Leben (bio-ethisch) [1. Aufl.] 9783839400968

Der Begriff »Leben« spielt in den Diskussionen über Bio- und Gentechnologien und insbesondere deren Anwendung auf den Me

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German Pages 52 [53] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Vorbereitung der anthropologischen Fragestellung
Peter Singers Moralphilosophie einmal anders betrachtet
Das Individuum und die ›Sorge um sich‹
Naturalistische Annahmen auch in der Bioethik von Habermas?
Die Unterscheidung von Natur und Kultur in gegenwärtigen philosophischen Anthropologien
Doppelte Abgrenzung: Der Mensch zwischen Natur und Technik
Das ›Wissen um …‹ als Lebenskategorie
Weiterführende Literatur
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Leben (bio-ethisch) [1. Aufl.]
 9783839400968

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Michael Weingarten | Leben (bio-ethisch)

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) T00_01 schmutztitel.p 15541436670

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe Bisher erschienene Bände Christoph Hubig | Mittel Renate Wahsner | Naturwissenschaft Werner Rügemer | arm und reich Jörg Zimmer | Metapher Hans Heinz Holz | Widerspiegelung

In Vorbereitung Angelica Nuzzo | System Volker Schürmann | Muße Michael Weingarten | Wahrnehmen Hermann Klenner | Recht Thomas Metscher | Mimesis Michael Weingarten | Sterben (bio-ethisch) Michael Weingarten | Tod (bio-ethisch) Jörg Zimmer | Reflexion Gerhard Pasternack | Dekonstruktion Andreas Hüllinghorst | Interpretieren

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) T00_02 Liste der Bände.p 15541436726

Edition panta rei | πÜντα ½ει~

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe herausgegeben von Andreas Hüllinghorst Band 4 | Michael Weingarten | Leben (bio-ethisch)

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) T00_03 innentitel.p 15541436766

Die Bibliothek dialektischer Grundbegriffe ist eine Einführungsreihe in verschiedene Ansätze dialektischen Philosophierens. Weitere Informationen zur Reihe insgesamt als auch zu Autoren und einzelnen Bänden erhalten Sie auf der Internetseite www. transcript-verlag.de/prg_pan_edi.htm. Dort haben Sie auch die Möglichkeit, Fragen, die Ihnen bei der Lektüre kommen, an den Herausgeber bzw. an den jeweiligen Autor zu stellen. Die Bibliothek dialektischer Grundbegriffe kann auch abonniert werden. Bitte wenden Sie sich an den Verlag. Jeder Band kostet dann nur noch 5,50 € (plus Porto).

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Satz: Digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-933127-96-3

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) T00_04 impressum.p 15541436774

Inhalt

6 | Einleitung 9 | Vorbereitung der anthropologischen Fragestellung 15 | Peter Singers Moralphilosophie einmal anders betrachtet 19 | Das Individuum und die ›Sorge um sich‹ 25 | Naturalistische Annahmen auch in der Bioethik von Habermas? 31 | Die Unterscheidung von Natur und Kultur in gegenwärtigen philosophischen Anthropologien 36 | Doppelte Abgrenzung: Der Mensch zwischen Natur und Technik 45 | Das ›Wissen um …‹ als Lebenskategorie 50 | Weiterführende Literatur

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) T00_05 inhalt.p 15541436814

Vorrang Einleitung | Mit Beginn der Entwicklung der modernen Biovon Moral? und Gentechniken wurde die Debatte über Chancen und Risiken

dieser (möglichen) Technologien vorrangig als moralischer Diskurs geführt.1 Otfried Höffe geht in einer eindrucksvollen Studie sogar so weit, von »Moral als Preis der Moderne« zu sprechen.2 Ein solches Übergewicht moralischer Erwägungen ist insofern verblüffend, als Höffe selbst ausführlich darstellt, dass der Moralphilosophie insbesondere mit Blick auf die Bio- und Gentechniken jegliche Kriterien fehlen, um Gelingen oder Misslingen gentechnischer Verfahren sowie die mit ihrer Anwendung verknüpften möglichen Risiken beurteilen zu können. Vielmehr, so seine Schlussfolgerung, sei der Moralphilosoph auf Gedeih und Verderb von den Aussagen der Gentechnologen selbst abhängig. Auch Peter Singer, der sich als einer der ersten Philosophen um die begriffliche Ausarbeitung einer praktischen bzw. ›angewandten‹ Ethik angesichts der durch Gen- und Biotechniken sich revolutionär ändernden Medizin bemühte, hebt schon im Vorwort seines Buches Praktische Ethik hervor: »Das Ausmaß, in dem eine Sache auf nützliche Weise philosophisch diskutiert werden kann, ist abhängig von der Art der Sache. Einige Dinge sind hauptsächlich deshalb kontrovers, weil es Fakten gibt, die umstritten sind. Ob es z. B. erlaubt sein soll, neue Organismen, die unter Verwendung von rekombinanter DNA entstanden sind, freizusetzen, scheint weitgehend davon abhängig zu sein, ob die Organismen die Umwelt ernsthaft bedrohen oder nicht. Die Philosophen mögen zwar nicht die Fachkenntnis haben, um diese Frage anzugehen, aber sie sind vielleicht in der Lage, etwas Nützliches darüber zu sagen, ob es akzeptabel ist, ein für die Umwelt gegebenes Risiko einzugehen. In anderen Fällen jedoch herrscht Klarheit über die Fakten, und sie werden von beiden Seiten akzeptiert; es sind widerstreitende ethische Ansichten, die zu Uneinigkeit darüber Anlaß geben, was zu tun sei. Dann kann die Art des Denkens und Analysierens, die die Philosophen praktizieren, tatsächlich einen Unterschied ausmachen.«3 Da Singer der Philosophie die begriffliche Durchdringung der Naturwissenschaf1 | Eine Einführung in die Bioethik bietet Thomas Schramme, Bioethik, Frankfurt/Main 2002; Marcus Düwell/Klaus Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2003 2 | Otfried Höffe, Moral als Preis der Moderne, Frankfurt/Main 2000 3 | Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 21994, S. 7f.

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ten, aus welchen Gründen auch immer, nicht zutraut, widmet er sich ausschließlich dem zweiten, mit moralischen Fragestellungen verknüpften Problemkomplex. Es soll in diesem Band gar nicht bestritten werden, dass mit den Bio- und Gentechniken auch moralische Fragen verknüpft sind; fraglich ist aber, ob sie wirklich gegenüber z. B. wissenschafts- oder techniktheoretischen Rekonstruktionen vorrangig sind. So gibt es etwa nicht die Genetik, sondern eine Pluralität von Genetiken, sodass die Relation Genetik(en) als ›Grundlagenforschung‹ und Gentechnik als Anwendung problematisch wird. Denn in den Genetiken ist in aller Regel mindestens umstritten, ob Eigenschaften von Lebewesen durch ein Gen oder Kombinationen von Genen vollständig determiniert sind, oder ob Gene eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Ausbildung einer Eigenschaft darstellen. Weiter ist die Rede von Gentechnik selbst systematisch unklar. Ist mit ihr ein experimentelles Laborverfahren der chemischen Zerlegung und Rekombination der DNA oder ein industrielles Produktionsverfahren gemeint? So selbstverständlich diese Frage anmuten mag, so überraschend ist es, feststellen zu müssen, dass es zu diesem Problemkkomplex keine wissenschaftlichen Ausarbeitungen gibt. 4 Dazu drei Beispiele, schon mit Bezug auf den Menschen. ›Klonen‹ war zunächst ein züchterisches Verfahren der nicht sexuellen Vermehrung von Pflanzen. Dabei wurde nicht auf eine vollständige Identität der Nachkommen mit der Mutterpflanze abgezweckt, sondern nur auf Übereinstimmung bestimmter Merkmale, wie etwa Fruchtgröße und Geschmack. Ende des 19. Jahrhunderts konnten Wilhelm Roux (1850–1924) und Hans Driesch (1867–1941) zeigen, dass auch in frühen Zellteilungsstadien von Tieren (Seeigel) durch Abschnüren von Zellen, also durch nicht sexuelle Vermehrung, Klone herstellbar waren. Diese experimentellen entwicklungsbiologischen Verfahren wurden dann von Hans Spemann (1869–1941) an anderen Tieren (Fröschen, Salamandern) weiter vervollkommnet. Solche Versuche sind seit dem Routine-Experimente im Studium der Zoologie. In-

Vorrang begrifflicher Klärungen?

Beispiel: Klonen

4 | Ein Versuch der Ausarbeitung eines entsprechenden theoretischen Rahmens liegt vor mit Peter Janich/Michael Weingarten, Verantwortung ohne Verständnis?, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 2002, S. 85–120; siehe auch Michael Weingarten, Der falsche Traum der Schöpfung, in: Das Argument 242(2001), S. 562–574

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sofern handelt es sich bei dem ›Klon-Schaf‹ Dolly zunächst nur um eine quantitative Ausdehnung der herkömmlichen entwicklungsbiologischen Experimentaltechnik. Insbesondere handelt es sich bei diesen Verfahren um zell biologische, nicht aber um gentechnische Verfahren; denn an der DNA selbst wird ja nicht manipuliert. Und berücksichtigt man die Definition des Begriffs ›Klon‹ aus der Pflanzenzüchtung, so sollte auch deutlich werden, dass die heute behauptete vollständige Identität der Klone höchst problematisch ist.5 Beispiel: Das zweite Beispiel: Wird bei einem Embryo die genetische Wann ist Anomalie diagnostiziert, die mit der Krankheit ›Corea Huntingman krank? ton‹, dem sog. ›Veitstanz‹, in Verbindung gebracht wird, so kann diese Diagnose als medizinische Indikation für eine Abtreibung verwendet werden. Was zunächst als moralisches Problem erscheint – kann den Betroffenen, dem mit einer genetischen Aberration belasteten Embryo, also dem werdenden Kind, und dessen Eltern, das Leben mit einer solchen Diagnose zugemutet werden? –, zeigt sich im zweiten und genaueren Blick als ein zunächst völlig anderes Problem: Was verstehen wir unter Krankheit? Denn der Embryo, das aus ihm werden könnende Kind und der aus dem Kind werden könnende Erwachsene sind ja nicht krank, sondern nur der Erwachsene kann mit ca. 50 Jahren mit einer 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit an ›Corea Huntington‹ erkranken. Bis dahin aber lebt er ein völlig normales Leben. Die vorrangig zu beantwortende Frage ist also: Ist jemand schon krank, wenn eine genetische Anomalie vorliegt, ohne dass diese sich in einer entsprechenden Krankheit ausprägt? Oder kann bzw. darf erst dann von einer Erkrankung gesprochen werden, wenn die Krankheit sich mit einer entsprechenden Symptomatik und einer damit verbundenen Veränderung des Lebensvollzugs der betroffenen Person manifestiert? Auch dies ist zunächst eine Frage nach der bisherigen begrifflichen Bestimmung von Krankheit im Verhältnis zu Gesundheit und Normalität sowie den durch neue Techniken des Diagnostizierens und Heilens möglicherweise erzwungenen Veränderungen dieser begrifflichen Bestimmungen. Beziehen sich die beiden bisher genannten Beispiele eher auf wissenschaftstheoretische Probleme, so soll mit dem dritten 5 | Vermutlich die meisten Leser dürften auch eineiige Zwillinge, sozusagen natürlich hergestellte Klone, kennen – und deren Verschiedenheit.

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Beispiel ein im klassischen philosophischen Sinne anthropologi- Beispiel: sches Problem umrissen werden. Populationsbiologen gehen da- Individualität von aus, dass jedes Lebewesen einmalig ist, weil es zum einen biologisch eine einmalige Kombination von Genen darstellt. Zum anderen werden über die jeweils individuell besondere Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt die mit den Genen gegebenen Potenziale von Merkmal- und Strukturausbildungen different realisiert. Dies verdeutlicht auch das Beispiel von ›Corea Huntington‹, bei der ein und dieselbe genetische Anomalie eben nicht in jedem Fall zum Ausbruch der Krankheit führt. Wenn in diesem Sinne unter (menschlichem) Individuum gerade dessen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit verstanden wird, und diese Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit etwa biologisch mit der Einmaligkeit der in einem Individuum vorliegenden Genkombination verknüpft wird – wie wird dann im genetisch-medizinischen Kontext ein Standard der Normalität sowohl bezogen auf das menschliche Individuum insgesamt, als auch auf dessen Gene bestimmt?6 Damit ist philosophisch die Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem Individuum und der Gattung Menschheit bzw. des ›typisch Menschlichen‹ als Problem gegeben. Vorbereitung der anthropologischen Fragestellung | Die Was ist typisch oben angeführten Beispiele sollen darauf aufmerksam machen, menschlich? dass viele Begriffe wie ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹, ›Normalität‹ und ›Aberration‹, ›Leben‹, ›Sterben‹ und ›Tod‹ vorrangig vor den mit ihnen möglicherweise verknüpften moralischen Implikationen klärungsbedürftig sind. Und zwar in mindestens zweierlei Hinsichten: In der einen Hinsicht ist zu fragen: Welches Verständnis von dem, was ein Mensch sei, ist in welcher semantischen Belegung solcher Begriffe mit enthalten und inwiefern können diese Belegungen begründet und gerechtfertigt werden? So könnte man z. B. meinen, bei dem ›typisch Menschlichen‹ handele es sich um diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten, die ein individuiertes Lebewesen zu einem Mitglied der biologischen Art homo sapiens sapiens machen. Die so gefasste ›Normalität‹ menschlichen Lebens wäre das Substrat, auf dem aufbau6 | Siehe hierzu die schon klassische Arbeit von Georges Canguilhelm, Das Normale und das Pathologische, München 1974; neuerdings auch Thomas Rolf, Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München 1999.

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end und es weiterführend sich die Kultur des Menschen entwickelte. In der anderen Hinsicht kommt das Problem in den Blick, dass auch wenn in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften dieselben Worte verwendet werden, genau rekonstruiert werden muss, ob sie auch dieselbe Bedeutung haben oder ob beispielsweise das Wort ›Leben‹ in den Biowissenschaften etwas völlig anderes meint als dasselbe Wort in den Geisteswissenschaften und daher eine andere semantische Belegung hat. Müsste – und ist sie es nicht genau genommen auch – die Diskussion über Biound Gentechniken daher über weite Strecken nicht vielmehr eine Diskussion über das sein, was ›Natur‹ und ›natürlich‹ im Unterschied zu ›Kultur‹ und ›kultürlich‹ heute (noch) ist, also uns heute noch bedeutet? Und müsste nicht dementsprechend die Diskussion über die Anwendung der Gentechnik im mediziniNatürlichkeit schen Kontext die Problematisierung der Unterscheidung von der Kultur ›Natürlichkeit‹ und ›Kultürlichkeit‹ des Menschen? Etwa in der Hinsicht, dass erläutert würde, Aufgabe der Gentechnik in der Medizin sei oder könnte sein, die (biologische) Normalität eines Menschen so herzurichten, dass diesem dann die problemlose Teilnahme an der menschlichen Kultur möglich wäre. Gibt es somit etwas wie ein natürliches Substrat des Menschseins, das allen Kulturen der Menschen zugrunde liegt? Kann relativ zur natürlichen Substanz Kultur als eine ›natürliche‹ Eigenschaft neben vielen anderen Eigenschaften thematisiert werden? So könnte vom Menschen als einem Lebewesen unter vielen anderen natürlich vorfindlichen Lebewesen gesprochen werden, welches sich dann über sein Verfügen über Kultur als ›artdifferent‹ gegenüber anderen Arten von Lebewesen erweist. So war es ein gängiger Topos in der klassischen Philosophischen Anthropologie, den Menschen als das Lebewesen zu bestimmen, das von Natur aus über Kultur verfüge. Dieses Grundlagendenken belebt Volker Gerhardt heute wieder: »Kultur ist die Verfassung der Natur, in der sich menschliches Leben entfaltet. So gesehen steht die Kultur nicht im Gegensatz zur Natur.« Kultur ist »eine unter Naturbedingungen gewachsene Lebensform eines Naturwesens, nämlich die des Menschen.«7 Natur als Symbol Oder ist das, was als ›Natur‹ des Menschen angesprochen wird, ein zu einem Symbol verdichtetes Reden über kulturell er7 | Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 127

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worbene Eigenschaften, Fähigkeiten und Praktiken von Menschen, ein diskursives Konstrukt, das je nach kulturellem Kontext variiert, für das im Extremfall kein außersprachlicher Referent mehr aufgezeigt werden kann? Das Wort ›Leben‹ wäre in diesem Kontext im Gebrauch identisch mit dem Reden über Kultur, Praktiken und deren Vollzügen. Der Gebrauch des Wortes ›Natur‹ in solcher Rede vom Menschen changiert dabei zwischen einer Bestimmung, bei der mit ›Natur‹ die biologische Bestimmtheit des Menschen als ›natürlicher Art‹ im Sinne der Biowissenschaften gemeint ist, und einer Bestimmung, mit der auf das ›Wesen‹ des Menschen, auf seine ausnehmende Besonderheit und ggf. ›Nichtnatürlichkeit‹ gegenüber allen anderen Lebewesen abgezweckt wird.8 In Abhängigkeit von dieser Bestimmung wird der Begriff ›Leben‹ im ersten Fall in aller Regel als Eigenschaft einer Entität verstanden, während im zweiten Fall mit ›Leben‹ ein praktischer Vollzug gemeint ist, wie er in den Redewendungen »sein Leben leben«, »das von jedem gelebte Leben« vorkommt. Es ist, wie gesagt, auffällig, dass in fast allen Positionen zu bioethischen Problemen9 zwar auf biologische Theorien rekurriert wird, die jeweiligen moralphilosophischen Autoren aber nicht begründen, warum sie gerade an diese biowissenschaftliche und nicht an eine andere, konkurrierende Theorie anschließen. So muss zwangsläufig beim Leser der Eindruck entstehen, dass es in den Disziplinen der Biowissenschaften keine Auseinandersetzungen über verschiedene Forschungsansätze gäbe, was z. B. ein Gen sei und wie es wirke. Ein auch nur oberflächlicher Blick in Lehrbücher der Molekulargenetik, Entwicklungsgenetik und Populationsgenetik belehrt aber schnell darüber, dass zwischen diesen drei Disziplinen ein Wort wie ›Gen‹ höchst umstritten ist und innerhalb der jeweiligen Disziplin selbst keine verbindliche

Leben: Natur oder Kultur

Problematische Bestimmung der Genetik

8 | Gemeinhin werden unter bioethischen Problemen Fragen verstanden, die sich aus der Anwendung biowissenschaftlicher Erkenntnisse in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion sowie im Umgang – etwa der Züchtung, Haltung und der technischen Manipulation – mit Tieren und Menschen ergeben. Es ist allerdings umstritten, inwiefern es sinnvoll ist von ›angewandter Ethik‹ zu sprechen. 9 | Siehe Michael Weingarten, Versuch über das Missverständnis, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8(2002), S. 137–171

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Definition von ›Gen‹ existiert.10 Wegen dieser theoretischen Unsicherheit stellt sich das Problem der disziplinären Zuordnung von Humangenetik und medizinischer Genetik: Handelt es sich bei ihnen um Teildisziplinen der Molekulargenetik, die die Produktion chemischer Substanzen in Lebewesen untersucht, oder um Teildisziplinen der Entwicklungsgenetik, die die Frage »Wie entwickelt sich typischerweise ein Individuum einer natürlichen Art aus einer befruchteten Eizelle zum fortpflanzungsfähigen erwachsenen Lebewesen?« leitet, oder schließlich um Teildisziplinen der Evolutionsgenetik, die sich die Frage »Wie werden Unterschiede zwischen Individuen einer Population ausgebildet und erhalten?« stellen? Gen Im Kontext wissenschaftshistorischer Analysen wurde zwar schon eingehender dargelegt, dass mit dem Begriff ›Gen‹ eine Metaphorik belegt ist, die weit zurück auf die Idee einer mechanistischen Beschreibung von Eigenschaften von Tieren unter Einschluss des Menschen zurückweist.11 Offen bleibt jedoch, inwieweit die modernen Biowissenschaften mittlerweile diese Metapher forschungspraktisch umgesetzt und für die zunächst operativ-experimentelle Praxis einer Genetik verfügbar gemacht haben. Für die Bewertung gerade der anthropologischen Dimension der modernen Genetik ist dieser Hintergrund zentral. Daher ist es geboten wissenschaftstheoretisch nachzufragen, ob und wie es mit der Verankerung von Humangenetik und medizinischer Genetik im disziplinären Kontext einer biologischen Anthropologie steht. Gentechnik Terminologische Unklarheiten sind eben nicht nur ein Problem innerhalb der jeweiligen Disziplin, sondern sie haben auch Folgen für die Beurteilung von Chancen und Risiken der Anwendungen des genetischen Wissens, also hinsichtlich der Beurteilung der Gentechnik(en), einschließlich derjenigen gen- und biotechnischen Verfahren, die, zumindest als Programmatik, immer stärker in die modernen Medizin Eingang finden. Insofern ist es auch für jede moralisch-ethische Reflexion geradezu zwingend geboten, in einem ersten Schritt das Verhältnis zwischen 10 | Siehe Peter Beurton/Raphael Falk/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), The Concept of the Gene in Development and Evolution, Cambridge 2000 11 | Siehe Mae-Wan Ho, Das Geschäft mit den Genen, Kreuzlingen, München 1999; Evelyn Fox-Keller, Das Leben neu denken, München 1998; Sigrid Weigel (Hg.), Genealogie und Genetik, Berlin 2002

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Genetik(en), Gentechnik(en), Wissenschaftstheorie sowie im Rahmen der Medizin auch der Anthropologie und Moralphilosophie selbst zu bestimmen, um erst danach moralphilosophisch die Chancen und Risken dieser Techniken erwägen zu wollen. Diese unverzichtbare Reflexionsleistung ist aber, bisher zumindest, in der Moralphilosophie nirgends erbracht worden. Mit Blick auf die Humangenetik kommt eine weitere vorab zu Humangenetik erbringende Reflexionsleistung hinzu, denn bezüglich der Möglichkeit der Beurteilung von Chancen und Risiken der Humangenetik, der Anwendung genetischen Wissens und gentechnischen Könnens auf den Menschen, bedarf es neben der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Humangenetik als einer Genetik zugleich einer Reflexion dessen, wie wir über den Menschen begründet reden können; ob etwa eine biologische Anthropologie für diese Begründungsleistung ausreichend sei, und das Leben der Menschen somit eine natürlich zu vollbringende Leistung darstelle. Danach ist zu reflektieren, nach Maßgabe welchen Verständnisses von dem, was der Mensch sei, welche Eingriffe als geboten, erlaubt oder verboten gerechtfertigt zu beurteilen seien. Für die letzte Reflexion ist festzuhalten, dass es in modernen Gesellschaften kein für alle Mitglieder verbindliches und von allen geteiltes Verständnis von Menschsein gibt, dass vielmehr höchst unterschiedliche oder gar verschiedene Menschenbilder in den Diskursen über den Menschen aufeinanderprallen. Dies könnte Indiz dafür sein, dass wir uns in Reflexion unserer gemeinsam geteilten praktischen Lebensvollzüge über das, was ein Mensch sei, statt über einem als vorgängig behaupteten Vergleich mit der Natur resp. nicht menschlichen Lebewesen zu verständigen haben. Für diesen Teil der Debatte fällt auf, dass nicht mehr – wie Philosophische für den gesamten Zeitraum seit 194012 – Arnold Gehlen (1904– Anthropologie 1976) als klassischer Referenzautor philosophisch-anthropologischer Bemühungen herangezogen wird, sondern dass seit kurzem Helmuth Plessner (1892–1985) ins Zentrum des Interesses rückt.13 Diese Veränderung entspricht einem Konzeptwechsel, 12 | In diesem Jahr erschien Gehlens maßstabsetzende Arbeit Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13 | Zur Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts siehe neuerdings Hans Heinz Holz, Mensch – Natur. Sinn und Grenzen einer philosophischen Anthropologie, Edition panta rei, Bielefeld 2003

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der sich in einem Abrücken von der alten sozialdarwinistischen Tradition ausdrückt, die bei Gehlen über Ernst Haeckels (1834– 1919) Darwinismus14, wenn auch gebrochen durch Jakob von Uexkülls (1864–1944) darwinismuskritische Theorie, Eingang gefunden hatte. Angesichts dieser konzeptuellen Veränderungen greifen Kritikstrategien an Gentechnik und auf Gentechnik basierten Verfahren in der Medizin als Formen eines Sozialdarwinismus nicht mehr. Schließlich geht es nicht mehr um die Anoder Einpassung von Lebewesen (einschließlich des Menschen) in vorgegebene Umweltbedingungen, sondern um die gezielte Herstellung und Konstruktion von Lebewesen (einschließlich des Menschen) für bestimmte technisch vorgegebene Zwecke.15 Anhand exemplarischer Ansätze in der Bioethik soll die hier grob skizzierte wissenschaftstheoretische und philosophisch-anthropologische Problemdimension weiter expliziert werden. Als Ausgangspunkt bietet sich die utilitaristisch-konsequenzialistische16 Moralphilosophie Peter Singers an, weil von ihm und seiner Mitarbeiterin Helga Kuhse einer der ersten systematischen Entwürfe zur Bioethik vorgelegt wurde, und weil gerade in diesem Ansatz die bisher noch überhaupt nicht thematisierten wissenschaftstheoretischen Vorannahmen deutlich zu Tage treten, die konstitutiv in die moralischen Erwägungen der aktuellen Diskussion Eingang finden. KonstitutionsDabei verbietet sich eine allzu vorschnelle und falsche Zutheorie ordnung, in der die Naturwissenschaften, insbesondere die auf den Menschen bezogenen Teile dieser Wissenschaften und diejenigen Moralphilosophien, die sich in ihren Überlegungen affirmativ auf bestimmte naturwissenschaftliche Ergebnisse beziehen, als naturalistisch und damit schon als problematisch be14 | Siehe Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, Bonn 1998, S. 77–123 15 | Zwar müssen auch von dem Gentechniker die Kontexte beachtet werden, in denen die von ihm hergestellten Lebewesen ›funktionieren‹ sollen, aber diese Kontexte sind gegebenenfalls auch durch den Techniker veränderbar. 16 | Der Konsequentialismus argumentiert dafür, Handlungen nicht nach ihren Motiven zu bewerten, sondern nach den Handlungsfolgen. So sei das Unterlassen von Handlungen, wie z. B. das Nichtversorgen schwerstbehinderter Neugeborener, wie aktive Euthanasie zu bewerten. Die Folge ist in beiden Fällen der Tod der Neugeborenen.

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zeichnet werden, während kulturalistische Konzepte, die ihren Ausgang nicht von Naturwissenschaften her nehmen, sondern von menschlichen Praxen und den mit diesen einhergehenden und untereinander Verständigung ermöglichenden Symbolisierungen von Natur, Leben und Menschsein, von einem solchen Fehlschluss frei wären. Vielmehr taucht auch und gerade in kulturalistischen Theorien, wenn sie z. B. auf den ›Ursprung‹ des Menschen und seiner kulturellen Fähigkeiten rekurrieren bzw. konstitutionstheoretisch nach dem Übergang vom Tier zum Menschen, von Leben zu Kultur fragen, in aller Regel selbst wieder ein implizites oder gar explizites naturalistisches Argument auf. Dagegen gilt es, als forschungsleitende Hypothese zu skizzieren, dass Fragen und Probleme, die mit der technischen Manipulierbarkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen verknüpft sind, viel zu voreilig als moralisch-ethische Fragen begriffen werden. Dem soll unter methodischen Gesichtspunkten ein Vorrang wissenschaftstheoretischer und begrifflich-systematischer Klärungen vor moralischen Erwägungen entgegengesetzt werden. Peter Singers Moralphilosophie einmal anders betrachtet | Typologie Nimmt man sich irgendein Buch, und zwar beliebig welches, von Peter Singer und/oder Helga Kuhse zum Thema ›Bioethik‹ vor17, so fällt ein Grundzug im Aufbau der Argumentation dieser Arbeiten auf. Jeder einzelne, in einem Kapitel vorgestellte Argumentationszug beginnt mit der Darstellung des Falls einer mit einem Eigennamen versehenen Person; Tony Blands Tragödie, Peggy Stinsons Problem lauten z. B. Überschriften in Leben und Tod von Singer. Die Durchführung des Arguments macht dann aber deutlich, dass es nicht um den jeweiligen besonderen, mit anderen unvergleichbaren oder nur bedingt vergleichbaren (Einzel-)Fall geht, sondern es sich bei ihm um einen typischen handelt: Die Geschichte z. B. des Bluters X beschreibt den typischen Krankheitsfall eines jeden Bluters und genau nicht eine individuelle Krankengeschichte. Die die moralischen Überlegungen vorbereitende und erst ermöglichende Argumentation ist also nach dem type-token-Modell funktionaler Erklärungen aufgebaut.18 Jede 17 | Z. B. Helga Kuhse, Die »Heiligkeit des Lebens« in der Medizin, Erlangen 1994; Peter Singer, Leben und Tod, Erlangen 1998; Peter Singer/ Helga Kuhse, Muss dieses Kind am Leben bleiben?, Erlangen 1993 18 | Zum umstrittenen Status funktionaler Erklärungen in der Biologie

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Substanz, der Mensch eingeschlossen, wird als Träger von Eigenschaften begriffen, die dieser Substanz zu- oder abgesprochen werden können, und die so diese Substanz als eine bestimmte qualifizieren. Nach diesem Modell kann z. B. behauptet werden, dass die Klasse der Menschen größer sei als die nun als Teilklasse der Klasse der Menschen zu verstehende Klasse von Personen; letztere verfüge gegenüber der Klasse der Menschen nämlich über mindestens eine weitere Eigenschaft, z. B. über Sprache oder Schmerzempfindlichkeit. Weiter ist es im Rahmen dieses Ansatzes dann möglich zu versuchen, die Behauptung zu begründen, dass über die Gewichtung von Eigenschaften z. B. eine Teilklasse empfindungsfähiger Tiere moralisch relevanter sei als eine bestimmte Teilklasse von ›bloßen‹, weil mutmaßlich Schmerzen nicht empfinden könnenden Menschen als mangelhaften Typenexemplaren (tokens) des biologischen Typus (type oder natural kind) Mensch. Module Von der Richtigkeit solcher, die eigentlichen moralphilosophischen Überlegungen vorbereitenden wissenschaftstheoretischer Annahmen, insbesondere der type-token-Beziehung, ist die Gültigkeit von Singers Moralphilosophie abhängig. Eine Stütze könnten solche bei ihm nur implizit enthaltenen wissenschaftstheoretischen Argumente in dem biotheoretischen Konzept François Jacobs finden. Dieser versucht als Molekularbiologe und als die Ergebnisse dieser Wissenschaft reflektierender Theoretiker zu zeigen, dass Lebewesen entgegen dem phänomenalen Schein Kombinationen von elementaren Bausteinen, funktionellen Komplexen (›Module‹) seien, die im Laufe der Naturgeschichte immer wieder neu kombiniert würden, was sich als Evolution darstelle, und die mit den technischen Möglichkeiten der Molekularbiologie auch vom Menschen zu dessen Zwecken neu kombiniert werden könnten. Jacob erklärt daher Lebewesen als modulares Aggregat: »Die ausgewachsene Fliege ist nämlich wie ein Auto zusammenmontiert: Es gibt eine Scheibe, um jedes Auge hervorzubringen, eine für jeden Flügel, eine für jedes Bein etc. Die Bestandteile werden also getrennt vorbereitet und am Ende zusammengesetzt. Diese Differenzierung hängt ganz klar von den Genen ab.«19 Die einzelne Fliege ist, relativ zu dieser Beschreisiehe Gerhard Schlosser/Michael Weingarten (Hg.), Formen der Erklärung in der Biologie, Berlin 2002 19 | François Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch, Berlin 1998, S. 54

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bung, ein token in exakt der Relation zu ihrem type, in der jedes einzelne Auto, z. B. dieser ›Golf‹, zu dem Typus, der Bauserie ›Golf‹ steht, Eine solche Beschreibung soll nicht nur für Insekten gelten, für die sie gemäß gegenwärtigen biologischen Wissens eine durchaus mögliche ist, sondern soll für alle Lebewesen unter Einschluss der Menschen möglich sein, wenn man als Differenz die höhere Komplexität in der Anordnung und der daraus sich ergebenden funktionellen Zusammenhänge beachte, so wie etwa im Vergleich eines VW-Käfers zu einem BMW der 7er-Baureihe. Für die Medizin ergibt sich vor diesem Hintergrund eine ganz Konsequenzen neue Perspektive: »Bislang hat der ans Krankenbett gerufene für die Medizin Arzt eine Diagnose gestellt, und davon ausgehend versuchte er, die Entwicklung der Krankheit in Form einer Prognose vorauszusagen. Inzwischen versucht er, die Struktur der Gene, Veranlagungen und Tendenzen zu bewerten, und davon ausgehend sagt er den künftigen Gesundheitszustand voraus. Mehr noch, die prognostische Medizin begnügt sich nicht mehr damit, die zukünftige Gesundheit unserer Mitbürger einzuschätzen, das heißt der Männer, Frauen und Kinder, die jetzt leben und denen wir auf der Straße begegnen können. Sie interessiert sich auch für die nächste Generation, für jene, die morgen in unsere Fußstapfen treten werden. Die Medizin beschränkt sich nicht mehr darauf – wie sie es lange tat – das Leben nach der Geburt zu behandeln. Inzwischen werden alle verfügbaren Mittel eingesetzt, um die Verfassung des Individuums möglichst bald nach der Empfängnis zu untersuchen. Man versucht vorauszusehen, wie das zukünftige Kind, der zukünftige Erwachsene sein wird. Seine Verfassung, seine Organe, seine Gestalt und seine möglichen Mißbildungen sollen aufgespürt werden. Lange verfügte man hier nur über die beschränkten Möglichkeiten der klassischen ärztlichen Untersuchung: Abtasten, Abklopfen, Abhorchen. Als dann die Röntgenstrahlen entdeckt wurden, sah man hier endlich etwas klarer; sie erwiesen sich jedoch sehr bald selbst als Gefahr für die zukünftige Gesundheit des Fötus. Erst vor kurzem haben die Physiker nun ein ganzes Arsenal komplexer Apparate entwickelt, die Bilder durch Echographie und Kernspinntomographie erzeugen, wodurch der Fötus sich sehr früh und mit bisher nicht gekannter Genauigkeit und Klarheit sehen läßt.«20 Es 20 | Ebd., S. 130f.

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zeichnet sich also eine ganz andere Eingriffstiefe medizinischer Diagnostik und möglichen medizinischen Handelns ab, die sich ausschließlich an der durch neue technische Apparaturen ermöglichte Beurteilung der Funktionsfähigkeit orientieren, an den Möglichkeiten der Reparatur oder der Neukombination elementarer Module sowie an den damit verknüpften deterministischen Wirkungen auf die Gesamtfunktion (Viabilität) des Organismus. Logik der Einer solchen ›Logik der Kombinatorik‹, die weiter impliziert, Kombinatorik dass die funktionellen Eigenschaften der Module unabhängig von dem jeweiligen Aggregat seien, in welches sie eingebaut würden, setzen Kritiker der Molekulargenetik und der möglichen Umsetzung von Ergebnissen der Molekulargenetik, z. B. in der Medizin, entgegen, dass Lebewesen keine substanziellen Aggregate seien, sondern vielmehr komplex strukturierte ›Ganzheiten‹, ›Netzwerke‹ oder ›relationale Systeme‹.21 Diese und vergleichbare Behauptungen sind zwar ebenfalls zumindest realistisch, indem sie behaupten, »Lebewesen sind …«; oder solche Behauptungen sind sogar naturalistisch, indem sie den Gegenstand der jeweiligen Forschung und die Methode, mit der dieser Gegenstand erforscht wird, nicht unterscheiden.22 Sie zeigen aber auf alle Fälle innerbiologische Kontroversen um Grundlagenkonzepte an, die geklärt sein müssten, um überhaupt den Einsatzort und die Relevanz moralischer Erwägungen bezüglich möglicher, mit den Gentechniken verbundener Anwendungen bestimmen zu können. Denn in diesem Forschungskonzept gibt es keine ›Module‹ oder elementare Bausteine mit definierten Eigenschaften außerhalb des Kontextes, in dem sie als Einheiten unterschieden werden können. Vielmehr kann die Wirkung eines Gens nur über den systemischen Zusammenhang, in den es eingebettet ist, begriffen werden.23 21 | Siehe die Literaturangaben in der Fußnote 11. 22 | Siehe hierzu einführend die kritische Diskussion in Peter Janich/ Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie 1, München 1999, Kap. 1–4 23 | Für den evolutionsbiologischen Zusammenhang bezüglich des Verständnisses von Gen und Genwirkung siehe Peter Beurton, Historische und systematische Probleme der Entwicklung des Darwinismus, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 1(1994), Berlin, S. 93–211; vgl. die Polemik von Ernst Mayr gegen die bean bag genetics in: ders., Die Entstehung der biologischen Gedankenwelt, Berlin, New York, Heidelberg 1984

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Begrifflich klärungsbedürftig ist aber eine ganz andere Frage: Ding und Meinen Singer u. a. mit dem type-token-Modell, der ›Mensch-an- Eigenschaft sich‹ sei der Träger von Eigenschaften, also ein Ding, das ‹an sich‹ existierend, unabhängig von seinen Eigenschaften gedacht werden kann? Oder meint er das ›Haben‹ von Eigenschaften so, dass die Substanz nichts anderes ist als das, was diese Eigenschaften hat?24 Den Menschen gäbe es damit nicht an sich, als dinglichen Träger von Eigenschaften, sondern nur als denjenigen, der Mensch ist, insofern er Eigenschaften hat. Damit kann der Unterschied formuliert werden zwischen dem Begriff des Menschen und der Vielheit wirklicher menschlicher Individuen, die als Belegungen des Begriffs ›Mensch‹ in ihrer Vielheit und individuellen Unterschiedenheit Eigenschaften so oder so haben können. Während Singer in seinem Erklärungsansatz die Vielheit der menschlichen Individuen nivelliert, insofern die individuelle Unterschiedenheit homogenisiert wird hinsichtlich des Vorliegens bzw. Fehlens von als bei allen Individuen gleich realisierten Eigenschaften, steht im anderen Fall zur Erklärung an, wie die Vielheit menschlicher Individuen als individuelle Unterschiedenheit im Begriff des Menschen gedacht werden kann. Das Individuum und die ›Sorge um sich‹ | Singers bioethi- Utilitarismus sche Ausarbeitungen stammen aus einer utilitaristischen Tradition, ohne dass Singer auf die schon sehr alte Debatte um den moralphilosophischen Gehalt des Utilitarismus, insbesondere auf John Rawls’ (1921–2002) über 40 Jahre alte grundsätzliche Kritik am Utilitarismus eingehen würde.25 Dabei ist schon bei John Stuart Mill (1806–1873), einem der geistigen Väter des Utilitarismus, als Grundproblem jedes utilitaristischen moralphilosophischen Ansatzes deutlich, dass diese Form des Philosophierens zwischen einem kollektivistischen Ansatz (Steigerung des Glücks aller, auch auf Kosten des Einzelnen), der eine Gesellschaft wie ein homogenes Makrosubjekt behandelt, und einem ontologischen oder methodologischen Individualismus (es zählt nur die Steigerung des Glücks des Einzelnen, auch auf Kosten des Glücks 24 | Siehe Josef König, Einige Bemerkungen über den formalen Charakter des Unterschieds von Ding und Eigenschaft, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Freiburg, München 1978, S. 338–367 25 | Siehe John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, Freiburg, München 1977

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des Kollektivs) schwankt, und das Problem, z. B. von Verteilungsgerechtigkeit, im Rahmen des utilitaristischen Ansatzes ausgeblendet werden muss. Indem Singer nun den kollektivistischen Ansatz seiner Bioethik zugrunde legt, handelt er sich das Problem typologischen Argumentierens ein und rückt so in die Tradition sozialdarwinistischer Überlegungen. Denn die Vorstellung, es sei gerechtfertigt, das Leben eines Einzelnen zu Gunsten der Glücks- und Wohlstandsvermehrung der Vielen zu ›opfern‹, lässt sich ohne großen semantisch-begrifflichen Aufwand zu der Vorstellung ausbauen, dass aus Gründen des Überlebensinteresses des Kollektivs der abweichende Einzelne beseitigt werden müsse. Sorge um sich Nachdem sich insbesondere in Deutschland die biopolitische Debatte26 gerade an diesem Problemstrang festgebissen hatte, die – fast möchte man sagen: notwendigerweise – nur zu bösartigen, die jeweils andere Position diskreditierenden Unterstellungen führen konnte27, deutete sich in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel an: Gegen präskriptivistische Konzepte, die jeden Einzelnen im gleichen Sinne vorschreiben möchten, was gut für sie ist, wird die Bedeutung des autonomen, primär nur sich selbst verantwortlichen Individuums wieder entdeckt. So spricht etwa Hubert Markl in neueren Arbeiten von einer wachsenden Zahl von Individuen, die ihr Leben auf den Grundlagen wissenschaftlicher Rationalität selbstbestimmt verwirklichen möchten: »Nur wenn die große Mehrheit der Menschen sich aus eigener, freier Überzeugung für eine dergestalt wissenschaftlich-technisch begründete und verantwortliche gestaltete Lebensweise entscheidet, wozu eine freiheitliche, lebensertüchtigende Bildung sie freilich erst in Stand setzen muß, kann eine freie Gesellschaftsordnung ihre Kräfte für die Menschheit voll zur Geltung bringen.«28 Die Freiheit des Einzelnen, sein Leben eigenverant26 | Im Unterschied zur Bioethik betonen biopolitische Konzepte, dass es sich beim Streit um die Einbeziehung des Menschen und des menschlichen Lebens in den Gegenstandsbereich der Biologie vorrangig um eine politische Auseinandersetzung über die (Neu-)Gestaltung der Gesellschaft unter Einschluss des menschlichen Körpers handelt; siehe Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1977. 27 | Siehe Christian Geyer (Hg.), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt/ Main 2001 28 | Hubert Markl, Schöner neuer Mensch?, München 2002, S. 13

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wortlich zu gestalten, umgreift auch die Sorge um seine Gesundheit und – in letzter Konsequenz – die ›Sorge um seine Gene‹. Thomas Lemke interpretiert diese Verschiebung im biopolitischen und bioethischen Diskurs wie folgt: »Die gesellschaftliche Bedeutung genetischer Information liegt weniger in der Kontinuität eines genetischen Determinismus bzw. in der Ableitung individueller und sozialer Phänomene aus dem Genotyp, sondern vor allem in der Konstruktion genetischer Risiken. Die Analysemethoden und Verfahren der genetischen Diagnostik zielen gerade nicht auf die Produktion eindeutiger Kausalketten oder die Reduktion aller möglichen Sachverhalte auf das Genom, sondern auf die Steuerung von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten und Erwartungen, wobei sie sich nicht am Modell der Determination, sondern am Modus der Disposition orientieren. Es ist erst diese ›relative Offenheit‹ einer Disposition zum Risiko, die im humangenetischen Diskurs den Appell an Autonomie und Eigenverantwortung ermöglicht: Statt kollektives Schicksal zu sein, werden die Gene heute immer mehr unter der Perspektive individueller Potenziale betrachtet, sie sind weniger Bestandteil einer biologischen Vererbung als Element von sozialen Strategien, die auf eine Optimierung des persönlichen Humankapitals und der subjektiven ›Lebensqualität‹ zielen.«29 Die Kritik am genetischen Determinismus, und damit die Genetische grundlegende Differenz zum klassischen Sozialdarwinismus beto- Verantwortung nend, beruht nach Lemke auf dem Konzept einer »genetischen Verantwortung«: Individuen müssen, wollen sie sich zu Recht als verantwortliche Gestalter ihres Lebens begreifen, ein ausreichendes Risikomanagement auch ihrer Gene und einen diesem adäquaten Lebensstil pflegen. »Der häufige Gebrauch der Risikosemantik deutet darauf hin, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Genomanalyse und Gendiagnostik weniger in der Feststellung eines faktischen Determinationsverhältnisses oder dem Hinweis auf die Schicksalhaftigkeit der Gene liegt als in der Herstellung eines ›reflexiven‹ Verhältnisses von individuellem Risikoprofil und sozialen Anforderungen. Der permanente Verweis auf Eigenverantwortung und Selbstbestimmung in den Biowissenschaften ist in dieser Perspektive nicht eine ideologische 29 | Thomas Lemke, Zurück in die Zukunft? – Genetische Diagnostik und das Risiko der Eugenik, in: Sigrid Graumann (Hg.), Die Genkontroverse, Freiburg 2001, S. 37–45; hier S. 38

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Täuschung oder ein rhetorisches Instrument, sondern materialer Bestandteil eines Risikodispositivs, in dem die Individuen mehr sind als Opfer oder Gefangene ihres Erbmaterials.«30 Dieser, auf einem Begriff des Individuums basierende biopolitische Diskurs kann nun problemlos Verknüpfungen zu gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Debatten um die Bedeutung der Individualisierung von Lebensstilen in der ›zweiten, reflexiven Moderne‹ oder dem Postmoderne-Diskurs knüpfen. Vor diesem Hintergrund ist es dann für Markl selbstverständlich, dass mit ›Lebenswissenschaften‹ nicht nur Naturwissenschaften gemeint sein können, sondern gleichberechtigt auch all die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die sich mit dem Menschen, dem vom individuellen Menschen gelebten Leben beschäftigen, wobei von Markl der Begriff ›Leben‹ aber nur in biologischer Hinsicht erläutert wird. Individuum Den bisher wohl umfänglichsten Versuch einer Ausarbeitung solcher um Individualität und Selbstbestimmung zentrierter Überlegungen hat Volker Gerhardt vorgelegt. Für ihn ist die Überlegung zentral, dass Moral ausschließlich Sache des Individuums sei, und zwar genau desjenigen Individuums, das ein Problem mit sich habe, etwa weil ihm ein überliefertes Selbstverständnis fragwürdig werde oder geworden sei und es sich nun selbst daraufhin befragen muss, was zu tun sei. Damit rücken das von jedem gelebte Leben und die Art des reflexiven Bezugs des Einzelnen auf sein gelebtes Leben in den Mittelpunkt des Interesses. »Das Leben haben wir nur, sofern wir es führen. Und die Moral besteht in nichts anderem als darin, eben dies – theoretisch wie praktisch – ausdrücklich zu machen. Somit steht die – recht verstandene – Moral ganz und gar im Dienst eines – recht verstandenen – Lebens.«31 So stark nun auch diese Überlegung an Plessner erinnern mag, auf den Gerhardt sich systematisch bezieht, so bleibt doch festzuhalten, dass Gerhardt ›Leben‹ zwar als einen Begriff konzipieren möchte, der jenseits vorgängiger Unterscheidungen von Natur und Kultur liegt, weil an ihm erst Natürliches und Kultürliches unterscheidend aufgewiesen werden könnten. In seiner Durchführung aber, insbesondere in der Begründung der Indivi30 | Ebd., S. 39 31 | Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart, S. 22

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dualität allen Lebens, nimmt er ausschließlich Ergebnisse – und zwar höchst heterogene – aus Teilen der Natur- bzw. den Biowissenschaften auf. Er tut dies mit folgender Begründung: »Eine philosophische Beschreibung des Lebens ist ohne Wert, wenn ihr nicht auch der Biologe zustimmen kann. Was wäre von einer Philosophie zu halten, die sich, abweichend von der zuständigen Einzelwissenschaft, eigene Phänomene zurechtlegte?«32 So hält er »Selbstorganisation« für »das Prinzip des Lebens«, parallelisiert individuelles Erleben mit der selbstreferenziellen Aktivität des Organismus und behauptet, dass Leben uns nur in »überaus prägnanten individuierten Formen entgegenträte«33, dass, weil Leben immer nur in der Form individuierter Einzelwesen auftrete, »nur der singuläre Organismus lebe und nichts außer ihm.«34 Dabei übersieht Gerhardt vollständig, dass der von ihm vorgeblich aus den Biowissenschaften übernommene Begriff des Individuums und der Individualität in diesen selbst schon immer äußerst kontrovers behandelt wurde und eine übereinstimmende Verwendung dieser Termini auch heute nicht aufgewiesen werden kann. Erinnert sei nur an die die gesamte evolutionsbiologische Diskussion durchziehende Frage nach der Einheit der Selektion (Gen, Individuum, Population, Art?). Auch die von Gerhardt herangezogenen biowissenschaftlichen Gewährsleute – Humberto Maturana und Ernst Mayr – stützen, genau genommen, gerade nicht die von Gerhardt beanspruchte Sicherheit und Begründetheit der These bezüglich der Individualität alles Lebendigen: Für Mayr sind Populationen die entscheidenden evolutionsbiologischen Einheiten und nicht die Individuen oder die Gene; und infolge des systemtheoretischen Formalismus kann mit den analytischen Mitteln von Maturanas Autopoiesis-Theorie – wie eben mit jeder Systemtheorie – ein chemisches System, ein einzelner Organismus, eine Population oder Metapopulation, ja, das Leben insgesamt als ›ein Individuum‹ konzipiert werden.35 Die begriffliche Unklarheit in der Rede von ›Leben‹ und ›Individuum‹ in den Biowissenschaften spiegelt sich exakt in Ger-

Einheiten in der Biologie

Leben und Individuum

32 | Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 99 33 | Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a. a. O., S. 161 34 | Ebd., S. 167f. 35 | Zum dialektischen Systembegriff siehe Angelica Nuzzo, System (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe), Bielefeld 2003

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hardts Ausführungen: Wenn ›lebendige Individuen‹ die eigentlichen Gegenstände der Biowissenschaften sind, muss der Gebrauch des Wortes ›Leben‹ besonders gerechtfertigt werden. Wie verhält sich ›das Leben‹ zu ›lebendigem Individuum‹? Gibt es nur Individuen? Wie können diese dann als Repräsentanten (token) einer Art (type) bestimmt werden? So behaupten viele Biologen, es gäbe Arten als natürlich vorfindliche Einheiten im Unterschied zu Gattungen, Familien und Stämmen, die ausschließlich Abstraktionsprodukte klassifizierender Verfahren seien. Und können ›Vermehrung‹ und ›Fortpflanzung‹ biologisch wirklich vom vereinzelten Individuum her begriffen werden? Oder zeigt nicht Sexualität, dass ›Individuierung‹ als Differenzierungsprozess auf einer Populationsebene konzipiert werden muss, weshalb Individualität ein abgeleiteter Begriff ist? So ist Gerhardts folgende Ausführung nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch biologisch, gelinde gesagt, äußerst fragwürdig: »Wo sich ein Individuum von sich aus erhalten will, muß es Gleiches produzieren, damit es eben das Individuum bleiben kann, als das es sich erhält. Die individuelle wie auch die artspezifische Sicherung von Individualität ist nur unter der Voraussetzung fortlaufend produzierter Gleichheit möglich.«36 Nein! Biologisch muss gerade im Gegenteil gesagt werden, dass Individualität nur durch die fortwährende Produktion und Aufrechterhaltung von Ungleichheit, von Differenz ermöglicht wird. Gerade weil genetisch jedes einzelne Lebewesen von jedem anderen verschieden ist, führt sexuelle Fortpflanzung zur Erzeugung eines Lebewesens, das selbst wiederum eine einmalige Kombination von Genen darstellt. Und Lebewesen, die sich, wie z. B. Bakterien, nicht sexuell vermehren, verfügen über spezielle Mechanismen, die einen Austausch von genetischem Material, also die Aufrechterhaltung genetischer Heterogenität, ermöglichen. Insofern ist es durchaus berechtigt zu sagen, dass von Gerhardt der von ihm erhobene Anspruch, philosophische Beschreibungen müssten sich mit den Konzepten der Fachwissenschaften decken, nicht eingelöst wird. Schließlich wird spätestens mit Gerhardts Überlegungen zum Selbstbewusstsein unklar, weswegen er im Rahmen seiner philosophischen Systematik überhaupt einen, und dann auch noch einen so stark naturalisierenden Zugriff auf die Biowissenschaften braucht. Bei ihm heißt es nämlich: »Wir verdanken also erst 36 | Volker Gerhardt, Individualität, a. a. O., S. 113

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den Begriffen, uns auf Gleiches, eindeutig Verschiedenes, Gegensätzliches oder überhaupt auf ein Einziges beziehen zu können. Sie ermöglichen gerade in der von ihnen begrifflich abgesicherten Differenz der Individuen, identische Beziehungen zu Sachverhalten aufzubauen.«37 Genau spiegelbildlich zu Singers Ausführung, der die Indivi- Individualisierung dualität des Lebendigen nicht thematisieren kann, kann Ger- ontologisch hardt die Bedeutung des type, der Population, als Voraussetzung von Individuierung nicht erfassen, obwohl er gerade in seinem Anschluss an biowissenschaftliche Diskurse immer wieder auf dieses Problem gestoßen wird. Zugleich kann festgehalten werden, dass es einen erheblichen systematischen Unterschied ausmacht, begrifflich-rekonstruktiv zu argumentieren, wie es Gerhardt in seiner Rede über Selbstbewusstsein andeutet, oder naturphilosophisch-konstitutiv mit direktem und der begrifflichen Arbeit vorgängigem Bezug auf als empirisch begründet unterstellte Ergebnisse der Naturwissenschaften zu argumentieren. Naturalistische Annahmen auch in der Bioethik von Haber- Naturalisierungsmas? | Nun dürfte deutlich sein, dass es sich bei der grob skiz- strategien zierten Differenz zwischen Theorietypen, die den type/natural kind gegenüber dem token verabsolutieren (Singer) oder umgekehrt Individualität/token gegenüber dem Allgemeinen/type (Gerhardt), nicht um fachwissenschaftlich empirisch resp. experimentell oder moralphilosophisch entscheidbare Probleme handelt, sondern um klassisch wissenschaftstheoretische Probleme des Verhältnisses von Wissenschaften und Philosophie (theoretischer und praktischer Philosophie) sowie um begriffliche Probleme, wie die der philosophisch-anthropologischen Rede vom Menschen. Jürgen Habermas kritisiert daher mit Recht beide Positionen, um seine Überlegungen zur Bioethik vorzubereiten: »Die Natur wird in dem Maße, wie sie der objektivierenden Beobachtung und kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, entpersonalisiert. Die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem 37 | Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, a. a. O., S. 218. Für die weitere Diskussion des Ansatzes von Gerhardt wäre eine kritische Analyse seiner Ausführungen zur Spiegelmetaphorik wichtig. Dort versucht er zu zeigen, dass der Mensch über das Sich-selbst-im-Spiegel-Spiegeln einen Begriff von sich als Individuum und Selbst erlangen könne; siehe Volker Gerhardt, Individualität, a. a. O., S. 135ff.

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sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus. Was wird nun aus solchen Personen, wenn sie sich nach und nach selber unter naturwissenschaftliche Beschreibungen subsumieren? Wird sich der Commonsense am Ende vom kontra-intuitiven Wissen der Wissenschaften nicht nur belehren, sondern mit Haut und Haaren konsumieren lassen?«38 Und weiter: »Der Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des Geistes ist ein wissenschaftliches Bild vom Menschen in der extensionalen Begrifflichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie, das auch unser Selbstverständnis vollständig entsozialisiert. Das kann freilich nur gelingen, wenn die Intentionalität des menschlichen Bewusstseins und die Normativität unseres Handelns in einer solchen Selbstbeschreibung ohne Rest aufgehen.«39 BeschreibungsFür ihn folgt aus diesen Überlegungen, dass eine moralisch perspektiven relevante Beschreibung einer Person als Beschreibung eine radikal andere als die Beschreibung eines naturwissenschaftlichen Objekts sei. Für die Beschreibung einer Person sei nämlich die Du-Perspektive ausschlaggebend, also die Teilnehmerperspektive gemeinsam geteilter Praktiken, und nicht die Beobachterperspektive von Sachverhalten in der Welt, für die die Perspektive von dritten Personen veranschlagt werden müsse. »Dieses Bewusstsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der Kern eines Selbstverständnisses, das sich nur der Perspektive eines Beteiligten erschließt, aber einer revisionären wissenschaftlichen Beobachtung entzieht.«40 Auch wenn man im Kontext moralphilosophischer Überlegungen Habermas zunächst hinsichtlich der Unterscheidung zweier Beschreibungsweisen des Menschen zustimmen muss, so bleibt klärungsbedürftig, in welchem Verhältnis beide Beschreibungen zueinander stehen. Handelt es sich um Beschreibungen verschiedener Gegenstände, etwa in dem Sinne, dass die Biowissenschaften den Menschen als Tier untersuchen und die Kulturwissenschaften den Menschen als kulturelle und soziale Entität? Oder handelt es sich um verschiedene Beschreibungen (im Sinne von: als Beschreibung verschiedene)41 38 39 40 41

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Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/Main 2001, S. 16f. Ebd., S. 17 Ebd., S. 19f. Siehe zu diesem Problemkomplex die Arbeiten von Josef König.

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von Unterscheidungen am Menschen, die im Rahmen bestimmter forschungsleitender Interessen und Zwecksetzungen erfolgten? War die Diskursethik bisher individualistisch und formalprozedural auf die Koexistenz einer Pluralität von Lebensformen und Strukturen des ›Selbstseinkönnens‹ ausgerichtet, so müssten nun angesichts des vermuteten gentechnischen Könnens in Anwendung auf den Menschen Fragen einer ›Gattungsethik‹ thematisiert werden. »Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlicher Stellungnahmen nicht mehr entziehen. In dieser Situation befinden wir uns heute.«42 Angesichts des behaupteten gentechnischen Könnens in Anwendung auch auf den Menschen werde nämlich die Unverfügbarkeit eines kontingenten Befruchtungsvorgangs mit der Folge einer unvorhersehbaren Kombination von zwei verschiedenen Chromosomensätzen zur Disposition gestellt. Dies habe zur Folge: »Die Grenze zwischen der Natur, die wir ›sind‹, und der organischen Ausstattung, die wir uns selber ›geben‹, verschwimmt. Für die herstellenden Subjekte entsteht damit eine neue, in die Tiefe des organischen Substrats hineinreichende Art des Selbstbezugs. Nun hängt es nämlich vom Selbstverständnis dieser Subjekte ab, wie sie die Reichweite der neuen Entscheidungsspielräume nutzen wollen – autonom nach Maßgabe normativer Erwägungen, die in die demokratische Willensbildung eingehen, oder willkürlich gemäß subjektiven Vorlieben, die über den Markt befriedigt werden.«43 Habermas greift mit solchen Ausführungen auf die plessnersche Unterscheidung zwischen »Leib sein« (die Du-Perspektive gemeinsam geteilter Praktiken) und »Körper haben«44 (die mit der dritten Person verknüpfte Beobachterperspektive) zurück, um so für seine gattungsethischen Überlegungen einen materialen Ausgangspunkt zu gewinnen, von dem aus das technische Verfügen über den Menschen bezüglich der Konsequenzen für sein Leibsein normativ für alle Menschen geregelt werden könne. »Wollen wir die kategorial neue Möglichkeit, in

Wende zu einer Gattungsethik

Leibsein und Körperhaben

42 | Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zur liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main 2001, S. 27 43 | Ebd., S. 28 44 | Siehe Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928

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Natürlicher und individueller Anfang des Lebens

das menschliche Genom einzugreifen, als einen normativ regelungsbedürftigen Zuwachs an Freiheit betrachten – oder als die Selbstermächtigung zu präferenzabhängigen Transformationen, die keiner Selbstbegrenzung bedürfen? Erst wenn diese grundsätzliche Frage zugunsten der ersten Alternative entschieden wird, lässt sich über Grenzen einer negativen, unmissverständlich auf die Beseitigung von Übeln abzielenden Eugenik streiten.«45 Unter Rückgriff auf Hannah Arendts (1906–1975) Überlegungen zur Gebürtlichkeit des Menschen als »immer wieder neu anfangen können«46 versucht Habermas dann plausibel zu machen, dass die bisherige Kontingenz des Befruchtungsvorgangs eine notwendige Voraussetzung des Selbstseinkönnens und der grundsätzlich egalitären Natur interpersonaler Beziehungen sei. Genau diese notwendige Voraussetzung des kontingenten Anfangs aller Menschen werde durch das technische Verfügen über die individuellen Anfänge menschlichen Lebens infolge der Verwischung der Grenze zwischen Personen und Sachen sowie der sich hieraus ergebenden Einschränkung der unter freien und gleichen Personen grundsätzlich bestehenden Symmetrie außer Kraft gesetzt. »Dann könnten die Nachgeborenen die Hersteller ihres Genoms zur Rechenschaft ziehen und für die aus ihrer Sicht unerwünschten Folgen der organischen Ausgangslage ihrer Lebensgeschichte verantwortlich machen. Diese neue Struktur der Zurechnung ergibt sich aus der Verwischung der Grenze zwischen Personen und Sachen. […] Mit der irreversiblen Entscheidung, die eine Person über die ›natürliche‹ Ausstattung einer anderen Person trifft, entsteht eine bisher unbekannte interpersonale Beziehung. Diese Beziehung neuen Typs verletzt unser moralisches Empfinden, weil sie in den rechtlich institutionalisierten Anerkennungsverhältnissen moderner Gesellschaften einen Fremdkörper bildet.«47 Wird mit diesen Überlegungen aber nicht eine Behauptung über die Natur der Gattung Mensch gesetzt, in der die Fähigkeit des Selbstseinkönnens und das Angelegtsein auf egalitäre interpersonale Beziehungen zur ›Natur‹ des Menschen gerechnet werden? Und meint ›Natur des Menschen‹ eine Aussage über das We45 | Ebd. 46 | Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 47 | Ebd., S. 30

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sen des Menschen oder über dessen naturgeschichtliches Gewordensein im Sinne evolutionsbiologischer Aussagen über die Natur oder über die biologische Art (natural kind) des Menschen? Hier tritt eine Doppeldeutigkeit zu Tage, die nahezu alle philosophisch-anthropologischen Überlegungen seit Immanuel Kant (1720–1804) kennzeichnet.48 Habermas verbleibt hier eigentümlich unentschieden – wie der Anschluss an Arendt (Wesen der Menschen) einerseits und Hans Jonas (1903–1993) (naturgeschichtliches Gewordensein des Menschen) andererseits zeigt –, scheint aber insgesamt stärker zur Seite naturgeschichtlicher Überlegungen zu tendieren, indem er für einen ›schwachen‹ Naturalismus plädiert. Dieser sucht Antworten auf die ontologische Frage des Naturalismus – »wie die aus der Teilnehmerperspektive unhintergehbare Normativität einer sprachlich strukturierten Lebenswelt, in der wir uns als sprach- und handlungsfähige Subjekte ›immer schon‹ vorfinden, mit der Kontingenz einer naturgeschichtlichen Entwicklung soziokultureller Lebensformen in Einklang gebracht werden kann. Zum anderen geht es um die erkenntnistheoretische Frage des Realismus – wie die Annahme einer von unseren Beschreibungen unabhängigen, für alle Beobachter identischen Welt mit der sprachlichen Einsicht zu vereinbaren ist, dass uns ein direkter, sprachlich unvermittelter Zugriff auf die ›nackte‹ Realität versagt ist.«49 Ein schwacher Naturalismus »nach Kant und Darwin« müsse die hermeneutisch ansetzende rationale Rekonstruktion lebensweltlicher Strukturen aus der Teilnehmerperspektive zwar immer von der beobachtungsgeleiteten kausalen Analyse der naturgeschichtlichen Entstehung dieser Strukturen getrennt halten; auf einer metatheoretischen Ebene könne aber sehr wohl die Annahme einer naturgeschichtlichen Kontinuität zwischen Natur und Kultur stark gemacht werden. Durch einen solchen genetischen Primat der Natur vor der Kultur werde dann eine erkenntnisrealistische Haltung »erzwungen«. »Nur die erkenntnisrealistische Voraussetzung einer intersubjektiv zugänglichen objektiven Welt kann den epistemischen Vorrang des sprachlich artikulierten lebensweltlichen Hori-

Wesen oder naturgeschichtliches Gewordensein? Genetischer Primat der Natur vor der Kultur

48 | Siehe Mathias Gutmann/Michael Weingarten, Das Leibapriori – ein nicht ausgearbeitetes Fundament der Diskursethik?, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8(2002), a. a. O., S. 173–179 49 | Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 1999, S. 7f.

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zonts, den wir nicht überschreiten können, mit dem ontologischen Vorrang einer sprachunabhängigen Realität, die unseren Praktiken Beschränkungen auferlegt, in Einklang bringen.« 50 Dualismus von Genau dadurch zeigt sich dann aber eine kulturalistische PoGattung und sition, die die Teilnehmerperspektive an gemeinsamen Praktiken Individuum gegenüber der Beobachterperspektive methodisch als vorrangig auszeichnet, als auf starken naturalistischen Prämissen beruhend. Denn nur so ist es ihr möglich, die Rede von der Gattung Mensch auf der Seite der Natur zu verorten, die Individualität der Menschen dagegen als Kulturleistung auszuzeichnen. Obwohl Habermas von allen an der Bioethik-Diskussion Beteiligten am deutlichsten sieht, dass menschliche Gattung und menschliche Individualität in einem begrifflichen Konzept gefasst werden müssen, bleibt er doch einem Dualismus verhaftet, dem Natur als das nicht individuierte Allgemeine und Kultur als das nicht allgemeine Individuierte erscheint. Wenn Habermas seine Position zusammenfasst – »An dieser Stelle kommt das lange vorbereitete Argument zum Zuge, dass die gentechnische Entwicklung im Hinblick auf die menschliche Natur anthropologisch tief sitzende kategoriale Unterscheidungen zwischen Subjektivem und Objektivem, Gewachsenem und Gemachtem unscharf werden lässt. Deshalb steht mit der Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens ein gattungsethisches Selbstverständnis auf dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen verstehen können. Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen Wegweiser halten«51 –, dann ist der Einspruch von Rainer Forst wohl begründet, hiermit werde vom ›Pfad der deontologischen Tugend‹ abgewichen. Denn als ›Natur‹ entzieht sich das von Habermas veranschlagte ›Gattungsethische‹ gerade einer ausschließlich auf individueller Kommunikation basierten Gesellschaftstheorie und Moralphilosophie. Schließlich hat Habermas selbst ›Natur‹ immer nur im Zusammenhang instrumentell-zweckrationalen Handelns thematisiert und auf der Unterscheidung und Abgrenzung von kommunikativ-verständigungsorientiertem von instrumentell-strategischem Handeln die Grundbegriffe seiner Theorie gewonnen. 50 | Ebd., S. 41 51 | Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, a. a. O., S. 121

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Die Unterscheidung von Natur und Kultur in gegenwärtigen philosophischen Anthropologien | Die Diskussion dreier exemplarischer Bioethiken sollte deutlich gemacht haben, dass durch fehlende wissenschaftstheoretische Rekonstruktionen des Verhältnisses von Genetik(en) und Gentechnik und die daraus resultierende unzureichende Begründung der Kriterien zur Beurteilung gentechnischer Verfahren auf ihre Chancen und Risiken zum allein moralphilosophisch nicht einholbaren Problem wird. Weiterhin wird deutlich, dass durch die fehlende Bestimmung des Status der implizit oder explizit in Anspruch genommenen anthropologischen Grundlagen52 und die damit verknüpfte unzureichende Bestimmung des Verhältnisses von menschlichem Individuum und menschlicher Gattung, die moralphilosophischen Bemühungen in der Debatte um Bio- und Gentechniken zwar einen gut gemeinten ›Überbau‹ darstellen, der aber insofern äußerst instabil ist, weil ihm ein solides wissenschaftstheoretisches und (anthropologisch-)begriffliches Fundament fehlt. Und dort, wo zumindest ansatzweise auf ein solches rekurriert wird, dominiert – vielleicht ausschließlich motiviert durch die Metaphysik- und Ontologie-Skepsis insbesondere der analytischen Philosophie – ein vorschneller Anschluss an biowissenschaftliche Aussagen zum Menschen, die in ihrem Geltungsstatus wiederum nicht überprüft und als empirisch wahr fraglos übernommen werden. In Bezug auf die hier nur exemplarisch skizzierte Problemdiskussion haben sich in den letzten Jahren Forschungskonzepte etabliert, die sich selbst als Alternativen zu einem gerade in den Naturwissenschaften, aber auch – wie die Beispiele Gerhardt und Habermas zeigen – in den Kulturwissenschaften noch immer allzu häufig anzutreffenden Realismus oder Naturalismus in der Rede über den Menschen verstehen. Zu diesen Konzepten gehören: 1. das Programm einer Historischen Anthropologie, wie es von Richard van Dülmen und Dietmar Kamper entwickelt worden ist. Dort wird hauptsächlich untersucht, wie und infolge welcher Faktoren sich kulturelle Symbolisierungen des Menschen, seines

Erstes Resümee

Neue anthropologische Forschungsprogramme

52 | Hier ist die Rede von Anthropologie als Teildisziplin der Biowissenschaften, insofern sie das naturgeschichtliche Gewordensein des Menschen als biologischer Art thematisiert, oder von Anthropologie als philosophische Lehre vom Wesen des Menschen.

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Körpers, seines Selbstverständnisses usw. im Verlauf der Kulturund Sozialgeschichte geändert haben.53 2. das Programm der cultural studies, das zwar durchaus in Übereinstimmung mit Vorgehensweisen der Historischen Anthropologie kulturelle Symbolisierungen untersucht, im Unterschied zu weiten Teilen der Historischen Anthropologie aber den viel weiter reichenden Anspruch erhebt, zeigen zu können, dass den jeweiligen Symbolisierungen keine außerkulturellen Materialitäten entsprechen. Damit steht in Frage, was heute noch unter ›Natur‹ verstanden werden kann, ob es sich bei der Rede von Natur ausschließlich um eine kulturelle Symbolisierung handelt, oder ob noch ein gegenständliches Referenzobjekt benannt werden kann, das in der Symbolisierung nicht aufgeht.54 3. die radikalste und in der öffentlichen Wahrnehmung einflussreichste Strömung, ein ›lingualistischer Idealismus‹, der bestreitet, dass es überhaupt außerhalb von Sprache Materialitäten, Dinglichkeit oder außersprachliche Referenten gäbe. Die zurzeit wohl wichtigsten Vertreter dieser Strömungen sind Jacques Derrida und Judith Butler.55 Metapher und Nun wäre es sicherlich voreilig, solche Konzepte allein mit Gegenstands- den Schlagworten ›Dekonstruktivismus‹ und ›Postmoderne‹ abkonstitution zutun. Denn bei aller berechtigten Kritik wurde durch diese Forschungsansätze (wieder) das Problem aktuell, inwiefern gerade auch in den Naturwissenschaften im Rahmen der jeweiligen Gegenstandskonstitutionen Metaphern verwendet werden und vielleicht sogar notwendigerweise verwendet werden müssen. So fällt bei Jacob sofort die Verwendung technischer Metaphern an zentralen Stellen seiner Argumentation ins Auge, ohne dass von ihm der begriffliche Status dieser Metaphern, etwa als Modelle für die Strukturierung biotischer Gegenstände56 oder als grund53 | Siehe z. B. Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Köln 1998; Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/Main 1991 54 | Siehe z. B. Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001 55 | Siehe Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976; ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991; dies., Körper von Gewicht, Berlin 1995. 56 | Die Funktion eines Teils eines Lebewesens kann diesem nicht unmit-

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sätzlich problematische Identitätsbehauptung »biotische Systeme sind Aggregate genau so wie technische Systeme Aggregate sind«, zureichend geklärt würden. Zu betonen ist, dass der Dekonstruktivismus ebenso wie die Werkzeug als cultural studies und die Historische Anthropologie wieder auf die Modell für Organ Bedeutung von Metaphern aufmerksam machen. Denn schon Hans Blumenberg und Mary Hesse haben in den frühen 1960er Jahren heute noch eindrucksvolle wissenschaftshistorische Studien zu diesem Themenbereich verfasst.57 Doch genau genommen, muss man ideengeschichtlich – auf alle Fälle für den biowissenschaftlichen Kontext – noch viel weiter zurückgehen. Schließlich hat schon Aristoteles (384–322 v. u. Z.) in seiner Schrift Über die Seele darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Rede von Organen als Teilen eines Lebewesens von unserem Wissen um den Gebrauch von Werkzeugen abhängig ist. Anders gesagt: Wir unterscheiden Teile eines Lebewesens als Organ mit einer bestimmten Funktion von anderen Teilen als Organen mit bestimmten Funktionen, indem wir Werkzeuge als Modelle für die Erkenntnis ihrer bestimmten Leistungen verwenden.58 Genau insofern zeigt es sich als unverzichtbar, wenn wir denn vernünftig Naturwissenschaft betreiben wollen, auf die sprachlichen Mittel zu achten und diese gegebenenfalls zu korrigieren, mit denen experimentelle Handlungen und insgesamt die Vorgehensweisen und Unterscheidungsleistungen in den Wissenschaften beschrieben werden. Diese hier aufgelisteten anthropologisch relevanten Forschungskonzepte legen zunächst folgende Fragen nahe: 1. Kann überhaupt anthropologisch nach dem Menschen getelbar abgelesen werden. Vielmehr werden aufgrund unserer Kenntnisse, etwa über die Funktionsweise einer Maschine, bestimmte Teile eines Lebewesens so modelliert, dass ihnen über ein Maschinenmodell eine leistungsgleiche Funktion zugeschrieben wird. 57 | Siehe Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metapherologie, Bonn 1960, und Mary Brenda Hesse, Models and Analogies in Science, London 1963; vgl. dazu neuerdings und von einem dialektischen Standpunkt Jörg Zimmer, Metapher (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe), Bielefeld 22003 58 | Siehe die an Aristoteles anschließenden systematischen Ausführungen in Peter Janich/Michael Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie I, München 1999, Kap. 4; Mathias Gutmann, Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand, Berlin 1996

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Der Mensch oder fragt werden, oder ist nicht, z. B. im Anschluss an Arendt, die Menschen? grundsätzlich von einer Pluralität von Menschen auszugehen?

Anthropologie – Konstitutionsoder Rekonstruktionstheorie?

Gerade so könnten sich vielleicht die Probleme vermeiden lassen, die innerhalb naturalistischer Forschungsansätze, also den Konzepten von natural kinds und type-token, zu einer Reduktion des Menschen auf eine biologische Art unter anderen biologischen Arten führen, die damit die Sozialität der Menschen einschließlich ihrer Kultur(en) nur als Eigenschaft fixieren können und in der Bioethik zur problematischen Unterscheidung von Mensch als biologischer Art und Person (Art plus sozialen/kulturellen Eigenschaften und Fähigkeiten) führen. Denn so wird nicht mehr das vereinzelte Individuum in der abstrakten Relation zur Gattung beurteilt, sondern der Blick wird auf die Vielfalt der Beziehungen zwischen Menschen gelenkt, aus denen erst reflexiv ein Begriff der Menschheit gewonnen werden kann. Genau damit kann auch der ontologische oder methodologische Individualismus entkräftet werden, denn dessen Verzicht auf einen Begriff der Gattung erweist sich als bloß abstrakte Umkehrung des typetoken-Modells. Das Verhältnis von (menschlicher) Gattung und (menschlichem) Individuum muss also begrifflich so gefasst werden (können), dass weder die Individualität in der Gattungsallgemeinheit verschwindet noch umgekehrt die Gattungsallgemeinheit der Vereinzelung des Einzelnen geopfert wird. In dieser Hinsicht sollte es dann auch möglich sein, einen philosophischen Begriff der menschlichen Gattung in Abgrenzung zu und Unterscheidung von einem biologischen Artbegriff einzuführen, um die Berechtigung des Rückgriffs auf einen, wenn auch schwachen Naturalismus als überflüssig aufzeigen zu können. 2. Sollen anthropologische Forschungen konstitutionstheoretisch oder rekonstruktionstheoretisch argumentieren?59 Sowohl sozialkonstruktivistisch-dekonstruktivistische Forschungsprogramme als auch biowissenschaftliche Konzepte sind bezüglich dieses Problems merkwürdig unentschieden. So kann etwa Bruno Latour problemlos von einem sozialkonstruktivistischen Ansatz zu einem realistischen, wenn nicht sogar einem naturalistischen 59 | Konstitutionstheoretisch wird entweder ontologisch nach dem Wesen oder transzendentalphilosophisch nach den Bedingungen der ›Möglichkeit von …‹ gefragt; rekonstruktionstheoretisch werden begriffliche Verhältnisse auf ihre Stimmigkeit und ihren methodisch geordneten Aufbau hinterfragt.

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wechseln, indem er konstitutionstheoretisch argumentiert. Andererseits gilt: Wenn ein Satz wie »Der Mensch ist …« nicht konstitutionstheoretisch begründet werden soll, also weder eine Ding(Substanz-)-Eigenschaftsbehauptung noch eine ontologische Wesensaussage bezüglich einer invarianten ›Natur‹ des Menschen begründet und gerechtfertigt werden sollen, wie kann dann der Verdacht ausgeräumt werden, dass eine rekonstruktive Vorgehensweise, etwa in der Redewendung »in unserem gegenwärtigen kulturellen Kontext verstehen wir unter ›Mensch‹ …«, nur zu einem Relativismus führen könne, in dem im extremen Fall entweder die Möglichkeit der Ausgrenzung von Menschen als z. B. ›Untermenschen‹, ›minderwertigen Menschen‹ oder als spiegelbildlicher Gegenpol auch zunächst unproblematisch erscheinende Bestimmungen wie die des ›absoluten Andersseins‹ des jeweiligen Anderen60 nicht vermieden werden könnten? 3. Kann die Unterscheidung von ›Leib‹, mit der sprachlichen Leib und Körper Konnotation von Leben als Lebensvollzug, und ›Körper‹, der sowohl in Teilen der (nicht-biologistischen) Lebensphilosophie als auch in der Phänomenologie vorgeschlagen wurde, für die Grundlegung der Medizin als Wissenschaft fruchtbar gemacht werden? Etwa so, dass mit ›Körper‹ eine bestimmte Hinsicht auf den ›Leib‹ gemeint ist, ein Verhältnis, das als Konkretisierung des Verhältnisses von (Körper-)Ding und gegenständlichem Verhältnis gefasst werden kann? Und welche Implikationen hätte eine solche Unterscheidung für die Bestimmung des Verhältnisses von menschlicher Gattung und Individuen? Anschlussfähig erscheint eine Überlegung Plessners, wobei die von mir hinzugefügten Klammerbemerkungen schon einen Lektürevorschlag bilden: »Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er [der individuelle Mensch] sich zu dem, was er schon ist [Gattung], erst machen [Besonderheit der individuellen Lebensform im Vollzug]. Nur so erfüllt er die ihm mit seiner vitalen Daseinsform aufgezwungene Weise, im Zentrum seiner Positionalität – nicht einfach aufzugehen, wie das Tier, das aus seiner Mitte heraus lebt, auf seine Mitte alles bezieht, sondern zu stehen und so von seiner Gestelltheit zugleich zu wissen. Dieser Daseinsmodus des in seiner Gestelltheit Stehens ist nur als Vollzug vom Zentrum der Gestelltheit aus möglich. Eine derartige Weise zu sein ist nur als 60 | Siehe Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg, München 1992

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Realisierung durchführbar.«61 Die Menschen unterscheiden sich selbst im Vollzug ihres Lebens voneinander. Dieses Sich-selbstvoneinander-Unterscheiden führt erst zu ihrer Individuierung, also zu ihrer Personwerdung. Ob allerdings diese These im Rahmen anthropologisch-naturphilosophischer und konstitutionstheoretischer Überlegungen begründet werden kann oder nicht doch besser sprachlich-begrifflich und rekonstruktionstheoretisch, ist ein eigens zu diskutierendes Problem. Deutlich sollte aber sein, dass mit der Ausarbeitung der plessnerschen These weder die Aufhebung des Individuellen im Gattungsallgemeinen bezweckt wird noch die Negation des Gattungsallgemeinen zu Gunsten eines methodologischen Individualismus wie bisher in der Diskursethik. Selbstunterscheidung der Menschen in Natur und Technik

Doppelte Abgrenzung: Der Mensch zwischen Natur und Technik | Erst nach der begrifflichen Klärung dessen, was mit der Selbstunterscheidung der Menschen voneinander als einem Tun, das im Vollzug des je individuellen Lebens realisiert wird, gemeint ist, kann begründet von der Verschiedenheit von Mensch, nun notwendigerweise hinsichtlich der Gattungsallgemeinheit, und Tier gesprochen werden. Damit verknüpft, kann der Frage nach der Differenz oder Identität von menschlichem Leben und Leben im biowissenschaftlichen Sinn nachgegangen werden. Zugleich mit der Klärung der Selbstunterscheidung der Menschen untereinander als Verschiedenheit von Mensch und Tier klärt sich die Verschiedenheit oder Identität von Mensch, ebenfalls hinsichtlich seiner Gattungsallgemeinheit, und technischem Gegenstand.62 Denn nicht nur im bio- und gentechnischen Kontext, sondern vorher schon mit der Computertechnik, insbesondere der Robotik und Forschung über künstliche Intelligenz wurde die Frage diskutiert, ob Mensch und technisches Aggregat noch über irgendeinen Lebensbegriff voneinander abgegrenzt werden könnten oder ob nicht bestimmte technische Gebilde, die dem Menschen vergleichbare Leistungen zu vollbringen im Stande sind, beispielsweise zu lernen oder sich selbst zu reproduzieren, als lebendig zu beurteilen seien. Dominierte, so könnte man 61 | Helmuth Plessner 1981, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 383f. 62 | Zum Verhältnis von Mensch und Technik siehe den Band »Mittel« von Christoph Hubig in der Bibliothek dialektischer Grundbegriffe.

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pointiert sagen, in der bisherigen Moderne, von Kant bis Max Scheler (1874–1928), Plessner und Arnold Gehlen (1904–1976), die Frage nach der Verschiedenheit von Mensch und Tier, so scheint heute mit der Diskussion um die Gentechnik und deren Anwendung auf den Menschen die Differenz zwischen Mensch und technischem Artefakt stärker im Vordergrund zu stehen. Doch welcher Begriff von Technik wird bei einer solchen Fragestellung investiert? Naturalistische Konzepte, in der Ethik etwa bei Singer, in Genetik und Gentechnik bei Jacob, thematisieren Technik als Natur. Verbreitet ist ja das Argument, dass Gentechnik letztendlich nichts anderes sei als das Mittel, welches die Natur selbst schon immer erfolgreich benutzt habe, um Lebewesen abzuändern bzw. neu zu kombinieren. »Es sind also nicht die wildgewordenen Geningenieure, die durch Gentransfer erstmals eine geheiligte Speziesschranke durchbrechen, die lebendige Natur tut dies seit langem und, wie es scheint, in nicht geringem Maße. […] Um es chemisch präziser auf den Punkt zu bringen: Da alle Lebewesen ihre Eigenschaften dem Besitz von Erbanlagen in Form von Nukleinsäuren verdanken, die wieder die Produktion ganz spezifischer Eiweißstoffe steuern, deren Zusammenspiel die chemische Leistungsfähigkeit jedes Organismus bestimmt, liest der Evolutionsprozeß selbsttätig Genverbände aus Nukleinsäuren nach Maßgabe ihrer Selbstvermehrungspotenzen aus. Das heißt: Evolution ist biologische Gentechnik.«63 Aber auch ein sonst so differenziert argumentierender Philosoph wie Jürgen Mittelstraß lässt sich durch die (vermeintlichen) Perspektiven von Bio- und Gentechniken zu einer Äußerung hinreißen, die seinem sonstigen Philosophieren eher widerspricht. »Kultur-Natur bedeutet von daher gesehen nicht Überwindung, sondern Verdichtung unserer Evolutionsgemeinschaft mit allen anderen Wesen und Unwesen, Viren eingeschlossen. […] Die Natur – wenn man nun doch so sagen will – experimentiert seit Hunderten von Millionen Jahren, und dies 24 Stunden am Tag. Ihr Labor ist überall, auch in unseren Laboren. Ihr Vorsprung ist uneinholbar und wird dies wohl auch, trotz des zuvor über die Kultur-Natur Gesagten, bleiben.«64 In beiden Zitaten wird deutlich, dass infolge unkla63 | Hubert Markl, Evolution, Gentechnik und menschliches Verhalten, München 1986, S. 19 u. 25 64 | Jürgen Mittelstraß, Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/Main 1992, S. 23f.

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Technik und Dekonstruktivismus

Sprechen bezieht sich nur auf Sprache

Doppelte Abgrenzung des Menschen

rer Bestimmungen von anthropologischen Grundbegriffen, wie menschlichem Leben und ›werktätigem Lebensvollzug‹ nicht nur eine ›Vermenschlichung‹ des Natürlichen – die ›Natur‹ oder doch wenigstens die ›lebendige Natur‹ experimentiert zu bestimmten Zwecken so wie Menschen experimentieren – erfolgt, sondern gleichzeitig auch eine Naturalisierung des Menschen, wenn und indem die technischen Mittel, mit denen er sein Leben realisiert, umstandslos der Natur subsumiert werden. Dekonstruktivismus und Sozialkonstruktivismus teilen sich in der Beantwortung der Frage nach einem adäquaten Begriff von Technik in zwei Hauptströmungen. Zum einen wird in den Bio-Techniken die Möglichkeit der Auflösung naturaler Residuen in neuen Technikformen gesehen. Diese Auflösung führe zur Schaffung neuer Entitäten wie Hybriden, Aktanten, Cyborgs usw. Damit wird aber, ohne thematisiert zu sein, auf eine naturalistische Ontologie zurückgegriffen, denn die Überlegungen zu neuen Entitäten als ›Mischwesen‹ von/aus Natur und Sozialem greifen nur dann, wenn zugleich behauptet wird, ›früher‹ seien Natürliches und Soziales/Kulturelles als von Natur her verschiedene und säuberlich voneinander getrennte Entitäten vorhanden gewesen.65 Dagegen behaupten Derrida und Butler, dass wir uns im Sprechen über Natürliches und Soziales weder auf verschiedene Entitäten beziehen noch auf im Vollzug werktätiger Praktiken gemachte Unterscheidungen, auf die sich auch sprachlich bezogen werden kann, sondern ausschließlich auf im Medium der Sprache durch Sprechen vollzogene Unterscheidungen. Sprechen referiere auf nichts anderes als auf sich selbst. Nur Machtdiskurse, zu denen prominent die Naturwissenschaften mit ihrem unaufhebbaren Bezug auf Objekte gehören, erzeugten den Schein als gäbe es außersprachliche naturale und/oder soziale/kulturelle Gebilde als Dinge, auf die wir im Miteinandersprechen referieren würden. Damit stellen sich im Zusammenhang der doppelten Abgrenzung des Menschen von der (lebendigen) Natur einerseits, der Technik andererseits und den jeweiligen Kriterien dieser Abgren65 | Siehe Donna Haraway, Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft, Hamburg 1995; Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995

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zungen zwei weitere Fragen. Zunächst gilt es zu klären, ob und inwiefern Bestimmungen des Menschseins ohne Rekurs auf empirische Ergebnisse von Wissenschaften vorgenommen werden können. In Frage steht also die Bestimmung des Verhältnisses von Teilnehmer- und Beobachterperspektive sowie die Klärung des Modus des Übergangs von der einen zur anderen. Zum Zweiten, und in methodischer Abhängigkeit von der Klärung der ersten Frage, muss dann das Problem der Referenz aufgegriffen werden. Zunächst zur ersten Frage. Entwicklungs- und Modernisierungsschübe in der Gesellschaft erzeugen in aller Regel als Begleitdiskurs eine Debatte über das, was der Mensch war, gegenwärtig ist und zukünftig zu sein habe oder sein könne. So gipfelten schon um 1800 die drei Kritiken Kants in der Frage »Was ist der Mensch?«, forderten im Umfeld der Revolution von 1848 Ludwig Feuerbach (1804–1872) und der junge Karl Marx (1818–1883) gegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) eine anthropologische Revolution der Philosophie. Und mit der öffentlichen Rezeption der von Charles Darwin (1809–1882) begründeten Evolutionstheorie setzte sofort auch eine Diskussion darüber ein, inwiefern der Mensch in allen seinen naturalen und kulturellen Eigenheiten nur verstanden werden könne, wenn man ihn von seinem natürlichen Gewordensein her denke. Gerade der Darwinismus und die sich an ihm entzündenden Diskussionen wurden nach 1900 mit zum Anlass einer spezifischen Neubegründung des Philosophierens.66 Die intendierte darwinismuskritische Philosophische Anthropologie sollte nicht nur ein weiteres, vielleicht gar neues Teilgebiet der Philosophie sein, sondern vielmehr – so übereinstimmend, trotz heterogener Konzeptionen, die Begründer der Philosophischen Anthropologie: Scheler, Plessner und Gehlen – ein grundsätzlicher Neuanfang des Philosophierens. Ein Neuanfang, der gegen die Ansprüche der Naturwissenschaften einmal die Eigenständigkeit und

Anthropologie als Krisenreflexion?

Philosophische Anthropologie als Kritik am Darwinismus

66 | Es ist zu beachten, dass die Philosophische Anthropologie nicht der einzige Versuch eines Neuanfangs systematischen Philosophierens war. Zeitgleich entwickelten sich Phänomenologie, Sozial-, Lebens- und Kulturphilosophie. Die Gründe, die diesen Bemühungen bezüglich eines Neuanfanges gemeinsamen waren, sowie die Gründe, an denen sich spezifische Differenzierungen in der Art des Philosophierens herausbildeten, können hier selbstverständlich nicht thematisiert werden.

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Philosophische Anthropologie und Biologie

Abhängigkeit der Philosophischen Anthropologie von der Biologie?

Unabhängigkeit der Philosophie von naturwissenschaftlichen Entwicklungen zeigen sollte. Denn bis auf Gehlen, der das Programm einer ›empirischen Philosophie‹ verfolgte, waren alle anderen Philosophischen Anthropologen der Überzeugung, dass eine Antwort auf die Frage nach der Natur, also nach dem Wesen des Menschen nur im Rahmen der Philosophie und nicht im Rahmen der Naturwissenschaften gegeben werden könne. Erst nach einer solchen begrifflichen und/oder naturphilosophischen Klärung könnten dann im Anschluss an die begrifflichen Klärungen die Naturwissenschaften mit ihren Mitteln Aspekte des Menschseins untersuchen. Ein zweiter Blick auf den Entstehungskontext der Philosophischen Anthropologie zeigt aber, dass sie trotz ihrer behaupteten Unabhängigkeit von den Naturwissenschaften, und hier insbesondere der darwinistischen Biologie, ihren Anfang des Philosophierens nicht ohne direkten Rückgriff auf biologische Erkenntnisse hätten bestimmen können: nämlich die darwinismuskritischen Strömungen insbesondere in der Embryologie67 und der Tierpsychologie68 bzw. der sich herausbildenden Verhaltensforschung. Erst der Rückgriff auf diese doch selbst empirischen Forschungskonzepte eröffnete für die Philosophische Anthropologie die Möglichkeit des Tier-Mensch-Vergleichs, der grundlegend sein sollte für den Nachweis der behaupteten Unmöglichkeit, das Wesen des Menschen mit den Mitteln empirisch-naturwissenschaftlicher Verfahren erfassen zu können. Wenn nun basale Annahmen der klassischen Philosophischen Anthropologie von bestimmten darwinismuskritischen biologischen Forschungsprogrammen abhängig sind, können wir dann heute noch ungebrochen an solche Konzepte anknüpfen oder muss nicht selbst wiederum die Ansatzstelle für philosophischanthropologische Bemühungen in kritischer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Evolutionsbiologie erfolgen, so wie es Scheler, Plessner und Gehlen für ihre Zeit vordemonstriert haben? Wenn ja, wie verändern sich dann notwendigerweise die methodischen Ausgangspunkte anthropologischen Philosophierens? Eine Auseinandersetzung mit den biowissenschaftlichen 67 | Hier ist an den Mechanismus-Vitalismus-Streit zwischen dem Darwinisten Wilhelm Roux und dem Vitalisten Hans Driesch gedacht. 68 | Erinnert sei an die Arbeiten von Uexküll und Wolfgang Köhler.

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Theorien, die insbesondere für Plessner wichtig waren – die vitalistische Biologie Drieschs, die Umweltlehre und Theoretische Biologie Uexkülls, die Ganzheitslehre Wolfgang Köhlers (1887– 1967), die Zusammenarbeit mit dem medizinischen Physiologen Fredrik J. J. Buytendijk (1887–1974) usw. –, sucht man aber bisher vergebens, obwohl sich doch gerade an ihnen erst zeigen kann, ob und inwiefern Plessners anthropologischer Entwurf heute noch systematisch haltbar und fortsetzbar ist, ob und inwiefern moralphilosophische Überlegungen im Zusammenhang der gegenwärtigen biopolitischen Debatte auf diesem Entwurf aufbauen können.69 Die erste Frage nach dem Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Biowissenschaften zielt auf die Klärung des Problems, wie wir über den Menschen als einem in der Welt vorfindlichen Sachverhalt reden können. Dazu bedarf es der Rekonstruktion des Verhältnisses von Wissen (einschließlich wissenschaftlichen Wissens) über den Menschen und der Lebenswelt, den Praktiken, in denen Menschen im Vollzug ihres Lebens auf Probleme stoßen, die die Hinterfragung ihres bisherigen Selbstverständnisses als Menschen erzwingen. Unter methodischen Gesichtspunkten geht es somit um das Problem, wie und zu welchen Zwecken mit der Rede vom Menschen ein bestimmter Gegenstand des Fragens und Forschens konstituiert wird. Während in nahezu allen anderen Fällen die Sachverhalte, über die eine Verständigung gesucht wird, als ›Objekte‹ oder ›Dinge‹ verstanden werden können, die von den Verständigung suchenden Menschen verschieden sind, liegt das spezifische Problem anthropologischer Fragestellungen genau darin, dass der Sachverhalt, über den eine Verständigung gesucht wird, nichts anderes ist als die sich verständigenden Menschen selbst. Eine bloß duale Fassung von Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive scheint für die Klärung der Rede über den Menschen durch die redenden Menschen unzureichend zu sein. In Abgrenzung von objektivistischen Ansätzen, die den Bezug von Sprache auf Welt kausal zu erklären versuchen, und dem dekonstruktivistischen lingualistischen Idealismus, der in zwar richtiger Kritik an solchen Kausalkonzepten dann aber in das

Rede über den Menschen als Objekt

Sprache, Sprechen, Handeln

69 | Zur Kontroverse über die Bedeutung der Abhängigkeit von Plessners philosophischer Anthropologie von bestimmten biologischen Theorien siehe Michael Weingarten, Über das Missverständnis …, a. a. O.

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entgegengesetzte Extrem des Verzichts auf Referenz verfällt, soll in einem ersten Schritt das Referenzproblem im Kontext der Leib-Körper-Unterscheidung thematisiert werden. So setzt auch Habermas gegen die ›inflationistische Deutung‹ des (ganz) Anderen in der linguistischen Wende eine ›deflationistische‹ Deutung: »Im Logos der Sprache verkörpert sich eine Macht des Intersubjektiven, die der Subjektivität der Sprecher voraus- und zugrunde liegt. Diese schwache prozeduralistische Lesart des ›Anderen‹ wahrt den fallibilistischen und zugleich antiskeptischen Sinn von ›Unbedingtheit‹. Der Logos der Sprache entzieht sich unserer Kontrolle, und doch sind wir es, die sprach- und handlungsfähigen Subjekte, die sich in diesem Medium miteinander verständigen. Es bleibt ›unsere‹ Sprache. Die Unbedingtheit von Wahrheit und Freiheit ist eine notwendige Voraussetzung unserer Praktiken, aber jenseits der Konstituentien ›unserer‹ Lebensform entbehren sie jeder ontologischen Gewähr. So ist auch das ›richtige‹ ethische Selbstverständnis weder offenbart noch in anderer Weise ›gegeben‹. Es kann nur in gemeinsamer Anstrengung gewonnen werden. Aus dieser Perspektive erscheint das, was unser Selbstsein möglich macht, eher als transsubjektive denn als absolute Macht.«70 Zwar hat Habermas mit seinem Projekt einer »Detranszendentalisierung der Vernunft« den »reifizierenden Gebrauch der theoretischen Vernunft«, also die Unterstellung, Vernunft (logos) bzw. Sprache lägen den einzelnen Individuen voraus, kritisiert zu Gunsten einerseits der Einbettung »der vergesellschafteten Subjekte in lebensweltliche[n] Kontexte[n], andererseits [zugunsten der] Verschränkung der Kognition mit Sprechen und Handeln«.71 Jedoch liest sich die Behauptung, dass der logos der Sprache als des Medium, in dem wir uns verständigen, sich unserer Kontrolle entziehe, immer noch so, als liege er als Gattungseigenschaft den je einzelnen Subjekten zugrunde, als wären die Subjekte – insofern sie ihre Vernunftfähigkeit, die sie über ihre Gattungszugehörigkeit immer schon haben, individuell realisieren – bloße tokens dieses type. D. h., der Dualismus von Allgemeinem und Individuellem mit all seinen Problemen repro70 | Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, a. a. O., S. 26 71 | Jürgen Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Stuttgart 2001, S. 15f.

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duziert sich hier im Fall der Sprache (als Allgemeinem) und Sprechen (verstanden als Sprechen des je Einzelnen).72 Versuchen wir, diese sprachphilosophische Einsicht anthropologisch fruchtbar zu machen. Verfolgt man insbesondere Judith Butlers Arbeiten, dann lässt sich, ausgehend von den frühen hin zu den späteren Werken73, eine erhebliche Problemtransformation feststellen. Denn im Unterschied zu den frühen Werken, die vom je einzelnen Ich und dessen Konstitution ausgingen, favorisiert sie jetzt die hegelsche Idee der Anerkennungsverhältnisse, in denen sich erst Prozesse der Individuierung und Subjektbildung ereignen können. Im Unterschied zu Hegel reduziert sie aber Anerkennungsverhältnisse ausschließlich auf sprachliche Verständigungsverhältnisse und sprachliches Handeln. Genau dadurch verfehlt sie die auch von Habermas bezweckte, wenn auch nicht zureichend bestimmte Verschränkung von Kognition, Sprechen und Handeln. Für Hegel dagegen umfasst ›Anerkennung‹ die Bestimmung der Einheit und die Bestimmung der Differenz in der Einheit der drei »Potenzen des Geistes«, nämlich 1. Sprache als Medium der Verständigung und Mittel des Verständigens, 2. Werkzeug als auch außersprachlicher Dimension des Tuns oder das werktätige Leben und 3. Familie als Beispiel der unaufhebbaren Sozialität, als Unaufhebbarkeit des Zusammenlebens der Einzelnen in einem sozialen Verbund in einem synchronen (Zusammenleben innerhalb einer ›Generation‹) und einem diachronen (Aufeinanderfolge von Generationen) Sinne. Greifen wir zur Explikation noch einmal auf Plessners zentralen anthropologischen Satz zurück: »Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen.« Damit behauptet Plessner ja nicht nur, dass ein menschliches Subjekt nur im Vollzug eines – und zwar beliebig welchen – Lebens als exzentrisch-positionales Wesen lebt. Vielmehr verweist die Exzentrizität darauf, dass Menschen als positionale Wesen

Verständigung und Anerkennung

Doppelte Reflexivität des Lebensvollzugs

72 | Sybille Krämer hat ein solches, immer noch gängiges dualistisches Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Sprechen grundsätzlich in Frage gestellt; siehe Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt/Main 2001. 73 | Insbesondere Judith Butler, Psyche der Macht, Frankfurt/Main 2001; dies., Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt/Main 2001; siehe auch Fußnote 55 in diesem Band

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nicht nur ihr Leben vollziehen müssen – denn dies muss in gewisser Weise auch jedes Tier, das ja auch ein positionales Wesen ist –, sondern vielmehr verweist der Begriff der Exzentrizität als Bestimmtheit der Positionalität74 auf die dem Vollzug des menschlichen Lebens innewohnende doppelte Reflexivität: Jeder Mensch lebt nicht nur ein Leben, sondern er weiß zugleich darum, dass er nur im Vollzug eines Lebens leben kann, und er weiß weiter darum, dass er es ist, der im Vollzug eines Lebens sein Leben lebt.75 ›Wissen um …‹ Für die kritische Weiterführung des Dekonstruktivismus, aber auch des habermasschen Projekts einer Detranszendentalisierung der Vernunft, scheint die Explikation der Besonderheit des Modus eines ›Wissens um …‹ der ausschlaggebende Punkt zu sein. Denn im Unterschied zu einem ›Wissen, dass …‹ (eines Wissens von Sachverhalten in der Welt) und einem ›Wissen, wie …‹ (Anwendung einer Regel, eines Schemas auf einen individuellen Fall) indiziert der Modus eines ›Wissens um …‹ ein Wissen, welches nur im Vollzug ›entsteht‹. Genau darin findet der vielfach behauptete Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen seine begriffliche Basis. Diese Überlegung gilt es weiter auszuarbeiten, weil nur auf dem Wege der Explikation der Besonderheit des Modus eines ›Wissens um …‹ die für die Grundlegung der Medizin resp. die für die Konstitution des Gegenstands medizinischer Forschungen, eben der Mensch als Objekt, wichtige begriffliche Unterscheidung des Leibseins und des Körperhabens zureichend eingeführt werden kann, ohne sich in einem Spiel bloßer Metaphern zu verlieren, in dem keine Kriterien für die Richtigkeit irgendeiner Beschreibung mehr eingeführt werden können. Es erübrigt sich auch mit dieser Expliaktion ein Rückgriff auf realistische oder gar naturalistische Theoriebausteine, die weit hinter die linguis74 | Positionalität und Exzentrizität können nicht unabhängig und getrennt voneinander als zwei Begriffe expliziert werden. Vielmehr ergibt die Durchführung der Bestimmung der Positionalität des Menschen die Besonderheit, dass der Mensch das exzentrisch-positionale Wesen ist. 75 | Spätestens hier muss in der Plessner-Lektüre auffallen, dass es sich bei ihm – trotz auffälliger Übernahme heideggerscher Terminologie um eine systematische Kritik an Heidegger handelt: Denn dieser gesteht dem Lebensvollzug gerade keine Reflexivität zu; vielmehr indiziert das Auftreten von Reflexivität eine zu beseitigende Störung des Vollzugs!

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tische und pragmatische Wende der Philosophie und Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts zurückfallen. Das ›Wissen um …‹ als Lebenskategorie | Die systematische begriffliche Rekonstruktion der Rede von einem ›Wissen um …‹ erfordert eine genaue Explikation des Lebensbegriffs. Dies kann hier nur einleitend und für den bioethischen Kontext spezifiziert geleistet werden.76 Darum sollen die zu vermittelnden Positionen erneut skizziert werden. So ist es möglich zu sagen, dass Singer mit seiner Unterscheidung von Mensch und Person implizit behauptet, dass eine Person genau das Wesen sei, welches aus einem anderen Wesen (dem Menschen als biologischer Art), das zwar (irgend-)ein Leben lebt, zeitlich als das Wesen entstanden ist, das sein Leben lebt. Sein Leben zu leben umfasst damit zugleich zweierlei: Ein Leben zu leben, aber gerade nicht nur beliebig irgendein Leben, sondern sein Leben als ein bestimmtes Leben im Unterschied zu den Lebensvollzügen anderer Personen, die ihr je eigenes bestimmtes Leben leben, und bloßen Menschen, die leben. Die Rede, dass eine Person ihr Leben lebt, erfordert damit ein Wissen dieser Person um den Lebensvollzug als Leben (irgendein Leben) überhaupt und zugleich ein Wissen um die Notwendigkeit (im Sinne des Personseinkönnens) im Unterschied zu Anderen eine bestimmte Vollzugsform dieses Lebens als ihr Leben auszubilden. Das zu lösende Begründungsproblem liegt darin zu zeigen, aufgrund welcher Ursache aus einem Menschen als natürlicher Art eine Person hat werden können. Genau hier greift Singer zurück auf vorgeblich empirisch bestätigtes Wissen der Biowissenschaften. Dagegen behauptet Gerhardt – spiegelbildlich zu den Ausführungen Singers –, dass der Mensch genau das Wesen sei, welches gegenüber anderen Wesen unterschieden ist durch den Sachverhalt, dass ihm von Natur aus ein Wissen um sein Leben (als Leben überhaupt und die individuelle Bestimmtheit des Voll-

Das Werden zur Person

Das Sein als Individuum

76 | Siehe aber Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Darmstadt 31967, insbesondere S. 103–130. Das Thema wird vom Verfasser noch in zwei weiteren, thematisch zusammenhängenden Bänden (Sterben, Tod) in der Bibliothek dialektischer Grundbegriffe ausgeführt werden.

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Leben als kategoriales Problem

Anthropologie als Naturphilosophie?

zugs) eigne. Dadurch, dass der Mensch immer schon über ›Wissen um …‹ verfügt und dieses die Bedingung der Möglichkeit ist, sein Leben leben zu können, kann das Gewordensein des ›Wissens um …‹ bzw. das Werden des Menschen als eines Wesens, das um sich weiß, als geworden aus einem Wesen, das einfach nur lebt, vielleicht auch etwas, aber eben nicht um sich weiß, nicht mehr gedacht werden. Liegt Singers Begründungsproblem in dem zeitlichen Werden eines Wesens aus einem anderen Wesen, so muss Gerhardt aufzeigen können, inwiefern das Wissen des Menschen um sein Leben als Leben überhaupt und als bestimmte Vollzugsform als art-konstitutives Merkmal gedacht werden kann. Und wie Singer verweist auch Gerhardt an dieser systematisch zentralen Stelle auf vorgeblich empirisch bestätigtes Wissen der Biowissenschaften. Der Sachverhalt, dass beide sich ausschließende Positionen auf – wenn auch unterschiedliches77 – empirisches Wissen berufen, indiziert, dass es sich bei dem jeweils zu lösenden Begründungsproblem nicht um ein mehr oder weniger bestätigtes empirisches Wissen handeln kann, sondern um ein kategoriales Problem. Und genau dieses kategoriale Problem hat Plessner mit seiner Formulierung, der Mensch sei immer schon das, was er erst werden muss, im Blick. Plessner selbst ist aber an der begrifflichen Einlösung der Besonderheit des Modus eines ›Wissens um …‹ aus mindestens zwei Gründen gescheitert. Zum einen fehlen bei ihm infolge seiner Ausrichtung an einer, und zwar irgendeiner Naturphilosophie sprachphilosophische Überlegungen, die für die begriffliche Fassung des ›Wissens um …‹ im Unterschied von und im Verhältnis zum ›Wissen, dass …‹ und dem ›Wissen wie …‹ unverzichtbar sind. Genau dieses Problem war ein immer wieder verhandelter Gegenstand im Briefwechsel zwischen Josef König (1892–1985) und Plessner. Auf entsprechende Einwände seitens König gegenüber Plessners naturphilosophischem Begründungsansatz antwortete dieser: »Ich sehe die ›intelligible Zufälligkeit‹ des naturphilosophischen Ansatzes, das noch nicht innerliche Geführtsein 77 | So gerät Singer in seinem Bezug auf die Biowissenschaften in die Aporie, die Kontinuität des Gewordenseins nicht mehr denken zu können; die Naturgeschichte entwickelt sich – möchte man sagen – in Sprüngen. Gerhardt dagegen gerät in die Aporie, das qualitativ Neue des Gewordenen nicht mehr denken zu können.

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der ›Methode‹ vollkommen und will darüber hinaus, – aber nur, um es zu legitimieren; um zu begründen, daß die exzentrische Position die Legitimation (nicht auch eines naturphilosophischen Ansatzes ist, wie ich es bei der Niederschrift des Buches und der Einleitung noch glaubte, sondern) nur eines naturphilosophischen Ansatzes ist. Denn: Exzentrizität läßt sich als ›Rechts‹grund für die Gleichgültigkeit jedes Ansatzes nachweisen – wie in ihr zugleich auch die Überwindung des Historismus gegeben ist, speziell auch des Historismus der Philosophiegeschichte. Exzentrische Mitte einnehmen heißt eben: ihr entgleiten und in ihr drinstehen, d. h. jene Bewegung vollführen, welche das Eigentliche, Ewige, Bleibende und Wahre nur in einer inadäquaten Form und Situation, der sie anheimfällt bzw. anheimgefallen ist, faktisch und wirklich erreicht.«78 Dies gelte auch für eine philosophische Anthropologie, wie sie Plessner intendiert. Die Anthropologie sei zwar philosophisch, »aber nicht die Philosophie und nicht die Vorbereitung zur Philosophie. Sie ist überhaupt nicht ausgezeichnet dem Range nach oder der einzig legitime Ansatz zur Philosophie, auch sie selbst erfährt an sich das Schicksal der Exzentrizität.«79 Zu diesem mit der Formulierung der »intelligiblen Zufällig- Anthropologie keit« eingestandenen Begründungsverzicht wurde Plessner und Begründurch Königs im Anschluss an Hegel vorgetragene Bemerkung dungsverzicht? provoziert, dass das »rein Anthropologische dem Begriff des freien Geistes« widerspreche.80 Und König verknüpft diese Bemerkung noch mit dem Hinweis: »In gewisser Weise ist Ihre Methode (nicht der Inhalt) soz. ein auf den Kopf gestellter Hegel.«81 Denn diese mit Plessners Methode realisierte ›Umkehrung Hegels‹ entspricht genau dem Einsatzpunkt der feuerbachschen Anthropologie, der in seiner Hegel-Kritik zum Zwecke der Umkehrung auf Schelling rekurriert.82 78 | Briefwechsel Helmuth Plessner Josef König, hg. von Hans Ulrich Lessing, Freiburg, München 1994, S. 175f. 79 | Ebd., S. 176 80 | Ebd., S. 126f. 81 | Ebd., S. 167 82 | Damit verweist der Einwand Königs in philosophiegeschichtlich-systematischer Hinsicht auf die Entwicklungslinie Schelling, Feuerbach, der junge Marx der Ökonomisch-philosophischen Hefte von 1844 bis zu Plessners Anthropologie einerseits, andererseits auf die Entwicklungslinie von Hegel

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Methodisches Primat des ›Wissens um …‹ gegenüber gegenständlichem Wissen

›Wissen um …‹ und Individualität

Methodischer Vorrang des Miteinander

Gegen Plessners naturphilosophische Bemühungen versucht König denselben anthropologischen Satz und dessen Begründung über den Modus eines ›Wissens um …‹ sprachphilosophischbegrifflich mit dem Verweis einzulösen, der biologische Begriff vom Menschen sei ein ganz anderer als der philosophische.83 Zugleich gilt sein Bemühen dem Versuch zu zeigen, dass ein Wissen von Sachverhalten in der Welt, also ein gegenständliches ›Wissen, dass …‹ nur in methodischer Abhängigkeit von einem ›Wissen um …‹ begründet eingeführt werden kann. So ist es für ihn z. B. nicht sinnvoll möglich zu behaupten, dass ich erst etwas weiß und dies Wissen dann mitteile; vielmehr gelte: Indem ich dies mitteile, was ich dort sehe, entstehe ich erst als derjenige, der um sich als denjenigen weiß, der etwas Äußerliches sieht. Das ›Wissen um …‹ auch in der von König gegebenen Formulierung könnte noch individualistisch verstanden werden genau dann, wenn man meint, damit behaupten zu dürfen, jeder als Einzelner – unabhängig und getrennt von Anderen – habe ein Wissen um etwa sich selbst als Wissen um die Bestimmtheit des Lebens im Vollzug seines Lebens. So behauptet Plessner zwar die ›Gleichursprünglichkeit‹ von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt; methodisch geht er aber von einem Verhältnis zwischen Mensch und Außenwelt (klassisch: einem Subjekt-Objekt-Verhältnis) über zur Innenwelt (als Wissen um sich) und erst dann zur Mitwelt (der miteinander geteilten Lebensvollzüge und des miteinander geteilten Wissens). Indem König davon ausgeht, »dass Unser-es-Mitteilen die Möglichkeit sei dessen, dass es für uns wird«84, kehrt er die über den Marx des Kapital, die Lebensphilosophie Diltheys und Mischs bis zu König. Dies zu bemerken, ist insofern notwendig, weil damit der immer wieder erhobene gravierende Einwand gegen die Lebensphilosophie, sie sei biologistisch, gegenüber der ersten Entwicklungslinie, aber eben nicht gegenüber dem von König in Fortsetzung Hegels verfolgtem Projekt zugestanden werden kann und muss. Siehe dazu Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920. Siehe weiter das durchgängige Schwanken zwischen beiden Linien in Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg, München 1994 83 | Siehe Josef König, Probleme des Begriffs der Entwicklung, in: ders., Kleine Schriften, Freiburg, München 1994, S. 240 84 | Ebd., S. 235

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Reihenfolge des Argumentationsgangs um: Ich kann ein Wissen um die Besonderheit des Vollzugs des Lebens als mein Wissen um die Besonderheit des Vollzugs meines Lebens haben nur dann, wenn dieses ›Wissen um …‹ begriffen wird als für ein Individuum gewordenes Wissen über die Mit-Teilung an andere. Dieses SichFinden des menschlichen Geistes als Wissen eines Individuums um die Besonderheit seines Lebensvollzugs ereignet sich somit nicht ausschließlich auf der Ebene des Bewusstseins, sondern im reflexiven Bezug auf den selbst reflexiven Vollzug gemeinsam mit anderen getätigten Lebensvollzügen. »[D]ie immanente, rückwendig-produktive Bewegung, kurz zu sprechen die ›Reflexivität‹ des im menschlichen Leben auftretenden Wissens: dass das Verstehen, das Dilthey als eine dem Wirkungsverlauf des Lebens ›inverse Operation‹ bezeichnete, dies nicht bloß in seinem bewussten Vollzug als Selbstbesinnung sei, sondern dass es auch in seiner primären Form, im elementaren Verstehen als Innesein oder Innewerden unserer Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen im Lebensverkehr diesen inversen Verlauf habe, als ein In-sich-selbst-Zurückgehen des Lebens.«85 Der philosophische Wille, das Leben aus ihm selber, aus dem Modus seines Vollzugs zu verstehen, entspricht zwar immer einer bestimmten geschichtlichen Lage, ist insofern relativ, weil bezogen auf etwa unseren gegenwärtigen geschichtlichen Kontext. Aber: »Der Weg des Lebens bildet sich überhaupt erst, indem er gegangen wird, auf das Gehen kommt es vorzüglich an: auf den geschichtlich sich vollziehenden oder ›erwirkten‹ Gang des Lebensgeschehens und auf die Kraft einer Methode, ihn ›geschichtssystematisch‹ durchzukonstruieren […].«86 Die durch den Bezug auf die jeweilige Situation gegebene Relativität der Reflexion auf den Vollzug des von einem Individuum gelebten Lebens wird aber in der Notwendigkeit ›aufgehoben‹, diese Reflexion als ›Wissen um …‹ zu vergegenständlichen: Denn ›Wissen‹ meint gerade auch, dass ein Individuum nicht nur einfach um die Besonderheit seines Lebensvollzugs weiß, sondern diese Besonderheit seines Lebensvollzugs gegenüber anderen möglichen Lebensvollzügen begründen und rechtfertigen kann. Und diese Aufgabe muss immer wieder und immer wieder anders in jeder geschichtlichen Situa85 | Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, a. a. O., S. 71f. 86 | Ebd., S. 28f.

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tion geleistet werden – von jedem als Einzelnem in Bezug auf sein Leben, aber auch im Vergleich der Lebensvollzüge Anderer, also notwendig in einer Pluralität von Lebensvollzügen. »So ist das ›Leben‹, sofern es die Wurzel der Geisteswissenschaften ist, wohl das Eine, das menschliche, aber kein ›Wie des Seins‹, sondern die Wurzel, die ›nicht ist, sondern lebt‹. Und sofern es der Gegenstand dieser Wissenschaften ist, zeigt es sich zwar als ein Wie des Seins, aber notwendig in einer Mannigfaltigkeit, deren Verbindung im Menschentum eben nicht bloß die Besonderung eines Allgemeinen, sondern ein geschichtlich erwirkter Zusammenhang ist.«87 Weiterführende Literatur Gutmann, Mathias/Weingarten, Michael (2001): Die Bedeutung von Metaphern für die biologische Theorienbildung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4, S. 549–566 Groethuysen, Bernhard (1911): Das Leben und die Weltanschauung, in: Max Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung, Berlin, S. 55–77 — (1931): Mensch und Charakter. Philosophische Anthropologie, München, Berlin, Oldenburg König, Josef (1967): Georg Misch als Philosoph, Göttingen — (1937): Sein und Denken, Tübingen — (1994): Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung, Freiburg, München Misch, Georg (1907ff.): Geschichte der Autobiographie, 10 Bde., Bern, Frankfurt/Main — (1911): Von den Gestaltungen der Persönlichkeit, in: Max Frischeisen-Köhler (Hg.): Weltanschauung, Berlin, S. 81– 126 — (1950): Der Weg in die Philosophie, zweite, stark erweitere Ausgabe, Bern

87 | Ebd., S. 47

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