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German Pages 244 [250] Year 2019
Karen Piepenbrink
Die Rhetorik des Aristoteles und ihr Verhältnis zum historischen Kontext
Historia
Altertumswissenschaften Franz Steiner Verlag
Historia – Einzelschrift 261
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend)
Bernhard Linke | Mischa Meier | Walter Scheidel | Hans van Wees Band 261
Die Rhetorik des Aristoteles und ihr Verhältnis zum historischen Kontext Karen Piepenbrink
Franz Steiner Verlag
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Meinem Vater und dem Andenken meiner Mutter
Inhalt Vorwort
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1. Einleitung
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2. Die Konzeption der Rhetorik durch Aristoteles und ihre historische Verortung 2 1 Allgemeine Überlegungen zum Gegenstand 2 2 Redegattungen 2.2.1 Forensische Reden 2.2.2 Deliberative Reden 2.2.3 Epideiktische Reden
17 17 27 30 36 49
3. Handlungsmotive und soziale Konfigurationen 3 1 Motive rechten und unrechten Handelns 3 2 Handlungen und soziale Konstellationen
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4. Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln 4 1 Zur Verargumentierung von Gesetzen 4 2 Zum Umgang mit Eiden, Zeugen, Verträgen und Folter 4.2.1 Eide 4.2.2 Zeugen 4.2.3 Verträge 4.2.4 Folter
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5. Die Evokation von Emotionen und die Erwartungen des Auditoriums 5 1 Zum Umgang mit Emotionen 5.1.1 ‚Zorn‘ und ‚Hass‘ 5.1.2 ‚Mitleid‘ 5.1.3 ‚Milde‘ 5.1.4 ‚Neid‘, ‚Eifersucht‘ und ‚Entrüstung‘
87 87 89 94 98 100
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Inhalt
5.1.5 ‚Furcht‘ und ‚Zuversicht‘ 5.1.6 ‚Scham‘ 5 2 Die Konzeptualisierung des Auditoriums und seiner Erwartungen
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6. Soziale Werte 6 1 Allgemeine Überlegungen zu sozialen Werten in der ‚Rhetorik‘ und ihrer historischen Situierung 6 2 ‚Güter‘ (ἀγαθά) 6 3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί)
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7. Rednerische Inszenierung und Gestaltung der Rede 7 1 Zur Inszenierung des Redners und dessen Interaktion mit dem Auditorium 7.1.1 Körperlich-performative Aspekte 7.1.2 Zur Problematik der rednerischen Expertise 7.1.3 Zur Kommunikation zwischen Rednern und Auditorium 7 2 Zur sprachlichen Gestaltung und Tektonik der Rede 7.2.1 Zum rednerischen Ausdruck 7.2.2 Zum Aufbau von Reden
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8. Zusammenfassung
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Quellen- und Literaturverzeichnis I Quellen Literarische Zeugnisse Epigraphische Zeugnisse II Literatur
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Register
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148 148 151 156 161 162 168
Vorwort Die vorliegende Monographie ist im Rahmen des Projekts ‚Historischer Kommentar zur Rhetorik des Aristoteles‘ entstanden, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, der ich zu großem Dank verpflichtet bin Besonderer Dank gebührt weiterhin den Herausgebern der ‚Historia‘ für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der ‚Einzelschriften‘ wie auch den anonymen Gutachtern der Reihe für wertvolle Hinweise Sehr herzlich danken möchte ich schließlich Prof Dr Peter von Möllendorff und Dr Stefan Fraß für ihre Lektüre des Manuskripts Gießen, im September 2019
Karen Piepenbrink
1 Einleitung Ungeachtet der immensen Zahl an instruktiven Untersuchungen zur ‚Rhetorik‘ des Aristoteles, die in den vergangenen Jahrzehnten unter Verwendung unterschiedlichster konzeptioneller und methodischer Ansätze durchgeführt worden sind,1 wurde die Schrift bislang nicht systematisch unter historischen Gesichtspunkten ausgewertet – weder in Einzelstudien monographischen Charakters noch im Rahmen von Kommentarliteratur bzw kommentarähnlichen Arbeiten, die das Opus umfassend zu erschließen und zu verorten suchten Werfen wir zunächst einen Blick auf den Forschungsstand, um uns das Desiderat zu verdeutlichen: Die Kommentierung der Schrift setzt, soweit es sich auf der Basis der Überlieferung nachweisen lässt, erst im Mittelalter ein 2 Den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommentatoren des Werkes ist – trotz der formalen und inhaltlichen Heterogenität ihrer Arbeiten – das Interesse gemeinsam, Begriffe und Vorstellungen des antiken Autors unmittelbar auf wissenschaftliche Diskurse resp praktisch-rhetori-
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Zum exorbitanten Umfang wie auch zur zentralen Stellung der Beschäftigung mit der ‚Rhetorik‘ des Aristoteles innerhalb der Forschungen zur antiken Beredsamkeit vgl Schiappa/Hamm 2007, 7 Antike Kommentarliteratur zur ‚Rhetorik‘ ist nicht bezeugt Die frühesten byzantinischen Kommentare des ‚Anonymus‘ (evtl mit Michael von Ephesus zu identifizieren) und des Stephanos entstammen dem 12 Jahrhundert, basieren aber mit großer Wahrscheinlichkeit auf älterem Scholienmaterial Ihr besonderes Interesse gilt der praktisch-pädagogischen Dimension der Redekunst; dazu Conley 1990 Die Kommentierung im arabischen Raum nimmt ihren Anfang im 10 Jahrhundert mit al Fārābī; spätere prominente Beispiele sind Avicenna und Averroës Diese verbindet die Suche nach epistemologischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der Rhetorik und den logischen Disziplinen; hierzu Würsch 1991; dies 2005; D’Ancona Costa 2002 Aus dem lateinischen Mittelalter ist namentlich der Kommentar des Aegidius anzuführen, der vor allem der Frage nach der Stellung der Rhetorik innerhalb der artes sowie ihrem Verhältnis zur Dialektik nachgeht; vgl Murphy 1966; Coleman 1999; Rapp 2002; Worstbrock 2005 In der italienischen Renaissance geraten die ethisch-psychologischen Implikationen der aristotelischen Persuasionstheorie wie auch die praktische Relevanz der Eloquenz in den Blick (u a Daniele Barbaro, Pietro Vettori; dazu Green 1994; Rapp 2002; Eggs 2005; Worstbrock 2005) Ähnlich verhält es sich mit der nur geringfügig zeitversetzten Rezeption in Frankreich und England, die aber vorrangig im Rahmen anderer Textgattungen stattfindet (z B in Vorlesungsform wie bei John Rainolds; hierzu Rapp 2016) Umfassende Verzeichnisse zur ‚Rhetorik‘-Rezeption in Kommentaren wie auch anderen Genres finden sich bei Lohr 1967–1974 für das Mittelalter und bei Erickson 1975 für die Neuzeit
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1 Einleitung
sche Ambitionen der je eigenen Gegenwart zu transferieren 3 Infolgedessen praktizieren sie Kommentierungsverfahren, die mit einer historischen Dekontextualisierung der Schrift einhergehen 4 Anmerkungen zum Entstehungskontext – speziell solche, welche über die Thematisierung des Verhältnisses zur platonischen Philosophie oder zur sophistischen Rhetorik hinausgehen – sind gewöhnlich auf knappe Sprach- und Sacherläuterungen, etwa zu den im Text erwähnten politischen Institutionen bzw Ereignissen, begrenzt Die moderne wissenschaftliche Erschließung der Schrift durch Kommentare – zunächst ausschließlich philologischer Provenienz – beginnt in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts Allen voran sind hier die Arbeiten von Leonhard Spengel und Edward M Cope zu nennen 5 Geprägt durch den Historismus liegt ihnen ein Bewusstsein für die historische Differenz zwischen der Entstehungszeit des Textes und der eigenen Ära zugrunde, die sie von unmittelbaren Gegenwartsbezügen Abstand nehmen lässt Im Vordergrund rangiert nun das Bemühen um vollständige exegetische Durchdringung des Werkes – inklusive der Ermittlung von Parallelstellen und der Bestimmung intertextueller Bezüge (vor allem innerhalb des Corpus der aristotelischen Schriften) – wie auch um Textkritik, darunter die Beschäftigung mit den Problemen der Genese und möglichen inhaltlichen Inkonsistenzen der Schrift In diese Tradition reiht sich im späten 20 Jahrhundert der bis dato letzte große philologische Kommentar von William M A Grimaldi ein, der den ersten beiden Büchern der ‚Rhetorik‘ gewidmet ist 6 Alternative Zugänge weisen die jüngsten Kommentare von Larry Arnhart und Christof Rapp auf 7 Als Vertreter der Politikwissenschaft bzw als Inhaber einer Professur für ‚Antike Philosophie‘ setzen die beiden Forscher spezielle inhaltliche Akzente, die aus den Erkenntnisinteressen ihrer Fächer resultieren: Arnhart konzeptualisiert die aristotelische Rhetorik als eine Methode praktisch-politischen Denkens; Rapps Kommentar reflektiert das genuine Interesse der philosophischen Forschung, die ‚Rhetorik‘ innerhalb der aristotelischen Philosophie zu verorten, wobei er den Fokus seinem Arbeitsschwerpunkt entsprechend auf ihre Relation zu den Ethiken sowie den logischen Schriften richtet In höherem Grade als die frühere Kommentarliteratur verbinden sie damit Interpretation und Kommentierung Referenzen auf den Entstehungskontext aber beschränken sich auch bei den neueren wissenschaftlichen Gesamterschließungsprojekten zumeist auf kurze Sacherläuterungen bzw auf die Einordnung der Schrift in die griechisch-antike Philosophie- resp Rhetorikgeschichte Letzteres
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In dem Sinne auch Gourinat 2018, 281–283 Grundsätzlich zu Formen und Methoden der Texterschließung durch Kommentare Frühwald 1975; Assmann 1995; Raible 1995; Plachta 1997/2006; Guthmüller 2000; Neumann, F 2004; Fladerer 2006 Spengel 1867; Cope 1877; zum Projekt Copes Yunis 2018a Grimaldi 1980; ders 1988 Arnhart 1981; Rapp 2002; ders 2002a
1 Einleitung
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basiert auf den Interessen des Aristoteles selbst und korreliert mit den Fokussierungen der Spezialforschung in Monographien und Aufsätzen 8 Worin nun liegt die Relevanz einer historisch orientierten Beschäftigung mit dem Opus begründet? In Studien unterschiedlichster Couleur ist nachdrücklich demonstriert worden, dass Aristoteles die Redekunst als eine τέχνη versteht, die ihren Anwendungsbereich in Situationen findet, in denen nicht mit gesichertem ‚Wissen‘ (ἐπιστήμη) operiert werden kann, sondern wo es gilt, das jeweils ‚Glaubenerweckende‘ (πιθανόν) zu ermitteln und zu kommunizieren Dies setzt seiner Ansicht nach voraus, dass der Redner auf vorgängige Meinungen, Haltungen und emotionale Dispositionen seines Auditoriums rekurriert,9 und zwar beim Einsatz sämtlicher ‚artifizieller‘ Überzeugungsmittel 10 Jene intersubjektiv gültigen Einstellungen und Wertbezüge, die der Philosoph gewöhnlich als ‚ἔνδοξα‘ tituliert,11 stoßen in der Forschung auf eminentes Interesse – im Rahmen philologisch-rhetorischer resp praktisch-philosophischer Aristoteles-Interpretationen im engeren Sinne,12 aber auch darüber hinaus im Zusammenhang mit der historischen Fundierung aktueller Kommunikationstheorien,13 schließlich zur Begründung politischer Ideen 14 Die Herleitung der Relevanz der ἔνδοξα durch Aristoteles wie auch seine Überlegungen zu ihrer Verargumentierung kann mittlerweile als gut erforscht gelten, nicht hingegen die Frage, wie die ἔνδοξα praktisch generiert werden Aristoteles entwickelt hierzu keine Methode, sondern insinuiert, dass der Redner sich auf empirische Erfahrung stützt 15 Dies hat in der Forschung zahlreiche Fragen aufgeworfen, namentlich zur dabei praktizierten Wertorientierung 16 Durch textimmanente Interpretation wie auch durch Abgleich mit anderen aristotelischen Schriften, besonders der ‚Topik‘ und den Ethiken, konnte dieses Problem nicht hinreichend gelöst werden 17 Eine Untersuchung des konkreten Bezugs
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Dazu u a Hellwig 1973; Classen 1981; Kennedy 1991; Sprute 1992; Schütrumpf 1994, bes 101 f ; Poulakos 1996; Krapinger 2005, bes 46; Day 2007; Becker 2013; Dow 2015; generell zu aktuellen Fragestellungen und Tendenzen in der ‚Rhetorik‘-Forschung Kienpointner 2005; Knape 2005; Rapp 2005 Hierzu etwa Hellwig 1973; Garver 1991, bes 75 f ; McCabe, M M 1994; Sprute 1994; Reeve 1996; Calboli Montefusco 1999 Zu dem Gegenstand Grimaldi 1972; Sprute 1981; ders 1982; Wörner 1981; Gill 1984, bes 153; Wisse 1989; Fortenbaugh 1990; ders 1992; Garver 1991; ders 1994; Burnyeat 1994; Knape 2012 Eine Skizze des aristotelischen Verständnisses dieses Begriffs gibt Ptassek 1994 Siehe etwa Wisse 1989; Fortenbaugh 1990; ders 1992; ders 2007; Grimaldi 1990; Russel 1990; Wörner 1990; Sprute 1991; ders 1994; Carey 1994; Halliwell 1994; McCabe, M M 1994; Most 1994, bes 181 f ; Ptassek 1994; Rorty 1996a, bes 4; Cooper, J M 1999, bes 402 So besonders Kopperschmidt 1995; ders 1999; ders 2005; Kullmann 1998; Walton 1999; Haskins 2001, 168–173; Rapp/Wagner 2013 Siehe beispielsweise Kleger 1990, 22–25 Einen Überblick über diesbezügliche Studien gibt Rapp 2002, 257–261 Eine Übersicht über die entsprechenden Kontroversen findet sich bei Day 2007 Vgl dahingehend speziell zu den Ethiken Halliwell 1994, bes 213; ders 1996; Engberg-Pedersen 1996; Irwin 1996, bes 142
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1 Einleitung
der ἔνδοξα zu ihrem politischen, sozialen und kulturellen Kontext, der seitens der althistorischen Forschung zu leisten wäre, dürfte an der Stelle in sachlicher wie methodisch-konzeptioneller Hinsicht instruktiv sein Die Alte Geschichte weist ihrerseits erkennbaren Bedarf an einer historischen Kontextualisierung der Aussagen der aristotelischen ‚Rhetorik‘ auf Ihre Interessen an dem Text differieren von denen der anderen Disziplinen, was nicht zuletzt zur Konsequenz hat, dass sie an deren Debatten bislang kaum partizipiert hat Grundsätzlich dominiert bei ihr die Frage, in welchem Grade und für welche Themenfelder die ‚Rhetorik‘ als historische Quelle Verwendung finden kann Ihre Gesamteinschätzung der Schrift ist dabei ambivalent: Sie ist geprägt durch die einschlägigen Forschungserfahrungen mit der aristotelischen ‚Politik‘, die in ähnlicher Manier, jedoch mit weitaus größerer Intensität unter historischen Fragestellungen studiert wird: Einerseits gilt die ‚Rhetorik‘ auch in der Alten Geschichte als signifikant stärker an der ‚Lebenswelt‘ orientiert als die ‚Politik‘, die in erheblichem Umfang durch Philosopheme gekennzeichnet ist, was ihre Auswertung unter historischen Gesichtspunkten erschwert;18 andererseits scheint die ‚Rhetorik‘ aufgrund ihres beträchtlichen Abstraktionsgrades zur Gewinnung historischer ‚Fakten‘ nur eingeschränkt geeignet Das ist speziell im Zusammenhang mit Versuchen konstatiert worden, die Schrift zum Studium der forensischen oder deliberativen Rhetorik der Zeit heranzuziehen 19 Insbesondere ihre ausgeprägte Fokussierung auf formale Aspekte bei der Formulierung von Argumenten divergiert von der stärker inhaltlich ausgerichteten Arbeit der praktischen Redner 20 Des ungeachtet ist in philologisch orientierten Beiträgen gezeigt worden, dass die aristotelische Argumentationstheorie diverse Interferenzen von inhaltlichen und formalen Elementen aufweist, die von der historischen Praxis möglicherweise weniger stark differieren, als bislang angenommen wurde 21 Überdies ist die ‚Rhetorik‘ mehrfach unter rechtshistorischen Gesichtspunkten ins Visier genommen worden, wobei sich wiederum ein heterogenes Bild ergeben hat: Abweichungen gerade vom athenischen Rechtsverständnis wurden in der Einschätzung des positiven Rechts und sogenannter ‚extralegaler‘ Rechtsgründe (z B der ‚Billigkeit‘) ausgemacht,22 Parallelen hingegen auf dem Feld der Ethopoiie und der Verargumentierung sozialer Werte 23 Dieser Befund bedarf einer genaueren Analyse, die im Rahmen einer systematischen Studie geleistet werden kann Aus aktueller rechts18 19 20 21 22 23
Dazu Zoepffel 1974; dies 1975; Nippel 1980; Gehrke 1985; Lintott 2018; vgl Touloumakos 1985; Winterling 1993; ders 2003; Piepenbrink 2001; speziell mit Blick auf Athen Eucken 1990; Lintott 1992 Siehe hierzu Palmer 1934; Carey 1994; Trevett 1996 Vgl Garver 1996, bes 179 f 192; Kennedy 1996; Kullmann 2005; Heath 2009, 63 So besonders Schmitz, T 2000; vgl Mirhady 1990, bes 409 Hierzu Meyer-Laurin 1965; Triantaphyllopoulos 1985; Todd 1993; Harris, E M 1994; Carey 1994a; ders 1996; Sickinger 2007; Piepenbrink 2015a; dies 2017 Siehe Russell 1990; Cohen, D 1991a; Carey 1994b; Piepenbrink 2015a; dies 2016a
1 Einleitung
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historischer Perspektive scheint der Text allem voran deshalb inspirierend, weil der Philosoph die forensische Rhetorik in der sozialen Praxis verortet, was zum Abgleich mit anderen – noch stärker pragmatisch motivierten – Quellengattungen einlädt (etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Rechtsnormen und sozialen Normen oder der Existenz eines spezifischen ‚legal space‘) 24 Eng mit diesen Unternehmungen sind historische Arbeiten verknüpft, in denen die Verwendbarkeit des Textes als Quelle für kollektive Werte und kulturelle Einstellungen eruiert wird und die unmittelbar an den aristotelischen ἔνδοξα ansetzen Auch dort haben wir es mit ambivalenten Resultaten zu tun: Kenneth Dover etwa zeigt sich diesbezüglich pessimistisch, verweist in seiner einschlägigen Monographie ‚Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle‘ nur vereinzelt auf den Text und dies zumeist mit der Intention, die Inkompatibilität der aristotelischen mit den gängigen Vorstellungen der Zeit zu demonstrieren 25 Skeptisch formuliert in der Angelegenheit auch Gabriel Herman 26 Dezidiert optimistisch äußern sich hingegen Nick Fisher und David Cohen 27 An der Stelle herrscht offenkundig wiederum Dissens und weiterer Forschungsbedarf Gleiches gilt für die Aussagen des Philosophen zur Emotionalität des Auditoriums 28 Die vorliegende Studie setzt bei diesem Desiderat an und verfolgt das Ziel, die Ausführungen des Aristoteles in ihrer Relation zum historischen Kontext zu beleuchten Dies geschieht nicht in Form einer fortlaufenden Kommentierung,29 sondern mittels eines systematischen Zugriffs, der sich an den für unseren Gegenstand zentralen Sujets orientiert Dazu werden grundlegende Thematiken der ‚Rhetorik‘ – darunter die Konzeptualisierung der Redegattungen, der Komplex der rednerischen Selbstinszenierung, die Kommunikation zwischen Rhetor und Auditorium, die Handhabe von Gesetzen und anderen ‚Beweismitteln‘ in Gerichtsverfahren, der Umgang mit Emotionen sowie das Feld der sozialen Werte – im Verbund mit entsprechenden Aspekten ihres historischen Umfeldes in Augenschein genommen 30 Eine solche Vorgehensweise bietet gegenüber einem linearen Textdurchgang verschiedene Vorteile: Sie vermag
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Ostwald 1973; Carey 1994a; Yunis 2005; vgl Johnstone, S 1999 Dover 1974; hierzu kritisch Taylor, C C W 1990, bes 233 f Ihm scheint der kompetitive Charakter gegenüber den kooperativen Momenten zu stark herausgehoben; siehe Herman 2006, 95 131 f ; ähnlich Harris, E M 2005, 125–131 Fisher 1992, 7–35; Cohen, D 1995, bes 61–70 Dazu aus philologischer Perspektive Konstan 2001; ders 2003; ders 2007a; aus historischer Sicht hingegen Piepenbrink 2014; dies 2015a; dies 2016a Eine solche böte sich am ehesten für das zweite Buch an, in dem die Auseinandersetzung mit den ἔνδοξα dominiert und nahezu sämtliche Aussagen Ansatzpunkte für historisch motivierte Fragestellungen enthalten, was auf die beiden übrigen Bücher nicht in vergleichbarem Umfang zutrifft Einige der zentralen Kategorien des Aristoteles sind im Hinblick auf ihren Bezug zum historischen Umfeld unter verschiedenen Gesichtspunkten relevant, darunter das ἦθος und das Enthymem Wir werden sie demzufolge nicht isoliert in eigenen Kapiteln, sondern im Rahmen der jeweiligen Kontexte studieren
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1 Einleitung
stärker zu akzentuieren und analog der Fragestellung problemorientiert zu verfahren; zudem kann sie leichter Redundanzen vermeiden, die andernfalls aufgrund der Mehrfachbehandlungen mancher Thematiken in der ‚Rhetorik‘, welche teils entstehungsgeschichtlich, teils redaktionell bedingt sind,31 drohen Schließlich ermöglicht sie eine vergleichsweise kompakte wie auch komprimierte Behandlung des Gegenstandes 32 Methodisch werden wir in hohem Grade komparatistisch arbeiten, d h mit entsprechenden Befunden aus anderen zeitgenössischen Quellengattungen, die dezidierter lebensweltlich orientiert sind, vergleichen Im Vordergrund werden dabei die tradierten Reden stehen: zum einen weil sie in gewissem Sinne das ‚praktische Pendant‘ zum Text des Aristoteles bilden, zum anderen weil sie sich in den letzten Jahrzehnten als einschlägig erwiesen haben, um populäre Einstellungen und für die Zeit gängige Verhaltensmuster zu rekonstruieren 33 Daneben werden wir u a zeitgenössische rhetorische Kompendien sowie historiographische Schriften heranziehen Insbesondere zum Zweck der Auseinandersetzung mit den kollektiven Werten werden wir zudem epigraphisches Material, speziell Ehrendekrete, konsultieren Hauptintention wird insgesamt sein, Kongruenzen wie Divergenzen mit dem/vom historischen Umfeld zu bestimmen und im Hinblick auf ihre Ursachen zu durchleuchten 34
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Zu der Problematik und ihren möglichen Ursachen u a Rapp 2002, 191–193; ders 2005, bes 51 f 70; Kienpointner 2005, 365; Alexiou 2014, 763 f Im Interesse dieser Zielsetzung werden wir auch Referate der Gedankengänge des Aristoteles auf das für unsere Fragestellung erforderliche Maß begrenzen Gleiches gilt für deskriptive Ausführungen zur aristotelischen ‚Rhetorik‘ sowie zum historischen Kontext Hierzu explizit u a Ober 1989, 46; Roisman 2005, 3–6; Tiersch 2018, bes 47 f mit weiteren Literaturhinweisen; zu dem Komplex grundsätzlich auch Scafuro 2019, 39 f Das meint freilich nicht, dass wir es beim Corpus der Reden mit einem ‚monolithischen Block‘ zu tun hätten Ungeachtet diverser genuiner Unterschiede ist ihnen gleichwohl die Ausrichtung auf zeitgenössische Auditorien und deren Erwartungshaltungen gemeinsam Dass bei der Interpretation jener Schriften grundsätzlich die spezifischen Kommunikationsbedingungen zu beachten sind, die ihnen jeweils zugrunde liegen, versteht sich ohnedies; dazu bes Todd 1990a, bes 164 f Im Interesse der Bestimmung jener Ursachen wird in gewissem Umfang auch einschlägigen Interferenzen mit anderen aristotelischen Schriften nachzugehen sein Dies erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen, zu dem auf entsprechende philologische und philosophische Forschungen zu rekurrieren sein wird
2 Die Konzeption der Rhetorik durch Aristoteles und ihre historische Verortung 2.1 Allgemeine Überlegungen zum Gegenstand Beginnen wir mit einigen grundlegenden, für unser Projekt relevanten Präliminarien, darunter der Frage nach Intention und Zielsetzungen des Autors, nach Entstehungszeit und -ort der Schrift, nach ihren Adressaten, aber auch ersten Betrachtungen zum Problem ihrer historischen Situierung Die spezifische Konzeption der Rhetorik durch Aristoteles, die er in den Anfangskapiteln des ersten Buches darlegt und auf die er im Verlauf seines Werkes immer wieder zu sprechen kommt, ist in beträchtlichem Grade durch das Unterfangen geprägt, Differenzen zu entsprechenden Überlegungen anderer Autoren zu markieren Dabei sucht er sich in (mindestens) dreifacher Hinsicht abzugrenzen: erstens von sophistischen Vorstellungen, die ihm vor allem methodisch, aber auch normativ defizitär scheinen, zweitens von der platonischen Rhetorikkritik, die von epistemologischen Prämissen ausgeht, die seiner Ansicht nach für den Gegenstandsbereich der praktischen Philosophie und damit auch der Rhetorik inadäquat sind, sowie drittens vom Standpunkt des Isokrates, des populärsten Rhetoriklehrers seiner Zeit, der mit einem wesentlich anderen Philosophiebegriff arbeitet als Aristoteles und im Verbund damit auch zu einem abweichenden Rhetorikmodell gelangt 1 Eines der Hauptanliegen unseres Autors ist somit darin zu sehen, sich in den intellektuellen Diskursen seiner Zeit, in denen Kontroversen über die Redekunst eine zentrale Rolle einnehmen, zu posi-
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Den Forschungsstand zur Positionierung der aristotelischen ‚Rhetorik‘ gegenüber kritischen Stimmen und konkurrierenden Entwürfen präsentiert Dow 2015 mit zahlreichen Literaturhinweisen; für einen knappen Überblick über die Thematik siehe Rapp 2019, 347 f ; speziell zur Verteidigung seiner Konzeption gegenüber Platon Nichols, M P 1987, bes 658 671–675; McCabe, M M 1994, 130–135 147–152; zum Verständnis Platons dagegen u a Yunis 2007, bes 75–81 Aus dem Kreis der Sophisten nimmt er besonders Thrasymachos und Gorgias kritisch in den Blick; dazu Dow 2007, 391–396 Zur Abgrenzung von Isokrates siehe Benoit 1990, bes 257 f ; Haskins 2004, 130
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2 Die Konzeption der Rhetorik durch Aristoteles und ihre historische Verortung
tionieren und zu profilieren 2 Dessen hat man sich m E durchgehend bewusst zu sein, wenn man die Schrift historisch zu verorten sucht Das gilt bereits für die Frage nach den Adressaten des Textes, die ihrerseits mit jener nach Entstehungsort und -zeit unmittelbar verknüpft ist Starten wir mit den beiden letztgenannten Aspekten, die in der Forschung seit langem kontrovers und unter Verwendung unterschiedlichster Deutungsparadigmata diskutiert werden 3 Mittlerweile wird mehrheitlich die Position vertreten, dass weite Teile der Abhandlung in Athen verfasst worden sind, speziell in den letzten Jahren des ersten Athen-Aufenthaltes des Philosophen, der 347 v Chr endet;4 zudem sind Überarbeitungen nachzuweisen, die zuverlässig auf die Phase seines zweiten Aufenthaltes in jener Polis (ab 335 v Chr ) hindeuten 5 Aber auch unabhängig vom Ort der Abfassung ist der Bezug auf die Stadt evident: Er resultiert zuvorderst aus dem Umstand, dass das Werk bei seinen Rezipienten ein erhebliches Maß an Vertrautheit mit den athenischen Verhältnissen voraussetzt: So geht Aristoteles beispielsweise davon aus, dass der Hörer resp Leser darüber informiert ist, welche speziellen Maßstäbe an Gerichtsreden gelegt werden, die für den Vortrag vor dem Areiopag bestimmt sind 6 Wie von der Forschung bereits beobachtet, vermerkt er weiterhin – im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Sprechstimme – die eigentümlichen Stimmmodulationen zweier athenischer Schauspieler, die nur hinlänglich nachzuvollziehen vermag, wer Gelegenheit hatte, sich hiervon einen unmittelbaren akustischen Eindruck zu verschaffen 7 Indizien für die Datierung ergeben sich durch Verweise auf historische Ereignisse – als letztes sicheres Datum konnte die κοινὴ εἰρήνη von 336 v Chr ermittelt werden;8 hinzu kommen intertextuelle Bezüge zu anderen aristotelischen Schriften, aus denen sich Ansätze zumindest für eine relative Chronologie gewinnen lassen 9 Aufgrund der komplexen Genese des Textes, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und keine abschließende Redaktion aufweist, welche auf einen bestimmten Publikationszeitpunkt ausgerichtet ist, hat man hier freilich Vorsicht walten zu lassen Instruktiv für
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Einen Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze zur Bestimmung der Intention des Aristoteles gibt McAdon 2004, bes 216–219 228–232 Disputiert wurde insbesondere über den entwicklungsgeschichtlichen Ansatz Werner Jaegers, von dem sich die Mehrzahl der Forscher – auch in Hinsicht auf die ‚Rhetorik‘– inzwischen nachdrücklich distanziert; dazu mit weiteren Literaturhinweisen Poster 1997, 231–236; Rapp 2002, 178 f Zur Periodisierung der aristotelischen Biographie sowie zu seinen Aufenthaltsorten Düring 1966, 25; Anagnostopoulos 2009, 5–10 Hierzu mit Verweisen auf weitere Studien Rapp 2002, 178–182 Aristot rhet 1354 a 21–24; zu diesbezüglichen weitgehend deckungsgleichen Aussagen bei den attischen Rednern mit Belegen MacDowell 1963, 43; Grimaldi 1980, 11; Harris, E M 1994, 137; Lanni 2005, 124 Aristot rhet 1404 b 22–24; 1413 b 25–27; dazu Rapp 2002, 181 Eine Zusammenstellung sämtlicher Indizien für absolute wie auch relative Datierungsansätze präsentiert Rapp 2002, 179–184 Hierzu abermals Rapp 2002, 184–191
2 1 Allgemeine Überlegungen zum Gegenstand
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uns ist an der Stelle die Tatsache, dass große Teile des Werkes mit den einschlägigen Reden der attischen Rhetoren, die ihren Schaffenshöhepunkt in den Dezennien nach dem Bundesgenossenkrieg (357–355 v Chr ) hatten, zeitlich koinzidieren resp kurz nach diesen entstanden sind Infolgedessen besteht kein Anlass für methodische Bedenken chronologischer Art, bevorzugt die Zeugnisse jener Redner heranzuziehen, um den historischen Kontext der aristotelischen Schrift zu rekonstruieren und zu ermessen, wie sie sich zu diesem verhält Hinsichtlich der Bestimmung der Adressaten des Werkes ist obendrein relevant, dass unser Autor offenkundig Rezipienten im Blick hat, die seiner Philosophie kundig sind: Er operiert mit vielfältigen Allusionen auf seine logischen Schriften, die ohne deren Kenntnis nicht oder nur eingeschränkt verständlich sind 10 Für seine Konzeption der Rhetorik spielt nachgerade die Frage nach deren Verhältnis zur Dialektik eine entscheidende Rolle,11 wobei er insinuiert, dass seine Hörer resp Leser mit letzterer eingehend vertraut sind 12 Desgleichen stellt er Bezüge zu seiner politischen Philosophie her, die ebenfalls fundiertes Vorwissen erfordern 13 Selbiges trifft auf die ‚Poetik‘ zu, die in Sonderheit für das Verständnis seiner Überlegungen zur sprachlichen Gestaltung von Reden im dritten Buch elementar ist und hier auch mehrfach explizit Erwähnung findet 14 Überdies nimmt er an, dass das Geschehen am Lykeion seinem jeweiligen Gegenüber nicht unbekannt ist 15 Ein Adressatenkreis, der über den Zirkel seiner aktuellen oder vormaligen Schüler erheblich hinausgeht, ist nach heutigem Forschungsstand nicht anzunehmen 16 Die früher zuweilen vertretene These, dass jenseits dessen ein ‚exoterisches‘ Publikum aus der breiteren athenischen Öffentlichkeit anvisiert war,
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So setzt er etwa voraus, dass der Unterschied zwischen einem ‚Beispiel‘ und einem ‚Enthymem‘ aus der ‚Topik‘ vertraut ist; vgl Aristot rhet 1356 b 12 f ; grundsätzlich zur Ausrichtung auf philosophisch gebildete Rezipienten Kennedy 1996, 177 Einschlägig ist hier bereits das erste Proömium zum ersten Buch, in dem er die Rhetorik als ‚Gegenstück‘ (ἀντίστροφος) zur Dialektik charakterisiert (Aristot rhet 1354 a 1) und damit auf Parallelen sowie Differenzen hindeutet (Aristot rhet 1354 a 1–7; siehe auch Aristot rhet 1356 a 24–26); zu seinem Gedankengang Arnhart 1981, 14 f ; grundsätzlich zu der Thematik u a Burnyeat 1994, 21; Brunschwig 1996, bes 44; Rapp 2002, 265–276; Allen, J 2007, bes 96 f ; ders 2007a, 354 f ; einen knappen Überblick zu dem Sujet gibt Yunis 2018, XX–XXIV So setzt er Erfahrungen mit der ‚Topik‘ voraus; siehe Aristot rhet 1355 a 27–29; 1356 b 12–14; 1396 b 3 f ; 1398 a 28 f ; 1402 a 34 f ; 1403 a 31–33; 1419 a 24 f Eine zentrale Thematik, bei der er ebenfalls Vorkenntnisse annimmt, die über das Alltagswissen deutlich hinausgehen, ist sein spezifisches Verständnis des Terminus ‚Enthymem‘; dazu Burnyeat 1996, 91–93 Zur engen Verbindung der verschiedenen Disziplinen speziell bei der Konzeption der Rhetorik Cooper, J M 1994, 208 f So etwa Aristot rhet 1404 b 26 f ; 1405 a 5 f ; zu den dortigen Verweisen auf die ‚Poetik‘ Rapp 2002a, 806–808; grundsätzlich zu den Querverweisen zwischen den beiden Schriften auch North 1952, 7 Zur Verdeutlichung, dass auch eine kleine Hilfeleistung bedeutsam sein könne, wenn sie auf entsprechende Bedarfe reagiere, verweist er ohne weitere Erläuterungen exemplarisch auf „denjenigen, der im Lykeion einen Tragkorb schenkte“; Aristot rhet 1385 a 27 f Dazu u a Kennedy 1996, 177
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2 Die Konzeption der Rhetorik durch Aristoteles und ihre historische Verortung
gilt unterdessen als eher unwahrscheinlich 17 Jene These setzt u a bei der – für sich genommen zweifellos zutreffenden – Beobachtung an, dass die Schrift neben Passagen mit hohem theoretischem Anspruch solche enthält, die stärker praktisch motiviert scheinen 18 Dies jedoch resultiert vor allem aus der Modellierung der aristotelischen Rhetorik, die theoretische Implikationen mit den Postulaten der Praxis verknüpft, weniger aus dem Bestreben des Verfassers, den Bedürfnissen unterschiedlicher Publiken gerecht zu werden 19 Nicht minder bedeutsam und zur Klärung der sachlichen und methodischen Voraussetzungen unabdingbar ist die Beschäftigung mit den Zielsetzungen unseres Autors: Aus der Art und Weise, wie er sich in den zeitgenössischen Diskursen positioniert, lässt sich begründet schlussfolgern, dass er kein praxisbezogenes ‚Lehrbuch‘ intendiert 20 Ihm geht es um die Konzeptualisierung und intellektuelle Fundierung einer ῥητορικὴ τέχνη, nicht um Handreichungen für angehende oder bereits erfahrene Redner 21 So zielt er etwa nicht darauf, ‚Textbausteine‘ zu liefern, die sich direkt in Reden einfügen lassen 22 Auch das Arrangement des Stoffes deutet darauf hin, dass die direkte Anwendung nicht im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht: So separiert er im Interesse der logischen Durchdringung des Gegenstandes Komponenten, die in der rhetorischen Alltagspraxis unmittelbar zusammenhängen Als Beispiel sei seine Differenzierung zwischen ‚ἔνδοξα‘ und ‚τόποι‘ angeführt, d h zwischen den Prämissen, die plausiblen Sätzen zugrunde liegen, und allgemeinen Gesichtspunkten sachgebietsübergreifender oder auch themenspezifischer Art, welche sich in derartigen Sätzen un17
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Vgl Poster 1997, 228 mit weiteren Literaturhinweisen; anders Kennedy 1991, 25–28 Als Argument gegen ein ‚exoterisches‘ Auditorium wurde vor allem auf den hohen Abstraktionsgrad seiner Überlegungen zur Rhetorik hingewiesen wie auch auf die Tatsache, dass explizite Hinweise auf eine entsprechende Unterrichtstätigkeit außerhalb des Lykeions ausschließlich späteren Zeugnissen entstammen und keine zuverlässigen Belege darstellen; zur Diskussion hierüber Clayton 2004, bes 203 Zur Orientierung über diesen Komplex u a Chiron 2015, bes 114; Garver 2017, 133 f In einigen Fällen lassen sich derartige Differenzen mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf zurückführen, dass Aristoteles sich mit seinen Aussagen gegen unterschiedliche Kontrahenten positioniert Markant sind diesbezüglich seine dezidiert antisophistischen Bemerkungen zu Beginn des ersten Buches, in denen er den Einsatz emotionaler Momente strikt ablehnt, den er in anderen Situationen durchaus billigt; zu dem Komplex Jacob 1996, bes 244 250 Diese Auffassung wird mittlerweile in der Forschung der verschiedenen Disziplinen nahezu durchgängig vertreten; siehe z B Lord 1981, 327; Rapp 2002, 319 f ; Kullmann 2005, bes 26 29; anders hingegen noch Allan 1952, 201 Explizit formuliert er hierzu u a , dass die Zuständigkeit der Rhetorik nicht darin bestehe, zu überreden, sondern das an einer Sache jeweils ‚Glaubwürdige‘ (πιθανόν) zu untersuchen (Aristot rhet 1355 b 9–11 31–34); zur primär theoretischen Motivation des Aristoteles u a Grimaldi 1972, 3 19; grundsätzlich auch Meyer, M 2018, bes 137; zum Begriff des ‚πιθανόν‘ bei Aristoteles Allen, J 2014, 48 f Des ungeachtet schließt er die Arbeit mit ‚Musterformulierungen‘ nicht aus So empfiehlt er einem Redner durchaus, für jeden gängigen Gegenstand eine Sammlung vorgefertigter Beispiele anzulegen, die in vielen Fällen unmittelbar zum Einsatz gebracht werden könnten; siehe Aristot rhet 1396 b 4 f ; vgl Aristot rhet 1359 a 15 f
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vermittelt anbringen lassen 23 Nichtsdestotrotz präsentiert der Philosoph eine Reihe funktionsbezogener Überlegungen, die seine Ausführungen illustrieren 24 Aufschlussreich ist an der Stelle – neben dem Abgleich mit den erhaltenen Reden – der Vergleich mit der sogenannten Rhetorica ad Alexandrum, die heute mehrheitlich Anaximenes von Lampsakos zugeschrieben und etwa zeitgleich mit dem Opus des Aristoteles resp geringfügig früher angesetzt wird 25 In Ermangelung etwaiger sophistischer Handbücher stellt sie das einzige rhetorische Kompendium dar,26 das sich zu komparatistischen Zwecken heranziehen lässt 27 Dabei sind markante Parallelen wie auch Differenzen auszumachen: Grundsätzlich ist die Schrift des Anaximenes nicht nur entschiedener anwendungsfokussiert, sondern enthält auch in höherem Maße konkrete Ratschläge für die sprachliche Ausgestaltung 28 Zugleich ist ihr theoretischer Anspruch niedriger;29 auch positioniert sie sich nicht in vergleichbarer Weise in den zeitgenössischen philosophischen oder philosophisch inspirierten Diskursen über Substanz, Wahrheitsanspruch und mögliche ethische Fundierungen der Redekunst Auf die empirisch-sophistische Tradition zurückgehende rhetorische Motive – darunter das Moment des ‚εἰκός‘ wie auch jenes des ‚καιρός‘ – werden vorbehaltloser rezipiert als bei Aristoteles 30 Konvergenzen mit unserem Autor finden sich hingegen u a in den 23
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So etwa Aristot rhet 1358 a 10–26 Bei Anaximenes hingegen, der sich hier stärker an den Erfordernissen der praktischen Arbeit orientiert und auf den unten näher einzugehen sein wird, bildet dieser Komplex in höherem Grade eine Einheit; dazu Chiron 2007, 92 f ; zum Begriff des ‚τόπος‘ in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ Ostheeren 2009, Sp 633; Rambourg 2014, 30–32; einen knappen Überblick zu dem Gegenstand bietet Yunis 2018, XXXVIII – XLIII Dies gilt ganz besonders für das dritte Buch, in dem er zahlreiche konkrete Beispiele u a für Metaphern oder Gleichnisse anführt (hierzu besonders Aristot rhet 1406 b 20–1407 a 18) und auch aus Reden zitiert Die These, dass Aristoteles selbst als der Autor dieser Schrift anzusehen sei, wird heute gewöhnlich nicht mehr vertreten Das Werk spiegelt einen voraristotelischen Stand wider, woraus sich aber keine zwingenden Hinweise für die Datierung ergeben; zur Zuschreibungs- und Datierungsproblematik Chiron 2002, XL–CVII; ders 2007, 101–104; ders 2011b, bes 237 240–243 260 f ; Alexiou 2014, 756–761 Über die vormalige Existenz derartiger Schriften, ihren möglichen Charakter wie auch etwaige Verfasser besteht nach wie vor kein Konsens; gleiches gilt für die Methodik, mit der man sich jenem Problemfeld annähern kann Kontrastiv sind diesbezüglich insbesondere die Positionen von Kennedy 1963, bes 52–124 und Schiappa 1993, bes 32 f ; ders 1999, 34–45; kritisch zu dem Gegenstand auch Cole, T 1991, 25; Yunis 1998, 224 226 Diejenigen Forscherinnen und Forscher, die von der Existenz älterer Handbücher ausgehen, nehmen mehrheitlich an, dass die Schrift des Anaximenes in deren Tradition steht; dazu Fey 1990, bes 25; Reinhardt 2007a, 96; grundsätzlich auch Enos 1993/2012, 110–142; Grimaldi 1996, bes 37; Gondos 1996, 1–3; Ford 2001, bes 90 f Vgl Chiron 2007, 90 f ; Calboli Montefusco 2010, bes 6 Dazu mit weiteren Literaturhinweisen Heath 2009, 61; demgegenüber zu Aristoteles Chiron 2008, bes 77–79; zum diesbezüglichen Vergleich der beiden Autoren Chiron 2004, bes 99 Zu diesen Momenten bei Anaximenes Goebel 1989, 43 f ; Schmitz, T 2000, 47 f ; Chiron 2007, 98 f ; ders 2011, 152–155; Calboli Montefusco 2007, 108; Aristoteles befasst sich gleichfalls mit dem εἰκός, jedoch als integralem Bestandteil seiner Lehre von den Enthymemen und damit in einem anderen Bezugsrahmen und unter anderen epistemologischen Voraussetzungen; hierzu Piazza
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Überlegungen zu den ‚Beweismitteln‘ (πίστεις), welche ein Redner nach Auffassung beider Verfasser einsetzen sollte, um das Auditorium für seine Position zu gewinnen, den Aussagen zu den Redegattungen, dem Aufbau der Reden oder zur Ethopoiie 31 Zur Deutung jener Parallelen sind in der Forschung verschiedene Ansätze vorgeschlagen worden: eine gemeinsame Vorlage, intertextuelle Bezüge zwischen den beiden Schriften oder auch Bearbeitungen durch einen späteren Redaktor 32 Erstgenannte These, die von einem gemeinsamen Urtext ausgeht, wurde in jüngster Zeit besonders nachdrücklich vertreten und eingehend erörtert 33 Erhellend für unser Ansinnen sind sowohl die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede: Erstere lassen sich verwenden, um – bei gleichzeitigem Abgleich mit den tradierten Reden – Hinweise auf gängige Vorstellungen und Praktiken zu erhalten; die Differenzen hingegen liefern – wiederum in Verbindung mit der Betrachtung der Rededokumente – Ansatzpunkte, zu bestimmen, an welchen Stellen Aristoteles sich vom common sense distanziert Die historische Relevanz der konzeptionellen Aspekte der aristotelischen ‚Rhetorik‘ geht gleichwohl erheblich über das Feld der Rhetorik- resp Diskursgeschichte hinaus Wie wir im Einleitungskapitel gesehen haben, tangiert sie weitere historische Dimensionen und ermöglicht entsprechend multiple Zugriffe seitens geschichtlich orientierter Forschung Ursächlich hierfür ist allem voran, dass unser Autor die Beredsamkeit explizit im politischen Leben seiner Zeit verortet, in realen Institutionen und dort auftretenden Kommunikationssituationen 34 Analog der politischen Praxis geht er dabei von einem agonalen Setting aus, in dem gewöhnlich mehrere Redner auftreten, die divergierende Positionen vertreten und um Zustimmung ringen 35 Genuin philosophische Überlegungen zur Notwendigkeit des Diskurses im öffentlichen Leben – als einem Areal, auf dem nicht mit absolutem ‚Wissen‘ operiert werden kann,
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2010, 239 f ; dies 2011, 307 Hinsichtlich des καιρός – im Sinne eines guten/geeigneten Zeitpunktes (zu der Bedeutung Kinneavy 2002, 60) –, den er allerdings nur knapp behandelt, verbleibt er in höherem Maße im Vorstellungsbereich der Sophistik; dazu Kinneavy 2002, bes 73; Rapp 2002a, 865; grundsätzlich auch Kjeldsen 2014, 249 f 253–256 Desgleichen sind an der Stelle Parallelen zwischen dem aristotelischen Verständnis und der rhetorischen Praxis auszumachen; hierzu Usher 2004, bes 56; Trédé-Boulmer 2015, 253–259 Im Arrangement besagter ‚Beweismittel‘ sind gleichwohl auch Unterschiede zwischen den beiden Autoren zu konstatieren; dazu Kraus 2011, 265–268 Eine Übersicht zu den betreffenden Forschungspositionen gibt Pepe, C 2013, 119 Zu jener These u a Mirhady 2011, 295 f 303 f ; zu deren Diskussion mit Modifikationen und weiterführenden Überlegungen Chiron 2011b, 248 f Dieses Vorgehen resultiert primär aus seinen Grundüberzeugungen zu den Bedingungen rhetorischen Handelns, weniger aus Defiziten hinsichtlich Theoriebildung und Abstraktionsleistung; zu letzterem Yunis 1998, 224 228; ders 2018, IX f Aus der Fokussierung der öffentlichen Rhetorik folgt freilich nicht, dass Aristoteles den politischen Raum als einziges Betätigungsfeld für die Rhetorik ausmacht Daneben lokalisiert er sie im privaten Bereich in Kontexten, in den Menschen miteinander beraten; siehe Aristot rhet 1358 b 9 f ; dazu Rapp 2002a, 258 mit Hinweisen auf weitere Quellenbelege sowie Forschungsarbeiten Zu dem Phänomen mit Belegen Bickford 1996, 399; zur entsprechenden rhetorischen Praxis u a Yunis 2005, 193–200; grundsätzlich auch Timmer 2014, 117
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sondern wo um ‚Meinungen‘ gerungen werden muss und Auditorien zu überzeugen sind – korrelieren hier mit seinen empirischen Beobachtungen Dies kommt etwa in seiner Überzeugung zum Ausdruck, dass die Rhetorik in Situationen zum Einsatz zu bringen ist, in denen es kollektive Entscheidungen zu treffen gilt Er insinuiert dabei, dass es sich um Mehrheitsentscheide handelt, aus denen die Akteure als Sieger oder Verlierer hervorgehen,36 nicht etwa um konsensorientierte Aushandlungsprozesse Dies entspricht dem realen Prozedere in den Einrichtungen der Polis 37 Eine weitere Parallele zum historischen Kontext ist an der Stelle darin zu sehen, dass die Redner, die er im Blick hat, sich weder auf eine Amtsautorität stützen, noch mit festen Majoritätsverhältnissen rechnen können – im Unterschied etwa zu den späteren oratores der römischen Republik, die unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen agieren 38 Aristoteles kapriziert sich in seiner ‚Rhetorik‘ nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Typus der Polisordnung Nichtsdestominder ist offenkundig, dass er stark den Gegebenheiten demokratisch verfasster Poleis folgt 39 Inwieweit er sich dessen bewusst ist oder dies gar intendiert, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen 40 In jedem Fall dürfen wir voraussetzen, dass er die in seiner Zeit gängige Annahme, dass die öffentliche Rede ihr ausgedehntestes Betätigungsfeld in der Demokratie finde,41 internalisiert hat Der Umstand, dass er sich in seiner politischen Philosophie den zeit36 37
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Das Streben nach Siegen wie auch die damit verbundene Lust streicht er ausdrücklich heraus; siehe Aristot rhet 1371 a 6–8 Einen expliziten Begriff für diese Art des Entscheidens findet sich bei ihm allerdings ebenso wenig wie im klassischen Athen; vgl Canevaro 2018a, 141 Zu letzterem etwa Hansen 1989, 110 f Zur Relation von Konsens- und Mehrheitsprinzip in Entscheidungsverfahren mit unterschiedlichen Akzentuierungen Flaig 2013a, bes X; Grieb 2014, 410–412; Canevaro 2018a, 139–147; zum Zusammenhang von Majoritätsbeschluss und agonalem Prinzip in dem Zusammenhang Stein-Hölkeskamp 2013, 71; grundsätzlich auch dies 2014, 126 130 134 f ; Nebelin, M 2018, 111 f Zu jener entscheidenden Differenz Finley 1962, 15; zu den divergierenden Wirkungsbedingungen in der römischen Republik Hölkeskamp 1995 Für das vierte Jahrhundert, als die Mehrzahl der prominenten Redner nicht mehr zugleich als Strategen fungiert und somit nicht mehr einer Kontrolle als Amtsträger unterliegt, gilt das noch stärker als für das fünfte; zu jener Veränderung u a Roberts 1982, bes 362 Aber auch Amtsinhaber, die als Redner tätig werden, können sich nicht auf Amtsautorität im engeren Sinne berufen, sondern haben sich dem Wettbewerb mit Konkurrenten – solchen mit wie ohne Amt – zu stellen Zu den spezifischen Rahmenbedingungen der Redner in der athenischen Ekklesie auch Lotze 1991, bes 119; Raeck 2000, 159; Worthington 2007a, 263 f ; Ober 2008, 101 In dem Sinne auch Cohen, D 2004, 22 24; Nieuwenburg 2004, 464 Am aussagekräftigsten sind diesbezüglich Textstellen, an denen er die vermeintlichen Defizite der Bürger als Hörer von Rhetorik reflektiert Hier setzt er Institutionen voraus, die durch breite bürgerliche Partizipation sowie weitreichende Entscheidungsbefugnisse der Politen gekennzeichnet sind, wie sie für Demokratien oder moderate Oligarchien typisch sind Aristoteles, der – in Übereinstimmung mit zahlreichen seiner Zeitgenossen – vielfach (allerdings keinesfalls durchgängig) kategorischer zwischen Demokratien und Oligarchien differenziert, als es nach heutigem Verständnis angezeigt ist (zu letzterem Leppin 2013, 146 f ; Blösel 2014, 71 f ), dürfte derartige Einrichtungen als eindeutig demokratisch identifiziert haben So beispielsweise dezidiert mit Blick auf Athen Isokr 15,294–296; vgl Demosth 19,184; generell zu dem Gegenstand Carey 2000, 194
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genössischen Demokratien gegenüber kritisch positioniert und in dem Zusammenhang nicht zuletzt das Auftreten rhetorisch versierter Demagogen moniert,42 steht dem nicht entgegen: In der ‚Rhetorik‘ äußert er zwar wiederholt sein Bedauern darüber, dass die Mehrzahl der Bürger Reden, die vorrangig auf sachlogische Stringenz setzen, nicht hinreichend zugänglich sei, sondern bevorzugt emotional angesprochen werden möchte,43 akzeptiert dies aber als gegebenes Faktum und trägt ihm in seiner Konzeption der Beredsamkeit Rechnung, insofern er dort nicht für den exklusiven Einsatz von Enthymemen plädiert,44 sondern für deren synthetische Verknüpfung mit emotional-affektiven Momenten eintritt 45 Selbstredend gilt aus seiner Sicht, dass ein Redner sich um einen konstruktiven Umgang mit dem Auditorium bemüht Etwaige Ressentiments des Sprechers gegenüber dem Publikum, die zu konfrontativen Konstellationen führen und der rednerischen Arbeit hinderlich sein könnten, thematisiert er konsequenterweise nicht 46 Ungeachtet dessen darf nicht übersehen werden, dass er einige Aspekte, die für die öffentliche Rede gerade in der Demokratie typisch sind, nur in Ansätzen reflektiert, darunter das Prinzip der ‚παρρησία‘ oder auch jenes der ‚ἰσηγορία‘ 47 Letzteres ist für ihn nicht von Belang, da sein Interesse nicht dem gleichen Antrags- und Rederecht sämtlicher Bürger gilt, sondern der rhetorischen Kunst und ihren Trägern Bezüglich der Parrhesie verhält es sich bei ihm etwas anders: Faktisch geht er – mit Blick auf den Rhetor in der Volksversammlung – von einem hohen Grad an ‚Redefreiheit‘ aus, welchen er allerdings ebenso wenig expliziert wie deren definitive Grenzen 48 Er erwartet von einem Redner zwar, dass dieser sich an ἀρεταί orientiert und sich so hinsichtlich seiner Aussagen wie auch seiner Zielsetzungen Beschränkungen moralischer Art auferlegt;49 poli-
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Hierzu mit Belegen aus der ‚Politik‘ Zoepffel 1974; dies 1975 Dazu mit Stellenangaben Sprute 1994, 121 f ; Poster 1997, 243; Calboli Montefusco 1999, 89; Bers 2009, 83; grundsätzlich auch Schütrumpf 2011, bes 109 f Zur Konzeptuierung von ‚Enthymemen‘ bei Aristoteles, deren Rolle in der ‚Rhetorik‘ wie auch den zentralen Forschungskontroversen zu dem Gegenstand siehe Rapp 2002, 323–335; ders 2002a, 223–240 Einschlägig ist an der Stelle seine Kernauffassung, dass als Überzeugungsmittel nicht allein der λόγος, d h das Argument/der Beweis (zu jener Übersetzung u a Rapp 2011, 281) fungiere, sondern dieser im Zusammenspiel mit dem ἦθος des Redners sowie dem πάθος der Hörer wirken müsse; hierzu u a Aristot rhet 1356 a 1–27 Damit unterscheidet er sich von Platon und partiell auch von Isokrates; zu deren Haltungen gegenüber den Auditorien dagegen Morgan 2003 Dazu Griffith 1966, bes 126 f ; Lewis, J D 1971, bes 139 f ; Raaflaub 1980, 11–18; ders 2004, 46–49; Wood 1996, 121–124; Balot 2004, bes 256 f ; Saxonhouse 2006, bes 93 Ausdrücklich begegnet in der ‚Rhetorik‘ allein das Adjektiv ‚παρρησιαστικός‘ (Aristot rhet 1382 b 20), und zwar mit ethischer Konnotation: Aristoteles vermerkt im Kontext der Frage, welche Personen Anlass zur Furcht gäben, wenn ihnen Unrecht geschehe, dass die ‚Freimütigen‘ – im Unterschied etwa zu den ‚Ironischen‘ und ‚Listigen‘ – nicht zu solchen gehörten; siehe Aristot rhet 1382 b 19–21; dazu Mulhern 2004, 320; Lorenz 2015, 89 f Vgl Aristot rhet 1355 b 4–8; dazu unten Kap 6 1 und 6 3
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tische Tabus diskutiert er demgegenüber nicht 50 Das meint freilich nicht, dass er alles im Bereich des Politischen Denkbare auch für sagbar hält Einlassungen etwa, welche die Integrität der betreffenden Polis hinterfragen, scheiden seinem Verständnis nach a priori aus 51 Plädoyers zugunsten der Modifikation der bestehenden Ordnung aber verbieten sich seiner Ansicht nach nicht prinzipiell, sofern sie konstruktiv begründet werden 52 Hier ist eine Diskrepanz zur attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts auszumachen, die auf Stellungnahmen dieser Art im politischen Raum – infolge der Erfahrung der beiden oligarchischen Umstürze während des Peloponnesischen Krieges – höchst sensibel reagiert 53 Neben den eher indirekten Verweisen auf die Demokratie stoßen wir in der Schrift auf implizite, teils gar explizite Referenzen auf nichtdemokratische Ordnungen Letztgenannte begegnen üblicherweise im Verbund mit Thematiken, die unser Autor auch in den Politika eingehend bespricht Sie sind knapper gehalten als in jenem Werk,54 folgen aber grundsätzlich dem dortigen Tenor Ein markantes Sujet, an dem sich dies beobachten lässt, sind die Zielsetzungen und Stabilisierungsmöglichkeiten der verschiedenen Polisordnungen, die eines der Kernthemen seiner politischen Philosophie bilden, seinem Verständnis nach aber zugleich zum knowhow eines jeden Redners gehören sollten 55 Etwaige verfassungsspezifische Differenzen in den Bedingungen für öffentliche Reden reflektiert er in solchen Zusammenhängen nicht So erörtert er beispielsweise nicht, welche Konsequenzen sich für die Kommunikation in der Volksversammlung ergäben, wenn die Ekklesie – wie in einigen Oligarchien – in ihren Entscheidungsbefugnissen deutlich eingeschränkt wäre 56 Eher räsoniert er über unterschiedliche Voraussetzungen für rednerisches Tun in ‚gut‘ resp ‚schlecht‘ eingerichteten Poleis,57 wobei er stark kontrastiv verfährt und sich nur in geringem Maße durch die Empirie leiten lässt 58
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Dies deckt sich mit der – auf Foucault basierenden – Überlegung J J Mulherns, dass ‚Redefreiheit‘ für Aristoteles eine ethische, keine politische Größe darstelle; siehe Muhlern 2004, 313 f Dass der Erhalt der Stadt oberste Maxime u a der Gesetzgebung ist, kommt bei ihm nur kurz zur Sprache und bedarf seinem Verständnis nach keiner Erläuterung; siehe Aristot rhet 1360 a 20 Dazu unten Kap 2 2 2 Zu dem Komplex u a Rhodes 2000, 135; ders 2005, bes 275; ders 2010, bes 75; Wolpert 2002, 29–47; Shear 2011, bes 313–322; dies 2012, 286–292 Über die Beziehung zwischen den beiden Disziplinen, die für seine Konzeption der Rhetorik nachhaltig von Bedeutung ist, reflektiert er auch grundsätzlich; siehe Aristot rhet 1356 a 25–32; 1359 b 8–18; 1360 a 36–38 Bei diesen beschränkt er sich nicht auf Verweise auf die ‚Politik‘, sondern referiert auch in komprimierter Form aus seinen dortigen Ausführungen; zu dem Phänomen unten Kap 2 2 2 Die Oligarchie begegnet – ähnlich wie in der ‚Politik‘, jedoch mit gewissen Modifikationen den dortigen Aussagen gegenüber – in verfassungsschematischen Überlegungen; siehe Aristot rhet 1360 a 26; 1365 b 33; 1366 a 5; zu dem Komplex Ostwald 2000, 37 Hierzu mit Belegen Lossau 1971; Sprute 1981, 259; Reeve 1996, 196 f ; Clayton 2004, bes 188–190; Garver 2017, 134 Auch an der Stelle tun sich Parallelen zur ‚Politik‘ auf; dort allerdings verfährt Aristoteles noch systematischer und äußert sich ausführlicher, etwa wenn er kategorisch zwischen Nomokratien
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Dezidierte Hinweise auf die Merkmale öffentlicher Rhetorik in nichtdemokratisch verfassten Städten seiner Zeit enthält der Text nicht Demzufolge lässt er sich auch nicht gewinnbringend als Quelle für ein derart motiviertes Forschungsanliegen heranziehen Abschließend sei eine weitere für unser Projekt möglicherweise entscheidende Problematik angesprochen, nämlich die Frage, inwieweit Aristoteles als Metöke überhaupt über realistische Chancen verfügte, sich detaillierte Kenntnisse über die Praxis der attischen Rhetorik zu verschaffen 59 Das betrifft insbesondere Redebeiträge aus der ἐκκλησία und der βουλή sowie solche aus jenen Typen öffentlicher Gerichtsverfahren, in denen nur Bürgern als Prozessierenden aufzutreten gestattet war Bezüglich der Ekklesien können wir zuverlässig davon ausgehen, dass zumindest die politisch relevanten Reden in den Folgetagen zum Stadtgespräch avancierten und so auch Nichtbürger davon erfuhren 60 Hinsichtlich der Forensik haben wir uns zu erinnern, dass Metöken – die berühmtesten sind Lysias und Deinarch – selbst in öffentlichen Prozessen erfolgreich als Logographen fungierten, was darauf schließen lässt, dass die Möglichkeit, sich einschlägig zu informieren, auch für Menschen dieses personenrechtlichen Status vollumfänglich gegeben war Mit Blick auf die aristotelische ‚Rhetorik‘ ist zu sagen, dass grundlegende Informationsdefizite hier nicht zu erkennen sind Sofern unser Autor Aspekte unberücksichtigt lässt oder Positionen vertritt, die von in Athen populären Einstellungen abweichen, dürfte dies auf andere Ursachen zurückzuführen sein, die uns im Verlauf der Arbeit noch eingehend beschäftigen werden Aristoteles abstrahiert in dem Text generell von seiner persönlichen Stellung: In sämtlichen Aussagen, die er zum Gegenstand des Rhetors formuliert, setzt er stillschweigend voraus, dass es sich um eine Person mit Bürgerstatus in der jeweiligen Stadt handelt Die spezifische Situation von Metöken oder auch ‚Fremden‘, die sich bekanntlich nachgerade auf dem Feld der politischen Partizipation auftut,61 beleuchtet er somit nicht Das braucht allerdings nicht zu verwundern, sondern erklärt sich unschwer aus seiner Perspektive: In der Beschäftigung mit der Forensik etwa gilt sein Interesse nicht vorrangig den juristischen Verfahren, sondern zuvorderst der Art und Weise, wie die Beteiligten auf dem Gebiet rhetorisch agieren In der Hinsicht aber unterscheiden sich Bürger und Metöken nicht wesentlich 62
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und Poleis, die seinem Verständnis nach nicht durch Gesetze ‚beherrscht‘ werden, unterscheidet; siehe etwa Aristot pol 1281 a 34–39; 1286 a 7–9; 1287 b 19–22 Die Frage, inwieweit er die aus dem dortigen politischen Betrieb hervorgegangenen, publizierten Reden in eigener Lektüre studiert hat, wird bis heute eingehend diskutiert; dazu unten Kap 7 2 1 Hierzu mit Hinweisen auf weitere Forschungen Piepenbrink 2019, bes 63 Von der Teilhabe an sämtlichen politischen Entscheidungsfunktionen wie auch von Ämtern mit exekutiven Zuständigkeiten waren jene bekanntlich ausgeschlossen; zu ihrem Status in athenischen Gerichten u a Patterson, C 2000; Kamen 2013, bes 48–50 In der Ethopoiie etwa verfahren sie im Wesentlichen übereinstimmend; das betrifft die Diskreditierung des Gegners wie auch die positive Selbstinszenierung Im Hinblick auf letztere ist für
2 2 Redegattungen
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2.2 Redegattungen Von fundamentaler Bedeutung für die Konzeption der Rhetorik ist bei Aristoteles die Differenzierung von Redegattungen, die zugleich eines der wichtigsten Gliederungsprinzipien seiner Schrift ausmacht 63 Bezüglich jener Gattungen arbeitet unser Autor mit einer Trias aus demegorischer, dikanischer und epideiktischer Rede,64 die ebenso im rhetorischen Kompendium des Anaximenes von Lampsakos belegt ist,65 mit großer Wahrscheinlichkeit aber bereits auf sophistische Ansätze des späten fünften Jahrhunderts zurückgeht, welche sich ihrerseits auf die rhetorische Praxis stützen, so dass jene Gliederung als empiriebezogen eingeschätzt werden darf 66 An seinem Umfeld orientiert verfährt Aristoteles hier auch insofern, als er die drei Genres ausdrücklich mit den realen Kommunikationssituationen, d h den unterschiedlichen institutionellen Settings, in denen sie in der Polis auftreten, in Verbindung bringt Jene Institutionen begreift er – wiederum analog dem politischen Betrieb – als Organe, in denen bürgerliches Entscheidungshandeln situiert ist,67 wobei dieses seinem Verständnis nach je nach Einrichtung variiert So nimmt er an, dass die Kriterien, die den Voten der Bürger jeweils zugrunde liegen, differieren: Der Gerichtsrede weist er das ‚Gerechte‘ (δίκαιον) als kardinales Prinzip zu, der Demegorie hingegen den ‚Nutzen‘ (συμφέρον) 68 Dies mag ein wenig übersystematisiert scheinen, was Aristoteles offenkundig selbst bewusst ist,69 geht aber grundsätzlich konform mit den normativen Haltungen, die in der praktischen Rhetorik expliziert werden: Ein Blick in die tradierten Reden des vierten
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die Angehörigen beider Gruppen gleichermaßen relevant, herauszustreichen, dass sie die Erwartungen der Bürgerschaft in vollem Umfang erfüllen Der Umstand, dass jene Erwartungen in der Sache teilweise differieren, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht Grundsätzlich zur Fokussierung des Bürgers in der politischen Philosophie des Aristoteles sowie ihrer historischen Kontextualisierung siehe Hedrick 1994a, 294 f Eine Skizze seiner diesbezüglichen Überlegungen gibt Kennedy 1997, 43 f Aristot rhet 1358 a 36 – b 8 Bezeichnend ist, dass er sich bei diesen konzeptionellen Überlegungen an der öffentlichen Rhetorik orientiert und Redeformen, die vorrangig außerhalb des öffentlichen Raumes situiert sind, nicht einbezieht; dazu Garver 2009, bes 3 14 Siehe besonders Anaxim rhet 1421 b 7 f In der Forschung wird teils die These vertreten, dass das γένος ἐπιδεικτικόν bei Anaximenes im Unterschied zu den beiden anderen Gattungen nicht eingehend thematisiert werde bzw der entsprechende Gattungsterminus von einem späteren Interpolator ergänzt worden sein könnte, so dass Aristoteles in dem Bereich – gegebenenfalls gemeinsam mit Isokrates – eine Vorreiterrolle einzuräumen sei; dazu Schiappa/Timmerman 1999, bes 186; dies 2010, 118 f ; Schirren 2008, 198 f ; Pratt 2012, 177 In hohem Grade wahrscheinlich ist in jedem Fall, dass er auch an der Stelle an bestehende Traditionen anknüpft; hierzu Garver 1994, 52 So auch Adamik 1993, 172 175; Carey 2007, 236; Steel 2009, 78 f ; Pepe, C 2013, 4 Hierzu etwa Garver 2009, 5; zu weiteren Parallelen siehe Hesk 2009, 145 f Siehe besonders Aristot rhet 1358 b 21–29; dazu mit zusätzlichen Belegen Yunis 1996, 15 So räumt er ausdrücklich ein, dass das Moment des ‚Nutzens‘ zuweilen auch in Gerichtsreden erfolgreich angebracht werde, etwa in der Bewertung von Verträgen (vgl Aristot rhet 1376 b 29 f ), was sich mit der juristischen Praxis deckt; dazu Garner 1987, 2; Carey 1994b, 44 Zudem bemerkt er, dass Richter sowohl das ‚Gerechte‘ wie das ‚Nützliche‘ im Blick hätten; siehe Aristot rhet 1354 b 4
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Jahrhunderts macht rasch deutlich, dass es sich bei jenen beiden Kategorien in der Tat um die zentralen Wertbegriffe handelt, auf welche die Redner allenthalben rekurrieren, um die von ihnen vertretenen Positionen argumentativ zu fundieren 70 Auch deren Zuordnung zu den Gattungen spiegelt die Praxis über weite Strecken wider Ein prägnantes Beispiel für die Zuweisung jener Prinzipien zu den beiden Redegattungen bzw die explizite Auseinandersetzung damit findet sich bereits im ausgehenden fünften Jahrhundert in der ‚Mytilene-Debatte‘ im Werk des Thukydides,71 konkret im Schlagabtausch zwischen Diodotos und Kleon, in dem ersterer letzterem vorhält, einen externen Konflikt statt unter genuin politischen unter rechtlichen Gesichtspunkten zu beleuchten, was zu einer drastischen Zuspitzung der außenpolitischen Konfrontation, aber auch des internen Streits führe 72 Diodotos macht dies insbesondere daran fest, dass Kleon massiv polarisiere, mit den Kategorien Recht/Unrecht operiere, um die Vorschläge seinen Kontrahenten zu desavouieren und den ‚Zorn‘ der Bürger zu evozieren, wie es gewöhnlich nur in einer Gerichtsrede Usus sei Er warnt vor einer solchen Praxis, da sie der politischen Debattenkultur abträglich sei und gravierende Folgen für das politische Handeln nach sich ziehe Ähnlich äußert sich später Demosthenes in einem seiner Exordia, in dem er die Politen erinnert, dass sie sich versammelt hätten, um über die Lage der Stadt zu beratschlagen, nicht um über einen Mitbürger ein Urteil zu fällen – er denkt hier an seine eigene Person 73 Den Hintergrund dafür bilden gegen ihn laut gewordene Vorwürfe, sich vom Demos zu segregieren und nicht ausreichend in dessen Sinne zu raten, was er als populistisch und nicht sachdienlich zurückweist Aristoteles hat an Stellen, an denen er die Bedeutung der Gattungsdifferenzierung hervorhebt, üblicherweise keine derartigen politischen Implikationen im Sinn 74 Sein Interesse gilt vielmehr der Frage, welche ‚Beweisgründe‘ für die jeweiligen Gattungen typisch und effektiv sind, um das spezifische Persuasionsziel zu erreichen Dabei greift er indes zentrale Elemente auf, die auch in realen Reden zur Sprache gebracht werden: Neben den beiden genannten Wertbegriffen und deren Attribuierung zu den rednerischen Genres betrifft das seine Einschätzung, dass gerade in der forensischen Rhetorik
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Aufgrund der immensen Zahl an Belegen sei in dem Fall auf eine Auflistung verzichtet und auf die einschlägigen Indices zu den jeweiligen Autoren verwiesen Auch Anaximenes skizziert ‚nützlich‘ und ‚gerecht‘ resp ‚gesetzmäßig‘ (νόμιμος) als die zentralen Bewertungskategorien, mit denen in Reden gearbeitet werde; siehe Anaxim rhet 1422 b 1–1423 b 9; 1438 b 30 f Thuk 3,37–48 Hierzu und zum Folgenden Thuk 3,44,1–4; zu seiner Argumentation Kennedy 1959a, 131; Usher 2007, 224; Harris, E M 2013, 97 Demosth exord 11; zu der Stelle Pepe, C 2013, 80 Das Phänomen, dass ein Rhetor sich in einer Demegorie als Ankläger geriert, deutet allerdings auch er an Er hält dies für grundsätzlich legitim, zumal wenn der Betreffende angesichts der Herausforderungen, welche die politische Rede stellt, in Kalamitäten gerät, die ihm anderweitig nicht zu bewältigen scheinen; siehe Aristot rhet 1418 a 29–32
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in hohem Grade mit Emotionen gearbeitet werde, was er als Faktum akzeptiert und bei seinen eigenen konzeptuellen Überlegungen zur ῥητορικὴ τέχνη einkalkuliert 75 An einer anderen Stelle scheint er in seinem Differenzierungsbestreben hingegen über die rhetorische Praxis hinauszugehen: So stellt er die Überlegung an, dass die drei Gattungen mit drei verschiedenen Zeithorizonten korrelierten: Die Forensik beziehe sich auf die Vergangenheit, die Panegyrik auf die Gegenwart und die Demegorien auf die Zukunft 76 In seinen Ausführungen zu den einzelnen Gattungen insistiert er hierauf gleichwohl nicht, sondern räumt ein, dass in der Realität flexibler verfahren werde, und trägt dem auch in seinen eigenen Betrachtungen Rechnung Wir werden in der Beschäftigung mit den jeweiligen Gattungen darauf zurückkommen 77 Der Stagirite nimmt in seinem Werk zunächst die Beratungsrede in den Blick, wendet sich dann der Festrede zu und kommt abschließend auf die Gerichtsrede zu sprechen 78 Eine dezidierte Begründung für die gewählte Abfolge gibt er nicht 79 Offenkundig orientiert sie sich weder an der historischen Entwicklung der Rhetorik noch an den Vorlieben der Majorität der Bürger Eher scheint das Prozedere seinen persönlichen Präferenzen und jenen seines spezifischen Auditoriums zu folgen: Evident ist, dass er selbst die ersten beiden Gattungen goutiert, zuletzt erwähnter gegenüber aber gewisse Vorbehalte hegt, wobei er teils mit ethischen, teils mit wirkungsästhetischen Maßstäben operiert 80 Der Umstand, dass auch die meisten Zitate und Anspielungen, welche er zu Illustrationszwecken einsetzt, den beiden erstgenannten Genres entstammen, lässt darauf schließen, dass er bei seinem Publikum einen vergleichbaren Geschmack voraussetzt 81 Wir wollen im Folgenden nichtsdestotrotz bei der Forensik ansetzen – weniger um der Chronologie und der quantitativen Verbreitung Genüge zu 75 76
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Siehe u a Aristot rhet 1354 b 31–35; grundsätzlich zu jenen Parallelen in der Gattungsdifferenzierung Harris, E M 2013, 96 Aristot rhet 1358 b 13–20; vgl Aristot rhet 1392 a 6 f ; 1418 a 1–4 21–24 Diesbezügliche Parallelen zu den attischen Rednern – etwa der Hinweis des Demosthenes, dass politische Ratschläge nicht für die Vergangenheit, sondern im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft erteilt würden (so Demosth 18,192; vgl Demosth exord 1a) – sind nur schwach ausgebildet; anders Grimaldi 1980, 82 Siehe unten Kap 2 2 1–2 2 3 Zur entsprechenden Ankündigung, die er in den nachfolgenden Kapiteln umsetzt, Aristot rhet 1359 a 28 f Im dritten Kapitel des ersten Buches verfährt er demgegenüber anders: Hier nennt er zuerst die Beratungs-, darauf die Gerichts- und abschließend die Festrede (Aristot rhet 1358 b 4–7; zu der Stelle Rapp 2011, 280 f ) Hier bedient er sich eines stärker systematischen Zugriffs, der auf den Funktionen basiert, welche er den jeweiligen Auditorien zuschreibt Beratungs- und Gerichtsrede werden dort in Nexus gebracht, da die Hörer in beiden Fällen Entscheidungsaufgaben wahrnähmen, im Unterschied zu Prunkreden, in denen sie vorrangig als Betrachter fungierten Die Gerichtsrede schneidet in seiner Bewertung am ungünstigsten ab, weil sie seiner Ansicht nach am ehesten Gelegenheit zum Missbrauch der Rhetorik bietet und sich zudem am wenigsten für eine kunstvolle Ausgestaltung eignet An der Stelle sind im Übrigen deutliche Parallelen zu Isokrates auszumachen, siehe u a Isokr 15,1 46 f ; zu Details unten Kap 2 2 1–2 2 3 und Kap 7 2 Darauf deutet auch hin, dass es sich vielfach um knappe Anspielungen ohne weiterreichende Erläuterungen handelt, die Vertrautheit mit den betreffenden Texten erfordern
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tun,82 als vielmehr deshalb, weil sie in der Zeit am stärksten kontrovers diskutiert wird und so in den intellektuellen Diskursen eine Schlüsselstellung einnimmt 83 Letzteres schlägt sich auch bei Aristoteles nieder, was sich u a darin manifestiert, dass sie – auf den ersten Blick paradox – seine konzeptionellen Reflexionen zur Rhetorik nachhaltiger prägt als jene Gattungen, die er in höherem Grade wertschätzt 84 2 2 1 Forensische Reden Bereits zu Beginn der Schrift kommt unser Autor auf dikanische resp forensische Reden zu sprechen, indem er moniert, dass die bisherige rhetorische Theorie einen Schwerpunkt auf die Gerichtsrhetorik gelegt und die übrigen Gattungen in deutlich geringem Umfang gewürdigt habe 85 Diese Einschätzung ist keinesfalls allein seiner Polemik gezollt, sondern lässt sich auf der Basis der Überlieferung über die sophistische Rhetorik grundsätzlich verifizieren 86 Als Ursache für jene Fokussierung nimmt der Philosoph an, dass die Sophisten ihre spezifischen Qualitäten hier am effektivsten anzubringen vermöchten 87 Konkret denkt er dabei an den Umstand, dass in der dikanischen Rhetorik am intensivsten mit Emotionen – allem voran ‚Mitleid‘ und ‚Zorn‘– gearbeitet werde, worauf viele Sophisten ihr Hauptaugenmerk richteten 88 Nach heutigem Verständnis begründet sich das sophistische Interesse an diesem Genre u a dadurch, dass dort der Antagonismus von Rede und Gegenrede besonders ausgeprägt ist, dem die Sophisten ihrerseits große Aufmerksamkeit gezollt haben – etwa in Gestalt der Vorstellung, dass sich zu jeder Position eine Gegenposition formuliere lasse,89 die in den Δίσσοι Λόγοι ihren prägnantesten Ausdruck findet 90 Dass Aristoteles letztgenannten 82 83 84 85 86 87 88 89
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Letztere manifestiert sich nicht nur in dem – auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführenden – Umstand, dass die allermeisten erhaltenen Reden diesem Genre zuzurechnen sind, sondern auch in der massiven Präsenz des forensischen Handlungsfeldes in der Polis; dazu Lotze 1991, 122 Das gilt in gleicher Weise für die sophistischen, die platonischen und die isokratischen Beiträge zu der Thematik Siehe dazu unten Kap 2 2 1 Vgl Aristot rhet 1354 b 22–29 Dies gilt nicht erst für die Zeugnisse zu den Sophisten im engeren Sinne, sondern wird von der antiken Tradition bereits mit Korax und Teisias assoziiert; dazu Schiappa 1999, 46; grundsätzlich zu dem Komplex Noël 2003, bes 1 Dazu mit Belegen Cooper, C 2007, 203 215 Aristot rhet 1354 b 22–29 Ähnlich äußert sich Isokrates, der allerdings noch stärker als Aristoteles die Intention verfolgt, die Qualität panegyrischer Reden und damit das von ihm präferierte rhetorische Betätigungsfeld herauszustreichen; siehe u a Isokr 15,1 47 Vgl Diog Laert 9,51 zu Protagoras (DK 80 A 1) Eng damit verbunden ist der ebenfalls Protagoras zugeschriebene Anspruch, „das schwächere Argument zum stärkeren zu machen“ (τὸ τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν), vgl Aristot rhet 1402 a 24 f (= DK 80 A 21); dazu Dreßler 2014, 107 f ; grundsätzlich zum Phänomen der Agonistik in der sophistischen Rhetorik Neumann, U 1992, Sp 266 DK 90; zu derartigen Vorstellungen und ihrer historischen Kontextualisierung u a Yunis 1998, 234–240
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Aspekt nicht an prominenter Stelle formuliert,91 braucht nicht zu verwundern, da er dem agonalen Moment seinerseits erhebliche Bedeutung zuschreibt,92 so dass dieser Komplex sich nicht anbietet, um seine Differenzen zum sophistischen Verständnis zu markieren Hinzu kommt bei den Sophisten fraglos eine praktische Komponente, die in der Nachfrage an forensischer Instruktion zu sehen ist – sei es an rhetorischer Unterweisung, sei es an Beratung resp tatkräftiger Unterstützung durch Logographen bei der Abfassung realer Anklage- oder Verteidigungsreden 93 Jenes Phänomen erörtert unser Autor an der Stelle nicht, beanstandet es demzufolge aber auch nicht 94 Seiner Kritik zum Trotz widmet auch Aristoteles sich dem forensischen Genre in der ‚Rhetorik‘ ausgiebig Speziell seine eingehenden Überlegungen zum Umgang mit ‚artifiziellen‘ und ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln, zu den Motiven für normkonformes sowie deviantes Handeln, aber auch zu den Erwartungen des Auditoriums sind vorrangig durch jene Gattung inspiriert und auch bevorzugt auf diese zu beziehen Wie oben bereits angemerkt, ist eine deutliche Parallele zur rhetorischen Praxis in seiner Einschätzung zu sehen, dass das ‚Gerechte‘ in der Gattung als elementare Kategorie firmiert 95 Dabei geht der Stagirite nicht von genuin philosophischen Definitionen, sondern von der herkömmlichen Annahme aus, dass ‚gerecht‘ sei, was – dem sozialen Comment entsprechend – einer Person zukomme und sie in der Konsequenz zu fordern berechtigt sei 96 Zugleich setzt er voraus, dass dies mit dem Gesetz konform geht 97 In der forensischen Realität manifestiert sich solches besonders im Vergeltungsprinzip, demgemäß ein Geschädigter Kompensation beanspruchen kann, die nicht nur den materiellen Schaden ausgleicht, sondern zudem auf die Verteidigung bzw Restituierung seiner ‚Ehre‘ abzielt 98 Jener Anspruch wird auch in der Praxis gewöhnlich nicht mit dem ‚Gerechten‘ kontrastiert, sondern über weite Strecken eben-
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Er kommt erst gegen Ende des zweiten Buches im Kontext der ‚scheinbaren‘ Enthymeme darauf zu sprechen (Aristot rhet 1402 a 4–28), nicht hingegen in Zusammenhängen, in denen er sich programmatisch zu den Sophisten äußert Auch wendet er sich nicht gegen das Prinzip der Antithetik an sich, sondern allein gegen methodische Unzulänglichkeiten, welche er bei den Sophisten in dem Zusammenhang konstatiert Siehe z B Aristot rhet 1370 b 32–1371 a 10 Zu den Einsatzmöglichkeiten der Rhetorik einschließlich der entsprechenden Instruktionen seitens der Sophisten in der klassischen, speziell der demokratisch verfassten Polis Kerferd 1981, 15–23; de Romilly 1988/92, bes 24; Poulakos 1995, bes 13–15; Poulakos/Poulakos 1999, 5 f ; grundsätzlich zu dem Komplex auch Martin, Jochen 1976; Yunis 1998, 228 f Entsprechend knüpft er auch nicht an die im philosophischen Diskurs populäre Kritik an den Honorarforderungen der Sophisten an; zu jener Thematik Blank 1985 Siehe Kap 2 2 Aristot rhet 1366 b 10 f Dies ist nicht im platonischen Sinne gemeint, der seinerseits erheblich vom common sense abweicht, sondern folgt dem traditionellen δίκη-Verständnis Aristot rhet 1366 b 10 Hierzu u a Cairns 1999, 177 f ; Brüggenbrock 2006, 193–195; Alwine 2015, 122–135; zu entsprechenden Parallelen bei Aristoteles Kussmaul 2008, 41 f
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falls mit diesem identifiziert 99 Die Prädominanz des Gerechtigkeitsprinzips äußert sich nach Aristoteles in der Gerichtsrede allem voran darin, dass ein Kläger oder Beklagter ebendies unter keinen Umständen preisgeben dürfe Das meint, ein Akteur vor Gericht könne der Gegenseite – wenn erforderlich – Diverses konzedieren, dürfe aber keineswegs eingestehen, im Unrecht zu sein 100 Auch das deckt sich im Wesentlichen mit praktischen Gepflogenheiten; es schließt im Übrigen nicht prinzipiell aus, dass ein Beschuldigter unter bestimmten Bedingungen geständig ist, indem er eine ihm zur Last gelegte Tat einräumt – selbst in einem solchen Fall aber wird er noch für sich in Anspruch nehmen, nach Maßgabe des ‚Gerechten‘ gehandelt zu haben 101 Eine grundlegende Parallele ist des Weiteren in dem Umstand zu sehen, dass Aristoteles, dem agonalen Charakter der Auseinandersetzung gemäß,102 speziell mit Blick auf die forensische Rede herausstreicht, dass es hier nicht allein darauf ankomme, den eigenen Standpunkt zu explizieren, sondern auch den des Kontrahenten überzeugend zu widerlegen 103 Dabei hat er verschiedene Momente im Blick: neben dem Versuch, Inkonzinnitäten in der Argumentation des anderen aufzuzeigen, durchaus auch gezielte Attacken auf dessen Person 104 Dies entspricht in hohem Grade der rhetorischen Praxis 105 Eine dezidierte Widerlegung der Gegenposition, welche über eine spontane Replik hinausgeht, sachlich fundiert ist und somit einer Vorbereitung bedarf, setzt freilich voraus, dass beide Parteien im Vorfeld die Möglichkeit haben, Kenntnisse über die Strategie des jeweils anderen zu erlangen Gelegenheit hierzu ist in Athen namentlich im Rahmen der Prozesseinleitung in der ἀνάκρισις gegeben, in der beide Parteien ihre Argumente und Beweismittel vorab darlegen 106 Hinzu kommen ‚inoffizielle‘ Hinweise aus dem Freundeskreis; in Falle spektakulärer politischer Prozesse, an denen die Bürgerschaft hohen Anteil nimmt, gelangen entsprechende Informationen teils schon im Vorfeld des Verhandlungstages an die Öffentlichkeit 107
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Vgl Triantaphyllopoulos 1985, 3 Ähnlich steht es mit dem Verhältnis von Vergeltung und Sanktion; dazu unten Kap 3 1 Aristot rhet 1358 b 25–33; unter Verweis auf ein konkretes Beispiel aus einer uns gleichwohl nicht erhaltenen Rede Aristot rhet 1416 a 10–12 Zu entsprechenden Details siehe unten Kap 3 1 Zur kompetitiven Natur realer gerichtlicher Auseinandersetzungen mit Hinweisen auf weitere Literatur u a Cohen, D 1992, 106 f ; Burckhardt 1999, 91 Dabei begreift er die ‚Widerlegung‘ (λύσις) nicht als eigenes argumentatives Verfahren, sondern rät, hierzu mit den gleichen Persuasionsmitteln zu arbeiten, die er auch in anderen Zusammenhängen empfiehlt; siehe Aristot rhet 1418 b 5–7; zu dem Gegenstand Martin, Jos 1974, 125 f Geeignete Topoi präsentiert er unter dem Stichwort der ‚Verleumdung‘ (διαβολή); siehe Aristot rhet 1416 a 4 – b 15 Dazu mit Blick auf Antiphon, der diesbezüglich für die attischen Rhetoren typisch verfährt, Dorjahn 1935 Inwieweit sie ihre rhetorischen Strategien bereits hier im Detail präsentieren, ist in der Forschung allerdings umstritten; zu dem Gegenstand Dorjahn 1935, 276 f ; ders 1941, 182; Thür 2007, 134 f ; Scafuro 2013, 396; Vatri 2017, 91 f ; vgl unten Kap 7, Anm 92 Einschlägig ist hier Aischin 1,117; dazu Dorjahn 1935, 284
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Wie schon angesprochen, vertritt unser Autor die Ansicht, dass Gerichtsreden primär mit der Vergangenheit zu tun hätten,108 was selbstredend daraus resultiert, dass hier über bereits zurückliegende Ereignisse gehandelt wird In realen Reden – speziell in Anklagereden in öffentlichen Prozessen – finden sich darüber hinaus Vergangenheitsbezüge anderer Art, die Aristoteles an der Stelle nicht im Blick hat, nämlich historische Paradigmata, die u a als Positivfolie zur nachdrücklichen Diskreditierung des Beklagten und seines mutmaßlichen Vergehens dienen 109 Des Weiteren lässt sich beobachten, dass viele der erhaltenen forensischen Reden ausdrücklich auf die Zukunft verweisen, besonders Anklagereden, die harte Bestrafungen postulieren, um einschlägige Exempel zu statuieren Dabei ist weder vorrangig an den möglichen Präzedenzcharakter des Falles und damit künftige Gerichtsentscheide gedacht noch an die potentiell abschreckende Wirkung auf den Beklagten bzw mögliche andere Personen mit ähnlichen kriminellen Ambitionen; der Ansatz ist vielmehr ein positiver: Im Visier sind primär die prospektiv günstigen Folgen nachhaltiger Bestrafungen für die Gesamtbürgerschaft, d h die Förderung der sozialen Kohäsion, die gegebenenfalls durch den dauerhaften Ausschluss von Personen mit massiv abweichendem Verhalten erreicht wird,110 zuvorderst aber durch die Kommunikation sozialer Werte im Rahmen des Prozesses zustande kommen soll 111 Derartige Bestrebungen sind für Aristoteles kaum von Interesse, was u a damit zu tun hat, dass er bei gerichtlichen Auseinandersetzungen bevorzugt an private, weniger an öffentliche Prozesse denkt 112 An dem Punkt haben wir einen eklatanten Unterschied zur athenischen Praxis und dem dortigen Rechtsdiskurs zu verzeichnen: In Athen wird die Bedeutung der öffentlichen Prozesse für das Gemeinwesen mit Nachdruck hervorgehoben Das meint gleichwohl nicht, dass Aristoteles der Differenzierung zwischen den beiden Kategorien von Gerichtsverfahren keine Aufmerksamkeit schenkte Er erwähnt sie durchaus, reflektiert auch, dass sie sich dahingehend unterscheiden, 108 Siehe Kap 2 2 109 Zugleich dienen derartige Beispiele der Selbstinszenierung des Sprechers, der für sich reklamiert, sich im Unterschied zu seinem Kontrahenten an den Maßstäben der πρόγονοι zu orientieren und sich so in deren Tradition zu stellen; zu dieser Strategie Hobden 2007, bes 490 494 501; Westwood 2019, 186 Jene Praxis hat nebenbei zur Konsequenz, dass sachlogische Argumente in den Hintergrund treten; vgl Wojciech 2018, bes 163–165 Aristoteles verortet solcherlei Beispiele hingegen vorzugsweise in Demegorien; dazu unten Kap 2 2 2 110 Zu den Erwartungen an Strafen Allen, D S 1999, bes 196–199; dies 2000, 243–291; Cohen, D 2005a, Schöpsdau 2012, 1 f ; Adamidis 2017, 128 f 111 Dazu unten Kap 6 1 sowie 6 3 112 Das manifestiert sich u a in seiner Auffassung, dass sich Demegorien von Gerichtsreden dadurch unterscheiden, dass erstere sich mit Gegenstanden beschäftigen, die für die Polis als ganze relevant seien; zu dem Komplex Aristot rhet 1354 b 22 – 1355 a 1 Auch der angesprochene Umstand, dass er historische Paradigmata diesbezüglich nicht in den Blick nimmt, steht in Zusammenhang mit seiner Konzentration auf private Prozesse In solchen werden derartige exempla – im Unterschied zu öffentlichen Prozessen – auch in attischen Gerichtsreden kaum angebracht; vgl Wojciech 2018, 164
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dass jeweils eine verschieden große Zahl von Personen durch ein Fehlverhalten geschädigt werde – entweder eine Einzelperson, eine bestimmte Gruppe oder aber die Gesamtheit der Politen 113 Auffällig ist allerdings, dass er an der Stelle eher den quantitativen Aspekt hervorhebt,114 wohingegen in der praktischen Rhetorik bevorzugt der qualitative stark gemacht wird, indem Vergehen gegen die Polis kategorisch von anderen abgegrenzt und politisch affiziert werden 115 Dazu wird dort mit spezifischen Topoi gearbeitet, die auf den gemeinschaftsschädigenden Charakter des Betreffenden wie auch die gemeinschaftsfördernde Wirkung seiner Sanktionierung abheben 116 Der Umstand, dass der Philosoph bevorzugt private Prozesse vor Augen hat, kommt weiterhin in seiner Einschätzung zum Ausdruck, dass es in forensischen Reden in besonderem Maße indiziert sei, das πάθος als Überzeugungsmittel einzusetzen 117 Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass hier – anders als in Demegorien – keine Angelegenheiten verhandelt würden, die alle tangierten, sondern solche, die in erster Linie die beteiligten Parteien beträfen 118 Jene Vorstellung, dass das Interesse der Juroren nicht in jedem Fall a priori vorausgesetzt werden könne, sondern eigens geweckt werden müsse, speziell indem die Prozessierenden deren affektive Ansprechbarkeit nutzten, findet sich durchaus auch in der praktischen Rhetorik, jedoch nicht durchgängig 119 Gerade in öffentlichen Fällen, deren politische Brisanz evident scheint, werden derartige Sorgen von den Klägern gemeinhin nicht artikuliert Dessen ungeachtet operieren sie dort in gesteigertem Maße mit Emotionen, was darauf hindeutet, dass ihre Motivation dabei eine andere ist, als Aristoteles sie mit Blick auf die von ihm anvisierten causae annimmt: Ihnen ist nicht um die Aufmerksamkeit der Juroren zu tun – deren sind sie sich gewiss –, sondern um eine rigide Bestrafung des Angeklagten Mit speziellen Prozesstypen und deren spezifischen Anforderungen an die rhetorische Präsentation befasst unser Autor sich – abgesehen vom bereits erwähnten Fall der Reden vor dem Areiopag – nicht In Bezug auf das zeitgenössische Athen wäre hier 113 114
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Vgl Aristot rhet 1373 b 18–27 Das gilt in ähnlicher Weise für einen späteren Abschnitt, in dem er sich zur Größe von Verbrechen äußert; siehe Aristot rhet 1374 b 24 – 1375 a 21 Er nennt dort eine Vielzahl von Aspekten, nicht jedoch das Moment des unmittelbaren Polisbezuges Nichtsdestotrotz räumt auch er in dem Zusammenhang ein, dass Anklagen sich entweder auf das ‚Gemeinsame‘ (κοινόν) oder aber das ‚Einzelne‘ bzw das einem Einzelnen ‚Eigene‘ (ἴδιον) beziehen; siehe Aristot rhet 1373 a 34 Dazu mit Belegen Piepenbrink 2001, 160 f Zu derartigen Topoi Rubinstein 2005, 133 142 Vgl Aristot rhet 1356 a 12 f ; 1377 b 29–31; zu der Überlegung Fortenbaugh 1996, 156; zur Differenzierung der Beweismittel bei Aristoteles Fortenbaugh 2007, 114–118 So geht er davon aus, dass die Juroren nicht in eigener Angelegenheit entschieden – im Unterschied zu den Ekklesiasten, welche in der Volksversammlung Beschlüsse fassten, die sie unmittelbar involvierten; vgl Aristot rhet 1354 b 28–31 Präsentiert ein Kläger sich nüchtern und unternimmt er damit keine erkennbaren Anstrengungen, die Juroren emotional anzusprechen, vermag ihm dies als mangelndes Engagement ausgelegt zu werden, was die Chancen, sein Anliegen erfolgreich anzubringen, unter Umständen deutlich mindert; dazu am Beispiel der Evokation von ‚Zorn‘ durch Kläger Piepenbrink 2014, bes 160
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im Bereich der öffentlichen Prozesse etwa an Anklagereden im Kontext einer γραφὴ παρανόμων oder einer γραφὴ νόμον μὴ ἐπιτήδειον θεῖναι zu denken, die Besonderheiten im Verhältnis von personen- und sachorientierter Argumentation aufweisen,120 oder – auf dem Terrain der privaten Prozesse – an Verfahren anlässlich von Handelsstreitigkeiten, namentlich δίκαι ἐμπορικαί, in denen es verbreitet um Konflikte innerhalb von Handelsgesellschaften, oft im Zusammenhang mit Seedarlehen geht, die im Verlauf des vierten Jahrhunderts erheblich an Umfang und Bedeutung zunehmen 121 Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass hier vielfach Personen ohne athenisches Bürgerrecht, darunter viele ‚Fremde‘ (ξένοι), involviert sind,122 welche den Juroren mehrheitlich nicht persönlich bekannt sind Dies hat zur Konsequenz, dass die soziale Reputation der Betreffenden dort kaum von Belang ist, woraus für die rhetorische Argumentation folgt, dass das Instrumentarium der Ethopoiie nur sehr eingeschränkt zum Einsatz gebracht werden kann 123 Mit dem Umstand, dass Aristoteles hier nicht explizit auf die athenischen Verhältnisse abhebt, sind seine diesbezüglichen Abweichungen von der dortigen Praxis nicht hinlänglich zu erklären – andernfalls müsste die Thematisierung des Areiopags verwundern;124 eher schon sind jene Diskrepanzen der Tatsache geschuldet, dass er die Reformmaßnahmen, die in Athen nach dem Peloponnesischen Krieg implementiert wurden, nur in Ansätzen in seine Überlegungen einbezieht, was in ähnlicher Weise in seinen Politika zu beobachten ist 125 Ausdrückliche Demokratieskepsis kommt an der Stelle hingegen nicht zum Ausdruck: So referiert der Stagirite weder demokra-
120 Die neuere Forschung hat dazu gezeigt, dass hier nicht etwa – im Sinne moderner Normenkontrollverfahren – betont sachorientiert und auf den Gegenstand des betreffenden Gesetzes konzentriert argumentiert wird, sondern ähnlich pauschalierend wie in anderen öffentlichen Prozessen, indem etwa dem Beklagten vorgehalten wird, mit seinem Antrag sämtlichen Gesetzen zuwiderzuhandeln; zu dem Komplex mit Belegen sowie Hinweisen auf die Forschungshistorie zur γραφὴ νόμον μὴ ἐπιτήδειον θεῖναι Lanni 2010, bes 256–263; Canevaro 2018, 81–89; ähnlich zur γραφὴ παρανόμων Yunis 1988, 380 f 121 Eine knappe Skizze zur Orientierung über den Gegenstand geben Isager/Hansen 1975, 84–87 122 Zum hohen Anteil der ‚Fremden‘ unter jenem Typus von Händlern Reed 2003, 27; zu dem Kompex auch v Reden 2019, bes 218 123 Zu jenen Besonderheiten Cohen, E 1973, 8; ders 1994, 143 f ; ders 2016, bes 216–219; Lanni 2005, 126–128; Schuster 2005, 136–162; Moreno 2007, 285–299; Ober 2010, 165–167; grundsätzlich zum Phänomen der Ethopoiie Naschert 1994, bes Sp 1513 Der Terminus der ‚Ethopoiie‘ wird in der antiken rhetorischen Theorie unterschiedlich verwendet Unser Interesse gilt hier wie auch im weiteren Verlauf der Arbeit durchgängig dem Moment der Konzeption des eigenen ἦθος sowie jenes des jeweiligen Kontrahenten zum Zweck der positiven Selbstdarstellung bzw der Diskreditierung des anderen 124 Dazu Kap 2 1 und 4 1 125 Hierzu Eucken 1990, 286–289; Piepenbrink 2018, 248 f Eine Übersicht über den aktuellen Diskussionsstand zu den Spezifika der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts präsentiert Tiersch 2016a, bes 19–22 Zur retrospektiven Perspektive in der Demokratiebetrachtung in der ‚Politik‘ siehe Aubenque 1993, 256
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tiekritische Lobpreisungen des Areiopags,126 noch bringt er das unter vermögenden Demokratiekritikern verbreitete Monitum an, demzufolge Gerichtsprozesse vorrangig ein Kampfinstrument des Demos darstellten, um Angehörige der Eliten zu attackieren und sie ihres Besitzes zu berauben 127 Zum Tragen kommt hier schließlich sein nur eingeschränktes Interesse an unmittelbarer Anwendungsorientierung; dies manifestiert sich etwa darin, dass er sich kaum mit Unterschieden in den rhetorischen Strategien in Anklage- und Verteidigungsreden beschäftigt, die für die forensische Praxis hingegen signifikant sind 128 Nachdrücklich relevant für das Sujet sind weiterhin die Auseinandersetzung mit den Motiven deliktischen Handelns, der Umgang mit den sogenannten ‚artifiziellen‘ bzw ‚inartifiziellen‘ Beweismitteln, die Evokation von Emotionen bei den Juroren wie auch generell die Kommunikation zwischen Prozessierenden und Dikasten Diese bilden bei Aristoteles eigene thematische Einheiten und werden in späteren Kapiteln unserer Arbeit beleuchtet werden 2 2 2 Deliberative Reden In höherem Maße als forensische Reden ästimiert der Philosoph Demegorien 129 Damit differiert er vom Comment der attischen Demokratie seiner Zeit 130 Unbeschadet der Tatsache, dass beratende Reden gerade für diesen Typus politischer Ordnung
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Ein einschlägiges Beispiel hierfür ist der Verfasser der Athenaion Politeia aus der Schule des Aristoteles, der den aus seiner Sicht ungünstigen Demokratisierungsprozess im Athen des fünften Jahrhunderts mit einer sukzessiven Entmachtung des Areiopags in Verbindung bringt, die er ihrerseits moniert; siehe [Aristot ] AP 25 f ; dazu Chambers, M 1990, 257–259 Ein markantes Beispiel bietet die isokratische ‚Antidosisrede‘ (Isokr 15), in der jener in eigener Sache handelt; aber auch Aristoteles formuliert in der ‚Politik‘ Überlegungen dieser Art, namentlich im Zusammenhang mit der Frage nach den Merkmalen des ‚neuesten‘ Typus der Demokratie; zu letzterem Creed 1990, bes 26; Lintott 1992, bes 115 Zum Einfluss dieses Monitums auch auf die ältere Forschung siehe Cloché 1960, bes 80 Dazu Rubinstein 2005; dies 2016, 59 So vertritt er die Position, dass die Beschäftigung mit diesem Genre ehrenhafter und für das Wohl der Polis bedeutsamer sei als die Arbeit an Gerichtsreden; Aristot rhet 1354 b 22–25 An anderer Stelle bemerkt er, dass politische Reden sachlich anspruchsvoller seien, weil sie zukünftiges Handeln zum Gegenstand hätten; Aristot rhet 1418 a 21–23 Nichtsdestotrotz äußert er sich zur Gattung der Demegorie in der ‚Rhetorik‘ knapper als zu den Gerichtsreden; zu letzterem auch Beck, I 1970, 22 Ähnlich den Athenern denkt er bei Demegorien vorrangig an Reden vor der Volksversammlung, weniger an solche vor der βουλή, die grundsätzlich auch in diese Kategorie fallen, in der breiten Öffentlichkeit aber weniger Aufmerksamkeit erfahren; hierzu Ober 1989, 138 Dagegen deckt sich seine Einschätzung mit jener des Isokrates; siehe u a Isokr 12,1 f ; 13,19–21; auch Platon würdigt Demegorien stärker als Gerichtsreden; vgl Plat Phaidr 261a/b; zu dem Komplex Cooper, C 2007, 202
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konstitutiv sind,131 genießen Gerichtsreden in der bürgerlichen Öffentlichkeit höhere Wertschätzung: Das hat zum einen mit der kardinalen Bedeutung zu tun, die – wie im letzten Abschnitt gesehen – in Sonderheit öffentlichen Prozessen attestiert wird, zum anderen mit dem Umstand, dass vor Gericht in größerer Zahl auch ‚Laien‘ agieren, was dem Ideal des ἰδιώτης entspricht, der zwar regelmäßig politisch partizipiert, ohne dies aber quasiprofessionell zu tun 132 Des ungeachtet befindet sich unser Autor hinsichtlich der zentralen Wertkategorie, die er für Demegorien vorsieht, in weitgehender Übereinstimmung mit der demokratischen Praxis: Wie bereits erwähnt, nennt auch er hier den ‚Vorteil‘ resp ‚Nutzen‘ (συμφέρον), der in realen Reden vor allem in außenpolitischen Debatten durchgängig angebracht wird, um für politische Positionen zu werben 133 Der Philosoph insinuiert, dass Redner dabei mit dem geläufigen Bedeutungsgehalt operieren, so dass er auf eine Definition des Terminus oder weitergehende Erläuterungen verzichtet Gleichwohl geht er insofern über das übliche Verständnis hinaus, als er das ‚Nützliche‘ mit dem ‚Guten‘ assoziiert 134 Letzteres formuliert er – abweichend vom Alltagsdenken und inspiriert durch genuin philosophische Prämissen zur Hierarchisierung von ‚Gütern‘ – als das „um seiner selbst willen Erstrebenswerte“ aus bzw als „das, um dessentwillen wir anderes wählen“ 135 In der praktischen Rhetorik begegnet durchaus auch das Phänomen, dass der ‚Vorteil‘ in Verbindung mit anderen Wertbegriffen angeführt wird; dort aber handelt es sich gewöhnlich um typisch demokratische Kategorien wie die ‚Freiheit‘ oder politische ‚Egalität‘;136 zudem werden derartige Termini eher additiv gereiht als systematisch geordnet Das Moment der ‚Freiheit‘ spricht zwar auch Aristoteles in dem Zusammenhang an,137 allerdings mit partiell abweichenden Akzentuierungen, die an Betrachtungen aus den Politika anknüpfen: Er denkt insbesondere an das Moment der freien (bürgerlichen) Geburt, das seiner Ansicht nach für den Bürger-
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Ursächlich hierfür ist, dass die Volksversammlungen und damit jene Institutionen, in denen derartige Reden vorrangig ihren Sitz haben, in der Demokratie über ausnehmend hohe Entscheidungskompetenzen verfügen; dazu u a Cohen, D 2004, 25 Zu jenem bürgerlichen Ideal, das besonders im vierten Jahrhundert entschieden propagiert und in der Selbstinszenierung von Politen herausgestrichen wird, Rubinstein 1998, bes 126 f mit Verweisen auf frühere Forschungen zu dem Gegenstand Siehe beispielsweise Demosth 1,1; 3,36; 4,51; 14,3; [Demosth ] 10,1 17 Utilitätsgesichtspunkte sind hier, in gleicher Weise wie bei Thukydides, primär politisch konnotiert, weniger ökonomisch; dazu Spahn 1986, bes 20 Aristot rhet 1362 a 15–21 Aristot rhet 1362 a 21 f ; 1363 b 12–14 Einschlägig ist hier der ἐπιτάφιος λόγος des Lysias, der sämtliche Wertbegriffe widerspiegelt, mit denen die Athener vor allem auf dem Feld der Außenpolitik operieren; siehe besonders Lys 2,10 14 17–19 22 f 56 61 f 68; speziell zur normativen Aufladung jenes ἐπιτάφιος auch Prinz 1997, 245– 252; Kortes 2000, 19–25 Aber auch die Demegorien des Demosthenes sind diesbezüglich aussagekräftig; siehe u a Demosth 4,51; [Demosth ] 10,17 Er kennzeichnet es auch in der ‚Rhetorik‘ als ‚Ziel‘ (τέλος) der Demokratie; siehe Aristot rhet 1366 a 4 f
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status in der Demokratie konstitutiv ist und aus diesem Grund zum zentralen Maßstab im politischen Handeln avanciert 138 Sein Fokus ist dabei auf das Moment der ‚Freiheit‘ gerichtet; im Verständnis der Athener liegt die Betonung auf der (freien) bürgerlichen Abkunft 139 Ungeachtet dessen ist an der Stelle keine grundlegende Divergenz anzunehmen, da auch Aristoteles die bürgerliche Gemeinschaft generell als eine Abstammungsgemeinschaft begreift 140 Ein wesentlicher Unterschied zur politischen Praxis ist an der Stelle gleichwohl darin zu sehen, dass der Philosoph die außenpolitische Komponente des Libertätsgedankens weitestgehend ausblendet Dies korreliert mit Einstellungen, die er in der ‚Politik‘ zu der Thematik vertritt 141 Ein weiteres Element, das in dem Zusammenhang in öffentlichen Reden zutage tritt, nicht hingegen bei Aristoteles, ist das Bestreben, mögliche negative Folgen einer einseitigen ‚Nutzen‘-Orientierung abzuwenden, indem man sie mit zusätzlichen, dezidiert positiven Begründungen versieht Auf dem Feld der zwischenstaatlichen Politik werden da namentlich die Förderung demokratischer Ordnungen wie auch generell der Polis als politisches Ordnungsmuster angeführt – letzteres in aristotelischer Zeit vorrangig in Anbetracht der Bedrohung durch die Makedonen 142 Hintergrund für die – zumindest verbale – Einschränkung des Utilitätsprinzips sind die Erfahrungen aus den beiden gescheiterten Seebünden 143 Aristoteles referiert hier noch Positionen aus der Gedankenwelt des fünften Jahrhunderts, als solcherlei Bedenken in Athen noch wenig populär waren 144 Stärker als an der Verknüpfung von Wertbegriffen ist der Philosoph an deren Abgrenzung interessiert, darunter auch der Kontrastierung von utilitaristischen Aspekten
138 Vgl Aristot pol 1280 a 24 f 139 Dazu mit Belegen Fouchard 1986, 154; Hansen 2010a, bes 10 f 140 Dahingehend zu Aristoteles mit Belegen Piepenbrink 2010, bes 101 f ; zum Verständnis im klassischen Athen Cohen, E 2000, 82–90; Lape 2010, bes 167–173; Blok 2017, 138–146 141 Dort allerdings äußert er sich zur innenpolitischen Dimension ausführlicher In den Politika bringt er überdies den Wechsel von Herrschen und Beherrschtwerden zur Sprache (Aristot pol 1317 b 11–14) sowie das Moment der Libertät in der Lebensführung (Aristot pol 1317 b 2 f ), das in dezidiert demokratischen Reflexionen zu dem Gegenstand ebenfalls begegnet; dazu Karavites 1984, 177 f ; Raaflaub 1985, 289 f ; Barnes 1990, 254 f ; Beck, H 2003, 43 Das Motiv des dem Belieben des Einzelnen anheimgestellten Lebens hat in dem Werk gleichwohl jenen negativen Subtext, den wir etwa von Pseudo-Xenophon oder Platon kennen; hierzu Dolezal 1974, 117; Wolin 1996, 83; Morawetz 2000, bes 52 f ; Nebelin, K 2016, 318 f ; Jordović 2018 142 So etwa Demosth 1,4 f ; 2,10 13 15–18 20–22; 4,11; 6,17 21 25; 8,11 f 40 f 43; 9,22–25 30 f 47–50; 11,8–11; 15,29; 18,185; [Demosth ] 10,11 f 15 62 69; 17,1–30; vgl Piepenbrink 2001, 111 143 Siehe etwa Demosth exord 40,1, wo er in Anbetracht möglicher Vorhaltungen dieser Art die Bürger auffordert, den Nutzengesichtspunkt mit dem des Rechts zu kombinieren; zu dem Phänomen mit weiteren Belegen Kennedy 1959a, 136–138; Schmitz, W 1988, 258–275; Low 2007, 166 f ; dies 2015, 69–71; Pepe, C 2013, 82; Bounas 2016, 316 f 144 Vgl dazu den folgenden Abschnitt Hinzu kommt, dass er, wie gesehen, den ‚Nutzen‘ mit dem ‚Guten‘ assoziiert, was u a zur Folge hat, dass ihm die Problematik, welche jenen Positionen des fünften Jahrhunderts inhärent ist, in geringem Umfang bewusst wird, als es bei einem Zeitgenossen zu erwarten ist, der eine solche Verbindung nicht herstellt
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und Rechtsgesichtspunkten Dies geht einher mit seinem Bestreben, die Redegattungen zu differenzieren und ihnen unterschiedliche normative Bezugsgrößen zuzuordnen In dem Zusammenhang hält er es gar für opportun, in einer Demegorie nicht nur offen die Ausrichtung am ‚Nutzen‘ zu propagieren, sondern explizit auszusprechen, dass man dem ‚Nutzen‘ den Vorrang vor dem Recht einräume 145 Das trefflichste Beispiel dieser Art begegnet im thukydideischen ‚Melier-Dialog‘,146 der, von der Authentizitätsproblematik einmal abgesehen,147 noch im Kontext des Peloponnesischen Krieges situiert ist und in hohem Grade sophistisches Gedankengut reflektiert 148 In den uns bekannten attischen Demegorien des vierten Jahrhunderts finden sich keine Belege für ein vergleichbar kontrastives Vorgehen: Demosthenes etwa operiert zwar durchaus gelegentlich mit dem Gedanken des Rechts des Stärkeren, verbindet diesen aber in aller Regel mit dem Rechtsprinzip 149 Eingehend beschäftigt sich Aristoteles mit den thematischen Schwerpunkten der Demegorien, die er zugleich als die Kompetenzfelder begreift, auf die ein Redner sich verstehen sollte Die Thematiken, die er dazu nennt, sind in hohem Grade durch Xenophons Memorabilia inspiriert,150 weisen aber zugleich Parallelen mit einer noch entschiedener empirisch orientierten Liste des Anaximenes auf und spiegeln in erheblichem Maße die Gegenstände wider, die in realen Volksversammlungen im Athen der Zeit debattiert und zur Entscheidung gebracht wurden 151 Abweichungen von den Agenden letzterer sind dahingehend auszumachen, dass unser Autor sich auf die Themenfelder für Beratungsreden konzentriert; Zuständigkeiten der Volksversammlung, welche keine derartigen Reden erfordern – etwa Los- oder Wahlverfahren bzw die Einleitung öffentlicher Gerichtsprozesse im Rahmen von Ekklesie-Sitzungen – berücksichtigt er demzufolge nicht
145 So Aristot rhet 1358 b 33–37 146 Thuk 5,84–116 Zur entsprechenden Argumentation der Athener gegenüber den Meliern siehe Pearson 1962, 173 f ; Will 2006, 101–103; Meister 2011, 249–267; Gärtner 2018, 165–170 147 Hierzu mit weiteren Literaturhinweisen Meister 2011, 260–262 148 Auch für das fünfte Jahrhundert ist die massive Betonung des ‚Vorteils‘ in jener Argumentation allerdings extrem; dazu Karavites 2003, bes 22 25 149 Siehe beispielsweise Demosth 15,26 f ; dazu Bounas 2016, 341–343; vgl oben Anm 143 150 Xen mem 3,6,4–14; zu jener Parallele Arnhart 1981, 202; Rapp 2002a, 315 In der ‚Politik‘ erstellt Aristoteles eine eigene Liste, die aber deutlicher von den Verhältnissen des vierten Jahrhunderts abweicht; siehe Aristot pol 1298 a 4–9; dazu Arnhart 1981, 57 151 Zu den von Anaximenes genannten Sujets siehe Anaxim rhet 1423 a 20–26 Hinsichtlich der realen athenischen Volksversammlungen sind wir besonders gut über die ἐκκλησίαι κύριαι, die Hauptversammlungen zu Beginn einer jeden Prytanie, informiert; siehe [Aristot ] AP 43; hierzu grundsätzlich Hansen 1987, 19 f 25–27; Errington 1994, bes 135–139; Rhodes 1995, 192 f Zu Parallelen zwischen deren Thematiken und den von Aristoteles in der ‚Rhetorik‘ in den Blick genommenen Handlungsfeldern, die speziell den fiskalischen und den außenpolitischen Bereich betreffen, Engen 2010, 54 mit Anm 36
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An erster Stelle nennt er die Staatseinkünfte (πόροι),152 wobei ein Rhetor sich seiner Ansicht nach mit Einkünften wie Ausgaben befassen sollte, um je nach Bedarf geeignete Vorschläge zur Steigerung resp Reduktion unterbreiten zu können 153 Er folgt hier ausdrücklich Xenophon,154 entspricht aber zugleich der gestiegenen Bedeutung dieses Feldes, wie sie sich in Athen seit der Ära des Eubulos beobachten lässt und sich u a in der Schaffung des Theorikon als einer zentralen Staatskasse wie auch der Implementierung neuer Finanzmagistraturen manifestiert 155 Die Beratungsleistung, die ein Redner auf dem Gebiet zu erbringen hat, zielt im Verständnis des Stagiriten nicht auf programmatische oder gar konzeptionelle Entwürfe mit theoretischen Implikationen, sondern auf einzelne, pragmatisch gestaltete Maßnahmen, was mit dem realen finanzpolitischen Gebaren des Staates konform geht 156 Unberücksichtigt bleiben bei ihm hingegen die konkreten Kontroversen über den Umgang mit öffentlichen Mitteln, welche die entsprechenden Debatten in Athen prägen, darunter die Frage, in welchem Verhältnis das Streben nach Verbesserung der Einnahmesituation der Polis und das Ausmaß des außenpolitischen Engagements stehen sollten, wie also fiskalische und militärische Interessen zu gewichten und zueinander in Beziehung zu setzen sind, oder zu welchen Zwecken Überschüsse am besten Verwendung finden Dass unser Autor Thematiken dieser Art nicht in seine Betrachtungen einbezieht, ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass er eine knappe Skizze mit grundsätzlichem Charakter anstrebt, nicht hingegen eine Beschäftigung mit situationsbezogenen Detailfragen; darüber hinaus ist es der Tatsache geschuldet, dass die politische Verargumentierung der Gegenstände für ihn nicht von Interesse ist – zum einen weil er an der Stelle inhaltliche Prämissen für sich genommen beleuchtet, nicht deren enthymematische Verarbeitung,157 zum anderen, weil er das diskursive Umfeld, in dem die Debatten in der Volksversammlung stehen, weniger intensiv ins Visier nimmt als die hier tätigen Redner 158 152 153 154 155
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Aristot rhet 1359 b 23–32 Aristot rhet 1359 b 23–26 Zu jener Parallele u a Pritchard 2015, 21 f Zur zunehmenden Bedeutung fiskalischer und finanzpolitischer Expertise Kallet-Marx 1994, 235–239; zu den einschlägigen institutionellen Regelungen und ihren Auswirkungen Leppin 1995, bes 569 f ; Debrunner Hall 1995, 202–210 Aristoteles nimmt hier offenkundig erheblich stärker auf ökonomische Fragen der Poleis seiner Zeit Bezug als in den Ethiken oder der ‚Politik‘, deren Ausführungen zu dem Handlungsfeld in höherem Grade durch Philosopheme – naturrechtliche wie auch ethische Prinzipien – gekennzeichnet sind Zu den dortigen thematischen Aspekten siehe Meikle 1979, bes 71; Priddat 2012, 5–20 Zu dem Umstand Engels 1988, 101 f ; Eich 2016, 233 248 f ; Pébarthe 2016, bes 231 Das meint, wie aus Prämissen korrekt Deduktionen gebildet werden; zu dem Themenfeld u a Aristot rhet 1356 a 20–22; 1356 b 2–5; 1357 a 12–16 Hinzu kommt, dass er beim Beratungsredner Sachkompetenz gegenüber anderen Qualitäten in den Vordergrund rückt; anders verfährt Demosthenes in der demegorischen Praxis, wo er den Bezug auf politische Prämissen und soziale Werte mit größerem Nachdruck hervorhebt; hierzu – konkret mit Blick auf Demosth 1,19 f – Thompson 1981, 154; Hesk 2009, 148 f
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Nicht untypisch für Aristoteles, der den Rhetor nicht dezidiert als Angehörigen einer bestimmten Polis konzipiert, gemessen an der rhetorischen Praxis aber ungewöhnlich, ist der Ratschlag an den Redner, sich auch mit diesbezüglichen Verhältnissen in anderen Städten vertraut zu machen 159 Dabei geht es dem Philosophen nicht darum, dass der Betreffende fundiert und überzeugend fiskalische Defizite anderer Städte moniert – zu dem Zweck ließe sich entsprechendes Wissen in der realen Anwendung am ehesten nutzbar machen –, sondern dass er seinen Kenntnisstand und Wissenshorizont erweitert Unmittelbar anbringen lässt sich solches in der Volksversammlung freilich nicht 160 Als zweites resp drittes Sujet bringt Aristoteles die Gesichtspunkte Krieg und Frieden (πόλεμος καὶ εἰρήνη) sowie die Verteidigung des Landes (φυλακὴ τῆς χώρας) ins Spiel 161 Im Unterschied zum vorigen Thema rubriziert er jene zwar auch in der ‚Politik‘ unter die relevanten Beratungsgegenstände;162 dennoch ist seine Haltung zu dem Metier in jener Schrift eine andere Insbesondere ist dort zu beobachten, dass er interstaatlichen Kriegen weitaus weniger Aufmerksamkeit schenkt als etwa den Staseis 163 In der ‚Rhetorik‘ bemerkt er u a , dass ein Redner über kriegerische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit Kenntnis haben sollte 164 Sein Fokus richtet sich dabei allerdings in erster Linie auf Sachinformationen, auf deren Basis konkrete Vorschläge zu entwickeln sind, weniger auf Stoff für historische Paradigmata, die sich zu paränetischen oder illustrativen Zwecken verarbeiten lassen 165 Weiterhin setzt er voraus, dass ein Redner über die Streitkräfte unterrichtet ist – hier denkt er vor allem daran, dass jener imstande sein sollte, die hiesigen Kräfte im Vergleich zu denen des Gegners zu bemessen, um entsprechend sachorientiert raten zu können 166 Dies geht konform mit der Perzeption der Thematik bei den aktiven Rednern 167 Mit der politischen Dimension des Sujets, darunter den unterschiedlichen Assoziationen zu Flotte und Hoplitenphalanx in der Bürgerschaft,168 oder auch den hochemotional ausgetragenen Kon-
159 Aristot rhet 1359 b 30–32 160 In den attischen Demegorien finden sich in der Regel allenfalls pauschale Verweise auf die Verfasstheit der Gemeinwesen der jeweiligen Feinde, die vor allem darauf abzielen, deren vermeintliche strukturelle Schwächen pointiert hervorzuheben Einschlägig sind hier die Bemerkungen des Demosthenes zur makedonischen Monarchie; zu entsprechenden Belegen s o Anm 142 161 Aristot rhet 1359 b 33–1360 a 5; 1360 a 6–11 162 Siehe Aristot pol 1298 a 4 f 163 Zu dem Komplex Winterling 1995, bes 328; Bellers 1996; zur Stasisthematik in der ‚Politik‘ u a Kalimtzis 2000; Hatzistavrou 2013 164 Vgl Aristot rhet 1359 b 36 f 165 Letzteres hingegen ist in den erhaltenen Reden von großer Bedeutung; zu dem Komplex mit zahlreichen Belegen z B Chambers, J T 1975; Badian 1995; Piepenbrink 2001, 109–115 166 Aristot rhet 1359 b 37–1360 a 2 167 Hierzu – unter besonderer Berücksichtigung von Demosth 18,304 f – Näf 1997, 326 f 168 Dazu u a Hanson 1996, bes 294–299; Strauss 1996, bes 320–322; Hartmann 2018, bes 183–195
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troversen über den Einsatz von Söldnertruppen, befasst er sich an der Stelle nicht 169 Gleiches gilt für etwaige Zusammenhänge zwischen der Art der politischen Ordnung und der Motivation für Kriegführung und deren Zielsetzungen 170 Diese Differenzen sind grundsätzlich auf die gleichen Ursachen zurückzuführen wie jene, die wir oben auf dem Feld der Finanzen beobachtet haben Als vierten Themenbereich spricht der Stagirite die Lebensmittelversorgung (τροφή) an,171 wobei er die Einfuhr von Getreide in den Mittelpunkt rückt,172 die für die Mehrzahl der Poleis seiner Zeit, darunter Athen, zur Versorgung der Bevölkerung essentiell ist 173 Analog der operativen Politik geht er davon aus, dass es zu den maßgeblichen Aufgaben eines Gemeinwesens gehöre, die Rahmenbedingungen für Getreideimporte zu gestalten – durch Vereinbarung entsprechender bilateraler Verträge mit Städten, die als wichtige Handelspartner fungieren, durch die Schaffung rechtlicher Grundlagen für Handelsaktivitäten von Privatleuten der betreffenden Städte,174 aber auch durch Vermeidung von Konflikten mit Orten, die für die Beschaffung bzw den Transport von Getreide unabdingbar sind 175 In der rhetorischen Praxis wird in dem Kontext darüber hinaus noch die Rolle der Flotte thematisiert, speziell ihre Bedeutung für die Sicherung von Handelswegen 176 Als fünftes Sachgebiet, in dem ein Rhetor, der eine symbuleutische Rede verfertigen möchte, Aristoteles zufolge bewandert sein sollte, nennt er die Gesetzgebung (νομοθεσία) 177 Seine Ausführungen hierzu sind in weitaus höherem Grade durch generelle Überlegungen gekennzeichnet, wie er sie auch in seinen Politika anstellt, als die zu den zuvor behandelten Sujets, weisen aber durchaus auch Schnittmengen mit populären Positionen auf Letzteres gilt insbesondere für die Ansicht, dass die νόμοι stets in Verbindung mit der jeweiligen πολιτεία zu betrachten seien: Hintergrund ist die verbreitete Vorstellung, dass eine πολιτεία wesentlich durch die νόμοι konstituiert
169 Zur Kritik an der verstärkten Verwendung von Söldnern und zur Tragweite jener Thematik im politischen Diskurs Burckhardt 1996, bes 210–214 224–226 170 Diesbezüglich in Hinsicht auf die attische Demokratie Meier 1990; konkret mit Blick auf die spezifische Art der Seeherrschaft der Athener Galpin 1983/4, bes 107 109; Ceccarelli 1993; Brock 2009 171 Aristot rhet 1360 a 12–17 172 Daneben spricht er freilich auch die Ausfuhr von Lebensmitteln an (Aristot rhet 1360 a 13 f ), die in Athen vorrangig Olivenöl betrifft 173 Zur zentralen Rolle dieser Thematik in der attischen Volksversammlung Hansen 1991/5, 162; Salmon 1999, bes 158; Bissa 2009, 169–191; Engen 2010, 54; speziell zur Art und Weise, wie der Gegenstand dort rhetorisch nutzbar gemacht wird, Moreno 2007, 209–308 174 Gemeint sind insbesondere die ἔμποροι und die ναύκληροι, die auch in der attischen Rhetorik verschiedentlich thematisiert werden bzw in Prozessreden als Akteure begegnen; zu dem Komplex Whitby 1998, 121 f ; Moreno 2007, 242–285 175 Zur für die Versorgung der Stadt Athen elementaren Bedeutung der Getreideeinfuhren u a Garnsey 1985, bes 62; Whitby 1998, 102 f ; Pébarthe 2016, 223 f ; zu den Überlegungen des Aristoteles und deren Parallelen zu den realen Regelungsbereichen Bresson 2016, 46 55 176 Hierzu mit Stellangaben auch aus für die Thematik einschlägigen Gerichtsreden Ober 1978, 121 f 177 Aristot rhet 1360 a 18–37
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werde,178 wie auch die Auffassung, dass Stellung und inhaltliche Ausgestaltung der Gesetze ausschlaggebend dafür seien, welcher Typus politischer Ordnung sich in einer Stadt überhaupt zu etablieren vermöge 179 Wer neue Gesetzesvorschläge unterbreitet, muss entsprechend deutlich machen, dass sie nicht allein dem aktuellen Handlungsbedarf, sondern auch den Prämissen der jeweiligen πολιτεία Genüge tun 180 Eine Diskrepanz ist indes darin zu sehen, dass der Philosoph solches grundsätzlich reflektiert, wohingegen die attischen Redner sich auf die athenische Demokratie der eigenen Zeit konzentrieren Dies mag auf den ersten Blick erwartungsgemäß und unspektakulär scheinen, zieht aber weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit dem Gegenstand nach sich: So nimmt unser Autor von seiner generellen Warte aus eine deutlich geringere Stabilität der aktuellen politischen Ordnungen an, als die Redner es für Athen praktizieren 181 Er thematisiert sowohl äußere als auch innere Bedrohungen, mit denen ein Rhetor nach seinem Dafürhalten vertraut sein sollte 182 Der Stagirite setzt voraus, dass der Betreffende im Normalfall zugunsten der aktuellen Verfassung plädiert, hält es aber nicht für ausgeschlossen, mögliche Modifikationen anzudeuten und andere Verfasstheiten zumindest zur Sprache zu bringen 183 Unter dieser Maßgabe betrachtet er es auch als instruktiv, wenn der Betreffende sich nicht auf die Beschäftigung mit den Gesetzen der eigenen Stadt beschränkt, sondern zusätzlich solche anderer Poleis studiert 184 Aristoteles wählt hier wie in der ‚Politik‘ eine komparatistisch ausgerichtete, polisübergreifende Perspektive, bei der die Identifikation mit einer konkreten 178
Grundsätzlich zum Bedeutungsgehalt des Begriffs πολιτεία und seiner Verwendung bei Aristoteles Bordes 1982, bes 435–454 179 In der ‚Politik‘ stellt er dazu dezidierte Überlegungen an; speziell für seine Differenzierung zwischen ‚πολιτείαι‘ und ‚παρεκβάσεις‘ ist dort – neben der Frage nach der Orientierung an Gemeinwohl oder Partikularinteressen – die Stellung der Gesetze von fundamentaler Bedeutung; dazu Aristot pol 1279 a 17–21; 1292 a 32 180 So Aristot rhet 1360 a 23–30; auch Anaximenes geht davon aus, dass der Antragsteller deutlich macht, dass der Gesetzesvorschlag mit der jeweiligen politischen Ordnung kompatibel ist; siehe Anaxim rhet 1424 b 15–18 Im Unterschied zu Aristoteles, aber in stärkerer Übereinstimmung mit der attischen Demokratie der Zeit betont er überdies, dass der Antrag nicht im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen stehen dürfe; siehe Anaxim rhet 1424 b 17 181 Dies resultiert aus seiner Fokussierung der Stasisproblematik, die namentlich in den Büchern vier bis sechs der ‚Politik‘ im Vordergrund rangiert Zur hohen Stabilität der attischen Demokratie im vierten Jahrhundert siehe u a Rhodes 2010 182 Zu dem Komplex Aristot rhet 1360 a 20–30 183 Analog seinen Überlegungen in der ‚Politik‘ rät er besonders zu Maßnahmen, die – wie er anhand der Demokratie exemplifiziert – darauf zielen, Extreme zu vermeiden und die ‚Mitte‘ anzustreben; siehe Aristot rhet 1360 a 27–30 184 Aristot rhet 1360 a 30–34 Im Hinblick auf Athen wissen wir, dass die Zitation von Gesetzen anderer Poleis vor Gericht unzulässig war (vgl etwa Demosth 20,111) Dass solche ausgerechnet im Kontext der Nomothesie Erwähnung finden konnten, ist nachgerade wenig wahrscheinlich Um dort zugunsten eines Gesetzesvorschlages zu plädieren, waren andere Argumente vonnöten (dazu unten) Die einschlägigen Ausführungen zum Gesetzgebungsverfahren bei den epizephyrischen Lokrern in der demosthenischen Anklagerede gegen Timokrates (Demosth 24,139–143) stehen dem nicht entgegen Dort handelt es sich nicht um ein legalistisches Argument, sondern um ein
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Stadt und deren Verfasstheit von untergeordneter Bedeutung ist Für den attischen Redner hingegen ist letzteres essentiell Des Weiteren vertritt der Verfasser der vorliegenden Schrift die Position, dass Redner in symbuleutischen Reden nicht nur gesetzeskundig sein müssten, um in den unterschiedlichen Politikbereichen Vorschläge unterbreiten zu können, die mit dem rechtlichen Rahmen konform gehen, sondern in Sonderheit auch, um im Bereich der Gesetzgebung kompetent initiativ tätig zu werden Damit geht er davon aus, dass die Nomothesie den Aufgabenbereichen angehört, welche der Volksversammlung zugeordnet sind In der attischen Demokratie seiner Zeit sind dahingehend gewisse Einschränkungen zu verzeichnen, indem diese Funktion einem Nomothetengremium übertragen wird 185 Gleichwohl obliegt die Entscheidung, ob Nomotheten eingesetzt und ihnen ein bestimmtes Gesetz – sei es ein bestehendes zu Revisionszwecken oder ein Neuantrag – vorgelegt wird, noch immer der Volksversammlung 186 Auch die entsprechende Beratung findet in der Ekklesie statt, so dass hier nach wie vor Betätigungsmöglichkeiten für Redner gegeben sind, ähnlich wie Aristoteles sie voraussetzt 187 Allerdings sind wir über die betreffenden Details quellenbedingt nur rudimentär informiert 188
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historisches Paradigma zum Sujet der Stabilität von νόμοι; zu jenem Motiv und seiner Historie Itgenshorst 2014, 189 Vgl Demosth 20,89 91; 24,20–23; zu dem Verfahren Hansen 1985 Diese Veränderung reflektiert Aristoteles – ebenso wie andere Reformen an der institutionellen Ordnung – nicht eigens; vgl Eucken 1990, 286–289 John Atkinson vertritt demgegenüber die Auffassung, dass die Differenzierung zwischen νόμοι und ψηφίσματα im vierten Jahrhundert keineswegs so stringent gewesen sei, wie im Rahmen der Nomothesiereform angedacht, und gelangt so zu der Einschätzung, dass die Annahme des Aristoteles, dass in der ‚neuesten‘ Form der Demokratie alle wesentlichen Entscheidungen über Volksbeschlüsse herbeigeführt würden, in weiten Teilen auch auf das Athen des vierten Jahrhunderts anwendbar sei; siehe Atkinson 2003, 21–24 28 f 45 Eine mittlere Position, die Kontinuitäten und Wandel gleichermaßen würdigt, verficht Bleicken 1987, 264–268 Die Differenzen zwischen altem und neuem Prozedere und im Verbund damit die grundlegenden Unterschiede zwischen νόμοι und ψηφίσματα betont dagegen u a Hansen 1978, bes 315–317; ders 1979, 52 f Zu der mittlerweile mehrheitlich vertretenen These, dass die Volkssouveränität im Bereich der Gesetzgebung durch die Neuregelung keinesfalls eingeschränkt worden sei, u a Piérart 2000, 244; zu den Aufgaben der Volksversammlung in dem Zusammenhang auch MacDowell 1975, 66; Rhodes 2003, 129 Selbst die diesbezügliche Antragstellung ist Einzelpersonen anheimgestellt, die ihren Vorschlag vor der Volksversammlung vertreten müssen; dazu mit Quellenbelegen Hansen 1991/5, 172 Zur Bedeutung der Mündlichkeit im Gesetzgebungsprozess auch noch des vierten Jahrhunderts Sickinger 2002, 150 Demosthenes verweist auf das Verfahren, indem er in einer Demegorie vorschlägt, ein solches Gremium einzusetzen, um die Aufhebung von Gesetzen zu veranlassen, die ihm unter außenpolitischen Gesichtspunkten kontraproduktiv scheinen; siehe Demosth 3,10–13; zu der Stelle Buchanan 1962, 97–100 Über den Hintergrund jenes Vorschlages ist in der Forschung viel disputiert worden; gedacht ist wohl insbesondere an eine gesetzliche Bestimmung, welche die Verwendung von Mitteln aus dem Stratiotikon auch für die Finanzierung von Theorika gestatte; dazu mit Verweisen Harris, E M 1996, 60–62
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Generelle Aussagen zur Τhematik der Nomothesie begegnen auch in den tradierten Reden, dort aber vorrangig im Bereich der Forensik, namentlich im Kontext von γραφαὶ νόμον μὴ ἐπιτήδειον θεῖναι Dies ist bis zu einem gewissen Grad der Überlieferung geschuldet, bei der Demegorien mit außenpolitischer Schwerpunktsetzung prädominieren, hat aber auch mit den spezifischen Funktionen von Volksversammlung und Gerichten in Athen zu tun Eine Differenzierung zwischen Gegenständen, die im Rahmen von Gesetzen mit dauerhaftem Geltungsanspruch behandelt werden, und solchen, die situativen Beschlüssen überlassen bleiben, nimmt Aristoteles nicht vor, was wiederum damit einhergeht, dass er an der Stelle von einem einheitlichen Beschlussverfahren ausgeht Mit Blick auf Athen folgt er damit der älteren Praxis – nimmt diese allerdings als gegeben hin, ohne sie wie in der ‚Politik‘ kritisch zu kommentieren 189 Eine Besonderheit bei seiner Präsentation der Sujets für Beratungsreden ist darin zu sehen, dass er den Kultus als Themenfeld nicht berücksichtigt Darin unterscheidet er sich von Anaximenes, der Kultpraktiken definitiv als einen Themenbereich für Demegorien vorsieht,190 aber auch von der politischen Praxis Dass Aristoteles in der Hinsicht vom common sense abweicht, ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: Einmal ist es seiner Konzentration auf die großen und unter rhetorischen Gesichtspunkten relevanten Aufgabenfelder der Politik geschuldet Bei einer solchen Betrachtung erscheint der Kultus als nachgeordneter Bereich, der sich – wenn es nicht gerade um die Einführung und Ausgestaltung neuer Poliskulte geht – gut unter andere Politikfelder subsumieren lässt, darunter das der staatlichen Finanzen Prozeduren wie die Auslosung von Kandidaten für die Priesterfunktionen bieten keinen Stoff für Beratungsreden und sind insofern für unseren Autor nicht von Belang In der Realpolitik begegnet verbreitet das Phänomen, dass religiöse Momente zu Legitimationszwecken angeführt werden,191 was aber bei einer Vielzahl von innen- wie außenpolitischen Gegenständen möglich und nicht auf ein bestimmtes Sachgebiet beschränkt ist Im Umgang mit dem Kultsujet kommen Überzeugungen zum Tragen, die für die politische Philosophie des Aristoteles kennzeichnend sind 192 Religiöse Aspekte als gemeinschaftsstiftende Faktoren finden sich bei ihm, anders als in der Poliswirklichkeit, kaum 193 Selbst für die Konzeption des Bürgers sind sie bei ihm nicht essentiell, da
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In der ‚Politik‘ moniert er hingegen, dass die Volksversammlung im ‚neuesten‘ Typ der Demokratie – motiviert durch Redner, die er als ‚Demagogen‘ zeichnet, sämtliche Entscheidungskompetenzen an sich ziehe und alle Entscheidungen in Form situativer Beschlüsse handhabe; siehe Aristot pol 1292 a 7–9 29 f ; 1317 b 32 f ; dazu u a Langmeier 2018, 390–410; vgl mit Hinweis auf Parallelen zum Tyrannen-Typus Jordović 2011, 40 f 190 Anaxim rhet 1423 a 23 29–32; zu der Thematik Chiron 2007, 92 191 Dazu etwa Willey 2019, 275–277 192 Zum geringen Anteil religiöser Fragen an seiner politischen Philosophie Geiger 2013, 26–37 193 Zu dem Befund Piepenbrink 2020
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er die Polisgemeinschaft nicht als Kultgemeinschaft definiert 194 Kultgemeinschaften begreift er vorzugsweise als ‚vorpolitische‘ Gruppierungen ohne dezidiert politische Relevanz Wenn er die politisch-integrative Kraft religiöser Praktiken anspricht, dann geschieht dies – anders als im politischen Betrieb – nicht mit affirmativer Intention, sondern eher kritisch mit Blick auf Herrschaftsträger, die kultische Aktivitäten in diesem Sinne instrumentalisieren 195 Eine dezidierte Parallele zur rhetorischen Praxis ist hingegen in der Konzeption des demegorischen Redners als ‚Ratgeber‘ (σύμβουλος) auszumachen, der sich nachgerade dadurch auszeichnet, dass er in höherem Grade als die Mehrzahl der Bürger über Sachwissen verfügt und entsprechende Informationen zur Verfügung zu stellen vermag 196 Im Unterschied zu den aktiven Rhetoren, welche die Rolle des Redners stets ambivalent bewerten,197 problematisiert Aristoteles deren Wirken nicht, diskutiert demzufolge auch nicht, inwieweit es für einen Redner opportun ist, in seiner Selbstdarstellung sachliche Expertise herauszustreichen 198 Auch Fragen der Machtverteilung innerhalb der Polis, die sich hieran anschließen können, sind für ihn an der Stelle nicht relevant In der rhetorischen Praxis ist jener Komplex hingegen von elementarem Belang: Sprecher trachten hier möglichen Vorbehalten zu begegnen, indem sie den Demos zu überzeugen suchen, dass sie sich tatsächlich auf die Präsentation von Vorschlägen beschränken und keinesfalls in die Entscheidungsbefugnisse des Volkes eingreifen 199 Auch die normative Kompetenz, welche die Bürger in die Lage versetzt, zu beurteilen, inwieweit Ratschläge mit den Prämissen des Gemeinwesens kohärent sind, reklamieren sie nicht für sich persönlich, sondern machen sie gemeinhin demonstrativ beim Demos fest 200 Von der Beraterfrage abgesehen, geht Aristoteles der Stellung und Rolle der Redner nicht vertieft nach Debatten um Status und Funktion der Rhetoren, wie sie in Athen im Kontext von Kontroversen um das Verhältnis von πολιτευόμενοι und ἰδιῶται auftreten und sich in der Selbstinszenierung der Redner markant niederschlagen, greift er
194 Dies konstatiert und moniert Blok 2005, 8 f ; dies 2017, 13–21 195 Solches diskutiert er beispielsweise im Hinblick auf die kleisthenische Phylenreform, die er nicht unter integrativen, sondern vorrangig unter machtpolitischen Gesichtspunkten reflektiert; siehe Aristot pol 1319 b 20–25 Zugleich bespricht er es unter den Mitteln zur Stabilisierung einer Tyrannis; dazu Aristot pol 1314 b 36 – 1315 a 4 196 Zu Aristoteles etwa Aristot rhet 1358 b 7–21; 1362 a 17 f ; zu den attischen Rhetoren u a Demosth 1,16; 8,75; zu jener Vorstellung bei letzteren Rhodes 1986, 141; Ober 1989, 107; Lewis, S 1996, 102– 109; Welwei 1996, 45; Yunis 1996, 12–15; Piepenbrink 2015, bes 9 ; zu diesbezüglichen Parallelen zwischen Aristoteles und den zeitgenössischen Rednern auch Cammack 2019 197 Dazu mit Belegen Ober 1989, 105–108 187–191 198 Vgl hierzu unten Kap 7 1 2 199 Zu dem Umstand mit Verweisen auf einschlägige Quellenstellen Montgomery 1983, 18–20; Piepenbrink 2015, 9 200 Damit rekurrieren sie auf den Anspruch des Demos, als Repräsentant der Werte zu fungieren, auf denen die Polisgemeinschaft basiert; dazu Balot 2009, bes 278
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nicht auf 201 Gleichwohl verzichtet er darauf, an der Stelle demokratieskeptische Vorstellungen zu verarbeiten, wie sie sich in seiner ‚Politik‘ finden: So rekurriert er weder auf den Demagogentopos – nicht einmal als mögliches Kampfinstrument im rhetorischen Agon –202 noch auf seine Überlegungen zum πολιτικός als einem spezifischen Politikertypus, der sich grundlegend von allen Funktionsträgern der zeitgenössischen Demokratien unterscheidet 203 Eine partielle Differenz zwischen Aristoteles und den attischen Rednern seiner Zeit ist schließlich in der Einstellung zum Einsatz von Paradigmata, insbesondere solchen historischer Provenienz, in symbuleutischen Reden zu sehen Der Stagirite schließt den Umgang mit ihnen keinesfalls aus, erkennt gar ausdrücklich an, dass Beispiele gerade in diesem Typus der Rede oft Verwendung fänden, sich großer Beliebtheit erfreuten und durchaus erhebliche Überzeugungskraft zu entfalten vermöchten 204 Zugleich aber gibt er zu bedenken, dass historische exempla im Normalfall weniger passgenau und damit tendenziell weniger überzeugend seien als andere Typen von Argumenten,205 wenn es gilt, politische Situationen treffend zu deuten und geeignete Handlungsoptionen aufzuzeigen 206 In den Demegorien seiner Zeit wird demgegenüber in hohem Grade mit Vergangenheitsbezügen gearbeitet 207 Anders als von Aristoteles insinuiert, ist das Bestreben der Rhetoren dort weniger darauf gerichtet, sachadäquate Beispiele anzuführen, als vielmehr positiv besetzte exempla zu präsentieren, die eine hohe Popu-
201 Zu dem Komplex mit Belegen Perlman, S 1963, bes 328 f ; ders 1967, bes 163 166; Seager 1973, 19; Hansen 1983, bes 43; Mossé 1984, bes 196; dies 1995, bes 67; Ober 1989, bes 111 f ; Piepenbrink 2001, 138 f ; Wohl 2009, 164; zur spezifischen Konzeption des ἰδιώτης in dem Zusammenhang Rubinstein 1998, bes 126 mit Hinweisen auf weitere Literatur 202 Den Terminus ‚δημαγωγός‘ verwendet er in der ‚Rhetorik‘ lediglich an einer Stelle, an der er zudem nicht originär formuliert, sondern eine Aussage Aesops referiert; siehe Aristot rhet 1393 b 24 203 Sie entsprechen im Wesentlichen der Konzeption des ‚ἀνὴρ ἀγαθός‘, die Aristoteles in seinen Ethiken entwirft, zeichnen sich insbesondere durch φρόνησις und προαίρεσις aus und damit durch eine konsequente Wert- und Vernunftorientierung sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, situationsadäquat verantwortungsvoll zu entscheiden; zu dem Komplex mit Stellenangaben Piepenbrink 2001, 81 f ; Rosler 2013, 147–149 204 Aristot rhet 1368 a 29–31; 1418 a 1 f Dies deckt sich mit Beobachtungen der Forschung zu Demosthenes; dazu bereits Blaß 21893, 206; zum Standpunkt des Aristoteles vgl Benoit 1980, 191 f 205 Er denkt hier nicht ausschließlich an Enthymeme, sondern auch an spezifische Typen von παραδείγματα wie ‚Gleichnisse‘ oder ‚Fabeln‘, die sich deutlich flexibler der jeweiligen Situation anpassen lassen als historische Beispiele, gegebenenfalls gar eigens darauf ausgerichtet kreiert werden können Zugleich aber räumt er ein, dass Verweise auf reales Geschehen gerade in Demegorien gegenüber fiktiven Beispielen Vorteile aufweisen; zu dem Komplex Aristot rhet 1393 a 28 – 1394 a 18; dazu Natali 1989, 143 f ; Klein, J 1996, Sp 61 f 206 Aristot rhet 1394 a 2–8; hierzu Price, B J 1975, 49 Anaximenes spricht in seiner Rhetorik ebenfalls den Aspekt der Passgenauigkeit an, betont aber stärker noch das Moment, dass es sich um bekannte exempla handeln müsse; Anaxim rhet 1439 a 1–4; dazu Piazza 2011, 310 207 Dies steht im Kontext einer zunehmenden Vergangenheitsorientierung, die vorrangig zur historischen Fundierung der eigenen Ordnung eingesetzt wird; zu dem Komplex grundsätzlich Mossé 1979; Walker, H J 1995; Hintzen-Bohlen 1996; speziell im Hinblick auf die öffentliche Rhetorik Jost 1936; Pearson 1941; Perlman, S 1961; Allroggen 1972; Nouhaud 1982; Piepenbrink 2001, 123–132
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larität genießen und einen ebensolchen Identifikationswert aufweisen 208 Sie dienen eher der Explikation von Werten als der sachlichen Präzisierung von Handlungsoptionen 209 Dieser Art des Vorgehens und damit jenem Umgang mit der eigenen Vergangenheit, den wir heute gern als ‚intentionale Geschichte‘ charakterisieren,210 schenkt Aristoteles wenig Aufmerksamkeit,211 wobei sich Einstellungen manifestieren, die auch in den Politika zu greifen sind: Werthaltungen, die gemeinschaftsstiftend wirken, sind in seinem politischen Denken nicht prioritär Er geht von einer hohen Konflikthaftigkeit innerhalb der sozialen Interaktion in der Polis sowie der Existenz von Gruppierungen mit konkurrierenden Interessen aus, die leicht in Staseis münden können Eine Stabilisierung von Gemeinwesen ist angesichts dessen seiner Überzeugung nach nicht durch die Betonung gemeinsamer Bezugspunkte – weder religiöser Momente noch außenpolitischer Zielsetzungen oder eben fundierender historischer Ereignisse – hinreichend möglich, sondern bestenfalls durch einen ‚Interessenausgleich‘ zu erlangen, der divergierende Vorstellungen und Bedürfnisse auszutarieren sucht 212 In der ‚Politik‘ kommt hinzu, dass er mit Blick auf die Geschichte der Poleis eine Entwicklung voraussetzt, die zu Veränderungen in den Handlungsbedingungen geführt habe,213 was Rekurse auf frühere Phasen erschwert 214 Zu Legitimationszwecken präferiert er hier eher philosophische als historische Begründungsformen 215
208 Dazu Worthington 1994, bes 111; Yunis 2000, 114 f ; Carey 2005, 78 f ; Piepenbrink 2012, bes 119; Steinbock 2013a, bes 343; Westwood 2017, bes 73; Canevaro 2019b, 138 f 145–151 Das schließt freilich nicht aus, dass einzelne Beispiele im rhetorischen Schlagabtausch durchaus unterschiedlich gedeutet und in ihrem Aussagewert für die Gegenwart zuweilen auch hinterfragt werden können; dazu Hesk 2012; Steinbock 2013, bes 98 209 Zudem werden sie eingesetzt, um das Auditorium emotional anzusprechen; hierzu am Beispiel der exempla aus der ‚Kranzrede‘ des Demosthenes Katula 2016, 137–142 210 Zu jenem Konzept Gehrke 2014, bes 4–8 mit Verweisen auf zahlreiche vorausgegangene Arbeiten Gehrkes zu dem Gegenstand 211 Entsprechend ist etwa auch die Verargumentierung von Mythen als Komponenten des kulturellen Gedächtnisses für ihn nicht von Interessse; zur Relevanz dieses Phänomens im klassischen Griechenland – speziell in der Kommunikation im Bereich der zwischenstaatlichen Politik – hingegen u a Flaig 2005, 233–240; Chaniotis 2009, bes 151–156; Hölkeskamp 2009, 28–36; Patterson, L E 2010, 45–82; Osmers 2013, bes 335–342 212 Jener Gedanke findet sich in der ‚Politik‘ besonders in seinen Überlegungen zur ‚mittleren‘ Verfassung bzw zur ‚Mischung‘ von Verfassungen resp Verfassungselementen; hierzu Johnson 1988; Lintott 2000, 165 f ; ders 2018, 41–54; Balot 2015, 105–109 213 So nimmt er etwa an, dass das politische Partizipationsbedürfnis der Bürger im Verlaufe der Zeit massiv zugenommen habe, so dass Königsherrschaften oder Aristokratien, die dem nicht entsprächen, keine hinreichende Akzeptanz mehr fänden; dazu mit Belegen Barceló 1992, bes 116 f ; Bates 1997, bes 203–206; Piepenbrink 2001, 42–44 214 Aristoteles demonstriert hier eine stärker ausgeprägte Sensibilität für Anachronismen, als sie sich bei den attischen Rednern im Normalfall findet 215 Dazu Piepenbrink 2001, 51–66
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2 2 3 Epideiktische Reden Große Aufmerksamkeit widmet der Philosoph dem Genre der epideiktischen Rede,216 das im intellektuellen Rhetorikdiskurs der Zeit gesteigertes Interesse erfährt und namentlich von Isokrates forciert wird,217 dessen Arbeiten den Rezipienten des Aristoteles offenbar gut bekannt sind So zitiert der Stagirite nicht nur aus dessen Werken, sondern arbeitet auch mit zahlreichen Anspielungen auf sie, die entsprechende Vorkenntnisse insinuieren 218 In der breiteren Öffentlichkeit des zeitgenössischen Athen jedoch stoßen jene Reden – von den ἐπιτάφιοι λόγοι einmal abgesehen, die unter den Bürgern aber wohl eher mit dem Sujet des zeremoniellen Komplexes, in den sie integriert sind, assoziiert werden als mit der Thematik der Rede – auf deutlich schwächere Resonanz Im Alltag der Polis sind sie signifikant weniger präsent als die übrigen Formen 219 Das genuine Interesse des Aristoteles gilt auch hier der Bestimmung von Gattungsspezifika sowie der Überlegung, wie ein Rhetor für dieses Genre geeignete Enthymeme formulieren kann Die Hauptintention derartiger Texte macht unser Autor darin aus, Personen mit Lob resp Tadel zu bedenken 220 Im Zentrum sieht er dabei Einzelpersonen, die sich durch Merkmale auszeichnen, die in der Öffentlichkeit hohe Wertschätzung genießen 221 Er unterscheidet drei Subgattungen: den ‚ἔπαινος λόγος‘, der die ‚Größe der Tugend‘ (μέγεθος ἀρετῆς) expliziere,222 das ‚ἐγκώμιον‘, das der Präsentation herausragender bereits vollbrachter Taten diene,223 sowie die ‚Selig- und Glücklichpreisung‘ (μακαρισμὸς καὶ εὐδαιμονισμός) 224 Jene Gliederung beruht – wie in der Forschung bereits gezeigt wurde – auf einer Differenzierung, welche der Verfasser der vorliegenden Schrift in seinen Ethiken vornimmt und die auf Reflexionen zu 216
Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Passagen, in denen er sich explizit hierzu äußert, relativ knapp gehalten sind – im Zentrum steht der Abschnitt Aristot rhet 1367 b 28–1368 a 29 –, was u a damit zu tun haben dürfte, dass es sich, wie er selbst betont, um ein vergleichsweise neues Sujet handelt Einen Überblick über seine Überlegungen zu jenem Genre gibt Yunis 2018, XXVII– XXXII 217 Zu dessen Definition dieses Redetypus Pepe, C 2013, 74–78 218 Dies deckt sich mit der in der Forschung mittlerweile gängigen Position, dass die Reden des Isokrates nicht allein dessen Schüler adressieren, sondern darüber hinaus ein breiteres gebildetes Publikum ansprechen möchten, das entweder entsprechenden Vorträgen beiwohnt oder die Reden bereits liest; speziell zu letzterem Usener 1994, 74–97; dies 2003, bes 21 f 219 Ähnlich Zinsmaier 1999, 375 220 Aristot rhet 1358 b 12 f Hinsichtlich der hierzu verwendeten Topoi ergeben sich – bei Aristoteles wie in den erhaltenen Reden – Überschneidungen mit der forensischen Rhetorik; zu dem Komplex mit Blick auf die praktische Beredsamkeit Conley 2007, 235 221 Unter Anwendungsgesichtspunkten erwähnt er hingegen auch Beispiele, in denen die Stadt resp ihre Bürger Gegenstand des Lobes sind, so die Schlachten bei Marathon oder Salamis; siehe Aristot rhet 1396 a 12 f 222 Aristot rhet 1367 b 28 f 223 Aristot rhet 1367 b 29 f 224 Aristot rhet 1367 b 34–36
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der Frage basiert, aus welchen Gründen Menschen Lob erfahren 225 Die letztgenannte Untergattung findet keine unmittelbare Entsprechung in der rhetorischen Empirie Das ἐγκώμιον dagegen hat illustre Vorläufer in der Dichtung und ist mit der agonalen Kultur, dem Gedanken des Wettkampfes und der Prämierung von Siegern eng verbunden 226 Die Überlegungen des Philosophen zielen vornehmlich auf den ἔπαινος λόγος, der zu seiner Zeit gerade in elitären Zirkeln verstärkt an Bedeutung gewinnt, tangieren daneben aber auch das ἐγκώμιον Hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung jener beiden λόγοι ist eine markante Kongruenz zwischen den aristotelischen Reflexionen und gängigen Einstellungen darin zu sehen, dass die Eigenschaften, die als lobenswürdig betrachtet werden, multipel sind Anders als später im römischen Kulturkreis beschränken jene Qualitäten sich nicht auf ein bestimmtes Handlungsfeld – etwa das des Politischen –, sondern sind in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens angesiedelt 227 Im Kontext der epideiktischen Rede beleuchtet unser Autor insbesondere, wie sich die entsprechenden Distinktionsmerkmale rhetorisch verarbeiten lassen Dazu nimmt er vor allem das Instrument der ‚Steigerung‘ (αὔξησις) in den Blick, mit dem sich nachdrücklich betonen lässt, dass die betreffende Persönlichkeit über die zu lobenden Eigenschaften in besonderem Maße verfüge und insofern potentielle Konkurrenten überrage 228 Ähnlich äußert sich Anaximenes 229 Dies korreliert mit der praktischen Handhabe in entsprechenden Texten, die gleichfalls von der Voraussetzung ausgehen, dass die Geehrten sich gewöhnlich nicht durch ‚Alleinstellungsmerkmale‘ auszeichnen, sondern durch Qualitäten, die von anderen nicht nur honoriert, sondern auch aktiv angestrebt werden, so dass der Betreffende üblicherweise nur graduell, nicht absolut herausragt 230 Letzteres gilt im Besonderen für Schriftzeugnisse, die – gleich dem ἔπαινος λόγος – die ἀρεταί der Betreffenden anvisieren Im ἐγκώμιον dagegen, welches eher die Taten fokussiert,231 kann nach Aristoteles auch betont werden, dass jemand
225 Aristot EE 1219 b 8–16; EN 1101 b 31–34: dazu Grimaldi 1980, 214; Rapp 2002a, 426 226 Einschlägig sind etwa die Epinikien Bakchylides’ und Pindars; zu dieser Tradition Vallozza 1994, Sp 1152 f ; Pernot 2015, 1; grundsätzlich zu dem Gegenstand Walker, J 2017, 89–91 227 Anders als in Rom wird ‚symbolisches Kapital‘ in Griechenland auf verschiedenen Feldern erworben; dazu Hölkeskamp 2018, 39 f Da sich die entsprechenden Überlegungen des Aristoteles teils auch auf Qualitäten beziehen, die sich in Gerichtsreden verargumentieren lassen, werden wir die Thematik an dieser Stelle nicht weiterverfolgen, sondern sie genreübergreifend unten im Abschnitt über soziale Werte (Kap 6 1–6 3) vertiefen 228 Aristot rhet 1368 a 10–29; zu dem Phänomen Calboli Montefusco 2004, bes 71–74; Pernot 2015, 87–90 229 Anaxim rhet 1428 a 1–4 230 So geht es in den einschlägigen Texten des Isokrates oder auch in vergleichbaren Schriften Xenophons beispielsweise gewöhnlich nicht darum, dass eine Person in einem exklusiven Verhältnis zu einer zentralen Gottheit steht und hieraus außerordentliche Qualitäten bezieht Distinktionsmerkmale solcher Art sind dem griechischen Kulturkreis der klassischen Zeit eher fremd 231 Aristot rhet 1367 b 29 f
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als ‚einziger‘ oder als ‚erster‘ (πρῶτος) etwas bewerkstelligt hat 232 Das entspricht der realen Popularität von Ätiologien wie auch der Wertschätzung des Typus des πρῶτος εὑρετής und vergleichbarer Gründergestalten 233 Die Zuordnung der einzelnen Schriften zu jenen Untergattungen ist realiter freilich nicht in jedem Fall zweifelsfrei möglich; zudem sind die Grenzen zwischen den Subgenres fließend – etwa indem in ἐγκώμια nicht selten typisierte Taten präsentiert werden, denen nicht per se Aufmerksamkeit gezollt wird, sondern die angeführt werden mit dem Ziel, zu dokumentieren bzw zu illustrieren, dass die fragliche Person einschlägige kollektive Werte vorbildlich verkörpere 234 Aristoteles ist sich dessen zweifelsohne bewusst: Auch er differenziert nicht streng, sondern lässt bei vielen seiner Aussagen zu dem Gegenstand Mehrfachzuordnungen zu 235 Geringere Aufmerksamkeit widmet unser Autor demgegenüber den Anlässen jener Reden – weder benennt er entsprechende Gelegenheiten im Poliskontext, noch beleuchtet er solche jenseits der Einzelpolis, etwa die panhellenischen Feste in Olympia oder Delphi, die spätestens seit dem fünften Jahrhundert prominente Orte für Redebeiträge dieser Art darstellen 236 Nicht von Interesse ist für ihn, in welcher Rolle eine zu lobende Person jeweils zu würdigen ist 237 Er fokussiert die zu preisenden Qualitäten, nicht jedoch die sozialen Konfigurationen, in denen sie verortet sind Des Weiteren hat er nicht etwa dezidiert Herrscherpersönlichkeiten im Blick, wie sie als Protagonisten mehrerer panegyrischer Reden des Isokrates begegnen 238 Folglich geht es ihm auch nicht um politische Plädoyers mit promonarchischem Charakter Hervorzuheben ist vielmehr, dass seine Überlegungen zu Intention und inhaltlicher Ausgestaltung jener Redegattung in auffällig geringem Maße politisch affiziert sind In dem Zusammenhang ist signifikant, dass er den ἐπιτάφιος λόγος, den wichtigsten Typus dieser Rede im zeitgenössischen Athen mit dezidiert politischen Implikationen, als Variante der epideiktischen Rede nicht diskutiert 239 232 Aristot rhet 1368 a 11 233 Zu ersteren Chassignet 2008; zu letzteren Baumbach 2001 234 Hierzu anhand der Chorlyrik des Bakchylides Mann 2000, 43; mit Blick auf den isokratischen ‚Euagoras‘ Vallozza 1994, Sp 1154 235 Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass er seinerseits an der Stelle Zuordnungen über weite Strecken vermeidet 236 Dazu Zinsmaier 1999, 376; Pepe, C 2013, 18 f 237 Hier ist ein Unterschied zu späteren hellenistischen wie auch römischen Beispielen zu erkennen, aber beispielsweise auch zu älteren griechischen Texten, die speziell dem Lob von Athleten gewidmet sind; zu letzteren Mann 2000, bes 43 238 Zu dem Komplex und der Frage nach der historischen Situierung jener Texte Eder 1995a, bes 155 166–173; Nippel 2017, 252 f 239 Dazu Loraux 1983/6, 78 unter Betonung der Unterschiede zwischen jenem attischen Genre und dem aristotelischen Verständnis der epideiktischen Rede; zu der Thematik auch Schiappa/Timmerman 1999, 201 Aristoteles zitiert zwar aus dem ἐπιτάφιος λόγος des Lysias (Aristot rhet 1411 a 30 – b 1; hierzu Dover 1968, 25 f ), jedoch nicht im Kontext der Gattungen, sondern im Zusammenhang mit der Bildung von Metaphern Weiterhin findet sich eine Anspielung auf den ἐπιτάφιος des
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Über die Gründe für den scheinbar apolitischen Charakter des Genres im Verständnis des Aristoteles ist in der Forschung verschiedentlich diskutiert worden In Erwägung gezogen wurde u a ein philosophischer Ansatz, der darauf abhob, dass der Autor bei der Konzeption der Gattung vor allem im Blick habe, Monita Platons entgegenzutreten, speziell dessen Vorwurf zu begegnen, die Rhetorik ziele vor allem auf ‚Schmeichelei‘ 240 Als politisches Argument wurde angeführt, dass der Stagirite als Nichtathener an den politischen Fragen der Stadt kein ausgeprägtes Interesse gezeigt habe 241 Weiterhin wurde die These vertreten, dass der Verfasser diesem Redetypus schlechterdings weniger Aufmerksamkeit gezollt habe als den übrigen 242 Schließlich wurde eine Neuausrichtung der Gattung vom Politischen zum Ästhetischen diagnostiziert 243 Mir scheint an der Stelle zudem die Fokussierung der Einzelperson als Gegenstand der Ehrung elementar, die Aristoteles aus einer elitären Haltung heraus praktiziert Sie ist gekennzeichnet durch den Rekurs auf traditionelle, tendenziell aristokratisch konnotierte Werte, welche der Philosoph für sich genommen kunstvoll würdigen möchte und die ihm prinzipiell konsensfähig scheinen Die Frage, inwieweit letzteres in der Praxis tatsächlich zutrifft und ein solches Anliegen mit den jeweiligen politischen Bedingungen kompatibel ist, wirft er nicht auf Er sieht dazu offenbar keine Veranlassung, da er diesbezüglich keine Komplikationen annimmt Wir werden im Verlauf der Untersuchung auf weitere Erscheinungen dieser Art stoßen Hinsichtlich des Politischen ist gleichwohl zu konstatieren, dass unser Autor den Poliskontext nicht explizit transzendieren möchte, wie es zeitgleich Isokrates oder Xenophon in einigen ihrer Schriften tun 244 Ein politisches Phänomen, welches Aristoteles auch in Bezug auf diese Gattung beleuchtet, ist das des öffentlichen Entscheidungshandelns: Er konstatiert, dass selbst die Verfasser epideiktischer Reden in einem kompetitiven Setting agieren, in dem es darum geht, Preise zu erringen, über deren Vergabe teils eine Jury aus Bürgern befindet, oder wo mitunter eine Wettbewerbssituation dergestalt gegeben ist, dass Redner um Aufträge für entsprechende Reden konkurrieren 245 Letzteres gilt in der Polis etwa
240 241 242 243 244 245
Perikles, die ihrerseits im Umfeld der Frage nach der Bestimmung größerer oder kleinerer ‚Güter‘ steht; siehe Aristot rhet 1365 a 30–33 Besonders markant praktiziert jener dies im Menexenos; siehe Plat Mx 234 c – 235 c; dazu Buchheit 1960, 94 f ; Zinsmaier 1999, 381; Pernot 2015, 73 Vgl Schiappa 1999, 203 f mit weiteren Literaturhinweisen So Cope 1867, 119 121; dazu Schiappa 1999, 204 In dem Sinne Schiappa/Timmerman 1999, 198–203 Hierzu etwa Kleinow 1981, bes 211–219 Dieses Phänomen bleibt in der Forschung gelegentlich unbeachtet, da es hier nicht um politisch relevante Entscheidungen zu gehen und die Aussage zudem in Kontrast zur Konzeption des Rezipienten als (bloßem) Zuschauer zu stehen scheint, die Aristoteles an früherer Stelle im Zusammenhang mit der Differenzierung der Redegattungen selbst vorgenommen hat (vgl Aristot rhet 1358 b 4–7); so etwa Oesterreich 1999, 223; Zinsmaier 1999, 384; Pernot 2015, VIII Zur Definition auch des θεωρός als κριτής dagegen Lockwood 1996, 69–76; Haskins 2004, 61; Schirren 2008,
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für die Reden im Zusammenhang mit den städtischen Begräbniszeremonien in Kriegskontexten 246 Aristoteles hebt das Entscheidungsmoment hier nachdrücklicher hervor, als es in der realen Rhetorik geschieht 247 Dort steht in jener Gattung eher der Gesichtspunkt der Kommemoration und Selbstvergewisserung im Vordergrund 248 Der spezielle Fokus des Aristoteles resultiert zum einen aus seiner Systematik, d h seiner spezifischen Verknüpfung von Redegattung und Beschlussfassung durch das jeweilige Auditorium,249 zum anderen aus der Tatsache, dass ihm der Agon gerade im Rahmen dieser Gattung für den Redner von außerordentlicher Attraktivität zu sein scheint, da jener sein Können hier in besonderem Maße anzubringen vermag 250 Das wiederum korreliert mit dem Umstand, dass das Auditorium seiner Überzeugung nach bei der Bewertung solcherlei Reden ästhetischen Maßstäben folgt Letzteres entspricht einer verbreiteten Wahrnehmung auch in der breiteren Öffentlichkeit und wird in der Polis durchaus toleriert In gleicher Weise wie bei Aristoteles wird dort mit Blick auf den Rezipienten jenes Genres gern von einem ‚Betrachter‘ (θεωρός) gesprochen,251 was Assoziationen mit dem Theaterpublikum weckt 252 Zuweilen allerdings wird ein derart ausgerichtetes Auditorium mit einer politisch aktiven Bürgerschaft kontrastiert – jedoch nicht in der Weise, dass epideiktische Reden diskreditiert würden, sondern dergestalt, dass die Sorge formuliert wird, die Bürger könnten die (politisch tendenziell passive) Haltung, in der sie Festreden rezipieren, auf den Umgang mit anderen Redegattungen übertragen Aussagen dieser Art begegnen namentlich im politischen Schlagabtausch in Demegorien, wenn Redner einander vorwerfen, derlei Tendenzen zu begünstigen und damit einer nicht unbedenklichen Entpolitisierung des Demos Vorschub zu leisten 253
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bes 203; Pratt 2012, 187–190; Pepe, C 2013, 146–152 Zur Frage, was in solchen Reden Gegenstand der Entscheidung sei, siehe Pratt 2012, 190–198 In den Fällen entscheidet die Volksversammlung auf Vorschlag des Rates, wer mit dem Auftrag betraut wird; vgl Thuk 2,34; Lys 2,1; dazu Pernot 2015, 83 Im Falle der ἐπιτάφιοι λόγοι ist der Wettbewerb unter den möglichen Rednern eher vorgelagert In der Vortrags- und Rezeptionssituation selbst ist er für die Mehrzahl der Beteiligten nur noch eingeschränkt relevant Die Rhetoren selbst betonen hier eher den Wettstreit mit den Vorgängern, welche in dem Genre in der Vergangenheit bereits reüssiert haben; vgl Thuk 2,35; dazu Carey 2000, 200 Dabei spielt auch die Bezugnahme auf Werte eine zentrale Rolle, wohingegen die Wertevermittlung in den von Aristoteles anvisierten epideiktischen Reden eher im Hintergrund rangiert; anders Hauser 1999 Dazu oben Kap 2 2 Dies hat vor allem mit den spezifischen stilistischen Anforderungen zu tun, mit denen er sich im dritten Buch auseinandersetzt Aristot rhet 1358 b 6; dazu Schiappa 1999, 200; Harris, E M 2013, 96; Pepe, C 2013, 84 Auch dieses erfüllt zugleich eine Richterfunktion; dazu Marshall/van Willigenburg 2004, 90–96; Roselli 2011, 27–31 Ein markantes Beispiel hierfür bildet Kleon; zu jenem exemplum Leppin 1999, 95; Oesterreich 1999, 226; Harris, E M 2013, 97 f ; ders 2017a, 60; Stein-Hölkeskamp 2013, 74; Villacèque 2013, 252
3 Handlungsmotive und soziale Konfigurationen 3.1 Motive rechten und unrechten Handelns Aristoteles streicht in seiner ‚Rhetorik‘ entschieden heraus, dass sich ein Redner um Glaubwürdigkeit zu bemühen hat, um seitens seines Auditoriums positive Resonanz zu erfahren 1 Dies stellt ganz besonders für die Akteure in Gerichtsverfahren eine zentrale Herausforderung dar – für die Kläger, aber mehr noch für die Beklagten Sie sind gehalten, dem Gericht zu kommunizieren, dass sie im Kontext der fraglichen Tat wie auch im Prozess adäquate Motive verfolgt haben resp verfolgen Unser Autor orientiert sich hier an der realen Gerichtspraxis Ausgehend davon stellt er eingehende Überlegungen zu möglichen Intentionen der Beteiligten an, wobei er sein Hauptaugenmerk auf die Tatverdächtigen richtet Dabei setzt er voraus, dass die Initiative zum Handeln gewöhnlich bei der betreffenden Person liegt 2 An der Stelle ist gegenüber der rhetorischen Praxis eine gewisse Verschiebung zu konstatieren: Die dortigen Akteure geben verbreitet an, reaktiv gehandelt zu haben 3 Dieses Vorgehen ist Aristoteles selbstverständlich geläufig; auch bei ihm ist etwa der Gedanke der Vergeltung prominent vertreten Sein Interesse aber gilt in höherem Grade der Einzelperson und deren Tun als den Interaktionen verschiedener sozialer Subjekte 4
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Seiner Selbsteinschätzung zufolge distanziert er sich damit von einigen Vertretern bisheriger rhetorischer Theorien, wobei er offenkundig solche sophistischer Provenienz im Blickfeld hat; siehe Aristot rhet 1356 a 10–12; von der rhetorischen Praxis allerdings divergiert er an der Stelle keinesfalls Das ist in hohem Grade inspiriert durch Vorstellungen, die er in den Ethiken entwickelt; zu dem Komplex aus altertumswissenschaftlicher Sicht Adkins 1960, 319–331; aus philosophischer Perspektive u a Meyer, S S 2006; Bobzien 2014, 93–97 So betonen sie – vorzugsweise in Proömien von Anklagereden –, sich durch das vorausgegangene Verhalten des Kontrahenten zu ihrer Aktion gezwungen gesehen zu haben; siehe beispielsweise Lys 3,3; 8,1 f ; 12,3; 13,1–3; 22,1 f ; Demosth 21,1 f ; 37,1 Dies geschieht teils aus demonstrativem Respekt gegenüber dem Gericht, folgt teils aber auch der ‚first-blow-rhetoric‘, die wir ansonsten aus außergerichtlichen Formen des Konfliktaustrags kennen Letztere wird vorrangig von Beklagten verwendet, um ihren Kontrahenten als den eigentlichen Aggressor zu zeichnen; zu dem Phänomen Dorjahn 1930, 170; Rieß 2012, 34 f Dies korreliert im Übrigen mit seiner Konzeption des ἦθος als rhetorisches Beweismittel, die ebenfalls auf die jeweilige Einzelperson bezogen ist
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Eine markante Konvergenz tut sich zunächst einmal darin auf, dass ‚Unrechttun‘ im Kontext der Forensik bei Aristoteles wie bei den Rednern stets Formen des Handelns meint, die mit Gesetzesverstößen einhergehen 5 In beiden Fällen bedeutet dies zuallererst, den verschrifteten νόμοι der Polis zuwiderzuhandeln 6 Bei der Bewertung deliktischen Tuns ist aus Sicht des Stagiriten essentiell, ob der Betreffende mit ‚Vorsatz‘ (πρόνοια) gehandelt hat oder nicht 7 Damit bringt er eine Kategorie in Spiel, die auch in der forensischen Praxis seiner Zeit elementar ist 8 Anders als von unserem Autor insinuiert, wird sie im attischen Gerichtswesen jedoch nicht tendenziell generalisierend auf beliebige Tatbestände angewandt, sondern vorzugsweise auf Fälle von Körperverletzung; namentlich solche mit Todesverfolge werden je nach Handlungsmotivation klassifiziert 9 Die Überlieferung bringt die entsprechende Differenzierung von Tötungsdelikten bereits mit Drakon in Verbindung;10 im von uns untersuchten Zeitraum manifestiert sie sich nachgerade in der Zuordnung der Fälle zu den einzelnen Gerichtshöfen 11 ‚Vorsätzliches‘ Handeln fasst der Philosoph an der Stelle weit – im Sinne eines Handelns mit ‚Vorbedacht‘, welches sowohl das Moment der ‚Freiwilligkeit‘ wie auch das der ‚bewussten Entscheidung‘ einschließt 12 Er stellt in dem Zusammenhang Überlegungen an, die stark an denen seiner Ethiken orientiert sind 13 Nichtsdestotrotz sind Parallelen zur realen forensischen Rhetorik zu konstatieren: Auch dort werden ‚freiwilliges‘ (ἕκων) Tun und Handeln ‚ἐκ προνοίας‘ eng verknüpft 14 Übereinstimmungen zeigen sich zudem in der Verwendung des Terminus ‚βούλησις‘ als Gegenstück zum
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Diesbezüglich zu Aristoteles Aristot rhet 1368 b 6–12; zu der Vorstellung Rapp 2002a, 431 Über einen generellen Terminus, der dem unseres ‚Verbrechens‘ entspricht, verfügt er dabei freilich ebensowenig wie die attischen Redner; dahingehend zu letzteren Hunter 2007, bes 16 f Zur Differenzierung verschiedener Typen von νόμοι bei Aristoteles wie den attischen Rednern s u Kap 4 1 Aristot rhet 1375 a 6 f ; an anderen Stellen verwendet er auch andere Begriffe; dazu unten Einschlägig sind z B Lys 3,37 41–43; 4,12; Demosth 21,43; 23,50; zu dem Komplex bereits Dorjahn 1930, 170–172 Hinzu kommt das τραῦμα ἐκ προνοίας, also die vorsätzliche Körperverletzung, bei der Ausmaß und Folgen der Verletzung gegenüber der Tätermotivation sekundär sind; zu dem Tatbestand MacDowell 1978, 114 f 123 f ; Phillips 2007, 74; ders 2008, 59 f Zu dem Gegenstand Loomis 1972, 86–89; Triantaphyllopoulos 1975, 49; Gagarin 1981, bes 148 161; Carawan 1998, 33–83; Schmitz, W 2018, 41–43 Für vorsätzliche Körperverletzungen – sowohl solche mit als auch ohne Todesfolge – ist dabei der Areiopag zuständig Aristot rhet 1368 b 9–12; zu dem Verständnis mit weiteren Belegen Rickert 1989, bes 165; Viano 2015a, 107 Zu seinen entsprechenden Überlegungen in der ‚Nikomachischen Ethik‘ Schaupp 2018, 92–99 mit weiteren Literaturhinweisen zu philosophischen Studien; hierzu speziell aus der Perspektive der juristischen Forschung Winiger 2013, 47–53 Dazu mit Belegen Grimaldi 1980, 212 f ; Carawan 1998, 38–41; Viano 2015, 72 f 82–85; speziell zur Differenzierung von ‚Freiwilligkeit‘ und ‚Unfreiwilligkeit‘ auch Demosth 21,43 f ; 23,47 f 50 79
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‚Zwang‘ (ἀνάγκη) 15 Selbst der Begriff der ‚προαίρεσις‘ – in dem Fall verstanden als eine bewusste und in guter Absicht getroffene Entscheidung – begegnet auch im Corpus der Rhetoren 16 Kongruenzen sind ferner in der Unterscheidung zwischen ‚Planung‘ (βούλευσις) und Ausführung einer Tat auszumachen, wobei ersterer übereinstimmend größeres Gewicht beigemessen wird Einschlägige Exempel finden sich in der rhetorischen Praxis in Fällen von Tötungsdelikten, bei denen Urheber und Ausführer der Tat nicht identisch sind und in denen über die Tatbeiträge resp Schuldanteile der Beteiligten gestritten wird 17 Daneben kommen Gegenbeispiele vor; insbesondere wenn der ‚Planende‘ eher die Rolle eines ‚Ratgebenden‘ hat, sind unterschiedliche Einschätzungen denkbar, die den Prozessierenden argumentative Spielräume eröffnen Dies reflektiert auch Aristoteles – unter der Fragestellung, welche Ursache, im Fall der Existenz mehrerer, als die größere anzunehmen sei 18 Im Einvernehmen mit der juristischen Praxis konstatiert er, dass die Parteien in der Einschätzung dieser Fragen – und verbunden damit nicht selten auch hinsichtlich der Titulierung des Delikts in der Anklageschrift – gern divergierten 19 Ungeachtet seiner Konzentration auf das Problem der Intentionalität würdigt der Stagirite, dass weitere Aspekte von Belang sind, um die Schwere eines Vergehens zu ermessen 20 So geht er einig mit der Praxis davon aus, dass zwischen der Schädigung von Einzelpersonen und Vergehen gegen die bürgerliche Gemeinschaft (κοινόν) zu
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Aristot rhet 1368 b 34–1369 a 4; zu einschlägigen Quellenbelegen aus den attischen Rednern siehe Dover 1974, 150–152 Inwieweit die Wiedergabe der Vokabel ‚βούλησις‘ mit ‚Wille‘ adäquat ist, ist sowohl in Hinsicht auf Aristoteles wie auch die attischen Redner in der Forschung strittig Kontrovers diskutiert wird insbesondere, inwieweit hier Vorstellungen von einem ‚freien Willen‘ resp von ‚Willensfreiheit‘ ausgemacht werden können; dazu mit Blick auf den Philosophen u a Guckes 2008; Frede 2011, 19 f ; Krewet 2011, 578 f ; Carus 2016, 115 f ; Rapp 2017, bes 78; Lienemann 2018, 27–36; mit Bezug auf den rechtlichen Bereich Maschke 1926, 137–155 Zum Verweis auf ‚Zwang‘ als Handlungsgrund in der Rhetorik Dorjahn 1930, 167 Zu jenem Terminus bei den Rednern mit Belegen Dover 1974, 152; Bertrand 2007, 248–251; Merker 2016, 161–257 In den Ethiken arbeitet Aristoteles mit einem elaborierteren Konzept, das aber auf jenen Basisvorstellungen gründet; hierzu Bertrand 2007, 238–248; Charpenel 2017, 186–208; de Sousa e Brito 2018, 211 f Insbesondere im Corpus der antiphontischen Reden begegnet diese Problematik verbreitet, so im Giftmordprozess gegen die Stiefmutter (Antiph or 1) oder auch im Prozess gegen den Choreuten (Antiph or 6) Zum Komplex der βούλευσις in Tötungsdelikten grundsätzlich Gagarin 1990, bes 82 90 Zur Differenzierung zwischen ‚Planen‘ (βουλεύειν) und ‚eigenhändiger‘ (αὐτόχειρ) Ausführung auch im Hinblick auf die Frage der Zuständigkeit von Gerichten Thür 1991, bes 56; Wallace 1991; Schubert 2000, 104 f ; Pepe, L 2015, 56 f Er rekurriert dazu auf den – real existenten – Redner Leodamas (dazu mit Belegen Rapp 2002a, 373), der in Anklagereden in einem Fall den Ratgeber, in einem anderen den Ausführenden prioritär beschuldigt habe Als Argument soll er in beiden Fällen angeführt haben, dass die Tat ohne das Wirken des Betreffenden nicht zustande gekommen wäre; siehe Aristot rhet 1364 a 19–22 Zu der Problematik Aristot rhet 1374 a 1 – b 23; zu den Parallelen zur juristischen Praxis Bertrand 2002, bes 161–163; Scheibelreiter 2018, 239–242 Zu dem Komplex, den er vergleichsweise ausführlich thematisiert, Aristot rhet 1374 b 24 – 1375 a 21
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unterscheiden sei 21 Gleichwohl gewichtet er dieses Moment schwächer, als es in Gerichtsprozessen gängig ist Ähnlich verhält es sich mit dem Grad der Schädigung des Opfers und dessen Bedeutung für die Zumessung eines Strafmaßes, die er seinerseits nur in Ausnahmefällen würdigt Als Ursachen für ‚Unrechttun‘ nimmt der Philosoph entweder ‚Schlechtigkeit‘ (κακία) oder ‚Unbeherrschtheit‘ (ἀκρασία) an,22 wobei erstere seinem Verständnis nach stärker zu ahnden ist Er systematisiert hier in höherem Grade, als es in realen Reden geschieht; des ungeachtet sind augenfällige Parallelen zur Praxis auszumachen Das gilt nicht zuletzt für die Einschätzung, dass als gravierendstes Motiv für Fehlverhalten die ὕβρις anzusehen sei Gleich seiner Umwelt begreift er diese als eine Disposition Einzelner, die sich aus einem Superioritätsgefühl speist und in massiver Respektlosigkeit gegenüber den Mitmenschen wie auch einem Mangel an Bereitschaft zur Einordnung in die Polisgemeinschaft zum Ausdruck kommt 23 Mitunter geht eine solche Haltung mit Gewalttaten einher, für die charakteristisch ist, dass sie das Opfer in massiver Weise in seiner ‚Ehre‘ beeinträchtigen In der Benennung der relevanten Tatbestände bleibt der Philosoph indes ebenso vage wie die attischen Rhetoren 24 Konsens zwischen ihnen besteht zudem dahingehend, dass sie jenes Phänomen vornehmlich bei jungen Männern verorten, welche der sozialen Elite entstammen 25 Eine entscheidende Differenz im Umgang mit hybridem Verhalten ist allerdings darin zu vermerken, dass in den Gerichtsreden die normative resp soziale Dimension im Vordergrund rangiert, indem sie die Übertretung kooperativer sozialer Werte herausstellen,26 wohingegen Aristoteles eher ein Defizit an Charakterfestigkeit des Einzelnen diagnostiziert und damit in höherem Grade individualisiert Er rekurriert hier auf Vorstellungen, die er in seinen Ethiken noch ausführlicher und mit höherer Präzision darlegt 27 21 22 23
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Dazu oben Kap 2 2 1 Aristot rhet 1368 b 12–14 Aristot rhet 1378 b 15 23–31; zur Auffassung des Aristoteles Cairns 1996, 4–8 Im Bereich der Gerichtsrhetorik ist die demosthenische Anklagerede ‚Gegen Meidias‘ einschlägig; siehe z B Demosth 21,1 74 109; dazu u a Cohen, D 1991, 163 Zu den markanten Konvergenzen im ὕβριςVerständnis Fisher 1992, bes 31–35; Rieß 2012, 125 Die religiösen Implikationen der Thematik, die sich namentlich in der Tragödie finden, kommen bei beiden gleichermaßen nicht zur Sprache; zu dem Aspekt u a Fisher 1979, 32 f Dies korreliert mit dem Umstand, dass der Tatbestand auch im Gesetz nicht eindeutig gefasst ist; zu dem Komplex Elster 2002, 7 mit Verweis auf weitere Forschungen Aristot rhet 1378 b 28 f ; dazu Fortenbaugh 1975/2002, 49–56; Charpenel 2017, 78–83; zum zeitgenössischen Athen Fisher 1998a, bes 75–77; Roisman 2005, bes 13 f 17; zu diesbezüglichen Parallelen zwischen Aristoteles und den Rednern Murray 1990, 139 Vgl Roisman 2005, 11–25; generell zur Konzeption des ‚schlechten‘ Bürgers, die über weite Strecken ebenfalls nach diesem Muster vorgenommen wird, Christ 2006, 15–44; Roisman 2019, 234– 237 Vgl Aristot EN 1104 a 10–27; 1145 a 16 f 35 f ; 1149 a 19; 1149 b 25; 1150 b 19–22 33 f Gleichwohl behandelt er die Thematik hier ausführlicher und in höherer Komplexität; zum Umgang mit ἀκρασία in den ethischen Schriften Price, A W 2006, bes 244; Zingano 2007, 167–173; Charles 2011, 189– 204
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Ähnlich verhält es sich mit seinen Überlegungen zum ‚Begehren‘ (ὄρεξις), dem er im Zusammenhang mit der Frage nach Handlungsmotivationen große Beachtung schenkt 28 Er differenziert dazu zwischen vernunftorientierten und unvernünftigen Formen des ‚Begehrens‘, wobei er letztere vielfach mit ‚Begierden‘ (ἐπιθυμίαι) in Verbindung bringt 29 Diese sind freilich auch in den tradierten forensischen Reden relevant 30 Der wesentliche Unterschied zu Aristoteles liegt an der Stelle wiederum darin, dass der Stagirite mit einem motivationstheoretischen ‚Überbau‘ operiert, der den Akteur primär als Einzelperson betrachtet, während die Redner eher das soziale Setting beleuchten, darunter die Zugehörigkeit zur Altersgruppe der jungen Männer 31 Im Hinblick auf letztere ist signifikant, dass der Philosoph wie die Redner sich überzeugt zeigen, dass jene einen Lernprozess zu vollziehen haben, um zu einer Verhaltensregulation zu gelangen, dass Aristoteles diesen aber eher als Charakterbildungs-, die Rhetoren hingegen als Sozialisationsprozess beschreiben Daneben aber besteht – bei Aristoteles wie bei den Rednern – die Vorstellung, dass Menschen sukzessive Verhaltensdispositionen herausbilden, die über längere Zeit konstant bleiben und ihr Tun nachhaltig prägen 32 Eine augenfällige Parallele ist in der Bestimmung adäquater Handlungsmotive zu sehen: So ist bei Aristoteles der Gedanke der Vergeltung grundsätzlich positiv konnotiert, der auch in realen Rechtsfällen seitens der Kläger wie der Beklagten verbreitet als elementares Motiv angegeben wird Über die landläufige Gerichtsrhetorik hinaus geht die Aussage des Philosophen, dass es den Betreffenden gar Vergnügen bereite, Vergeltung zu üben 33 Dies entspricht zwar gängigen mentalen Dispositionen, wird in den Reden aber gewöhnlich nicht derart unverblümt artikuliert, da solches bei den Richtern Missverständnisse provozieren könnte: Zwar ist es insbesondere für den Kläger grundsätzlich legitim, in dem Zusammenhang persönliche Befindlichkeiten und Interessen zur Sprache zu bringen, und wird bis zu einem gewissen Grad sogar erwartet;34 jedoch ist an der Stelle Vorsicht geboten, weil Derartiges leicht mit der Forderung kollidieren kann, die Eskalation von Konflikten zu vermeiden und die Konsequenzen
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Hierzu besonders Aristot rhet 1369 a 1–4 Siehe beispielsweise Aristot rhet 1369 a 4; 1370 a 16–19; zur Differenzierung der beiden Erscheinungsformen und ihrer Verbindung mit dem Phänomen des ‚Willens‘ (βούλησις) Maschke 1926, 144; Sorabji 2004, 8 Hierzu mit zahlreichen Belegen u a Roisman 2005, 163–185 Aristoteles hingegen geht davon aus, dass das Alter an der Stelle nicht den entscheidenden Faktor darstellt, sondern vielmehr die ‚Begierde‘, die er ihrerseits vorrangig mit der psychischen Disposition des Betreffenden in Zusammenhang bringt; in dem Sinne Aristot rhet 1369 a 9–19 Dazu Adamidis 2017, 115–128 Nichtdestotrotz entwickelt Aristoteles hierzu komplexere Vorstellungen, in die Überlegungen aus seinen Ethiken einfließen – etwa zum Gegenstand der ἕξις; dazu Hampshire 1983, 140 „καὶ τὸ τιμωρεῖσθαι ἡδύ“ (Aristot rhet 1370 b 30) Persönliches Engagement einschließlich emotionaler Betroffenheit zu demonstrieren, ist hier nicht zuletzt deshalb angezeigt, um keinen Sykophantieverdacht aufkommen zu lassen; dazu mit Belegen Christ 1998, 90–95; Kurihara 2003, bes 467 f ; Kucharski 2012, bes 195
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seines Handelns für die Polisgemeinschaft im Auge zu behalten 35 Ausschlaggebend sind hier das Alter der Betreffenden wie auch der Gedanke der Verhältnismäßigkeit: Revanchebestrebungen, die nicht reziprok scheinen, indem sie sich nicht auf die Kompensation des erlittenen Schadens beschränken, sondern diese überschreiten, werden seitens der Mitbürger gemeinhin nicht toleriert 36 Aristoteles geht mit der genannten Aussage über das vor Gericht Sagbare hinaus Das gilt in ähnlicher Weise für seine Überlegungen, aus welchem Personenkreis ein Akteur, der Unrecht zu tun plant, seine Opfer rekrutiert 37 Ursächlich hierfür ist, dass er in der Passage, in der er sich zum Komplex der Handlungsmotive äußert, eine kompilatorische Auflistung sämtlicher für den Gegenstand relevanter Sachaspekte anstrebt,38 dort jedoch nicht der Frage nachgeht, inwieweit sie sich rhetorisch verarbeiten lassen Dies resultiert abermals aus den Besonderheiten seines Arrangements des Stoffes 39 Offenkundig am soziopolitischen Umfeld orientiert ist das Moment der ‚Ehre‘ (τιμή), speziell die Vorstellung, dass die Vergeltung einen zuvor erfahrenen ‚Ehrverlust‘ kompensiere 40 Konvergenz besteht auch hinsichtlich des Phänomens, dass zwischen ‚Rache‘ und ‚Strafe‘ vielfach nicht kategorisch geschieden wird 41 Dies ist auf der lexikalischen Ebene zu greifen, indem in beiden Fällen gleichbedeutend mit ‚δίκη‘ wie mit ‚τιμωρία‘ operiert werden kann 42 In der Gerichtspraxis findet es u a darin seinen Ausdruck, dass Formen der Selbsthilfe und solche des institutionalisierten Konfliktaustrags miteinander verknüpft werden können,43 aber auch dahingehend, dass Vergel35
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Hinsichtlich der Einschätzung des Vergeltungsstrebens durch die Athener herrscht in der Forschung keine Einigkeit; kontrastierende Positionen vertreten namentlich David Cohen und Gabriel Herman; siehe Cohen, D 1995, bes 61–86; Herman 1995, bes 44 f ; ders 2000, 7–10; zur ambivalenten Einschätzung von Konflikten dieser Art seitens der Athener auch Christ 1998, bes 163; grundsätzlich zu dem Gegenstand Flaig 1988, bes 97 Einschlägig ist hier die Verteidigungsrede ‚Gegen Simon‘ aus dem lysianischen Corpus: Der Beschuldigte wirft dem Kläger vor, keine reziproke Vergeltung anzustreben, sondern ihm durch seine Klage unverhältnismäßig schaden zu wollen (Lys 3,39 f ); zu dem Fall und der angesprochenen Problematik auch Harris, W V 1997 Aristot rhet 1372 b 23 – 1373 a 27 Den Gedanken, dass Rache zu üben Vergnügen bereite, entwickelt er in einem Abschnitt, welcher der Thematik der ‚Lust‘ (ἡδονή) gewidmet ist (Aristot rhet 1369 b 33 – 1372 a 3) Auch hier gilt sein Interesse der möglichst vollständigen Erfassung dieses Gegenstandes unter den von ihm eingangs genannten Fragen zu üblicherweise beteiligten Personen, relevanten Objekten und Handlungskonstellationen Die Formulierung von Argumenten behandelt er separat im Schlussteil des zweiten bzw im Verlauf des dritten Buches Im Vordergrund stehen dort methodische sowie stilistische Gesichtspunkte; inhaltliche Spezifika treten dagegen in den Hintergrund Zu dem Moment Gehrke 1987, 133 Das betrifft jene Kategorien genauso wie die Frage nach den Verfahren, bei denen Selbsthilfe und institutionelles Vorgehen mannigfaltig miteinander verbunden werden können; dazu McHardy 2008, 1 3; grundsätzlich zu dem Komplex Cairns 2015, 665 Vgl Piepenbrink 2013a, 6 Teils kann im attischen Recht überdies zwischen verschiedenen Verfahren gewählt werden, die ein unterschiedlich großes Maß an Eigeninitiative seitens des Klägers erfordern; dazu Carey 2004,
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tungsintentionen des Einzelnen und Sanktionierungsinteressen der Polis zu koinzidieren vermögen 44 Daneben gibt es diesbezüglich – bei Aristoteles wie in der juristischen Praxis – Differenzierungsansätze, die allerdings nicht deckungsgleich sind: Aus der Perspektive der Polis ist an der Stelle die Frage essentiell, ob die Interessen des Geschädigten oder jene der Stadt im Vordergrund rangieren, was mit der Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Prozessen korreliert 45 Der Philosoph hingegen richtet seinen Blick auf die Motivation des Klägers und fragt, ob es diesem vorzugsweise um Kompensation zu tun ist oder ob er dem Vollzug am Täter und der Tatsache, dass dieser ein Leid erfährt, den Vorrang einräumt 46 In beiden Fällen betrachtet er den Kläger als die maßgebliche Instanz im Geschehen 3.2 Handlungen und soziale Konstellationen Eine deutliche Differenz zwischen dem aristotelischen Befund und den Rednern besteht darin, dass der Stagirite die Akteure in Gerichtsprozessen allenfalls in Ansätzen in ihren familiären Konstellationen reflektiert Eine der wenigen Überlegungen, die er in dem Zusammenhang anstellt, zielt darauf, dass ein Bürger im Falle von Vergehen gegen seine Eltern, Ehefrau, Kinder oder Untergebene nach Vergeltung strebt,47 seinem Verständnis nach allerdings weniger auf der Basis von dessen Aufgaben und Rollen im Oikos, als vielmehr dem Umstand geschuldet, dass er Angriffe auf Familienmitglieder als Verletzung auch der eigenen ‚Ehre‘ betrachtet; in der sozialen Praxis begegnen hingegen beide Aspekte gewöhnlich im Verbund und interferieren nicht selten 48 Weitestgehend unberücksichtigt bleibt bei dem Philosophen zudem das Phänomen der familieninternen Konflikte, das in der Gerichtspraxis eine gewichtige Rolle ein-
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111 f ; Krause 2004, 16 Zu dem Umstand, dass Selbsthilfe unter bestimmten Bedingungen – selbst bei einigen Fällen von Tötungsdelikten – nicht nur gesellschaftlich toleriert, sondern ausdrücklich seitens der Polisgemeinschaft wertgeschätzt wird, Gagarin 1978, bes 111 Hierzu mit Quellenbelegen und weiteren Literaturhinweisen Gehrke 1987, 129 f 140 f ; McHardy 2008, 1; Piepenbrink 2013a, 9–11; Cantarella 2018, bes 32 In der Praxis kommt dies u a darin zum Ausdruck, dass in öffentlichen Prozessen verhängte Geldstrafen gewöhnlich der Polis zufallen und nicht bzw nur zu einem geringen Prozentsatz dem Kläger; grundsätzlich zu jener Differenzierung in der Rechtspraxis Maffi 2018, bes 80 f „Es gibt einen Unterschied zwischen Vergeltung (τιμωρία) und Bestrafung (κόλασις): Das eine Mal ist nämlich die Bestrafung um des Erleidenden willen da, das andere Mal die Vergeltung um dessentwillen, der sie ausführt, damit er Genugtuung erfährt“ (Aristot rhet 1369 b 12–14; übers Rapp 2002, 53) Jene Unterscheidung begegnet grundsätzlich auch bei den attischen Rednern, fällt hier jedoch üblicherweise weniger kategorisch aus; dazu mit Belegen Cairns 2015, 658 In all diesen Fällen mache der Betreffende eine ‚Herabsetzung‘ (ὀλιγωρία) aus, die bei ihm ‚Zorn‘ evoziere; siehe Aristot rhet 1378 a 31–34; 1379 b 27 f Zu dem Aspekt im klassischen Athen Descharmes 2013, 214–227 Dazu etwa Cohen, D 1991a, bes 82 97; Hunter 1994, 9–13; Timmer 2008, 151–167; Lanni 2009, 702; Rieß 2012, 72–82
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nimmt 49 Dort sind wir mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass ein Großteil der privaten Prozesse innerfamiliären Fragen gewidmet ist, insbesondere Erbstreitigkeiten,50 dass aber zugleich die Einstellung vorherrscht, dass gerade in solchen Angelegenheiten nach Möglichkeit keine öffentlichen Gerichte angerufen werden sollten 51 Dabei sind verschiedene Überlegungen virulent: so der Gedanke, dass es der Reputation des Einzelnen abträglich sein könne, wenn der Eindruck entstehe, dass er häusliche Konflikte nicht innerhäuslich zu lösen imstande sei 52 Hinzu kommt die Vorstellung, dass ein guter Bürger es – als Ausdruck seines Respekts gegenüber den Institutionen der Polis – vermeiden solle, städtische Gerichte in Streitigkeiten zu involvieren, die keine unmittelbar politische Relevanz haben 53 Ausgenommen sind Fälle, in denen er mit Stärkeren konfrontiert ist, gegen die er seine Interessen einzig mit gerichtlicher Unterstützung durchzusetzen vermag Folglich argumentieren Personen, die Prozesse dieser Art initiieren, vor Gericht bevorzugt mit Verweis auf die Asymmetrie der Auseinandersetzung 54 Bei familiären Konflikten ist es zudem üblich zu betonen, dass Gerichtsverfahren erst angestrengt wurden, nachdem sämtliche Bemühungen um außergerichtliche Konfliktbeilegung ohne Erfolg geblieben seien 55 An der Stelle wird auf das Postulat des Primats der Polis gegenüber dem Oikos Bezug genommen, das im Selbstverständnis der Athener eine zentrale Größe darstellt 56 Einen solchen propagiert auch Aristoteles – allerdings in den Politika und als naturrechtlich fundiertes
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Zu dem Feld Humphreys 1983/93, 5; dies 1986; dies 1989, bes 184 f ; Hunter 1994, 43–69; Cox 1998, 68–104; Roy 1999, 7 f ; Griffith-Williams 2012, 155–158; Lanni 2016, 123 f Das betrifft insbesondere Konflikte unter Brüdern; dazu Humphreys 1986, bes 73 f Aristoteles blendet dies nicht aus, nimmt allerdings in einem Kontext darauf Bezug, der vor Gericht nicht unmittelbar anzubringen wäre: Im Zusammenhang mit der Frage, welche Personen sich besonders als ‚Opfer‘ für unrechtes Tun eignen, spricht er auch solche an, die im Falle einer Schädigung nicht vor Gericht gehen würden Als Beispiel nennt er u a Männer, die persönlich misshandelt wurden bzw deren Gattinnen oder Nachkommen eine Misshandlung erfahren haben; siehe Aristot rhet 1373 a 34 f Vgl Hunter 1994, 43–69 Hier geht es in hohem Maße darum, despektierlichem ‚Gerede‘ vorzubeugen; zur Bedeutung der φήμη in Gerichtsprozessen Hunter 1990, 307–311; Matuszewski 2019, 276–289; Piepenbrink 2019, 63; zum ‚Gerede‘ als sozialer Sanktion Lanni 2012a, 103 f ; zur φήμη in dezidiert politischen Kontexten in forensischen und symbuleutischen Reden Gotteland 1987, bes 95–101; dies 2001, 270 f ; Larran 2011, 216–219; Gottesman 2014, bes 17–19 Zu der Einstellung mit Belegen aus attischen Gerichtsreden Thür 2007, 132 Aristoteles geht nicht so weit, merkt aber an, dass es ungünstig sei, als ‚prozesssüchtig‘ zu erscheinen (Aristot rhet 1373 a 36–38) Jenes Moment präsentiert er indes nicht der Gerichtspraxis entsprechend als mögliches Argument, um einen Kontrahenten nachhaltig zu diskreditieren, sondern diskutiert es wiederum im Kontext der Frage, welche Personengruppen geeignete Opfer für unrechtes Tun abgäben An dieser Stelle ist seinem Verständnis nach relevant, dass solche mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Prozess anstrengen werden So beispielsweise Demosthenes in der Auseinandersetzung mit seinem Vormund Aphobos (Demosth 27–29) Hierzu mit Belegen u a Cohen, D 1995, 164; Thür 2007, 132 f Dazu u a Rahe 1984, bes 267–273
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3 Handlungsmotive und soziale Konfigurationen
Ideal,57 das er mit den zeitgenössischen Verfassungen kontrastiert 58 In der ‚Rhetorik‘, in der er die Dimension des Sozialen stärker affirmiert und ihr Verhältnis zum Politischen nicht vergleichbar problematisiert, geht er darauf nicht ein Beim eben angesprochenen Komplex kommt abermals zum Tragen, dass unser Autor die Akteure in hohem Grade als Einzelpersonen konzipiert, weniger als Angehörige sozialer Gruppen Er berücksichtigt zwar, dass die Betreffenden ihr soziales Renommee im Blick haben und gewöhnlich in agonalen Settings agieren, begreift sie aber nichtsdestotrotz nur in geringem Umfang als Personen, die im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Konfigurationen handeln Dies hat in hohem Maße damit zu tun, dass er sich in dem Zusammenhang durch Reflexionen leiten lässt, die er in seinen Ethiken anstellt Insofern nimmt es nicht Wunder, dass es sich bei der einzigen Form der sozialen Bindung, die er des ungeachtet in der ‚Rhetorik‘ eingehend würdigt, nämlich der ‚Freundschaft‘, um eben jene handelt, die er auch in seinen ethischen Schriften intensiv thematisiert 59 Die Detailüberlegungen, die er hierzu im vorliegenden Werk anstellt, folgen allerdings keineswegs durchgängig den genuin philosophischen Prämissen, die er teils in den Ethiken formuliert,60 sondern orientieren sich durchaus in erheblichem Maße an der sozialen Wirklichkeit So operiert er über weite Strecken mit der typischen ‚Freund-Feind-Dichotomie‘ und setzt im Bereich freundschaftlicher Beziehungen das ‚Do-ut-des-Prinzip‘ als handlungsstrukturierend voraus 61 Anklänge an landläufige Auffassungen kommen überdies in der Position zum Ausdruck, dass man gegen Freunde normalerweise nicht vor Gericht ziehe 62 Dabei denkt er allerdings we-
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Zur dort von ihm vertretenen Auffassung mit Belegen und Literaturhinweisen Piepenbrink 2001, 63–65 In anderen Zusammenhängen, in denen er deutlich macht, dass er die Demokratie – insbesondere in ihrer ‚neuesten‘ Spielart – den ‚παρεκβάσεις‘ zurechnet und damit jenen Formen politischer Ordnung, in denen das Gemeinwohl gerade nicht im Vordergrund rangiert, schließt er die Realisierung eines solchen Primats unter den gegebenen Umständen weitestgehend aus; dazu mit Belegen Piepenbrink 2001, 41–43 Besonders ausführlich in Aristot EN 1155 a 3 – 1172 a 15 Auch hinterfragt er in der ‚Rhetorik‘ nicht, ob insbesondere die ‚Nutzfreundschaft‘, die dem gängigen Verständnis von Freundschaft am ehesten entspricht, die Bezeichnung ‚Freundschaft‘ überhaupt verdiene; hingegen zu derartigen Überlegungen in den ethischen Schriften Pangle 2003, 45; zur Differenzierung verschiedener Typen von φιλία namentlich in der ‚Nikomachischen Ethik‘ u a Konstan 1997, 67–72; Pangle 2003, 37–56 Ausnehmend markant in Aristot rhet 1363 a 20 f 33 f Er operiert hier mit der verbreiteten Vorstellung, dass Freunden zu nützen, Feinden aber zu schaden sei, und präsentiert diese als zentrale Maxime des Handelns im sozialen Miteinander; zu der Einstellung mit zahlreichen Belegen aus unterschiedlichsten zeitgenössischen Quellengattungen Blundell 1989, 26–31; Mitchell 1996, 13; Rhodes 1996, 25 Zur Betonung des Moments persönlicher Feindschaft als zentralem Klagemotiv in attischen Gerichtsreden, auch und gerade in öffentlichen Prozessen, Rhodes 1998; Todd 1998; Kurihara 2003; Alwine 2015, 55–93 Vgl Aristot rhet 1372 a 18–20 Diese Haltung findet sich auch in der sozialen Praxis und wird hier ähnlich wie bei Aristoteles mit dem Gedanken der φιλία verbunden; dazu mit Belegen Roisman 2005, 51; Lanni 2016, 123 f
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niger daran, dass Konflikte in solchen Beziehungen üblicherweise ohne Einschaltung öffentlicher Gerichte bewältigt werden, wie es die Gerichtsreden insinuieren, als dass sie gänzlich unterbleiben, womit er sich philosophisch inspirierten Freundschaftskonzeptionen annähert 63 Eine Anlehnung an letztere ist auch in der Vorstellung auszumachen, dass Freundschaft durch Altruismus gekennzeichnet sein solle, indem der Freund als ‚Alter Ego‘ anzusehen und um seiner selbst willen zu lieben sei 64 Zum Gegenstand der Freundschaft speziell im Kontext des Gerichtswesens merkt Aristoteles an, dass derartige Verbindungen auch zwischen Prozessierenden und Dikasten bestehen könnten 65 Dies ist grundsätzlich vorstellbar im Falle von Einzelrichtern; in Volksgerichten hingegen – gerade den attischen des vierten Jahrhunderts, in denen (ganz abgesehen von der immensen Richterzahl, die persönliche Vertrautheit mit jedem einzelnen a priori ausschließt) die Zuweisung der Juroren zu den Dikasterien erst am Gerichtstag erfolgt – lassen sich solche Kontakte nicht effektiv nutzbar machen 66 Nicht zur Sprache kommt bei Aristoteles die politische Dimension von Freundschaft innerhalb der sozialen Elite, die in der Forschung im Zusammenhang mit der Frage nach politischen Gruppierungen großes Interesse gefunden hat 67 Gleichwohl wird diese, im Unterschied zur φιλία als Bindeglied sämtlicher Bürger,68 auch in der praktischen Rhetorik kaum thematisiert 69 In weitgehender Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Praxis geht Aristoteles davon aus, dass außerhäusliche soziale Bindungen, wenn sie denn vorkommen, vorrangig unter gleichen existieren, es sich also um horizontale Beziehungen handelt; vertikalen hingegen schenkt er ungleich weniger Beachtung Ersteres korreliert mit seiner starken Betonung der Freundschaft 70 Aber auch soziale Wertschätzung geht seinem Dafürhalten nach insbesondere von Gleichgestellten aus: So setzt er voraus, 63 64 65 66 67
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Das gilt ganz besonders für die sogenannte ‚vollkommene‘ Freundschaft; hierzu Aristot EN 1156 b 6–35 Vgl Aristot rhet 1371 a 21–23; zu jenem Motiv in den Ethiken Millgram 1987, 362; Gill 1998, bes 317–319; Schollmeier 1994, 35–51; Miller, P L 2014, 342 Aristot rhet 1372 a 20 f Zum Verfahren der Auslosung der Richter im vierten Jahrhundert [Aristot ] AP 63 f Im Vordergrund der Betrachtung steht hier gleichwohl das späte fünfte Jahrhundert; dazu Gehrke 1984 mit Hinweisen auf ältere Forschungsarbeiten; zu dem Komplex auch Hansen 2014, 384 f ; zur Relation von Einzelperson und möglicher ‚Parteiung‘ Hölkeskamp 1998; Rhodes 1996, 26; ders 2016, 264; grundsätzlich zur Bedeutung von Freunden für den politischen Erfolg im klassischen Athen auch Sinclair 1988, 141–145; Blundell 1989, 32; Mitchell 1996, bes 11 Jene begegnet auch bei Aristoteles, gleichwohl vorranging in den ethischen Schriften und mit anderen inhaltlichen Akzenten; hierzu mit Belegen Konstan 1997, 91 f Wenn sie hier vorkommt, wird sie am ehesten mit der Stasisthematik verknüpft, die vor allem mit Bezug auf die oligarchischen Umstürze von 411 und 404 v Chr besprochen, dabei aber gewöhnlich mit dem Begriff der ‚ἑταιρία‘ umrissen wird Zum Gedanken der ‚Gleichheit‘ unter Freunden, der stark mit dem Gedanken der Reziprozität verknüpft ist, mit Blick auf Aristoteles wie auch die soziale Praxis Konstan 1995, 332 f ; ders 1998, 279 f 283–286 In den Ethiken reflektiert der Philosoph diesbezüglich stärker auch asymmetrische Beziehungen; dazu Corcilius 2011, 224
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3 Handlungsmotive und soziale Konfigurationen
dass man sich Hochachtung vorzugsweise von seinesgleichen wünsche 71 Etwaige Abhängigkeiten von Stärkeren, die er allerdings nicht näher spezifiziert, beschreibt er hingegen als Gegenstand von Furcht 72 Ein weiteres für die Thematik relevantes Spezifikum liegt darin, dass Aristoteles sich in sämtlichen Überlegungen zu dem Komplex auf männliche Akteure kapriziert Frauen und damit spezifische Vorstellungen zu deren Dispositionen, Motiven und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit kriminellem Handeln, die in Gerichtsverfahren durchaus nachdrücklich artikuliert werden,73 berücksichtigt er nicht Dies geht einher mit seiner durch die Ethiken geleiteten Perspektive, welche männliche Einzelpersonen fokussiert, mit dem damit verbunden geringen Interesse an häuslichen Konstellationen, die gerade bei weiblichem deliktischem Handeln vielfach von kardinaler Bedeutung sind, aber auch mit verbreiteten Einstellungen einer männlich dominierten Öffentlichkeit, die Fehlverhalten von Männern generell größere Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt 74 Hinzu kommt, dass unser Autor – dem Gegenstand seines Werkes entsprechend – die betrachteten Akteure zugleich als diejenigen versteht, die vor Gericht als Redner in eigener Sache selbsttätig Stellung beziehen Hieraus ergibt sich ein weiterer Grund für die Nichtberücksichtigung von Frauen Markant ist überdies, wie der Stagirite im Hinblick auf rechtes und unrechtes Tun mit dem Phänomen der Heterogenität der Gesellschaft umgeht Er setzt als gegeben voraus, dass die Akteure, mit deren Motivationen er sich beschäftigt, der sozialen Elite angehören Eine Differenzierung nach gesellschaftlichem Status nimmt er gewöhnlich nicht vor; solches klingt nur ausnahmsweise an, etwa wenn er die gängige Ansicht referiert, dass Vergehen, welche aus einem materiellen Mangel heraus geschehen, eher zu tolerieren und geringer zu sanktionieren seien als solche, die ohne Not begangen würden 75 Spezifische rhetorische Strategien nichtprivilegierter Kläger oder Beklagter beleuchtet er demgegenüber nicht eigens, touchiert sie maximal 76 Aus der Pragmatik hingegen sind solche wohlbekannt: Typisch für sie ist, auf geringe rhetorische Fähig71 72 73 74
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Aristot rhet 1384 a 30 f Aristot rhet 1382 b 5 f Zu dem Gegenstand Vial 1985, 48–58; Just 1989, 26–39; Gagarin 1998, bes 39–42; Eidinow 2016, bes 328–335 Destruktives Potential von Frauen wird vor allem im Bereich des Oikos verortet Außerhäusliche Bedrohungen, die Einzelpersonen, aber auch die gesamte Gemeinschaft erfassen können, werden nahezu ausschließlich mit Männern assoziiert Dies hat nicht zuletzt mit den Vorstellungen zur genderspezifischen Zuordnung von Lebensräumen und Handlungsfeldern zu tun, bei denen der öffentliche Raum männlich besetzt ist Aristot rhet 1372 b 19–21 Einschlägig im Bereich der gerichtlichen Praxis ist diesbezüglich Lys 31,11; zu der Stelle Cecchet 2015, 215; für weitere Stellen siehe Rosivach 1991, 190 f Die Kläger sind im Gegenzug bestrebt, die Richter zu überzeugen, dass der Beklagte zu Unrecht auf ‚Armut‘ als Beweggrund verweise; siehe etwa Lys 7,14; 22,13; hierzu u a Dorjahn 1930, 167 f ; Taylor, C 2017, 51; zur Rolle nichtprivilegierter Akteure vor Gericht grundsätzlich auch Carugati/Weingast 2018, 161–163 Siehe etwa Aristot rhet 1372 a 35 f ; vgl Aristot rhet 1372 b 19 f
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keiten, unzureichende Erfahrung vor Gericht sowie die Sorge vor Unterlegenheit gegenüber vermögenderen Kontrahenten zu verweisen, um Nachsicht zu erbitten, wenn nicht gar besondere Unterstützung seitens der Dikasten einzufordern 77 Auf verbreitete Vorstellungen zu ‚arm‘ und ‚reich‘, deren Konnotation und Zuordnung zu verschiedenen Personengruppen rekurriert unser Autor an der Stelle entsprechend nicht 78 Er rät den – in den meisten Fällen als vermögend wie auch renommiert gedachten – Prozessierenden, ihre sozialen Distinktionsmerkmale vor den Juroren ausdrücklich zu artikulieren Inwieweit eine solche Strategie vor einem Dikasterion opportun und geeignet ist, die Sympathie der Geschworenen zu gewinnen, reflektiert er in dem Moment nicht Die Mehrzahl der uns bekannten Redner demonstriert demgegenüber eine hohe Sensibilität für die Thematik und operiert geschickt mit der ambivalenten Einstellung des Volkes hierzu: Vermögen und rednerisches Können lassen sich positiv ins Spiel bringen, sofern es den Betreffenden gelingt, die Juroren zu überzeugen, dass sie jene Eigenschaften zum Vorteil ihrer Mitbürger einsetzen 79 Wenn demgegenüber der Eindruck entsteht, sie nutzten ihre Qualitäten, um Partikularinteressen nachzugehen, sind solche Merkmale eher kontraproduktiv Hinsichtlich der Angehörigen der politischen Elite ist zudem denkbar, ihnen vorzuwerfen, erst durch ihre politische Tätigkeit – namentlich durch Korruption resp Korrumpierbarkeit speziell durch äußere Feinde – zu Reichtum gelangt zu sein 80 Umgekehrt ist es möglich, einen Kontrahenten zu diskreditieren, indem man ihm einen Mangel an entsprechenden Qualitäten vorhält Ausschlaggebend ist hier, dass dies in Verbindung mit Vorwürfen von Fehlverhalten geschieht 81 Vermögende schließlich präsentieren sich nicht selten betont defensiv und moderat, streichen dazu heraus, dass sie keine politischen Ambitionen hegten oder sonstig von der Polis zu profitieren hofften 82 Gleichwohl sind auch solche Strategien
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Dazu Bers 2009, 7–24; Cecchet 2015, 141–183 Aspekte dieser Art thematisiert er nicht im Hinblick auf Kläger und Beklagte, sondern auf die Richter, die das Auditorium bilden; dazu unten Kap 5 2 Zum Fehlen einer radikalen Kritik an privatem Reichtum und luxuriöser Lebenshaltung im demokratischen Athen Bernhardt 2003, 140; zu den Erwartungen der Athener an Angehörige der gesellschaftlichen Oberschicht auch Lape 2019, 102 f Letzteres begegnet überdies in Demegorien als pauschaler Vorwurf gegen die jeweils anderen Redner; siehe etwa Demosth 3,29; 8,66; zu dieser Vorhaltung, die besonders im Kontext der sogenannten ‚Truggesandtschaft‘ sowie der ‚Harpalos-Affäre‘ vorkommt (hierzu Harding 1987, 36 f ; Eder 2000), aber auch ohne konkreten Anlass ins Spiel gebracht werden kann, Barthold 1962, 107 f ; Perlman, S 1976, bes 224; Wankel 1982, bes 42 45; MacDowell 1983, 58–63; Harvey 1985, 110 f ; Harding 1987, 32 f ; Ober 1989, 233–238; Kulesza 1995, 42 f ; Taylor, C 2001a, bes 159 f ; Mann 2008, 27 f ; Cecchet 2015, 145; Nichols, R J 2019, 168; zu realen Klageerhebungen gegen Angehörige der politischen Elite auf der Grundlage des Bestechungsvorwurfs Taylor, C 2001, bes 55–57 Ein markantes Beispiel bilden die Vorhaltungen, die Demosthenes in der ‚Kranzrede‘ gegen Aischines erhebt; siehe besonders Demosth 18,257 f 265 Dazu etwa mit Beispielen aus Lysias, die teils besonders problematisch sind, weil es hier zuweilen um Personen geht, die in Verdacht stehen, mit den oligarchischen Regimen in Athen kooperiert zu haben, Lateiner 1982/3, bes 11–13; grundsätzlich zu dem Phänomen Carter, L B 1986, bes 128–130
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nicht durchgängig von Erfolg gekrönt: Die Betreffenden können der Passivität bezichtigt werden und in Verdacht geraten, vorzugsweise persönliche Belange zu verfolgen, selbst wenn sie sämtliche Leistungen erbringen,83 die von ihnen als Leiturgie- und/ oder Eisphora-Pflichtigen gefordert werden 84 Derartiges begegnet bei Aristoteles aus den genannten Gründen nicht
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Ein nicht untypisches Exempel stellt Isokrates dar, der sich mit einer Antidosis-Klage konfrontiert sieht; zu seiner Reaktion darauf besonders Isokr 15,24 150–152 Zur Kritik an diesem Personenkreis z B Lys 7,31–33 41; 26,3; Is 7,38 f ; Is frg 30; Demosth 24,6 f ; [Demosth ] 45,66; 47,23; Aischin 1,83; 3,216–218; Hyp 3, col 17; zu dem Phänomen generell Demont 1990, 98 f Für eine Übersicht zu den verschiedenen Formen finanzieller Verpflichtungen vermögender Bürger der Stadt gegenüber siehe u a Liddel 2007, 262–282
4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln Von elementarer Bedeutung für sämtliche Prozessierende ist nach Aristoteles der angemessene Umgang mit ‚Beweismitteln‘ Solche dienen nicht nur dazu, die eigene Position zu untermauern bzw jene des Kontrahenten zu demontieren, sondern auch die eigene Person effektiv zu inszenieren resp die des Gegners herabzusetzen Auch wenn dies – mit gewissen Einschränkungen – nach Ansicht unseres Autors für sämtliche Typen von Reden gilt, rangiert die Gerichtsrede diesbezüglich im Vordergrund 1 Intention jener Praxis ist, das ‚Wohlwollen‘ der Dikasten für sich zu gewinnen und sie zu einem günstigen Votum zu motivieren Der Philosoph unterscheidet dazu zwischen ‚artifiziellen‘ und ‚nichtartifiziellen‘ Persuasionsmitteln, wobei erstere vom Redner selbst im Sprechakt kreiert werden müssen, während letztere als bereits vorab existent gedacht werden 2 Eine vergleichbare Differenzierung ist bei Anaximenes von Lampsakos belegt 3 Ihre Anfänge liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Sophistik und sind mit der Entwicklung des Prozesswesens in der klassischen Polis unmittelbar verknüpft 4 Aristoteles und Anaximenes verbindet an der Stelle u a , dass sie die ‚artifiziellen‘ Beweismittel stärker würdigen als die ‚inartifiziellen‘, was mit dem Umstand einhergeht, dass sie die Forensik in erster Linie unter rhetorischen, weniger unter rechtlichen Aspekten beleuchten 5 Das resultiert zum einen aus dem Charakter ihrer spezifischen literarischen Projekte, geschieht zum anderen aber auch analog der Gerichtspraxis, die – abgesehen von formalen Verfahrenselementen – vor allem durch den Einsatz rednerischer Mittel gekennzeichnet ist In den Details sind geringfügige Unterschiede zwischen den beiden Autoren auszumachen: Unter die ‚inartifiziellen‘ Beweise rubri-
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Einschränkungen ergeben sich in dem Zusammenhang naturgemäß insbesondere für die Festrede Aristot rhet 1355 b 35–1356 a 6 In der Terminologie weicht jener allerdings in Teilen von Aristoteles ab; vgl Anaxim rhet 1428 a 19–23; grundsätzlich kann hier dennoch eine Parallele konstatiert werden; dazu de Brauw 2007, 195 f ; Triggiano 2017, 15 f Vgl Carey 1994, 95 f Ob diesbezüglich zur Zeit Antiphons ein Wandel stattgefunden hat, der sich in seinem Werk, namentlich seinen ‚Tetralogien‘, niederschlägt, ist in der Forschung umstritten; zugunsten dieser Position Solmsen 1931; kritisch dagegen Gagarin 1994, 52 f ; ders 2007a, 10 Zur starken Konzentration auf ἔντεχνοι πίστεις bei Antiphon Sealey 1984, 73 Dazu Mirhady 1991, 6
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
ziert Aristoteles Gesetze, Eide, Zeugen, Verträge und Folter;6 Anaximenes nennt aus dieser Reihe lediglich Eide, Zeugen und Folter, erwähnt aber zusätzlich das ‚Ansehen des Redenden‘ (δόξα τοῦ λέγοντος) 7 Letzteres ist im Verständnis des Philosophen nicht vorgängig, sondern wird erst durch die Rede erzeugt, fällt bei ihm also in die Rubrik der ‚artifiziellen‘ Persuasionsmittel 8 Der Umstand, dass der Verfasser der Rhetorica ad Alexandrum Gesetze und Verträge nicht nennt, lässt sich am ehesten mit der Tatsache begründen, dass er sich stärker als Aristoteles am sophistischen Schriftgut des fünften Jahrhunderts orientiert, als jene beiden Typen verschrifteter normativer Dokumente für die Arbeit der Gerichte zwar bereits unabdingbar, jedoch noch nicht so dezidiert ideologisch aufgeladen und herausgehoben werden, wie es dann im vierten Jahrhundert der Fall ist 9 In der Tradition der Sophistik deutet Anaximenes Gesetze als ‚Übereinkunft‘ einer Polis im Hinblick auf Regelungen für das Zusammenleben bzw begreift sie im Sinne von ‚Konvention‘ 10 Die Differenzen zu Aristoteles sind trotzdem geringer, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Hinsichtlich der praktischen Handhabung der Gesetze in der Rede stimmen sie weitestgehend überein 11 4.1 Zur Verargumentierung von Gesetzen Die Thematik der Gesetze reflektiert Aristoteles in der ‚Rhetorik‘ vorrangig unter der Frage ihrer Verargumentierung in der Gerichtsrede Damit einher geht eine Fokussierung auf anwendungsorientierte Gesichtspunkte Er insinuiert somit nicht, dass
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Aristot rhet 1355 b 37–39; 1375 a 24 f Anaxim rhet 1428 a 22 f ; 1431 b 9–19; 1438 b 36 f ; über letztgenannten Terminus und dessen Bedeutung ist in der Forschung eingehend diskutiert worden; zu der Problematik Mirhady 1991, 5 7; Triggiano 2017, 19 f Vgl Aristot rhet 1356 a 9 f Aristoteles nennt in dem Zusammenhang ‚Klugheit‘ (φρόνησις), ‚Tugend‘ (ἀρετή) und ‚Wohlgesonnenheit‘ (εὔνοια) des Redners, diskutiert diese aber nicht per se, sondern als Faktoren, die eine Rede glaubwürdig gestalten; siehe Aristot rhet 1378 a 6–12 Zu den Unterschieden zwischen Anaximenes und Aristoteles an der Stelle Chiron 2011b, 248 Die Überzeugung, dass der ‚Charakter‘ des Redners aus der Rede erkenntlich werden und nicht auf der Grundlage vorab gebildeter Meinungen bewertet werden solle, vertritt der Philosoph durchgängig; hierzu Aristot rhet 1356 a 8–10; grundsätzlich zu dem Komplex Hagen 1966, 17 f ; Woerther 2007, 239–254; Johnstone, S 2018, 388 An der Stelle ist ein markanter Unterschied zur ethopoietischen Praxis auszumachen, in der oft plakativ, nicht selten unter Hinweis auf verbreitete Meinungen über eine Person geurteilt wird; dazu etwa Mirhady 2016, bes 123 f Positive resp negative Aktivitäten und Eigenschaften werden hier vielfach in großer Zahl aufgelistet, ohne dezidiert im Hinblick auf den vorliegenden Fall verargumentiert zu werden; zu derartigen Reihungen u a Cook 2009, 45 f Hinzu kommt, dass die Sophisten ihrerseits stärker relativieren, als es in der Gerichtspraxis auch des fünften Jahrhunderts gängig ist Anaxim rhet 1422 a 2 f ; 1424 a 10–12 Siehe dazu unten Κap 4 1
4 1 Zur Verargumentierung von Gesetzen
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Gesetze generell primär als ‚inartifizielle‘ Beweismittel zu betrachten seien,12 sondern formuliert lediglich, dass dies die Funktion sei, die ihnen in der dikanischen Rede zukomme Auch das aber ist aus der Perspektive der politischen Praxis keine ganz unproblematische Formulierung Ein aktiver Rhetor würde gegenüber einer solchen Aussage – einmal abgesehen von Gesprächen mit vertrauten Rednerkollegen, die größere Offenheit erlauben – mit hoher Wahrscheinlichkeit Zurückhaltung an den Tag legen; eine derart funktionale Verkürzung könnte seitens der Dikasten leicht mit unzureichendem Respekt vor den Gesetzen assoziiert werden 13 Allerdings plädiert auch Aristoteles nicht dafür, Themen dieser Art in einer Rede explizit zur Sprache zu bringen Vergleicht man den konkreten Umgang der Rhetoren mit Gesetzen, wie er sich aus Gerichtsreden rekonstruieren lässt, mit dem Ansatz des Philosophen, so tun sich markante Parallelen auf: Beide beschränken sich nicht auf die Verargumentierung der für den Fall einschlägigen Gesetze, sondern ziehen darüber hinaus weitere νόμοι heran, die geeignet sind, die Rechtsstandpunkte zu illustrieren sowie das Verhalten der Akteure als gesetzeskonform bzw deviant zu zeichnen, insofern jene den genannten Regelungen eindeutig zu entsprechen resp ihnen klar zuwiderzuhandeln scheinen 14 Dieses Vorgehen, das Kläger wie Beklagte gleichermaßen praktizieren, wird seitens der Juroren grundsätzlich gebilligt; fundamentale sachliche Bedenken bestehen an der Stelle nicht 15 Im Gegenteil: Damit einher geht – dies betrifft Aristoteles wie die Redner in gleicher Weise – ein ausgeprägter Gesetzespositivismus,16 der in der Vorstellung kulminiert, dass Gesetze nicht auszulegen, sondern unmittelbar anzuwenden seien 17 Sollte es dabei im Einzelfall zu Problemen kommen, etwa weil eine gesetzliche Bestimmung sich als nicht passgenau erweist, gilt es als legitim, sich auf den mutmaß-
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Auch präsentiert er dies nicht etwa als Definition von ‚Gesetz‘ Vgl Triantaphyllopoulos 1975, 54; ders 1985, 21; Kästle 2012, 183 f In manchen Fällen rückt das ethopoietische Anliegen dabei sogar in den Vordergrund; hierzu de Brauw 2001/2, 161 f ; zum Phänomen der Zitation mehrerer Gesetze Sickinger 2004, 93; ders 2007, 297 Anders gewendet ließe sich formulieren, dass es vorrangig darauf ankomme, Narrative zu entwickeln, in denen Gesetze ein wichtiges Persuasionsmittel darstellen; zu diesem Phänomen Gagarin 2003, bes 199; ders 2017, 47 Solche stellen sich vielfach erst aus der Perspektive der modernen Forschung, die ein legalistisches Rechtsverständnis nicht selten an die Existenz des Rechts als eines autonomen ausdifferenzierten Systems bindet (zu letzterem Luhmann 1995, 38–123) Zur Kontroverse über die Frage, wie demgegenüber der attische Befund adäquat zu charakterisieren sei, u a Garner 1987, bes 3; Todd/ Millett 1990, bes 15 f ; Todd 1993, bes 59; ders 2000, bes 22; Carey 1994a, 182 f ; Harris, E M 1994, bes 133; Johnstone, S 1999, 21–45; de Brauw 2001/2, 162; Lanni 2006, 41; Wohl 2010, bes 29 Diesbezüglich zum athenischen Befund, der sich bei den Rednern widerspiegelt, u a Wolff 1970, bes 68–76; Meinecke 1971, 356 f In der Diskussion über eine mögliche Auslegung wird teils gar der Versuch gesehen, die Aufgabe des Gesetzgebers zu usurpieren; vgl [Lys ] 15,9; zu dem Gedanken Triantaphyllopoulos 1985, 26 f Das bedeutet gleichwohl nicht, dass in Prozessen nicht über das adäquate Verständnis eines Gesetzes disputiert werden kann; hierzu mit Belegen u a Hillgruber 1988, 105–120
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
lichen Willen des Gesetzgebers zu berufen 18 Hier ist vor allem an den primordialen Nomotheten gedacht, der als Schöpfer der Gesetzesordnung verstanden wird und dessen Prinzipien als dauerhaft verbindlich begriffen werden 19 Genuin juristische Mittel, dessen Motivationen und Intentionen zu erkunden, kennt Aristoteles allerdings ebenso wenig wie die Akteure vor Gericht Der Rekurs auf den Willen des Nomotheten vollzieht sich vielmehr in rhetorischer Manier 20 In der Rechtspraxis wird das vor allem derart ausbuchstabiert, dass auf die Prämissen der demokratischen Ordnung Bezug zu nehmen sei, was mit der Überzeugung korrespondiert, dass die Demokratie eine Nomokratie darstelle und der Gründungsgesetzgeber zugleich als Initiator der Volksherrschaft zu verstehen sei 21 Eine elementare Diskrepanz zu den Überlegungen des Philosophen ist an der Stelle darin zu sehen, dass die Forderung nach Nomosobservanz im Verständnis der Athener keine Einschränkung der Kompetenzen der Juroren impliziert 22 Mitnichten: ‚Gesetzesherrschaft‘ definieren sie ausdrücklich als ‚Gerichtsherrschaft‘ 23 Ein solcher Gedanke ist Aristoteles im von uns betrachteten Werk – ebenso wie in der ‚Politik‘ – fremd 24 Als Nomokratie konzipiert er in den Politika – abgesehen von der Monarchie und der Aristokratie, die er eher in der Vergangenheit verortet – die ‚Politie‘, die sich von der
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Dazu mit Belegen Piepenbrink 2001, 163 f ; zu dem Motiv und seiner Relevanz für die Rechtsprechung sowie die Gesetzgebung im Athen des vierten Jahrhunderts Giannadaki 2019, 209–212 Das impliziert die Vorstellung, dass Gesetze nach Möglichkeit nicht geändert bzw maximal im Sinne des ursprünglichen Gesetzgebers fortgeschrieben werden sollten; zu dem Gedanken Brunschwig 1980; Sealey 1982/3, 301; Triantaphyllopoulos 1985, 30; Camassa 1988, 147–150; Boegehold 1996; Thomas 1996; Hölkeskamp 1999, 48–50 Im Athen des vierten Jahrhunderts wird diesbezüglich insbesondere auf Solon verwiesen; hierzu u a Mossé 1979; Hansen 1989a, bes 80; Thomas 1994, 120 f ; Piepenbrink 2001, 163 f ; Harris, E M 2011, 293–301; Canevaro 2019a, 272 f Zentral ist dabei auch das Moment der schriftlichen Fixierung, das u a mit ‚Dauerhaftigkeit‘ assoziiert wird; dazu Hedrick 1994, 167 172 f ; Hölkeskamp 2002, 135 Zum rhetorischen Charakter des Umgangs mit dem Gesetz generell Bearzot 2006, 147–151; Wohl 2010, 2–4; Kästle 2012, 164–172; Gagarin 2014a, bes 143; ders 2017, 49–51; Carey 2015, 113 Dazu mit Belegen Bleicken 1984, 399–401; Ostwald 1986, 497–524; Sealey 1987, bes 146; Thomas 1994, 120; Gehrke 1995, 33 f ; Cohen, D 1995a, 238–244; Yunis 2005, 201 f ; Harris, E M 2016, bes 85 Aristoteles vertritt dagegen die Position, dass Gesetze möglichst exakt formuliert sein sollten, um den Entscheidungsspielraum der Juroren gering zu halten (Aristot rhet 1354 a 31–35; 1354 b 11–16) In Athen findet sich demgegenüber eher die Vorstellung, dass präzise Formulierungen der νόμοι die Missbrauchsmöglichkeiten durch die Prozessierenden einschränken und so das Gerichtswesen stärken; vgl dazu etwa Demosth 24,17 68 Damit erteilen sie einer ‚autonomen‘ Nomosherrschaft, wie Aristoteles seinerseits sie in der ‚Politik‘ favorisiert (hierzu mit Quellenbelegen und Literaturhinweisen Piepenbrink 2001, 84; grundsätzlich auch Frank 2005, 112–137), eine Absage; vgl Lyk 1,3 f ; dazu Eder 1991, bes 195 f Eine zentrale Vorstellung, die Demosthenes in dem Zusammenhang formuliert, lautet, dass die Gesetze lediglich γράμματα seien und insofern nicht selbsttätig – d h ohne Verbindung mit Institutionen, die ihre Anwendung übernehmen – herrschen könnten; siehe Demosth 21,224 In der ‚Politik‘ besteht an der Stelle eine wesentliche Differenz zwischen der von Aristoteles favorisierten Form von ‚Gesetzesherrschaft‘ und jener, für die die attischen Rhetoren eintreten; hierzu Piepenbrink 2001, bes 183 f
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Demokratie seiner Zeit prinzipiell unterscheidet 25 Als deren Garanten begreift er zudem nicht Laienrichter, sondern in erster Linie ethisch qualifizierte πολιτικοί, die aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten in der Lage sind, im Falle von ‚Gesetzeslücken‘ auch jenseits der verschrifteten Gesetze im Interesse der Polis zu entscheiden 26 In der ‚Rhetorik‘ ist in Sonderheit die Überlegung, dass gut erlassene Gesetze den Richtereinfluss auf ein Minimum beschränkten,27 durch diesen Gedanken geprägt Hier manifestiert sich ein Unterschied zur attischen Praxis, die – speziell im Gerichtsdiskurs selbst – von einer hohen Richterkompetenz wie auch -macht ausgeht Nichtsdestotrotz ist hervorzuheben, dass Aristoteles in dem Kontext keine Position vertritt, die durch dezidiert antidemokratisches, gar oligarchisches Denken geprägt ist: In dem Sinne wäre etwa eine zensorische Gesetzesherrschaft zu verstehen, wie sie beispielsweise Isokrates propagiert 28 Als ausdrücklich athenophil ist ein Verweis auf den Areiopag zu werten, den Aristoteles als Beispiel für ein gut gestaltetes Gericht präsentiert, da hier eine strikte Konzentration auf den Fall und die Rechtslage explizit eingefordert werde 29 Seine Einschätzung korreliert mit Angaben aus Gerichtsreden vor dem Areiopag 30 Allerdings ist davon auszugehen, dass jene Forderung sich in Athen nicht auf diesen Gerichtshof beschränkt, sondern generell auf Tötungsfälle bezogen wird und damit auch die übrigen Gerichte betrifft, die derartige Delikte verhandeln, d h insbesondere das Ephetengericht 31 Die Gründe dürften dann – anders als der Stagirite, aber auch die betreffenden Redner suggerieren – weniger in der eigentümlichen Dignität des Areiopags zu suchen sein,32 als eher in den Spezifika von Prozessen zu Tötungsdelikten, die in höherem Grade als andere mit formalen Beweismitteln operieren, namentlich mit Eiden 33 Hinzu kommt, dass die – gerade für diese Vergehen – zentrale Frage nach der 25
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An der Stelle macht er – neben der Problematik der Orientierung am Gemeinwohl – den zentralen Unterschied zwischen den ‚πολιτείαι‘ und den sogenannten ‚παρεκβάσεις‘ aus; dazu u a Aristot pol 1279 a 17–21; 1292 a 32; zu seinen Überlegungen zur Beschränkung der richterlichen Entscheidungsgewalt auch Mirhady 2006, 317 Vgl Aristot pol 1287 b 15–18; hierzu Micalella 1983, bes 110; zum diesbezüglichen athenischen Befund Sickinger 2008, bes 100 Aristot rhet 1354 a 31–33; zu dem Gedanken Bullen 1997, 235–237 Zu diesem Modell der Nomokratie Cohen, D 1993; ders 1995a, 238–244, der allerdings auch Aristoteles in die Nähe der Vertreter eines solchen Modells rückt Dazu stützt Cohen sich vor allem auf die Einstellungen, die der Philosoph in den Büchern sieben und acht seiner ‚Politik‘ vertritt, in denen er sich das Ziel setzt, einen uneingeschränkt besten Staat zu entwickeln Zu den unterschiedlichen Typen von Gesetzeskritik in der Literatur des klassischen Athen Wallace 2007 Aristot rhet 1354 a 23 f ; zu seinem Gedankengang an der Stelle Grimaldi 1980, 11; grundsätzlich zu dem Phänomen Sprute 1982, 37 f So etwa mit Lys 3,46; zu der Parallele Rapp 2002a, 46 In dem Sinne u a Rhodes 2004, bes 155 f Zur Einschätzung des Areiopags in dieser Zeit Engels 1988a, bes 181–185; Wallace 1989, bes 175– 184; de Bruyn 1995, 155–161; Zelnick-Abramovitz 2011, 111–123 Zu dem Gegenstand Bonner/Smith 1938, 165–170; MacDowell 1963, bes 43 f ; Carawan 1998, 21; Lanni 2005, 124–126
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Intention des Tatverdächtigen hier weniger auf der Basis allgemeiner ethopoietischer Aussagen thematisiert wird als vielmehr in der Auseinandersetzung mit dem konkreten Geschehen 34 Die entsprechenden Narrative in den Reden kreisen demzufolge in hohem Grade um letzteres Über die Frage, was die Zeitgenossen in dem Zusammenhang unter der Forderung, unmittelbar fallbezogen bzw nicht ‚außerhalb der Sache‘ (ἔξω τοῦ πράγματος) zu argumentieren, verstanden haben, ist in der Forschung viel diskutiert worden 35 Die moderne Differenzierung von ‚legal‘ und ‚extralegal‘ hat sich dabei als wenig aufschlussreich erwiesen 36 Gerade bei Kapitalverbrechen, bei denen die Angeklagten im Falle eines Schuldspruchs gravierendste Strafen zu gewärtigen hatten – nicht selten ein Todesurteil oder ein langjähriges, wenn nicht gar permanentes Exil –, war es üblich und opportun, an das ‚Mitleid‘ der Dikasten zu appellieren, ohne dass solches als ‚unsachgemäß‘ eingestuft wurde Grundlegende diesbezügliche Unterschiede zwischen Reden vor dem Areiopag und anderen Gerichtsreden konnten bis heute nicht nachgewiesen werden; die Differenzen sind vielmehr graduell: In Reden im Zusammenhang mit Tötungsdelikten ist bei beiden Parteien eine stärkere Fokussierung auf den Tathergang festzustellen als bei vielen anderen Vergehen 37 Hinzu kommt, dass dort nur in geringem Maße mit politischen Kategorien operiert wird, was vorrangig darauf zurückzuführen ist, dass es sich bei derartigen Vergehen nach antikem Verständnis um private Delikte handelt Als rhetorisches Mittel zur Sicherstellung des ‚Wohlwollens‘ der Dikasten kann der Verweis auf Sachbezogenheit überdies in Prozessen unterschiedlichster Art angebracht werden 38 Ungeachtet der Tatsache, dass Aristoteles – analog den aktiven Rednern – für einen Gesetzespositivismus eintritt, propagiert er eine rhetorische Verargumentierung von
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Dazu schon Dorjahn 1930, 162–164 Aristoteles ist in der Hinsicht seinerseits nicht eindeutig: Teils moniert er sämtliche Bestrebungen, die Juroren emotional anzusprechen (so besonders Aristot rhet 1354 a 5–18; 1354 b 16–22; 1355 a 19 f ; 1404 a 3–8), teils würdigt er selbst diese Praktiken Hier scheint abermals der Konflikt zwischen einer Rhetorik auf, die ihren Schwerpunkt auf die enthymematische Argumentation richtet, und einer, die sich stärker an den Erwartungen einer ‚durchschnittlichen‘ Hörerschaft orientiert Zu der Problematik Konstan 2000a, 142 f ; Walzer 2000, 38–43; zum athenischen Befund Rhodes 2004, bes 137 155 f ; Lanni 2006, 1–3 70–74; dies 2013, bes 167 169; dies 2018, 186–189; Wallace 2018a, 208 Zu dieser Differenzierung und ihrer Kritik Lanni 2006, 42–64; Wallace 2008, 418–421; Adamidis 2017, 2 f Letzteres gilt insbesondere für Anklagen in öffentlichen Prozessen, bei denen oft vorausgesetzt wird, dass die Richter mit dem Fall bereits weitgehend vertraut sind; siehe z B Aischin 1,44; [Demosth ] 25,4 So in der ‚Kranzrede‘ des Demosthenes, in der dieser sich extensiv zur eigenen Person bzw zur von ihm vertretenen Politik äußert und sich dabei des Vorwurfs zu erwehren sucht, er entferne sich allzu weit vom eigentlichen Klagegegenstand; siehe Demosth 18,9 15 34 59; zu der Problematik Gagarin 2012, 302 f Für entsprechende Beispiele aus privaten Prozessen siehe Griffith-Williams 2012, 154 f ; dies 2016, bes 45 f
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νόμοι und unterbreitet hierzu auch konkrete Vorschläge 39 Diese unterscheiden sich partiell von der attischen Praxis der Zeit, weichen teils aber auch von seinem eigenen Postulat der Gesetzesobservanz ab So empfiehlt er, bei Bedarf auf Widersprüche und Mehrdeutigkeiten in νόμοι hinzuweisen, um im Anschluss eigene Interpretationen zu offerieren,40 oder den Richtern gar zu raten, ohne Rücksicht auf ein betreffendes Gesetz zu entscheiden 41 Ähnliches legt er für den Fall nahe, dass ein Gesetz anachronistisch scheint 42 Denkbar ist für ihn, alternativ auf ungeschriebene Gesetze zu rekurrieren, worunter er an der Stelle zuvorderst allgemeine, nicht einzelpolisspezifische Handlungsmaximen versteht 43 Zur Veranschaulichung verweist er u a auf die ‚ἄγραφα νόμιμα‘ aus Sophokles’ ‚Antigone‘,44 denkt seinerseits allerdings weniger an religiös fundierte Normen als vielmehr an solche, die sich aus anthropologischen oder naturrechtlichen Prämissen herleiten lassen Das meint keine genuin philosophischen Prinzipien, sondern zielt in der Sache auf tradierte soziale Werte 45 Wie nun verhalten sich diese Überlegungen zur zeitgleichen athenischen Praxis? Verweise auf ungeschriebene Gesetze sind dort keinesfalls ausgeschlossen – das im Zuge der Gesetzesrevision von 403 v Chr verfügte Zitationsverbot wird hier nicht tangiert 46 Die Identifikation von ungeschriebenen Gesetzen mit gängigen kollektiven Werten begegnet auch im zeitgenössischen Athen und kann selbst vor Gericht angebracht werden 47 Aus athenischer Perspektive problematisch ist hingegen, dass Aristoteles insinuiert, dass derartige Regelungen – unabhängig davon, wie sie inhaltlich ausgestaltet sind – kontrastiv zu geschriebenen νόμοι angeführt zu werden vermögen 48 Wenn sie in attischen Gerichtsreden ins Spiel gebracht werden, dann zumeist in additiver Form 49 Der Ratschlag, entgegen einem bestehenden Gesetz zu urteilen, wäre in 39 40 41 42 43
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Grundsätzlich zur Verargumentierung auch ‚nichtartifizieller‘ Beweismittel bei Aristoteles wie auch den attischen Rednern Carey 1994, 106; Gagarin 2004, 20 f Aristot rhet 1375 b 11–13; vgl Aristot rhet 1374 a 1–9 Siehe etwa Aristot rhet 1375 a 27–31; 1375 b 3–5 Aristot rhet 1375 b 13 f Hierzu besonders Aristot rhet 1368 b 7–9 Wie sich die verschiedenen Kategorien von Recht, mit denen Aristoteles operiert, zueinander verhalten und wie sie jeweils zu definieren sind, wird seit langem kontrovers diskutiert; zu dem Komplex Hirzel 1900, 64; Ostwald 1973, 78–83; Miller, F D 1991, 282–285 Ähnlich verfährt an der Stelle Anaximenes; siehe Anaxim rhet 1421 b 35 – 1422 a 4 Aristot rhet 1373 b 9–13 Vgl Aristot rhet 1374 a 20–26 Nach heutigem Forschungsstand zielt dies ausschließlich auf solche Gesetze, die im Rahmen der Revision ausgesondert und nicht ins neue Corpus übernommen wurden; dazu Ostwald 1973, 91 f ; Rhodes 1991, 97; Pébarthe 2006, 142 f ; Gagarin 2008, 33 185 Siehe beispielsweise Demosth 18,274 f ; zu dem Phänomen mit weiteren Belegen de Romilly 1971, 177 f ; Ostwald 1973, 102; Triantaphyllopoulos 1975, 51; Carey 1994a, 179 f ; Gehrke 2000, 151; Long 2005, 423; Gagarin/Woodruff 2007, 30–32; Gagarin 2008, 33 f So rät er, auf ‚gemeinsame‘, d h in dem Fall ungeschriebene Gesetze zurückzugreifen, falls die geschriebenen dem eigenen Anliegen entgegenstehen; siehe Aristot rhet 1375 a 27–29 Das gilt selbst für Lys 6,10, wo der Kläger zwar in einem Asebieprozess die Bedeutung auch der ungeschriebenen Gesetze ausdrücklich herausstellt, ohne aber dezidiert dafür zu plädieren, dies-
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einem realen Prozess grundsätzlich ausgeschlossen – er käme der Aufforderung gleich, den Heliasteneid zu brechen 50 Bezeichnend ist, dass sich diese ansonsten höchst ungewöhnliche Empfehlung auch bei Anaximenes von Lampsakos findet, so dass Interdependenzen zwischen den Texten oder aber eine gemeinsame Quelle in dem Fall wahrscheinlich sind 51 Der Ursprung der Vorstellung lässt sich nicht zuverlässig bestimmen; eine Verortung im Bereich der Sophistik ist naheliegend Zweideutigkeiten in Gesetzen zu thematisieren, ist auch in der Gerichtspraxis grundsätzlich möglich,52 jedoch nicht in einer Art und Weise, die geeignet ist, die Autorität des Gesetzes zu unterminieren 53 Eine weitere Anregung, welche der Philosoph für den Redner parat hält, zielt darauf, beim Fehlen einer gesetzlichen Regelung oder für den Fall, dass eine solche zwar existiert, aber zu allgemein formuliert scheint, um einem konkreten casus gerecht zu werden, überdies mit ‚Billigkeit‘ (ἐπιείκεια) zu operieren 54 Seinem Dafürhalten nach meint das konkret, dass nicht allein auf die Tat geschaut, sondern Intention und Persönlichkeit des Delinquenten sowie besondere Tatumstände, die zu einer milderen Einschätzung Anlass zu geben vermögen, in die Betrachtung einbezogen werden 55 Hinsichtlich der ‚Billigkeit‘ besteht in Athen das Problem, dass sie eine sophistische und zugleich aristokratische Konnotation aufweist 56 Zudem herrscht die Überzeu-
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bezügliche schriftliche Regelungen zu ignorieren; anders Rydberg-Cox 2003, 657, der hier eine Parallele zum von Aristoteles propagierten Argumentationsmuster sieht Zu der Problematik Harris, E M 2013a, 106–109; zu dem Umstand, dass Argumentationen dieser Art sich in den erhaltenen Reden nicht finden, mit Blick auf Demosthenes auch Mirhady 2000a, 185; generell zu dem Sujet auch Meinecke 1971, bes 280; Carey 1996, 42; Lanni 1999, 35 f Weniger skeptisch äußert sich Taylor, C C W 1990, 242 f , der den Rekurs auf ein solches Mittel zumindest als ultima ratio für vorstellbar hält Anaxim rhet 1443 a 15–28; zu dem Komplex Sickinger 2007, 290 Dabei kann es um einzelne Begriffe gehen, die mehrdeutig sind, aber auch um die Frage, in welchem Umfang dem Wortlaut des Gesetzes zu folgen ist und wie sich dieser zum gemeinten Sinn verhält; siehe z B Lys 10,6–10 20; 11,4 f ; dazu Kästle 2012a, bes 21 f 34–36; Osborne, R 2019, 34 Weitere Beispiele nennt Hillgruber 1988, 105–120; siehe auch Aviles 2011, 24–26 39; Rubinstein 2019, bes 177; grundsätzlich zur Problematik der Gesetzesexegese Meinecke 1971, bes 345–352; Todd 1993, 61 f ; Arnaoutoglou 2019, bes 194 f Kritik am νόμος der Polis wird in Athen leicht mit antidemokratischer Haltung assoziiert und ist insofern vor Gericht nicht opportun; hierzu mit Belegen Lanni 2006, 73; zu dem Komplex auch Harris, E M 2013a, 108 f Aristot rhet 1374 a 26–28 Prinzipiell zu seinem diesbezüglichen Verständnis im Verhältnis zu jenem Platons Georgiadis 1987, bes 164–167; Brunschwig 1996a, 126–135; zu den Auswirkungen der aristotelischen Vorstellungen auf das spätere antike Rechtsdenken Triantaphyllopoulos 1997, 22 Aristot rhet 1374 b 2–23; zu dem Gedanken D’Agostino 1973, 68; de Romilly 1979, 191 f ; Triantaphyllopoulos 1985, 18; Shiner 1987, 173 f 182; Vega 2013, 198 f ; Piepenbrink 2017, 5; prinzipiell – auch mit Blick auf die ‚Nikomachische Ethik‘ – Falcón y Tella 2008, 17–19 Überdies definiert er als ‚billig‘ das, was über das geschriebene Gesetz hinaus ‚gerecht‘ sei (Aristot rhet 1374 a 26–28) Die Bedenken der Athener zielen auf Vorstellungen, wie sie etwa Gorgias vertritt, der sich in seinem ἐπιτάφιος λόγος ausdrücklich dafür ausspricht, der ἐπιείκεια gegenüber der strikten Anwendung des verschrifteten Gesetzes den Vorrang einzuräumen (DK 82 B 6) Jener intendiert ein
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gung vor, dass Argumentationen in diesem Sinne hohe rhetorische Kompetenz erfordern und somit Angehörige der sozialen Elite mit entsprechendem Bildungshintergrund tendenziell begünstigen 57 Die Athener sind demgegenüber verbreitet der Ansicht, dass ‚Milde‘ vor allem nichtprivilegierten Bürgern gebühre 58 Dass Appelle an ‚Mitleid‘ und Operationen mit ‚Billigkeit‘ funktionale Äquivalente darstellen können, wurde in der Forschung mehrfach konstatiert,59 aber auch im klassischen Athen selbst bemerkt, so vom Redner Antiphon, der in seiner Verteidigung in der ersten ‚Tetralogie‘ beide Elemente zugleich einsetzt,60 oder von Demosthenes, der in seiner Rede gegen Meidias beide als für den vorliegenden Fall unangemessen ablehnt 61 Auch Platon scheint sich der Konvergenz bewusst zu sein: In seinen Nomoi grenzt er die zwei Formen von einem rechtspositivistischen Prozedere ab und weist sie gleichermaßen zurück 62 Aristoteles hingegen scheidet kategorisch zwischen einer syllogistischen Argumentation, der er nicht zuletzt den methodisch adäquaten Umgang mit ‚Billigkeit‘ zuordnet, und einer sophistisch geprägten Rhetorik, die seinem Verständnis nach nicht auf logische Stringenz zielt, sondern Emotionen ansprechen möchte 63 Parallelen zwischen den aristotelischen Überlegungen und den Formulierungen aus der attischen Gerichtsrhetorik sind an der Stelle indes dahingehend auszumachen, dass beide mit der Vorstellung arbeiten, dass situative Aspekte, insbesondere Motive und Intentionen des Tatverdächtigen im Umfeld der Tat, für die angemessene Einschätzung eines Falles unabdingbar seien 64 Des ungeachtet prädominieren die Dif-
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Urteil, das durch ‚Milde‘ und ‚Freundlichkeit‘ geprägt ist, und geht davon aus, dass in der Vergangenheit in dieser Weise vorgegangen wurde, als Rechtsentscheide weniger durch Verfahrensanwendung als vielmehr durch Orientierung an aristokratischen Wertvorstellungen gekennzeichnet gewesen seien; zu dem Verständnis Dreher 1983, 58 f ; Triantaphyllopoulos 1985, 17; Roßner 1998, 160 Einen Überblick über die Forschungspositionen zur Einstellung der Athener zur ‚Billigkeit‘ gibt Harris, E M 2004, 2–5 Überlieferungsbedingt verfügen wir kaum über Informationen, wie Personen, die rhetorisch wenig instruiert waren, sich vor Gericht geäußert haben; vgl Ober 1989, 45 Markant ist, dass logisch anspruchsvolle Argumentationen seitens der Athener nicht etwa – wie von Aristoteles insinuiert – kritisch gewürdigt werden, weil sie möglicherweise die Hörer überfordern, sondern da sie – so die Sorge – einige der Akteure selbst ins Hintertreffen geraten lassen könnten Dazu mit Belegen Rosivach 1991, 193 Siehe etwa Carey 1996, 42 f ; Lanni 2006, 42–64 Antiph or 2,2,13 Hier haben wir es mit einem der wenigen Fälle zu tun, in denen ein Beklagter in einer Gerichtsrede offen mit ‚ἐπιείκεια‘ arbeitet Ob daraus aber auf reales Gebaren vor Gericht geschlossen werden kann, ist fraglich An der Stelle ist sowohl der Mustercharakter der Rede wie auch die oligarchieaffine Haltung des Autors einzukalkulieren; zu der Problematik Gagarin 2002, 52–62 Demosth 21,90; zu seiner Argumentation auch Harris, E M 2013a, 285 Plat leg 757d/e An der Stelle plädiert Platon für ein rechtspositivistisches Vorgehen – im Unterschied zu anderen seiner Dialoge, in denen er sich von verschrifteten Gesetzen eher distanziert; zu dem Komplex Michelakis 1953, 5–27; Saunders 2001, 80–93 Dazu mit weiteren Literaturhinweisen Piepenbrink 2017, 6 Hierzu Kussmaul 2008, 44–46; Piepenbrink 2015a, 221–223; dies 2017, 7
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ferenzen, was zuvorderst darauf zurückzuführen ist, dass Aristoteles das verschriftete Recht nicht in gleichem Umfang für verbindlich hält wie die athenische Bürgerschaft In der Forschung wurde diskutiert, inwieweit die im attischen Heliasteneid enthaltene Weisung, dass unter bestimmten Bedingungen nach Maßgabe der ‚δικαιοτάτη γνώμη‘ zu urteilen sei,65 auf eine Orientierung an der ‚Billigkeit‘ ziele 66 Unabhängig davon, wie man sich in dieser Frage positioniert, ist festzustellen, dass auch an der Stelle die Unterschiede zwischen Aristoteles und der Gerichtspraxis im Vordergrund stehen: Zum einen beschränkt sich die genannte Direktive mit großer Wahrscheinlichkeit auf Situationen, in denen ein sachadäquates Gesetz nicht zur Verfügung steht, zum anderen impliziert die ‚gerechteste Meinung‘ eine Orientierung an demokratischen Prinzipien, darunter dem Bekenntnis zur Gesetzesobservanz, kann also nicht mit der Ausrichtung auf die νόμοι kontrastiert werden 67 Aristoteles unterstellt, dass Einzelrichter gewöhnlich in höherem Grade um ‚Billigkeit‘ bemüht seien als Dikasten in Volksgerichten, und nimmt an, dass nicht wenige Prozessierende, in Sonderheit solche, die der sozialen Elite angehören, aus ebendiesem Grund derartige Richterpersönlichkeiten präferieren 68 Der Typus des δικαστής, den er hier favorisiert, hat keine unmittelbare Entsprechung in der Umwelt des klassischen Athen Der Philosoph konzipiert ihn nach dem Modell des πολιτικός seiner Politika, d h er begreift ihn als einen Amtsträger, der grundsätzlich um gesetzeskonformes Handeln bemüht ist, bei Bedarf aber nach persönlicher Maßgabe entscheidet, wozu ihn eine an der Ethik orientierte Charakterbildung befähigt 69 Ein so beschaffener unterscheidet sich von den aus dem Athen des vierten Jahrhunderts bekannten
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Zu der Formulierung u a Demosth 20,118; 24,13; 39,40 f ; 57,63 Zugunsten dieser Position Vinogradoff 1912/28, 17; Stoffels 1954, 32 f ; dagegen Wolff 1962/8, 101 f ; Hillgruber 1988, bes 117; Carey 1994a, 179 f ; ders 1996, 42 46; O’Neil 2001, 25–29; Aviles 2011, 22; zu jener Kontroverse auch Biscardi 1970, 219–227; ders 1997, 6 Aristoteles verwendet besagten Terminus seinerseits in der ‚Nikomachischen Ethik‘, dort aber mit einer anderen Konnotation; dazu mit Belegen Biscardi 1970, 226 f In der ‚Rhetorik‘ bedient er sich indes der Formulierung ‚γνώμη ἀρίστη‘, die er durchaus im Sinne von ‚Billigkeit‘ versteht; so etwa Aristot rhet 1375 b 16 f ; 1376 a 19; 1402 b 33 f So auch Harris, E M 2013a, 276–285 und Canevaro 2019, 74 Hesk 2009, 152 f betont demgegenüber die Ähnlichkeiten mit dem aristotelischen Verständnis Zur Debatte über Gegenstand sowie zur Konnotation jenes Terminus im klassischen Athen Wolff 1962/8, 101; Meyer-Laurin 1965, 28–31; Biscardi 1970, 219–221; Triantaphyllopoulos 1975, 44; ders 1985, 28; ders 1997, 15; Mirhady 2007, bes 48–52; Wohl 2010, 31–33; Harris, E M 2013a, 105 f Aristot rhet 1374 b 19–22; zu seinen diesbezüglichen Überlegungen Georgiadis 1987, 167 f Den Einzelrichter präferiert er gegenüber einem großen Dikastengremium zudem mit Blick auf die Redesituation: Die Parteien könnten hier besonders sachorientiert argumentieren; überdies träten agonale Momente in den Hintergrund; siehe Aristot rhet 1414 a 11–14 In Athen bestehen diesbezüglich gewisse Vorbehalte, die historisch begründet sind Sie sind zum einen im vormals aristokratischen Charakter eines mit hohen Entscheidungskompetenzen ausgestatteten Einzelrichters zu sehen, zum anderen tun sich Parallelen zum tyrannisch affizierten Demenrichter der peisistratidischen Ära auf; zu letzterem [Aristot ] AP 16,5; vgl de Libero 1996, 81 Zu dessen Konzeption mit Belegen Piepenbrink 2001, 80–83
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Schiedsrichterformen – sowohl den privaten, die nicht als Träger eines Amtes fungieren,70 wie auch den öffentlichen, die keinen vergleichbaren Entscheidungsspielraum haben 71 Bezüglich der öffentlichen διαιτηταί kommt hinzu, dass der Gang zu jenen nicht im Ermessen der Parteien liegt, sondern – bei vielen Privatklagen, namentlich solchen mit geringem Streitwert – von den Vorsitzenden der Gerichtshöfe, die mit der Einleitung von Prozessen betraut sind, angeordnet wird 72 Präferenzen zugunsten privater Schiedsrichter begegnen teils auch in Athen, konzentrieren sich, wie oben bereits angemerkt, aber auf innerfamiliäre Fälle und sind anders motiviert,73 als von Aristoteles insinuiert ist 74 Wie schon zu Beginn des Kapitels angedeutet, empfiehlt unser Autor – ähnlich der juristischen Praxis – den Klägern, Angeklagte nicht nur des Verstoßes gegen eine einzelne Rechtsnorm zu bezichtigen, sondern ihnen den Bruch gleich mehrerer Bestimmungen vorzuhalten – an Beispielen nennt er u a Schwüre, Handschläge, Beteuerungen und Eheversprechen 75 In den tradierten Gerichtsreden wird hingegen weniger auf die Missachtung verschiedener Typen von Rechtsquellen abgehoben als vielmehr auf die Ignoranz gegenüber zahlreichen verschrifteten νόμοι Speziell in öffentlichen Prozessen wirft man Beklagten nicht selten vor, gegen das gesamte Gesetzescorpus zu verstoßen, was darauf zielt, die Betreffenden als Feinde der Rechtsordnung und damit als Gegner der Demokratie nachdrücklich zu diskreditieren 76 Dies steigert nicht nur den Vorwurf, wie von Aristoteles intendiert, sondern verschafft ihm darüber hinaus eine andere Qualität
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Deren konkretes Wirken ist dem von Mediatoren vergleichbar; zu jener Einrichtung Meyer-Laurin 1965, 41–45; Harrison 1971, 64–66; MacDowell 1978, 203–206; Hunter 1994, 55–62; Scafuro 1997, 35–42 393–399; Gagarin 2019, 87 f ; Lanni 2019, 216–220 Zu dieser Institution und ihrer Rolle bei der geregelten Austragung von Konflikten Hunter 1994, 62–66; Rhodes 1995a, 306; Scafuro 1997, 383–392; speziell zum Verfahren ihrer Bestellung Wallace 2019, 351–356 Zum Phänomen öffentlicher Schiedsrichter und diesbezüglicher Bestimmungen seit Ende des fünften Jahrhunderts Harrell 1936, 23 f ; Gernet 1939, bes 389–395; Harrison 1971, 66–68; MacDowell 1978, 207–209; Todd 1993, 128 f ; Thür 2004, 40; Gagarin 2019, 93–95 Wie oben gesehen, ist den Betreffenden vor allem daran gelegen, den Fall nicht in der breiten Öffentlichkeit und damit nicht vor einem Dikasterion zu präsentieren; vgl Kap 3 2 Die Vorstellung, dass private Schiedsrichter weniger strikt auf Gesetzesbasis entscheiden, ist allerdings auch im zeitgenössischen Athen nicht unbekannt; siehe etwa Is 2,30; dazu Jones 1956, 130–133; Meyer-Laurin 1965, 41–45 Aristot rhet 1375 a 8–11 Siehe z B Demosth 23,63 100; 24,5 16 19 31 f 38 199; [Demosth ] 44,29; 58,5 39; Lyk 1,147; Dein 1,46; grundätzlich zur Verknüpfung von Gesetzesbezug und Referenz auf demokratisch konnotierte Interessen und Werte in der attischen Rechtspraxis Wallace 2018, 20
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
4.2 Zum Umgang mit Eiden, Zeugen, Verträgen und Folter 4 2 1 Eide Bezüglich der Überlegungen zu Eiden (ὅρκοι) setzt Aristoteles analog der Rechtspraxis voraus, dass deren Einsatz zu einem erheblichen Teil auf der Initiative der Prozessparteien beruht: Diese haben die Möglichkeit, der Gegenseite einen Schwur zu offerieren bzw auf ein entsprechendes Angebot des Gegenübers zu reagieren 77 Dies ist insbesondere in privaten Prozessen verbreitet, denen die Aufmerksamkeit unseres Autors, wie wir gesehen haben, vorrangig gilt 78 Gänzlich anders verhält es sich mit jenen Eiden, die bei einigen Prozesstypen im Rahmen der ‚Voruntersuchung‘ (ἀνάκρισις) vor dem zuständigen Archon auf dessen Aufforderung hin geleistet werden 79 Mit diesem Typus, der gewöhnlich mit Selbstverfluchungen verbunden ist und in der Bürgerschaft traditionell hohe Achtung erfährt,80 beschäftigt der Philosoph sich nicht Sein mangelndes Interesse hieran braucht gleichwohl nicht zu verwundern, da auf diesen Eid zwar gelegentlich im Verlauf des Prozesses Bezug genommen,81 er aber kaum rhetorisch verargumentiert wird 82 Anders steht es mit den eingangs erwähnten von den Prozessierenden selbst veranlassten Schwüren Diese werden im Verfahren teils ausführlich thematisiert, wobei der Fokus üblicherweise nicht auf deren sachlichen Gehalten liegt, sondern auf dem Umstand, dass sie verweigert bzw zurückgewiesen wurden 83 Die Verweigerung eines Eides wird dabei von der Gegenseite gemeinhin als Eingeständnis einer Falschaussage gewertet 84 Noch häufiger tritt der Fall ein, dass eine Partei einen Eid anbietet, um ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern, dieser aber vom Kontrahenten abgelehnt wird, da gerade freiwillig offerierte Eide mit Unglaubwürdigkeit assoziiert werden 85 Eben jenes Prozedere rückt auch Aristoteles in den Mittelpunkt seiner Betrachtung Er macht dazu vier Varianten aus: Erstens man leistet einen Eid und lässt zugleich einen solchen leisten (d h es kommt zu einem Eidestausch), 77 78 79 80 81 82 83
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Zu der Praxis Bonner/Smith 1938, 145–191; Harrison 1971, 150–153; Sommerstein 2013a, 101–108 Zum Umgang mit Eiden in diesen Prozessen sowie zur Haltung des Aristoteles zu dem Gegenstand Mirhady 1991a, 81 Zu dem Verfahren Gagarin 1997, 128; ders 2007, 39; Thür 2005, bes 163; ders 2015, bes 174 f ; Scafuro 2013, 396; Sommerstein 2013a, 80 Dies gilt im Speziellen für Kapitalprozesse; vgl Demosth 23,67 f ; dazu MacDowell 1963, 92; Faraone 2002, 80–85; Konstantinidou 2014, 39–41 Dazu Gagarin 2007, 39 Hinzu kommt, dass er für die Entscheidungsfindung in klassischer Zeit kaum mehr relevant gewesen sein dürfte; zu dem Aspekt Gagarin 1997, bes 128 Michael Gagarin hat ausgezählt, dass 17 von 23 bekannten Eidesforderungen verweigert wurden; siehe Gagarin 2007, 40; zu dem Phänomen auch Plescia 1970, 44; Carey 1995, 119; Sommerstein 2013a, 102–105; speziell zur rhetorischen Verargumentierung der Eidesforderung bzw -verweigerung Gagarin 1997, 130 134 Hierzu mit Belegen Gagarin 2007, 42 Dazu abermals Gagarin 2007, 42
4 2 Zum Umgang mit Eiden, Zeugen, Verträgen und Folter
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zweitens man tut nichts dergleichen, drittens man tut das eine, das andere aber nicht, bzw viertens ein Eid wurde bereits vorab geleistet (von einem selbst oder dem anderen) 86 In der rhetorischen Praxis können sämtliche dieser Formen zur Sprache gebracht werden In der Forschung ist hierzu bemerkt worden, dass die Verweigerung eines Schwurs von der betreffenden Person nicht artikuliert werde;87 das ist offenkundig zutreffend; allerdings kann dieser Fall vom Kontrahenten angesprochen werden und so doch in der Rede zum Vorschein kommen Der Philosoph gibt für die verschiedenen Varianten Argumente an, die ungewöhnlich konkret und stark an der Pragmatik orientiert sind, teils sogar Prämissen enthalten, welche in der forensischen Praxis vorkommen, von ihm in der ‚Rhetorik‘ ansonsten aber nicht eigens diskutiert werden: So führt er etwa religiöse Gesichtspunkte an, darunter die Scheu vor einem Meineid oder die Möglichkeit, sich als gottesfürchtig zu präsentieren, indem man einen Eid anbietet und damit seinen Respekt nicht nur gegenüber den Richtern, sondern auch vor den Göttern demonstriert 88 In Einklang mit dem realen Gerichtsleben geht Aristoteles davon aus, dass die Verargumentierung von Eiden im Interesse der Ethopoiie geschieht, und zwar zur positiven Selbstdarstellung wie auch zur Kompromittierung des Gegners eingesetzt wird 89 Ferner setzt er voraus, dass Eidesleistungen in erster Linie im Gerichtskontext angesiedelt sind; auch das entspricht den sozialen Gepflogenheiten – im Geschäftsleben etwa wird in der Zeit kaum mit Schwüren operiert 90 Was ihn hingegen nicht beschäftigt, in der rhetorischen Empirie jedoch von Relevanz ist, ist die Frage, ob bestimmte Thematiken existieren, bei denen der Einsatz von ὅρκοι in besonderem Maße indiziert ist In den erhaltenen Reden ist diesbezüglich ein deutlicher Schwerpunkt zu erkennen bei Angelegenheiten, in denen es um den Status einer Person geht – das kann sich auf den Bürgerstatus beziehen, betrifft noch häufiger aber den Grad der Verwandtschaft, der bei innerfamiliären Auseinandersetzungen, speziell bei Kontroversen um Erbberechtigungen, eine entscheidende Rolle spielt 91 Auch Konflikte um Eidesleistungen, konkret um die Verweigerung von Eiden oder mögliche Falschbeeidungen, die in eine δίκη ψευδομαρτυρίας münden können, treten gehäuft in solchen Zusammenhängen auf 92
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Aristot rhet 1377 a 8–11 Sommerstein 2014a, 232 Aristot rhet 1377 a 12 25 f ; grundsätzlich zu den Argumenten, die er in dem Zusammenhang anführt, Sommerstein 2013a, 102 Letzteres geschieht vor allem dadurch, dass die Verweigerung einer Eidesannahme durch die Gegenseite gern als Beleg für deren Unglaubwürdigkeit, gar ‚Schlechtigkeit‘ gezeichnet wird; siehe Aristot rhet 1377 a 15–17 Hierzu Lanni 2005, 126; Carawan 2007, bes 74–80; Carter, D M 2007, 67; Sommerstein 2014, 67 f Dazu Scafuro 1994, 170 f ; zum historischen Kontext Connor 1994, 40 f Vgl Scafuro 1994, 171; zu dem Umstand auch Rubinstein 2005a, 112 f
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
Die für das politische Leben zentralen Eide, darunter den Heliasten- und den Ephebeneid,93 thematisiert der Philosoph entweder gar nicht oder streift sie nur kurz 94 In der forensischen Rhetorik ist der Verweis auf den Heliasteneid demgegenüber stark verbreitet, indem Redner die Richter mannigfach mahnen, gesetzeskonform zu handeln, und sie dazu an ihren Eid erinnern 95 Unabhängig von diesen speziellen ὅρκοι wird die Eidesthematik auch in der Praxis generell mit dem Gesetzessujet assoziiert und auf die Weise als für die Polis essentiell gezeichnet 96 Religiöse Aspekte werden in Athen zur Fundierung von Eiden angebracht, werden dabei aber nur selten stark gemacht, sondern zumeist additiv neben gesetzlichen angeführt Der Fall, dass Kläger die Richter zu harten Urteilen motivieren möchten, sie dazu an ihren Schwur gemahnen und in dem Zusammenhang anmerken, sie hätten ihrerseits eine Sanktion seitens der Götter zu befürchten, falls sie ihren Verpflichtungen nicht nachkämen, begegnet nur ausnahmsweise; er konzentriert sich weitestgehend auf Tötungsdelikte in älteren Reden 97 Eine derartige Argumentation ist nicht in jedem Fall probat, kann von den Juroren gar als Affront begriffen werden, insbesondere wenn sie den Eindruck gewinnen, der betreffende Ankläger hinterfrage ihr Engagement und hintertreibe ihre Autorität In solcher Manier begegnet das Phänomen bei Antiphon, der die Richter mannigfaltig brüskiert und dafür Kritik erfährt 98 Anders verhält es sich, wenn ein Kläger – wie etwa Lykurg – insinuiert, dass die Richter gewöhnlich im Sinne der Götter handeln, er politische und religiöse Momente also nicht kontrastiert, sondern verknüpft 99 Derartige Problematiken beschäftigen Aristoteles sämtlich nicht, 93 94
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Zu deren Relevanz in der praktischen Politik Cole, S G 1996, 230; speziell zur Rolle des Heliasteneides Mirhady 2007, bes 59; Bayliss 2013, 13–22; ders 2013a; 38–43; Sommerstein 2013; ders 2013a, bes 69–80; zu dem gesamten Feld Rhodes 2007 Letzteres gilt namentlich für den Heliasteneid Dieser kommt bei Aristoteles lediglich beiläufig zur Sprache im Rahmen von Argumenten, die ein Prozessierender anbringen könne, um die Eidbrüchigkeit seines Kontrahenten zu monieren; siehe Aristot rhet 1377 b 9–12 Eide, die im Bereich der Außenpolitik zum Einsatz kommen, bespricht er hingegen nicht, da er sich bei dem Gegenstand auf die Gerichtsrhetorik konzentriert; zu Eidesleistungen in der zwischenstaatlichen Politik siehe Scharff 2016 Zu dem Komplex Lys 10,32; 22,7; [Lys ] 14,22; 15,9; Demosth 18,6 249; 19,179 239 284; 20,118 167; 21,4 24 34 42 177 188 212; 22,39 45 f ; 24,149–151 175; 29,53; 57,69; [Demosth ] 45,87; 58,25; 59,115; Aischin 3,6 f 31 233; Is 2,47; 4,31; 6,2 65; Dein 1,84 Die markanteste Aussage findet sich in Lykurgs Rede gegen Leokrates (Lyk 1,79), der so weit geht, dass es nachgerade der Eid sei, der den Zusammenhalt der Demokratie gewährleiste Dies formuliert er als generelle Aussage im Anschluss an seine Ausführungen zum Ephebeneid (zu letzteren Lyk 1,76–78) Siehe beispielsweise Antiph or 4,1,5; 5,11; 6,3 Hier ist der Gedanke nicht zuletzt verbunden mit der Miasma-Vorstellung, dergemäß die gesamte Gemeinschaft durch ein Tötungsdelikt kontaminiert werde; dazu Parker 1983, bes 322; Carawan 1998, bes 17–24 Antiph or 4,2,8 f ; zum Phänomen der Explikation von Zweifeln an der richterlichen Kompetenz in den Reden Antiphons Zinsmaier 1998, 408–411 Siehe besonders Lyk 1,76 In der attischen Rhetorik ist eine solche Kombination durchaus gängig, wobei genuin religiöse Aspekte meist zur Verstärkung anderer eingesetzt werden; dazu King 1955, bes 363–365; Martin, G 2009, bes 15–48 203–215
4 2 Zum Umgang mit Eiden, Zeugen, Verträgen und Folter
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da er religiöse Gesichtspunkte als Referenzgrößen zur Legitimation politischer Ordnung nicht vorsieht 100 4 2 2 Zeugen Ausführlich widmet unser Autor sich der Thematik von Bezeugungen und Zeugen In Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Gerichtswesen setzt er voraus, dass Zeugen (μάρτυρες) von den Parteien berufen werden und primär die Funktion erfüllen, die Aussage des Berufenden zu bestätigen 101 Das ist – auch hierin besteht Konsens zwischen dem Philosophen und der Gerichtspraxis – auf zweierlei Art möglich: Für den Fall, dass der Betreffende über Sachinformationen verfügt, im Idealfall als Augenzeuge zugegen war, vermag er verwendet zu werden, um entsprechende Aussagen zur Faktenlage zu bekräftigen 102 Es können aber durchaus auch Personen als Zeugen benannt werden, die keinerlei einschlägige Sachkenntnis besitzen, jedoch als ‚Charakterzeugen‘ fungieren, indem sie die Vortrefflichkeit ihrer Partei und/oder Schlechtigkeit des Gegners bestätigen 103 Ebenfalls in Einklang mit der Praxis unterstellt der Stagirite, dass es maßgeblich von der Reputation des Zeugen abhänge, wie sein Zeugnis durch die Juroren aufgenommen wird 104 Letzteres gilt nachgerade für den zweiten der genannten Typen; zur Bestätigung von Sachinformationen können hingegen auch Sklaven zum Einsatz kommen 105 Empirieorientiert ist weiterhin die Annahme, dass Zeugenaussagen von der jeweiligen Partei zum Zweck der Selbstinszenierung verargumentiert werden 106 Damit kommt ihnen keine eigentümliche Funktion zu; sie werden vielmehr mit der gleichen Intention eingesetzt wie andere Typen von Aussagen, welche der Ethopoiie dienen, und sind so prinzipiell austauschbar 107 Daneben sind einige Besonderheiten zu erkennen: Aristoteles arbeitet selbst im Rahmen von Überlegungen, die ausdrücklich auf das Prozesswesen bezogen sind, zum
100 Zum auffallend geringen Interesse des Aristoteles an Religion – etwa auch bei der einschlägigen Thematik der Konzeption der Bürger – Blok 2005, 8 f ; zu der Thematik auch oben Kap 2 2 2 101 Einen Abriss der entsprechenden zeitgenössischen Praxis präsentiert Harrison 1971, 136–147 102 Aristot rhet 1376 a 24–26; diesbezüglich zur athenischen Praxis Mirhady 2002, bes 255 267 103 Aristot rhet 1376 a 25 In der Gerichtspraxis gilt dies nachgerade für private Prozesse; dazu Rubinstein 2005a, bes 101 f 104 Wie es sich dahingehend in der attischen Demokratie verhält, in welcher Relation Sachkenntnis und Sozialprestige in dem Zusammenhang stehen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert; dazu Mirhady 2002, bes 255 262 267 105 Dies geschieht in Prozessen verbreitet, besonders bei Taten im häuslichen Umfeld, wenn der Beschuldigte sich zum Zweck der Beteuerung seiner Unschuld bereit erklärt, seinen eigenen Sklaven zur Befragung zur Verfügung zu stellen Hier befinden wir uns gleichwohl an der Schnittstelle zur Folterthematik (dazu unten Kap 4 2 4) 106 Vgl Aristot rhet 1376 a 29–32 107 Als Beispiel führt er Verweise auf die ‚Wahrscheinlichkeit‘ an; siehe Aristot rhet 1376 a 17–23
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
Teil mit einem Zeugenbegriff, der über den der Gerichtspraxis hinausgeht, indem er Gewährsleute und Autoritäten unterschiedlichster Couleur, auf die vor Gericht Bezug genommen werden kann, als ‚μάρτυρες‘ tituliert 108 Dabei vermag es sich um zeitgenössische Persönlichkeiten, aber auch um solche der Vergangenheit zu handeln – namentlich denkt er an Dichter wie an illustre politische Akteure 109 Die angeführten Personen zeichnen sich seinem Verständnis nach dadurch aus, dass sie unter ähnlichen Bedingungen wie in der vorliegenden causa Entscheidungen zu treffen hatten 110 Das meint keine juristischen Präzedenzfälle – solche kennt er ebenso wenig wie das attische Gerichtswesen –,111 sondern Entscheidungssituationen im weitesten Sinne 112 Den betreffenden Persönlichkeiten schreibt er allem voran gnomische Sentenzen zu, die zur Veranschaulichung der damaligen Situation geeignet waren und auch aktuell hilfreich scheinen 113 Der Umstand, dass er den Terminus eher unspezifisch fasst, hat zur Konsequenz, dass er einige Spezifika der juristischen Zeugen seiner Zeit nicht reflektiert, darunter die Tatsache, dass in der Gerichtspraxis üblicherweise Personen tätig werden, die über ein hohes Sozialprestige verfügen und in einem Nahverhältnis zu ihrer Partei stehen 114 Ihm scheinen dagegen – den von ihm angeführten Beispielen entsprechend – vor allem Persönlichkeiten geeignet, die außerhalb des verhandelten Falles stehen 115 Zitationen aus literarischen Werken sind grundsätzlich auch in der forensischen Rhetorik opportun, sofern es sich um populäre Textpassagen handelt, die im Auditorium konsensfähig sind und zur Identifikation einladen 116 Allerdings werden 108 Dazu schon Dorjahn 1927, 85 109 An Beispielen aus der Vergangenheit nennt er Homer, Periander von Korinth und Solon, an zeitgenössischen Eubulos und Platon; siehe Aristot rhet 1375 b 28–34; 1376 a 9–11 110 Aristot rhet 1376 a 8 f 111 Bezogen auf Athen bedeutet das gleichwohl nicht, dass in Prozessen nicht auf frühere Fälle verwiesen werden kann Allerdings geschieht solches nicht in juristisch formaler, sondern in rhetorisch normativer Manier, etwa um als Kläger für eine strenge Bestrafung zu werben, indem man vermerkt, dass die Gerichte in der Vergangenheit härter gestraft und ihre Aufgabe somit besser erfüllt hätten; dazu etwa Lys 30,1; Demosth 2,29; 19,272; 21,123 183 210; 23,19; 24,134–136 211; 51,11; 57,35 f ; [Demosth ] 25,48; 26,23 f ; 42,31; Aischin 3,129 252 f ; Lyk 1,64–66; vgl Piepenbrink 2001, 165; zu dem gesamten Komplex Dorjahn 1928, 380; Lanni 1999, 41–51; dies 2004, 159–164; Harris, E M 2007, 365–367; ders 2019, 43–46; Rubinstein 2007, bes 360 371 112 Unter den Topoi, die er im dritten Buch bespricht, listet er den Fall der „Berufung auf eine bereits gefällte Entscheidung“ (εἰ γέγονεν κρίσις) Die konkreten Beispiele, die er hierzu angibt, entstammen jeweils Tragödien des Euripides; siehe Aristot rhet 1416 a 28–35 113 Als Beispiel führt er an, dass Eubulos im Prozess gegen Chares Platon zitiert haben soll, der zu Archibios gesagt habe, dass das Eingeständnis, ein Übeltäter zu sein, das in der Stadt Übliche geworden sei; siehe Aristot rhet 1376 a 9–11 114 In den meisten Fällen handelt es sich um Familienangehörige und Freunde; dazu Humphreys 1985/2007, 194–200; dies 1986, 85 f ; Todd 1990, bes 27; ders 1993, 96 f ; Martin, G 2008, 57 Gleichwohl ist dies nicht durchgängig der Fall bzw wird nicht beständig von den Rednern herausgestrichen; dazu Mirhady 2000a, 185 f , ders 2002, 262 115 Aristot rhet 1375 b 28; 1376 a 15 f 116 Zu dem Faktum Ford 1999, 231; Clarke 2008, 288–290; Edwards 2019, 329–332; Volonaki 2019, 283– 285
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sie dort üblicherweise unter historische exempla rubriziert, nicht unter ‚Zeugen‘ im engeren Sinne Mit den praktischen Aspekten der Zeugentätigkeit, die über die rhetorische Dimension hinausgehen, beschäftigt der Philosoph sich nicht Die Tatsache, dass Zeugenaussagen im Athen seiner Zeit dem Gericht allein in schriftlicher Form vorliegen und normalerweise nicht den Charakter eigenständiger Äußerungen haben,117 so dass im Prozess physisch auftretende Zeugen vielfach lediglich vorformulierte Aussagen bestätigen, bespricht er gleichfalls nicht Er trägt dem aber insofern Rechnung, als er den Zeugen selbst nicht als direkten Akteur im rhetorischen Geschehen der Verhandlung begreift 4 2 3 Verträge Verträge (συνθῆκαι resp συμβόλαια) werden in der forensischen Rhetorik zumeist in privaten Prozessen zur Sprache gebracht,118 gewöhnlich durch die Partei, die ihre Gültigkeit postuliert und demzufolge ihre Relevanz betont 119 Daneben begegnet aber auch der Fall, dass die Validität eines Vertrages, den die Gegenseite beansprucht, hinterfragt wird 120 Auch Aristoteles nimmt beide Varianten in den Blick und konstatiert, dass vertragliche Übereinkommen je nach Nutzen für den Betreffenden als glaubwürdig bzw verbindlich eingestuft werden oder eben nicht 121 Er geht dabei nicht von der Sache, sondern der Person aus – die Glaubwürdigkeit eines Vertrages macht er so an der präsumtiven Zuverlässigkeit der beteiligten Akteure, d h der Vertragsunterzeichner wie auch der Zeugen, fest 122 Dies korreliert wiederum mit der Praxis, die Zeugenaussagen in der Regel höher gewichtet als schriftliche Vereinbarungen 123 Noch stärker gilt dies für Abmachungen, die nicht schriftlich fixiert wurden Soll zugunsten eines Kontraktes argumentiert werden, empfiehlt unser Autor – analog der Handhabe vor Gericht –, dessen normative Dimension herauszustreichen, was so weit gehen kann, dass Verträge in unmittelbare Nähe der Gesetze gerückt werden 124 Entsprechend rät er einem 117
Zu dem Umstand, dass die Aussagen in der Zeit nur noch schriftlich vorgelegt werden, Calhoun 1919, 191; Harvey 1966, 593 f ; Lentz 1983, 252 f ; Gagarin 2004, 20; Faraguna 2008, 64; Siron 2019, 272–274 118 Zur Terminologie Kussmaul 1969, bes 15–20 25–29; ders 1985, bes 31 f ; Mirhady 2004, bes 60 119 Siehe etwa Lys 17,2 f ; Demosth 32,20; 34,30; 37,5; 48,9–11 17 19 30 32 48 50 f ; weitere Belege nennt Cohen, D 2003, 92–96 120 Dazu mit Belegen Harvey 1966, 609 f 121 Aristot rhet 1376 a 33 – b 2; vgl Aristot rhet 1375 b 10 f 122 Aristot rhet 1376 b 2–5; zur juristischen Praxis, in der es sich ähnlich verhält, Kussmaul 1969, bes 70; Rydberg-Cox 2003, 654 123 Hierzu Thür 2004, 42, der – auch im Kontext von Verträgen – die elementare Rolle der Zeugen herausstellt; zu der Parallele u a Carawan 2007b, 321–323 124 Siehe besonders Aristot rhet 1376 b 9 f ; dazu Mirhady 2004, 57
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solchen Redner, darauf zu verweisen, dass jemand, der vertraglichen Regelungen die Gültigkeit abspreche, zugleich die Gesetze außer Kraft setze 125 In der rhetorischen Praxis begegnet Derartiges im vierten Jahrhundert besonders bei Handelsverträgen,126 die zunehmend an Bedeutung gewinnen und seitens der Polis vermehrt auch gesetzlich reguliert werden 127 Nachgerade in δίκαι ἐμπορικαί ist dort zu beobachten, dass mit Verträgen in gleicher Weise argumentiert werden kann wie mit Gesetzen – das betrifft die Zitationspraxis, in der mit wörtlichen Zitaten gearbeitet wird, wie auch das positivistische Grundverständnis, demzufolge Kontrakte dem Wortlaut entsprechend zu befolgen seien 128 Generell aber wird unterstellt – dies spiegelt sich bei Aristoteles und den Rednern in gleicher Weise wider –, dass Gesetze als Basis für die Abfassung vertraglicher Vereinbarungen eine eher untergeordnete Rolle spielen Beide gehen vielmehr von einem ausnehmend hohen Grad an Vertragsfreiheit aus, die nur in geringem Umfang durch gesetzliche Vorgaben eingeschränkt wird 129 Das hat nicht zuletzt zur Konsequenz, dass in Streitfällen kaum die Chance besteht, die Gesetzeskonformität einer Vereinbarung in Zweifel zu ziehen und ihre Verbindlichkeit auf diesem Weg in Frage zu stellen 130 Konflikte kreisen zumeist um die Frage, was überhaupt Gegenstand der Abmachung war 131 Daneben kann thematisiert werden, ob sie gegebenenfalls durch Betrug oder 125
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Aristot rhet 1376 b 8–11; vgl Demosth 35,54 Zudem findet sich die Vorstellung, dass, wer Händler schädige, tatsächlich der Stadt einen Schaden zufüge – ein Gedanke, der ansonsten, d h abgesehen von der Händler-Thematik, in öffentlichen Prozessen begegnet, die in hohem Grade politisch affiziert sind –; siehe Demosth 35,5; 56,48; dazu Phillips 2013, 378 f ; Cohen, E 2016, 218 f Diese werden in größerem Umfang schriftlich fixiert als private Verträge aus anderen Lebensbereichen; dazu Cohen, E 1973, 129–136; Lombardo 1988, bes 184 f ; Cohen, D 2003, 92–96; Pébarthe 2006, 98–103 Siehe etwa Demosth 34,45; zum Quellenbefund Mirhady 2004, bes 54; Phillips 2013, 372; generell zu dem Komplex und seiner Relevanz für das athenische Rechtswesen Todd 1994, 136–138; Cohen, E 1994, 142 f ; Schuster 2005, 162–164 Einschlägig ist hier Demosth 35; zu seiner Argumentation in dieser Rede und zum rechtshistorischen Hintergrund Carey 1997, 150 f Von zentraler Bedeutung ist in dem Zusammenhang das Moment der schriftlichen Abfassung derartiger Verträge; dazu u a Gernet 1938, 31–33; Thomas 1989, 41 f ; Lanni 2006, 12 Dazu Wolff 1957, 27; Carawan 2006, bes 340–344 Nicht sicher ist, ob bzw inwieweit eine gesetzliche Bestimmung existierte, welche die generelle Verbindlichkeit vertraglicher Vereinbarungen anordnete, wie Hyperides an einer Stelle suggeriert; zu dem Komplex Cantarella 1966; Carawan 2006, 344–350; Cohen, E 2006, 73–75; Phillips 2009, 93–106; Aviles 2011, 26 f ; Gagliardi 2014, 181–183 204 f ; Gagarin 2018a, bes 48 f Nichtsdestominder unternehmen Prozessierende manchmal Versuche, in diesem Sinne zu argumentieren; vgl etwa Demosth 35,39; auch Aristoteles empfiehlt den Betreffenden zu prüfen, ob die Sachlage für ein solches Vorgehen gegeben ist, und gegebenenfalls nach jener Maßgabe zu verfahren; siehe Aristot rhet 1376 b 24 f Siehe beispielsweise Demosth 32,1 f ; 33,2 34; 34,3; 35,27 39 Dabei kann der gesamte Kommunikationsprozess, welcher der Abfassung des Schriftzeugnisses vorausgeht, in den Blick genommen werden Markant ist in dem Zusammenhang auch die Überzeugung, dass nicht das Dokument an sich Recht konstituiert, sondern die ihm zugrundeliegende mündliche Absprache, so dass stets der ganze Handlungskomplex zu beachten ist; hierzu Carawan 2007b, 322 f 326
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unter Zwang zustande gekommen ist 132 In der ‚Nikomachischen Ethik‘ führt Aristoteles gar an, dass in manchen Städten Gesetze existierten, die Rechtshändel über ‚freiwillige Vereinbarungen‘ (συμβόλαια ἑκούσια) ausschlössen 133 In der ‚Rhetorik‘ bringt er dies gleichwohl nicht an; der athenischen Praxis entspricht solches ebenfalls nicht 134 Dass – ungeachtet aller Offenheit in der Gestaltung von συνθῆκαι – bei Disputen über ihre Genese oder Handhabung ein Gericht angerufen werden kann, steht auch für ihn außer Frage Zur Relation von Gesetz und Vertrag findet sich bei dem Stagiriten schließlich die Vorstellung, dass auch ein νόμος letztlich einen Vertrag darstelle 135 Dies scheint durch das sophistische Rechtsdenken des fünften Jahrhunderts inspiriert;136 in der Gerichtsrhetorik des vierten Jahrhunderts ist ein solches Gesetzesverständnis hingegen nicht gängig 137 Allerdings macht auch Aristoteles diesen Aspekt nicht stark; wie oben gesehen, geht er – im Unterschied zu Anaximenes – nicht so weit, solches im Kontext der Gesetzesthematik als generelle Aussage anzubringen 138 4 2 4 Folter Hinsichtlich der Folter (βάσανος) vertritt der Philosoph – nunmehr in Übereinstimmung mit Anaximenes – die Position, dass sie ambivalent bewertet werden könne: So hält er es zum einen für möglich, dass Folter dergestalt auf die Seele eines Betroffenen einwirke, dass er motiviert werde, die Wahrheit zu sagen;139 zum anderen nimmt er an, dass er oder sie durch die Tortur veranlasst werden könnten, beliebige Aussagen zu tätigen, um ihre Pein zu beenden, und entsprechend auch geneigt seien zu lügen 140 Im Unterschied zu Anaximenes aber geht er so weit, einem Rhetor zu raten, die mög-
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Dies nennt auch Aristoteles als möglichen Einwand; gleichwohl macht er – wiederum in Übereinstimmung mit der Praxis – deutlich, dass ein Vertrag hierdurch nicht automatisch unwirksam werde; zu dem Komplex Aristot rhet 1376 b 21–23 133 Aristot EN 1164 b 13; zu dessen Verständnis Cataldi 1982, 202; zu seiner historischen Verortung Mirhady 2004, 54 134 Dies demonstrieren nicht zuletzt zahlreiche Streitfälle gerade um solche Vereinbarungen, die nicht in schriftliche Form gebracht wurden; siehe etwa Demosth 21,94; 27,27; 34,1; 35,27; 50,1; zu weiteren Beispielen Mirhady 2004, 54 135 Aristot rhet 1376 b 8 f ; dazu und zur Relation zum athenischen Verständnis Mirhady 2015, 240 136 Zum Vertragsansatz im sophistischen Rechtsdenken Kahn 1981, bes 94 f ; Müller, R 1987, 58 f ; Hoffmann 1997, bes 361 405 137 Dazu – auch über das athenische Beispiel hinaus – Triantaphyllopulos 1975, 40 138 Siehe oben Kap 4 1 139 Zu seiner Auffassung mit Belegen Thür 1977, 291 In der Forschung wird teils die These vertreten, dass ein Sklave so gegebenenfalls auch gegen seinen Herrn aussage, was unter normalen Umständen durch die Furcht vor jenem verhindert werde; dazu mit Quellenangaben MacDowell 1978, 245; Todd 1990, 34 140 Vgl Aristot rhet 1377 a 3–5
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4 Zum Umgang mit ‚nichtartifiziellen‘ Beweismitteln
lichen Bedenken zu verwenden, um die Praxis in Zweifel zu ziehen 141 Überdies weicht er damit von der rhetorischen Empirie ab: Wenn Redner sich zur Folterpraxis äußern, artikulieren sie im Normalfall Vertrauen, dass auf die Weise zuverlässige Aussagen zu generieren sind 142 Das korreliert mit der Bedeutung, welche der βάσανος in der Polis eingeräumt wird, insbesondere der Tatsache, dass sie unter bestimmten Bedingungen unmittelbar fallentscheidend sein und eine Gerichtsverhandlung obsolet machen kann 143 Kritische Äußerungen zu Folterungen vor Gericht, die durchaus auch belegt sind, beziehen sich normalerweise auf einzelne konkrete Anwendungen, weniger auf das Prozedere an sich 144 Aristoteles zeigt hier geringeren Respekt gegenüber rechtlichen Prozeduren, als es in der praktischen Rhetorik üblicherweise geschieht Ein Interesse an den Details der Handhabe demonstriert er auch in diesem Fall nicht 145 Frappant ist schließlich, dass er nicht darauf rekurriert, dass Folter im klassischen Athen im Normalfall ausschließlich an Unfreien vorgenommen wird und die dortige Praxis stark durch Vorstellungen zum spezifischen Verhalten von Sklavinnen und Sklaven geprägt ist 146 Seine Überlegungen zu möglichen Reaktionen auf Folter nehmen mithin nicht auf deren besondere Existenzbedingungen Bezug, sondern lassen sich grundsätzlich auf alle Menschen anwenden 147
141 Hierzu und zur Position des Anaximenes Thür 1977, 288 f 142 Siehe etwa Demosth 30,37; Lyk 1,29; dazu Thür 1977, 290 297; Gagarin 1996, 1; Mirhady 2000a, 193 143 Voraussetzung dafür ist freilich, dass eine βάσανος überhaupt zustande kommt Vielfach scheitert sie an dem Umstand, dass der Halter des Sklaven dessen Herausgabe verweigert; zu der Problematik inklusive der Debatte über die Frage, unter welchen Umständen sie zu einer verbindlichen Entscheidung des Falles führt, Mirhady 1991a, 79; Gagarin 2018, 167 f 173 144 Zu dem Komplex etwa Antiph or 5,31 f ; Lys 4,13–17; Demosth 37,41–43; zur Deutung derartiger Passagen Gagarin 1996, 8; zum Verfahren selbst u a Harrison 1971, 147–150 145 Vgl Thür 1977, 290; Mirhady 1996, 131 146 Zu den entsprechenden Assoziationen zu Sklaven mit Belegen Wrenhaven 2012, 63–71; zur Bedeutung der Statusdistinktion zwischen Sklaven und athenischen Bürgern an der Stelle du Bois 1991, 50–52; Mirhady 2000, 60; Hunter 2000, bes 5–7 Anaximenes hingegen bringt dieses Moment in seiner Ars rhetorica zur Sprache; siehe Anaxim rhet 1432 a 27 f 147 Anders Horton 2013, 2 f
5 Die Evokation von Emotionen und die Erwartungen des Auditoriums 5.1 Zum Umgang mit Emotionen Aristoteles zeigt sich – offenkundig analog den realen kommunikativen Bedingungen in den Polisinstitutionen – überzeugt, dass ein Auditorium notwendig einer emotionalen Ansprache bedarf, um einen Redebeitrag aufmerksam auf- und anzunehmen und nachdrücklich engagiert darauf zu reagieren Gleichfalls in Einklang mit dem zu seiner Zeit gängigen Verständnis geht er davon aus, dass Emotionen durch äußere Reize evoziert werden können, dass sie Handlungsimpulse auszulösen vermögen und auch die Art und Intensität einer Handlung wesentlich mitzubestimmen in der Lage sind 1 Mit Blick auf das Entscheidungshandeln in den Einrichtungen der Polis meint das seinem Dafürhalten nach konkret, dass Beschlüsse und Urteile in der Regel unterschiedlich ausfallen, je nachdem, unter Einfluss welcher Emotion sie gefällt werden 2 Davon ausgehend setzt er sich intensiv mit dem Gegenstand der πάθη auseinander 3 Er verfährt dabei ähnlich wie bei anderen Thematiken: Er listet und skizziert elementare Gesichtspunkte, die seiner Ansicht nach geläufige ‚Meinungen‘ (δόξαι) repräsentieren und sich zu ‚Sätzen‘ (προτάσεις) verarbeiten lassen, aus denen ein Redner dann überzeugende Argumente formen kann 4 Wie letzteres zu geschehen hat, reflektiert er in dem Zusammenhang nicht; dies diskutiert er an anderer Stelle unter methodischen, vor allem sprachlichen und logischen Aspekten, nicht jedoch themen- und kontextbezogen 5
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Zu dem Komplex Konstan 2006, 30 f Aristot rhet 1378 a 19–22 Aristot rhet 1378 a 30–1388 b 30 Zu seinem diesbezüglichen Verständnis und dessen Verhältnis zu modernen Emotionenbegriffen Cairns 2008, 45 Aristot rhet 1377 b 16–20; zu den Umständen, dass er hier kompilatorisch listet, aber keine Definition des Gegenstandes gibt, und – ebenso wie bei vergleichbaren Ausführungen in seinen ethischen Schriften – eine ‚offene‘ Liste ohne Vollständigkeitsanspruch präsentiert, Krajczynski 2011, 210 Das gilt für dieses Themenfeld in gleicher Weise wie für viele andere Die entsprechenden Betrachtungen stellt er im Schlussteil des zweiten Buches sowie breit gefächert im dritten Buch an
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5 Die Evokation von Emotionen und die Erwartungen des Auditoriums
Der Stagirite nennt eine Reihe gängiger πάθη,6 die in der praktischen Rhetorik teils ebenfalls virulent sind, dort allerdings in unterschiedlichem Grade Im Vordergrund rangieren hier ‚Mitleid‘ (ἔλεος) und ‚Zorn‘ (ὀργή) Sie stehen in einem antithetischen Verhältnis, korrelieren aber zugleich: Gewöhnlich sucht der Kläger den ‚Zorn‘ der Richter zu evozieren, wohingegen der Beklagte deren ‚Mitleid‘ zu erregen strebt 7 Dazu gilt es, die eigene Position zu akzentuieren wie auch das Ansinnen der Gegenseite zu konterkarieren Dieses Wechselspiel reflektiert der Philosoph nicht in vergleichbarer Manier, da er die beiden Emotionen separat behandelt, zwar die Situationen in den Blick nimmt, in denen sie zum Tragen kommen, ihre unmittelbare Verargumentierung hingegen nur tangiert Er zeigt sich zwar überzeugt, dass Emotionen zum Teil in einem komplementären Verhältnis stehen – als Gegenstück zum ‚Zorn‘ betrachtet er allerdings die ‚Milde‘ (πραότης) und beleuchtet damit eher die psychologische Ebene als die der öffentlichen Rhetorik 8 In Verbindung mit dem ‚Zorn‘ kommt Aristoteles schließlich auch auf den ‚Hass‘ (μῖσος) zu sprechen 9 Wir werden im Folgenden zunächst die Überlegungen zu ‚Zorn‘ resp ‚Hass‘, ‚Mitleid‘ wie auch ‚Milde‘ und im Anschluss jene zu ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘, ‚Furcht‘ und ‚Zuversicht‘ sowie ‚Scham‘ in den Blick nehmen, die übereinstimmend Konvergenzen, aber auch markante Differenzen zu den attischen Rhetoren aufweisen Des Weiteren thematisiert Aristoteles ‚Liebe‘ und ‚Dankbarkeit‘ 10 Hier sind abermals ausgeprägte Beziehungen zur rhetorischen Pragmatik auszumachen, speziell wenn es um die Freund-Feind-Thematik, den Gedanken des Agons sowie das Feld der Euergesie geht Dort allerdings befinden wir uns an der Schnittstelle zum Komplex der sozialen Werte, die Aristoteles in verschiedenen Kontexten in Augenschein nimmt Um Dopplungen zu vermeiden, werden wir letztgenannte Aspekte im Kapitel zu den sozialen Werten behandeln 11 Im Umgang mit dem Gesamtkomplex geht der Philosoph systematisch vor, indem er jede der Emotionen unter jeweils drei Fragen beleuchtet: Er möchte erstens eruie-
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Konkret führt er ὀργή, φιλία, ἔλεος, μῖσος, χάρις und φθόνος an (Aristot rhet 1378 a 20; 1378 a 30 – 1388 b 31) Diese Liste stimmt weitestgehend mit jener des Anaximenes überein (vgl Anaxim rhet 1439 b 17; 1440 a 28 f ), was u a William M A Grimaldi dazu veranlasst hat, hier eine unmittelbare Abhängigkeit zu jener zu konstatieren und diesen Umstand als Argument zu nehmen, die Schrift die Anaximenes zeitlich vor der des Aristoteles anzusetzen; siehe Grimaldi 1988, 12 f mit entsprechenden Belegen aus Anaximenes Die beiden Vorgehensweisen fungieren gewissermaßen als ‚Komplementärstrategien‘ Überdies begegnet der Fall, dass eine Partei sich beider Strategien zugleich bedient, indem sie für sich selbst ‚Mitleid‘ reklamiert sowie den ‚Zorn‘ der Richter auf die Gegenseite zu lenken sucht; zum Verhältnis der beiden Strategien Carey 1994b; Allen, D S 2000, 148–151; Bers 2009, 77–98; Rubinstein 2013, bes 164 f ; Piepenbrink 2016a, 418 Vgl Aristot rhet 1380 a 6–34 Aristot rhet 1382 a 1–19 Aristot rhet 1380 b 35 – 1382 a 19 Siehe unten Kap 6 2 und 6 3
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ren, in welcher Verfassung sich diejenigen befinden, die ein bestimmtes πάθος zeigen, zweitens gegen welche Personen das für gewöhnlich geschieht, und drittens um welche Gegenstände es dabei üblicherweise geht 12 Bereits an diesem Arbeitsprogramm wird deutlich, dass er, ähnlich wie in seiner Auseinandersetzung mit den Handlungsmotivationen,13 Erkenntnisinteressen verfolgt, die über die unmittelbare Verargumentierung des Sujets in der rhetorischen Praxis hinausreichen 5 1 1 ‚Zorn‘ und ‚Hass‘ Unser Autor beginnt mit dem ‚Zorn‘, den er grundsätzlich als ein „mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung (…) für eine vermeintliche Herabsetzung“ definiert 14 Zum Schmerz gesellt sich seinem Verständnis nach ‚Lust‘ (ἡδονή) hinzu, die sich ihrerseits aus der Hoffnung auf Vergeltung speist 15 Ein kardinaler Gedanke, welcher auch in der forensischen Praxis begegnet, zielt darauf, dass der Betreffende nicht nur einen materiellen Schaden erlitten hat, sondern sich zudem massiv in seiner ‚Ehre‘ verletzt sieht Übereinstimmung besteht weiterhin in der Überzeugung, dass die entsprechend Beschuldigten aus eben dieser Motivation heraus und demzufolge aus ὕβρις gehandelt hätten 16 Daneben sind Unterschiede zu konstatieren: Aristoteles denkt an der Stelle zwar ebenfalls an die Konsequenzen für die soziale Reputation des Betroffenen – so bemerkt er, dass es besonders zum ‚Zorn‘ gereiche, in Anwesenheit von Personen diffamiert zu werden, an deren Wertschätzung einem ausdrücklich gelegen sei oder vor denen man sich nachdrücklich schäme;17 bevorzugt aber hat er dessen persönliches Erleben im Blick Diese Fokussierung korreliert mit seinem Interesse an den psychischen Hintergründen, wie er es auch in seinen Ethiken oder in De anima demonstriert 18 In forensischen Reden können solche Aspekte gleichwohl nur partiell zur Sprache gebracht werden 19 Hier sind das Moment der persönlichen Schädigung und das daraus resultierende Missbehagen zwar fraglos virulent, aber nicht derart prioritär: Ein Geschädigter, der als Kläger auftritt, seinen eigenen ‚Zorn‘ artikuliert und die Richter gleichfalls zur ὀργή motivieren möchte, formuliert dazu 12 13 14 15 16 17 18 19
Aristot rhet 1378 a 24–26 Dazu oben Kap 3 1 Übers Rapp 2002, 73; Aristot rhet 1378 a 30 f : „Ἔστω δὴ ὀργὴ ὄρεξις μετὰ λύπης τιμωρίας [φαινoμένης] διὰ φαινομένην ὀλιγωρίαν“ Aristot rhet 1378 b 1 f Zu dieser Überzeugung im klassischen Athen Brüggenbrock 2006, bes 176 f Aristot rhet 1379 b 23–27 Dort kommen darüber hinaus stärker philosophisch inspirierte Aspekte zum Tragen, die genereller Natur sind und sich nicht auf den Polis- oder gar Gerichtskontext beschränken; dazu mit Belegen Engelen 2008, 42; dies 2009, 396 Es nimmt nicht wunder, dass Aristoteles an der Stelle ein Beispiel aus der ‚Ilias‘ anführt (Hom Il 18,109 f )
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5 Die Evokation von Emotionen und die Erwartungen des Auditoriums
durchaus das Moment des persönlichen Ehrverlusts und des Strebens nach Revanche, betont darüber hinaus aber das potentiell gemeinschaftsschädigende Verhalten des Täters und fordert die Juroren auf der Basis zu kollektiver Vergeltung auf 20 Letzteres tritt bei Aristoteles in den Hintergrund Aus Sicht des Philosophen ist zwar unstrittig, dass ‚Zorn‘ eine adäquate Reaktion auf ehrabschneidendes Verhalten darstellt – hier folgt er ganz der gängigen Auffassung –, nichtsdestotrotz tut er sich schwer mit dem Ansinnen, jenen vor Gericht anzubringen, um ihn auf die Dikasten zu transferieren Solches nämlich kollidiert seinem Verständnis nach mit der Forderung nach sachorientierter Argumentation seitens des Klägers und gesetzesfokussierter Entscheidung durch die Richter 21 In der attischen Gerichtspraxis hingegen wird an der Stelle kein grundsätzlicher Konflikt angenommen: Die Evokation von ‚Zorn‘ dient hier – so das übliche Verständnis – vorrangig dazu, die Juroren auf die Gefährlichkeit des Beklagten für das Gemeinwesen aufmerksam zu machen und sie so zu einer nachhaltigen Bestrafung zu veranlassen –, und zwar in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung 22 In dem Zusammenhang ist nicht zuletzt von Belang, dass viele Gesetze keine Bestimmungen zum Strafmaß enthalten, die Parteien demzufolge ihrerseits gehalten sind, eine Sanktion vorzuschlagen und die Richter von dieser zu überzeugen 23 Dieses Moment bringt Aristoteles allerdings nicht zur Sprache – im Unterschied zu Anaximenes, der hierin eine der zentralen Aufgabenstellungen für den forensischen Redner sieht 24 Die Demonstration von ‚Zorn‘ seitens der Juroren und eine gesetzeskonforme Verurteilung markieren nach athenischem Verständnis keinen Gegensatz, sondern können gar synonym gebraucht werden 25 Dies geschieht namentlich im Kontext massiver Vergehen: Als ausgesprochen schwerwiegend und entsprechend mit ‚Zorn‘ zu beantworten gelten etwa illegale Gesetzesanträge oder Vergehen gegen Heiligtümer 26 Selbst in solchen Fällen wird gern ὕβρις als Ursache angenommen – anders als bei Aristoteles jedoch nicht im Sinne der massiven Missachtung der ‚Ehre‘ eines einzelnen, unmit-
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In dem Sinne Lys 13,2 f ; Demosth 15,29; 21,30 45 140 188 221 225; 54,42; [Demosth ] 34,51; 35,54; 46,28; 50,57 64–66; dazu Allen, D S 2000, 151 f ; dies 2003, 76 f ; Cohen, D 2005, 228; Piepenbrink 2014, 149; Rubinstein 2016, 60 So formuliert er bereits im ersten Proömium des ersten Buches im Zusammenhang mit seinem Plädoyer für eine sachorientierte, durch Enthymeme gekennzeichnete Argumentation, dass ‚Zorn‘ und andere Emotionen nicht zur Sache gehörten, und warnt davor, den Richter zu ‚verdrehen‘ (διαστρέφειν), indem man ihn zu ‚Zorn‘, ‚Mitleid‘ oder ‚Neid‘ reize; siehe Aristot rhet 1354 a 14–25 Dazu mit Belegen Piepenbrink 2014, 150 Insofern begegnet das Phänomen auch in höherem Grade in öffentlichen als in privaten Prozessen; hierzu Rubinstein 2004, bes 188 Entsprechend sind die Kläger nicht nur gefordert, die Dikasten von der Schuld des Angeklagten zu überzeugen, sondern haben ihnen zugleich zu vermitteln, dass ein hoher Grad an Schuldigkeit vorliegt Auch zu diesem Zweck wird nachdrücklich mit ‚Zorn‘ gearbeitet Anaxim rhet 1426 b 36 – 1427 a 3 Siehe etwa Demosth 24,143; vgl Hyp 4, col 24 Vgl [Lys ] 6,17; Demosth 21,147; 24,152; Aischin 3,16
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telbar Betroffenen, sondern als exzeptionelle Rücksichtslosigkeit gegenüber der Polis insgesamt 27 Durch ‚Zorn‘ geprägtes richterliches Agieren wird in Athen – wiederum abweichend von unserem Autor – gewöhnlich nicht als bloße Gefühlsreaktion angesehen, sondern mit kognitivem, sachadäquatem Handeln assoziiert 28 An der Stelle wird nicht nur mit unterschiedlichen Maßstäben, sondern auch verschiedenen Bezugspunkten operiert: Der Philosoph setzt bei der Identifikation der Juroren mit dem Geschädigten an, in der praktischen Rhetorik rangiert der Bezug auf die Polis im Vordergrund Rigide, im Verbund mit ‚Zorn‘ verhängte Sanktionen werden in letzterer vorzugsweise mit öffentlichen Prozessen und unmittelbar gegen die Polis gerichtetem Fehlverhalten in Verbindung gebracht 29 Konkret manifestiert sich das etwa in der Weise, dass Kläger, deren Kontrahenten das Gericht ersuchen, seinen ‚Zorn‘ zu überwinden und milde zu strafen, den Richtern zu kommunizieren trachten, dass sie hier de facto aufgefordert würden, den Heliasteneid, die Gesetze und die demokratischen Institutionen preiszugeben 30 Der Verfasser der Demosthenes zugeschriebenen zweiten Rede gegen Aristogeiton bemerkt gar, dass die Dikasten der Intention des primordialen Gesetzgebers, also Solons, zuwiderhandelten, wenn sie keinen ‚Zorn‘ demonstrierten, obwohl der Beklagte eklatante Gesetzesbrüche begangen habe 31 Freilich ist auch den Rednern die Vorstellung geläufig, dass Appelle an ‚Zorn‘ zu unangemessen harten Strafen Anlass geben können und insofern keinesfalls unproblematisch sind 32 Dies wird nachgerade von Beklagten thematisiert, die entsprechende Befürchtungen für die eigene Person hegen In Anbetracht der hohen Akzeptanz der Praxis werden hier jedoch keine grundsätzlichen Monita angebracht; Kritik beschränkt sich gewöhnlich auf konkrete Personen und Fälle Dabei wird nichtsdesto27
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So etwa Demosth 21,46 In solchen Zusammenhängen wird ὕβρις auch gern mit ‚Verachtung‘ (καταφρόνησις) assoziiert; dazu mit Belegen Sanders 2012, 367–369 Dieser Begriff findet sich auch bei Aristoteles, allerdings bezogen auf den zwischenmenschlichen Bereich, ohne die ausdrücklich politische Konnotation, wie sie bei den Rednern oft begegnet Jene denken dabei speziell an die ‚Verachtung‘ des Demos oder der Einrichtungen der Polis; diesbezüglich zu Aristoteles Aristot rhet 1378 b 15–17 Prinzipiell zur Verknüpfung affektiver und kognitiver Elemente bei der Ansprache der Richter Johnstone, S 1999, 120–122; zum Hintergrund auch Konstan 2006, 421; Adamidis 2017, 5 Das meint freilich nicht, dass rationale Komponenten im Verständnis des Aristoteles an der Stelle nicht relevant wären, im Gegenteil Wie stark er diese gewichtet, variiert gleichwohl in Abhängigkeit von den Personen, die er jeweils im Blick hat Hinsichtlich der Menge der Richter schätzt er sie definitiv gering ein; zu dem Komplex aus unterschiedlichen Blickrichtungen Kraus 2003, Sp 693; Rapp 2008, 49 f 56; Voss 2009, 109 f Hiermit eng verbunden ist die Forschungskontroverse über die Frage, inwieweit unser Autor richterliche Emotionalität generell goutiert; dazu tendenziell affirmativ Maroney 2018, bes 23 f ; skeptischer hingegen Rapp 2018, bes 36–39 Zu dem Umstand Sanders 2012, 362 Siehe beispielsweise Aischin 3,198; zur Antithese von ‚Milde‘ und ‚Zorn‘ in derartigen Zusammenhängen auch Demosth 18,274; vgl Demosth 21,183; [Lys ] 14,40 [Demosth ] 26,23 Zu der Überzeugung mit Belegen Rubinstein 2004, 190
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minder insinuiert, dass zwischen einem ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Gebrauch des ‚Zorns‘ differenziert werden kann 33 Aristoteles vertritt die Ansicht, dass ‚Zorn‘ sich immer gegen eine konkrete Person richte,34 was für forensische Redner in ähnlicher Weise gilt 35 Überdies stellt er Überlegungen an, bei welchen Personenkonstellationen Ehrverletzungen und daraus resultierende Zornesreaktionen üblicherweise auftreten Hierzu listet er gleichwohl Beispiele auf, die für die Gerichtspraxis eher untypisch sind Das scheint zunächst paradox, erklärt sich aber aus der Tatsache, dass er sich diesbezüglich nicht mit dem Prozesswesen begnügt, sondern das soziale Leben im weiteren Sinne ins Visier nimmt: So unterstellt er, dass ‚Zorn‘ vorrangig Personen gegenüber empfunden werde, zu denen eine persönliche Nahbeziehung besteht, etwa zu Freunden, bei denen deviantes Verhalten der genannten Art nicht erwartet wird und daher zu besonderer ‚Entrüstung‘ Anlass gibt 36 In solchen Fällen wird gemeinhin kein Gericht eingeschaltet, so dass sich die Frage nach der rhetorischen Umsetzung jenes Befindens im juristischen Kontext gar nicht stellt Obendrein setzt er voraus, dass ‚Zorn‘ verbreitet gegen Niedrigerstellte gefühlt wird, wenn sie entsprechendes Tun zeigen 37 Diesen Gedanken kennen wir etwa aus der Rhetorik der römischen Republik, die im Rahmen einer deutlich stratifizierten, durch markante Hierarchien gekennzeichneten Gesellschaft operiert 38 Zur Verargumentierung in einem attischen Gericht, das eher geneigt ist, im umgekehrten Fall ‚Zorn‘ zu zeigen, d h wenn ein Angehöriger der politischen Elite sich einem nichtprivilegierten Mitbürger gegenüber ehrabschneidend gebärdet, eignet er sich nicht 39 Allerdings handelt es sich bei diesem nur um eines der möglichen Beispiele, die der Philosoph für Ehrverletzungen in asymmetrischen Konstellationen nennt Typischer für den griechischen Kulturkreis – wenn auch aus inhaltlichen Gründen ebenfalls nur eingeschränkt vor Gericht verwendbar – sind entsprechende Überlegungen des Stagiriten, die nicht im Rahmen fester gesellschaftlicher Strukturen angesiedelt sind, sondern sich auf unterschiedlichste soziale Distinktionsmerkmale und Wettbewerbsfelder 33 34 35 36 37 38 39
Zu entsprechenden Beispielen Harris, W V 2001, 186 Aristot rhet 1378 a 32–34 Referenzpunkt ist hier nahezu durchgängig der Gegner im Prozess bzw Personen aus dessen Umfeld, die mit jenem sympathisieren und ihn gegebenenfalls im Prozess unterstützen Aristot rhet 1379 b 2 f Aristot rhet 1379 b 8–10 Dazu mit Blick auf die Komplementärstrategie, d h die Evokation von ‚Mitleid‘, die nach den gleichen Regeln erfolgt, und Belegen aus ciceronischen Reden sowie rhetorisch-theoretischen Schriften Ciceros Piepenbrink 2016a, 430 f Dort stoßen wir eher auf die Vorstellung, dass namentlich solchen Klägern zu ‚zürnen‘ sei, welche die fragliche Tat leicht hätten vermeiden können, was sich in erster Linie gegen Vermögende wendet; siehe etwa Lys 31,11 Zu der Ansicht, dass in einem asymmetrischen Konflikt gerade der schwächere Part die Richter ersuchen dürfe, sich mit ihm zu solidarisieren, ihm zu ‚Hilfe‘ zu kommen, in seinen ‚Zorn‘ einzustimmen und auf die Wahrung resp Wiederherstellung seiner ‚Ehre‘ und damit seiner sozialen Stellung hinzuwirken, z B Christ 1998, 161; ders 2010a, 205–215; Scheid-Tissinier 2007, 189 f ; Rosenbloom 2009, 195; van’t Wout 2010, 180–182
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beziehen können: Konkret ist daran gedacht, dass ein Mann sich von einem anderen trotz oder gerade wegen seiner spezifischen Merkmale, Leistungen oder Erfolge verachtet sieht, obwohl der andere auf dem jeweiligen Terrain seinerseits nicht reüssiert, möglicherweise nicht einmal Anstrengungen hierzu unternommen hat Als Beispiele nennt der Stagirite u a die Missachtung des ‚Reichen‘ durch den ‚Armen‘ oder jene des Philosophen durch eine Person, die an Philosophie kein Interesse zeigt, sich über derlei Ambitionen gar mokiert 40 Ein Fall, der in der forensischen Praxis verbreitet begegnet, von Aristoteles alldieweil nicht eingehend diskutiert wird, ist jener, dass ein Beklagter, der in einer emotionalen Ausnahmesituation, in der er sich von einem anderen herausgefordert sieht, zu gewaltsamer Selbsthilfe greift und in der Folge, wenn er von der Gegenseite zu gerichtlicher Verantwortung gezogen wird, auf seinen ‚Zorn‘ verweist 41 Für einen solchen kommt es darauf an, deutlich zu machen, dass er nicht umhinkonnte, spontan zu reagieren 42 Hier haben wir es – anders als in jenen Fällen, in denen es darum geht, den ‚Zorn‘ der Richter zu evozieren – mit einer causa zu tun, in der rationales und affektgeleitetes Handeln kontrastiert werden und letzteres mit einer positiven Konnotation belegt wird: Der Betreffende sucht zu vermitteln, dass er im Affekt gehandelt habe, um das Gericht zu motivieren, auf mildernde Umstände zu erkennen 43 Die Problematik, die dem zugrunde liegt, ist mit dem Deutungsschema des Aristoteles kompatibel; die konkrete Umsetzung in der Gerichtsrhetorik interessiert den Philosophen an der Stelle hingegen nicht Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Aristoteles das πάθος in seiner Systematik der ‚Überzeugungsmittel‘ stets beim Auditorium festmacht Die Tatsache, dass ein Redner seinerseits πάθος demonstriert und dies auf die Zuhörer transferiert, rückt infolgedessen in den Hintergrund 44 Generell fällt bei den Betrachtungen unseres Autors zu der Thematik auf, dass er – trotz der Tatsache, dass sein Interesse nicht eigentlich der emotionalen Verfassung eines Geschädigten, sondern jener der Dikasten gilt – die Spezifika der Richterrolle in dem Zusammenhang nur in Ansätzen reflektiert Er unterstellt vielmehr, dass die ὀργή der Juroren und jene von unmittelbar Leidtragenden weitestgehend deckungsgleich seien 45 40 41
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Aristot rhet 1379 a 1 f 36 f Die Möglichkeit, dass jemand aus einer Emotion heraus, nachgerade aus ‚Zorn‘ Unrecht begehen könne, reißt er kurz an, verfolgt sie aber nicht weiter, sondern verweist darauf, dass er den ‚Zorn‘ an anderer Stelle, nämlich im Kontext der Emotionen, zu behandeln beabsichtigt; siehe Aristot rhet 1373 b 36–38 Dort aber bespricht er ihn – der Anlage seines Werkes entsprechend – nicht in Bezug auf die Täter, sondern auf die Richter, welche das Auditorium bilden Vgl Lys 3,39; 18,19; dazu Piepenbrink 2014, 148 Zu dem Umstand u a Dorjahn 1930, 164 f So geht er davon aus, dass das πάθος der Zuhörer aus dem ἦθος des Redners resultiere resp durch die Rede hervorgebracht werde; vgl Aristot rhet 1356 a 14; 1377 b 23 – 1378 a 1; 1380 a 2 f ; 1387 b 18–21; zu dem Komplex auch Hagen 1966, 18 Seine Betrachtungen zu dem Gegenstand konzentrieren sich auf die Lage der unmittelbaren Akteure
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Dies allerdings führt er, wie gerade angedeutet, nicht auf einfache Affektübertragung während der Gerichtsverhandlung zurück, sondern auf den Umstand, dass die Geschworenen sich in die Lage des Geschädigten versetzen und sich mit ihm identifizieren 46 Besonderheiten des richterlichen ‚Zorns‘, die aus der Verantwortung der Dikasten für die Polis resultieren, geraten demgegenüber kaum ins Visier 47 Zur Thematik des ‚Hasses‘ äußert sich Aristoteles deutlich knapper als zu jener des ‚Zornes‘,48 was mit dem Umstand einhergeht, dass sie auch in der forensischen Rhetorik, die er in seinen Überlegungen zu den Emotionen fokussiert, eine untergeordnete Rolle spielt In Übereinstimmung mit seiner Umgebung geht er davon aus, dass ‚Hass‘ nicht auf ein Individuum zielen muss, sondern auf eine Gattung von Personen gerichtet sein kann – exemplarisch nennt er den Typus des ‚Verleumders‘ oder des ‚Diebes‘ – und auch nicht voraussetzt, dass man persönlich durch eine derartige Person einen Schaden erlitten hat 49 Weiterhin deutet er an, dass ‚Hass‘ und ‚Feindschaft‘ (ἔχθρα) miteinander in Verbindung stehen,50 ohne dies aber weiter zu vertiefen oder durch Beispiele zu untermauern Diese Assoziation steht auch in der praktischen Rhetorik im Vordergrund, wird dort aber dezidiert auf äußere Feinde der Polis bezogen Demzufolge findet sich das Gros der Belege in Demegorien bzw in Gerichtsreden aus öffentlichen Prozessen mit außenpolitischer Dimension 51 5 1 2 ‚Mitleid‘ Das Gegenstück zum Appell an den ‚Zorn‘ bildet in der Gerichtsrhetorik jener an das ‚Mitgefühl‘ der Juroren 52 Aristoteles begreift ‚Mitleid‘ als ein Gefühl des Schmerzes über ‚unverdiente Unglücksfälle‘ (ἀναξίαι κακοπραγίαι),53 dessen nur Personen guten Charakters würdig seien 54 Er thematisiert dies grundsätzlich, wohingegen die Sprecher in Gerichtsreden sich gewöhnlich auf unter forensischen Gesichtspunkten relevante Situationen konzentrieren Am verbreitetsten ist bei ihnen das Wehklagen von Beschuldigten über einen vermeintlich unangemessen hohen Strafantrag der Gegen46
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Neben dem Einsatz ethopoietischer Mittel kann ein Redner dazu auf der Grundlage geeigneter Narrative bei den Hörern eine ‚Einbildung‘ (φαντασία) generieren, die ihrerseits ‚Lust‘ oder ‚Schmerz‘ bei jenen auslöst; dazu mit Belegen Rorty 1996a, 20–22; zu den ethischen Hintergründen Rapp 2008, bes 49 f 56 In dem Sinne auch Viano 2018, bes 232 Den zentralen Abschnitt bildet Aristot rhet 1382 a 1–19 Aristot rhet 1382 a 3–7 Aristot rhet 1382 a 1 Siehe z B Demosth 1,7; 5,6; 6,20; 8,1 12; 11,5; 12,6; 13,8; 14,37; 15,6; 17,23; 18,16 147 234 279 283 293; 19,80 85 134 222 Zu letzterem Konstan 2007a, bes 418 Aristot rhet 1386 b 9 f ; dazu Mulhern 2008, 248 Aristot rhet 1386 b 12 f
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seite Dies setzt – anders als von unserem Autor insinuiert – keine Unschuld, nicht einmal in jedem Fall eine Unschuldsbeteuerung voraus 55 Wichtiger ist der Gedanke der Verhältnismäßigkeit, der nicht nur auf die adäquate Relation von Vergehen und Strafe abzielt, sondern zudem die Täterpersönlichkeit, deren Lebensumstände und familiäre Situation in die Betrachtungen einbezieht 56 Obendrein kommt hier zum Tragen, dass in der Gerichtskommunikation nicht nur das Verhältnis zur Gegenseite in den Blick genommen wird, sondern auch das zu den Richtern, das seinerseits – zumindest partiell – durch Reziprozität gekennzeichnet ist 57 Gerichtspraktische, konstellationsbezogene Überlegungen dieser Art beschäftigen den Philosophen nicht Trotz alledem sind auch in seinen diesbezüglichen Überlegungen deutliche lebensweltliche Bezüge auszumachen: Zunächst einmal ist festzuhalten, dass er ‚Mitleid‘ – wie im antiken griechischen Kulturkreis gängig – den ‚Emotionen‘ (πάθη) zurechnet, nicht den ‚Tugenden‘ (ἀρεταί) 58 Kongruenz mit populären Auffassungen besteht auch in der Überzeugung, dass die Anwesenden ‚Mitleid‘ hauptsächlich mit Personen empfinden, mit deren Leid sie sich zu identifizieren vermögen Seinem Verständnis nach gilt das vor allem für solche, die den Betreffenden persönlich bekannt und/oder hinsichtlich des Alters, des Charakters, des Ansehens resp der Herkunft ähnlich sind 59 Eingehender als die Redner reflektiert er indes, dass die Fähigkeit wie auch die Bereitschaft, ‚Mitgefühl‘ zu entwickeln und zu demonstrieren, nicht allein von Merkmalen der leidenden Person abhänge, sondern überdies von solchen der Hörer: Relevant scheinen ihm hier das Alter, aber auch persönliche Problemlagen, die sich auf die Sensibilität gegenüber Verletzungen anderer förderlich oder hemmend auswirken können 60 Die Rhetoren gehen an der Stelle eher von einer homogenen Disposition der Juroren aus, wobei sie letztere weniger als Einzelpersonen, denn in ihrer Rolle als Richter reflektieren 61 Auch deren Bereitschaft, schwächeren Bürgern Unterstützung zukommen zu lassen, wird bevorzugt mit diesem Selbstverständnis in Verbindung gebracht, weniger mit persönlichen Gefühlslagen, Präferenzen oder gar individueller ‚Empathiefähigkeit‘ 62
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Anders Konstan 2000a, 133 f ; ders 2001, 43, der davon ausgeht, dass die Redner diesbezüglich mit Aristoteles übereinstimmen; ähnlich Ajootian 2005, 223; Sternberg 2005a, 21 f Vgl Antiph or 5,73; Lys 4,20; Demosth 28,20; 42,32 Dies gilt insofern, als ein Beklagter wie auch ein Kläger u a unter Verweis auf ihr Engagement in der Polis Unterstützung seitens der Richter erwarten dürfen; hierzu Millett 1998, 229–239 Gleichwohl trifft es nicht uneingeschränkt zu, da das Verhältnis zwischen Prozessierenden und Richtern nicht durch Egalität markiert ist Hierzu mit Quellenbelegen aus unterschiedlichen Textgattungen Konstan 2001, 3; Sternberg 2005a, 40 Aristot rhet 1386 a 18 25 f Aristot rhet 1386 a 25–27 Dazu mit Belegen Serafim 2017a, 32–37 Zu dem Aspekt Christ 2010a, 205 f
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Insgesamt ist die athenische Praxis auf dem Gebiet in deutlich höherem Grade soziopolitisch affiziert als die entsprechenden Überlegungen des Aristoteles Die besten Chancen auf das ‚Mitleid‘ der Richter haben im Athen des vierten Jahrhunderts Beklagte aus nichtprivilegierten Schichten,63 welche den Richtern überzeugend kommunizieren, dass sie, wenn überhaupt, einzig aus Not gefehlt haben,64 bis dato nicht in Prozesse verwickelt waren, daher auch in Gerichtsangelegenheiten einschließlich der dortigen Rhetorik unbedarft seien und sich nun einem skrupellosen Kläger ausgesetzt sähen, der rhetorisch versiert, vermögend und ohne Respekt gegenüber der Polisgemeinschaft agiere 65 Obendrein verweisen sie auf den Schaden für ihre Familie, ihre noch unmündigen Kinder wie auch alten Eltern – wobei zusätzlich angemerkt werden kann, dass auch der inzwischen greise Vater sich stets als guter Bürger erwiesen habe 66 An der Stelle lassen sich auch nonverbale Mittel einsetzen, um das Leid der Angehörigen ostentativ zu präsentieren, namentlich indem man seine kleinen Kinder weinend vor den Juroren auftreten lässt 67 Praktiken dieser Art honoriert Aristoteles persönlich tendenziell nicht, räumt allerdings ein, dass sie durchaus wirksam seien 68 Seinem Verständnis nach trachten sie hauptsächlich danach, die Richter emotional zu vereinnahmen, und sind geeignet, von Sachfragen abzulenken 69 Wenn er sich dahingehend skeptisch äußert, zielt er gleichwohl weniger auf die Bürger, die sich – nicht selten in Ermangelung anderer Möglichkeiten – derart präsentieren,70 als auf erfahrene Rhetoren bzw deren Instrukteure, die
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Dabei liegt der Fokus nicht auf dem Moment der sozialen Inferiorität, sondern auf dem Gedanken, dass selbige sich auch vor Gericht nachteilig auswirken könne und damit der Gedanke der ἰσονομία – verstanden als Gleichheit der Politen vor dem Gesetz sowie als Chancengleichheit vor Gericht – ausgehebelt werde Aus athenischer Sicht handelt es sich an der Stelle nicht um ein soziales, sondern um ein politisches Problem Markant begegnet jenes Motiv etwa im ἐπιτάφιος λόγος des Perikles im Werk des Thukydides; siehe Thuk 2,37,1; dazu Leppin 1999, 87; Levy 2005, 123 Zu entsprechenden Stellen bei den Rednern des vierten Jahrhunderts z B Demosth 15,29; 21,30 45 188 221; hierzu mit weiteren Belegen und Literaturhinweisen Piepenbrink 2013, 24 Siehe z B Lys 7,13 f ; 31,11; zu dem Motiv Dover 1974, 109 f Hier wird u a mit dem Motiv positiv konnotierter ‚Armut‘ gearbeitet; dazu Dover 1974, 112; Fisher 1999, 54; Cecchet 2015, 185–226 Zum Aspekt der Unerfahrenheit und seiner Bedeutung in der Selbstinszenierung von Prozessierenden auch Lanni 2013, 163 165; Cecchet 2013, 62; Taylor, C 2017, 51 ‚Armut‘ wird dabei nicht absolut, sondern relativ verstanden – allerdings weniger in Bezug zum durchschnittlichen Besitz in der Bürgerschaft, sondern vor allem in Relation auf das Vermögen des jeweiligen Gegners Siehe beispielsweise Andok 1,141; Lys 20,35 Siehe etwa Lys 20,34–36; Demosth 21,99 186; 38,20; Aischin 2,152; zur performativen Dimension derartiger Praktiken u a Apostolakis 2017, 138–149 Aristot rhet 1386 a 32–35 Aristot rhet 1354 a 16–18 24 f Wie oben gesehen, schenkt er jenen Personen kaum Aufmerksamkeit, sondern setzt voraus, dass die Kombattanten vor Gericht in der Regel der sozialen Elite angehören (vgl Kap 3 2) In Athen ist das soziale Spektrum der Beteiligten in jedem Fall breiter; Angehörige der Unterschichten sind als Kläger oder Beklagte vor Dikasterien allerdings auch hier unterrepräsentiert
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solche Strategien zu professionalisieren und als integralen Bestandteil der ῥητορικὴ τέχνη zu propagieren suchen 71 In demokratiefernen Kreisen Athens finden sich kritische Stimmen zum Umgang mit dem ‚Mitleid‘, die Parallelen mit der Einstellung des Philosophen aufweisen, aber doch anders akzentuiert sind: Einschlägig ist hier der Redner Antiphon, der – in seiner Verteidigungsrede für Euxitheos – eine betont elitäre, nichtdemokratieaffine Haltung demonstriert, indem er den Sprecher sich weigern lässt, um das ‚Mitgefühl‘ der Richter nachzusuchen 72 Jener zeigt sich von der rhetorischen Qualität seiner Argumentation in so hohem Grade überzeugt, dass er die Auffassung vertritt, der Unterstützung durch die Juroren nicht zu bedürfen Eine solche Haltung ist geeignet, die Richter zu düpieren 73 Gleiches gilt für das Verhalten des Sokrates als Beklagtem im Asebie-Verfahren, der seine persönliche Absage an die ‚Mitleids‘-Praxis u a damit begründet, dass die Richter ihren eigenen Prämissen zuwiderhandelten, wenn sie sich durch ἔλεος erweichen ließen, anstatt Gesetzesobservanz zu zeigen 74 Bei letzterem kommen offenkundig spezielle Dispositionen zum Tragen; die Haltung Antiphons zu der Thematik weist indes Konvergenzen mit der des Aristoteles auf, indem beide die elaborierte, argumentativ anspruchsvolle Rede mit vermeintlich simplen, affektiven Äußerungen kontrastieren Nichtsdestoweniger wird die Evokation von ‚Mitleid‘ in Prozessen auch in der demokratienahen Rhetorik ambivalent bewertet Hier existiert ebenfalls ein Bewusstsein dafür, dass entsprechende Appelle zu einer nicht sachgerechten Beurteilung von
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Seinen Anspruch, die Beredsamkeit als τέχνη zu konzeptualisieren, formuliert er bereits im ersten Proöm des ersten Buches; siehe besonders Aristot rhet 1354 a 8–16 Er grenzt sich damit von Personen ab, die Rhetorik gänzlich ohne eine theoretisch-methodische Fundierung betreiben möchten, wie auch von den Verfassern sophistischer Handbücher, die zwar einen Anspruch auf eine entsprechende Fundierung erheben, ihn nach aristotelischem Verständnis aber nicht einlösen; zu letzterem Arnhart 1981, 21–24 Trotz der sachlichen Differenzen zur Sophistik ist der τέχνη-Begriff, mit dem er dabei arbeitet, in den Grundzügen mit dem seit dem fünften Jahrhundert gängigen kompatibel; zu letzterem Kube 1969, 57–64 (mit Blick auf das sophistische Verständnis); Meißner 1999, 14–18; Robling 2007, 36–40 Zur Verortung des aristotelischen τέχνη-Begriffs der ‚Rhetorik‘ in seiner Philosophie Bartels 1965; Gross 2000, 27–33 Hervorzuheben ist schließlich, dass sein diesbezügliches Verständnis weniger stark elitär geprägt ist als das des Isokrates, der sich nicht zuletzt hierdurch von der attischen Demokratie dissoziiert; zur Haltung des Isokrates siehe Ford 1993, 50 f Antiph or 5,4 Möglicherweise aber bedient eine solche Strategie die Erwartungen einiger Zuhörergruppen, die dem Prozess beiwohnen oder aber ihn von außen verfolgen und eher elitäre Einstellungen vertreten; zu jenen Zuhörern resp Interessenten und ihrer sozialen Zusammensetzung Dorjahn 1938, bes 19 f ; Lanni 1997, bes 187; dies 2012, bes 125; Rieß 2014, bes 168 f Plat apol 34d Sokrates ist sich dabei offenkundig der Gefahr bewusst, dass die Juroren sein Verhalten als Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber dem Gericht deuten könnten; dazu Konstan 2000a, 141 f ; grundsätzlich auch aus philosophischer Perspektive Brickhouse/Smith 1989, 139– 147; Colaiaco 2001, 199–207 (auch mit Blick auf seine Position zur Ausrichtung auf die Gesetze im ‚Kriton‘); aus historischer Sicht Ober 2011, 148–158
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Fällen Anlass geben und unangemessen milde Urteile provozieren können Kritisch gewürdigt wird dabei nicht das Phänomen an sich, sondern der vermeintlich unprobate Umgang damit 75 Dies zielt weniger auf methodische Verfahrensweisen als vielmehr auf die Würdigkeit der Personen Letzteres reflektiert auch Aristoteles, definiert allerdings, wie wir gesehen haben, die entsprechenden Personengruppen abweichend Aussagen jener Art finden wir in der rhetorischen Praxis vornehmlich bei Klägern, welche die Richter vor derartigem Gebaren warnen möchten Äußern sie sich kritisch, zielen sie zumeist nicht auf die Juroren, die sich durch solches Verhalten haben täuschen lassen, sondern auf ihre Kontrahenten, welche die Richter in dem Sinne motiviert haben 76 5 1 3 ‚Milde‘ Wie oben bereits bemerkt, betrachtet Aristoteles als komplementäre Emotion zum ‚Zorn‘ die ‚Freundlichkeit‘ resp ‚Milde‘ (πραότης) 77 In den erhaltenen Reden begegnet jener Begriff nur vereinzelt; wenn er verwendet wird, dann in Gerichtskontexten im Sinne einer prinzipiellen Neigung der Richter, von hohen Strafen soweit möglich abzusehen 78 Eine Parallele zum Verständnis unseres Autors ist darin zu sehen, dass beide ‚Milde‘ mit dem Verzicht auf entschiedene Revanche assoziieren 79 Zudem verknüpfen sie übereinstimmend ‚Milde‘ mit ‚Verzeihen‘ (συγγνώμη) Ein Unterschied ist indes dahingehend auszumachen, dass die athenischen Juroren jene beiden Termini eng mit dem des ‚Mitleid‘ verbinden,80 während der Philosoph ‚Mitleid‘ getrennt hiervon beleuchtet Letzteres erklärt sich aus dem Umstand, dass Aristoteles die Position vertritt, dass ‚Verzeihen‘ ein vorheriges Vergehen zur Voraussetzung hat, wohingegen er ‚Mitleid‘ an Unschuld knüpft Wie schon gezeigt, gilt das für die Dikasten nicht in vergleichbarer Weise 81
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Dazu Rubinstein 2013, 135; zum Phänomen des ‚Missbrauchs‘ von ‚Mitleid‘ schon Cronin 1939, 478 f Siehe etwa Lys 10,26; 11,9 f ; 28,2; 29,8 f ; [Lys ] 6,55; 9,22; 14,2 22; 15,9; Demosth 19,281–283; 21,99 f 188 225; 38,27; [Demosth ] 25,76 81–84; Dein 1,24 108–110; Lyk 1,33 139–141 150; vgl Piepenbrink 2016a, 425 Vgl oben Kap 5 1 Die vermeintliche ‚Milde‘ der Richter wird demgegenüber für sich genommen seitens der Redner gewöhnlich positiv gewürdigt; dazu etwa Demosth 19,104; 21,184 f ; 24,51; zur Wortwahl der Redner in derartigen Zusammenhängen auch Rieß 2012, 132 Vgl Nikolaidis 1982, 421 f Zur Verknüpfung von ‚Mitleid‘ und ‚Verzeihen‘ in der attischen Rhetorik mit Belegen Metzler 1991, 108–110; grundsätzlich zu dem Aspekt auch Dover 1974, 195–201 Um die Richter affektiv für sich einzunehmen, bevorzugen sie den stärker emotional affizierten Begriff des ‚Mitleids‘, so dass letzterer in deutlich höherer Frequenz begegnet als ‚Milde‘ Siehe oben Kap 5 1 2
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Der Stagirite tut sich tendenziell schwer, die Emotion der πραότης positiv zu fassen, was mit der Tatsache korreliert, dass sie in der Gesellschaft insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit erfährt Im Abschnitt zu dem Gegenstand in der ‚Rhetorik‘ fällt auf, dass Aristoteles hier vorrangig expliziert, in welchen Situationen resp Handlungsgefügen gewöhnlich auf ‚Zorn‘ verzichtet werde; er behandelt das Sujet also primär ex negativo 82 Ähnlich wie im Umgang mit der Zornesthematik setzt er sich hier nicht mit den Spezifika der Richterrolle auseinander Dass die Geschworenen beispielsweise den Anspruch erheben, bei der Gewährung von ‚Milde‘ auf der Grundlage demokratischer Prinzipien und damit kognitiv wie auch normativ fundiert zu handeln,83 reflektiert er nicht Sein Interesse gilt den unmittelbar Geschädigten und richtet sich zudem vielfach auf außergerichtliche Handlungszusammenhänge 84 So formuliert er beispielsweise, dass man üblicherweise denen gegenüber ‚sanftmütig‘ sei, die geständig seien und Reue zeigten, da man den Schmerz, den jene über das Getane empfänden, bereits als gerechte Vergeltung ansehe 85 Unter solchen Bedingungen wird der Betroffene im Normalfall von einer Anzeige Abstand nehmen, so dass sich eine Verhandlung vor Gericht erübrigt Nicht selten hat unser Autor hier häusliche Szenen im Blick, darunter den Fall, dass ein Sklave sich reu- und demütig zeige, so dass dessen Herr seinen ‚Zorn‘ überwinde und keine Neigung mehr verspüre, sein Gegenüber massiv zu züchtigen 86 Der Stagirite geht dabei stets von asymmetrischen Konstellationen aus, in denen derjenige, welcher ‚Milde‘ an den Tag legt, entweder dem anderen hinsichtlich seines Status grundsätzlich überlegen ist oder wenigstens für den Moment Superiorität erfährt, indem der andere sich ihm demonstrativ unterstellt 87 Letzteres gilt prinzipiell auch für entsprechende – von Aristoteles gleichwohl nicht thematisierte – Szenen vor Gericht, mit der Besonderheit, dass die Juroren hier, so zumindest deren Anspruch, weniger eine Unterwerfung unter ihre Person als unter die Institutionen der Polis postulieren 88
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So definiert er das ‚Sanfmütigwerden‘ als ‚Beilegung von Zorn‘ (Aristot rhet 1380 a 8 f ); als offensichtlich ‚sanftmütig‘ charakterisiert er den, der sich in einem dem ‚Zürnen‘ entgegengesetzten Zustand befindet (Aristot rhet 1380 b 2 f ); zu dem gesamten Komplex Aristot rhet 1378 b 14 – 1380 a 5 Im Vordergrund steht dort der Anspruch der Gerichte, auf ‚milde‘ Urteile abzuzielen – wobei dies besonders mit Blick auf nichtprivilegierte Bürger und in Abgrenzung zu anderen politischen Ordnungen, etwa der Tyrannis, beleuchtet wird Zu dem Komplex und der Relation zwischen Anspruch und Wirklichkeit Debrunner Hall 1996, bes 88 f Dem gleichen Phänomen sind wir bereits bei der Thematik des ‚Zorns‘ begegnet; siehe oben Kap 5 1 1 Aristot rhet 1380 a 14–16 Ebenso wie die attischen Rhetoren setzt er dabei voraus, dass derartige Nachsicht in einer Weise geübt werde, welche die ‚Ehre‘ des Betreffenden nicht beeinträchtige; diesbezüglich zu den Rednern Cairns 1999, 177 f Aristot rhet 1380 a 16–19 Aristot rhet 1380 a 22–29 Generell zum Machtaspekt in der Kommunikation zwischen Beklagten und Richtern in attischen Gerichten Roisman 2004, 261–264; zum Niederschlag des hierarchischen Gefälles auch in den
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5 1 4 ‚Neid‘, ‚Eifersucht‘ und ‚Entrüstung‘ ‚Neid‘ (φθόνος) und ‚Eifersucht‘ (ζῆλος) sind bei Aristoteles eng miteinander verbunden 89 Beide Emotionen reflektiert er dezidiert im Kontext der agonalen Kultur seiner Zeit; seine Überlegungen weisen ausgeprägte lebensweltliche Bezüge auf, gehen lediglich in ihren Systematisierungsbestrebungen – darunter das Bemühen um Abgrenzung der beiden Begriffe – darüber hinaus, ohne dass daraus aber grundlegende inhaltliche Differenzen resultieren 90 In seinen Ausführungen zu beiden Termini operiert unser Autor nicht mit übergeordneten Bezugsgrößen wie gruppenspezifischen Merkmalen oder Fragen der Ressourcen- und Chancenverteilung, sondern beleuchtet hauptsächlich die Relation zweier Akteure, d h des Betrachters und seines jeweiligen Gegenübers Dabei handelt es sich mehrheitlich um Personen gleichen oder ähnlichen Status, die sich in einem Wettbewerb befinden, der sich auf beliebige soziale ‚Güter‘ und Werte erstrecken kann 91 Der andere wird grundsätzlich als satisfaktionsfähig anerkannt, so dass es auch im Falle des ‚Neides‘ nicht darum geht, dessen Ansprüche oder Besitz in Frage zu stellen Vereinfacht ausgedrückt meint ‚Neid‘ auf dieser Grundlage vorrangig den Schmerz dessen, der seine aktuelle Unterlegenheit realisiert, ‚Eifersucht‘ hingegen eher den positiven Antrieb, sich gegenüber dem anderen im Agon auszuzeichnen 92 Die Frage, welche Gruppierungen die Möglichkeit haben, an welchen Wettbewerben zu partizipieren, beschäftigt Aristoteles nicht eigens Er geht davon aus, dass Menschen in unterschiedlichem Umfang Ehrgeiz entwickeln, wobei er dies prioritär auf individuelle charakterliche Eigenheiten sowie auf kontingente Begebenheiten zurückführt, darunter Begegnungen mit Zeitgenossen, die sich ebenfalls zu der Thematik verhalten, nicht jedoch auf soziale Faktoren 93 Von diesem Komplex zu unterscheiden ist seinem Verständnis nach die ‚Entrüstung‘ (νέμεσις), die auf ein „vermeintlich unverdientes Wohlergehen“ eines anderen zielt und dem ‚Zorn‘ anverwandt ist 94 Dies reflektiert er insbesondere aus der Per-
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Räumlichkeiten der Gerichtshöfe Blanshard 2004, 13; zum Zusammenhang zwischen ‚Milde‘ resp ‚Mitleid‘ und ‚Macht‘ im politischen Leben der athenischen Demokratie Tzanetou 2005, bes 117 f Für eine Skizze seines diesbezüglichen Gedankenganges einschließlich eines Vergleichs mit entsprechenden Überlegungen in anderen seiner Schriften siehe Viano 2003, bes 90 f ; Sanders 2014, 58–78 Vgl Konstan 2006, 111–128 Vgl Aristot rhet 1387 b 22–1388 a 5 Aristot rhet 1388 a 35 – b 3; zu jener Differenzierung Sanders 2008, bes 258 262 278; Chiron 2011a, 115–119 Vgl Aristot rhet 1387 b 21–34 Aristot rhet 1387 a 6 – b 15; zur Relation von ‚Zorn‘ und ‚Neid‘ in der Diffamierung des Gegners ähnlich Anaxim rhet 1445 a 16–19; dazu Rubinstein 2004, 193 Daneben kann der Begriff auch vermeintlich ‚unverdientes Missgeschick‘ bezeichnen, das Aristoteles aber weniger intensiv würdigt als das umgekehrte Phänomen; siehe Aristot rhet 1386 b 9 f Zur Differenzierung jener Termini bei Aristoteles auch Fisher 2003, 182–184
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spektive von Starken, welche für sich Überlegenheit reklamieren und indigniert auf andere reagieren, die ebenfalls Teilhabe an bestimmten ‚Gütern‘ beanspruchen 95 Im Unterschied zu den Überlegungen zu ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘, die Einstellungen breiter Bevölkerungsschichten widerspiegeln, stellen letztere eher eine elitäre Sichtweise dar Bei den Rednern findet sich der Begriff selten; wo er verwendet wird, weist er – in der Tradition des Mythos – meist eine religiöse Konnotation auf 96 Aristoteles merkt diesbezüglich zumindest an, dass man ‚Entrüstung‘ auch den Göttern zuschreibe,97 gleichwohl ist dies für seine Befassung mit dem Phänomen nicht konstitutiv Auffällig bei dem gesamten Feld ist, wie schon bei den zuvor besprochenen πάθη,98 dass der Philosoph nicht nach spezifischen Haltungen und Handlungsmustern der Dikasten fragt, sondern voraussetzt, dass diese analog den Personen reagieren, die im sozialen Miteinander die betreffende Emotion zeigen, so dass er sich in seinen Ausführungen auf letzteres beschränkt Demzufolge thematisiert er auch nicht, inwieweit ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘ vor Gericht überhaupt explizit zur Sprache gebracht werden Tatsächlich geschieht dies vergleichsweise selten, zumal sie sich zur Auseinandersetzung mit Tatmotiven nur sehr eingeschränkt eignen: Für die Selbstdarstellung des Beschuldigten wie auch des Klägers sind sie wenig opportun, weil sie persönliche Befindlichkeiten allzu prononciert herausstellen und die Polis-Perspektive unverhältnismäßig stark zurücktreten lassen Zur Diskreditierung von Angeklagten kommen sie hingegen vor,99 ebenso zur Diffamierung von Klägern,100 treten allerdings gegenüber anderen Kritikpunkten, die noch dezidierter negativ besetzt sind, in den Hintergrund Im Hinblick auf die Kommunikation speziell der Kläger mit den Juroren ist diesbezüglich zu vermerken, dass letztere gewöhnlich nicht vorrangig bestrebt sind, bei den Richtern ‚Neid‘ auf den Tatverdächtigen zu schüren, sondern ihnen zu vermitteln, dass jener in höchstem Grade gemeinschaftsschädigend gehandelt habe Dazu ist es effektiver, ihm ὕβρις zu attestieren und auf der Grundlage an den ‚Zorn‘ der Dikasten zu appellieren 101 ‚Entrüstung‘ in der von Aristoteles insinuierten Weise, d h als eine spezifische Haltung von Personen aus der Oberschicht gegen sozial inferiore, lässt sich in Athen vor Gericht nicht anbringen Möglich ist dagegen, ‚Empörung‘ gegen einzelne Angehörige 95 96
Aristot rhet 1387 a 6 – b 3 So in Demosth 20,161, wo der Kläger mit grundsätzlichem Anspruch darauf anspielt, dass es Menschen nicht zukomme, gegen ‚göttliche Zuteilung‘ zu verstoßen – weder durch verbale Äußerungen noch im Rahmen von Gesetzesvorlagen; zu der Stelle Kremmydas 2012, 447; Canevaro 2016, 424; zum Verständnis jenes Terminus im Mythos Scott 1980, 25–31; Stenger 2000 97 Aristot rhet 1386 b 14 f 98 Siehe besonders am Beispiel des ‚Zorns‘ oben Kap 5 1 1 99 Eine Übersicht über die betreffenden Stellen gibt Sanders 2014, 82–88 100 Einschlägig ist diesbezüglich die demosthenische Rede ‚Gegen Leptines‘, dessen Gesetzesantrag zur Aufhebung der Exemtionen von Leiturgien der Sprecher u a als durch ‚Neid‘ gekennzeichnet zu diskreditieren sucht; siehe Demosth 20,140 157 164 f ; dazu Kremmydas 2012, 412 f ; Canevaro 2016, 401; für weitere Belege siehe Walcot 1978, 67 f 101 Dazu mit Belegen Cairns 2003, 245 f
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der gesellschaftlichen Elite zu artikulieren, die ihr Vermögen in einer Weise verwenden, welche für die Polis nicht von Vorteil scheint oder ihr gar zum Schaden gereicht Ein Beispiel findet sich etwa in der demosthenischen Rede gegen Meidias,102 in der dieser Gedanke indes nicht prädominiert, sondern wo abermals der Vorwurf der ὕβρις im Vordergrund steht 103 Überdies liegen sporadisch Belege aus Demegorien vor, die nicht Einzelpersonen, sondern größere soziale Gruppen anvisieren Hier können ‚Neid‘ und ‚Eifersucht‘ eindeutig negativ konnotiert werden So verwendet Demosthenes den Begriff ‚ζῆλος‘, um politische Fehlentwicklungen zu charakterisieren, die er auf die zunehmende Präferierung von Partikularinteressen gegenüber Gemeinschaftsbelangen zurückführt 104 Eine Parallele zu Aristoteles findet sich bei ihm im Zusammenhang mit der ‚Empörung‘ darüber, dass bestimmte Personen auffallend schnell zu Reichtum gelangten Im Unterschied zu dem Philosophen formuliert er dies jedoch nicht aus der Perspektive derer, die bereits seit langem über Vermögen verfügen und sich über ‚Neureiche‘ echauffieren, sondern aus Sicht der Bürgergemeinschaft, welche rasche Vermögenszuwächse bei Angehörigen der politischen Elite mit Korruption in Verbindung bringt und unter politischen Gesichtspunkten moniert 105 Generell warnt Demosthenes vor ‚Arm-Reich-Konflikten‘, bei denen jede Gruppe die vermeintlichen Vorteile der jeweils anderen ‚eifersüchtig‘ beäugt, statt das Gemeinwohl in den Blick zu nehmen 106 Eine grundsätzliche Parallele ist schließlich in der ambivalenten Bewertung des Neidkomplexes zu sehen,107 die gleichwohl in ihren Ursachen nicht identisch ist: Aristoteles denkt stärker von Problemen der ‚Tugend-Laster-Differenzierung‘ her, die er in seinen Ethiken eingehend reflektiert, bzw von Schwierigkeiten, charakterliche Stärken und Schwächen bei Einzelpersonen zuverlässig zu diagnostizieren; in der rhetori-
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Vgl Spatharas 2017, bes 222; zum Bedeutungsspektrum von ὕβρις an der Stelle Rowe 1993, bes 399; zu jener rhetorischen Strategie auch Sanders 2014, 91–94 103 Zur Bevorzugung des ὕβρις-Vorwurfs in derartigen Zusammenhängen Cairns 2003, 245 f ; prinzipiell auch Cohen, D 1992, 109–111; Sanders 2012, 364–367 104 Demosth 9,38 f 105 Demosth 3,25; 8,66; zu dem Motiv und seiner Stellung im ‚Arm-Reich-Diskurs‘ Fisher 2003, bes 210–212; Cecchet 2015, 159 161 f ; Carey 2016, bes 29–32 35 f ; Taylor, C 2017, 56 f Instruktiv sind auch die Bemerkungen des Lysias zu den vermeintlichen ‚nouvaux riches‘ des Korinthischen Krieges; siehe Lys 27,9 f ; zu jenem Personenkreis Davies 1984, 11 106 Er bezieht dies besonders auf die Auseinandersetzung über die Verwendung der Theorika sowie über die generelle Bereitschaft, sich im Bereich der Kriegführung zu engagieren; dazu etwa Demosth 1,28; 2,29–31; 9,39; [Demosth ] 10,38–45 54; für weitere Belege siehe Cairns 2003, 244; zu der Argumentation auch Mossé 1987, 169 f Im Konsens über die zentralen politischen Ziele macht er eine besondere Stärke der athenischen Verfasstheit aus – gerade im Unterschied zu jener der Makedonen; dazu u a Demosth 2,9 f 15 107 Dazu Gill 2003, bes 33 35 Die Vorstellung, dass hier ein ambivalentes Phänomen vorliegt, ist in der Kultur der Griechen tief verwurzelt; ein markantes Beispiel finden wir mit der Unterscheidung einer ‚guten‘ und einer ‚schlechten‘ Eris bereits in den ‚Werken und Tagen‘ Hesiods; siehe Hes erg 11–26
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schen Praxis hingegen werden eher mögliche politische Implikationen artikuliert, die ihrerseits nicht eindeutig sind, sondern je nach Personen- und Handlungskonstellation variieren können 5 1 5 ‚Furcht‘ und ‚Zuversicht‘ ‚Furcht‘ (φόβος) und ‚Zuversicht‘ (θάρσος) versteht Aristoteles als komplementäre Affekte,108 was sich in ähnlicher Weise in der zeitgenössischen Rhetorik beobachten lässt: Dort ist etwa der Zusammenhang zwischen der Überwindung von ‚Furcht‘ und dem Streben nach ‚Zuverlässigkeit‘ resp ‚Sicherheit‘ essentiell 109 Jene Thematiken können in Gerichtsreden zur Sprache kommen, finden sich aber besonders in Demegorien 110 Der Philosoph verortet ‚Furcht‘ vor allem in asymmetrischen Konstellationen zweier Personen, die in persönlicher Beziehung stehen 111 ‚Furcht‘ empfindet dabei der physisch und/oder sozial Schwächere von beiden, der Übergriffe durch den anderen antizipiert 112 Solches begegnet auch in der Gerichtsrhetorik – namentlich in Verbindung mit der Vorstellung, dass die Dikasterien einen institutionellen Rahmen bieten, in dem nachgerade Schwächere ihre Ansprüche effektiv und ohne ‚Furcht‘ durchzusetzen vermögen 113 Einvernehmen zwischen Aristoteles und den Rhetoren ist zudem dahingehend auszumachen, dass sie keine generalisierte ‚Furcht‘ kennen, sondern allein solche, die sich auf konkrete Faktoren bezieht, deren Bedrohungspotential überdies intersubjektiv einsichtig ist 114 Derartiges kann von menschlichem Handeln herrühren, aber etwa auch von Naturereignissen ausgehen, beispielsweise Stürmen oder anderweitigen Gefahren u a auf dem Meer 115 Für all diese Formen der ‚Furcht‘ ist im Verständnis beider charakteristisch, dass sie mit den gesellschaftlichen Einstellungen zu ‚Mut‘, ‚Ehre‘ und ‚Männlichkeit‘ kompatibel sind 116 Eine weitere Gemeinsamkeit be108 Aristot rhet 1383 a 13–19 109 Dazu Piepenbrink 2017a, 182 110 Hier begegnen sie speziell in außenpolitischen Kontexten, die in ähnlicher Weise aber auch in der Geschichtsschreibung thematisiert werden; zu letzterer z B Thuk 1,39 f ; 3,13; 5,109; zur Rhetorik Andok 4,11; Isokr 8,21 23; vgl Demosth 5,17; 8,67; 9,45; weitere Belege nennt Hunt 2010, 168–180 111 Ein Interesse an Differenzierung zwischen verschiedenen Ebenen, d h der persönlichen und den darüber hinaus gehenden, zeigt Aristoteles hier gleichwohl nicht 112 Zu dem Komplex Aristot rhet 1382 b 15–18 113 So etwa Demosth 21,210 222; 22,25; 24,31; grundsätzlich zu der Haltung und entsprechenden Praxis auch Demosth 15,29; 21,30 45 188 221 Umgekehrt aber wird mit ‚Furcht‘ vor dem Gesetz operiert, die als dezidiert demokratisch verstanden wird und im Unterschied zu ‚Furcht‘ vor personalen Herrschaftsträgern positiv konnotiert ist Solches wird besonders in antimonarchischen Diskursen der Zeit artikuliert; dazu mit Quellen- und Literaturhinweisen Piepenbrink 2017a, 175 114 Zu dem Phänomen mit Belegen und weiteren Literaturangaben Piepenbrink 2017a, 171 f 115 Aristot rhet 1383 a 29 f In den Gerichtsreden kommt die Thematik insbesondere im Zusammenhang mit dem Seehandel zur Sprache; siehe etwa Demosth 34 116 Vgl Roisman 2005, 186–188; Balot 2014, bes 2–7
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steht darin, dass ‚Furcht‘ sich gewöhnlich auf Gefahren richtet, die räumlich und zeitlich nah sind 117 Letzteres korreliert mit dem Umstand, dass langfristiges Zukunftsdenken und -planen ebenso wenig verbreitet ist wie etwa eschatologisch-apokalyptische Vorstellungen 118 Daneben sind grundlegende Unterschiede zu konstatieren: In der öffentlichen Rhetorik wie auch der Geschichtsschreibung des klassischen Athen wird ‚Furcht‘ vor allem unter politischen Gesichtspunkten reflektiert Im Vordergrund rangiert dabei die ‚Furcht‘ vor äußeren Feinden und die Frage, wie dieser adäquat zu begegnen sei 119 Speziell mit Blick auf das Kriegsgeschehen werden auch Panikreaktionen ganzer Heere oder Heeresteile angesprochen – zumeist mit apologetischer Intention, namentlich um Fluchtverhalten zu rechtfertigen 120 Markant ist weiterhin der Umstand, dass ‚Furcht‘ nicht nur vor externen Feinden besteht, sondern zuweilen auch vor potentiellen Bündnispartnern, was die Formierung von Allianzen und überhaupt kooperatives Handeln im zwischenstaatlichen Bereich erschwert 121 Innenpolitisch wird nachgerade die – positiv konnotierte – ‚Furcht‘ vor dem Gesetz zur Sprache gebracht 122 Hinzu kommt die eben schon angedeutete Vorstellung, dass ordentliche Gerichtsverfahren geeignet seien, ‚Furcht‘ zu reduzieren – im Unterschied zu ungeregelten Formen der Konfliktaustragung 123 Insgesamt wird die Demokratie als eine Form politischer Ordnung gepriesen, welche die Reduktion von ‚Furcht‘ begünstige: Dies wird nicht nur an den Spezifika des Gerichtswesens festgemacht, sondern auch am hohen bürgerlichen Engagement generell, das kollektive Tapferkeit fördere und persönliche ‚Furcht‘ zu überwinden helfe oder mindestens zurücktreten lasse 124
117
Aristoteles äußert sich dazu explizit; siehe Aristot rhet 1382 a 26 f ; bezüglich der Redner lässt sich eine solche Haltung aus den angeführten Beispielen erschließen 118 Dies hat nicht nur mit Vorstellungen zur menschlichen Handlungskompetenz, sondern auch zu jener von Göttern zu tun, die – abgesehen von tendenziell monotheistischen Ansätzen – vielfach nicht uneingeschränkt als allwissend resp systematisch agierend gedacht werden; zu dem Sujet u a Trampedach 2015, 391–442 Hinsichtlich eschatologischer Überlegungen sind für unseren Zeitraum, speziell außerhalb des philosophischen Diskurses, am ehesten Deutungsschemata nach dem Muster des ‚Weltzeitaltermythos‘ zu nennen, die aber keine Ansatzpunkte für prognostische Interessen bieten; dazu Thraede 1966, Sp 560 119 Zu jener ‚Furcht‘ mit Belegen Piepenbrink 2017a, 180; im Vordergrund steht entsprechend die deliberative Rhetorik; zu dem Gegenstand auch Sanders 2016, 59 120 Dazu Konstan 2006, 156–168 121 Siehe etwa Hdt 7,138,1 f ; Thuk 4,59,1 f ; 4,63,1; 6,79,3 f – 6,80,1; Demosth 5,17; 8,67; 9,45; 18,161 234; 23,103; zu dem Phänomen Piepenbrink 2017a, 180 122 Belege hierfür finden sich bereits in der Geschichtsschreibung sowie der Tragödie des fünften Jahrhunderts; siehe etwa Aischyl Eum 698–706; Soph Ai 1073–1076; Thuk 2,53,4; zum Verhältnis von ‚Furcht‘ und ‚Respekt‘ – hier speziell vor dem Gesetz – de Romilly 1958/71, 112–114 123 Siehe etwa Demosth 21,210 222; 22,15; 24,31; dazu Piepenbrink 2017a, 174 124 Mit der Überlegung versucht Demosthenes die von ihm propagierte Haltung zu den Makedonen zu explizieren und seinen Kontrahenten zu begegnen, welche ihm vorhalten, mit seinen Warnungen zu überzeichnen und die Bürger grundlos in ‚Furcht‘ zu versetzen; so u a Demosth 9,45; 18,100; [Demosth ] 60,10 18; vgl Piepenbrink 2017a, 178 f
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Für Aristoteles ist all das nicht von elementarem Belang: Der Umstand, dass er die außenpolitische Komponente nicht thematisiert, geht darauf zurück, dass er sich in dem Kontext auf Gerichtsreden in privaten Prozessen stützt, Demegorien und forensische Reden mit explizit politischer Thematik hingegen nicht in den Blick nimmt Ähnlich verhält es sich mit dem Nexus von ‚Furcht‘ resp deren Abwesenheit und ‚Gesetz‘ Dieser stellt ein typisches Sujet in forensischen Reden in öffentlichen Prozessen dar Neben dem geringen Interesse an jenem Genre kommt an der Stelle zum Tragen, dass unser Autor im Inneren der Polis von Akteuren mit einem elitären Habitus ausgeht, die dem Rechtskomplex und seinen politischen Konnotationen vergleichsweise gelassen, wenn nicht gar distanziert begegnen Eine solche Haltung ist nicht untypisch, solange die Betreffenden keine Anklagen antizipieren, die geeignet sind, sie in ihrer sozialen, teils auch materiellen Existenz zu gefährden 125 Gerade im vierten Jahrhundert wird die demokratische Verfasstheit der Polis in Athen mit ‚Vertrauen‘ und ‚Sicherheit‘ assoziiert Für die aristotelischen Überlegungen zur ‚Zuversicht‘ ist hingegen wiederum charakteristisch, dass die Befindlichkeiten des Einzelnen und deren persönliche Ursachen im Vordergrund rangieren,126 wohingegen politische und gesellschaftliche Aspekte nicht ausgeleuchtet werden 127 Letztere hingegen dominieren in der öffentlichen Rhetorik: Hier begegnet das Motiv, dass ‚Furcht‘ und ‚Misstrauen‘ innerhalb der Polis, die sich aus der Sorge um eine schwierige politische Gesamtsituation nähren und mit wechselseitigen Vorwürfen der verschiedenen Gruppierungen in der Stadt einhergehen können, von Nachteil seien Demosthenes etwa diagnostiziert in dem Zusammenhang eine ‚Arm-Reich-Dichotomie‘, die ihm unbegründet und zugleich kontraproduktiv scheint 128 Ein solches Handeln kontrastiert er mit einem solidarischen, auf das ‚Gemeinwohl‘ und die Kohäsion der Gemeinschaft förderlichen Tun 129 Ambivalent bewertet wird in Athen die Kategorie der ‚Sekurität‘ in außenpolitischen Kontexten, die Aristoteles seinerseits kaum thematisiert 130 Negativ konnotiert ist jene unter den Athenern, wenn sie mit einer defensiven Politik 125 126 127 128 129 130
Da Aristoteles die betreffenden Prozesstypen, die besonders politisch aktive Personen betreffen, nicht im Blick hat, kalkuliert er dies nicht ein Er spricht hier insbesondere persönliche Erfahrungen an – sei es das Fehlen einschlägigen Angsterlebens oder die Erfahrung, dass bedrohliche Situationen erfolgreich zu überwinden seien; hierzu Aristot rhet 1383 a 25–34 Soziale Momente werden von ihm allein mit Bezug auf den Einzelnen reflektiert: insofern materielle Ressourcen und starke Freunde in dem Zusammenhang von Vorteil seien; Aristot rhet 1383 b 1–3 Anlass ist wiederum die Frage nach der Verwendung der Überschüsse aus dem Theorikon; siehe besonders [Demosth ] 10,45 f So etwa Demosth 2,29 f ; zu seiner rhetorischen Strategie an der Stelle Harris, E M 2017a, 55 Zur Fokussierung des ‚Gemeinwohls‘ in dem Zusammenhang mit Belegen und weiterführender Literatur siehe Timmer 2016, 46 f Aristoteles assoziiert den Gedanken der ‚Sicherheit‘ zwar durchaus auch mit der Verteidigung der Stadt, verknüpft ihn aber noch stärker mit der Gesetzgebung – insofern die Erhaltung der Stadt primär auf den Gesetzen beruhe (Aristot rhet 1360 a 18–20) Letztere Überlegung findet sich
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oder gar der Bereitschaft einhergeht, sich einer hegemonialen Macht zu unterwerfen 131 Affirmiert wird sie hingegen, wenn sie in Verbindung mit dem Streben nach ‚Freiheit‘ und ‚Autonomie‘ auftritt 132 Generell gilt das politische Terrain als risikobehaftet und schwer kalkulierbar Dies betrifft nicht nur die Polis als ganze, sondern auch die einzelnen Akteure, darunter die Redner, welche die politische Initiative ergreifen Von ihnen wird hohe persönliche Risikobereitschaft erwartet, die namentlich Demosthenes immer wieder artikuliert, wenn er betont, dass er ohne Rücksicht auf mögliche persönliche Folgen Vorschläge unterbreite, die für die Stadt von Vorteil, aktuell aber nicht populär seien 133 Die Tatsache, dass Aristoteles ‚Furcht‘ bevorzugt in zwischenmenschlichen Konstellationen auf dem Feld des Soziallebens lokalisiert, hat nicht zuletzt zur Konsequenz, dass er ‚Zuversicht‘ primär an persönlichen Überlegenheitsmerkmalen festmacht, d h in der Verfügung über umfangreiche Ressourcen wie auch über Freunde, die sich gegebenenfalls mobilisieren lassen 134 Die Polisgemeinschaft tritt dagegen in den Hintergrund In Gerichtsreden ist hingegen beides relevant: die Unterstützung durch Freunde – im Prozess selbst wie auch in etwaigen vorangegangenen außergerichtlichen konfrontativen Begegnungen –,135 aber auch der Beistand seitens der Richter 136 5 1 6 ‚Scham‘ Als weitere Emotion nimmt Aristoteles in der ‚Rhetorik‘ die ‚Scham‘ (αἰσχύνη) in den Blick 137 In den Grundzügen folgt er hier dem common sense: Das gilt zumal für die Vorstellung, dass ‚Scham‘ unmittelbar mit sozialer Reputation verknüpft sei und letztere in hohem Grade das Handeln strukturiere 138 Hinzu kommt die Überzeugung, dass der
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bei den Rednern ebenfalls, gleichwohl rangiert hier die außenpolitische Komponente im Vordergrund; dazu mit Belegen Piepenbrink 2016, 51–55 Ein Antagonismus zwischen einer sicherheitsorientierten und einer betont aggressiven Außenpolitik begegnet besonders bei Thukydides (z B Thuk 1,70,1–4; 1,120,3–5), aber durchaus auch noch in der Rhetorik der aristotelischen Zeit Siehe z B Thuk 8,46,2–4; Demosth 16,5; 23,102; weitere Belege aus dem vierten Jahrhundert gibt Hunt 2010, 35 168–180 So beispielsweise Demosth 1,16; 3,21; 4,51; 5,5; 6,5; 8,1; 9,4; zu diesem Anspruch und seiner Rolle in der Selbstinszenierung als Redner Piepenbrink 2015, 14–16 Vgl Aristot rhet 1383 b 1–3 Dies betrifft nicht nur deren Auftritte als Zeugen, sondern auch ihren möglichen Einsatz als συνήγοροι; zu dem Phänomen, insbesondere der vorrangingen Verwendung von Freunden als ‚Mitredner‘ nachgerade in privaten Prozessen, Rubinstein 2000, bes 128–131 Hier kommt der Gedanke der kollektiven Hilfe ins Spiel, welcher mit dem der kollektiven Vergeltung korreliert; zu letzterem oben Kap 5 1 1 Aristot rhet 1383 b 11–1385 a 15 Aristot rhet 1378 b 23–30; 1384 a 21–25; zu dem Komplex Cairns 1993, 422; Konstan 2006, bes 103 105
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Einzelne diesbezüglich nicht nur für die eigene Person, sondern – eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen der Philosoph solches thematisiert – darüber hinaus für die Kernfamilie insgesamt Sorge zu tragen habe 139 Eine andere Parallele ist in der Überzeugung zu sehen, dass ‚Scham‘ vor allem reaktiv empfunden werde; insofern verwenden die Autoren des vierten Jahrhunderts an der Stelle vorzugsweise den Terminus der ‚αἰσχύνη‘, der auch ‚Schande‘ meinen kann und in ebendieser Weise konnotiert ist – im Unterschied zur ‚αἰδώς‘, die im Sinne von ‚Scheu‘ zu verstehen ist und eher präventiven Charakter aufweist, indem sie Grenzüberschreitungen und Respektlosigkeiten tendenziell vorzubeugen hilft 140 Abermals einvernehmlich wird das Konzept der ‚Scham‘ vielfach mit dem Prinzip der Reziprozität verbunden: Als ‚beschämend‘ wird danach oftmals ein Verhalten perzipiert, welches die Verweigerung einer Gegenleistung zum Inhalt hat, gerade wenn diese nicht auf einen Mangel zurückzuführen ist, sondern intentional geschieht 141 Dabei kann es sich sowohl um das Versäumnis einer Gegengabe handeln wie auch um die Vernachlässigung einer Vergeltung nach erlittenem Schaden Wesentlich ist dabei, dass der Fokus nicht primär auf mögliche Reaktionen des unmittelbaren Gegenübers gerichtet ist, sondern vorrangig auf die Wahrnehmung durch Dritte und damit das Ansehen in der Gemeinschaft 142 Daneben gibt es – bei Aristoteles wie in der sozialen Umwelt – Beispiele, in denen das Moment der Reziprozität nicht von Belang ist, sondern wo ‚Scham‘ mit unterschiedlichsten Formen devianten Verhaltens in Verbindung gebracht werden kann, wobei das zentrale Problem gemeinhin darin gesehen wird, dass die Angelegenheit in der Gesellschaft publik geworden ist 143 Eingehend widmet sich unser Autor insbesondere der ‚Scham‘ in Anbetracht einer erfahrenen Verletzung, die auf hybrides Verhalten eines Kontrahenten zurückgeführt und so als massive Beeinträchtigung der eigenen ‚Ehre‘ verstanden wird 144 In realen Gerichtsreden wird die Empfindung der ‚Scham‘ an der Stelle unterdessen gewöhnlich nicht thematisiert, da bereits deren Erwähnung einen Gesichtsverlust bedeuten 139
So schäme man sich nicht nur für Übel, die einem selbst zur ‚Schande‘ gereichten, sondern auch für solche jener Personen, um die man sich kümmere (Aristot rhet 1383 b 15–18) Er denkt an der Stelle auch an Verhalten von Angehörigen aus dem Kreis der ἀγχιστεία (Aristot rhet 1385 a 3) In rechtlichen Kontexten werden diese gewöhnlich in einem gänzlich anderen Zusammenhang zur Sprache gebracht, nämlich anlässlich möglicher Blutrache bzw der Gewährung von αἴδεσις; zu dem Komplex Thür 1996, Sp 678 f ; zum familiengeschichtlichen Hintergrund Littman 1979, 5–7; Pomeroy 1997, 100–105 140 Zu den semantischen Unterschieden zwischen den beiden Begriffen Cairns 1993, bes 396 f 415; Konstan 2003a, 1034–1039; ders 2006, 93 f ; Roisman 2005, 65; diesbezüglich speziell im Hinblick auf Aristoteles Grimaldi 1988, 105–107 Zu Missverständnissen kommt es an der Stelle oft in englischsprachigen Übertragungen, da der englische Begriff ‚shame‘ bekanntlich sowohl ‚Scham‘ als auch ‚Schande‘ meinen kann 141 Dahingehend zu Aristoteles Aristot rhet 1384 a 3–5 142 Hierzu pointiert Aristot rhet 1384 a 21–25 143 Ganz besonders gilt dies für das Feld des Sexuallebens; hierzu Aristot rhet 1384 b 18–20; zum sozialen Umfeld Roisman 2005, bes 164–166 144 Aristot rhet 1384 a 15–20
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könnte; die Aufmerksamkeit der Richter wird stattdessen eher auf die vermeintliche ὕβρις des Gegners gelenkt 145 Fest steht, dass in derartigen Fällen – unabhängig davon, inwieweit die Problematik der αἰσχύνη expliziert wird – das Streben nach Revanche seitens der Polisgesellschaft nicht nur toleriert, sondern geradezu eingefordert wird: Käme der Betreffende dem nicht nach, würde seine Virilität nachhaltig in Frage gestellt 146 Dies korreliert mit der – von Aristoteles wie den Rednern gleichermaßen artikulierten Vorstellung – dass ‚schambehaftetes‘ Verhalten zugleich als ‚unmännlich‘ anzusehen sei 147 In realen Reden wird solches auch in politischen Kontexten zum Ausdruck gebracht: So vermag von der ‚Scham‘ der Polis angesichts einer erlittenen oder drohenden militärischen Niederlage gesprochen zu werden 148 Ein Redner, der Fehlverhalten einzelner Angehöriger der politischen Elite oder auch unzureichendes Engagement seitens der Bürgerschaft monieren möchte, kann sich in Anbetracht jener vermeintlichen Missstände bzw Fehlentwicklungen ‚beschämt‘ zeigen und auf die Weise Korrekturen anmahnen 149 In beiden Fällen ist der Referenzpunkt die ‚Ehre‘ der Polis, die es – hierüber wird Konsens vorausgesetzt – zu verteidigen gilt 150 Um sich selbst als guten Bürger zu inszenieren, hat man die Möglichkeit, sich vor Gericht ‚beschämt‘ zu präsentieren, in Rechtsangelegenheiten verwickelt zu sein, welche die Polisinstitutionen unnötig in Anspruch nehmen 151 An der Grenze zwischen politischem und häuslichem Bereich bewegt man sich hingegen, wenn man seiner ‚Scham‘ darüber Ausdruck verleiht, dass man innerfamiliäre Angelegenheiten – meist in Ermangelung anderer Optionen – vor Gericht getragen hat 152 Letzteres reflektiert – im Unterschied zu den zuvor angesprochenen dezidiert politischen Aspekten – auch Aristoteles 153 Jener Fall ist durchaus prekär, da hier der eigene Ruf auf dem Spiel steht Entscheidend für den Sprecher ist, dass er die Angelegenheit demonstrativ kritisch reflektiert, so seine normative Kompetenz unter Beweis stellt, und überdies betont, an der Stelle unfreiwillig gehandelt zu haben Im politischen Leben, nicht hingegen bei dem Philosophen begegnet ferner das Phänomen, dass der Verlust von ‚Ehre‘ und damit ‚Schande‘ durch die Poleis selbst 145 Vgl Brüggenbrock 2006, bes 187 f 146 Zu dem Komplex Brüggenbrock 2006, 37 f 188 f 147 Als Gegenstück hierzu präsentieren beide die ‚Tapferkeit‘; siehe Aristot rhet 1383 b 18–20; vgl 1384 a 2–4; dazu Smoes 1995, 218; zum rednerischen Befund mit zahlreichen Belegen Roisman 2005, 67–71; Balot 2014, bes 245–249 148 So beispielsweise im ἐπιτάφιος λόγος des Lysias; siehe Lys 2,11 23 25 62 149 Zu ersterem etwa Demosth 18,85; 19,28 41 55 146 217; zu letzterem beispielsweise Demosth 1,27; 2,3; 3,8; 4,10 42; 5,5; 8,12 51; 20,20 28; [Demosth ] 10,27 150 Dazu Lloyd-Jones 1987, 17 151 Dabei kann der Gedanke hinzutreten, dass die außergerichtliche Lösung des Falles ‚ehrenhafter‘ und damit weniger ‚schambelastet‘ sei; siehe z B Lys 3,3 6 9 13 152 Dazu oben Kap 3,2 153 Vgl Aristot rhet 1373 a 33–35
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drohen 154 Dies manifestiert sich insbesondere im partiellen oder vollständigen Entzug bürgerlicher Partizipationsrechte infolge unterschiedlichster Straftaten, darunter solchen, die ihrerseits dezidiert als ‚schändlich‘ begriffen werden wie Desertion oder Selbstprostitution 155 In den entsprechenden Prozessen kann solches zur Sprache gebracht werden; im Vordergrund steht aber zumeist der Vorwurf des gemeinschaftsschädigenden Verhaltens 156 In deutlicher Übereinstimmung mit dem zu seiner Zeit gängigen Verständnis befindet sich unser Autor, wenn er davon ausgeht, dass ‚Scham‘ in besonderem Maße über ehrverletzendes Verhalten empfunden werde, das im öffentlichen Raum angesiedelt ist 157 In dem Zusammenhang thematisiert er auch das Wirken sogenannter ‚κακολόγοι‘, die üble Nachrede verbreiten und so das Ansehen des Betroffenen nachhaltig zu schädigen vermögen 158 Er denkt hier zum einen an Personen, mit denen der Betrachtete in Konflikt steht und die sich teils ihrerseits durch ihn inkriminiert sehen und nach Revanche streben, was nicht selten in Gerichtsprozesse mündet;159 zum anderen hat er ‚Satiriker‘ (χλευασταί) wie auch Komödiendichter im Blick, mit denen der Betreffende nicht in jedem Fall unmittelbar zu schaffen hat, denen er aber gegebenenfalls geeigneten Stoff bietet 160 Betroffen sind insbesondere Personen, die über Prominenz verfügen und zugleich die Öffentlichkeit polarisieren Das berühmteste und auch in aristotelischer Zeit noch durchgängig präsente Beispiel dieser Art ist zweifelsohne der Redner Kleon, der sich in einer solchen Weise von Aristophanes attackiert gesehen hat 161 Ähnlich seinen sonstigen Überlegungen zu Verhaltensdispositionen deutet Aristoteles ‚Schamlosigkeit‘ vorzugsweise als charakterliches Defizit und macht es somit primär beim Einzelnen fest 162 Trotz alledem individualisiert er hier nicht generell, son154 155
Zu der Erscheinung Brüggenbrock 2006, 181–191 Zum Phänomen der Atimie Hansen 1976, bes 55–61 In der rhetorischen Praxis begegnet dies u a im Kontext der δοκιμασία ῥητόρων, die ursprünglich wohl als Mittel zur Kontrolle der Redner gedacht war, faktisch aber nicht zuletzt im rednerischen Agon instrumentalisiert wird, um politische Gegner effektiv auszuschalten Unsere Kenntnis hierzu ist überlieferungsbedingt gleichwohl ausgesprochen begrenzt; zur Rechtslage Harrison 1971, 204 f ; MacDowell 1978, 126; Ober 1989, 110 f ; zur möglichen Anwendung Engels 1992, 428; Haßkamp 2005, 126–129; MacDowell 2005, bes 79– 83; Gagliardi 2005, 95–97 Grundsätzlich zum Zusammenhang zwischen ‚Scham‘ und – namentlich als deviant bewertetem – Sexualverhalten Dover 1973, 60 156 Ein treffliches Beispiel hierfür bietet die Anklagerede des Aischines gegen Timarchos, die beide Ebenen tangiert, jene der Polis aber stets in den Vordergrund rückt 157 Aristot rhet 1384 a 33 – b 1; 1385 a 8–10; zur Relevanz der Öffentlichkeit im Feld von ‚Ehre‘ und ‚Scham‘ im klassischen Athen mit weiteren Literaturhinweisen Brüggenbrock 2006, 16 f 186–189 158 Aristot rhet 1384 b 7–12 159 In Athen kann in einem solchen Fall eine δίκη κακηγορίας angestrengt werden; dazu Guieu-Coppolani 2004, bes 134; Ruch 2017, 325 160 Aristot rhet 1384 b 9 f 161 Zu den Hintergründen einschließlich entsprechender Forschungskontroversen u a Halliwell 1991, bes 63; Mann 2002, bes 121–124; Sommerstein 2004, bes 146 f ; zu möglichen rechtlichen Implikationen Wallace 1994, 113–115 162 Er spricht angesichts dessen teils von ‚μικροψυχία‘; siehe Aristot rhet 1384 a 4
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dern berücksichtigt auch den Handlungsrahmen, darunter sozioökonomische Komponenten: So geht er in Einklang mit den attischen Rednern davon aus, dass nachgerade ‚Armut‘ einen Hinderungsgrund bilden kann, ‚Mut‘ zu demonstrieren bzw seine ‚Ehre‘ zu verteidigen, und so ‚Schamgefühl‘ auszulösen imstande ist 163 Das gilt ungeachtet der Einstellung, dass ein Handeln aus Not diesbezüglich als weniger schwerwiegend betrachtet wird als eines, das der Betreffende absichtsvoll vollzieht Stärker noch als in Athen üblich, unterstellt der Philosoph allerdings, dass ein Mangel an materiellen Ressourcen bereits für sich genommen ‚Scham‘ zu evozieren vermag 164 Das geht einher mit seiner Überzeugung, dass im Gegenzug Reichtum prinzipiell positiv gewürdigt werde 165 5.2 Die Konzeptualisierung des Auditoriums und seiner Erwartungen Mit den mutmaßlichen Erwartungen des Auditoriums setzt sich Aristoteles intensiv auseinander 166 Er widmet sich dem Gesichtspunkt expliziter als zeitgleich Anaximenes, was jedoch nicht auf ein grundsätzlich höheres Interesse seinerseits an der Thematik hindeutet, sondern sich aus seiner Gliederung des Stoffes ergibt: Anaximenes verknüpft den Gegenstand stärker mit der rednerischen Selbstinszenierung wie auch der Formulierung überzeugender Sentenzen, wohingegen Aristoteles ihn separat behandelt und damit stärker per se würdigt Ein fundamentaler Unterschied ist hingegen zu den einschlägigen Überlegungen des Gorgias auszumachen Jener hatte – so zumindest die Überlieferung – das Sujet weitestgehend ausgeblendet, indem er davon ausgegangen war, dass ein Rhetor ähnlich einem ‚Magier‘ agiert und auf beliebige Publiken eine ‚faszinierende‘ Wirkung auszuüben in der Lage ist, dem diese sich nicht zu entziehen vermögen 167 Nach speziellen Dispositionen, Erwartungshaltungen oder Wertvorstellungen einzelner Auditorien zu fragen, hatte sich bei einem derartigen Ansatz erübrigt 168 Aristoteles distanziert sich von einem solchen Vorgehen, da hier seinem Verständnis nach allein auf die Evokation von Emotionen gesetzt werde, wohingegen 163 164 165 166
Hierzu mit zahlreichen Belegen Roisman 2005, 95–98; Taylor, C 2016, 263 Vgl Aristot rhet 1384 a 8–12 Siehe dazu unten Kap 6 2 Dies geschieht insbesondere in Verbindung mit der Betrachtung des πάθος als Überzeugungsmittel, mit dem er sich über weite Teile des zweiten Buches (Kapitel 2–17) eingehend beschäftigt 167 Zu jener Vorstellung de Romilly 1975, 1–22; Wardy 1996, 40 f ; Hesk 1999, 211–213; Calboli Montefusco 1999, 69–71; Carey 2000, 194 f ; Bons 2007, 44; Johnstone, S 2011, 190; Dreßler 2014, 77; Dow 2015, 15–17 168 Signifikant ist, dass Gorgias die entsprechende Wirkung an der Rede selbst festmacht, die er in seinem Enkomion auf Helena als „große Bewirkerin“ (δυνάστης μέγας) charakterisiert (DK 82 B 11,8), nicht etwa im kommunikativen Prozess zwischen Redner und Publikum Er konzipiert die Polis noch nicht als Kommunikationsgemeinschaft, sondern konzentriert sich auf den Redner; dazu Miller, C R 1993, bes 216 237 f ; in dem Sinne auch Arnhart 1981, 28–30
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das Bekenntnis zu Werten wie auch zu methodisch geregelten Argumentationen in den Hintergrund trete 169 In der Frage, wie eine so beschaffene Performanz hingegen von den Hörern aufgenommen werde, zeigt er sich dennoch zwiegespalten: Zum einen reflektiert er, dass der Einsatz von Affekten grundsätzlich geeignet sei, die Anwesenden anzusprechen; zum anderen nimmt er an, dass eine Rhetorik, die affektive mit kognitiven Elementen verbindet, letztlich nicht nur unter theoretischen Gesichtspunkten, d h in ihrem Anspruch, eine methodologisch fundierte τέχνη zu verkörpern, höher zu gewichten sei, sondern zugleich in der Praxis erfolgreicher ist 170 Dazu scheint ihm auch ein reflektierter Umgang mit dem πάθος indiziert, der auf das jeweilige Publikum abgestimmt ist und damit dessen genaue Kenntnis voraussetzt 171 Dabei zielt er nicht darauf, diesbezüglich zu diversifizieren und somit Empfehlungen für unterschiedliche Publikumstypen zu formulieren; sein Bezugspunkt ist vielmehr das Auditorium in einer zeitgenössischen – tendenziell demokratisch verfassten – Polis, welches potentiell die gesamte männliche Bürgerschaft umfasst Von eminenter Bedeutung sind für unseren Autor zunächst einmal die Erwartungen und Reaktionsformen verschiedener Altersgruppen In Übereinstimmung mit den aktiven Rednern geht er davon aus, dass die Sprecher die Hörer zur Identifikation mit ihren Anliegen, aber auch ihrer Person motivieren müssen 172 Hierbei sind seinem Dafürhalten nach altersspezifische Unterschiede zu berücksichtigen Bei der Bestimmung der Alterssegmente operiert er mit einer Dreiteilung, wie sie namentlich in philosophischen Texten der Zeit begegnet: Hierzu rezipiert er die im klassischen Griechenland populäre Zweiteilung in ‚Junge‘ und ‚Alte‘ und ergänzt sie um ein mittleres Lebensalter,173 das durch seine Betrachtungen zur μεσότης geprägt ist – gleichwohl in einer gegenüber seinen Ethiken in ihrer Komplexität reduzierten Form 174 Sei-
169 Dazu Garver 1994, bes 207 170 Zu der Problematik, die lange Zeit ausgehend von den vermeintlich widersprüchlichen Proömien zum ersten Buch diskutiert worden und entweder entwicklungsgeschichtlich oder als durch die Ausrichtung auf unterschiedliche Adressatenkreise bedingt gedeutet worden ist, Dow 2007, bes 382 f 171 Auch im Hinblick auf die Frage nach der rednerischen Performanz ist dies relevant; dazu unten Kap 7 1 172 Hierzu am Beispiel des ‚Mitleids‘ Aristot rhet 1386 a 1–3 24–29 173 Aristot rhet 1388 b 36 Zu den Altersbildern in der Literatur der archaischen und klassischen Zeit Brandt 2002, 41–69; Baltrusch 2003; Timmer 2008, bes 122 174 Dieses Motiv verknüpft er an der Stelle mit der ἀκμή Zur Charakterisierung derer, „die sich auf dem Höhepunkt ihres Lebens befinden“ (οἱ ἀκμάζοντες), konzentriert er sich im Wesentlichen auf die Merkmale der beiden übrigen Altersgruppen und vermerkt, dass erstgenannte die nützlichen Eigenschaften der übrigen aufwiesen, deren Extreme aber vermieden; siehe Aristot rhet 1390 a 28 – b 3 Spezifische Eigenarten nennt er hingegen ebenso wenig wie alterstypische Betätigungsfelder Eine Besonderheit ist darin zu sehen, dass er zwischen einer körperlichen und einer seelisch-geistigen ἀκμή unterscheidet; hierzu mit Blick auf das philosophische Umfeld Binder/ Saiko 1999, Sp 1208 Auch im klassischen Athen ist hinsichtlich der Thematik eine gewisse Offenheit zu konstatieren Aischines etwa streicht im Prozess gegen Timarchos – der Thematik seiner
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ne Ansichten zur Jugend spiegeln eine typische Ambiguität wider: Einerseits werden (männliche) Jugendliche als tapfer, ehrgeizig, offen und großzügig beschrieben,175 andererseits wird ihnen eine Tendenz zu Übermut und Selbstüberschätzung attestiert 176 Als ebenfalls zeittypisch sind die Aussagen zum Alter einzuschätzen, wobei aus dem zunehmenden Verlust körperlicher Leistungsfähigkeit auch auf psychische Defizite geschlossen wird 177 Gängig ist auch die Kontrastierung von ‚Jung‘ und ‚Alt‘ und verbunden damit das Phänomen, dass den beiden Altersgruppen antithetische Eigenschaften zugeordnet werden 178 Auffallend ist, dass dezidiert politische Implikationen an der Stelle bei Aristoteles nicht vorkommen: Zu denken wäre etwa an die unterschiedliche Verwendbarkeit der Alterssegmente für das Militär,179 gegebenenfalls verbunden mit der Überlegung, in welchem Grade die einzelnen Gruppen zum ‚Vorteil‘ der Polis zu wirken vermögen Ebenso wenig artikuliert er die verbreitete Ansicht, dass ein Nexus von Alter, biologischer Reproduktion und ‚Nutzen‘ für die Bürgerschaft existiere 180 Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass der Philosoph – auch wenn er sich an der Stelle nicht zu Gattungsfragen äußert – vorrangig den forensischen Kontext im Visier hat, in dem diese Thematiken weniger relevant sind als in Demegorien Dezidiert antidemokratische Motive meidet er an der Stelle in gleicher Weise wie entschieden prodemokratische: So findet sich die tendenziell demokratiekritische – von Aristophanes komödiantisch verarbeitete – Position, dass die Richterschaft sich hauptsächlich aus dem Kreis betagter Männer aus der sozialen Unterschicht rekrutiere,181 nicht Desgleichen vermeidet er den – antisophistischen, aber auch tendenziell demokratieskeptischen – Topos vom Generationenkonflikt, den wir wiederum aus der Komödie der Phase des Peloponnesischen Krieges kennen 182 Hier mag eine Rolle spielen, dass jene Thematik unterdessen an Popularität eingebüßt hat Dies gilt zweifellos nicht für ein anderes Motiv, welches bei Aristoteles ebenfalls nicht begegnet: jenes der zunehmenden Marginalisierung des Oikos bei der politischen Erziehung der männlichen Rede entsprechend – die σωφροσύνη als zentrales Kennzeichen dieser Lebensphase heraus; siehe Aischin 1,11 175 Aristot rhet 1389 a 11–35; diesbezüglich zum sozialen Umfeld mit Belegen Dover 1974, 104 f 176 Aristot rhet 1389 a 3–11 Zugleich sind hier Parallelen zu seinen Ethiken auszumachen; dazu mit Belegen Garver 1994b, 177 f ; zu entsprechenden negativen Stereotypen bei den Rednern Roisman 2005, 12–15; grundsätzlich auch Menu 2000, bes 147–175 177 Zur historischen Einordnung dieser Vorstellung Parkin 1998, 31; Brandt 2010, 35 178 Vgl Dover 1974, 105 179 Hierzu speziell mit Blick auf ältere Bürgersoldaten Couvenhes 2003 180 Dieser Gedanke begegnet prägnant beispielsweise im perikleischen ἐπιτάφιος λόγος im Werk des Thukydides; siehe Thuk 2,44,3 181 Typisch ist hier die Gestalt des ‚Philokleon‘ aus den ‚Wespen‘; zu dem Gegenstand Hubbard 1989, 101 f 182 Einschlägig sind an der Stelle die ‚Wolken‘ des Aristophanes; zu dem Komplex Strauss 1993, 153–166; Euben 1997, 109–138; Zimmermann 2007, 73–78; grundsätzlich auch Wagner-Hasel 2012, 123–125
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Jugendlichen,183 die vermehrt als Sozialisationsprozess innerhalb der Institutionen der Polis verstanden und mit bürgerlicher Gleichheit assoziiert wird – im Unterschied zur Ebene der Häuser, auf der sich nach wie vor Inegalität manifestiert 184 Auch das politisch motivierte ‚Könnens-Bewusstsein‘,185 das nebenbei eine Abwertung des Alters implizieren kann,186 hat in der ‚Rhetorik‘ keinen Niederschlag gefunden Gleiches gilt für Zusammenhänge zwischen der sozialen Bewertung des Alters und den Usancen der Übergabe des Oikos an die jüngere Generation 187 Letzteres scheint vor allem darauf zurückzuführen zu sein, dass Aristoteles zuvorderst die privilegierten Schichten im Blick hat, bei denen die mit jener Thematik verbundenen Probleme weniger virulent sind als bei nichtvermögenden Bürgern 188 Hinweise auf eine Differenzierung zwischen ‚Jung‘ und ‚Alt‘ in der Wahrnehmung der anwesenden Richter begegnen sporadisch auch in forensischen Reden des vierten Jahrhunderts, jedoch anders gelagert als in den Überlegungen des Philosophen: Bei Demosthenes stoßen wir auf einen Beleg im Kontext der Verwendung historischer exempla: Als ‚Alte‘ tituliert er dort diejenigen, die sich an von ihm unmittelbar zuvor erwähnte, knapp zwei Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse noch erinnern, was bei ihm grundsätzlich positiv konnotiert ist 189 Dieser Umstand ist für Aristoteles nicht relevant, da er der Verargumentierung historischer Paradigmata in dem Zusammenhang keine vergleichbare Aufmerksamkeit schenkt 190 Verbreitet wird auch in der praktischen Rhetorik auf die ambivalente Einschätzung der Jugend Bezug genommen, gleichwohl nicht unter der spezifischen Fragestellung, wie sie sich als Hörer gerieren und inwieweit sie als solche eine gezielte Ansprache benötigen, sondern im Hinblick auf ihr Verhalten als Täter Ein Gesichtspunkt, der demgegenüber bei Aristoteles nicht zum Tragen kommt, sind die Unterschiede in der Altersschichtung bei den einzelnen
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Nichtsdestoweniger besteht nach wie vor die Annahme, dass Werte, welche die Polisgemeinschaft auszeichnen, auch im Bereich des Hauses erfahren und verinnerlicht werden Das aber ist verbunden mit der Idee der generellen Ausrichtung des Hauses auf die Polis; zum Phänomen des häuslichen Lernens Livingstone 2017, 44–46 184 Dazu Roisman 2005, 15 f ; Timmer 2012, bes 211–213; Livingstone 2017, 46–53 Von einer institutionalisierten politischen Erziehung im Rahmen der Polis kann freilich erst ab der Ephebie-Reform von 335/4 v Chr die Rede sein; zu deren Bedeutung in dem Zusammenhang Ober 2001, 203 f 185 Zu jener Kategorie, die Christian Meier – als antikes Pendant zum modernen Fortschrittsbegriff – geprägt hat, um die politische Mentalität besonders der Athener des fünften Jahrhunderts zu charakterisieren, u a Meier 1978 186 Zu dem Gedanken, unter Rekurs auf die einschlägigen Überlegungen Meiers, Timmer 2012, 209 f ; zur Zurückdrängung von Alten in der attischen Demokratie auch Brandt 2002, 43; Baltrusch 2003, bes 70 81 187 Dazu u a Lacey 1968, 125–131 188 Zu dem Komplex Baltrusch 2003, 68; Schmitz, W 2007, 62–64 147–149; zum Zusammenhang zwischen Altersbildern und sozialem Status mit Blick auf die griechische Antike auch Finley 1981/9, 13 f ; Herzig 1994, 175 f 189 Siehe Demosth 20,77; dazu mit Belegen auch aus anderen Rednern Timmer 2008, 40 190 Vgl oben Kap 2 2 2
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Gremien Mit Blick auf Athen ist insbesondere das Mindestalter von dreißig Jahren für Richter relevant – ein spezielles junges Hörersegment, wie Aristoteles es insinuiert, existiert dort entsprechend nicht Anzeichen für eine Altersdifferenzierung der Adressaten in der Kommunikation mit den Juroren finden sich in forensischen Reden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht 191 Die Dikasten werden vielmehr als Einheit begriffen und auch als solche adressiert 192 Im Verbund damit wird vorausgesetzt, dass jene in ihren Grundüberzeugungen, etwa der Frage, was einen ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Bürger konstituiere, übereinstimmen Etwaige Unterschiede unter den Juroren sind nicht von Belang; solche zu thematisieren, wäre für die Parteien gar kontraproduktiv: Entscheidend für Kläger wie Beklagte ist vielmehr, eine Trennlinie zwischen den Dikasten und ihrem jeweiligen Kontrahenten zu ziehen 193 Auf eine Spaltung der Richterschaft hinzuwirken, wäre demgegenüber ein riskantes Unterfangen Für die Volksversammlung ist hingegen in der Tat von einer größeren Heterogenität hinsichtlich des Teilnehmeralters auszugehen Explizite quantitative Angaben hierzu liegen uns freilich nicht vor;194 jedoch verfügen wir über Hinweise auf unterschiedliches Gebaren von Hörern wie auch auf Erwartungen an den Redner, welche auf eine Altersstratifizierung hindeuten So ist in demosthenischen Demegorien teils von ungestümen Gruppierungen die Rede, die rasche, unmittelbar handlungsrelevante Ratschläge einfordern 195 Zu deren Alter äußert sich der Redner gleichwohl nicht ausdrücklich, da es ihm an der Stelle zuvorderst um eine inhaltliche, nicht um eine personenbezogene Auseinandersetzung geht Grundsätzlich gilt aber auch hier, dass ein Rhetor bestrebt ist, die gesamte Versammlung anzusprechen, und dazu hervorhebt, dass sein Vorschlag für die Polis als ganze von Vorteil sei 196 Ein hiervor abweichendes Vorgehen kann in Ausnahmesituationen vorkommen, lässt sich dann aber von den
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Ausnahmen können dergestalt auftreten, dass ein Redner schwerpunktmäßig diejenigen Juroren zum ‚Mitleid‘ zu motivieren sucht, die mit ihm oder gegebenenfalls auch seinem Vater gleichen Alters sind und sich daher besonders mit seiner persönlichen Problematik identifizieren können; siehe etwa Lys 20,36 Der Tenor dabei ist aber, dass jeder Juror einen potentiellen Ansatzpunkt findet, um sich in die Lage des Betreffenden hineinzuversetzen und dessen Problematik auch emotional nachzuvollziehen 192 Dazu mit weiteren Literaturhinweisen Wolpert 2003, 538 f 193 Instruktiv ist an der Stelle eine Betrachtung der Anredeformen an die Juroren, die vielfach durch die Antithese ‚ihr‘ (Richter) – ‚sie‘ (Gegenseite des Sprechers) gekennzeichnet sind, teils aber auch durch den Gegensatz ‚wir‘ – ‚sie‘, wobei der Sprecher sich selbst hinsichtlich seiner Interessen und Wertorientierungen der Gruppe der Richter zurechnet; siehe Serafim 2017a, bes 32–37 Zu dem Umstand, dass die Juroren – ungeachtet der Tatsache, dass verschiedene Anredeformen mit unterschiedlichen Akzentuierungen existieren – grundsätzlich als Gesamtheit adressiert werden, auch Martin, G 2006, bes 86 f 194 Die Forschung hat sich entsprechend stärker mit der Frage nach der sozialen Zusammensetzung und der lokalen Herkunft der Ekklesiasten beschäftigt, auf die die Quellen in größerem Umfang Hinweise geben; vgl Hansen 1991/5, 128–130 195 Siehe etwa Demosth 4,13 196 Zu dem Komplex Harris, E M 2017a, 54; Page 2018, 20
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Kontrahenten leicht als unprobat attackieren: Ein Beispiel dafür ist der Versuch des Nikias, speziell die älteren Versammlungsbesucher gegen den Vorschlag des Alkibiades zur Wiederaufnahme des Krieges zu mobilisieren, nachdem ein Großteil der Jüngeren sich bereits enthusiastisch im Sinne der Fortsetzung des Konflikts gezeigt hat 197 Alkibiades mahnt die Ekklesiasten im Gegenzug, sich nicht nach Alter spalten zu lassen, und rekurriert auf die gängige Vorstellung, dass die Stadt stets am erfolgreichsten Politik betrieben habe, wenn die Bürger geschlossen agiert hätten 198 Neben den Altersgruppen widmet Aristoteles sich den verschiedenen sozialen Schichten innerhalb des Auditoriums und deren emotionalen Dispositionen Sein Augenmerk ist dabei offenkundig auf die soziale und politische Oberschicht gerichtet Er spricht dazu von ‚Reichen‘ (πλούσιοι) wie von ‚Mächtigen‘ (δυνάμενοι), wobei er unterstellt, dass die ‚Mächtigen‘ eine Teilgruppe innerhalb der ‚Reichen‘ bilden, die politische Elite sich mithin aus der sozialen rekrutiert 199 Dies setzt er prinzipiell als gegeben voraus, differenziert diesbezüglich auch nicht nach unterschiedlichen Formen politischer Ordnung Er geht von der Existenz eines Geburtsadels (d h einer Gruppe, die familiär gebundene εὐγένεια für sich reklamiert) aus,200 der sich – den Bedingungen in der klassischen Polis entsprechend – allerdings nicht durch bestimmte Privilegien und Funktionen auszeichnet, sondern sich vor allem über soziale Distinktionsmerkmale definiert,201 über welche die Familie seit langem verfügt 202 Gedacht ist an materielle Güter, aber auch an physische und mentale Superiorität, die durch Leistungen verschiedenster Art dokumentiert wird Charakteristisch für derartige Personen ist nach Aristoteles das Streben nach ‚Ehre‘; auch Herrschaftsfunktionen werden seinem Verständnis nach von jenen aus ebendieser Motivation heraus begehrt 203 Eine formale Abgrenzung selbigen Kreises als einer spezifischen Gruppe mit genauen Zugehörigkeitsmerkmalen besteht nicht;204 die Unterschiede zu Angehörigen der sozio-
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Thuk 6,13; zu dem Beispiel Harris, E M 2017a, 54 f Thuk 6,18,6 f ; zu weiteren Exempla dieser Art aus dem Corpus der athenischen Redner Epstein 2011, 89–96 Zu dem Themenfeld Aristot rhet 1391 a 20–29 Aristot rhet 1390 b 14–31 Kennzeichnend für den Personenkreis ist nachgerade ein bestimmter Lebensstil, der wesentlich durch ostentativen Konsum gekennzeichnet ist und entsprechende ökonomische Ressourcen voraussetzt; dazu u a Schmitz, W 2008, 37–43 Damit wähnen die Betreffenden sich auch denen überlegen, die ihre Geschlechter weniger weit in die Vergangenheit zurückführen und maximal auf familiäre Leistungen jüngeren Datums verweisen können; vgl Aristot rhet 1390 b 18–21 Aristot rhet 1390 b 16 f Hierzu etwa Nebelin, K 2012, 33–35; Goušchin 2015, 48 Die Forschung hat gezeigt, dass dies bereits für die Phase der Genese jenes Personenkreises in der archaischen Zeit charakteristisch ist; dazu Stein-Hölkeskamp 2018, bes 43–46 In Anbetracht dieser Merkmale ist zuweilen hinterfragt worden, inwieweit es angemessen ist, hier überhaupt von einem ‚Adel‘ zu sprechen; zur Diskussion darüber mit weiterführenden Literaturhinweisen Ulf 2001, bes 164 f ; Fraß 2018, 78–83
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politischen Elite, die ihrerseits nicht auf εὐγένεια verweisen können, sind nur gradueller Natur und liegen vor allem im Bereich des Habitus 205 Namentlich jene Aussagen, die auf einen geringen Formalisierungsgrad hindeuten, sind in hohem Grade mit den lebensweltlichen Verhältnissen kompatibel 206 Nichtsdestotrotz geht unser Autor in seinen Bemerkungen zur εὐγένεια über die Poliswirklichkeit hinaus Im politischen Betrieb Athens etwa lässt sich die Zugehörigkeit zu den ‚Eupatridai‘ in der Zeit kaum mehr anbringen 207 Im politischen Wettbewerb und damit im rhetorischen Agon wird aristokratische Herkunft bereits im fünften Jahrhundert, als ein Großteil der Betreffenden tatsächlich noch entsprechenden Familien angehört, von einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen,208 nicht mehr instrumentalisiert 209 Außerhalb demokratischer Kontexte verhält es sich freilich anders: In epideiktischen Reden etwa, die Einzelpersonen fokussieren und Superioritätsmerkmale deutlich herausstellen, kann durchaus auch auf den familiären Hintergrund des Betreffenden angespielt werden 210 Indikatoren für die Herausbildung einer politischen Elite, welche regelmäßig die politische Initiative ergreift und über weite Strecken der sozialen Oberschicht entstammt, finden sich hingegen auch in Athen 211 Dort aber handelt es sich ebenfalls nicht um einen fest umrissenen Kreis Aristoteles verweist in dem Abschnitt weiterhin auf Kritik an Mitbürgern, die erst vor kurzem zu Reichtum gelangt seien und es noch nicht verstanden hätten, positiv
205 So attestiert Aristoteles den Aristokraten größere ‚Würde‘ (σεμνότης) und ‚Strenge‘ (βαρύτης), die er vor allem an deren Auftreten festmacht; siehe Aristot rhet 1391 a 27 f 206 Im Unterschied dazu sind seine diesbezüglichen Überlegungen in den Fragmenten der ansonsten nicht erhaltenen Schrift Περὶ εὐγενείας deutlich stärker durch ethische Gesichtspunkte gekennzeichnet; siehe Aristot frg 94 (ed Rose); dazu Arnheim 1977, 180 f ; Schulz, B J 1981, 131 f 207 Deren Bedeutung beschränkt sich weitestgehend auf die Besetzung der Position der phylobasileis sowie von Priesterämtern, denen noch eine gewisse symbolische Tragweite zukommt, jedoch keinerlei politische Entscheidungskompetenzen; zu dem Komplex Gehrke 1998; Lambert 2015, bes 171 f ; Pierrot 2015, 161 f 208 Der berühmteste ist Alkibiades, der einen ausgeprägt aristokratischen Habitus zeigt; dazu u a Rohde 2009, bes 22 f ; Tiersch 2010, 79–83 209 Namentlich Christian Mann hat gezeigt, dass dies nicht erst für die Phase des Peloponnesischen Krieges gilt, sondern sich bereits für die Pentekontaëtie nachweisen lässt; siehe Mann 2007, bes 184–190; vgl Tiersch 2010, 84–90; anders noch Connor 1971 210 Dort kann mit genealogischen Hinweisen gearbeitet werden, die in Anlehnung an das Epos auch mythische Reminiszenzen zu enthalten vermögen; zu dem Komplex mit Blick auf Isokrates Masaracchia 2003 211 Wir greifen dies u a im Phänomen der πολιτευόμενοι und dem zugehörigen Diskurs (dazu oben Kap 2 2 2) In der Forschung wird diskutiert, inwieweit sich im vierten Jahrhundert – im Zuge der stärkeren Ausdifferenzierung der Redner- wie der Strategenfunktion sowie des Aufkommens militärischer und ökonomischer Spezialisten – eine ‚Kompetenzelite‘ herausbildet; dazu z B Sinclair 1988, 43–47; Kallet-Marx 1994, 235–239; Leppin 1995, bes 569 f ; Rohde 2019, bes 299–309 Im öffentlichen Bewusstsein wird dies kaum reflektiert; hier steht die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand unter Machtgesichtspunkten im Vordergrund Auch bei Aristoteles, dessen Aufmerksamkeit vorzugsweise sozialen Prominenzmerkmalen gilt, schlägt sich dies nicht nieder
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konnotierte Überlegenheitsmerkmale zu entwickeln 212 Eine Diskrepanz zwischen ‚Reichen‘ und ‚Mächtigen‘ macht er in dem Zusammenhang darin aus, dass letztere zwar noch größeren Ehrgeiz aufwiesen, sich zugleich aber um ein moderates Auftreten bemühten, da sie stärker der Wahrnehmung seitens der Öffentlichkeit ausgesetzt seien 213 Er reflektiert hier die Perspektive derer, die bereits über längere Zeit dem Kreis der ‚Mächtigen‘ zuzurechnen sind 214 Gesetzt den Fall, dass einschlägige Vorbehalte gegen die betreffenden Personen angeführt werden können, ist solches allerdings auch in der öffentlichen Rhetorik des zeitgenössischen Athen vermittelbar 215 Seine Aussagen zu Aristokraten sind gleichwohl keinesfalls durchgängig affirmativer Natur Er referiert überdies kritische Haltungen, wobei er auf die vermeintliche Degenration derartiger Familien verweist, bei denen die jüngeren keineswegs stetig die herausragenden Eigenschaften aufwiesen, die bei den älteren möglicherweise noch zu beobachten gewesen seien 216 Gerade die Kritik an jungen Aristokraten, die gern mit ‚ὕβρις‘ assoziiert werden, ist auch im Athen seiner Zeit gang und gäbe 217 Ein typisches Beispiel aus dem frühen vierten Jahrhundert, auf das unser Autor gleichfalls anspielt, bildet der jüngere Alkibiades 218 Eine Differenz ist unterdessen darin zu sehen, dass die grundsätzlich positive Einstellung gegenüber älteren Aristokraten, die der Philosoph insinuiert, im Athen seiner Zeit nicht mehr uneingeschränkt gegeben ist 219 Im Unterschied zu den privilegierten Schichten beschäftigt er sich mit den ‚Armen‘ nur am Rande – über jene bemerkt er eher lapidar, dass auf sie grundsätzlich das Gegenteil des über die Vermögenden Gesagten zutreffe, sie also über keines der Distinktionsmerkmale verfügten, welche die Reichen auszeichneten 220 Sämtliche Eigenschaften nichtprivilegierter Bürger, welche in der Gesellschaft positiv besetzt sind und von diesen vor Gericht zu ihrem Vorteil angeführt werden können,221 treten bei ihm in den
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Jenen schreibt er sämtliche Übel zu, die sich mit Reichtum in Verbindung bringen lassen; Aristot rhet 1391 a 14–19; zur Diskreditierung jenes Personenkreises in Abgrenzung zu ‚adlig‘ Geborenen auch Aristot rhet 1387 a 18 f 29–31 213 Aristot rhet 1391 a 22–26 214 Ursprünglich haben wir es hier mit einer Kritik aus Adelskreisen zu tun; dazu auf der Grundlage der Elegien des Theognis Schulz, B J 1981, 85–87; Stein-Hölkeskamp 1989; 86–93; dies 1997, bes 30; Walter 1993, 108–111 215 Vgl dazu oben Kap 5 1 4 216 Aristot rhet 1390 b 28–32; zu der Überlegung Schulz, B J 1981, 132 217 Zur Kritik an der ‚jeunesse dorée‘ bei den Rednern MacKendrick 1969, 6–8; Roisman 2005, 88–94 218 Aristot rhet 1390 b 28 f ; vgl Lys 14; zu dem Phänomen MacKendrick 1969, 6; Schulz, B J 1981, 122; Menu 2000, 19 f ; Tiersch 2010, 83 f 219 So ist es dort, anders als noch zu Beginn des Jahrhunderts, kaum mehr üblich, auf aristokratische Vorfahren zu verweisen Auch zu Jahrhundertbeginn aber war es in dem Zusammenhang notwendig, deren Leistungen für die Polisgemeinschaft und ihre Integration in den Bürgerverband hervorzuheben; siehe etwa Lys 16; dazu Mac Kendrick 1969, 6 f 220 Aristot rhet 1391 b 4–6 221 Dazu oben Kap 5 1 2
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Hintergrund 222 Typisch ist die von ihm vertretene Position allerdings insofern, als sie auf die gängige ‚Arm-Reich-Antithetik‘ rekurriert 223 Angehörige der Mittelschicht, mit denen der Philosoph sich in den Politika eingehend beschäftigt,224 werden an dieser Stelle gar nicht thematisiert Jenes ist umso bemerkenswerter, als davon auszugehen ist, dass diese in den realen Gerichten – neben den Unterprivilegierten – unter den Juroren zahlenmäßig dominieren 225 Auch mögliche Differenzen zwischen Gerichten und Volksversammlungen reflektiert er hier nicht 226 Eine Parallele zur öffentlichen Rhetorik manifestiert sich gleichwohl darin, dass differenziertere Klassifikationsschemata mit technischer Relevanz – darunter die sogenannte timokratische Gliederung, die in den Solon attestierten Schatzungsklassen zum Ausdruck kommt – in den Hintergrund geraten 227 Selbst wenn Aristoteles über Gruppen handelt, hat er doch zuvorderst deren einzelne Mitglieder im Blick 228 Ihre Interaktion in der Gemeinschaft tritt demgegenüber zurück Gerade angesichts der Tatsache, dass es ihm in dem Zusammenhang um de222 Hierzu finden sich bei ihm nur wenige Hinweise, die zudem eher mit negativen Konnotationen verbunden sind – so die Überlegung, dass ein Armer geneigt sein könnte, eine Straftat zu begehen, da er keine empfindliche Geldstrafe zu befürchten habe; siehe Aristot rhet 1372 a 35 f ; vgl Aristot rhet 1372 b 19 f 223 Dazu mit Belegen Taylor, C 2017, bes 33 f 224 Aus seinen dortigen Ausführungen ist überdies zu schließen, dass er mit Blick auf Athen eine vergleichsweise große Gruppe von μέσοι annimmt: Er geht grundsätzlich davon aus, dass große Poleis nicht selten eine breite Mittelschicht aufwiesen und aus dem Grund in ihrer politischen Ordnung stabiler seien als kleinere, in denen die ‚Arm-Reich-Dichotomie‘ stärker ausgeprägt sei und die daher eine höhere Stasisneigung an den Tag legten; siehe Aristot pol 1296 a 8–10; zu seinem Gedankengang u a Taylor, C 2018, 345–347 225 In der Forschung wird kontrovers diskutiert, in welchem Verhältnis Angehörige der Mittel- und der Unterschichten stehen; dazu mit Verweisen auf weitere Literatur Todd 2007, 317–346 Dass jene beiden Gruppen die Mehrheit der Juroren stellen und Angehörige der Oberschichten hier unterrepräsentiert sind, ist hingegen unstrittig 226 Über die soziale Zusammensetzung der Volksversammlungen ist in der Forschung vergleichbar massiv gestritten worden wie über jene der Gerichte Als wahrscheinlich gilt, dass vermögende Bürger unter den Ekklesiasten stärker präsent waren als unter den Richtern In welchem Umfang die Landbevölkerung vertreten war, dürfte nicht zuletzt von der Relevanz der verhandelten Themen abhängig gewesen sein; zu dem Komplex u a Ober 1989, 134–137 227 Ähnlich verhält es sich mit der praktischen Politik; dazu – speziell im Hinblick auf die Besetzung der Ämter – Schmitz, W 1995, 579–585; Blösel 2014, 78 88 228 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass er hin und wieder mit einem Kollektivsingular arbeitet, wenn er von „dem Hörer“ etc spricht; zu dem Komplex Segal 1962, 143 f ; Schloemann 2001, 159 Gruppendynamische Prozesse, wie er sie in der ‚Politik‘ im Kontext des ‚Akkumulationsprinzips‘ in den Blick nimmt, betrachtet er dabei kaum; zu dem Gegenstand Lane 2013, 252–264; Cammack 2013, bes 193; Bobonich 2015, bes 148 f ; Piepenbrink 2018, 254–257 Eine Ausnahme könnte in einer Passage zu sehen sein, in der er mögliche Zusammenhänge zwischen der Größe des Auditoriums und der für die Ausarbeitung der Rede adäquaten Sorgfalt bespricht: In Demegorien, die sich an eine größere Hörerschaft wenden als Gerichtsreden, operierten die Redner mit gröberen Mitteln; siehe Aristot rhet 1414 a 8–11; zu der These Rapp 2002a, 940 M E sind hier die räumlichen Dimensionen von größerer Bedeutung als Unterschiede im Verhalten der Auditorien; ähnlich Bers 2013, 33
5 2 Die Konzeptualisierung des Auditoriums und seiner Erwartungen
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ren Disposition als Zuhörer und ihre Tendenz zu affektiven Reaktionen zu tun ist, mag solches verwundern Die aktiven Redner zeigen an der Stelle – bedingt durch ihre Auftrittserfahrung – ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass sie hier mit gruppendynamischen Prozessen konfrontiert sind Das gilt ganz besonders für die Volksversammlung In Gerichtsprozessen, in denen es für Kläger wie Beklagte darauf ankommt, den einzelnen Richter zur Identifikation mit ihrer persönlichen Problematik zu motivieren, liegen die Verhältnisse anders Offenkundig hat Aristoteles auch dies vorrangig im Sinn Darauf deutet nebenbei seine grundsätzliche Überlegung hin, dass die Evokation von πάθος nachgerade für die Gerichtsrede relevant sei, wohingegen er das ἦθος des Redners als probates Überzeugungsmittel eher in der Demegorie verortet 229 Ausgehend von der rhetorischen Praxis, insbesondere dem Verhalten der jeweiligen Auditorien als Gruppe, aber auch mit Blick auf die Größe der betreffenden Versammlung und die inhaltliche Ausrichtung ihrer Arbeit, wäre die umgekehrte Variante andernfalls näherliegend 230
229 Aristot rhet 1377 b 29–31; vgl Aristot rhet 1356 a 7 f ; zu der Überlegung Carey 1994b, 44; Fortenbaugh 1996, 156 230 Das meint gleichwohl nicht, dass das ἦθος als Überzeugungsmittel in Demegorien in der rhetorischen Praxis nicht von Bedeutung sei Es begegnet hier durchaus auch, unterscheidet sich aber in seiner inhaltlichen Ausprägung in Teilen von der dikanischen Rede: Übereinstimmung mit jener ist darin zu sehen, dass die Sprecher ihre persönliche Integrität herauszustreichen suchen Unterschiede ergeben sich dadurch, dass in Demegorien eher intellektuelle Kompetenz und Führungsqualitäten bewiesen werden müssen; zu dem Komplex Gill 1984, 153; Kremmydas 2016, bes 44–47 Nichtsdestotrotz besteht in der rhetorischen Praxis generell eine enge Verbindung von ἦθος und πάθος; hierzu Kennedy 1963, 94; Papillon 1998, 45 f ; Carey 1994b, 35; in dem Sinne auch Timmerman/Schiappa 2010, 103, die vermerken, dass Aristoteles die Ethopoiie grundsätzlich in beiden Typen der Rede lokalisiert
6 Soziale Werte 6.1 Allgemeine Überlegungen zu sozialen Werten in der ‚Rhetorik‘ und ihrer historischen Situierung Die Thematik der kollektiven Werte als adäquaten Maßstäben und Bezugspunkten des Handelns ist in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ von eminenter Bedeutung und begegnet dort in unterschiedlichen Kontexten 1 Wir haben es hier mit einem Gegenstand zu tun, der nahezu omnipräsent ist – im Unterschied zu anderen Sujets, die der Stagirite stärker komprimiert und auf bestimmte Textabschnitte konzentriert abhandelt –, der zugleich aber nicht eindeutig definiert und kategorial abgegrenzt wird 2 Letzteres erklärt sich nicht allein aus Spezifika des Verständnisses unseres Autors resp Besonderheiten der vorliegenden Schrift, sondern konvergiert zugleich mit dem historischen Kontext: Ein Terminus für ‚Werte‘ findet sich weder bei dem Philosophen noch in seiner Umgebung 3 Um ‚Prinzipien‘ zu definieren, aus denen Prämissen für das Handeln gewonnen werden, kommen vielmehr verschiedene Termini zur Anwendung, die sich in ihrem semantischen Gehalt unterscheiden: Zum einen begegnet der Begriff der ἀρετή, der unmittelbar handlungsorientiert verwendbar ist und sich in eine Vielzahl einzelner ‚Tugenden‘ auffächern lässt; hinzu tritt der Terminus des ἀγαθόν, der zur Benennung diverser materieller wie auch immaterieller ‚Güter‘, welche Ziel des Strebens sind, benutzt werden kann 4
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In der Forschung ist der Gegenstand lange Zeit vorrangig unter der Fragestellung behandelt worden, inwieweit Werte für die aristotelische Rhetorik überhaupt konstitutiv sind, ob sie der Redekunst inhärent sind oder von außen herangetragen werden können/sollen/müssen bzw ob ein ‚guter‘ Redner zwingend ein ‚guter‘ Mensch sein oder nur als ein solcher erscheinen müsse Extremstandpunkte vertreten diesbezüglich Oates 1963 und Wörner 1990; einen Überblick über die Forschungspositionen gibt Day 2007, 389–391; grundsätzlich dazu auch Rowland/Womack 1985, bes 13 Eine Würdigung des Wertebezuges in der ‚Rhetorik‘ im Rahmen einer philologischen Interpretation leistet Classen 1980 Eine markante Rolle kommt ihm etwa in der Beschäftigung mit dem rednerischen ἦθος zu; aber auch in der Auseinandersetzung mit den ἔνδοξα als den typischen Haltungen und Einstellungen des Auditoriums begegnet er mannigfach Diesbezüglich zu Aristoteles Sommer 2016, 11 Letzteres jedoch geschieht in nichtphilosophischen Texten weitaus seltener als in philosophischen Grund hierfür ist, dass in ersteren gewöhnlich einzelne konkrete ‚Güter‘ angesprochen werden und der Bedarf nach einem Sammelbegriff, unter den sie sich subsumieren lassen, geringer ist
6 1 Allgemeine Überlegungen zu sozialen Werten in der ‚Rhetorik‘
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Wenden wir uns damit dem Befund in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ und dessen Relation zur Umwelt im Einzelnen zu: Bereits zu Beginn des ersten Buches kommt der Autor auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Redners zu sprechen, die seinem Verständnis nach eines der wichtigsten ‚Beweismittel‘ darstellt, um das Auditorium zu überzeugen 5 Er distanziert sich an der Stelle von den Verfassern sophistischer Kompendien, die dem Gegenstand seiner Ansicht nach keine hinreichende Bedeutung beigemessen haben Ob er hieraus konkludiert, dass dies in gleicher Weise für die rhetorische Praxis gilt, lässt sich nicht sicher einschätzen Zur Frage, inwieweit letztere durch die sophistische Rhetorik geprägt ist, bezieht er nicht Stellung Tatsächlich haben wir in der Kritik an der den Sophisten zugeschriebenen Wertepraxis markante Übereinstimmungen zwischen aristotelischen und im Athen des vierten Jahrhunderts populären Vorstellungen zu konstatieren So wird in beiden Fällen mit einer binären Dichotomie zwischen einem ‚guten‘ und einem als ‚sophistisch‘ diskreditierten Redner gearbeitet 6 Die Hauptdifferenz zwischen jenen Typen wird dabei übereinstimmend in deren Wertebezug ausgemacht, wobei der ‚gute‘ Redner als gemeinwohlorientiert gedacht wird, während seinem Gegenbild attestiert wird, Partikularinteressen zu verfolgen und dazu sogar bereit zu sein, mit Täuschungen zu operieren 7 Grundsätzlich vertritt der Philosoph in dem Zusammenhang die Auffassung, dass Wertkategorien vor allem zum Einsatz kommen, um Argumente zum Zu- oder Abraten zu formulieren 8 Das bezieht er auf sämtliche Redegattungen in gleicher Weise, was sich mit der rhetorischen Praxis deckt 9 Abermals parallel zu dieser reflektiert der Stagirite, dass bestimmte Werte in bestimmten Gattungen dominieren – so das Moment des ‚Nutzens‘ in politischen Beratungsreden bzw das des ‚Gerechten‘ in Gerichtsreden 10 Andere Beispiele – speziell jene Werte, die eine ausgeprägt elitäre Konnotation aufweisen – sind, in Sonderheit wenn sie uneingeschränkt, d h ohne Rücksichtnahme auf die spezifische Sensibilität des Demos, propagiert werden, am ehesten in panegy-
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In dessen zweitem Proöm ist der Gegenstand prominent vertreten; siehe Aristot rhet 1356 a 2 Dies korreliert mit der ambivalenten Einschätzung des Redners; hierzu u a Ober 1989, 105–108; Arthurs 1994, 6 f ; speziell mit Blick auf Aristoteles Garver 1991, 75 f ; ders 1994, 206–231; ders 1994a ; Hesk 1999, 219 Dahingehend zu Aristoteles Garver 1994a, bes 75 f 88 f ; zu den athenischen Rednern u a Finley 1962, 6; Kirner 2001, bes 46 f ; Hesk 2007, bes 363–365; Kremmydas 2013, 54–64; Dreßler 2014, 77–79 So im Hinblick auf die ἀρεταί Aristot rhet 1360 b 4–18 Im Alltag würde man gegebenenfalls eher formulieren, dass Werte in der Rhetorik zunächst einmal herangezogen werden, um die auftretenden Akteure und deren Anliegen im Hinblick auf die Frage, inwieweit sie sich an dem für die Polis ‚Wertvollen‘ orientieren, zu taxieren Aristoteles divergiert hiervon nicht, geht an der Stelle jedoch bereits einen Schritt weiter, indem er auf den Entscheidungsvorgang abzielt, der im Anschluss stattfindet Dazu oben Kap 2 1 Vgl oben Kap 2 2
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6 Soziale Werte
rischen Reden anzubringen In der zeitgenössischen rhetorischen Praxis lässt sich dies namentlich bei den einschlägigen Arbeiten des Isokrates beobachten 11 Eine Differenz im Umgang mit Werten nachgerade in Gerichtsreden ist darin auszumachen, dass Aristoteles sich hier in hohem Maße auf das ἦθος der Prozessierenden konzentriert, d h auf die Frage, wie diese ihre persönliche Werteorientierung überzeugend explizieren, um so – im Verbund mit Sachargumenten – für die von ihnen vertretene Position zu werben In der attischen Rhetorik tritt der Gedanke hinzu, dass Gerichtsreden in hohem Grade auch der Kommunikation von Werten dienen und damit eine politisch-didaktische Funktion erfüllen 12 Durch die Sanktionierung entsprechenden Fehlverhaltens wird dies ihrer Wahrnehmung nach noch unterstrichen 13 Nichtsdestotrotz setzt unser Autor in der ‚Rhetorik‘ voraus, dass in der Polis ein Wertekonsens existiert, was auf der Grundlage seines Werkes keinesfalls selbstverständlich ist In der ‚Politik‘ bzw den Ethiken äußert er sich nicht in vergleichbarer Weise: In der ‚Politik‘ arbeitet er speziell in den sogenannten empirischen Büchern – ausgehend von der Stasisproblematik – in hohem Grade mit Dichotomien, konkret mit verschiedenen Gruppen, die Herrschaftsansprüche gegenüber anderen Gruppierungen reklamieren und dazu verbreitet mit divergierenden ‚Gütern‘ und Werten argumentieren, namentlich ‚Reichtum‘ und ‚Freiheit‘ kontrastieren 14 In den Ethiken operiert er tendenziell mit ethisch qualifizierten Charakteren, welche er – ähnlich seinen Betrachtungen in der ‚Politik‘ – für geeignet hält, Herrschaftsfunktionen in der Polis zu übernehmen Dabei setzt keinesfalls voraus, dass die Mehrzahl der Bürger deren normative Haltungen teilt oder deren diesbezügliche Überlegungen auch nur hinreichend nachzuvollziehen vermag 15 Gleichwohl macht er an der Stelle kein nennenswertes Problem aus, da er die politischen Funktionsträger in der ‚Politik‘ nicht als
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Im Vordergrund steht dabei die φιλοτιμία herausragender Einzelner, die zwar durchaus einen Gemeinschaftsbezug aufweisen können, der jedoch nicht demokratisch affiziert sein muss; hierzu mit Beispielen aus dem ‚Euagoras‘ und dem ‚Nikokles‘ Alexiou 1995, bes 98–109 130 f Adriaan Lanni geht so weit, hierin eine zentrale Intention der Prozesse auszumachen, die deutlich über das Ziel der Durchsetzung von Gesetzen hinausgeht; siehe Lanni 2009 bes 692–695 707–720; dies 2012, 130–133 Sie spricht diesbezüglich – unter Verweis auf Sunstein 1996 – von der ‚expressive function‘ der Gerichte (Lanni 2009, 720) Zu der Thematik auch Too 2001a, bes 111 114 122 f , der den Erziehungsaspekt und in dem Zusammenhang auch die mutmaßliche Intention des primordialen Gesetzgebers noch stärker fokussiert Dazu oben Kap 2 2 1 Dort besteht maximal das Phänomen, dass die Mehrheit der Bürger sich mit der aktuellen Ordnung arrangiert und sie entsprechend toleriert, da sie es ihnen ermöglicht, ihre Bedürfnisse ausreichend zu befriedigen Ein Wertekonsens wird demgegenüber nicht erzielt; ein solcher fungiert hier lediglich als Sollzustand und ist an Polisordnungen gebunden, die sich von den derzeit gegebenen fundamental unterscheiden; zu letzterem Piepenbrink 2001, 48–51 Signifikant ist hier die Differenzierung zwischen der ‚Tugend‘ (ἀρετή) des Bürgers und jener des ‚guten Mannes‘ (ἀνὴρ ἀγαθός) (besonders Aristot pol 1277 a 1) Letztere ist an den Ethiken orientiert und impliziert zuverlässige Ausrichtung auf die dort entwickelten Werte; dazu Piepenbrink 2001, 81; Gastaldi 2017, 130–132; Overeem 2017, bes 41; vgl oben Kap 2 2 1
6 1 Allgemeine Überlegungen zu sozialen Werten in der ‚Rhetorik‘
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Redner konzipiert, die gehalten sind, ihre Positionen und deren normative Prämissen in größeren Gremien zu kommunizieren Bezüglich der Annahme, dass im Hinblick auf kardinale Werte Einvernehmen herrschen muss, befindet sich Aristoteles in der vorliegenden Schrift also grundsätzlich in Einklang mit dem common sense Wie sich dies bei einzelnen Werten konkretisiert, wird zu betrachten sein Der Umstand, dass er sich in dem Text anders positioniert als in seinen übrigen Arbeiten, resultiert offenkundig aus der hier praktizierten Fokussierung der Redesituation, die seinem Verständnis nach intersubjektiv gültiger Referenzpunkte bedarf, um im Auditorium ausreichend Resonanz zu erzeugen Dies geht einher mit seiner Einschätzung, dass argumentative Stringenz allein nicht genüge, um ein Massenpublikum effektiv anzusprechen 16 Als übergeordnete Kategorie verwendet unser Autor in dem Zusammenhang den Begriff des ‚ἀγαθόν‘ und subsumiert darunter sowohl ‚Güter‘ (materieller wie immaterieller Natur) als auch ‚Tugenden‘ (ἀρεταί) 17 Die Verknüpfung der beiden letztgenannten Größen bewerkstelligt er dadurch, dass er sie gleichermaßen mit dem ‚Glück‘ assoziiert,18 welches bei ihm als vorgeordnetes Gut fungiert und zugleich den Ausgangspunkt seiner Ausführungen zu dem Gegenstand bildet 19 Dabei weicht er in zweifacher Hinsicht von der praktischen Rhetorik ab: zum einen durch seine spezifische Systematik, zum anderen durch die Tatsache, dass er in hohem Grade als Bezugspunkt den Einzelnen verwendet 20 Sein systematischer Ansatz ist geprägt durch Überlegungen, die auch in der ‚Politik‘ virulent sind, vom gängigen Verständnis aber recht markant abweichen: Hier ist im Besonderen die Betonung von ‚εὐδαιμονία‘ und ‚αὐτάρκεια‘ zu nennen, die er als herausgehobene Werte einführt und zugleich mit einer spezifisch philosophischen Konnotation versieht 21 Im politischen Diskurs der Zeit hingegen wird ‚αὐτάρκεια‘ generell nicht mehr unter den prominenten Werten gehandelt,22 im Unterschied etwa zum verwandten Begriff der ‚αὐτoνομία‘, der deutlich stärker politisch aufgeladen ist und speziell im Kontext interstaatlicher Beziehungen, nachgerade auch in politischen Verträgen, eine wesentliche Rolle spielt 23 Das Systematisierungsbestreben ist an der
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Vgl oben Kap 2 1 Aristot rhet 1362 a 21–29; 1362 b 2–5 Aristot rhet 1362 b 10–12 ‚Tugenden‘ und ‚Güter‘ firmieren bei ihm als ‚Teile‘ (μέρη) des Glücks; zur ‚Teil-Ganzes-Relation‘ als philosophischem Denkmodell bei Aristoteles s u Kap 6 3 Siehe besonders Aristot rhet 1360 b 26–28 Hier finden sich Anklänge an seine εὐδαιμονία-Konzeption aus den ethischen Schriften; zu dem Komplex Kampert 2003, bes 226–255 Aristot rhet 1360 b 14–16 Selbst im Hinblick auf den Oikos hat sie – wiederum abgesehen von philosophisch motivierten Betrachtungen, die bei dem Komplex durch spezifische Kategorien gekennzeichnet sind – gegenüber der archaischen Zeit an Bedeutung eingebüßt; zur Entwicklung dieses Terminus siehe Wilpert 1950 Zu dem Themenfeld Pistorius 1985, 155–181; markant ist in dem Kontext auch die enge Verknüpfung von ‚Autonomie‘ mit ‚Freiheit‘; dazu Raaflaub 1985, bes 192 f
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Stelle gleichwohl nicht so deutlich ausgeprägt wie in der ‚Politik‘ So verwendet er die Kategorien der ‚αὐτάρκεια‘ und der ‚εὐδαιμονία‘ in der ‚Rhetorik‘ nicht, um eine Hierarchisierung menschlicher Gemeinschaften zu entwickeln – dergestalt etwa, dass jene Werte erst in der Polis als dem ‚τέλος‘ menschlicher Lebens- und Organisationsformen vollumfänglich zu verwirklichen seien 24 Auch die naturrechtlichen Implikationen, die diesbezüglich in den Politika begegnen und vom Alltagsverständnis erheblich divergieren,25 begegnen in der von uns studierten Abhandlung nicht In höherem Maße in Übereinstimmung mit traditionellen Wertvorstellungen bewegen sich seine Betrachtungen zu den Interdependenzen von ‚Gütern‘ und ‚Tugenden‘, wobei er in Sonderheit davon ausgeht, dass ‚Güter‘ gewöhnlich aus ‚Tugenden‘ resultieren 26 Er formuliert dies pauschal im Hinblick auf sämtliche genannte ‚Güter‘, differenziert also nicht etwa zwischen materiellen und immateriellen; auch den in der Philosophie seiner Zeit bereits gängigen Gedanken des usus iustus bringt er an der Stelle nicht an 27 Ihn verwendet er in der vorliegenden Schrift – durchaus gemäß dem üblichen Verständnis – im Hinblick auf den Gebrauch der Rhetorik,28 nicht jedoch als generelles Differenzierungskriterium für den Umgang mit ‚Gütern‘ und Fähigkeiten 29 In eine ähnliche Richtung geht die Annahme, dass ‚Güter‘ – konkret nennt er etwa Gesundheit, Reichtum und ‚Ehre‘ – stets ‚Gutes‘ generierten 30 Als Gegenstück zum ‚Gut‘ und damit als ‚κακόν‘ charakterisiert er in dem Zusammenhang lediglich das, was den Feinden nütze 31 Es wäre jedoch verkürzt, wollte man diese Überlegungen – ungeachtet der offenkundigen Parallelen – ursächlich auf die Orientierung an tradierten Wertvorstellungen zurückzuführen Maßgeblich ist an der Stelle vielmehr die aristotelische Definition des ‚ἀγαθόν‘,32 das für sich genommen stark durch ethische Prämissen gekennzeichnet ist und aus dem der Verfasser auf die einzelnen ‚ἀγαθά‘ schließt, ohne jene im gleichen
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Siehe dagegen zur ‚Politik‘ Aristot pol 1252 b 27–29; 1253 a 1–4; vgl Aristot EN 1097 b 6–20; zu den dort artikulierten Vorstellungen Wheeler 1955; Wörner 1992, 8 f ; Davis 1996, 19 f ; Kampert 2003, 21–51; Langmeier 2018, 38–51 Diesbezüglich zur ‚Politik‘ Yack 1991; Miller, F D 1995 Aristot rhet 1362 b 1–4 22–28; 1366 a 37 f Zum Denkmodell des usus iustus in philosophischen Texten des klassischen Griechenland Gnilka 1984, 29–40 Hierzu und zum Folgenden Aristot rhet 1355 a 29 – b 7 In dem Kontext nimmt er auf die in der zeitgenössischen Philosophie bereits verbreitete Position Bezug, dass allein die ‚Tugend‘ exklusiv in guter Weise gebraucht werden könne, während sämtliche andere Güter ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Verwendungen zuließen; gleichwohl verfolgt er diesen, über das Alltagsverständnis deutlich hinausgehenden Gedanken in der ‚Rhetorik‘ nicht weiter; siehe Aristot rhet 1355 b 4–8; zu dem Komplex Rapp 2002a, 99 Aristot rhet 1362 b 14–22 Aristot rhet 1362 b 29–35 ‚Gut zu sein‘ definiert er u a als das, was alle Dinge wählen würden, wenn sie ‚Vernunft‘ hätten; siehe Aristot rhet 1364 b 14 f ‚Vernunft‘ hat dabei nicht nur eine rationale, sondern auch eine ethische Dimension; vgl Aristot top 116 b 12 f ; dazu Rapp 2002a, 375 f
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Umfang durchgängig ethisch zu transformieren Letzteres scheint ihm unter philosophischen Gesichtspunkten offenbar nicht zwingend geboten und verbietet sich überdies, da er an der Stelle den Anspruch erhebt, dem common sense zu folgen 33 Die ‚Güter‘ und Werte, die er in der ‚Rhetorik‘ im Kontext der ‚εὐδαιμονία‘ verortet, begreift er vorrangig als ‚Glücksgüter‘ des Einzelnen,34 die zwar im sozialen Miteinander situiert sind, jedoch nicht ausdrücklich auf die politische Gemeinschaft bezogen werden Hier ist ein fundamentaler Unterschied zu den Wertbegriffen zu sehen, mit denen in populären Diskursen gearbeitet wird 35 ‚Glückseligkeit‘ spielt zwar auch dort eine durchaus nicht unerhebliche Rolle, weist aber einen ausgeprägten Polisbezug auf, der auch inhaltlich ausformuliert wird: So wird ‚εὐδαιμονία‘ bevorzugt verstanden als Charakteristikum einer exzellent eingerichteten Polis, welche in der griechischen Welt reüssiert, nicht zuletzt aufgrund ihrer militärischen Leistungsfähigkeit, welche sich aber – so die Vorstellung – den Qualitäten der einzelnen Bürger verdankt 36 Als Kerngedanke firmiert dabei das Moment der Wahrung der ‚Freiheit‘ 37 Das ‚Glück‘ der Polis wird somit auch in der politischen Praxis keinesfalls mit dem von Einzelpersonen kontrastiert; jedoch werden letztere vorrangig in ihrer Rolle als Bürger reflektiert Im Hinblick auf den Einzelnen an sich wird das Phänomen dort seltener zur Sprache gebracht; wenn dies geschieht, so richtet sich der Fokus gemeinhin auf das materielle Wohlergehen und damit auf den Besitz des Betreffenden bzw seiner Familie 38 Aus dieser Perspektive ist es mitunter gar negativ konnotiert, insofern es mit einer Präferierung häuslicher Interessen und einer Missachtung des Primats der Polis in Verbindung gebracht werden kann 39 Bei Aristoteles, der solche Bedenken in der ‚Rhetorik‘ nicht diskutiert, ist es hingegen eindeutig positiv besetzt 40 33 34
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Siehe Aristot rhet 1362 b 29 f ; 1363 a 9–11 Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass er grundsätzlich davon ausgeht, dass Einzelne und Gemeinschaften gleichermaßen ihr Handeln auf die ‚Glückseligkeit‘ ausrichten (Aristot rhet 1360 b 4–7) Seine Detailausführungen machen jedoch deutlich, dass der Einzelne bei seinen diesbezüglichen Betrachtungen im Vordergrund rangiert; siehe Aristot rhet 1360 b 14–30; differenziert zu dem Komplex Kraut 1989, bes 153 f Ganz besonders deutlich ist der Bezug auf den Einzelnen bei solchen Bestandteilen der ‚Glückseligkeit‘, die körperliche Merkmale wie Schönheit, Stärke, athletische Fähigkeiten oder Gesundheit betreffen (zu letztgenannten Aristot rhet 1360 b 21–23; 1361 b 3–13) Auch die ‚Güter‘, die er in den Blick nimmt, betrachtet er bevorzugt im Hinblick auf das ‚Glück‘ des Einzelnen; hierzu Roche 2014 In der ‚Politik‘ verhält es sich dahingehend anders; dort ist der Polisbezug bei weitem stärker ausgeprägt, namentlich in den ontologisch fundierten Passagen, in denen der Gedanke des Primats der Polis dominiert; dazu Morrison 2013, 187 f ; Lott 2017, 160 f Zu jener Differenz Piepenbrink 2016b, 135 Zu dem Komplex mit zahlreichen Belegen aus den attischen Rednern Roisman 2003, 132–136; Balot 2014, 300–329 Dieses wiederum wird entschieden mit ‚Autonomie‘ und Herrschaft verbunden; siehe etwa Demosth 3,26; [Demosth ] 10,46 Entsprechende Belege aus der Geschichtsschreibung sowie der Rhetorik gibt Dover 1974, 173 f So etwa in [Demosth ] 13,20; Demosth 18,296 Vgl Aristot rhet 1360 b 15–17
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Am geläufigen Verständnis orientiert ist dagegen in dem Zusammenhang die Vorstellung, dass als Werte und ‚Güter‘ Qualitäten anzusehen seien, die von ‚allen‘ (πάντες) erstrebt, als erstrebenswert betrachtet und auch gelobt würden 41 Damit geht es nicht um Eigenschaften, die nur von einer (qualifizierten) Minderheit honoriert werden Unser Autor orientiert sich in dem Fall ausdrücklich und uneingeschränkt an der ‚Menge‘ (οἱ πολλοί) 42 Dies hat etwa zur Konsequenz, dass er sogenannte dianoetische Tugenden, die er mit formaler Bildung assoziiert, anders als in seinen ethischen Schriften kaum berücksichtigt 43 In Übereinstimmung mit der praktischen Rhetorik setzt er voraus, dass jene Werte intersubjektiv gültig sind und damit gemeinhin nicht zum Gegenstand von Kontroversen gereichen 44 Demgegenüber hält er es für möglich, dass über das ‚Mehr‘ oder ‚Weniger‘ bzw das ‚höhere‘ Gut und den ‚größeren‘ Nützlichkeitsgrad gehandelt wird 45 In der Praxis begegnet dies vorrangig im epideiktischen Genre, wenn herausgestellt werden soll, dass die zu preisende/n Personen/en allgemein anerkannten Werten in besonderem Maße entsprechen 46 Hinsichtlich der übrigen Gattungen, welche durch die unmittelbare Konfrontation von Sprechern gekennzeichnet sind, verhält es sich gewöhnlich etwas anders: Dort wird bevorzugt mit Antagonismen gearbeitet, indem jeder Redner für die eigene Person eine vollumfängliche Orientierung an den für die jeweilige Thematik relevanten Werten in Anspruch nimmt, wohingegen er dies den Kontrahenten generell abspricht 47 Schließlich führt Aristoteles in dem Zusammenhang abermals die genuin philosophische Differenzierung zwischen ‚Gütern‘, die um ihrer selbst willen oder nur im Hinblick auf andere erstrebenswert seien, an 48 Eine weitere Gemeinsamkeit ist darin auszumachen, dass weder der Philosoph noch die Redner Wertekonflikte konstatieren Das resultiert aus der angesprochenen gemeinsamen Überzeugung, dass hinsichtlich der Werte in der Gesellschaft Übereinkunft herrsche Tatsächlich aber kennen wir gerade aus der Forensik zahlreiche Fälle von Bezugskonflikten, wo namentlich die Frage auftritt, wie Verhaltenserwartungen seitens der Familie und solche der Polis adäquat in Kongruenz gebracht werden 49 Kontrahenten operieren hier nicht selten mit unterschiedlichen Wertmaßstäben In der Gerichtsrhetorik wird dieses Moment gleichwohl nicht thematisiert, insofern dem 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Aristot rhet 1363 a 7–10; zur Ausrichtung am gewöhnlichen Verständnis in dem Zusammenhang Oates 1963, 341 f Aristot rhet 1363 a 7 f Dazu Rapp 2002a, 127 332 Vgl Aristot rhet 1363 b 5–7 Aristot rhet 1363 b 5–12 Zuweilen gibt Aristoteles Hinweise darauf, dass er bei diesem Themenfeld eben jenen Rednertypus explizit vor Augen hat; siehe etwa Aristot rhet 1366 a 23–25 Das entspricht den Grundregeln der Ethopoiie; vgl Naschert 1994, bes Sp 1513 Aristot rhet 1363 b 12–14 Diese korrelieren mit Rollenkonflikten zwischen den Verpflichtungen als κύριος eines Hauses und als Bürger; dazu u a Roisman 2005, 26–63
6 1 Allgemeine Überlegungen zu sozialen Werten in der ‚Rhetorik‘
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Gegenüber nicht zugestanden wird, nach anderen, aber nichtsdestotrotz legitimen Prinzipien gehandelt zu haben, sondern ihm Devianz von dem einen verbindlichen normativen Bezugssystem vorgeworfen wird Im Umgang mit Werten differenziert Aristoteles teils zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, teils bemerkt er, dass bestimmte Werte für beide Bezugsgrößen relevant sein können – darunter die ‚εὐγένεια‘ oder auch eine große Zahl an Nachkommen 50 Da er jene beiden Größen an der Stelle getrennt in den Blick nimmt, d h nicht eigens eruiert, wie sich Einzelne und Gemeinschaft diesbezüglich zueinander verhalten, fragt er nicht nach möglichen Interdependenzen oder auch Konflikten, die in der politischen Praxis gerade im Falle der ‚εὐγένεια‘ vorkommen 51 Wo er jene Qualität im Hinblick auf die Gemeinschaft reflektiert, folgt er gängigen Positionen: So rekurriert er auf das ätiologische Denkmodell der Autochthonie,52 demgemäß die Politen als indigene Gemeinschaft vorgestellt werden und das sich im zeitgenössischen Athen außerordentlicher Popularität erfreut 53 Daneben greift er das Motiv ihrer ‚ersten Führer‘ auf – verstanden als militärische ἡγεμόνες in der Frühzeit der Geschichte der Stadt –, denen hohe Wertschätzung gezollt wird und an die sich der Wunsch knüpft, dass zahlreiche ihrer Nachfahren ebensolche Qualitäten aufweisen und hinsichtlich des Ruhmes mit jenen wetteifern mögen 54 Hier geht unser Autor ganz selbstverständlich davon aus, dass nicht an deren persönliche Nachkommen gedacht ist, sondern an die gesamten nachfolgenden Generationen in der Polis In Athen wird Derartiges mit Vorliebe in Aussagen zu den ‚Vorfahren‘ (πρόγονοι) expliziert, namentlich in den ἐπιτάφιοι λόγοι, in denen heroische Paradigmata aus mythischer Vorzeit im Verein mit den Bürgern der Perserkriegszeit, die mit gleichermaßen exemplarischer Tapferkeit für die Freiheit aller Griechen eingetreten seien, kommemoriert werden können 55 Bezüglich der ‚εὐγένεια‘ des Einzelnen formuliert Aristoteles an der Stelle einen Gedanken, welcher den demokratischen Comment nahezu vollumfänglich widerspiegelt, der von seinen sonstigen Überlegungen zu dem Gegenstand aber abweicht: ‚Edle Herkunft‘ 50 51
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Aristot rhet 1360 b 31 – 1361 a 11 Dort kann nicht in jedem Fall vorausgesetzt werden, dass die aristokratische Herkunft eines Einzelnen von der Gemeinschaft wertgeschätzt wird Dies gilt für die politische Elite generell (dazu unten Kap 7 1), aber auch speziell mit Blick auf mögliche Auftritte von Personen aus diesem Kreis vor Gericht Aristot rhet 1360 b 31 f So ist es beispielsweise – von der Historiographie abgesehen – in den ἐπιτάφιοι λόγοι prominent vertreten; dazu mit Belegen Rosivach 1987; Wilke 1996, 238 f ; grundsätzlich zu dem Motiv und seiner Rolle im Selbstverständnis der Athener Loraux 1984/93, 37–71; Connor 1994, bes 37 f ; Cohen, E 2000, 82 f ; Flaig 2005, 230 f ; Lape 2010, 141–145; speziell mit Blick auf die zwischenstaatliche Kommunikation auch Osmers 2013, 153–171 Aristot rhet 1360 b 32–38 Ηierzu Loraux 1983/6, 149 Auch in der Gerichtsrhetorik des vierten Jahrhunderts begegnet der Terminus der εὐγένεια sporadisch – allerdings ausdrücklich ohne aristokratische Konnotation und damit als Identifikationsangebot an jeden athenischen Bürger; zu dem Phänomen mit Belegen Dover 1974, 93 f ; grundsätzlich auch Ober 1989, 259–270; Mann 2007, 138
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6 Soziale Werte
manifestiert sich danach im Besitz des Bürgerrechts;56 im Unterschied zum Athen seiner Zeit geht er allerdings davon aus, dass dieses alternativ von männlichen oder weiblichen Vorfahren herrühren kann, also nicht in jedem Fall beide Elternteile im Besitz der Civität der betreffenden Stadt sein müssen 57 In Übereinstimmung mit den Athenern setzt er voraus, dass auch Frauen – ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht über politische Partizipationsrechte verfügen – Teil der Bürgergemeinde sind 58 Die Annahme, dass eine große Zahl von Nachkommen grundsätzlich positiv gewürdigt wird, gilt im Hinblick auf den Einzelnen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht uneingeschränkt Aristoteles gibt hier eine Einstellung wieder, die vorrangig für die soziale Elite kennzeichnend ist; in weiten Kreisen der Bevölkerung, nachgerade unter Subsistenzbauern, für die aus der Praxis der Realerbteilung schnell Probleme erwachsen können, verhält es sich diesbezüglich zweifelsohne anders 59 In der Auseinandersetzung mit ‚Gütern‘ und Werten operiert der Philosoph in erheblichem Umfang mit aristokratisch affizierten Vorstellungen Diese sind mit dem bürgerlichen Selbstverständnis allerdings durchaus kompatibel, sofern die Bürgerschaft als Referenzpunkt fungiert Hierzu kennen wir aus populären Diskursen prinzipiell zwei Varianten: zum einen das Phänomen des Aristie-Strebens der Politen als Gruppe, welches sich besonders im militärischen Bereich manifestiert,60 aber auch in nach innen gerichteten Machtansprüchen zum Ausdruck kommt,61 zum anderen die Erscheinung, dass Individuen prominent hervortreten, dabei aber ihren Bezug auf die Gemeinschaft entschieden herausstreichen 62 Daneben kommt es vor, dass der Typus des ‚καλοσκἀγαθός‘, den auch Aristoteles stark goutiert, grundsätzlich Wertschätzung
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Aristot rhet 1360 b 34 f Dies ist Gegenstand des perikleischen Bürgerrechtsgesetzes, das auch in aristotelischer Zeit noch in kraft ist, allerdings nicht durchgängig strikt angewandt wurde; zu dem Komplex mit Quellen- und Literaturhinweisen Davies 1977, 105 f ; Schubert 1994, 158–160; Hartmann 2002, 54–57; Coşkun 2013, 398–400; zu Motivation und Zielsetzung des Gesetzes Boegehold 1994 Für Athen ist das gerade mit Blick auf das eben erwähnte Bürgerrechtsgesetz des Perikles essentiell; dazu Sealey 1990, 12–19; Hartmann 2002, 52–57; grundsätzlich zu dem Komplex Patterson, C 1986, bes 62 f ; dies 2009, 52 f Bereits Hesiod geht auf die Problematik ein und zeigt ihre Ambivalenz auf: Mit Blick auf die Erbteilung gibt er zu bedenken, dass die Beschränkung auf einen einzigen Sohn sinnvoll sein könne; hinsichtlich der Chancen, den Besitz zu vergrößern, scheinen ihm gegebenenfalls aber auch mehrere wünschenswert (Hes erg 375–379; dazu Schmitz, W 2014, 33 f ) Prinzipiell gilt dies auch noch für die klassische Zeit – trotz der Zunahme an Arbeitsteilung und der verbesserten Möglichkeiten, nun auch außerhalb der Landwirtschaft seine Existenz zu sichern Hinsichtlich der Zahl der Töchter ist in dem Zusammenhang vor allem die Mitgiftproblematik relevant; zu letzterer Bernhardt 2003, 261–263; Schmitz, W 2007, 34 f 105 Hier profiliert sich die Gruppe bzw der Einzelne als Teil der Gruppe; zu dem Komplex Donlan 1980; Whitehead 1983 Dazu knapp, aber äußerst konzise Finley 1969 Dies begegnet u a bei Rednern, welche regelmäßig in der Volksversammlung auftreten und hier die politische Initiative ergreifen; zu deren Selbstdarstellung besonders Ober 1993/6, 27; vgl auch oben Kap 2 2 2
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erfährt und als Identifikationsfigur gehandelt wird – gelegentlich sogar unabhängig von der Frage, in welchem Umfang die Polis durch ihn profitiert, und unbeschadet der Tatsache, dass die Mehrzahl der Bürger nur über begrenzte Möglichkeiten verfügt, einem solchen nachzueifern 63 Gleichwohl ist der Status einer derartigen Persönlichkeit in Athen prekär: Bis zu welchem Grade ein elitärer Habitus affirmiert und von welchem Moment an er mit Hybris und Demokratiefeindlichkeit assoziiert wird, ist situationsabhängig und wird vom Demos ad personam entschieden 64 Der Philosoph widmet diesen Ambiguitäten keine Aufmerksamkeit, sondern geht davon aus, dass die betreffenden Distinktionsmerkmale durchgängig positiv besetzt seien 6.2 ‚Güter‘ (ἀγαθά) Die im vorigen Abschnitt bereits angesprochenen ‚Güter‘ untergliedert Aristoteles einmal in ‚äußere‘, zum zweiten in ‚seelische‘ bzw ‚körperliche‘,65 wobei es ihm nicht um eine Differenzierung in Materialität und Immaterialität zu tun ist; sein Blick ist hier auf den einzelnen Menschen gerichtet; ‚seelische‘ resp ‚körperliche Güter‘ sind dabei seinem Verständnis nach all jene, die unmittelbar mit der Person verhaftet sind, darunter die physische Verfassung, aber auch charakterliche Merkmale, wozu er ‚Güter‘ und ‚Tugenden‘ in enge Verbindung bringt 66 Hier unterscheidet er sich von verbreiteten Meinungen nicht nur durch sein Differenzierungsbestreben; hinzu tritt die Tatsache, dass im Alltag eher die Annahme besteht, dass auch jene ‚seelischen‘ bzw ‚körperlichen Güter‘ teils in erheblichem Maße durch äußere Faktoren geprägt seien 67 Unter den ‚äußeren Gütern‘ gilt seine besondere Aufmerksamkeit dem Komplex des materiellen Reichtums 68 Er denkt dabei neben Geldvermögen schwerpunktmäßig an tradierte Besitzformen, d h Landbesitz einschließlich eines reichen Viehbestandes 63 64
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Zur Wertschätzung jenes Typus mit Quellenbelegen Wankel 1961, 85–87; Donlan 1973, 373 f ; Dover 1974, 41–45; Bourriot 1995, 415–528; Matuszewski 2019, 181 f 189 f ; grundsätzlich auch Meier 1985, 25 Hier kommt die ambivalente Haltung zu einstmals aristokratischen Wertvorstellungen zum Ausdruck, die in der attischen Demokratie vielfältig begegnet; zu dem Komplex u a Seager 1973; Whitehead 1983; ders 1993, bes 45; Roberts 1986, bes 368 f ; Lloyd-Jones 1987, bes 18 f ; Ober 1989, 289–292; ders 1993/6, 31; Fouchard 1997, 487; Eder 1998, 128–131; Wilson 2000, 109–143; Fisher 2003, bes 211 f ; Mann 2009, bes 10; Engen 2011, bes 96–98; Spatharas 2011, 203 f 216; Fisher/Wees 2015a, bes 32 „τὰ ἔξω“ resp „τὰ περὶ ψυχὴν καὶ τὰ ἐν σώζματι“; Aristot rhet 1360 b 26 f Aristot rhet 1360 b 19–28 Das gilt etwa für die physische Erscheinung oder die Befindlichkeit im Alter, bei denen auch materielle Faktoren zum Tragen kommen Die Vorstellung vom Zusammenhang zwischen äußerer Attraktivität und materiellem Wohlstand bzw zwischen dem Fehlen ersterer und Armut wird nicht nur in literarischen Quellen artikuliert, sondern spiegelt sich etwa auch in der Ikonographie wider; dazu Jacquet-Rimassa 2014, bes 179 f Aristot rhet 1361 a 13–25
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und einer nicht unerheblichen Zahl an Sklaven 69 Damit befindet er sich in Übereinkunft mit gängigen Einstellungen breiter Schichten, die sich – etwa im Falle Athens – nicht allein durch die Fokussierung des Oikos begründet, sondern darüber hinaus auf dem Umstand basiert, dass das Eigentum an Land im Normalfall an den Bürgerstatus gebunden ist, so dass es sich bei der agrarischen, auf den eigenen Hof gestützten um eine dezidiert bürgerliche Lebensform handelt 70 Grundsätzlich teilt er die für die griechische Antike typische Haltung, dass Besitzgüter und deren Akkumulation nicht per se von Wert sind; Gegenstand der Würdigung ist vielmehr deren Verwendung, wobei allem voran der Einsatz für die Gemeinschaft wertgeschätzt wird 71 Tief im Kulturkreis verwurzelt ist fernerhin der auch von Aristoteles formulierte Gedanke, dass der Erwerb materieller Ressourcen und das Bemühen um deren Mehrung nicht pauschal gutzuheißen sei, sondern sich in einer Weise zu vollziehen habe, die eines freien Mannes würdig ist 72 Das korreliert mit gängigen Einstellungen zur Arbeit, die insbesondere abhängige Beschäftigungen moniert, welche – nicht nur unter den Vermögenden, sondern durchaus in breiten Schichten – nur geringes Ansehen genießen, indem sie, gerade im klassischen Athen, bevorzugt mit Sklaven oder Metöken assoziiert werden 73 Arbeit – speziell Landarbeit – aber konnotiert unser Autor keinesfalls negativ; dem common sense entsprechend geht er davon aus, dass Personen, die ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit – nachgerade solche in der Landwirtschaft – verdienen, ein deutlich höheres Prestige genießen als solche, die auf Zuwendungen anderer angewiesen sind 74 Vermögen verbindet er des Weiteren mit ‚Genuss‘ (ἀπόλαυσις),75 wobei er hinzufügt, dass in Sonderheit Besitztümer, welche zum ‚Genuss‘ beitragen, einen Freien in höherem Maße ehren als derartige, die vorrangig auf den ‚Nutzen‘ ausgerichtet sind 76 Er knüpft hier nicht nur an die 69 70 71
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Aristot rhet 1361 a 13–15 Zur Bedeutung des Landbesitzes in der Wahrnehmung der Athener Foxhall 2006, 249–254 Zu Aristoteles siehe Aristot rhet 1361 a 23 f Der Philosoph arbeitet hier mit der gängigen Vorstellung zur Relation von ‚Besitz‘ und ‚Gebrauch‘, die vorrangig sozial, weniger ökonomisch konnotiert ist; vgl Nickel 1970, 49 Letzteres findet sich gleichwohl auch, beschränkt sich aber weitgehend auf die Literatur zur Ökonomik, beispielsweise Xenophons Oikonomikos, die primär das Haus, nicht das Verhältnis von Haus und Stadt im Blick hat; hierzu mit Belegen Nickel 1970, 44 Beides ist zu unterscheiden von stärker philosophisch orientierten Zugängen, wie Aristoteles sie in der ‚Nikomachischen Ethik‘ praktiziert, wo etwa die Beziehung von ‚δύναμις‘ und ‚ἐνέργεια‘ zum Tragen kommt; dazu Nickel 1970, 105 Aristot rhet 1361 a 14–19 Dominant ist hier der Gedanke der ‚Freiheit‘, der mit verschiedenen Formen von Abhängigkeit kontrastiert werden kann; zu dem Komplex Garlan 1980, 6; Balme 1984, 140 f 148; Wood 1988, 137–145; Lis 2009, 45–47; Taylor, C 2017, 23 f Aristot rhet 1381 a 23 f ; zu vergleichbaren Einstellungen unter den Athenern siehe Dover 1974, 173 mit Belegen aus den Komödien des fünften sowie aus den Rednern des vierten Jahrhunderts Einschlägig ist diesbezüglich auch Thuk 2,40,1; dazu Scholten 2003, 2 f ; zu dem Komplex mit weiteren Stellen zudem Engels 1989, 145 f Aristot rhet 1361 a 17 Aristot rhet 1361 a 16–19; 1367 a 25–27
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Einstellungen von Rentiers an, sondern auch an die in weiten Kreisen anzutreffende Haltung, dergemäß ‚Muße‘ das kulturelle Leitziel bildet 77 Hinsichtlich des Besitzes formuliert der Stagirite ferner, dass jener mit ‚Sicherheit‘ verbunden sein solle 78 Diese Erwartung ist nachdrücklich geprägt durch die traditionelle Vorstellung vom Oikos als Existenzgrundlage, die ihren Ursprung in der Landwirtschaft der archaischen Zeit hat und dort unter Subsistenz- wie Großbauern gleichermaßen verbreitet ist Noch gefördert wird sie durch den Umstand, dass ein über den Oikos hinausgehendes soziales Bindungswesen, welches auch in ökonomischer Hinsicht Schutzfunktionen zu übernehmen imstande ist, selbst in klassischer Zeit nur rudimentär existiert Der Gedanke des Oikos als Hort der ‚Sicherheit‘ kann im Gerichtswesen der klassischen Zeit nachgerade im Zusammenhang mit Erbschaftsangelegenheiten erfolgreich angebracht werden 79 Ferner besteht die Vorstellung, dass die Polis insbesondere durch gesetzgeberische Maßnahmen auf den Schutz der einzelnen Häuser hinwirke 80 Unmittelbar im Anschluss an die Herrschaft der Dreißig wird in der lysianischen Rede ‚Gegen die Auflösung der Verfassung‘ als entscheidendes Argument zugunsten der Demokratie angeführt, dass diese das Eigentum der Politen schütze, wohingegen es durch Verfechter der Oligarchie bedroht werde 81 Dabei ist durchaus auch an die materielle Habe der Einzelnen gedacht; im Vordergrund aber stehen in der Passage die politischen Partizipationsrechte der Gesamtheit der Bürger 82 An weiteren ‚äußeren Gütern‘ bringt der Verfasser der vorliegenden Schrift den ‚guten Ruf ‘ (εὐδοξία) und die ‚Ehre‘ (τιμή) ins Spiel und spricht damit neuerlich Momente an, welche durch den Gedanken der sozialen Reputation gekennzeichnet sind 83 Sein spezielles Interesse gilt dabei Ehrungen, die für verdienstvolle Leistungen, namentlich solche euergetischer Natur, verliehen werden 84 Dabei hat er vornehmlich Gratifikationen zugunsten von Einzelpersonen im Blick, was gleichwohl nicht im Widerspruch zur zeitgenössischen Praxis steht, sondern Tendenzen reflektiert, die auch im demo-
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Dies ist bereits bei Hesiod greifbar und steht keineswegs im Gegensatz zu seiner ausgeprägten Betonung der Arbeit; vgl Hes erg 606 f ; zu dem Komplex im klassischen Athen – auch jenseits des philosophischen Diskurses und der spezifischen Situation der Oberschicht – Anastasiadis 2004, bes 75 f Aristot rhet 1361 a 19–21; zu der Stelle und ihrer Verortung im ökonomischen Denken des Aristoteles Descat 2016, 8 f ; grundsätzlich auch Mackil 2018, 315 In Fällen, die stärker politisch konnotiert sind, bietet sich der Verweis auf häusliche ‚Sicherheit‘ hingegen nicht an; dazu oben Kap 5 1 5 Diese Intention ist bereits in den solonischen Gesetzen zu greifen, die zu einem erheblichen Teil auf der Ebene der Häuser ansetzen Das gilt insbesondere für seine Gesetze zum ‚Familienrecht‘ sowie zur ‚Aufwandsbeschränkung‘; vgl Ruschenbusch 2010, 83–126 137–144; Leão/Rhodes 2015, 75–99 115–125; generell zu dem Komplex u a Patterson, C 1998, bes 85 f Lys 34,4 f ; zu der Stelle und ihrem Aussagegehalt Mann 2008, 26 Lys 34,3–5 Aristot rhet 1361 a 25 28 Aristot rhet 1361 a 28–30
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kratischen Athen zu beobachten sind 85 An Beispielen für Prämierungen nennt er teils solche, die unmittelbar im Poliskontext stehen, darunter die Verköstigung im Prytaneion 86 Überdies erwähnt er Honorierungen in schriftlicher Form, wobei er in erster Linie literarische Werke enkomiastischer Art im Visier hat,87 weniger Ehreninschriften, wie sie in Athen in großer Zahl begegnen 88 Die konkrete Praxis der Zuerkennung von Ehrengaben durch die Polisgemeinschaft, welche durchaus auch unter rhetorischen Gesichtspunkten relevant ist, insofern es in dem Zusammenhang nicht selten Anträge zu stellen und diese in der Volksversammlung zu vertreten gilt, thematisiert er nicht Im Umgang mit Ehrungen bemerkt er kulturelle Differenzen, wobei er mit der gängigen ‚Griechen-Barbaren-Dichotomie‘ operiert: So kategorisiert er u a die Proskynese, die landläufig mit dem Hofzeremoniell der Perserkönige assoziiert wird, als eine ‚barbarische‘ Form der Ehrbezeugung, in der obendrein ein eklatantes Machtgefälle zum Ausdruck kommt 89 Politische Aspekte, welche die Handhabe von Ehrungen in der Polis betreffen, darunter die Frage nach dem rechtlichen und sozialen Status der geehrten Personen oder den spezifischen Motivationen der Stadt bei der Verleihung bestimmter Auszeichnungen, kommen bei ihm nicht aufs Tapet Im Athen seiner Zeit dagegen wird in dem Zusammenhang insbesondere das Phänomen der ‚φιλοτιμία‘ bei Einzelpersonen kontrovers diskutiert, verbunden mit der Frage, ob diese durch die Verleihung von Auszeichnungen möglicherweise in nicht unbedenklichem Maße forciert werde 90 Konsens besteht in der Stadt dahingehend, dass auch Personen, denen außergewöhnliche Ehrungen zuteil geworden sind, sich dem demokratischen Comment entsprechend zu verhalten und sich zuverlässig in die Bürgergemeinschaft zu integrieren haben 91 Mit Blick auf etwaige Bedenken kann hier ansonsten betont werden, dass Ehrungen im Interesse der Polisgemeinschaft verliehen würden, und zwar mit der Intention, die unmittelbar Bedachten wie auch andere Per-
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Hierzu u a Vannier 1988, 134–147; Whitehead 1993 Aristot rhet 1361 a 36; zu letztgenannten Speisungen Hansen 1991/5, 275 mit Quellen- und weiteren Literaturhinweisen Dabei denkt er sowohl an solche in Versform wie auch in Prosa; Aristot rhet 1361 a 34 f ; vgl Aristot rhet 1388 b 21 f Zum diesbezüglichen Befund, speziell der Tatsache, dass in jenen Texten in hohem Grade mit vormals aristokratisch konnotierten Wertbegriffen gearbeitet wird, Whitehead 1983, 60–68; ders 1993, bes 66 f ; Veligianni-Terzi 1997, bes 268 f 274 f 283 f 302 f ; Miller, J 2016, bes 386 397 f Aristot rhet 1361 a 36 f Hier rekurriert er auf ein gängiges Motiv zur Kennzeichnung persischer Umgangsformen, in dem die jenen zugeschriebene Asymmetrie sozialer Beziehungen markant hervorscheint; vgl Hdt 1,134,1 Dazu Wilson 1991, 187–194; Ferrucci 2013, 130–133; Canevaro 2016, 78 f ; grundsätzlich auch Hakkarainen 1997, bes 14–19; Deene 2013, bes 72; Liddel 2016, 351 In den Ethiken und der ‚Politik‘ äußert auch Aristoteles sich diesbezüglich kritisch, jedoch aus anderen Beweggründen; zu dem Komplex Nieuwenburg 2010, 535–538 Dies wird etwa anhand der Nachkommen der Tyrannenmörder exemplifiziert, die ansonsten besondere Prominenz genießen; vgl Demosth 20,18 127; dazu Kremmydas 2012, 218–220
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sonen zu weiteren Leistungen zugunsten der Polis zu motivieren 92 Um Einwänden entgegenzuwirken, wird daneben gelegentlich angeführt, dass Ehrungen durch Volksbeschluss zustande kämen, die Entscheidung hierüber also letztlich dem Demos obliege, dieser sich außerdem indirekt selbst ehre 93 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Auszeichnungen von Kollektiven als stärker demokratieaffin betrachtet werden 94 All das betrifft unter den Athenern speziell die Ehrung von Angehörigen der eigenen Bürgerschaft Hiervon zu unterscheiden ist die Zuerkennung von Prämierungen an Nichtbürger, bei denen auch im Falle von Einzelpersonen deutlich konzilianter verfahren wird 95 Bei solchen wird wiederum differenziert zwischen ‚Fremden‘, die sich kurzzeitig oder gar nicht in der eigenen Polis aufhalten, und Metöken, welche hier dauerhaft ansässig sind Letztere können neben entsprechenden Inschriften als Ehrungen gesonderte Privilegien erhalten, die ihren Status verbessern und dem der Bürger annähern, darunter die Isotelie, d h die Gleichstellung mit den Politen im Hinblick auf Abgaben und Dienstleistungen zugunsten der Stadt,96 aber auch die ἔγκτησις, das Recht auf Landerwerb in Athen, das ihnen die spezifisch bürgerliche Lebensform als Landwirt auf eigenem Grund und Boden ermöglicht 97 Bezeichnend ist, dass ihnen das Bürgerrecht und damit die Chance auf politische Teilhabe, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zuerkannt wird 98 Politisch motivierte Aspekte dieser Art, die mit Pekuliaritäten der demokratischen Ordnung in Verbindung stehen, beschäftigen Aristoteles nicht An ‚äußeren Gütern‘ würdigt der Philosoph ferner den Besitz zahlreicher und nützlicher Freundschaften 99 Generell orientiert er sich in der ‚Rhetorik‘ am gängigen ‚Freund-Feind-Schema‘ 100 Er skizziert den Freund als Person, die das, was ihr für den anderen als ein ‚Gut‘ erscheint, zugunsten jenes zu bewerkstelligen sucht 101 In der sozialen Praxis ist dagegen eher daran gedacht, dass ein Freund den anderen in den von die92
Siehe z B Demosth 20,5 154; 21,55; 24,215 f ; Aischin 3,33 Letztgenannte Absicht kommt auch in den Ehrendekreten der Zeit im Ausdruck; dazu Calabi Limentani 1984, 114 f ; Henry 1996, bes 105 f ; Hedrick 1999, 410; Lambert 2011, 195; Liddel 2016, 335 93 Demosth 18,207 f ; 20,15; dazu Gauthier 1985, 11 f ; Biard 2017, 34 f ; grundsätzlich auch Calabi Limentani 1984, 114 f ; Hakkarainen 1997, 13 f ; Hedrick 1999, 420 f 94 Siehe etwa Demosth 20,141 mit Blick auf die öffentliche Bestattung der Kriegsgefallenen; dazu Kremmydas 2012, 413 f 95 Zu dem Phänomen u a Liddel 2016, 344 f 96 Dazu Hansen 1991/5, 99 121; Adak 2003, 218–227; Schmitz, W 2014, 147 151 153 97 Hierzu Schmitz, W 2014, 148 151 98 Zur restriktiven Handhabe der Vergabe des Bürgerrechts in der attischen Demokratie und ihren politischen Hintergründen u a Martin, Jochen 1990, 223; Schmitz, W 2014, 147 Beispiele für großzügigere Handhabungen, die allerdings eher Fremde betreffen, welche nicht die Absicht haben, sich in Athen niederzulassen, als in der Stadt ansässige Metöken, werden durchaus kritisch gewürdigt; siehe etwa Demosth 23,211–214; dazu Szanto 1892, 45; Billheimer 1917, 90–92; generell zu dem Komplex Osborne, M J 1983, 139–209 99 Er spricht hier von ‚πολυφιλία‘ bzw ‚χρηστοφιλία‘ (Aristot rhet 1361 b 35 f ) Zu seinen Überlegungen zur Freundschaft speziell im Kontext des Gerichtswesens siehe oben Kap 3 2 100 Aristot rhet 1363 a 21 f 33 f 101 Aristot rhet 1361 b 35–37
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sem selbst artikulierten Bestrebungen unterstützt; mögliche Diskrepanzen zwischen Eigeninteresse und Wahrnehmung durch den anderen werden dort gewöhnlich nicht antizipiert Der aristotelischen Formulierung liegt demgegenüber die im philosophischen Diskurs mehrfach erörterte Frage zugrunde, ob ein Freund seinem Gegenüber nicht die Unterstützung verweigern müsse, falls dieser etwas begehre, was ihm zum Schaden gereichen könnte 102 Andere Aussagen unseres Autors zu dem Sujet sind signifikanter durch die soziale Umwelt jenseits philosophischer Kontexte geprägt: Neben dem Phänomen, dass er den Freund nachgerade in Abgrenzung vom Feind definiert und dabei mit der geläufigen Relation von Identität und Alterität arbeitet – der Freund würdige all das, was man selbst wertschätze und was für die eigene Person nützlich sei, wohingegen auf den Feind das Gegenteil zutreffe –, ist der Gedanke der Reziprozität zentral für die Beschreibung des Verhältnisses der Freunde untereinander 103 Konvergenzen sind auch hinsichtlich der Wertschätzung physischer Attraktivität auszumachen, die Aristoteles den ‚körperlichen Gütern‘ zurechnet 104 In Übereinstimmung mit seiner Umwelt bringt er sie u a mit einer athletischen Erscheinung in Verbindung 105 Diese hat auch im klassischen Athen unterdes ihre aristokratische Konnotation in erheblichem Maße – jedoch nicht vollumfänglich – eingebüßt 106 Gleiches gilt für die entsprechenden sportlichen Aktivitäten, die – so zumindest ein verbreiteter Anspruch – mittlerweile jedem jungen Mann bürgerlichen Status zugänglich seien 107 Instruktiv ist in dem Zusammenhang die Rede des Aischines gegen Timarchos, wo zur Abwendung etwaiger Kritik an der Päderastie als einer möglicherweise als elitär verstandenen Einrichtung zum einen angeführt wird,108 dass physische Schönheit durchgängig geschätzt werde und keinesfalls polarisiere;109 zum anderen wird dort daran erinnert, dass prinzipiell jedem Freien der Zutritt zu den Gymnasien offenstehe 110 Einschlägig sind in dem Zusammenhang auch die καλός-Inschriften auf Vasenbildern, die neben zahlreichen Einzelpersonen elitärer Herkunft teils auch den ‚Demos‘ bzw die ‚Athenaioi‘ als ganze bezeichnen 111
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Platon etwa erörtert in der ‚Politeia‘ die Frage, ob es nicht gerecht sei, einem Freund die Rückgabe einer geliehenen Waffe zu verweigern, falls dieser zwischenzeitlich dem ‚Wahnsinn‘ verfallen sei; siehe Plat rep 331 c 5–7; zu dem Motiv Pearson 1962, 151 Zu dem Umstand Aristot rhet 1381 a–b Aristot rhet 1361 b 7–14 Aristoteles listet ‚athletische Vortrefflichkeit‘ (ἀγωνιστική) als eigenes Gut, das er aber gleich der Schönheit, der Größe oder der Stärke den körperlichen Gütern zuordnet; siehe Aristot rhet 1361 b 15–27 Zu diesbezüglichen Ambiguitäten Mann 2009a, 151 f ; Pritchard 2013, 103–113; ders 2019, 181–189 Dazu Reinsberg 1989, 179 f ; Fisher 1998, bes 85 89; Golden 2000, 171 Zu dem Komplex Hubbard 1998, bes 49–51 Aischin 1,134; zu der Einstellung Piepenbrink 2010a, 55; Konstan 2014, 77 f Aischin 1,138; dazu Hawhee 2004, 114 f ; zur sozialen Zusammensetzung der Besucher der Gymnasien in klassischer Zeit auch Mann 1998, 13 f Hierzu Lissarrague 1999, 359; Slater 1999, 151 f
6 2 ‚Güter‘ (ἀγαθά)
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In anderen Zeugnissen begegnet überdies die Vorstellung, dass Tätigkeiten, die als eines freien Bürgers würdig gelten, auch mit guter körperlicher Verfassung und entsprechendem Erscheinungsbild einhergingen 112 Hierauf rekurriert auch Aristoteles 113 Dieser Gedanke erscheint zu der Zeit in verschiedenen Varianten: Er kann – wie bei den Rednern – dezidiert demokratischen Charakters sein, indem er potentiell alle Bürger als in diesem Sinne privilegiert begreift;114 daneben stoßen wir auf antidemokratische Spielarten, die etwa die politischen Partizipationsrechte der sogenannten ‚βάναυσοι‘ – als aufgrund ihrer Tätigkeit nicht nur mental, sondern auch physisch nicht optimal verfasster Personen – in Frage stellen;115 solches findet sich auch bei Aristoteles in seiner ‚Politik‘ im Hinblick auf den Idealstaat 116 In der ‚Rhetorik‘ zeigt er sich diesbezüglich zurückhaltender, insofern er die Zuerkennung bürgerlicher Partizipationsrechte hier nicht problematisiert, sondern sie mit Blick auf die betreffende Polisgemeinschaft, innerhalb derer der Redner agiert, als gegeben annimmt Gleichwohl deutet er auch in der vorliegenden Schrift an, dass Personen, die einer für Theten typischen Erwerbsarbeit (ἔργον θητικόν) nachgehen, dem propagierten Äußeren gewöhnlich nicht entsprechen 117 Hinsichtlich des Gegenstandes physischer Attraktivität oder auch körperlicher Unversehrtheit ist allerdings festzustellen, dass dieser in öffentlichen Reden – von der Panegyrik einmal abgesehen – eher selten zur Sprache kommt 118 Ausnahmen bilden Gerichtsreden mit spezifischer Thematik, darunter die Rede über die Verweigerung der Rente für einen Invaliden aus dem lysianischen Corpus 119 Für jenen Invaliden ist charakteristisch, dass er die Richter zwar – seinem Anliegen entsprechend – davon zu überzeugen sucht, dass die von ihm ins Feld geführten körperlichen Beeinträchtigungen tatsächlich bestehen und nicht etwa simuliert sind; daneben aber bemüht er sich, sich dennoch als trefflichen Politen zu präsentieren, der seine physischen Defizite durch geistige Qualitäten und eine entschieden bürgerliche Gesinnung zu kompensieren vermöge 120 Er reflektiert damit die gängige Haltung, dass eine unästhetische Er112 113
Dazu mit Quellenbelgen Dover 1974, 114 f 173 Aristot rhet 1367 a 27–33; siehe auch Aristot rhet 1381 a 22 f (dort unter Verweis auf die Wertschätzung, aber ohne Bezug auf den Körper) 114 Zum Phänomen der ‚Aristokratisierung‘ der gesamten Bürgerschaft u a Farrar 1988, 28; Thomas 1989, 213–221; Raaflaub 1996, 158; Nebelin, K 2012, 38; Ober 2014, 58 f 115 So werden sie – neben dem Moment, dass sie vielfach abhängig beschäftigt sind – gern mit sitzenden Tätigkeiten und langen Aufenthalten in dunklen Werkstätten in Verbindung gebracht, was sich körperlich wie mental ungünstig auswirke; einschlägig ist diesbezüglich Xen oec 4,3; dazu Pomeroy 1994, 237 116 Aristot pol 1328 b 37–40; zur dort propagierten Position u a Weber 2015, 228 f ; für weitere Belege siehe Roberts 1994, 86–92 117 Aristot rhet 1367 a 30–32 118 Dazu Biraud 1991, 336 119 Lys 24 120 Siehe besonders Lys 24,3; zu dessen argumentativer Strategie Carey 1990, bes 45; Brüggenbrock 2006, 298–306; Cecchet 2013, 54 f
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6 Soziale Werte
scheinung oder gar körperliche Einschränkungen grundsätzlich negativ zu bewerten und der Reputation des Betroffenen abträglich seien 121 Ein weiterer relevanter Kontext in Gerichtsreden, der konkret den Umgang mit dem Körper betrifft, ist jener konformen oder devianten sexuellen Verhaltens – darunter der Vorwurf der ‚κιναιδία‘, der mit Effeminiertheit in Verbindung gebracht wird und eine ausdrücklich politische Konnotation erfährt, indem er mit ‚Feigheit‘, nicht zuletzt im militärischen Bereich, wie auch einem Mangel an Herrschaftswillen assoziiert wird 122 Hier handelt es sich um eklatante Beschuldigungen, die in öffentlichen Prozessen verschiedenster Typen angebracht werden können und schlimmstenfalls eine Einschränkung der bürgerlichen Rechte nach sich ziehen 123 Ein anderes Beispiel, in dem es um die äußere Erscheinung geht und das vor allem in der Phase des späten fünften und frühen vierten Jahrhundert begegnet, stellen junge Männer aus der sozialen Oberschicht dar, die sich vor Gericht zu verantworten haben und in ihrem Äußeren aristokratisch besetzte Attribute aufweisen Dies meint in Sonderheit eine lange Haartracht, welche in der Zeit, die noch durch die Athen-SpartaAntinomie gekennzeichnet ist, als prospartanisch und zugleich prooligarchisch wahrgenommen wird 124 Personen dieses Typs sind in besonderer Weise gehalten, deutlich zu machen, dass sie sich nichtsdestotrotz uneingeschränkt zur Demokratie bekennen und sich hier zu engagieren bereit sind 125 Den Bezug zu Sparta stellt auch Aristoteles in dem Zusammenhang her, gleichwohl ohne ihn unter politischen Gesichtspunkten zu problematisieren 126 Er setzt vielmehr einen Konsens darüber voraus, dass langes Haar mit der Freiheit von abhängiger Beschäftigung in Verbindung gebracht und so als Attribut eines freien Mannes verstanden wird 127 Wenn die äußere Erscheinung bzw physische Merkmale von Personen in Gerichtsreden verbalisiert werden, geht es den Thematiken der betreffenden Fälle entsprechend zumeist um jüngere Männer, gelegentlich um solche mittleren Alters 128 Unser Autor, dem auch an dieser Stelle stärker um eine vollständige sachadäquate Erfassung des Gegenstandes als um die Frage der praktisch-rhetorischen Anwendung zu tun ist, nimmt dagegen überdies die spezifische Schönheit des Alters ins Visier 129 Desgleichen 121
Diese Vorstellung begegnet bereits in den homerischen Epen – einschlägig ist hier die Gestalt des Thersites (Hom Il 2,212–277) – und hält bis in die klassische Zeit an 122 Zu dem Phänomen Winkler 1990; ders 1990a, bes 176–186; Fox 1998, bes 9 f 123 Dazu oben Kap 5 1 6 124 Siehe etwa Lys 16,18; dazu Craig 1999; Bernhardt 2003, 110; Roisman 2005, 23–25; Matuszewski 2019, 205–207 125 Diesbezüglich – speziell mit Blick auf Lys 16,18 – Weissenberger 1987, bes 76–79 126 Vgl Aristot rhet 1367 a 28–30 127 Aristot rhet 1367 a 30–32 128 Bei letzteren wird das Alter jedoch gewöhnlich nicht in vergleichbarer Weise vermerkt Thematisch geht es hier etwa um den Aspekt der Verwendbarkeit für das Heer; dazu auch Aristot rhet 1361 b 12 f 129 Er berücksichtigt in dem Zusammenhang sämtliche Altersstufen; siehe Aristot rhet 1361 b 7–14
6 3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί)
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stellt er Überlegungen zu einem ‚guten‘ Alter an, das er ebenfalls den körperlichen Gütern zurechnet 130 Derartiges lässt sich jenseits epideiktischer Reden in der öffentlichen Rhetorik kaum anbringen In Gerichtsreden werden gemeinhin eher die Einbußen des Alters und die Abhängigkeit von der Versorgung durch die Söhne zur Sprache gebracht und nicht selten problematisiert 131 6.3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί) Die betrachteten ‚seelischen Güter‘ verknüpft unser Autor seinerseits mit den ‚Tugenden‘,132 was mit seinem Grundverständnis korreliert, dass letztere nicht nur psychisch internalisiert werden – dem würde die Mehrzahl seiner Zeitgenossen im Wesentlichen zustimmen –, sondern auch der zugrundeliegende Lernprozess vorrangig als ein psychischer anzusehen ist, nicht so sehr als ein sozialer, wie in der Polis seiner Zeit landläufig gemeint 133 Darüber hinaus ist seiner Ansicht nach für ‚tugendhaftes‘ Handeln essentiell, dass es nicht zufällig geschieht,134 sondern auf der Grundlage einer ‚bewussten Entscheidung‘ (προαίρεσις),135 für die der betreffende Einzelne verantwortlich zeichnet 136 Hinzu kommt, dass er die ‚Tugenden‘, wie oben gesehen, gleich den ‚Gütern‘ den Quellen des ‚Glücks‘ zurechnet, die er ebenfalls primär an der Einzelperson festmacht 137 Dennoch betont er – in Übereinstimmung mit dem common sense – dass es sich bei ‚Tugenden‘ um Qualitäten handele, die anderen zum Vorteil gereichten 138 Seiner Auffassung nach tut sich hier jedoch kein Gegensatz auf: Vielmehr verknüpft er die beiden Ebenen – und dies in einer Weise, die mit dem Alltagsverständnis wiederum konform geht – durch den Gedanken der ‚τιμή‘, die einer Person für Leistungen,
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135 136 137 138
Vgl Aristot rhet 1361 b 27–34 Hierzu mit Belegen Roisman 2005, 207 Allerdings denkt auch Aristoteles an der Stelle vornehmlich an ein nur langsam fortschreitendes und vergleichsweise beschwerdearmes Alter; siehe Aristot rhet 1361 b 28–30 Zudem spricht er im Hinblick auf die ‚Tugenden‘ sämtlich von ‚Tugenden der Seele‘ (ἀρεταὶ ψυχῆς); siehe Aristot rhet 1362 b 13 f Vgl oben Kap 3 1 Diese Überzeugung des Philosophen deckt sich mit gängigen Vorstellungen; von tugend- wie auch lasterhaftem Verhalten spricht man auch vor Gericht gewöhnlich erst dann, wenn es bei der betreffenden Person mehrfach aufgetreten ist und auf entsprechende Gewohnheiten schließen lässt Einmalige Vergehen lassen sich hingegen leichter als affektiv entschuldigen; dazu am Beispiel des vermeintlichen Mangels an ‚Selbstbeherrschung‘ Piepenbrink 2010a, 60 f Zu dem Gedanken und seinem Bezug zu den ethischen Schriften Rapp 2002a, 422 Aristot rhet 1367 b 21–25 Siehe oben Kap 6 2 In den Ethiken ist der Gedanke, dass die ‚Tugenden‘ vorrangig auf die eigene Person zu beziehen seien, noch deutlich prominenter vertreten; siehe etwa Aristot EN 1129 b 32 f ; dazu Rapp 2002a, 403 Aristot rhet 1366 b 35 – 1367 a 5
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6 Soziale Werte
welche sie im Interesse der Gemeinschaft erbringt, zuerkannt wird: Jene ‚Ehre‘ erhöhe das Sozialprestige des Betreffenden und befördere zugleich das persönliche ‚Glück‘ 139 An ‚Tugenden‘ (ἀρεταί) nennt er ‚Gerechtigkeit‘ (δικαιοσύνη) ‚Tapferkeit‘ (ἀνδρεία), ‚Selbstbeherrschung‘ (σωφροσύνη), ‚großartigen Sinn‘ (μεγαλοπρέπεια), ‚Hochherzigkeit‘ (μεγαλοψυχία), ‚Freigebigkeit‘ (ἐλευθεριότης), ‚Einsicht‘ (φρόνησις) und ‚Weisheit‘ (σοφία) 140 Konkret fasst er all jene Eigenschaften als ‚Teile der Tugend‘ (μέρη ἀρετής),141 operiert also, wie er es in diversen Zusammenhängen u a in der ‚Politik‘, aber auch den ethischen Schriften tut, mit dem Modell einer Teil-Ganzes-Relation, das er seinerseits in der ‚Metaphysik‘ entwickelt 142 Hier zeigt er ein Systematisierungsbestreben, das sich in alltagsnahen Diskursen nicht in vergleichbarer Weise findet Nichtsdestotrotz ist auch dort zuweilen die Tendenz erkennbar, mit Sammelbegriffen zu arbeiten, die mehrere ‚Tugenden‘ einschließen 143 Eine Gewichtung der einzelnen ‚Tugenden‘ nimmt unser Autor nach eigenem Dafürhalten dahingehend vor, dass er als größte ‚Tugenden‘ diejenigen begreift, welche den Mitmenschen am nützlichsten und in höchstem Grade geeignet sind, sich anderen gegenüber wohltätig zu erweisen 144 Dies scheint ihm insbesondere auf ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Tapferkeit‘ zuzutreffen, wobei erstere im Frieden, letztere im Kriege prädominiere 145 Damit entspricht er grundsätzlich dem common sense In der Auswahl der ‚ἀρεταί‘ folgt er in den Grundzügen den platonischen Kardinaltugenden, freilich ohne dessen epistemologische Prämissen zu übernehmen,146 und ergänzt sie um den Komplex der ‚Freigebigkeit‘, dem er in der ‚Rhetorik‘ auch die ‚Großherzigkeit‘ und den ‚Großmut‘ zuordnet Damit spricht er zugleich wesentliche der ἀρεταί an, die auch im zeitgenössischen Athen gepriesen werden 147 In Übereinstimmung mit der sozialen Praxis geht es ihm an der Stelle nicht darum, bestimmte ‚Tugenden‘ als ‚kardinal‘ zu kennzeichnen 148 Neben einschlägigen Parallelen sind gleichwohl auch Differenzen zwischen dem in Athen gängigen und dem aristotelischen Verständnis zu beobachten Sie betreffen bereits die terminologische Ebene und manifestieren sich nicht allein in den tradierten Reden, sondern darüber hinaus auch in den epigraphischen Zeugnissen, namentlich
139 140 141 142 143 144 145 146 147 148
Aristot rhet 1366 b 35–39 Aristot rhet 1366 b 1–3 Aristot rhet 1366 b 1 Dazu besonders mit Blick auf die ‚Politik‘ Schickling 1936; Miller, F D 1995, 47 f ; Piepenbrink 2001, 61 Das manifestiert sich speziell in der Verbindung von ‚ἀρετή‘ und ‚ἀνδραγαθία‘; siehe dazu den nachfolgenden Abschnitt Zu der Überlegung und ihrem lebensweltlichen Bezug Irwin 1996, 159 f Aristot rhet 1366 b 6 f Zu dem Gegenstand u a Klein, U 1976 Die sprachlichen Parallelen gehen hier auch mit inhaltlichen einher – anders als etwa in den ethischen Schriften, in denen Aristoteles gleichfalls mit gängigen sozialen Wertbegriffen arbeitet, in sachlicher Hinsicht aber nicht selten deutlich vom Alltagsverständnis abweicht; dazu Cullyer 2014, 135 f Diesbezüglich zur gesellschaftlichen Praxis Whitehead 1993, bes 63
6 3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί)
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den von der Polis zuerkannten Ehreninschriften Ein Begriff, der in diesen Inschriften prominent vertreten ist, in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ hingegen nicht begegnet, ist jener der ‚ἀνδραγαθία‘,149 der in Athen oft in Verbindung mit ἀρετή auftritt 150 Für den Umstand, dass Aristoteles auf diesen Ausdruck verzichtet, sind unterschiedliche Gründe anzunehmen: Zum einen ist zu beobachten, dass er selbst an Stellen, an denen er offenkundig an verbreitete Vorstellungen anknüpft, bevorzugt mit Begriffen operiert, die zugleich im philosophischen Diskurs Verwendung finden; dort aber ist ‚ἀνδραγαθία‘ als ‚Tugendbegriff ‘ nicht einschlägig Hinzu kommt, dass jener Terminus eng mit dem des ‚ἀνὴρ ἀγαθός‘ verknüpft ist,151 mit dem der Philosoph seinerseits in den Ethiken arbeitet,152 gleichwohl mit sehr spezifischen Implikationen, die vom Alltagsverständnis abweichen und die er auch nicht auf die Redesituation in der Polis zu transferieren sucht Schließlich besteht für ihn keine Veranlassung, ‚ἀρετή‘ durch ‚ἀνδραγαθία‘ zu ergänzen oder gar zu relativieren In Athen scheint es sich diesbezüglich anders zu verhalten: In der Forschung ist hierzu mehrfach die Position vertreten worden, dass ‚ἀρετή‘ für sich genommen noch immer – zumindest partiell – aristokratisch affiziert und daher in der Demokratie nicht uneingeschränkt positiv besetzt ist Durch die Verknüpfung mit ‚ἀνδραγαθία‘ werde der Terminus in der Bürgerschaft konsensfähig, insofern der Fokus nun von auf der Geburt basierenden Statusmerkmalen hin zu Aspekten wie Virilität und aktiver Bewährung verschoben werde 153 Markant ist, dass der – in den betreffenden Inschriften gut belegte – Begriff der ‚εὐσέβεια‘ in der Liste des Aristoteles nicht in Erscheinung tritt,154 was mit seinem bereits mehrfach angesprochenen geringen Interesse an religiösen Aspekten in rhetorischen Kontexten korreliert 155 Weitere in den epigraphischen Zeugnissen nachzuweisende ἀρεταί, die Aristoteles an der Stelle nicht nennt, sind ‚ἐπιμέλεια‘, ‚εὔνοια‘, ‚εὐταξία‘, ‚προθυμία‘ sowie ‚φιλοτιμία‘ 156 Die beiden letztgenannten finden bei ihm faktisch Berücksichtigung im Kontext der Beschäftigung mit den Handlungsmotivationen; ähnlich verhält es sich mit ‚εὔνοια‘, die Schnittmengen mit ‚φιλία‘ aufweist 157 149 Dazu mit Belegen Whitehead 1993, bes 55–57 150 Das gilt besonders für Ehrungen von Bürgern; werden Nichtbürger geehrt, kann ‚ἀρετή‘ auch für sich allein stehen; dazu mit Beispielen Engen 2010, 127–129; zu dem Komplex weiterhin Henry 1983, 42; Whitehead 1993, 57–62; ders 2009, 50–54 151 In den Inschriften wird dieser Begriff gleichwohl vorzugsweise in Bezug auf Nichtathener verwendet; dazu mit Belegen Veligianni-Terzi 1997, 192–195; Engen 2010, 121–123 152 Vgl oben Kap 2 2 2 und Kap 6 1 sowie 6 3; zu dem Gegenstand mit Literaturhinweisen Charpenel 2017, 218 153 Hierzu mit Verweisen auf weitere Forschungen Whitehead 1993, 60–62; zum Umgang mit der Kategorie der ‚ἀρετή‘ im klassischen Athen Schulz, B J 1981, 123 f ; Finkelberg 2002, 48; zu Parallelen zwischen ‚ἀνδραγαθία‘ und ‚ἀρετή‘ Adkins 1960, 235 154 Dagegen zu entsprechenden Belegen aus athenischen Ehrendekreten Henry 1983, 43 f 155 Vgl oben Kap 2 2 2; 3 1; 4 2 1; 5 1 4 156 Vgl Whitehead 1993, 65; Liddel 2007, 175 f 157 In der ‚Nikomachischen Ethik‘ begegnet dieser Nexus noch explizierter; dazu mit Belegen Hadreas 1995; Miller, P L 2014, 321
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6 Soziale Werte
Expressis verbis begegnet die ‚Tugend‘ der ‚εὔνοια‘ bei Aristoteles im Hinblick auf die Person des Redners, und zwar als wesentliches Element des rednerischen ἦθος 158 Auf jenen Gedanken, dass der Rhetor dem Demos mit ‚Wohlwollen‘ zu begegnen habe, um bei diesem positive Resonanz zu erzeugen,159 stoßen wir auch im Corpus der attischen Redner 160 Im Unterschied zu Aristoteles betonen diese jedoch, dass die Ekklesiasten dem Rhetor ihrerseits ‚εὔνοια‘ entgegenbringen, wenn er ihre Erwartungen erfüllt 161 Dass der Philosoph jenes nicht reflektiert, hat mit seinem konzeptionellen Ansatz zu tun, in dem er zwischen dem ἦθος und dem πάθος als Überzeugungsmitteln differenziert und ersteres dem Redner vorbehält 162 Das eben angesprochene Wechselspiel im ‚Wohlwollen‘ zwischen einer Einzelperson, die der Polis einen Dienst erweist, und der Polisgemeinschaft lässt sich im zeitgenössischen Athen zudem in Ehreninschriften beobachten, in denen der Begriff der ‚εὔνοια‘ in gleicher Weise auf beide Seiten bezogen zu werden vermag 163 Daneben lässt sich der Terminus in der Stadt der Athener in außenpolitischen Kontexten aufspüren, namentlich in historiographischen Texten sowie in Reden mit entsprechenden Thematiken, aber auch in zwischenstaatlichen Verträgen Er dient dort der Bezeichnung der Grundlage für ein konstruktives Miteinander innerhalb der Poliswelt, die etwa im Abschluss von Bündnissen ihren Ausdruck finden kann 164 Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei – namentlich in den literarischen Zeugnissen athenischer Provenienz – gewöhnlich auf die athenische Seite, wobei sowohl deren Haltung anderen Städten gegenüber in den Blick genommen wird wie auch die Resonanz, welche die Athener ihrerseits durch andere erfahren 165 Auf diesem Terrain also stoßen wir abermals auf den Gedanken der Wechselseitigkeit der ‚εὔνοια‘ Schließlich vermag hier an das ‚Wohlwollen‘ der Götter der Stadt gegenüber erinnert zu werden 166 Die Vokabel ‚ἐπιμέλεια‘ wird in Athen gern mit der Ausführung von Aufgaben im Rahmen öffentlicher Tätigkeiten in Verbindung gebracht – darunter verbreitet in Priesterämtern, aber auch im Zuge von Gesandtschaften 167 Im Unterschied zu ande158 159 160 161 162 163 164 165 166 167
Aristot rhet 1378 a 8 Ein Mangel an ‚Wohlwollen‘ ist dagegen nach Aristoteles dann zu konstatieren, wenn ein Redner nicht das Beste rate, obwohl er über die dafür erforderlichen Kenntnisse verfügt; siehe Aristot rhet 1378 a 14 f Siehe etwa [Demosth ] 10,76 So u a Demosth 18,8 10 199 277; Demosth exord 13; Aischin 2,7 Zur Betonung des ‚Wohlwollens‘ der Ekklesiasten bzw der Juroren Johnstone, S 1999, 61; Adamidis 2017, 209 Vgl Aristot rhet 1356 a 2–4 Siehe etwa IG II2 238b; 343; 351; 360; 554; 844; 907–909; dazu mit weiteren Belegen aus dem epigraphischen Material Henry 1983, 43; Whitehead 1993, 52; Veligianni-Terzi 1997, 200–202; Engen 2010, 129–131; Canevaro 2016, bes 87 Hierzu Mitchell 1997, 41–44; Low 2007, 51–53 Siehe z B Demosth 6,10; 8,66; 18,94; [Demosth ] 10,50 69 So etwa Demosth 1,10; 2,1 Siehe z B IG II2 223; 330; 445; SEG XXVIII 52; für weitere Belege siehe Whitehead 1993, 68; Veligianni-Terzi 1997, 213; Lambert 2004, 88–99; Liddel 2016, 343 Dies resultiert aus dem Umstand,
6 3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί)
141
ren Begriffen, die vorzugsweise im Kontext von Ehrungen für Nichtathener verwendet werden, wird sie vielfach auch im Hinblick auf die eigenen Politen benutzt, wobei es sich um Einzelpersonen wie um Kollegien handeln kann 168 Werden Nichtathener mit dem Begriff bedacht, geschieht es ebenfalls bevorzugt im Hinblick auf offizielle Tätigkeiten – so in Proxeniedekreten 169 Daneben aber können jene auch in Auszeichnungen für private Initiativen – etwa Getreidelieferungen – mit besagtem Terminus etikettiert werden Ehrungen letztgenannter Art finden sich für Athener im betrachteten Zeitraum nicht 170 Dieser Komplex ist für Aristoteles nicht einschlägig: Weder differenziert er im Hinblick auf die Begünstigten zwischen Personen mit und ohne Amt noch zwischen Bürgern und Nichtbürgern 171 Amtsträgern, die nicht im engeren Sinne Entscheidungs- und damit Herrschaftsträger sind, gilt sein Interesse ohnehin nicht 172 Die Einordnung von Personen in die Einrichtungen der Polis stellt für unseren Autor gleichsam keinen zentralen Wert dar Insofern schenkt er dem Phänomen der ‚εὐταξία‘, das im klassischen Athen stark auf den militärischen Bereich bezogen ist und dort vorzugsweise die Pflichterfüllung des Einzelnen an der vorgesehenen Stelle im Heer meint,173 in der ‚Rhetorik‘ keine Aufmerksamkeit Hinzu kommt, dass sein Interesse weniger Qualitäten gilt, die mit dem bürgerlichen ‚Reihendienst‘ in Verbindung stehen, als vielmehr solchen, durch die Einzelpersonen Exzellenz beweisen und die sich in entsprechenden panegyrischen Reden anbringen lassen Der Umstand, dass der Begriff der ‚φιλοτιμία‘ in attischen Ehreninschriften der Zeit verbreitet begegnet, könnte angesichts der angesprochenen Ambivalenz des Phänomens verwundern 174 Offenbar aber scheint es insbesondere in der Phase nach dem Bundesgenossenkrieg geboten, diesen Wert zu propagieren, um Bürger wie Nichtbürger zu euergetischen Leistungen zu animieren 175 Ausschlaggebend ist in dem Zusammenhang, dass jenes ‚Ehrstreben‘ ausdrücklich auf den Demos bezogen wird; so fin-
dass ein Großteil der Ehrungen, die attischen Bürgern zuteilwerden, unmittelbar mit Amtsführungen zu tun hat; dazu Lambert 2004, 105 f ; Liddel 2007, 176 Auf entsprechende Dekrete für Amtsträger nehmen auch die Redner des vierten Jahrhunderts zuweilen Bezug; siehe etwa Demosth 22,72; 24,180; [Demosth ] 59,93 f ; Aischin 3,42 49 155 189 255 168 Hierzu mit Beispielen Liddel 2016, 341–343 169 Siehe z B IG II2 141; 240; dazu Veligianni-Terzi 1997, 212 f ; zum Begriff des ‚πρόξενος‘ und den mit ihm verbundenen Vorstellungen und Erwartungen Niesler 1981, 1–10; zu speziellen Ehrungen für Personen dieses Status Mack 2015, 92–99 170 Dazu Lambert 2004, 87; zu den Spezifika der Ehrungen für Getreidelieferungen, die Fremden wie auch Metöken gewährt werden können, Engen 2010, 104 f ; speziell zur Auszeichnung von Metöken Adak 2003, 143–160 171 Vgl Kap 6 2 172 Dies zeigt sich in noch höherem Grade in der ‚Politik‘; dazu mit Belegen Piepenbrink 2012/4, 148–150 173 Hierzu mit Quellenangaben Whitehead 1993, 70 174 Vgl oben Kap 6 2 175 Zu der Thematik u a Domingo Gygax 2016, 199–214
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det sich in jenen Zeugnissen teils explizit die Formulierung ‚φιλοτιμία εἰς τὸν δῆμον‘ 176 Aristoteles hingegen propagiert hier keine Spezifizierungen, insofern er den Polisbezug an der Stelle nicht problematisiert 177 Allerdings rubriziert er das Ringen um ‚Ehre‘, wie bereits gesehen, nicht unter ‚Tugenden‘, sondern – je nach Kontext – teils unter die Motivationen für adäquates Handeln,178 teils unter die ‚Güter‘, welche durch das eigene Tun erstrebt werden 179 Betrachten wir im Folgenden die von unserem Autor in der ‚Rhetorik‘ behandelten ‚ἀρεταί‘ im Einzelnen: ‚Gerechtigkeit‘ fungiert – seiner Auffassung nach wie auch gemäß der seiner Umwelt – namentlich in der Forensik als kardinale ‚Tugend‘; die Definition, die er dazu gibt, dergemäß jeder das Seine erhalte, so wie es das Gesetz vorsehe, entspricht in hohem Grade dem üblichen Verständnis 180 Sie ist im Wesentlichen relational ausgerichtet und operiert nur in geringem Umfang mit übergeordneten Kriterien Abstrakte Gerechtigkeitsvorstellungen etwa, die über den Gedanken der Reziprozität erheblich hinausgehen, gar mit absoluten Bezugsgrößen arbeiten, sind in der ‚Rhetorik‘ – ebenso wie in der sozialen Praxis – nicht von Bedeutung 181 Zentral ist hingegen – für Aristoteles wie die attischen Redner – die Bezugnahme auf den νόμος 182 Hinsichtlich der ‚Tapferkeit‘ ist hervorzuheben, dass der Philosoph hier abermals – analog der in der Polis gängigen Haltung – das Moment der Ausrichtung auf das Gesetz hervorhebt: „Tapferkeit ist die Tugend, durch die man dazu in der Lage ist, in Gefahren schöne Werke zu vollbringen, und zwar wie es das Gesetz befiehlt und dem Gesetz gehorchend “183 Das erinnert spontan an das Selbstverständnis der spartanischen Hopliten,184 ist aber durchaus auch in Athen gängig In der Gerichtsrhetorik findet sich jener Gedanke bevorzugt im Kontext der Ethopoiie, konkret im Zusammenhang mit dem Bestreben des Sprechers, sich als guten Politen zu präsentieren Im Gegenzug stellt es dort eine beliebte Strategie dar, seinen Kontrahenten als ‚schlechten‘ Bürger zu desavouieren, indem man ihn der Desertion bezichtigt 185 Als bedeutsam gilt daselbst 176 177 178 179 180
So etwa IG II2 847; dazu Henry 1983, 41; zu dem Komplex auch Engen 2010, 132–135 Vgl oben Kap 6 2 Siehe dazu oben Kap 3 1 Dazu abermals Kap 6 2 Trotz der Ähnlichkeit in terminologischer Hinsicht weicht jene Definition vom einschlägigen platonischen Verständnis ab, bei der die Bestimmung dessen, was einer Person zustehe, seinerseits nicht auf der Grundlage der Gesetze vorgenommen wird 181 Diesbezüglich zur sozialen Praxis Lanni 2006, bes 27 182 Hierzu etwa Canevaro 2019, 74; zu dem Gegenstand auch oben Kap 3 1 183 Aristot rhet 1366 b 11–13; übers Rapp 2002, 46 184 Einschlägig ist diesbezüglich das Simonides von Keos zugeschriebene Grabepigramm auf die an den Thermopylen gefallenen Soldaten; vgl Hdt 7,228,2 185 So z B Lys 15,10; 31,7; Lyk 1,17 43 f 148 f ; Hyp 3, col 17 Vorwürfe dieser Art sind in besonderem Maße geeignet, jemanden als ‚schlechten‘ Bürger zu desavouieren; dazu Christ 2006, 88–142; Blanshard 2010, 214–218; Piepenbrink 2016, 51 Sie können in beliebigen Zusammenhängen angebracht werden; prominent begegnen sie etwa auch in Aischines’ Rede gegen Ktesiphon in Bezug auf Demosthenes; hierzu mit Belegen Cook 2012, 232–242
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in dem Kontext auch, dass jemand im Heer die Funktion ausfüllt, die ihm zugewiesen wurde – nicht etwa eine andere, selbst wenn jener persönlich überzeugt ist, sich in letzterer in höherem Grade als tapfer erweisen zu können 186 Eingehend beschäftigt sich unser Autor weiterhin mit der ‚Freigebigkeit‘, die er – in seinem Versuch, eine Rangfolge der ‚Tugenden‘ aufzustellen – der ‚Gerechtigkeit‘ und der ‚Tapferkeit‘ unmittelbar nachordnet 187 Auch wenn derartige rankings in der Alltagspraxis unüblich sind, ist diese Einschätzung als durchaus konsensfähig anzusehen Der Philosoph nimmt hier – offenkundig zu Recht – für sich in Anspruch, sich am Gesichtspunkt des ‚Nutzens‘ für die Gemeinschaft und der Bewertung durch letztere zu orientieren 188 Wenn er von ‚ἐλευθεριότης‘ spricht, hat er insbesondere das freiwillige Geben im Visier 189 Dessen ungeachtet problematisiert er das Verhältnis zwischen Leistungen, welche die Polis einfordert, und solchen, die aus eigener Initiative gegeben werden, nicht 190 Ebenso wenig differenziert er kategorial zwischen Gaben in politischen Kontexten und solchen in sozialen Handlungszusammenhängen Vielmehr betrachtet er euergetische Handlungen durchgängig als gesellschaftliche Praktiken, die ein – im Normalfall gut situierter – Bürger im Interesse seiner sozialen Reputation bereitwillig vollzieht 191 In der rhetorischen Empirie stoßen wir demgegenüber zumal in Gerichtsreden auf das Phänomen, dass Prozessierende – zum Zweck einer günstigen Selbstdarstellung – auf erbrachte Leiturgien verweisen und diese dezidiert als Leistungen zum Wohle der Bürgergemeinschaft wie auch als Ausdruck ihrer Identifikation mit dieser präsentieren 192 In Übereinstimmung mit seiner Umgebung propagiert der Stagirite in dem Zusammenhang grundsätzlich ‚Großartigkeit‘ (μεγαλοπρέπεια) und ‚Großmut‘ (μεγαλοψυχία) 193 Dabei denkt er vorrangig an finanzielle Aufwendungen, gelegentlich aber auch an immaterielle elementare Leistungen, die auf den Schutz der physischen Existenz
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Siehe etwa Lys 14,7–11; vgl Lys 16,13; zu dem Motiv Voegelin 1943, 36–38 Überlegungen dieses Typs korrelieren mit dem oben bereits genannten Wert der ‚εὐταξία‘ 187 Aristot rhet 1366 b 7 188 Aristot rhet 1366 b 3–9 189 Aristot rhet 1366 b 7–9 190 Diesbezüglich zur politischen Praxis, in der jene Grenzen in aristotelischer Zeit ebenfalls teilweise verschwimmen, allerdings aus gänzlich anderen Gründen, nämlich aufgrund der Tatsache, dass die Polis über die obligatorischen Leistungen hinaus zunehmend auch fakultative erwartet, Liddel 2007, 202–205; Cecchet 2014, 167–171 191 Zum Nexus von ‚Freigebigkeit‘ und ‚Ehre‘ im Verständnis unseres Autors Aristot rhet 1361 a 28 f 192 Zur dezidiert politischen Konnotation der Leiturgien Migeotte 1997, 184–191; zur angesprochenen Praxis in Gerichtsreden mit Belegen Ober 1989, 227 193 Siehe Aristot rhet 1366 b 17–20 Zur Assoziation von ‚Großmut‘ und ‚Großherzigkeit‘ mit ‚Freigebigkeit‘ bei den attischen Rednern vgl etwa Demosth 52,24; [Demosth ] 59,77; 61,13 24; dazu Dover 1974, 168 178 194 Gegenüber den Ethiken ist hier eine gewisse Engführung auszumachen, indem jene beiden ‚Tugenden‘ dort ein deutlich breiteres Bedeutungsspektrum aufweisen sowie in weiteren Handlungszusammenhängen verortet werden; zur Verwendung des Begriffs in den ethischen Schriften, namentlich der ‚Nikomachischen Ethik‘, Schmidt 1967, 149–152; Schütrumpf 1989, bes 19 f ; Curzer 2012, 109–142; Cullyer 2014, 136–139; Wüschner 2016, 100–103
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6 Soziale Werte
von Mitmenschen zielen 194 Dies deckt sich mit dem Verständnis der Athener, die an der Stelle namentlich die Rettung von Mitbürgern aus der Schlacht anführen 195 Konsens herrscht weiterhin dahingehend, dass Hilfeleistungen – von der Polis als Adressat einmal abgesehen – nur im engeren persönlichen Umfeld üblich sind Aristoteles hat hier allem voran ‚Freunde‘ im Blick,196 was partiell Mitbürger,197 aber auch Familienmitglieder, d h Angehörige der Kernfamilie und teils auch der erweiterten Familie,198 einschließt 199 Mit letzterem rekurriert er auf die gängige Praxis, innerfamiliäre Solidarität mit dem Begriff der ‚φιλία‘ zu umreißen 200 Wesentlich darüber hinausgehendes karitatives Schenken zugunsten weiterer Kreise der Mitbürger sieht er – gleich den Athenern – im Normalfall nicht vor 201 Auch Gabentausch im Rahmen von PatronageBindungen, wie wir sie etwa aus Rom kennen, nennt er – in Übereinstimmung mit seiner Umgebung – nicht 202 Eng mit der Thematik der ‚Freigebigkeit‘ verknüpft ist überdies das Phänomen der ‚χάρις‘, von Aristoteles verstanden als ‚Dankbarkeit‘ eines Empfängers von Wohltaten,203 das er allerdings nicht den ‚ἀρεταί‘, sondern den ‚πάθη‘ zurechnet und demzufolge in einem anderen Rahmen behandelt Ungeachtet jenes Grundverständnisses reflektiert er den Gegenstand zuvorderst aus der Perspektive eines Gebenden, der einer Person, die ihm persönlich verbunden ist, eine ‚Hilfeleistung‘ (ὑπουργία) zukommen lässt, welcher der Betreffende momentan bedarf 204 Signifikant ist dabei, dass eine sol-
194 195 196 197 198 199
200 201 202
203 204
Aristot rhet 1361 a 30 f Dazu mit Belegen Christ 2012, bes 13–17 46 Vgl Aristot rhet 1381 a 10–14 Der Gedanke der politischen Freundschaft, die sich auf den Kreis der Mitbürger bezieht, ist in den Ethiken gleichwohl stärker ausgeprägt; dazu etwa Schollmeier 1994, 75–96 Letzteres meint in der sozialen Praxis insbesondere erwachsene Geschwister und deren Kinder, nachgerade ‚Erbtöchter‘ aus diesem Kreis; dazu Roisman 2005, 46–50; zur Forderung nach Unterstützung speziell der alten Eltern Hübner 2005, 36–38; Kressirer 2018, 226 f Überdies bemerkt er, dass Wohltaten dritter zugunsten von Angehörigen in gleicher Weise zu einer positiven Einstellung zugunsten des Gebenden führten wie Wohltaten, die man unmittelbar selbst erfahren hätte; siehe Aristot rhet 1381 a 11 f Dass der Betreffende zugleich seinerseits für jene Angehörigen sorgt, ist hier impliziert, indem er seinen Umgang mit ihnen durch das Verb ‚κηδεύειν‘ umreißt (Aristot rhet 1381 a 11) Hierzu mit Belegen Humphreys 1986, 85; Foxhall 1998, 54 f 67; Konstan 2000, bes 106–109; Lanni 2016, 123 f Üblich ist ebenfalls, dass er ‚Verwandtschaft‘ (οἰκειότης) als eine Form der ‚Freundschaft‘ charakterisiert; siehe Aristot rhet 1381 b 34 So Christ 2012, bes 1–9; anders Herman 2006, bes 347–359 Letztere gelten – sofern sie überhaupt je existiert haben – spätestens ab dem letzten Drittel des fünften Jahrhunderts als nicht mehr opportun und mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar; in diesem Sinne Deniaux/Schmitt-Pantel 1987/9, bes 151; Millett 1989, bes 15 25; Ober 1989, 229; Arnaoutoglou 1994, 5; Schmitz, W 2008, 57 f ; Christ 2010, 265 f ; ders 2012, bes 20 f , Alwine 2016, bes 14 f ; anders Gallant 1991; Zelnick-Abramovitz 2000, bes 69 f 79 f Zum Bedeutungsspektrum des Begriffs und seiner Verwendung in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ Grimaldi 1988, 128 Aristot rhet 1385 a 16–20 Dabei geht er gleichwohl nicht von einer asymmetrischen Beziehung aus, in der ein Partner beständig auf Unterstützung durch den anderen angewiesen ist
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che Gabe in der Wahrnehmung unseres Autors nicht im Hinblick auf eine prospektive Gegenleistung und damit grundsätzlich unter Reziprozitätsgesichtspunkten getätigt wird, sondern motiviert durch Altruismus, der sich seinerseits aus dem zwischen beiden bestehenden Freundschaftsverhältnis speist 205 Die Größe des ‚Gefallens‘ und damit das Ausmaß an ‚Dankbarkeit‘ bemisst sich dabei nach Aristoteles an quantitativen Gesichtspunkten, allerdings nicht primär am Umfang der Gabe, sondern am Bedarf des Empfängers 206 Hier sind mehrere Unterschiede zur sozialen Praxis zu bemerken: Zum einen wird in letzterer zur Bemessung einer Gabe nicht allein quantitativ verfahren; hinzu kommt ein qualitatives Moment dergestalt, dass – wie oben bereits gesehen – nachgerade Leistungen für die Polis herausgestrichen werden, so dass eine politische Dimension ins Spiel kommt Zum anderen prädominiert diesbezüglich in der Polis das Reziprozitätsprinzip, was sich speziell in der Kommunikation vor Gericht greifen lässt: Ein Beklagter, der die Juroren zur ‚χάρις‘ motivieren und mit dieser Begründung eine moderate Behandlung provozieren möchte, verweist auf sein Engagement für die Stadt und fordert ‚Milde‘ als Gegenleistung – im Unterschied zu einem Beschuldigten, der auf ‚Mitleid‘ setzt 207 Nach aristotelischem Verständnis ist eine ‚Gunst‘ besonders groß, wenn sie einem ausnehmend Hilfsbedürftigen zuteil wird An Beispielen nennt er Armut oder Verbannung 208 In der praktischen Rhetorik wird solches Tun, das mit einer erheblichen Asymmetrie zwischen Spender und Empfänger vergemeinschaftet ist – man denke etwa an die Aufnahme von ‚Schutzflehenden‘ –, eher mit der Polis als ganzer in Verbindung gebracht als mit Initiativen Einzelner 209 Eine weitere einschlägige ‚Tugend‘, die unser Autor in der ‚Rhetorik‘ in den Blick nimmt, stellt die ‚Besonnenheit‘ resp ‚Selbstbeherrschung‘ dar Ähnlich der ‚Gerechtigkeit‘ bringt er die ‚σωφροσύνη‘ in engen Zusammenhang mit der Gesetzesthematik, indem er die Forderung nach ‚Mäßigung‘ im Umgang mit den ‚Gelüsten‘ in der ‚Rhetorik‘ nicht etwa auf der Grundlage von Philosophemen – denkbar wäre das Prinzip der ‚μετριότης‘ einschließlich seiner philosophischen Implikationen – begründet, sondern mit Verweis auf den ‚νόμος‘ 210 In Athen ist diesbezüglich an ein insgesamt moderates
205 Vgl Grimaldi 1988, 128 Daraus folgt nicht, dass er in dem Kontext generell Altruismus fordert; anders Konstan 2007, bes 246 249 206 Aristot rhet 1385 a 20 f 207 Zur entsprechenden Gerichtspraxis und der zentralen Bedeutung des Prinzips der Reziprozität an der Stelle Rubinstein 2000, bes 212–214; Roisman 2005, 153 f ; Liddel 2007, 84; prinzipiell zum Zusammenhang von Euergesie und dem Anspruch auf ‚χάρις‘ u a Davies 1984, 88–105; Millett 1991, 123–126 208 Aristot rhet 1385 a 25 f 209 Hier allerdings handelt es sich wegen der ausgeprägt religiösen Implikationen um ein spezielles Phänomen; dazu, ausgehend von den ‚Hiketiden‘ des Aischylos, Rohweder 1998, 54–56; Gödde 2000, bes 27–32 210 Aristot rhet 1366 b 13–15
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Verhalten gedacht, das mit guter Integration in die Polisgemeinschaft assoziiert wird 211 Speziell in der attischen Demokratie der aristotelischen Zeit bildet die ‚Besonnenheit‘ einen zentralen Wert Namentlich in Gerichtsreden wird sie dort von den Sprechern gern herausgestrichen, um die eigene Einordnung ins Gemeinwesen zu betonen bzw jene des Kontrahenten zu hinterfragen 212 Gerade in Bezug auf die Einzelperson gilt sie – anders als zuweilen noch im fünften Jahrhundert – nicht etwa als effeminiert und wird keinesfalls mit Passivität verknüpft, sondern mit dem aktiven Kampf gegen ‚Begierden‘ in Verbindung gebracht, der von einem trefflichen Bürger erwartet wird 213 Differenzen zu Aristoteles sind in der Hinsicht nur von gradueller Natur: Der Philosoph betont an der Stelle stärker das rationale Moment;214 der integrativen Wirkung schenkt er hingegen geringere Aufmerksamkeit Bei den Rednern wird überdies in dem Zusammenhang die sexuelle Ebene des Phänomens dezidierter in den Blick genommen 215 Eine markante Parallele zwischen beiden ist demgegenüber in der Kontrastierung von ‚σωφροσύνη‘ und ‚ὕβρις‘ zu sehen 216 Schließlich kommt unser Autor auf intellektuelle Befähigungen und deren Würdigung als ‚Tugenden‘ zu sprechen Die Fähigkeit zur ‚Einsicht‘ definiert er dabei textimmanent, d h im Kontext seiner Überlegungen zur ‚Glückseligkeit‘ und dem darauf ausgerichteten Umgang mit ‚Gütern‘ Konkret heißt es bei ihm: „Klugheit ist eine Tugend des Verstandes, durch die wir über die genannten Güter und Übel im Hinblick auf das Glück auf gute Weise beratschlagen können“ 217 Dass er hier nicht weiter ausgreift, nimmt nicht wunder, da zu dem Komplex keine gängigen Vorstellungen allgemeinen Charakters existieren, die regelmäßig in der Rhetorik angebracht würden und an die
211
Dazu mit Belegen North 1966, 135–142; Whitehead 1993, 70–72; Herman 1995, bes 57–60; Rademaker 2004, 164–173; Lanni 2006, 29; Balot 2009, bes 289–291 212 Hierzu Herman 1993, bes 419; ders 1995, 47; von zentraler Bedeutung ist in dem Zusammenhang auch die Bereitschaft zur friedlichen Beilegung von Konflikten; dazu mit Belegen Dover 1974, 187–190; Lanni 2006, 29 f ; dies 2016, 121 f ; Rieß 2012, 131 f 213 Zu der Erscheinung Foucault 1984/6, bes 85; Roisman 2005, 176–185; Piepenbrink 2010a, 41–43 214 Dies gilt gleichsam für seine Auseinandersetzung mit Emotionen, die auch hier neben der Wertethematik virulent sind; dazu Fortenbaugh 1975/2002, 18 215 Signifikant ist in dem Zusammenhang die Anklagerede des Aischines gegen Timarchos, dem der Sprecher – im Kontext einer δοκιμασία ῥητόρων – zuvorderst Selbstprostitution aufgrund von ‚Zügellosigkeit‘ vorwirft (Aischin 1,3); dazu Davidson 1998, 252–257 260–263 265–274 Beliebt ist in dem Zusammenhang auch der Vorwurf der ‚κιναιδία‘, den Aischines an der Stelle jedoch nicht gegen Timarchos, sondern gegen Demosthenes erhebt (Aischin 1,131) Der ‚κίναιδος‘ wird dabei gewöhnlich als Gegenbild zum Hopliten, dem Inbegriff des attischen Bürgers, gezeichnet; zu dem Komplex Winkler 1990; Fox 1998, bes 9 f In der Forschung umstritten ist, inwieweit diesbezüglich mit einer ‚Öffentlich-Privat-Differenzierung‘ operiert und derartiges Verhalten speziell bei Personen problematisiert wurde, die sich – etwa als Redner – an vorderster Front politisch engagierten; zur entsprechenden Kontroverse Sissa 1999, 154 f 216 Zu dem Aspekt Fisher 1998a, bes 80–86; Roisman 2005, 7 f Gleiches gilt für die Gegenüberstellung von ‚ἀκρασία‘ und ‚σωφροσύνη‘; hierzu mit zahlreichen Belegen Roisman 2005, 178 217 Aristot rhet 1366 b 20–22: „φρόνησις δ’ἐστὶν ἀρετὴ διανοίας καθ’ ἣν εὖ βουλεύεσθαι δύνανται περὶ ἀγαθῶν καὶ κακῶν τῶν εἰρημένων εἰς εὐδαιμονίαν“; übers Rapp 2002, 46
6 3 ‚Tugenden‘ (ἀρεταί)
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er anknüpfen könnte ‚Klugheit‘ wird dort zuweilen mit elitärem Habitus und sophistischer Bildung assoziiert und auf dieser Basis teils mit ‚Zügellosigkeit‘ verbunden 218 Dies gilt allem voran für Zusammenhänge, in denen auf demokratische Machtverteilung und Entscheidungsprozesse Bezug genommen und die Herrschaft der Menge mit jener besonders befähigter Einzelner kontrastiert wird 219 Die Vorstellung, dass der Demos als ganzer – etwa durch die Aggregation von Wissen und Erfahrung – erhebliche Kompetenzen entwickelt,220 thematisiert er an der Stelle nicht, da er entsprechende Fähigkeiten des Einzelnen im Blick hat 221 Der verbreiteten Ambiguität in der Einstellung zur ‚παιδεία‘ trägt allerdings auch er Rechnung, indem er den Gegenstand ausdrücklich jenen Sujets zuordnet, „über die die Meinungen auseinandergehen“ (τὰ ἀμφισβητούμενα), und daraus resultierende Möglichkeiten der Verargumentierung aufzeigt 222 In hohem Grade dem common sense entspricht eine Vorstellung, die Aristoteles im Umkreis der Frage nach dem ‚Angenehmen‘ (ἡδύ) artikuliert, die aber nichtsdestotrotz für unseren Gegenstand relevant ist: das Vergnügen am ‚Staunen‘ wie am ‚Lernen‘ sowie – eng damit verbunden – die Freude an der ‚Abwechslung‘ (μεταβολή) und damit der Konfrontation mit dem Neuen, intellektuell Herausfordernden 223 Unser Autor rubriziert dies unter Handlungsmotivationen, die er vorrangig im Hinblick auf den Einzelnen beleuchtet In der rhetorischen Praxis lässt er sich – ähnlich der Verwendung in der Historiographie – gerade mit Blick auf die eigene politische resp ethnische Gemeinschaft und deren Identität anbringen – in positiver Abgrenzung zu anderen, denen nach Maßgabe der Alterität gegenteilige Merkmale attestiert werden 224
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224
So von Kleon, den Thukydides die Auffassung propagieren lässt, dass ‚Dummheit‘ in Verbindung mit ‚Besonnenheit‘ höher zu schätzen sei als ‚Klugheit‘ im Verein mit ‚Zügellosigkeit‘; siehe Thuk 3,37,3 f ; dazu Dover 1974, 119; zu dem Komplex auch Wojciech 2019, 54 f Hierzu abermals Dover 1974, 119 Zu dem Gegenstand mit Blick auf die attische Demokratie Ober 2008, 118–167 Anders verhält es sich in der ‚Politik‘; dazu oben Kap 5 2 Aristot rhet 1394 b 27–34 Desgleichen führt er sie als Beispiel für den Topos an, ‚dass aus einer Sache etwas Gutes wie auch etwas Schlechtes folgen könne‘; siehe Aristot rhet 1399 a 11–15 Aristot rhet 1370 b 26–34; zu dem Komplex D’Angour 2011, 19–35 Aristoteles betrachtet jene – seinem Verständnis nach in der Natur des Menschen angelegte – Neigung auch als Basis für genuin philosophisches Forschen (vgl Aristot met 980 a 21; dazu Rapp 2002a, 471) Nichtsdestominder beschränkt sich die Vorstellung nicht auf jenen Bereich, sondern gründet sich im Alltagsverständnis Hier wird sie allerdings weniger pauschal anthropologisch begründet, als vielmehr mit vermeintlichen Spezifika des griechischen Kulturraumes in Verbindung gebracht; vgl Cartledge 1993, 40 f Zu dem Komplex wiederum u a Cartledge 1993, 40 f
7 Rednerische Inszenierung und Gestaltung der Rede 7.1 Zur Inszenierung des Redners und dessen Interaktion mit dem Auditorium 7 1 1 Körperlich-performative Aspekte Mit performativen Aspekten der Rhetorik, zumal deren körperlicher Dimension, wie sie seit einigen Jahren in der Forschung eingehend studiert wird,1 beschäftigt Aristoteles sich nur am Rande Eine Ausnahme bildet in dem Zusammenhang der Gegenstand der Sprechstimme, der im dritten Buch seines Werkes Erwähnung findet und der auch in den erhaltenen Reden auf Resonanz stößt 2 Andere unmittelbar auf den Körper bezogene Ausdrucksmittel, etwa die Verwendung nonverbaler Gesten oder auch die Selbstinszenierung durch die Kleidung, bringt unser Autor – analog der Gerichtspraxis – nur in speziellen Zusammenhängen an Am markantesten ist hier noch das Bestreben von Beklagten, das ‚Mitleid‘ der Juroren zu evozieren,3 was – neben dem Einsatz von Klagegesten – durch ein betont bescheidendes Auftreten inklusive entsprechender Bekleidung unterstrichen werden kann Die gezielte Nutzanwendung der Stimme ordnet der Philosoph dem Feld des ‚Vortrags‘ (ὑπόκρισις) zu,4 dem er persönlich mit Zurückhaltung begegnet: So moniert er, dass Bemühungen dieser Art nahezu ausschließlich darauf zielten, Emotionen zu erregen, wohingegen die Vermittlung von Sachaspekten davon nicht profitiere 5 Daneben führt er an, dass das Terrain bislang nicht systematisch theoretisch durchdrungen worden sei 6 Er verweist dazu auf den Umstand, dass ein ‚Lehrbuch‘ (τέχνη) zu dem Sujet bisher nicht verfasst wurde 7 Das deckt sich mit den Beobachtungen späterer Autoren, 1 2 3 4 5 6 7
Exemplarisch sei an der Stelle verwiesen auf Kremmydas/Powell/Rubinstein 2013 Zu seinen diesbezüglichen Überlegungen und ihrer historischen Verortung Hall 2006, bes 371 f ; Porter, J 2009, bes 98 Siehe Aristot rhet 1386 a 32–34 Aristot rhet 1403 b 22–27 Vgl Aristot rhet 1404 a 4 f ; dazu Krumbacher 1921, 31 f ; Woerther 2015, 77 f Aristot rhet 1403 b 27–31 37 Siehe Aristot rhet 1403 b 35; zum spezifischen Gebrauch des Begriffs ‚τέχνη‘ an der Stelle Rapp 2002a, 39 815 In welchem Grade die sophistische Rhetorik sich mit dem Gegenstand beschäftigt
7 1 Zur Inszenierung des Redners und dessen Interaktion mit dem Auditorium
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die erst seinem Schüler Theophrast attestieren, sich eingehender mit der Materie befasst zu haben 8 Unser Autor zeigt seinerseits keine genuine Neigung, sich auf dem Feld zu engagieren, was u a mit seiner Ansicht zu tun haben dürfte, dass die Beherrschung des ‚Vortrags‘ sich eher auf natürliche Begabung, denn auf eine Kunst gründe 9 Anaximenes äußert sich in seiner Ars rhetorica zu dem Metier nicht, lässt sich hier also nicht zum Abgleich heranziehen 10 Ungeachtet der angeführten Bedenken ist der Philosoph sich der Tatsache bewusst, dass nachgerade systematische Stimm- und Sprechtrainings möglich sind, und konzediert einem Redner auch, solche zu absolvieren, um den Erwartungen der Hörer gerecht werden zu können 11 Er denkt dabei allerdings nicht an Übungen zur Steigerung des Stimmvolumens oder zur Verbesserung der Artikulation, sondern vielmehr an Anleitungen zur Modifikation der Stimmlage, der Lautstärke sowie des Sprechrhythmus, die speziell auf die Evokation von Emotionen zielen und seinem Verständnis nach aus dieser Motivation heraus betrieben werden 12 Als Beispiel nennt er die Ἔλεοι des Thrasymachos aus dem Umfeld der Sophistik, dessen Wirken in ähnlicher Weise von Platon charakterisiert wird, dem aber auch spätere antike Autoren, die sich nicht allein auf die beiden Philosophen stützen, entsprechende Ambitionen zuschreiben 13 Bemühungen dieser Art räumt unser Autor hohe praktische Relevanz ein, die er in gewohnter Manier mit der unzureichenden Kompetenz des Publikums begründet, welche er an dieser Stelle gar noch mit dem Hinweis auf die ‚Verderbtheit‘ der aktuellen Verfassungen untermauert 14 Markant ist, dass sich dies nicht nur mit seinem persönlichen politischen Standpunkt deckt, sondern durchaus auch Parallelen mit populärer Rednerkritik aufweist, wie sie nicht allein aus demokratieskeptischer Perspektive formuliert wird, sondern zugleich im innerdemokratischen Diskurs selbst begegnet 15
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hat, ist in der Forschung umstritten; dazu Johnstone, S 2001, bes 138 Aristoteles geht davon aus, dass es sich hier generell um ein neues Feld handelt, was er gleichwohl nicht historisch, sondern systematisch begründet – indem, so sein Verständnis, ‚von Natur‘ im Bereich der Rhetorik zunächst die sachliche Ebene habe studiert werden müssen, dann die sprachliche Ausgestaltung und erst im Anschluss der Vortrag Er schlussfolgert dies aus der Genese der Tragödie, bei der er eine vergleichbare Entwicklung annimmt; siehe Aristot rhet 1403 b 15–25; zu seinem Gedankengang an der Stelle Rapp 2002a, 809 f Dazu mit Belegen Sonkowsky 1959, 267; Fortenbaugh 1985, bes 270–272 Aristot rhet 1404 a 15 f Vgl Edwards 2013, 15 Aristot rhet 1403 b 26 – 1404 a 8; zu seinem Gedankengang Schulz, V 2014, 92–102 Unser Autor äußert sich hierzu nur knapp und ohne unmittelbar praktische Intention; dazu Edwards 2013, 15 f ; Schulz, V 2017, 29 Nichtsdestoweniger konzediert er, dass der mündliche Vortrag über größere Wirkung verfüge als die Argumente und ihre sprachliche Gestaltung; siehe Aristot rhet 1403 b 20–22 Aristot rhet 1403 b 27–35 Aristot rhet 1404 a 14 f ; vgl Plat Phaidr 267c; zur späteren Rezeption siehe DK 85 B 6; zu dem Material Scholten 2003a, 154 f Aristot rhet 1403 b 34–36; 1404 a 17 f ; zu dem Motiv Meyer, D A 1986, 95; Volonaki 2019, 281 Vgl auch [Aristot ] AP 28,3; dazu Rapp 2002a, 811
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7 Rednerische Inszenierung und Gestaltung der Rede
Einschlägig ist in den Zusammenhang die im späten fünften Jahrhundert verbreitete Kritik an Rednertypen à la Kleon, welche in hohem Grade auf Stimmgewalt gesetzt und sich in ihrem gesamten Auftreten ostentativ vom Habitus der vorherigen, um Dignität bemühten Redner abgesetzt hätten 16 Im öffentlichen Leben der aristotelischen Zeit allerdings haben derartige Debatten um eine angemessene Performanz von Rhetoren ein Stück weit an Brisanz eingebüßt 17 In Demegorien inszenieren Redner sich durchgängig als ‚Ratgeber‘; Differenzen in ihren Präsentationen sind eher in ihren Einstellungen zu politischen Sachfragen und entsprechenden programmatischen Verlautbarungen auszumachen als in habituellen Merkmalen 18 Nichtsdestotrotz stellen die Überlegungen des Stagiriten keinesfalls einen Anachronismus dar: So ist es auch zu seiner Zeit in der Forensik noch gängige Praxis, einem Kontrahenten im Schlagabtausch eine unangemessene Performanz vorzuhalten: Einem solchen vermag vorgeworfen zu werden, dass er ‚schreie‘ oder sich auf der Rednerbühne anderweitig unziemlich gebärde – etwa heftig gestikuliere oder sich das Obergewand vom Leib reiße –, statt sich um ein ‚moderates‘, ‚selbstbeherrschtes‘ Auftreten zu bemühen 19 Markant hierfür ist die schon mehrfach angeführte Anklagerede des Aischines gegen Timarchos 20 In Zusammenhängen dieser Art können verschiedene performative Momente zur Sprache kommen, die ihrerseits mit Verhaltensweisen assoziiert werden, welche sich plakativ als eines Bürgers würdig oder unwürdig zeichnen lassen Auf entschiedene Kritik stoßen in dem Zusammenhang sogenannte ‚theatralische‘ Formen der Selbstinszenierung,21 wobei entsprechende Vorhaltungen sich noch dadurch steigern lassen, dass man seinen Gegner definitiv mit dem Theaterwesen bzw der Profession des Schauspielers in Verbindung bringt und ihn dadurch obendrein sozial diskreditiert 22 Im Interesse der positiven Selbstdarstellung vermag ein Rhetor im Gegenzug anzu-
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Aussagen dieser Art begegnen nicht nur bei Thukydides, dessen politischer Standpunkt sich an der Stelle nicht eindeutig klassifizieren lässt, sondern auch in dezidiert demokratischen Stellungnahmen; zu dem Komplex mit Belegen Connor 1971, 132–136; Stein-Hölkeskamp 2000, bes 90; dies 2013, 66; Mann 2007, bes 105; grundsätzlich zu der Thematik Easterling 1999, 156 165; Serafim 2017, 17–20 Dass Redner gewöhnlich der sozialen Elite entstammen, wird im Wesentlichen als Tatsache akzeptiert Kontroversen zwischen vermeintlich ‚aristokratischen‘ und ‚nicht-aristokratischen‘ Erscheinungsformen und Verhaltensweisen treten kaum mehr auf; diesbezüglich dagegen zum späten fünften Jahrhundert Mann 2007, bes 32; ders 2009a, bes 164 166 Vgl Rhodes 1978, bes 207–210; ders 1986, bes 141 Fredal 2006, bes 179; Bers 2009, 69–71 Aischin 1,26 f ; zu dem Motiv Gotteland 2010, 19 f ; Carey 2017, 272 f Vgl Adamidis 2017, 149–153; Harris, E M 2017, 237 f Ein markantes Beispiel ist hier das Bild des Aischines, das Demosthenes in der ‚Kranzrede‘ entwirft; siehe besonders Demosth 18,262; dazu Dyck 1985, 43 f ; Worman 2004, 9 13; ders 2008, 267–270; Duncan 2006, 58–65 74–82; Hall 2006, 372 f ; Sansone 2012, 211; Villacèque 2013, 294; Brun 2015, 96; Enos 2016, 186 f ; Serafim 2017, bes 82; grundsätzlich zu dem Gegenstand auch Hall 1995, bes 41
7 1 Zur Inszenierung des Redners und dessen Interaktion mit dem Auditorium
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bringen, dass er auf effektive Auftritte verzichte und stattdessen sachlich zu überzeugen suche, indem er die Übereinstimmung seiner Vorschläge mit dem Wohl des Demos dokumentiere 23 Ein solcher arbeitet mit einem Antagonismus, der jenem, den Aristoteles propagiert, ähnelt, freilich nicht mit ihm identisch ist 24 Weniger kritisch werden in Athen gängige Anstrengungen angehender Redner beäugt, ihre Stimmkraft zu verbessern, um den Anforderungen der Rednertribüne überhaupt gerecht werden zu können Solches gilt nicht als unziemlich, sondern als unter praktischen Gesichtspunkten geboten Gleichwohl kann es vorkommen, dass Rhetoren sich über einen Kollegen mokieren, der diesbezüglich offenbar gesteigerten Bedarf hat und so auf dem Feld verstärkte Bemühungen an den Tag legt 25 Wie oben bereits angedeutet, äußert Aristoteles sich hierzu nicht; er beschränkt sich auf die – auch aus seiner Sicht – prekären Aspekte 7 1 2 Zur Problematik der rednerischen Expertise Ein Moment, das in der rhetorischen Praxis von eminenter Bedeutung ist, bei Aristoteles hingegen nur marginalen Charakter hat, ist die Überzeugung, dass es für einen Sprecher – namentlich in der Forensik – entscheidend darauf ankomme, nicht als Rhetor perzipiert zu werden 26 Dieses scheinbare Paradoxon resultiert aus einem Phänomen, das die Forschung gern als ‚Rhetoric of Anti-Rhetoric‘ beschreibt 27 Auf deren Grundlage gilt es für einen Sprecher nicht nur, sich in normativer Hinsicht von professionellen Rednern zu distanzieren – Hintergrund hierfür ist die Annahme, dass Professionalität auf dem Feld nicht selten mit Skrupellosigkeit, der Ausrichtung auf Partikularinteressen und der Abwendung vom Gemeinwohl einhergehe –, sondern auch von deren methodisch-technischem Anspruch Letzterer wird mit Vorliebe mit dem Begriff der δεινότης im Hinblick auf das Reden oder mit den Attributen δεινὸς λέγειν resp δυνάμενος λέγειν umrissen, die im von uns betrachteten Zeitraum nahezu durchgängig mit negativer Konnotation verwendet werden 28 Dies steht dem Ansin23 24 25 26 27 28
Siehe beispielsweise Demosth 18,276–280 Die Differenz zum Stagiriten liegt in der ausdrücklichen Betonung der Ausrichtung auf die Belange des Demos Hierzu mit Blick auf Demosthenes mit Belegen Krumbacher 1921, 24–28; Cooper, C 2000, 225; ders 2004, 152 f ; Worthington 2017, 14 Zu diesem Gesichtspunkt in der praktischen Rhetorik Andersen 2001, 4 In den konzeptionellen Überlegungen zur Rolle des Redners ist dies bei Aristoteles nicht von Bedeutung Den Ansatz hat namentlich Jonathan Hesk mit Nachdruck vertreten; siehe Hesk 1999, 215–218; ders 2000, bes 202–241 Siehe z B Lys 12,86; 14,38; Demosth 18,277; 22,66; Aischin 3,215; dazu mit weiteren Belegen Ober 1989, 106; grundsätzlich auch Powell 2007, 5 f ; Walker, J 2016, 149 170 f , der anhand der demosthenischen ‚Kranzrede‘ u a das Verhältnis von realer δεινότης und deren demonstrativer Leugnung durch den Sprecher beleuchtet Anaximenes empfiehlt dem Redner ein bescheidenes Auftreten,
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nen des Aristoteles diametral entgegen, dem es, wie wir gesehen haben, gerade darum geht, die Rhetorik als τέχνη im eigentlichen Sinne zu konzeptualisieren und sich damit von Kritikern, die in der platonischen Tradition gegen derartige Bestrebungen argumentieren, zu distanzieren 29 An der Stelle agiert er in einem gänzlich anderen diskursiven Kontext als dem der praktischen Rhetorik, in der es solches tunlichst zu verschweigen gilt Kritisch äußert der Philosoph sich in dem Zusammenhang lediglich in der ‚Nikomachischen Ethik‘ – dort gewendet gegen sophistische Vorstellungen von ‚Redegewalt‘, allerdings mit genuin ethischer Motivation, nicht aus politischen Beweggründen 30 Zudem differenziert er an der Stelle zwischen dem kunstvollen Einsatz der Eloquenz und deren moralisch bedenklichem Missbrauch In der angewandten Rhetorik wird hier pauschaler negiert; überdies prädominieren dort der schon angesprochene Gegensatz von πολιτευόμενοι und ἰδιῶται sowie das Postulat der bürgerlichen Egalität vor Gericht 31 Das meint freilich nicht, dass unser Autor für die in der rhetorischen Praxis virulente Problematik keinerlei Sensibilität zeigte bzw sie in seiner Schrift gänzlich ausblendete: So merkt er an einer Stelle im dritten Buch an, dass der Redner sich der Kunstfertigkeit in einer Weise bedienen solle, dass die Zuhörer nicht darauf aufmerksam würden und die Rede nicht kunstgerecht ‚verfertigt‘, sondern ‚natürlich‘ wirke 32 Gleichwohl geht es ihm – im Unterschied zu praktischen Rednern, die solches konkret ansprechen – nicht darum, etwaiger Grundsatzkritik vorzubeugen; vielmehr vertritt er die Auffassung, dass nicht-artifiziell scheinende Formulierungen beim Auditorium größere Wirkung zu erzielen vermöchten 33 In der rhetorischen Praxis ist es für den Sprecher essentiell, sich speziell vom Streben nach ‚ἀκρίβεια‘ demonstrativ zu distanzieren, was nicht nur eine in der Sache sorgfältige und um konzise Argumentation bemühte Rhetorik meint, sondern eine Beredsamkeit, die mit einem hohen Grad an Artifizialität assoziiert und insofern als ‚elitär‘ bewertet wird 34 Dies betrifft nachgerade die Gerichtsrede Wer dem als Redner nicht nachkommt, läuft Gefahr, von seinen Kontrahenten als ‚sophistisch‘ diskredi-
29 30 31 32 33 34
was sich u a darin konkretisiere, dass er seine Wortmeldung eigens rechtfertige, und zwar nicht mit Hinweis auf seine rhetorische Befähigung, sondern mit dem Nutzen seines Beitrages für das Gemeinwesen; siehe Anaxim rhet 1436 b 1–3 34–36 Hier haben wir es mit einem typischen Beispiel für eine captatio benevolentiae zu tun, wie sie aus der rhetorischen Praxis vertraut ist; siehe etwa Demosth 4,1 Im hellenistischen und römischen Kontext wird der Terminus der δεινότης später teils auch positiv konnotiert; so z B im Hinblick auf Demosthenes Dion Hal Is 20, ed Usener, p 123; dazu Görgemanns 1987, 124; Alexiou 2014, 818 821 Zu jener Intention oben Kap 2 1; speziell zur Reaktion auf die platonische Kritik u a López Eire 2007, 342 f ; Reinhardt 2007, 375 f Aristot EN 1144 a 23–29; dazu Grimaldi 1988, 197; Ptassek 1993, 55 Hierzu oben Kap 2 2 2 und 5 1 2 Aristot rhet 1404 b 18 f ; zu dem Gedanken Müller, J D 2011, 85–87 Aristot rhet 1404 b 19–21 Zu den beiden Aspekten und ihrem Verhältnis Pepe, C 2013, 219 f
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tiert zu werden 35 Aristoteles befasst sich in der vorliegenden Schrift mit derartigen Etikettierungen und deren soziopolitischem Kontext nicht, sondern konzentriert sich an der Stelle auf innerrhetorische Fragen: So verwendet er den Terminus der ‚ἀκρίβεια‘ weniger mit wertender Intention, denn als beschreibende Kategorie 36 Dabei geht er seinerseits über das Moment der sachlichen Präzision hinaus und denkt an eine kunstbetonte Gestaltung Für ihn ist an der Stelle relevant, dass er diese mit Schriftlichkeit in Verbindung bringt und sie zugleich dem epideiktischen Genre zuweist 37 Auch ihm liegt es somit fern, solcherlei Gestaltungsmomente auf die Forensik zu übertragen, gleichwohl aus einer anderen Motivation heraus als den aktiven Rednern Eine elementare Frage, die der Stagirite wie auch die attischen Rhetoren in dem Zusammenhang aufwerfen, zielt darauf, welchen Grad an Komplexität eine Argumentation aufweisen darf, ohne die Zuhörer zu verprellen, sondern um von ihnen wohlwollend aufgenommen zu werden Konkret lässt sich dies besonders am Ringen um das Moment des εἰκός beobachten, welches in Übersetzungen gern mit ‚Wahrscheinlichkeit‘ wiedergegeben wird 38 Seine Relevanz resultiert aus dem in aristotelischer Zeit allgemein anerkannten Umstand, dass in der öffentlichen Kommunikation gewöhnlich nicht um ‚Wahrheit‘ in einem absoluten Sinne gerungen werde, sondern um in der jeweiligen Situation überzeugende Aussagen Das Phänomen ist bereits in der Sophistik einschlägig belegt; in der rhetorischen Pragmatik begegnet es seit dem ausgehenden fünften Jahrhundert – namentlich Antiphon operiert in seinen Gerichtreden, sowohl den ‚Tetralogien‘ als auch den für reale Prozesse verfassten Arbeiten, in hohem Grade mit dem εἰκός 39 Auch bei den Rednern des vierten Jahrhunderts begegnet der Terminus durchgängig 40 Aristoteles schenkt ihm große Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Bildung von Enthymemen 41 Bei ihm ist er eng verbunden mit den Topoi der ‚Potentialität‘, resp ‚Möglichkeit‘ bzw ‚Unmöglichkeit‘ (τὸ περὶ τοῦ δυνατοῦ καὶ ἀδυνάτου) sowie der ‚Faktizität‘ (τὸ γέγονεν) 42
35 36 37 38 39 40 41 42
Siehe etwa Antiph or 3,2,2; zum entsprechenden Befund speziell bei Antiphon Vatri 2017a, 306 Anders als in genuin philosophischen Kontexten geht es ihm hier nicht um die ‚Exaktheit‘ von Erkenntnis; zu jener Verwendung hingegen Kurz 1970, 124–132 Aristot rhet 1414 a 8–28; zur Situierung des Begriffs im Rahmen der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auch Gagarin 1999, 166; Schloemann 2002, 140; Pepe, C 2013, 220 Zu Konvergenzen mit dem ‚ἀκρίβεια‘-Verständnis des Isokrates Graff 2001, 25 f Zur Problematik dieser Übersetzung Schmitz, W 2000, bes 47–52; Hoffman 2008, 4–6 Siehe Antiph or 2,1,5 9 f ; 2,3,9; 2,4,10; 5,25 f 37 43 63; dazu Gagarin 1990a, 29–32: ders 2014, 17–19; Carawan 1998, 21 f ; Carey 2000, 193 Anstelle zahlreicher Belege sei hier auf die einschlägigen Indices verwiesen Siehe besonders Aristot rhet 1357 a 34; 1359 a 8; 1376 a 18; 1400 a 8; 1402 a 8–28; 1402 b 13 – 1403 a 1; grundsätzlich zur zentralen Bedeutung der ‚εἰκός‘-Enthymeme in der aristotelischen ‚Rhetorik‘ Kraus 1992, Sp 1198 f ; Klein, J 1992, Sp 1534 Zum Topos der ‚Potentialität‘ besonders Aristot rhet 1391 b 27–29; 1392 a 8 – b 14, zu jenem der ‚Faktizität‘ Aristot rhet 1392 b 15 – 1393 a 22
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Vergleicht man seinen Ansatz mit dem der tradierten Reden, so tun sich Parallelen insbesondere mit dem gerade erwähnten Antiphon auf: Dieser fragt – ähnlich wie später von Aristoteles insinuiert – nach ‚Wahrscheinlichkeiten‘ im Kontext von Handlungsabläufen und gewinnt hieraus plausible Argumente 43 Das Prozedere der Majorität der erhaltenen Redner aber, die – anders als Antiphon – dezidiert auf dem Boden der Demokratie agieren,44 ist an der Stelle gewöhnlich ein anderes: Ihnen geht es in aller Regel nicht zuvorderst darum, verschiedene Geschehensvarianten auf Kohärenz und Plausibilität zu prüfen,45 sondern den Persuasionsgrad einer Variante auf der Grundlage der Erfahrungen der Juroren zu ermessen Als Maßstab fungiert dabei das in der Gesellschaft übliche, erwartbare Verhalten, welches seinerseits ausgehend von Normen und Werten der Polis bestimmt wird 46 Entsprechende Ausführungen der Rhetoren zielen damit weniger auf logische Stringenz als auf normative Stimmigkeit Ähnlich verhält es sich mit sogenannten ‚Indizien‘ (τεκμήρια), bei denen es nach aristotelischem Verständnis darauf ankommt, aus Hinweisen überzeugende Schlüsse zu ziehen 47 Dabei favorisiert er eindeutige Konklusionen, die sich nicht widerlegen lassen und damit Beweischarakter gewinnen Als Beispiel führt er an, aus dem Umstand, dass jemand an Fieber leide, zu schließen, dass er erkrankt sei 48 Weniger schlüssig wäre dagegen seiner Ansicht nach, aus der Tatsache, dass eine Person rasch atme, notwendig folgern zu wollen, dass er oder sie fiebrig sei 49 Im ersten Fall sei die Folgerung zwingend geboten, im zweiten lediglich möglich Die Redner operieren gleichfalls mit ‚τεκμήρια‘ Ihnen ist es allerdings weniger dezidiert um konsistentes Argumentieren zu tun; vielmehr geht es ihnen vorrangig darum, wertorientierte Aussagen zu formulieren, bei denen das ‚τεκμήριον‘ für sich genommen positiv besetzt ist und eher als Beleg denn als Indiz fungiert: So verweist Demosthenes zur Begründung der Aussage, dass in der Vergangenheit die Polis wohlhabend gewesen sei und kein Privatmann über größeren Besitz verfügt habe als die Mehrzahl der Bürger, auf das Phänomen, dass Themistokles, Miltiades und andere illustre Persön43 44 45
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47 48 49
Dazu mit Belegen Zinsmaier 1998, 404–406; Gagarin 2002, 54–56 Zu den Divergenzen zwischen antiphontischen und in der attischen Demokratie gängigen Redepraktiken und ihren soziopolitischen Ursachen Piepenbrink 2019a, 119–128 Konkret meint das – analog der Bestimmung von Enthymemen – zu beweisen, dass etwas ist oder nicht ist, oder aber Aussagen der Gegenseite zu widerlegen; siehe Aristot rhet 1396 b 22–25 An anderer Stelle komprimiert er noch stärker, indem er die beiden Argumentationen resp ihre Gehalte mit den Begriffen ‚ἐλεγκτικά‘ und ‚δεικτικά‘ umreißt; siehe Aristot rhet 1400 b 26–30 Siehe z B Demosth 21,43 177; 22,22; grundsätzlich zur entsprechenden Praxis bei den attischen Rednern mit weiteren Belegen Fairchild 1979, bes 53; Schmitz, W 2000, bes 72 f , Hoffman 2008, 15–17 In dem Sinne begegnet der Begriff auch in der Ars rhetorica des Anaximenes; dazu mit Belegen Goebel 1989, 43 f 53 Er unterscheidet dazu zwischen ‚notwendigen Zeichen‘ resp ‚zwingenden Indizien‘ und Zeichen/ Indizien, die nicht auf vergleichbar obligatorischen Schlüssen beruhen; siehe Aristot rhet 1357 b 2–21; zu dem Komplex Sprute 1981, 261; Kraus 1992, Sp 1199 f ; Kraus/Spengler 1998, Sp 335 Aristot rhet 1357 b 15 f Aristot rhet 1357 b 19 f ; zu jenem Beispiel Weidemann 1988, 31
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lichkeiten dieser Art in Häusern gelebt hätten, die sich in ihrer Größe nicht wesentlich von denen der Menge unterschieden 50 Letzteres charakterisiert er als ‚τεκμήριον‘ 51 Der Übergang zum historischen Paradigma ist an der Stelle fließend 52 In anderen Fällen, in denen Redner mit dem Begriff ‚τεκμήριον‘ arbeiten, nehmen sie alternativ auf gesetzliche Regelungen resp politische Verfahren Bezug, um bestimmte Vorgehensweisen als korrekt zu präsentieren 53 An dem Punkt ist das Verhältnis von Rhetorik und ‚Rationalität‘ tangiert, das im Hinblick auf die tradierten Reden bislang erst in Ansätzen erforscht ist 54 Die Resultate hierzu divergieren; im Verbund damit variiert zugleich die Einschätzung, wie sich die aristotelischen Reflexionen zu der Thematik und die praktische Rhetorik seiner Zeit zueinander verhalten 55 Der Philosoph selbst geht dieser Frage nicht nach Sein Interesse gilt an der Stelle der Rolle jenes Sujets in der rhetorischen Theorie und damit dessen theoretisch-methodischer Fundierung Kritische Überlegungen, die er diesbezüglich anstellt, beziehen sich auf ebensolche Texte 56 Dass die Redner seiner Zeit vielfältig Prämissen formulieren und daraus Konklusionen entwickeln, ist evident 57 Dennoch sind einige Differenzen zu Aristoteles augenfällig: Wie oben bereits angedeutet, operieren die Rhetoren gerade auch in Kontexten, in denen sie Kausalzusammenhänge aufzuzeigen suchen, in hohem Grade mit Wertkategorien Hinzu kommt, dass sie nicht selten ausnehmend knappe Formulierungen wählen und auf die Weise eine Vielzahl von Argumenten reihen, ohne diese im Detail zu entwickeln 58 Dies gilt in besonderem Maße für die Forensik, über weite Strecken aber auch für Demegorien In letzteren besteht speziell in Zusammenhängen, in denen komplexe Sachfragen verhandelt werden, zumindest in Teilen die Möglichkeit, Ausführungen zu vertiefen und dabei auch deren argumentative Struktur zu verdeutlichen 59 Den Dispositionen der Hörer entsprechend tendieren die Rhetoren jedoch auch an solchen Stellen dazu, bereits nach kurzen Sachausführungen wieder auf zentrale politische Prinzipien und Werthaltungen zu rekurrieren und diese prononciert
50 51 52 53 54 55
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Demosth 23,206 f Demosth 23,207; zu diesem Motiv mit Belegen auch aus Demegorien des Redners Milns 1995 Aristoteles hingegen differenziert klarer zwischen einem ‚τεκμήριον‘ und einem ‚παράδειγμα‘; siehe zu dem Komplex Aristot rhet 1357 b 21–36 Siehe etwa Demosth 22,76; 23,206 f ; 24,28 f 147 184 214 Zum betreffenden Forschungsstand Powell 2007 Christos Kremmydas vertritt bezüglich der demosthenischen Rede ‚Gegen Leptines‘ (Demosth 20) die Position, dass deren Autor in hohem Grade auf den ‚λόγος‘ setze, und hält es nicht für ausgeschlossen, dass Aristoteles sich in seinen Überlegungen zu rhetorischen Syllogismen nicht zuletzt durch reale Gerichtsreden dieser Art hat inspirieren lassen; siehe Kremmydas 2007, 32–34 Dazu Kremmydas 2007, 21 Hierzu Kremmydas 2007, 31 – abermals am Beispiel der Rede ‚Gegen Leptines‘ Vgl Carey 2000, 206 Als einschlägiges Beispiel ließe sich die demosthenische Rede ‚Über die Symmorien‘ anführen (Demosth 14)
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herauszustreichen 60 Bei Demosthenes hat die Forschung diesbezüglich gar eine Entwicklung ausgemacht: In seinen Demegorien nimmt die detaillierte Auseinandersetzung mit komplexen Sachfragen mit der Zeit ab,61 wohingegen die Fokussierung von Wertfragen an Bedeutung gewinnt; zugleich verbessert sich ihre Resonanz beim Publikum 62 7 1 3 Zur Kommunikation zwischen Rednern und Auditorium Von hoher Relevanz ist in der praktischen Rhetorik die Frage, inwieweit ein Redner sich an den Erwartungen des Demos orientieren solle oder wo gegebenenfalls Distanz geboten ist 63 Einschlägig sind diesbezüglich die Demegorien, in denen Rhetoren gern betonen, nicht den momentanen Vorlieben des Demos nachzugeben, sondern auch unpopuläre Vorschläge zu unterbreiten, sofern diese auf längere Sicht eher dem ‚Nutzen‘ des Volkes zu dienen versprechen 64 Jene Ausrichtung auf den ‚Nutzen‘ hält auch Aristoteles für angezeigt;65 nichtsdestotrotz beschäftigt er sich nicht mit der rhetorischen Inszenierung, welche die aktiven Redner hiermit verknüpfen Sein Mangel an Interesse hieran begründet sich an der Stelle dadurch, dass sein Augenmerk der enthymematischen Argumentation des einzelnen Redners gilt, weniger den Spezifika des rhetorischen Agons im demegorischen Genre bzw den Details der ethopoietischen Praxis in diesem Typus der Rede Für letztere etwa ist charakteristisch, dass der Sprecher den eigenen Mut hervorhebt und betont, das Prinzip der ‚παρρησία‘ in der für die Demokratie bestmöglichen Weise zu erfüllen 66 Hier kommt es mitunter nicht nur zur Inszenierung der Konfrontation mit Kontrahenten, sondern auch zum Machtkampf mit dem Demos Redner gehen nicht selten so weit, die eigene Tatkraft massiv zu betonen, jene der Zuhörer dagegen herabzusetzen, gar die Virilität letzterer in Frage zu stellen und sie der Passivität zu bezichtigen Intention ist, deren Widerspruch zu provozieren, um sie so umso nachdrücklicher zu motivieren, dem unterbreiteten Vor-
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Im Fall der ‚Symmorien‘-Rede handelt sich sich – ausgehend von Gerüchten über Rüstungspläne der Perser – besonders um den ‚Griechen-Perser-Antagonismus‘; grundsätzlich zur Prononcierung von Werten mit argumentativer Intention Roisman 2019, 233 So verringert sich etwa die Zahl der Argumente; dazu Wooten 2019, 414 Dies geht einher mit einer Reduzierung der narrativen Passagen; zu dem Komplex Pearson 1964, bes 96 f ; Milns 2000, 210 f Zu dem Gegenstand u a Treu 1991, bes 127 Zuweilen geschieht dies auch in Anklagereden in öffentlichen Prozessen; dazu mit Blick auf Demosth 23 Martin, G 2012, 70 Aristot rhet 1358 b 22 33–36; 1362 a 18 Hierzu Miller, J 2002, 415; Balot 2004, 246–253; ders 2014, 60 f Ein spezielles Problem stellt die Bedrohung durch Gerichtsprozesse dar; eine Übersicht über die gegen bekannte Redner in Prozessen verhängten Strafen gibt Knox 1985, 141 f
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schlag nicht nur mit großer Mehrheit zuzustimmen, sondern ihn im Anschluss auch entschieden umzusetzen 67 Ungeachtet dessen ist es für den Redner in der Volksversammlung essentiell, sich nicht vom Demos zu segregieren und daher inklusive Formulierungen zu verwenden Entscheidend ist dazu u a , auf gemeinsames Wissen zu rekurrieren „Wie ihr alle wisst“ lautet bei ein bei den Rednern gängiger Topos, mit dem sich auch Aristoteles auseinandersetzt Gleichwohl sind hier abermals Unterschiede auszumachen: Der Philosoph nimmt an, dass das Argument geeignet sei, einen Gegner zur Zustimmung zu Positionen des Sprechers zu gewinnen: Aus ‚Scham‘ werde jener nicht zugeben, über die angesprochenen Informationen nicht zu verfügen – so seine Überlegung 68 Der Fokus der Redner ist hingegen darauf gerichtet, ihre Orientierung auf den Demos und Integration in die Bürgergemeinschaft zu explizieren 69 Zu dem Zweck kann gar das – ansonsten vielfach kritisch beleuchtete – ‚Gerede‘ als Ausdruck ‚öffentlicher Meinung‘ gelobt werden 70 Ein Gegenstand, der die aktiven Redner eingehend beschäftigt, ist mögliches ‚Lärmen‘ (θόρυβος) seitens der Juroren bzw Ekklesiasten Das meint zum einen eher unartikulierte Unmutsäußerungen wie ‚Murren‘, die gleichwohl geeignet sein können, einen Sprecher zu unterbrechen und am Fortfahren zu hindern, zum anderen aber auch gezielte Zwischenrufe, die sachliche Differenzen andeuten Aristoteles widmet sich diesem nicht – weder hinsichtlich der Ursachen, noch bezüglich etwaiger Reaktionen eines damit konfrontierten Redners, noch mit Blick auf die Möglichkeit, solches Verhalten als Redender selbst zu provozieren 71 Der Fokus des Philosophen ist entweder auf den Sprecher oder auf die vermeintlichen Haltungen der Hörer gerichtet, nicht jedoch auf die Interaktion zwischen beiden Dies ist bis zu einem gewissen Grad der Textgattung geschuldet, d h dem Umstand, dass antike Rhetoriken ihren Schwerpunkt auf die Tätigkeit des Rhetors legen und jenen als den zentralen Akteur
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Zu dieser Praxis Roisman 2004, 268–275; ders 2007, 402–405 Aristot rhet 1408 a 32–36; zu der Stelle Ober 1989, 149 f ; grundsätzlich auch Hesk 2007, 378 f Ober 1989, 150 macht hier zudem das Ansinnen aus, die Existenz einer face-to-face-community zu suggerieren; für Beispiele zu dem Topos aus den Rednern siehe Hesk 2000, 227–230 Siehe Aischin 2,145 150; Hyp 1,14; zu weiteren Stellen Ober 1989, 150; zur Kritik am ‚Gerede‘, das in Athen besonders in Gerichtsreden nicht selten mit Sykophantie in Verbindung gebracht (hierzu mit Belegen Ober 1989, 151) und auch von Aristoteles moniert wird (vgl Aristot rhet 1400 a 23–29; 1416 a 26–28); zur Verwendung der Kategorie der ‚öffentlichen Meinung‘ im Hinblick auf die attische Demokratie Martin, G 2012; Piepenbrink 2019 Zu jenem Phänomen in der forensischen Praxis Bers 1985, 9 f ; Thür 2007, 148; bezüglich der Kommunikation in der Volksversammlung Hansen 1987, bes 69–71; Johnstone, C L 1996, bes 123; Tacon 2001, 178 f ; mit Blick auf beide Institutionen Thomas 2011, 183 Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass Aristoteles diese Erscheinung vertraut ist; so nennt er ein entsprechendes Beispiel in einem τόπος; siehe Aristot rhet 1400 a 9 f
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konzipieren; dies trifft auch auf rhetorische Lehrbücher zu, die dezidierter anwendungsorientiert sind als die vorliegende Schrift 72 In der praktischen Rhetorik wird solches hingegen thematisiert und in der Selbstinszenierung von Rednern sowie der Konturierung ihres Verhältnisses zum Demos angebracht 73 Dabei geht es für den Sprecher einmal darum, Äußerungen des Demos als grundsätzlich legitim zu würdigen und damit sein eigenes Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien nachdrücklich zu bekunden 74 Wenn es ihm gelingt, Einstellungen des Volkes überzeugend als einseitig, nicht sachgerecht oder den eigentlichen Interessen des Demos nicht dienlich hinzustellen, kann er sich aber auch kritisch gegen entsprechende Verlautbarungen positionieren 75 Im Normalfall attackiert er dazu nicht den Demos als ganzen, sondern bescheidet sich mit der Gruppe der Rufer; vielfach aber greift er auch gezielt den politischen Gegner an, indem er jenem vorwirft, die Bürger nur einseitig zu beraten und sie zu veranlassen, abweichenden Ratschlägen von vornherein die Aufmerksamkeit zu verweigern 76 In dem Fall wählt er eine risikoärmere Strategie, bei der er in geringerem Umfang Gefahr läuft, die Politen gegen sich aufzubringen Allerdings sind in der Hinsicht Unterschiede zwischen Gerichtsreden und Demegorien auszumachen, speziell in der Art und Weise, wie Redner auf ‚Störungen‘ reagieren: In Reden vor der Volksversammlung, in denen sie sich – nicht zuletzt unter Rekurs auf das Prinzip der ‚παρρησία‘ – selbstbewusster gerieren können,77 ist offene Kritik eher möglich als vor Gericht Dort ist sie allenfalls bei Klägern in öffentlichen Prozessen statthaft, die mit Blick auf das Gemeinwohl argumentieren und dann eine ähnliche Rolle für sich reklamieren wie ein Rhetor in einer Demegorie 78
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Das gilt für das zeitgenössische Werk des Anaximenes ebenso wie für die späteren Lehrbücher, darunter jene aus dem römischen Kulturkreis; einschlägig ist diesbezüglich etwa noch Quintilians Institutio oratoria Auch Anaximenes beschäftigt sich damit und zeigt die Ambivalenz der Erscheinung auf Sein Interesse gilt vorrangig der Frage, wie ein Redner auf solches Geschehen reagieren solle Dabei unterscheidet er u a , ob der ‚Lärm‘ von einigen wenigen oder von der Mehrzahl ausgeht (Anaxim rhet 1433 a 12–19) Dazu Thomas 2011, bes 171 f 175 f ; dies 2016, bes 101 105; Rhodes 2016, 249 Einschlägig sind hier die Proömien des Demosthenes; siehe etwa Demosth exord 4; 5,2 f ; 10,2; 17; 18; 28,2; 29; 33,3; 34; 44,2; 47,2; 49,1; 56,3; aber auch in den erhaltenen Demegorien bedient er sich des Motivs; siehe besonders Demosth 1,1; 4,14; 5,3–5; zu dem Komplex Schoenfeld 1959, 201–203; Tacon 2001, 179; Worthington 2004, 133 139 Demosthenes etwa moniert, dass dies zur Folge habe, dass den Bürgern wichtige Vorschläge entgingen – indem sie Redner in der Versammlung hinderten, sich zu äußern, bzw diese zum Rückzug drängten; zu dem Komplex etwa Demosth 1,16; 3,12 f ; 4,14; 8,4 33 f 38 73–75; 9,3 f ; [Demosth ] 10,11 Zur Konzeption von ‚Redefreiheit‘– auch im Unterschied zum modernen Verständnis – und entsprechenden Verweisen in der Selbstinszenierung der attischen Redner Carter, D M 2004; Saxonhouse 2006, bes 86–88 Zu dem Themenfeld mit Stellenangaben Wallace 2004; Balot 2004; Roisman 2004; Schenkeveld 2007, 29 f
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Signifikant ist, dass Zwischenrufe teils auch darauf zielen, Sprecher, die abzuschweifen oder sich in Gemeinplätzen zu ergehen drohen, zu sachorientierten konstruktiven Aussagen anzuhalten 79 Dies differiert von der Annahme des Aristoteles, dass ein Großteil des Publikums Ausführungen letztgenannter Art nicht wertschätze und auf entsprechende Formulierungen von Rednern maximal verhalten reagiere Hintergrund ist an der Stelle ein divergierendes Verständnis dessen, was eine sachbezogene Aussage meint: Rhetoren, die sich hierzu äußern, haben allem voran valide Vorschläge mit Praktikabilitätsanspruch im Blick, die sie von eher pauschalierenden, nicht unmittelbar handlungsfokussierten Bemerkungen unterscheiden Sie zielen entsprechend auf die inhaltliche Dimension, wohingegen der Philosoph in derartigen Zusammenhängen eher die Plausibilität der Argumentation im Visier hat Eng verbunden mit der Thematik des ‚Lärmens‘ ist jene des ‚Lachens‘ der Zuhörer, das aus rednerischer Perspektive gleichfalls eine ‚Störung‘ darstellen, aber auch hochgradig affirmativen Charakters sein kann Diesem Sujet widmet sich nunmehr auch Aristoteles, indem er dem Einsatz komischer Elemente in der Rede nachgeht 80 Dabei befasst er sich – in Anlehnung an Überlegungen aus seiner ‚Poetik‘ – mit der Frage, welche Formen des Komischen für einen freien Mann schicklich sind, wobei er insbesondere die ‚Ironie‘ würdigt, die ‚Possenreißerei‘ hingegen ablehnt 81 Das jedoch stellt eher eine grundsätzliche Überlegung zu dem Sujet dar, die nicht unmittelbar mit Blick auf die öffentliche Rede formuliert ist Von direkter Relevanz für letztere ist ein anderes Moment: Unter Verweis auf Gorgias rät unser Autor, den ‚Ernst‘/‚Eifer‘ (τὴν σπουδήν) der Gegner durch Lachen und deren Lachen durch ‚Ernst‘ zunichte zu machen 82 Anders als es ansonsten seine Gewohnheit ist, bemerkt er an der Stelle ausdrücklich, dass solches in Gerichtsreden tatsächlich mit Erfolg praktiziert werde 83 Auf der Basis der tradierten Reden lässt sich diese Einschätzung vollumfänglich bestätigen: Ersteres etwa begegnet, wenn eine Partei sich darüber mokiert, dass die andere Seriosität suggeriert bzw den Eindruck zu vermitteln sucht, sie agiere in einer prekären Situation,84 letzteres wenn ein Redner die Dignität der eigenen Position herausstreichen möchte und dazu seinem Gegenüber unernst-komisches Gebaren vorwirft 85 Daneben findet sich in der rhetorischen Praxis das Phänomen, dass sexuelle Anspielungen eingesetzt 79 80 81 82 83 84 85
Zu diesem Bestreben als möglicher Motivation der Zwischenrufer Bers 1985, 12–15; Wallace 2004, 226 Vgl Aristot rhet 1419 b 3–9; dazu Spatharas 2006, 375 379; Lombardini 2013, 210 Aristot rhet 1419 b 8 f ; zu seinem Gedankengang Grant 1924, 28 f ; Arnould 1998, 19 f Aristot rhet 1419 b 4 f An einer anderen Stelle empfiehlt er auf der gleichen Grundlage, die Hörer zum Lachen zu bringen, um ihre Aufmerksamkeit von der Sache abzulenken; siehe Aristot rhet 1415 a 36–38 Aristot rhet 1419 b 3 f Aischin 3,207; Demosth 19,23; 21,194 Aischin 1,175; Demosth 19,272 Solches ist nicht auf Gerichtsreden beschränkt, sondern begegnet überdies in Demegorien; siehe z B Demosth 4,25; 9,39; [Demosth ] 10,20; zu dem Komplex Spatharas 2006, bes 386
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werden, um Gelächter zu provozieren und damit den Gegner zu desavouieren 86 Aspekte von Komik, die im mündlichen Vortrag verwendet worden sein dürften, sich in den verschrifteten Formen der Reden jedoch nicht niedergeschlagen haben und daher für die heutige Forschung nur schwer eruierbar sind,87 nennt auch Aristoteles nicht Trotz seiner ausführlichen Reflexionen über die Erwartungen des Auditoriums, mit denen er dieses als zentrale Größe im kommunikativen Geschehen würdigt, setzt unser Autor – durchaus in Übereinstimmung mit den aktiven Rhetoren – voraus, dass die öffentliche Beredsamkeit vorrangig monologisch, weniger dialogisch gestaltet ist 88 Ziel eines jeden Redners ist, eine zumindest konzeptuell vorbereitete Rede möglichst zusammenhängend präsentieren zu können 89 Des ungeachtet kommen im Rahmen von Gerichtsverfahren auch dialogische Passagen vor Dies betrifft zum einen die einleitende ‚Befragung‘ (ἀνάκρισις), die sich aber in kleinem Kreis, nicht vor einem größeren Auditorium vollzieht und demzufolge nicht im Kontext der öffentlichen Beredsamkeit reflektiert wird 90 Im Rahmen der Hauptverhandlung und damit in Anwesenheit der Juroren begegnet daneben die Einrichtung der ἐρώτησις, in der die Parteien die Möglichkeit haben, Fragen an die Gegenseite zu richten 91 Die genaue Praxis wird in der Forschung kontrovers diskutiert 92 Darüber hinaus begegnen in den erhaltenen Reden
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Vgl Aischin 1,80 84 135; Demosth 54,20; zu letztgenannter Stelle Halliwell 1991a, 287 f Zu dem Komplex Bonner 1922, 102 f ; Bers 2013, 27 Vorstellbar sind Formen der Situationskomik oder aus Kommunikationsstörungen resultierende Komik, wie sie aus der Komödie bekannt ist; zu letzteren Kloss 2001, 11–33 Hierzu Schloemann 2001, 15 f Beide denken jeweils vorrangig vom Redner aus, weniger von den kommunikativen Gefügen, in denen der Redebeitrag steht; dazu Grimaldi 1990, 65; Johnstone, S 2011, bes 150 f 155; grundsätzlich zu dem Gegenstand auch Kluwe 1983/95, bes 351; Classen 1991; Korenjak 2000, 10 Wie sich die Vorbereitung im Einzelnen vollzieht, inwieweit zumindest Teile der Rede ausformuliert werden und in welchem Grade dazu mit der Schrift gearbeitet wird, ist nach wie vor Gegenstand von Forschung Von Bedeutung ist hier nicht zuletzt die Tätigkeit der Logographen und deren Schrifteinsatz; dazu Lavency 1964, 123–152; Gagarin 2007a, 9; Trevett 2019, 423 Im vierten Jahrhundert geht es in der praktischen Rhetorik gleichwohl weniger um die Frage, ob Schrift eingesetzt wird, sondern darum, dass trotz ihrer Verwendung eine konzeptionell mündliche Rede entsteht, die den Eindruck von Spontaneität vermittelt Eben dies reflektiert auch Aristoteles; dazu mit Belegen Schloemann 2000, 208–214 Relevant für die Frage nach dem Vorbereitungsgrad von Redebeiträgen und möglicher Spontaneität ist dieses Prozedere gleichwohl insofern, als die zentralen Argumente der Gegenseite einschließlich der vorzubringenden Beweisgründe bereits hier – zumindest in Teilen – bekannt werden; zu dem Komplex Kremmydas 2019, 129 f ; vgl oben Kap 2, Anm 106 Auch die wechselseitige Befragung der Parteien im Rahmen der Hauptverhandlung (ἐρώτησις) stützt sich hierauf; dazu Kennedy 1991, 278 Ein treffliches Beispiel hierfür findet sich bei Lys 12,24–26; zu weiteren Belegen siehe Rapp 2002a, 988 Strittig ist insbesondere, inwieweit hier neue Gesichtspunkte angebracht bzw Fragen formuliert werden konnten, die nicht bereits in der ἀνάκρισις aufgeworfen worden waren; dazu mit weiteren Literaturhinweisen Carawan 1983, bes 214; Rapp 2002a, 987; Thür 2007, 133–135
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rhetorische Fragen,93 welche an den Kontrahenten wie das Auditorium adressiert sein können und mehrheitlich emotiven, appellativen oder adhortativen Charakters sind 94 Aristoteles behandelt die Thematik knapp; jedoch ist erkenntlich, dass er bereits andere Akzente setzt als Anaximenes, der ebenfalls nur kurz darauf eingeht: Nach Aristoteles sollte ein Redner mit derartigen Fragen darauf zielen, Inkonsistenzen in der gegnerischen Argumentation pointiert herauszustellen 95 Das Hauptinteresse des Philosophen in dem Zusammenhang gilt der Frage, in welchem Moment dies am effektivsten geschieht Voraussetzung für eine solche Praxis ist seinem Verständnis nach in jedem Fall, dass Aussagen des Kontrahenten vorliegen, die sich demontieren lassen 96 Anaximenes hingegen sieht in der Befragung vorzugsweise ein Mittel, die moralische Depravation des Gegners bzw das Ausmaß seines gesetzwidrigen Verhaltens zu markieren, um so die Richter nachhaltig gegen ihn einzunehmen 97 Er empfiehlt, dies im Schlussteil des eigenen Redebeitrags zu praktizieren Die Beispiele aus den erhaltenen Reden beschränken sich zwar nicht auf die peroratio, entsprechen in ihren Intentionen ansonsten jedoch eher den Ratschlägen des Anaximenes als jenen des Aristoteles, der an der Stelle abermals die logischen stärker als die normativen Defizite in den Blick nimmt 98 7.2 Zur sprachlichen Gestaltung und Tektonik der Rede In engem Verbund mit dem zu Beginn des Kapitels bereits erwähnten ‚Vortrag‘ (ὑπόκρισις) beleuchtet Aristoteles den ‚sprachlichen Ausdruck‘ (λέξις) wie auch den ‚Aufbau‘ der Rede (τάξις) 99 Dabei lässt er den beiden letztgenannten Aspekten ungleich mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden als dem ersten, da sie ihm in höherem Grade unter theoretisch-methodischen Gesichtspunkten analysierbar und damit eher geeignet scheinen, als Gegenstände einer ῥητορικὴ τέχνη gewürdigt zu werden 100 Hinzu 93
Solche haben mit dem Prozedere der ἐρώτησις in Normalfall nichts zu tun Sie sind nicht Mittel der Beweisführung, sondern haben eher den Charakter von ‚Figuren‘; dazu Martin, Jos 1974, 285 f 94 Zu dem Komplex mit Blick auf die Philippika des Demosthenes Wooten 2013, bes 369 f , der hinsichtlich der Typen und Motivationen derartiger Fragen noch weiter differenziert Fragen dieser Art hat auch Anaximenes im Blick, welcher die ἐρώτησις vorrangig als Verteidigungsstrategie präsentiert; dazu mit Belegen Todd 2002, 153 95 So besonders Aristot rhet 1418 b 40 – 1419 a 2; zu seinen Überlegungen zu dem Sujet Todd 2002, 154; Bertrand 2006, 197 96 Aristot rhet 1418 b 40 – 1419 a 19 97 Hierzu und zum Folgenden Anaxim rhet 1444 b 7 – 1445 a 2; zum Gedankengang des Anaximenes Calboli Montefusco 1988, 86–88 98 Eine Übersicht über jene Beispiele, ihre zeitliche Verortung und Verteilung auf die unterschiedlichen Prozesstypen gibt Carawan 1983 99 Zur Konzeption dieses Gegenstandes durch Aristoteles siehe besonders Aristot rhet 1403 b 14 – 1404 a 39; speziell zu seiner Verwendung des Begriffs ‚λέξις‘ Halliwell 1993, 53–55 100 Hierzu Aristot rhet 1404 a 8–12; zu der Thematik Fredal 2001, 251 f
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kommt, dass über beide bereits von anderen Verfassern gehandelt wurde, so dass er bei dem Sujet in gewohnter Form diskursiv vorgehen kann 101 7 2 1 Zum rednerischen Ausdruck Bezüglich der ‚λέξις‘ vermerkt unser Autor, dass es hier dezidiert nicht um das ‚Was‘, sondern das ‚Wie‘ der Rede gehe, was ihm zwar grundsätzlich von geringerer Relevanz, trotzdem aber von Bedeutung zu sein scheint 102 In der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand kommt er u a auf stilistische Merkmale zu sprechen, welche die Wortwahl, aber auch die Satzgestaltung und die Intensität der Ausarbeitung betreffen Seine besondere Aufmerksamkeit gilt diesbezüglich den Unterschieden unter den Gattungen So vermerkt er, dass in Demegorien wie Gerichtsreden ein schlichter Stil angemessen sei, bei dem teils improvisiert werden bzw der Eindruck von Improvisation erweckt werden könne, während Lobreden in jedem Fall vollständig schriftlich ausformuliert würden und entsprechend elaboriert seien Er differenziert in dem Zusammenhang zwischen einer ‚λέξις ἀγωνιστική‘ und einer ‚λέξις γραφική‘ und moniert – offenbar nicht zu Unrecht –, dass viele zeitgenössische Redner hier weniger kategorisch operierten 103 Ungeachtet markanter Parallelen, auf die im Folgenden näher einzugehen sein wird, betreffen die Probleme, welche der Philosoph in dem Kontext anspricht, die Praxis der öffentlichen Rede nur eingeschränkt So insinuiert er, dass sein Publikum eine kunstvolle Rede goutiere, die sich u a durch variatio im Ausdruck und Allusionen an die Poesie auszeichne, und setzt hier mit seinen Überlegungen an 104 Das umgekehrte Phänomen, dass ein Redner sich durch eine an poetischer Sprache orientierte Wortwahl vom Demos dissoziieren und letzterem so suspekt werden kann – über Antiphon wird Entsprechendes berichtet – erörtert er dabei nicht 105 Ebenso wenig berücksichtigt er den Fall, dass es einem Redner in einer Demegorie
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Vgl Cooper, C 2007, 204 Aristot rhet 1403 b 15–18 Aristot rhet 1413 b 2–10; vgl Aristot rhet 1414 a 18 f ; Buchheit 1960, 172; Zinsmaier 1999, 388; Pepe, C 2013, bes 212 f 104 Dabei kommt er auch mehrfach auf seine ‚Poetik‘ zu sprechen, deren Kenntnis er bei den Hörern voraussetzt; dazu oben Kap 2 1 105 Zu dem Komplex Carey 2000, 213; Bers 2009, 35 In Reden wird zum Teil aus der Dichtung zitiert, wobei es entscheidend darauf ankommt, dass es sich um allgemein bekannte Passagen handelt Die Mehrzahl der Zitate entstammt den homerischen Epen bzw Tragödien des fünften Jahrhunderts; dazu Dorjahn 1927, 86–93; Perlman, S 1964, 163 f ; Ford 1999, 231; grundsätzlich zu dem Gegenstand auch Ober 1989, 177–182; Ober/Strauss 1990, 251–253; Canevaro 2017, 51 f ; zur ‚Theaterkompetenz‘ des Athener Publikums Wallace 1995, bes 213; Revermann 2006, bes 99–105
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aufgrund der inhaltlichen und sprachlichen Komplexität seiner Ausführungen nicht gelingt, sich dem Auditorium hinreichend verständlich zu machen 106 Von erheblichem Belang ist für Aristoteles in dem Zusammenhang das Verhältnis von Oralität und Literalität, welches er explizit anspricht, wobei ihm an der Stelle indes nicht darum zu tun ist, sich in den einschlägigen philosophischen Disputen zu positionieren,107 sondern zu praktischen Fragen der Rhetorik Stellung zu beziehen Dazu knüpft er an in der Gesellschaft verbreitete Vorstellungen an Zu nennen ist hier insbesondere die Einschätzung, dass Gerichtsreden als konzeptionell mündliche Beiträge zu verstehen seien – unabhängig von der Intensität ihrer Vorbereitung und möglichem Einsatz der Schrift Dies entspricht der Perzeption von Glaubwürdigkeit in der Bürgerschaft, aber auch elitären Diskursen mit antisophistischer Stoßrichtung 108 Für die politische Rede scheint ihm die schriftliche Form gleichfalls ungeeignet 109 Für ihn ist an der Stelle maßgeblich, dass sie – wie die Gerichtsrede – dem Charakter der ‚Kontroverse‘ (ἀγωνιστική) entspricht und damit den Regeln der Mündlichkeit folgt; hinzu kommt, dass sie – stärker noch als die Gerichtsrede – auf ein Massenauditorium ausgerichtet und mit Großräumigkeit konfrontiert ist, so dass die Verwendung filigraner Mittel, die eine präzise schriftliche Ausarbeitung erforderten, kontraproduktiv wäre, da sie das Publikum allein aufgrund der technischen Rezeptionsbedingungen nicht erreichten 110 Hinsichtlich der realen Demegorien der Zeit ist ebenfalls davon auszugehen, dass sie im Vorfeld zumindest nicht vollständig ausformuliert wurden, wobei jedoch noch andere praktische Motive ausschlaggebend gewesen sein dürften: Aufgrund der Tatsache, dass ein Redner nicht sicher kalkulieren konnte, ob und zu welchem Zeitpunkt er in einer Debatte zu Wort kommen, wer mit welchen Argumenten bereits vor ihm gesprochen haben und wie viel Zeit ihm für seinen Beitrag eingeräumt werden würde, war hier ein erhebliches Maß an Flexibilität erforderlich 111
106 Mit dieser Problematik war offenbar Demosthenes – zusätzlich zu seiner stimmlichen Schwäche – in seinen frühen Reden vor der Volksversammlung konfrontiert; hierzu mit Belegen Cooper, C 2004, 152 f ; Worthington 2013, 37 f 88; ders 2017, 14 107 Platons Schriftkritik mit ihren spezifischen epistemologischen Grundlagen etwa ist für ihn an der Stelle nicht einschlägig 108 Hier ist im Besonderen an den Beitrag des Alkidamas zu denken, der die Anfertigung schriftlicher Manuskripte, deren Memorierung und wörtliche Wiedergabe mit einem elitären Duktus kritisiert und so die Kompetenz der Sophisten in Frage stellt; zu seinem Gedankengang sowie dessen Einordnung in den zeitgenössischen Diskurs Friemann 1990, bes 313; O’Sullivan 1992, 42–62; Edwards 2007; einen Überblick über die diesbezügliche Forschung gibt Mariß 2002, 1–10 Eine weiter gespannte Kontextualisierung leistet Thomas 2003, 187 Zu entsprechenden Einstellungen der Rhetoren des vierten Jahrhunderts, speziell mit Blick auf Gerichtsreden Lentz 1983, bes 245–247; MacDowell 2009, 2–5 109 Vgl Aristot rhet 1413 b 3–5 110 Vgl Aristot rhet 1414 a 8–11; hierzu Bers 2013, 33 111 Dazu Hudson-Williams 1951, 69 f ; Dorjahn 1957, bes 296; Usher 2007, 220; Porter, S E 2008, 302; Harris, E M 2017a, 56 Aufgrund dessen ist bei diesem Typus der Rede mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die (vollständige) Verschriftung erst nach dem Vortrag stattgefunden hat
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7 Rednerische Inszenierung und Gestaltung der Rede
Das Interesse unseres Autors gilt vorrangig der ‚λέξις γραφική‘; mit dem agonistischen Stil beschäftigt er sich kaum,112 was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass er – wie in der Forschung bereits mehrfach bemerkt – aus symbuleutischen und forensischen Reden nur ausgesprochen selten zitiert 113 Ausnahmen bilden zwei Beispiele aus Reden des Perikles und des Demosthenes zum Umgang mit Gleichnissen,114 sowie weitere des Perikles und auch u a des Iphikrates, Kephisodotos, Moirokles, Lykoleon und Peitholaos zur Formulierung von Metaphern 115 Soweit es sich auf der Grundlage der Überlieferung beurteilen lässt, haben diese ihren Ursprung in Gerichtsreden mit ausdrücklich politischer Fokussierung Die hier verwendeten Metaphern sind mehrheitlich dem Themenkreis der Außenpolitik zuzuordnen 116 Aristoteles wählt an der Stelle allein nach Maßgabe der stilistischen Relevanz; andere Aspekte wie der Typus der Rede, die Art des Falles, die Entstehungssituation oder auch die Konfliktkonstellation beschäftigen ihn in dem Zusammenhang nicht Schließlich findet sich im Umfeld der Auflistung von Enthymemen im Schlussteil des zweiten Buches ohne namentliche Nennung des Redners eine Anspielung auf eine Gerichtsrede des Lysias, bei der es um die Illustration des Topos „dass man später oder früher nicht immer dasselbe wählt“ geht 117 Möglicherweise an Lysias orientiert ist zudem der finale Satz des dritten Buches, in dem unser Autor auf die Formulierung realer Schlusssätze in Epilogen Bezug
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In Zusammenhang hiermit stehen nicht zuletzt die Forschungsdebatten über die Zielsetzungen der demosthenischen Proömiensammlung sowie über den – vor allem in der älteren Forschung teils angenommenen – ‚Pamphletcharakter‘ seiner Demegorien; zu ersterem Worthington 2004; zu letzterem Adams 1912; Drerup 1916, 58 f ; kritisch hierzu Erbse 1956, bes 373 f ; Canfora 1988, bes 215–220; Trevett 1996a, 430–437; ders 2019, 425; Tuplin 1998, bes 296; Milns 2000, 208; Hajdú 2002, 47 f ; Vatri 2017, 98 f ; grundsätzlich zur Frage der Publikation der demosthenischen Demegorien und dem Verhältnis zwischen publizierten und möglicherweise mündlich vorgetragenen Reden Hansen 1984, 60–68; zu dem Komplex mit etwas anderer Akzentuierung auch Worthington 1991, bes 55 f Hierzu auch Graff 2001, 20 Dazu u a Trevett 1996, 375–377; Graff 2001, 33–35; zu seiner Präferenz für epideiktische Reden in seinen Zitationen bereits Burgess 1902, 105 Aristot rhet 1407 a 2–8 Im Falle des Demosthenes-Zitates handelt es sich um das einzige, das Aristoteles in seiner ‚Rhetorik‘ anbringt: Jener soll über das Volk gesagt haben, es sei denen gleich, die auf Schiffen an Seekrankheit litten (Aristot rhet 1407 a 6 f ) Zur Verortung der Verweise auf Iphikrates, Kephisodotos, Moirokles, Lykoleon und Peitholaos siehe Oratores Attici, Bd 10, ed Baiter/Sauppé, 219 f 249 275 318 Aristot rhet 1411 a 1–13 Hinzu kommt ein Zitat aus einer keinem Redner eindeutig zuzuweisenden Demegorie, die Aristoteles als Beispiel für den Umgang mit ‚Synonymen‘ anführt: Iphikrates habe Kallias einen „Bettelpriester“ (μητραγύρτης), nicht jedoch einen „Fackelträger“ (δᾳδοῦχος) genannt; Aristot rhet 1405 a 19–23; vgl Graff 2001, 35 mit Anm 34 Im Vordergrund stehen Aspekte des Kriegsgeschehens, darunter die Dokumentation von ‚Tapferkeit‘, der Lobpreis von Siegen, die Konsequenzen von Niederlagen oder die Trauer über die Gefallenen (siehe Aristot rhet 1411 a 1 – b 21) Hier findet sich eine Anspielung auf Lys 34,11: „(Es wäre widersinnig), wenn wir auf der Flucht kämpften, um zurückzukehren, nach der Rückkehr aber fliehen werden, um nicht zu kämpfen“ (Aristot rhet 1399 b 16–18; übers Rapp 2002, 119); zu der Stelle Blaß 21887, 386; Graff 2001, 33
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nimmt: „Zum Schluss passt die unverbundene Form, damit es ein Schlusswort und nicht eine Rede wird: ‚Ich habe gesprochen Ihr habt gehört Ihr verfügt über die Fakten Ihr urteilt‘“ 118 Im Vergleich zu den Anspielungen auf Isokrates ist dieser Befund äußert gering 119 Umgekehrt ist in der Forschung gezeigt worden, dass die Topoi, die Aristoteles vorstellt, vorranging in panegyrischen Reden Entsprechungen haben 120 Auffällig ist ferner, dass sich ein Großteil der Isokrates-Zitate uns bekannten Reden dieses Autors zuordnen lässt, während das für die Mehrzahl der anderen nicht gilt Hierzu ist in der Forschung die These vertreten worden, dass die betreffenden Gerichtsreden möglicherweise nicht publiziert waren und Aristoteles sie aus mündlichen Vorträgen kannte Letztgültig entscheiden lässt sich dies nicht Sicher ist in jedem Fall, dass der Stagirite mit schriftlich fixierten Gerichtsreden vertraut war Offenkundig ist auch, dass er bei seinem Publikum die Kenntnis aller angeführten Reden unterstellt In jedem Fall orientiert er sich an dessen spezifischen Vorlieben, die nicht für sämtliche Lesergruppen von Reden repräsentativ sein müssen 121 Bezüglich der sprachlichen Gestaltung ist in der Praxis von höchster Priorität die ‚Klarheit‘, was insbesondere die Wortwahl betrifft, darunter die Verwendung gängiger Begriffe und den weitgehenden Verzicht auf Neologismen 122 Der Einsatz von Stilmitteln – etwa Hyperbata – dient vorrangig der Akzentuierung zentraler Begriffe 123 Metaphern werden gewöhnlich dem Alltagsleben entnommen und bevorzugt verwendet, um politisches Wohl- oder Fehlverhalten zu veranschaulichen 124 Dies reflektiert auch Aristoteles, indem er einräumt, dass durchaus ‚abgegriffene‘ und allgemeine Sentenzen zur Anwendung kommen dürfen, die besonders nützlich zu sein versprechen,
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Aristot rhet 1420 a 6–8; übers Rapp 2002, 165; vgl Lys 12,100 („Hiermit will ich meine Anklage beenden Ihr habt gehört, gesehen, gelitten Ihr habt den Schuldigen Nun urteilt“ [übers Huber]); zu dem Verweis Graff 2001, 33 mit Anm 29; Viano 2015a, 107 119 Allein an namentlichen Nennungen haben wir 29 zu verzeichnen; hinzu kommen diverse Stellen ohne Erwähnung des Autors; zur Prädominanz von Isokrates-Reden unter den Zitaten in der aristotelischen Rhetorik auch Blaß 21887, 386; Benoit 1990, 251 f 120 Georgiana P Palmer hat dies systematisch anhand der im Schlussteil des zweiten Buches aufgelisteten Topoi untersucht; zu ihren Ergebnissen siehe Palmer 1934, bes 80–84; ähnlich die Einschätzung bei Rambourg 2014, bes 350 121 So wird in der Forschung durchaus angenommen, dass Leser existierten, die selbst deliberative und forensische Reden ‚zum Vergnügen‘ gelesen haben; hierzu Usher 2004a, bes 117 f 120 mit Verweisen auf weitere Literatur 122 Diesbezüglich zu Demosthenes Ronnet 1951, bes 39 183; MacDowell 2009, 398–400; Wooten 2019, 415; zu Aischines Wooten 1988, bes 40 Auch Anaximenes streicht diesen Aspekt heraus und warnt entsprechend davor, doppeldeutige Begriffe zu verwenden oder missverständliche syntaktische Konstruktionen zu bilden; siehe Anaxim rhet 1435 a 4 f 33–36 123 Dazu wiederum anhand von Demosthenes MacDowell 2009, 401 Parallelismen verwendet er dagegen in seinen Demegorien, um die Ein- bzw Gleichförmigkeit des Fehlverhaltens des Makedonenkönigs zu betonen; dazu mit Belegen Wooten 1977, 260 124 Zu ersterem mit Blick auf Demosthenes Ronnet 1951, 166 f ; Wooten 1978, 124 f ; zu letzterem MacDowell 2009, 407
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eben weil sie weithin anerkannt sind und gut verstanden werden 125 Eine einschlägige Parallele zwischen dem rednerischen Corpus und der aristotelischen Schrift ist in der Ansicht auszumachen, dass Luzidität als vorrangiges Prinzip zu betrachten sei 126 Eine Abweichung zumindest von der demegorischen und dikanischen Praxis ist nichtsdestotrotz darin zu sehen, dass unser Autor zugleich bemerkt, dass die Rede nicht zu simpel gestaltet sein, sondern durchaus als ‚geschmückt‘ und ‚erhaben‘ perzipiert werden sollte, was gelegentliche Rekurse selbst auf poetisches Vokabular erlaube 127 Er folgt hier vorrangig Überlegungen aus seiner Poetika; daneben orientiert er sich am Prinzip der ‚μεσότης‘, das er in seinen Ethiken erörtert 128 In der Satzgestaltung operieren die attischen Redner teils mit Ellipsen, nicht nur im Sinne der Auslassung einzelner Wörter, sondern auch des Verzichts auf Bemerkungen, die sie als dem Publikum geläufig voraussetzen 129 In der Forschung wird diskutiert, inwieweit hier Parallelen zu den sogenannten unvollständigen Syllogismen auszumachen sind, die Aristoteles bespricht 130 Der Philosoph versteht darunter Enthymeme, bei denen die Prämissen, aus denen der Schluss gebildet wird, nicht eigens expliziert werden 131 Eine Parallele ist zweifelsohne darin zu erkennen, dass in beiden Fällen auf Wissen der Zuhörer rekurriert und letztere angehalten werden, die Ausführungen des Redners auf eben jener Wissensgrundlage zu komplettieren 132 Differenzen sind dahingehend auszumachen, dass die Auslassungen der Redner weniger die Prämissen, d h die normativen Fundamente ihrer Aussagen, betreffen als vielmehr narrative Elemente 133 Ausgeprägter sind an der Stelle Gemeinsamkeiten zwischen Aristoteles und Ana-
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Aristot rhet 1395 a 10–12; 1395 b 1–3; 1404 b 5–8; dazu Dover 1997, 96; grundsätzlich zu seiner Auseinandersetzung mit der Thematik der Metaphern in der ‚Rhetorik‘ Rapp 2002a, 922–930 Aristoteles bemerkt dazu ausdrücklich, dass ein Redner die von ihm geforderte Aufgabe nicht erfülle, wenn es ihm nicht gelinge, den zur Debatte stehenden Sachverhalt klar darzulegen; siehe Aristot rhet 1404 b 2 f Die Redner bedienen sich zu dem Zweck nicht selten Bildern und Metaphern, welche mit optischer Anschaulichkeit operieren und damit auf Visibilität setzen; hierzu O’Connell 2017, bes 93–100 Zur Betonung des Moments der ‚Klarheit‘ bei Aristoteles mit weiteren Belegen Halliwell 1993, 57 f ; Dover 1997, 97; zu den philosophischen Implikationen in dem Zusammenhang Rapp 2013, bes 285 f Aristot rhet 1404 b 6–12 26–30; vgl Aristot rhet 1406 a 10–17; 1406 b 24–26 Auf die ‚Poetik‘ verweist er an der Stelle explizit; siehe Aristot rhet 1404 b 7 f Generell zum Kriterium der ‚μεσότης‘ in der Auseinandersetzung mit dem ‚angemessenen‘ sprachlichen Ausdruck im dritten Buch der ‚Rhetorik‘ Rapp 2002a, 823–827; Alexiou 2014, 770 Dazu mit Beispielen aus der ‚Kranzrede‘ des Demosthenes Enos 2016, 195 f In der Forschung wird diskutiert, inwieweit an solchen Stellen Gesten zum Einsatz kamen, um die ‚Lücken‘ auszufüllen; hierzu Boegehold 1999, 93 Affirmativ zu der These Enos 2016, 195 f ; zu dem Komplex grundsätzlich Kraus 1992, Sp 1199 Zu dem Phänomen Bitzer 1959/98, 187 Diesbezüglich zu Aristoteles Aristot rhet 1357 a 18–22 Das gilt etwa für den Großteil der Beispiele, die Enos 2016, 195 f in der demosthenischen ‚Kranzrede‘ identifiziert hat, wo der Redner in seinen Ausführungen zur eigenen Person wie auch zu seinem Kontrahenten Aischines in großer Ausführlichkeit weithin Bekanntes thematisiert, dabei aber betont, keineswegs sämtliche Gesichtspunkte zur Sprache bringen zu wollen
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ximenes Der Autor der Rhetorica ad Alexandrum erwähnt ebenfalls die Möglichkeit, ein Enthymem nur zur Hälfte zu thematisieren und den Zuhörer den fehlenden Teil selbstständig ergänzen zu lassen 134 Im Unterschied zum Stagiriten, der diese Thematik eher unter logischen Gesichtspunkten beleuchtet, betrachtet er sie unter stilistischen 135 Insgesamt steht die Verwendung von ‚Tropen‘ und ‚Figuren‘ bei den Rednern in engem Zusammenhang mit ihrer jeweiligen kommunikativen Absicht; bezüglich der demosthenischen ‚Kranzrede‘ etwa wurde gezeigt, dass der Autor in hohem Grade mit Chiasmen arbeitet, um den vermeintlichen Kontrast zwischen der eigenen Person als einem seriösen, verantwortungsvollen, gemeinwohlorientierten politischen Akteur und seinem Kontrahenten Aischines, dem er gegenteilige Eigenschaften zuschreibt, herauszustreichen 136 Hinzu kommt, dass dies vor dem Hintergrund einer brisanten historischen Situation, sprich der Bedrohung durch die Makedonen, geschieht 137 Auch Aristoteles konstatiert einen Zusammenhang von ‚Angemessenheit‘ der sprachlichen Mittel und der Relevanz des zugrundeliegenden Sachverhalts;138 stärker aber fokussiert er an der Stelle die Kommunikation zwischen Redner und Auditorium, konkret das Moment, welche Phänomene die Hörer ansprechen und deren Beifall erhaschen 139 Die Rhetoren beleuchten dagegen in höherem Grade die politische Tragweite, wobei es sich an der Stelle aber nur um graduelle Unterschiede handelt Nachdrücklich betont der Philosoph ferner die Differenzen der Rede zu Epos und Tragödie, insbesondere weil er davon ausgeht, dass viele Hörer diese besonders schätzen Markant ist, dass er in dem Moment nicht das gebildete Publikum im Blick hat, sondern eher die breite Menge, welche die Auftritte von Rhapsoden und Schauspielern ebenfalls goutiere, sich aber den Spezifika der Gattungen nicht hinlänglich bewusst sei 140 Derartige Sympathien scheinen in der Tat zu existieren: So sind an demosthenischen Demegorien Beispiele für die Verwendung epischer und lyrischer 134
Er thematisiert dies unter dem Aspekt der ‚kurzen Ausdrucksweise‘ (βραχυλογεῖν); siehe Anaxim rhet 1434 b 10–17 135 Anaximenes geht es um das geschliffene, witzige, geistreiche Sprechen (‚ἀστεῖα λέγειν‘) (Anaxim rhet 1434 a 33–37) Hinzu kommt, dass er mit einem grundsätzlich anderen Verständnis von ‚Enthymem‘ operiert, das sich abweichend vom Stagiriten nicht an Syllogismen philosophischer Provenienz orientiert, sondern die Formulierung von Gegenargumenten im rhetorischen Schlagabtausch ins Zentrum der Betrachtung rückt; vgl Anaxim rhet 1430 a 35–37; zu dem Gegenstand Piazza 2011, bes 313 136 Siehe Enos 2016, 191 f 137 Zur Bedeutung dieses Aspektes in dem Zusammenhang Enos 2016, 182–184 138 Aristot rhet 1408 a 10 f Dies stellt freilich nur einen Auszug zu seinem Umgang mit dem Kriterium des πρέπον an der Stelle dar; einen Überblick über seinen diesbezüglichen Gedankengang gibt Rapp 2002a, 823–826; siehe auch Müller, J D 2011, 79–81 139 Dazu Aristot rhet 1410 b 6 – 1411 b 21 Er spricht an der Stelle von ‚τὰ ἀστεῖα‘ bzw ‚τὰ εὐδοκιμοῦντα‘ (Aristot rhet 1410 b 6 f ) 140 Aristot rhet 1404 a 24–29 Er betont demgegenüber, dass die sprachliche Form der Rede und der Dichtung verschieden seien; siehe Aristot rhet 1404 a 28 f
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Versmaße, speziell Iamben und Trochäen, nachgewiesen worden 141 Zugleich aber tun sich hier Parallelen mit der auch in der praktischen Rhetorik hin und wieder begegnenden Kritik auf, dass die Bürger Reden vielfach ästhetisch rezipierten bzw sich auf den unmittelbaren Agon der Rhetoren kaprizierten, dabei aber nicht die inhaltliche Ebene, sondern den Schaukampf an sich im Visier hätten 142 Neben den Einschränkungen in der Wortwahl und dem Einsatz von Stilmitteln, d h vor allem deren Konzentration auf die Förderung von Klarheit,143 hebt unser Autor hervor, dass eine Prosarede zwar über einen Rhythmus verfügen solle, jedoch nicht über ein Metrum 144 Er empfiehlt für den Satzanfang wie das Satzende verschiedene Typen des Paians;145 für die Satzklausel rät er zu drei kurzen und einer langen Silbe 146 Diese Variante ist auch bei Demosthenes belegt, dominiert bei ihm allerdings nicht 147 7 2 2 Zum Aufbau von Reden Der Philosoph moniert, dass seine Vorgänger sich ausnehmend intensiv mit der Tektonik der Rede, also ihren Teilen und deren Arrangement, beschäftigt hätten 148 Auf der Grundlage der Überlieferung dürfen wir annehmen, dass dies auf die sophistische Rhetorik in der Tat zutrifft 149 Aristoteles weist das – zu seiner Zeit bereits etablierte – Schema aus Einleitung, Sachbericht, Beweis und Schluss keinesfalls zurück,150 hält es aber für die Konturierung der Rhetorik für nachrangig 151 In Sonderheit beklagt er, dass nachgerade das προοίμιον, aber auch die διήγησις und die übrigen Teile bislang unverhältnismäßig großes Interesse auf sich gezogen hätten, und zwar geleitet durch die Fragestellung, wie sich das Auditorium dort am effektivsten emotional ansprechen lasse 152 Dies trifft de facto u a auf Anaximenes zu, welcher bemerkt, dass es in der ‚Einleitung‘ gelte, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, und bereits hier die entscheidenden Weichenstellungen für die Erringung des ‚Wohlwollens‘ vor-
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Siehe Donnet 1975, 408 f Dazu oben Kap 2 2 3 Aristot rhet 1407 b 31 f Zu dem Komplex Aristot rhet 1408 b 21–1409 a 21; zu seinen diesbezüglichen Überlegungen Rapp 2002a, 869 f Aristot rhet 1409 a 8–11 Aristot rhet 1409 a 15–17 Dazu McCabe, D F 1981, bes 169; Dover 1997, 175 Generell zu markanten Klauseln bei Demosthenes siehe Batschelet-Massini 1980, 508 Zu dem Vorwurf u a Kennedy 1959, bes 169 f 173 178; Rapp 2002a, 954 1000–1007; de Brauw 2007, 189 Hierzu mit Belegen Schirren 2009, 1516 f Er führt es seinerseits an, ohne es in Frage zu stellen; siehe Aristot rhet 1414 b 19 – 1420 a 8 Siehe Aristot rhet 1414 a 37; 1414 b 13–18 Aristot rhet 1354 b 16–18; dazu Beck, I 1970, 307 f
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zunehmen seien 153 In der Rhetorik der attischen Demokratie wird analog verfahren 154 Aristoteles dagegen bemängelt die Fokussierung der Emotionen; zudem betont er, dass ein Redner sich zu bemühen habe, das Interesse der Hörer über die gesamte Rede hindurch aufrechtzuerhalten 155 Dies betrifft in der Praxis allem voran die epideiktischen Beiträge, bei denen die Konzentration auf den Anfang insofern nicht ganz so essentiell ist wie bei den anderen Genres, als sie in geringerem Umfang als die übrigen in Kommunikationssituationen stehen, in denen es wesentlich darauf ankommt, den Einstieg erfolgreich zu bewältigen, um das Entscheidungsverhalten der jeweiligen Versammlung frühestmöglich zu präjudizieren In seinen Ausführungen zum Schlussteil folgt unser Autor dann stärker der Redepraxis seiner Zeit, etwa indem er einräumt, dass es sich hier anbiete, mit ethopoietischen Aussagen zu arbeiten 156 Hinsichtlich der Beschäftigung mit dem ‚Sachbericht‘ (διήγησις) vermerkt der Stagirite kritisch, dass dort bisher in hohem Maße über quantitative Aspekte, speziell die geeignete Länge narrativer Passagen gehandelt worden sei; ihm scheint es dagegen sinnvoller, nach sachlicher Angemessenheit zu fragen 157 Auch plädiert er dafür, an der Stelle gattungsdifferenziert zu verfahren, was er im sophistischen Schrifttum, dem in dem Zusammenhang seine Hauptaufmerksamkeit gilt, vermisst 158 In der rhetorischen Praxis hingegen lässt sich ein gattungsbezogenes Vorgehen durchaus beobachten: In epideiktischen Reden der Zeit etwa fehlen narrative Passus nicht selten fast vollständig 159 Gleiches gilt für Demegorien, speziell wenn sie Thematiken traktieren, die in der Stadt bereits eingehend diskutiert werden und zu denen sich schon andere Rhetoren ausführlich geäußert haben 160 Am stärksten vertreten sind berichtende Abschnitte in forensischen Reden, wo sie auch im Verständnis des Aristoteles am ehesten zu ver-
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Anaxim rhet 1436 a 33 – b 36; hierzu Calboli Montefusco 1988, 4 f Diesbezüglich zu den Proömien der lysianischen Reden Grau 1971, bes 6; zu jenen des Isaios Edwards 2015, bes 51 f 155 Aristot rhet 1415 b 9–12; zu dem Komplex Seebert 2017, 21 f 156 Aristot rhet 1419 b 10–26; zur Gestaltung von Proömien und Epilogen in realen Reden Usher 1999, 22–26; de Brauw 2007, 191–193 196–198 157 Aristot rhet 1416 b 34–36 Auch die Demonstration des rednerischen ἦθος, die nach Aristoteles argumentativ geleistet werden sollte, verortet er an dieser Stelle; siehe Aristot rhet 1417 a 3–8; hierzu Knape 2003, Sp 99 f 158 Aristot rhet 1414 a 37 – b 18 159 Vgl Volonaki 2014, 33 Aristoteles hingegen schließt solche nicht gänzlich aus, bemerkt aber, dass hier nicht fortlaufend in längeren zusammenhängenden Passagen erzählt werde, sondern gewissermaßen in Etappen; siehe Aristot rhet 1416 b 16–18 160 Dies trifft auf die Mehrzahl der Reden des Demosthenes zu, ausgenommen die Rede über die Symmorien (Demosth 14), die – vom Rekurs auf populäre Antagonismen einmal abgesehen – in höherem Grade als seine übrigen Volksreden darauf abzielt, Sachinformationen zu vermitteln und inhaltliche Fragen zu diskutieren; zu seiner Argumentation in der Rede Karvounis 2002, 78–106; zum Gegenstand der von ihm vorgeschlagenen Reform der Symmorien Ruschenbusch 1978, 282 f ; Gabrielsen 1994, 207–213; Burke 2002, 179 f ; ders 2019, 149 f
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orten sind 161 Eine Besonderheit der Praxis, die bei dem Stagiriten nicht zur Sprache kommt, ist darin zu sehen, dass zwischen Reden aus öffentlichen und privaten Prozessen unterschieden wird: In letzteren sind diegetische Passagen in aller Regel deutlich ausführlicher gestaltet, was damit zu tun hat, dass Tathergänge hier detaillierter dargelegt werden müssen als in öffentlichen Prozessen, in denen das Geschehen oftmals als den Juroren bereits bekannt vorausgesetzt wird 162 Aristoteles persönlich favorisiert ein gänzlich anderes Schema, das sich nicht an der Tektonik der Rede und deren pragmatischer Dimension, sondern an ihrer argumentativen Gestaltung orientiert So plädiert er für eine Gliederung auf der Grundlage der Argumentationsschritte, die allein zwischen dem Aufstellen einer ‚Behauptung‘ (πρόθεσις) und deren ‚Glaubhaftmachung‘ (πίστις) kategorial unterscheidet 163
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Vgl Aristot rhet 1414 a 37 f ; dagegen zum demegorischen Genre Aristot rhet 1417 b 12–20; zur rhetorischen Praxis mit Blick auf forensische Reden Pearson 1976, 39–74; zu den Überlegungen des Aristoteles sowie zur Redepraxis grundsätzlich auch de Brauw 2007, 194 Daneben werden solche Passagen auch zu ethopoietischen Zwecken verwendet; dazu – mit Blick auf die erste Rede des Lysias – Chiron 2015a, 42–44 Aristot rhet 1414 a 35 f ; hierzu Beck, I 1970, 307
8 Zusammenfassung Ziel der Studie war eine historische Verortung der ‚Rhetorik‘ des Aristoteles, konkret die Ermittlung von Kongruenzen resp Divergenzen zum geschichtlichen Umfeld und die Bestimmung von deren Ursachen Hierbei handelte es sich um ein Desiderat, das sich in der philologischen, der philosophischen und der historischen Forschung gleichermaßen aufgetan hatte Unser Hauptaugenmerk galt dabei – dem Gegenstand entsprechend – dem Vergleich mit der zeitgenössischen Praxis der öffentlichen Rede und den ihr zugrundliegenden Haltungen und Einstellungen Das Ergebnis ist multidimensional und vielschichtig Im folgenden Fazit soll es nicht darum gehen, die zahlreichen Beobachtungen aus den einzelnen Kapiteln nochmals im Detail zu präsentieren, sondern eine systematische Zusammenfassung und Auswertung der Resultate vorzunehmen Parallelen zur soziopolitischen Umwelt sind insbesondere hinsichtlich des agonalen Settings auszumachen, das die Kommunikationssituationen, in denen öffentliche Rhetorik in der Zeit situiert ist, kennzeichnet Unmittelbar hiermit verbunden sind die prägnante Stellung kompetitiver Werte und deren Bedeutung für die Strukturierung des Handelns Hinzu kommt die zentrale Rolle der Rhetorik in den Entscheidungsgremien der Polis Dies betrifft namentlich die Volksversammlung wie auch die Dikasterien, in denen es jeweils verbal zu überzeugen gilt Letzteres ist in hohem Grade den institutionellen Rahmenbedingungen geschuldet, darunter der geringen organisatorischen Fundierung der politischen Initiative und ihrer Träger wie auch der nur ansatzweise vorhandenen systemischen Ausdifferenzierung des Gerichtswesens, das in hohem Maße in die politische Gemeinschaft ‚eingebettet‘ ist Dies manifestiert sich in der spezifischen Präsentation der Bürger vor Gericht, ihrer Schilderung der Konflikte wie auch ihrem Umgang mit Gesetzen und sonstigen gerichtlichen Beweismitteln Da Aristoteles öffentliche Rhetorik auf der Grundlage seiner konzeptuellen Überlegungen in der Polis seiner Zeit lokalisiert, schlägt sich all das in seinen Ausführungen signifikant nieder Obwohl sich seine Reflexionen nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Typus der Polisordnung konzentrieren, folgt er nachgerade den Bedingungen der demokratisch verfassten Stadt, namentlich jenen des klassischen Athen Dies ist zum Teil biographischen Faktoren geschuldet, trägt aber zugleich der Tatsache Rechnung, dass die demokratisch organisierte Polis im Verständnis seiner Zeit das ausgedehnteste Betätigungsfeld für die Redekunst bietet Festzustellen ist allerdings,
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dass er sich mit Blick auf Athen – ähnlich seinen Ausführungen in der ‚Politik‘ – partiell noch an den Verhältnissen des fünften Jahrhunderts orientiert und grundlegende Transformationen des vierten nur in Ansätzen aufgreift Divergenzen speziell zum demokratischen Kontext sind vor allem darin zu sehen, dass der Philosoph grundsätzlich von Akteuren mit einem elitären Habitus ausgeht Obgleich ihm bewusst ist, dass die Auditorien sich großenteils aus Personen mit anderem sozialen Status zusammensetzen, zieht er hieraus nur eingeschränkt Konsequenzen, die zudem vorrangig die rhetorisch-konzeptuelle Ebene betreffen, nicht so sehr die sozial-kommunikative So berücksichtigt er bei seinem Entwurf einer ῥητορικὴ τέχνη, dass das Gros der Bürger vorrangig emotional adressierbar ist und eine betont rational orientierte Rhetorik nur eingeschränkt wertschätzt Dass hier aber nicht nur mögliche intellektuelle Schwächen resp Bildungsdefizite zahlreicher Einzelpersonen zum Ausdruck kommen, sondern auch sachlich begründete soziale Vorbehalte der Polisgemeinschaft bestehen, reflektiert er nicht Damit korrespondiert, dass er auch die gesellschaftliche Erwartung, dass die Angehörigen der politischen Führungsschicht sich konsequent in die Bürgerschaft integrieren, nicht thematisiert Ähnlich geartet ist das Phänomen, dass unser Autor in der Beschäftigung mit einer adäquaten Präsentation des Redners keine entschiedene Skepsis gegenüber der Herausstellung von rhetorischer Expertise zeigt, wie sie in der Redepraxis gängig ist Insgesamt, d h bei den Ausführungen zu allen drei Gattungen der öffentlichen Rede, sind bei ihm politische Implikationen im Sinne der Ausrichtung auf politische Zielsetzungen und Werthaltungen der betreffenden Polis, aber auch auf genuin politische Handlungskonstellationen innerhalb der einzelnen Stadt sowie im interstaatlichen Bereich geringer ausgeprägt als in der praktischen Rhetorik seiner Zeit Obschon er explizit voraussetzt, dass ein guter Redner stets zum Wohl der jeweiligen Polis argumentiert, fordert er von letzterem keine vergleichbar entschiedene Identifikation mit der fraglichen Stadt Auf dem Feld reflektiert er im Ganzen elitäre Positionen, welche dem Selbstverständnis seiner Adressaten entsprechen, die in der Polis hingegen zwar partiell, aber nicht vollumfänglich konsensfähig sind Teils zeigt er eine distanzierte Haltung, die zudem durch die Spezifika seines politischen Denkens gekennzeichnet ist und in ähnlicher Weise in den Politika aufscheint In einigen Fällen lässt sich dabei beobachten, dass er Positionen, die er in jenem Opus vertritt, auf die ‚Rhetorik‘ und den dort präsentierten Typus des Redners transferiert Genuin philosophische Reflexionen kommen in dem Werk in geringerem Umfang zum Tragen als in anderen seiner praktisch-philosophischen Schriften, darunter der ‚Politik‘ und den Ethiken Zu denken wäre etwa an naturrechtlich-ontologische oder ethische Prämissen, die vom common sense erheblich differieren Das meint freilich nicht, dass solcherlei Motive in der ‚Rhetorik‘ nicht wiederholt anklingen; allerdings überlagern sie dort lebensweltlich geprägte Beobachtungen weniger stark Insofern sind Divergenzen vom Alltagsverständnis in der vorliegenden Schrift nicht in vergleichbarem Ausmaß auf die Orientierung an Philosophemen zurückzuführen wie in
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den übrigen Arbeiten Ungeachtet dessen kommen philosophische Theoreme auch in der ‚Rhetorik‘ vor: Am massivsten finden sie sich in der Auseinandersetzung mit deliktischem Verhalten, die Aristoteles zu einer Beschäftigung mit Handlungsmotivationen im weitesten Sinne veranlasst Dabei manifestieren sie sich vor allem in der Tatsache, dass unser Autor die Akteure vorrangig als Einzelne mit differierenden charakterlichen Dispositionen und unterschiedlich intensiver ethischer Instruktion versteht Soziale Konfigurationen, im Speziellen die Familie als zentraler Bezugspunkt des Handelns, aber auch als markantes Konfliktfeld, treten demgegenüber in den Hintergrund Berücksichtigung findet dagegen die Freundschaft, die in der ‚Rhetorik‘ gleichwohl diverse Facetten aufweist, welche in unterschiedlichem Maße an der Lebenswelt orientiert sind In hohem Grade durch die Umwelt geprägt sind Überlegungen, welche den ‚Freund‘ im Kontrast zum ‚Feind‘ definieren und so mit der herkömmlichen ‚Freund-Feind-Dichotomie‘ operieren Stark philosophischen Ansätzen verhaftet, die von der Alltagspraxis abweichen, sind demgegenüber seine Vorstellungen zur altruistischen Ausprägung von Freundschaft Intertextuelle Bezüge zwischen der aristotelischen ‚Rhetorik‘ und den erhaltenen Reden sind eher rar: Ein Großteil der Zitationen, welche der Verfasser anbringt, entstammt anderen literarischen Genres;1 wenn er aus Redezeugnissen zitiert, handelt es sich vorrangig um solche epideiktischer Natur, welche er persönlich wie auch seine mutmaßlichen Rezipienten am stärksten wertschätzen, die in der Polis aber geringere Popularität genießen als Demegorien und insbesondere forensische Arbeiten Einschlägige Hinweise darauf, dass zeitgenössische aktive Redner seine Schrift konsultiert hätten, liegen nicht vor Das nimmt insofern nicht wunder, als sein Traktat keine unmittelbar praktische Intention im Sinne eines ‚Lehrbuches‘ verfolgt, sondern primär intendiert, die Rhetorik als intellektuelle Disziplin zu stärken und sie in intellektuellen Diskursen zu platzieren, welche die rednerische Praxis nur in Teilen tangieren Dies hat vielfältige Konsequenzen auch für sein Arrangement des Stoffes, was sich nicht zuletzt bei der Frage nach der historischen Verortung niederschlägt Die relative Trennung von inhaltlichen und methodischen Gesichtspunkten etwa, also zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘, die er verbreitet praktiziert, führt u a dazu, dass er teils Sachphänomene in den Blick nimmt, die zwar im kulturellen Kontext zu verorten sind, den Regeln des rhetorischen Diskurses aber dennoch nicht entsprechen und in einer öffentlichen Rede nicht sagbar wären Dies begegnet zuvorderst auf dem Feld der Handlungsmotivationen wie auch der Emotionen, darunter uneingeschränkte Plädoyers für kompetitive Orientierungen, die nicht mit Blick auf die Interessen der Polis modifiziert werden, oder auch Bezugnahmen auf Handlungskonstellationen, die im gesellschaftlichen Leben vorkommen können, in der gerichtlichen Interaktion aber
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Verbreitet begegnen Zitate aus Dramen; dazu mit Belegen Edwards 2019, 333 f
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mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht begegnen und sich insofern nicht in der Forensik niederschlagen Jene in Teilen vorgenommene Differenzierung zwischen Sach- und Methodengesichtspunkten hat zugleich zur Konsequenz, dass der Philosoph performative Aspekte und wirkungsästhetische Fragen per se würdigt Wie in vielen anderen Zusammenhängen distanziert er sich auf diesem Feld von älteren Überlegungen aus dem Kreis der Sophistik Dem sozialen Comment der eigenen Zeit steht er hingegen vergleichsweise nahe Im letztgenannten Fall tun sich Parallelen zum Umfeld auf, die der Stagirite seinerseits nicht bewusst perzipiert, da er an der Stelle die sophistische Rhetorik fokussiert und deren Diskrepanzen zur zeitgenössischen Rede nicht ins Visier nimmt Zahlreiche andere Kongruenzen – gerade jene auf dem Feld der Rahmenbedingungen der Beredsamkeit wie auch der Bezugnahme auf kompetitive Werte – sind hingegen von unserem Autor offenkundig intendiert Schließlich stoßen wir wiederholt auf das Phänomen, dass er selbst zwar insinuiert, dem common sense zu folgen, tatsächlich aber zumindest von dem der demokratisch verfassten Polis abweicht Letzteres betrifft nachgerade Situationen, in denen Agonalität in der Praxis zwar nicht unterbunden, aber durch Maßnahmen, die auf politische und soziale Kohäsion zielen, gedämpft wird
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146 112 150 72 160 66 160 32 146 134 160 134 159 140 157 157 96 80 90 80 133 141 141 82 141 141 91 159 151 66 80
3,252 f 3,255
82 141
Aischylos Eumeniden 698–706
104
Anaximenes Rhetorica ad Alexandrum 1421 b 7 f 27 1421 b 35–1422 a 4 73 1422 a 2 f 68 1422 b 1–1423 b 9 28 1423 a 20–26 39 1423 a 23 45 1423 a 29–32 45 1424 a 10–12 68 1424 b 15–18 43 1424 b 17 43 1426 b 36–1427 a 3 90 1428 a 1–4 50 1428 a 19–23 67 1428 a 22 f 68 1430 a 35–37 167 1431 b 9–19 68 1432 a 27 f 86 1433 a 12–19 158 1434 a 33–37 167 1434 b 10–17 167 1435 a 4 f 165 1435 a 33–36 165 1436 a 33 – b 36 169
1436 b 1–3 1436 b 34–36 1438 b 30 f 1438 b 36 f 1439 a 1–4 1439 b 17 1440 a 28 f 1443 a 15–28 1444 b 7–1445 a 2 1445 a 16–19
152 152 28 68 47 88 88 74 161 100
Andokides 1,141 4,11
96 103
Antiphon Oratio 1 2,1,5 2,1,9 f 2,2,13 2,3,9 2,4,10 3,2,2 4,1,5 4,2,8 f 5,4 5,11 5,25 f 5,31 f 5,37 5,43
56 153 153 75 153 153 153 80 80 97 80 153 86 153 153
232
Register
5,63 5,73 6 6,3
153 95 56 80
Aristoteles Eudemische Ethik 1219 b 8–16
1314 b 36–1315 a 4 1317 b 2 f 1317 b 11–14 1317 b 32 f 1319 b 20–25 1328 b 37–40
46 38 38 45 46 135
50
Fragmente frg 94 (ed Rose)
116
Metaphysik 980 a 21
147
Rhetorik 1354 a 1 1354 a 1–7 1354 a 5–18 1354 a 8–16 1354 a 14–25 1354 a 16–18 1354 a 21–24 1354 a 23 f 1354 a 24 f 1354 a 31–33 1354 a 31–35 1354 b 4 1354 b 11–16 1354 b 16–18 1354 b 16–22 1354 b 22–25 1354 b 22–29 1354 b 22–1355 a 1 1354 b 28–31 1354 b 31–35 1355 a 19 f 1355 a 27–29 1355 a 29 – b 7 1355 b 4–8 1355 b 9–11 1355 b 31–34 1355 b 35–1356 a 6 1355 b 37–39 1356 a 1–27 1356 a 2 1356 a 2–4 1356 a 7 f 1356 a 8–10 1356 a 9 f 1356 a 10–12 1356 a 12 f 1356 a 14 1356 a 20–22 1356 a 24–26
19 19 72 97 90 96 18 71 96 71 70 27 70 168 72 36 30 33 34 29 72 19 124 24, 124 20 20 67 68 24 121 140 119 68 68 54 34 93 40 19
Nikomachische Ethik 1097 b 6–20 124 1101 b 31–34 50 1104 a 10–27 57 1129 b 32 f 137 1144 a 23–29 152 1145 a 16 f 57 1145 a 35 f 57 1149 a 19 57 1149 b 25 57 1150 b 19–22 57 1150 b 33 f 57 1155 a 3–1172 a 15 62 1156 b 6–35 63 1164 b 13 85 Politik 1252 b 27–29 1253 a 1–4 1277 a 1 1279 a 17–21 1280 a 24 f 1281 a 34–39 1286 a 7–9 1287 b 15–18 1287 b 19–22 1292 a 7–9 1292 a 29 f 1292 a 32 1296 a 8–10 1298 a 4 f 1298 a 4–9
124 124 122 43, 71 38 26 26 71 26 45 45 43, 71 118 41 39
1356 a 25–32 1356 b 2–5 1356 b 12 f 1356 b 12–14 1357 a 12–16 1357 a 18–22 1357 a 34 1357 b 2–21 1357 b 15 f 1357 b 19 f 1357 b 21–36 1358 a 10–26 1358 a 36 – b 8 1358 b 4–7 1358 b 6 1358 b 7–21 1358 b 9 f 1358 b 12 f 1358 b 13–20 1358 b 21–29 1358 b 22 1358 b 25–33 1358 b 33–36 1358 b 33–37 1359 a 8 1359 a 15 f 1359 a 28 f 1359 b 8–18 1359 b 23–26 1359 b 23–32 1359 b 30–32 1359 b 33–1360 a 5 1359 b 36 f 1359 b 37–1360 a 2 1360 a 6–11 1360 a 12–17 1360 a 13 f 1360 a 18–20 1360 a 18–37 1360 a 20 1360 a 20–30 1360 a 23–30 1360 a 26 1360 a 27–30 1360 a 30–34 1360 a 36–38 1360 b 4–7
25 40 19 19 40 166 153 154 154 154 155 21 27 29, 52 53 46 22 49 29 27 156 32 156 39 153 20 29 25 40 40 41 41 41 41 41 42 42 105 42 25 43 43 25 43 43 25 125
233
1 Quellen
1360 b 4–18 1360 b 14–16 1360 b 14–30 1360 b 15–17 1360 b 19–28 1360 b 21–23 1360 b 26 f 1360 b 26–28 1360 b 31–1361 a 11 1360 b 31 f 1360 b 32–38 1360 b 34 f 1361 a 13–15 1361 a 13–25 1361 a 14–19 1361 a 16–19 1361 a 17 1361 a 19–21 1361 a 23 f 1361 a 25 1361 a 28 1361 a 28 f 1361 a 28–30 1361 a 30 f 1361 a 34 f 1361 a 36 1361 a 36 f 1361 b 3–13 1361 b 7–14 1361 b 12 f 1361 b 15–27 1361 b 27–34 1361 b 28–30 1361 b 35 f 1361 b 35–37 1362 a 15–21 1362 a 17 f 1362 a 18 1362 a 21 f 1362 a 21–29 1362 b 1–4 1362 b 2–5 1362 b 10–12 1362 b 13 f 1362 b 14–22 1362 b 22–28 1362 b 29 f
121 123 125 125 129 125 129 123 127 127 127 128 130 129 130 130 130 131 130 131 131 143 131 144 132 132 132 125 134, 136 136 134 137 137 133 133 37 46 156 37 123 124 123 123 137 124 124 125
1362 b 29–35 1363 a 7 f 1363 a 7–10 1363 a 9–11 1363 a 20 f 1363 a 21 f 1363 a 33 f 1363 b 5–7 1363 b 5–12 1363 b 12–14 1364 a 19–22 1364 b 14 f 1365 a 30–33 1365 b 33 1366 a 4 f 1366 a 5 1366 a 23–25 1366 a 37 f 1366 b 1 1366 b 1–3 1366 b 3–9 1366 b 6 f 1366 b 7 1366 b 7–9 1366 b 10 1366 b 10 f 1366 b 11–13 1366 b 13–15 1366 b 17–20 1366 b 20–22 1366 b 35–39 1366 b 35–1367 a 5 1367 a 25–27 1367 a 27–33 1367 a 28–30 1367 a 30–32 1367 b 21–25 1367 b 28 f 1367 b 28–1368 a 29 1367 b 29 f 1367 b 34–36 1368 a 10–29 1368 a 11 1368 a 29–31 1368 b 6–12 1368 b 7–9 1368 b 9–12
124 126 126 125 62 133 62, 133 126 126 37, 126 56 124 52 25 37 25 126 124 138 138 143 138 143 143 31 31 142 145 143 146 138 137 130 135 136 135 f 137 49 49 49 f 49 50 51 47 55 73 55
1368 b 12–14 1368 b 34–1369 a 4 1369 a 1–4 1369 a 4 1369 a 9–19 1369 b 12–14 1369 b 33–1372 a 3 1370 a 16–19 1370 b 26–34 1370 b 30 1370 b 32–1371 a 10 1371 a 6–8 1371 a 21–23 1372 a 18–20 1372 a 20 f 1372 a 35 f 1372 b 19 f 1372 b 19–21 1372 b 23–1373 a 27 1373 a 33–35 1373 a 34 1373 a 34 f 1373 a 36–38 1373 b 9–13 1373 b 18–27 1373 b 36–38 1374 a 1–9 1374 a 1 – b 23 1374 a 20–26 1374 a 26–28 1374 b 2–23 1374 b 19–22 1374 b 24–1375 a 21 1375 a 6 f 1375 a 8–11 1375 a 24 f 1375 a 27–29 1375 a 27–31 1375 b 3–5 1375 b 10 f 1375 b 11–13 1375 b 13 f 1375 b 16 f 1375 b 28 1375 b 28–34 1376 a 8 f 1376 a 9–11
57 56 58 58 58 60 59 58 147 58 31 23 63 62 63 64, 118 64, 118 64 59 108 34 61 61 73 34 93 73 56 73 74 74 76 34, 56 55 77 68 73 73 73 83 73 73 76 82 82 82 82
234 1376 a 15 f 1376 a 17–23 1376 a 18 1376 a 19 1376 a 24–26 1376 a 25 1376 a 29–32 1376 a 33 – b 2 1376 b 2–5 1376 b 8 f 1376 b 8–11 1376 b 9 f 1376 b 21–23 1376 b 24 f 1376 b 29 f 1377 a 3–5 1377 a 8–11 1377 a 12 1377 a 15–17 1377 a 25 f 1377 b 9–12 1377 b 16–20 1377 b 23–1378 a 1 1377 b 29–31 1378 a 6–12 1378 a 8 1378 a 14 f 1378 a 19–22 1378 a 20 1378 a 24–26 1378 a 30 f 1378 a 30–1388 b 30 1378 a 30–1388 b 31 1378 a 31–34 1378 a 32–34 1378 b 1 f 1378 b 14–1380 a 5 1378 b 15 1378 b 15–17 1378 b 23–30 1378 b 23–31 1378 b 28 f 1379 a 1 f 1379 a 36 f 1379 b 2 f 1379 b 8–10 1379 b 23–27
Register
82 81 153 76 81 81 81 83 83 85 84 83 85 84 27 85 79 79 79 79 80 87 93 34, 119 68 140 140 87 88 89 89 87 88 60 92 89 99 57 91 106 57 57 93 93 92 92 89
1379 b 27 f 1380 a 2 f 1380 a 6–34 1380 a 8 f 1380 a 14–16 1380 a 16–19 1380 a 22–29 1380 b 2 f 1380 b 35–1382 a 19 1381 a – b 1381 a 10–14 1381 a 11 1381 a 11 f 1381 a 22 f 1381 a 23 f 1381 b 34 1382 a 1 1382 a 1–19 1382 a 3–7 1382 a 26 f 1382 b 5 f 1382 b 15–18 1382 b 19–21 1382 b 20 1383 a 13–19 1383 a 25–34 1383 a 29 f 1383 b 1–3 1383 b 11–1385 a 15 1383 b 15–18 1383 b 18–20 1384 a 2–4 1384 a 3–5 1384 a 4 1384 a 8–12 1384 a 15–20 1384 a 21–25 1384 a 30 f 1384 a 33 – b 1 1384 b 7–12 1384 b 9 f 1384 b 18–20 1385 a 3 1385 a 8–10 1385 a 16–20 1385 a 20 f 1385 a 25 f
60 93 88 99 99 99 99 99 88 134 144 144 144 135 130 144 94 88, 94 94 104 64 103 24 24 103 105 103 105 f 106 107 108 108 107 109 110 107 106 f 64 109 109 109 107 107 109 144 145 145
1385 a 27 f 1386 a 1–3 1386 a 18 1386 a 24–29 1386 a 25 f 1386 a 25–27 1386 a 32–34 1386 a 32–35 1386 b 9 f 1386 b 12 f 1386 b 14 f 1387 a 6 – b 3 1387 a 6 – b 15 1387 a 18 f 1387 a 29–31 1387 b 18–21 1387 b 21–34 1387 b 22–1388 a 5 1388 a 35 – b 3 1388 b 21 f 1388 b 36 1389 a 3–11 1389 a 11–35 1390 a 28 – b 3 1390 b 14–31 1390 b 16 f 1390 b 18–21 1390 b 28 f 1390 b 28–32 1391 a 14–19 1391 a 20–29 1391 a 22–26 1391 a 27 f 1391 b 4–6 1391 b 27–29 1392 a 6 f 1392 a 8 – b 14 1392 b 15–1393 a 22 1393 a 28–1394 a 18 1393 b 24 1394 a 2–8 1394 b 27–34 1395 a 10–12 1395 b 1–3 1396 a 12 f 1396 b 3 f 1396 b 4 f
19 111 95 111 95 95 148 96 94, 100 94 101 101 100 117 117 93 100 100 100 132 111 112 112 111 115 115 115 117 117 117 115 117 116 117 153 29 153 153 47 47 47 147 166 166 49 19 20
235
1 Quellen
1396 b 22–25 1398 a 28 f 1399 a 11–15 1399 b 16–18 1400 a 8 1400 a 9 f 1400 a 23–29 1400 b 26–30 1402 a 4–28 1402 a 8–28 1402 a 24 f 1402 a 34 f 1402 b 13–1403 a 1 1402 b 33 f 1403 a 31–33 1403 b 14–1404 a 39 1403 b 15–18 1403 b 15–25 1403 b 20–22 1403 b 22–27 1403 b 26–1404 a 8 1403 b 27–31 1403 b 27–35 1403 b 34–36 1403 b 35 1403 b 37 1404 a 3–8 1404 a 4 f 1404 a 8–12 1404 a 8–28 1404 a 14 f 1404 a 15 f 1404 a 17 f 1404 a 24–29 1404 a 28 f 1404 b 2 f 1404 b 5–8 1404 b 6–12 1404 b 7 f 1404 b 18 f 1404 b 19–21 1404 b 22–24 1404 b 26 f 1404 b 26–30 1405 a 5 f 1405 a 19–23 1406 a 10–17
154 19 147 164 153 157 157 154 31 153 30 19 153 76 19 161 162 149 149 148 149 148 149 149 148 148 72 148 161 153 149 149 149 167 167 166 166 166 166 152 152 18 19 166 19 164 166
1406 b 20–1407 a 18 1406 b 24–26 1407 a 2–8 1407 a 6 f 1407 b 31 f 1408 a 10 f 1408 a 32–36 1408 b 21–1409 a 21 1409 a 8–11 1409 a 15–17 1410 b 6 f 1410 b 6–1411 b 21 1411 a 1–13 1411 a 1 – b 21 1411 a 30 – b 1 1413 b 2–10 1413 b 3–5 1413 b 25–27 1414 a 8–11 1414 a 8–28 1414 a 11–14 1414 a 18 f 1414 a 35 f 1414 a 37 1414 a 37 f 1414 a 37 – b 18 1414 b 13–18 1414 b 19–1420 a 8 1415 a 36–38 1415 b 9–12 1416 a 4 – b 15 1416 a 10–12 1416 a 26–28 1416 a 28–35 1416 b 16–18 1416 b 34–36 1417 a 3–8 1417 b 12–20 1418 a 1 f 1418 a 1–4 1418 a 21–23 1418 a 21–24 1418 a 29–32 1418 b 5–7 1418 b 40–1419 a 2 1418 b 40–1419 a 19 1419 a 24 f
21 166 164 164 168 167 157 168 168 168 167 167 164 164 51 162 163 18 118, 163 153 76 162 170 168 170 169 168 168 159 169 32 32 157 82 169 169 169 170 47 29 36 29 28 32 161 161 19
1419 b 3 f 1419 b 3–9 1419 b 4 f 1419 b 8 f 1419 b 10–26 1420 a 6–8
159 159 159 159 169 165
Topik 116 b 12 f
124
[Aristoteles] Athenaion Politeia 16,5 76 25 f 36 28,3 149 43 39 63 f 63 Deinarch 1,24 1,46 1,84 1,108–110
98 77 80 98
Demosthenes 1,1 1,4 f 1,7 1,10 1,16 1,19 f 1,27 f 1,28 2,1 2,3 2,9 f 2,10 2,13 2,15 2,15–18 2,20–22 2,29 2,29 f 2,29–31 3,8 3,10–13 3,12 f
37, 158 38 94 140 46, 106, 158 40 108 102 140 108 102 38 38 102 38 38 82 105 102 108 44 158
236 3,21 3,25 3,26 3,29 3,36 4,1 4,10 4,11 4,13 4,14 4,25 4,42 4,51 5,3–5 5,5 5,6 5,17 6,5 6,10 6,17 6,20 6,21 6,25 8,1 8,4 8,11 f. 8,12 8,33 f. 8,38 8,40 f. 8,43 8,51 8,66 8,67 8,73–75 8,75 9,3 f. 9,4 9,22–25 9,30 f. 9,38 f. 9,39 9,45 9,47–50 10,1 10,11 10,11 f.
Register
106 102 125 65 37 152 108 38 114 158 159 108 37, 106 158 106, 108 94 103 f. 106 140 38 94 38 38 94, 106 158 38 94, 108 158 158 38 38 108 65, 102, 140 103 f. 158 46 158 106 38 38 102 102, 159 103 f. 38 37 158 38
10,15 10,17 10,20 10,27 10,38–45 10,45 10,46 10,50 10,54 10,62 10,69 10,76 11,5 11,8–11 12,6 13,8 13,20 14 14,3 14,37 15,6 15,26 f. 15,29 16,5 17,1–30 17,23 18,6 18,8 18,9 18,10 18,15 18,16 18,34 18,59 18,85 18,94 18,100 18,147 18,161 18,185 18,192 18,199 18,207 f. 18,234 18,249 18,257 f.
38 37 159 108 102 105 125 140 102 38, 159 38, 140 140 94 38 94 94 125 155, 169 37 94 94 39 38, 90, 96, 103 106 38 94 80 140 72 140 72 94 72 72 108 140 104 94 104 38 29 140 133 94, 104 80 65
18,262 18,265 18,274 18,274 f. 18,276–280 18,277 18,279 18,283 18,293 18,296 18,304 f. 19,23 19,28 19,41 19,55 19,80 19,85 19,104 19,134 19,146 19,179 19,184 19,217 19,222 19,239 19,272 19,281–283 19,284 20 20,5 20,15 20,18 20,20 20,28 20,77 20,89 20,91 20,111 20,118 20,127 20,140 20,141 20,154 20,157 20,161 20,164 f. 20,167
150 65 91 73 151 140, 151 94 94 94 125 41 159 108 108 108 94 94 98 94 108 80 23 108 94 80 82, 159 98 80 155 133 133 132 108 108 113 44 44 43 76, 80 132 101 133 133 101 101 101 80
237
1. Quellen
21,1 21,1 f. 21,4 21,24 21,30 21,34 21,42 21,43 21,43 f. 21,45 21,46 21,55 21,74 21,90 21,94 21,99 21,99 f. 21,109 21,123 21,140 21,147 21,177 21,183 21,184 f. 21,186 21,188 21,194 21,210 21,212 21,221 21,222 21,224 21,225 22,15 22,22 22,25 22,39 22,45 f. 22,66 22,72 22,76 23 23,19 23,47 f. 23,50 23,63
57 54 80 80 90, 96, 103 80 80 55, 154 55 90, 96, 103 91 133 57 75 85 96, 98 98 57 82 90 90 80, 154 82, 91 98 96 80, 90, 96, 98, 103 159 83, 103 f. 80 90, 96, 103 103 f. 70 90, 98 104 154 103 80 80 151 141 155 156 83 55 55 77
23,67 f. 23,79 23,100 23,102 23,103 23,206 f. 23,207 23,211–214 24,5 24,6 f. 24,13 24,16 24,17 24,19 24,20–23 24,28 f. 24,31 24,31 f. 24,38 24,51 24,68 24,134–136 24,139–143 24,143 24,147 24,149–151 24,152 24,175 24,180 24,184 24,199 24,211 24,214 24,215 f. 25,4 25,48 25,76 25,81–84 26,23 26,23 f. 27,27 27–29 28,20 29,53 30,37 32,1 f. 32,20
78 55 77 106 104 155 155 133 77 66 76 77 70 77 44 155 103 f. 77 77 98 70 82 43 90 90, 155 80 90 80 141 155 77 82 155 133 72 82 98 98 91 82 85 61 95 80 86 84 83
33,2 33,34 34 34,1 34,3 34,30 34,45 34,51 35 35,5 35,27 35,39 35,54 37,1 37,5 37,41–43 38,20 38,27 39,40 f. 42,31 42,32 44,29 45,66 45,87 46,28 47,23 48,9–11 48,17 48,19 48,30 48,32 48,48 48,50 f. 50,1 50,57 50,64–66 51,11 52,24 54,20 54,42 56,48 57,35 f. 57,63 57,69 58,5 58,25 58,39
84 84 103 85 84 83 84 90 84 84 84 f. 84 84, 90 54 83 86 96 98 76 82 95 77 66 80 90 66 83 83 83 83 83 83 83 85 90 90 82 143 160 90 84 82 76 80 77 80 77
238 59,77 59,93 f 59,115 60,10 60,18 61,13 61,24 Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord Exord
Register
1a 4 5,2 f 10,2 11 13 17 18 28,2 29 33,3 34 40,1 44,2 47,2 49,1 56,3
143 141 80 104 104 143 143 29 158 158 158 28 140 158 158 158 158 158 158 38 158 158 158 158
Dionysios von Halikarnass Is 20 (ed Usener, p 123) 152 Dissoi Logoi DK 90
30
Epigraphische Zeugnisse IG II2 141 141 IG II2 223 140 IG II2 238b 140 IG II2 240 141 IG II2 330 140 IG II2 343 140 IG II2 351 140 IG II2 360 140 IG II2 445 140 IG II2 554 140 IG II2 844 140 IG II2 847 142 IG II2 907–909 140 SEG XXVIII 52 140
Gorgias DK 82 B 6 DK 82 B 11,8
74 110
Herodot 1,134,1 7,138,1 f 7,228,2
132 104 142
Hesiod Erga kai hemerai 11–26 375–379 606 f
102 128 131
Homer Ilias 2,212–277 18,109 f
136 89
Hyperides 1,14 3, col 17 4, col 24
157 66, 142 90
Isaios 2,30 2,47 4,31 6,2 6,65 7,38 f frg 30
77 80 80 80 80 66 66
Isokrates 8,21 8,23 12,1 f 13,19–21 15 15,1 15,24 15,46 f 15,47 15,150–152 15,294–296
103 103 36 36 36 29, 30 66 29 30 66 23
Lykurg 1,3 f 1,17 1,29 1,33 1,43 f 1,64–66 1,76 1,76–78 1,79 1,139–141 1,147 1,148 f 1,150
70 142 86 98 142 82 80 80 80 98 77 142 98
Lysias 2,1 2,10 2,11 2,14 2,17–19 2,22 f 2,23 2,25 2,56 2,61 f 2,62 2,68 3,3 3,6 3,9 3,13 3,37 3,39 3,39 f 3,41–43 3,46 4,12 4,13–17 4,20 6,10 6,17 6,55 7,13 f 7,14 7,31–33 7,41
53 37 108 37 37 37 108 108 37 37 108 37 54, 108 108 108 108 55 93 59 55 71 55 86 95 73 90 98 96 64 66 66
239
1 Quellen
8,1 f 9,22 10,6–10 10,20 10,26 10,32 11,4 f 11,9 f 12,3 12,24–26 12,86 12,100 13,1–3 13,2 f 14 14,2 14,7–11 14,22 14,38 14,40 15,9 15,10 16 16,13 16,18 17,2 f 18,19 20,34–36 20,35 20,36 22,1 f 22,7 22,13 24 24,3
54 98 74 74 98 80 74 98 54 160 151 165 54 90 117 98 143 80, 98 151 91 69, 80, 98 142 117 143 136 83 93 96 96 114 54 80 64 135 135
26,3 27,9 f 28,2 29,8 f 30,1 31,7 31,11 34,3–5 34,4 f 34,11
66 102 98 98 82 142 64, 92, 96 131 131 164
Platon Apologie 34d
97
Menexenos 234 c – 235 c
52
Nomoi 757d/e
75
Phaidros 261a/b 267c
36 149
Politeia 331 c 5–7
134
Protagoras DK 80 A 1 DK 80 A 21
30 30
Sophokles Aiax 1073–1076
104
Thrasymachos DK 85 B 6
149
Thukydides 1,39 f 1,70,1–4 1,120,3–5 2,34 2,35 2,37,1 2,40,1 2,44,3 2,53,4 3,13 3,37,3 f 3,37–48 3,44,1–4 4,59,1 f 4,63,1 5,84–116 5,109 6,13 6,18,6 f 6,79,3 f – 6,80,1 8,46,2–4
103 106 106 53 53 96 130 112 104 103 147 28 28 104 104 39 103 115 115 104 106
Xenophon Memorabilia 3,6,4–14
39
Oikonomikos 4,3
135
240
Register
2. Begriffe und Namen (in Auswahl) Ubiquitär vorkommende Termini wie ‚Aristoteles‘, ‚Athen‘, ‚Polis‘ oder ‚Rhetorik‘ werden im Folgenden nicht aufgeführt. A Adel (s v Aristokrat/Aristokratie) Ästhetik 29, 52 f , 125, 129, 134–136, 168, 174 Agon 23, 50, 52 f , 92, 100, 116, 156, 164, 168, 171, 174 Aischines 65, 109, 111, 134, 142, 146, 150, 165–167 Aischylos 145 Akkumulationsprinzip 118 akribeia 152 f al Fārābi 11 Αlkibiades 115–117 Alkidamas 163 Alter, menschliches 58 f , 95, 111–117, 129, 136 f Altruismus 63, 145, 173 Amtsträger 23, 76, 141 anakrisis 32, 78, 160 Anaximenes von Lampsakos 21, 27 f , 39, 43, 45, 47, 50, 67 f , 73 f , 85 f , 88, 90, 110, 149, 151, 154, 158, 161, 165, 167 f andragathia 138 f Anthropologie 73, 147 Antiphon 32, 56, 67, 75, 80, 97, 153 f , 162 Arbeit 128, 130 f , 135 Archaik 111, 115, 123, 131 Archon 78 Areiopag 18, 34–36, 55, 71 f aretē 24, 49 f , 68, 120, 122 f , 137–147 Argument 13 f , 20, 24, 28, 30, 32 f , 35, 39 f , 43, 47 f , 50, 52, 56, 59, 61, 68 f , 72–90, 92, 97, 102, 111, 113, 121–123, 131, 135, 147, 149, 152–163, 169 f , 172 Aristokrat/Aristokratie 48, 52, 70, 74–76, 115–117, 127–129, 132, 134–136, 139, 150 Aristophanes 109, 112 Armer/Armut 64, 96, 99, 102, 105, 110, 113, 118, 129, 145 Atimie 109 Auditorium 13, 15, 18–20, 22–24, 29, 31, 48, 53 f , 65, 72, 75, 82, 87, 93–95, 97, 110–115,
118–121, 123, 148 f , 152 f , 155–157, 159–163, 166–169 Außenpolitik 37–39, 41, 44, 48, 80, 104, 106, 123, 127, 140, 164 autarkeia 123 f Autochtonie 127 autonomia 106, 123, 125 Averroës 11 Avicenna 11 B banausos 135 Barbar 132 Barbaro, Daniele 11 Bauer (s v Landwirtschaft) Beweismittel 15, 22, 31 f , 34, 36, 54, 67–86, 121, 171 Bildung 58, 75, 126, 172 Billigkeit (s v epieikeia) Bruder 61 Bürgerrecht 128, 133 Bundesgenossenkrieg 19, 141 C charis 88, 144 f Cicero 92 D Deinarch 26 deinotēs 151 f Demagoge 24, 45, 47 Demegorie (s v Rede, deliberative) Demokratie 23–26, 31, 35–38, 42–47, 62, 65, 70 f , 74, 76 f , 80 f , 91, 97, 99 f , 103–105, 111–113, 116, 122, 127, 129, 131–136, 139, 144, 146 f , 149 f , 154, 156–158, 169, 171 f , 174 Demosthenes 28 f , 37, 39–41, 44, 47 f , 61, 65, 70, 72, 74 f , 91, 102, 104–106, 113, 142, 146, 150–152, 154, 156, 158, 161, 163–169 diabolē 32 Dialektik 11, 19
2 Begriffe und Namen
diēgēsis 168–170 dikaiotatē gnōmē 76 Dikanik (s v Rede, forensische) dikē emporikē 35, 84 dikē kakēgorias 109 dikē pseudomartyrias 79 Diodotos 28 dokimasia rhētorōn 109, 146 doxa tou legontos 68 Drakon 55 E Ehe (s v Familie) Ehre 16, 31, 36, 57, 59 f , 89 f , 92, 99, 103, 107– 110, 115, 124, 130–133, 138–143 Eid 68, 71, 74, 76, 78–81, 91 Eifersucht 88, 100–102 eikos 21, 81, 153 f Eisphora 66 Ekklesie (s v Volksversammlung) Elite, soziale 36, 50, 52, 57, 63–65, 75 f , 82, 92, 96 f , 101 f , 105, 108, 115 f , 121, 127–129, 131, 134, 143, 147, 150, 152, 163, 172 Ellipse 166 Emotion 13, 15, 20, 24, 29 f , 34, 36, 41, 48, 58, 72, 75, 87–119, 146, 148 f , 161, 168 f , 172 f endoxon 13–15, 20, 120 Enkomion 49–51, 132 Enthymem 15, 19, 21, 24, 31, 40, 47, 49, 72, 90, 153–156, 164, 166 f Entrüstung (s v nemesis) Entscheidung, kollektive 23–29, 37, 39, 44–46, 52 f , 70 f , 76–78, 82, 86 f , 90, 116, 121, 133, 147, 169, 171 epainos logos 49 f Ephebie 80, 113 epieikeia 14, 74–76 Epigraphik 16, 138–140 Epilog 161, 164 f , 169 epitaphios logos 37, 49, 51–53, 74, 96, 108, 112, 127 Epos 116, 162, 167 Erbschaft (s v Familie) erōtēsis 160 f Erziehung 112 f , 122 Ethik 11–13, 21, 24 f , 29, 40, 47, 49, 54–58, 62–64, 71, 74, 76, 85, 87, 89, 94, 102, 111 f ,
241
116, 122–126, 130, 132, 137–139, 143 f , 152, 166, 172 f Ethopoiie 14, 22, 26, 35, 68 f , 72, 79, 81, 94, 119, 126, 142, 156, 169 f ēthos 15, 24, 35, 54, 93, 119 f , 122, 140, 169 Eubulos 40, 82 eudaimonia (s v Glück) Euergesie 88, 131, 138, 141, 143, 145 eugeneia (s v Aristokrat/Aristokratie) eunoia 67 f , 72, 139 f , 153, 168 Eupatride 116 Euripides 82 Exil 72, 145 F Fabel 47 Familie 60 f , 77, 79, 82, 95 f , 107, 115–117, 125 f , 131, 144, 173 Festrede (s v Rede, epideiktische) Flotte 41 f Folter 68, 78, 81, 85 f Frau 60, 64, 128 Freiheit 24 f , 37 f , 56, 84, 106, 122 f , 125, 127, 130, 136, 158 Fremder 26, 35, 133, 141 Freund/Freundschaft 32, 62 f , 82, 88, 92, 105 f , 133 f , 144 f , 173 Furcht 24, 64, 79 f , 85, 88, 103–106 G Gerede 61, 109, 157 Gericht (s v Richter) Geschichte (s v Paradigma, historisches; Mythos; Vergangenheit) Geschichtsschreibung 16, 103 f , 125, 127, 140, 147 Gesetz 15, 25 f , 28, 31, 35, 42–45, 55, 57, 68–77, 80, 83–85, 90–97, 101, 103–105, 122, 128, 131, 142, 145, 155, 161, 171 Gesetzgebung 25, 42–44, 69 f , 91, 105, 122, 131 Gestik 150 Getreideversorgung 42, 141 Gewalt 57, 93 Glaubwürdigkeit 20, 54, 68, 78 f , 83, 121, 163 Gleichheit 37, 63, 95 f , 113, 152 Glück 49, 123–125, 137 f , 146 Gorgias 17, 74, 110, 159
242
Register
Gottheit 50, 79 f , 101, 104, 140 graphē nomon me epitēdeion theinai 35, 45 graphē paranomōn 35 Grieche 102, 127, 132, 156 Gut, äußeres 37, 52, 100 f , 115, 120, 122–137, 142, 146 gymnasion 134 H Haartracht 136 Habitus 105, 116, 129, 147, 150, 172 Handel 35, 42, 84, 103 Handwerk 135 Hass 88 f , 94 Hegemonie 106 Heliasteneid 74, 76, 80, 91 Hesiod 102, 128, 131 Historiographie (s v Geschichtsschreibung) Homer 82, 136, 162 Hoplit 41, 142, 146 hybris 57, 89–91, 101 f , 108, 117, 129, 146 Hyperides 84 hypokrisis (s v Vortrag) I idiōtēs 37, 46 f , 152 Iphikrates 164 Isaios 169 isēgoria 24 Isokrates 17, 24, 27, 29 f , 36, 49–52, 66, 71, 97, 116, 122, 153, 165 isonomia 96 J Jugend 112 f , 136 K kairos 21 f kaloskagathos 128 Kephisodotos 164 kinaidia 136, 146 Kind/Nachfahr 60, 96, 113, 127 f , 144 Kleidung 148, 150 Kleisthenes 46 Kleon 28, 53, 109, 147, 150 Königtum (s v Monarchie)
Körper, menschlicher 55, 111 f , 125, 129, 134–137, 148–151 Körperverletzung 55 Komik 159 f Kommentar 11 f Komödie 109, 112, 130, 160 Konkurrenz (s v Agon) Korax 30 Korinthischer Krieg 102 Korruption 65, 102 Krieg 19, 25, 35, 39, 41 f , 53, 102, 104, 112, 115 f , 127, 133, 138, 141, 164 Κult 45 f , 79–81 L Lachen (s v Komik) Landwirtschaft 128, 130 f Lehrbuch 20, 121, 148, 158, 173 Leiturgie 66, 101, 143 Leodamas 56 logos (Vernunft) 24, 155 Lykeion 19 f Lykoleon 164 Lykurg 80 Lyrik 51 Lysias 26, 37, 51, 65, 102, 108, 164, 170 lysis 32 M Makedonen 38, 102, 104, 165, 167 Mann/Männlichkeit 64, 103, 108, 111 f , 128, 139, 156 f , 159 Mehrheitsentscheid 23 Melier-Dialog 39 mesoi 118 mesotēs 111, 166 Metapher 21, 51, 164–166 Metöke 26, 130, 133, 141 Metrum 168 Michael von Ephesus 11 Milde 74 f , 88, 91, 93, 98–100, 145 Miltiades 154 Mitleid 30, 72, 75, 88, 90, 92, 94–98, 100, 111, 114 f , 145, 148 Mittelschicht (s v mesoi) Moirokles 164
2 Begriffe und Namen
Monarchie 41, 51, 70, 103 Mord (s v Tötungsdelikt) Mündlichkeit 44, 84, 149, 153, 160, 163–165 Mythos 48, 101, 104, 116, 127 N Naturrecht 40, 61, 73, 124, 172 Neid 88, 90, 100–102 nemesis 92, 100 f Nikias 115 O Öffentlichkeit 19, 32, 36 f , 49, 53, 64, 77, 109, 117 Ökonomie 37, 39 f , 110, 115 f , 130 f Oikos 61 f , 64, 112 f , 123, 125, 128–131 Oligarchie 23, 25, 63, 65, 71, 75, 131, 136 Ordnung, politische 23, 25, 36, 41–43, 47 f , 62, 70 f , 81, 99, 104, 115, 118, 122, 131, 171 P Paian 168 Panegyrik (s v Rede, epideiktische) Paradigma, historisches 33, 41, 44, 47 f , 53, 82 f , 89, 113, 127, 132, 155 parrhēsia 24, 156, 158 pathos 24, 34, 88 f , 93, 110 f , 119, 140 Patronage 144 Peitholaos 164 Peloponnesischer Krieg 25, 35, 39, 112, 116 Performanz, rhetorische 96, 111, 148–151, 174 Periander von Korinth 82 Perikles 52, 96, 128, 164 peroratio (s v Epilog) Perser 127, 132, 156 Perserkrieg 127 Philosophie 12 f , 16 f , 19, 21–23, 25, 27, 31, 37, 45, 48, 52, 54 f , 62 f , 73, 89, 93, 97, 104, 111, 120, 123–126, 130 f , 134, 139, 145, 147, 153, 163, 166 f , 171–173 philotimia 122, 132, 139, 141 phronēsis 47, 68, 138, 146 Platon 12, 17, 24, 30 f , 36, 38, 52, 74 f , 82, 134, 138, 142, 149, 152, 163 Plausibilität (s v Argument) politeia (s v Ordnung, politische)
243
politeuomenos 46, 116, 152 Präzedenzfall 33, 82 prepon 167, 169 proairesis 47, 56, 137 progonos 33, 127 pronoia 55 Proömium 19, 54, 90, 97, 111, 121, 158, 164, 169 Prosa 132, 168 Prosarhythmus 149, 168 Protagoras 30 prothesis 170 proxenos 141 Prozess, öffentlicher 26, 32 f , 35–37, 39, 60–63, 72, 77, 84, 90 f , 94, 105, 136, 156, 158, 170 Prozess, privater 33–35, 61, 72, 77 f , 81, 83, 90, 105 f , 170 Pseudo-Xenophon 38 Publikation 18, 26, 164 f Q Quintilian 158 R Rainolds, John 11 Recht 14 f , 24, 26–28, 31–33, 35, 38–40, 42, 44, 54–61, 64, 67, 69–79, 84–86, 90, 93, 99, 105, 107–109, 121, 124, 128, 131–138, 142–145, 162, 172 Rede, deliberative 14, 27, 36–48, 61, 104, 156, 159, 164–166, 170 Rede, epideiktische 27, 29 f , 49–43, 53, 67, 116, 121 f , 126, 135, 137, 141, 153, 164 f , 169, 173 Rede, forensische 14 f , 18, 26–36, 42, 45, 49 f , 55, 57 f , 61–63, 67–84, 89 f , 92–94, 103, 105 f , 112–114, 118 f , 121 f , 126, 135–137, 142 f , 146, 150–159, 162–166, 169 f , 173 f Reicher/Reichtum 36, 65 f , 92, 96, 102, 110, 116–118, 122, 124, 129 f , 143 Religion (s Kult) Reziprozität 59, 63, 95, 107, 134, 142, 145 rhētorikē technē 13, 20, 29, 97, 111, 152, 161, 172 Richter 27, 34–36, 53, 58, 63–65, 67, 69–73, 76 f , 79–81, 88–99, 101, 103, 106, 108, 112–114, 118 f , 135, 140, 145, 148, 154, 157, 160 f , 170
244
Register
S Scham 88 f , 106–110, 157 Schande 107 f Schauspieler 18, 150, 167 Schiedsrichter 77 Schönheit (s v Ästhetik) Schrift/Schriftlichkeit 70, 74, 83–85, 132, 153, 160, 162–165 Seebund 38 Selbsthilfe 59 f , 93 Sexualität 107, 109, 136, 146, 159 Sicherheit 103, 105 f , 131 Sklave 81, 85 f , 99, 130 Söldner 42 Sokrates 97 Solon 70, 82, 91, 118, 131 Sophist/Sophistik 12, 17, 20–22, 27, 30 f , 39, 54, 67 f , 74 f , 85, 97, 112, 121, 147–149, 152 f , 163, 168 f , 174 Sophokles 73 sōphrosynē 112, 138, 145–147 Sparta 136, 142 Staatseinkünfte 40 Stasis 41, 43, 63, 118, 122 Stephanos von Byzanz 11 Stil/Stilmittel 162–168 Stimme 18, 148–151 Strafe 32–34, 59–61, 64, 72, 80, 90 f , 95, 98, 118, 122, 156 Stratege 23, 116 Stratiotikon 44 Sykophant 58, 157 Symmorie 155 f , 169 sympheron 27 f , 37–39 T Tapferkeit 104, 108, 127, 138, 142 f , 164 Tatmotiv 54–60, 101 Teisias 30 tekmērion 154 f Theater 53, 150, 162 Themistokles 154 Theophrast 149 Theorikon 40, 44, 102, 105 theōros (s v Zuschauer) Thermopylen 142
Thete 135 thorybos 157 Thrasymachos 17, 149 Thukydides 28, 37, 96, 106, 112, 147, 150 Tötungsdelikt 55 f , 60, 71 f , 80 Topos 20 f , 32, 34, 47, 49, 82, 112, 147, 153, 157, 164 f Tragödie 57, 82, 104, 149, 162 Tyrann/Tyrannis 46, 76, 99, 132 V Vasenbild 134 Vater 96, 114 Verbannung (s v Exil) Verfassung (s v Ordnung, politische) Vergangenheit 29, 33, 41, 47 f , 53, 70, 75, 82 f , 113, 115, 154 Vergeltung 31 f , 54, 58–60, 89 f , 99, 106 f Versmaß 168 Vertrag 27, 42, 68, 78, 83–85, 123, 140 Vettori, Pietro 11 Volksversammlung 23–26, 34–45, 53, 114 f , 118 f , 128, 132, 140, 157 f , 163, 171 Vorfahr (s v progonos) Vortrag 18, 49, 53, 148 f , 160 f , 163, 165 W Wahrheit 21, 85, 153 Wahrscheinlichkeit (s v eikos) Wettbewerb (s v Agon) Wert, sozialer 13–16, 28, 33, 37 f , 40, 46–53, 57, 73, 75, 77, 88, 100, 110 f , 113 f , 120–147, 154–156, 171 f , 174 Widerlegung (s v lysis) Wille 55 f , 58, 70, 78, 85, 108, 136, 143 Wirtschaft (s v Ökonomie) X Xenophon 39 f , 50, 52, 130 Z Zeuge 68, 78, 81–83, 106 Zorn 28, 30, 34, 60, 88–94, 98–101 Zuhörer (s v Auditorium) Zukunft 29, 33, 36, 104 Zuschauer 29, 52 f
historia
–
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend), Bernhard Linke, Mischa Meier, Walter Scheidel und Hans van Wees.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0056
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216. David Whitehead Apollodorus Mechanicus: Siege-matters (Poliorkhtikav) Translated with Introduction and Commentary 2010. 162 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09710-9 217. Bernhard Linke / Mischa Meier / Meret Strothmann (Hg.) Zwischen Monarchie und Republik Gesellschaftliche Stabilisierungsleistungen und politische Transformationspotentiale in den antiken Stadtstaaten 2010. 236 S., geb. ISBN 978-3-515-09782-6 218. Julia Hoffmann-Salz Die wirtschaftlichen Auswirkungen der römischen Eroberung Vergleichende Untersuchungen der Provinzen Hispania Tarraconensis, Africa Proconsularis und Syria 2011. 561 S. mit 26 Tab. und 3 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-09847-2 219. Dirk Schnurbusch Convivium Form und Bedeutung aristokratischer Geselligkeit in der römischen Antike 2011. 314 S., geb. ISBN 978-3-515-09860-1 220. Gabriel Herman (ed.) Stability and Crisis in the Athenian Democracy 2011. 165 S. mit 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09867-0 221. Christoph Lundgreen Regelkonflikte in der römischen Republik Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen 2011. 375 S., geb. ISBN 978-3-515-09901-1 222. James H. Richardson The Fabii and the Gauls Studies in historical thought and historiography in Republican Rome 2012. 186 S., geb. ISBN 978-3-515-10040-3 223. Jan Bernhard Meister Der Körper des Princeps Zur Problematik eines monarchischen Körpers ohne Monarchie 2012. 327 S., geb. ISBN 978-3-515-10080-9
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Die Rhetorik des Aristoteles ist von fundamentaler Bedeutung für die Geschichte der Rhetorik nicht nur der griechisch-römischen Antike, sondern auch der nachfolgenden Epochen bis in die Moderne. Gleichwohl handelt es sich bei ihr nicht etwa um einen Versuch, den Gegenstand zeitübergreifend zu fassen; vielmehr situiert Aristoteles die öffentliche Rhetorik in den Poleis seiner Zeit und den dortigen kommunikativen Settings. Allerdings bildet er diese nicht einfach ab, sondern positioniert sich
ISBN 978-3-515-12564-2
9 783515 125642
hierzu in einem diskursiven Verhältnis. Karen Piepenbrink untersucht erstmals systematisch die Relation der Schrift zu ihrem historischen Kontext, speziell zur praktischen Rhetorik. Sie fragt hierbei nach Parallelen wie auch Differenzen und beleuchtet diese im Hinblick auf ihre Ursachen. Dabei nimmt Piepenbrink die Frage nach der Intention des Textes ebenso in den Blick wie soziopolitische und rezeptionsästhetische Aspekte, aber auch mögliche philosophische Prämissen des Autors.
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