetorik bestimmt auch die Chorlieder der Phaedra.52 Eine Progression von der visuellen Wahrnehmung des tragischen Spektakels hin zu einer philosophischen Abstraktion lässt sich hier nicht nur auf der Ebene eines jeden Chorlieds feststellen: Sie durchdringt zudem den aus vier Liedern bestehenden Auftritt des Chors als Ganzes. Im ersten Lied nimmt der Chor die Darstellung der unüberwindbaren Liebe Phaedras zum Anlass für eine Reflexion über die Natur der Liebe im Allgemeinen als einer das gesamte Universum beherrschenden Kraft.53 Das Lob der Schönheit des Hippolytus, die alle bekannten – göttlichen! – Präzedenzfälle bei weitem übertrifft (Sen. Ph. 741-760), entwickelt sich im zweiten Chorlied zu einer Reflexion über die körperliche Schönheit überhaupt als eine Art nebensächliches adiaphoron,54 das aber in sich eine Todesgefahr bergen kann (Sen. Ph. 777-819). Auf Theseus’ Bitte an Poseidon, Hippolytus für sein vermeintliches Vergehen mit dem Tod zu bestrafen, reagiert der Chor im dritten Lied mit einem kurzen philosophischen Traktat in Versen, in dem er die Regelmäßigkeit der Natur mit dem moralischen Chaos des menschlichen Lebens kontrastiert.55 Und schließlich setzt das vierte, auf den Bericht über Hippolytus’ Tod folgende Chorlied einerseits das Thema der Unvorhersehbarkeit der Fortuna fort, das den Tenor des dritten Chorlieds beherrschte, und betont andererseits explizit – wie in der von mir gerade besprochenen ersten Chorpassage des Hercules Furens – den Gegensatz zwischen der durch das übermäßige Vertrauen auf Äußerlichkeiten ausgezeichneten tragischen Welt und der von dieser Welt distanzierten Position des Chors, aus der heraus er das Bühnengeschehen als etwas zwar Befremdliches, dennoch durchaus Lehrreiches betrachten kann.56
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Zu den Chören der Phaedra im Allgemeinen siehe Kugelmeier (1998). Sen. Ph. 352-355 vindicat omnes / natura sibi; nihil immune est, / odiumque perit, cum iussit amor; / veteres cedunt ignibus irae. Davis (1993), 93-99; Gärtner (2003), 10-11. Sen. Ph. 773-774 res est forma fugax: quis sapiens bono / confidat fragili? dum licet, utere. Davis (1993), 99-104; Gärtner (2003), 12-14. Sen. Ph. 972-980 sed cur idem qui tanta regis, / sub quo vasti pondera mundi / librata suos ducunt orbes, / hominum nimium securus abes, / non sollicitus prodesse bonis, / nocuisse malis? / res humanas ordine nullo / Fortuna regit sparsitque manu / munera caeca peiora fovens. Davis (1993), 146-153. Sen. Ph. 1123-1127 quanti casus, heu, magna rotant! / minor in parvis Fortuna furit / levisque ferit leviora deus; / servat placidos obscura quies / praebetque senes casa securos. Davis (1993), 153-156; Gärtner (2003), 14-16.
Der Chor
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In der Medea nimmt der Prozess der graduellen Distanzierung des Chors von der Bühnenhandlung eine wesentlich komplexere Form an: Dabei transformiert sich nicht nur der Chor selbst aus einem Schauspieler in einen philosophisch gesinnten Zuschauer, sondern auch die Protagonistin der Tragödie aus einer menschlichen Figur in eine Metapher. Im ersten Lied der Medea besitzt der Chor eine klare fiktionale Identität (er besteht aus Bürgern von Korinth) und singt dabei ein fröhliches Epithalamium anlässlich der Hochzeit von Jason und Creusa, das alle typischen Merkmale dieser traditionellen Gattung der Chordichtung aufweist: Hier werden die das Fest begleitenden Opferriten beschrieben, die Schönheit der Braut und des Bräutigams gelobt und von der frechen Freizügigkeit eines Hochzeitrituals Gebrauch gemacht.57 Auch Medea findet in diesem Hochzeitslied Erwähnung – und zwar als eine unbändige Fremde, deren gewaltsam aufgezwungene Umarmungen in Kontrast zu der von allen ersehnten, rechtsmäßigen Hochzeit zwischen Jason und der jungfräulichen Creusa gesetzt werden.58 Medea wird hier also aus einem innerhalb der fiktionalen Welt des Dramas befindlichen Blickwinkel betrachtet und erscheint wie eine zwar ausgegrenzte und stigmatisierte, dennoch durchaus menschliche Figur. In den nächsten zwei Auftritten des Chors ändert sich diese Perspektive komplett. Das zweite Chorlied bildet einen verallgemeinernden Kommentar, und zwar nicht nur zur Medea-Geschichte, sondern zur gesamten Argonautensage, als deren Gipfelpunkt die Verbindung zwischen Jason und Medea dargestellt wird.59 Die Argonautenreise fungiert in dieser Passage als der wichtigste Wendepunkt in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation: Als die erste Schifffahrt der Geschichte sei sie maßgeblich dafür verantwortlich, dass die in der Begrifflichkeit des Goldenen Zeitalters geschilderte, klar gegliederte Welt unserer Vorfahren einem verwirrenden Chaos weicht, in dem es keine Barrieren zwischen einzelnen Elementen und Ländern mehr gibt.60 Als die größte Strafe für diese frevelhafte Grenzüberschreitung, die die gesamte Welt aus den Fugen geraten lässt, gilt aber Medea selbst, die – und das ist besonders bemerkenswert – als noch gefährlicher dargestellt wird als das Meer (Sen. Me. 360-363): quod fuit huius pretium cursus? aurea pellis 57 58
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Siehe Davis (1993), 189-195, insb. 189: „Ode 1 of Medea is a wholly conventional hymn sung in celebration of the wedding of Jason and Creusa.“ Sen. Me. 102-106 ereptus thalamis Phasidis horridi, / effrenae solitus pectora coniugis / invita trepidus prendere dextera, / felix Aeoliam corripe virginem / nunc primum soceris, sponse, volentibus. Einen detaillierten Kommentar zu diesem Chorlied findet man in Biondi (1984), 87141. Zur Bedeutung des Argonauten-Mythos in Senecas Medea siehe Biondi (1984), 43-53. Sen. Me. 329-333 bene dissaepti foedera mundi / traxit in unum Thessala pinus / iussitque pati verbera pontum, / partemque metus fieri nostri / mare sepositum.
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Schock und Erkenntnis maiusque mari Medea malum, merces prima digna carina. Was war der Preis dieser Fahrt? Das goldene Vlies und Medea, ein größeres Übel als das Meer, ein Lohn des ersten Schiffes würdig.
Medea verwandelt sich in diesem Chorlied folglich aus einer konkreten Person in den Inbegriff des Bösen – in das Symbol für den als Folge der zivilisatorischen Entwicklung eingetretenen Verlust der ursprünglichen glückseligen Unschuld. Bei dem Chor verursacht diese von ihm selbst so überzeugend geschilderte katastrophale Lage allerdings keinen Verdruss, denn er betrachtet sie aus einer – sowohl räumlich als auch zeitlich – distanzierten Außenperspektive: Die vom Chor skizzierte Zivilisationsgeschichte gipfelt in der Beschreibung einer vollkommen globalisierten Welt, zu der sich der Chor selbst zugehörig fühlt (Sen. Me. 364-369):61 nunc iam cessit pontus et omnes patitur leges: non Palladia compacta manu regum referens inclita remos quaeritur Argo – quaelibet altum cumba pererrat. Nun hat schon das Meer nachgegeben und duldet alle Gesetze: man muss nicht mehr, von Pallas’ Hand zusammengefügt, ruhmreiche Ruder von Königen tragend, die Argo suchen – jeder beliebige Nachen durchstreift die hohe See.
Dabei ist besonders auffällig, dass das nunc, von dem der Chor spricht, keinesfalls den Zeitpunkt der Handlung wenige Jahre nach der ersten Schifffahrt der Geschichte verdeutlichen, sondern sich nur auf die Zeit außerhalb der dramatischen Fiktion beziehen kann: Dieses nunc ist demnach wörtlich als „heute“ zu verstehen – als das Zeitalter des globalisierten römischen Reiches, das, auf eine zwar diametral entgegengesetzte Art und Weise, dennoch genauso harmonisch und effizient zu funktionieren scheint wie das unwiderruflich verlorene ursprüngliche Goldene Zeitalter.62 Der Chor blickt also auf das tragische 61 62
Cindy Benton (2003) sieht darin eine Reflexion über den Imperialismus des globalisierten römischen Reichs. Es ist jedoch bezeichnend, dass das ursprüngliche Goldene Zeitalter hauptsächlich durch Verneinungen von vertrauten Eigenschaften der „modernen“ Welt charakterisiert wird (Sen. Me. 312-321), was an Hercules’ alptraumartige Vision vom Goldenen Zeitalter in Sen. HF 926-938 erinnert. Diese Eingeschränktheit der archaischen Verhältnisse vergleiche man mit dem Schluss des Chorlieds, der im Prinzip wie ein entzücktes Lob auf den Fortschritt gelesen werden kann (Sen. Me. 375-379).
Der Chor
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Bühnengeschehen aus einer ‚heutigen’ Perspektive, die sich selbstverständlich außerhalb der dramatischen Fiktion befindet. Aus dieser Perspektive heraus wirkt die Tragik von gestern überhaupt nicht mehr tragisch, da Schifffahrten heute zur alltäglichen Routine gehören (Sen. Me. 369 quaelibet altum cumba pererrat) und demgemäß zu keinen katastrophalen Zivilisationsumbrüchen führen. Als Folge verliert auch Medea ihre menschlichen Züge: Sie ist nichts anderes als ein bedauerliches Nebenprodukt einer für die Weiterentwicklung der Menschheit zentralen Erfindung und somit nur ein Emblem, das dem ätiologischen Narrativ von der Entstehung des heutigen Ist-Zustands die vertraute Form eines klassischen Mythos verleiht. Die Transformation von Medea in ein Symbol wird im dritten Chorlied fortgesetzt.63 Darin verwandelt sich die in den letzten Worten der vorhergehenden Passage gemachte – zwar doppeldeutige, und doch wörtlich gemeinte – Erwähnung des Feuers (Sen. Me. 578 flamma iam tectis sonet) in eine Metapher für den Zorn einer durch die Untreue ihres Mannes verletzten Frau (Sen. Me. 579-582): nulla vis flammae tumidive venti tanta, nec teli metuenda torti, quanta cum coniunx viduata taedis ardet et odit. Keine Kraft der Flamme oder des aufbrausenden Windes ist so groß, noch ist die Kraft des geschleuderten Geschosses so furchteinflößend, wie wenn ein Gattin, der Hochzeitsfackeln beraubt, brennt und hasst.
Dieser feurige Zorn (Sen. Me. 591 caecus est ignis stimulatus ira) wird auch mit anderen Naturgewalten verglichen – insbesondere aber mit dem unbändigen Wasserelement (Sen. Me. 583-590). Dieser – auf eine reiche poetische Tradition zurückblickende – Vergleich zwischen der Liebe einer Frau und einer Naturgewalt64 setzt den im zweiten Chorlied vorbereiteten Parallelismus zwischen Medea und dem durch die erste Schifffahrt in seiner Ruhe gestörten Meer fort. Nur so lässt sich der abrupte Übergang von Medeas Zorn zu Jason als Bezwinger des Meeres erklären (Sen. Me. 595-596): parcite, o divi, veniam precamur, vivat ut tutus mare qui subegit.
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Biondi (1984), 142-202. Zur poetischen und rhetorischen Technik siehe Henderson (1983). Z.B. Hor. c.1.5. Zu weiteren Stellen siehe Nisbet – Hubbard (1970), ad loc. Vgl. auch Németi (2003), 224-225.
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Schock und Erkenntnis Seid schonend, o Götter, wir bitten euch um Gnade, damit derjenige, der das Meer gebändigt hat, in Sicherheit leben mag.
Die beiden Arten der Grenzüberschreitung – eine Schifffahrt und die Auflösung einer Ehe – werden somit mehr oder weniger miteinander gleichgesetzt. Medeas Zorn ist demzufolge keineswegs geringer als der Zorn der Meeresgötter: Dieser Zorn erweist sich als eine wahrhaftige Naturgewalt, durch die Jason schließlich vernichtet wird. Von einem ätiologischen Mythos, der die Entwicklung der menschlichen Zivilisation erklärte, verwandelt sich somit die Medea-Geschichte in dieser Chorpassage in das Emblem der Transformation eines bestimmten emotionalen Zustandes (der Liebe) in einen anderen (den Zorn). Das stürmische Meer fungiert hierbei nur mehr als eine veranschaulichende Metapher für diese Transformation. Bei seinem letzten Auftritt erscheint der Chor schließlich als ein neugieriger Zuschauer, der mit größter Spannung verfolgt, wie sich die Bühnenereignisse weiter entwickeln.65 Die Teilnehmer des Dramas, dem der Chor an dieser Stelle beiwohnt, sind jedoch nicht mehr so sehr die menschlichen Protagonisten, sondern vielmehr die aus dem dritten Chorlied bereits bekannten abstrakten Mächte: Es handelt sich nämlich um nichts Anderes als einen Konflikt zwischen Liebe und Zorn (Sen. Me. 866-869): frenare nescit iras Medea, non amores; nunc ira amorque causam iunxere: quid sequetur? Medea weiß weder den Zorn noch die Liebe zu zügeln; jetzt haben sich Zorn und Liebe vereinigt: was wird nun folgen?
Es ist also offensichtlich, dass der Chor nicht mehr darauf warten kann, das Finale dieses paradigmatischen Psychodramas zu sehen. Der in den beiden mittleren Chorliedern mit Nachdruck betonte Vergleich zwischen Medea und den vielfältigen Gefahren des Meeres trägt zweifelsohne erheblich dazu bei, diesen inneren Konflikt zu visualisieren. Ein tragisches Spektakel, in dem der Rezipient mit einer Fülle von visuell beeindruckenden Bildern bombardiert wird, erweist sich als das wirksamste Mittel zur Veranschaulichung solcher abstrakter psychischer Zustände. Dies gibt Seneca auch selbst in De ira zu, wo er einen zornigen Menschen wie ein Monster der poetischen Unterwelt beschreibt.66 Der 65 66
Sen. Me. 849-851 quonam cruenta maenas / praeceps amore saevo / rapitur? 869 quid sequitur? Sen. ira 2.35 qualem intus putas esse animum cuius extra imago tam foeda est? quanto ille intra pectus terribilior vultus est, acrior spiritus, intentior impetus, rupturus se nisi eruperit! quales sunt hostium vel ferarum caede madentium aut ad caedem
Der Chor
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Chor erreicht im Laufe seiner Auftritte in der Medea eine ähnliche Erkenntnis, indem er in seinem letzten Lied implizit auch feststellt, dass der abstrakte Kampf zwischen Liebe und Zorn erst dann sichtbar – und erlebbar – gemacht werden kann, wenn er durch Medea veranschaulicht wird, die wie ein infernalisches Monster und/oder eine unbändige Naturgewalt auf der tragischen Bühne agiert. Im Oedipus entwickelt sich die Sehfähigkeit des Chors nach einem noch transparenteren Muster. Im sechsten Kapitel habe ich auf die eigenartige Dialektik von Sehen und Blindheit hingewiesen, die die Handlung von Senecas Oedipus weitgehend bestimmt. Der Chor trägt erheblich dazu bei, die zentrale Bedeutung dieses Motivs noch stärker hervorzuheben. Dies geschieht dadurch, dass sich der Chor während des Stücks aus einer an physischer Blindheit leidenden fiktionalen Figur zu einer unpersönlichen Instanz entwickelt, die nun auch imstande ist, das Bühnengeschehen aus einer Außenperspektive heraus als Sichtbarwerdung eines universellen Prinzips zu betrachten. In seinem ersten Auftritt besteht der Chor aus thebanischen Bürgern, die nicht nur die durch die Pest angerichtete Verwüstung in einer auf die reiche antike Tradition der Pestbeschreibungen (von Thukydides bis Ovid) zurückgehenden Passage ausführlich skizzieren, sondern auch selbst an der Seuche erkrankt sind.67 Von besonderer Bedeutung ist die explizite Betonung, dass eine der Auswirkungen der Krankheit darin besteht, dass die Sehkraft der Chormitglieder ernsthaft beeinträchtigt ist (Sen. Oe. 202-204): quisnam ille propero regiam gressu petit? adestne clarus sanguine ac factis Creo an aeger animus falsa pro veris videt? Wer ist es denn, der mit hastigem Schritt zum Königspalast eilt? Kommt der durch Abstammung und Taten ausgezeichnete Creon, oder sieht unser kranker Sinn Falsches für Wahres?
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euntium aspectus, qualia poetae monstra finxerunt succincta serpentibus et igneo flatu, quales ad bella excitanda discordiamque in populos dividendam pacemque lacerandam deterrimae inferum exeunt. talem nobis iram figuremus, flamma lumina ardentia, sibilo mugituque et gemitu et stridore et si qua his invisior vox est perstrepentem, tela manu utraque quatientem (neque enim illi se tegere curae est), torvam cruentamque et cicatricosam et verberibus suis lividam, incessus vesani, offusam multa caligine, incursantem, vastantem fugantemque et omnium odio laborantem, sui maxime, si aliter nocere non possit, terras, maria, caelum ruere cupientem, infestam pariter invisamque. vel, si videtur, sit qualis apud vates nostros est sanguineum quatiens dextra Bellona flagellum, aut scissa gaudens vadit Discordia palla, aut si qua magis dira facies excogitari diri affectus potest. Dazu siehe Staley (2010), 96-120. Davis (1993), 199-202; Töchterle (1994), 225-257; Caviglia (1996), 90-92; Gärtner (2003), 16; Boyle (2011), 142-144.
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Schock und Erkenntnis
Gefangen in der vernebelten fiktionalen Welt der Tragödie scheint der Chor demnach genauso wenig „sehen“ zu können wie alle anderen Bewohner dieser Welt. Das zweite Chorlied ist ein Dithyrambus, also ein Hymnus an Bacchus,68 den der Chor – immer noch in seiner Eigenschaft als Bürger von Theben – singt, während Tiresias den aus den Tiefen des Tartarus heraufbeschworenen Geist des Laius befragt.69 Die Tatsache, dass sich dieser in mythologischer Begrifflichkeit verhaftete und darum außerordentlich traditionell wirkende Hymnus nicht an Apoll – den Gott, der das Fortschreiten der Oedipus-Geschichte in Sophokles’ Originalversion maßgeblich bestimmt, – sondern an Dionysus – den Gott der literarischen Gattung der Tragödie par excellence – richtet, dient offensichtlich in erster Linie dazu, die rein literarische Natur des Vorhabens zu betonen, das von diesem Hymnus begleitet wird, – und somit auch den Status der gesamten tragischen Welt als einer Ansammlung von bloßen φαινόµενα.70 Erst im dritten Chorlied kommt es zu einer impliziten Aufforderung zum Sehen. Das Sehen wird dabei in der für den Oedipus zentralen Bedeutung verstanden – als Erkenntnis der eigenen Monstrosität. Bezeichnenderweise endet der in dieser Passage aufgelistete Katalog der Katastrophen, die Theben in der Vergangenheit heimgesucht haben, mit der Schilderung von Actaeons Schicksal.71 Im Gegensatz zu allen anderen bekannten Versionen des ActaeonMythos (vor allem zur ovidischen) kulminiert diese Erzählung nicht in der Zerstückelung des in einen Hirsch verwandelten Actaeon durch seine Hunde, sondern in seiner Selbsterkenntnis, die, genauso wie diejenige des Narziss,72 dadurch zustande kommt, dass er sein Spiegelbild im Wasser einer Quelle erblickt (Sen. Oe. 755-763): praeceps silvas montesque fugit citus Actaeon agilique magis pede per saltus ac saxa vagus metuit motas zephyris plumas et quae posuit retia vitat – donec placidi fontis in unda cornua vidit vultusque feros, ubi virgineos foverat artus nimium saevi diva pudoris. 68 69 70 71 72
Davis (1993), 202-206; Töchterle (1994), 362-367; Caviglia (1996), 92-95; Gärtner (2003), 16-17; Boyle (2001), 205-209. Sen. Oe. 401-402 dum nos profundae claustra laxamus Stygis, / populare Bacchi laudibus carmen sonet. Zur metatheatralischen Bedeutung dieses Chorlieds siehe Boyle (2011), lxxxv-lxxxvi. Davis (1993), 104-106; Töchterle (1994), 500-502; Caviglia (1996), 95-98; Gärtner (2003), 17-18; Boyle (2011), 275-277. Die zentrale Bedeutung der Narziss-Episode aus Ovids Metamorphosen für Senecas Oedipus habe ich im sechsten Kapitel bereits besprochen.
Der Chor
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Hals über Kopf floh der hastige Actaeon über Wälder und Berge, und mit flüchtigerem Fuß durch Schluchten und Felsen schweifend, fürchtete er die vom Zephyr bewegten Federn und mied die von ihm selbst gelegten Netze – bis er das Geweih und sein tierisches Antlitz im Gewässer einer stillen Quelle sah, wo die durch ihr Schamgefühl allzu grausame Göttin ihre jungfräulichen Glieder gebadet hatte.
Dieses Bild antizipiert und verdeutlicht das, was Oedipus am Ende des Stücks bevorsteht – die in der Begrifflichkeit des Narzissmythos erfolgende Erkenntnis seiner eigenen – Actaeon-artigen – Monstrosität. Diese Selbsterkenntnis findet in der Szene statt, die dem vierten Chorlied vorangeht. Es ist bemerkenswert, dass der Chor auf die Offenbarung dieser schrecklichen Wahrheit mit einer auffälligen Distanzierung vom dramatischen Geschehen reagiert: Anstelle der emotionalen Anteilnahme an dem tragischen Schicksal des Protagonisten, die wir in diesem Kontext bei Sophokles beobachten können,73 haben wir es hier mit einer nüchternen – und dabei vollkommen selbstbezogenen – Reflexion über die Vorzüge des goldenen Mittelmaßes (also der Lebenshaltung des Chors selbst) zu tun, die durch ein weiteres mythologisches Exempel unterstützt wird (das Schicksal des Icarus als Beispiel einer sinnlosen Grenzüberschreitung)74 und mit einer verallgemeinernden Maxime endet (Sen. Oe. 909-910): quidquid excessit modum pendet instabili loco. Alles, was das Maß überschritten hat, schwankt auf unsicherem Fundament.
Das fünfte Chorlied folgt letztlich auf den schauderhaften Botenbericht über Oedipus’ Selbstblendung. Beim Chor verursachen diese erschütternden Bilder jedoch keinerlei emotionale Regung.75 Mehr noch: Der Chor reduziert in seinem letzten Auftritt die mythologische Bildlichkeit auf ein absolutes Minimum und sieht im gesamten Bühnengeschehen nur eine klare Manifestation eines universellen Prinzips – der Unausweichlichkeit des Fatums (Sen. Oe. 980 fatis agimur: cedite fatis).76 Das Verhalten des Chors im Oedipus veranschaulicht somit den graduellen Prozess der Distanzierung von der tragischen Bühnenwelt, der mit der Erlangung 73 74 75 76
Insb. Soph. OT 1204ff. τανῦν δ᾿ ἀκούειν τίς ἀθλιώτερος; κτλ. Sen. Oe. 892-908. Davis (1993), 156-159; Töchterle (1994), 564-568; Boyle (2011), 312-313. Vgl. Soph. OT 1297-1368, wo der Chor darauf mit außerordentlicher Teilnahme reagiert. Davis (1993), 159-165; Töchterle (1994), 608-609; Sklenár (2007/2008); Boyle (2011), 335-337.
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Schock und Erkenntnis
des Sehens einhergeht. Die am Anfang der Tragödie geschilderte vernebelte, durch die Pest und die Monster der Unterwelt verseuchte tragische Welt löst sich im Laufe des Stücks langsam auf und weicht einer klaren Sicht auf das tragische Sujet als eine Veranschaulichung eines abstrakten philosophischen Konzepts. Der Prozess der Erlangung der Sehkraft, den der senecanische Chor (nicht nur im Oedipus, sondern auch in allen anderen Tragödien) durchmacht, entspricht ziemlich genau der visuellen Rhetorik, die den Kern der philosophischen Pädagogik Senecas in seinen Prosaschriften bildet. Der Chor lässt die außerordentlich starken Sinneseindrücke der tragischen Welt zunächst emotional und physisch genauso an sich heran wie der Seneca des 57. Briefes: Der Anblick der pestverseuchten, nebeligen, dunklen Welt Thebens (Sen. Oe. 1-5 und 44-48), der dem Chor im wörtlichen Sinne die Sicht raubt, erinnert an die staubige Dunkelheit der crypta Neapolitana (Sen. ep. 57.2), die einen nicht nur blendenden, sondern auch lähmenden Effekt auf den Betrachter hat (vgl. Sen. ep. 57.4 naturalis adfectio inexpugnabilis rationi). Es ist jedoch eben dieser visuelle Schock, der dem Chor – gleich dem Sprecher des 57. Briefes – schließlich dazu verhilft, eine philosophische Wahrheit nicht nur intellektuell zu begreifen, sondern auch emotional zu verinnerlichen (vgl. Sen. Oe. 980 fatis agimur: cedite fatis und Sen. ep. 57.9 nec quicquam noxium aeterno est). Die auf den ersten Blick im Kern zerrissene, sich selbst widersprechende Stimme des Chors erweist sich somit paradoxerweise als diejenige Instanz, die den disparaten, verwirrenden Sinneseindrücken, denen wir in Senecas Tragödien ausgesetzt sind, eine einheitliche Bedeutung verleihen kann.77 Es handelt sich dabei natürlich nicht um den – einzig richtigen – Sinn der jeweiligen Tragödie (denn dergleichen ist literarischen Texten grundsätzlich wesensfremd), sondern um einen anhand des Bühnengeschehens erzielten Sinnesentwurf. Es liegt selbstverständlich ganz bei uns, ob wir gerade diesem Sinnesentwurf zustimmen: Sogar Seneca selbst gibt schließlich in seinem 108. Brief zu, dass das Lektüreergebnis sehr stark von der ursprünglichen Prädisposition des Lesers abhängt – davon, ob man einen literarischen Text als Grammatiklehrer, Gelehrter, oder Philosoph liest.78 Ebenso wird auch ein an den Konventionen der griechischen 77
78
Vgl. Senecas Verwendung eines Chors als Metapher für eine aus verschiedenen Quellen harmonisch zusammengesetzte philosophische Weltsicht in Sen. ep. 84.9-10 non vides quam multorum vocibus chorus constet? unus tamen ex omnibus redditur: aliqua illic acuta est, aliqua gravis, aliqua media. accedunt viris feminae, interponuntur tibiae. singulorum illic latent voces, omnium apparent. de choro dico, quem veteres philosophi noverant: in commissionibus nostris plus cantorum est quam in theatris olim spectatorum fuit. cum omnes vias ordo canentium inplevit et cavea aenatoribus cincta est et ex pulpito omne tibiarum genus organorumque consonuit, fit concentus ex dissonis: talem animum nostrum esse volo: multae in illo artes, multa praecepta sint, multarum aetatum exempla, sed in unum conspirata. Sen. ep. 108.29-30: non est quod mireris ex eadem materia suis quemque studiis apta colligere: in eodem prato bos herbam quaerit, canis leporem, ciconia lacertam. cum
Der Chor
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Tragödie geschulter Purist in Senecas Tragödien nichts anderes als die „Auflösung des Dramenkörpers“ sehen;79 der von Alessandro Schiesaro als Senecas Modellleser postulierte Connaisseur der vergilischen Intertextualität wird sich von der Erhabenheit des Bösen ästhetisch mitreißen lassen;80 und Martha Nussbaums kritischer stoischer Zuschauer wird übertriebene Darstellungen tragischer Leidenschaften ausschließlich dazu benutzen, seine eigene Fähigkeit als philosophischer Therapeut unter Beweis zu stellen.81 Wie ich in diesem Buch gezeigt habe, setzt Senecas Rhetorik des Sehens die Vorstellung von einem etwas weniger einseitig definierten Zielpublikum voraus. Es darf wohl kaum überraschen, dass es sich dabei um das gleiche römische Publikum handelt, das sich auch von Senecas philosophischen Schriften angesprochen fühlte. Dieses Publikum ist zweifelsohne gebildet genug, um Anspielungen auf die gesamte Bandbreite der klassischen Literatur erkennen und goutieren zu können. Dennoch ist es auch empfänglich für die Botschaften der populären Moralphilosophie. Es besteht weder aus stoischen sapientes noch aus bereits konvertierten proficientes,82 sondern vielmehr aus potenziellen Patienten einer philosophischen Therapie, die sich durch ein aufrüttelndes literarisches Erlebnis dazu animiert fühlen sollen, ihr Leben – oder zumindest ihr Denken – zu ändern.83
79 80 81 82
83
Ciceronis librum de re publica prendit hinc philologus, hinc grammaticus, hinc philosophiae deditus, alius alio curam suam mittit. Friedrich (1933). Schiesaro (2003). Nussbaum (1993). Vgl. Schiesaro (2003), 253: „What we ultimately face is the impossibility of Stoic tragedy. For sapientes will have no interest in it, and proficientes are as likely to be deceived by it as they are to draw useful precepts.“ Vgl. Epict. 3.23.30 ἰατρεῖόν ἐστιν, ἄνδρες, τὸ τοῦ φιλοσόφου σχολεῖον· οὐ δεῖ ἡσθέντες ἐξελθεῖν, ἀλλ᾿ ἀλγήσαντας. Zum antiken Topos der Bekehrung zur Philosophie siehe Kirichenko (2010), 87-105.
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Index locorum AISCHYLOS Ag. 228-247 63 636-680 65 1258-1260 70 1646-1648 75 Theoroi TrGF 3 (F 78a) 11-17 186 APULEIUS Met. 1.8 10.18 10.32 10.34 ARAT Phaen.
74-87
ARISTOTELES Poet. 1448a 1449b24-28 1450a7-10 1450b5-7 1450b4-6 1450b8-12 1450b12 1450b16-20 1450b26-31 1451a36-38 1451b5-10 1452a22-26 1453b1-9 1454a37-b2 1455a16-17 1456a25-27
108 178 183 177
109
238 97, 235 169 169 247 237 247 169 125 184 237-238 119-120 170 102 133 250-251
CALPURNIUS SICULUS Ecl. 1.32 1.50-51 1.63-64 1.77-88 7.4-6 7.16-22 7.35-46
174 174 174 174-185 179 179-180 180
CARMINA EINSIEDLENSIA 2.32-34 175 CASSIUS DIO 55.10.7 60.35.1 66.25.3-4
185 175 185
CATULL 64.307
177
CICERO Acad. 2.21 Arat. fr. 15 Div. 2.28-41 Fam. 7.1.2 De or. 2.242-243 Rab. Post. 35 Rep. 1.65 DIOGENES LAERTIUS 7.49-50
214 109 138 170, 184 183 196 22 213
296
Index locorum
DIOMEDES Gram. Lat. I 491, 15f. (Keil)
183
EPIKTET 1.4.26 1.28.6-10 1.28.12 1.28.31-33 3.23.30
235 236 233 235-236 225, 279
EURIPIDES Ba. 1216-1220 1251-1252 1257-1262 1277-1284 1300 Hec. 37-41 218-341 Herc. 523-582 618-619 963-989 1313-1420 Hipp. 1-57 337-340 792 807 856-890 1073-1254 1214 1236-1246 1342-1461 IA 89-90 98-100 Me. 1136-1230 1270-1293 Tr. 261-263 247-277 702-705 723-725
42 42 42-43 43, 146 58 80 87 24 48 23, 29 33 50 45 35 35 35 35 37 38 35
FLAVIUS JOSEPHUS A.J. 19.1
183
GERMANICUS Arat. 73-89
109
HERODAS Mim. 4.72-76
195
HESIOD Erga 109-201
172
Theog. 565-569 851
202 172
HISTORIA AUGUSTA M. Ant. philos. 29.1-3
196
HOMER Il. Od.
1.1
82
4.499-511 11.576-600
67 147
88 88
HORAZ carm. 1.5 1.12.46-8 ep. 2.1.187-93 epod. 5.44-46
106 114
JUVENAL 8.186-188
80 80, 89 80 80, 89
KALLIMACHOS Hymn. 2.1-2 129 5.119-121 133
273 173 170, 184-185 108 202
297
Index locorum LUCAN Phars. LUKIAN Salt.
1.63-65
134
83
183
LUKILLIOS AP 11.184 11.254 MARTIAL Spect.
OVID Ars
1 2 5 6 9 12 13 16 24 26 27 28
2.277-278 Met. 1.89-112 2.47-48 3.336-338 3.346-348 3.463 5.164-167 6.424-674 6.636-637 6.401-411 13.415-417 13.429-526
PETRON Sat.
28
199-200, 204 199
181 193 182 182 201-202 182 182 182 203-204 181 182 182
176 55, 172 103 133-134 132 132 154 161 154 149 80, 89 80
193
PINDAR Ol.
29-30 31 34 36 38 48 59 60 64 68-70 71
191, 194 195 192-193 197 193 193 198 192 195-196 195-196 198
1.46-51
149
PLATON Gorg. 465c Rep. 516c6 516e3-517a4 517a8-b6
212 212 212
PLINIUS DER ÄLTERE NH 2.92 2.94 11.186-195
175 175 138
197
PLINIUS DER JÜNGERE Paneg. 46.4 1 PLUTARCH Mor.
347a
PS.-HERMOGENES Prog. 22.1.10 PS.-LONGIN Subl.
13.2 15.1-2
11
11, 217
161 161-162, 216217
298
Index locorum 15.2 15.9
233 218
PS.-SENECA Oct. 368-372 377-434 391-394 397-428
2 29 56 55
QUINTILIAN Inst. 4.1.77 6.2.29-30 6.2.32 6.3.29 9.2.4
59 217-218 218 183 218
RHETORICA AD HERENNIUM 4.45 58 SENECA Ag.
1-6 12 15-21 22-25 48-52 63-64 108-115 109 121-124 123-124 162-163 177 308-322 346-347 410-413 412-578 435-436 444-455 448 485-487 491-497 512-516 528-533 551-556
61 62 147 62 62-63 249 63-64 239 64 267 63 247 256 256 65 256 65 65-66 74 66 66-67 67, 69 68 68
583-592 586-587 610 612 627 637-648 640 648 656-658 726-727 730-733 734-740 750-752 754-758 867-875 875-880 877-879 887-907 892-907 897-907 901 910-912 918-921 935-941 953-996 994-995 996 1004-1011 1010-1011 1012 Apoc. 4.1.3-9 4.1.22-23 12.1-2 Ep. 1.2 5.4 6.1 6.5 6.6 7.1 7.3-4 7.5 7.11-12 8.8 14.5-6 24.5-8
257-258 249 259 259 259 258 259 259 259 69 69 70 70 70, 72 71-72 72-73 259 153 73-74 9 200 76 76 76-77 230 259 77, 245 75 260 77 176 177 1 263 54 245 223 224 230 227-228, 231 238 229-230 221 225 225
299
Index locorum 24.20 33.5 33.7-8 57.1-2 57.3 57.3-5 57.6
HF
57.7 57.8-9 58.23 65.24 70.20 74.7-9 76.31 78.2 79.8 80.7 82.20-22 83.9 83.27 84.2 84.4-7 84.7 84.9-10 88.45 89.1-2 90.28-29 95.1 95.65-66 104.3 106.3 106.10-12 108.10 108.24-28 108.29-30 113.1 113.18 120.22
263 245 221 207-208, 278 233 208-209, 278 209-210, 227, 266 210-211 211, 278 263 255 225 242 241-242 245 223 241-242 220 220 220 59 221 246 250, 278-279 221 221-222, 246 221 222 224 245 219 219-220 234 234 279 220 214 243
30-42 35-36 47-60 64-65 84-85 86-91 87-106
27 17 18-19 17 17 19-20 148
128-161 91 112 114-11 162-168 178-179 186-191 198 198-201 337-341 345-348 350-351 529-557 569-591 590-591 592-640 658-672 664-667 668-672 697-700 698-700 700 735-752 813-816 821-827 828-829 830-837 838-849 858-863 865-866 872-874 875-879 918-924 927-938 955-959 965-986 987-989 1004-1007 1018 1024-1026 1108 1138-1294 1143-1146 1221-1226 1279-1282 1296
267-269 31 18 18 269 269 269 262 269 20-21 21 21 33 263 264 24 36 24-25 25-26 26 126 152 22-23 27, 71 27 249, 260 27 261 262 262 263 260-261 22 28, 273 29 29 23 9, 30 24 9, 30 1 230 31 31 32 32-33
300
Index locorum 1316-1317
Ira
1341-1344 2.2-3
2.8.2 2.35 Marc. 2-3 19 Me. 1-26 9-18 19 32-34 35-36 44-55 102-106 116 171 312-321 329-333 360-369 375-379 578-591 595-596 670-910 743-746 849-851 866-869 879-890 893-894 904-905 927-928 958-971 964-971 967-1027 972-1027 973 976-977 980 982-986 988-992 992-994 997-1005 1016-1017
33, 112, 142, 244 33 209, 225, 227, 247 240-241 275 223 255 104-106 111 112 102-103 107 101-102, 150 271 115 239 273 271 272-273 273 273 274 108-112, 153 147 274 274 106 115 231 113 113-114 102 9 230 102 116 102 71, 116 113 101, 116, 158 117 117
1018 1019-1020 1021 1022-1024 1026-1027 Nat. 1.16 2.32 Oe. 1-5 1-81 6-11 16 20-21 27-70 28-36 31 36 37-45 44-48 37-70 77-80 80-81 81-86 87-102 106-108 131 160-179 202-204 212-231 233-243 257-263 267-287 270-275 273 276-287 297-298 317-323 328-334 342-350 371-375 383 390-394 401-402 403-508 436-444
245 114, 200 118, 156 102 103, 118 226-227 136 125-126, 148, 152, 278 240 120 130 130 148 121, 240 147 126, 130 152 278 126 122 130, 148 126 127 128 139 126 275-276 128-129 130 131 132 131-132 155 141 134 135 135-136 137 137 137 137-138 276 143 144
301
Index locorum
Ph.
530-547 530-658 544-546 556-557 561 568 572-573 589-594 610-618 613-618 626-630 640-641 652-653 755-763 768-772 776-867 868-870 930-933 935-979 980 948-949 949-951 961-974 971-973 978-980 998 998-1041 1003 1004-1110 1009-1012 1009-1039 1012-1013 1021 1038-1039 1040-1041 1058-1060
139-140, 152 71 140 140 139 140 139 140-141 140 144 144-145 140-141 141 276-277 141 141 85 145 9 278 137 142 142-143 156 137 200 9 143 146 156 230 146 146 146 137 148-149
1-84 91-92 93-95 113-123 124-128 142-143 174-177 184-187 195-203 224
46 46 48 44-45, 49 50 45 45-46 50 50-51 47
352-355 387-403 409-417 481 483-564 608 624 639 525-539 599-601 645-650 646-649 663-666 671-676 683-686 687-689 741-760 753-760 773-774 843-845 892-908 909-910 915-919 941 945-947 949-953 972-980 1007-1017 1035-1047 1036-1037 1050-1104 1159-1243 1066 1066-1067 1093-1110 1123-1127 1168-1169 1170-1173 1191-1194 1201-1203 1213-1219 1226-1228 1229-1235 1238 1238-1240 1238-1279 1249
270 51-52 53 54 54 55 55 55 54-55 250 46 47 46 56 56 45 270 47 270 48 277 277 56-58 48 48-49 36 270 36-37 37-38 56 38 230 246 57 38-39 271 44, 156 57-58, 204-205 58 40 40 40 147 245 85 142 59
302 1256-1268 1256-1274 1266 1268 1278-1279 Prov. 2.7-12 Th. 1-5 1-121 13 18-20 23-121 136-138 53 62-64 68-83 87-89 96-100 107-111 120-121 176-180 176-335 192-193 192-197 249-262 261-262 267 270 272-278 275 281-282 336-338 342-348 546-549 547 596 623-625 635-636 641-653 641-788 665-677 689-690 690 703-704 704-705 707-716
Index locorum 41, 58 9 246 59 41 241 149 159 147 147-148 148 264 148, 165 148 148 148 149 152 152 150 264 247 150-151 160-161 247 247 247 161 247 161 265 265 265 247 265 162 162 152-153 10 152 154 265 247 153-154 154
716 719 730-731 732-736 743-747 744-745 771-772 782-787 789-884 828-835 875-884 885-895 888 903-907 920-1112 970-112 985-989 992-995 998 1002-1006 1007-1018 1031-1032 1034 1035-1036 1038-1040 1052-1067 1057-1065 1071 1077-1096 1096-1098 1098-1099 1104-1110 1110-1112 Tranqu. 17.1 Tr. 31 63-64 98 131 155-159 164-165 168-171 181-189 191-196 207-210 246-249
265 265 265 154 154, 162 231, 247, 265 155 155 156, 266 266 266-267 163 158 158 10 230 149 155-156 155, 162 156 157 156-157 157 156 157 164 159 157 157 163 151 151 157-158 242-243 1 249 253 253 253 87 81 81 82 90-91 87-88
303
Index locorum 248-249 255-259 292-300 331 351-352 360-365 365-370 397-411 430-435 442 443-450 452-456 469-474 476-481 483-486 519-521 524-555 526-535 550-551 568-570 570-571 625-626 634-641 686-691 689-691 876-878 927-933 1056-1058 1068 1071-1076 1077-1087 1076 1097-1098 1104-1109 1110-1117 1118-1125 1118-1154 1128-1129 1136-1137 1147 1154 1165-1177 1173-1175 SEXTUS EMPIRICUS Math. 7.255
91 91 91-92 92 91 88 89 254-255 81 81 83 84 85 85 85 85 86 92-93 89 86 94 94-95 86 86 96 88 94 97 94 94-95 95-96 89 97 97-98 9, 98 96 153 97 97 97 98 99-100, 230 245
214
SIDONIUS APOLLINARIS Carm. 9.232-238
1
SOPHOKLES Ant. 998-1032 OT 86 96-107 106-107 132-146 350-353 371 385-398 389 412-419 438-441 729-754 1204 1265-1266 1297-1368
128 128 121 128, 130 140 122 123 133 124 124 132 277 145 278
STATIUS Silv. 1.1.8-9
181
STOBAEUS 2.88
209, 214
SUETON Cal.
134-135
57
183, 202
21.6 44 46
185 175 175
39.4
185
2.12 31
182 193
TACITUS Ann. 12.66-76 14.8.4 15.62-63
175 2 1
Claud.
Iul. Nero
304 VERGIL Aen. 1.39-41 1.279 2.116-119 2.270-276 2.289-295 6.14-33 6.46-51 6.65 6.136 6.179 6.237-247 6.257-258 6.264-267 6.268-294 6.273-277 6.337-383 6.450-476 8.319-325 Ecl. 1.1 1.3 1.19-35 3.12 4.6. 4.42-44 4.46-47 6.41 9.45-47 Geo. 1.125-128 3.284 VITRUV Arch. 7.5.1 7.5.3-4
Index locorum
67 173 87 83 84 197 129-130 139 140 179 140 140 139 26 140, 149 140 140 172 179 178 178 179 174 177 176 174 173 172 234
188 187-188